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German Pages 167 [172] Year 1915
KORPORATION DER KAUFMANNSCHAFT VON BERLIN
Gewerbliche Einzelvorträge gehalten in der
Aula der Handels-Hochschule Berlin Herausgegeben von den Ältesten der Kaufmannschaft v o n Berlin Erste R e i h e : I.-Die Entwicklung-der elektrischen Industrie. Vortrag: des Herrn Geh. Regierungirat Prof. Dr. A r an. — II. Die Einrichtungen an der Berliner Börse. Vortrag des Herrn Kommerzienrat KT. R i c h t e r . _ UI. Geschichte und Technik der Textilindustrie. Vortraf de» Herrn Stadtrat Dr. W e i g e r t . — IV. Entwicklung und Arten der Exportgeschäfte. Vortrag des Herrn Herrn an n H e e . h t , — V. Das Verkehtsbureau der Korporation der Kaufmannschaft von Berlin. Vortrag des Hettn Bureaudirektor H o f f m a n n . — VI, Anhang: Literaturnachweise. Von Herrn Dr. R e i c h e , Bibliothekar der Korporation der Kaufmannschaft Ton Berlin. Z w e i t e R e i h e : I.Kaufmännische Auskunftserteilung in alter und neuester Zeit. Vdrtfäg des Herrn W. S c h i m m e l p f e n g . — H. Die wirtschaftliche Bedeutung von Lieferung?-, Bnraenterminutrd Spekulationsgeschäften in Waren. Vortrag des Herrn W, K a n t p r o w i c z , Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin. — III. Deutsches Zahlungswesen unter Berücksichtigung des- Überweisungs- und Scheckverkehrs. Vorträg des Herrn J. K a e m p f, Präsidenten der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin. — IV. Die Bibliothek* der Korporation der Kaufmannschaft von Berlin. Vortrag des Herrn Dr. R e i c h e , Bibliothekars der Kaufmannschaft von Berlin. — V.Anhang: Literaturnachweise. Von Herrn Bibliothekar Dr. R e i c h e . Dritte R e i h e ; I. Die Stellung der chemischen Industrie im deutschen Wirtschaftsleben. Vortrag des Herrn Fabrikdirektors Dr. W. C o n n 51 e i n. — II. Warenhäuser und Spezialgeschäfte. Vortrag des Herrn Fabrikbesitzers F. G u g e n h e i m . — III. Die Organisation des Kupferhandels. Vortrag des Herrn,Fabrikbesitzers Dr. E. N o a h . — IV. Die wirtschaftliehe Bedeutung der Terrain- und Hypothekengeschäfte. Vortrag des Herrn Geh. Staatsrat a. D. J. B u d d e , Direktors der Berliner Hypothekenbank. — V. Die Industrie der Lacke und Farben. Vortrag des Herrn L . M a n n Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin. — VI. Anhangt Literaturnachweise. Von Herrn Bibliothekar Dr. R e i c h e . Vierte Reihen I. Die Vorbereitung des ostasiatischen Marktes für die Ausdehnung unseres Exportes dorthin. Vortrag des Herrn D. S a n d m a n n , -Mitglieds der Handelskammer zu Berlin. — II. Die Entwickelung, -Art und Bedeutung der modernen Holzbearbeitungsindnstrie. Vortrag des Herrn F t a n z B e n d i x , Direktors der Ferdinand Bendix Söhne, Aktiengesellschaft für Hölzbearbeitung, — III. Terrain* und Hypothekengeschäfte. Vortrag des Herrn Geh. Staatsrats a. D. J. B u d d e , Direktors der Berliner Hypothekenbank. — IV. Die Entwickelung und Bedeutung der Calciumcarbid- und Stickstoffdünger-Industrie. Vortrag des Herrn DiplomIngenieurs A. M. G o l d S c h m i d t . — V. Die Organisation einer modernen Werkzeugmaschfoenfabrik. Vortrag des Herrn Dr. W. W a l d s c h m i d t , Direktors der Aktiengesellschaft Ludw. Lsewe & Co. — VI. Anhang: Literaturnachweise. Von Herrn Bibliothekar Dr. R e i c h e . F ü n f t e Reihe : I. Die wirtschaftliche Bedeutung und die Handelstechnik der Kohlensäure-Industrie Vortrag des Herrn H u g o B a u m , Generaldirektors der Aktien-Gesellschaft für Kohlensäure Industrie. — II. Weltausstellungen. Vortrag des Herrn Stadtältesten Dr. W e i g e r t , Vizepräsident der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin. — III. Die Entwicklung und Bedeutung der Schwachstrom-Industrie. Vortrag des Herrn IngenieursNeuh ol d, Direktors der Deutschen Telephonwerke. — IV. Die Entwicklung und Organisation des Eisenhandels. Vortrag des Herrn C. L. N e t t e r , Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin. — V. Anbang: Literaturnachweise. Von Herrn Bibliothekar Dr. R e i c h e . Sechste Reihe: I. Die wirtschaftliche Bedeutung der Kälteindustrie. Vortrag de*Herrn Kommissionsrats A l b e r t K r ü g e r , Direktors der Gesellschaft für Markt* upd Kühlhallen. — II. Die deutsche Parfümerie* und Toiletteseifeitindustrie in ihrer fabrikatorisefaen Entwicklung und wirtschaftlichen Bedeutung. Vortrag de* Herrn Fabrikbesitzers Dr. F r a n z K ö t h n e r , Mitinhaber der Firma J. f . Schwarzlose Söhne. — Iii. Die industrielle Entwicklung der Photographie und ihre Bedeutung für Handel und Industrie, Vortrag des Herrn C a r l B r e u e r , Prokuristen
Fortsetzung siehe Seite 3 des Umschlags
VERLAG VON GEORG REIMER IN BERLIN W 10
KORPORATION DER KAUFMANNSCHAFT VON BERLIN
Gewerbliche Einzelvorträge Gehalten in der Aula der Handels-Hochschule Berlin Herausgegeben von den
Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin
Neunte
Reihe
Berlin Druck und Verlag von Georg Reimer 1915
Inhalt. Seite
I. W o h n u n g s w e s e n u n d S t ä d t e b a u in d e r n e u z e i t l i c h e n G r o ß s t a d t . Vortrag des Herrn Professor Dr. E b e r s t a d t . . . II. D e u t s c h l a n d s L e i n e n i n d u s t r i e . Vortrag des Herrn H e i n r i c h G r ü n f c l d (in Fa. F. V. Grünfeld), Mitglied der Handelskammer III. P a p i e r , s e i n e E n t s t e h u n g u n d s e i n V e r b r a u c h . Vortrag des Herrn F r i t z B e r l i n e r (in Fa. Maaß & Röhmann) . . . . IV. Die O r g a n i s a t i o n u n d v o l k s w i r t s c h a f t l i c h e B e d e u t u n g d e s E i e r h a n d e l s . Vortrag des Herrn H e r m a n n H a u s e n (in Fa. J. H a u s e n senior) V. Die E n t w i c k l u n g d e s B r a u e r e i g e w e r b e s . Vortrag des Herrn Brauereidirektor R i c h a r d K n o b l a u c h VI. G e t r e i d e v e r s o r g u n g in K r i e g u n d F r i e d e n . Vortrag des Herrn L e o n h a r d N é u m a n n VII. Anhang: L i t e r a t u r n a c h w e i s e von Herrn Dr. R e i c h e , Bibliothekar der Korporation der Kaufmannschaft von Berlin . . . .
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I. Wohnungswesen und Städtebau in der neuzeitlichen Großstadt. Vortrag des Herrn
Professor Dr. Rudolf Eber sta dt.
In dieser ernsten Zeit strömen die neuen Erkenntnisse gewaltig auf uns ein. Überall drängen sich neue Erfahrungen hervor, treten uns neue, nicht vorhergesehene Erscheinungen, Aufgaben und Probleme entgegen. Doch gerade unser Gebiet möchte ich — so widerspruchsvoll Ihnen dies zunächst klingen mag — als eine Ausnahme bezeichnen. Auf unserm gesamten Gebiet des Städtebaus und des Wohnungswesens ist nichts eingetreten, was nicht die Wissenschaft vorausgesehen hat, nichts, was nicht den Erkenntnissen entspricht, die lange vor dem Krieg gewonnen waren. Meine Aufgabe ist deshalb nur, die tatsächlichen Zustände unseres Gebiets zu schildern, das eines der größten, vielleicht das bedeutsamste unserer inneren staatlichen Entwicklung bildet. Die Nutzanwendung aus diesen Tatsachen zu ziehen, die weiteren Folgerungen für die Gegenwart und für das zukünftige Handeln aufzustellen, bleibe Ihnen überlassen. Doch eine zweite Einschränkung möchte ich vorausschicken. Wenn von Wohnungspolitik und Bodenpolitik die Rede ist, was erwarten Sie mit Bestimmtheit zu hören ? Mit tausend Masten segelt hier der Sozialpolitiker in den Ozean seiner Wünsche. Staat, Gemeinde, Korporation, Verbände schafft Geld! Und du Staat, Gemeinde, Polizei, schreibet vor, verordnet, befehlet, daß es besser werden soll. Oder greifet ein in das Eigentum, in den Bodenbesitz. — Nichts von alledem werden Sie hier zu hören bekommen. Vereinzelte Eingriffe können hier nicht helfen. Wir haben lediglich die Grundlagen des Wohnungswesens zu prüfen, aus denen mit Notwendigkeit eine bestimmte und beabsichtigte Entwicklung hervorgeht, und zwar betrachten wir nicht die herrschaftliche Wohnung, sondern die überwiegende Hauptmasse der Wohnungen, die Kleinwohnung und Mittelwohnung — die Volkswohnungen, wie sie mit einem treffenden Ausdruck der Niederländer bezeichnet. Wohnungsfrage und Städtebau sind nur zu verstehen, wenn wir sie erfassen als einen Teil der neuzeitlichen Bevölkerungsbewegung,
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Wohnungswesen und Städtebau in der neuzeitlichen Großstadt.
einer Bewegung von so gewaltiger Größe, wie sie kein uns voraufgehender Zeitabschnitt gekannt hat. Denn sie erschöpft sich nicht in einer Wanderungsbewegung, nicht in einer Eroberung, Besiedelung und Verschiebung; sie setzt sich aus einein Dreifachen zusammen: zunächst neue Erwerbsformen, weiter eine außerordentlich starke Bevölkerungsvermehrung, endlich eine neue Schichtung, eine neue Güederung der Volksmassen. Den Ausgangspunkt bildet die Umwälzung der Industrietechnik, die das 18. Jahrhundert vorbereitet hat und die sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts in ihrer vollen Wirkung durchzusetzen beginnt. Die Handwerkstechnik und der handwerksmäßige Erwerb werden überwunden durch die Fabriktechnik und die Großindustrie. Kein Volk ist sich zunächst der Bedeutung dieses Vorgangs vollständig bewußt gewesen. Wir hören wohl von den schlimmen Wirkungen, die diese Zeit, wie jede Übergangszeit, hervorbringt. Wir hören von dem Arbciterelend, von dem Fabrik elend, der Ausbeutung, den Krisen. Aber was hier Großes, Neues, Dauerndes entsteht, das wird noch nicht erkannt. Sehen wir nun, was uns vererbt worden ist im Wohnungswesen und was in der uns voraufgehenden Zeit während des 19. Jahrhunderts auf unserem Gebiet geschaffen wurde. Die Industrie mit ihrer Produktionssteigerung zieht seit Anfang des 19. Jahrhunderts fortgesetzt neue Arbeitermassen heran. Zu Zehntausenden, bald zu Hunderttausenden strömen die Arbeiterscharen in die Städte und die Fabrikorte, die ihnen zweierlei bieten müssen: Arbeit und Unterkunft. Zunächst erscheint der Industriearbeiter als ein nicht klassifizierbarer Neuling. Er verlangt Unterkunft, aber nicht nach der Art des Bürgers und des Handwerkers; er arbeitet in der neuen Fabrik und gebraucht für sich die „Kleinwohnung". Dafür findet sich Rat. Die ältere Zeit hatte Freiflächen innerhalb der städtischen Grundstücke übrig gelassen. Auf den Höfen ist Raum genug; die Innenflächen der Grundstücke werden zu Iiieinwohnungen ausgebaut und der einträglichsten, gewinnbringendsten Verwendung als Bauland zugeführt. Aber nicht immer macht man sich die Mühe, neu zu bauen. Vorhandene Baulichkeiten, Schuppen, Lagerhäuser, Stallungen werden zu Wohnzwecken umgewandelt. Ältere Bürgerhäuser werden in Kleinwohnungen aufgeteilt und abvermietet. Planlos, regellos wird in den Städten und den Fabrikorten gebaut; ohne Vorschrift und ohne Vorkehrung wird der Boden genutzt. Daß hier
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etwas Neues, Selbständiges geschaffen werden müsse, wird nicht erkannt. Die städtisch-industrielle Bevölkerung wächst nach Zehntausenden; die Ausnutzung des Raumes, die Zusammendrängung wird immer stärker 1 ). Einen Wendepunkt bedeuten die Jahre 1830/32. In einem der schlimmsten Ausbrüche durchzog die Cholera die dichtbevölkerten, schlechtgelialtenen städtischen Bezirke und richtete allenthalben die größten Verheerungen an. Mit Schrecken erkannte man die Gefahren, die für die Gesamtheit der städtischen Einwohner aus den Zuständen schlecht gebauter, schlecht ausgenutzter, planlos angelegter "Wohnbezirke entstehen. Zum erstenmal zeigte jetzt die Allgemeinheit Interesse für die ,,Wohnungsfrage". Die Epidemien, die Landesseuchen sind es gewesen, die zuerst eine öffentliche Teilnahme für das Wohnungswesen erweckt haben; aber immer noch bezog sich dieser Anteil nur auf ein beschränktes Teilgebiet. Die allgemeinen gesundheitlichen Gefahren schlechtgehaltener Wohnbezirke hatte man erkannt — zunächst nichts weiter. Es fragte sich, welche weiteren Folgerungen gezogen würden. Hier trennen sich nun die Wege der europäischen Völker in der Entwicklung des Städtebaus. In England zuerst wurden eingreifende Reformen vorgenommen. Die neue Hygiene des Städtebaus wurde geschaffen mit ihrer bekannten Dreizahl: Straßenpflasterung, Trinkwasserversorgung, Kanalisation — alles Dinge, die die voraufgehende Zeit bei der Anhäufung von Volksmassen in städtischer Besiedelung nicht gekannt hatte. Schritt für Schritt wurde dann die englische Wohnungsgesetzgebung ausgebildet, die sich von Anfang an mit der Kleinwohnung und der Arbeiterwohnung als einem selbständigen Gebiet des Städtebaus beschäftigte. Das ist der Grund, weshalb wir immer wieder von England im Städtebau hören. Die neuzeitliche Technik des Städtebaus und der Städtehygiene ist hier begründet und zuerst eingeführt worden. In technischer Hinsicht mußten wir von der älteren Entwicklung des Auslands lernen. Aber wir haben nicht den Wunsch, englische Einrichtungen schlechthin nach Deutschland zu übertragen. Im Gegenteil, die ältere Generation, die G e g n e r des neuen Städtebaus sind es gewesen, die in geradezu sklavischer
') Vgl. Eberstadt, Neue Studien über Städtebau und Wohnungswesen, Bd. I Jena 1912.
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Nachahmung gedankenlos englische Einrichtungen übernommen und nachgebildet haben. Anders war der Verlauf auf dem Festlande. Die Führung in der Entwicklung des Städtebaus fiel hier — wie auf zahlreichen anderen Gebieten — zunächst an Frankreich. Dort war ein Mann an die Regierung gelangt, der im Städtebau ein politisches Mittel großen und größten Stils erblickte, Napoleon III. Unter ihm wurde das Ideal der neuzeitlichen kontinentalen Großstadt geschahen; es war Paris. Mit Staunen sah man, was hier unternommen wurde; wie die alte Baumasse einer Millionenstadt durch Niederreißung und Aufbau neu gestaltet wurde; wie in einem gigantischen Werk Unsummen von Werten umgewandelt und, durch den Städtebau um ein Vielfaches vermehrt, neugeschaffen wurden. Paris war die bewunderte neuzeitliche Großstadt. Alle unsere deutschen Städtebauer des letzten Zeitabschnitts sind, mittelbar oder unmittelbar, durch diese Schule gegangen. Wenn man in England die neue Technik der Städtehygiene studierte, so wurde für die äußere Anlage der Stadt, für den Straßenbau und die monumentale Gestaltung Paris das einflußreiche Vorbild der festländischen Großstadt. Was aber war in den nunmehr folgenden Jahrzehnten für das Wohnungswesen geleistet worden ? In Belgien, das vor allem in den Einflußbereich des französischen Städtebaus gezogen wurde, hat man es zuerst erkannt und ausgesprochen: „on a fait le vide" — man hat das Nichts geschaffen. Gewaltige Mittel hatte man in der Neubautätigkeit aufgewendet; und was war entstanden? Ein imposanter Städtebau mit Prachtstraßen und äußerlicher Monumentalität. In den Innenbezirken, in denen zahllose Kleinwohnungen abgerissen wurden, entstanden weltstädtische Kaffeehäuser, Restaurationen, Kaufläden, Geschäftshäuser, teure herrschaftliche Wohnungen. Für das Kleinwohnungswesen war in vielen Beziehungen eine offenkundige Verschlechterung eingetreten. Nirgends war der Gedanke verwirklicht, daß die neue Stadtanlage der Zusammensetzung der Bevölkerung angepaßt sein muß; an keiner Stelle war in dieser französischen Schule die Form der neuzeitlichen Großstadt gefunden, ja auch nur die Erkenntnis der Bedürfnisse der Hauptmasse der städtischen Bevölkerung irgendwie aufgegangen. Das waren die Vorbilder, in denen unsere deutschen Städtebauer geschult waren, als sich auch in Deutschland — später als in
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den Nachbarländern — der Städtebau zu regen begann und der neue Aufschwung unserer Städte einsetzte. U n d e u t s c h in jeder Einzelheit, unter der Erde aus England, über der Erde aus Frankreich kopiert — das war das fehlerhafte Mischsystem, das uns jetzt aufgezwungen wurde. An dritter Stelle ist der grundlegenden Anschauungen von Berlin zu gedenken, dessen Bausystem seit 1870 vorbildlich wurde für die Mehrzahl unserer deutschen Großstädte. Hier ist uns die geschichtliche Feststellung leicht gemacht; denn der Urheber des Berliner Bebauungsplanes hat sich selber in einer Schrift darüber ausgesprochen, daß und weshalb er die Mietskaserne mit ihren Folgeerscheinungen als allgemeine Bauform festlegen wollte. Es ist eine der denkwürdigsten Urkunden zur Beurteilung unserer neueren, künstlich zur Herrschaft gebrachten Bauweise. Der Berliner Stadtbaurat wollte die Mietskaserne allgemein durchführen, weil sie die der städtischen Arbeiterschaft angemessene Bauform sei. Die Schrift — sie ist im Jahre 1868 erschienen; die Hauptstellen wurden im Jahre 1893 neu abgedruckt als Antwort auf die damals erfolgten Angriffe gegen das Berliner Bausystem — gibt nun eine Schilderung des Berliner Arbeiterstandes. Als Typen der Arbeiterschaft werden bezeichnet eine bettlägerige Frau im Hinterhause, die einen Teller Suppe von den Herrschaften empfängt, und ihre Tochter, die sich durch Näharbeiten nützlich macht; ferner eine Reihe von Arme-Leute-Gestalten, die auf abgelegte Kleidungsstücke und auf Unterstützungen aus dem Vorderhause angewiesen sind — „das Resultat der gemütlichen Beziehungen zwischen den verschieden situierten Bewohnern". 1868 geschrieben, 1893 wörtlich abgedruckt1). Der Kernpunkt der neuzeitlichen Wohnungsfrage ist und bleibt die Eingliederung der neuen Arbeitermassen in das Staatswesen. Das war die große wirtschaftliche und sittliche Aufgabe, die während des 19. Jahrhunderts den ungestüm in der industriellen Entwicklung voranschreitenden Völkern gestellt war. Ein neuer Stand hat sich gebildet und er muß vermittelst des Gemeindeverbandes in das Staatswesen eingebürgert werden. So und nicht anders müssen wir unser Gebiet erfassen, und nur in solcher Erkenntnis ist eine zureichende Behandlung des Wohnungswesens möglieh. ') Eberstadt, Handbuch des Wohnungswesens; 2. Auflage, Jena 1910, S. 240.
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Wohnungswesen und Städtebau in der neuzeitlichen Großstadt.
Auf dieser Erkenntnis beruht nun unser neuzeitlicher Städtebau, an dem wir seit 20 Jahren arbeiten. Sein erster Grundsatz lautet: die Stadtanlage muß dem Stande und der Schichtung unserer städtischen Bevölkerung entsprechen. Für die Ansiedelung unseres Volkes, nicht für die Auswurzelung und Ausbeutung, müssen unsere Städte gebaut werden. Eine wirtschaftliche und zugleich sittliche Aufgabe — das ist durchaus kein Gegensatz. Es gibt keine doppelte "Wahrheit, wie es keine doppelte Moral gibt. In jeder Einzelheit werden Sie sehen, daß das sozial schlechte Bausystem auch das wirtschaftlich ungünstige ist. Die schlechten städtischen Bauformen sind künstlich herbeigeführt und werden gewaltsam festgehalten. Jedes wirtschaftliche Gesetz ist hier auf den Kopf gestellt, jede natürliche Bedingung in ihr Gegenteil verkehrt. W e n n das heutige System unseres Wohnungswesens wirtschaftlich begründet wäre, dann dürften wir es nicht angreifen, weil es dem Künstler, dem Architekten, dem Sozialpolitikcr mißfällt. W e n n die heutige Gestaltung dem Recht eines neuzeitlichen Staatswesens entspräche, dann dürften wir sie nicht bekämpfen, weil uns das Ergebnis stört. Auf die allgemein dauernden Grundlagen unseres Bausystems wollen wir jetzt das Augenmerk richten. Wir behandeln, wie oben bemerkt, lediglich die normale Klein- und Mittelwohnung und die Bedingungen ihrer Herstellung. Darunter verstehen wir die Hauptmasse der Wohnungen, wie sie der Arbeiter und Beamte mit kleinem normalen Einkommen bezahlen kann. Das sind etwa 85 % der städtischen Wohnungsproduktion. Außer Betracht bleibt also die herrschaftliche Wohnung; außer Betracht bleibt aber andererseits auch die unternormale Wohnung und das Wohnungselend. Die unternormale Wohnung ist keinem Lande und keinem Bausystem eigentümlich; sie findet sich im Kleinhaus wie in der Mietskaserne, in England wie in Deutschland, in Amerika wie in Australien, überall, wo es ältere, schlechtgehaltene Gebäude und Bevölkerungsteile gibt, die unter die Richtlinie ihres Standes herabsinken, sei es aus Armut oder aus anderen Gründen. Die unternormale Wohnung ist häufig geschildert worden; ich verweise'auf die Berichte des Berliner evangelisch-kirchlichen Hilfsvereins, der Ortskrankenkasse der Kaufleutc in Berlin u. a. m. Ferner ist es die Aufgabe unseres Vortrags, das in Deutschland
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vorherrschende, in der Mehrzahl unserer deutschen Städte angewandte Bausystem, nämlich das des hohen Bodenpreises und der Stockwerkshäufung, zu erörtern. Auf dieWohnverhältnisse bei niedrigemBodenpreis und Flachbau werden wir nur kurz hinweisen. Endlich ist das Hauptgebiet der Wohnungsproduktion zu behandeln, die privatgewerbliche, unternehmermäßige, durch Bauunternehmer und Spekulation betriebene Wohnungsherstellung; nicht aber, oder nur beiläufig, die gewinnlose, gemeinnützige, genossenschaftliche Bautätigkeit. Im Mittelpunkt des Wohnungswesens steht die Hausform. Wir unterscheiden in der Hauptsache drei Hausformen: das Einfamilienhaus, das Mehrfamilienhaus oder richtiger Mehrwohnungshaus, und die Mietskaserne, Massenmiethaus, Vielwohnungshaus. Für die Ausbildung der einzelnen Hausform ist allgemein und regelmäßig nur eines entscheidend: der Bodenpreis. Von dem Bodenpreis hängt es ab, welche Bauform das Baugewerbe wählen muß, ob Flachbau oder Stockwerkshäufung. Flachbau ist die Bauweise des Einfamilienhauses oder Zweiwohnungshauses, bei dem in einem Hause bis zu zwei Wohnungen übereinander angeordnet sind. Stockwerkshäufung ist die Bauweise, bei der vier oder fünf Wohnungen senkrecht übereinander liegen. Wo das Baugewerbe nicht unter dem Zwang der hohen Bodenpreisc steht, wählt es für den Wohnungsbau stets den Flachbau. Aber auch, wo der Bodenbesitzer selbst parzelliert und keine organisierte Bodenpreistreibung besteht, wendet er nur den Flachbau an. Die Gestaltung der Bodenpreise aber wird nicht lediglich oder auch nur vorzugsweise bestimmt durch wirtschaftliche, sei es privatwirtschaftliche oder volkswirtschaftliche Faktoren. Nicht die Intensität des städtischen Wachstums, die Größe des Kapitalreichtums, die Höhe des Einkommens sind entscheidend. Auch die Höhe der Wohnungsmiete ist n i c h t ausschlaggebend für den Bodenpreis; ob eine Kleinwohnung 250 Mark oder 300 Mark, eine Mittelwohnung 500 oder 600 Mark kostet, ist nicht das für die Bodenwertbildung Entscheidende ; sondern ob der. Bodenpreis vorweg so hoch gesteigert wird, daß er das Baugewerbe zwingt, fünf solcher Wohnungen senkrecht übereinander aufzusetzen — das ist das Wesentliche. Entscheidend für die Preisbildung des städtischen Wohnbodens ist in erster Reihe das B a u s y s t e m .
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Wohnungswesen und Städtebau in der neuzeitlichen Großstadt.
