Gender Studies und Systemtheorie: Studien zu einem Theorietransfer [1. Aufl.] 9783839401972

Zwischen Gender Studies und Systemtheorie sind bislang kaum Verbindungslinien wahrgenommen worden. Vielmehr besteht das

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German Pages 212 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Gender Studies und Systemtheorie
1988 – und was nun? Eine Zwischenbilanz zum Verhältnis von Systemtheorie und Gender Studies
Systemtheorie und Gender: Geschlechtliche Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft
Die Biologie der Medium/Form-Unterscheidung
Gender als Strategie der Dauer. Eine Lektüre von Baudelaires »Une Charogne«
Der Tanz ums Triviale. Geschlechterdifferenz und literarische Wertung in der russischen Kultur um 1900
»Ist es wahre Liebe…?« Kitsch und Camp aus evolutionstheoretischer Sicht
Manifest für Ironiker/innen. Zur Kunst der Beobachtung
Was heißt eigentlich Post-Feminismus? »… eine möglichst trittsichere und graziöse Flucht nach vorn« (Pipilotti Rist)
Zu den Autorinnen und Autoren
Zu den Abbildungen
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Gender Studies und Systemtheorie: Studien zu einem Theorietransfer [1. Aufl.]
 9783839401972

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Gender Studies und Systemtheorie

2004-04-14 12-33-23 --- Projekt: T197.sozialtheorie.kampmann karentzos küpper / Dokument: FAX ID 01d250073162888|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 50073162928

Herausgegeben im Auftrag des Instituts für Kunstwissenschaft der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig

2004-04-14 12-33-24 --- Projekt: T197.sozialtheorie.kampmann karentzos küpper / Dokument: FAX ID 01d250073162888|(S.

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) T00_02 vakat.p 50073162984

Sabine Kampmann, Alexandra Karentzos, Thomas Küpper (Hg.)

Gender Studies und Systemtheorie Studien zu einem Theorietransfer

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) T00_03 innentitel.p 50073163008

Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2004 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-197-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

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) T00_04 impressum.p 50073163032

Inhalt

Vorwort ......................................................................................

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Einleitung: Gender Studies und Systemtheorie ..................... Sabine Kampmann, Alexandra Karentzos, Thomas Küpper

9

1988 – und was nun? Eine Zwischenbilanz zum Verhältnis von Systemtheorie und Gender Studies .................................. 17 Kai-Uwe Hellmann

Systemtheorie und Gender: Geschlechtliche Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft ........................ 47 Christine Weinbach

Die Biologie der Medium/Form-Unterscheidung .................. 77 Natalie Binczek

2004-05-03 11-06-40 --- Projekt: T197.sozialtheorie.kampmann karentzos küpper / Dokument: FAX ID 01a551703683956|(S.

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6) T00_05 inhalt.p - Seite 5 51703684

Gender als Strategie der Dauer. Eine Lektüre von Baudelaires »Une Charogne« ..................... 93 Bettina Gruber

Der Tanz ums Triviale. Geschlechterdifferenz und literarische Wertung in der russischen Kultur um 1900 ....... 117 Dagmar Steinweg

»Ist es wahre Liebe…?« Kitsch und Camp aus evolutionstheoretischer Sicht .............. 141 Thomas Küpper

Manifest für Ironiker/innen. Zur Kunst der Beobachtung ... 159 Alexandra Karentzos

Was heißt eigentlich Post-Feminismus? »… eine möglichst trittsichere und graziöse Flucht nach vorn« (Pipilotti Rist) ... 179 Sabine Kampmann

Zu den Autorinnen und Autoren ............................................ 207 Zu den Abbildungen ................................................................. 210

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Vorwort | 7

Vorwort

Dass eine Kunsthochschule einen Band wie diesen fördert, ist nicht selbstverständlich. Denn gewöhnlich werden Theorie und Praxis als getrennte Bereiche wahrgenommen. Die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig hingegen stellt gerade den Transfer zwischen theoretischer und praktisch-künstlerischer Arbeit ins Zentrum. Deshalb möchten wir besonders der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig für Ihre Unterstützung danken. Ohne diese Förderung, auch durch die Fachkommission V und das Institut für Kunstwissenschaft ebenso wie das Braunschweiger Zentrum für Gender Studies, wäre die Realisierung dieses Projekts nicht möglich gewesen. Auch den Autorinnen und Autoren sowie Dr. Karin Werner und Andreas Hüllinghorst vom transcript Verlag danken wir für die gute Zusammenarbeit. Berlin, im Februar 2004 Sabine Kampmann, Alexandra Karentzos und Thomas Küpper

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) T01_01 vorwort.p 50073163048

2004-04-14 12-51-11 --- Projekt: T197.sozialtheorie.kampmann karentzos küpper / Dokument: FAX ID 01d250074230648|(S.

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) vakat 008.p 50074230656

Einleitung | 9

Einleitung: Gender Studies und Systemtheorie Sabine Kampmann, Alexandra Karentzos, Thomas Küpper

Zwischen Gender Studies und Systemtheorie sind bislang nur wenige Verbindungslinien wahrgenommen worden. Vielmehr besteht das Vorurteil, die Forschungskonzepte unterschieden sich von Grund auf: Die ›kühle Beobachtung‹ der Systemtheorie Niklas Luhmanns vertrage sich nicht mit dem geschlechterpolitischen Engagement der Gender Studies; auf der einen Seite handle es sich um ein komplexes und universales, aber ›nur‹ deskriptives Theoriedesign, auf der anderen Seite um einen explorativen und zukunftsverändernden Theorie-Mix. Bei diesem Für und Wider bleiben jedoch die Möglichkeiten nahezu unbeachtet, die ein Austausch zwischen den Theorien bietet. Er eröffnet nicht nur der Soziologie, sondern vor allem auch den Kunstund Literaturwissenschaften ein Forschungsfeld: Gerade weil die Systemtheorie sich auf die Beobachtung von Kommunikationen konzentriert, vermeidet sie eine Essenzialisierung des Ge-

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10 | Sabine Kampmann, Alexandra Karentzos, Thomas Küpper schlechts und kann es in seiner Konstruiertheit analysieren.1 Insbesondere auch künstlerische und literarische Geschlechterkonzeptionen lassen sich auf diese Weise in ihren systemischen Zusammenhängen betrachten. Denn die Systemtheorie bietet einen kohärenten Bezugsrahmen, um die Kategorie Geschlecht im Spannungsfeld einer Gesellschaft zu verorten, die aus autonomen, miteinander korrelierenden Subsystemen besteht. Die Gender Studies auf der anderen Seite können Aspekte aufzeigen, die in der Systemtheorie bisher unbeachtet geblieben sind: vor allem, in welchem Ausmaß Sexuierungen Gesellschaft bestimmen und wie solche Prozesse erfolgen. Denn anders als es Niklas Luhmann 1988 in seinem ebenso einschlägigen wie polemischen Aufsatz Frauen, Männer und George Spencer Brown2 darstellt, hat die Frauenforschung nicht nur in geschlechterpolitischer Hinsicht Erfolge vorzuweisen. Vielmehr befand sie sich bereits damals in einem Prozess der Entwicklung eines zunehmend differenzierten Begriffsinstrumentariums, um die Kategorie ›Geschlecht‹ (nicht ›Frau‹) untersuchen zu können. Parallel zur Entwicklung des Sex-und1 | Vgl. André Kieserling: »Konstruktion als interdisziplinärer Begriff. Zum Theorieprogramm der Geschlechterforschung«, in: Ursula Pasero/ Friederike Braun (Hg.): Konstruktion von Geschlecht, Pfaffenweiler: Centaurus 1995, S. 89-114; Armin Nassehi: »Geschlecht im System. Die Ontologisierung des Körpers und die Asymmetrie der Geschlechter«, in: Ursula Pasero/Christine Weinbach (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 80-104; Ursula Pasero: »Geschlechterforschung revisited: Konstruktivistische und systemtheoretische Perspektiven«, in: Theresa Wobbe/Gesa Lindemann (Hg.): Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 264-296. 2 | Niklas Luhmann: »Frauen, Männer und George Spencer Brown«, in: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988), H. 1, S. 47-71.

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Einleitung | 11

Gender-Systems fanden zunehmend die Begriffe »Gender Studies« oder »Geschlechterforschung« zur Bezeichnung dieses wissenschaftlichen Ansatzes Verwendung. Insbesondere Performanztheorien wie diejenige Judith Butlers prägen die gegenwärtige Diskussion. Sie basieren auf der Annahme, dass sowohl das biologische als auch das soziale Geschlecht Ergebnis eines Konstruktionsprozesses sind, und grenzen sich damit von einer essenzialistischen Auffassung von Geschlecht ab. Mit solchen konstruktivistischen Ansätzen ist es möglich, den Prozess der Konstitution unserer nach Geschlechtern kategorisierten Wirklichkeit genauer in den Blick zu nehmen. Das vorliegende Buch kommt dem skizzierten Forschungsdesiderat nach und führt Beiträge zur Erschließung neuer Perspektiven zusammen. Den Ausgangspunkt bildet eine Bestandsaufnahme der an Niklas Luhmanns Systemtheorie orientierten Ansätze in den Gender Studies. Kai-Uwe Hellmann zeichnet in seinem Beitrag aus soziologischer Perspektive nach, wie sich die Diskussion seit dem Erscheinen von Luhmanns Aufsatz entwikkelt hat. Hellmann rekonstruiert zunächst die zentralen Argumente von Luhmanns Text und skizziert ihre kritische Aufnahme in der Geschlechterforschung. Er geht auf verschiedene Stellungnahmen zu Luhmanns These ein, dass die Unterscheidung der Geschlechter in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft einen Funktionsverlust erfährt. Wie ist es zu erklären, dass die Geschlechterunterscheidung in den modernen Funktionssystemen noch immer von Bedeutung ist, obwohl sie sich mit dem Prinzip der funktionalen Differenzierung nicht gut vereinbaren lässt? Christine Weinbach gibt in Ihrem Beitrag eine Antwort auf diese Frage. Die Bedingung dafür, dass die Geschlechtszugehörigkeit als informelles Inklusionskriterium weiterhin sehr lebendig ist, besteht ihr zufolge in einer Differenz: und zwar derjenigen zwischen expliziter Thematisierung der Geschlechtszugehö-

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rigkeit durch die Kommunikation einerseits und der Wahrnehmung des sozialen Körpereinsatzes der inkludierten Bewusstseinssysteme andererseits. Anhand der Luhmann’schen Form »Person«, ergänzt um den Bourdieu’schen Habitus-Begriff und denjenigen der sozialen Rolle, arbeitet Weinbach heraus, dass die Erwartungen von Bewusstseinssystemen und Kommunikation verschiedene sein können und Interaktionskommunikation so einen je unterschiedlichen ›geschlechtlich eingefärbten‹ Verlauf nehmen kann. Schließlich wird deutlich, dass geschlechtliche Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft durchaus existiert. Allerdings weniger auf gesellschaftsstruktureller Ebene, sondern auf der Ebene der Interaktion, wo weibliche Personenstereotype die Inklusionschancen bestimmen. Eine andere Anschlussmöglichkeit der Systemtheorie an gendertheoretische Diskurse erschließt Natalie Binczek in ihrem Artikel: Mit der systemtheoretischen Unterscheidung von Medium und Form kann die von Donna Haraway problematisierte Differenz zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ abgebildet werden. Wenn ›Natur‹ gewöhnlich als ›Rohmaterial der Kultur‹ verstanden wird, und damit Sex als Ressource für die Repräsentation als Gender, so nimmt ›Natur‹ (Sex) die Seite des Mediums ein und ›Kultur‹ (Gender) die Seite der Form. Dabei können Medium und Form als Seiten der Differenz nicht unabhängig voneinander gedacht werden. Binczek führt vor Augen, dass Luhmann die Angewiesenheit von Medium und Form aufeinander nach einem Muster entwirft, das auf die traditionelle Semantik der Geschlechter zurückgeht. Das Medium wird als passiv, ›verfügbar‹, ›weich‹ und ›viskos‹ beschrieben und erinnert damit an herkömmliche Typisierungen des Weiblichen, während die Form den aktiven und nach dem entsprechenden Schema: männlichen Part besetzt. Bettina Gruber analysiert eine ähnliche historische Semantik am Beispiel von Charles Baudelaires Gedicht Une Charogne. Sie

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Einleitung | 13

arbeitet heraus, dass in dem Gedicht die Differenz von Medium und Form in Szene gesetzt wird und das bereits im Titel auftauchende »Aas« als zentrales Bild für Weiblichkeit den Text durchzieht. Der Fokus liegt darauf, dass das Bild des Aases, des Kadavers der Frau, lose Kopplung konnotiert. Weiblichkeit wird so mit dem Medium in Verbindung gebracht und überdies im Aas selbst der Übergang von Form zu Medium bildlich gespiegelt. Wie an dieser und auch an anderer Stelle bei Baudelaire Form aus weiblicher Ungeformtheit destilliert wird, zeigt Gruber in ihren Textanalysen. Deutlich wird, dass auch die Differenz von Medium und Form selbst geschlechtlich bestimmt ist und das Verhältnis zu Zeit und Dauer gemäß den zwei Geschlechtern unterschieden ist. Solche Untersuchungen zur Semantik des Männlichen und des Weiblichen bilden einen Schwerpunkt des Bandes. Sie sind in der systemtheoretischen Geschlechterforschung bisher vergleichsweise selten unternommen worden, obwohl gerade auch die Analyse von Semantik Erklärungen für die Persistenz der Geschlechterunterscheidung in der modernen Gesellschaft liefern kann. Denn selbst wenn die funktionale Differenzierung mit Gleichheitspostulaten einhergeht, bietet sich die Geschlechterunterscheidung in diversen Kontexten dazu an, semantisch gleichsam aufgeladen und nach hierarchischen Mustern verwendet zu werden. Die Anlässe für den Gebrauch der Unterscheidung sind nicht nur in der Interaktion von Männern und Frauen zu suchen, sondern insbesondere auch in den Strukturen der Funktionssysteme. Diese Systeme haben einen jeweils spezifischen Bedarf für die Geschlechterunterscheidung. Gerade als scheinbar naturgegebene und grundlegende Kategorie dient das Geschlecht dazu, in den Funktionssystemen Orientierung herzustellen; es ermöglicht ihnen vereinfachende Selbstbeschreibungen: Voraussetzungsvolle und umfangreiche politische Programme zum Beispiel können simplifizierend durch ›besonne-

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ne‹ oder ›wagemutige Staats-Männer‹ beziehungsweise ›friedfertige‹ und ›ausgleichende Frauen‹ repräsentiert werden. Die Klischees des Männlichen und Weiblichen werden fortgeschrieben, weil sie sich in den Funktionssystemen auf komplexe Sachverhalte beziehen lassen und sich dazu eignen, das Unüberschaubare überschaubar zu machen. Um solche Zusammenhänge erfassen zu können, muss die Geschlechtersemantik mit den unterschiedlichen Belangen der Funktionssysteme in Bezug gesetzt werden. Besonders nahe liegend sind Forschungen zum Kunst- und Literatursystem, da sich in den Werken Geschlechterkonzeptionen manifestieren und die kunst- und literaturwissenschaftlichen Disziplinen über ein reiches Instrumentarium verfügen, historische Semantik zu analysieren.3 Überdies kann auf Erfahrungen in der Analyse visueller und textueller Konstruktionsprozesse von Geschlecht zurückgegriffen werden. So zeigt Dagmar Steinweg in ihrem Beitrag, mit welcher Semantik Autorinnen in der russischen Kultur um 1900 die Aufnahme in den nationalen literarischen Kanon erschwert wird. Steinweg untersucht den Begriff der poslost’ als Schlagwort der damaligen literaturkritischen Debatte, das für Abgeschmacktheit und Banalität steht und mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht wird. Zu den möglichen Konnotationen der poslost’ gehört das sexuell Anstößige und Vulgäre. Der literarischen Wertung stellt der Begriff Argumentationsmuster bereit, nach denen Autorinnen hierarchisch von Autoren unterschieden und auf der Ebene des Trivialen angesiedelt werden. Steinweg beleuchtet die Korrelation zwischen dieser Semantik und der geringen Ausdifferenzierung russischer Literatur an der Wende zum 20. Jahrhundert. ^

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3 | Zudem besteht gerade in der Literaturwissenschaft eine eigene systemtheoretische Forschungstradition. Siehe schon die Bibliographie von Henk de Berg: Luhmann in Literary Studies, Siegen: Lumis-Schrift 42 (1995).

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Einleitung | 15

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Mit einem Pendant zur poslost’, dem so genannten Kitsch, und dem von diesem unterschiedenen Prinzip des Camp befasst sich Thomas Küpper. Er rekonstruiert anhand der Evolutionstheorie, wie Elemente des Kitsches im Camp dazu dienen, Geschlechterverhältnisse zu konterkarieren. Die Versatzstücke, mit denen Kitsch ›die große Liebe‹ als heterosexuelle Paarbeziehung inszeniert, sind in der Kunst-Evolution hochgradig standardisiert und so als abgenutzt und gehaltlos diskreditiert; doch gerade dadurch werden sie zu einem Medium, mit dem Camp die Substanz der heterosexuellen Ordnung in Frage stellen kann. Küpper analysiert als Beispiel für eine solche Umformung von Kitsch in Camp Marianne Rosenbergs Lied Er gehört zu mir. Eine andere Strategie, mit der Klischees subvertiert werden, wird von Alexandra Karentzos in den Blick genommen: Ironie – ein Prinzip, das nicht zuletzt der Cyberfeminismus im Anschluss an Donna Haraway für sich in Anspruch nimmt. Um die Mechanismen der Ironie transparent zu machen, zieht Karentzos das von Luhmann vertretene Theorem der Beobachtung zweiter Ordnung heran und verbindet es mit Butlers Konzeption der Parodie. So lässt sich Ironie als Reflexion auf den Gebrauch von Unterscheidungen beschreiben, die sich damit als kontingent erweisen. Auf dieser Grundlage entwirft Karentzos ein Modell der Verwendung ironischer Formen in der Kunst, das an Kara Walkers Ironisierung der Differenzen männlich/weiblich und weiß/schwarz exemplifiziert wird. Ausgehend von der Frage »Was heißt eigentlich Post-Feminismus?« untersucht Sabine Kampmann, wie die Diskussion um Feminismus, Post-Feminismus, Frausein und feministische Kunst den Konstruktionsprozess der Künstlerin Pipilotti Rist bestimmt. Von Seiten der Systemtheorie sind es die Form »Person« und die Grundperspektive auf eine funktional differenzierte Gesellschaft, die zum Gelingen der Analyse beitragen sollen. Die Gender Studies steuern ihre Ergebnisse in Hinblick auf die se-

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mantische Ausgestaltung der Rollenvorgabe »Künstler« bei, die sich als eine geschlechtlich bestimmte darstellt. In der Analyse wird deutlich, wie die Kommunikationen über Feminismus und feministische Kunst in Bezug auf Pipilotti Rist in Abhängigkeit von den jeweiligen Funktionssystemen und deren Codes und Programmen entstehen. Außerdem wird ersichtlich, dass auch die Semantik von »Künstler« oder »Frauenkunst« einem Wandel unterliegt, der sich in den Kommunikationen über die Künstlerfigur Rist abzeichnet. Gender Studies und Systemtheorie sind, das zeigen die hier versammelten Beiträge, kommunikationsfähig und gesprächsbereit. Und gerade wenn die unterschiedlichen Begrifflichkeiten zunächst zu kollidieren scheinen, zeigt sich doch besonders auch in der Analyse konkreter Beispiele, dass dieser Aufprall hilft, die Arbeitsinstrumente zu schärfen. Nicht zuletzt in kunst- und literaturwissenschaftlichen Anwendungen eröffnet der Theorietransfer produktive Perspektivwechsel.

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1988 – und was nun? Eine Zwischenbilanz zum Verhältnis von Systemtheorie und Gender Studies Kai-Uwe Hellmann

1988 veröffentlichte Niklas Luhmann einen Artikel über den damaligen Stand der Frauenforschung, soweit er darüber Kenntnis hatte. Der Titel lautete Frauen, Männer und George Spencer Brown1. Wie andere Veröffentlichungen Luhmanns2 zu diesem Themenfeld zeichnete sich auch diese durch eine eigenwil1 | Niklas Luhmann: »Frauen, Männer und George Spencer Brown«, in: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988), H. 1, S. 47-71. 2 | Niklas Luhmann: Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag 1986; Niklas Luhmann: »Protestbewegungen«, in: N. L.: Soziologie des Risikos, Berlin: de Gruyter 1991, S. 135-154; Niklas Luhmann: »1968 – und was nun?«, in: N. L.: Universität als Milieu. Kleine Schriften, Bielefeld: Haux 1992, S. 147-156; Niklas Luhmann: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996.

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lige Mixtur aus Analyse und Polemik aus, die ihr zwar einige Aufmerksamkeit, aber kaum positive Aufnahme bescherte.3 Mehr als 15 Jahre sind seitdem vergangen, was die Gelegenheit eröffnet, zurückzuschauen und die Analyse in diesem Artikel mit etwas mehr Abstand erneut in Augenschein zu nehmen. In dreierlei Hinsicht soll dies geschehen. Zunächst geht es um die Hauptargumente, die Luhmann in seiner Analyse präsentiert (1.). Sodann werden einzelne Kritikpunkte an Luhmanns Analyse, wie sie seitens der Gender Studies im Laufe der letzten Jahre vorgetragen wurden, kurz diskutiert (2.). Abschließend geht es um die Aktualität der Geschlechtskategorie für die Gesellschaftstheorie (3.).

1. Frauen, Bewegung, Forschung Luhmanns Analyse der Frauenforschung Ende der achtziger Jahre stützt sich im Wesentlichen auf fünf Punkte. Der erste Punkt betrifft grundsätzliche Überlegungen zur Logik von Unterscheidungen im Sinne von George Spencer Brown. Der zweite Punkt richtet sich auf die Relevanz der Geschlechtskategorie für die moderne Gesellschaft. Der dritte Punkt setzt am damaligen Verhältnis von Frauenforschung und Frauenbewegung an. Der vierte Punkt thematisiert Paradoxieprobleme des Gleichheitsprogramms, das die Frauenbewegung und -forschung Ende der achtziger Jahre verfolgt haben. Und der fünfte Punkt berührt das Reflexionsvermögen und die Organisationsfähigkeit der Frauenbewegung. (1) »We take as given the idea of distinction and the idea of 3 | Vgl. Ursula Pasero/Christine Weinbach: Vorwort, in: U. P./Ch. W. (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 7-14.

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indication, and that we cannot make an indication without drawing a distinction. We take, therefore, the form of distinction for the form.«4 Jede Beobachtung – welcher Art auch immer – setzt eine Unterscheidung voraus, bei der mindestens eine Seite bezeichnet wurde: Dies ist die zentrale Lektion, die Luhmann aus der Lektüre von Laws of Form gezogen hat. Dabei ist das Bezeichnen mindestens einer Seite einer Unterscheidung ebenso wichtig wie das Unterscheiden selbst. Denn ohne Bezeichnung ist eine Unterscheidung nutzlos, weil unentschieden bleibt, auf welche Seite der Unterscheidung die Aufmerksamkeit sich richten soll. Die Folge wäre ein unaufhörliches Oszillieren zwischen zwei Alternativen, weil keine präferiert wird, was auf den Stillstand dieser Operation hinausläuft. »Die Maschine bliebe stehen.«5 Von daher ist auch Luhmanns Erwähnung von Buridans Esel zu verstehen, der sich zwischen zwei gleich großen Heuhaufen nicht entscheiden kann und darüber elend zugrunde geht. Luhmann führt diese Überlegung ein, um grundsätzlich darauf hinzuweisen, dass die Asymmetrie einer Unterscheidung ein unverzichtbarer Bestandteil ihres Gebrauchswerts ist. Wie auch immer die Präferierung einer Seite einer Unterscheidung und damit die Asymmetrisierung dieser Unterscheidung als solcher ausfallen mag: Nur wenn überhaupt eine Asymmetrisierung vorliegt, steht eine Unterscheidung zum Gebrauch bereit, sonst nicht. Für die Unterscheidung zwischen Frauen und Männern bedeutet der Verlust ihrer Asymmetrie, etwa um eine Gleichwertigkeit zwischen Frauen und Männern innerhalb dieser Unterscheidung zu erreichen, somit ihre Unbrauchbarkeit. Sie wird nutzlos. So richtig diese Überlegung Luhmanns ist, so sehr verfehlt 4 | George Spencer Brown: Laws of Form, London: George Allen and Unwin Ltd. 1969, S. 1. 5 | N. Luhmann: »Frauen, Männer und George Spencer Brown«, S. 49.

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sie das eigentliche Anliegen der damaligen Frauenforschung. Denn aus der logischen Ungleichwertigkeit zwischen Frauen und Männern innerhalb dieser Unterscheidung folgt keineswegs zwangsläufig auch die soziale Ungleichbehandlung von Frauen und Männern innerhalb der Gesellschaft. Doch wahrscheinlich war Luhmann daran auch gar nicht gelegen. Vielmehr ging es ihm wohl um den Hinweis, dass das politische Ziel der Frauenforschung vor mehr als 15 Jahren nicht dazu führen sollte, die Unterscheidung zwischen Frauen und Männern durch Resymmetrisierung unbrauchbar zu machen. Denn ein solches Vorgehen wäre Luhmann zufolge völlig kontraproduktiv. (2) Nachdem Luhmann auf diese Weise den generellen Asymmetrie-Bedarf von Unterscheidungen hervorgehoben hat, beschäftigt er sich im nächsten Schritt mit der prekären Relevanz der Geschlechtskategorie für die moderne Gesellschaft. Denn während die Asymmetrie zwischen Frauen und Männern in einer hochkulturellen Gesellschaft auf das Engste mit deren hierarchischer Primärdifferenzierung korreliert und dadurch sogar legitimiert wird, weist die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft derartige Asymmetrien zunächst pauschal zurück. Zwar setzt jedes Funktionssystem eigene Inklusionsmaßstäbe. Gemeinsam ist ihnen allen jedoch, dass der Zutritt und die Teilnahme an ihnen prinzipiell jedem/r ermöglicht werden können sollte. Gleiche Chance der Inklusion für alle, ungeachtet der Herkunft, des Alters, des Geschlechts, des Glaubens, der Hautfarbe: Dies ist Selbstanspruch und Notwendigkeit zugleich, mit denen sich die moderne Gesellschaft konfrontiert sieht. Selbstanspruch deshalb, weil nicht mehr das Kollektiv, sondern nur noch das Individuum als Bezugsgröße gelten soll – Notwendigkeit deshalb, weil es für alle Individuen jeweils nur noch ein Funktionssystem gibt, in das mangels Alternativen alle mit einbezogen werden müssen. Luhmann nennt diesen Umstand auch Redundanzverzicht.

