Gewerbliche Einzelvorträge: Reihe 10 [Reprint 2020 ed.]
 9783112336861, 9783112336854

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GEWERBLICHE EINZELVORTRÄGE

gehalten in der Aula der Handels-Hochschule Berlin Herausgegeben von den Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin 1. bis 9. Reihe je 2 Mark

Er^te Reihe: Die Entwicklung- der elektrischen Industrie. Von Geh. Regierungsrat Prof. D r . A r o n . — Die Einrichtungen an der Berliner Börse. Von Kommerzienrat M. R i c h t e r . — Geschichte und Technik der Textilindustrie. Von Stadtrat Dr. W e i g e r t . — Entwicklang und Arten der Exportgeschäfte. Von H e r m a n n H e c h t . — Das Verkehrsbureau der Korporation der Kaufmannschaft von Berlin. Von Bureauditektor H o f f m a n n . Zweite Reihe: Kaufmännische Auskunfterteilung in alter und neuer Zeit. Von W. S c h i m m e l p f e n g . — Die wirtschaftliche Bedeutung von Lieferungs-, Börsentermin- und Spekulationsgeschäften in Waren. Vön W . K a n t o r o w i c z . — Deutsches Zahlungswesen unter Berücksichtigung des Überweisungs- und Scheckverkehrs*;. Von J . K a e r a p f . — Die Bibliothek der Korporation der Kaufmannschaft von Berlin. Von Dr. R e i c h e , Bibliothekar der Kaufmannschaft von Berlin. Dritte Reihe: Die Stellung der chemischen Industrie im deutsehen Wirtschaftsleben. Von Fabrik direktor Dr. F . C o n n s t e i n . — Warenhäuser und Spezialgeschäfte. Von Fabrifcdirektor F. G u g e n h e i m . — Die Organisation des Kupferhandels. Von Fabrikbesitzer Dr. E. N o a h . — Die wirtschaftliche Bedeutung der Terrain- und Hypothekengeschäfte. Von Geh. Staatsrat a. D. J. B u d d e. — Die Industrie der Lacke und Farben. Von L. M a n n Vierte Reihe: Die Vorbereitung des ostasiatischen Marktes für die Ausdehnung unseres Exportes dorthin. Von Dr. S a n d m a n n . — Die E n t w i c k l u n g , Art und Bedeutung der modernen Holzbearbeitungsindustrie. Von F r a n z B e n d i x . — Terrain- und Hypothekengeschäfte. Von Geh. Staatsrat a. D. B u d d e . — Dre Entwicklung und Bedeutung der Calciümcarbid- und Stickstoffdünger-Industrie. Von Diplom-Ingenieur A, M. G o l d s c h m i d t . ~ Die Organisation éîner modernen Werkzeugmaschinenfabrik. Von Dr. W. W a l d s c h m i d t . FBnfte Reihe: Die wirtschaftliche Bedeutung und die Handelstechnik der Kohlensäure-Industrie. Von Generaldirektor H u g o B a u m . — Weltausstellungen. Von Stadtältesten Dr. W e i g e r t « — Die Entwicklung und Bedeutung- der Schwachstrom-Industrie. Von Ingenieur N e u h o l d . — Die Entwicklung und Organisation, des Eisenhandels. Von C. L. N e t t e r . Sechste Reihe: Die wirtschaftliche Bedeutung der Kälteindustrie. Von Direktor A l b e r t K r ü g e r . — Die deutsche Parfümerie- und Toiletteseifenindustrie in ihrer fabrikatorisehen Entwicklung und wirtschaftlichen Bedeutung. Von Fabrikbesitzer Dr. F r a n z K ö t h n e r . — Die industrielle Entwicklung der Photographie und ihre Bedeutung für Handel und Industrie. Von C ^ r l B r e u e r , — Die Entwicklung der Berliner Damenkonfektions-Industrie, Von Oskajr-Heinemann. Die Entwicklung und^wirtschaftliche Bedeutung deir Zündholzindustrie. Von Fabrikbesitzer C. T h i e m e , Siebente- Reibe: Reiseeradrücke in Amerika. Von Kommerzienrat M a x R i c h t e r . — Der Altmetallmarkt und seine volkswirtschaftliche Bedeutung. Von N o r b e r t L e v y . — Die heutige Beleuchtungsindustrie. Von Dr. H a n s R o s e n t h a l . — Der Kautschuk, seine Gewinnung, wirtschaftliche Bedeutung und Verarbeitung. Von Dr. E d . M a r c k w a l d . — Wie entsteht eine Zeitung? Von D r . jur, M ä r t i n C o h n . — Die Entwicklung der Berliner Herrerfwäsche-Industrie. Von H u g o Hanff.—»Literaturnachweise von Bibliothekar Dr. R e i c h e . Von Achte Reihe : Die Organisation und Bedeutung der deutschen Elektrizitätsindustrie. Dipl.-Ing. Dr. M a x L e v y . — Die Fabrikation elektrischer Kabel. Von Oberingenieur M a u r i t i u s . — Die wirtschaftliche Bedeutung der amerikanischen Trusts und ihre Bekämpfung 1 durch die Gesetzgebung. Von Wilhelm K a n t o r o w i c z . — Zigarren-Industrie und Handel. Von Regierungs- und Bäurat a. D. S o m m e r g u t h . — Entwicklung des deutschen Lokomotivbaues. Von Regierungs-Baumeister a. D. B u c h t e r k i r c h e n . — Literaturnachweise von Bibliothekar Dr. R e i c h e . Neunte Reihe: Wohnungswesen und Städtebau in der neuzeitlichen Großstadt. Von Prof. Dr. E b e r s t a d t . — Deutschlands Leinenindtistrie, Von H e i n r i c h G r ü n f e l d . —- Papier, seine Entstehung und sein Verbrauch. Von F r i t z B e r l i n e r . — Die Organisation und volkswirtschaftliche Bedeutung des Eierhandels. Von Hermann Hansen. — Die Entwicklung des Braittreigewerbeç. Von Brauereidirektor R i e h . K n o b l a u c h . —• Getreideversorgung in Krieg und Frieden. Von L e o n h a r d N e u m a n n . Literaturnachweise von Bibliothekar Dr. R e i c h e .

VERLAG VON GEORG REIMER BERLIN W10

KORPORATION DER KAUFMANNSCHAFT VON BERLIN

Gewerbliche Einzelvorträge Gehalten in der Aula der Handels-Hochschule Berlin Herausgegeben von den

Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin

Zehnte Reihe

Berlin Druck und Verlag von Georg Reimer 1916

Inhalt. Seit»

I. D a s M ö b e l , s e i n e K u n s t u n d s e i n H a n d w e r k . des Herrn W i l h e l m K i m b e l

Vortrag 5

II. R e k l a m e ; E n t s t e h u n g , B e d e u t u n g u n d w i r t s c h a f t l i c h e O r g a n i s a t i o n . Vortrag des Herrn W a l t e r B e h r e n d

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III. D e r B e r l i n e r G e m ü s e - , O b s t - u n d S i i d f r u c h t h a n d e l . Vortrag des Herrn E m i l P l a u m a n n

65

IV. D e u t s c h l a n d s I n d u s t r i e u n d H a n d e l i n w a r e n . Vortrag des Herrn E d w i n S t e i n e r t

75

Baumwoll-

V. Anhang: L i t e r a t u r n a c h w e i s e von Herrn Dr. R e i c h e , Bibliothekar der Korporation der Kaufmannschaft von Berlin . . . .

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I.

Das Möbel, seine Kunst und sein Handwerk. Vortrag des Herrn Wilhelm

Kimbel,

Königl. Hoftischlermeisters u. Hofzeichner (in F i r m a : Kimbel & Friederichsen).

Wer diesen Titel gelesen hat, wird sich vielleicht wundern, daß man inmitten der beispiellosen Katastrophe, welche die ganze Erde heimsucht, noch über eine Sache zu sprechen versucht, die in der Tat just heute recht gleichgültig erscheint. Unsere gesamte Tagespresse, unsere Professoren und viele sonstigen Vortragskünstler hämmern jeden Tag auf die öffentliche Meinung mit einer Fülle von Betrachtungen über die Katastrophe auf den verehrten Zeitgenossen ein, daß es vielleicht für viele eine Erholung bedeutet, einmal von etwas anderem zu hören, was von diesen Dingen weitab entfernt liegt. Dazu kommt, daß dieser furchtbare Krieg eines schönen Tages ein Ende nehmen muß. Dann treten Fragen an uns heran, unter denen sich auch manche mit der Lage unseres Handwerks beschäftigen müssen. Man möge im Frieden den Krieg und im Kriege den Frieden nicht vergessen. Von dem Moment an, wo wir geboren werden, sind wir gezwungen, irgendein Möbel zu benutzen. Wir leben dazwischen, wir gebrauchen sie jede Stunde unseres Lebens bis zu dem Tage, an welchem irgendein xbeliebiger Tischler die sechs Bretter zusammenfügt, die unser letztes Haus bilden. Genau dieselben Unterschiede, wie sie zwischen dem Bronzeund Steinsarkophag der Gewaltigen dieser Erde und den glatten Fichtenbrettern der Ärmsten unserer Erdenbürger sich zeigen, genau dieselben Unterschiede prägen sich aus in allem, was uns an handwerklichem Geräte umgibt. Man kann das alte Wort: „Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist", ebenso gut variieren: „Lasse mich sehen, zwischen welchem Gerät du hausest, und ich will dir sagen, wes Geistes Kind du bist.'-

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Das Möbel, seine Kunst und sein Handwerk.

Dieselben, nur dem Nachdenklichen wahrnehmbaren Unterschiede, die einen Menschen in seiner Kleidung kennzeichnen, dieselben Unterschiede gibt es im Möbel. Man kann sogar, wie in der Kleidung, den Gang der Weltgeschichte auf das klarste und deutlichste auch in allem handwerklichen Gerät sich widerspiegeln sehen. Der heutige Tischler unterscheidet in seiner Berufssprache Sitzmöbel, Kastenmöbel, Tische und Betten. Die Sitzmöbel sind eine gegebene Sache, denn so lange unsere Rasse Beine, einen Rumpf und Arme hat, solange mußten die Sitzmöbel eine bestimmte Höhe und eine bestimmte Form haben, und wenn Sie im South Kensington-Museum oder im Museum von Gizeh die ältesten erhaltenen Holzmöbel betrachten, so sind es fast stets nur Sitzmöbel und ein verschließbarer Kasten von je nach dem größeren Maße und Reichtum in der Ausstattung. Wir könnten selbstverständüch unter Benutzung der damals üblichen Felle und Kissen auf einem altägyptischen Hocker oder Ruhelager ebenso gut ausruhen und schlafen wie die damaligen Besitzer und würden vermutlich auch den Kasten ohne weiteres in Gebrauch nehmen können, so wie er damals war, wenn eben nicht etliche Bedürfnisse hinzugekommen wären. Im alten Rom beschränkte sich der ganze Begriff „Möbel" eigentlich auch nur auf diese beiden Dinge. Den Tisch setze ich stets als selbstverständlich hinzu. Auch hier sind uns einige Sitzgelegenheiten und Tische erhalten. Im Gegensatz zu den orientalischen Arbeiten scheinen die Römer die wertvollsten Möbel aus Bronze gemacht zu haben. Der Tischler hat also dort augenscheinlich die weniger große Rolle gespielt, und wohl nur für den Mittelstand kamen Holzmöbel in Frage. Eine um so größere Rolle spielte aber der Metalltechniker, denn die kostbarsten Stücke waren sehr häufig noch mit anderem Metall tauschiert — d. h. eingelegt. Die eigentliche Kunsttischlerei setzt erst mit der Entwicklung des Kastenmöbels ein, denn es ist ohne weiteres einleuchtend, daß hier die Gestaltungsmöglichkeiten, um bei dem Ausdruck zu bleiben, erheblich größer sind als beim Sitzmöbel, welches stets in seinen Maßen der Körperform angepaßt sein muß. Die ältesten Tischlermöbel in unserem heutigen Sinne, die uns bekannt sind, dürften etwa in jene Zeit fallen, die nach der Völkerwanderung einsetzte, nach einem Sturme, der, ähnlich wie wir ihn heute

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erleben, den gazen Erdball zum Erzittern brachte. Die Form dieser Holzmöbel war wesentlich bestimmt durch die Techniken, welche dem damaligen Meister zur Verfügung standen. Es schieden alle Verbände aus, die ein sicheres Bindemittel verlangt hätten, einlacher gesagt, man hatte keinen Leim — keine Nägel aus Metall in unserem Sinne — auch keine Schrauben, und unsere Kollegen vor 1500 Jahren waren auf Zinken, Zapfon, Schlitz und Holznägel angewiesen. Dazu kam wohl ein Überfluß an einheimischen Hölzern, aber es fehlte zweifellos eine leiehtarbeitende und dauerhafte Säge. Es ist wohl anzunehmen, daß der Kunsttischler zur Zeit Karls des Großen aus dem Zimmerhandwerk hervorging, denn es werden ihm kaum andere Hilfsmittel zur Verfügung gestanden haben als dem Zimmermann. Das Pracht- und Luxusbedürfnis der Großen wird also immer noch, wie in der Antike, sich bei den Möbeln nur in Bronze, Ebenholz oder Elfenbein haben befriedigen lassen. Zimmermann und Tischler werden wohl fast stets ein und dieselbe Person gewesen sein, und erst gegen den Ausgang des 13. Jahrhunderts lassen sich die ersten Arbeiten erkennen, die mit Sicherheit einen Tischler zum Verfertiger hatten. Es würde viel zu weit führen, wollte ich Ihnen heute abend im Rahmen dieses Vortrages einen Spaziergang aus dem frühen Mittelalter durch die handwerklichen Werkstätten vorschlagen bis zu der heutigen Zeit. Sie würden mancherlei zu hören und zu sehen bekommen, was der üblichen Auffassung stracks widerspricht, und wahrscheinlich würden wir uns am Ende dieses Spazierganges trennen mit der Uberzeugung, daß das Wesentliche, was in der'Kunst das Handwerk und im Handwerk die Kunst ausmacht, durch die Jahrtausende in seiner Wesensart vollkommen unberührt geblieben ist. Eine Art Umschwung trat stets ein mit dem Aufkommen einer neuen Technik, und diese Errungenschaften wurden durch die Wanderschaft der Handwerksgesellen aus einem Lande ins andere getragen, und wir würden bei diesem Spaziergange erkennen, daß in der Kunst, sowie im Leben das alte Wort gilt: „Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe". Nicht nur die Techniken, sondern auch die Formen wandelten sich nach den Ländern um. Haben die deutschen Meister des frühen Mittelalters besonders beim Möbel mit der Unzuverlässigkeit gewisser Techniken zu kämpfen gehabt, so ist doch unzweifelhaft, daß der künstlerische Wert dieser

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Das Möbel, seine Knnst und sein Handwerk.

deutschen Arbeiten vollkommen auf der gleichen Höhe der damaligen französischen oder englischen und italienischen Möbel gestanden hat. Die Formensprache des Handwerks wuchs in jedem in Betracht kommenden Lande mit jeder neuen Technik, und wir können bestimmte Zeitpunkte recht genau erkennen. So ist es hochinteressant, zu sehen, daß die Wiege alkr Künste, wie auch aller handwerklichen Techniken von jeher der Orient gewesen ist. Die alten römischen Bronzemöbel mit ihren Metalleinlagen fußen auf alten indischen und persischen Techniken, deren Anfänge sich im grauesten Altertum verlieren. Im Orient wurde zweifellos zuerst versucht, dem Holz durch andersfarbige Einlagen einen neuen Reiz hinzuzufügen. Da man, wie gesagt, kein dauerhaftes Bindemittel hatte, so benutzten die Perser und nach ihnen die Araber einfach eine Art von Masse, mit der sie vertiefte Felder im Holze ausfüllten, also eigentlich nichts anderes, als die alten Metalltechniken auf das Holz übertrugen. Diese Masse, mit der die im Holz eingeschnittenen Graben ausgefüllt wurden, scheint nichts anderes gewesen zu sein, als eine Art von Schlemmkrcide mit Gummiarabikum oder ähnlichen Harzen vermischt. Wenn die Masse trocken war, wurde über das Ganze weggeschliffen. Ich erwähne diese uralte Technik besonders deshalb, weil wir hier vor dem Anfang der Holzeinlage oder Intarsie stehen. Den Italienern blieb es vorbehalten, diese ersten Ornamente in Holz einzulassen, und zwar sind diese ersten Intarsien nicht gesägt, sondern das Ornament ist genau so ausgegründet wie im Metall beim Zellenschmelz und bei den orientalischen Einlegearbeiten im Holz. Nur kommt jetzt der Unterschied hinzu, daß die Italiener zum ersten Male in diese in dem Holz hergestellten Vertiefungen andersfarbiges Holz einpaßten und hineinleimten. Die Sache mag im Anfang nicht ganz zuverlässig gewesen sein, denn es existieren eine ganze Reihe alter italienischer Einlegearbeiten aus dem Ausgang des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts, die immer noch mit Masse ausgefüllt sind. Mit der Benutzung gewisser Harze und des noch heute benutzten Leimes aus Quark und Kalk als Bindemittel wurde dann eine immer vielseitigere Technik der Möbel ermöglicht, und wir können heute nicht ohne die größte Bewunderung vor sehr vielen dieser künstlerisch bereits unübertrefflichen Erzeugnisse stehen. Im hiesigen Kaiser-Friedrich-Museum befindet sich neben einem