Zu Beginn des jüngsten Abschnitts unseres Städtebaus wurde uns ein bestimmter selbständiger Typus der Arbeiterwohnung überliefert; es ist das Kleinhaus, vielfach in der Form des Dreifenster hauses 1 ). In den Industriebezirken war der eigene Hausbesitz des Arbeiters allgemein verbreitet; doch auch die Mietwohnungen der Arbeiter befanden sich nicht in großen, sondern meist in kleinen Häusern; die großen Hausformen wurden für die Arbeiterwohnung noch wenig angewendet. Das Massenmiethaus war als allgemeiner Typus überhaupt unbekannt. Die typische Wohnweise des Arbeiters aus der Zeit um 1850/1860 zeigt die verschiedenen Formen des Kleinhauses im Reihenbau und Gruppenbau. Häufig wird das Kleinhaus als Doppelhaus gebaut; die Haushälfte enthält in jedem Geschoß drei Räume, die in bester Weise Licht, Luft und Sonne empfangen; seitwärts und rückwärts schließen sich Hof und Gärtchen an, die den Kindern die nicht hoch genug zu bewertende Gelegenheit zu Bewegung und Spiel gewähren. Nach der gesundheitlichen Seite stellt das überlieferte Haus mit seinen durchlüftbaren Wohnungen und seinen Freiflächen einen günstigen Wohnungstypus dar (vgl. die Abbildungen Handbuch des Wohnungswesens zweite Auflage S. 56 f.). Die Familie konnte ferner in dem anschließenden Gärtchen eine kleine Eigenwirtschaft mit ObSt- und Gemüsezucht betreiben, die für die Befriedigung der Haushaltsbedürfnisse eine wesentliche Bedeutung hatte. Von der hygienischen und bautechnischen Seite abgesehen, ist es auch notwendig, die Bedeutung der Wohnweise für die Wirtschaftsführung in Betracht zu ziehen. Die bei der älteren Wohnweise leicht gegebene und fast selbstverständliche Möglichkeit der Eigenproduktion hat heute für den städtischen Arbeiter so gut wie vollständig aufgehört. Selbst ein mehrfach gesteigerter Geldlohn wird hier nicht immer für die eingetretenen Wandlungen einen Ausgleich bieten. Die gegenwärtige Kriegszeit hat uns wieder deutlich vor Augen geführt, welche Bedeutung dieser Eigenproduktion zukommt. Allgemein sucht man jetzt wieder bei der städtischen Bevölkerung den Eigenbau von Gemüsen, Gartengewächsen und Kartoffeln zu fördern. Mit diesem Dreifensterhaus, der meist verbreiteten überlieferten ') Familienhans von drei Fenstern = ca. 5 m Straßenfront und den sich hieraus ergebenden Abmessungen des Grundrisses und der Wohnungsanlage.
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Hausform, und mit kleineren Mietshäusern sind die Hauptgebiete Deutschlands in die jüngste Entwicklungsperiode unseres Städtebaus eingetreten. Was nun geschaffen wurde, ist nicht in allen Teilen Deutschlands, auch nicht in allen Städten das gleiche. In dem größten Teil unserer Großstädte wurde nach dem Vorgang Berlins das Massenmietshaus, die Mietskaserne, eingeführt und zur Herrschaft gebracht, während in einem Teil der Großstädte des Nordwestens eine vierbis fünfgeschossige, von der eigentlichen Mietskaserne verschiedene Hausform ausgebildet wurde. Das System der Stockwerkshäufung drang allgemein rasch vor. Der Typus der Arbeiterwohnung wurde hiermit in den meisten deutschen Städten vollständig verändert. "Während bei den anderen germanischen Völkern die überlieferte Wohnform beibehalten und fortgebildet wurde, wurde in Deutschland in den Städten mit vielstöckiger Bauweise die Kleinwohnung im Vielwohnungshaus und in der Mietskaserne eingeführt. Die Berliner Mietskaserne der achtziger Jahre zeigt das neuere System in seiner Ausbildung. Durchlüftbarkeit und Freiflächen fehlen jetzt vollständig; Belichtung und Besonnung sind gänzlich mangelhaft. Die öffentlich-hygienischen Schöpfungen dagegen — Wasserleitung und Kanalisation — sind in den betreffenden Gebäuden bereits durchgeführt. Im Jahre 1887 erging für Berlin eine neue Bauordnung, die bald für die Vororte eingeführt wurde und auch sonst vielfach als Vorbild gedient hat. Während der folgenden 25 Jahre hat die Entwicklung unseres Städtebaues große Fortschritte gemacht. Für die Herstellung und Ausstattung der Wohnungen stehen ganz andere Summen zur Verfügung. Zugleich hat das immer wieder empfohlene Heilmittel Anwendung gefunden, die baupolizeiliche Regelung bei an sich unbefriedigenden Grundbedingungen. Die Vorschriften der Bauordnung wurden in steigendem Maße entwickelt und zu einer wahren Wissenschaft ausgestaltet — Vorschriften, die ein großes Studium erfordern, um sie zu erfüllen, und ein nicht viel geringeres Studium, um sie zu umgehen. Eine außerordentliche Verteuerung der Mieten ist eingetreten, ohne daß durch diese scharfen Eingriffe und Preissteigerungen irgend eine wesentliche Änderung des Systems erreicht wurde. Das nächste Ergebnis gegenüber den älteren Bauten ist der Wegfall eines Stockwerkes — fünf Geschosse statt sechs Geschosse — eine Verbreiterung des Hofes und im Innern die Verbreiterung der Treppen.
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Wohnungswesen und Städtebau in der neuzeitlichen Großstadt.
Inzwischen sind die Mieten der Kleinwohnung (Stube und Küche) in Berlin von etwa 180 Mark auf 300 Mark, in anderen nach dem gleichen System gebauten Großstädten in demselben Verhältnis gestiegen 1 ). Das ist nun das Ergebnis der Entwickelung in einem Zeitabschnitt steigenden Wohlstandes, steigenden Reichtums und gewaltig angewachsener Mietsaufwendung. Die Erfahrung darf in der Tat als ausreichend bezeichnet werden. Schwerlich kann man mit einem Schein von Recht sagen, daß hier weitere Versuche oder Eingriffe abzuwarten seien. Bemerkenswert ist die Betrachtung des Eindringens der neuen Bauweise, wie sie sich in den Stadterweiterungsbezirken unserer Großstädte gleichmäßig zeigt (vgl. die Abbildungen in meinen „Neuen Studien über Städtebau und "Wohnungswesen", Bd. 1 S. 162 f.). Plötzlich und brutal setzt sich die neue Bauform an die Stelle der vorhandenen, die gesamte Lebensweise und die sozialen und wirtschaftlichen Zustände der Bevölkerung umkehrend zugunsten eines schlechteren Systems. Nehmen Sie irgendein Gebiet unserer neueren Entwicklung — nirgends werden Sie annähernd eine solche Umwälzung finden, wie sie sich hier wider alle Überlieferung und wider alle wirtschaftlichen Gesetze vollzogen hat. Die Eigenart der Wohnungen zeigt sich uns aus den Grundrissen. Wir übergehen die Bauten der älteren Jahrgänge — obwohl diese stets die überwiegende Mehrzahl der jeweils vorhandenen Gebäude bilden müssen — und wollen nur die Grundrisse der jüngsten, den neuesten Stand aufweisenden Bautätigkeit in Betracht ziehen. Die unvorteilhafte Verteilung des Baulandes (vgl. die vorerwähnten Abbildungen) ist augenfällig. Wie für Wohnzwecke eine derartige Bauform angewendet werden kann, wird dem unbefangenen Beurteiler schlechterdings unbegreiflich erscheinen. Über die Untauglichkeit dieser Hausform für den Kleinwohnungsbau ist kein Wort zu verlieren. Sämtliche Wohnungen von Stube und Küche sind fest eingebaut und haben keine Möglichkeit einer Durchlüftung. Beachtenswert sind die Eckwohnungen, die weder Licht, noch Luft, noch Sonne in zureichendem Maße haben. In einer Höhe von fünf ') Vgl. die Abbildungen Handbuch des Wohnungswesens, 2. Auflage, S. 229 ff.
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Geschossen umgeben diese Wohnungen einen Hof, der selbst nichts als ein ummauerter Luftschacht ist. Dabei handelt es sich um Anlagen nach der neuesten Bauordnung, die selbst um den Preis einer starken Verteuerung jeden nur denkbaren Versuch zur Verbesserung der Mietskaserne gemacht hat. Weiter haben wir an dieser Stelle einen Umstand zu erörtern, der die Bauweise der Stockwerkshäufung in ihrer Gesamtheit betrifft. Das System der Stockwerkshäufung kann allerdings, wie wir gesehen haben, keine zureichenden Räume und keine Nebenräume für die Kleinwohnung liefern. Auf der anderen Seite aber wird hier eine Verschwendung mit Raum getrieben, wie sie sich, prozentual genommen, kaum die herrschaftliche Wohnung leisten kann. Die Zusammendrängung von 20 oder 30 Kleinwohnungen in einem Gebäude zwingt nämlich zu gemeinsamen Anlagen und Vorkehrungen, die keinen Pfennig einbringen und große Kosten verursachen. Das gemeinsame Treppenhaus, das hier in kostspieliger Ausführung angelegt werden muß, kostet in einem Vielwohnungsgebäude etwa 6000 Mark. Die Korridore, die den erforderlichen Zugang zu den einzelnen Wohnungen vermitteln, machen etwa 1100 Mark aus. Im Erdgeschoß geht ein wertvoller Raum verloren als Hausflur und Zugang zur Treppe, der, gering gerechnet, mit 2000 Mark anzusetzen ist. Hier haben wir allein 9000 bis 10 000 Mark für Anlagen, die gänzlich ertraglos sind und die bei dem Kleinhaussystem entweder vollständig wegfallen würden oder mindestens einen nutzbaren Raum abgeben. Hierzu kommt, daß diesen Kleinwohnungen aus bestimmten Gründen eine ebenso kostspielige wie zweckwidrige äußere Ausstattung gegeben werden muß. Der Bauunternehmer ist gezwungen, die Taxierung heraufzuschrauben, um eine höhere hypothekarische Beleihung zu erzielen. Der Hausflur wird prächtig ausgestattet mit Majolikafliesen, Malerei und Stuckornament — überladen mit dem falschen Luxus der Mietskaserne, der doppelt unerfreulich wirkt gegenüber der Dürftigkeit der Wohnungen. Als ich bei einer Besichtigung eines solchen Gebäudes den mich führenden Bauunternehmer auf diese seure Ausstattung hinwies, erfolgte die Antwort: „Ja, das mache ich wegen der Beleihung", also um mehr Hypotheken zu bekommen, d. h. diese zweckwidrige Aufwendung kostet Geld und muß auf die Miete geschlagen werden, die hierdurch in doppelter Richtung, durch Gewerbliche Einzelvorträge.
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die Verteuerung der Baukosten und durch die Hinaufschraubung des Grundstückswertes, gesteigert wird. "Wir haben in unserer städtischen Bodengestaltung in Deutschland ein singuläres Recht und eine singulare Entwicklung, die sich beide scharf abheben, sowohl von unserer eigenen einheimischen Überlieferung, wie von den bei den anderen Völkern ausgebildeten Verhältnissen. Hierbei ist die Scheidung entstanden zwischen den Ländern mit hohem Bodenpreis und niedrigem Bodenpreis. Diese Scheidung beruht auf keinen wirtschaftsgemäßen Grundlagen, sondern ist geradezu im Gegensatz zu den natürlichen Bedingungen herbeigeführt worden. Sie wird erzwungen durch ein bestimmtes Bausystem. Aber die Preistreibung geht noch erheblich über die Höhe hinaus, die sich proportional zu der Stockwerkshäufung ansetzen läßt. In England kostet der Quadratmeter Wohngelände in den großen Provinzstädten 5 bis 6 Mark, in der Sieben-Millionen-Stadt London in den Stadterweiterungsbezirken 8 bis 10 Mark, in Belgien in den Provinzstädten 4 bis 5 Fr., in den größten Städten bei Flachbau und Kleinhaussystem 10 Fr. für den Quadratmeter. In Berlin kostet der Quadratmeter Wohngeländc bei Mictskasernenbebauung in entsprechender Lage 60, 80, 100 Mark, in anderen Großstädten mit Mietskasernenbebauung 30 bis 60 Mark. Das ist nicht das Fünffache, sonder das Acht- bis Zehnfache der Bodenpreise anderer Länder. Baugelände gibt es genug; aber nur für bestimmte Bezirke ist Realkredit und Baugeld zu haben 1 ). Weiter haben wir bei unserem Bausystem noch auf eine andere Eigentümlichkeit des Wohnungsbaues hinzuweisen. Die stärkste Anhäufung der Bevölkerung, die höchste Behausungsziffer, findet sich in Deutschland in den Außenbezirken, d. h. in den Neubaubezirken der Großstädte. Nicht auf dem knappen hochwertigen Boden der Innenstadt, sondern auf dem reichlichen Gelände des jeweiligen Stadterweiterungsgebietes entwickelt sich die Mietskaserne mit der intensivsten Zusammendrängung der Wohnbevölkerung. Gerade die Neubaubezirke mit ihrem reichlichen, naturgemäß billigsten Boden, sind es, die bei uns die Schwierigkeiten für das Wohnungswesen bieten. Nach den natürlichen, wirtschaftlichen Gesetzen müßte die Bebauung in den Außenbezirken sich abflachen, wie auch die Grundrente sich abflacht. In diesen naturgemäßen Formen vollzieht sich die ') Vgl. E b e r s t a d t , Großstädtische Bodenpreise, Schmollers Jahrb. 39, Heft 2 S. 257.
Wohnungswesen und Städtebau in der neuzeitlichen Großstadt.
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Stadterweiterung in den Ländern, in denen nicht durch bestimmte Maßnahmen die Stockwerkshäufung erzwungen wird. Allerdings, die Ursache und das Interesse für diese wirtschaftswidrige Entwicklung ist deutlich; nur dem naturgemäß billigen, dem ursprünglich geringwertigen Außengelände kann durch besondere Maßnahmen ein stark gesteigerter Wert verliehen werden; dieser künstlich gesteigerte Wert bildet das Objekt der Preisauftreibung. Und hierbei sei gestattet, auf ein vielfach verbreitetes Mißverständnis hinzuweisen. Wir hören oft von der Gegnerschaft gegen die B o d e n s p e k u l a t i o n . Von einer grundsätzlichen Gegnerschaft kann bei mir und den mir folgenden Autoren keine Rede sein. Im Gegenteil; wir betonen auf das Nachdrücklichste die Unentbehrlichkeit der spekulativen Unternehmung in der Bodenerschließung und im Baugewerbe. Wir suchen sie energisch zu fördern. Wir bekämpfen nur die Preistreiberei, die sich gründet auf die Ausnutzung eines bestimmten B a u s y s t e m s ; die Wertbildung, die den natürlichen wirtschaftlichen Gesetzen entgegengesetzt ist; die uns ein fehlerhaftes System des Städtebaus und der Parzellierung aufzwingt. Diese Form der Bodenpreistreibung, die bei den mit uns im Wettbewerb stehenden Völkern völlig unbekannt ist und die lediglich auf unseren Städten lastet, diese ist es, die wir für schädlich halten, weil sie wirtschaftswidrig ist. Wir wollen sie ersetzen durch ein System, das allen Beteiligten gerecht wird und die notwendigen Funktionen im Städtebau erfüllt. Fragen wir jetzt nach der Grundform und der Ausgestaltung der Stadtanlage, die vor allem zwei eng zusammenhängende Gebiete zu bearbeiten hat: es sind die Straßenanlage und die Baublockaufteilung. Nach den Leistungen auf diesen beiden Gebieten kennzeichnet sich der städtische Wohnungsbau zu allen Zeiten; wir mögen das Mittelalter oder die neueren Zeitabschnitte studieren — das System des Städtebaus erscheint bestimmt durch die in der Straßenanlage und Geländeaufteilung befolgten Grundsätze. Wir haben in Deutschland ein weitgehendes Recht der behördlichen Aufstellung von Bebauungsplänen. Der Bebauungsplan ist eine Planzeichnung, die die Straßenführung und Straßenanlage, die Aufteilung und Einteilung des Geländes, den gesamten Plan für die Stadt bestimmt, Gegenüber diesem wuchtigen Recht wird es Ihnen vielleicht paradox klingen, wenn ich sage, wir haben seither 2*
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bei uns überhaupt keine Bebauungspläne gemacht. Und doch ist es FO — B a u f l u c h t l i n i e n haben wir aufgestellt. Das Streben nach Formalismus und Äußerlichkeit, die Vernachlässigung des inneren Wesens und des sachlichen Inhalts der bodenpolitischen Aufgaben, die übertriebene Bewertung äußerlicher Korrektheit und die Unfähigkeit zur Gestaltung des Innern — sind in dem Namen und in dem Ziel der Regulierungs- und Baufluchtlinie treffend gekennzeichnet. Zugleich entwickelte sich unter diesem System eine Besonderheit des deutschen Städtebaus; es ist der Kultus der Straße. Die Straße ist das bevorzugte Hauptstück, der Liebling unseres Bauwesens. Wir widmen ihr eine überschwängliche Verehrung und dichten ihr die höchsten Eigenschaften an; wir wenden alle Mittel auf, um sie recht imposant und insbesondere — recht teuer zu machen. Wir treiben in Deutschland keinen Städtebau, sondern in Wirklichkeit Straßenbau. Damit haben wir die Straße einer ihrer wichtigsten Aufgaben entfremdet, der vorteilhaftesten, besten, billigsten Aufteilung von Wohngelände zu dienen. Aber ein Zweites haben wir damit bewirkt: es ist die Verteuerung des Bodens. Dieser Straßenluxus, der Kultus der Straße, ist das erste Mittel, um die Verteuerung des Bodens und den Zwang schlechter Bauformen hervorzubringen. Dem schablonenhaften Städtebau habe ich in meiner ersten Arbeit (1892) die Forderung der Individualisierung der Straße gegenübergestellt: die Scheidung der Straßen in Verkehrsstraßen und Wohnstraßen. Es ist das Programm des neueren Städtebaus geworden, das heute allgemein anerkannt wird. Diese Scheidung des Straßensystems ist unserem älteren Städtebau stets eigentümlich gewesen. Das Mittelalter legte seine Städte in der Weise an, daß durch ein Straßengerüst die Hauptstraßenzüge festgestellt wurden; hierdurch ergaben sich die alten Quartiere, die Stadtviertel in ihrer individualisierenden Ausgestaltung. Das Straßengerüst, die Hauptstraßen, Kardinalstraßen dienten dem Verkehr; das zwischen ihnen hegende Gelände wurde durch Aufteilungsstraßen, Nebenstraßen, Kleinstraßen aufgeteilt. Unser neuzeitlicher Städtebau soll und darf diese alten Vorbilder nicht nachahmen. Wir brauchen neue, unserer Zeit angepaßte Formen. Aber der Grundgedanke, das System, ist das gleiche. Auch wir müssen
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ein Straßengerüst von leistungsfähigen Verkehrsstraßen herstellen und das dazwischen liegende Gelände in zweckmäßiger Form zur Aufteilung bringen. Hierfür haben wir zwei Wege: die Wohnstraße und den Wohnhof 1 ). Die Wohnstraße verlangt einen einfachen, billigen Straßenbau, genaue Anpassung an das Gelände und zweckentsprechende Aufteilung der Grundstücksflächen. Jede überflüssige Aufwendung auf die Straßenbaukosten sollte hier vermieden werden. Der Durchgangsverkehr ist aus der Wohnstraße fernzuhalten. Gleichwohl wird der Verkehr bei der Scheidung von Wohnstraße und Verkehrsstraße besser auf seine Rechnung kommen als bei dem seitherigen System; denn nichts ist für die Leitung des Verkehrs nachteiliger als ein System, das alle Straßen gleichartig behandelt und die besonderen Bedürfnisse des Verkehrs nicht berücksichtigt. Das dritte Hauptgebiet des Wohnungswesens ist der Realkredit. Leider ist es unmöglich, dieses schwierige Gebiet hier irgendwie eingehend zu behandeln. Ich muß mich auf wenige Angaben beschränken. Halten wir uns lediglich an das Gebiet des Wohnungswesens, so ist der Realkredit entscheidend: 1. für die Bewertung des Bodens, 2. für die Bebauung des Bodens, 3. für die Umsetzung und die Besitzverhältnisse der Grundstücke. Wir wollen uns zunächst an einem Beispiel aus der Praxis die Verwendung, die Verteilung und die Abmessung des Realkredits klar machen. Die Grundstücke der beifolgenden Tabelle wurden von einem privaten Bauunternehmer in einem nördlichen Berliner Arbeiterviertel an einer neuangelegten Straße erbaut. Das neuerschlossene Gelände wurde von dem Vorbesitzer, der den ganzen Komplex als Ackerland ererbt hatte, im Jahre 1903 zu Baustellen aufgeteilt und freihändig verkauft. Beachtenswert sind zunächst die Unsummen an Realkredit, die hier verbraucht werden. Die produktive Aufwendung beträgt 479 000 Mark, hierzu die Straßenbaukosten. Um diese Objekte in Verkehr zu bringen, bedarf es eines Hypothekarkredits von 740 000 Mark. Sicherlich ist diese Ordnung der Dinge fehlerhaft. Wir sehen ferner, welche Übersättigung mit Kreditkapital hier besteht. Der Bedarf der produktiven Aufwendung verschwindet vollständig und ') Eberstadt, Städtebau und Wohnungswesen in Holland 1914.
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Baukosten
JC
X. Hyp. ist hiervon prozentual
l.
2.
Städtische Feuerkasse
Belastung
Verkaufspreis
Taxe der Hypothekenbank f. e. lleleihung mit 60"/. z- I. Stelle
.Ii
I. Hyp. ist hiervon prozentual
M
M
I- Hyp. ist hiervon prozentaal
M
in °/« des Verkaufspreises
3.
4.
5.
6.
7.
8.
e.
166850 1 1 4 ° / 0
208100 91,3°/o I. 190000 zu 255000 74,50°/o 316660 124,1% 4 Vi °/o II. 44000 zu 6°/o •) RK. 11000
166700 114°/o
207900 91,3"/o
I. 190000 zu 253000 74,60°/o 316660 125,l°/o 4% o /0 II. 46000 zu 50/0
RK. 7000 145984 116,6°/o 182000 93,60/o I. 170000 zu 261500 65,0 0/0 283330 108,4°/o 4 ' / 8 °/o
II. 60000 zu 6°/o RK. 31600 zu 6°/o 479534
698000
739500
769500 Mieten
916650 63625
wird geradezu erdrückt unter dem Berg des spekulativen Kapitalanspruchs. Alle diese Werte sind in schlimmster Weise überkapitalisiert. Betrachten wir die prozentualen Verhältnisse der ersten Hypothek zu den einzelnen Wertziffern unserer Tabelle, so zeigt sich, daß die erste Hypothek volle 114 bis 1 1 7 % der Baukosten beträgt; sie ist also nicht nur vollständig genügend zur Deckung der Bautätigkeit, sondern ergibt noch eine erhebliche Summe darüber hinaus. Der produktive Aufwand für die drei Gebäude (Spalte 1) beträgt 479 534 Mark; der Verkaufspreis beim erstmaligen Verkauf (Spalte 6) 769 500 Mark, die Spannung zwischen beiden Zahlen demnach 290 000 Mark. Diese große Summe von rund 300000 Mark enthält a) den Bodenpreis und b) den Spekulationsgewinn, der beim ersten Verkauf der Grundstücke erzielt wurde. Wie hoch darf nun wirtschaftsgemäßerweise der Bodenpreis *) RK. = Restkaufgeld.
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bei solchen Mietskaserne» sein ? Die drei Grundstücke unserer Tabelle enthalten insgesamt 115 Wohnungen von 1 bis 3 Zimmern des bekannten Berliner Typus der Kleinwohnung von Stube und Küche, sowie der kleinen Mittelwohnung. Nehmen wir nun an — was allerdings eine ganz unzulässige und unvertretbare Annahme ist —, daß die Wohnungen der Mietskaserne g l e i c h w e r t i g seien mit denen des Einfamilienhauses und daß der Boden für eine Wohnung in einem Massenpferch mit seinen Hof- und Winkelzimmern gleichwertig angesetzt werde mit dem Boden eines Einfamilienhauses. Wir hätten dann für eine Wohnung in diesen Mietskasernen einen Bodenpreis von 700 Mark, für die drei Grundstücke mit 115 Wohnungen insgesamt einen Bodenwert von 80 500 Mark anzusetzen. Bei einer Grundfläche der drei Grundstücke von 2766 qm ergibt dies 29 Mark für 1 qm, also genau den Preis, den der Vorbesitzer seinerzeit beim Verkauf seines Grundstücks tatsächlich gefordert und erzielt hat; ein Preis, der sich vielleicht wirtschaftlich erklären läßt und bei dem der Grundbesitz gewiß gut bestehen kann. In Wirklichkeit wird der Grundbesitz im Baustellenhandel auf das Doppelte und Dreifache des obigen Betrages getrieben. Wenn man diese Vorgänge mit dem harmlosen Namen Bodenspekulation zu decken sucht, so bin ich diesem Mißbrauch eines vieldeutigen Ausdrucks schon früher entgegengetreten; es handelt sich um eine geschäftsmäßige, nur in Deutschland bestehende Organisation zur Preisauftreibung und zur Überwälzung von Preisaufschlägen. Wir stehen vor einer vollständigen Verwilderung der Bodenpreisbildung und der Anwendung des Realkredits. Das Mittel, das man für die heutige Beleihungstechnik anwendet, ist die Übertaxierung. Die Grundstücke unseres Beispiels sind derart taxiert — es ist die Schätzung einer unserer ersten Hypothekenbanken —, daß die gesetzlich zulässigen 60 % der ersten Hypothek in Wirklichkeit 75 bis 80 % eines heraufgeschraubten, aufgetriebenen Wertes ergeben. Der Hauptfehler liegt zunächst in dem Bausystem, das derartige Objekte schafft, Wohnhäuser mit 30, 40 Wohnungen im Werte von 150 bis 200 000 Mark, die niemals ein realer Käufer erwerben kann. Stellen Sie sich vor, es würde verfügt, daß unsere Sparkassen nur Beträge von 200 000 Mark annehmen und auszahlen dürfen; es würde angeordnet, daß Staat, Land und Gemeinde ihre Anleihen nur in
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Abschnitten von 200 000 Mark herausgeben dürfen. Man würde eine solche Anordnung als wirtschaftlichen Wahnsinn bezeichnen. Was sollte aus unseren Sparkassen, was sollte aus dem Absatz unserer Staatsanleihen werden? Und diesen Widersinn haben wir im Städtebau durch die Mietskaserne zum unbedingten System erhoben. Ausgesperrt haben wir die ganze Kapitalkraft unseres Volkes, während andere Länder jede Maßnahme treffen, um das nationale Kapital für die Bodenbebauung heranziehen. Entscheidend ist die absolute Höhe des Bodenpreises und der Baustelle. Nicht wie hoch prozentual der Anteil des Bodenpreises steigt — obschon dies auch ein wesentliches Moment ist —, sondern welcher a b s o l u t e B e t r a g aufzuwenden ist, das ist das Entscheidende. Es ist ein grundlegender Unterschied, ob für eine Einzelbaustelle von einem realen Käufer 800 Mark aufzubringen sind oder ob für eine Kollektivbaustelle, d. h. für die Baustelle eines Massenmiethauses, 40000 Mark zu beschaffen sind von einem Unternehmer oder von einem nominellen Käufer, die diese Summe nicht haben und niemals haben können. Nun greift man zunächst zu dem Hilfsmittel der Übertaxierung. Der Grund ist klar. Der Bauunternehmer muß bei uns zunächst den hohen Bodenpreis ganz oder teilweise bezahlen. Er muß von der ersten Hypothek einen Betrag von 15 000, 20 000, 40 000 Mark abzweigen für den Bodenbesitzer. Bei richtiger Schätzung würde für den Bau selbst nichts übrig bleiben. Also hilft man sich durch Überschätzung. Dem schönen Gesetz ist Genüge getan. • Nominell werden 50 oder 6 0 % gegeben; in Wirklichkeit sind es 80 oder 85%. Warum aber lastet das System gerade auf dem Klein Wohnungsbau? Ein Münchener Unternehmer hat es mir mit kurzen Worten gesagt: „Stellen Sie sich doch die Sache einfach in der Praxis vor. Ich baue ein Haus. Rohbau und Putz kosten mich ungefähr gleich, ob ich eine Arbeiterwohnung oder eine herrschaftliche baue. Nun kommt die Ausstattung. Natürlich kostet mich die herrschaftliche Ausstattung etwas mehr; aber sie bringt mir ungleich viel mehr in der Taxierung und dann in der Beleihung. Ich bekomme also ganz andere Beträge heraus, als wenn ich aus meinem Rohbau eine Arbeiterwohnung mache." Sie sehen: bei der herrschaftlichen Wohnung wird höher taxiert, deshalb höher beliehen und nach unserer verfehlten Ordnung des Realkredits mehr verdient.