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Für die Unterscheidung von Frauen und Männern bedeutet dies prima facie einen Funktionsverlust: Sie wird über kurz oder lang nicht mehr gebraucht, so die These. Während die Geschlechtskategorie allein schon aufgrund ihrer Asymmetrie dazu beitrug, die Primärdifferenzierung einer hochkulturellen Gesellschaft zu verdoppeln und damit zu bestätigen und zu befestigen, was ihr eine eminent wichtige gesellschaftliche Funktion zuwies, wird diese Funktion entbehrlich, wenn nicht mehr Hierarchie, sondern Heterarchie, nicht mehr eine vertikale, sondern eine horizontale Ordnung die Sozialstruktur der modernen Gesellschaft bestimmt. Dies ist gemeint, wenn Luhmann davon spricht, »daß die Unterscheidung von Mann und Frau mit dem jeweiligen Schema gesellschaftlicher Differenzierung schlecht zu kombinieren ist.«6 Auch hier ist festzustellen, dass Luhmann eine zutreffende Diagnose geliefert hat. Gemessen am Selbstverständnis der Funktionssysteme verliert die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen an Bedeutung.7 Gleichzeitig ist jedoch unabweisbar, dass diese Unterscheidung sehr wohl noch von Belang ist und gerade im Bereich der Wirtschaft, speziell dem Arbeitsmarkt, eine allgegenwärtige Rolle spielt, die nicht aus der Welt zu reden ist. Und erneut stellt es sich so dar, als ob Luhmann sich davon nicht irritieren ließ. Vielmehr schien es ihm in erster Linie darauf anzukommen, auf einen gravierenden Funktions6 | Ebd., S. 55. 7 | Vgl. Ursula Pasero: »Geschlechterforschung revisited: Konstruktivistische und systemtheoretische Perspektiven«, in: Theresa Wobbe/Gesa Lindemann (Hg.): Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 264-296, hier S. 277: »Die Unterscheidung Frau und Mann ist damit keinesfalls wirkungslos, aber diese regelt nicht primär den Zugang zu den Subsystemen, sie wirkt als sekundäre Differenzierung und durchaus noch mit diskriminierenden Folgen.«

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verlust der Geschlechtskategorie in der modernen Gesellschaft hinzuweisen, und diese Möglichkeit leuchtet für die Makroebene durchaus ein, wenn man das Formprinzip der funktionalen Differenzierung zugrunde legt.8 (3) Ausschlaggebend für die Plausibilität von Luhmanns Analyse ist, dass man seine Analyse der modernen Gesellschaft teilt, und dies setzt wiederum voraus, dass man überhaupt bereit ist, einen grundsätzlichen Bedarf an Gesellschaftstheorie anzuerkennen, der sich aus der Analyse dessen ergibt, was die Frauenforschung damals beschäftigt hat und die Gender Studies heutzutage untersuchen. Denn ohne adäquate Gesellschaftstheorie misslingt die Selbstverständigung darüber, was der eigentliche Grund des Problems ist, mit dem man sich beschäftigt. Dies hatte Luhmann schon zwei Jahre vorher als das entscheidende Manko der neuen sozialen Bewegungen ausgemacht, verbunden mit einer deutlichen Kritik an der Politik ihres Protestes.9 »Den 8 | Eine vergleichbare Situation ergibt sich für den Fremden, dem man in der modernen Gesellschaft tendenziell mit Indifferenz begegnet, vgl. Rudolf Stichweh: »Der Fremde – Zur Soziologie der Indifferenz«, in: Herfried Münkler/Bernd Ladwig (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 45-64. Für den Fall der Geschlechterdifferenz siehe Stefan Hirschauer: »Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung«, in: Bettina Heintz (Hg.): Geschlechtersoziologie, Opladen: Westdeutscher Verlag 2001, S. 208-235, der vom »Verschwinden der Geschlechter« spricht. 9 | Vgl. auch Pierre Bourdieu: »Die männliche Herrschaft«, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 153-217, der davon spricht, »daß die beste politische Bewegung dazu verurteilt ist, schlechte Wissenschaft zu treiben und am Ende schlechte Politik, wenn es ihr nicht gelingt, ihre subversiven Antriebe in kritische Inspiration umzusetzen, und das zuerst auf sich selbst« (S. 215).

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neuen sozialen Bewegungen fehlt Theorie. Ihnen fehlt infolgedessen auch die Möglichkeit, die Unterscheidungen, in die sie ihre Beobachtungen einzeichnen, zu kontrollieren. Vorherrschend findet man daher eine recht schlichte und konkrete Fixierung von Zielen und Postulaten, eine entsprechende Unterscheidung von Anhängern und Gegnern und eine entsprechende moralische Bewertung.«10 Diese Bewertung Luhmanns trifft im Kern auch auf die damalige Frauenforschung zu, sofern seine Beobachtung zutreffend war, dass sie die Unterscheidung von Frauen und Männern zur Beobachtung der Realität benutzte, und zwar mit dem Ziel, Asymmetrien zu eliminieren. Denn damit avancierte die Frauenforschung der achtziger Jahre zur Reflexionstheorie der Frauenbewegung, mit all den Komplikationen, die sich daraus ergeben.11 Diese bestehen insbesondere darin, dass Reflexionstheorien auf Gedeih und Verderb mit ihren Referenzsystemen verbunden sind, zu denen sie sich absolut loyal und affirmativ zu verhalten haben. Sie leisten dort Unterstützung, Bestätigung und Bestärkung, wo es am nötigsten erscheint, nämlich bei der Ausübung der Funktion bzw. Anwendung der Leitdifferenz des jeweiligen Bezugssystems. Darüber hinaus tragen Reflexionstheorien auch zur Selbstsinngebung der Reflexionseliten bei und befördern damit ein ungewöhnlich hohes Maß an Selbstreferenz, wie Luhmann es bei der Frauenforschung Ende der achtziger Jahre feststellen zu können meinte. Worum es Luhmann hier ging, ist die Gewissensfrage, ob 10 | N. Luhmann: Ökologische Kommunikation, S. 234. 11 | Vgl. Kai-Uwe Hellmann: »›… und ein größeres Stück Landschaft mit den erloschenen Vulkanen des Marxismus.‹ Oder warum rezipiert die Bewegungsforschung Luhmann nicht?«, in: Henk de Berg/Johannes Schmidt (Hg.): Rezeption und Reflexion. Die Resonanz der Luhmann’schen Systemtheorie außerhalb der Soziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 411-439.

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die damalige Frauenforschung sich mit ihrer Funktion als Reflexionstheorie zufrieden gab oder Wissenschaft treiben wollte. Dabei bedeutet Wissenschaft hier nicht völlige Indifferenz, aber doch eine deutlich stärkere Distanznahme zum Gegenstand der Analyse – auch um den Preis einer gewissen Entfremdung, also weniger Parteinahme, mehr Problemanalyse, selbst wenn sich dies zum Nachteil der Frauen und der Frauenbewegung auswirken sollte.12 Man kann einen solchen Wissenschaftsbegriff durchaus zurückweisen, ist dann aber im Zugzwang, wissenschaftlich zu begründen, weshalb. Übrigens ist zu diesem Punkt mittlerweile eine enorme Veränderung, ja Ernüchterung und Selbstaufklärung in den Gender Studies festzustellen, die schon Ende der achtziger Jahre ihren Anfang nahmen.13 Diese Entwicklung lässt vermuten, dass die Gewissensfrage zugunsten einer stärkeren Verwissenschaftlichung inzwischen entschieden wurde14 – wie auch im Falle der Bewegungsforschung.15 12 | Vgl. N. Luhmann: »Frauen, Männer und George Spencer Brown«, S. 58: »Wer dies bestreiten will, und es wird bestritten werden, muß sich zu einer relativ anspruchslosen Auffassung von wissenschaftlicher Forschung bekennen. Der Wert solcher Feststellung liegt in ihrer Anschlußfähigkeit für praktische Forderungen und Appelle, die unter der Prämisse des Gleichheitspostulats aus der bloßen Feststellung der Ungleichheit automatisch folgen.« 13 | Vgl. Christina Thürmer-Rohr: Vagabundinnen. Feministische Essays, Berlin: Orlanda Frauenverlag 1987. 14 | Vgl. Armin Nassehi: »Geschlecht im System. Die Ontologisierung des Körpers und die Asymmetrie der Geschlechter«, in: Ursula Pasero/Christine Weinbach (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 80-104. 15 | Vgl. Kai-Uwe Hellmann: »Systemtheorie und Bewegungsforschung. Rezeptionsdefizite aufgrund von Stildifferenzen oder das Außerachtlassen von Naheliegendem«, in: Rechtshistorisches Journal 17 (1998), S. 493-510.

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(4) Der vierte Punkt in Luhmanns Analyse bezieht sich auf Paradoxieprobleme des Gleichheitsprogramms, das die Frauenbewegung und zum Teil auch die damalige Frauenforschung verfolgten. Wenn eine Resymmetrisierung der Unterscheidung zwischen Frauen und Männern erfolglos bleibt und allenfalls die Möglichkeit einer Reasymmetrisierung besteht, um zukünftig den Frauen Anschlussfähigkeit zu verschaffen, während den Männern der Reflexionswert zufällt, dann konzentrieren sich alle weiteren Bemühungen darauf, die Ungleichbehandlung der Geschlechter zugunsten der Frauen umzukehren. Denn nur so kann Gleichbehandlung der Geschlechter erreicht werden. Wenn Gleichbehandlung aber nur durch Ungleichbehandlung erreicht werden kann, läuft das Gleichheitsprogramm der Frauenbewegung auf eine Paradoxie auf: Gleichheit soll durch Ungleichheit, Dediskriminierung durch Rediskriminierung erreicht werden. Dabei trägt das Gleichheitsprogramm geradezu Ewigkeitscharakter. Denn Gleichheit ist nahezu nicht erreichbar, sofern es über den bloßen Anspruch darauf hinausgeht.16 Irgendwo wird es immer eine ungleiche Behandlung der Geschlechter geben, so dass der Anspruch auf Gleichbehandlung permanent Ungleichbehandlung erzwingt – und es war nur eine

16 | Vgl. N. Luhmann: »Frauen, Männer und George Spencer Brown«, S. 64: »Gleichheit ist ein extrem unwahrscheinlicher Zustand.« Siehe ferner Sabine Berghahn: »Verwaltung, Gleichheit, Gerechtigkeit. Der feministische und der systemtheoretische Blick – unvereinbar?«, in: Klaus Dammann/Dieter Grunow/Klaus P. Japp (Hg.): Die Verwaltung des politischen Systems. Neuere systemtheoretische Zugriffe auf ein altes Thema. Mit einem Gesamtverzeichnis der Veröffentlichungen Niklas Luhmanns 1958-1992, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 79-98: »Absolute Gleichheit bleibt daher in der Tat unmöglich.«

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Frage der Zeit, bis sich diese Logik auch gegen die Frauenbewegung kehren würde.17 Auch hier ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Logik des Arguments einiges für sich hat. Was als Gleichheitspostulat proklamiert wird, entpuppt sich als ein Ungleichheitsprogramm, nur mit umgekehrtem Vorzeichen: Was den Männern bisher zum Vorteil gereichte, ihr Geschlecht, erweist sich nun als Nachteil. Für die Frauenbewegung und -forschung ist diese Reflexion sicher wenig attraktiv, weil sie der eigenen Problemanalyse nichts Substantielles hinzufügt. Sie konfrontiert mit Konsequenzen, die man gerne in Kauf nimmt, solange sich nichts Grundlegendes an der eklatanten Ungleichbehandlung in vielen Bereichen der Gesellschaft geändert hat. (5) Der letzte Punkt, den ich für wesentlich halte, betrifft Luhmanns Anmerkungen zum Reflexionsvermögen und der Organisationsfähigkeit der Frauenbewegung. In beiden Fällen hat man es mit einem strukturellen Dilemma zu tun. Zum Reflexionsvermögen der Frauenbewegung ist schon gesagt worden, dass ihr nach Luhmann eine adäquate Gesellschaftstheorie bis dahin gefehlt hat, wie allen neuen sozialen Bewegungen.18 Dies äußert sich etwa dann, wenn sie sich in der Gesellschaft gegen die Gesellschaft wendet, so als ob sie nicht dazugehören würde. Auf der einen Seite befinden sich dann jene, denen die Verantwortung für das ganze Elend zugerechnet wird, also die Männer, 17 | Etwa wenn sich das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den Geschlechtern völlig umkehrt, vgl. Heike Schmoll: »Männerquote an Schulen gefordert. Kultusminister beklagen Feminisierung. ›Fehlende Vorbilder‹. Geringes Ansehen des Lehrerberufs«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 226 vom 29. September 2003, S. 2. 18 | Vgl. N. Luhmann: »Protestbewegungen«, S. 150; Klaus P. Japp: »Die Form des Protests in den neuen sozialen Bewegungen«, in: Dirk Baecker (Hg.): Probleme der Form, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 230-252.

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während sich auf der anderen Seite der große Rest versammelt, der unter den gegebenen Verhältnissen leidet, mithin die Frauen. Nur so lässt sich Protest mobilisieren, dieser Logik entkommt keine soziale Bewegung. Mehr Theorie könnte hier dazu führen, dass die Unterscheidung zwischen Verantwortung und Betroffenheit in sich kollabiert. Zumindest wird es dann schwierig, diese Art der Abgrenzung ohne jede Überlappung, ohne das Vermischen von Verantwortung und Betroffenheit aufrechtzuerhalten. Mehr Theorie könnte sich somit als kontraproduktiv für die Mobilisierungschancen der Frauenbewegung auswirken: Es würde sie wahrscheinlich lahm legen.19 Zu wenig Theorie führt jedoch dazu, dass man sich in Positionen zu verrennen droht, die sich als unhaltbar erweisen, weil sie der gesellschaftlichen Komplexität nicht gerecht werden.20 Wobei ein völliges Entkommen aus diesem Dilemma unwahrscheinlich ist. Was daher nur bleibt, ist ein fortlaufendes Changieren zwischen zu viel und zu wenig Theorie. Im Falle der Organisationsfähigkeit ergibt sich ein ähnliches Dilemma. Allgemein gesprochen, haben soziale Bewegungen die 19 | Vgl. K. P. Japp: »Die Form des Protests«, S. 234: »Ohne einen Reflexionsstopp bei der kollektiven Kommunikation von Widerspruch würden genau deren Grundlagen zerfallen: commitment, Motivation und wie immer geartete Erfolgserwartungen.« 20 | Deshalb sieht Sabine Berghahn durchaus einen Vorteil darin, wenn die Frauenforschung sich der Systemtheorie bedient, vgl. S. Berghahn: »Verwaltung, Gleichheit, Gerechtigkeit«, S. 98: »Der Nutzen ist dann darin zu sehen, daß eine allzu partikulare oder illusionäre Normativität – nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch – auf den Teppich der real-existierenden Gesellschaft zurückgeholt wird und die – wenn auch ernüchternden – Erklärungen einem sich sonst leicht ausbreitenden Defätismus entgegenarbeiten.«

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Funktion, für bestimmte soziale Probleme so viele Personen wie möglich zu mobilisieren. Denn ihre Existenz und ihr Erfolg hängen maßgeblich davon ab, dass sie eine große Zahl von Anhängern auf die Beine bringen. Dabei gilt als hinreichendes Selektionskriterium für Anhängerschaft zumeist persönliche Betroffenheit durch das soziale Problem, das dem Protest zugrunde liegt. Wegen dieser eher labilen Motivlage beschränkt sich die Zielsetzung sozialer Bewegungen in den meisten Fällen auf die eigene Mobilisierungsfähigkeit, also die Fähigkeit zur Mobilisierung möglichst vieler Anhänger in und für einen kurzen Zeitraum, da die Freiwilligkeit des Engagements eine weiter gehende Anbindung der Anhängerschaft, insbesondere in Richtung auf feste Mitgliedschaft und Formalisierung der Kommunikation, in der Regel nicht erlaubt. Gerade bei den neuen sozialen Bewegungen sind basisdemokratische Umgangsformen deshalb auch Usus. Formale Organisationen haben demgegenüber die Funktion, sich selbst fortwährend Ziele zu setzen und die für die Zielerreichung nötigen Ressourcen selbständig zu akquirieren. Dies trifft insbesondere für die Bedingungen der Teilnahme an einer Organisation zu, die von jeder Organisation autonom vorgegeben und durch Einzelne kaum noch veränderbar sind. Dabei zielt Mitgliedschaft in Organisationen auf Uniformität des Verhaltens, um die kollektive Handlungsfähigkeit einer Organisation auf Dauer und für jede nur erdenkliche Maßnahme der Organisation sicherzustellen. Die Voraussetzung dafür ist kollektiv bindendes Entscheiden, wobei zur Durchsetzung von Entscheidungslagen auf die Möglichkeit negativer Sanktionen zurückgegriffen werden kann, so dass sich kein Mitglied ohne Verlust der Mitgliedschaft davon einfach ausnehmen kann.21 Zur Erreichung von

21 | Bei sozialen Bewegungen ist dies ähnlich, nur erfolgt dies über Moralisierung, vgl. K. P. Japp: »Die Form des Protests«; Kai-Uwe Hellmann:

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Selbstbindung und Folgebereitschaft versorgen Organisationen ihre Mitglieder mit Ressourcen, vor allem mit Geld, aber auch mit weiteren Erwartungssicherheiten in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht. Wie diese kurze Gegenüberstellung deutlich machen soll, stehen soziale Bewegungen und formale Organisationen aufgrund ihrer Eigenart in einem Spannungsverhältnis zueinander. Dies zeigt sich insbesondere im Stil der Kommunikation, der für Bewegungen eher auf Spontaneität und Egalität geht, während in Organisationen die Formalität des wechselseitigen Umgangs und das Prinzip der Hierarchie einen hohen Stellenwert besitzen.22 Spontaneität und Egalität einerseits, Formalität und Hierarchie schließen einander aber aus, und genau aus diesem Grunde steht es um die Organisationsfähigkeit der Frauenbewegung nicht zum Besten. Vor diesem Hintergrund hat Luhmann der damaligen Frauenforschung daher auch den Vorschlag gemacht, »diese Differenz von Organisation und Reflexion im Auge zu behalten. Sie müßte dann in der Lage sein, in der Bewegung die Bewegung so zu beobachten, als ob es von außen wäre.«23

Systemtheorie und neue soziale Bewegungen. Identitätsprobleme in der Risikogesellschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996. 22 | Vgl. Kai-Uwe Hellmann: »Bewegungsorganisationen im Spannungsverhältnis zwischen formaler Organisation und sozialer Bewegung«, Vortrag gehalten auf der Tagung »Organisatorische Diversität und gesellschaftliche Differenzierung« der DGS-AG Organisationssoziologie am 16. und 17. November 2001 an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 23 | N. Luhmann: »Frauen, Männer und George Spencer Brown«, S. 69.

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2. Luhmann in der Kritik Ob dieser Vorschlag je eine positive Aufnahme gefunden hat, steht zu bezweifeln. Denn die damalige Frauenforschung begegnete Luhmanns Aufsatz mit wenig Aufgeschlossenheit, was gewiss auf Wechselseitigkeit beruhte – eine weitere Parallele zur Bewegungsforschung.24 Besonders deutlich zeigt sich dies an der sehr überschaubaren Zahl von Stellungnahmen, die es seitdem gegeben hat. Insofern kann von einer Rezeption, geschweige denn einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Luhmann kaum die Rede sein.25 Ausnahmen bilden lediglich die Arbeiten von Ursula Pasero, Annette Runte, Ulrike Teubner, Bettina Heintz und Christine Weinbach – freilich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. Vor allem Ursula Pasero zeigt sich der Systemtheorie gegenüber ausgesprochen resonanzfähig. In ihrem Aufsatz Geschlechterforschung revisited: konstruktivistische und systemtheoretische Perspektiven von 1994 hebt sie auf zwei Aspekte ab, die ihr an Luhmanns Behandlung der Frauenforschung der achtziger Jahre bedeutsam erschienen. Zum einen ist dies der Paradigmenwechsel von Ontologie auf Konstruktivismus, von Beobachtung erster Ordnung auf Beobachtung zweiter Ordnung. Sämtliche Kategorien, die sozial von Belang sind, sind Konstrukte von Beobachtern, die mehr zur Beobachtung dieser Beobachter einladen, als dass sie etwas über den Gegenstand aussagen, den diese jeweils im Blick haben. Außerdem findet das Geschlecht dadurch keine 24 | Vgl. Kai-Uwe Hellmann: »Paradigmen der Bewegungsforschung. Eine Fachdisziplin auf dem Weg zur normalen Wissenschaft«, in: Ansgar Klein/ Hans-Josef Legrand/Thomas Leif (Hg.): Neue soziale Bewegungen. Impulse, Bilanzen und Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag 1999, S. 91-113. 25 | Vgl. U. Pasero/Ch. Weinbach: Vorwort.

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Letztbegründung in der Natur des Menschen mehr, sondern erwächst aus der Kommunikation zwischen ihnen.26 Dies deckt sich offenbar mit Einsichten, wie sie vor allem mit dem Namen Judith Butler27 verbunden werden.28 Zum anderen stimmt Pasero mit Luhmanns Auffassung überein, dass die Geschlechtskategorie in der modernen Gesellschaft an Bedeutung verliert, weil die Funktionssysteme Kollektivmerkmale als inklusionsrelevant zurückweisen.29 Zwar führe dies nicht dazu, dass es keine Diskriminierung von Frauen mehr gebe. Doch ist Geschlecht kein zureichendes Kriterium mehr für den Zutritt und die Teilnahme an den Funktionssystemen – lediglich dies war die Kernaussage von Luhmanns Argument. In ihrem Aufsatz Gender, Individualität, Diversity von 2003 erweitert Pasero die Fragestellung der Relevanz der Geschlechtskategorie in der modernen Gesellschaft dann um die beiden Systemtypen Interaktion und Organisation,30 eine Erweiterung, die inzwischen von verschiedener Seite erwogen und im letzten Abschnitt behandelt wird. 26 | Vgl. U. Pasero: »Geschlechterforschung revisited«. 27 | Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. 28 | Besonders reizvoll erscheint dabei die Überlegung, die Unterscheidung von Sex und Gender, wie Butler sie definiert, in Verbindung zu bringen mit der Unterscheidung zwischen Struktur und Semantik von Luhmann, da es offensichtlich Isomorphien zwischen ihnen gibt: Sex und Gender sind beides Konstruktionen, Struktur und Semantik sind beides Strukturen. 29 | Vgl. schon Hartmann Tyrell: »Geschlechtliche Differenzierung und Geschlechterklassifikation«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38 (1986), S. 450-489. 30 | Ursula Pasero: »Gender, Individualität, Diversity«, in: Ursula Pasero/ Christine Weinbach (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 105-124.

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Annette Runte beschäftigt sich in ihrem Beitrag Die »Frau ohne Eigenschaften« oder Niklas Luhmanns systemtheoretische Beobachtung der Geschlechter-Differenz von 1994 zunächst mit Luhmanns Überlegungen zur Logik von Unterscheidungen.31 Dabei wird Luhmann unterstellt, er gehe von einer Unumkehrbarkeit der bisherigen Asymmetrie innerhalb der Geschlechterdifferenz aus, was unzutreffend ist. Historisch betrachtet besaß das Patriarchat in den meisten Gesellschaften offenbar die Funktion, die Systematizität der geschlechtlichen Differenz zu garantieren. Daran lässt sich nachträglich nichts mehr ändern, man kann es nur anders bewerten. Die Zukunft bleibt hingegen ungewiss, auch in dieser Hinsicht. In diesem Zusammenhang erscheint es problematisch, wenn Runte ahistorisch von einer Konstitutivität des Geschlechtseffekts für soziale und personale Systeme spricht.32 Denn selbst wenn sich dies bisher so darstellen mag: Was die Zukunft bringt, weiß niemand. Ferner konstatiert Runte, dass es für die Geschlechterproblematik innerhalb der Systemtheorie (noch) keine systematische Ebene geben soll. Unklar bleibt, warum dies der Fall sein sollte. Offensichtlich bleibt die Geschlechterproblematik bei Luhmann ja nicht unbehandelt. Nur weist er ihr einen gänzlich anderen Stellenwert zu als der Gesellschaftsproblematik, der sein Hauptaugenmerk galt, und 31 | Annette Runte: »Die ›Frau ohne Eigenschaften‹ oder Niklas Luhmanns systemtheoretische Beobachtung der Gender-Differenz«, in: Theresa Wobbe/Gesa Lindemann (Hg.): Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 297325. 32 | Vgl. auch Regine Gildemeister: »Die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit«, in: Ilona Ostner/Klaus Lichtblau (Hg.): Feministische Vernunftkritik. Ansätze und Traditionen, Frankfurt a.M.: Campus 1992, S. 220-239, hier S. 234: »Die Kategorie ›Geschlecht‹ hat eine Schlüsselfunktion, die über (und unter) allen anderen Mitgliedschaftskategorien liegt.«

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wenn Luhmann der Geschlechterproblematik gesellschaftstheoretisch keine größere Bedeutung zugesteht, hat dies vielleicht auch gesellschaftstheoretische Gründe. Schließlich thematisiert Runte das Phänomen der transsexuellen Devianz, mit dem sich die Systemtheorie überfordert zeige. Transsexualität bedeutet die personenbezogene Verkehrung der Geschlechtszugehörigkeit, sei es durch symbolische Identifikation, sei es durch chirurgische Manipulation. Dass hierbei innerpsychische Vorgänge eine entscheidende Rolle spielen, könnte systemtheoretisch gar nicht bestritten werden. Runtes Erörterungen hierzu sind hochinteressant. Nur bleibt unklar, weshalb die Systemtheorie sich grundsätzlich außerstande zeigen sollte, auch diese Form der Abweichung von der Norm sinnvoll zu erklären, bloß weil sie es bis dahin noch nicht versucht hatte.33 In dem Aufsatz Soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern – kein Thema innerhalb der Systemtheorie? von 2001 beginnt Ulrike Teubner ihre Auseinandersetzung mit Luhmann mit der Feststellung, dass es wenig ermutigend sei, sich von der Systemtheorie Erkenntnisgewinn für diese Frage zu erhoffen, weil Luhmann der Unterscheidung zwischen Frauen und Männern 33 | Dabei dürfte nicht bloß das Crossing der Geschlechterdifferenz von Interesse sein, wie Garfinkel und später Hirschauer es beschrieben haben (Harold Garfinkel: »Passing and the managed achievement of sex status in an ›intersexed‹ person«, in: Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs: Prentice-Hall, S. 116-185; Stefan Hirschauer: »Die interaktive Konstruktion von Geschlechterzugehörigkeit«, in: Zeitschrift für Soziologie 18 [1989], H. 2, S. 100-118; Stefan Hirschauer: Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Über die Medizin und den Geschlechtswechsel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993), sondern auch deren Rejektion durch einen dritten Wert, der sich dieser Differenz entzieht und dennoch nicht geschlechtslos ist, vgl. Judith Butler: »Zwischen den Geschlechtern. Eine Kritik der Gendernormen«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 33/34 (2002), S. 6-8.