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alten Chorgestühl auch noch eine Intarsientür, die diese Technik in der denkbar höchsten künstlerischen und technischen Vollendung zeigt. Für diese frühen Arbeiten ist eines charakteristisch, daß die betreffenden Meister das Tönen des Holzes durch Feuer noch nicht kannten. Die Abstufung von Licht und Schatten wurde durch hellere und dunklere Hölzer erreicht. Die Einführung des Brennens der Hölzer, um hellere oder dunklere Töne hervorzurufen, scheint uns Deutschen zuzukommen, denn die ersten, mir bekannten Intarsien, bei denen die dunkleren Teile gebrannt sind, kommen in Deutschland vor, und gerade die alten Nürnberger und Ulmer Meister haben diesen damals neuen Teil der Technik mit erstaunlichem Geschmack entwickelt. Gebührt den Italienern das Verdienst, die ersten künstlerisch bedeutsamen Möbel unserer Erdhälfte gemacht zu haben, so ist die eigentliche Kunsttischlerei den deutschen Meistern vorbehalten geblieben. Das deutsche Möbel aus der Zeit vor dem 30jährigen Kriege steht in seiner Mannigfaltigkeit und Technik schlechthin unerreicht da, und das allgemeine Niveau unserer damaligen Handwerksmeister muß ein sehr hohes gewesen sein und wurde auch als ein solches in ganz Europa anerkannt. Das technisch vollendetste Möbel, das ich in Italien gesehen habe, ist ein großer schwarzer Schrank, der im Palazzo Pitti in Florenz steht. Ob die Italiener inzwischen das Schild entfernt haben, welches diese glänzende Arbeit als deutsche Arbeit charakterisiert, weiß ich nicht, jedenfalls waren wir ihnen zu der Zeit, als dieser Schrank entstand, hoch überlegen in allem, was man als Kunsttischlerei bezeichnen kann, und sind es bis heutigen Tages geblieben, was allerdings angesichts der jammervollen italienischen Produktion der letzten 100 Jahre nicht viel besagen will. Aus Danzig, Thom, Ulm, Nürnberg, aus Basel und dem Rheinland und vor allen Dingen aus Augsburg gingen damals die kostbarsten Möbel bis ins tiefe Rußland hinein, bis nach England, Frankreich, Spanien und Italien. Man kann nicht ohne tiefe Trauer daran denken, daß die größte nationale Katastrophe, die unser Vaterland getroffen hat—der 30jährige Krieg — unser gesamtes Handwerk von einer geradezu monopolisierenden Höhe herabgestürzt hat. "Wir standen zu Beginn des 17. Jahrhunderts in einer künstlerischen und handwerklichen Blüte, die wir

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seither nie wieder erreichen konnten. Wir finden aus der Zeit zwischen 1560 und 1620 entstandene deutsche Möbel in England, in Frankreich, in Italien und Rußland. Damals war das deutsche Möbel also im selben Sinne begehrt, wie seit etwa 120 Jahren das französische und dann das englische. Nach der Zerrüttung des 30jährigen Krieges fand die deutsche Kunst in Deutschland nicht entfernt mehr den günstigen Nährboden als vorher. Wir hatten vielleicht tüchtige Meister eine ganze Menge behalten, aber ich habe den Eindruck, daß unsere genialsten und tüchtigsten Handwerker und Künstler ihre Blicke damals zuerst nach dem Auslande richteten. Wenn sie früher nach jahrelanger Wanderung als fertige Meister zurückkehrten und die Resultate ihres Könnens ajs ein neues Juwel unserem Volkstum einfügten, kehrten sie nach dieser Katastrophe viel zu oft nicht mehr zurück, sondern die für ihre Kunst glänzenderen Verhältnisse des Auslandes bewogen sie, ihr Genie auf fremden Boden zu pflanzen. Ich komme zu dem im Grunde genommen bittersten Kapitel der Entwicklung unseres deutschen Handwerks, denn der schönste und glänzendste Teil unseres damaligen Handwerks geht im Auslande, vor allem in Frankreich weiter und nicht mehr im heimatlichen Boden. Unter Ludwig XIV. arbeitete der größte damals lebende Tischlermeister in Paris. Der Mann hieß auf gut Deutsch „Buhl". Die Franzosen schrieben „Boulle", und die in ihrer Technik und Entwurf genialen Möbel dieses Meisters dienten in erster Linie dazu, für die nächsten Jahrhunderte das Übergewicht der Franzosen in bezug auf das Möbel so endgültig festlegen zu helfen, daß wir bis heute nicht imstande waren, es einzuholen. Und Boulle war deutscher Herkunft. Mit dem Namen Boulle beginnt eine Reihe für die französische Möbeltischlerei stolzer d e u t s c h e r Meisternamen. Die Brüder Jacob waren Deutsche, Riesener war ein Deutscher, und in den Werkstätten vieler Franzosen arbeiteten noch viel mehr als es heute der Fall war, und wie sich historisch feststellen läßt, die tüchtigsten deutschen Gesellen und Meister. Das ist denn auch bis heutigen Tages so geblieben. Deutsche Kunsttischler wanderten außer nach Frankreich, nach England und Spanien und später nach den Vereinigten Staaten und Rußland aus, und die auf unserem Boden gewachsene handwerkliche

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und künstlerische Kraft formte sich in den fremden Ländern um und ging mit den Trägern dieser Tüchtigkeit in den Nationalbesitz der anderen Völker über. Ganz besonders gilt dies von Frankreich. Es ist nicht nötig, daß wir dabei zu Chauvinisten werden, denn selbstverständlich hat eine künstlerisch so hochbegabte Rasse, wie die Franzosen es sind, eine Reihe von allerersten und tüchtigsten Meistern hervorgebracht, aber an die Genialität des größten Pariser Tischlermeisters, an die des großen Boulle, hat kein späterer Franzose mehr herangereicht. Boulle ist als Sohn eingewanderter deutscher Eltern am 11. Nov. 1642 zu Paris geboren und starb am 29. Februar 1732. Er war der Hoftischlermeister Ludwigs XIV., und neben einer stattlichen Reihe von meisterhaften Möbeln verdankt er seinen Weltruhm dem von ihm geschaffenen Ornament, zusammengesetzt aus Metallen, Schildpatt, Elfenbein und Perlmutter. Seine Werkstatt blühte durch fast 40 Jahre, er hinterließ sie seinen vier Söhnen, die in seinem Geschmack weiter arbeiteten, ohne sich durch eine besondere persönliche Note auszuzeichnen. Natürlich sieht ein französisches Möbel, selbst wenn es von deutschen Meistern gemacht ist, ganz anders aus als ein deutsches Möbel, so wie ein deutsches Möbel ganz anders aussieht als ein italienisches, und ein englisches wiederum anders aussieht, selbst wenn es in diesen Ländern von deutschen Meistern ausgeführt wurde. Waren die Franzosen bis zum Auftreten unseres Landsmannes nicht tonangebend im Möbel, so waren es die Engländer nicht bis zum Auftreten des größten englischen Tischlermeisters, des Thomas Chippendale. Was bis zum Ausgange des 17. Jahrhunderts an englischen Möbeln gemacht wurde, stand in ziemlicher Abhängigkeit von unserer deutschen Kultur. Erst im Anfange des 18. Jahrhunderts begann der italienische und etwas später der französische Einfluß. Mit den Adams, Sheraton, Hepplewhite kam dieser letztere Einfluß zur vollen Geltung, während mit Chippendale eine ebenso eigenwillige und originelle Entwicklung für die. englischen Möbel einsetzte wie unter Boulle für die französischen, nur stand Boulle künstlerisch immer noch einige Stufen höher als sein späterer Kollege Chippendale. Thomas Chippendale hatte seine Werkstatt in London. Die Firma bestand noch bis ins Jahr 1820 und erlosch mit dem Enkel des

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großen Gründers dieser Werkstatt. Die Chippendales waren eine ganze Generation vortrefflicher Meister, beginnend mit dem Vater, fortgesetzt vom Sohne und beschlossen vom Enkel. Keine Bezeichnung für einen Möbelstil haftet so vollkommen an seinem Schöpfer wie die Bezeichnung: Chippendale-Möbel. Über den ganzen Erdball weiß wohl jeder gebildete Europäer, Amerikaner und Australier, was formell unter einem Chippendale-Möbel zu verstehen ist. Diese beispiellose Popularität rechtfertigt es wohl, wenn ich Näheres über die Herkunft dieser Möbel kurz erwähne. Da alle drei Chippendales Thomas mit Vornamen hießen, so will ich sie, beim Vater beginnend, mit I, II und III bezeichnen. Thomas Chippendale I stammt aus Worcester und wanderte etwa 1725 als Geselle nach London. Wann er sich als Meister niederließ, konnte ich nicht ermitteln. Eine Londoner Berühmtheit in seinem Fache muß er aber schon in den Jahren nach 1735 gewesen sein. In Mayfair, dem bekannten Londoner Stadtviertel, hatte er seine Werkstätte und auch eine Reihe von Ausstellungsräumen, die von der vornehmsten und reichsten Gesellschaft besucht wurden. Jedenfalls war dieser erste Chippendale bereits ein höchst respektabler und bedeutender Meister, der seinen ältesten Sohn Thomas in glänzender Weise für seinen Beruf erzog. Dieser Thomas Chippendale II verheiratete sich mit Katharine Redshaw um das Jahr 1750, und im Jahre 1753 zog der junge Ehemann, der den Weltruf des Namens Chippendale geschaffen hat, nach Sankt Martins Lane. Dort eröffnete er eine Werkstatt in erheblich vergrößerter Form. Bereits 1754 erschien das heute nahezu unerschwingliche Werk (von ihm herausgegeben) „The Gentleman and Cabinetmakers Director". Die Subskribentenliste dieses Werkes habe ich gesehen und konnte konstatieren, daß in erster Linie die gesamte Konkurrenz des Meisters, dann der englische Adel, eine große Zahl von Künstlern und eigenartiger Weise auch von Maurermeistern (die damals wohl die Stelle unserer heutigen Architekten einnahmen) als Abnehmer vermerkt sind. In dieser Zeit beschäftigte Th. Chippendale mindestens 30 Tischlergesellen — es geht dies aus einer Nachricht hervor, wonach bei einem Brande in seiner Werkstatt deren Werkzeugkästen verbrannt sind.

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In dem Mitgliederverzeichnis der „Gesellschaft der schönen Künste" vom Jahre 1767 steht der Name von Thomas Chippendale II unweit von Sir Josuah Reynolds, David Garrick, dem Historiker Gibbons und Dr. Johnson, der beste Beweis für den wachsenden Ruf des Meisters. Am 13. Nov. 1779 verschied dieser letzte große Tischlermeister, dessen Name ähnlich wie der unseres Landsmannes Boulle eine ganze Epoche deckte, und hinterließ seine weltberühmte Werkstatt seinem Sohne Thomas Chippendale III, der sie bis zum Jahre 1820 fortführte. Als Chippendale II seine Tätigkeit begann, kamen die ersten chinesischen Arbeiten nach England, und so entstanden seine ersten Möbel, die zum Teil recht bizarr wirkten, mit mißverstandenen und flüchtig gesehenen chinesischen Details. Erst im Laufe seiner späteren Meisterschaft gelangte er zu jener höchst persönlichen Auffassung, die wir in dein späteren Chippcndale-Stil kennen, der nichts anderes ist als ein englisiertes und durch die persönliche Brille des Herrn Thomas Chippendale gesehenes Régence, allerdings von einem Reiz und einer Feinheit des Geschmacks, der bis dahin an englischen Möbeln äußerst selten war. Haben die Vorgänger von Thomas Chippendale sowohl in Deutschland wie auch in Frankreich noch mit gewissen Mängeln der Technik zu kämpfen gehabt, so kamen diesem großen Meister, der in der Zeit von 1750 bis 1790 seine Blütezeit hatte, schon recht viel weiterreichende technische Möglichkeiten zugute. Wir finden zuerst bei den Engländern in unserem heutigen Sinne furnierte Möbel aus exotischen Hölzern, Mahagoni und Satinwood und Polysander. Man muß es den Engländern lassen, daß ihre besten Erzeugnisse als reine Tischlerarbeit nur mit der allergrößten Achtung und Ehrfurcht vor dem Können ihrer Verfertiger betrachtet werden müssen. Dazu kommt der dem Engländer eigene Sinn für technische Vollendung, für, um ein englisches Wort zu gebrauchen, den sogenannten „Finish". Zugleich mit dem Auftreten der ersten japanischen und chinesischen Arbeiten in Holz und dem dadurch bedingten erheblich erweiterten Gesichtskreise kamen ausgangs des 18. Jahrhunderts, wie schon erwähnt, die ersten exotischen Hölzer in größeren Mengen zuerst nach England. Die Art dieser Hölzer zwang die englischen Meister, mit der Stärke der Furniere wesentlich herabzugehen, und an den eng-

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lischen und französischen Möbeln dieser Zeit konnten damit zuerst die durch die schwächeren Furniere ermöglichten Marketeriemuster aufkommen. Die besten Erzeugnisse dieser Epoche sind nahezu ohno Rücksicht auf die Kosten geschaffen worden. Man verwendete sehr häufig massiv silberne Beschläge, und manche Möbel schmückte man mit Malereien, für die unter vielen anderen Malern auch eine Künstlerin wie die Angelika Kaufmann beschäftigt wurde. Bewundernswert bleibt stets die Sicherheit, mit der auch die Maler sich dieser neuen Aufgabe unterzogen. Diese Möbel zählen naturgemäß nicht nur zum vollendetsten, sondern auch zum wertvollsten Kunstbesitz des Handwerks überhaupt. Ob unsere heutige moderne Malerei einer solchen Aufgabe gewachsen wäre, lasse ich dahingestellt. Das ganze eben Gesagte kann natürlich nur ein provisorischer Abriß sein und reißt auch ziemlich jähe mit dem Namen Thomas Chippendale ab. So weit wir in dem letzten Zeitabschnitt von hundert Jahren zu erkennen vermögen, schloß mit Thomas Chippendale II der letzte große Tischlermeister seine Augen. Wir erlebten in Deutschland noch eine sehr stattliche Nachblüte in der Person unseres hochverehrten und lieben Meisters Röntgen in Neuwied am Rhein, dem es als letztem deutschen Meister gelang, seinen Erzeugnissen noch einmal einen Weltruf zu verschaffen, und der das deutsche Tischlerhandwerk auch im Auslande zu Ehren brachte. Als über unser schönes Vaterland mit seiner politischen Eigenbrödelei die Stürme der Freiheitskriege hinweggebraust waren, gingen viele Werkstätten zugrunde, für deren Bedürfnisse die sparsame Zeit, die dann anbrach, nicht genügen konnte. Unser letzter volkstümlicher Typ des deutschen Möbels war das Biedermeier, ein richtig gehendes Stiefkind des französischen Empire, und unser heute wiederum so beliebtes Biedermeier trägt auch alle Merkmale eines Stiefkindes. Es ist im Verhältnis zu seinem grandiosen natürlichen Vater verkümmert, und da, wo das französische Empire großartig wirkt, wirkt das Biedermeier eben „bieder". Es ist eigentlich klar, daß für eine starke und große künstlerische Persönlichkeit im Handwerk in der Zeit zwischen 1800 und 1860 der Boden fehlen mußte. Es fehlten zunächst die genügenden Auftraggeber und es fehlte der Stolz der vermögenden Schichten auf das im Lande schaffende Handwerk, denn dieses Volk hatte einen furchtbaren Ader-

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laß durchgemacht und hatte wichtigere Dinge zu tun, als sich um schöne Möbel zu bekümmern. Erst mußte einmal die Wirtschaft wieder eingerenkt werden, und dazu genügten eben mehr oder weniger harmlose Biedermeiermöbel. Es sei den damaligen Meistern hoch angerechnet, daß sie als Handwerksmeister fast immer sich bemühten, in ihrer Arbeit ebenso anständig und ehrlich zu sein wie in ihrem Material, ein Zeichen dafür, daß im Handwerk selbst mit der alten Traditon die Möglichkeiten einer großen Zukunft sehr wohl noch schlummerten. Im übrigen ging es den Franzosen und den Engländern wenig besser. Was die Zeit nach den napoleonischen Kriegen bis in die 70er Jahre den Franzosen und Engländern bescherte, war keineswegs geschmacklich so sehr viel besser, als was wir machten. Die französische Kunsttischlerei blühte erst wieder auf mit dem Einsetzen des Welthandels, der den Engländern und Franzosen zuerst den gesteigerten Luxus brachte, der zu uns erst viele Jahrzehnte später kam. Im Zusammenhang mit dem Welthandel der Franzosen und Engländer steht auf das engste der Antiquitätenhandel in Möbeln. Es ist nicht möglich, ihn zu übergehen, wenn man von der Kunst des Möbels und seiner Werkstatt spricht. Es hat keine Zeit gegeben, in welcher der Handel mit sogenannten antiken Möbeln einen solchen Umfang angenommen hat als just in den letzten 20 Jahren. Selbstverständlich bescheren uns Frankreich, England und Italien nur zu einem verschwindend geringen Bruchteile wirklich antike Möbel — unsere Händler wissen das auch ganz genau, genauer jedenfalls als unsere Käufer —, sondern dem ungeheuer angewachsenen Bedarf entspricht eine ebenso eigenartige und große Fälscherindustrie, deren Haupthandelsplätze Turin, Paris und London sind. In Deutschland selbst werden im Verhältnis zum Auslande nur geringe Mengen echt antiker Möbel und nur billigster Art erzeugt. Die Ursache dieses auffallenden 'Imports von gefälschten Möbeln liegt in zwei Umständen hauptsächlich begründet: Zunächst ist Deutschland vor diesem furchtbaren Kriege ein Land gewesen, in dem sich ein schnell erworbener Reichtum zur Geltung zu bringen trachtete. Die Träger dieses Reichtums hatten oft selbst sehr klein begonnen, stammten sehr oft aus Familien, deren Herkunft nichts mit ererbter Kultur zu tun hatte, kurz und gut, sehr oft machte sich ein Protzentum geltend, dem es mehr um den Schein Gewerbliche Einzelvortrüge.