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Der Unternehmer, wie Sie gehört haben, hilft etwas nach durch Ausstattung nach außen und im Innern; er baut auf Beleihung. Aller mögliche Ausputz wird angewendet — Ornamente, Dachaufsätze, Urnen, Vasen, Stuck —, der nach einem halben Jahre in Verfall gerät. Der Bürgermeister einer unserer rheinischen Städte bemerkte kürzlich einem Bauunternehmer: bauen Sie doch einfach und vernünftig; darauf war die Antwort: „Ja, dann bekomme ich nicht genug Hypotheken." Wiederum eine der Ursachen für die Verteuerung unseres Wohnungsbaues; denn die hochgeschraubte Beleihung muß überwälzt werden auf die Mieter, die Gesamtbevölkerung. Wie nun die Beschaffung und die Verwendung des .Realkredits erfolgt — wir haben heute in Deutschland mit einer hypothekarischen Verschuldung von 70 Milliarden zu rechnen, der keine andere Nation irgendwie ähnliche Verhältnisse an die Seite zu stellen hat —, welche Zustände hier bestehen, das kann ich hier nicht mehr erörtern. Hierzu bedarf es einer besonderen Schilderung über die Organisation für die Preistreibung bei den Bodengeschäften und dem Baustellenhandel; die Belastungen, die Verluste, die Schwierigkeiten für die produktive Tätigkeit. Wir haben ein Baugewerbe, das unter Bedingungen arbeiten muß, die für die Fabrikation von Streichhölzern und Stecknadeln heute glattweg undenkbar wären. Der ganze Aufbau unseres Gebietes läßt sich mit dem Worte kennzeichnen: rückständig und leistungsunfähig in einem Zeitalter allgemeinen technischen Fortschritts. Weiter muß ich die letzte Erwartung zerstören, die selbst von Personen in hoher Stellung öfter ausgesprochen wird — die Hoffnung auf den Zusammenbruch. Es kann so nicht weiter gehen, sagt man, die Krise, der Zusammenbruch muß kommen; sie sind schon da. Soll man diese Anschauung noch widerlegen? Wir haben diese Grundstückskrisen seit 30 Jahren fortwährend gehabt, in Berlin und München, in Dresden und Köln, und haben sicherlich jetzt Erfahrungen genug gemacht. Was war die Folge der früheren Krisen und was ist die Folge der gegenwärtigen Grundstückskrise von Großberlin? Eine Anzahl ehrlicher Leute wird betrogen und zugrunde gerichtet, ein Schwärm schiffbrüchiger Existenzen wird wieder einmal auf den Strand gesetzt. Aber unerschiittert und unbeschädigt bleibt die Grundlage des Ganzen, die Preistreibung und die Bodenspekulation, nein, stärker wird sie nach jeder Grundstückskrise, die die Schwachen ausräumt und die Starken stärker macht.
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Wohnungswesen und Städtebau in der neuzeitlichen Großstadt.
Überblicken wir jetzt, was wir in unserer Erörterung behandelt haben. Wir haben in jeder Einzelheit gesehen: das System unseres Wohnungswesens in den Städten ist technisch und wirtschaftlich verfehlt. Was soll nun zur Besserung der Verhältnisse geschehen? Wohl werden von allen Seiten Hilfsmittel angepriesen, die die schlechten Zustände erträglich machen und damit verewigen sollen. Der eine fordert mehr Freiflächen. Sie haben gesehen, was das bedeutet. Erinnern Sie sich an unsere Erörterung über die Bebauungspläne. Mit Freuden gibt der Bodenspekulant noch 5 % mehr Freifläche, wenn man ihm die Mietskaserne gestattet. Die soziale Gesinnung hat sich gezeigt bei dem Handel um das Tempelhofer Feld, der einmal acht Tage lang die Öffentlichkeit erregt hat. Zuerst bot man 30 % Freifläche. Dann steigerten sich die Bewerber auf 35 %, 40 bis 42 %. Da bot der jetzige Käufer 45%, bekam das Land und — baut fünfgeschossige teure Mietskasernen. Andere verlangen mehr Realkredit. Auch diese Einrichtung haben Sie kennen gelernt. Beim Individualhaus ist die vermehrte Zufuhr von Kreditkapital gut, bei dem herrschenden System wird sie nochmals den Bodenpreis steigern. Der Dritte verlangt eine Verschärfung der baupolizeilichen Eingriffe. Auch deren Erfolg haben Sie gesehen in dem Vergleich zwischen den Mietskasernen von 1886 und 1912. Auch damit sind wir am Ende. Der Vierte endlich erwartet das Heil von dem Zusammenbruch. Unsere Hoffnung soll darin bestehen, daß uns das Haus über dem Kopf zusammenstürzt. Das sind nicht die Wege, die ans Ziel führen. Wie ein roter Faden zieht sich durch meine Untersuchung der Grundsatz: die Wohnungsbesserung muß von selber kommen durch richtige Gestaltung der Grundlagen, d. h. wir müssen zunächst die wirtschaftsgeniäßen Grundlagen herstellen, auf denen sich die Wohnungsproduktion in günstigen Formen entwickeln kann. Die gegenteilige Anschauung ist die seither herrschende: schlechtc, untaugliche Grundlage, die man hinterher durch endlose Eingriffe erträglich zu machen sucht. Hierdurch die Anhäufung des Verwaltungsapparats, Verteuerung der Produktion, unbefriedigende Entwicklung, keine Änderung der Mißstände. Die landläufige Anschauung wünscht: möglichst viel befehlen, anordnen; möglichst viel dekoratives äußerliches Beiwerk, hinter dem alles beim alten bleibt. Der Weg des Vorgehens muß ein anderer sein: nicht die übliche
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Erträglichmacherei, nicht neue Eingriffe und Verordnungen, sondern Beseitigung des fehlerhaften Systems des Städtebaus, Herstellung gesunder Vorbedingungen für das Bodengeschäft und die Bauunternehmung. Es ist zehnmal einfacher, naturgemäße richtige Grundsätze im Städtebau durchzuführen, als den heutigen gekünstelten und gemeinschädlichen Zustand festzuhalten. Allerdings, wir sind mit unseren Bestrebungen noch weit vom Ziel entfernt, wenn auch gewisse Anfänge des Fortschritts zu verzeichnen sind. Ein neues Wohnungsgesetz, auf richtigen Grundsätzen aufgebaut, liegt dem preußischen Landtag vor und hat Aussicht auf Annahme. Eine Kommission zum Studium der Notstände im Realkredit ist vom Reichskanzler einberufen und wird zweifellos manche gute Anregung geben. Aber eine gründliche Besserung des Städtebaus und des Wohnungswesens, davon bin ich überzeugt, wird erst dann eintreten, wenn die Interessenten, die Nächstbeteiligten, Hausbesitz und Bodengewerbe, erkannt haben, daß das heutige System ihnen selber auf die Dauer zum Schaden gereicht und daß ihr Vorteil bei einem wirtschaftsgemäßen Städtebau besser gewahrt ist. Die Kriegszeit wird manchem darüber die Augen geöffnet haben.
IL
Deutschlands Leinenindustrie. Vortrag des Herrn Heinrieh
Grünfeld,
in Firma Landeshuter Leinen- u. Gebildweberei F. V. Griinfeld, Mitglied der Handelskammer zu Berlin.
Die Erzeugung und Verwendung von Leinen, von deren geschichtlicher Entwicklung, technischer Ausgestaltung und wirtschaftlicher Bedeutung für Deutschland ich Ihnen heute einen allgemeinen Abriß geben will, ist unter den 4 Spinnstoffgewerben (wie jetzt unser Reichsarbeitsblatt statt Textilindustrie sagt) nicht nur in Deutschland am frühesten urgeschichtlich beglaubigt, sondern in der gesamten Entwicklungsgeschichte fast aller Völker der alten Welt finden wir Belege für die hohe Bedeutung der Flachskultur. Wir besitzen in den noch erhaltenen leinenen Umwicklungsbändern der Mumien fast fünf Jahrtausende alte Beweisstücke für die Dauerhaftigkeit der versponnenen und verwebten Flachsfaser und für die Höhe der damaligen Webekunst; wir erkennen aus den besonderen Religionsvorschriften der Ägypter, Israeliten, Babylonier, daß die Tracht der Priester, also der Höchststehenden, nur aus Leinwand bestehen durfte, und wenn wir berücksichtigen, daß in alter Zeit die Priester gleichzeitig die Ärzte waren, können wir aus diesem Gebrauche auch die Anerkennung des gesundheitlichen Wertes des Leinens bestätigt finden. In diesem Zusammenhange mag erwähnt werden, daß im Heimatlande der Baumwolle, in Indien, die Kaste der Krieger, welche von allen die meisten Beschwerden zu ertragen hatten, nach der uralten Kleiderordnung allein leinene Hemden tragen durfte. Berühmt waren die schon von Homer besungenen Webereierzeugnisse der Griechen, berüchtigt beinahe die unendlich feinen, unseren Batisten ähnlichen Leinen der Inseln Kos und Amorgos, welche in der Zeit des römischen Sittenverfalls mehr zum Entschleiern als zur Bedeckung des Körpers dienten. Den Römern verdanken wir noch heute die erste Kunde von der reichen Leinenverwendung bei den alten Germanen. „Die germanischen Frauen kennen keine schöneren Klcidererzeugnisse als aus Flachs gewebte" berichtet Plinius, und Tacitus gibt ausführliche Einzelheiten über die Behandlung der Leinenzeuge damaliger Zeit an. Naturgemäß kann weder
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Deutschlands Leinenindustrie.
in dieser Anfangszeit deutscher geschichtlicher und wirtschaftlicher Entwicklung noch in den nächsten Jahrhunderten von irgend welcher gewerblichen Betätigung die Rede sein, aber schon zur Zeit Karls des Großen finden wir in der Hingabe je eines leinenen Gewandes an jeden getauften Heiden und im Austausch kostbarer Leinengewebe an die Abgesandten des Morgenlandes gegen deren Schätze die nachweisbaren Ansätze der Verwertung reichlich über den Eigenbedarf der einzelnen Familie in der Hauswirtschaft erzeugter Leinengewebe. Im elften Jahrhundert berichtet uns Adam von Bremen bereits von einem regelmäßigen Tauschhandel der aus kräftiger Leinwand gefertigten Faltkleider gegen die seltenen Tierfelle nördlicher Völker — nebenbei ein Beweis, daß auch im kalten Norden der Wert des Leinens zur Kleidung ebenso geschätzt wurde, wie im heißen Orient. Mit dem Vordringen der friesischen Wollweberei und der namentlich durch die italienischen Handelsstädte eingeführten kostbaren morgenländischen Stoffe beginnt im 12. und 13. Jahrhundert die Verwendung des Leinens als bevorzugter Stoff für die Oberkleidung zurückzutreten. In den Leinenkitteln unser estländischen und wendischen Bauern und in den weißen Paradehosen unserer Soldaten finden wir heute noch Reste jener Bekleidungsart für die Männer, während für die weibliche Überkleidung die nach der Laune der Mode wechselnden farbigen Kleiderleinen ein Wiederaufleben vorzeitlicher Gebräuche bedeuten. Steigende Bedeutung gewann aber von da ab das Leinen für die auf dem bloßen Körper getragene Unterkleidung, die Leibwäsche, und durch den zunächst bei vornehmen Familien in Aufnahme kommenden Gebrauch sich bei der Tafel leinener Gedecke zu bedienen. Durch diese Verschiebung in der Verwendung, die eine Verminderung für den Selbstverbrauch der Leinwanderzeugnisse verursachte, wurde wohl am meisten das Bedürfnis nach Handelsabsatz und Ausfuhr geweckt. So begann neben dem einfachen Tauschhandel ein gewerbsmäßiger, kaufmännischer Handel sich zu entwickeln und es entstanden in fast allen Teilen unseres jetzigen Deutschen Reiches Markt- oder Messeplätze, in denen der Vertrieb von Leinenwaren eine wesentliche Rolle spielte. Die Entwickelungsgeschichte der Deutschen Hansa und ihrer führenden Städte von Reval bis Amsterdam, von Köln bis Breslau
Deutschlands Leinenindustrie.
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und Krakau, von Lübeck und Stettin im Norden, sowie von Ulm und Nürnberg im Süden ist eng verknüpft mit der Entwicklung des Handels in deutschen Leinen, die den bedeutendsten Ausfuhrartikel vom 14. bis zum 16. Jahrhundert bildeten und den Euhm der deutschen "Weberei über den ganzen Erdball trugen. An jene Blütezeit einer damals tatsächlich im heimischen Boden wurzelnden Industrie erinnert noch heute das bekannte Wort Kaiser Karl V. beim Anblick der französischen Kronjuwelen: „Ich habe in meinem Augsburg einen Leinenweber, der dies alles bezahlen kann." Im Hause dieses, Anton Fugger, des Vorstehers der Leinenzunft, der als Enkel eines einfachen Leinenwebers durch Ausgestaltung des Welthandels zu fürstlichem Reichtum gekommen war, wohnte 1530 der deutsche Kaiser bei Gelegenheit des Reichstages. Mit dem Niedergange der Hansa und aus den gleichen Ursachen ging dann der deutsche Leinenhandel und demgemäß auch die gewerbsmäßige Herstellung von Leinengeweben sehr schnell zurück. Die nach Entdeckung der Seewege nach Amerika, Ostindien und Australien schnell zur Weltmacht strebenden Seestaaten, Spanien und Portugal, später auch die Niederlande, brachten einerseits die Baumwolle als Ersatzstoff nach Europa und verdrängten dadurch für manche Zwecke den Leinenverbrauch, sie versuchten andererseits ganz wie unsere Feindesstaaten heute den deutschen Handel auszuschalten und begannen — dies galt namentlich für Holland und Flandern — in den eigenen Staaten die Pflege der Leinenindustrie auf das kräftigste zu fördern. Dazu kamen als geradezu vernichtend für jede strebsame, gewerbliche Betätigung die inneren Kriege der deutschen Städte, Stände und Staaten, die namentlich durch den 30 jährigen Krieg zur Verarmung und zum allgemeinen Niederbruch — auch in den uns heute beschäftigenden Gewerben führten. So lange die einzelnen Teile der Webereivorgänge handwerksmäßige blieben, das heißt bis zum Anfang und vielfach über die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinaus, hat sich die deutsche Leinenweberei kaum wieder von dem schweren Rückschläge erholen können, trotz der unendlich vielseitigen Förderungen und Schutzmaßnahmen, welche die einzelstaatlichen Fürsten und namentlich für Preußen der große König dem Leinengewerbe ihrer Länder jeweilig zuteil werden ließen. Ehe wir uns mit dieser Entwicklungsstufe zur Neuzeit beschäftigen, möchte ich Ihnen die wesentlichen technischen Vorgänge zur Gewerbliche Einzelvorträge.
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Deutschlands Leinemodustrie.
Schaffung von Leinengeweben, wie sie bis dahin üblich waren, in allgemeinen Umrissen erläutern. Unter Leinengeweben im allgemeinen Sinne der damaligen Zeit und im engeren Sinne auch heute noch versteht man die auf dem Webstuhle hergestellten glatten oder gemusterten Stoffe aus Fäden, welche durch Spinnen der Bastfasern der Flachspflanze gewonnen wurden. Das Grundmaterial liefert also der y , bis 1 m hohe Stengel jener blaublühenden Ackerpflanze, deren Früchte zur Gewinnung von sogenanntem Leinöl verwendet werden. Die außerordentlich umständliche und mühsame Loslösung der spinnfähigen Bastfasern von den holzigen Stengelteilen war in ihrer einfachen Ursprünglichkeit durch die Jahrtausende fast unverändert geblieben. Nach dem Trocknen der Pflanze und dem Abstreifen der Blätter und Samenkapseln, wozu einzelne Bündel durch Riffelkämme gezogen werden, beginnt das sogenannte Rösten, das durch mehr oder minder langsame Gärung eine künstliche Fäulnis schafft, die zur Abtrennung der Holzteile des Stengels, des sogenannten Flachsstrohes, notwendig wird. Je nachdem man diese Gärung den natürlichen Witterungseinflüssen durch Ausbreiten und Wenden auf Wiesen überläßt (sogenannte Tauröste) oder durch Einhängen der Bündel in stehendes, faulendes Wasser (Wasserröste) zu beschleunigen sucht, nimmt dieser Teil der Bearbeitung 5—10 Wochen in Anspruch — früher für die Landwirtschaft eine nach der Ernte bequem entbehrliche Zeit. Erst im letzten Jahrhundert hat die Einführung der Warmwasser- und teilweisen Dampfröste (Vorgänge, deren Erklärung schon im Namen liegt) eine Abkürzung dieses Prozesses in einzelnen Gegenden auf etwa 2—3 Wochen ermöglicht. Dem Rösten folgte das Brechen des Flachses, bei welchem durch einen stumpfen Knickhebel von den hindurchgeschobenen Pflanzenteilen Zoll um Zoll der Holzschalen losgeschlagen wurde. Die dann noch hängenbleibenden Strohteile werden beim sogenannten Schwingen, d. h. dem Durchschlagen, bzw. Hecheln, d. h. dem Durchziehen durch mit stumpfen und spitzen Nadeln besetzten Kämmbretter abgetrennt. Der Hechelprozeß löst auch die einzelnen Bastfasern voneinander, die nun, oberflächlich nach Länge und Gleichmäßigkeit der Feinheit zusammengeordnet, zum eigentlichen Spinnen fertig sind. Die innere Geschlossenheit und verhältnismäßige Eigenlänge dieser durch das Spinnen in Drehungen zu Fäden zsammengefügten glattwandigen Grundfasern ist
Deutschlands Leinenindustrie.