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jede Eignung abspreche, zum Ausgangspunkt für wissenschaftliche Reflexionen zu werden.34 In dieser Pauschalität geht Teubner zu weit. Zutreffend ist, dass Luhmann ein Problem darin sah, wenn die damalige Frauenforschung auf dem Stand einer bloßen Reflexionstheorie der Frauenbewegung hätte verharren wollen. Davon unberührt bleibt die Tatsache, dass jede Unterscheidung zum Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Reflexion werden kann, wenn man es nur wissenschaftlich macht – und erneut gilt: Man kann einen solchen Wissenschaftsbegriff unvermittelt zurückweisen, ist dann aber im Zugzwang, wissenschaftlich zu begründen, weshalb. Teubner unternimmt anschließend eine Rekonstruktion der Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Kommunikation, wie Luhmann sie favorisiert, die sie mit einer Reihe von Fragen an die Systemtheorie abschließt.35 Im weiteren Verlauf weist Teubner dann Luhmanns These zurück, die Unterscheidung nach Geschlecht in funktional 34 | Ulrike Teubner: »Soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern – kein Thema innerhalb der Systemtheorie?«, in: Gudrun-Axeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.): Soziale Verortung der Geschlechter. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik, Münster: Westfälisches Dampfboot 2001, S. 288316. 35 | Vgl. ebd., S. 294: »Aus feministischer Perspektive lässt sich fragen, welche Bedeutung der Unterscheidung von psychischem und sozialen System für die Modellierung von Formen sozialer Ungleichheit, die an die Geschlechtszugehörigkeit gebunden sind, zukommt. Welche Relevanz hat das skizzierte Kommunikationskonzept für die Aufrechterhaltung einer Geschlechterordnung in und zwischen den sozialen Funktions-Systemen einer Gesellschaft? Und welche Bedeutung hat ein Konzept von Gesellschaft, das als Netzwerk sozialer Systeme modelliert ist – mit dem Individuum quasi als ›Knoten‹ an verschiedenen Schnittstellen in und zwischen diesen Systemen – für die Analyse des Geschlechterverhältnisses in Industriegesellschaften?«

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differenzierten Gesellschaften spiele keine Rolle mehr. Dies war nicht Luhmanns These. Luhmann war lediglich daran gelegen, auf einen Funktionsverlust der Geschlechtskategorie auf der Makroebene der modernen Gesellschaft hinzuweisen. Dem steht keineswegs entgegen, wenn der Geschlechterdifferenz weiterhin Strukturwert zukommt. Nur muss man sich dann fragen, unter welchen Bedingungen, wie im Falle der Inklusion von Frauen in das gesellschaftliche Erwerbssystem.36 Hier haben wir es nämlich mit der Inklusion von Frauen in Organisationen zu tun, und damit sind ganz andere Probleme berührt, als sie auf der Makroebene vorkommen.37 In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Teubner die Geschlechterproblematik für alle drei Ebenen thematisiert, also für Interaktionen, Organisationen und Gesellschaften, nur dass sie diese Ebenendifferenzierung nicht immer ausreichend berücksichtigt. Denn sonst hätte ihr auffallen können, dass der Fortbestand der Geschlechterdifferenz im Wirtschaftssystem auf der Makroebene ein Sekundäreffekt darstellt, wie schon Luhmann mit Blick auf die Warengestaltung und die Werbung der Wirtschaft geltend gemacht hat,38 und nicht etwa ein Primäreffekt. Insofern geht es bei Luhmann keineswegs um den Versuch einer Dethematisierung der Geschlechterdifferenz, wie Teubner insinuiert,39 sondern lediglich um Kontextualisierung.40 Abschließend ist festzuhalten, dass 36 | Vgl. ebd., S. 305. 37 | Vgl. Armin Nassehi/Gerd Nollmann: »Organisationssoziologische Ergänzungen der Inklusions-/Exklusionstheorie«, in: Soziale Systeme 3 (1997), H. 2, S. 393-411. 38 | N. Luhmann: »Frauen, Männer und George Spencer Brown«, S. 64. 39 | U. Teubner: »Soziale Ungleichheit«, S. 306. 40 | Vgl. Gerd Nollmann: »Die Hartnäckigkeit der Geschlechterungleichheit. Geschlecht als soziale Zurechnungskategorie«, in: Soziale Welt 53 (2002), H. 2, S. 161-187; S. Hirschauer: »Das Vergessen des Geschlechts«,

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sich das Geschlecht durchaus als eine Kategorie der Gesellschaftstheorie eignet – nur eben als eine Kategorie neben vielen anderen, die allesamt kein Privileg auf Präferierung beanspruchen können.41 Was die Betrachtung der Geschlechterdifferenz mit Hilfe der systemtheoretischen Ebenendifferenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft betrifft, so hat sich auch Bettina Heintz in ihrem Einleitungsbeitrag Geschlecht als (Un-)Ordnungsprinzip. Entwicklungen und Perspektiven der Geschlechtersoziologie zum KZfSS-Sonderband von 2001 genau dieser Unterscheidung zentral bedient.42 Der Gewinn dieses Vorgehens liegt darin, dass der Geschlechtskategorie auf allen drei Ebenen eine je unterschiedliche Relevanz zukommt, womit sich die Paradoxie auflöst, der Geschlechtskategorie für die Makroebene der modernen Gesellschaft eine abnehmende Relevanz zu bescheinigen, obgleich sie nichtsdestoweniger überall noch vorkommt. Außerdem macht Heintz darauf aufmerksam, dass die Geschlechtskategorie ein Kollektivmerkmal neben anderen ist, weshalb man sich mehr als bisher um die besonderen Kontextbedingungen und die Relativität ihrer Erscheinungsweisen kümmern muss. »Menschen sind nicht nur Frauen und Männer, sondern gleichzeitig Angehörige sozialer Schichten, ethnischer Gruppen, Re-

S. 215ff.: »Dass die Geschlechterdifferenz kein Reservat kennt, sondern omnipräsent ist und unberechenbar überall relevant gemacht werden kann, bedeutet nicht, dass dies auch in jeder Situation geschieht. […] Allerorten und für immer ist nicht jederzeit.« 41 | Vgl. Erving Goffman: Interaktion und Geschlecht, Frankfurt a.M.: Campus 1994. 42 | Bettina Heintz: »Geschlecht als (Un-)Ordnungsprinzip. Entwicklungen und Perspektiven der Geschlechtersoziologie«, in: B. H. (Hg.): Geschlechtersoziologie, Opladen: Westdeutscher Verlag 2001, S. 9-29.

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gionen, Nationen etc. D.h. Geschlecht ist nur eine Differenzierungsdimension unter mehreren, und es ist eine offene Frage, unter welchen Bedingungen sie zu einem dominanten Prinzip wird und wann sie gegenüber anderen Dimensionen in den Hintergrund tritt.«43 Zuletzt sei noch auf die Arbeit Die systemtheoretische Alternative zum Sex-und-Gender-Konzept: Gender als geschlechtsstereotypisierte Form »Person« von Christine Weinbach aus dem letzten Jahr hingewiesen.44 Wie sich schon bei Teubner und Heintz abgezeichnet hatte, hat sich die Auseinandersetzung der heutigen Gender Studies mit Luhmann mittlerweile auf eine Ebenendifferenzierung verständigt, die neben der Gesellschaftsebene, um die es Luhmann 1988 vornehmlich ging, auch die Organisations- und die Interaktionsebene in die Betrachtung mit einbezieht. In beiden Fällen sieht sich die Kommunikation Erfordernissen gegenüber, die eine strukturelle Berücksichtigung der Geschlechterdifferenz sehr viel wahrscheinlicher erscheinen lassen, als dies auf der Makroebene der modernen Gesellschaft Sinn macht. So kann bei Organisationen davon ausgegangen werden, dass sie zur Bewertung und Einstellung von Personen in bestimmte Leistungsrollen jedes nur erdenkliche Kriterium heranziehen, das ihnen zur Verfügung steht. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus rational, sich auch auf Geschlechterstereotype zu beziehen, die den Geschlechtern unterschiedliche Kompetenzen zurechnen. Inwieweit dies konkrete Folgen zeitigt, die von den Stereotypen prognostiziert werden, ist dabei zweit-

43 | Ebd., S. 23. 44 | Christine Weinbach: »Die systemtheoretische Alternative zum Sexund-Gender-Konzept: Gender als geschlechtsstereotypisierte Form ›Person‹«, in: Ursula Pasero/Ch. W. (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 144-170.

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rangig, sofern Bewerber und/oder Personalabteilung nur dementsprechende Erwartungen hegen45 – wobei man nicht vergessen darf, dass die Beachtung solcher Kriterien im Falle der Einstellung nahe liegt und damit realisiert, was zunächst nur fingiert wurde: self fulfilling prophecy. Weinbach führt dies an der unterschiedlichen Bewertung männlicher und weiblicher Führungskräfte mittels der vier Kriterien Fähigkeit, Anstrengung, Schwierigkeit und Zufall kurz vor. Doch auch generell kann das Konzept der Person, wie Luhmann es entwickelt hat,46 ohne Aufwand um ein geschlechtlich gefasstes Erwartungsbündel ergänzt werden, sofern sich nur die Gelegenheit ergibt, darauf in der Kommunikation und insbesondere in Interaktionen zuzugreifen. Denn gerade Interaktionssysteme scheinen die Geschlechtskategorie im Spiel zu halten, weil ihr Zurechnungswesen so stark auf Wahrnehmung ausgerichtet ist, und hierfür bietet sich das Geschlechtliche an einer Person zweifelsohne an. Dieses Argument leitet zum letzten Abschnitt dieses Beitrags über.

45 | Vgl. für das schwierige Verhältnis von Technik und Frauen die Studie von Margrit Mooraj, bei der es um die Antizipation geschlechtsspezifischer Erwartungsstrukturen bei der Aufnahme eines technischen Studienfachs – durch die Frauen geht: M. M.: Frauen, Männer und Technik: Ingenieurinnen in einem männlich besetzten Berufsfeld, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2001. 46 | Niklas Luhmann: »Die Form ›Person‹«, in: Soziale Welt 42 (1991), H. 2, S. 166-175.

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3. Die Funktion von Geschlecht in der modernen Gesellschaft Luhmann hat die Geschlechterproblematik lange Zeit wie einen blinden Fleck behandelt: Sie wurde einfach nicht thematisiert.47 Freilich gilt dies auch für andere Problembereiche wie die ökologische Kommunikation, soziale Ungleichheit oder Exklusion. Insofern hat man es hier mit einer Indifferenz oder Ignoranz zu tun, die sich nicht ausschließlich gegen diese Problematik richtete, sondern allgemeiner Natur war. Der Grund dafür lag wahrscheinlich im besonderen Forschungsinteresse Luhmanns, das primär auf Gesellschaftstheorie bezogen war und vieles, was damit in keiner direkten Verbindung stand, so lange als irrelevant außer Acht ließ, bis sich doch noch ein für Luhmann interessanter Zusammenhang ergab. Von daher begründet sich auch die Kernaussage im Aufsatz von 1988, dass die Geschlechtskategorie in der modernen Gesellschaft an Bedeutung verlieren wird. Denn gesellschaftstheoretisch spricht einiges dafür.48 Zugleich war damit keineswegs behauptet worden, die Geschlechterdifferenz hätte jede Bedeutung eingebüßt. Nur musste diese auf andere Weise erklärt werden als mit Rekurs auf die moderne Gesellschaft, die dafür keinen Bedarf mehr hat.49 47 | Vgl. S. Hirschauer: »Das Vergessen des Geschlechts«. 48 | Vgl. auch H. Tyrell: »Geschlechtliche Differenzierung«; A. Nassehi: »Geschlecht im System«. 49 | Im Falle der Persistenz dieses Phänomens auf der Makroebene der modernen Gesellschaft – man denke funktional äquivalent an die Begriffe Nation und Klasse – könnte man vielleicht von einem Involutionseffekt sprechen, demzufolge veraltete Semantiken so lange in Gebrauch bleiben, bis sich neue herausgebildet haben (vgl. Christine Weinbach/Rudolf Stichweh: »Die Geschlechterdifferenz in der funktional differenzierten Gesellschaft«, in: Bettina Heintz [Hg.]: Geschlechtersoziologie, Opladen: West-

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Die Alternativen sind inzwischen bekannt: die beiden anderen Systemtypen Interaktion und Organisation. In beiden Fällen lautet das Argument: Die fortdauernde Relevanz der Geschlechterdifferenz leitet sich aus ihrem Informationswert ab. Es handelt sich schlichtweg um einen Unterschied, der noch immer einen Unterschied macht – nur nicht mehr auf der Makroebene. Im Falle der Interaktion ist dies evident, denn hier geht es um die Kommunikation unter Anwesenden, und dabei spielt die wechselseitige Wahrnehmung eine tragende Rolle. Wahrnehmung bezieht sich nämlich auf den gesamten Körper und dessen Verhalten, und von daher können schon minimale Unterschiede hochinformativ sein, sofern sie nur entsprechend codiert wurden und auch bemerkt werden50 – und offensichtlich ist dies der

deutscher Verlag 2001, S. 30-52, hier S. 35). Denn »die Gewohnheit, die Geschlechterdifferenz so zu sehen, trägt noch eine Weile.« (Niklas Luhmann: »Sozialsystem Familie«, in: N. L.: Soziologische Aufklärung. Bd. 5. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 196-217, hier S. 209) Zum Begriff der Involution vgl. Niklas Luhmann: »Über Natur«, in: N. L.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4, Frankfurt a.M. 1995, S. 9-30. 50 | Vgl. die feinen Unterschiede in der Kleiderordnung, die Marshall Sahlins mit Blick auf die Geschlechterdifferenz beschrieben hat (Marshall Sahlins: »La pensée bourgeoise. Die westliche Gesellschaft als Kultur«, in: M. S.: Kultur und praktische Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 235-287, hier S. 469f.). Siehe hierzu ferner Cornelia Bohn: »Kleidung als Kommunikationsmedium«, in: Soziale Systeme 6 (2000), H. 1, S. 111-136; S. Hirschauer »Das Vergessen des Geschlechts«, und erweitert auf das gesamte Wahrnehmungsspektrum H. Tyrell: »Geschlechtliche Differenzierung«, S. 463: »Wir lesen die Geschlechtszugehörigkeit des ›alter ego‹ an der leiblichen Erscheinung, den ›body outlines‹, an Gestalt und Bewegung,

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Fall, denn ein Großteil der neueren Literatur konzentriert sich auf diesen Zusammenhang.51 »Die Geschlechterdifferenz fungiert […] als systeminterne Orientierungshilfe.«52 Inzwischen wird sogar überlegt, das Konzept der Person, wie Luhmann es entwickelt hat, generell um die Dimension des Geschlechtlichen zu erweitern, weil diese beim Gebrauch der symbolischen Identifikation »Person« regelmäßig zum Tragen kommt.53 Diese Idee war übrigens schon in dem Aufsatz Geschlechtliche Differenzierung und Geschlechterklassifikation von Hartmann Tyrell angelegt. So ging Tyrell davon aus, dass die Geschlechterdifferenz jede

an Gestik und Mienenspiel, Kleidung, Frisur, Schmuck usw. ab, und das früh geschulte Sensorium macht das Geschlecht noch am Hören der Stimme, ja im Blick auf die Schrift nahezu zweifelsfrei aus.« 51 | Vgl. S. Hirschauer: »Die interaktive Konstruktion von Geschlechterzugehörigkeit«; Stefan Hirschauer: »Wie sind Frauen, wie sind Männer? Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem«, in: Christine Eifert u.a. (Hg.): Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 240-256; Thomas Küpper: »Der beobachtete Körper. Systemtheorie und Gender Studies«, in: Alexandra Karentzos/Birgit Käufer/Katharina Sykora (Hg.): Körperproduktionen. Zur Artifizialität der Geschlechter, Marburg: Jonas 2002, S. 34-41; G. Nollmann: »Die Hartnäckigkeit der Geschlechterungleichheit«; U. Pasero: »Gender, Individualität, Diversity«. 52 | Ch. Weinbach/R. Stichweh: »Die Geschlechterdifferenz in der funktional differenzierten Gesellschaft«, S. 43. 53 | Vgl. ebd.; A. Nassehi: »Geschlecht im System«; U. Pasero: »Gender, Individualität, Diversity«; Ch. Weinbach: »Die systemtheoretische Alternative zum Sex-und-Gender-Konzept«. Dabei hat insbesondere Stefan Hirschauer eine Reihe von Argumenten vorgebracht, dass die Indifferenz des Geschlechts selbst für die Interaktion gelten kann (S. Hirschauer: »Das Vergessen des Geschlechts« u.ö.).

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Person erfasst und zumindest in Interaktionen durchweg relevant ist.54 Interaktionsübergreifend gibt es hierfür ein Ensemble von Merkmalen, das den zweigeschlechtlichen Erkennungsdienst anleitet, wie Tyrell das Differenzierungsvermögen in der Geschlechterfrage treffend bezeichnet hat. Bemerkenswert ist ferner, dass Tyrell die strikte Dichotomie der Geschlechter exklusiv auf die Sprache zurechnet, da die Wahrnehmung für sich keine binären Strukturen kennt. »Zur adäquaten Selbst- und Fremdkategorisierung bedarf es unabdingbar der kompetenten Beherrschung der Geschlechterterminologie und -grammatik. Geschlechtsidentität gibt es nur in sprachlicher Fassung.«55 Dritte Geschlechtswerte neben Mann und Frau sind damit nicht ausgeschlossen. Im Falle der Organisation wurde schon darauf hingewiesen, dass bei der Besetzung von Leistungsrollen das Geschlecht als Kriterium weiterhin zum Einsatz kommt.56 Dies macht auch Sinn, solange der Geschlechterdifferenz auch nur der geringste Informationswert zugetraut wird, mag dieser auf Erfahrung oder Vorurteil beruhen: Für die konkrete Personalentscheidung ist dieser Unterschied zweitrangig.57 Darüber hinaus kann man die 54 | H. Tyrell: »Geschlechtliche Differenzierung und Geschlechterklassifikation«; vgl. auch E. Goffman: Interaktion und Geschlecht. 55 | H. Tyrell: »Geschlechtliche Differenzierung und Geschlechterklassifikation«, S. 462. 56 | Speziell zur Geschlechterasymmetrie im Wissenschaftsbetrieb vgl. Doris Lucke: »Männer, Frauen und die Soziologie. Zur halbierten Emanzipation einer aufklärerischen Disziplin«, in: Soziologie 1999, H. 2, S. 23-45; Ellen Kuhlmann/Hildegard Matthies: »Geschlechterasymmetrie im Wissenschaftsbetrieb«, in: Berliner Journal für Soziologie 11 (2001), H. 1, S. 31-50. 57 | Vgl. Ch. Weinbach/R. Stichweh: »Die Geschlechterdifferenz in der funktional differenzierten Gesellschaft«; G. Nollmann: »Die Hartnäckigkeit der Geschlechterungleichheit«.

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Relevanz der Geschlechtskategorie auch auf die Publikumsrollen ausweiten, gerade aus Sicht der Organisationen, die mit einer geschlechtsspezifischen Ansprache ihrer Zielgruppen durch Werbung und andere Wege eine höhere Erfolgsquote ihrer Kommunikationsbemühungen erreichen als ohne. Auch hier gilt: Solange diese Strategie erfolgsträchtig, also anschlussfähig ist, besteht die Chance auf Fortführung. Diskriminierung mag damit verbunden sein, aber das Kalkül zielt primär auf Kommunikationserfolg.58 Um schließlich nochmals auf den Systemtyp Gesellschaft zurückzukommen, so ist nicht ausgeschlossen, dass die Geschlechtskategorie sich auch dort bemerkbar macht, obgleich ihr eigentlich keine strukturelle Relevanz mehr zukommt. Genau darin könnte nämlich ein Problem liegen, das zum Problem wird und als Problem Protest auslöst. Luhmann hat diese Möglichkeit schon einmal für das Verhältnis von funktionaler Differenzierung und Moral erwogen. Demnach verbietet sich die Moralisierung von Funktionssystemen aufgrund ihrer höheren Amoralität, weil die Moralisierung von Funktionssystemen die Funktionsfähigkeit ihres Strukturbetriebs, insbesondere ihrer Funktionscodes, empfindlich beeinträchtigt, wenn nicht blockiert. Doch so, wie Moralisierung den Code eines Funktionssystems blockieren kann, kann der Blockierung eines Codes durch Moralisierung auch vorgebeugt werden. Luhmann begründet diese Inversion des Risikokalküls damit, dass in dem Moment, da ein Code kollabiert, also keine erkennbare Differenz zwischen seinen Werten, etwa kein qualitativer Unterschied zwischen Regierung und Opposition mehr feststellbar ist, Moral genau hierauf aufmerksam machen und es problematisieren kann.59 Moral würde 58 | Vgl. Sarah Baston: Economic Girl Power (2002), http://www.brand channel.com vom 5. Februar 2003. 59 | Es kann aber entgegen der Option ›Voice‹ auch die Option ›Exit‹

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damit eine Art Wächterrolle ausfüllen; Luhmann spricht hier konsequent von »Codeschutzfunktionen der Moral«.60 Dabei attestiert Luhmann Moral generell eine »hochselektive Empfindlichkeit für Restprobleme der Gesellschaftsordnung«, die bei ihr eine Art »Alarmierfunktion« auslösen können, sofern es sich um »dringende gesellschaftliche Probleme« handelt, für die die Funktionssysteme aufgrund ihrer Bauweise strukturell blind sind.61 Dadurch aber zeigt Moral verstärkt Züge eines ›Immunsystems‹, das die Gesellschaft von innen schützt, wenn es zu ökologischen Anschlussproblemen mit der inner- oder außergesellschaftlichen Umwelt kommt.62 »Die Moralisierung schützt vor Beliebigkeit und Folgenlosigkeit, sie legt den fundamentalen Kern auch begrenzter Randprobleme frei.«63 gewählt werden, vgl. Günter Bannas: »Dann macht es doch allein«, in: FAZ 220 vom 22. September 1999, S. 1. 60 | Niklas Luhmann: »Ethik als Reflexionstheorie der Moral«, in: Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 358-447. 61 | Niklas Luhmann: »The Code of the Moral«, in: The Cardozo Law Review 14 (1993), S. 995-1009, hier S. 1004; Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 402ff. 62 | Vgl. auch Hans-Joachim Giegel: »Moral und funktionale Differenzierung«, in: Soziale Systeme 3 (1997), H. 2, S. 327-350; Wolfgang Krohn: »Funktionen der Moralkommunikation«, in: Soziale Systeme 5 (1999), H. 2, S. 313-338; Kai-Uwe Hellmann: »Sind wir eine Gesellschaft ohne Moral? Soziologische Anmerkungen zum Verbleib der Moral in der Moderne«, in: Ulrich Willems (Hg.): Interesse und Moral als Orientierungen politischen Handelns, Baden-Baden: Nomos 2003, S. 101-133. 63 | Helmuth Berking: »Die neuen Protestbewegungen als zivilisatorische Instanz im Modernisierungsprozeß?«, in: Hans Peter Dreitzel/Horst Stenger (Hg.): Ungewollte Selbstzerstörung. Reflexionen über den Umgang mit

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Genau dieser Effekt der Verkehrung einer Dysfunktion in eine Alarmierfunktion könnte nun auch für den Einsatz der Geschlechtskategorie gegenüber den Funktionssystemen eintreten. Anlass wäre zum Beispiel der Umstand, dass die Funktionssysteme der Notwendigkeit wie dem Selbstanspruch auf Inklusion aller ohne Ansehen der Person nicht nachkommen und damit ein strukturelles Problem in Bezug auf den dauerhaften Verbleib von Personen im Außenbereich bestimmter Systeme auftaucht, was allenfalls kurzfristig, keineswegs aber langfristig tolerierbar ist, und zwar aus Sicht der Gesellschaft nicht tolerierbar ist.64 Entsprechend könnte man dann von der Codeschutzfunktion des Geschlechts sprechen, solange diese noch so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, dass sie beim Gebrauch der symbolischen Identifikation »Person« spürbar ins Gewicht fällt. Am Ende ist festzuhalten, dass das Verhältnis zwischen Systemtheorie und Gender Studies noch immer beeinträchtigt ist. Die Systemtheorie hat es bislang kaum geschafft, auf die Frauenforschung nachhaltig Eindruck, genauer: positiven Eindruck zu machen. Umgekehrt ist mir nicht bekannt, dass die Gender Studies einen nachweisbaren Einfluss auf die Systemtheorie genommen haben. Für die Theoriebelange der Systemtheorie erscheinen die Arbeiten der Gender Studies möglicherweise als nicht ergiebig genug, und was den Gegenstandsbereich betrifft, so kommen in der Gesellschaft sicher auch Frauen und Männer vor, aber nur als ein Thema unter unzähligen anderen, auf die sich das Interesse der Systemtheorie als Supertheorie katastrophalen Entwicklungen, Frankfurt a.M.: Campus 1990, S. 47-61, hier S. 59. 64 | Zum Zusammenhang von Geschlechterdifferenz und politischer Inklusion vgl. Christine Weinbach: »Systemtheorie und Gender. Überlegungen zum Zusammenhang von politischer Inklusion und Geschlechterdifferenz«, in: Soziale Systeme 8 (2002), H. 2, S. 307-332.

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ebenso richtet. In Anbetracht dessen eine forschungsstrategische Priorität für das Gender-Thema einzurichten, erscheint der Systemtheorie offenbar abwegig. Genau dies könnte wiederum die Gender Studies davon abhalten, das faszinierende Beobachtungsund Erklärungspotential der Systemtheorie für sich in Anspruch zu nehmen, weil ihr Forschungsgegenstand dort kaum vorkommt. Aber dies sind lediglich Vermutungen, eine genauere Prüfung des Missverhältnisses von Systemtheorie und Gender Studies steht noch aus.

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Systemtheorie und Gender: Geschlechtliche Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft 1 Christine Weinbach

Die Relevanz der Kategorie Geschlecht wird von der feministisch geprägten Geschlechterforschung ganz allgemein durch ihre Funktion als Platzanweiser, als Inklusionskriterium beim Zugang zum sexuierten Spektrum sozialer Rollen, in den Vordergrund gestellt. Untermauert wird diese Behauptung durch unzählige, auf soziale Ungleichheitsfragen fokussierte empirische Studien. 1 | Den Ausgangspunkt zu diesem Text bilden ein Vortrag, den ich am 2.6.2003 im Colloquium »Gender Studies« an der Ludwig-MaximiliansUniversität München gehalten habe, und die anschließende Diskussion. Ich danke Stefan Hirschauer und den TeilnehmerInnen für ihre kritischen Fragen und hilfreichen Anmerkungen.

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Seit wenigen Jahren sind vermehrt Stimmen zu hören, die einen Perspektivenwechsel einfordern:2 Die Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit für Inklusionsfragen nehme aufgrund der funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur ab.3 Wenn überhaupt, dann treibe die Geschlechterdifferenz lediglich als Residuum ihr (nun: unlegitimiertes) distinguierendes Unwesen.4 Geschlechtliche Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft: Mythos oder Wirklichkeit? Vermutlich beides. Denn einerseits ermöglicht diese Gesellschaft in nie zuvor gekanntem Ausmaß die Gleichgültigkeit gegenüber zugeschriebenen Eigenschaften bei der Verteilung sozialer Rollen und skandalisiert Verstöße gegen diesen zentralen Aspekt ihres Selbstverständnisses. Andererseits zeigen besagte sozialwissenschaftliche Forschung und die Alltagserfahrung, dass die Geschlechtszugehörigkeit als informelles Inklusionskri2 | Siehe z.B. die nicht-repräsentative Übersicht bei Gudrun-Axeli Knapp: »Grundlagen und stille Post. Zur Debatte um einen Bedeutungsverlust der Kategorie ›Geschlecht‹«, in: Bettina Heintz (Hg.): Geschlechtersoziologie. Sonderheft 41 (2001) der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001, S. 53-74. 3 | Prominent ist hier der Text von Ursula Pasero, in dem sie die »Dethematisierung von Geschlecht« behauptet: »Dethematisierung von Geschlecht«, in: Ursula Pasero/Frederike Braun (Hg.): Konstruktion von Geschlecht. Schriftenreihe des Zentrums für interdisziplinäre Frauenforschung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Bd. 1 (hg. von Gudula Linck und Ursula Pasero), Pfaffenweiler: Centaurus 1995, S. 50-66. Vgl. kritisch dazu G.-A. Knapp: Grundlagen und stille Post. 4 | Vgl. dazu Christine Weinbach/Rudolf Stichweh: »Die Geschlechterdifferenz in der funktional differenzierten Gesellschaft«, in: Bettina Heintz (Hg.): Geschlechtersoziologie. Sonderheft 41 (2001) der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001, S. 30-52.

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terium weiterhin sehr lebendig ist. Ein solch ambigues Bild der gesellschaftstheoretischen Analyse zu unterziehen, ist eine Herausforderung. Dieser Text nimmt sie an und hat seine Werkzeuge gewählt: Begriffe wie »primäre Differenzierungsform«, »System/Umwelt«, »Form Person« oder »Ebenendifferenzierung« gehören dazu. Sie entstammen dem Repertoire der Luhmann’schen Systemtheorie und sind scharf!, nicht stumpf, wie die Kritik gerne meint.5 Ihre zusätzliche Präparierung ist dennoch notwendig, um sie an der für die Systemtheorie bislang ungewohnten Fragestellung auszurichten: Die Ergänzung oder Erweiterung mancher Begriffe ist für ihre Zuspitzung auf die Problemstellung unerlässlich. Doch bevor die Schmiedearbeiten vorgenommen werden können, müssen erst einmal die Rahmenbedingungen des Problems definiert werden: Was ist das Spezifische an den Bedingungen sozialer Inklusion für die funktionale Gesellschaftsstruktur (1.)? Sind die Koordinaten abgesteckt, kann die Diskussion um die Relevanz der Geschlechterdifferenz zu Fragen sozialer Ungleichheit beginnen. Sie wird sich nach zwei Richtungen hin orientieren: Einmal fragt sie, ob das Geschlecht der Personen Folgen für den Kommunikationsverlauf hat (2. und 3.). Dann befasst sie sich mit der Verteilung von Inklusionschancen vor dem Hintergrund geschlechtlicher Ungleichheit (4.).