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als um die Echtheit zu tun war und noch zu tun ist, und wohl auch nach diesem Kriege zu tun sein wird. Das Haus dieser Parvenüs sollte in nichts dem Aussehen nachstehen, welches die Wohnungen der Nachkommen von alten Geschlechtern mit ererbtem Hausrat zeigten, und so mußte eben alles „echt antik" sein. Nur sogenannte alte Meister hängen an den Wänden, und würdige Familienporträts sehen auf den Besucher herab, von denen der Besitzer selbst nicht weiß, wen sie darstellen. Auf diesem Markte der Eitelkeiten war der gegebene Boden für jede Fälschung, und anstatt daß die dafür aufgewendeten sehr respektablen Summen unseren deutschen Werkstätten und unserer Kunst zugute kamen, gingen sie ins Ausland und verdarben hier im Lande den natürlichen und gerade gewachsenen Geschmack. Als zweite Ursache des immer stärker begehrten „echt antiken Möbels" ist die steigende Unsicherheit des Geschmacks in unserer eigenen Produktion zu bezeichnen. Durch Ursachen, welche zu erklären im Rahmen dieses Vortrages nicht möglich ist, ist in den letzten zwei Jahrzehnten eine solche Unsicherheit des Urteils gerade sehr oft in den bestmeinenden und kunstliebendsten Kreisen unserer Käufer verursacht worden, daß als einzig geschmacklich und künstlerisch sicherer Wert in leider steigendem Maße das sogenannte antike Möbel gekauft wurde. Der ästhetische Lärm, der von Kunstgelehrten, Zeitungsschreibern und sonstigen kunstbegeisterten Dilettanten über das „moderne Möbel" geschlagen wurde und noch wird, hat zwei Lager geschaffen. In einem Lager wird die moderne Form gesucht, gefunden und immer wieder zerschlagen — im anderen Lager wird mit immer größerem Recht dieses sogenannte moderne Möbel mit den Werten der Vergangenheit verglichen. Durch die Orthodoxie dieser modernen Rufer im Streite wird eine Reaktion gegen eine sehr wünschenswerte sichere Entwicklung der künstlerischen Form unseres Möbels hervorgerufen, die alle Fälscherkünste aufleben läßt. Während die Antiquitätenhändler sich die Hände reiben, werden unsere Werkstätten in einen Streit hineingezerrt, an dem einzig und allein die graueste Theorie ihre Freude haben kann. Die Kunst und das Handwerk und vor allen Dingen unser Nachwuchs in beiden müssen die Zeche in bar bezahlen. So wären wir denn bei der Kunst, d. h. bei der Kunst nicht schlechtweg, sondern bei der Kunst des Möbels. Wir müssen uns zunächst

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darüber klar sein, daß der Handwerksmeister, wenn er sein Fach versteht, um eine künstlerische Wirkung zu erzielen, einen ganz erheblichen Bundesgenossen in seinem Material hat. Er ist in dieser Beziehung dem Maler und dem Bildhauer gegenüber gewaltig im Vorteil. Die Mannigfaltigkeit des Materials, welches dem Kunsttischler zur Verfügung steht, ist nahezu unbegrenzt, und die Erzeugnisse, bei denen künstlerische Schulung, technische Solidität und schöne und kostbare Materialien zusammenwirken, bilden mit Eecht den größten und angesehensten Schatz ganzer Geschlechter. Leider waren die alten Künstler uns in der Kenntnis und der technischen Behandlung der in Frage kommenden Materialien für ein künstlerisches Möbel sehr überlegen. Jeder von Ihnen, der ein Museum mit jenem liebevollen Interesse durchwandelt hat, welches der Wunsch nach ähnlichem persönlichem Besitze erzeugt, wird mir das bestätigen. Daß wir nach den Befreiungskriegen in bezug auf die Materialien unserer Möbel, selbst der feinsten und besten, erheblich bescheidener gegenüber den früheren Epochen geworden sind, ist aus der Not der Zeit durchaus erklärlich, daß aber das unbedingt nach dem Kriege von 1870 einsetzende Luxusbedürfnis sich speziell im künstlerischen Möbel im großen und ganzen auf die harmlosesten Materialien und Formen beschränkte, hat seinen Grund in der inzwischen eingetretenen Unzulänglichkeit unserer Meister und in den geringen Ansprüchen, welche der größte Teil unserer kaufenden Landsleute mangels jeder künstlerischen Kultur stellte. Immerhin haben wenigstens in bezug auf die einzelnen Hölzer eine große Anzahl deutscher Meisterwerkstätten noch bis in den Ausgang der 80er Jahre sehr genau Bescheid gewußt. Inzwischen ist nun die Kenntnis der uns zur Verfügung stehenden Materialien ungeheuer gesunken. Das klingt paradox in einer Zeit, in der jedem Postpaket fast jede Stelle des Erdballes erreichbar ist. Der Grund liegt auch nicht etwa darin, daß die Materialien an sich fehlten, sondern er liegt darin, daß die Führung und die Bestimmung nicht über die Form allein, sondern auch über das Material, welches gebraucht wird, aus den Händen der Meister herausgenommen und in die Hände sogenannter Künstler gelegt wurde. Die Materialkenntnis aller derjenigen Dinge, die für ein feines Möbel in Betracht kommen, kann selbst der tüchtigste Meister in einem ganzen Menschenleben nicht auslernen. Unsere Maler, Bild2*

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hauer und Architekten, welche seit 20 Jahren den bestimmenden Einfluß auf die Kunst im Handwerk haben, besitzen zu 95% gar keine Materialkenntnis, zu 3 % sehr wenig und zu 2 % vielleicht das gewissenhafte Bestreben, auch diesem Teil des von ihnen abhängigen Handwerks auf den Grund zu gehen. Während die künstlerische Form des Möbels vollkommene Geschmackssache ist, ist die Kenntnis der Materialien ganz gewiß keine Geschmackssache, sondern ein höchst positives und nur in langer Arbeit erreichbares Wissen. Sehen wir vom Material ab, so fällt uns zunächst auf, daß die sogenannten künstlerischen Tendenzen von heutzutage von a u ß e r h a l b der Werkstattt in die Werkstatt hineingetragen wurden, und zwar unter vielen anderen Schlagworten mit dem Schlagwort: Die Form des Möbels muß sich mit dem Material decken. Da nun die Herren, deren Reformeifer mit ihrem wachsenden materiellen Verdienste stieg, gar keine Materialkenntnis besaßen, so sind die sogenannten Künstlermöbel der letzten 20 Jahre dadurch charakterisiert, daß nicht nur die künstlerische Form oft recht bescheiden war, sondern daß sie einfach die Eigenschaften des Materials auf den Kopf stellten. Der größte Rufer im Streite unter einer großen Schar von Genossen war ein Belgier, von dem ich bis heute noch nicht feststellen konnte, was er eigentlich gelernt hat, denn, so viel ich weiß, ist er weder Maler, noch Bildhauer, noch Architekt. Jedenfalls war er ein äußerst geschickter und geistreicher Agitator, der durch keinerlei Fachkenntnis beirrt wurde. E s würde viel zu weit führen, wollte ich mich über die ganz besondere Verheerung, welche diese Dilettantenwirtschaft im Handwerk angerichtet hat und noch anrichtet, im Rahmen dieses Vorträges auslassen. Ihr Verhältnis zum Handwerk entspricht etwa dem der Gesundbeter zur Medizin oder zum praktischen Arzt. Unbestreitbar steht nur eines fest: die künstlerische Wirkung eines Möbels hängt auf das engste mit dem Material zusammen, und sehr viele der künstlerischen Möbel der Vergangenheit sind oft direkt für eine ganz bestimmte Eigenschaft, die just der eine oder andere Stamm Holz zeigte, von dem betreffenden Meister entworfen und gemacht worden. Die unbestreitbare Nüchternheit unserer sogenannten modernen Künstlermöbel entspringt k e i n e s w e g s unserer Zeitströmung, denn diese Zeitströmung ist in bezug auf die Gestaltung des Möbels nichts

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weniger als nüchtern. Beweis hierfür ist der fortwährend steigende Hunger nach echten und falschen Antiquitäten, nach englischen und französischen Kopien alter Meisterstücke, sondern diese nüchterne und glatte Form entspringt keinem anderen Umstände als dem platten Unvermögen derjenigen Kräfte, die heute die Kunst im Möbel dirigieren, und deren fachliche, künstlerische und Materialkenntnis von einer kläglichen Oberflächlichkeit und Bescheidenheit ist. Es wird seit 20 Jahren mit iminmer steigender Inbrunst und immer größerer Orthodoxie gegen alles das zu Felde gezogen, was Tradition ist. J a , ist denn das nicht einfach hellichter Wahnsinn ? ! Ein Handwerk ohne Tradition ist überhaupt kein Handwerk mehr, und wie den extremen Elementen unserer Künstlerschaft das prinzipielle Verlassen alles dessen, was anständige Tradition in der K u n s t ist, bekommt, lehrt ein Blick auf die Ausstellungen der Kubisten, Futuristen und Symbolisten, lehrt ein Blick in die Küche der ganzen Problemriecherei in der Kunst und unserer Sezessionswirtschaft. Daß man diese Bestrebungen in das Handwerk hineingezerrt hat, daß unsere Kommunalverwaltungen und unsere Ministerien diesem Hineinzerren von derartigem Künstlerzank Vorschub geleistet haben, hat mehr zum Verderb unseres Kunsthandwerks beigetragen, als ein Laie jemals erwägen kann. Mit derartigen Schlagern, wie „die Kunst um der Kunst willen", mögen diejenigen sich befassen, deren ganze Kunst sich auf einem Quadratmeter Leinewand austoben kann. Solche Tendenzen auf die W e r k s t a t t auszudehnen, war ein Verbrechen und mußte unserer ganzen Produktion, soweit das Handwerk in Frage kam, auf das übelste bekommen. Die Frage ist absolut nicht, ob modern oder nicht modern. Das ist eine reine und absolute Formfrage und nichts weiter, über die sich Kinder und Narren herumstreiten mögen. Für jeden Wissenden und Denkenden hat die Frage nie bestanden, denn auch in der Kunst kann jeder nach seiner Façon selig werden. So grauenvoll unsere Muschelmöbelarchitektur unseligsten Angedenkens stets und immer gewesen ist, ebenso kulturlos und ebenso schlimm ist die moderne Uniform à la Jugendstil und van de Velde gewesen und die vollständig mißverstandene moderne Biedermeierei, welche heute als große Mode grassiert. Mit K u n s t haben die Muschelmöbel ebensowenig zu tun als die eben zitierten Geschmacksrichtungen.

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Von einem k ü n s t l e r i s c h e n Möbel k a n n m a n erst d a n n s p r e c h e n , w e n n die A u s f ü h r u n g u n d d e r E n t w u r f sich so v o l l k o m m e n d e c k e n , daß es unmöglich ist, eine doppelte Seele an einem solchen Stück zu erkennen. Davon kann bei unseren modernen Professorenmöbeln gar keine Rede sein. Manchmal ist der Entwurf gut und die Ausführung schlecht, manchmal ist die Ausführung glänzend und der Entwurf schlecht, wie es gerade trifft! Welche Mittel stehen nun dem Meister in seinem Handwerk zur Verfügung, ganz abgesehen vom Material? Man könnte ohne Übertreibung sagen, fast der ganze Kreis der Schöpfung. Es gibt kaum eine phantastische Laune, die ein genialer Meister nicht seinen Erzeugnissen als höchsten künstlerischen Schmuck aufprägen könnte. Das Salzfaß von Benvenuto Cellini, ein alter römischer Bronzestuhl, ein altes Boulle-Möbel, eine Chippendale-Kommode, die köstlichen Arbeiten im Grünen Gewölbe zu Dresden, sie alle sind demselben Geiste entsprungen. Technik, Material und künstlerische Auffassung in eines verschmolzen, das eben macht ihren höchsten und unsterblichen Reiz aus. Wer sich jemals von Ihnen die Mühe genommen hat, die Handzeichnungen im Louvre, im Britischen Museum oder in den Uffizien, ferner den ungeheuren Schatz unserer eigenen deutschen Ornamentmeister durchzublättern, wird mir beipflichten, wenn ich erkläre, daß allen diesen Meistern neben ihrer handwerklichen Tüchtigkeit die souveräne Kenntnis und Beherrschung des Ornaments eigen war. Es ist mir stets unverständüch gewesen, daß man die Grundsätze einer Kunst wie der Architektur einfach auf das Möbel übertragen konnte. Die Architektur ist eine erheblich gebundenere Kunst, als es jemals die des Möbels ist. Eine Steinfassade muß anders behandelt werden als ein Ziegelbau, ein Ziegelbau anders als ein Putzbau. Alle diese Materialien schließen für den Architekten unbedingt bindende Regeln in sich, die er ungestraft nicht verlassen darf. Wenn in der Säulenordnung für den Architekten ein absolut bewährter Maßstab für Verhältnisse festhegt, so hat das Möbel diesen Maßstab überhaupt nicht. Die Art, wie ein Tischler seine Gliederung zeichnet und konstruiert, hat mit Architektur gar nichts zu tun, wohl aber mit Proportionen und vor allem mit Materialwirkung. Schon aus diesem Grunde

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spielt das Ornament in jeder Form bei einem künstlerischen Möbel auch dann eine große Rolle, wenn es dem Laien an sich kaum sichtbar ist, denn es gibt kaum ein Material, und sei es noch so spröde, dessen Reize nicht durch ein richtig komponiertes und verstandenes Ornament zu künstlerischer Wirkung gesteigert werden. Unsere heutigen Handwerksmeister wissen vom Ornament so gut wie gar nichts, denn zur Beherrschung gehört positives künstlerisches Talent. Man hat sich einfach damit geholfen, indem man das Ornament dem Stukkateur zugeschoben hat, und somit das Schlimmste verbrochen, was ich mir denken kann. Damit werden glücklich aus einer Leistung drei Leistungen gemacht; dann ist derjenige, der die Möbel entwirft, eine Person, der Tischlermeister, der diese Entwürfe ausführt, die zweite, und der Bildhauer, der das Ornament modelliert, die dritte, und wenn das Glück gut ist, der Holzbildhauer, der die Arbeit schneidet, die vierte. Dahin sind wir glücklich im Laufe der modernen Entwicklung gelangt. Das ist ein T e i l des Fortschrittes, welchen uns just unsere Kunst- und Kunstgewerbeschulen beschert haben, ein Teil der dürren Früchte, welche uns diese Institute gaben. Die ganze verfahrene moderne Erziehung unseres künstlerischen Nachwuchses, soweit er für das Handwerk in Frage kommt, hat eines nahezu vollkommen erreicht: die uralte Verbindung zwischen Kunst- und Werkstatt ist bis auf wenige noch übrig gebliebene Ausnahmen zerstört. D e r A u f s t i e g d e r a l t e n M e i s t e r g i n g v o m H a n d w e r k a u s und führte je nach dem Grade der Begabung bis in die steilsten Höhen der Kunst. Unsere Kunstschulen machen es umgekehrt, der Weg soll erst zur Kunst — dann wieder nach dem Handwerk zurückführen. Darin liegt der Widersinn der ganzen heutigen Kunstschulpolitik. Dem Künstler vor hundert Jahren war die Werkstatt mit ihren Gesetzen nud Materialien völlig geläufig, denn er kam aus der Werkstatt und ging seinen Weg kraft seines angeborenen Talentes, aber nicht infolge eines völlig verfehlten Lehrplanes, den die Schule schon aus dem Grunde nicht bewältigen kann, weil sie von vornherein auf die tüchtigsten Meister als Lehrkräfte verzichten muß. Ein Mann wie Dürer war gelernter Goldschmied, und seine künstlerischen Entwürfe für Pokale und handwerkliche Gegenstände zeigen ihn als den fruchtbarsten Künstler, der unserem deutschen Handwerk beschert werden konnte.

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Wenzel Jamnitzer war Goldschmied, Peter Fischer war Bronzegießer, und zwar ein Bronzegießer, der der damaligen italienischen Technik weit überlegen war, und künstlerisch hat er zum Ruhme deutscher Kunst gleichfalls seinen Mann gestellt. Cellini ist vielleicht die glänzendste Erscheinung unter allen Künstlern, die für das Handwerk gearbeitet haben, denn diesem Meister war nahezu keine Technik fremd, auch er war ein gelernter Goldschmied. Michel Angelo war gelernter Steinmetz, und er war stolz darauf, Steinmetz gelernt zu haben, und es ist wohl anzunehmen, daß die erste Lehre Raffaels, welche er in ganz jungen Jahren durchmachte, die eines einfachen Dekorationsmalers war. Kurz und gut, bis zum Aufkommen unserer Akademien war die sichere Beherrschung irgendeines Handwerks die unerläßliche Vorstufe der Kunst. Daß unsere Kunst gar keinen Schaden davon gehabt hat, beweisen unsere Museen. Unsere ganze Hochschulkultur hat zur Evidenz bewahrheitet, daß unsere Akademiker für künstlerische Aufgaben, die eine klare und sichere Materialkenntnis erfordern, nicht zu gebrauchen sind. Man macht einfach aus der Not eine Tugend und paßt das Handwerk dem geringen fachlichen Können und der geringen Materialkenntnis desjenigen Nachwuchses an, der heute künstlerisch für das Handwerk tätig ist und nicht umgekehrt, daß die höchsten technischen Ansprüche gestellt werden und b e f r i e d i g t durch die souveräne Kenntnis der Technik und des Materials. So werden denn unsere Kunstschüler und Kunstgewerbeschüler auf das Handwerk losgelassen, ohne eine Meister- und Werkstattlehre, meistens ohne besondere künstlerische Begabung, ohne die Liebe zur eigenen Werkstatt, ohne die ein vornehmes Möbel nicht entstehen kann. Es würde zu weit führen, wollte ich die vernichtende Wirkung unseres ganzen modernen Kunstschulwesens auf das Handwerk schildern. Es mag genügen, daß ich die Tatsachen selbst reden lasse und feststelle. Und jedermann ist in der Lage, diese Tatsachen nachzuprüfen, der mit oöenen Augen die Arbeiten unserer großen Meisterepochen vergleicht mit den Gelegenheitssachen, die unsere Kunstschulkultur günstigen Falles vor sich bringt. Man wird mir natürlich sofort entgegenhalten, daß unser Geschmack