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übrigens der Hauptgrund für die außerordentliche Haltbarkeit des Leinens, insbesondere gegenüber dem aus kurzflockigen Fruchtkapselfasern zusammengedrehten Baumwollgarn. Das Spinnen des Garnes erforderte in all den Jahrhunderten, in denen nur ein wirkliches Handspinnen üblich war, eine außerordentliche Kunstfertigkeit und Übung. Durch beständige Wirbeldrehung eines meist mit einer eisernen Kugel beschwerten Schwingstockes wurden die mit der zweiten Hand in gleichmäßigen Lagen zugeführten Fasergruppen zu Einzelfäden zusammengewunden; von der Menge der zusammengedrehten Fasern hing die Stärke, von der Geschicklichkeit des Drehens die Gleichmäßigkeit des Spinngarnes ab. Mägde und Knechte, Kinder und Greise spannen also durch Jahrtausende mit derselben Art Spindel, mit der wir schon die Athene dargestellt finden, und es bleibt erstaunlich, daß damit Fäden z. B. für Spitzen von solcher Feinheit hergestellt wurden, wie unsere allervollkommensten Maschinen sie kaum schaffen können. Das uns allen so vertraute Spinnrad, das im deutschen Märchenschatz und auf der Bühne oft eine wirksame Rolle spielt, und von dem wir daher glauben, daß es uralt sei, ist erst 1530 von einem Braunschwciger Bildschnitzer (Jürgen) erfunden worden und hat nur langsam in zwei Jahrhunderten die Handspindel zurückgedrängt. Es ist wertvoll sich dies zu "vergegenwärtigen, um den außerordentlichen wirtschaftlichen Umschwung in unserer Industrie im letzten Jahrhundert richtig zu würdigen. Nach dem Spinnen kam das rohe Garn zum Weben auf den auch in Jahrtausenden in seiner Anlage kaum veränderten Handwebstuhl, bei dem eigentlich nur die Einschlagfäden durch parallel gespannte Kettenfäden hindurchgeflochten wurden. Daß es möglich war in dieser einfachen Weise nicht nur glatte und kleingemusterte Gewebe, sondern auch reiche Bilderdarstellungen zu schaffen, wie sie z. B. im Tischzeugschatz des Herzogs Alba in Madrid uns heute noch erhalten sind, können wir an der ähnlich gearteten, wenn auch farbigen Arbeit der Gobelin- und Orientteppichweberei uns noch heute vorstellen. Der erste große Fortschritt — die sogenannte Trittlade, welche das gleichzeitige Heben einer bestimmten Anzahl von Kettfäden ermöglicht, wurde erst Anfang des 19. Jahrhunderts erfunden und die Hauptverbesserung am Handwöbstuhl die Einführung des sogenannten Schnellschützen, welcher das Schußgarn mit einer Art Schleuder durch die auseinander 3*
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gehobenen Kettfäden hindurchtrieb, begann — obwohl schon 1738 erfunden — in Schlesien erst um 1830. Den Schluß der Leinenstoffherstellung bildete dann — wie noch heute — für solche Artikel, welche in schöner Weiße Verwendung finden sollten, das Bleichen der fertigen Gewebe. Die Sitte, Leinen aus vollweißen oder vorgebleichten Garnen zu fertigen, ist auch noch nicht Jahrhunderte alt. Das Bleichen erfolgte als wirkliche Basenbleiche unter Benützung der Naturkräfte "Wasser und Sonne bei sorgfältiger Behandlung durch Umwenden, Reinigen und Trocknen. Je nach der Jahreszeit beanspruchte diese Bleichbehandlung eine Zeitdauer von 2—4 Monaten. Allmählich erst wurde das Natur-Bleich verfahren durch Zusatz mittel beschleunigt. Ein einfaches Strecken, Rollen oder Pressen beendet dann den "Werdegang des jetzt gebrauchs- oder handelsfertigen Stück Leinens, das meist länger als ein Jahr vom Beginn der Flachsernte bis zur Verwendungsfähigkeit brauchte. In den ersten vier Jahrhunderten der uns bekannt gewordenen und von mir eingangs angedeuteten geschichtlichen Entwicklung des Leinengewebes vollzog sich die gesamte Arbeit vom Anbau des Flachses bis zur Verarbeitung und Verwendung der fertigen Webstücke ganz ausschließlich im landwirtschaftlichen Eigenbetriebe. Ursprünglich waren alle einzelnen Teilarbeiten nur Frauenbescliäftigung gewesen, erst allmählich wurde zunächst die Feldarbeit, dann sehr vereinzelt das Weben von Männern übernommen. Das Spinnen und Weben galt nicht nur als Fronarbeit für Mägde und Knechte, sondern auch die vornehmen Frauen pflegten in dieser Kunst bewandert zu sein. Von den Töchtern Karls des Großen wird berichtet, daß sie mit Spindel und Spinnrocken wohl Bescheid wußten, und die Spinnund Webstuben galten in alter Zeit als der gemeinsame Aufenthaltsplatz für Herrschaft und Gesinde. Mit der beginnenden Besiedlung von Städten, dem reicheren Wechselbau landschaftlicher Erzeugnisse begann — immer nur ganz allmählich — eine Loslösung der einzelnen Anfertigungsvorgänge aus dem Wirtschaftsbetriebe. Zunächst entstand als selbständiger Zweig die Hausweberei; man trug sein selbstgesponnenes Garn zum Berufsweber, um sich für eigene Rechnung Leinwand anfertigen zu lassen; man verkaufte vielleicht auch sein Garn an den im Lande herumziehenden Garnsammler, der als Vermittler oder Eigenhändler in Feinheit und Farbe zusammenpassende
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Posten aussonderte und bei dem der Weber seinen Bedarf wieder einkaufte. So entwickelten sich im Laufe der Jahrzehnte oder Jahrhunderte in einzelnen Gegenden besonders geschulte Webekräfte für gewisse Artikel, Feinheit und Breiten, und die Weberzünfte gelangten namentlich im Westen und Süden Deutschlands zu großem Ansehen. Der Flachsbau und das Spinnen blieben aber beim landwirtschaftlichen Grundbesitz vereinigt und das Bleichen besorgte in den meisten Fällen der Käufer bzw. Verbraucher der fertig gewebten Leinwand. Erst die Händler, welche den Webern ihre Leinwand zur Ausfuhr abkauften, beschäftigten die in geeigneter Lage, meist an wasserreichen Abhängen der Mittelgebirge entstehenden Lohnbleichereien oder errichteten solche für eigene Rechnung. Zu keiner Zeit, auch nicht in der Blüte des Leinenhandels im 16. Jahrhundert bildeten die Gewerbebetriebe eine in sich abgeschlossene Gruppe, sondern immer überwog die Beschäftigung als Nebenbetrieb landwirtschaftlicher oder handwerksmäßiger Hauptbetriebe, so daß z. B. in vielen Familien nur im Winter „gewebert" wurde, während andererseits die Bleichen — schon mit Rücksicht auf die Bleichkraft der Sonne — oft nur im Sommer arbeiteten. So lagen die Verhältnisse auch noch durchgängig zur Zeit des tiefsten Niederganges für das Leinengewerbe — etwa im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Nach dieser Zeit begannen, und zwar fast einheitlich, die Landesfürsten die verschiedensten Gewerbe in ihren Staaten zu fördern in der ausgesprochenen Absicht, die Staatseinkünfte zu erhöhen und einer arbeitstätigen Bevölkerung besseren Verdienst zu schaffen. In Württemberg, in Hessen, Hannover, vor allem aber in Schlesien sofort nach der ersten Einverleibung in Preußen wurden umfangreiche Untersuchungen über die Lage des Leinengewerbes angestellt und Maßnahmen zur Behebung erkannter Mißstände beschlossen und zum Teil mit der soldatischen Strenge und Unerbittlichkeit jener Zeiten durchgeführt. Lassen Sie mich, statt vieler anderer Beispiele, Ihnen einige von den Maßnahmen Friedrich des Großen gleichzeitig zur Charakteristik der damaligen Wirtschafts- und Verkehrsverhältnisse schildern: Beseitigung der Handelsstockung war das Haupterfordernis, und A u f h e b u n g oder Minderung der Eingangszölle und vor allem der damals sogar von den einzelnen Provinzen gegeneinander erhobenen Wege- und Durchfuhrlasten gehörte zu den angestrebten
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großen Mitteln. So erging schon 1742, noch aus dem Feldzuge, eine Kabinettsorder an das Auswärtige Amt, daß es in Frankreich, Rußland und Schweden für den Leinenabsatz der neuen Provinz geeignete Schritte tue. Beim Friedensschlüsse mit Österreich wurden besondere Verhandlungen zur Aufrechterhaltung der Garnzufuhr und des Leinenabsatzes gepflogen. Die Gebühren für die Benutzung der Elbeschiffahrt und Schleusen wurden ermäßigt, um den ins Stocken geratenen Absatz nach Holland neu zu beleben. Bedeutungsvoller aber wurden die Maßnahmen zur inneren Kräftigung des Gewerbes: Einrichtung von Beratungskammern unter Führung der „Ältesten der Kaufmannschaft" in den vier Gebirgsstädten Hirschberg, Greifenberg, Schmiedeberg und Landeshut. — Verbot der Zwangsaushebungen unter der männlichen Weberjugend. Bau von Getreidemagazinen mit der ausdrücklichen Bestimmung „zur Unterhaltung der Spinner und Leinweber in teuren Zeiten" und vor allem der Erlaß der großen „Leinwandordnung", welcher die früher oft vergeblich angestrebte Einheitlichkeit der Maße, Aufmachung und des Handelsverkehrs durchzuführen begann. Hatte früher jeder bäuerliche Spinnersein Garn auf eine beliebig große Weiffe aufgewickelt, so wurde jetzt eine bestimmte Größe vorgeschrieben — für die Länge der Gewebe wurde bei den verschiedenen Breiten ein Einheitsmaß, in der Hauptsache 60 Ellen, (daher die Bezeichnung „ein Schock Leinwand"), vorgeschrieben. Kein Kaufmann durfte Leinen vom Weber kaufen, das nicht zuvor von einem vereidigten Schaumeister auf Zuverlässigkeit geprüft und an beiden Enden gestempelt war, während diesen Schaumeistern selbst der Handel und Aufkauf untersagt wurde. Schwere Strafen für die Kaufleute, bis zur Entziehung des Handelsgewerbes, für die Spinner und Weber neben Geldbußen Stockschläge, Prangerstehen usw. sollten die Durchführung dieser auf Erzielung nur guter Waren zur Aufrechterhaltung des Absatzes gerichteten Bestimmungen sichern. In allen Dörfern wurden Flachssamen von besonders guten Sorten zwangsweise verteilt. Spinnschulen wurden errichtet, die jedes Kind über acht Jahre besuchen mußte, kein Knecht unter 30 Jahren darf heiraten ohne das Spinnen erlernt zu haben, auch die Soldaten müssen spinnen usw. Durch die dreimal sich wiederholenden schlesischen Kriege wurden
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naturgemäß diese Besserungsbestrebungen wiederholt über den Haufen geworfen und die Klagen über schlechtes und zu kurzes Garn, karge Weblöhne und große Not kehren immer wieder — aber die Jahre 1783—1786 brachten doch für Schlesiens Leinenindustrie eine neue Blüte. Waren bei der ersten statistischen Aufnahme in Schlesien vom Jahre 1748 19810 Leinenhandwebstühle ermittelt worden, so war 1786 deren Zahl auf etwa 26 000 und der jährliche Export aus dieser einen Provinz auf über sechs Millionen Taler gestiegen. Zur Einführung der Damastweberei in Schlesien bediente sich Friedrich der Große neben der Bewilligung von Prämien und Privilegien des drastischen Mittels, aus dem feindlichen Sachsen in aller Stille 55 Weberfamilien (insgesamt 179 Köpfe) mit ihrem ganzen Webegerät von Soldaten ausheben und in den schlesischen Gebirgsorten ansiedeln zu lassen. Die Kaufleute aber wurden gezwungen, ähnlich wie bei der Berliner Porzellanmanufaktur, ohne Rücksicht ob sie dafür Absatz hatten oder nicht, von diesen Webern Gebildwaren zu kaufen. Ähnliche Maßnahmen wurden gleichzeitig im Westen zugunsten der Ravensberger Lande und Bielefelds geschaffen, das seit damals seine Besonderheit für feine Bleichleinen und Tischz uge günstig entwickeln konnte. Volkswirtschaftlich interessant, besonders vielleicht gerade für diese Handels-Hochschule, aber im Rahmen meines heutigen Vortrages nicht eingehender zu erörtern sind die um die letzte Jahrhundertwende erschienenen Streitschriften der Professoren Brentano und Sombart bzw. Grünhagen darüber, ob die an sich großzügigen Hilfsmittel Friedrich des Großen, insbesondere die Massenansiedlung von Webern, nicht die nachmalige Webernot in Schlesien mehr herbeigeführt als die vormalige beseitigt haben. Wahrscheinlich erscheint es mir allerdings mit Brentano, daß die in Schlesien seit Jahrhunderten bestandene und trotz der Steinschen Freiheitsedikte bis 1848 üblich gebliebene Hörigkeit der dörflichen Weberbevölkerung mit ihren Fronarbeitstagen für dieGroßgrundbesitzer, demWeberzins und der grundherrschaftlichen Bezahlung der Gespinste durch Naturalien, die wirtschaftliche Kräftigung der gewerblichen Arbeiter stark verhindert haben. Die Beobachtung, daß die Leinenweber im Westen und Süden Deutschlands, mit Ausnahme vielleicht von Oberfranken, und selbst in Sachsen und der Lausitz, nie auch in rückläufigen Zeiten so schwer in Not gerieten, erklärt sich doch wohl daraus, daß dort die Weberbevöl-
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kerung mehr auf eigenem freien Boden saß, teilweise auch mehr in städtischen Zünften vereinigt, sich gegenseitig stützen konnte. Doch nun zurück zur geschichtlichen Entwicklung: Mit dem Ausgange des 18. Jahrhunderts wurde die deutsche Leinenindustrie scheinbar endgültig von ihrer Weltmarktstellung verdrängt und erst der spät, dann aber energisch einsetzenden deutschen Technik und dem im neuen Deutschen Reich wieder aufblühenden Wirtschaftsleben hat sie ihre jetzige Stellung weder zu verdanken. Diesmal wurde England in zwiefacher Hinsicht der Verdränger unseres Absatzes. Nachdem das bis dahin selbständige Irland im Jahre 1800 mit England vereinigt worden war, schuf dieses auf der vorher ganz agrarischen und nur allmählich sich entwickelnden Webereiinsel mit großen Staatsmitteln eine nach damaligen Verhältnissen moderne Leinenindustrie mit den von Deutschland geholten Fortschritten, welche im armen Heimatlande nur langsam durchdringen konnten. Zunächst begann man dort die feinen Leinen als Ersatz für die „Silcsias" besonders auch durch Ausfuhrprämien zu fördern — dann lernte man die vorher nicht verwendeten Abfallfasern der Flachse, das sogenannte Hedegarn, verspinnen und daraus Ersatz für die hessische Leinwand sich schaffen, besonders „Osnaburglis", und es ist bewerkenswert, daß in den später bei uns als Juteprodukt eingeführten starken Sackleinen der Name Hessians noch an die ursprüngliche deutsche H e s s i s c h e Leinwand erinnert. Der größte Konkurrent aber wurde die in England erfundene und 1768 zum erstenmal verwendete mechanische Baumwollspinnmaschine, der bereits 1787 der erste mechanische Baumwollwebstuhl folgte. Maschinenausfuhrverbote und die große Kapitalkraft der aufstrebenden Weltmacht England gegenüber dem innerlich zerrissenen und nach 1813 in politischer und wirtschaftlicher Reaktion liegenden Deutschland sicherten von da ab der so verbilligten Baumwolle einen Vorsprung nicht nur im Überseehandel, sondern brachte diese auch allmählich in großen Massen auf den deutschen Markt. Die Vormacht für den Wettbewerb mit Leinen mußte Deutschland an Frankreich abtreten, wo unter Napoleons I. starker Schutzhand im bewußten Gegensatz zu England die Leinenindustrie kräftig erhalten bleiben sollte. Die Erfindung der Jacquardwebmaschine zur Vereinfachung der Musterherstellung durch den gleichnamigen Techniker im Jahre 1802 und der ersten Flachsgarnspinnmaschine durch Philipp de Gerard im Jahre 1810 sind Beweise
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hierfür. Es bleibt unter diesen Umständen ein staunenswertes Zeichen für deutsche Energie, daß schon im Jahre 1818 ein schlesischer Unternehmer Alberti in Waldenburg die ersten 1000 mechanischen Flachsspindeln auf dem Kontinente überhaupt in Betrieb setzte; langsam, nur allzu langsam, folgten andere Spinnereiunternehmungen nach wie z. B. 1832 das altbekannte Leinenhaus Kramsta und Söhne in Freiburg. Anfang der 40 er Jahre wurden auf Anregung des Königs Friedrich Wilhelm IV. in eigenartiger Form von Staatssozialismus von der Kgl. Seehandlung mechanische Leinenspinnereien zu Erdmannsdorf und Landeshut i. Schi, gegründet, teils um die Garnprodukte zu heben, „teils um den notleidenden Webern der Bezirke Beschäftigung zu verschaffen". Erst Mitte des vorigen Jahres 1914 ist letztere Spinnerei in Privatbesitz übergegangen, während die Erdmannsdorfer Anstalt seit 1872 als bekannte Aktiengesellschaft fortbesteht. — Noch viel langsamer vollzog sich in der W e b e r e i der Übergang vom handwerksmäßigen Hausbetrieb zur maschinellen Großindustrie. Selbst das in der Webtechnik damals schnell fortschreitende England besaß im Jahre 1835 nur 309 sogenannte Kraftwebstühle, während in Preußen im Jahre 1846 gar nur ganze 15, im Jahre 1861 auch nur ganze 244 mechanische Webstühle arbeiteten. Diesen 244 Kraftstühlen standen damals noch 42 860 hauptgewerbliche Leinenhandstühle und 263 600 nebengewcrbliche Leinenhandstühle gegenüber. Von dieser letzten Zahl entfiel über die Hälfte (mehr als 141000) auf die rein landwirtschaftlichen Provinzen Ost- und Westpreußen, wo sich also am längsten die urdeutsche Art (Herstellung vom Flachs bis zum fertigen Wäschestück im Eigenbetriebe) erhalten hat. Im Handwebehandel hat sich in den vorangegangenen Jahrzehnten das Ankaufssystem umgewandelt in das sogenannte Verlagssystem, bei welchem der Unternehmer Garne für e i g e n e Rechnung einkauft und diese dem Weber in Lohn zur Anfertigung von ihm selbst bestimmter Sorten von Geweben ausgibt. Der frühere selbständige Handwerker wurde dadurch zum heimarbeitenden Lohnweber, der Unternehmer zum Risiko tragenden Fabrikanten. Die Zeit der allerschlimmsten Webernot im Jahre 1843—1844, wo zum Darniederliegen des Handels, Mißernten und namentlich in der Baumwollindustrie Ersatz der Handarbeit durch die Maschine trat, ist allgemein bekannt und scharf geschildert in Gerhart Hauptmanns Webern. Handelt es sich da zwar um Barchent- und Züchen-
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Weber — also Baumwollwaren, so sind doch die Zustände, insbesondere auch das Mißtrauen der Handarbeiter gegen die Maschinen für die Leinenweberei gleichartige gewesen. Ein letzter allgemeiner Leinenwebernotstand hat 1890/91 die Aufmerksamkeit der Regierung und vor allem auch des Publikums auf die soziale Lage der Handweber gelenkt. Von den zur Abhilfe erwogenen und eingeführten Mitteln seien besonders genannt: Errichtung von Webschulen und Webereilehrwerkstätten zur Befähigung der Weber bessere, d. h. auch besser bezahlte Arbeit zu liefern — Entsendung von Wanderlehrern in die Dörfer zur Verbesserung veralteter Webstühle — Gewerbeschulen zur Überführung der Jugend in andere Berufsarten, z. B. der männlichen zur Holzschnitzerei, der weiblichen zur Handstickerei und Wäschenäherei. Am meisten Gewähr gegen die Rückkehr einer Webernot im Umfange der früheren liegt wohl aber im Entstehen anderer Industrien', welche die bei fortschreitender Umwandlung zur mechanischen Weberei frei werdenden Kräfte aufgenommen haben. Wie überraschend schnell sich diese Verhältnisse in den letzten 25 Jahren verschoben haben, mögen Ihnen einige Zahlen aus der Berufszählung von 1882 und 1907 erweisen. Es ist in der Leinenweberei die Zahl der Kleinbetriebe (bis 5 Personen) zurückgegangen von 71913 auf 14 275, diejenige der hierin beschäftigten Arbeiter von 91 039 auf 18 949. In derselben Zeit stieg die Zahl der Großbetriebe (über 50 Personen) in denen fast nur mechanische Weberei durchgeführt ist, von 73 mit 7 543 Arbeitern auf 180 mit 28 177 Personen. Es bleibt zu vermuten, daß nach abermals 25 Jahren die so poetische, aber wie vieles Romantische auch armselige gewerbliche Handweberei in der Leinenindustrie fast ganz verschwunden sein wird. Um in einem Schlußabschnitt Ihnen die h e u t i g e Bedeutung und den Aufbau der deutschen Leinenindustrie darstellen zu können, muß ich ergänzend hinzufügen, daß sowohl unsere Zoll- und gewerblichen Statistiken, wie auch die Vertretungen der Industrie selbst heute unter Leinenindustrie nicht mehr allein die Verarbeitung der Flachsfaser, sondern auch diejenigen der sogenannten „anderen pflanzlichen Spinnstoffe", d. h. vornehmlich Hanf und Jute verstehen. Die Jute, das jüngste Kind, kam als Gespinstfaser zuerst seit 1832 in Schottland von Indien her zur Einführung; in D e u t s c h l a n d wurde erst 1861 die erste Spinnerei und Weberei in Vechelde bei Braunschweig errichtet und somit kam für diesen Industriezweig von vorn-
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herein nur die mechanische Anfertigung im geschlossenen Großbetriebe in Frage. Für die Rohstoffversorgung kommt auch heute fast ausschließlich nur Indien in Frage. Verarbeitet wird die Jute bekanntermaßen vorwiegend zu Verpackungsstoffen, Säcken usw., in ganz feingarnigen Ausführungen in Mischung mit Leinen auch zu Futterstoffen. Diese Industrie zählt nach der letzten Zählung (1907) für die Spinnerei 32 Betriebe mit 12 868 Personen, für die Weberei 66 Betriebe mit 9067 Personen. Die Hanffaser, die früher auch viel in Süddeutschland angebaut wurde, jetzt aber hauptsächlich aus Italien, Kußland und Afrika zu uns gebracht wird, findet zu Geweben weniger Verwendung, spielt aber eine überragende, fast ausschließliche Rolle in der Seilerei für Stricke und Netzfabrikation und hierin waren 1907 23 616 Personen in 5 976 Betrieben beschäftigt. Die organisierte Leinenindustrie umfaßt demnach den H a n d e l mit Flachs, Jute und Hanf, deren V e r a r b e i t u n g zu G a r n e n und zum g e z w i r n t e n F a d e n vom stärksten Schiffstau bis zum feinsten Nähgarn für die heute wieder in Deutschland geschätzte und kunstvoll hergestellte genähte echte Spitze. Dann die G e w e b e vom gröbsten Sacktuch oder Segel bis zum feinsten Batist und in g e m u s t e r t vom derben Wischtuch bis zum hochfeinsten Damastdurchbruchtafelgedeck. Anschließende Industrien sind die Leinenausrüstung, d. i. das Appretieren, Bleichen oder Färben der Ware und die Wäschefabrikation und Konfektion, soweit sie Leinengewebe verarbeitet. Die Hauptindustrien sind seit etwa 35 Jahren vereinigt im Verbände Deutscher Leinenindustrieller, dem teils die Gewerbetreibenden als Einzelmitglieder, teils als körperschaftliche Mitglieder für die Unterverbände der Flachshändler, Leinenspinner, Juteindustrieller und des erst ein Jahr alten Leinenweberverbandes angehören. Überschauen wir noch einmal die Bedeutung der einzelnen Gruppen: Der Rohstoff für die Juteindustrie kommt, wie schon gesagt, ausschließlich vom Auslande, die von Jahr zu Jahr steigende Einfuhr wurde 1913 mit rund 94 Millionen Mark bewertet. Diese fast ausschließlich im Inlande verarbeitete Menge wurde kaum durch ausländische Jutegarne ergänzt, da bei den Garnen der Wert der Einfuhr mit 4 Millionen sich fast mit der Ausfuhr ausgleicht. Von fertigen Jutegeweben in Form von Packleinwand, fertigen Säcken, bearbeiteten
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Waren betrug die Einfuhr 1913 nur Millionen Mark, der eine Ausfuhr ebenfalls in annähernd gleicher Höhe gegenüberstand, so daß wir als Endergebnis eine deutsche Juteerzeugung im Werte von rund 100 Millionen feststellen können, für die annähernd (in geschätzter Fortschreibung der Berufszahlen von 1907) 25 000 Personen tätig sind. Für die Hanfindustrie betrug die Einfuhr an Rohstoffen nach Abrechnung einer Wiederausfuhr von 6 Millionen Mark etwa 40 Millionen Mark. Die hinzutretende Ergänzung durch in Deutschland geerntete Rohstoffe ist kaum nennenswert — erst in allerletzter Zeit werden auf wissenschaftlicher Grundlage Versuche zur Gewinnung von deutschem Hanfe durchgeführt. Getrennte Zahlen über die Betriebe und die darin beschäftigten Personen für die Hanfspinnerei stehen uns nicht zur Verfügung, da diese bei der Berufszählung von 1907 bei den Flachsspinnereien mitgezählt worden sind. Der Einfuhr an Hanfgarnen und Seilen, Bindfaden usw. im geschätzten Werte von etwa 3]4> Millionen im Jahre 1913 stand eine Ausfuhr von mehr als 8 Millionen in den gleichen Artikeln gegenüber. Für die der Gesamtindustrie den Namen gebenden L e i n e n erzeugung wurden im Jahre 1913 an rohen, gebrochenen und geschwungenen Flächsen dem Werte nach rund 73 Millionen Mark eingeführt, denen eine Wiederausfuhr, meist nach Österreich, von rund 23 Millionen Mark gegenübersteht. Nach Schätzung von maßgeblicher Seite ist Deutschland mit im Inlande erzeugtem Flachse nur noch bis zu 1 / 9 an seiner Leinenerzeugung beteiligt — es wäre also dessen Wert nur mit höchstens acht Millionen Mark zu beziffern. Woran liegt es nun, daß der Flachsanbau, der einst in allen Teilen Deutschlands stark verbreitet war, im letzten Jahrhundert von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in steigendem Umfange zurückgegangen ist. Es lohnt einen Augenblick den Ursachen hierfür nachzudenken. Wie ich schon im Eingange bei der Schilderung des Flachsbaues in alten Zeiten sagte, ist die Methode für die Fasergewinnung aus dem Flachsstengel in den Jahrtausenden bis auf wenige abkürzende Methoden des Röstverfahrens kaum verändert worden. Trotz aller Anstrengungen und großer Preisaussetzungen — Napoleon I. setzte schon eine Prämie von 1 Million Frs. dafür aus -— ist es bisher nicht gelungen, den Flachs in Zeit und Menschen sparender Weise rein maschinell aus dem Rohprodukte, und unter nutzbringender Ver-
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Wertung des sehr reichlichen Abfalles, in den spinnfähigen Zustand zu überführen. Ich brauche nur im Gegensatze hierzu auf die Behandlung der Ernte unserer Körnerfrüchte hinzuweisen, wo von der Dampfdrescharbeit an bis zum Abfüllen des fertigen Mehlsackes in kürzester Zeit der Gewinn aus dem Anbau verwirklicht wird. Ich kann ferner erinnern an die Umwandlung des außerordentlich vermehrten Rübenanbaues in den hochwertigen Zucker, und an die ganz junge Kartoffeltrocknerei, die sonst leicht dem Verderben ausgesetzte Vorräte nutzbringend erhält und außerdem durch Entziehung des Wassers die Versendungsmöglichkeit verbilligt und erleichtert. Die lange Dauer der Bearbeitung des Flachses einerseits, der Leutemangel und die wenig angenehme Art der Bearbeitung der Faser andererseits haben es der deutschen Landwirtschaft vorteilhaft erscheinen lassen, sich anderen, bequemeren Nutzgewächsen zuzuwenden, obgleich die Pflanze selbst anspruchslos ist und auf vielen Bodenarten gut gedeiht. Lohnend ist nur der Anbau und die Gewinnung hochwertiger Flachsqualitäten, die z. B. in Belgien, in den jetzt vom Kriege zerstampften Fluren der Lys gewonnen wurden und für welche jetzt auch wieder — seit etwa 10 Jahren — in einzelnen Gegenden Deutschlands das Interesse zugenommen hat. Im allgemeinen ist Rußland der Hauptflachsversorger für ganz Europa geworden, und es ist überaus kennzeichnend, daß in Amerika, wo die Flachspflanzc in sehr großem Umfange angebaut wird, von ihr nur der Leinsamen zur Leinölgewinnung verwendet wird, während sich eine Leinengarnindustrie drüben überhaupt nicht entwickelt hat. Als ich vor einigen Jahren den Altmeister unserer deutschen Leinenspinncr auf ein von England her gemeldetes Patent aufmerksam machte, nachdem es möglich sein sollte, innerhalb 24 Stunden aus der geernteten Flachspflanze durch chemische und mechanische Bearbeitung die spinnfähige glatte Faser zu gewinnen, antwortete er mir, daß die Menschen seit Homers Zeiten sich vergeblich um dieses Problem bemüht hätten und es wohl nie lösen würden. Ich konnte ihm erwidern, daß mindestens ebenso lange die Menschen das Fliegen lernen wollten und daß es gerade unserer Zeit vorbehalten war, dies gleich nach zwei verschiedenen Grundsätzen „schwerer und leichter als L u f t " zu lösen. Leider hat der verehrte Sartorius bisher Recht behalten, denn in jenem Falle führten angebotene Versuche zu keinem Resultat. Es bleibt uns also nur die Hoffnung, daß dereinst auch dem Flachs ein „Zeppelin",
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d. h. ein Erfüller Jahrtausende alter Ideale, ersteht und dadurch ein wichtiges Rohprodukt auch für die Kulturstaaten wieder anbaulohnend wird. Die deutsche Leinen spinn er ei hat sich trotz der großen Abhängigkeit für die Rohstoffe meist durch Schutzzollhilfe kräftig entwickeln können, ist aber noch bei weitem nicht in der Lage, den Bedarf der deutschen Leinenwebereien zu decken. Viel starke und mittelfeine Garne kommen aus Belgien, Frankreich und namentlich Österreich zu uns, die feinsten und hochwertigsten Nummern aber aus Irland. Inwieweit die Begründung hierfür zutrifft, daß die dortigen klimatischen Verhältnisse — die ständige Feuchtigkeit der Luft — gegenüber der Sprödigkeit der feinen Garne und ihrer Fasern bessere Voraussetzungen bieten, vermag ich nicht zu beurteilen; ich glaube, daß es unseren modernen Befeuchtungsmitteln bald gelingen könnte, dies zu ersetzen, wenn unsere Spinnereien mit Rücksicht auf den Absatz es erreichen könnten, dauernd gleichmäßig sich auf einzelne feine Nummern zu beschränken. — Der Wert der Einfuhr an leinenen Garnen betrug nach der Zollschätzung von 1913 etwa 35 Millionen Mark; es ist anzunehmen, daß daneben der Wert der deutschen Spinnerzeugung (zuletzt 1909 auf 54 Millionen Mark ermittelt) jetzt mindestens 80 Millionen Mark betragen dürfte. Auf dieser Grundwertzahl von 115 Millionen Mark Leinengarn arbeitet nun die deutsche Leinenw e b e r e i , die nur durch eine geringe Einfuhr von etwa 4 Millionen Mark meist für hochfeine Gewebe ergänzt, eine Ausfuhrziffer von 25 Millionen Mark aufzuweisen hat. Diese Ausfuhr verteilt sich in verhältnismäßig kleinen Mengen über viele Staaten, doch kommen für fertig gebleichte und verarbeitete Leinenwaren die Vereinigten Staaten von Amerika als Hauptabnehmer in Betracht. Der Hauptverbrauch der gewerblich erzeugten Leinengewebe, die vielfach auch in Mischung mit Baumwolle als Halbleinen erscheinen, findet naturgemäß in Deutsch land selbst statt. — Würde man den Zahlen der letzten GewerbeZählung allein folgen, so könnte man aus dem Rückgange seit 25 Jahren von rund: 102 000 Betrieben mit 106 000 Personen auf 20 000 Betrieben mit 62 000 Personen auf eine ständige Abnahme der Leinenweberei schließen. In Wirklichkeit ist erfreulicherweise ein steter Aufschwung festzustellen, der dem zunehmenden Reichtum Deutschlands und der Gewöhnung weitester Kreise an körperliche und Haushaltssauberkeit zu verdanken ist. Zu den genannten Zahlen müssen
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wir uns der ständigen Abnahme der Einzelhandweberei und der Zunahme der mechanischen Weberei erinnern. Der mechanische Webstuhl, bei dem der Weber mehr beobachtend als schaffend tätig ist, schafft im Durchschnitt das Fünffache eines Handwebstuhles. Berücksichtigt man daneben, daß die Handweber selten ständig arbeiten, daß ferner für die weitaus größte Zahl der mechanischen Weberei ein Weber oder eine Weberin zwei Webstühle gleichzeitig bedient, so wird uns klar, daß die neuzeitliche Umgestaltung mit weniger Menschen dem vergrößerten Bedarf an Leinenwaren zu entsprechen vermag. Mit der Umwandlung zum geschlossenen Großbetriebe hat sich naturgemäß auch in der Leinenweberei eine noch engere Beschränkung auf gewisse Industriegegenden und sogar einzelne Plätze herausgebildet. Sie hat heute ihren Hauptsitz in Schlesien, mit fast 1 / 3 aller Betriebe und Personen dann folgt in weitem Abstände das Königreich Sachsen und Westfalen. In einigen anderen Bezirken, wie z. B. dem Königreich Württemberg, Lippe, einzelnen Teilen von Bayern, spielt die Hausindustrie noch eine gewisse Holle. Während wir die Anfertigung der Haupthandelssorten roher und weißer Leinen; der Handtücher und Wischtücher überall finden, besonders allerdings in Niederschlesien, (Landeshut, Hirschberg, Erdmannsdorf, Freiburg), hat sich z. B. für ganz starke Eoh- und Segelleinen ein neuer Mittelpunkt in und um Kassel gebildet, für Taschentücher kommen Lauban und Bielefeld als Webereisitz in Betracht. Letzterer Ort ist auch der Stammplatz für die Anfertigung feiner Bleich- und Batistleinen, während Tischzeuge hier, ferner in Sachsen in Großschönau und Zittau, innerhalb Schlesiens in Sorau, Landeshut und Neustadt vorzugsweise gefertigt werden. Es kann mit Stolz erwähnt werden, daß gerade die deutsche Tischzeugfabrikation wesentlich dazu beigetragen hat, der Leinenindustrie den Weltmarkt zu erhalten und wiederzuerobern. Während z. B. die im Anfang des vorigen Jahrhunderts führende französische Damastindustrie durch ihr starres Festhalten an den „Klassischen Stilen" zum Stillstand gekommen ist, haben die Deutschen die kunstgewerblichen Wandlungen des Zeitgeschmackes (JugendSezession — Darmstädter-Stil usw.) in fast zu schnellem Modewechsel mitgemacht, dafür aber in der ständigen Anregung des Bedarfes steigenden Absatz auch im Auslande gefunden.