5 | Vgl. z.B. Annette Runte: »Die ›Frau ohne Eigenschaften‹ oder Niklas Luhmanns systemtheoretische Beobachtung der Geschlechterdifferenz«, in: Theresa Wobbe/Gesa Lindemann (Hg.): Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 297-326.

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1. Inklusionsbedingungen der funktional differenzierten Gesellschaft Die Folie unserer Fragestellung bildet die Annahme, dass sich mit der Umstellung der primären Differenzierungsform der Gesellschaft von stratifizierter auf funktionale Differenzierung radikale Veränderungen der Inklusionsmodalitäten durchgesetzt haben. Waren die Individuen der stratifizierten Gesellschaft in Orientierung an ihrer Geschlechtszugehörigkeit, ihrem Alter und ihrer sozialen Schicht in die Teilsysteme dieser Gesellschaft ›hineinplatziert‹ worden, indem ihnen ein spezifisch definiertes Bündel sozialer Rollen zugewiesen wurde,6 so lassen sie sich nun nicht mehr den funktional definierten Teilsystemen zuordnen. Stattdessen sind sie in der Umwelt der Gesellschaft verortet und nur noch von Moment zu Moment, nur im Moment ihrer Teilhabe an der funktionsspezifischen Kommunikation (Kirchgang, Einkauf, Wahl, Schulbesuch etc.) in die verschiedenen Gesellschaftsbereiche inkludiert. Die Funktionssysteme haben sich zudem intern ausdifferenziert und spezifische Leistungsund Publikumsrollen ausgebildet.7 Aus den Leistungsrollen heraus werden die Außenkontakte des Systems auf funktional spezifizierte Weise bearbeitet: Im politischen System werden kollektiv bindende Entscheidungen vorbereitet und durchgesetzt, 6 | Vgl. Niklas Luhmann: »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«, in: N. L.: Gesellschaftsstruktur und Semantik 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 9-71, S. 30. 7 | Niklas Luhmann: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München/ Wien: Olzog 1981, S. 25ff.; Rudolf Stichweh: »Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft«, in: Renate Mayntz/Bernd Rosewitz/Uwe Schimank/Rudolf Stichweh: Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme. Frankfurt a.M./New York: Campus 1988, S. 261-294.

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im Erziehungssystem Erziehungsziele entworfen, operationalisiert und schließlich umgesetzt usw. Den Leistungsrollenträgern stehen die Publikumsrollen, in die der ›Rest der Bevölkerung‹ inkludiert ist, gegenüber. Die Beziehung zwischen diesen Komplementärrollen ist rein funktional definiert. Das heißt auch, dass ihre Inklusionsbedingungen an funktionseigenen Gesichtspunkten und nicht funktionssystemexternen Merkmalen wie sozialer Schicht, Geschlecht und (mit Einschränkungen) Alter ausgerichtet werden. Deshalb sind Männer und Frauen in vergleichbarer Weise in die verschiedenen Gesellschaftsbereiche inkludiert. Sie nehmen in der funktional differenzierten Gesellschaft an den gleichen funktionalen Interaktionstypen teil: z.B. als KundIn, BürgerIn, SchülerIn, ZeitungsleserIn. Solche funktionalen Rollenerwartungen fragmentieren, wie wir seit Simmel wissen, das moderne Individuum, so dass die Übernahme einer Rolle nicht automatisch ein ganzes Rollenbündel nach sich zieht, wie dies in einer stratifizierten Gesellschaft der Fall wäre: Erwachsene, männliche Familienmitglieder sind heute nicht notwendig und automatisch in der spezifischen Familienrolle des Haupternährers.8 8 | Das sieht Pierre Bourdieu mit seiner Analyse des Geschlechterverhältnisses bekanntlich ganz anders: »Unbeschadet der Veränderungen, die es durch die industrielle Revolution erfahren hat und von denen die Frauen je nach ihrer Stellung innerhalb der Arbeitsteilung in unterschiedlicher Weise betroffen waren, hat sich das System der grundlegenden Gegensätze erhalten. So hat die Trennung von männlich und weiblich ihr organisierendes Zentrum weiterhin in dem Gegensatz zwischen dem Inneren und dem Äußeren, zwischen dem Haus, mit der Aufzucht der Kinder, und der Arbeit.« Pierre Bourdieu: »Eine sanfte Gewalt. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Irene Dölling und Margareta Steinrücke«, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 218-230, S. 185.

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Dennoch sind Ende der 90er Jahre lediglich ca. 2 Prozent aller Elternschaftsurlaube von Vätern beantragt worden.9 Zufall? Oder gibt es neben der offiziellen Verteilungsordnung sozialer Rollen weitere, ›heimliche‹ Inklusionskriterien? Selbst Ursula Pasero konstatiert trotz ihrer These von der »Dethematisierung« der Geschlechtszugehörigkeit: »Die Geschlechterdifferenz wirkt als sekundäre Differenzierung und durchaus noch mit diskriminierenden Folgen.«10 Gibt es neben der primären, funktionalen Differenzierungsform eine sekundäre Differenzierungsform, die gleichsam hinter dem Rücken der funktional differenzierten Gesellschaft deren ›offizielle‹ Inklusionsmechanismen subvertiert? Zwar haben Forschungsergebnisse gezeigt, dass »die Funktionslogik lebenslaufrelevanter Institutionen (Kindergarten, Institutionen des Bildungs- und des Gesundheitssystems, Arbeitsmarkt) nach wie vor auf eine bestimmte Form geschlechtlicher Arbeitsteilung bezogen« ist – und zwar von Institutionen innerhalb genau dieser funktional differenzierten Gesellschaft.11 Doch wo ist der Ort, von dem aus die Geschlechterdifferenz diese durchschlagende Wirkung entfaltet? Instruktiv ist hier der Vorschlag von Bettina Heintz und Eva Nadai,12 die Interaktion da als verantwortlich zu zeichnen, wo Geschlecht als Distinktions- und Inklusionskriterium auf einer ihm gleichgültig gegenüberstehenden funktional differenzierten ›Makro-Ebene‹ von Bedeutung ist. Sie orientieren sich dabei am Vorschlag Stefan Hirschauers, je nach Relevanz oder Irrelevanz der Geschlechts9 | Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Frauen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1998. 10 | U. Pasero: Dethematisierung von Geschlecht, S. 61. 11 | G.-A. Knapp: Grundlagenkritik und stille Post, S. 67. 12 | Bettina Heintz/Eva Nadai: »Geschlecht und Kontext. De-Institutionalisierungsprozesse und geschlechtliche Differenzierung«, in: Zeitschrift für Soziologie 27 (1998), S. 75-93.

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zugehörigkeit in der Interaktionssituation, zwischen »doing« und »undoing gender« zu unterscheiden.13 Eine derart akteurzentrierte Sicht auf Interaktion als Produktions- und Reproduktionsstätte der Geschlechterdifferenz übersieht jedoch ihre immer schon spezifische ›Rahmung‹ (Goffman). Sie übersieht zudem, dass das »doing« der ›Akteure‹ bereits dadurch determiniert ist, dass sie selbst Teil der Interaktionsstruktur sind. Auch der vorliegende Text bestimmt Interaktion als den Ort, an dem die Geschlechterdifferenz ihre soziale Distinktionskraft heute noch entfaltet. Die Frage, auf welche Weise sie bei der Verteilung von Inklusionschancen wirksam ist, muss jedoch in Hinblick auf die Architektur des Interaktionssystems stattfinden. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Geschlechterdifferenz ihre distinguierende Wirkung als Inklusionsfaktor nur deshalb entfalten kann, weil es einen Unterschied für den Verlauf von Interaktionskommunikationen macht, ob die inkludierten Teilnehmer männliche oder weibliche Personen sind. Das gilt ebenfalls, wenn auch in subtilerer Weise, innerhalb stark formalisierter, geschlechtsneutral definierter Interaktionssituationen. So werden Frauen von Finanzberatern in Fragen der Geldanlage eher in Richtung inflationsgefährdeter Sparanlagen und von Kleinkrediten gelenkt, während man Männer auf vergleichsweise riskante, aber potentiell einträgliche Aktiengeschäfte hinweist.14 Im Arzt/Patient-Verhältnis lassen sich bei Ärztinnen Bemühun13 | Vgl. meine Kritik an Hirschauers Unterscheidung von »doing« und »undoing gender« in: Christine Weinbach: »Die systemtheoretische Alternative zum Sex-und-Gender-Konzept: Gender als geschlechtsstereotypisierte Form ›Person‹«, in: Ursula Pasero/Christine Weinbach (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 144-170. 14 | Ellen Kuhlmann: »Geld und Geschlecht. Der gender-bias in den monetären Verhältnissen«, in: Soziale Welt 46 (1995), S. 384-402, S. 397.

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gen um die Nivellierung des hierarchischen Gefälles beobachten, während Ärzte dies eher betonen.15 Die Zahl der Beispiele ließe sich problemlos erweitern. Die folgenden Ausführungen beginnen mit der Diskussion dieses Phänomens. Sie setzen bei der »Form Person« als Strukturmoment der Interaktionskommunikation an und ergänzen sie mit dem Bourdieu’schen »Habitus«. Auf diese Weise bleibt die Analyse nicht auf die explizite Thematisierung der Geschlechtszugehörigkeit der Interagierenden beschränkt. Sie kann darüber hinaus den Aspekt der Wahrnehmung und des sozialen Körpereinsatzes der inkludierten Bewusstseinssysteme erfassen. Diese Differenz zwischen expliziter Thematisierung durch die Kommunikation und der Wahrnehmung des sozialen Körpereinsatzes der inkludierten Bewusstseinssysteme, so meine These, bildet die Bedingung der Möglichkeit ›heimlicher‹ geschlechtlicher Diskriminierung.

2. Habitus und Person Die Form »Person« ist ein Begriff, den Luhmann explizit als Teilbestand der Kommunikation fasst. Mit ihr ist keineswegs das wahrnehmbare, körperliche Individuum gemeint, das anderen wahrnehmbaren, körperlichen Individuen gegenübersteht und sich interaktiv auf sie bezieht. Die Person ist vielmehr ein Erwartungsbündel, an dem die Kommunikation ihr Anschlussverstehen antizipiert und dem sie eine verstandene Mitteilung zurechnet. Das bedeutet jedoch nicht, dass Kommunikation ohne den 15 | Candance West: »Ärztliche Anordnungen. Besuche bei Ärztinnen und Ärzten«, in: Susanne Günthner/Helga Kotthoff (Hg.): Die Geschlechter im Gespräch. Kommunikation in Institutionen, Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1992, S. 147-176.

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Körper auskäme: Sie ist auf die Bewegungen und Geräusche, die die sozialisierten Bewusstseinssysteme ›mit ihren Körpern‹ erzeugen, angewiesen. Sie nimmt diese Bewegungen und Geräusche jedoch nicht wahr, sondern transformiert sie in Mitteilungen, die sie verstehen kann, indem sie die verschiedenen Mitteilungen soweit aufeinander bezieht, dass diese einen bestimmten Sinn ergeben. Wahrgenommen werden können diese Bewegungen und Geräusche nur von den kommunikativ inkludierten Bewusstseinssystemen – und nicht der Kommunikation. Vor diesem Hintergrund möchte ich zeigen, warum es sich lohnt, den Personenbegriff Luhmanns um den Bourdieu’schen Habitusbegriff zu ergänzen. Der Habitus soll hier als die andere, die durch die Bewusstseinssysteme wahrnehmbare Seite der Form »Person« verstanden werden. Dazu bedarf es einiger Umbauten des Habitusbegriffs selbst.16 Die zentrale Frage dabei lautet, ob der Habitus in sozialer oder psychischer Hinsicht verstanden werden soll. Bourdieu fasst ihn diesbezüglich eher widersprüchlich. Die folgende, immanente Kritik will zeigen, dass es nur konsequent ist, ihn auf den sozialen Aspekt hin zu beschränken. So reformuliert, bietet er sich als komplementäre Seite der Luhmann’schen »Person« geradezu an. Der Habitusbegriff Bourdieus ist als Ergebnis von Sozialisation stets auf einer vorbewussten, körperlichen Ebene in das Individuum eingelassen gedacht. Er ist als ein Speicher gelebter Erfahrungen zu begreifen, aus dem sich das Individuum bedient, 16 | Diese Umbauten habe ich an anderer Stelle ausführlicher vorgenommen, weshalb ich mich hier eher kurz fasse. Siehe Christine Weinbach: »... und gemeinsam zeugen sie geistige Kinder. Erotische Phantasien um Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu«, in: Armin Nassehi/Gerd Nollmann (Hg.): Bourdieu – Luhmann. Von Feldern, Systemen und der Praxis der Kommunikation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.

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wenn es sich in der sozialen Situation verhält, eine Haltung zu ihr einnimmt. »Der Gewaltstreich […], den die soziale Welt gleichwohl gegen jedes ihrer Subjekte ausführt, besteht eben darin, dass sie in seinen Körper ein regelrechtes Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsprogramm einprägt.«17 Damit wird der Habitus in seiner psychischen Dimension betont. Er gilt hier als das Ergebnis von Sozialisation durch Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen: »Die fortschreitende Somatisierung der fundamentalen, für die soziale Ordnung konstitutiven Beziehungen führt schließlich zur Institution von [...] [spezifischen, C. W.] ›Naturen‹«, die sich als »körperliche hexis« ausdrücken, d.h. als spezifische »Klassen von Körperhaltungen, Gangarten, Weisen des Auftretens, Gesten usf.«.18 Der Habitus lässt sich hier problemlos als sozialisiertes Bewusstsein verstehen, das sich in Identifikation mit dem Körper durch eine spezifische körperliche Haltung in der Welt positioniert. Nimmt man andere Textstellen zur Hand, verliert sich diese Eindeutigkeit aber recht schnell: »Die soziale Welt behandelt den Körper wie eine Gedächtnisstütze.«19 Oder anders ausgedrückt: Wer den Habitus einer Person kennt, weiß, was man von dieser Person erwarten kann. Hier steht die soziale Dimension im Vordergrund: Der soziale Körper ist Teil der Gesellschaft, die ihre Kommunikationsabläufe an ihm ausrichtet, die ihren Fortgang in Orientierung an ihm antizipiert. Bourdieus Habitus ist somit letztlich zweidimensional definiert: einmal in psychischer, dann in sozialer Hinsicht. Cornelia Bohn hat betont, dass beide Dimensionen nicht miteinander 17 | Pierre Bourdieu: »Die männliche Herrschaft«, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 153-217, S. 168. 18 | Ebd., S. 162. 19 | Ebd., S. 167.

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identifiziert werden können: »Denn selbst, wenn das Soziale immer Möglichkeitsbedingung des Psychischen ist, so ist das Psychische nicht das Soziale«.20 Vielmehr zwingt dieser Befund dazu, eine Entscheidung zu treffen und damit den Habitusbegriff zu reformulieren. Ist er ein Teilaspekt der individuellen Psyche oder ist er der Gesellschaft zugeordnet? Angesichts dessen, dass Bourdieu immer wieder betont hat, der Habitus sei der Abdruck der Gesellschaft im Körper des Individuums, möchte ich den Habitus als Teil der sozialen Dimension verstehen. Wozu, wenn nicht um soziale Erwartungen zu institutionalisieren, sollte die Gesellschaft den Körper für sich in Beschlag nehmen? So gesehen dient der am Körper sichtbare Habitus dann der Kopplung von individuell zurechenbarem, ›körperlich durchgeführtem‹ sozialen Handeln und allgemeinen sozialen Erwartungen. Diese Kopplung impliziert jedoch die Entkopplung des Psychischen und des Sozialen. Im Unterschied zu Bourdieus Habitusbegriff setzt Luhmanns Personenbegriff die strikte Trennung von Psychischem und Sozialem bereits voraus. Beide Bereiche werden als autonome, autopoietisch und selbstreferenziell organisierte Systeme verstanden, die sich ihre Komplexität wechselseitig zur Verfügung stellen: Das Bewusstseinssystem stellt dem Kommunikationssystem seine Aufmerksamkeit zur Verfügung und lässt sich von ihm weitestgehend zu dem Kommunikationsverhalten motivieren, das für das Kommunikationssystem als Material zur Herstellung seiner Kommunikationselemente notwendig ist. Umgekehrt sozialisiert das Kommunikationssystem das Bewusstseinssystem, d.h. es stellt ihm Sinnformen zum Aufbau psychischer Komplexität zur Verfügung. In diesem Zusammenspiel zwi20 | Cornelia Bohn: Habitus und Kontext. Ein kritischer Beitrag zur Sozialtheorie Bourdieus. Mit einem Vorwort von Alois Hahn, Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 142.

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schen den beiden autonomen Systemen Bewusstsein und Kommunikation dient die Form »Person« ihrer strukturellen Kopplung. Zur Kommunikation gehörig, fungiert sie als Erwartungsbündel, durch das die Kommunikation ihren Fortgang antizipieren kann. Personenformen sind somit nichts anderes als soziale Erwartungen – und als solche Strukturen der Kommunikation. Das Bewusstsein wiederum sieht sich von der Kommunikation als soziale Person angesprochen und vermag sich, im Mead’schen Sinne, mit den »Augen des Anderen« als Person der Kommunikation zu sehen. Aus der Perspektive des Bewusstseins dient die Form »Person« also dazu, »am eigenen Selbst zu erfahren, mit welchen Einschränkungen im sozialen Verkehr gerechnet wird«.21 Darüber hinaus aber ist das Bewusstsein den kommunikativen Anforderungen gegenüber relativ frei: Auch wenn es sich zu den sozialen Anforderungen verhalten muss, so kann es sich seinen Teil denken, lügen, ein Angebot ablehnen, sich selbst in Frage stellen etc. – also eine subjektive Perspektive einnehmen, die zwar nicht losgelöst ist von den Zumutungen der Kommunikation, aber dennoch die Kreativität des Bewusstseins berücksichtigen kann. In dieser systemtheoretischen Perspektive sind Habitus und Person Konstruktionen der Systeme Bewusstsein und Kommunikation: Das Bewusstsein kann im Unterschied zur Kommunikation das Körperverhalten des anderen Bewusstseins wahrnehmen. Es sieht in der spezifischen Komposition von Bewegungen und Geräuschen, von Kleidung und Accessoires die habituell verfasste Person der Kommunikation. An diesem somit immer sozial gefassten Habitus orientiert sich das Bewusstsein, antizi-

21 | Niklas Luhmann: »Die Autopoiesis des Bewusstseins«, in: N. L.: Soziologische Aufklärung 6, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 55-112, S. 153f.

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piert es einen durch ihn symbolisierten Horizont möglicher sozialer Erwartungen. Für die Kommunikation dagegen stellt sich das Körperverhalten des ›mitteilenden‹ Bewusstseins als Person dar, d.h. sowohl als Erwartungsbündel als auch als Adresse von Mitteilungen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Kommunikation ohne das wahrnehmende Bewusstsein auskäme und den Habitus nicht bräuchte: Vielmehr kommt sie erst in Gang, nachdem sich die Bewusstseine wechselseitig als Habitus wahrgenommen haben und dadurch Erwartungserwartungen entstanden sind, die der Kommunikation als Grundlage für eigene Operationen dienen. Nehmen sich die Bewusstseinssysteme mit jeweils unterschiedlichem Habitus wechselseitig wahr, dann entstehen dadurch spezifizierte aufeinander bezogene soziale, durch non-verbales Körperverhalten mitgeteilte Erwartungen. Denn erst wenn (verbalisierte oder non-verbale) Mitteilungshandlungen an Mitteilungshandlungen anschließen, differenziert sich die Kommunikation aus ihrer Umwelt als eigenständiges System heraus. Doch weil Kommunikation nicht wahrnehmen kann und auf die Inputs durch die wahrnehmungsfähigen Bewusstseinssysteme angewiesen ist, muss sie für ›ihre‹ Bewusstseinssysteme eine wahrnehmbare stabile Umwelt bereithalten. Diese wahrnehmbare stabile Umwelt findet das Bewusstseinssystem in der wahrnehmbaren anderen Seite des kommunikativen ›Erwartungsbündels Person‹. Habitus und Person sind somit zwei Seiten derselben ›Medaille‹. Sie ermöglichen die Beobachtung des Körperverhaltens der Bewusstseinssysteme stets in zweierlei Hinsicht: einmal von der Kommunikationsperspektive aus als mitteilende Person, dann von der Bewusstseinsperspektive aus als Habitus der Kommunikation. Körperverhalten des Bewusstseinssystems einerseits, Habitus und Person andererseits sind also strikt zu unterscheiden! Das Bewusstsein verfügt darüber hinaus über eine zweite Beobachtungsmöglichkeit: Es vermag die Differenz zwischen

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Habitus und Person im Blick zu behalten. Das Bewusstsein beobachtet alter immer als Habitus und als Person der Kommunikation. Es sieht somit, ob Habitus und Person ›zusammenpassen‹ oder gar unterschiedliche ›Botschaften‹ übermitteln. Es sieht, anders ausgedrückt, ob das Verhältnis von Habitus und Person stabil oder instabil ist und vermag die Folgen für den Kommunikationsverlauf zu antizipieren. Das hat – ganz gleich, ob die Kommunikation eventuelle Abweichungen thematisiert oder nicht – Folgen für die Inklusionschancen der Individuen. Bezogen auf die oben skizzierte Wirksamkeit der Geschlechterdifferenz bei der Generierung von Erwartungen innerhalb funktional definierter Interaktionszusammenhänge ermöglicht die Ergänzung des Personenkonzeptes durch den Habitus die Herstellung eines ersten Erklärungszusammenhangs. Sie macht nämlich darauf aufmerksam, dass die Erwartungen, die Bewusstseinssysteme und Kommunikation an die Interagierenden herantragen, verschieden sein können. Während in der funktional definierten, wahrnehmungsunfähigen Kommunikation geschlechtsneutrale Erwartungen an die Personen gerichtet werden, orientiert sich das wahrnehmende Bewusstsein an der habituell verfassten, wahrnehmbaren Seite der Person, dem Habitus. Das Resultat ist ein Kommunikationsverlauf, der durch beide Aspekte, den funktionalen und den geschlechtlich-habituellen, strukturiert ist. Die oben angeführten Beispiele haben genau dies verdeutlicht: Auch wenn Männer und Frauen dieselben Funktionsrollen bekleiden, kann die Interaktionskommunikation einen tendenziell je unterschiedlichen, ›geschlechtlich eingefärbten‹ Verlauf nehmen. Dieser tendenzielle Unterschied, den der Geschlechtsunterschied für die Kommunikation macht, ist von der soziolinguistischen Forschung in verschiedenen Studien untersucht worden. Beispielsweise hat Deborah Tannen eine Versuchsanordnung

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vorgenommen,22 in der jeweils zwei Jungen bzw. Mädchen aus der zweiten, der sechsten, der zehnten Klasse, und jeweils zwei Männer oder Frauen im Alter von 25 Jahren in Hinblick auf ihr Körperverhalten und ihre Themenwahl beobachtet werden. Die Aufgabenstellung lautet, dass sich die GesprächspartnerInnen in einem für sie reservierten Zimmer angeregt und intim unterhalten. Ausgehend von der These Helga Kotthoffs,23 dass Kinder und Jugendliche in gleichgeschlechtlichen Peer-groups geschlechtstypisches Verhalten erlernen, nehme ich an, dass sich von hier aus Aufschlüsse über die Erwartungen, die durch den wahrnehmbaren, geschlechtlichen Habitus vermittelt werden, ergeben. Zum Ergebnis der Versuchsanordnung Tannens: Bei den Teilnehmerinnen fällt auf, dass sie in allen Altersstufen dicht beieinander bzw. sich gegenüber sitzen, Blickkontakt halten und sich von Zeit zu Zeit berühren. Sie einigen sich leicht und schnell auf ein gemeinsames Gesprächsthema und behandeln es recht ausführlich, indem ihr Beitrag stets auf den der Vorrednerin Bezug nimmt und ihn unterstützt. Ihr Sprachstil ist insgesamt engagiert, es kommt zu häufigen Überlappungen im Sinne bestätigender Unterbrechungen in Form emotionaler Äußerungen wie Kichern, Kommentaren oder Fragen wie »Weißt du noch?«. Dieser aufeinander bezogene Stil spiegelt sich in ihrer Themenwahl wider, wo meist persönliche Dinge und Probleme angesprochen werden. Die Kommunikation unter den Teilneh22 | Deborah Tannen: Andere Worte, andere Welten. Kommunikation zwischen Frauen und Männern, Frankfurt a.M./New York: Campus 1997. 23 | Helga Kotthoff: »Die konversationelle Konstruktion von Ungleichheit in Fernsehgesprächen. Zur Produktion von kulturellem Geschlecht«, in: Susanne Günthner/Helga Kotthoff (Hg.): Die Geschlechter im Gespräch. Kommunikation in Institutionen, Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1992, S. 251-286.

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mern gibt ein davon recht verschiedenes Bild ab. Auffällig ist, dass es ihnen ganz offensichtlich schwer fällt, »in einem Raum zu sitzen, ohne etwas anders zu tun zu haben als zu reden«.24 Ihre Körperhaltung vermittelt den Eindruck von Desinteresse und Distanz: Sie sitzen parallel zueinander, schauen sich kaum an bzw. müssen dazu den Kopf zueinander drehen. Ihr Blick ist meist in den Raum hinein oder auf Dinge im Raum gerichtet. Den jüngeren Jungen gelingt es nicht, ein gemeinsames Thema zu finden, sie tippen 25 an, ohne bei einem länger zu verweilen. Die älteren dagegen reden ausführlich über jedes Thema, das sogar von persönlichem Inhalt ist. Doch jeder Junge bringt seine eigene Perspektive unmittelbar dann zur Sprache, wenn der andere seine gerade geschildert hat. Insgesamt spielen sie das Anliegen des anderen häufig herunter oder tun es sogar ab. Der Unterschied zwischen dem Gesprächsverhalten der Teilnehmerinnen und der Teilnehmer wird leicht deutlich: Während die Teilnehmerinnen leicht vertrauliche Themen finden und sich darum bemühen, die andere in ihrer Perspektive zu unterstützen, indem sie unmittelbar Bezug nehmen auf die Äußerung und diese emotional unterstützen, scheinen die Teilnehmer eher aneinander vorbeizureden. Jeder versucht hier, sein Thema durchzusetzen, und geht auf das des anderen nur ungenügend ein. Dennoch scheint das die Gesprächspartner nicht sonderlich zu stören, im Gegenteil. Tannen schreibt: »Das Bestreiten der Grundlage für die Klage eines anderen scheint kein Mangel an Einfühlungsvermögen zu sein (wie Frauen das vielleicht wahrnehmen), sondern vielmehr ein Mittel der Bestätigung«25 – und zwar der Bestätigung der differenten Perspektive des Einzelnen. Und genau hier findet sich der, idealtypisch gefasste, Unterschied zwischen weiblichem und männlichem Ha24 | D. Tannen: Andere Worte, andere Welten, S. 99. 25 | Ebd., S. 119.

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bitus: Der weibliche Habitus drückt Übereinstimmung mit alter aus, d.h. eine gemeinsame Perspektive auf die Welt. Im Unterschied dazu betont der männliche Habitus die Differenz zu alter und damit die selektive, andere und ›bessere‹ Perspektive. Versteht man den Habitus als wahrnehmbare Seite der Form Person, und damit als kommunikatives Erwartungsbündel, dann ist leicht verständlich, dass Interaktionskommunikation trotz gleicher funktionaler Rahmung je nach Geschlecht der Teilnehmer einen mehr oder weniger offensichtlichen, unterschiedlichen Verlauf nimmt. Dies macht die geschlechtstypischen Unterschiede bei den oben genannten Beispielen funktional gerahmter Interaktionen plausibel, in denen weibliche Leistungsrollenträger Statusunterschiede und damit perspektivische Differenzen zu minimieren, männliche Leistungsrollenträger sie dagegen zu verstärken suchten. Damit ist aber nicht gesagt, dass die Geschlechterdifferenz als primäres Strukturprinzip von Interaktionskommunikationen fungiert. Das primäre Strukturprinzip findet sich vielmehr in der je spezifischen ›Rahmung‹ der Interaktion, d.h. in ihren spezifischen Rollenerwartungen. Ohne die Berücksichtigung der Interaktionsrolle ist das Phänomen in seiner Vielschichtigkeit also nicht zu begreifen. Doch wie hängen Habitus und Person mit der Interaktionsrolle zusammen?