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sich ganz entschieden verbessert hat. Meinetwegen mag dies stimmen, Im übrigen sei hiermit konstatiert, daß die Epoche unserer schlimmsten Geschmacklosigkeiten begann — fast auf das Jahr genau — mit der Einführung der Gewerbefreiheit. Bei der M ö b e l i n d u s t r i e der letzten zehn Jahre ist eine gewisse Verbesserung des Geschmacks ganz zweifellos, und es hieße ungerecht sein, das zu bestreiten. Das geschmackliche Durchschnittsniveau in der Industrie hat sich entschieden etwas gehoben. Aber man möge niemals vergessen, daß „geschmackvoll" immer eine Laienzensur bleibt. Ich habe es bei einer früheren Gelegenheit bereits erwähnt, daß Geschmack mit künstlerischer Produktion gar nichts zu tun hat. Wir können unser geschmackliches Niveau so hoch heben, wie wir wollen, unser künstlerisches Niveau hat damit gar nichts zu tun. Denn was man unter Kunst versteht, ist souverän und steht ü b e r dem Geschmack, und wenn wir von der Kunst des Möbels sprechen, so müssen wir an künstlerische Erzeugnisse denken. So wie wir, wenn wir von der hohen und freien Kunst sprechen, nicht die leidlich geschmackvolle Durchschnittsmalerei und -Plastik unserer Tage meinen, sondern diejenigen Phänomene, die sich umfassen lassen in Namen wie: Böcklin, Menzel, Feuerbach, Rethel, Fragonard, Rembrandt, Michel Angelo usw. Auf deren Arbeiten das Wort „Geschmack" anzuwenden, würde einfach absurd wirken. Was wir von einem künstlerischen Möbel verlangen, muß weit mehr sein, als daß es nur „geschmackvoll" ist. Es m u ß s o u v e r ä n sein in jeder Form, in jeder Linie, kurz, es muß das haben, was unsere vornehmsten und feinsten alten Erzeugnisse des Handwerks haben, den völligen Einklang seiner Kunst, seiner Technik, seines Materials und seiner handwerklichen Durchführung. Wer diese drei Bedingungen unter sich zu zwingen versteht, verdient den Namen Meister mit Fug und Recht. Sowohl unsere künstlerischen, wie handwerklichen Produktionen der letzten Jahrzehnte sind von diesem Ideal weiter als je vorher entfernt und innerlich heute vielleicht mehr als vor 30 Jahren. In der Kunst wie im Handwerk ist Talent immer noch schwer zu entbehren, obgleich gerade unsere letzten Ausstellungen dafür den scheinbaren Gegenbeweis bringen. Wollte man die ungeheure Menge unserer Kunstjünger auf das a n g e b o r e n e Talent hin unter die Lupe nehmen, so würde ein unglaublich hoher Prozentsatz von vornherein ausscheiden. Trotz allen

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unseren ungeheuren Mengen von Schulen und Instituten läßt sich die Natur nicht in die Karten gucken, und das von ihrer Gnade verliehene Talent konnten bisher weder die Kunstschulen noch die Chemie ersetzen. Unsere heute heranwachsende Generation Tischlermeister entbehrt des künstlerischen Talents aus dem einfachen Grunde, weil dank unserer falsch geleiteten Handwerkspolitik wohl mancher wackere Mann, aber sonst nur die künstlerisch Talentlosen für das Handwerk übrigbleiben. Was an künstlerischem Talent in unserem Volkstum vorhanden ist, wird auf die Kunstschulen niedergeschlagen, und selbst wenn auch der Begabteste diese Schulen überstehen sollte, ohne Schaden an seinem Talent genommen zu haben, so ist ihm damit immer noch nicht die Werkstatt ersetzt. Er kehrt aus dem einfachen Grunde niemals in die Werkstatt zurück, weil er gar nicht aus der Werkstatt kam, und so ist es denn in logischer Konsequenz dahin gekommen, daß die Kunst im Handwerk von heute in der Hauptsache von künstlerich tätigen Elementen bestritten wird, die von der W e r k s t a t t selbst keine Ahnung haben. Ich kann die widersinnige Zerfahrenheit unserer gesamten Kunstund Handwerkspolitik nicht besser illustrieren als durch die Tatsache, daß von leider immer noch maßgebender Stelle aus mit beneidenswerter Leichtfertigkeit der Ausspruch getan werden konnte: die Zeit, in der ein Handwerksmeister sein eigener Künstler war, ist endgültig vorbei. Wenn dieser Satz wahr wäre, so ist nicht nur die Zeit der alten großen Handwerkskunst abgeschlossen, sondern auch die Zeit der Künste überhaupt. Man spottet seiner selbst und weiß nicht wie. Was ist die Kunst denn anderes als über den bloßen Zweck hinaus gesteigertes Handwerk? ! Ist diesen ewigen Tertianern der Kunst niemals aufgefallen, daß alle großen Künstler der Vergangenheit ihren Weg aus dem Handwerk nahmen ? Wenn das wahr wäre, wonach wir anscheinend unsere gesamte Handwerkspolitik von heute orientieren, dann liegt vor uns für alle Zukunft die steinige Wüste dilettantischer Selbstgefälligkeit. Die K ü n s t l e r , die wir b e s i t z e n , w e r d e n des H a n d w e r k s entbehren, und unsere H a n d w e r k s m e i s t e r der Kunst. In allem, was ich bis jetzt gesagt habe, habe ich selbstverständlicherweise nicht von I n d u s t r i e n gesprochen. Wir haben in Deutsch-

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land eine hoch entwickelte Möbelindustrie, bei der selbstverständlicherweise die Leistungen ganz anders gewertet werden müssen als wie in den persönlich geleiteten Betrieben, in welchen Möbel hergestellt werden, bei denen in irgendeiner Hinsicht Kunsthandwerk beabsichtigt ist. Im letzten Teil meines Vortrages habe ich nun einiges über die Werkstätten zu sagen. Wir müssen bei den Werkstätten unterscheiden zwischen sogenannten Spezialwerkstätten, die j a selbstverständlich auch das Handwerk angehen, und zwischen Werkstätten, die ich als vom Inhaber persönlich geleitete Betriebe kennzeichnen möchte. Auch hier gibt es wiederum Abstufungen, deren jede ihre bestimmten Bedürfnisse und Qualitäten hat. Das zu behandeln, müßte Sache einer speziellen Abhandlung sein. Ich wende mich denjenigen Werkstätten zu, die an Zahl der Arbeiter nie überhaupt an Zahlen die kleineren sind, in denen, wie der Ausdruck lautet, nach Zeichnungen gearbeitet wird, das heißt, es wird dort nicht ein und dasselbe Modell in Massen erzeugt. Diese Werkstätten sind in den letzten 60 Jahren einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt worden, und wenn wir den Gang der Entwicklung unserer Werkstätten richtig verstehen wollen, so müssen wir uns immer vor Augen halten, daß diese Entwicklung n i c h t aus dem Handwerk herausgekommen ist, sondern daß sie ihm von außen aufgezwungen wurde. Die drei Faktoren, die eine bestimmende und zwingende Gewalt auf die Art unserer Werkstätten ausüben, sind: die Einführung der Gewerbefreiheit, die allgemeine Einführung der Submissionen und die Handwerkerschulpolitik der letzten 30 Jahre. Bei allen drei Dingen ist festzustellen, daß sie über das Handwerk verhängt worden sind und daß jeder einzelne dieser drei schweren Gesellen genügt hätte, auch die gesundeste Werkstatt an der Wurzel krank zu machen. Wenn es trotzdem in Deutschland immer noch möglich ist, allerdings mit gewisser Vorsicht, handwerklich hochgestellte Leistungen zu erhalten, so geschieht dies nicht dank der Fürsorge unserer Verwaltungen, sondern wir müssen es als schwer zu begreifendes Wunder betrachten, daß trotz der behördlichen und gesetzlichen Eingriffe noch einzelne Reste unserer alten Handwerkstüchtigkeit bestehen. Gegen diese Reste wird seit 15 Jahren ein regelrechtes Sturmlaufen veranstaltet, und zwar besorgen das die sogenannten Handwerks-

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künstler mit voller Unterstützung unserer Verwaltungen, denen auch der kleinste Rest von künstlerischer Selbständigkeit des Handwerksmeisters etwas ist, was beseitigt werden muß. Da unter den verehrten Zuhörern sich manche Laien befinden, so will ich versuchen, das, was unsere Werkstatt angeht, kurz zu schildern. Zunächst die G e w e r b e f r e i h e i t . Sie ist nun seit bald 60 Jahren Gesetz, und wenn bis heute das Handwerk sich noch nicht damit abfinden konnte, so beweist das nur, welch großen Einschnitt dieses übereilte und aus echt dilettantischem Geist geborene Gesetz bedeutet. Die Gewerbefreiheit vernichtete zunächst vollkommen für einen e i n z i g e n unter den vorhandenen bürgerlichen Berufen den Nachweis der Befähigung, vernichtete den Zwang, daß jemand, der einen Beruf ausübt, diesen auch erlernt haben muß. Die GcWerbefreiheit macht Halt vor allen sogenannten wissenschaftlichen Berufen, sie schützt den Arzt gegen den Kurpfuscher, den Advokaten gegen den Winkeladvokaten und läßt nur die Künste vogelfrei oder, wie man es schöner sagen kann, die Gewerbefreiheit lieferte sämtliche Produzierenden dem berühmten freien Spiel der Kräfte aus. In den letzten 15 Jahren sind seitens der Regierung Versuche unternommen worden, die damalige übereilte Arbeit teilweise richtigzustellen. Ich erinnere an die etwas elegisch anmutenden Streitereien über den großen oder den kleinen Befähigungsnachweis. Ich erinnere daran, daß die Architekten die krampfhaftesten Anstrengungen machten, die Bezeichnung „Architekt" ausgerechnet durch ein HochschulExamen geschützt zu bekommen. Entweder ist die Architektur eine Kunst, dann dürfte sie just durch eines unserer Hochschulexamjna eher bedroht als gefördert sein, oder sie ist eine Wissenschaft, dann mag das Examen gelten und mit dem Examen der Anspruch fallen, daß jeder, der diese Examina bestanden, ohne weiteres die freien Künste und das Handwerk beherrsche. Ich erinnere ferner daran, daß man die Zwangsinnungen geschaffen hat, um die einst voreilig zerstörten Organisationen notdürftig wieder zusammenzuleimen. Man verschärfte die Lehrlingsprüfung, man führte wieder das Gesellenstück ein und man nimmt sogar schüchterne Anläufe, dem Meistertitel wieder ein gewisses ihm innewohnendes Recht und eine dem gegenüberstehende Pflicht zu verleihen. Man verstieg sich sogar im Interesse des Handwerks zu einer Warenhaussteuer, die um ein

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Haar unsere besten Werkstätten weit schlimmer als die Warenhäuser getroffen hätte. Alles das ist Flickwerk und wird es bleiben! Ich persönlich stehe auf dem Standpunkte, daß schließlich auch das v e r f e h l t e s t e Gesetz nicht so töricht sein kann, daß es nicht an irgendeiner Stelle etwas Gutes hätte, wenn man nur den durch das Gesetz getroffenen Berufen die genügende Zeit läßt, sich aus der gewaltigen Erschütterung wieder allmählich zu einem gewissen Gleichgewicht durchzuarbeiten. Da das Handwerk als solches nun einmal unbedingt nicht zu beseitigen geht, da Schuster und Schneider, Schmied, Schlosser und Tischler unbedingt sein m ü s s e n , so hätte das Gesetz zum Schluß nicht verhindern können, daß nach einigen Jahrzehnten unnötiger Verwirrung sich doch wieder gewisse Kanäle von selbst graben, deren Richtung durch das niemals schweigende Bedürfnis vorgezeichnet wird. Es ist eine eigentümliche Tücke des Objekts, daß das naturgemäße und gesunde Streben des Handwerks, die Gleichgewichtslage wiederzufinden, a u f g e h o b e n wurde, zunächst durch das Submissionswesen und dann durch unsere handwerkliche Schulpolitik. So recht eigentlich die Kernfrucht der Gewerbefreiheit ist das behördliche Submissionswesen, und was die Gewerbefreiheit verschont hat, mußte dem Submissionsschwindel zum Opfer fallen. Der bureaukratische Geist, der mit geringen Ausnahmen durch unser ganzes öffentliches Submissionswesen geht, ganz gleich ob Kommune oder Staatsbehörde, ist vom Fleische desselben Fleisches, aus welchem die Gewerbefreiheit geknetet wurde. Es ist soviel über das Submissionswesen geschrieben und gesagt worden, daß ich mich hier an dieser Stelle kurz fassen kann, noch dazu, da wohl jeder von Ihnen das Prinzip vollkommen kennt. Es ist nichts anderes, als daß handwerkliche und künstlerische Arbeiten an den Mindestfordernden durch den Baubeamten oder Architekten verauktioniert werden. Das ist etwas grob gesagt, ist aber durchaus richtig. Unsere ersten und besten Werkstätten sind durch das Submissionswesen vernichtet worden, denn nichts anderes hat derartig schlimm auf den Anstand und das Ehrgefühl ganzer Berufskreise eingewirkt als das Submissionswesen mit seinen Folgen. Unsere Kommunen und Staatsverwaltungen haben auch hier — genau wie bei der Gewerbefreiheit — seit etlichen Jahren angefangen zu erkennen, daß sie eigentlich eine ganze wertvolle Berufs-

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klasse und damit eine große Zahl wertvoller Staatsbürger und Steuerzahler langsam und sicher zum Aussterben bringen, und ähnlich schüchtern und mit ähnlich falschen Mitteln wie bei der Gewerbefreiheit brütet man nun auch im Submissionswesen, wie man Feuer und Wasser zusammenbringe, d. h. wie man das Submissionswesen beibehalten könne, ohne doch den Meisterstand und die Qualität der Arbeiten immer tiefer herabzudrücken. Diese Quadratur des Zirkels zu lösen kann natürlich niemals gelingen. Wir haben das Submissionswesen und wir werden es behalten, denn der wichtigste Herd für diesen fressenden Krebs liegt darin begründet, daß es für unsere rein bureaukratischen Baubehörden in Staat, Stadt und Provinz einfach bequem ist. Es mag vielleicht sein, daß für unsere öffentlichen Gebäude, auch für einen großen Teil unserer privaten Gebäude es wenig aus-, macht, ob eine Arbeit sachlich anständig oder weniger anständig ausgefallen ist! Eine spätere Zeit wird vermutlich darüber andere Ansichten haben, denn ich möchte nicht in hundert Jahren sehen, wie die Früchte unseres Submissionswesens nach dieser Zeit aussehen werden. Eines ist aber sicher, daß neben der fachlichen Sicherheit zunächst einmal das Submissionswesen auf die rein k ü n s t l e r i s c h e Seite des Handwerks völlig vernichtend gewirkt , hat. Als erste Unterlage zu jeder Submission gehört eine Zeichnung. Diese Zeichnung wird bei unseren Behörden oft erheblich mehr schlecht wie recht hergestellt, denn dann erst kann die Versteigerung losgehen. So werden umfangreiche und große Arbeiten, die unbedingt künstlerisch behandelt werden müssen, einfach nach Schema F heruntergeleiert, und es gibt kein leidlich umfangreiches Architekturbureau, in dem diese Dinge nicht den Stempel der Unpersönlichkeit tragen. Sie müssen ihn tragen, denn diejenige Werkstatt, welche bei einer Submission als die billigste den Zuschlag erhielt, wird keine Änderung, und sei es die größte Verbesserung im Entwurf, zulassen. So scheidet denn das eigentlich Künstlerische — das Weiterarbeiten am Entwürfe, das Reifen während der Arbeit — aus. Die Gerechtigkeit verlangt, festzustellen, daß unsere künstlerisch gewissenhaftesten und tüchtigsten Architekten diesen Standpunkt vollkommen teilen. — Sie unterliegen in dieser Frage leider mit den Werkstätten zusammen. Nehmen Sie nun diese beiden Dinge, die Gewerbefreiheit und das

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Submissionswesen, zusammen, so werden Sie mir zugeben, daß diese beiden in ihrer radikalen Wirkung ungefähr einer Erdrosselung alles dessen gleichkommen, was man im Handwerk als hochstehend bezeichnen kann. Das ist natürlicherweise dem Scharfsinne unserer Behörden auch nicht ganz entgangen, und, nachdem sie unseren ganzen hochstehenden Meisterstand durch Jahrzehnte hindurch bis auf geringe Ausnahmen zum Untergange gebracht haben, fingen sie nunmehr mit dem ganzen hitzigen übereilten Eifer an, Versuche zu wagen, das Zerstörte wieder aufzubauen. Anstatt nun die Ursachen dieses Niederganges zu beseitigen, suchte man nach einem billigeren Ausweg und verfiel auf die S c h u l e . Das ist genau so, wenn man jemandem, der das Bein gebrochen hat, nicht etwa das Bein schient, damit es wieder gerade wächst, sondern man schiebt ihm einfach eine Krücke unter und läßt ihn humpeln. Anstatt, sowie die Erkenntnis dämmerte, daß große Kulturwerte unserer handwerklichen Produktion in Gefahr sind, das Submissionswesen ganz energisch einzuschränken — das einzige, was helfen konnte — sagte man sich: Wir müssen das Handwerk heben ! Nun wird seit 20 Jahren das Handwerk gehoben, und wenn man die offiziellen Reden liest und unsere Gesundbeter hört, könnte man wirklich glauben, daß in den letzten 20 Jahren eine wahre Blüte unserer Werkstätten angebrochen sei. Leider ist dies nicht der Fall, sondern der Existenzkampf derjenigen wenigen Werkstätten, die noch hochstehende Arbeit zu erzeugen imstande sind, ist mit jedem Jahre erbitterter und schlimmer geworden. Man hat den Teufel richtig mit Beelzebub ausgetrieben, indem man einfach kritik- und wahllos dem Handwerk den gesamten talentierten Nachwuchs entzog, ihn auf die Kunstschulen verpflanzte und sich einbildete, damit wäre das Handwerk qualitativ gefördert. Ich fasse das eben Gesagte dahin zusammen. Die Gewerbefreiheit war ein schwerer Schlag für unsere Werkstätten. Ihre üblen Folgen wären zu überwinden gewesen, wenn nicht das immer allgemeiner werdende Submissionsunwesen die tüchtigsten Meister von den größten Arbeiten einfach ausschloß. Diese Werkstätten gingen bis auf eine geringere Zahl ein—sie starben aus, und an ihre Stelle traten Betriebe, die ihre Leistung dem Bestreben opferten, stets der Billigste zu sein. Der geringe Best unserer Werkstätten, in denen noch eine handwerk-