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Im Anschluß an die Weberei haben wir noch der Leinenveredlung zu gedenken, die aber in ihrem Wert und Personenkreise schwer selbständig zu erfassen ist. In vielen Webereien wird die sogenannte Appretur und Bleiehe für eigene Rechnung mitbesorgt, andererseits behandeln sogenannte Lohnbleichen oder Druckereien meist außer Leinenstoffen auch andere Gewebearten; immerhin beziffert die Gewerbezählung von 1907 die Bleich- und Appreturanstalten für Leinen und Jute auf 663 mit 5559 Personen. In der Bleicherei und Ausstattung der Gewebe hat die Vervollkommnung der Maschinen und die Mitwirkung der Chemie derartige Fortschritte geschaffen, daß von der ursprünglichen Bleichbehandlung nur noch wenige Auslegetage an der Luft und Sonne für Garne und Gewebe übrig geblieben sind und das Wortspiel statt Rasenbleiche die rasende Bleiche geschaffen hat, wobei aber, gerade dank der wissenschaftlichen Mitwirkung, die Haltbarkeit nicht beeinträchtigt werden kann. Die letzte Verarbeitung finden die Leinengewebe in der erst seit etwa vier Jahrzehnten entstandenen Wäscheindustrie. War es bis dahin üblich, weit mehr noch wie Kleidungsstücke, alle Wäschestücke im Hause selbst anzufertigen, meist unter Mitwirkung der als Vertrauens- und Respektsperson geltenden Weißnäherin, so ist jetzt das Bestreben vorhanden, möglichst alles fertig zu kaufen. Industrie und Handel haben sich darauf eingerichtet und bieten in unendlicher Mannigfaltigkeit Formen und Größen von den Erstlingsliemdchen und der Windel bis zur Brautwäsche und dem reich verzierten — sogenannten — Prunkbett. Handelt es sich bei der Tisch-, Haus-, Küchen- und Bettwäsche überwiegend um glatte Näharbeit, bei der Leibwäsche um mehr oder weniger der Mode unterworfene Konfektion, so kommt doch auf allen Gebieten vielfach auch Kunst(Hand- und Maschinen-) arbeit in Form wie Stickerei, Hohlnaht und Durchbrucharbeit in Frage. Eine besondere Gruppe bildet die sogenannte Plättwäsche, d. h. die sichtbare Herrenwäsche in Form von Kragen, Stulpen, Vorhemden, Oberhemden, bei der besonders feine, daher meist aus England stammende Leinen als Oberschicht verwendet werden, obgleich auch hierfür schon vielfach Baumwolle als Ersatz gebraucht wird. Eine eigene Industrie, die bekanntlich in Berlin ihren Hauptsitz hat und sich Wäschefabrikation zum Unterschiede von der Wäschekonfektion nennt, hat sich hierfür entwickelt. Heimarbeit, Werkstatt und fabrikmäßiger Großbetrieb sind heute
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in, im einzelnen nicht festzustellender, Gemeinschaft zur Bearbeitung von Leinengeweben tätig. Auf Grund der Gewerbestatistik von 1907, welche zum ersten Male die Wäschekonfektion innerhalb der „Schneiderei" selbständig zählt, und unter Berücksichtigung eines angemessenen Prozentsatzes, welcher in der Näherei und Stickerei, Klöppelei usw. dem Leinen gegenüber den anderen Stoffarten zukommt, wird man die Zahl der mit der Anfertigung fertiger Leinenwäsche befaßten Personen sehr mäßig mit mindestens 80 000 schätzen können. Die Gesamtzahl aller in der Leinenindustrie von der Spinnerei bis zum Verkauf tätigen Erwerbspersonen mit etwa 200 000 mag nicht besonders groß erscheinen; sie gewinnt ihren Wert erst durch die schon einmal betonte Tatsache, daß in dieser Industrie besonders im letzten halben Jahrhundert Menschenarbeit in immer wachsenderem Umfange durch Maschinenarbeit ersetzt werden konnte, sicher nicht zum Schaden des einzelnen Arbeiters. In der eigentlichen Arbeiterschaft finden wir bei der Spinnerei die w e i b l i c h e n Beschäftigten mit etwa 2/3, in der Weberei zur Hälfte und in der Wäschebearbeitung fast ausschließlich vertreten; die leitenden Stellungen, sowie die Aufsichtsposten als Inspektoren, Spinn- und Webmeister, Werkmeister usw. sind aber überwiegend von Männern besetzt. Volkswirtschaftlich beachtenswert mag noch sein, daß die meisten Leinenindustrieplätze, kaum zufällig, ihren Sitz in der Nähe der Kohlenbezirke haben, so daß sich Frauen- und Männerarbeit selten Konkurrenz machen, sondern sich für die Familien vielfach wirtschaftlich ergänzen. Die Schilderung der heutigen Lage der Leinenindustrie würde nicht vollständig sein, ohne Abwägung des Einflusses des kriegerischen Weltbrandes auf unser Gewerbe. Zunächst ist da unsere Abhängigkeit in der Rohstoffversorgung vom Auslande am schärfsten in die Erscheinung getreten und wir haben, wie ja für alles, unserer erfolgreichen Kriegführung und unseren tapferen Feldgrauen es ganz besonders zu verdanken, daß wir so schnell und sicher die hervorragendsten Webgebiete in drei feindlichen Ländern besetzt haben und in fester Hand halten. In Russisch-Polen, Flandern und dem von uns belegten Teile von Nordfrankreich befinden sich gerade die Hauptplätze für die Leinenindustrie und die reichen von uns mit Beschlag belegten Vorräte an Flachs und Jute, sowie GarnGewerblicbe Einzelvortr&g-e.
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gespinsten setzen uns hoffentlich in die Lage, auch hier durchzuhalten bis ans Ende. Natürlich gehört Organisation unter Führung der Staatsverwaltung und uneigennützige Mitwirkung der Berufs genossen dazu, um Haus zu halten und die Vorräte möglichst so zu verteilen, daß so lange irgend möglich, die Betriebe überall gleichmäßig beschäftigt bleiben. Für die Jute hat man mit gutem Erfolge angefangen, Ersatzstoffe in einer seit einigen Jahren neu verwebten Holzstoffaser, Textilose genannt, zu verwenden und Sie können heute schon vielfach in den Straßen Wagen mit Zement, vor allem aber landwirtschaftlichen Samen in Papierstoffbeuteln beobachten. Not macht eben erfinderisch. Im Absatz guter Leinengewebe für den Privatgebrauch hat naturgemäß der Krieg einen starken Rückgang zur Folge gehabt. Brautausstattungen werden wenig gekauft, da bei den Nottrauungen die junge Frau meist im elterlichen Hause bleibt; Ergänzungen an Haushaltstisch-, Haus- und Bettwäsche werden in solcher Zeit auch zugunsten anderer Beschaffungen eingeschränkt und der Verbrauch von Herrenkragen und Frackhemden leidet natürlich, wenn Millionen die feldgraue Halsbinde anlegen. Mit Genugtuung konnte ich feststellen, daß in vielen maßgebenden Fabriken die Überseebestellungen auf deutsche Gebildleinen (Tischzeuge und Handtücher) vollständig regelmäßig eingegangen sind, so daß hier also der Feind vergeblich gegen deutsche Gründlichkeit angekämpft hat. Im Inlande aber hat der Krieg für sich selbst einen erweiterten Leinenbedarf geschaffen und man kann die großen Vorzüge leinener Gewebe überall da schätzen, wo große Ansprüche an Haltbarkeit, Wiederstandsfähigkeit gegen Wasser- und Lufteinflüsse und Sauberkeit gestellt werden. Strohsäcke, Bettlaken und Handtücher in unseren Kasernen und Lazaretten, die blauweißen Drellanzüge unserer Verwundeten und die grauen Sommerdrellanzüge unserer Soldaten haben denjenigen deutschen Leinenwebereien, welche ihre Betriebe darauf einstellen konnten, glücklicherweise sind das die meisten, volle Beschäftigung gegeben. Aber auch draußen für den Kampf verbrauchen die Sandsäcke und manche artilleriste Einrichtung Riesenmengen deutschen Rohleinens und selbst die modernste Waffe weiß sich der Vorzüge des Leinens zu bedienen; ich meine die Tragflächen unserer
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Flugzeuge, die glcich liegenden Segeln außerordentlich zäh, dem Winddruck und den Fäulniseinflüssen der Witterung standhalten müssen, dabei aber nicht zu großes Eigengewicht haben dürfen. Nehmen wir es als ein gutes Zeichen, daß das uralte deutsche Leinen sich jetzt noch siegreich zur Sonne hebt, wo es seinen Platz für alle Zeit behaupten möge wie unser siegreiches Vaterland unter den Völkern.
III.
Papier, seine Entstehung und sein Verbrauch. Vortrag des Herrn Fritz
Berliner
in Firma: MaaB & Böhmann.
Nachdem mir der ehrenvolle Auftrag zuteil geworden war, einen Vortrag über das Thema „Papier" zu halten, war ich sehr bald zur Überzeugung gekommen, daß es unmöglich ist, in der mir heute für diesen Vortrag zur Verfügung stehenden Zeit den Stoff auch nur einigermaßen eingehend und erschöpfend zu behandeln. Ich kann also nur dispositionslos in kürzeren Umrissen Sie mit der Herstellung des Papiers, mit den verschiedenen Produkten, Absatzmöglichkeiten usw. vertraut machen und möchte von vornherein bitten, meine Ausführungen nicht als eine rein wissenschaftliche Arbeit zu beurteilen, sondern nur als eine zwanglose Einführung in das Gebiet desjenigen Materials, nach dessen Verbrauchsmenge die Kultur eines Volkes beurteilt werden kann. Was ist Papier? Diese Frage ist durchaus nicht so einfach zu beantworten. Wenn ich Ihnen hier eine kleine Ausstellung von Büchern, Zeitschriften, Waschgefäßen, Tellern, Packmaterial an Stelle von Bindfaden, Eisenbahnrädern, Militärhelmen, Werkzeuggriffen, Briefkassetten, Verbandstoffen, Bilderrahmen, Bekleidungsgegenständen, Puppen, Pappkartons usw. vorführen würde mit der Anfrage, welche Gegenstände sind aus Papier und welche aus anderen Materialien, so würden sicherlich nur wenige unter Ihnen sein, welche mit Sicherheit angeben könnten, daß sämtliche aufgeführten Gegenstände aus demselben Material, nämlich aus Papiermasse hergestellt, seien. Aus diesem kurzen Beispiel kann man schon ersehen, daß infolge der verschiedenartigen Verwendung und der Vielseitigkeit der Form keine Schlüsse auf die Qualität gezogen werden können. Der Ursprung des Wortes „Papier" ist zurückzuführen auf ein Gras-, welches in Ägypten und Syrien vorkommt, Cyperus papyrus, aus dessen Mark der Papyrus hergestellt wurde. Da die heutige Papierfabrikation die Rohstoffe aber nicht nur aus dem Pflanzenreich, sondern auch aus dem Tier- und Mineralreich bezieht, läßt sich also eine Definition für das Wort Papier ebensowenig aus dem Ursprung des
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Papier, seine Entstehung und sein Verbrauch.
Materials als aus der Form des Blattes geben, wie vorher angeführte Beispiele zeigen. Als die Wissenschaft soweit vorgeschritten war, daß man zur Anfertigung des Papiers Ersatzstoffe für das aus der Papyrusstaude gewonnene Mark gefunden hatte, behielt man zwar den Namen bei, aber als Merkmal des Papiers zeigte sich der Filzcharakter und dieser blieb für den Begriff „Papier" bis heute bestehen. — Im engeren Sinn des "Wortes wird unter dein Begriff Papier nur das biegsame Blatt im Gegensatz zum Karton oder der Pappe verstanden, während andererseits aus Papiermasse ohne bestimmte Formen hergestellte Waren davon zu unterscheiden sind. — Geschichtlich ist festgestellt, daß schon etwa zwei Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung sich die Chinesen mit der Fertigstellung von Papier befaßt haben, erst viel später finden wir die Papierherstellung bei den Arabern und nach Verlauf weiterer Jahrhunderte verbreitete sich die Herstellung auch im Abendlande, wo dieselbe allerdings im Laufe der letzten Zeit eine ungeahnte Ausdehnung gefunden hat. — Während in China und Japan bis heute noch die Papiere vornehmlich aus Bastfasern verschiedener Pflanzen nach sorgfältiger Verarbeitung hergestellt werden, haben die Araber bereits Baumwolle und späterhin auch Lumpen zu Papier verarbeitet. Nachdem aber die Handpapiermacherei durch die Kreuzzüge auf französischen, italienischen und deutschen Boden verpflanzt war, wurden die Lumpen zunächst alleiniges Rohmaterial für die Papiermacherei. Bis Ende des 13. Jahrhunderts bediente man sich zur Herstellung des Papiers der einfachsten Geräte, während man späterhin maschinelle Vorrichtungen zu Hülfe nahm. Während die Asiaten mit der Hand durch Klopfen mit Stöcken oder in Mörsern durch Zerreiben das Rohmaterial zerkleinern und zu Papierbrei verarbeiten, wurden bei uns die Lumpen nach sorgfältiger Sortierung und Reinigung mit Holzstampfen, welche durch Wasserkraft in Bewegung gesetzt, genügend verarbeitet. Späterhin wurde diese Arbeit durch Holländer, ein Apparat, der seinen Namen nach dem Ursprungsland hat, auf mechanischem Wege verrichtet und diese Verarbeitungsweise der Rohmaterialien hat sich bis heute erhalten. —
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Die Handpapierfabrikation ist eine Kunst von ungeahnter Größe! Aus der mit dem Stoff angefüllten Schöpfbütte wird durch den Schöpfer auf einem Handsieb der Stoffbrei herausgeschöpft, durch Schüttelung gut verfilzt und gleichmäßig auf der Fläche verteilt; nachdem das Wasser durch das Sieb abgelaufen, wird die sich zum Blatt verfilzte Masse auf eine Filzplatte gelegt und so fort, bis ein genügend großer Stoß unter der Gautschpresse stark zusammengepreßt werden kann. Nachdem dies geschehen, werden die Bogen nochmals ohne Filzzwischenlagen gepreßt, damit sich alle größeren Unebenheiten des Papiers verlieren, dann werden die einzelnen Bogen zum Trocknen aufgehängt und dann nochmals eingehend bearbeitet, um sich so zu zeigen, wie die Papiere in den Handel kommen und Ihnen als „Handgeschüpftes Büttenpapier" bekannt sind. Die Hauptkunst des Schöpfers besteht darin, eine mögüchst gleichmäßige Verteilung des Stoffes auf dem Siebe vorzunehmen, damit die einzelnen Bogen sowohl in sich an allen Stellen gleichmäßig als auch untereinander von derselben Dicke ausfallen. — Je nach der Verwendungsart des fertigzustellenden Papiers wird der Rohstoff vorbereitet, geleimt oder ungeleimt, naturfarbig oder angefärbt. Von der kleinsten Besuchskarte an, Verlobungs-Brief - und Tischkarte, Briefbogen und Brief hüllen, Wechselformulare, Bücherund Zeichenpapiere bis zum größten Format werden auf diese Weise hergestellt; wir finden Zeichenpapiere in der Größe von 128 : 206 cm groß und in einem Gewicht von etwa 900 g der Bogen. Alle zum Schreiben benutzten Papiere müssen gut geleimt sein, damit die Tinte nicht ausläuft, und diese Leimung geschieht dadurch, daß entweder in den Stoff selbst der dazu zu verwendende Leim hineingemischt wird oder aber die fertigen Bogen nachträglich durch Leim hindurchgezogen und entsprechend behandelt werden. Für die Leimung aller Papiere wird Tier- oder Pflanzenleim benutzt. Aber nicht nur oben angeführte Sorten werden durch Handarbeit hergestellt, auch Filtrierpapiere, welche natürlich ungeleimt sein müssen, damit die Papiere die Flüssigkeiten leicht durchlassen, Druckpapiere, Aktendeckel, Packpapiere und Umschlagpapiere für Bücher und Broschüren. Die zum Schreiben benutzten Papiere werden meistens mit glatter Oberfläche verlangt und dies wird dadurch erzielt, daß die einzelnen Bogen zwischen harten, scharf geglätteten Pappen (sogenanntem Preßspahn) stark gepreßt oder
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zwischen Zinkplatten durch ein Walzwerk hindurchgedreht werden, wodurch die Unebenheiten des Papiers so stark zusammengedrückt werden, daß eine gleichmäßige glatte Oberfläche entsteht. Wie schon anfangs erwähnt, werden diese Papiere in der Weise gearbeitet, daß der Rohstoff auf Siebe, welche aus ganz dünnem Drahtgewebe bestehen, geschöpft wird; daraus ergibt sich, daß auf dem Siebe höher gelegene Stellen im Papier dünner erscheinen müssen, da sich der Stoff dadurch nicht gleichmäßig stark verteilen kann. Werden nun auf dem Siebe Schrift- oder andere Bildzeichen durch Auflöten von dünnem Draht angebracht, so entstehen auf diese Weise die so sehr beliebten und beim Durchsehen durch den Bogen hervortretenden Wasserzeichen, welche man im Gegensatz zu künstlichen, worauf ich später zurückkommen werde, natürliche Wasserzeichen nennt. — Die Herstellung dieser Wasserzeichen ist eine sehr kunstvolle, und nicht nur einzelne Worte oder Figuren mit scharfen Umrissen werden auf diese Weise hervorgebracht; nein, auch abschattierte, bis in die kleinsten Einzelheiten durchgeführte Köpfe werden damit hervorgezaubert, wie Sie alle z. B. auf unseren Kassenscheinen zu 100 Mark und 10 Mark sehen können. Eine weitere Erscheinung ist bei Büttenpapieren, welche nicht nachträglich an den Seiten beschnitten sind, daß solche einen ungleichmäßigen, rauhen Rand zeigen, welcher dadurch entsteht, daß sich beim Schöpfen mittelst des Rahmens keine scharfen Ränder ergeben. Daraus ist aber nun nicht umgekehrt zu schließen, daß auch alle Papiere, welche rauhe Ränder zeigen, Büttenpapiere sein müssen, weil nämlich diese rauhen Ränder auch künstlich bei Papieren, welche auf Maschinen gearbeitet werden, nachgeahmt werden können und als imitierte Büttenpapiere im Handel sind. Diese mit der Hand geschöpften Papiere sind im allgemeinen von großer Festigkeit, und da dieselben auch mit geringen Ausnahmen aus den besten Rohstoffen gearbeitet werden und die Herstellungsweise nur eine beschränkte ist, verhältnismäßig hoch im Preise; bei dieser Gelegenheit möchte ich gleich bemerken, daß auch Büttenpapiere auf maschinellem Wege hervorgebracht werden können, und eine Streitfrage, ob die mit der Hand gefertigten Papiere von größerer Festigkeit seien als die auf maschinellem Wege gearbeiteten, hat nach eingehender Prüfung des Kgl. Material-Prüfungs-Amtes in Dahlem das Resultat ergeben, daß darin kein Unterschied zu finden ist.
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Mit diesen Ausführungen glaube ich Ihnen ein kleines Bild von der Handpapierherstellung vorgezeichnet zu haben, und Sie werden sich selbst sagen, daß die ungeheuren Mengen Papier, welche täglich verbraucht werden, auf diese Weise allein nicht gearbeitet werden können. Wie auf allen Gebieten, so hat auch in der Papierfabrikation die Wissenschaft glänzende Erfolge zu verzeichnen, und die Technik hat es verstanden, neben dem Handschöpfbetrieb allmählich Maschinen hervorzubringen, welche den größten Anforderungen gewachsen sind. Jedenfalls war die bedeutendste technische Änderung, die E r findung der endlosen Siebmaschine, an Stelle des Handschöpf betriebes im Jahre 1799 in Frankreich; infolge des später hinzugekommenen automatischen Selbstabnehmers des von der Maschine kommenden Papiers wurde aber erst ein ununterbrochener Betrieb ermöglicht. Auf die Technik einer Papiermaschine selbst vermag ich heute nicht einzugehen; ich will Ihnen nur kurz sagen, daß die Maschinen so eingerichtet sind, daß der in allen Teilen aufs sorgsamste vorbereitete Stoff der Papiermaschine zugeführt wird, sich auf derselben durch Schüttelung verfilzt, das überschüssige Wasser abläuft, automatisch vorwärtsgetragen über angeheizte Trockenzylinder geführt wird und schließlich als fertiges Fabrikat herauskommt. Diese Vervollkommnung der Maschinen hat sich natürlich erst im Laufe der Jahre herausgebildet. Da die vielen Sorten Papier nur unter den verschiedensten Voraussetzungen angefertigt werden können, sind auch die Maschinen mit Berücksichtigung der darauf herzustellenden Sorten verschiedenartig gebaut, und man hat dabei vornehmlich Zylinder-Langsieb- und Pappenmaschinen zu unterscheiden. Am Anfang meines Vortrages habe ich schon kurz darauf hingewiesen, daß die Rohstoffe für die heutige Papierfabrikation nicht nur aus dem Pflanzenreich, sondern auch aus dem Tier- und Mineralreich bezogen werden. Was aber das Wachsen der Papiererzeugung ins Riesenhafte ermöglicht hat, das durch den stetig steigenden Verbrauch aller Arten gefordert wurde, das war die Erfindung des Holzschliffes und der Zellulose. Der Holzschliff als Rohstoff für das Papier wurde 1844 entdeckt,
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die Zellstoffbereitung nach dem Natronverfahren 1857, nach dem Sulfitverfahren 1872. — Die zur Herstellung von Holzschliff verwendeten Hölzer sind fast ausschließlich Nadelhölzer, besonders Fichte, und von Laubhölzern wird nur Pappel und Espe in geringerem Maße verschliffen. Das Rohholz wird von der Rinde und schlechten Stellen befreit, in kurze Stticke geschnitten und auf dem Schleifstein geschliffen. Diese mechanische Zerfaserung ist zwar der einfachste Weg zur Herstellung von Papierstoff aus Holz, aber er hat zur Folge, daß der Holzschliff kurzfaserig und wenig verfilzungsfähig ist, so daß die mit Holzschliff zu erzielende Festigkeit der Papiere nur beschränkt bleibt. Bei der Zellulose ist Strohzellstoff, der in erster Reihe aus Roggenstroh gewonnen wird, und Holzzellstoff, zu dem vornehmlich unsere Nadelhölzer und unter diesen wieder in erster Linie die Fichte bevorzugt wird, zu unterscheiden. — Die Zellulose, kurz gesagt, das Mark des Holzes nach Entfernung der verholzten Fasern, wird nach verschiedenen Verfahren durch chemische Behandlung gewonnen und bildet neben dem Holzschliff das wichtigste Surrogat für die Papierfabrikation. Hierbei sei nicht unerwähnt, daß die Laienansicht, Lumpenpapiere seien die wertvollsten, nicht stichhaltig ist, weil eine prima gebleichte Zellulose wertvoller und für viele Papiere zweckentsprechender ist, als eine geringe Lumpenfaser; aus guter Zellulose können die festesten und sehr elegante Papiere hergestellt werden. Für die Papierfabrikation kommen als Rohstoffe außer Leinen, Baumwolle, Stroh und Holz noch Hanf, Jute, Manila, auch Adansonia, die Faser des Affenbrotbaumes, Alfa, das in Syrien und Nordafrika vorkommt, in Betracht; aus dem Tierreich wird Schafwolle und aus dem Mineralreich Asbest, das für die Asbestpappen gebraucht wird, sowie kieselsaure Tonerde, welche als Füllstoff benutzt wird, verwendet. In dem Zustande, in welchem das Papier aus der Maschine herauskommt, ist es natürlich noch nicht so, daß es gebrauchsfertig bezeichnet werden kann; im Gegenteil, es bedarf noch einer so eingehenden Behandlung, wie sich nur wenige vorstellen können. Nachdem die ablaufende Papierbahn schon am Ende der Papiermaschine in der Längsrichtung der Papierbahn so geteilt worden ist, wie die später zu verwendenden Rollen oder die eine Seite der benötigten Bogengröße an Maß haben sollen, werden diese Papierrollen späterhin
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auf sogenannten Formatschneidemaschinen noch in der Querrichtung geteilt und auf diese Weise in die gewünschte Bogengröße gebracht. "Wird das Papier geglättet verlangt, wie z. B . Brief- und Schreibpapier, Druckpapier zur Herstellung von Bildern etc., so muß das Papier, da solches, so wie es aus der Papiermaschine kommt, infolge der Unebenheiten auf der Oberfläche für derartige Zwecke nicht genügt, erst geglättet werden, und dies geschieht dadurch, daß das Papier in Rollen mit Hilfe besonders dafür geeigneter Maschinen, nämlich dem Kalander, nachträglich in den Grad der gewünschten und erforderlichen Glätte gebracht wird. E s wird auch noch im geringeren Maße Papier in Bogen nachträglich geglättet, indem diese Bogen zwischen Platten, ebenso wie ich es bei den Büttenpapieren schon ausgeführt habe, durch Walzen hindurchgepreßt werden. Nach dem Schneiden des Papiers in Bogen werden solche sortiert, d. h. die fehlerhaften oder angeschmutzten Bogen werden herausgelegt, dann wird das Papier abgezählt und in kleinen Paeketen — j e nach der Dicke des Papiers von 50—1000 Bogen — eingepackt und schließlich in Ballen verpackt. Aber auch liniiert und karriert werden die Papiere verlangt und die Unmengen von Brief- und Schreibpapier für Behörden und Private müssen erst gefalzt und dann vermittelst sinnreich konstruierter Schneidemaschinen an den Seiten glatt beschnitten werden. Sie alle kennen die großen Rollen Papier, welche täglich durch die Straßen Berlins gefahren werden: das Druckpapier für unsere Zeitungen. Dieses Papier wird anschließend an die Papiermaschine auf Umwickelapparaten nach dem Erfinder Bischof genannt, eisenfest aufgewickelt, an den Seiten sauber beschnitten und abgerieben und in die Druckerei gebracht, um in endloser Bahn auf den Rotationsmaschincn für die Tageszeitungen verdruckt zu werden. Diese Unmenge von Papier, welche naturgemäß sehr billig sein soll, wird nur aus Holzschliff und Zellulose und Beimischung von Füllstoff hergestellt, und nur eine ausgiebige Massenherstellung kann es ermöglichen, dieses Papier zu einem so billigen Preise, wie hierfür bezahlt wird, arbeiten zu können. Welche Mengen Papier eine große Maschine täglich leisten kann, zeigt Ihnen die Tatsache, daß von zwei im vergangenen Jahr für Schweden gebaute Maschinen von 4,80 m Arbeitsbreite, bei einer Geschwindigkeit von etwa 200 m in der Minute ungefähr 50—60 000
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Kilo Druckpapier von normaler Stärke in 24 Stunden von jeder Maschine herausgebracht werden können. Bei diesem billigen Zeitungsdruckpapier kommt es natürlich nicht auf eine schöne Durchsicht und besonders große Haltbarkeit an; es genügt, wenn ein derartiges Papier gut gewickelt und so fest ist, daß es beim Drucken nicht platzt, nicht staubt und den Ansprüchen für den Tagesgebrauch entspricht; demzufolge kann auch eine derartige Qualität sehr schnell von der Maschine laufen. Für jeden besonderen Verwendungszweck des Papiers muß der zu verwendende Rohstoff und seine Zutaten sorgfältigst ausgesucht werden; die Geschwindigkeit, mit der die Papiermasse über die Maschine läuft, ist äußerst wichtig, um eine ordentliche und angemessene Verfilzung zu ermöglichen, und noch unendlich viel anderes ist scharf zu beachten, wenn ein für den bestimmten Zweck brauchbares Papier herauskommen soll. In Druck-, Schreib- und Packpapieren ist zweifellos der größte Verbrauch, und wir müssen diese Hauptabteilungen wieder in die verschiedenen Nebenabteilungen zerlegen, ohne hier auch nur annähernd die Mannigfaltigkeit allein dieser Gruppen vorführen zu können. — Beim Druckpapier müssen wir zunächst holzhaltiges, holzschliffreies, geglättetes und ungeglättetes Papier unterscheiden. Die wichtigste Grundbedingung für jedes zum Druck bestimmte Papier bleibt naturgemäß die Druckfähigkeit, bei der aber immerhin auf den Verwendungszweck der Druckarbeit selbst Rücksicht zu nehmen ist. Eine Tageszeitung oder irgendeine Reklameschrift, welche ihren Zweck gewissermaßen in dem Augenblick, wenn sie gelesen ist, erfüllt hat, braucht weder in der Qualität des Papiers noch in der Schönheit des Druckes so ausgestattet zu sein, wie irgendein Pracht- oder wissenschaftliches Werk, welches dauernd erhalten und durch künstlerische Wiedergabe von Bildern ein Schmuck für längere Zeit sein soll. — Wird eine Druckarbeit verlangt, in welcher nur Text vorkommt, so wird im allgemeinen ein Papier von guter Maschinenglätte genügen; müssen aber Bilder angebracht werden, so wird es sich in den meisten Fällen empfehlen, geglättete Papiere zu wählen, weil die Bilder infolge der durch die Glättung hervorgebrachten geschlossenen Oberfläche schöner herauskommen; für das Auge ist ein mattes Papier stets angenehmer als ein glänzendes, was man besonders beim Lampenlicht empfindet.