3. Die Person der Interaktion Ich habe bereits an anderer Stelle vorgeschlagen, die Person der Kommunikation als Einheit der Unterscheidung interner und externer Rollenverpflichtungen zu verstehen.26 Zu diesem Zwe26 | Vgl. Christine Weinbach: Die Geschlechterdifferenz aus der Perspektive der Systemtheorie nach Niklas Luhmann. (Diss.) Bielefeld 2000; C. Weinbach/R. Stichweh: Die Geschlechterdifferenz; C. Weinbach: Die sys-

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cke habe ich die Person der Interaktion mit der Architektur des Interaktionssystems ›konfrontiert‹ und eine Erweiterung des Luhmann’schen Personenkonzeptes vorgenommen.27 Die Person ist hiernach Ausgangspunkt einer systemtheoretisch ausgerichteten interaktionszentrierten Analyse aktueller Geschlechterverhältnisse, die ohne einen Begriff vom Interaktionssystem nicht auskommt. Interaktionssysteme bestehen, wie alle sozialen Systeme, aus Kommunikation, d.h. aus einem Prozess selbstreferenziell aufeinander bezogener, aus den Komponenten Information, Mitteilung und Verstehen zusammengesetzter Elemente.28 Eine Voraussetzung ihres Prozessierens ist die wechselseitige Wahrnehmung von Bewusstseinssystemen als Personen innerhalb einer Situation doppelter Kontingenz. Somit ist Anwesenheit die Bedingung der Möglichkeit von Interaktionskommunikation, womit nicht allein die rein physische Anwesenheit gemeint ist, sondern die Berücksichtigung der anwesenden Personen als Adressen der Kommunikation (Beispiel: Gespräch zweier Personen in einem gut besuchten Restaurant). Mit der Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit unterscheidet sich das Interaktionssystem als System von seiner Umwelt. Führt es diese als Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz wieder in sich ein, wird es ihr möglich, Anwesendes und Abwe-

temtheoretische Alternative; C. Weinbach: Systemtheorie und Gender. Das Geschlecht im Netz der Systeme, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. 27 | Bis jetzt hatte ich nicht explizit erwähnt, dass es sich hierbei um eine Erweiterung des Luhmann’schen Personenbegriffs handelt. Ich danke Stefan Hirschauer für seine kritische Nachfrage zu diesem Punkt. 28 | Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 191ff.

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sendes auch interaktionsintern zu berücksichtigen.29 Das kann durch die Thematisierung interner oder externer Themen, Ereignisse, Dinge und anwesender und abwesender Personen geschehen. Die Unterscheidung kann auch auf die anwesenden Personen selbst insofern bezogen werden, als dass die Kommunikation sie sowohl hinsichtlich ihrer interaktionsinternen als auch ihrer interaktionsexternen, d.h. in anderen Sozialsystemen angesiedelten Rollenverpflichtungen, beobachtet. Bei Luhmann heißt es: »Da die Anwesenden sich als Personen sichtbar und hörbar aufdrängen, kann an ihnen erkennbar werden, was sie außerhalb der Interaktion sonst noch zu tun haben. Wenn dies sich nicht von selbst versteht, weisen sie darauf hin.«30 Eine Person wird von der Interaktionskommunikation also als die Einheit der Unterscheidung interner (anwesender) und externer (abwesender) Rollenverpflichtungen verstanden. Damit liegt auf der Hand, dass die Bedeutung aktueller interner Rollenverpflichtungen, die die Interaktion an eine Person heranträgt, konstitutiv von demjenigen Rollenbündel aus internen und externen sozialen Erwartungen abhängt, das die Interaktionskommunikation dieser Person unterstellt. Die Person ist somit in jeder Hinsicht eine Konstruktion der je spezifischen Interaktion. Die Person der Interaktion ist also ohne Berücksichtigung der sozialen Rolle nicht denkbar: Durch die soziale Rolle werden die geschlechtsneutralen Erwartungen gebündelt, die durch die geschlechtliche Person der Kommunikation ihre geschlechtstypische Färbung bekommt. Doch wie ist, definiert man die Person als Einheit der Unterscheidung interner und externer Rollenerwartungen, die Geschlechterdifferenz innerhalb dieses Perso-

29 | Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 815. 30 | Ebd.

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nenkonzepts denkbar? Hier lohnt ein Blick auf die Stereotypenforschung, die gezeigt hat, dass weiblichen und männlichen Personen geschlechtstypische externe Rollenverpflichtungen zugeschrieben werden. Genauer gesagt werden weiblichen Personen stets auf Haus und Familie bezogene externe Rollenverpflichtungen unterstellt – was übrigens auch bezüglich der so genannten ›modernen‹ Frau gilt.31 Durch diese als typisch weiblich geltende externe Rollenverpflichtung kommt die Geschlechterdifferenz kommunikativ zum Zuge. Dabei spielt der Habitus, also die vom Bewusstsein wahrnehmbare andere Seite der Person, keine unbedeutende Rolle: Versteht man die Person als Bündelung von Erwartungen, die durch die Einheit der Differenz interner und externer Rollenverpflichtungen vorgegeben werden, dann hat der Habitus der Person dabei eine unerlässliche Funktion: Er symbolisiert, allerdings nur für die interagierenden Bewusstseinssysteme (und nicht die Kommunikation) wahrnehmbar, eben diese Einheit, und motiviert so das mitteilende Bewusstsein zu bestimmten Mitteilungen und das verstehende Bewusstsein zu bestimmtem Verstehen (und also Anschlussverhalten) – mit mehr oder weniger großem Einfluss auf den Kommunikationsverlauf.32 31 | Vgl. Thomas Eckes: Geschlechterstereotype. Frau und Mann in sozialpsychologischer Sicht, hg. von Gudula Linck und Ursula Pasero, Schriftenreihe des Zentrums für interdisziplinäre Frauenforschung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Bd. 5, Pfaffenweiler: Centaurus 1997, S. 101. 32 | In einem früheren Text haben Rudolf Stichweh und ich die Umstellung gleichartiger partnerschaftlicher Rollenerwartungen auf geschlechtstypische bei der Ankunft eines gemeinsamen Kindes durch den Hinweis auf die Sozialisation der Teilnehmer zu erklären versucht. Diese nicht sehr ›systemtheoretische‹ Erklärung wurde zu Recht in Stefan Hirschauers Kolloquium von einem Teilnehmer kritisiert. Der Hinweis auf den Habitus, verstanden als andere Seite der Kommunikation, leistet da wohl bessere

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Stefan Hirschauer hat mich gefragt,33 ob man die Person insgesamt nicht besser ungeschlechtlich denken solle. Der Vorteil bestehe darin, dass dem Phänomen der Geschlechtsneutralität, das dann gegeben sei, wenn die Geschlechterdifferenz sowohl strukturell als auch thematisch ohne Distinktionswert behandelt wird, Rechnung getragen werden könne. Das Geschlecht der Person sei schließlich nicht in jeder Interaktionssituation – und schon gar nicht in der funktional definierten – relevant für den Kommunikationsverlauf. Die Person ungeschlechtlich zu denken, bedeutet jedoch das Ausblenden der oben genannten, durch unzählige empirische Studien vielfach belegten Phänomene, wie z.B. der geschlechtstypische Umgang mit hierarchisch strukturierten Interaktionssituationen. Die Forschungsergebnisse verweisen doch auf beides zugleich: sowohl die Irrelevanz als auch die Relevanz der Geschlechterdifferenz in funktional gerahmten Interaktionszusammenhängen. In seinem früheren Aufsatz hat Hirschauer diese Ambiguität diskutiert.34 Ausgehend vom Konzept des »doing gender« konstatiert er dort für Interaktionssituationen, in denen es auf die Geschlechtsneutralität der Interagierenden ankommt, ein »undoing gender«, d.h. ein aktives Neutralisieren der zuvor durch das »doing« erst hergestellten eigenen Geschlechtsidentität. Nicht ganz unproblematisch erscheint mir hier jedoch der Umgang mit der Paradoxie von gleichzeitiger Geschlechtlichkeit und Geschlechtsneutralität der Personen durch ihre zeitliche Entparadoxierung:35 Damit Dienste. Er zeigt aber auch, dass die Sozialisation der Bewusstseinssysteme für sein kommunikatives Wirksamwerden vorausgesetzt werden muss. 33 | Vgl. Fn. 1. 34 | Stefan Hirschauer: »Die soziale Fortpflanzung der Zweigeschlechtlichkeit«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46 (1994), S. 668-692, S. 677ff. 35 | Mit den in logischer Hinsicht problematischen Implikationen dieses

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können beide Dimensionen nicht zugleich, sondern lediglich nacheinander in Erscheinung tretend gedacht werden. In einem jüngeren Aufsatz greift Hirschauer seine Ausgangsfrage noch einmal auf,36 beantwortet sie jedoch nicht mehr mit dem interaktionistischen »doing gender«-Konzept, sondern mit Hilfe einer Terminologie, die stark an die Kernbegriffe der Luhmann’schen Systemtheorie erinnert. Das Zentrum seiner Überlegungen ist eine gleichsam jenseits des Akteursbegriffs angesiedelte Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung der Interagierenden einerseits und sozialen Erwartungen andererseits.37 Diese Differenz dient jetzt als Bedingung der Möglichkeit der Thematisierung, Nicht-Thematisierung und De-Thematisierung von Geschlecht: Was als wahrnehmbares Phänomen für die Interagierenden unhintergehbar ist, kann von der Interaktionskommunikation, die nicht wahrnehmen kann, entweder aufgegriffen oder nicht aufgegriffen werden. Danach können sich die beteiligten Bewusstseinssysteme als geschlechtliche Individuen wahrnehmen, ohne dass dies kommuniziert werden müsste. Dem ist soweit sicherlich nicht zu widersprechen. Aber wie sieht es mit den unthematisiert bleibenden Zurechnungen aus, die sich als ›geschlechtliche Färbung‹ des Kommunikationsverlaufs ausdrücken? Mein Vorschlag, den Ausgangspunkt für dieses Phänomen Konzepts habe ich mich bereits an anderer Stelle befasst; vgl. C. Weinbach: Die systemtheoretische Alternative. 36 | Stefan Hirschauer: »Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung«, in: Bettina Heintz (Hg.): Geschlechtersoziologie, Sonderheft 41 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001, S. 208-235, S. 216ff. 37 | »[...] die Wahrnehmungs- und Erinnerungsleistungen von Personen [können; C. W.] aber auch einen Überschuss an Informationen speichern, der sozial gar nicht weiterverarbeitet wird.« S. Hirschauer: Das Vergessen des Geschlechts, S. 216.

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in einem mehrdimensional gebauten, aus sozialer Rolle, Person und Habitus zusammengesetzten Gebilde zu sehen, wird der Komplexität der Fragestellung dagegen deshalb gerechter, weil er die Unterscheidung zwischen thematisierter und lediglich wahrgenommener, unthematisiert bleibender Geschlechterdifferenz durch den Habitus vermittelt sieht. Dieser Habitus ist sozialstrukturell stets deshalb von Relevanz, weil er als andere, wahrnehmbare Seite des ›Kommunikationsbausteins‹ Person fungiert.

4. (Wie) Fungiert die Geschlechterdifferenz als Inklusionskriterium? Bisher habe ich Geschlecht als Strukturmerkmal des Kommunikationsverlaufs in Interaktionen diskutiert. In diesem Abschnitt möchte ich der Frage nachgehen, ob diese Einflussnahme der Geschlechterdifferenz auf den Kommunikationsverlauf Folgen für die Inklusionschancen von Männern und Frauen hat. Ist, anders ausgedrückt, die Geschlechtszugehörigkeit einer Person relevant für ihre Inklusionschancen? Bei der Suche nach einer Erklärung ergänze ich den vorgestellten mehrdimensionalen Zusammenhang von sozialer Rolle als funktional gerahmte, interaktionsspezifische Erwartungen, der Person der Kommunikation als Einheit interner und externer Rollenerwartungen und dem Habitus als durch das Bewusstsein wahrnehmbare Seite der Person mit Ergebnissen aus der Stereotypenforschung. Alle genannten Komponenten müssen, wie gesagt, in einer mehrdimensional gefassten Einheit zusammengedacht werden: Interaktionsspezifische, qua Person gefasste Erwartungen können sich nur dann stabilisieren, wenn sie zugleich die Interaktionsumwelt berücksichtigen. Die Person als Einheit der Unterscheidung interner und externer Rollenerwartungen leistet genau

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das. Darüber hinaus ist die Interaktionskommunikation, die selbst nicht wahrnehmen kann, auf die Leistung wahrnehmbarer Bewusstseinssysteme angewiesen. Deren Geräusche und Bewegungen transformiert sie in verstehbare Mitteilungen. Die Bewusstseinssysteme erhalten die notwendigen Informationen über das, was von ihnen als inkludierten Personen erwartet wird, u.a. vom Habitus als der anderen, wahrnehmbaren Seite der Person. Kleidung, Körpersprache, Einsatz der Stimme und die Positioniertheit im gemeinsam ›belebten‹ Raum werden zu hochaggregierten ›Informationszellen‹ in Form von Personenstereotypen zusammengezogen. Anders ausgedrückt: Personenstereotype speichern generalisierte soziale Erwartungen und dienen damit der kommunikativen Strukturbildung – und zwar durch die Bildung impliziter, unthematisierter, als auch expliziter, thematisierter Erwartungserwartungen. Personenstereotype symbolisieren qua Person und Habitus gebündelte soziale Erwartungen. In der Stereotypenforschung gelten Personen, die als typisch geltenden Erwartungen besonders gut entsprechen, als »Prototypen«.38 Die zu ihrer ›Identifizierung‹ verwendeten Schemata, deren »Merkmalsinformationen« auf die »stereotypen Rollenvorstellungen über Frauen und Männer auf die traditionelle Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zurückgehen«, heißen weibliche und männliche »Globalstereotypen«.39 Doch auch hinsichtlich davon abweichender geschlechtlicher Substereotype bildet die geschlechtliche Arbeitsteilung den Kern der Geschlechterdifferenz. So werden, wie gesagt, weiblichen Personen – und zwar

38 | Hans-Bernd Brosius: »Schema-Theorie – ein brauchbarer Ansatz für die Wirkungsforschung?«, in: Publizistik. Vierteljahreszeitschrift für Kommunikationsforschung 36 (1991), S. 285- 297, S. 286. 39 | T. Eckes: Geschlechterstereotype, S. 68.

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auch den so genannten ›modernen‹ Frauen40 – im Unterschied zu männlichen Personen geschlechtstypisch solche externen Rollenverpflichtungen zugeschrieben, die ihnen auf Haus und Familie bezogene Zuständigkeiten unterstellen. Wie gesagt: Weibliche Personen werden von der Interaktionskommunikation im Unterschied zu männlichen Personen vermittels unterstellter externer Rollenverpflichtungen auf den traditionellen weiblichen Arbeitsbereich bezogen. Wie stark dieser Bezug ist, hängt jedoch von der interaktionsinternen Rollenverpflichtung ab. Symbolisiert und damit sinnhaft erfassbar wird die je spezifische Gewichtung interner und externer Rollenverpflichtungen, die die Person als soziales Erwartungsbündel definieren, mit Hilfe von Personenstereotypen. Das Stereotyp der Managerin symbolisiert eine andere Kombination aus interaktionsinternen und -externen Rollenverpflichtungen als das der Hausfrau. Dass ›Rollenverpflichtungskombinationen‹ nicht beliebig vorgenommen werden können, darauf verweist nicht nur die begrenzte Anzahl existierender Personenstereotype, sondern auch, dass sie für Personen beiderlei Geschlechts nicht in gleicher Weise verwendbar sind. So besetzen Manager und Managerin zwar dieselben interaktionsinternen Rollen. Da ihnen jedoch unterschiedliche externe Rollenverpflichtungen zugeschrieben werden, bündeln sie unterschiedliche soziale Erwartungen. Entsprechend bedeuten die Stereotype Manager und Managerin auch Verschiedenes. Die Position der Managerin weist diese explizit als Entscheidungsträgerin aus. Darum werden Anforderungen an sie herangetragen, die sich in erster Linie aus der Notwendigkeit der Unsicherheitsabsorption heraus speisen. An erster Stelle stehen dabei Kompetenz, Entscheidungs- und Durchsetzungsfähigkeit – also instrumentelle Eigenschaften, die typischerweise männli-

40 | Vgl. ebd., S. 101.

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chen Personen zugeschrieben werden. Als weiblicher Person wird ihr im Unterschied zum Manager nicht zufällig »das für Managementfunktionen zentrale Merkmal der Führungsfähigkeit abgesprochen«.41 Zwar gilt: »Ihre Zielstrebigkeit und ihr Egoismus stellen sie in große Nähe zum traditionellen Männerstereotyp«.42 Ingesamt gesehen jedoch werden »die an Frauen wahrgenommenen erfolgsversprechenden Eigenschaften als wesentlich instabiler empfunden […] als die Eigenschaften, die Männern zugesprochen werden«.43 Denn während man die Fähigkeiten weiblicher Personen auf ihre (kontingente) Anstrengung zurückführt, gilt bei männlichen Personen ihre stabile (weil nicht an die Bedingung einer möglicherweise nur vorübergehenden Anstrengung gebundene) Fähigkeit als Erfolgsursache: »Frauen werden seit den 80er Jahren als engagiert, kräftig, korrekt beschrieben. Zweifellos wird auch Frauen Führungserfolg zuerkannt. Aber während Männer scheinbar selbstverständlich immer schon Führungsqualitäten besaßen, müssen Frauen ›kämpfen‹, um tatsächlich ihre Arbeit zu meistern«.44 Diese stereotypbasierte unterschiedliche Einschätzung der Leistungen männlicher und weiblicher Manager hat vor allem dort negative Folgen für die Inklusionschancen weiblicher Personen, wo die Interaktionserwartungen durch besonders risikoreiche Entscheidungsstrukturen gerahmt sind. Das wird deutlich, wenn man sich die Kommunikationsbedingungen von Organisationssystemen vor Augen führt. Eine Organisation ist ein Sozialsystem, das aus Entscheidungen, d.h. aus reflexivem Handeln, 41 | Vgl. ebd., S. 72. 42 | Vgl. ebd., S. 116. 43 | Erich Kirchler u.a.: »Der langsame Wechsel in Führungsetagen – Meinungen über Frauen und Männer als Führungspersonen«, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie 27 (1996), S. 148-166, hier S. 163. 44 | Ebd., S. 159f.

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besteht. Reflexives Handeln ist Handeln, das sich, auf sich selbst angewandt, verschiedene Handlungsmöglichkeiten aufzeigt (dies/anderes) und eine davon auswählt. Es zeigt sich somit zugleich stets die Kontingenz der getroffenen Entscheidung auf, weshalb diese Beobachtungsweise durch die »Form der Alternativität« angeleitet wird.45 Das Organisationssystem stützt sich, indem Entscheidungen aneinander anschließen und ein rekursiv erzeugtes, selbstreferenzielles Kommunikationsgeschehen generieren, auf sich selbst als jemand, der immer auch hätte anders handeln können, als er es faktisch tut und getan hat. Damit erzeugt es und konfrontiert es sich mit einem hohen Maß an Unsicherheit und nimmt es seine Position innerhalb seiner hochkomplexen Umwelt als insgesamt risikoreich wahr. Will es daran nicht zugrunde gehen und handlungsunfähig werden, muss es die selbst erzeugte Unsicherheit absorbieren. Deshalb wird jede Entscheidung einem Entscheider zugerechnet, der als kompetent gilt und seine Entscheidung notfalls verantwortet, denn die explizite Ausweisung der Entscheidung macht »Bindungen sichtbar und trägt damit [...] zur Unsicherheitsabsorption bei«.46 Je größer das Risiko der Entscheidung in der qua Organisationskommunikation gerahmten Interaktionskommunikation eingeschätzt wird, desto größer das Maß an Unsicherheitsabsorption, das durch den verantwortlichen Entscheider symbolisiert werden kann. Eine Organisation mit hochriskantem Entscheidungsbedarf wird sich somit im Zweifel eher auf männliche Personen verlassen wollen: Denn männliche Personen symbolisieren in einem höheren Maße die Fähigkeit zur Unsicherheitsabsorption. Vermutlich gilt, dass, je riskanter die Selbstverortung des Systems in seiner Umwelt erscheint, sich die Interaktionskommu45 | Niklas Luhmann: »Die Paradoxie des Entscheidens«, in: VerwaltungsArchiv 84 (1993), S. 287-310, hier S. 298. 46 | Ebd., S. 291.

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nikation desto stärker auf die Besetzung ihrer ranghöchsten Entscheiderrollen durch männliche Personen angewiesen glaubt. Vor diesem Hintergrund wird sich die Vermutung, die Geschlechterdifferenz fungiere nach wie vor als informelles Inklusionskriterium beim Zugang zu sozialen Rollen, kaum negieren lassen. Die Inklusionschancen werden durch die Geschlechterstereotype, die sich zunehmend in verschiedene Substereotype ausdifferenzieren und damit die zunehmende Durchsetzung des Postulats der Vollinklusion aller in alle gesellschaftlichen Funktionsbereiche reflektieren, sowohl eröffnet als auch begrenzt. Erst durch diese Stereotype wird eine Person, wie Judith Butler sagen würde, »intelligibel«.47 Versuche, die Grenzen der Stereotype zu übertreten, werden, wie Goffman immer wieder gezeigt hat, von der Interaktionskommunikation nach Möglichkeit unterbunden. So schildert Thomas Eckes den Fall einer weit über das Maß ihrer meisten männlichen Kollegen hinaus erfolgreichen Managerin in einer großen Firma, die im Bilanzierungs- und Rechnungswesen der USA tätig war und sich als einzige Frau von achtundachtzig Bewerbern auf die ranghöchste Angestelltenstelle bewarb. Doch: »Anstatt befördert zu werden, wurde ihre Bewerbung zurückgestellt – ganz im Unterschied zur Mehrzahl ihrer männlichen Mitbewerber. Im darauffolgenden Jahr wurde Hopkins gar nicht mehr für die Position eines Partners vorgeschlagen. Als Begründung wurde u.a. angeführt, sie habe ›Probleme im zwischenmenschlichen Bereich‹. Einige Gutachter meinten, sie würde ›überkompensieren‹ und sich wie ein ›Macho‹ aufführen. Auch sei ihr der Besuch eines ›Kurses für weiblichen Charme‹ dringend zu empfehlen. Ein Kollege riet ihr (aus seiner Sicht) wohlmeinend, sie könne ihre Aufstiegschancen erhöhen,

47 | Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin: Berlin Verlag 1995, S. 104.

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wenn sie femininer ginge und redete, sich schminkte und sich femininer kleidete.«48 Das Beispiel macht deutlich, dass die Grenzen des Stereotyps erreicht sind, sobald es die Kohäsion der drei Komponenten Rolle, Person und Habitus nicht länger gewährleisten kann: sobald also die interaktionsinternen Rollenanforderungen durch die Person als Einheit interner und externer Rollenverpflichtungen konterkariert zu sein scheinen. Immer dann, wenn die Passung von Person und Rolle, und Person und Habitus deshalb nicht länger stimmt, weil als typisch weiblich (oder auch männlich) geltende externe Rollenverpflichtungen die internen Rollenerwartungen zu subvertieren drohen, wird deutlich, dass die Geschlechterdifferenz trotz funktionaler Differenzierung der Gesellschaft keineswegs wirklich irrelevant ist.

5. Geschlechtliche Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft Geschlechtliche Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft: Mythos oder Wirklichkeit? Auf der gesellschaftsstrukturellen Ebene hat die Geschlechterdifferenz ihre strukturierende Funktion verloren. In der Interaktion dagegen ist sie nach wie vor unübersehbar am Werke: Die Geschlechterdifferenz macht die Personen deshalb zu geschlechtstypisch und damit unterschiedlich definierten Erwartungsbündeln, weil durch sie die Unterscheidung interner und externer Interaktionsrollenverpflichtungen geschlechtstypisch vereinheitlicht und qua Personenstereotyp symbolisiert wird. Der Dreh- und Angelpunkt geschlechtlicher Ungleichheit ist in der Produktion und Reproduktion dieser Personenstereotype zu finden. Erst wenn weibliche

48 | T. Eckes: Geschlechterstereotype, S. 10.

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Personenstereotype nicht mehr automatisch direkt oder indirekt durch familiäre Bindungen kontextualisiert werden,49 steht ihre Bedeutung nicht länger (mehr oder weniger) im Widerspruch zu einer ganzen Reihe funktional definierter Interaktionsrollenerwartungen. In diesem Sinne liegt das Ergebnis auf der Linie Judith Butlers, die mit ihrem Vorschlag, Travestie und Parodie als politische Aktionsformen zu verwenden, um die sexuierten Subjektpositionen des Diskurses zu subvertieren, die diskursiv relevante Bedeutung von Männlichkeit und Weiblichkeit zum Ausgangspunkt ihrer ›feministischen‹ Theorie und Praxis macht.50 Im Unterschied zu ihrem Konzept lässt sich aufgrund der systemtheoriespezifischen Rahmenbedingungen jedoch kein widerständiges Subjekt ausmachen.51 Innerhalb des wechselseitigen Konstitutionsverhältnisses von Kommunikation und Bewusstsein vermittels Person, Habitus und Rolle gibt es keinen Ort, von dem aus umwälzende subversive Politiken möglich wären. Es ist ein bisschen wie mit dem Hasen und dem Igel: Die intendierte ›Umwälzung‹ sexuierter Personenstereotype durch die Übernahme geschlechtsuntypischer Rollenkombinationen setzt deren Existenz (und damit die Existenz entsprechender Substereotype) in gewisser Weise voraus. Feministische Politik zur Herstellung mehr sozialer Gleichheit zwischen Männern und Frauen vollzieht sich stets im Windschatten bereits im Ansatz etablierter, zugleich geschlechtsuntypischer Personenmuster. 49 | Vergleichbares gilt für männliche Personenstereotype. 50 | Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 209ff. 51 | Nähme sie ihre eigenen Theoriegrundlagen wirklich ernst, wäre das bei ihren Überlegungen auch nicht der Fall. Vgl. Christine Weinbach: »Radikaldemokratie statt Feminismus. Judith Butlers Kritik der feministischen Definitionsmacht«, in: Marion Heinz/Friederike Kuster (Hg.): Geschlechtertheorie, Geschlechterforschung, Bielefeld: Kleine Verlag 1998, S. 53-62.

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Die Biologie der Medium/Form-Unterscheidung Natalie Binczek

In seinem Aufsatz Das Medium der Kunst führt Luhmann 1986 zum ersten Mal zwei Begriffe zusammen, nämlich Medium und Form, die er zuvor schon an neuralgischen Stellen eingesetzt und systematisch gebraucht, nie jedoch als Beobachtungseinheit behandelt hat. Beide also gehören jeweils separat zum terminologischen Bestand der Systemtheorie,1 als sie zu einer Leitunterscheidung verbunden werden: Medium/Form. Nachdem sie ihre eigenen Referenz- und Funktionskontexte ausgebildet haben, werden die Terme nun zu einem Paar. Dabei definiert sich ihre Partnerschaft über eine gleichsam unauflösbare Wechselseitigkeit, als müßte die Eigenständigkeit der Begriffe jetzt aufgegeben werden. Programmatisch heißt es: »Weder gibt es ein Medium ohne Form, noch eine Form ohne Medium. Immer geht es um eine Differenz von wechselseitiger Unabhängigkeit und 1 | Beide sind schon im Register von Soziale Systeme erfasst.