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lieh tüchtige Qualität gemacht wurde, hielt sich durch die Bedürfnisse desjenigen kaufenden Publikums aufrecht, welches noch Ansprüche stellte — und schied aus der Reihe der sich an Submissionen beteiligenden "Werkstätten aus! Diesen Rest auch noch zu beseitigen, ist nun unsere Schulpolitik, soweit sie das Handwerk angeht, emsig an der Arbeit. Man hat durch unsere Kunst- und Kunstgewerbeschulen gewissermaßen Tausende von selbständigen Zeichnern in die Welt gesetzt, die von der Werkstatt und vom Handwerk selbst gar keine Ahnung haben, die sich aber für Künstler halten und, sowie sie ihre Schule verlassen haben, einlach ein Atelier eröffnen und sich Architekten nennen. Anstatt tüchtiger Meister besitzen wir: Innenarchitekten, Raumkünstler, Innenkünstler, Nutzkünstler und wie diese Künstler sich alle nennen. Statt eines gesunden Kunsthandwerks besitzen wir aber eine Werkkunst, einen Werkbund, wir besitzen unzählige Kunstgewerbevereine, in denen auch fleißig für das Handwerk gebetet wird, wir besitzen Handwerkskammern, Innungen und weiß Gott, was noch, aber W e r k s t ä t t e n , die es wagen dürfen, mit ihren Erzeugnissen sich neben das zu stellen, was uns vergangene Zeiten hinterließen, die b e s i t z e n wir nicht I Es ist mir vollkommen zweifellos, daß, wenn vor 200 Jahren unsere Stadt- und Staatsverwaltungen Kunstschulen und Akademien gegründet hätten, kurz und gut, wenn man, anstatt dem Handwerk lohnende Arbeiten zu geben, es ethisch und m o r a l i s c h hätte heben wollen, so hätte man vermutlich schon vor 200 Jahren das Handwerk in Grund und Boden ruiniert. Das Handwerk selbst hat ewigen Bestand, jenes Handwerk, welches die unmittelbaren Bedürfnisse des Tages befriedigt. Ich sprach heute abend über: „Das Möbel, seine Kunst und sein Handwerk". Ich behandelte also den h ö c h s t s t e h e n d e n Wert, den uns das Tischlerhandwerk bescheren kann, und allein von diesem Standpunkte aus sind meine Ausführungen zu verstehen. Ich betone nochmals, damit man meine Ausführungen nirgends mißversteht, daß in unserer M ö b e l i n d u s t r i e die Verhältnisse erheblich anders liegen. Was sollen denn wohl unsere ganzen Bestrebungen nützen, was sollen die Millionen, die unser Staat und unsere Kommunen in jedem

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Jahre zur Hebung des Handwerks und zur Hebung der Kunst opfern, was sollen diese Millionen wohl für einen Zweck haben, wenn sie nicht auch dem zugute kommen, was für alle Zeiten unveränderlicher Kulturbesitz der Menschheit bleiben wird? Das Inventar unserer alten Schlösser, die "Wohnungen mancher alten Familien, unsere Museen weisen uns den Weg, den wir zu gehen haben, und dieser Weg kann nur gegangen werden, wenn wir unsere künstlerischen Persönlichkeiten nicht mehr das Schlachtopfer bureaukratischer Allüren werden lassen. Unser Kunsthandwerk sowohl wie unsere Kunst kämpfen um Luft, um frei atmen zu können. In dem Bestreben, alles bureaukratisch zu regeln, in dem ungeheuren Irrtum, die Stimmen zu zählen, nicht zu wägen, weil das für jeden Durchschnittsbeamten das Bequemste ist, sind wir dahin gelangt, daß unsere tüchtigsten und klarsten Köpfe abseits stehen. Es ist alles auf den geliebten und bequemen Durchschnitt zugeschnitten, in der Kunst wie im Handwerk, ebenso auch im öffentlichen Leben. Unsere Konkurrenzen für rein künstlerische Aufgaben sind ebensolcher Unsinn, wie unser Submissionswesen es für das Handwerk ist. Bei der Vergabe derartiger Arbeiten kann man ruhig ohne Übertreibung sagen, es geht zu wie in einer Lotterie. Die persönliche Tüchtigkeit, persönlicher Ehrgeiz, Reinheit des künstlerischen Wollens sind Faktoren, die wohl ein Mäzen, der seinen Künstler kennt, in Rechnung ziehen kann, eine Behörde oder Kommission aber niemals. Und so hat man denn, anstatt der Behörde den Zaum anzulegen bei der Vergabe künstlerischer Arbeiten, das Gegenteil gemacht und hat der K u n s t den Zaum angelegt, wie er unserer Bureaukratie am bequemsten ist, und derjenige Künstler kommt heute am weitesten, der diesen Zaum mit der größten Gelassenheit eich anlegen läßt, auf gut deutsch: der geschickteste Streber, das harmlose Mittelmaß kommt am weitesten. Es ist nicht möglich, im Rahmen eines Vortrages das gegebene Thema auch nur annähernd zu erschöpfen. Wenn es mir gelungen ist, Sie zum Nachdenken über das zu bringen, was ich sagte, wenn ich erreichen konnte, daß Sie anstatt der ganzen kritischen Literatur über Kunst und Handwerk, die zu gleicher Zeit zu 98% Makulatur ist, nur die t a t s ä c h l i c h e n L e i s t u n g e n gelten lassen, welche jedem Geweibliche EinielvortrXge.

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von Ihnen zum Vergleich zugänglich sind, dann habe ich erreicht, was ich mit diesem Vortrage erreichen wollte. Gehen Sie hin und vergleichen Sie, was Sie umgibt, mit den Resten unserer alten Handwerkskunst, und Sie werden verstehen, wenn ich sage: Die Welt wäre arm geworden, wenn das alte Wort nicht mehr gelten sollte, „Handwerk hat einen goldenen Boden". Das Handwerk hat ihn immer noch und wird ihn stets behalten. Das Kunsthandwerk jedoch droht ihn zu verlieren, und eins der edelsten Erzeugnisse menschlichen Könnens, ein Maßstab der Kultur eines ganzen Zeitalters ist ein v o r n e h m e s Möbel. Weit über die Zfeit seiner Entstehung hinaus gehört es zum geschätztesten Besitz der Familie. So will ich denn schließen mit dem uralten Handwerkerspruch, der in unübertrefflicher Kürze ausspricht, daß man in der Kunst wie im Handwerk und im Leben niemals auslernt: Meister



Geselle — Lehrling —

der was ersann, der was kann, jedermann.

IL Reklame; Entstehung, Bedeutung und wirtschaftliche Organisation. Vortrag des Herrn

Walter

Behrend

(Prokurist der A l l g e m e i n e n Elektrizitäts-Gesellschaft).

Die heutige Vorlesung ist gedacht als eine Einführung in das weite Gebiet des Reklamewesens. Die Anregung zu dieser Veranstaltung verdanken wir den Ältesten der Berliner Kaufmannschaft, in deren Hause wir hier zu Gaste sind. Die Ältesten haben ihr besonderes Interesse für die Reklame durch die vor fast zwei Jahren erfolgte Gründung der ständigen Deputation der Reklame-Interessenten bewiesen, auf die ich später noch näher eingehen werde. Reklame ist vielleicht eines der interessantesten und der eigenartigsten Gebiete innerhalb der wirtschaftlichen Tätigkeit der Völker, und für jemand, der sich wie ich mich viele Jahre mit praktischer Reklame beschäftigt hat, ist es doppelt reizvoll, an dieser Stelle theoretische Erörterungen zu pflegen. Schreiten wir durch die Straßen irgendeiner Großstadt der Welt, so sehen wir Reklame und öffentliche Ankündigungsmittel überall, wohin das Auge schweift. Wir sehen sie auf allen Straßen und Plätzen, wir sehen sie in den Annoncenteilen der Zeitungen und Zeitschriften, wir sehen Zettelverteiler auf den Straßen, Anschläge in den Bahnhofshallen, in den Untergrundbahnen; an jedem Giebel, an jeder Hauswand, auf allen Dächern sehen wir Reklame. Die Straßenbahnbflltfts,' die Salzfässer und Bieruntersätze sind nicht von ihr verschont; es gibt kaum einen Ort in Stadt und Land, der nicht Reklamezwecken dient, und so finden wir Reklame: ausgeprägt in künstlerischer Form im Plakat, ausgeprägt in technischer Form, vom Geiste der Elektrizität erfaßt, in Hunderten von Farben blitzend und blinkend auf den Dächern der Häuser, im elektrischen Reklameschild. Die Reklameetats der Großfirmen zählen nach Millionen von Mark. Für elektrische Reklameschilder und Beleuchtungen werden Summen angelegt, die ein Vermögen bedeuten, und gute Reklameideen werden ebenso hoch bezahlt, wie wichtige technische Erfindungen und Patente. Die Kosten, die jährlich in der Welt für Reklame

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aufgewendet werden, sind, da jede Statistik fehlt, nur schwcrlich zu schätzen; man kann aber ohne Übertreibung annehmen, daß sie nach Hunderten von Millionen zählen. Tausende von Hirnen sinnen über erfolgreiche Werbemittel und Methoden, Künstler und Techniker arbeiten für die Reklame, und Zehntausende von Menschen stehen in ihren Diensten. Jede Kunst und jede Technik wird von der Reklame benutzt. Die Reklame ist ein notwendiger Faktor im politischen und merkantilen Leben der Völker geworden. Sie beherrscht uns täglich und stündlich. In einer ebenso temperamentvollen wie lebenswahren Schilderung des Berliner Lebens, die vor einigen Jahren in einer großen Zeitung erschien, heißt es u. a.: „Keiner Erscheinung hat das heutige Berlin mehr genutzt als der Reklame, keine hat Berlin mehr nach ihrem Bilde geformt. Die breiten Anschlagsflächen der Untergrundbahnhöfe sind zu Spiegeln seines eigensten Lebens geworden. Was Berlin selbst immer wieder für sein Bezeichnendes erklärt, was seine Zeitungen, seine Romanschriftsteller, seine Zeichner preisen und verherrlichen, diese gasig schimmernde und zitternde Schicht mondänen und demimondänen Lebens dominiert im Berliner Plakat, und das Plakat wiederum ist das eigentliche Berliner Reklamemittel. Hier hat diese Stadt, die im Eiltempo arbeitet und genießt, etwas Neues geschaffen. Die Leuchtfeuer der Reklame, die jede Nacht in der Friedrichstadt die Dächer entflammen, sind massenhaft. Man sieht rotleuchtende Messengerboys, deren jeder einen Schubkarren mit einem Buchstaben der zu preisenden Zigarettenfirma rund um das Dach eines Hauses vor sich herschiebt. Siebenfarbige Räder rotieren, es schießen Pfeile auf, es flammen Konturen, Zeichen für Zeichen, Zeile für Zeile erhellt sich, ein Frauenkopf erscheint oder ein Sektglas. Man sieht das wohl in allen großen deutschen Städten, nur die Massenhaftigkeit ist in Berlin." Wir wollen nun sehen, wie die Reklame in den letzten Jahrzehnten aus Kleinem herausgewachsen ist, wie sie entstanden ist, was die Reklame im wirtschaftlichen Leben bedeutet, und wie sie wirtschaftlich organisiert ist. Unseren Betrachtungen sind hauptsächlich deutsche und vor allen Dingen Berliner Verhältnisse zugrunde gelegt. Wir werden uns aber im wesentlichen nur mit kommerzieller Reklame beschäftigen können. Sie werden sich auch hier mit kurzen Hin-

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weisen und Schlagworten begnügen müssen, denn zur ausführlichen Erörterung unseres Themas ist die kurze Stunde, die uns zur Verfügung steht, nicht ausreichend. Von Reklametechnik, von Reklamepsychologie, von ideeller, von politischer Reklame, von Reklame und ihren Auswüchsen, vom Einfluß der amerikanischen Reklame auf die deutsche kann ich Ihnen leider nichts erzählen. Hierzu wäre, um gründlich zu sein, eine Serie von Vorträgen, ein Jahreskolleg in der Handelhochschule notwendig. Ich würde es im Interesse der Reklamewissenschaft als erfreulich begrüßen, wenn dieser heutige Vortrag hierzu Anregungen geben könnte. Die kommerzielle Reklame mit dem ausdrücklichen Zweck, Wirtschaft und Wirtschaftsleben zu fördern, Absatzgebiete zu eröffnen, und überhaupt das geschäftliche Leben zu beeinflussen, ist in ihrer ausgedehnten Form, die uns täglich zu Gesicht kommt, erst ein Kind der letzten Jahrzehnte. Reklame oder öffentliche Ankündigungen waren natürlich stets zu finden, wo wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt wurde. In Pompeji werden an den Steinmauern der zerfallenen Häuser Malereien gezeigt, die auf Bäcker und Fleischer hinweisen, Ankündigungen für Herbergen hat es immer gegeben. Ausrufer, die Werbetrommel und die Zunftschilder spielen in den vergangenen Jahrhunderten eine große Rolle. Die Embleme und Schilder der Gewerke und Zünfte waren im Mittelalter wichtige Ankündigungsmittel; ein Geselle z. B., der von einer Stadt zur anderen wanderte, mußte die Zunftschilder der Städte, die er besucht hatte, schildern können als Beweis dafür, daß er die Orte auch durchwandert hatte. In einer kulturhistorischen Studie von Behr, erschienen im Jahre 1880, in der die Verhältnisse in einer deutschen Kleinstadt — es ist Kassel — im Jahre 1820 geschildert werden, findet sich die folgende Bemerkung über Reklame: „Noch wenig entwickelt war die Reklame. Zwar hatte man schon Schauläden an den Fenstern, aber sie waren von bescheidener Einrichtung, und niemand dachte daran, durch kolossale Spiegelscheiben und prachtvolle Warenauslagen dem Publikum zu imponieren. „Öffentliche Anschläge, die an den Straßenecken gemacht werden — denn die Litfaßsäulen sind erst seit 1867 eingeführt —, kamen nur zu Meßzeiten für Sehenswürdigkeiten vor. „Aber auch die Reklame durch die Zeitungen wurde nicht wie

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in der gegenwärtigen Weise (dieser Artikel erschien im Jahre 1888) betrieben. Wohl machte derjenige, welcher ein Geschäft eröffnete oder sein Geschäftslokal verlegte, sowie auch der, welcher soeben eine neue preiswürdige Sendung von Waren empfangen hatte, dies durch die Zeitungen bekannt. Auch fremde Kaufleute, welche die Messe beziehen wollten, pflegten dies durch die Zeitungen anzukündigen." Als weiterer Beweis dafür, daß sich die Reklame erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt und vervollkommnet hat, diene, daß im Jahre 1864 zum ersten Male in einem belehrenden Lexikon, im Brockhaus, der Reklame Erwähnung getan wird. Als Erklärung finden wir die Worte: „Reklame heißt im Sprachgebrauch der neuern franz. Journalistik ein kleiner Artikel, der mit den Neuigkeiten und vermischten Nachrichten in den Hauptteil des Journals eingerückt wird und das bezahlte Lob eines gewöhnlich in demselben Blatte weiter hinten angezeigten Buches, Kunstgegenstandes usw. enthält. Die schlechtesten Bücher und Kunstsachen bekommen oft lobpreisende Reklame. Diese Rubrik der heutigen Zeitungen gehört eben nicht unter die erfreulichsten und macht sich über die Gebühr breit. Die Scharlatanerie des Reklamewesens entspricht ganz der Marktschreierei der Annoncenwirtschaft. Auch in Deutschland hat sich der Ausdruck und die Sache eingebürgert." Die Bedeutung der Reklame muß aber in den nächsten Jahren noch nicht sonderlich groß in Deutschland gewesen sein, denn im Jahre 1886, also zu einer Zeit, wo unsere Industrie und unser Handel bereits eine Rolle auf dem Weltmarkte zu spielen anfingen, 16 Jahre nach Beendigung des glücklichen Krieges von 1870, berichtet der Brockhaus kurz: „Reklame französisch, empfehlender Artikel in einer Zeitung, siehe auch Annonce", und unter der Bezeichnung „Annonce" ist dann darauf hingewiesen, daß Annonce eine Anzeige von geschäftlichem Charakter ist, die Angebot oder Nachfrage vermittelt. Es wird dann von der Bedeutung der Annonce mit der Entwicklung der Produktion und des Verkehrs gesprochen; ihre volkswirtschaftliche Wichtigkeit für die Erleichterung des Absatzes sei nicht bestritten, in ihrer raffiniertesten Ausbildung, so heißt es weiter, wird die Annonce dann zur Reklame, die teils in grob-marktschreierischer, teils auch in feiner, auf die Überraschung des Publikums berechneter Form auf-

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tritt. Als Reklame bezeichnet man übrigens auch Anpreisungen außerhalb der Zeitung durch Prospekte, Anschläge usw." Meine Damen und Herren! Am Anfang des 19. Jahrhunderts bewegte sich das wirtschaftliche Leben in Deutschland noch in einem sehr handwerksmäßig patriarchalischen Kreise. Die Verkehrsmittel waren gering, die Postverbindungen, soweit sie überhaupt bestanden, waren schlecht, der Händler oder Fabrikant pflegte seinen Absatz nicht in der Welt draußen bei einer Anzahl Kunden oder Leuten, die er persönlich nicht kannte, zu suchen, sondern er verkaufte und handelte mit denen, die in der Nähe seines Heimatsgebietes wohnten. E s fand einerseits Markt- oder Meßhandel, andererseits absoluter Lokalhandel statt. Hierzu bedurfte es keiner ausgedehnten Werbetätigkeit. Wer etwas brauchte, kannte die Stelle, an der die Ware zu finden war. Es waren noch die idyllischen Zeiten, in denen man Zeit hatte, in denen der Verbraucher den Lieferanten aufsuchte, und in denen der Sohn im allgemeinen dort einkaufte, wo schon der Vater seinen Bedarf gedeckt hatte. Ich kann das hier im einzelnen nur andeuten. Es bestanden um diese Zeit enge wirtschaftliche Verhältnisse, doppelt beengt durch die deutsche Kleinstaaterei mit ihren Beschränkungen durch Zoll-, Münz- und andere Gesetze, es war für die Volkswirtschaft eine Zeit ohne Großzügigkeit und ohne großen Blick, ohne Drang nach Erweiterung; da brauchte man keine Werbemethoden. Wo sind nun die treibenden Kräfte, die das, was wir Reklame nennen, hervorgebracht, gefördert und ausgedehnt haben ? Wo finden wir die Gründe für die ungeheure Bedeutung und den Umfang in unserem heutigen wirtschaftlichen Leben ? Einzelne Gesichtspunkte wollen wir mit großen Strichen zeichnen. Der frühere Lokalhandel oder Meßhandel wurde im Laufe der Zeit durch die Verbesserung der Verkehrsmittel: durch die Eisenbahn, später durch das Automobil, durch die elektrische Bahn, durch das Telephon, den Telegraphen, durch die Einführung der Gasbeleuchtung und später der elektrischen Beleuchtung, durch die chemischen und technischen Erfindungen in seinem Charakter geändert. Was wir zusammenfassend kapitalistische Entwicklung nennen, brachte neues Leben in die geschäftliche Tätigkeit. Die glücklichen Kriege der sechsziger und siebenziger Jahre trugen zur Vermehrung der Bevölkerung und des Wohlstandes bei, die Städte wuchsen, an Stelle