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Für alle Druckarbeiten, welche nur von kurzer Lebensdauer zu sein brauchen, auch für Kataloge, Zeitschriften und Bücher, welche keinen bleibenden Wert haben, genügt Papier mit Holzschliffbeimischung, welche je nach der Preislage des Papiers in größeren und kleineren Mengen vorgenommen werden kann. — Für alle besseren Werke, Romane, Schul- und wissenschaftliche Bücher sollten aber nur holzschliffreie Papiere und für wissenschaftliche Werke, welche Jahrhunderte überdauern sollen, nur aus reinen guten Hadern gearbeitete Papiere verwendet werden. Zur Erzielung einer guten Druckfähigkeit ist es nötig, daß das Papier möglichst weich und porös ist, um die Druckfarbe leicht und gut annehmen zu können. Deshalb werden Druckpapiere im allgemeinen nur halbgeleimt gearbeitet, weil der Leim das Papier härter macht und die Poren schließt. Die Härte des Papiers hat aber auch für manche Zwecke noch andere Nachteile, wie z. B. bei Programmdruckpapieren, da solche Papiere beim Umwenden knittern und ein störendes Geräusch beim Konzert hervorbringen. Außerordentlich groß ist auch der Bedarf an Druckpapieren, welche auf der Steindruckpresse verwendet werden; ich erinnere nur an die unendlich große Zahl von Post- und Ansichtskarten, von Bilderbüchern, Landkarten usw. Neben der guten Farbaufnahme ist bei derartigen Papieren die Grundbedingung, daß sich solche beim Durchgehen durch die Maschine auf dem feuchten Stein nicht dehnen, d. h. sich in der Größe nicht verändern. Geschieht dies, so können die verschiedenen Farben nicht genau auf- und aneinander passen, die Grenzen würden bei den Karten nicht mehr stimmen, und bei Seekarten z. B. könnten die größten Nachteile entstehen, wenn das auf dem Meer angegebene Seezeichen infolge der Papierdehnung nicht genau auf der vorgeschriebenen Stelle stehen würde. — Um derartige Fehler nach Möglichkeit zu vermeiden, werden außer der Verwendung geeigneter Stoffmischung und langsamer Verarbeitung auf der Papiermaschine solche Papiere zweimal geglättet, d. h. einmal in der Richtung des Maschinenlaufes, das zweite Mal in entgegengesetzter Richtung, damit das Papier schon vor dem Druck nach beiden Richtungen hin so stark als möglich gestreckt ist; auch ist beim Verarbeiten darauf zu achten, daß das Papier vor dem Druck einige Zeit in dem Raum steht, in welchem es verdruckt werden soll, um die gleiche Raumtemperatur anzunehmen.
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Die Klasse der Schreibpapiere umfaßt ein sehr großes Gebiet. Hierzu gehören alle Schreibheft-, Brief-, Bücher-, Dokumenten-, Behördenpapiere usw., welche sämtlich, abgesehen von einer guten Glätte, damit die Feder leicht hinübergleiten kann, fest geleimt und radierfähig sein müssen. Jeder von Ihnen wird es schon unangenehm empfunden haben, wenn die Tinte beim Schreiben ausläuft oder gar auf der andern Seite durchschlägt, sodaß die zweite Seite nicht zu benutzen ist. Zeigt sich bei derartigen Papieren dieser Mangel und ist solcher nachweislich auf einen Fabrikationsfehler zurückzuführen, so ist solches Papier für Schreibzwecke unbrauchbar. Aber wie manchesmal stellt sich heraus, daß das Papier durchaus nicht schlecht geleimt ist, sondern die Tinte und auch die warme Hand des Schreibers allein daran schuld ist. — Bei dieser Gelegenheit möchte ich bemerken, daß merkwürdigerweise bei allen Mängeln, welche sich bei der Verwendung von Papier herausstellen, zunächst fast ausnahmslos die Schuld auf das Papier geschoben wird. Professor Hcrzbcrg, Vorsteher der Abteilung für Papierprüfung am Kgl. Material-Prüfungsanit in Gr.-Lichterfelde hat in einem kleinen Artikel „Warum muß es immer das Papier sein?" sehr sachlich u. a. ausgeführt: "Wenn z. B. in Papier gewickelte Stahlwaren angerostet, leonische Erzeugnisse angelaufen, Silberwaren braun und schwarz geworden sind, wem wird die Schuld beigemessen? dem Papier! An atmosphärische Einflüsse (feuchte Luft, saure Verbrennungsgase, schwefelwasserstoffhaltige Luft), die die aufgezählten Erscheinungen leicht hervorrufen können und sie sichcr häufiger hervorgerufen haben, als die Einwickelpapiere, denkt selten jemand. Wenn bunte, in Papier eingeschlagene Textilwaren den Farbton ändern, fleckig oder streifig werden, muß das böse Papier herhalten; es ist „säurehaltig". Daß es aber zahlreiche Farben gibt, die so wenig lichtecht sind, daß sie unter dem Einfluß der Atmosphärilien schon in kurzer Zeit ihren Farbton ändern, ist doch heute allgemein bekannt und sollte in solchen Fällen bedacht werden. — Professor Herzberg führt an dieser Stelle noch mehrere derartige Beispiele an, und es kann nur dringend empfohlen werden, Klagen über Papier nur dann vorzubringen, wenn einwandfrei festgestellt ist, daß das Papier, das doch immer so geduldig ist, wirklich einen Mangel zeigt. Für die von den Staatsbehörden zu verwendenden Papiere sind seitens des Staatsministeriums bestimmte Vorschriften über die Stoff-
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Zusammensetzung und die Festigkeit erlassen, und jeder Bogen zeigt beim Durchsehen ein Wasserzeichen, welches den Namen des F a b r i kanten und das Klassenzeichen, zu welcher das betreffende Papier gehört, angibt. •— Bei der Büttenpapierfabrikation hatte ich schon erwähnt, wie ein Wasserzeichen entsteht. — In gleicher Weise wird bei der Maschinenpapierfabrikation auf eine Metallsiebrolle, welche die Breite der Papiermaschine hat, das erforderliche Wasserzeichen aufgelötet und durch fortwährende Umdrehungen in den noch feuchten Papierstoff eingedrückt.
Solche Walzen, Egoutteure genannt, werden
überall da angewendet, wo es sich lim regelmäßige große Anfertigungen handelt; anders ist es jedoch bei kleinen Auflagen, bei denen sich die Herstellung eines Egoutteurs, welcher etwa 200—300 Mk. kostet, nicht lohnt oder wenn in ein bereits fertig gestelltes Papier nachträglich ein Wasserzeichen angebracht werden soll. — In diesem Fall wird auf eine Platte das Bild oder das Schriftzeichen erhöht angebracht und gleichzeitig mit dem einzelnen Bogen Papier unter starkem Druck gewalzt; dieses Wasserzeichen heißt dann im Gegensatz zu dem natürlichen, ein künstliches.
Abgesehen von den großen industriellen Werken und
Banken, welche ihre Briefbogen in so großen Mengen gebrauchen, daß sich die Anschaffung eines Maschinenegoutteurs lohnt, finden Sie auch vielfach Wasserzeichenpapiere im Geschäftsleben, welche auf die zuletzt angegebene Weise hervorgebracht sind. J e gleichmäßiger der Stoff verteilt und je fester das Papier geleimt, desto besser läßt sich solches radieren, ein Hauptfaktor für alle Kontobücherpapiere!
Aber nicht nur auf diese Eigenschaften
muß bei der Fabrikation der Bücher Rücksicht genommen werden; von sehr großem Wert ist auch, daß das Papier, welches zu Büchern verarbeitet werden soll,
in der richtigen
Breite über die Papier-
maschine gelaufen ist. Jedes Papier hat das Bestreben, wenn es nicht glatt liegt, sich um die Achse des Maschinenlaufes zu rollen, und aus diesem Grunde muß der Kniff des Papiers parallel zum Maschinenlauf erfolgen, abgesehen davon, daß jedes Papier in der entgegengesetzten Richtung eine größere Dehnung zeigt, was also für den Kniff vorteilhaft, während es sich mit der Reißlänge umgekehrt verhält. Bei Briefpapieren kommt es wohl in erster Linie auf ein elegantes Aussehen a n ; die Glätte wird sehr verschieden gewünscht, da der eine lieber auf einem sehr glatten, der andere auf stumpfem Papier gern schreibt.
F ü r den Geschäftsverkehr werden j a heute fast aus-
Gcwerbliche Einzelvortr&ge-
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schließlich Schreibmaschinenpapiere verwendet, welche größtenteils mit matter Oberfläche verlangt und so gearbeitet sein müssen, daß die Schriftzeichen leicht angenommen werden und klar herauskommen. Als dritte Papierklasse möchte ich nunmehr die Packpapiere erwähnen. Zur Herstellung dieser Papiere werden alle Fasern benutzt, welche für andere Papiere gebraucht werden, aber auch solche, welche für andere Sorten infolge großer Unreinheiten etc. nicht verarbeitet werden können. Neben, der Lumpenfaser, Holzschliff, Strohstoff, Holzzellstoff finden wir geteerte Stricke und Leinwand, rohe Spinnabfälle usw. und selbst altes Papier, welches wieder aufgearbeitet werden kann. — Mit dem Worte P a c k p a p i c r ist ja schon der Verwendungszweck zur Genüge angegeben, und jeder Verbraucher sollte sich darüber völlig im klaren sein, daß bei dieser Sorte von Papier je nach der Verwendungsart in allererster Beihe die Haltbarkeit ausschlaggebend sein müßte. — Unendlich viele Qualitäten werden von diesem Artikel gearbeitet, aber ich darf wohl sagen, daß den H a u p t b e d a r f die Zellulosepackpapiere decken und davon wieder in erster Reihe die einseitig glatten; in sehr großen Mengen werden auch die gewöhnlichen Strohund grauen Schrenzpapiere, letztere beiden Sorten besonders zur Herstellung von Wellpappen und Wellpappkartons, verarbeitet; aber auch die braunen Kraftpapicre, welche in Deutschland gearbeitet, aber auch in großen Mengen aus Schweden kommen, werden für Pack- und Tütenzwecke gebraucht. — In diese Klasse fallen auch die unendlich vielen Sondersorten, welche u. a. die elektrische Industrie für die Herstellung der Kabel und von Isolierrohren gebraucht; das Packpapier, das von den Zuckerfabriken für die Verpackung von Zucker verwendet wird; die schwarzen Einschlagpapiere für Trockenplatten, die fettdichten Papiere zum Einschlagen von Nahrungsmitteln; alle Sorten, welche zum Einschlagen von Geweben, Spitzen und anderen Erzeugnissen der Textil- und Bekleidungsindustrie usw. benutzt werden. — Ein weiterer großer Verbrauchsartikel sind die verschiedenartigen Kartons und Pappen! Die Grenze, bei welcher die Bezeichnung Papier aufhört und Karton oder Pappe anfängt, läßt sich ziffernmäßig nicht feststellen. Man kann wohl sagen, daß Papiere im Gewicht zwischen 150 und 200 g
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pro qm auf der Grenze stehen, stärkere Sorten werden aber allgemein als Karton oder Pappe bezeichnet. Unter Pappe versteht man im allgemeinen die aus roherem Fasermaterial von geringerer Reinheit hergestellten dicken Blätter, welche meistens durch Zusammengautschen (Pressen) mehrerer dünner Bogen auf der Pappenmaschine gearbeitet werden. — Zunächst kennen Sie alle die graue Buchbinderpappe, welche aus altem Papier und Lumpenabfällen und Ausschuß Zellstoff besteht und zum Einbinden von Büchern usw. benutzt wird. — Dann haben wir gelbe Strohpappen, welche jedoch infolge ihrer geringen Haltbarkeit und Brüchigkeit nur als Schutzdeckel oder für Pappkästen zu vorübergehender Aufbewahrung zu verwenden sind; ferner die braunen Lederpappen, welche sehr fest und für allerhand Kartonagen verarbeitet werden, und die aus reinem Holzschliff bestehenden Holzpappen, die auch zu Kartonagen und vielfach zu den mannigfaltigsten gepreßten Gefäßen, wie Sie solche z. B. auf den Bahnhöfen zu Obst als Teller erhalten, oder für Bieruntersätze verarbeitet werden. — Ein ganz besonders hartes, in der Hauptsache aus Lumpenfasern verarbeitetes Fabrikat ist die Glanzpappe oder Preßspahn genannt, welche eine außergewöhnlich scharf polierte Oberfläche hat und zum Glattpressen von Tuch, Papier etc. benutzt wird; aber auch in der elektrischen Industrie werden diese Preßspähne in großer Menge verwendet. — Sehr fest müssen auch die Jacquardpappen sein, aus welchen die in den Webereien benötigten gelochten Schablonen gemacht werden. Erwähnen will ich noch die F u ß b o d e n b e l e g p a p p e , welche man unter Linoleum und Teppiche legt, die D a c h p a p p e und schließlich die Asbestpappe, die fast ausschließlich aus dem feuerbeständigen Asbest besteht und wegen ihrer Unverbrennlichkeit zum Bau feuerfester Baracken und zu Dichtungen und Packungen von Dampfheizungen etc. verwendet wird. — Bei den Kartons finden wir wieder eine sehr große Mannigfaltigkeit, und bei diesen sind einblätterige und solche, welche aus verschiedenen Bahnen zusammengeklebt sind, zu unterscheiden. — Bei den geklebten Kartons finden wir wieder solche, welche durchweg aus demselben Stoff, wie z. B. die bekannten Elfenbeinkartons, gearbeitet sind, und andere, bei denen die äußere Schicht zwar aus besseren, die Einlage hingegen aus geringeren Materialien hergestellt 6*
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ist. — Ihnen allen sind die verschiedenen Postforniulare, Postkarten,. Paketadressen, Postanweisungen, Kachnahmekarten bekannt, zu denen Karton verwendet wird. — Die Millionen von Glückwunschkarten, Besuch- und Tischkarten, Geschäfts- und Reklamekarten und unzählige andere Sorten werden auf weißen und farbigen Kartons hergestellt. Im Gegensatz zu den soeben besprochenen, besonders starken Papiersorten sind nun noch die außerordentlich dünnen, nämlich die Seidenpapiere, zu behandeln. — Diese Papiere, welche in einem Gewicht von etwa 10—30 g pro qm gearbeitet werden, finden ebenfalls eine sehr ausgedehnte Verwendung, und je nach dieser sind dieselben aus den verschiedensten Stoffen hergestellt. Die meisten Seidenpapiere werden zu Einwickelzweeken benutzt, und zwar überall da, wo es weniger auf eine feste Umhüllung als um einen Schutz des einzupackenden Gegenstandes gegen Zerkratzen und ähnliches ankommt. Beträchtliche Mengen werden zum Einpacken von Früchten und Blumen gebraucht, auch bei der Konfektion, Blumen- und Federfabrikation und den meisten andern Betrieben finden wir Seidenpapierc als Verpackungsmaterial. — Je nachdem sind diese Papiere aus ungebleichten, naturfarbigen oder aus gebleichten und schön angefärbten Fasern gearbeitet. Die feinsten Seidenpapiere bestehen aus sehr lange gemahlenen,, reinweißen Lumpenfasern, und in dieser besten Sorte werden auch die meisten Zigarettenpapiere erzeugt. Auch ein sehr großer Verbrauch ist in farbigen Seidenpapieren, welche nicht nur zur Blumenfabrikation, sondern auch in der Luxuspapierindustrie zum Ausfüttern der Briefhüllen, für Lampenschirme, Ballartikel, Topfhüllen, Tischausschmückung und vieles andere gebraucht werden. Nicht unbeachtet will ich die mannigfachen Arten Kopierseidenpapier lassen, bei welchen es natürlich in erster Reihe auf eine tadellose Kopierfähigkeit ankommt. Um dies zu erreichen, dürfen diese Papiere nicht geleimt und nur aus besten Lumpenfasern hergestellt sein. Ebenso müssen die Lösch- und Filtrierpapiere absolut ungeleimt sein und die Fähigkeiten haben, welche bereits in ihrem Namen ausgedrückt sind. Wenn wir uns bis jetzt mit dem Rohpapier, d. h. mit solchem, wie es von der Papiermaschine kommt, beschäftigt haben, so muß ich meinen Vortrag auch noch insofern kurz vervollständigen, daß ich Sie
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auf diejenigen Papiere hinweise, welche noch eine nachträgliche P r ä paration durchzumachen haben, und zwar sind bei dieser Klasse Papiere mit Oberflächenpräparation, mit Innenpräparation und solche, welche durch Einwirkung chemischer Mittel in ihrer Beschaffenheit verändert werden, zu unterscheiden. Zur ersteren Sorte gehören alle, besonders in den letzten Jahren stark in Aufnahme gekommenen Kunstdruckpapiere; wie schon früher erwähnt, kommt es zur Erzielung eines besonders guten Druckes auf die Beschaffenheit der Oberfläche des Papiers sehr viel an. J e gleichmäßiger und geschlossener die Oberfläche, desto besser und vollkommener können alle Feinheiten des Druckes zur Geltung kommen, und deshalb werden Papiere, bei denen es auf Wiedergabe feiner Bilder ankommt, mit einem feinen Aufstrich, welcher u. a. aus schwefelsaurem Baryt besteht, versehen. — Auch die Chromodruckpapiere und -kartons, welche zur Herstellung von lithographischen Buntdrucken in Aufnahme sind, werden in ähnlicher Weise hergestellt. — Nicht unerwähnt darf ich die unzähligen Sorten Buntpapiere, welche für die Buchbinderei als Überzug- und Vorsatzpapier, für Kartonagen undDüten und alle nur denkbaren Packungen verwendet werden, lassen. Alle Gold- und Silberpapiere gehören hierher, und nicht allein mit dem Aufstrich werden diese Papiere versehen, nein, dieselben werden ebenso wie die leinengeprägten Briefpapiere und andere für die Papierkonfektion benutzten Sorten mit einer Prägung in den verschiedensten Narbungen hergestellt. — Auch die Tapetenfabrikation zeigt Ihnen in ihrer großen Mannigfaltigkeit, was auf diesem Gebiete geleistet werden kann. — Eine der schwierigsten Arbeiten ist die Herstellung wirklich guter Photographiepapiere, die nur wenige Fabriken fertigen können, ferner möchte ich noch die Kohlenpapiere, welche für die Durchschläge bei der Schreibmaschine benutzt werden, Papiere f ü r die Abziehbilder, Lichtpauspapiere und viele andere erwähnen. Unter die Kategorie der Papiere mit Innenpräparation fallen alle Reagenzpapiere, die verschiedenen Sorten Räucher- und Giftpapiere, Ölpaus-, Diaphanien-, Wachs- und Paraffinpapiere. Ein durch chemische Einwirkung verändertes Papier ist das Ihnen bekannte Pergamentpapier, das zum Verschluß von Einmachegläsern, zum Einpacken von Nahrungsmitteln etc. benutzt wird. Pergamentpapier besteht aus ungeleimter Baumwollfaser; der Rohstoff wird durch ein Schwefelsäurebad hindurchgezogen und nach kurzer
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Papier, seine Entstehimg und sein Verbrauch.
Einwirkung der Säure wieder ausgewaschen. Durch dieses Verfahren quillt das Papier an der Oberfläche zu einer gallertartigen Masse auf, die nach dem Trocknen die Fasern zu einer dichten, porenfreien Haut verkitten und dadurch das Papier luftdicht machen. — Ein Papier, das zwar nicht in Deutschland hergestellt wird, aber von außerordentlicher Festigkeit und Geschmeidigkeit ist, nämlich das japanische Papier, möchte ich doch noch kurz erwähnen, da solches bei uns gut eingeführt und für alle möglichen Zwecke, als Kopier- und Einwickelseiden, Servietten, Tisch- und andere Luxuskarten, sowie für feine Druckarbeiten usw. Verwendung findet. Die hervorragende Festigkeit wird durch die zu dem Papier verwendete Faser, die Kiutsufaser, und die eigenartige Herstellungsweise des Papiers erreicht; es war bisher nicht möglich, diesen Faserstoff in größeren Mengen bei uns einzuführen und zu verarbeiten. — Daß Papier allgemein ein vorzügliches Wärineschutzmittel ist, wissen Sie alle, nachdem über diese Eigenschaft gerade während des Krieges in allen Tages- und Fachzeitschriften eingehend berichtet worden ist. Die Japaner hatten im russisch-japanischen Kriege ihre Truppen mit Papierhemden, Unterzeug und Fußbekleidung mit bestem Erfolge ausgerüstet, und diesem Beispiel folgend wurden auch jetzt bei uns eingehende Versuche gemacht, aber ohne vollen Erfolg, weil die deutschen Fabrikate, besonders für die Fußbekleidung, nicht haltbar genug waren. — Nach diesen Ausführungen glaube ich Ihnen gezeigt zu haben, daß Papier ein Artikel von allergrößter Bedeutung ist, der in Handel und Industrie ebenso wie im Haushalt tagtäglich in irgendeiner Form gebraucht und verwendet wird. Wir haben in Deutschland abgesehen von den Pappenfabriken etwa 400 Papierfabriken mit etwa 800 Papiermaschinen, welche zusammen nach der mir vorliegenden Aufstellung im Jahre 1912 etwa 1 Milliarde 981 Millionen Kilogramm Papier und Pappe im Gesamtwerte von 520 y> Millionen Mark gearbeitet haben. Allein an Druckpapier für die Tageszeitungen wurden 1913 373Vi; Millionen Kilogramm verbraucht. "Wie schon eingangs erwähnt, war ich genötigt, dieses außerordentlich verzweigte Gebiet möglichst gedrängt zusammenzufassen, und meine Ausführungen können daher keinen Anspruch auf Vollkommenheit machen. — Ich hoffe aber, daß auch die Hörer, welche mit dem Stoff gar nicht vertraut waren, meinen Ausführungen folgen
Papier, seine Entstehung und sein Verbrauch.