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wechselseitiger Abhängigkeit der Elemente; und daß es um eine Differenz geht.«2 Sowohl im Hinblick auf die Abhängigkeit als auch auf die Unabhängigkeit ihrer jeweiligen Elemente sind Medien und Formen, so die Aussage, aufeinander angewiesen. Motiviert wird ihre Beziehung durch die Erfordernisse, die die Beobachtung des Kunstsystems, vor allem aber die der Kunstwerke, an die Systemtheorie stellt. Nach einem ausschließlich Code-gestützten Verständnis, wie es sich in dem früheren Text Ist Kunst codierbar?3 formuliert, tritt in der Folgezeit mehr und mehr das einzelne, als Objekt gedachte Kunstwerk in den Vordergrund. »Die Kunst hat […] den wichtigen Vorzug, ihre Kommunikation durch eigens dafür hergestellte Objekte vermitteln zu müssen, vermitteln zu können.«4 Um diesen Objektstatus der Artefakte theoretisch einzufassen und der ihm immanenten sinnlichen Dimension systematisch zu begegnen, wird die Medium/Form-Unterscheidung, die zugleich eine Abwandlung der von Fritz Heider entworfenen Medium/Ding-Unterscheidung5 darstellt, gebildet. Die Form, die eben etwas anderes als 2 | Niklas Luhmann: »Das Medium der Kunst«, in: Delfin 7 (1986), S. 615, hier S. 7. 3 | »Ein solches Vorgehen begibt sich in eine riskante Distanz zum Objekt.« Niklas Luhmann: »Ist Kunst codierbar?«, in: N. L.: Soziologische Aufklärung 3, Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, S. 245-266, hier S. 245. Vgl. dazu auch Gerhard Plumpe/Niels Werber: »Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft«, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 9-43. 4 | Niklas Luhmann: »Weltkunst«, in: Niklas Luhmann/Frederick D. Bunsen/Dirk Baecker (Hg.): Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux 1990, S.7-45, hier S. 25. 5 | Fritz Heider: »Ding und Medium«, in: Symposion. Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache 1 (1926), H. 2, S. 109-157.

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ein Ding ist,6 steht gleichwohl wie dieses für die materielle Konstitution eines Kunstwerks ein. Zugleich wird ein ebenso konkret-sinnliches Verständnis des anderen Unterscheidungswertes, des Mediums, postuliert. »Mit […] der Verführung zu einem transsinnlichen, äthergleichen Verständnis von ›Medium‹ ist«, wie Luhmann fast in Absetzung zur früheren Bestimmung hervorhebt, »nicht zu helfen.«7 Weder das Sinn-Medium, noch dasjenige der symbolischen Generalisierung – so die zentralen Bedeutungskontexte des Medienbegriffs, bevor er mit der Form zusammengeführt wurde –, sondern ein Medienkonzept, welches der Sinnlichkeit, mithin auch der Körperlichkeit des Artefakts Rechnung tragen soll, wird mit Hilfe der Medium/FormUnterscheidung festgelegt.8 Mit der Integration in diesen Dual 6 | Entscheidend ist dabei, dass Luhmann letztlich wieder auf eine systemische Generalisierung setzt. »Die folgenden Überlegungen versuchen, etwas über d[as] Medium der Kunst herauszufinden. […] Dabei müssen wir uns allerdings auf einen Abstraktionsgrad einlassen, der Anwendungen vom Bereich menschlicher Wahrnehmung im allgemeinen bis zu Fragen spezieller symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, ja bis zum Problem der Organisation ermöglicht« (N. Luhmann: »Das Medium der Kunst«, S. 6). Zu weiterführenden Überlegungen zu diesem Zusammenhang vgl. meinen Aufsatz »Medium/Form, dekonstruiert«, in: Jörg Brauns (Hg.): Medium und Form, Weimar: VDG 2002, S. 113-129. 7 | N. Luhmann: »Weltkunst«, S. 20. 8 | Luhmann versteht das Programm der Kunst der Gesellschaft als einen Gegenentwurf zu jener Tradition, auf die er bereits im ersten Satz dieses Textes abhebt: »Noch immer stehen wir im Banne einer Tradition, die den Aufbau psychischer Fähigkeiten hierarchisch arrangiert hatte und dabei der ›Sinnlichkeit‹, das heißt dem Wahrnehmen, eine niedere Position zugewiesen hatte im Vergleich zu den höheren, reflektierenden Funktionen des Verstandes und der Vernunft« (Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 13).

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verändert sich seine Bedeutung einschneidend. Es dient jetzt einer Beobachtung, deren beide Unterscheidungswerte von generalisierenden Abstraktionsbestimmungen auf Beobachtung konkreter Phänomene geführt werden. Wie aber wird die Medium/Form-Unterscheidung definiert? Welche Beobachtungsfunktion übernimmt sie und – für die hier im Zentrum stehende Fragestellung entscheidender – wie wird sie von Luhmann beschrieben? Zunächst einmal verweist sie lediglich auf den Verbindungsgrad der Elemente. Sie bezeichnet den Übergang von loser zu fester Kopplung. Insofern fest und lose immer nur in Bezug aufeinander unterschieden werden können, ist sie eine relationale Unterscheidung. Ihr funktionaler Stellenwert besteht somit darin, Formen auf ihnen zugrunde liegende Medien hin zu wenden.9 Auch in der Wissenschaft der Gesellschaft, wo Evidenzstrukturen des Wissens erzeugt werden müssen und die Systemtheorie sie als eine Beziehung zwischen Wahrnehmung und Kommunikation auffasst, widmet Luhmann der Medium/Form-Unterscheidung umfängliche Passagen. Ihr Verwendungszusammenhang begrenzt sich deshalb nicht auf Kunstwerke, sondern ist auf alle Objekte sinnlicher Wahrnehmung anwendbar. Eine Umorientierung der systemtheoretischen Aufmerksamkeit, die üblicherweise auf temporale Kategorien setzt und operative Einheiten präferiert und sich hier zugleich in einer bemerkenswerten Typologie niederschlägt. Denn die Attribuierung des Medienwerts – eine Paradoxie, da das Medium durch die selbstimplikative Struktur der Unterscheidung nur über seine Formseite zugänglich ist –, verdichtet sich nun in einer Bestimmung als widerstandslose, ungebundene Kopplung der Elemente: »Medium in diesem Sinne ist jeder 9 | Sie knüpft daher an die traditionelle Unterscheidung zwischen Stoff und Materie an.

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lose gekoppelte Zusammenhang von Elementen, der für Formung verfügbar ist, und Form ist die rigide Kopplung eben dieser Elemente, die sich durchsetzt, weil das Medium keinen Widerstand leistet.«10 Dem Medium wird somit jedes Durchsetzungsvermögen abgesprochen. Es wird als ›verfügbar‹, als gefügig, an anderen Textstellen auch als ›weich‹ und ›viskos‹11 beschrieben. Eine träge, lose gekoppelte Menge von Elementen, die sich ohne Widerstand der Formgebung zur Verfügung stellen. Luhmann qualifiziert Medien also als passiv, Formen hingegen als aktiv und unterlegt die Medium/Form-Unterscheidung auf diese Weise mit einem Kategorienensemble, das für die traditionelle Abgrenzung der Geschlechter kennzeichnend ist. Medien, nach dieser Typologie die weiblichen Elemente, fügen sich, während Formen, die männlichen Elemente, sogar aggressiv als »Einschnitt«, als »Verletzung«12 konnotiert werden, wie etwa in einem anderen Aufsatz zum Problem der Kunst, in Weltkunst, nachzulesen. Die weibliche Charakterisierung der Medien wird zudem als ›körnig‹ bestimmt. »Das Medium muß […] eine gewisse Körnigkeit […] aufweisen.«13 Das aber bedeutet nicht nur, dass es aus einzelnen körnigen Elementen besteht und also zerlegbar ist. In dieser Charakterisierung schwingt vielmehr auch, zumindest entfernt, die Semantik der Körner und Kerne mit, womit auf biologische Fortpflanzung, auf Fruchtbarkeit verwiesen wird. Im 18. und 19. Jahrhundert gilt das vom Kern abgeleitete Adjektiv ›körnig‹ als deckungsgleich mit prägnant, also schwanger und fruchtbar.14 10 | Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 53. 11 | Ebd. 12 | N. Luhmann: »Weltkunst«, S. 10. 13 | N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 53. 14 | Siehe dazu Hans Adler: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie –

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Die interne Beziehung zwischen dem Medium und der Form, zunächst nur als relative Verdichtung des Kopplungsgrades eingeführt, wird letztlich in einen Dual mit rigider Demarkationslinie verwandelt. Rigide – Luhmann gebraucht dieses Wort analog zu ›fest‹ im Zusammenhang mit dem Kopplungsgrad – ist sie schon deshalb, weil sie sich selbst als eine Form beschreiben lässt. Keine Verschiebung von loser zu fester Kopplung, keine sich allmählich vollziehenden Übergänge, sondern ein Zwei-Seiten-Wechselspiel aus Formation und ›Deformation‹15. So schiebt diese passiv/aktiv-Zuschreibung zwischen die Medium- und die Formseite eine Differenz ein, deren Logik die unhintergehbare Differenz zwischen einem System und seiner Umwelt kopiert. Dabei wird die Prämisse der Wechselseitigkeit zwischen Medien und Formen von einer anderen Auffassung ergänzt, nämlich derjenigen, dass sich die systemische Anschlussfähigkeit ausschließlich über die Formseite reguliert. Denn, wie es in der Gesellschaft der Gesellschaft heißt: »Mit den formlosen, lose gekoppelten Elementen kann das System nichts anfangen.«16 Die zuvor proklamierte unauflösbare Wechselseitigkeit, wonach keine Form ohne Medium und umgekehrt möglich ist, bleibt nun außen vor und wird zum einen dem System, zum anderen der Umwelt zugewiesen. Denn zum Aufbau seiner Strukturen, zur Herstellung von Anschlussgenerierung kann das System nur fest gekoppelte, Form gewordene, d.h. unterscheidÄsthetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg: Felix Meiner 1990, S. 90ff. 15 | Das Medium »muß […] in der Bindung durch Form als Medium erhalten bleiben, wenngleich es durch die Form gewissermaßen ›deformiert‹ wird.« N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 53. 16 | Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 201.

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bare Elemente gebrauchen, die lose gekoppelten werden hingegen aussortiert. Obwohl die zeugungstheoretische Terminologie der Beschreibung des Systemerhalts als Reproduktionsgeschehen sogleich auch biologische Zweigeschlechtlichkeit assoziieren lässt, bescheidet sich die Systemtheorie mit nur einer, gemäß der traditionellen Semantik als männlich markierten Komponente. Aber kann – treibt man dieses Spiel weiter und verknüpft die Metaphorik der Luhmann’schen Beschreibung mit seiner konzeptuellen Arbeit – tatsächlich davon ausgegangen werden, dass sich ein System ausschließlich auf der Grundlage männlicher Elemente fortpflanzt? Die Autopoiesis, selbst ein der Biologie entlehnter Begriff, wo er einen grundlegenden Mechanismus des Lebendigen bezeichnet, wird in Luhmanns soziologischer Adaption auf Funktionssysteme der modernen Gesellschaft übertragen. In beiden Fällen bezeichnet er einen selbstreferentiellen Reproduktionsprozess, dessen Vollzug gleichwohl nicht unabhängig von externen, das System also von außen stimulierenden Elementen gedacht werden kann. Wie Luhmann trotz der autopoietischen, d.h. auf der Grundlage eigendeterminierter Strukturen sich vollziehenden, Erhaltung eines Systems immer wieder die Notwendigkeit der Umwelteinwirkung betont, insofern kein soziales System ohne strukturelle Kopplung mit ihr möglich ist,17 so auch be17 | »Der Begriff der Umwelt darf nicht als eine Art Restkategorie mißverstanden werden. Vielmehr ist das Umweltverhältnis konstitutiv für Systembildung. Es hat nicht nur ›akzidentelle‹ Bedeutung, gemessen am ›Wesen‹ des Systems. Auch ist die Umwelt nicht nur für die ›Erhaltung‹ des Systems, für Nachschub von Energie und Information bedeutsam. Für die Theorie selbstreferentieller Systeme ist die Umwelt vielmehr Voraussetzung der Identität des Systems, weil Identität nur durch Differenz möglich ist.« (Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 242f.)

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schreiben Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela, wie die zellulären Operationen – sie sind der Ort dieses autopoietischen Lebensvollzugs – immer auch unter Einbeziehung externer, hier: molekularer Elemente zustande kommen. »Wenn deshalb eine Zelle mit einem Molekül X interagiert und es in ihre Prozesse einbezieht, ist die Konsequenz dieser Interaktion nicht durch die Eigenschaften des Moleküls X bestimmt, sondern durch die Art, wie dieses Molekül von der Zelle bei dessen Einbeziehen in ihre autopoietische Dynamik ›gesehen‹ beziehungsweise genommen wird. Die Veränderungen, die in der Zelle als Konsequenz dieser Interaktion entstehen, werden von ihrer eigenen Struktur als zelluläre Einheit bestimmt.«18

Dieses Verständnis von Fortpflanzung schließt die Entstehung von dritten Werten im Sinne von Mischbildungen, denen ein Austausch von Elementen der beteiligten Interaktionsinstanzen vorausgeht und die somit etwas Neues, von ihnen Unterschiedenes hervorbringen, aus. Die Einbeziehung der Umwelteinflüsse in das System dient ausschließlich dessen eigener Fortpflanzung, wie auch die molekulare Interaktion der Zellen dazu genutzt wird, die Zellreproduktion voranzutreiben. Entscheidend ist dabei, dass sowohl der biologische als auch der soziologische Ansatz unter der Prämisse der Autopoiesis Reproduktionsprozesse verstehen, die sich jenseits personaler Einheiten vollziehen. Weder in der Perspektive der Biologie noch derjenigen der Soziologie stehen einzelne, geschlechtlich determinierte Menschen im Blick. Beide Theorien erklären den Erhalt einer systemischen Einheit jenseits geschlechtlicher Differenzen, 18 | Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern/München: Goldmann 1987, S. 60.

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wie sie Männern und Frauen jeweils zugeordnet werden. Ihre Fortpflanzungskonzepte setzen an anderen Punkten an, als es die organischen Zeugungstheorien tun, die vor dem Hintergrund der gesamten wissenschaftshistorischen Tradition eine durchaus junge Errungenschaft, wenn nicht sogar eine nur kurze Episode darstellen, da sie erst seit dem 18. Jahrhundert auf der Autonomie des weiblichen Geschlechts gegenüber dem männlichen aufbauen können.19 Nicht mehr Männer und Frauen, sondern zelluläre Teilungs- und Rekombinationsprozesse, die ihrer geschlechtlichen Unterscheidung vorausgehen, bzw. kommunikative Prozesse, deren Anschlussfähigkeit unabhängig von geschlechtlicher Spezifikation der Kommunikanten zustande kommt, bilden unter der Prämisse der Autopoiesis demnach die theoretisch ausschlaggebenden Referenten. So wie hier die biologische Position die Geschlechtsunterscheidung im Sinne von Sex übergeht, so übergeht auch die soziologische Position Luhmanns die Unterscheidung im Sinne von Gender.20 Oder anders: Sie werden nicht übergangen, sondern anderen Kategorien nachgeordnet. Reproduktion als autopoietischer Vorgang lässt 19 | »Im späten 18. Jahrhundert schufen Anatome zum ersten Mal detaillierte Illustrationen eines ausdrücklich weiblichen Skeletts, um zu dokumentieren, daß der Geschlechtsunterschied nicht nur bis knapp unter die Haut ging. Wo es bisher nur eine einzige Grundstruktur gegeben hatte, gab es hinfort deren zwei« (Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, München: dtv 1996, S. 181). 20 | Auch in seinem Text Frauen, Männer und George Spencer Brown schlägt er alternative Unterscheidungskategorien vor, mit welchen die männlich/ weiblich-Markierung aufgehoben werden soll, nämlich »die Differenz von Organisation und Reflexion« (Niklas Luhmann: »Frauen, Männer und George Spencer Brown«, in: Zeitschrift für Soziologie 17 [1998], H. 1, S. 4771, hier S. 69).

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sich nämlich, biologisch wie soziologisch, geschlechtsunspezifisch erklären. Die Systemtheorie braucht sich demnach der Gender-Frage genauso wenig zu stellen wie die zelluläre Biologie der Frage nach dem Sex. Die konzeptuelle Architektur der Systemtheorie ist so angelegt, dass trotz ihrer grundlegenden biologischen Anleihen weder das Problem des Geschlechtskörpers für sie virulent wird, noch auch eine soziologische Abwandlung als Gender-Zuschreibung. Dass sie als soziologische Theorie dennoch dazu in der Lage ist, Prozesse des Gendering unter verschiedenen Gesichtspunkten zu beobachten, wird mit Nachdruck versehen. So bietet etwa das Konzept der »Person«21 Möglichkeiten der Bezugnahme. Die historische Semantik, von Luhmann selbst in Liebe als Passion in Ansätzen bereits angedeutet, weist eine andere Anschlussstelle auf. Wie jeweils an diese Aspekte anzuknüpfen sei, wie diese Anknüpfungspunkte im Einzelnen entfaltet werden und welche Aufschlüsse sie gewähren, entscheidet über ihre theoretische Effizienz. Auch die Medium/Form-Unterscheidung bietet Anschlussmöglichkeiten an gendertheoretische Diskurse,22 wie sich unter 21 | Christine Weinbach argumentiert, dass die Systemtheorie gerade durch die »Dekonstruktion« – so ihr Ausdruck – des Menschen in drei Operationssysteme, »Leben, Bewußtsein und Kommunikation«, mit Judith Butlers »Einheit« der Differenz von gender und sex, »da nicht nur das soziale Geschlecht, sondern auch der Geschlechtskörper Objekt der Welt, Produkt des unsere sinnhafte Wirklichkeit erst performierenden sozialen Diskurses sei«, zusammengelesen werden kann. (Christine Weinbach: »Die systemtheoretische Alternative zum Sex- und Gender-Konzept: Gender als geschlechtsstereotypisierte Form ›Person‹«, in: Ursula Pasero/Christine Weinbach [Hg.]: Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt a.M. Suhrkamp 2003, S. 144-170, hier S. 146f.) 22 | Siehe dazu auch den Ansatz von Thomas Küpper, in welchem eine

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Rekurs auf Ausführungen Donna Haraways nachweisen lässt. Denn die Art und Weise, wie sie das Verhältnis zwischen Gender und Sex beschreibt, auflöst und rekombiniert, lässt sich mühelos in Luhmann’scher Terminologie reformulieren: »Natur ist lediglich das Rohmaterial von Kultur: Sie wird angeeignet, bewahrt, versklavt, verherrlicht oder auf andere Weise für die Verfügung durch Kultur in der Logik des kapitalistischen Kolonialismus flexibel gemacht. Ebenso ist Sex nur das Material für das Inszenieren (act) von Gender. Die produktionistische Logik scheint in den Traditionen westlicher Dualismen unausweichlich zu sein. Diese analytische und historische Erzähllogik ist für meine Nervosität hinsichtlich der Unterscheidung von Sex und Gender in der neueren Geschichte der feministischen Theorie verantwortlich. Sex wird zur Ressource für seine Re-Präsentation als Gender, das ›wir‹ kontrollieren können, gemacht. Bislang scheint es unmöglich, die Falle einer aneignenden Herrschaftslogik zu vermeiden, die in den Dualismus von Natur und Kultur mitsamt seinen Abkömmlingen, zu denen auch die Unterscheidung von Sex und Gender gehört, eingebaut ist.«23

Gegenüberstellung der systemtheoretischen Medium/Form-Unterscheidung und des Begriffs ›schema‹ bei Butler vorgenommen wird (Thomas Küpper: »Der beobachtete Körper. Systemtheorie und Gender Studies«, in: Alexandra Karentzos/Birgit Käufer/Katharina Sykora [Hg.]: Körperproduktionen. Zur Artifizialität der Geschlechter, Marburg: Jonas 2002, S. 34-41, hier S. 35f.). Vgl. zur Identifikation des Medialen mit dem Weiblichen den Beitrag von Bettina Gruber, in diesem Band. 23 | Donna Haraway: »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: D. H.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hg. von Carmen Hammer und Immanuel Stieß, Frankfurt a.M./New York: Campus 1995, S. 73-97, hier S. 93.

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Wenn ›Natur‹ hier als ›Rohmaterial‹ der ›Kultur‹ bezeichnet wird, dann konstelliert diese Aussage eine Medium/Form-Beziehung. Insofern nämlich die Konstruktion oder ›Inszenierung‹ von Gender die Typologie des Sex voraussetzt, fungiert dieser wie das Medium, welches die Formen des Gendering ermöglicht. Die, um die Typologie Luhmanns hier noch einmal aufzugreifen, männlich konnotierte Form der Kultur, also das, was sich durchsetzt, ist somit auf das weiblich konnotierte Medium, mithin das, was zur Verfügung steht, als Naturzustand angewiesen, auch und gerade dort, wo der Gender- vom Sex-Aspekt abgelöst werden soll, um damit der Gefahr einer Naturalisierung und Essentialisierung der Geschlechtsunterscheidung entgegenzuarbeiten. Die Form ist jedoch, das weiß die Systemtheorie genauso wie Donna Haraway, von dem sie bedingenden und erzeugenden Medium nicht zu trennen, auch wenn sie von ihm unterschieden werden kann: Sie kommt aus der ›Falle einer aneignenden Herrschaftslogik‹ nicht heraus. Die von Donna Haraway bemerkte ›Nervosität hinsichtlich der Unterscheidung von Sex und Gender‹ besteht darin, dass die Medium/Form-Unterscheidung nicht nur in eine Richtung prozessiert, sondern auch zirkulär gebaut ist. Deshalb nämlich braucht das Gender den Sex, um sich von ihm abzugrenzen. Zwar braucht jede Form ein Medium, welches sie ermöglicht. Aber jedes Medium, will man es beobachten, ist bereits Form bzw. nur über diese beobachtbar. Was als Sex bestimmt wird, lässt sich, so Haraways Aussage gemäß der Logik der Medium/Form-Unterscheidung weiterführend, auch nur aus der Perspektive des Gender-Bezugs spezifizieren. Demzufolge gebraucht nicht nur die Gender-Markierung den Sex als Rohstoff zu seiner Formung, sondern auch umgekehrt erhält der Sex seine jeweilige Bestimmung nur durch den Gender-Bezug, in welchen er sich einschreibt. Haraways Argumentation läuft aber über solche analytischen

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Feststellungen hinaus. Sie begnügt sich nicht damit, die biologische Geschlechtsunterscheidung als kulturelle Konstruktion offenzulegen, sondern verfolgt auch ein politisches Interesse, indem sie auf ihre Umwertung abzielt. »Die biologische Konzeption des Weiblichen,« so die Schlussfolgerung, »die die gegenwärtigen biologischen Arbeiten über Verhalten bevölkert, hat fast keine passiven Eigenschaften mehr. ›Sie‹ ist strukturierend und in jeder Hinsicht aktiv, der Körper ist ein Agent und keine Ressource.«24 Die rhetorische Festlegung der Medium/Form-Unterscheidung, wie sie Luhmann zeigt, müsste danach umgekehrt zugerechnet werden. Das Medium assoziierte die männliche, die Form hingegen die weibliche Komponente. Entscheidend ist dabei, dass solche Attribuierungen, wie Haraway anschließend unterstreicht, flexibel und wechselnd getroffen werden sollen. »Auf jeder Stufe vom Gen bis zu den Mustern der Nahrungssuche wird Differenz biologisch als situationell und nicht als intrinsisch theoretisiert, wobei sich die biologischen Körperpolitiken fundamental verändern.«25 Sie weist somit nicht hinter die Schwelle des 18. Jahrhunderts zurück, als die Zweigeschlechtlichkeit biologisch festgelegt wurde, sondern auf dieser aufbauend, optiert sie für eine jeweils nur temporäre, ›situationelle‹ Zuweisung des biologischen Geschlechts. Männer wie Frauen können ihre biologische Geschlechtsbestimmung variieren. Eine Konsequenz, die mit der systemtheoretischen Nachordnung der männlich/weiblich-Unterscheidung, ihren Auflösungs- und Rekombinationsmöglichkeiten durchaus kompatibel ist. Wenn Luhmann aber das Medium nach dessen Verbindung mit der Form zum einen auf die Dimension der Sinnlichkeit öffnet, wenn er es zum anderen als weich, gefügig und zäh beschreibt, 24 | Ebd., S. 95. 25 | Ebd.

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schließlich sogar als ›körnig‹ bezeichnet, dann verfällt die rhetorische Dimension seiner Theoriedarstellung einer Tradition, die in Anbetracht seines theoretischen Beobachtungsinstrumentariums überraschen mag, berücksichtigt man, dass sie (soziale) Reproduktion ohne Rückbezug auf Zweigeschlechtlichkeit erklärt. Implementiert Luhmann mit der Medium/Form-Unterscheidung dem autopoietischen Selbsterhalt des Systems letztlich ein nach dem Muster der biologischen und sozialen Geschlechtsdifferenz gedachtes Paar, als käme die Logik der Fortpflanzung doch nicht ohne den weiblich/männlich-Dual aus? Und ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, dass dieser Dual unterschiedlich zugeordnet werden kann? Schließlich nimmt Luhmann eine explizite männlich/weiblich-Zuordnung nicht vor. Er gebraucht diese Adjektive nicht einmal. Und was bedeutet es, dass die Unterscheidung just zu dem Zeitpunkt das Feld der Systemtheorie betritt, als sich diese auf die Erklärung und Beobachtung von Artefakten, materiell konstituierten Objekten also, verlegt?26 Fragen, deren Beantwortung hier nicht vorgenommen werden soll. Wohl aber soll noch einmal festgehalten 26 | Rückt Luhmann womöglich in die Nähe jener geistesgeschichtlichen Tradition, welche mit Hilfe des Metaphernfeldes der Zeugung versucht, die Produktion von Kunstwerken zu beschreiben? – »Im Hinblick auf die anthropologische Grundfigur Kunst – Zeugung – Geburt hat man […] von einer ursprünglichen Verflechtung der semantischen Bereiche und einer unhintergehbaren Interferenz der Diskurse auszugehen. Im Rahmen dieser kultursemiotischen Prämisse ist es durchaus sinnvoll zu behaupten, daß jede gediegene Kunsttheorie die Spuren einer Embryologie trägt, und umgekehrt« (David E. Wellbery: »Kunst – Zeugung – Geburt. Überlegungen zu einer anthropologischen Grundfigur«, in: Christian Begemann/David. E. Wellbery [Hg.]: Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg/Br.: Rombach 2002, S. 9-36, hier S.16).

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werden: Auch wenn die Systemtheorie auf einer biologischen Prämisse aufbaut, mit welcher sie Reproduktion von sozialen Prozessen ohne Rekurs auf Zweigeschlechtigkeit erklären kann, löst sie sich von ihr dennoch nicht gänzlich. Zumindest als sie eine neue Verbindung aus den zuvor separat zirkulierenden Termini hervorbringt, d.h. als die beiden bereits eingeführten Begriffe zu einer sie übergreifenden und neu bestimmenden Leitunterscheidung verbunden werden sollen, greift Luhmann auf Kategorien zurück, die im Resonanzraum der Geschlechterunterscheidung angesiedelt sind. Wenn später von der Medium/ Form-Unterscheidung die Rede ist, stehen nicht mehr die beiden Seiten der Unterscheidung und damit die männlich/weiblich-Distinktion im Fokus, sondern, unter der Prämisse der systemischen Reproduktion, ihre differentielle Einheit.27 Medium/ Form, weiblich/männlich oder männlich/weiblich werden so zunehmend im Hinblick auf die systemische Regulierung thematisiert. In den Vordergrund rückt die Dringlichkeit des Systemvollzugs. Von diesem Standpunkt aus gilt aber: »Also ist auch die Unterscheidung von Medium und Form eine Form. Die Unterscheidung impliziert sich selbst, sie macht jede Theorie, die mit ihr arbeitet, autologisch.«28 Die Selbstimplikation, die als Autologie bezeichnet wird, womit sie eine Verwandtschaft zum Konzept der Autopoiesis und ihrer geschlechtsindifferenten Reproduktionslogik aufweist, fällt hier zugunsten der Form aus. Reproduziert wird somit nur ein Geschlecht. Männlich oder weiblich? Oder jeweils anders? 27 | Das sieht dann etwa so aus: »Entsprechend ist eine im Kunstsystem entworfene Unterscheidung von Medium und Form immer nur für dieses System relevant […], auch wenn sie auf Kunstobjekte ebenso wie auf Natur, also grenzüberschreitend angewandt werden kann« (N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 166). 28 | N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 198.