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der alten Kundenarbeit und der nachbarlichen Verkehrsformen mußten notgedrungen neue Produktionsweisen entstehen. Es mußte eine anders organisierte volkswirtschaftliche Betätigung eintreten, als es bei den vorhin geschilderten engen Verhältnissen möglich war. Die Bevölkerung suchte nach neuen Methoden, nach "neuen Erwerbsmitteln. Es mußten andere Verkehrsformen entstehen. Der Übergang der landwirtschaftlichen Tätigkeit des Agrarstaates zum Industriestaate vollzog sich nach und nach und trug zur Änderung des geschäftlichen Lebens und zur Entwicklung neuer Werbemittel und neuer Geschäftsarten bei. Die Produktion in der Volkswirtschaft stieg, mit ihr die Konkurrenz unter den Fabrikanten und Händlern. Die Geschäfte bekamen mit der Ausdehnung und der Vermehrung der Bevölkerung naturgemäß einen unpersönlichen Charakter. Der Kunde mußte gesucht werden. Der Warenabsatz wurde zum Problem. Eine Fabrik stellte z. B. große Mengen eines bestimmten Gegenstandes her. Als Abnehmer kommen Stadtbewohner in ganz Deutschland in Frage. Die Fabrik ist nicht in der Lage, mit jedem Verbraucher in persönliche Verbindung zu treten, sie kann nicht jeden einzelnen Verbraucher aufsuchen und für den betreffenden Gegenstand interessieren, auch wenn sie Hunderte von Reisenden unterhält und Tausende von Briefen täglich zur Post gibt. Der Fabrikant war nicht mehr fähig zu wissen, wer seine Ware verbrauchte, und wer sie verbrauchen konnte. Es mußten also Mittel gefunden werden, die unpersönlich Käufer und Interessenten für den Gegenstand suchten, der erworben werden sollte. Und noch ein paar andere Beispiele: Der Inhaber eines vierstöckigen Warenhauses konnte seine Kundschaft nicht mehr persönlich an der Eingangstür empfangen und herumführen, und dem Besitzer einer Konservenfabrik war es in letzter Linie gleichgültig, wer die Konservenbüchsen, die seiner Fabrik entstammen, öffnete, und wer ihren Inhalt verzehrte. Und so wurde das Unpersönliche des geschäftlichen Verkehrs, der nach und nach einsetzte, eine der hauptsächlichsten Ursachen für die ungeheure Ausdehnung, die die Reklame in unserer Zeit genommen hat. Diesen Gesichtspunkten ist klar zu entnehmen, daß der geschäftliche und wirtschaftliche Verkehr, um erfolgreich zu sein, sich der ständig steigernden produktiven und industriellen Tätigkeit anpassen mußte, und so wurde aus den veralteten Werbemethoden und aus der Reklame nicht nur ein gelegentliches Anzeigen in Zeitungen,

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ein zufälliges Herausschicken von Offerten und Briefen, sondern es wurde eine methodische Form kaufmännischer Vertriebsart, es wurde eine methodische und organisatorische Einrichtung im geschäftlichen Betriebe. Wer überhaupt in der Lage sein wollte, seine Produkte bekannt zu machen, mußte Reklamearbeit leisten. Der Kaufmann durfte nicht nur Bücher führen und fabrizieren, sondern mußte neue Reklameideen oder Werbemittel erfinden und für seine Zwecke benutzen, und so wurde jedes Mittel der Ankündigung gesucht und benutzt. Es kam eine aggressive Tätigkeit in das geschäftliche Leben. Ihr Ausbau ist die verstärkte Form jeglichen Werbemittels. Reklame wurde nicht eine geschäftliche Einrichtung von nebenher, sie wurde eine fachwissenschaftliche Vertriebsart im Wirtschaftsleben. Reklame mußte studiert, beobachtet und ergründet werden. Reklame wurde Wissenschaft. Nun kann jemand erwidern: Wenn auch zugegeben wird, daß Reklame sich aus den Zeitverhältnissen heraus entwickelt hat, so ist damit noch nicht ihre Bedeutung und ihre Notwendigkeit erwiesen, und worin — wir kommen hierbei zum zweiten Teil meines Vortrags — besteht denn ihre Bedeutung ? Denn ihr Bestehen allein ist noch kein vollgültiger Beweis für ihre Bedeutung. Da möchte ich Ihnen einen ebenso kurzen (besonders im Interesse der Zuhörer) wie klaren Beweis liefern, auch wenn Ihnen die Beweisführung zunächst etwas ungewöhnlich erscheinen mag. Nehmen wir an, es gäbe keine Reklame im wirtschaftlichen Leben, es gäbe keine Annoncen in den Zeitungen, keine Anschläge in den Untergrundbahnen, keine Plakate, keine elektrischen Reklameschilder; Anschlagssäulen wären eine unbekannte Einrichtung, kurz und gut, es wäre nichts, was irgendwie den Charakter der Reklame oder der Ankündigung besäße. Was wäre dann ? Wir würden zunächst nicht wissen, wie wir unser Leben einrichten sollten. Eine Hausfrau würde die billigen Quellen für Lebensmittel nicht kennen. Wer Stiefel kaufen wollte, würde nicht wissen, wo das nächste Schuhgeschäft ist. E s lassen sich unzählige ähnliche Beispiele anführen. Aber malen wir uns dieses Bild noch weiter aus. Zeitungen könnten überhaupt nicht mehr erscheinen, denn ohne Einnahmen aus Inseraten und Annoncen, also ohne Einnahme aus Reklame, kann keine Zeitung bestehen. Zahllose Industrien der Papier-, Metall- und Glasbranche könnten ihre Arbeiter nicht mehr beschäftigen. Denken Sie sich Berlin ohne

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Anschlagsäulen und ohne Zeitungen! Es wäre ein Dilemma sondergleichen. Leben Sie sich, meine Damen und Herren, in dieses Bild, so absurd und ungewöhnlich es auch erscheinen mag, einen Moment ein, Sie werden selbst empfinden: ohne Werbemittel, ohne öffentliche Ankündigung —Finsternis, mit Reklame—Helligkeit und Licht! Wenn nun durch dieses Beispiel noch nicht genügend erwiesen wäre, daß die Bedeutung der Reklame in unserem Leben eine außergewöhnliche sei, so werden wir uns der Bedeutung weiter bewußt werden, wenn wir uns die Absicht klarmachen, die einer Reklame zugrunde liegt. Nehmen'wir an, daß eine Erfindung von Bedeutung zur Kenntnis von 60 Millionen Deutschen gebracht werden soll. Kann es anders als durch unpersönliche Reklame und Ankündigungsmittei geschehen? „Wie kann die Welt wissen, daß du etwas Gutes zu verkaufen hast, wenn du den Besitz desselben nicht anzeigst?" ist der Ausspruch des berühmten amerikanischen Milliardärs Vanderbilt. Reklame ist in der Lage, die Kenntnis von irgendeiner Sache, von irgendeiner wirtschaftlichen Einrichtung, von einer Geistesrichtung auf leichte und bequeme Weise, auf eine Weise, die dem Bequemlichkeitsdrang des Publikums—und das ist wichtig für die Bedeutung— entgegenkommt, zu verbreiten. Die Reklame kann Althergebrachtes zerstören, Neues aufbauen, sie kann, wenn wir die ungeheure politische Reklame bedenken, die uns in diesem Kriege überall entgegentritt, die Gedanken der Bevölkerung nach einer bestimmten Richtung hin beeinflussen. Sie kann also kulturfördernd, aber auch kulturhemmend wirken. Der alte Standpunkt, daß erst die Nachfrage und dann der Bedarf eintreten muß, wird durch die Reklame verändert. Richtige und groß angelegte Reklame kann den Bedarf und das Bedürfnis wecken oder hervorzaubern; es kann Nachfrage durch Reklame geschaffen werden, und so wird die Reklame zur produktiven Kraft. Dort aber, wo Reklame, sagt Dr. Mattaja, der sich vorbildlich mit Reklame beschäftigt hat, mit genügender Stärke einsetzt, wirkt die Reklame in der Richtung einer Verfeinerung der Bedürfnisse. Weiterhin gibt die Reklame — wir sehen das aus jeder Tageszeitung, um nur ein Beispiel zu nennen — eine Übersicht über die Lebens- und wirtschaftlichen Marktverhältnisse; sie vergrößert somit den Gesichtskreis der Gesamtheit. Wir sehen weiter eine wechselseitige Bedeutung, die, im kommerziellen Sinne gesprochen, die Interessen der Käufer und Verkäufer gleichmäßig fördern kann. Annonce,

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Reklame, Anzeige, Empfehlung sind die Schlagworte im Hin und Her des heutigen Verkehrs. Reklame vermittelt Angebot und Nachfrage. Ein amerikanischer Reklamefachmann hat dies einmal treffend mit den Worten gekennzeichnet: „Die großen hauptstädtischen Tagesblätter von heute stehen in demselben Verhältnis zu den Kaufhäusern wie die Dynamomaschine zum Motor: Die Zeitung treibt, das Kaufhaus ist getriebene Kraft." Die Bedeutung, die die Warenhäuser und Abzahlungs- und Versandgeschäfte heute im wirtschaftlichen Leben haben, rührt nicht zum mindesten aus dem Umfang ihrer Reklame und der geschickten Ausnutzung von Reklamemöglichkeiten her. Aber hiermit ist die Bedeutung der Reklame noch nicht erschöpft. Ich deutete vorhin schon an, daß Millionen für Reklame jährlich ausgegeben und umgesetzt werden. Wir können heute, wie einem jeden von uns bekannt, Reklame mieten, kaufen, leihen, fabrizieren und fabrizieren lassen. Ungeheure geldliche Werte werden durch Reklame umgesetzt, Fabrikationen betrieben, Menschen ernährt. Reklame-Institute, Annoncenexpeditionen usw. verdanken ihre Existenz lediglich der Reklame, und es ist eine bekannte Tatsache, daß Tages- und Fachzeitungen nur dann ein lukratives Dasein führen können, wenn der Annoncenteil einen bestimmten Umfang hat. Denken Sie daran, daß es mehr als 8000 Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland gibt, die Annoncenteile besitzen. Die großen Aufwendungen, die Zeitungen für den redaktionellen Teil, für das Feuilleton, also für die Volksbildung und Kenntnis der Völker untereinander, machen, werden nur durch die Einnahmen aus den Annoncen gedeckt, und wenn ich Ihnen verrate, daß die Verpachtung der Flächen auf Straßen- und Stadtbahn für Reklame in Berlin jährlich mehr als 500 000 Mark Pachtsumme einbringt, daß eine Zigarettenfirma für ein elektrisches Reklameschild mit einer neuen technischen Idee 50 000 Mark auf einmal gezahlt hat,undhinzufüge, daß dies nur ein Beispiel unter vielen ist, so wird ein jeder zugeben, daß die volkswirtschaftliche Bedeutung der Reklame eine eminente ist. Die Reklame wird ein Aktivposten in der wirtschaftlichen Bilanz eines Volkes. Denken Sie weiter an die Bedeutung der Ansichtspostkarten und. Siegelmarkenindustrie, die nicht nur wirtschaftliche Werte geschaffen, sondern auch durch ihre Vereinigung mit der Kunst die Bildung des Volkes gefördert hat, so werden wir sehen, daß auch hier eine mannigfaltige,

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eine wechselseitige Bedeutung der Reklame in unserem Leben festgestellt werden kann. Einen Maßstab für die Bedeutung der Reklame im wirtschaftlichen Leben in Berlin können wir auch an der Entwicklung der Litfaßsäulen sehen. Ich will Ihnen hier gegen meine sonstige Gewohnheit ein paar Zahlen geben, die die Bedeutung der Reklame am besten illustrieren. Im Jahre 1885 bestanden in Berlin 700 Anschlagsäulen, 1891 1100, und jetzt gibt es in Groß-Berlin 2245. Die 1550 Säulen im Weichbilde der Stadt Berlin verteilen sich ziemlich auf alle Straßen und Nebenstraßen und stehen so verzweigt, daß zu einer einmaligen Besichtigung derselben an der Hand eines Verzeichnisses bei höchstens fünf Sekunden Zeit pro Säule eine Autofahrzeit von sieben Tagen erforderlich wird. Wollte man ein Plakat in Größe 48/72 cm als normal annehmen, so könnten die 2245 Säulen täglich 80 800 Exemplare aufnehmen; man könnte also, theoretisch gesprochen, 80 000 mal ein Bild, einen Gedanken täglich bekannt machen. Die Bedeutung der Reklame könnte weiter festgestellt werden, wenn wir die Reklamearten besprechen würden. Hierauf kann ich aber leider im einzelnen nicht eingehen. Nur auf einen Punkt, welcher mir wichtig erscheint, möchte ich noch aufmerksam machen. Dieses ist die Wechselbeziehung zwischen der Kunst und Reklame und insbesondere der Einfluß der Kunst auf das Plakatwesen. Die Reklame hat schon seit Jahrzehnten Künstler und Zeichner magisch angezogen und sich bedeutende Künstlernaturen an ihren Wagen gekettet. So wurden Plakate, Bilder, Zeitschriften, Buchzeichen von ersten deutschen und ausländischen Künstlern geschaffen. Druckte man früher nach alten und einfachen Methoden Abbildungen, Plakate und dergleichen, so fing man nach und nach an, sie künstlerisch auszustatten, sie nach künstlerischen Gesichtspunkten zu entwerfen, die Farbenwirkung zu studieren. Man schrieb Plakatwettbewerbe aus. Wenn ich an die Werkbundausstellung, an die Leipziger Bugra und an die Bestrebungen der Karlsruher Künstlerschaft erinnere, so sehen wir hieran die Wechselwirkung zwischen Reklame und Kunst. Wenn wir Zeit hätten, wäre es köstlich, diesen Gedanken im einzelnen weiter auszuführen, aber so muß uns die Feststellung dieser Tatsachen genügen. Bei der Erörterung der Bedeutung der Reklame müßten auch ihre Schattenseiten zur Sprache kommen, die auf unwahrer und unehrlicher Benutzung beruhen. Natürlich wird viel unwahre und un-

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lautere Reklame, viel Reklameschwindel getrieben, nicht zum Nutzen des Publikums. Es ist aber nicht Sache des heutigen Vortrages, den Reklameschwindel zu charakterisieren. Und so können wir zusammenfassend sagen, daß die Bedeutung und Wirkung der Reklame eine mannigfaltige ist. Sie fördert und erweckt Bedürfnisse, sie fördert Handel und Gewerbe und hierdurch das Wirtschaftsleben der Völker, sie nützt dem Käufer, dem Verkäufer und dem Reklameunternehmer. Sie wirkt erziehlich und kulturfördernd, sie wird durch den Einfluß der Kunst ein Mittel zur Hebung des Schönheitssinnes und des Kunstverständnisses, sie wird durch die Beeinflussung der Völker zu einer sozialen und geistigen Macht. Mit der großen Bedeutung und Ausdehnung innerhalb der Volkswirtschaft hat sich die Reklame auch organisatorisch entwickelt. Man kann Reklame, wie ich schon sagte, kaufen, leihen, fabrizieren, vermitteln. Wie man auf anderen Gebieten, z. B. im Buchhandel, Sortiment, Verlag oder Antiquariat unterscheidet, so kann man auch bei der Reklame mehrere organisierte Gruppen feststellen, auf der einen Seite die Verbraucher, auf der anderen Seite die Veranstalter und Hersteller und als Bindeglied zwischen beiden die Vermittler und Berater. Diese Organisation wird umrahmt in Deutschland von gesetzlichen Formen, von bestimmten Gesetzen. Da sehen wir zuerst das Reichsgesetz vom 7. VI. 1909 zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs, das den anständigen Geschäftsmann gegenüber unlauterem Wettbewerb und skrupelloser Reklame schützt. Es sorgt für Richtigkeit der Angaben in der Reklame, verhindert marktschreierische und falsche Reklame und regelt auch. Ausverkäufe. Weiter gehört hierher auch das Gesetz zum Schutz der Warenbezeichnungen vom 12. V. 1894, das sog. Markenschutzgesetz, das schützend für die Bezeichnungen von Waren usw. eintritt und Namen wie Odol, Nitra, Osram vor Mißbrauch schützt. Es kann an dieser Stelle nur der Vollständigkeit wegen erwähnt werden, die Kürze der Zeit gestattet kein weiteres Eingehen. Ferner sind' bedeutungsvoll die Gesetze, die sich auf die Verunstaltung landwirtschaftlich hervorragender Gegenden beziehen. Diese Verordnungen schützen landschaftlich schöne Gegenden und Ortschaften gegen Ausschreitungen der Reklame. Die Landespolizeibehörden können Reklameschilder und sonstige, das Landschaftsbild verunzierende Aufschriften und Abbildungen verbieten oder verhindern. Es kann hier keine An-