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konnten und in Zukunft mit regerem Interesse dem so unscheinbaren Papier begegnen werden. — Allen Damen und Herren, welche aber mit dem Papierhandel selbst oder mit der Papierverarbeitung beruflich zu tun haben, möchte ich dringend raten, sich mit der Herstellungsweise des Papiers und den damit verbundenen Schwierigkeiten so gut als möglich vertraut zu machen; dann werden unberechtigte Ausstellungen und unmögliche Forderungen an den Lieferanten von selbst mehr und mehr aufhören. — Nach langen Verhandlungen zwischen den Herstellern von Papier und seinen Abnehmern ist es endlich gelungen, Handelsgebräuche für den Handel mit Papier für den Bereich der Handelskammer von Berlin und Potsdam aufzustellen, welche hoffentlich den gegenseitigen Verkehr erleichtern werden. — Wie auf anderen Gebieten haben sich auch im Papierfach Syndikate, Kartelle und Konventionen gebildet, auf welche ich jedoch nicht mehr eingehen will. — An Hand von wenigen Zahlen habe ich Ihnen gezeigt, daß die deutsche Papierindustrie ihren Rang unter den anderen deutschen Industrien wohl behauptet und deshalb auch vollen Anspruch erheben kann, weitestgehende Förderung durch Befriedigung ihrer Wünsche in zoll- und gesetzgeberischer, besonders auch sozialpolitischer Beziehung zu erfahren. — Daß die Papierfabrikation nicht auf Rosen gebettet ist, zeigen die Abschlüsse der Aktiengesellschaften, wobei man durch die guten Erfolge ganz weniger Fabriken, welche durch ihre außerordentlich günstige Lage und andere Vorbedingungen eine Ausnahmestellung einnehmen, keine falschen Schlüsse ziehen darf. — Die Kriegswirren haben auch der Papierindustrie unendliche Schwierigkeiten, die sich täglich noch steigern, gebracht, und es ist nicht ausgeschlossen, daß eine größere Anzahl Fabriken ihren Betrieb ganz einstellen müssen, wenn wir nicht bald einen siegreichen Frieden bekommen. — Ich schließe nieinen Vortrag mit den am Anfang gesagten Worten, daß der Papierverbrauch eines Volkes die von diesem erreichte Kulturhöhe anzeigt. — Ich darf wohl hoffen, daß Sie auf Grund des Gesagten überzeugt sein werden, daß wir Deutschen demnach auf einer nicht zu unterschätzenden Höhe stehen.
IV.
Die Organisation und Volkswirtschaft liehe Bedeutung des Eierhandels. Vortrag des Herrn
Hermann
Hausen,
in F i r m a : J. Hausen senior.
Hochgeehrte Anwesende!
Meine Damen und Herren!
Zunächst liegt mir die angenehme Pflicht ob, dem verehrlichen Ältesten-Kollegium verbindlichst dafür zu danken, daß es durch die an mich gerichtete freundliche Aufforderung, an dieser Stelle zu Ihnen zu sprechen, dem Geschäftszweig, den ich heute hier vertrete, eine Auszeichnung erwiesen hat und ihm Gelegenheit bietet, nunmehr auch in den geweihten Räumen der Berliner Handelshochschule zu Worte zu kommen, nachdem schon vor mehreren Jahren einige deutsche Universitäten auf Grund ähnliche Themata behandelnder Dissertationen, an denen — wie ich reumütig vor Ihnen bekennen muß — ich teilweise nicht ganz schuldlos war, den Doktorhut verliehen haben. Der von Natur dickflüssige, aber doch bildlich genommen wohl ein wenig trockene Gegenstand wird letzten Endes dadurch verklärt, daß als oberster Richter über den Gebrauchswert des Eies die brave Hausfrau steht. Bis das Ei aber zu dieser höchsten Instanz gelangt, hat es zumeist mehr oder weniger ansehnliche "Wanderungen durchzumachen, auf welchen mich einmal ein wenig zu begleiten doch vielleicht nicht ganz uninteressant sein dürfte. „Mancher gibt sich viele Müh' mit dem lieben Federvieh, einesteils der Eier wegen." Um diese von Busch so klassisch besungene Mühe ist erst jüngst in den Fachzeitungen und auch in einer Berliner Tageszeitung hin und her gestritten worden. D a beklagte man einerseits, daß wir zur Deckung unseres Bedarfs an Eiern jährlich noch immer eine sehr große Summe ans Ausland senden müssen und meinte, daß die deutsche Landwirtschaft auf dem Gebiete der Geflügelzucht und der damit verbundenen Eierproduktion intensiver arbeiten und ein gut Teil der jetzt dem Auslande zufallenden Gelder dem Inlande erhalten könnte, während von der anderen Seite entgegnet wurde, daß der Prozentsatz der von kaufmännischer Seite als Beteiligung
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Die Organisation und volkswirtschaftliche Bedeutung des Eierhiindels.
der Ernährung unserer Bevölkerung mit inländischen Eiern angenommen würde, viel zu gering sei, und daß die deutsche Produktion schon nachgerade die Hälfte unseres Konsums decke. — Wie die Dinge jetzt noch liegen, steht es fest, daß die Bevölkerung von Großstädten im Jahresdurchschnitt mit einem sehr hohen Prozentsatz auf importierte fremdländische Eier angewiesen ist, während kleinere Ortschaften und das flache Land wohl in der Lage sind, den größten Teil ihres Bedarfs durch die inländische Erzeugung der Umgebung zu decken. — Wir Großstädter können im Hinblick auf das Vorgesagte wehmütig mit Fritz Reuter ausrufen: „Rindfleisch und Plum smeckt ssön, blot wi kriegens nich!1' oder aber wir bekommen die inländischen frischen Eier in größerer Menge nur im Frühjahr, wenn es überall «inen Überfluß an frischen Eiern gibt und diese daher nichts Besonderes darstellen. Gewiß wäre es sehr wünschenswert, daß wir nicht nötig hätten, etwa 200 Millionen Mark jährlich für unseren Eierbedarf an das Ausland zu zahlen. Zu jener Zeit, als viel von der Not der heimischen Landwirtschaft die Rede war, habe ich in Fachblättern und Tageszeitungen darauf hingewiesen, daß ein Mittel und vielleicht nicht das kleinste zur Hebung des damals behaupteten Notstandes in einer Vergrößerung der inländischen Geflügelzucht und der damit verbundenen Erhöhung der Eierproduktion zu suchen wäre. Man hat mir seinerzeit bedeutet, daß innerhalb der deutschen Landwirtschaft mehrfache Gründe vorlägen, welche dagegen sprächen, und mich an das in landwirtschaftlichen Kreisen übliche Sprichwort erinnert: ,,Willst Du Dein Geld verlieren und weißt nicht wie, dann halt' Dir zuviel Federvieh." Unsere örtlichen Verhältnisse würden das Halten großer Hühnerstämme nicht überall gestatten. Das Huhn muß, wenn es fleißig legen soll, möglichst frei umherwandern können, um Grünfutter, Körner und Kalk, den es zur Schalenbildung braucht, in genügender Menge aufzupicken. Es findet all dieses reichlich von selbst in denjenigen Länderstrecken, die großeEierproduktion haben; während bei uns, wo man auf möglichste Sauberkeit der Felder hält und besondere Achtsamkeit darauf verwendet, daß so wenig, wie möglich, von der Kornernte verloren geht, die Hühner mit Korn besonders gefüttert werden müssen. Dadurch stellt sich bei uns die Eierproduktion wesentlich teurer. Aber die Sache selbst hat sich doch in der Folgezeit mehr durchgesetzt. Gleichwie unsere Ernteerträge in den letzten 25 Jahren
Die Organisation und volkswirtschaftliche Bedeutung des Eierhandels.
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um 40 % gestiegen sind, hat sich auch unsere Geflügelhaltung und durch diese die Eierproduktion entsprechend gehoben. Es hat sich u. a. eine so ansehnliche Zahl von Nutzgeflügelgenossenschaften gebildet, daß bei der letzten Viehzählung 1912 etwa 82 Millionen Geflügel festgestellt worden sind, von denen man etwa 50 Millionen zu den Legehennen rechnen kann. Im Mittel kann man die Legetätigkeit einer Henne auf etwa 90 Eier jährlich annehmen; damit würde man immerhin auf die ansehnliche Ziffer von 4' i. Milliarden Eier kommen, die uns das Inland jährlich zu verbrauchen gibt. Auf den Kopf der Bevölkerung macht das aber nur etwa 70 Eier im Jahre aus, und da springt es sofort in die Augen, daß diese Ziffer bei weitem nicht hinreicht und noch einer wesentlichen Steigerung bedarf, welche ich mit vielen Fachleuten von der Rührigkeit unserer Landwirtschaft bestimmt erhoffe, zumal man auch in landwirtschaftlichen Kreisen sein Hauptaugenmerk jetzt darauf richtet, in kleinen Betrieben nach Maßgabe der örtlichen Verhältnisse möglichst viel Geflügelzucht zu treiben. Es wird ja niemals möglich sein, den Bedarf an Eiern ausschließlich durch die inländische Produktion zu decken, denn es fehlen nach dem Vorgesagten und nach den bisherigen statistischen Erhebungen, soweit Berlin und wohl die meisten Großstädte in Betracht kommen, noch wenigstens 130 Eier jährlich pro Kopf der Bevölkerung, die wir jetzt aus dem Auslande zu decken genötigt sind. Aber ein Teil dieser Ziffer wird sich noch einbringen lassen, vielleicht u. a. auch dann, wenn mit einer Gepflogenheit gebrochen wird, die in deutschen Landen ein alter Brauch ist. Dafür, daß ich Ihnen dieses erzähle, bitte ich, mich aber nicht verantwortlich zu machen. Bei ähnlichen Anlässen pflegte man früher wohl zu sagen, weil ich mich nicht gern mit Rußland anlegen möchte; wie man das jetzt bei der Fülle unserer Widersacher ausdrücken soll, dürfte einige Verlegenheit bereiten. — Es ist bei uns ein uraltes Gewohnheitsrecht, daß alle Unkosten, welche mit der Geflügelzucht verbunden sind, vom Herrn Gutsbesitzer getragen werden, während das Geld aus den Einkünften für die Eier unantastbarer Besitz der Frau Gutsbesitzerin ist, den sie sich unter keinen Umständen rauben lassen will. Die Folgen sich auszumalen, muß ich Ihnen überlassen; Sie sehen aber, daß das berühmte „Suchen nach der Frau" vielleicht auch ein wenig mit daran schuld ist, wenn wir uns in bezug auf den Eierhandel der Internationalität befleißigen müssen.
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Der Beginn des internationalen Eierhandels in Deutschland ist auf die Ende der 1840 er Jahre erfolgte Eröffnung der Bahnstrecke Brieg—österreichische Landesgrenze zurückzuführen, die als Schlußstück der oberschlesischen Bahn zur Vollendung gebracht wurde, und die, nachdem die Strecken Brieg—Breslau 1842, Sommerfeld—Breslau 1844 und Frankfurt—Sommerfeld 1846 ausgebaut waren, bis Myslowitz—Trzebinia führte. Bis dahin wurden die Eier aus Westgalizien, zuerst aus Krakau, wo sich in der Vorstadt Podgorze eine kleine Gesellschaft zum Export zusammengetan hatte, per Achse gebracht, und der erste Pionier, der die Ware auf dem Wagen bis zur preußischen Grenze begleitete und von dort mit der Bahn hierher fuhr, war eine Matrone, deren ich mich aus meiner frühen Kinderzeit noch jetzt erinnere. So kamen dann die ersten paar Tonnen Eier — es war damals üblich, solche mit einem Inhalt von etwa 40—50 Schock in Häcksel zu verpacken — in Berlin an und wurden auf dem Neuen Markt zur Besichtigung ausgestellt. — Die damaligen hiesigen Händler waren nur schwer dazu zu bewegen, diese Ware zu kaufen; sie mußte schließlich um 12 Silbergroschen für das Schock abgegeben werden. Der erwähnte Pionier fuhr aber hochbeglückt von dannen, denn er hatte auf diese Weise noch etwa 50 % an seinem Einkaufe verdient, — ein paradiesischer Zustand, der sich in der Folgezeit gründlich geändert hat. — Man huldigte damals und folgt auch noch heute in den Länderstrecken, die die größten Hühnerstämme aufzuweisen haben, dem Grundsatz: „Ein Dutzend Hühner bringt mehr und kostet weniger zu erhalten, als eine Kuh", und deshalb hat der Eierhandel auch zuerst in Galizien eine schnelle Ausbreitung gefunden. Die erwähnte Gesellschaft war während einer Reihe von Jahren die Alleinherrscherin des galizischen Exports; dann taten sich konkurrierende Unternehmungen, zunächst in mehreren anderen westgalizischen Plätzen, namentlich in Tarnow und Rzeszow auf, bis sich der Handel über Mittel- und Ostgalizien und die an Galizien grenzenden Teile Russisch-Polens bis nach Warschau hin verbreitete. Etwas später traten dann noch die nördlicheren Teile Polens und über Ostgalizien hinausgehend die Bukowina in Aktion. Bis in die 1870 er Jahre hinein war Berlin das Absatzzentrum für diese Sendungen. Von hier versorgten sich Hamburg, welches damals einen Export nach England zu betreiben anfing, und die sächsischen Plätze, namentlich Leipzig und Dresden. Wir waren zu jener Zeit in der glücklichen Lage, die
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Ware nach dem Werte zu bezahlen, den sie im Inlande hatte, denn sie kam ausschließlich als Konsignationsware hierher und der Preis wurde vom inländischen Empfänger dem ausländischen Sender bestimmt, der übrigens, da die Eier im Einkau! noch sehr billig waren — im Frühjahr zur Zeit der höchsten Produktion ging das Schock im Verkauf hier bis auf 1,80 Mk. herunter und ein Preis von 4 Mk. im Winter wurde schon als ein recht hoher betrachtet —, dabei gar nicht schlecht fuhr. Dieser, fast möchte man sagen, patriarchalische Zustand änderte sich mit einem Schlage, als im Jahre 1879 die Bismarcksche Zollpolitik inauguriert wurde. Der Vertragszoll für Eier war allerdings so mäßig, daß er kaum 10 Pf. pro Schock betrug; aber dieser geringe Aufschlag genügte schon, den Verdienst der Exporteure, — soweit war dieser durch die in den Produktionsgebieten immer mehr zunehmende Konkurrenz bereits gedrückt — zu absorbieren. Die Exporteure sahen sich veranlaßt, Auswege nach denjenigen Ländern zu suchen, die keinen Zoll auf Nahrungsmittel legten. Unter diesen'kam in erster Linie England in Betracht und die erwähnte Krakauer Gesellschaft war die erste, die ihre Sendungen nunmehr direkt über Hamburg nach jenem Lande richtete; bald folgten ihr die übrigen galizischen Exporteure, und der Umfang der Konsignationen ging innerhalb eines Zeitraumes von kaum zwei Monaten auf ein Drittel seines früheren Umfanges zurück. Der deutsche Importeur war nun gezwungen, wenn er den Bedarf seiner Kundschaft decken wollte, die Ware vom ausländischen Exporteur zu kaufen und ihm die Preise zu bezahlen, die er forderte. Eier können übrigens als gutes Beispiel dafür angeführt werden, daß der inländische Verbraucher den Zoll, der auf ihnen ruht, voll mit bezahlen muß. Wie auf so vielen anderen Gebieten ist seit jener Zeit ein Wettbewerb zwischen Deutschland und England auch auf dem Eiermarkte eingetreten. Der englische Bedarf ist ein ganz außerordentlich großer. Man kann London als den Hauptplatz für den internationalen Handel in Eiern betrachten. Denn neben der ziemlich umfangreichen irländischen Produktion, die man ja wohl als englisch-heimisch ansprechen kann, gehen nach England Eier aller exportierenden Staaten, unter denen Rußland die erste Stelle im Welthandel einnimmt. Im Beginn der 1880 er Jahre hat sich der Handel Rußlands aus den polnischen Gouvernements, von denen schon die Rede war, in das eigentliche Groß-Rußland weiter verpflanzt und hat dort von
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Jahr zu Jahr eine mächtig wachsende Ausbreitung gefunden. Die Hauptstapelplätze des russischen Exports konzentrieren sich südlich um die Dongegend — von dorther beziehen wir die Eier, die wir hier unter dem Namen „Süd-Russen" handeln — und weiter nördlich um die "Wolgagebiete, insonderheit um die Gegend von Kasan. Die Eier aus den Gouvernements Tambow und "Woronesch sind an Größe die erstklassigen Rußlands. In der "Wolgagegend kommen neben größeren auch kleinere Qualitäten zum Versande. Mit der Zeit hat sich der russische Handel bis nach Sibirien erstreckt, von wo in der Sommerzeit gleichfalls Absendungen in ansehnlichem Umfange stattfinden. Die sibirischen Eier sind aber zumeist noch kleiner als die russischpolnische "Ware und kommen vermöge des langdauernden Transportes, zumeist in nicht ganz einwandfreier Beschaffenheit an. Es ist nun das erste Verdienst Englands um den internationalen Handel in Eiern, daß es diejenige Verpackungsart zur Einführung gebracht hat, die jetzt im "Welthandel allgemein üblich ist, nämlich die Kiste von 24 Schock bzw. 1440 Stück Inhalt. Eine solche Kiste hat ganz bestimmte Längen-, Breiten- und Höhenmaße, die für größere und kleinere Eier nur wenig voneinander abweichen. Im Durchschnitt kann man eine Länge von 175 cm, eine Breite von 53 cm und eine Höhe von 25 cm annehmen. Die Kisten haben in der Mitte ein Doppelscheit, so daß sie im Bedarfsfalle in zwei Hälften von je 12 Schock Inhalt zerlegt werden können. Jede Hälfte enthält vier Horizontallagen, die übereinander gepackt und durch eine Schicht Verpackungsmaterial, Langstroh oder Holzwolle, voneinander geschieden sind. Unter der untersten Schicht Eier und über der obersten findet nochmals eine Bettung von Verpackungsmaterial statt. In jeder Horizontallage, in der sich die Eier horizontal, aber mit den Spitzen gegen die Längsrichtung der Kiste aneinandergereiht befinden, hegen zehn Reihen Eier, in jeder Reihe 18 Stück; jede Lage enthält mithin drei Schock bzw. 180 Eier. Die Arbeiter, von denen die Verpackung besorgt wird, nehmen drei Eier in jede Hand und legen sie in der bezeichneten Weise aneinander anschließend in die Kiste; auf diese Art wird mit drei Griffen eine Lage hergestellt. Die nächste Reihe wird derartig gepackt, daß die Spitzen der Eier in die Zwischenräume greifen, welche durch die unteren Spitzen der in der vorhergehenden Reihe liegenden Eier offen gelassen sind. Auf diese Art wird ein ebenso elastisches, wie in sich geschlossenes Ganzes hergestellt. So wird auch
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am leichtesten ein Verzählen vermieden, und der geschilderte Hergang war mitbestimmend, daß diese Verpackungsart von 1440 Stück in der Kiste gleich mit Beginn des Exports nach England ins Leben trat. Es ist nun, meines Wissens von Frankreich ausgehend, als internationales Maß für die Größe der Eier der 38 mm-Ring zur Einführung gelangt, d. h. Eier, welche durch diesen Ring hindurchgehen, werden als kleine minderwertige Eier betrachtet und werden, wenn sortierte Ware gehandelt wird — und das ist seit Jahren fast stets der Fall —, aussortiert und besonders verpackt. Kisten mit kleineren Eiern werden teils mit 1680 Stück pro Kiste gepackt, wobei in der oben geschilderten Verpackungsmethode statt 18 Eier 21 Stück in eine Reihe gelegt werden, oder aber man nimmt kürzere Kisten und packt diese zu 1440 Stück. Von außerordentlicher Wichtigkeit ist es, daß das Verpackungsmaterial, sowohl das Kistenholz wie das Langstroh oder die Holzwolle, völlig trocken und geruchfrei sind, da das äußerst empfindliche Ei anderenfalls Feuchtigkeit anzieht, dadurch dumpfig wird und ins Verderben übergeht, oder den Geruch des Verpackungsmaterials annimmt und dann den reinen Geschmack verliert. Bei Beginn der frischen Produktion, das ist gewöhnlich von Mitte Februar, manchmal auch etwas früher, bis gegen Mitte Mai oder Anfang Juni, werden die Eier ungeklärt verpackt, weil in dieser Zeit sich sehr selten einmal ein schlechtes Ei vorfindet. Während aller übrigen Monate aber müssen die Eier, bevor sie in die Verpackung gelangen, geklärt werden, d. h. die Eier werden bei einer Kerzen-, Petroleum- oder Gasflamme, am besten aber bei einer elektrischen Lampe durchleuchtet. Ist der Inhalt des Eies voll und durchsichtig, dann ist das E i frisch und gesund. Zeigen sich jedoch Flecke oder erscheint der Inhalt gar ganz schwarz oder undurchsichtig rötlich, dann ist es ein schlechtes Ei und muß aussortiert werden. Dasselbe geschieht, wenn es bei der Durchleuchtung stark abgetrocknet, d. h. in seinem Gehalt vermindert erscheint. Die sogenannten Eierspiegel oder gar die Schwimmproben, die hier und da noch gemacht werden, sind keine zuverlässigen Prüfsteine für die Güte des Eies und sind für den Großhandel völlig unbrauchbar. Für die Verpackung wäre noch zu erwähnen, daß man sogenannte Sommer- und Winterpackung unterscheidet; bei der Sommerpackung Gewerbliche Einzelvorträge-
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werden die Kisten derartig konstruiert, daß die Boden- und Deckbretter Spalten von 1—2 cm Breite aufweisen und daß die Bretter der Längsseite auch eine schmale Spalte zeigen, damit die Luft möglichst überall durchstreichen kann. Im "Winter werden dagegen die Bretter hart aneinander gefugt, und man schützt das Innere der Kisten auch dadurch, daß man etwas starkes Seiden- oder schwaches Packpapier derartig zunächst in zwei Teilen auf den Boden der Kiste legt, daß es von beiden Seiten über die Seitenwände und bis über die Mitte der obersten Deckschicht reicht und über diese von beiden Seiten übereinander geschlagen wird. Im Hochwinter kleidet man die Waggons gewöhnlich noch am Boden und an den Seiten mit Stroh aus. Die auf diese "Weise verwahrten Eier können schon bei ansehnlicher Kälte, etwa 10 Grad und darüber auf weite Strecken transportiert werden, ohne nennenswerten Schaden zu leiden. Allerdings kommt hierbei auch noch in Betracht, daß die Kälte eine ruhige sein muß und kein allzu scharfer eisiger Zug in die Wagen hineingelangt. Neben der Verpackung in Stroh und Holzwolle kommt namentlich im inländischen Handel auch noch die in Kartons in Anwendung. Diese werden aus leichtem Pappmaterial so hergestellt, daß die Pappenstreifen sich derartig schneiden, daß in jeder Reihe eine Anzahl von Fächern entsteht, in welche die Eier hineingesteckt werden, so daß jedes Ei in einem geschlossenen Rahmen steht. Die Lagen werden hierbei dadurch gebildet, daß man über jede Fächerlage eine Pappe von der Größe des Kisteninneren legt, so daß, wenn man die ausgeschnittenen Rahmen hebt, die Eier auf der darunter befindlichen Pappe liegen bleiben. Die Kartonkisten sind von allen Seiten geschlossen und mit einem verschließbarem Deckel versehen. Wenn nun auch diese Verpackungsmethode den Vorteil bietet, daß sie immer wieder zur Verpackung verwendet werden kann — die Verschlußkisten gehen nach Leerung an den Versender zurück —, so ist sie doch wesentlich umständlicher, als die im internationalen Handel gebräuchliche und sie trägt auch wegen der Schwere der Verschlußkisten zur Verteuerung des Transportes bei. Deswegen hat sie sich im internationalen Handel nicht einbürgern können, zumal durch sie nach den bisherigen Erfahrungen noch kein ganz ausreichender Schutz gegen Bruchschäden geboten wird. — Im letzten Sommer ist mir eine neue Verpackungsmethode in durch verkleidete leichte Holzleisten umrahmte Papplagen, welche durch
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eine sinnreiche Konstruktion derartig aufeinandergeschraubt werden können, daß sie ein festes Kolli bilden, vorgeführt worden. Auch hier steht jedes Ei für sich isoliert in der Papplage. Diese ist aber so elastisch konstruiert, daß selbst bei sehr starkem Umher werf en des Kollis kein Bruch entsteht. Sollte diese Art der Verpackung nicht zu teuer werden, dann erscheint sie sehr aussichtsreich, zumal das Ei hierbei auch vor der Gefahr des Verdumpfens geschützt ist, wie sie bei ungeeigneter Stroh- oder Holzwollepackung leicht eintritt. Die von ungarischen Ingenieuren gemachte Erfindung harrt meines Wissens noch der Patentierung. Nachdem ich nun, soweit es bei der Materie möglich ist, die Anfänge des internationalen Handels historisch verfolgt habe, muß ich mich, da seit Mitte der 1880 er Jahre der Handel einen derartigen internationalen Umfang angenommen hat, daß die Ereignisse sich nicht mehr historisch gruppieren lassen, den einzelnen Ländern zuwenden. Wir haben — wie bei so vielen anderen bedeutenden Handelsartikeln — auch bei den Eiern eine Unterscheidung in exportierende und importierende Länder vorzunehmen, wobei zu berücksichtigen ist, daß Eier fast überall in gewissen Mengen produziert werden. Die Unterscheidung kann sich mithin nur auf zumeist exportierende und zumeist importierende Länder erstrecken. Zu den erwähnenswerten exportierenden Ländern zählen wir (nach den Mengen ihres Exportes geordnet): Rußland, Österreich-Ungarn, die Balkanstaaten, Italien, Dänemark, Kanada, Marokko, Ägypten. Über Rußland hatte ich mich schon vorher eingehender verbreitet. Gegenwärtig zählen die russischen Abladestätten nach Hunderten. Der Export ist ein so außerordentlich großer, daß Eier mit zu den aller wichtigsten Artikeln im Ausfuhrbudget dieses Landes zählen. Leider ist es bisher nicht möglich gewesen, ziffermäßige statistische Angaben für den ganzen russischen' Eierexport zu beschaffen, aber soviel kann ich sagen, daß er 1913 nach Deutschland 72 238 Tonnen im Werte von 80329000 Mk. betrug. Rußland hat seinem Export dadurch bedeutenden Aufschwung verliehen, daß es schon seit einer langen Reihe von Jahren Eier auf weißen Frachtbriefen mit besonderer Schnelligkeit befördern läßt. So können wir selbst von den entlegenen russischen Stationen das Eintreffen der Ware mit ziemlicher Sicherheit berechnen. Die Transportdauer schwankt je nach der Entfernung, bis Berlin zwischen ein bis drei Wochen. Bemerken möchte ich hierbei 6*