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Systemtheorie bei aller Abstraktion des Reproduktionskonzepts, dessen Definition ohne Rekurs auf geschlechtsspezifische Unterschiede auskommt, im Vollzug der Beschreibung hingegen dort auf das Modell der Zweigeschlechtlichkeit zurückgreift, wo sie die Medium/Form-Unterscheidung gebraucht. Vor allem in der Phase der Einführung dieses Beobachtungsschemas tritt die Geschlechtssemantik deutlich in Erscheinung. Auch wenn sie in späteren Texten Luhmanns nicht mehr die gleiche Relevanz aufweist, lässt sie sich gleichwohl nicht mehr aus der Systemtheorie ganz wegdenken. Jedoch gerade über diesen semantischen Verweis kann sie an zentrale Fragen der Gender Studies anknüpfen.

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Gender als Strategie der Dauer. Eine Lektüre von Baudelaires »Une Charogne« Bettina Gruber

»Rappelez-vous l’objet que nous vîmes, mon âme, Ce beau matin d’été si doux: Au détour d’un sentier une charogne infâme Sur un lit semé de cailloux, Les jambes en l’air, comme une femme lubrique, Brûlante et suant les poisons, Ouvrait d’une façon nonchalante et cynique Son ventre plein d’exhalaisons. Le soleil rayonnait sur cette pourriture, Comme afin de la cuire à point, Et de rendre au centuple à la grande Nature Tout ce qu’ensemble elle avait joint;

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Et le ciel regardait la carcasse superbe Comme une fleur s’épanouir. La puanteur était si forte, que sur l’herbe Vous crûtes vous évanouir. Les mouches bourdonnaient sur ce ventre putride, D’où sortaient de noirs bataillons De larves, qui coulaient comme un épais liquide Le long de ces vivants haillons. Tout cela descendait, montait comme une vague, Ou s’élançait en pétillant; On eût dit que le corps, enflé d’un souffle vague, Vivait en se multipliant. Et ce monde rendait une étrange musique, Comme l’eau courante et le vent, Ou le grain qu’un vanneur d’un mouvement rythmique, Agite et tourne dans son van. Les formes s’effaçaient et n’étaient plus qu’un rêve, Une ébauche lente à venir, Sur la toile oubliée, et que l’artiste achève Seulement par le souvenir. Derrière les rochers une chienne inquiète Nous regardait d’un œil fâché, Épiant le moment de reprendre au squelette Le morceau qu’elle avait lâché. – Et pourtant vous serez semblable à cette ordure, A cette horrible infection,

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Étoile de mes yeux, soleil de ma nature, Vous, mon ange et ma passion! Oui! Telle vous serez, ô la reine des grâces, Après les derniers sacrements, Quand vous irez, sous l’herbe et les floraisons grasses, Moisir parmi les ossements. Alors, ô ma beauté! dites à la vermine Qui vous mangera de baisers, Que j’ai gardé la forme et l’essence divine De mes amours décomposés!«1

Une Charogne ist eines der berühmten Gedichte einer Sammlung, die der faszinierte Baudelaire-Leser Benjamin das »letzte lyrische Werk [...], das eine europäische Wirkung getan hat«2, nennen konnte. Von der ersten bis zur letzten Zeile ist es von der Imagination eines Weiblichen beherrscht, deren Entfaltung alles andere marginalisiert. Gerade dadurch ist ihm die Präsenz beider Geschlechter eingeschrieben. Es lässt sich jedoch von einer Hyper-Präsenz des Weiblichen sprechen, die nicht nur für Ein Aas und nicht nur für Baudelaire, sondern für einen großen Teil

1 | Charles Baudelaire: Œuvres Complètes. 2 Bd. Text erstellt, präsentiert und kommentiert von Claude Pichois, Paris: Éditions Gallimard 1975f., hier: Bd. 1, S. 31f. Für eine zweisprachige Ausgabe vgl. Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Les Fleurs du Mal. Vollständige zweisprachige Ausgabe. Aus dem Franz. übertragen, hg. u. komment. v. Friedhelm Kemp, 9. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, S. 64-66. 2 | Walter Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: W. B.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 227.

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96 | Bettina Gruber europäischer Literatur zwischen den Romantiken3 und dem fin de siècle typisch ist. Die plastische Schilderung eines Tierkörpers im Stadium fortgeschrittener Verwesung ist eingespannt in die direkte Anrede eines unbestimmten männlichen Ich an ein weibliches Gegenüber (in der ersten und den letzten drei Strophen), das präsumptiv (aber nicht zwingend) seine Geliebte ist. Der Text fingiert damit eine Kommunikationssituation und bestimmt sich aus der Spannung zwischen diesen beiden Teilen. Das Verhältnis zwischen der Apostrophe und der insistenten Evokation von Verwesung beträgt rein quantitativ 1:2, wobei aber den Anredepartien durch die Exordial- und Endstellung eine besondere lektüresteuernde Funktion zukommt. Das Wesentliche an diesem toten Körper ist seine gattungsmäßige Unbestimmtheit – es handelt sich um ein Aas einer undefinierten Tierart4 – sowie seine sofortige Vergeschlechtlichung5, durch den vor allen anderen Beschreibungskomponenten eingeführten Vergleich »Les jambes en l’air, comme une femme lubrique«, der perspektivleitend den Kadaver mit dem sexualisierten Bild einer Frau in grotesker Pose (auf die wir zurückkommen werden) überblendet. Die Eingangsapostrophe tritt auf als ein Imperativ der Erinnerung, der jedoch ein Täuschungsmanöver darstellt: Die Adressatin soll sich nicht im Sinne einer möglichst naturalistischen 3 | Der Plural schuldet sich der Ungleichzeitigkeit der romantischen Bewegungen und den Differenzen in ihren Programmen. 4 | Die konstitutive Bedeutung des unbestimmten Artikels für den Text belegt auch die Entstehungsgeschichte, die den später getilgten Titel La(!) charogne ausweist. Vgl. Ch. Baudelaire: Œuvres Bd. 1, Kommentar S. 889. 5 | Die zugleich eine (voneinander freilich untrennbare) Sexuierung und eine Genderisierung darstellt, denn der Tierkörper, den Baudelaire entwirft, ist als solcher geschlechtlich unbestimmt. Das Geschlecht wird lediglich durch einen Vergleich eingeführt.

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Reproduktion von Gesehenem erinnern, sondern sie soll sich eine fremde Beobachtungsperspektive zu Eigen machen. Imaginieren soll sie die Zukunft des eigenen Körpers in der reinen Anonymität eines sich auflösenden Objektes, die zugleich die Zukunft ihrer ganzen Person sein wird (allerdings eben nur ihre, und das ist die Pointe des Gedichts). Nach fünf Zeilen bereits hat sich eine Doppelpräsenz der Frau eingestellt, die, einmal als Vertreterin einer hochempfindsamen Sphäre (»mon âme«), dann als ihre zukünftige verrottende Physis, nicht als kulturell zugerichteter »Leichnam«, sondern als ›schamlos‹ geschlechtliches Aas ins Bild gesetzt wird. Auf einer ersten Ebene ist der Text eine Entfaltung dieses Gegensatzes von petrarkisierend angerufener hoher Frau und ›aasigem‹ Geschlechtswesen, wobei die detailreiche Präsentation des Kadavers, den er in wiederholten Anläufen deskriptiv umkreist, den größten Raum einnimmt. Wie nirgendwo anders in der zeitgleichen Literatur scheint sich damit der Ekel als dominierendes Element etabliert zu haben, scheint der Leser primär mit der libidinösen Fixierung auf ein abstoßendes Objekt konfrontiert.6 Diese Lesart verschaffte dem Gedicht die Notorietät des Schockierenden und trug zur Formierung biographischer Stereotype bei.7 Ihr widerspricht jedoch die Komposition des 6 | Vgl. dazu auch Bettina Gruber: »Vorbemerkungen zu einer Literaturgeschichte des Ekels«, in: Komparatistik. Jahrbuch der dt. Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2003/4, S. 11-29. 7 | »Ce n’est pas ainsi qu’ Une Charogne fut entendue. Récitée dans les ateliers et les brasseries, elle apparut d’abord comme un poème flamboyant de Jeune-France qui chercherait à choquer les bourgeois et elle contribua à accréditer la légende d’un Baudelaire outrancier. Les bourgeois se voilèrent la face, crièrent au scandale. Quand Baudelaire voulut réagir (›Il m’est penible de passer pour le Prince des Charognes‹, confie-t-il à Nadar le 14 mai 1859), il était trop tard. Les collégiens de la fin du siècle lisaient encore fur-

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Textes, der sich aus der Spannung zwischen zwei Leitsemantiken entfaltet. Das Textbegehren ist durchaus komplexer und vor allem abstrakter, als eine ausschließlich auf den Aspekt des Sexualekels am Weiblichen konzentrierte Interpretation es zur Geltung kommen lässt. Hier soll daher eine andere Beobachtungsvariante vorgeschlagen werden, die das Gedicht im Zusammenhang der Fleurs du mal mit Hilfe einer systemtheoretischen Unterscheidung ins Auge fasst, nämlich eine Beobachtung in Hinblick auf die Differenz von Medium und Form und ihre geschlechtsspezifischen Implikationen.

Medium und Form8 Im Zentrum der acht rein deskriptiven Strophen steht ein Assoziationskomplex von Auflösung und Zersetzung, der prima vista nur Abstoßendes transportiert. Faktisch aber sind die Konnotationen schillernd. Die massive, ja krude Sexualisierung und die vomitive Wirkung der Zersetzung sind nur die augenfälligen Aspekte, weil sie (zusätzlich zu ihrer quantitativen und taktischen9 Präsenz) zur Entstehungszeit des Textes unter ›shocking‹ verbucht wurden und diese Wahrnehmung nachfolgende tivement Une Charogne, protégés par des remparts de livres prétendus sérieux.« Ch. Baudelaire: Œuvres Bd. 1, S. 889f. Sie führt zudem leicht dazu, Baudelaires ambivalente Stellung zur späteren emphatischen Moderne zu verkennen und ihn zumindest inhaltlich ohne Abstriche auf diesem Konto zu verbuchen. 8 | Zu den geschlechtersemantischen Implikationen der Medium/FormDifferenz vgl. auch den Beitrag von Natalie Binczek in diesem Band. 9 | Unter taktischer Präsenz möchte ich die Lancierung bestimmter Textelemente in einer bestimmten Position des Textes verstehen, im gegebenen Fall exordial.

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Lektüren massiv determiniert hat. Wenn aber gleichzeitig das Gerippe mit einer Blume verglichen wird und mit der siebten Strophe das Ekelhafte in eine Evokation idyllischer Naturordnung übergeht, dann ist manifest die Sensation des dégout nicht einziger und letzter Scopus des Textes. Die Opposition zwischen der ›stellaren‹ (âme, étoile, soleil) und der ›schlammigen‹ weiblichen Sphäre, welche die Aufmerksamkeit des Lesers fokussiert, lenkt ab von einer weiteren, abstrakteren Gegensatzstruktur, in der sie aufgehoben ist. Auffallen muss, dass die Konstruktion des Ekelhaften auf spezifisch zwei Aspekten insistiert: auf Bewegung und auf Dissoziation als Vervielfältigung, die dem Leser durch Redundanzen eingeprägt werden ([épanouir] – mouches bourdonnaient – noirs bataillons de larves – épais liquide – haillons – vague – souffle – musique – eau courante – vent – grain – morceau). Schon in der dritten Strophe wird der Garungsprozess des ›Kochens‹ durch die Sonne als Multiplikationsvorgang eingeführt, dem ein metaphysischer Überton verliehen wird, indem sich die Zersetzung als verzinste Rückgabe an die »grande Nature« präsentiert. Dem Wechsel der Aggregatzustände, dem Übergang ins (Zäh-)flüssige und in stinkende Gase, entspricht die mechanische und ›atomistische‹ Zersetzung in Fetzen, Stücke und den Körper partikelweise davontragende Insekten. Mit dem Bild der Wellenbewegung, die dem Kadaver durch seine Bewohner geliehen wird, geht das Abstoßende in das Liebliche, das Chaos in das Paradox einer ephemeren kosmischen Ordnung über, welche die alte Sphärenmusik evoziert. Statt Insektenströmen und Ausdünstungen entsteht eine Assoziation von fließendem Wasser und Wind, eine Suggestion von rhythmischer menschlicher Bewegung, die zu halluzinatorischer Auflösung des realen Objekts führt. In ihr verwischen und entkoppeln sich die Formen, ein Vorgang, den Baudelaire durch den Vergleich mit einem Traum oder einer kaum mehr erkennbaren Skizze (!) kennzeichnet. Hinter der

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Idylle lauert jedoch unmittelbar die Hündin, um ihr Stück vom Kadaver wieder an sich zu bringen. Die Idylle kollabiert so (wieder) in die Wahrnehmung des Ekelhaften, das »derrière les rochers« immer da gewesen ist und nun explizit als Zukunft der weiblichen Adressatin ausgewiesen wird. Die Paraphrase macht zweierlei deutlich: Der Gegensatz, der das Gedicht strukturiert und von dem her es seine Spannung bezieht, ist nicht der vordergründige einer in himmlische und tierische Aspekte gespaltenen Weiblichkeit. Die »reine des graces« und das Aas gehören (das macht spätestens der Schluss unäquivok) auf eine Seite, sie sind Gegensatz bloß kraft einer Temporalisierung, welche ihre substantielle Einheit zeitlich entzerrt. Kurz gesagt: Die Frau ist immer schon Aas und wo nicht, ist das nur eine Frage der Zeit. Relevant gegenüber stehen sich nicht zwei Formen des Weiblichen, sondern das Weibliche als Gleichung für das (bedrohlich) Vergängliche und das reine Reich der Formen, welches der Dichter schafft. Die Unsichtbarkeit und Körperlosigkeit des männlichen Ichs, das nur als abstrakter Sprecher, als kommunikativer Pol in Erscheinung tritt, verbündet sich mit jener platonischen Unvergänglichkeit, die Baudelaire der Dichtung als Leistung zuschrieb.10 Die »amours décomposés« – doppelt lesbar als die zersetzten Körper der einstigen Geliebten einerseits und die ebenso zersetzten Gefühle des gewesenen Liebhabers – indizieren im Gegensatz zu den klassischen Beteuerungen der Liebesrhetorik eine Entsprechung zwischen der Vergänglichkeit der Materie und der 10 | Zum Verhältnis von Körperlosigkeit und Macht vgl. insgesamt Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1992. Für eine Besprechung dieser bemerkenswerten Studie vgl. Bettina Gruber: »Der Körper im Schmerz (Besprechung zu Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz)«, in: Spuren, H. 44 (1994), S. 61-64.

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des Gefühls. Was »forme« und »essence divine« bewahrt, ist einzig und allein die Sprache (und sekundär das in ihr schaffende männliche Subjekt). Zweitens: Was das Gedicht aus systemtheoretischer Sicht in Szene setzt, ist die Differenz von Medium und Form, die den ganzen Text durchzieht und ihm seine semantische Struktur verleiht – das Aas bezeichnet den prekären Übergang zwischen Form und ihrem Gegenteil. Und dies gleich mehrfach: einmal der zeitrafferartig suggerierte Übergang der Frau zu Aas, dann die Vision einer lose gekoppelten, aber harmonischen Ordnung, die jedoch, kaum aufgestiegen, wieder zerfällt, und schließlich die triumphale Überführung des desintegrierenden Fleisches in die Unvergänglichkeit der Kunst. In der Opposition von Zerfall und »forme et essence divine« greift der Text exakt das auf, was die zentrale Bestimmung der Medium/Form-Differenz bildet, soll der Begriff des Mediums doch zuallererst »den Fall loser Kopplung von Elementen« bezeichnen, dem in der Form eine entsprechend dichtere gegenübersteht11 – das Gedicht lässt sich von der ersten bis zur letzten Strophe als die Thematisierung dieser Differenz lesen. Sie erscheint als Bedrohung und kreatives Versprechen zugleich, insoweit sie die notwendige Voraussetzung von Formbildung darstellt und diese gleichzeitig aufgrund einer grundlegenden Asymmetrie bedroht: »[...] das Medium ist stabiler als die Form – eben weil es nur lose Kopplungen benötigt. Formen können also in einem Medium wie immer flüchtig oder längerfristig gebildet werden, ohne daß das Medium dadurch verbraucht würde oder mit der Auflösung der Form verschwände. Das Medium nimmt [...] die für es möglichen Formen widerstandslos 11 | Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 168.

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auf; aber diese Durchsetzungsfähigkeit der Form muß mit Instabilität bezahlt werden. Doch diese Darstellung ist noch viel zu einfach. Sie berücksichtigt noch nicht, daß das Medium nur an den Formen und nicht als solches beobachtet werden kann. Es zeigt sich nur am Verhältnis von Konstanz und Variabilität der einzelnen Form. Anders gesagt: weil die Form Form-in-einem-Medium ist, läßt sie sich mit Hilfe des Schemas konstant/variabel beobachten.«12

Alle Bilder, die lose Kopplung konnotieren, heften sich an das Aas, sprich an den zukünftigen Kadaver der Frau. Dies folgt durchaus einer Logik, denn die Differenz von Medium und Form selbst ist geschlechtlich codiert. Um das zu präzisieren, seien zunächst die beiden zentralen Punkte dieser Unterscheidung bei Luhmann rekapituliert, die er eher als flexibles Wechselspiel denn als starre Opposition konzipiert. Von der Formseite aus gesehen, ist Medium gewissermaßen ein ›Mangel‹ an Dichte, der jedoch eben dadurch Formbildung erst ermöglicht. Dieser haftet daher zunächst etwas Beliebiges an, weil »viele festere Kopplungen in Betracht kommen und jede Formbildung eine Selektion erfordert«;13 sie ist also in Hinblick auf das Medium kontingent. Formen sind »stärker« (170), aber »kurzfristiger«, Medien dafür in zeitlicher Hinsicht »stabiler« (171). Das Verhältnis von Medium und Form ist nicht als einfacher Gegensatz, sondern als Möglichkeit zu wechselseitig aufbauender, dynamischer Ablösung gedacht, als »evolutionärer Stufenbau von Medium/Formverhältnissen« (172). Luhmann illustriert, wie dieser aussehen kann: »Besonders deutlich wird am Falle der Kunst, daß und wie eine Form wiederum als Medium weiterer Formbildung verwendet werden kann. 12 | Vgl. ebd., S. 171. 13 | Vgl. ebd., S. 168.

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So wird der menschliche Körper, gerade weil er Form ist, als Medium für die Darstellung unterschiedlicher Haltungen und Bewegungen verwendbar. So kann ein Theaterstück als Form gelten in dem Maße, als es textlich und durch Regieanweisungen festgelegt ist; also zugleich ist es auch ein Medium, in dem verschiedene Inszenierungen und dann einzelne Aufführungen ihre jeweilige Form finden [...].«14

Daran lässt sich folgende Überlegung im Hinblick auf Gender anknüpfen: Semantiken des Geschlechts tendieren dazu, Mediales als weiblich und Weibliches als Mediales im basalen Sinne loser Kopplung zu fassen. Diese Beobachtung einer weiblichen Konnotation des Medialen ist nicht neu, sie wurde vor allem von Psychohistorie und Medientheorie (Theweleit, Kittler, Schneider), aber auch von der feministischen Forschung (Bronfen) an reichem Material entfaltet. Luhmann thematisiert diese Genderisiertheit freilich nicht, weil sie ihm im Rahmen seiner Theoriearchitektur mit einer nicht sinnvoll anschließbaren Unterscheidung zu operieren schien.15 Medien werden von einer breiten Theorieströmung generalisierend als Vermittler und Ermöglicher von Kommunikation beschrieben, indem sie Informationen sowohl übertragen als auch speichern. Diese Auffassung deckt sich mit der grundlegenden Unterscheidung von loser und dichter Kopplung, welche die Medium/Form-Differenz bei Luhmann definiert.16 Die Leistungsfähigkeit der systemtheoretischen

14 | Vgl. ebd., S. 176. 15 | Vgl. dazu seine Skepsis in »Frauen, Männer und George Spencer Brown«, neuerdings nachgedruckt in: Ursula Pasero/Christine Weinbach (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 15-62. 16 | »Das Gemeinsame der beiden Seiten dieser Unterscheidung, also das, was sie als Unterscheidung von anderen Unterscheidungen unterscheidet,

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Fassung (auch) in Hinblick auf Gender liegt in ihrem Abstraktionsgrad und dem, was ich als ihre doppelte Relationalität bezeichnen würde: Dies bezeichnet die Fassung als Differenz (aber nicht auf semantischer Ebene, wie z.B. die Theweleit’sche Unterscheidung von Körperpanzer vs. Fluten, die im semantischen Material liegt, sondern auf formaler Ebene, also als Form für Semantiken) sowie die Möglichkeit zu aufeinander aufbauender wechselseitiger Ablösung (nicht nur kann Medium zu Form, sondern auch Form in einem weiteren Schritt wiederum als Medium in Gebrauch genommen werden). Für die Untersuchung von Geschlechtssemantiken ist dies wichtig, weil trotz der beharrlichen Kopplung von Weiblichkeit und Medialität keineswegs immer die Frau als ›lose gekoppelt‹ in Erscheinung tritt, sondern im Gegenteil in die Position der Form einrückt. Wenn der menschliche Körper zudem als Form wiederum zum Medium, etwa für den Tanz (oder das Theater oder die Skulptur) werden kann, so wird er als genderisierter Körper, und insbesondere als weiblicher Körper, Medium für Literatur. Er kann dies werden, weil er als solcher kein ›bloßer Körper‹, sondern immer schon Sprache ist. Butlers Einsicht, dass Körper nur als bereits genderisierte überhaupt fassbar werden, fügt sich hier ein. Ein bloßer Körper könnte nie zum Medium einer auf der Basis von Sprache operierenden Kunstsparte werden; nur dass der Körper im Wege eines sprachlichen Doppels existiert, macht dies möglich. Ganz konventionell repräsentiert in Une Charogne die Frau lose Kopplung, die den Mann mit der Aufgabe konfrontiert, sie zu irgendetwas weniger Hinfälligem zu verdichten. In alteuropäischer Fassung, die Baudelaire wieder aufleben lässt, stehen sich an dieser Stelle die Frau Werlde mit ihrer von Würmern zerfresliegt im Begriff der Kopplung von Elementen.« N. Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 167.

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senen Kehrseite17 und die unzerstörbaren und/weil körperlosen Wahrheiten der Transzendenz gegenüber. Was den Text ästhetisch erfolgreich macht, ist nicht formale oder inhaltliche Innovation, sondern im Gegenteil die radikalisierte, von allen Rücksichten befreite Inanspruchnahme und Entfaltung dieser alten Opposition. Er exerziert diese exemplarisch durch, indem sich in der erfolgreichen Verdichtung der Form das männliche Ich überhaupt erst konstituiert, das vorher im Text inexistent ist. Seine Abwesenheit wird durch die aufwendige Evokation der Verwesung, welche die Aufmerksamkeit des Lesers zentriert, zum Verschwinden gebracht, während es aus einem unbekannten Raum, den man am besten mit dem filmischen Terminus des »Off« bezeichnet, die Szene arrangiert. Ein Zug verdeutlicht dies in besonders krasser Form: Die oben erwähnte groteske Pose der Frau mit den Beinen in der Luft (»Les jambes en l’air, comme une femme lubrique«) zeigt diese beim oder in unmittelbarer Antizipation des Geschlechtsverkehrs. Baudelaire kann dies ausgeschlossen für eine Geste der Autoerotik gehalten haben; sie motiviert sich nur durch ein Gegenüber. Was das Bild zeigt (oder zeigen müsste) ist also die Frau mit einem Partner. Dieser aber fehlt hier, und ebenso bleibt das männliche Subjekt im Gedicht eine Leerstelle, bis eben zum platonisierenden Schluss. Es verweigert den Kontakt mit der weiblichen Welt der Zersetzung, aus der es lediglich »die Form« herauspräpariert. Einen interessanten Parallelbeleg für die Destillierung von Form aus weiblicher Ungeformtheit bietet Projets d’un Épilogue pour L’Édition de 1861. Der zweiteilige Entwurf ist geeignet, weiter 17 | Für diese bedrohliche Seite des Medialen ohne eine spezifische Genderisierung vgl. LXXVI Spleen, wo sich das Selbst (von Subjekt kann kaum gesprochen werden) zunächst als vollgeräumtes Möbelstück, dann als Friedhof (Würmer und Knochen!) und als altes Boudoir imaginiert. Ch. Baudelaire: Œuvres Bd. 1, S. 73.

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zu plausibilisieren, was ich anhand von Une Charogne ausgeführt habe. Als Entkoppeltes kann an die Stelle des Aases sehr gut die Großstadt treten. Paris figuriert darin als gewaltige Hure, »énorme catin«, deren Bild für das begeisterte, aus erhöhter Position herabblickende Ich sich aus einer Ansammlung von teils real sichtbaren, teils imaginierten Elementen zusammensetzt, die in ungeordneter Aufzählung auf den Leser einstürmen. Er schließt mit folgender Beschwörung ab: »Anges revêtus d’or, de pourpre et d’hyacinthe, Ô vous! soyez témoins que j’ai fait mon devoir Comme un parfait chimiste et comme une âme sainte. Car j’ai de chaque chose extrait la quintessence, Tu m’as donné ta boue et j’en ai fait de l’or.« 18

Dieses Verwandeln von Dreck in Gold steht in genauer Entsprechung zu dem, was das männliche Ich mit dem Aas vornimmt. Der Dichter-Alchemist ist auch ein Alchemist des Geschlechts. Deshalb preist er die Vielfalt der Stadt als verjüngend (!) (»Mais, comme un vieux paillard d’une vieille maitresse,/ Je voulais m’enivrer de l’énorme catin,/ Dont le charme infernal me rajeunit sans cesse.«19) und das Gedicht selbst ist, mit seinem Überwiegen der Enumeration (aus der Teil II ausschließlich besteht) eine Huldigung an den »Dreck«, der sich als Rohmaterial für Formung anbietet. 18 | Ch. Baudelaire: Œuvres Bd. 1, S. 191f., hier: S. 192, Hervorh. B. G. »Engel. In Gold gekleidet, in Purpur und Hyazinth, o ihr, seid Zeugen, dass ich meine Pflicht getan habe wie ein vollkommener Alchimist und wie eine heilige Seele. Denn aus jedem Ding habe ich seine Quintessenz geläutert, du hast mir deinen Schmutz gegeben, und ich habe ihn in Gold verwandelt.« Ch. Baudelaire: Blumen des Bösen, S. 403. 19 | Ebd., S. 191.

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Exakt die Stelle, an der diese Verwandlung geglückt ist, nämlich der Schluss, ist es, an der das erste und einzige Mal in Une Charogne das männliche Ich explizit (als »Je«) aus den Kulissen tritt, in denen es über die korrekte Verteilung von Geschlechtsattributen gewacht hat. Ein Aas inszeniert die Omnipräsenz männlicher Formgebung, welche die Natur, als Schöpferin von ephemeren und verfallsgeweihten Idyllen überbietet, und daher auch beansprucht, die Selbstwahrnehmung der Frau zu steuern, die ausschließlich nach seiner Maßgabe Form werden kann. Gedicht XXVII, ein Sonett ohne Titel, das in einem gemeinsamen Kontext mit Le Serpent Qui Danse steht, ist geeignet, die unmittelbare Medialität des genderisierten Körpers zu erläutern, weil es einen außergewöhnlich scharfen thematischen Übergang von Medium auf Form aufweist. Zunächst wird die Bewegung der gehenden Frau als Tanz wahrgenommen, die sich »avec ses vêtements ondoyants et nacrés«20 gleichzeitig vervielfältigt und dabei, im Bild der tanzenden Schlange, auf der Stelle tritt. Beides wird in der nächsten Strophe forciert, wo Sand, Himmel und Meer für die lose Kopplung eintreten, der Wellengang für die Wiederholung. Die beiden Quartette entwickeln diese beiden Isotopien, die in den Terzetten unvermittelt von mineralischer Starre abgelöst werden, von einer Welt der Dauer »à jamais«. Der Hiatus nach den Quartetten ist der Hiatus zwischen zwei Welten. Wenn die Frau plötzlich von der Medien- auf die Formseite gewechselt hat, dann ist sie zugleich in die andere, höhere Natur der Kunst eingegangen; die »nature étrange et symbolique« ist in ihrer ausgestellten Artifizialität mit einer genuin metaphysischen Referenz unvereinbar. Sie ist absolute Form geworden, und weil der Prozess der Formung präsent gehalten werden muss, versieht sie das mit einem männlichen Index. Als mineralisches Kunstgebilde ist sie steril – das unterscheidet sie einerseits von 20 | Ch. Baudelaire: Œuvres Bd. 1, S. 29.