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sieht über ihre Zweckmäßigkeit und die Folgen, die sie gezeitigt haben, geäußert werden. Es sei lediglich erlaubt, noch von den Straßenordnungen und Ortsstatuten zu sprechen, die der Polizeigewalt in den Städten die Berechtigung geben, Reklame zu gestatten oder zu verbieten. Grundlegend für die städtischen Bestimmungen sind stets die Regelung des Verkehrs und die Vermeidung von Störungen im öffentlichen Verkehr durch die Reklame selbst. Hierbei sind namentlich in Berlin die Ansichten viel auseinandergegangen, die Einführung der letzten, jetzt gültigen Straßenordnung hat mancherlei Fehden zwischen Reklameproduzenten und Polizei zur Folge gehabt. Im großen und ganzen können wir hier in Berlin der Polizei das Zeugnis ausstellen, daß sie nicht hemmend in die Entwicklung der Reklame-Industrie eingegriffen hat, und daß sie uns, was vom künstlerischen Gesichtspunkt zu begrüßen ist, vor groben Auswüchsen bewahrt hat. Und nun zur wirtschaftlichen Abwicklung der Reklame. Auf der einen Seite finden wir. die größten Reklameverbraucher oder Reklamekäufer, — wir denken hierbei in erster Linie an die Zigarettenindustrie, an gewisse Lampen-, Lebensmittel- und chemische Fabriken, die, wenn man es aussprechen darf, reine Reklame-Industrien sind. Ebenso wie chemische Fabriken Chemiker, elektrotechnische Fabriken Ingenieure, beschäftigen große Reklamerverbraucher Reklamechefs oder, um ein jetzt beliebtes deutsches Wort zu verwenden, Werbeleiter. Diese Reklame-Ingenieure sind die Einkäufer der Reklame. Sie müssen tüchtige Fachleute sein, die nicht nur Talent und Geschmack auf den eigensten Gebieten der Reklame, sondern auch Sachkenntnis und Erfahrung in den Artikeln besitzen, für die sie Reklame machen wollen. Sie müssen ihre Absatzgebiete kennen, aber auch mit der Reklame-Herstellung, den Druckverfahren, der Verbreitung der Zeitungen usw. bekannt sein. Die Tätigkeit dieser Reklame-Ingenieure ist für die großen Reklameverbraucher von ungeheurer Wichtigkeit; ein gut angelegter Reklameplan bedeutet für die geschäftliche Ausbreitung eines Unternehmens ebenso viel, wie die besten Fabrikationsmethoden. Als nächstes Glied in der organisatorischen Kette ist jede Tätigkeit zu bezeichnen, die sich mit der Reklamevermittlung beschäftigt, also die Tätigkeit der Annoncenakquisiteure, die Annoncenexpeditionen, Adressenbureaux und anderer Vermittler für die verschiedensten Zweige der Reklame. Der Annoncenakquisiteur ist ein Provisions-

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reisender, wie er in den meisten Branchen besteht, teils übt er seine Tätigkeit als freien Beruf, teils als Angestellter bei einer Zeitung, einer Annoncenexpedition oder einem anderen Vermittlungsinstitut aus. Die Arbeit gerade dieser Akquisiteure ist schwer; die Vermittlungstätigkeit spielt eine ungeheure Rolle im Reklamewesen, sie ist anerkannten Schwierigkeiten ausgesetzt. Die großen Annoncenexpeditionen stellen wohl das wichtigste wirtschaftliche Glied im Leben der Reklame und im Leben der Zeitungen dar. Mit ihrer Begründung setzt der Aufschwung im Inseratenwesen ein. Die erste Annoncenexpedition entstand in Deutschland im Jahre 1855 und wurde von Haasenstein & Vogler gegründet. Dann folgte 1867 die von Rudolf Mosse ins Leben gerufene Annoncenexpedition, die einem jeden in Berlin bekannt ist. Zunächst waren die Annoncenbureaux nur Kommissionsgeschäfte, Vermittlungsstellen, die den Verkehr zwischen dem annoncierenden Publikum und dem Publikationsorgan vermittelten, die Bestellungen auf Zeitungsanzeigen sammelten. Sie gelten heute noch als Spediteure und nicht als Kaufleute im Sinne des Gesetzes. Später trat dann die Beratung des Publikums hinzu, die zunächst nur eine Art Nebenzweck war, sich aber mit der Zeit zu einer wichtigen Aufgabe entwickelte. Im Jubiläumskatalog für 1892 der Firma Rudolf Mosse plaudert der Begründer selbst über die Motive, die ihn zur Gründung seiner Zeitungs-Annoncenexpedition veranlaßten. „Durch die Annoncenexpedition sollte das Publikum der Mühe des direkten Verkehrs mit den Zeitungen überhoben werden, es sollte vor allen Dingen richtige und sachkundige Informationen über die Bedeutung und Verbreitung der einzelnen Blätter erhalten. Kurz, die Annoncenexpedition sollte ein unparteiischer Berater des inserierenden Publikums werden. Hand in Hand mit den Erleichterungen des Verkehrs, der durch mein Institut geschaffen wird, ging die Kostenersparnis, die durch die Zentralisation der Reklame dem einzelnen Inserenten erwuchs." Die großen Annoncenexpeditionen konzentrierten schließlich die Annoncenteile der Zeitungen in ihre Hände dadurch, daß sie diese Annoncenteile pachteten oder selbst Zeitungen gründeten, Tagesblätter und Zeitschriften unter ihre Kontrolle brachten. Heute ist die Annoncenexpedition ein unentbehrlicher Teil im wirtschaftlichen Leben geworden, ohne den wir uns einen Verkehr mit den Zeitungen im In- und Auslande nicht mehr denken könnten, hierin liegt der Gewerbliche Einzelvorträge.

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Beweis für ihre geschäftliche und wirtschaftliche Notwendigkeit und Bedeutung. Es entstanden weiter Reklame-Institute, die Pläne für Reklame im allgemeinen gegen Entgelt ausarbeiteten, die Reklame entwarfen. Giebel vermieteten und jegliche Form von Reklame vermittelten. So finden wir Vermittler, die bestimmte Flächen in Straßen- und Eisenbahnen pachten und weiter vermieten. Als typisches Beispiel f iir derartige öffentliche Reklamevermittlung sind, um bei den Berliner Verhältnissen zu bleiben, die Litfaßsäulen hervorzuheben. Deshalb soll auf das Berliner Anschlagwesen ausführlich noch einmal eingegangen werden. Ich gebe in Nachstehendem wörtlich die Mitteilungen, die mir die Firma Nauck & Hartmann liebenswürdigerweise über die Organisation des Berliner Anschlagwesens zur Verfügung gestellt hat, wieder: „Die 1550 Säulen sind in 97 Reviere eingeteilt, jedes mit 16 Säulen, und werden von ebensoviel Anklebern bearbeitet. Anschläge an alle Säulen kommen weniger vor, diese erstrecken sich zumeist auf verschiedene Stadtteile oder auch über Berlin sprungweise verteilt, je nach dem Zweck der einzelnen Reklame. Größen und Aufnahmen wechseln täglich und erfordern jeden Tag andere Verteilungsdispositionen; mit geringen Ausnahmen muß deshalb täglich ein Neuanschlag erfolgen. Nachdem für jedes Plakat ein Verteilungsplan aufgestellt und der Verbleib verbucht ist, gelangt das ganze Material durch besondere Hilfskräfte zur Verteilung an die entsprechenden Revierfächer. Die Anklebcr, welche sich sämtlich an einer Aufgabestelle versammeln, haben nur nötig, das Plakatmaterial ihren Fächern zu entnehmen und es sich für die resp. 16 Säulen zu legen. Jetzt können diese die Säulen bei Wind und Wetter bekleben, morgens zwischen 2 und 3 Uhr wird damit begonnen. Schwache Kräfte erhalten einen Reservemann, der sich dabei zugleich ausbildet. Eine Bestimmung über den Ort und die Art des Anschlagens steht keinem Ankleber zu, der Verbleib jedes Plakats ist buchmäßig jederzeit nachweisbar. Durch den erwähnten täglichen Plakatwechsel und die umfangreiche Verteilungsart kommt es, daß eine Säule der anderen inhaltlich nicht gleich ist. Stehen an manchen Straßenzügen mehrere An-

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schlagsäulen, so tragen diese nicht etwa die gleichen Plakate; eine einzige Säule wäre nicht imstande, das Material aufzunehmen. Die Preise für die einzelnen Anschlagsäulen schwanken je nach Größe und Art der Anordnung." Nach ähnlichen Systemen sind die Plakatierungsanstalten, die sich mit dem Vermieten von Flächen in Stadt- und Straßenbahnen beschäftigen, organisiert. An dieser Stelle muß auch die Tätigkeit der Adressenbureaux erwähnt werden, die Adressen aller Art, die für irgendeinen Zweck gebraucht werden, sammeln und abgeben. Auch die Institute, die Reklamegegenstände wie Aschenbecher, Kalender oder andere Gegenstände verteilen, verschicken und Zeitungsausschnitte sammeln, üben eine reklamewirtschaftliche Tätigkeit gegen Entgelt aus. Als nächstes Glied sind die Reklamehersteller zu nennen, die sich auf allen Gebieten finden, da, wie ich schon eingangs erwähnte, es kaum einen Industriezweig gibt, der sich nicht der Fabrikation von Reklamegegenständen bemächtigt hat, also der Maler, Drucker, Kunstdrucker, Metall-, Glas-, Geschenkartikelfabrikant usw. Der Reklamehersteller wird aber auch zum Unternehmer. Der Maler, der früher nur Plakate an Wände malte, mietet selbst die Reklameflächen und vermietet und unterhält die bemalte Fläche. Er übt also eine mehrfache wirtschaftliche Tätigkeit durch Herstellung, durch Pachtung und Vermietung aus. Hierher gehört auch das sog. elektrische Annoncenbureau, die elektrische Universalreklame, die Ihnen aus den großen Schildern auf dem Potsdamer Platz bekannt ist; dort erscheinen gegen Gebühr wechselnde Annoncen auf dem Dache eines Hauses, auch eine vielfache wirtschaftliche Tätigkeit für den Unternehmer. Aber noch andere Wirtschaftsformen sind bei der Reklame feststellbar. Sie alle kennen sicherlich die Schilder mit der Bezeichnung „Pneumatik-Stock", die ein Pneumatiklager anzeigen und beinahe in jedem Dorf zu finden sind. Ich traf einmal in einem kleinen Ort ein Automobil einer der bedeutendsten Pneumatikfabriken und hörte, daß der Insasse des Autos mit dem Eigentümer des Hauses, einem Bauern, über das Mieten einer Fläche verhandelte, und ihm schließlich als Gegenleistung für die Erlaubnis, das Schild anzubringen, ein paar Gummibälle und eine Gummimatte überließ. Mir wird berichtet, daß ein großer Teil gerade dieser Pneumatik-Stock-Schilder 4*

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auf diese Weise und nicht gegen bare Entschädigung vermietet wird. Also mitten im Großwirtschaftsbetrieb Güteraustausch in der einfachsten Form. Wichtig ist auch die Tätigkeit der Reklameanwälte und Reklameberater. Diese Reklameanwälte sind Sachverständige, üben sachverständige und beratende Tätigkeit gegen Entgeld aus, wie sie heute auf jedem industriellen Gebiete vorkommen. Ein typisches Bild für die wirtschaftliche Organisation der Reklame in Berlin gibt die Zusammensetzung der ständigen Deputation der Reklame-Interessenten, des sogenannten Reklameausschußes, der unter dem Vorsitz und der Leitung der Ältesten der Kaufmannschaft arbeitet. Der Ausschuß vereinigt alle wichtigen Elemente, die sich in Berlin mit Reklame befassen. Er übt eine begutachtende Tätigkeit aus und bespricht in seinen Sitzungen alle wichtigen Reklamefragen. Dem Ausschuß gehören an: die Vertreter der künstlerischen Interessen, die Akademie der Künste, der Verein Berliner Künstler, der Deutsche Werkbund und besonders der Verein der Plakatfreunde, auf dessen künstlerische Bestrebungen für die Ausgestaltung der Reklame und insbesondere des Plakates hingewiesen werden soll. Die Tätigkeit dieses Vereins geht darauf hinaus, die Wirkung der Plakate auf ein künstlerisches Niveau zu heben, die künstlerische Ausgestaltung des Plakates in den letzten Jahren ist hauptsächlich sein Verdienst. Weiter sitzen im Reklameausschuß die Reklameverbraucher und die ihnen nahestehenden Verbände, von denen als wichtigster der Verband der Reklame-Interessenten mit dem dazugehörigen Schutzverband der Großirserenten zu nennen ist. Es kann hier auf die Tätigkeit gerade dieser Gruppe, zu der auch der Verband der Fabrikanten von Markenartikeln gehört, mit Rücksicht auf die vorgeschrittene Zeit nicht ausführlich eingegangen werden, nur soviel, daß der Verband den Schutz und die Förderung berechtigter Reklameinteressen bezweckt und die Beseitigung von Mißständen im Reklamewesen anstrebt. Er schützt seine Mitglieder insbesondere auch gegen übermäßige Beschränkungen seitens der Polizeibehörde bei Anbringen von Reklame und hat auf diesem Gebiete durch verständige Verhandlungen viel dazu beigetragen, das Wohlwollen der Behörden zu erreichen, und Ausschreitungen in der Reklame zu verhindern. Weiter ist unter der Gruppe der Reklamehersteller, Veranstalter

R e k l a m e ; E n t s t e h u n g , B e d e u t u n g und wirtschaftliche Organisation.

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und Vermittler, die ebenfalls dein Ausschuß angehören, der Verein Deutscher Reklamefachleute zu nennen, der seine Tätigkeit auf alle Gebiete der Reklame und auf ihre Förderung ausgedehnt hat, und vor allen Dingen der Reklame als Bildungsmittel der großen Menge allgemein Anerkennung zu verschaffen sucht. Von ihm gehen auch die Bestrebungen aus, den Beruf des Reklamefachmanns in sozialer Beziehung zu heben; er strebt Berufsliochschulen zur Ausbildung von Reklamefachleuten oder Berufswerbeschulen an, wie sie im Kunstgewerbe oder im Handwerk bereits bestehen. Um einigermaßen vollständig zu sein, müssen wir auch des in Berlin besonders tätigen Verbandes der Spezialgeschäfte gedenken, der für die Ausgestaltung der Reklame der Spezialgeschäfte gegenüber der Tätigkeit der Warenhäuser eintritt. Dieser Verband hat sich auch um die Ausgestaltung der Schaufenster und ihrer.Dekoration durch Wettbewerbe und Gründungen von Fachschulen besondere Verdienste erworben. Alle diese hier gekennzeichneten Bestrebungen finden in Berlin in der oben erwähnten ständigen Deputation ihren Zusammenhalt, die als Spitze der Organisation des Reklamewesens in Berlin bezeichnet werden kann. Der Vollständigkeit halber muß auch noch auf die Organisationen hingewiesen werden, die sich in der Elektrotechnik und in der Gastechnik gebildet haben, die sog. Geschäftsstellen für Elektrizitätsverwertung oder Gasbeleuchtung. Diese Vereinigungen haben den Zweck, die Reklame der ihnen angeschlossenen Industrien auf einer einheitlichen Grundlage zu bearbeiten und für die Verwendung der Elektrizität oder des Gases Propaganda zu machen. So sehen wir in dem weiten Gebiet der Reklame, soweit ich das liier andeuten konnte, eine Fülle von organisatorischen Einrichtungen, eine Fülle von Formen der Organisation. Nun werden Sie, meine Damen und Herren, in dieser theoretischen Einführung, die ich heute die Ehre habe, Ihnen hier über das Reklamewesen zu geben, sicherlich die Hauptfrage vermissen, die gewöhnlich an die Spitze von Vorträgen über Reklame gesetzt wird. Was ist denn Reklame? Die Beantwortung dieser Frage wird mir in dieser kurzen und bündigen Form, in der ich sie hier gestellt habe, selbst schwer, obwohl ich mich viel mit Reklame beschäftigt habe. Man kann sich natürlich hier mit einigen Worten helfen, indem man Reklame kurz und gut als öffentliche Ankündigung zu irgendeinem Zwecke bezeichnet. Reklame ist aber mehr. Reklame ist im Laufe

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R e k l a m e ; Entstehung, Bedeutung und wirtschaftliche Organisation.

der Jahre über ihren eigenen Namen hinausgewachsen. Reklame ist w i r t s c h a f t l i c h e T ä t i g k e i t , Reklame ist K u l t u r a r b e i t u n d m e t h o d i s c h e s M i t t e l zur V e r b r e i t u n g von Ged a n k e n , gleichgültig, welches Gebiet sie berühren, gleichgültig, welchem Zwecke sie dienen. Hoffentlich haben diese Ausführungen dazu beigetragen, Ihre Gedanken über das ungeheure Gebiet der Reklame anzuregen, und Ihre Sinne für die Reklame und ihre Äußerungen zu schärfen. Mögen deutscher Handel und deutsche Industrie nach diesem Kriege wieder durch geschickte und geeignete Reklame nicht nur die alte Größe erreichen, sondern weiter wachsen und blühen zum Heile des gesamten deutschen Vaterlandes, sodaß wir mit gerechtem Stolze rufen können: D e u t s c h e R e k l a m e i n d e r W e l t v o r a n !

III. Der Berliner Gemüse-, Obst- und Südfruchthandel. Vortrag des E m i l

Herrn

P i a u m a n n ,

städt. Verkaufsvermittler.