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gleich noch, daß die Verladung in den meisten Fällen in allen bedeutenden Exportländern in Waggons von 10 000 kg Tragfähigkeit stattfindet, welche je nach der Schwere bzw. der Größe der Eier 100—115 Kisten aufnehmen. In Zeiten knapper Produktion findet der Transport auch in Waggöns von 5000 kg Tragfähigkeit statt, welche mit ungefähr 60 Kisten beladen werden. Vereinzelt werden auch in den letzten Jahren noch größere Wagen beladen, die selbst bis zu 150 Kisten aufzunehmen imstande sind. Die kleineren Waggons und die eben erwähnten ganz großen kommen indessen für Großrußland kaum in Betracht; sie beschränken sich auf die Transporte aus den übrigen Ländern. Beachtenswert ist noch, daß — um die Umladung der Waggons von der 89 mm breiteren russischen Schienenspurweite auf die des übrigen Kontinents zu vermeiden — in der Neuzeit nach dem sogenannten Breidsprecher-System Wagen mit verstellbaren Achsen konstruiert worden sind, die sich sehr gut bewährt haben, da jede Umladung der Ware bei ihrer empfindlichen Natur größeren oder geringeren Schaden zufügt. Die Waggons werden an den deutschen Grenzübergängen in sogenannte Umsatzgruben — von denen es bisher drei gibt, eine in Grajewo-Prostken, eine in Mlawa-Illowo und eine in Sosnowice-Weichselbahn — gefahren, d. h. der umzusetzende Wagen, gleichviel ob leer oder beladen, wird auf ein besonderes Umsetzgleis geschoben, welches unter langsamer Neigung in die Grube läuft. Der obere Teil des Wagens wird mittels unterführter Seitenwagen abgefangen und auf besondere der Hauptbahn parallel laufende Nebenbahnen eine bestimmte Strecke horizontal weiter bewegt; währenddessen lösen sich die Achsen des Wagens selbsttätig auf der fallenden Ebene aus dem Obergestell und rollen in die Grube, in der bereits Achsen für die andere Spurweite bereitstehen. Achsen dieser Spur werden bei der horizontalen Weiterbewegung des Oberteiles auf der in der Grube wieder entstehenden schiefen Ebene aufgezogen,, unter den oberen Teil geschoben und im Achsengestell befestigt. Zuerst waren diese Wagen nur im Verkehr zwischen Stationen der Petersburg—Warschauer, der Moskau—Brester, der russischen Südwestbahn und der Weichselbahn einerseits und den Ostseehäfen Königsberg, Memel, Danzig, sowie im Verkehr mit Schlesien zugelassen. Seit 1910 verkehren sie aber auch, dank den Vorstellungen unserer Handelsvertretungen bei den betreffenden russischen Eisenbahndienststellen, nach Berlin. — Früher hatte unser Handel außer-
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ordentlich über die Schädigungen zu klagen, die durch die Umladungen in den russischen Grenzorten und namentlich auch in Warschau—Praga erfolgten. Diese Nachteile sind durch das geschilderte BreidsprecherSvstem zum größten Teile behoben worden. Übrigens ist das System den Russen schon wieder leid geworden, und sie haben schon vor Ausbruch des Krieges auf Mittel gesonnen, wieder davon loszukommen. Die russischen Sendungen für den Überseetransport, namentlich diejenigen nach England, werden auf den innerrussischen Bahnen nach Riga und Libau, zu kleinem Teil auch nach Windau transportiert. .Der Versand von Petersburg-Kronstadt ist kein großer. Sehr bedeutende Sendungen gehen auf dem Wasserwege namentlich von Riga aus nach den deutschen Ostseehäfen Stettin und Lübeck. Von Stettin läuft dann viel Ware nach Berlin, während Lübeck den Eingangsort für Hamburg bildet. Von Lübeck gingen große Transporte bis zum Ausbruch des Krieges auf Grund eines verbilligten direkten Tarifs nach Paris und ebenso nach der Rheingegend. Diese Transporte liefen so schnell, daß sie beispielsweise die Strecke Riga—Köln in kaum einer Woche zurücklegten. Man hat früher von Riga direkte Dampfer nach Dünkirchen und Antwerpen laufen lassen, von wo sie als sogenannte Rheindampfer direkt bis Köln weiterfuhren. Aber man ist von diesen beiden Routen in der letzten Zeit zugunsten des Transportes über Lübeck immer mehr abgekommen. Die Anfänge des österreichischen Exports hatte ich bereits skizziert. Über die in diesem Zusammenhang genannten Länderstrecken hinaus hat dann der Handel in der Donaumonarchie mit der Zeit eine sehr bedeutende Ausdehnung über ganz Ungarn, die Steiermark, Slawonien und Kroatien gewonnen. In Ungarn haben wir kleinere nordungarische und größere südungarische Eier zu unterscheiden, zu den letzteren gesellen sich noch die siebenbürgischen, die wiederum an Größe den südungarischen etwas nachstehen. Von hervorragender Qualität sind die steierischen und kroatischen Eier. — Hierbei wäre nachzutragen, daß auch die galizischen Eier in größere ostgalizische und kleinere westgalizische zu scheiden sind; zu den ersteren zählt man auch die Eier aus der Bukowina. — Es sei erwähnt, daß man das Gewicht eines Schocks Eier von normaler Größe einschließlich der nötigen Verpackung auf etwa 3 3 / 4 kg annimmt und daß demnach das Gewicht einer Kiste Eier je nach der Größe der Eier zwischen 88—90 kg für die leichten, 92—95 kg für die mittelschweren und
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96—102 kg für die schweren Qualitäten schwankt. Außerdem kommen noch ganz schwere russische Qualitäten in den Handel, die vereinzelt bis 110 kg pro Kiste wiegen. — Österreich-Ungarn hatte 1910 eine Ausfuhr von 1113 000 Doppelzentnern im Werte von annähernd 100 Millionen Kronen, von denen ungefähr 75 Millionen auf den Import nach Deutschland entfallen. 1913 betrug der Export Österreich-Ungarns nach Deutschland 67196 Tonnen im Werte von 76 469 000 Mk. Die bisher geschilderten Exportländer produzieren je nach ihren verschiedenen Distrikten Eier von allen vorgenannten Gewichten. Wir kämen nun zu den Balkanstaaten; von diesen kommt in erster Reihe Rumänien in Betracht, das seit langen Jahren einen umfangreichen Export betreibt. Die rumänische Ware gehört zu der sogenannten mittelschweren und findet ihren Absatz in Deutschland, namentlich nach den sächsischen Plätzen, auch nach England und Frankreich. Die Hauptproduktion findet in der Moldau statt. Auch für Rumänien sind zuverlässige Gesamtausfuhrziffern bisher nicht festzustellen gewesen. Die Ausfuhr betrug 1913 nach Deutschland 5343 Tonnen im Werte von 5 770 000 Mk. Gegenwärtig besteht Ausfuhrverbot. In zweiter Reihe ist Bulgarien zu nennen. Die bulgarischen Eier sind den schweren Qualitäten zuzuzählen und werden namentlich nach denjenigen Gegenden exportiert, die auch italienische Eier zu importieren pflegen, weil sie diesen sehr ähneln, aber billiger sind; als solche Gegenden sind namentlich Süddeutschland, die Schweiz, Belgien und Frankreich zu nennen. In Norddeutschland sind sie ihres stumpfen Aussehens wegen weniger beliebt. — Bulgarien exportierte 1911 etwa 13% Millionen Kilo Eier; 1913 empfingen wir von Bulgarien 3574 Tonnen im Werte von 3 859 000 Mk. — Der rumänische und bulgarische Export wächst von Jahr zu Jahr, was von dem serbischen nicht in gleichem Umfange gesagt werden kann. Das serbische Ei ist von leichterer Qualität. Das türkische Ei zählt teils zu den mittelschweren und teils zu den schweren Qualitäten. Der türkische Export beschränkt sich nicht nur auf die europäische Türkei, in welcher Konstantinopel als der Hauptabladeplatz zu bezeichnen ist, sondern greift auch auf Syrien und Kleinasien über. Von Smyrna und Samsun gehen ansehnliche Mengen Eier zumeist nach Marseille, von wo aus sie dann in den kon-
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tinentalen Handel gebracht werden. Die Türkei exportierte 1913 nach Deutschland 1110 Tonnen im "Werte von 1 1 9 8 000 Mk. Die italienischen Eier sind von hervorragender Güte und ansehnlicher Schwere; die Hauptproduktion findet in Oberitalien und Venetien statt; namentlich sind die sogenannten Yenetto-Eier beliebt; ein Hauptabladeplatz ist Verona. Der Export geht zumeist nach Süddeutschland, England, der Schweiz, Frankreich und Belgien, während vielfache Versuche, die italienischen Eier auch in Norddeutschland einzubürgern, teils an der Höhe der von Italien geforderten Preise, teils auch an der Verteuerung durch den Transport bisher gescheitert sind. Seit Beginn des Krieges hat Italien die Eierausfuhr untersagt, und sind Versuche, sie zur Aufhebung zu bringen, leider fehlgeschlagen. Die italienischen Eier werden gewöhnlich um 1000 Stück gehandelt. Man unterscheidet drei Größen, die erste im Gewicht von 59—60 kg pro 1000; diese werden gewöhnlich zu 1380 Stück verpackt, die mittelgroßen, die 56—58 kg wiegen, werden in Kisten zu 1440 Stück, und die kleineren Eier, die weniger als 55 kg wiegen, zu 1680 Stück verpackt. — Italien exportierte 1905 — weitere statistische Gesamtziffern liegen nicht vor — für mehr als 56 Millionen Lire Eier, von denen etwa 13 Millionen nach Deutschland und etwa 16 Millionen nach England gingen. Der Export nach Deutschland ist inzwischen zurückgegangen; wir haben 1913 von Italien für etwas über 7 Millionen Mk. Eier erhalten. Dänemark steht bekanntlich in bezug auf die Güte seiner landwirtschaftlichen Produkte obenan. So bringt denn dieses Land auch Eier von hervorragender Größe und Schönheit hervor. Der Export, der ein sehr umfangreicher ist — er beträgt zum mindesten die Hälfte desjenigen aller Balkanstaatcn zusammengenommen —, richtet sich hauptsächlich nach England und nur zu einem kleineren Teile nach Deutschland. Daher kommt es auch, daß man in Dänemark 20, 18, 17, 16 und 15 pfündige Ware unterscheidet, d. h. das Doppelschock, 120 Stück — die in England für den Handel angenommene Grundzahl— wiegt soviel englische Pfunde. Die leichteren Qualitäten werden, wie in den übrigen Ländern, in Kisten von 1440 Stück Inhalt verpackt, während die schwereren in Kisten von 960 Stück Inhalt versandt werden. Der Export Dänemarks vergrößert sich von Jahr zu Jahr. Allerdings kann dieses Land mit unter denjenigen genannt werden, die zugleich Export- und Importländer sind, denn einen Teil seiner
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Ausfuhr in seiner wertvollen Ware deckt Dänemark wieder durch einen Import billigerer russischer Eier. Dänemark exportierte 1911 — dies die letzte vorliegende Statistik — Eier im Werte von 29 Millionen Kronen und führte für 1 y, Millionen Kronen wieder ein. — Im Jahre 1913 erhielten wir von Dänemark für 1 y, Millionen Mark Eier. Mit einem geographischen Saltoniortale begeben wir uns nach Nordafrika und finden in Marokko seit Jahren einen schon nennenswerten Export in ziemlich guten Eiern, die man mit mittelschwerer Qualität bezeichnen kann. Der Export richtet sich zumeist nach England und Hamburg und lag bis zu der Zeit, als die Franzosen sich im Lande festsetzten — soweit ich es zu beurteilen vermag—in deutschen Händen. Der Hauptverschiffungsplatz war Mogador, und es ist deshalb auch vom Standpunkt der deutschen Eierinteressenten zu beklagen, daß dieser Stützpunkt am Atlantischen Ozean nicht in deutschem Besitz ist. Ziemlich umfangreich, aber von geringerer Qualität ist der Export aus Ägypten; die ägyptischen Eier sind ziemlich klein, kaum größer als diejenigen, die im internationalen Handel als direkt kleine angesprochen zu werden pflegen. Die Hauptmasse des zumeist von Alexandria ausgehenden Exportes richtet sich nach Triest und kommt von dort über Wien in den kontinentalen Handel. Der Export aus Ägypten beschränkt sich auf die Frühjahrszeit, ebenso der aus Syrien und Kleinasien. Der Export der Balkanländer ist nur im Frühjahr und im Herbst zu betreiben; er ruht auch in der Winterzeit und vielfach auch im Hochsommer in Großrußland, während Russisch-Polen, ganz Österreich-Ungarn und Dänemark das ganze Jahr hindurch exportieren, allerdings in den verschiedenen Jahreszeiten in abgestuften Mengen, die größten im Frühling, geringere im Hochsommer, dann wieder ansteigende im Herbst und die geringsten im Winter. In den europäischen Exportländern spielt sich der Einkauf so ab, daß die Sammler auf den Dörfern umherziehen und die Eier in kleinen Mengen aufkaufen oder daß Wagen hinausgesandt werden, meistens mit Plänen überspannte Korbwagen, deren Führer die Eier bei den Bauern oder Besitzern aufkaufen und dann auf die Wochenmärkte kleinerer Städte bringen — wo sie von den Exporteuren aufgekauft werden — oder auch gleich nach den Versandstationen in die Hände der Exporteure liefern. Gewöhnlich geben diese den Sammlern Vorschüsse zum Einkauf in die Hand. — In Dänemark, wo das
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Genossenschaftswesen stark ausgebildet ist, haben ländliche Genossenschaften den Export der auf den Besitztümern ihrer Mitglieder produzierten Eier vielfach selbst in die Hand genommen. Auch bei uns in Deutschland senden die Geflügelzuchtgenossenschaften ihre Produkte zumeist direkt in Hände, die sie in den Konsum überführen. Als Exportland habe ich schließlich auch noch Kanada genannt. Es sendet ziemlich ansehnliche Quantitäten teils nach England, teils nach den Vereinigten Staaten von Amerika. Diese nehmen eine besondere Stellung im Handel ein. Bis zum vergangenen Jahre hatte Amerika an seiner ziemlich großen eigenen Produktion und- an dem kanadischen Export zur Genüge. Im Jahre 1913 kam es jedoch zum erstenmal als Käufer auf den europäischen Kontinent und nahm neben geringeren Mengen frischer Eier auch bedeutende Quantitäten konservierter Ware aus dem Handel. Amerikanische Käufe fanden sowohl in London, als in Berlin und Hamburg und direkt in Galizien statt. Der neue amerikanische Zolltarif hatte den Zoll auf Eier, der schwer ins Gewicht fiel, zur Aufhebung gebracht und ungünstige Witterungsverhältnisse hatten die Produkte der Vereinigten Staaten, sowie die Kanadas derartig eingeschränkt, daß die amerikanischen Händler sich genötigt sahen, neue Bezugsquellen aufzusuchen. Bei außergewöhnlichem Bedarf war bis dahin außer Kanada nur Irland .als Lieferant für Amerika in Betracht gekommen. — Im Jahre 1914 konnte der politischen Ereignisse wegen von einem Export nach Amerika keine Rede sein, ob er sich in Friedenszeiten wieder beleben wird, hängt von jetzt noch unberechenbaren Faktoren ab. Unter den importierenden Staaten nimmt Deutschland nach •dem Umfange seines Imports den ersten Platz ein. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß ein Teil des deutschen Imports wiederum nach England geht, so daß England doch wohl schließlich den größten Anteil am Gesamtimport hat. Naturgemäß ist London der größte Konsumplatz, schon infolge seiner großen Bevölkerung. Es besteht in London eine Eierbörse, an welcher an jedem Montag zwischen 11 und 1 Uhr der Handel stattfindet und die Preise für die Woche bestimmt werden. Die notierten Preise verstehen sich — wie bereits erwähnt — für das Doppelschock von 120 Stück in Shilling und Pence. Man unterscheidet in London gewöhnlich blaue, rote und schwarze Eier, d. h. die erste, die schwerste und frischeste Ware, wird blau,
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die zweite kleinere oder geringere Qualität wird rot und die Nebensorten — kleine und schmutzige Eier — werden schwarz markiert. Diese Markierung wird für Eier österreichisch-ungarischer, rumänischer und bulgarischer Herkunft in Anwendung gebracht, während dänische, italienische, französische und russische Eier auf Grund von Gewichten gehandelt werden. Es wird angegeben, daß das Doppelschock so und soviel englische Pfunde wiegt. Jeder große Importplatz hat nun eigene Gepflogenheiten für seinen Handel herausgebildet. In London handelt man gewöhnlich so, daß auf die Kiste von 24 Schock Inhalt 1 Schock als Vergütung für Ausfall an Bruch und fehlerhaften Eiern gewährt wird, so daß anstatt 24 Schock nur 23 zur Verrechnung gelangen. — Die Preise für die verschiedenen Sorten werden von einer Dreimännerkommission, die von den Interessenten gewählt ist, bei verschlossenen Türen festgesetzt, ein mir nicht gerade sehr nachahmenswert scheinendes System. Die tatsächlich gezahlten Preise bewegen sich deshalb gewöhnlich auch nur um diese Preise herum, bald sind sie etwas höher, bald niedriger, je nach der Lage des Marktes. Neben den erwähnten, vom Auslande importierten Eiern spielen am englischen Markte die irischen eine bedeutende Rolle. Neben London sind Hauptmärkte für den englischen Konsum Liverpool, Manchester, Birmingham, das in letzter Zeit vielgenannte Westhartlepool und in Schottland Glasgow. An allen diesen Plätzen werden die Eier ohne Rabatt gehandelt, d. h. es werden volle 24 Schock pro Kiste bezahlt. England importierte 1913 21 570 000 Doppelschock im Werte von 9 590 000 £. Frankreich hat eine außerordentlich bedeutende inländische Produktion, die schon vor Jahren während der Hauptlegezeit im Durchschnitt auf 12 Millionen Stück pro Tag geschätzt wurde. Einen Teil seiner schönsten Eier aber exportiert auch Frankreich nach England, besonders aus der Bretagne und Normandie und führt dafür russische und italienische Eier ein, desgleichen Eier aus der Türkei und Kleinasien, die — wie schon erwähnt — über Marseille nach dem Süden Frankreichs gehen. Zu kleineren Teilen werden während der Herbst- und Winterzeit auch österreichisch-ungarische Eier eingeführt. Paris ist naturgemäß der Hauptverbrauchsplatz. Bis vor einigen Jahren konzentrierte sich der dortige Handel auf die halles centrales,
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wo die ankommenden Quantitäten von den vereideten facteurs, die von der Stadt angestellt sind, also, unseren städtischen Verkaufsverniittlern ähneln, teils freihändig, teils meistbietend durch Ausruf verkauft werden. Die halles centrales sind eine Gründung des Ersten Napoléon. Es war leichter als bei uns, dem Handel in ihnen einen Konzentrationspunkt zu geben, weil die Stadt sozusagen erst um sie herum gewachsen ist. Ein Versuch, den Engroshandel auch in Berlin in die Markthallen zu überführen, scheiterte vor längeren Jahren, weil es nicht möglich war, ihn in der damals hier ins Leben getretenen Zentralmarkthalle in Konkurrenz mit den schon bestehenden hiesigen Handelsgepflogenheiten durchzusetzen. — Jetzt besteht der Handel in der Zentralmarkthalle hier neben den daselbst befindlichen Detailverkaufsständen in dem Absatz der zumeist in Körben aus der näheren Umgebung Berlins und den benachbarten Provinzen hereinkommenden Warenmengen, die aber auch nur im Frühjahr von einigermaßen nennenswertem Umfange zu sein pflegen. Nachgerade haben sich neben den facteurs in Paris aber auch schon viele freie Großhändler etabliert, die jetzt wohl den größten Teil des Handels in Händen haben. In den halles centrales werden die Eier von den vereideten compteurs mireurs (Zäh\er-Klärer), die unter mehreren Oberzählern ihre Tätigkeit vollbringen, bearbeitet. Diese compteurs mireurs und die chefs compteurs sind gleichfalls von der Stadt angestellt. Die Eier werden ohne Rabattgewährung gehandelt. Bewegt sich der durch die Zähler-Klärer festgestellte Ausfall in mäßigen Grenzen — diese sind nach den verschiedenen Ausfallarten genau bestimmt —, dann hat diesen Abfall der Käufer der "Ware mitzutragen. Im anderen Falle muß der Verkäufer ihn von seiner Rechnung in Absatz bringen; in derselben Weise erfolgt auch die Bezahlung der Kosten des Zähler- und Klärersystems. Neben dem staatlichen Einfuhrzoll wird in Paris auch noch ein städtischer Octroi erhoben. — Hauptmärkte sind neben Paris: Marseille, Lyon, Bordeaux, Rouen, Caen. Die Preise werden in Frankreich für 1000 Stück in Francs notiert. Man unterscheidet bei der Notierung in erster Reihe französische und ausländische Eier. Zu denjenigen Ländern, die gleich Frankreich eine ziemlich große Eigenproduktion haben, davon aber die besten Sorten exportieren und diese wiederum durch importierte Ware in ähnlichem Maßstabe ersetzen, sind Holland und Belgien zu zählen. Der größte Teil des
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belgischen Handels ist in Brüssel konzentriert; auch in Lüttich gibt es einen größeren Eiermarkt. Holland, dessen Produktion an Güte mit der geschilderten dänischen rivalisieren kann, betreibt den Eierhandel namentlich in Amsterdam und Rotterdam. Die schönsten Eier werden von hier teils nach England, teils nach der Rheinprovinz und Westfalen versandt und italienische, russische und österreichisch-ungarische Eier werden dagegen bezogen. Eine Eigenart Hollands bilden die Auktionen, die in Roermond und anderen holländischen Plätzen abgehalten werden. Dahin werden die Eier in mit den Namen der Versender versehenen Kisten mit der geschilderten Fächerpackung ä 1000 Stück zweimal wöchentlich gebracht und zur Besichtigung der Interessenten ausgestellt. Diese versammeln sich dann in einer mit Bänken versehenen großen Halle, die von der Stadt zur Verfügung gestellt ist und an die für jede Auktion eine Abgabe gezahlt werden muß. Dem Ausrufer werden die Gebote durch Zuruf bekannt gegeben. Hinter dem Ausrufer befindet sich eine mit Ziffern versehene große Uhr. Wenn kein Gebot mehr erfolgt, drückt derjenige, der das höchste abgegeben hat, .auf einen an seinem Platze befindlichen Knopf. Die Uhr zeigt dann die Nummer des Platzes an und dem Platzinhaber wird der Zuschlag erteilt. Rheinische und westfälische Interessenten pflegen auf diesen Auktionen häufig zu erscheinen und ihren Bedarf zu decken. — 1913 sind aus den Niederlanden für etwa 9y 2 Millionen Mark Eier nach Deutschland gegangen. Als reines Importland stellt sich die Schweiz dar. Handelsmittelpunkte sind Basel, Zürich, Genf, Rorschach. Der Verbrauch an Eiern, die aus Italien, Österreich-Ungarn, Serbien und zum kleineren Teil auch aus Frankreich bezogen werden, ist in der Schweiz ein ziemlich großer. Man schätzte ihn schon vor Jahren auf 1 Eier pro Tag und Kopf der Bevölkerung, eine Zahl, die den deutschen Konsum erheblich übersteigt. Importländer von geringerer Bedeutung sind Spanien, Schweden, Norwegen, Griechenland. Letzteres betreibt während des Frühjahres auch etwas Export; die griechischen Eier sind aber ziemlich klein und werden im Handel nicht sehr geschätzt. Ebenso versendet Schweden sporadisch kleine Quantitäten, namentlich aus Südschweden, dessen Produktion an Güte und Schwere der Ware annähernd den leichteren dänischen Qualitäten entspricht. Nach dieser kleinen Reise um die Welt — wir werden letzten
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Endes noch wieder nach Ostasien fahren —, begeben wir uns in unser geliebtes Vaterland zurück. Konzentrationspunkte des deutschen Handels sind in erster Reihe Berlin, von dem ich zuletzt reden will, dann Hamburg, Frankfurt am Main, Mannheim, die sächsischen Plätze Leipzig, Dresden und Chemnitz, Köln, Aachen, Dortmund, Essen und das große rheinisch-westfälische Industriegebiet und in geringerem Maße Breslau und der oberschlesischc Industriebezirk; dazu treten in Süddeutschland München, Stuttgart, Karlruhe und in den Reichslanden Straßburg. — Ich habe Sie absichtlich mit statistischen Zahlen möglichst verschont, kann aber nicht umhin, den Wert der deutschen» Einfuhr an Eiern, der sich schon im Jahre 1905 auf über 121 Millionen Mark bezifferte und der jetzt annähernd 200 Millionen Mark jährlich beträgt, als eine ins Auge springende Ziffer anzugeben. Rechnet man hierzu den Wert der inländischen Produktion, so ergibt sich, daß Deutschland wenigstens 400 Millionen Mark an Eiern jährlich verbraucht. In Hamburg, das neben dem großen Selbstverbrauch der S t a d t einen sehr bedeutenden Export nach England hat — man muß augenblicklich leider sagen hatte —, haben sich, wie in den übrigen bedeutenden Handelspunkten eigene Handelsgepflogenheiten herausgebildet. Man handelt dort die Kiste mit einem Schock Rabatt, d. h. es werden dem Käufer für 24 Schock nur 23 Schock berechnet. Ein seit Jahren bestehender Verein der Hamburger Eierimporteure hat bestimmte Regeln für seinen Handel mit dem Auslande, besonders mit den Produktionsländern festgestellt. Hamburg, nächst Berlin der bedeutendste deutsche Platz für Eier, führt keine eigene Statistik, so daßich mit maßgeblichen Zahlen für den Hamburger Handel nicht aufzuwarten vermag. Die Einfuhr wurde 1907 schon- auf annährend 40 Millionen Kilogramm die Ausfuhr auf 27 1 / 2 Millionen Kilogramm ge schätzt. Die Differenz ergibt den Konsum des Platzes selbst. Übrigens kommen in der Hauptlegezeit nach Hamburg auch viele inländische Sendungen, namentlich aus Oldenburg und den hannoverschen Landesteilen. An dieser Stelle möchte ich noch erwähnen, daß von anderen inländischen Gegenden, die Eier in größeren Mengen zum Versand bringen können, Pommern, Posen, Holstein, Mecklenburg und in geringerem Maße Schlesien, Westpreußen und Sachsen zu nennen sind. Was sonst im Inlande produziert wird, wird im Umkreise des Produk-