Die Korporation der Kaufmannschaft von Berlin hat mich aufgefordert, über den Berliner Gemüse-, Obst- und Südfruchthandel heute an dieser Stelle zu sprechen, und ich habe mich gern dazu bereit erklärt. Ich war stets ein Mann der praktischen Tat und nicht der Rede; darum möchte ich Sie bitten, keinen wiss•; nschaftlichen Vortrag von mir zu erwarten. Lassen Sie mich aus meinen Erfahrungen schöpfen und Ihnen ein Bild zu obigem Thema entwerfen. Im Verhältnis zu anderen Großstädten ist Berlin mit Gemüse, Obst und Südfrüchten sehr gut versorgt. Es ist durch Preisnotierungen, welche sowohl die Stadt Berlin als auch der Deutsche PomologenVerein und andere Stellen regelmäßig herausgeben, festgestellt, daß das Berliner Publikum diese Lebensmittel durchschnittlich billiger genießt als andere Großstädte. Wenn diese Tatsache auch für den Durchschnitt des Jahres und für alle Obst- und Gemüsesorten zutrifft, so ist nicht ausgeschlossen, daß der eine oder andere Artikel aus natürlichen Gründen auch zeitweise eine unnormale Preissteigerung erfährt, und es gibt Momente, in denen die Berliner Hausfrau über die hohen Preise sehr erstaunt ist. Noch vor ca 20 Jahren wurde ja auch vom Publikum auf diese Lebensmittel nicht so großes Gewicht gelegt wie heute. Die Berliner Hausfrau war zufrieden, wenn sie im Frühjahr Salat, Spinat und etwas Kohlrabi zu erschwinglichen Preisen erhalten konnte. Dem Wintergemüse wurde keine so große Beachtung geschenkt, weil zu jener Zeit andere Lebensmittel reichlich zu haben waren. Während in anderen Gegenden Deutschlands, namentlich in den rheinischen Städten, sehr bedeutende Quantitäten Salat- und Sommergemüse benötigt wurden, verbrauchte früher Berlin im Verhältnis zu der Einwohnerzahl nur geringe Mengen und begnügte sich hauptsächlich mit der einheimischen Produktion, die aber auch damals bei weitem nicht so leistungsfähig war, wie es heute der Fall ist.

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Der Berliner Gemiise-, Obst- und Südfruchthandcl.

Die Propaganda, welche auch durch unsere Ärzte und die Presse Mitte und Ende der 80er Jahre einsetzte, veranlaßte das Berliner Publikum, diesen so gesunden und wichtigen Lebensmitteln mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Als ich zur damaligen Zeit für eine ausländische Firma Tomaten in Berlin absetzen wollte, fand ich keinen Käufer. Die Probekörbe, ca 20 Pfund Inhalt, die ich nach den Märkten schickte und den Gemüsehändlern gratis überließ, erhielt ich zurück, weil dafür kein Absatz war. Der Inhaber einer bekannten Delikatessenfirma sagte mir damals wörtlich: „Lieber Plaumann, an solch ein giftiges Nachtschattengewächs wird sich der Berliner Magen niemals gewöhnen." Es hat viele Jahre gedauert, bis Berlin ein Absatzgebiet für Tomaten wurde. Es war lange nicht möglieh, davon komplette Ladungen aus Italien oder Frankreich zu beziehen. Ich will über die Entwicklung des Konsums an anderer Stelle sprechen und möchte zunächst über das i n l ä n d i s c h e G e m ü s e etwas Näheres sagen. Groß-Berlin wird in der Hauptsache von Berufsgärtnereien versorgt, die an der Peripherie der Stadt von jeher Gemüse züchteten. Es sind nach meinen Feststellungen von diesen Gärtnereien ca 4000 Morgen kultiviert. Pro Morgen rechnet man auf einen Durchschnittsertrag von 200 Ztr. verschiedener Gemüsearten; das würden ca. 70—80 000 Ztr. ausmachen. Diese Quantitäten reichen bei weitem nicht aus, um Berlin zu versorgen. Es dürfte bekannt sein, welch hervorragenden Anteil die Stadt Berlin durch ihre Rieselfelder am Gemüse- und Obstbau nimmt. Es sind von der Stadt Berlin ca 10 000 Morgen erstklassiges Gemüseland verpachtet und weitere 1000 Morgen in eigener Verwaltung. Außerdem treten viele inländischen Produktionsgebiete als Lieferanten für Berlin auf, so z. B. Erfurt. Der Verein der E r f u r t e r Gemüsezüchter sendet nach Berlin bei einer normalen Ernte viele hundert Waggons Blumenkohl. Die Erfurter Gesamtproduktion von Blumenkohl betrug 1913 837 Waggonladungen; 1914 840 AVaggon'adungen, wovon Berlin die Hälfte, also ca. 400 Waggons, erhielt. Für Spargel ist der Hauptlieferant die Mark Brandenburg. Der größte Produktionsplatz ist für dieses schmackhafte Gemüse die Umgegend von Beelitz bei Potsdam. Dortselbst sind ca. 700 Morgen im Stich. Man rechnet pro Morgen ca. 15 Ztr., folglich dürfte die Produktion jährlich ca. 10000 Ztr. betragen. Soweit die Züchter nicht an

Der Berliner Gemüse-, Obst

und Südfruchthandel.

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Konserven-Fabriken liefern, wird der Spargel zum Rohverkauf nach Berlin gesandt. Außerdem erhalten wir größere Quantitäten aus der Gegend von Rüdersdorf, Gransee, Arneburg, Tangermünde, Braunschweig und Hannover. Die brandenburgisehen Gemüsezüchter haben ihre Produktion ganz dem Berliner Geschmack angepaßt. Man kann feststellen, daß alle Jahre mehr Gewächshäuser nach holländischem Muster angelegt werden, wie man sie schon vielfach im Oderbmch bei Küstrin findet. In dem Orte Gorgast bei Küstrin besteht seit fünf Jahren eine Gesellschaft, die auf Anregung des Königlichen Gartenbaudirektors Grobben gegründet wurde und von einem Holländer geleitet wird. Diese Gesellschaft hat Gewächshäuser gebaut und zieht darin hauptsächlich Frühgurken und Tomaten. Schon Ende April liefert Gorgast nach Berlin Waggonladungen Treibhausgurken. Ich bin überzeugt, daß dieses Beispiel zur Nachahnmung im großen Umfange Veranlassung geben wird, und es wird lohnen, mehr deutsches Kapital in solchen Unternehmungen anzulegen, damit wir uns immer mehr auch im Frühgemüse vom Auslande unabhängig machen. Unser Spreewaldgebiet ist für Berlin als Gemüselieferant eine Spezialität für sich. In Lübbenau und Lübben werden in der Hauptsache riesige Mengen Gurken, namentlich Einlegegurken, produziert. Ebenso bedeutend ist dort die Produktion für Zwiebeln und Meerrettich, sowie alle Sorten feine Küchenkräuter und Küchengemüse. Ferner kommt auch L i e g n i t z als eins der bedeutendsten Produktionsgebiete für Gemüse in Betracht. Dortselbst ist der Gemüsebau auf hoher Stufe, und werden auch in der Hauptsache Gurken und Zwiebeln angebaut. Liegnitz bedient nicht nur Berlin, sondern ganz Deutschland mit Zwiebeln. In der Provinz Sachsen kommt hauptsächlich die Umgegend von Magdeburg als Zwiebellieferant in Betracht. Für W i n t e r g e m ü s e , speziell für Weiß-, Wirsing-und Rotkohl, kommt in erster Linie für Berlin das Marschland in Holstein und ein Teil von Mecklenburg in Frage. In der Gegend von Wesselburen und Husum sind riesige Flächen mit diesen Kohlarten angepflanzt. Die dortige Produktion ist imstande, bei günstiger Ernte den holländischen Import stark zurückzudrängen. Das letzte Jahr brachte leider diesen Bezirken eine nur schwache Ernte. Es gehen von dort viele tausend

60

Der Berliner Gemüse-, Obst- und Südfruchthandel.

Waggons Weiß-, Wirsing- und Rotkohl nach allen Gegenden Deutschlands, aber auch Berlin sichert sich alle Jahre einen großen Teil. Das Ernten des Gemüses, das Verpacken, Einwiegen und Einzählen, mit einem Wort, die Bearbeitung für den Berliner Markt und die Zufuhr und der Absatz erfordern anstrengende Tag- und Nachtarbeit. Die Gemüsezüchter aus der Umgegend von Berlin fahren zum größten Teil ihre Produktion mit Wagen nach den Markthallen und Märkten. Tagsüber bearbeitet der Gärtner die Gemüse, am späten Abend beladet er seinen Wagen und fährt damit nach Berlin, und in der frühen Morgenstunde, im Sommer schon um 3 Uhr, beginnt der Verkauf. Dann kommen aus ganz Groß-Berlin die Wiederverkäufer mit Pferd und Wagen, Handwagen, Karren und Tragkörben und decken ihren Tagesbedarf. Es sind viele tausend fleißiger Leute notwendig, uin diese Mengen an und vom Markt wegzuschaffen. Bis ins kleinste regelt sich der Markt von selbst durch Angebot und Nachfrage, genau so wie jeder andere Handel. Jetzt während des Krieges hat man diesem Handelszweig eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, und es ist in den Tageszeitungen darüber sehr viel Unrichtiges geschrieben worden, so z. B. schreibt gestern die „B. Z.", daß e i n e Spargelstange jetzt 10 Pfennig, daß heißt pro Pfund 1.60Mk. kostet, heute sagt die T a g e s z e i t u n g , daß ein P f u n d gleich 14—16 Stangen erstklassiger Spargel 20 Pfennig kostet. Hervorheben möchte ich, daß gerade der Handel mit inländischem Gemüse nicht in den Händen von kaufmännischen Großbetrieben liegt, sondern bei selbständigen fleißigen Produzenten und Händlern, die keine Tag- und Nachtarbeit scheuen. Wenn man die Arbeitsleistung der an diesem Handel Beteiligten sieht und 30 Jahre lang beobachtet, wie ich dazu Gelegenheit hatte, so kann man nur sagen, daß es ein saures Brot ist, welches diese Leute essen. Es sind diese Existenzen auch nicht beneidenswert, wenn sie zu einem Vermögen gelangen sollten. Ein kaufmännischer Betrieb mit hoch bezahlten Angestellten und Spesen kann sich diesem Handelszweige nicht widmen, weil er dieser Gruppe gegenüber nicht konkurrieren kann. Zur Vervollständigung möchte ich auch einiges über die Zufuhr von ausländischem Gemüse sagen: Wie ich schon eingangs bemerkte, erhält Berlin in Friedenszeiten ganz bedeutende Mengen Gemüse vom Auslande. Der Import

Der Berliner Gemüse-, Obst- und Südfruchthandel.

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hat sich in den letzten 20 Jahren jährlich gesteigert, weil das Ausland sich den Bedürfnissen der deutschen Plätze immer mehr anpaßte. Das Ausland mußte wegen des erhöhten Risikos bei der langen Reisedauer sein Augenmerk mehr auf sachgemäße und kleine Verpackung legen und war in der Lage, für die Verpackung größere Ausgaben zu machen, weil es für seine Frühgemüse höhere Preise erzielte als der inländische Produzent. Italien und Frankreich sandten Blumenkohl nach Berlin nur in der Zeit vom D e z e m b e r bis A p r i l , also während des Winters, wenn es bei uns keinen Blumenkohl gab. Sobald im Herbst der Erfurter Blumenkohl aufhörte, trat Holland als Lieferant auf und sandte täglich viele "Waggonladungen nach hier. Das Berliner Publikum bekam während der Friedenszeit den ganzen Winter hindurch reichlich und billig Blumenkohl zu essen. Das Fehlen der italienischen und französischen Gemüsezufuhren hat sich während des Krieges natürlich unangenehm bemerkbar gemacht. Ich bin nicht in der Lage, genaue statistische Zahlen anzugeben, doch kann ich Ihnen sagen, daß meine Firma allein in der Zeit vom November bis April eines jeden Jahres von Italien, Frankreich und Holland ca. 600 Eisenbahn-Waggonladungen mit ungefähr sechs Millionen Köpfen Blumenkohl bezog und am Berliner Markt vertrieb. Ich habe oft während der Wintermonate Januar und Februar großen schönen Neapolitaner Blumenkohl mit 18 und 20 Pfennig pro Kopf, und zwar t ä g l i c h 10—12 Waggons davon, an den Markt gebracht. Dies alles ist während des Krieges ausgeblieben. Es durfte sich der Berliner nicht wundern, wenn es im letzten Winter keinen Blumenkohl gab oder nur zu unerschwinglichen Preisen. Für Kartoffeln kommt das Ausland für Berlin als Lieferant nur zu gewissen Zeiten in Betracht. Außer den Maltakartoffeln, die schon im Winter kamen, erhielt Berlin nur in den Monaten Mai und Juni, bis zu Beginn unserer einheimischen Ernte, Kartoffeln hauptsächlich aus Italien und Ungarn zugesandt. Berlin bezog von Italien durchschnittlich ca. 1000 Waggons neue Kartoffeln, die seit dem Kriege natürlich auch fehlen. Als Lieferant für Sommergemüse und Kartoffeln kommt Ungarn noch in Frage. Berlin bezieht von dort einige hundert Waggons Früh-

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Der Berliner Gemüse-, Obst- und Südfruchthandel.

kartoffeln und grüne Bohnen. Die Bezugszeit ist aber eine sehr kurze und dauert nur während des Monats Juni. Ferner bezogen wir von Italien und Frankreich mehrere 100 Waggons Schnittbohnen, Erbsen und Tomaten. Tomaten wurden ganz besonders stark vom Berliner Konsum verlangt. Die Einführung war, wie ich anfangs schon sagte, sehr schwierig, und es hat viele Jahre gedauert, bis sich der Berliner daran gewöhnen konnte. In den letzten Jahren war der Konsum ein ganz enormer geworden. Die Tomaten durften am Berliner Markt nicht fehlen. Im Winter kamen bedeutende Mengen von den Kanarischen Inseln, dann kamen algerische und vom Mai ab i t a l i e n i s c h e T o m a t e n . Ich schätze die Quantitäten, die Berlin in der Zeit vom Juni bis Oktober täglich konsumierte, auf ca. 1000—1200 Ztr. Ich habe selbst durchschnittlich täglich 500 Ztr. bezogen und in den Verkehr gebracht. Auch Holland lieferte in den letzten Jahren immer größere Mengen Tomaten. Während des Krieges ist Holland der Hauptlieferant und ohne Konkurrenz. Holland ist auch das Land, welches Berlin sehr frühzeitig mit frischen Gurken, Salat, Spinat, jungen Mohrrüben und Blumenkohl versorgt. Es kommen von diesen Gattungen täglich komplette Züge auch jetzt nach Berlin, und diese Sendungen hören erst auf, sobald unsere einheimische Produktion stark einsetzt. Eine Ausnahme machen die Gurken. Diese erhalten wir aus Holland von Anfang April bis Ende Oktober. In dem Monat April bekommen wir holländische Treibhausgurken und von Mai bis Oktober sogenannte Rahmengurken. Diese werden auf dem Felde gebaut, aber unter Glas auf Mistbeeten gezogen. Die Produktion dieser Schlangen- oder Salatgurken ist in Holland ganz enorm. Wie groß der Verbrauch in Berlin von diesen Gurken ist, kann man sich vorstellen, wenn ich sage, daß meine Firma seit vielen Jahren in der Zeit vom 1. Mai bis 15. September ca. 160 000 Kisten ä 30 Stück, das sind 320 Waggonladungen zu je 200 Ztr., jährlich allein für Berlin bezog. Diese repräsentieren einen durchschnittlichen Wert von ca. 650 000 Mk. pro Saison. Es sind aber in Berlin außer mir noch andere bedeutende Firmen, die holländische Gurken in großem Umfange beziehen. Holland ist für Berlin und ganz Deutschland auch Lieferant für Wintergemüse, wie Wirsing-, Weiß- und Rotkohl. Die Produktion dieser drei Kohlsorten zählt nach vielen Millionen Zentner.

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Der Berliner Gemüse-, Obst- und Südfruchthandel.

Wir hätten von Holland im vergangenen Herbst und Winter sicherlich größere Quantitäten beziehen können, wenn nicht die unglückliche Bestimmung der Höchstpreise gekommen wäre. So anerkennenswert und notwendig für andere Lebensmittel die Höchstpreise sein mögen, war es kein glücklicher Gedanke, auf das ausländische Gemüse Höchstpreise festzusetzen. Weder das Reich noch die Stadtgemeinden waren im Herbst zu bewegen, zu normalen Preisen Wintergemüse in großen Quantitäten von Holland zu beziehen. Die festgesetzten Höchstpreise erlaubten aber dem freien Handel nicht mehr, das Geschäft zu riskieren. Die Zufuhren waren so minimal, daß von einer Bedeutung derselben in der letzten Saison nicht gesprochen werden kann. Es sind jetzt Bestrebungen im Gange, den Handel mit ausländischem Obst und Gemüse einer Reichsstelle anzugliedern. Ob eine Reichsstelle imstande sein wird, diesen Handelszweig, der, wie ich hervorgehoben habe, eine intensive Tag- und Nachtarbeit erfordert, zugunsten der Konsumenten in bessere Bahnen zu leiten als bisher, erlaube ich mir zu bezweifeln. Bevor ich das Thema Holland verlasse, will ich Ihnen, meine Damen und Herren, noch einige interessante Angaben über die holländische Produktion und Ausfuhr machen, woraus deutlich hervorgeht, welche Bedeutung Deutschland als Abnehmer für holländische Gemüse hat.

Statistik. A u s f u h r von G a r t e n p r o d u k t e n im J a h r e aus Holland. Bezeichnung

Gesamtaus-

Wert in

der Produkte

fulir in Kilo

Gulden

Äpfel

....

Hiervon nach : Deutschland

O b s t , frisch 23 000 000

1 G21 000^

England

. . . . . . . 2 1 0 0 0 000 kg . . . . 1 3 7 6 000 „ ....

Norwegen Birnen

10 000 000

588 000-

259 000

117 000-

528 000



29 000



Deutschland

....

8 700 000



England

....

1 0 0 0 000



Belgien Tafeltrauben . .

1912

Deutschland England

... .... ....

75 000



146 000



107 000



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Der Berliner Gemüse-, Obst- und Südfruchthandel.

Bezeichnung der Produkte

Gesamtansfuhr in Kilo

Wert in Gulden

3 1 0 0 000

248 000

Stachelbeeren . Johannisbeeren schwarze....

3 000 000

302 000

600 000

79 000|

rote u- weiße.

1 000 000

106 000|

Kirschen

Erdbeeren 3 800 000 G e m ü s e , frisch Kopikohl . . . . 32 000 000

r

575 000

I

476 OOOj (

Blumenkohl..

17 000 000

337 000