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der physischen Reproduktionsfähigkeit der biologischen Frau, andererseits aber auch von der intellektuell-artistischen Produktivität des Mannes, dessen Produkt sie ist. Als Medium weiterverwendbar wird sie wiederum durch ihre absolute Äußerlichkeit21 und die ihr deshalb zugeschriebene Zugehörigkeit zu einer symbolischen Sphäre, in der Bedeutungen fast von selbst proliferieren (vgl. die Correspondances, die das explizit thematisieren). Die »indifférence« nicht nur der Baudelaire’schen Frauenfiguren ist deshalb (was immer sie sozialpsychologisch oder psychoanalytisch sein mag) eine optimale Garantie für Bedeutungsproduktion und entsprechende endlose Anschlussmöglichkeiten, das ›durchgeformte‹ ästhetizistische Frauenbild perfektes Medium, an dem sich der Autor weiter abarbeiten kann. La beauté demonstriert dies sehr deutlich. Die Schönheit wird als »rêve de pierre« und als »sphinx incompris« vorgestellt, die ein Optimum an Formstrenge und damit Starre bezeichnet: – »Je hais le mouvement qui déplace les lignes, Et jamais je ne pleure et jamais je ne ris« – und sich scharf konturiert gegen den Hintergrund des Himmels abhebt.22 Das Mediale findet sich nun auf Seiten der Dichter wieder, die vergeblich diesem Formideal nachstreben, das per definitionem unverstanden bleibt und dadurch unzählige Bewältigungsversuche provoziert. Zugleich residiert es aber auch in der Form selbst, denn was die Poeten unterwirft und zu »dociles amants« werden lässt, sind die als Spiegel die Welt verschönernden Augen der Schönheitssphinx. Der Spiegel, in dem sich eine nicht-limitierte Zahl von Objekten abbilden lässt, ist ein Bild des Mediums und nur durch ihre Me21 | Vgl. folgende Strophe von Le Serpent Qui Danse: »Tes yeux, où rien ne se révèle/ De doux ni d’amer,/ Sont deux bijoux froids où se mêle/ L’or avec le fer.« Ebd., S. 29f., hier: S. 30. Der black-box-Charakter ist Voraussetzung für jede Art von Symbolismus. 22 | Ebd., S. 21.

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dialität (d.h. ihr Angebot, Anschlüsse zu bilden) vermag die Form ihre unwiderstehliche Anziehung auf sie auszuüben.23

Gender als Zeitdifferenz Die Unterscheidung von Medium und Form birgt einen weiteren Aspekt, den Une Charogne dem Leser mit derselben Grellheit präsentiert wie den verfaulenden Körper: Die Differenz ist nicht nur genderisiert, sondern als solche auch temporalisiert. Hier tut sich ein scheinbarer Widerspruch auf, denn Luhmann verkoppelt den Begriff des Mediums mit Dauer und den der Form mit (vergleichbarer) Flüchtigkeit. Baudelaires Text aber kontrastiert die restlose Vergänglichkeit des Weiblich-Medialen mit einer platonischen Dauerhaftigkeit der Form. Hierzu muss man sich vor Augen führen, dass traditionelle Semantiken die Frau in eine seltsame Doppelposition rücken: Einerseits steht sie im Zusammenhang mit Vergänglichkeit – ungezählte Gedichte auf dem Topos von Rondards »mignonne, allons voir si la rose« (À Cassandre)24 durchziehen die europäische Literatur –, andererseits

23 | Im Einklang damit befindet sich folgende Bestimmung des Schönen in den Fusées: »J’ai trouvé la définition du Beau, – de mon Beau. C’est quelque chose d’ardent et de triste, quelque chose d’un peu vague, laissant carrière à la conjecture.« Ch. Baudelaire: Œuvres Bd. 1, S. 657. Das wirft ein Licht darauf, wie prekär es um Baudelaires Platonismus bestellt ist. Dieser ist, wie Jean-Pierre Giusto zutreffend schreibt, »traversé par la fêlure de la modernité« (Jean-Pierre Giusto: Baudelaire. Les fleurs du mal, 3. Aufl. Paris: PUF 1993), aber das gilt für alle Literatur unter den Bedingungen der Ausdifferenzierung. Die Ironie, die ihm anhaftet, ist eine historisch objektive, keine persönlich intendierte. 24 | Anthologie de la poésie lyrique française de la fin du XVe siècle à la

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konnotiert sie die natürliche Dauer der sich ewig wiederholenden Zyklen von Geburt und Tod. Sie ist damit ein paradoxes ewig Hinsterbendes, ein auf Dauer gestelltes Schwinden, und Baudelaires Perspektive (auch eine Frucht seiner intensiv betriebenen Jugendlektüre barocker Lyrik) vollzieht dies virtuos nach. Dem Vergehen des konkreten Frauenkörpers entspricht so die Dauerpräsenz eines ›zersetzten‹ Medialen. Dieser weiblichen Flüchtigkeit der Welt als konstantem Zug setzt sich die männliche Formgebung rigoros gegenüber. Das »Ich« ist bei seinem endlichen Auftauchen in der vorletzten Zeile (in der ersten gibt es nur das trügerische »nous«, das die Entwicklung des gesamten weiteren Textes dementieren wird), das oder vielmehr derjenige, der (bei Baudelaire eine Gleichsetzung) Form und ›göttliche Essenz‹ bewahrt. Für die prestigeträchtige Position des Bewahrers ist Männlichkeit eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung. Zum Dichter qualifiziert hochgradig individualisierte Leistung, die zu einer ebensolchen symbolischen Dauer erst berechtigt. Sie unterscheidet sich exemplarisch von weiblichen Formen der Dauer, für die Elisabeth Bronfen ein Beispiel geliefert hat. Die »Unbekannte aus der Seine« – ihr Exempel für ein erfolgreiches weibliches memento – lässt den hier angesprochenen Unterschied sehr deutlich erkennen. Das männliche memento dient dazu, den, an den es erinnert, zu kennen. Es präzisiert und individualisiert seine Existenz. Die Totenmaske, welche von der angeblich Ertrunkenen angefertigt und x-fach reproduziert wurde, erfüllt eine gegensätzliche Funktion: Es ist die Repräsentation (nicht einfach die Darstellung) einer Unbekannten, deren empirische Person beim Eingedenken keine Rolle spielt, ja dieses allenfalls verdunkeln könnte. Dass sie noch dazu aus dem Wasser gezogen wurde, wirkt wie ein ironischer Hinweis auf den fin du XIXe siècle. Präsentiert von Georges Du Hamel, Leipzig: Insel 1923, S. 71.

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medialen Charakter des weiblichen Selbst. Die Frau wird generalisiert und stereotypisiert, Kenntnis ist das, worum es explizit nicht geht, weil diese als individualisierte Kenntnis den Geschlechtscharakter der Frau zerstören würde. Das Weibliche und das Männliche sind deshalb jedes Objekte einer jeweils eigenen Perpetuierungsstrategie. Die Dauer des Mediums ist immer eine unpersönliche, die keine Individualisierung ermöglicht. Personalisierte Dauer haftet aber auch der Form selbst nicht an, sondern lediglich der Formgebung.25 An dieser Stelle wird erkennbar, dass Männlichkeit als Aktion angesichts dieser Differenz aufgefasst wird, während Weiblichkeit lediglich in ihr prozessiert werden kann. Hier kommt der performative Aspekt zum Tragen, für den die Systemtheorie aufgrund ihrer internen Architektur keine Beschreibungskategorien bereitstellt.26 Diese Kraft zur (innovativen) 25 | Denn wie ließen sich sonst so geläufige Motive erklären, wie das, welches die Frau zur Sachwalterin der bestehenden Ordnung macht, also gerade auf der Seite bestehender Form verortet? Die Antwort liegt im Adjektiv »bestehend«. Tatsächlich geht es um die Fähigkeit zur Form- bzw. Strukturbildung, die kulturell als spezifisch männliche Leistung codiert wird. Ihr gegenüber kann das Weibliche entweder als strukturkonservativ oder als zerstörend stilisiert werden. (Wer sich dies illustrieren möchte, denke an das Verhältnis Wotan/Fricka, wie Wagner es im Ring, exemplarisch im zweiten Akt der Walküre, entfaltet.) 26 | Dass die Systemtheorie keinen Subjektbegriff entwickelt, ist ein zwingendes Ergebnis ihrer theoretischen Basisannahmen und angesichts der philosophiegeschichtlichen Belastung der gesamten damit verbundenen Terminologie beschreibungstechnisch ein Gewinn. Eine in den Semantiken moderner Gesellschaften so intensiv präsente Größe wie das (wie auch immer konkret verstandene) Selbst muss jedoch in der Theorie an irgendeiner Stelle repräsentiert werden können (d.h., wenn es sich auch bloß um eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft handelt, die sich gern als Kongre-

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Formgebung erstreckt sich, wie über die gesamte Objektwelt, auch auf das Feld des Selbst und wird genutzt, um geschlechtliche Differenz mit größtmöglicher Deutlichkeit zu markieren. »La femme est le contraire du dandy. Donc elle doit faire horreur. La femme a faim et elle veut manger. Soif, et elle veut boire. Elle est en rut et veut être foutue. Le beau mérite! La femme est naturelle, c’est-à-dire abominable. Aussi est-elle toujours vulgaire, c’est-à-dire le contraire du Dandy.«27

Diese Äußerung erstaunt vor dem Hintergrund der betonten Artifizialität weiblicher Existenz in Baudelaires sozialem Umfeld, die er schätzt und immer wieder thematisiert (so sein stetes Lob der Schminke). Hier jedoch erscheint die Frau auf der Seite des Natürlichen, das sich diesmal nicht als abstoßende Desintegration, sondern als verfehlte respektive inexistente Beherrschung gation von Individuen begreift, so muss doch die Selbstbeschreibung als soziales Faktum wiederum beschreibbar sein). Der Ausbau des Personbegriffs, wie Luhmann ihn vollzog, gegenüber einer bloßen Aufspaltung in psychische und physische Systeme, bietet eine im Einklang mit diesen Grundannahmen handhabbare Alternative zu Begrifflichkeiten wie Subjekt, Selbst und Individuum. In Anwendung auf die Gender-Frage dazu neuestens: Christine Weinbach: »Die systemtheoretische Alternative zum Sexund-Gender-Konzept: Gender als geschlechtsstereotypisierte Form ›Person‹«, in: Ursula Pasero/Christine Weinbach (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 144-170. Ihre Bestimmung von Person als »geschlechtlich gefasstes Erwartungsbündel« scheint mir eine erfolgversprechende systemtheoretische Rekonstruktion von Gender anzubieten. 27 | Ch. Baudelaire: Œuvres Bd. 1, S. 677.

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der Zeit präsentiert.28 Das ihr zugeschriebene Verlangen nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung setzt sie vom Dandy ab, der über den Aufschub sein Leben auch zeitlich streng strukturiert. Möglicherweise reagiert die Acharniertheit des Eintrags gerade auf die Tatsache, dass auf dem Felde der Körperkultur die Differenz zwischen der Frau und dem Dandy nicht so leicht deutlich zu machen war. Die Unstrukturiertheit des Weiblichen muss also auf einem anderen Feld als dem des Tangiblen wieder ausgemacht werden können, und das lässt sich durch Temporalisierung am leichtesten erreichen.29 Eine weitere Form der Temporalisierung, die mit der Medium/Form-Unterscheidung in Zusammenhang steht und eine Grenzlinie zwischen den Geschlechtern markiert, ist die Innovation, die für Literaten und Dandy gleichermaßen konstitutiv ist. Letzterer will nicht gefallen, sondern verblüffen und vor den Kopf stoßen (und hierin liegt eine entscheidende Differenz zur Körperkultur der Frau, die ganz auf Zustimmung angewiesen ist, was ihre diesbezüglichen Spielräume sehr klein geraten lässt). Dementsprechend hat das Bild des sich zersetzenden weiblichen Kadavers Gegenstücke in den Fleurs du Mal, die den Tod vollkommen anders präsentieren. Nicht als Auflösung, sondern als fruchtbaren Übergang. Paradigmatisch dafür ist La mort des artistes, wo der Tod das Gehirn der verzweifelten Künstler zum 28 | Komplementär zur Bedrohung impliziert das ungeformte Verrinnen der Zeit erwartbarer Weise auch eine Verlockung – s. die Gedichte zum Leben in den Tropen, À une dame créole, L’Invitation au Voyage, Bien loin d’ici usw. Diese atmosphärisch weiblich beherrschten Gedichte wenden die Bedrohung als Versuchung. 29 | »Mais le dandysme et l’écriture sont précisément des réactions à cette faiblesse de l’homme, pour extraire la personne de la durée dans laquelle elle se trouve engluée.« Michel Lemaire: Le dandysme de Baudelaire à Mallarmé, Montréal: Presse de l’Université de Montréal 1978, S. 115.

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114 | Bettina Gruber Blühen bringt30 und ihnen auf diese sehr zweideutige Weise endlich das gesuchte Unbekannte erschließt. Eine Parallele bildet der Schluss von Le Voyage, der den Tod als Versprechen und einzige Chance einer genuin neuen Erfahrung gegenüber dem immergleichen Muster des Erdenlebens emphatisch begrüßt. Die Phantasie vom Tod als Schwelle kann auf die Frau nicht angewandt werden31 – sie überschreitet keine Grenze. Nouveau und Grenzüberschreitung sind für den Mann. Dafür implizieren sie ein Risiko der Verfehlung. Die Kehrseite der Spielräume ist eine Risikostruktur, welche die ›männliche‹ von der ›weiblichen‹ Zeit unterscheidet. Das Weiblich-Mediale kann nicht verfehlt werden, Formgebung dagegen ist ständig vom Scheitern bedroht. Offenbar unterhalten die beiden Geschlechter ein völlig unterschiedliches Verhältnis zur Dauer und werden durch ihre unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten dazu entscheidend mit konstituiert. Ich möchte vorschlagen, ›männlich‹ und ›weiblich‹ als Bezeichnungen für unterschiedliche Perpetuierungsstrategien aufzufassen. Männlichkeit (besonders im Kunstsystem) lässt sich 30 | »Il en est qui jamais n’ont connu leur Idole,/ Et ces sculpteurs damnés et marqués d’un affront,/ Qui vont se martelant la poitrine et le front,/ N’ont qu’un espoir, étrange et sombre Capitole !/ C’est que la Mort, planant comme un soleil nouveau,/ Fera s’épanouir les fleurs de leur cerveau!« Ch. Baudelaire: Œuvres Bd. 1, S. 127. 31 | Signifikanterweise hat La Mort des Amants, in dem die Liebenden gemeinsam sterben, nichts vom Pathos der Innovation, der selbst dem Mort des Pauvres (thematisch inkongruent, denn hier würde man nicht unbedingt ein Interesse ausgerechnet am Neuen erwarten, außer vielleicht im Benjamin’schen Sinn einer durchbrochenen Wiederholung) mitgegeben ist. Es zielt stattdessen auf eine Restitution des Lebenszustandes auf höherem Niveau ab: »Et plus tard un Ange, entrouvrant les portes,/ Viendra ranimer, fidèle et joyeux,/ Les miroirs ternis et les flammes mortes.« Ch. Baudelaire: Œuvres Bd. 1, S. 126.

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als hochindividualisierte historische Dauer definieren. Auch unter diesem Aspekt gewinnt die Ekel-Thematik ein neues Gesicht. Der Ekel gilt in höchstem Maße der Bedrohung durch die Zeit, die das Ich überwindet, indem es ihr das Weiblich-Mediale überantwortet und sich auf die Seite der ›harten‹ Form rettet. Wenn es ein Zentralthema der Fleurs du Mal gibt, dann ist es dieses – die vieluntersuchte Melancholie-Problematik ist schlussendlich die Bearbeitung eines Zeitproblems, der unaufhebbaren Disparität zwischen objektiver Zeit und Psyche. Das Verrinnen der Zeit ist deshalb (in einer gegenüber dem Barock historisch radikalisierten Weise) auch die privilegierte Perspektive für die Thematisierung der Geschlechterspannung und umgekehrt bildet diese ein Medium für die Darstellung von Zeit. Auf dieses Verhältnis von Geschlecht und Zeit antwortet der Ekel. Es begründet den sexualisierten Aspekt des Textes und nicht umgekehrt. Die Geschlechterkonstellation in ihrem Verhältnis zur Zeit ist das objektivierbare Korrelat dessen, was auf innerpsychischer Ebene als Angstlust unterstellt werden kann. Das weibliche Ekelobjekt wird von der Poesie aufgesucht, weil es die Darstellung eines abschließenden Triumphs der Form ermöglicht, die hier aber nicht wiederum als Medium für Anderes bzw. Neues, sondern als eine Stoppformel aufgefasst wird, die den Kampf um die Dauer endgültig entscheidet.

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Der Tanz ums Triviale. Geschlechterdifferenz und literarische Wertung in der russischen Kultur um 1900 Dagmar Steinweg

1901 schreibt Anastasija Verbickaja, eine der ersten Bestsellerautorinnen Russlands,1 in ihrer Kurzbiographie für einen Sammelband: »Man wirft mir vor, dass ich mich wenig um Form und Stil kümmere. Dieser Vorwurf ist gerecht. Aber es fällt mir schwer, diesen Mangel 1 | Anastasija Verbickaja (1861-1928) und Evdokija Nagrodskaja (18661930) sind in den zehner Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die populärsten Autorinnen in Russland. Vgl. zu Leben und Werk beider Autorinnen . Alla Graceva: »A. A. Verbickaja«, in: Russkie pisateli. Moskva: Enciklopedija ^

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1992, Bd. 1, S. 418-420 und O. A. Kuslina/A. V. Kochanova: »E. A. Nagrods. kaja«, in: Russkie pisateli, Moskva: Enciklopedija 1999, Bd. 4, S. 202-204.

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aufzugeben, weil für mich Literatur nie Selbstzweck war, sondern eher ein Mittel, eine Waffe des Kampfes und der Propaganda. Ich interessiere mich nicht dafür, wie ein Werk geschrieben ist, sei es meins oder ein fremdes. Mir ist wichtig, was geschrieben wird. Das ist bereits eine vollständige Weltanschauung und daran kann man nichts mehr ändern.«2 (Hervorhebung von mir, D. S.)

Ungeachtet des zu dieser Zeit aktuellen symbolistischen Ästhetizismus plädiert Verbickaja für eine politisch engagierte Literatur, die nicht etwa durch formale Raffinessen von der eigentlichen Information, der Botschaft, ablenkt. Damit weist sie Kritik zurück, die auf die insbesondere Autorinnen unterstellte formale, ästhetische Minderwertigkeit literarischer Werke zielt. Verbickajas Stellungnahme kann als Abwehr einer möglichen Beurteilung des eigenen literarischen Werkes anhand von autonomieästhetischen Wertmaßstäben gelesen werden. Bei einer solchen Beurteilung haben gerade weibliche Autoren eine schlechte Ausgangsposition für die Aufnahme in den jeweiligen nationalen Kanon, wie die von den Gender Studies inspirierte Kanonforschung gezeigt hat.3 Aus dieser Perspektive erweist sich das Credo der engagierten, im weitesten Sinne bereits feministisch argumentierenden Autorin als eigene Standortbestimmung gegen eine auf autonomieästhetischen Grundsätzen basierende Literaturbetrachtung. Verbickajas Aussage demonstriert – nähert man sich ihr aus systemtheoretischer Perspektive – jedoch auch die für die russi^ ^ ^^

2 | Anastasija Verbickaja: »Avtobiografija«, in: Sbornik na pomosc’ucas^^

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cimsja zenscinam, Moskva 1901, S. 90-91, hier S. 90. 3 | Vgl. Renate von Heydebrand/Simone Winko: »Arbeit am Kanon: Geschlechterdifferenz in Rezeption und Wertung von Literatur«, in: Hadumod Bußmann/Renate Hof (Hg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart: Kröner 1995, S. 206-261.

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sche Kunst- und Literaturbetrachtung charakteristische Untergewichtung einer der zentralen Differenzen, mit der Kunst und Nicht-Kunst abgegrenzt werden, nämlicher jener Differenz zwischen dem ›Wie‹ und dem ›Was‹ der Kommunikation.4 Verbickaja befindet sich mit dieser Haltung ebenso in Übereinstimmung mit der aufklärerischen Tradition der Kunstkommunikation wie Lev Tolstoj, der, etwa in seiner Schrift Ob iskusstve (1889), im Kunstwerk ein »Erziehungsinstrument mit persuasiver Breitenwirkung«5 erkennt und somit die didaktische Funktion der Literatur vor allen anderen betont. Die Instanzen der literarischen Wertung blieben von den Selbstverortungen der Autorinnen in dieser Tradition unbeeindruckt und beurteilten ihre Texte mit eindeutigem Rekurs auf das biologische Geschlecht als minderwertig. In welchem Verhältnis stehen die Möglichkeit geschlechtsspezifischer Beurteilung literarischer Texte und der Stand der Ausdifferenzierung des Sozialsystems ›Kunst‹ zueinander?

1. Identität oder Differenz? Die vielfach angenommene Ausdifferenzierung des russischen Literatursystems um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert wird begründet mit der in der ›hohen‹ Literatur sich vollziehenden Umschaltung auf ein autonomieästhetisches Paradigma. Damit wird die Entwicklung jedoch um Aspekte der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung verkürzt, da viele literaturwissen4 | Dirk Kretzschmar: Identität statt Differenz. Zum Verhältnis von Kunsttheorie und Gesellschaftsstruktur in Rußland im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2002, S. 363. 5 | Ebd., S. 364.

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schaftliche Untersuchungen auf der Basis eines aus der Romantik übernommenen Autonomiebegriffs argumentieren, der einen Rückzug der Kunst aus der Gesellschaft, aus gesellschaftlichen Zusammenhängen als dominantes Merkmal versteht. Die Notwendigkeit, sich der Relation zwischen literarischem System und Umwelt, zwischen Kunst und Gesellschaft zuzuwenden, erkannten zwar auch die seit den zehner Jahren die russischen Kunstdebatten dominierenden Theoretiker der formalistisch-strukturalistischen Schule. Am Übergang von der auf die innerliterarischen Strukturen konzentrierten Phase des Formalismus zu einer die Wechselbeziehungen der unterschiedlichen Reihen berücksichtigenden theoretischen Neubestimmung forderten Roman Jakobson und Jurij Tynjanov 1928 eine eingehende Analyse nicht nur der innerliterarischen Strukturen, der immanenten Gesetze jedes Systems, sondern auch der SystemUmwelt-Relation. Dass dies ein Desiderat blieb, sieht Dirk Kretzschmar in seiner systemtheoretisch basierten Untersuchung zur Kunstkommunikation in Russland im eingeschränkten Autonomie-Begriff begründet. Einem Konzept, das auf dem Postulat der ästhetischen Autonomie der Kunstwerke und der Abgrenzung von jeglichen Zugriffen der Gesellschaft auf sie basiert, setzt die systemtheoretische Sichtweise die strukturelle Kopplung des Sozialsystems Kunst und seiner Umweltsysteme entgegen. Zentral ist die Annahme einer funktionalen Differenz des Kunstsystems zu anderen Systemen, kann doch in einer funktional differenzierten Gesellschaft jedes System nur seine eigene spezifische Funktion – in Abgrenzung zu den Funktionen der Umweltsysteme – übernehmen. Die Autonomie der Kunst kann somit erst dann eintreten – und hier erweitert die systemtheoretische Perspektive den bedingten Autonomie-Begriff aus der Romantik –, wenn Kunst als ein autonomes Teilsystem neben anderen gesellschaftlichen Teilsystemen (Wissenschaft, Religion, Wirtschaft) existiert. Dies

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setzt die Ausdifferenzierungsprozesse der anderen gesellschaftlichen Subsysteme voraus, ihrer jeweils spezifischen Funktion, symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und Kommunikationscodes.6 Kretzschmar hat in seiner Untersuchung zum Verhältnis von Kunsttheorie und Gesellschaftsstruktur in Russland für das 18. und 19. Jahrhundert nachgewiesen, dass es nicht zu einer Ausdifferenzierung eines literarischen Systems gekommen ist, auch weil die russische Literatur immer wieder – und immer noch – heteronomen Funktionszuschreibungen unterworfen wurde, sich also keine für die Kunst und Literatur spezifische Funktion innerhalb der russischen Gesellschaft ausgebildet hat. Für den russischen Kontext gilt, dass literarische Kommunikation auf einem Konglomerat aus moralischen, religiösen und politischen Kriterien basiert, somit von einer Autonomie ästhetischer Kommunikation und einer Ausdifferenzierung im Sinne einer selbstreferentiellen Schließung keine Rede sein kann.7 Was sind die Konsequenzen dieser Feststellung für die von den Gender Studies beeinflusste Sicht auf Wertungsprobleme in der Literatur?

6 | Vgl. ebd., S. 16f. 7 | Gegen diese Sicht argumentiert Barbara Wurm: »Literaturhistoriographie als Selbstbeschreibungsmodell des Transformations- und Innovationsprozesses der (russischen) Kultur: Die istorija literatury in den 1920er Jahren aus systemtheoretischer Perspektive«, in: Petra Becker/Katrin Mundt/ Dagmar Steinweg (Hg.): Zwischen Anachronismus und Fortschritt. Modernisierungsprozesse und ihre Interferenzen in der russischen und sowjetischen Kultur des 20. Jahrhunderts, Bochum: projekt Verlag 2001, S. 198227.

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2. Geschlechterdifferenz und literarische Wertung Eine Übertragung der Befunde aus der westeuropäischen, von den Gender Studies beeinflussten Kanonforschung auf russische Verhältnisse muss auf diese spezifischen Bedingungen literarischer Kommunikation und gesellschaftlicher Entwicklung im damaligen Russland eingehen. Es handelt sich um eine Gesellschaft, die noch nicht primär funktional differenziert ist. In der systemtheoretischen Geschlechterforschung wird funktionale Differenzierung als primäre Differenzierung der modernen Gesellschaft vorausgesetzt. Mit Niklas Luhmann ist davon auszugehen, dass im Übergang von einer stratifikatorisch differenzierten zu einer funktional differenzierten Gesellschaft die Asymmetrie zwischen den Geschlechtern schwächer wird, da eine solche Asymmetrie sich vielmehr mit den Prinzipien der ersteren, hierarchisch geordneten Gesellschaft vereinbaren lässt.8 Daraus folgt, dass in der noch nicht funktional differenzierten Gesellschaft eher mit einer auf asymmetrische Unterscheidung von Männern und Frauen setzenden Semantik zu rechnen ist als mit einer Semantik der Gleichheit der Geschlechter. Während aus systemtheoretischer Sicht die Asymmetrie der Geschlechter in der russischen Gesellschaft (und in der Bewertung durch die Literaturkritik) eine Folge der mangelnden Ausdifferenzierung von Funktionssystemen sein könnte, weist die 8 | Vgl. Niklas Luhmann: »Frauen, Männer und George Spencer Brown«, in: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988), H. 1, S. 47-71; Ursula Pasero: »Geschlechterforschung revisited: Konstruktivistische und systemtheoretische Perspektiven«, in: Theresa Wobbe/Gesa Lindemann (Hg.): Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 264-296. Siehe dazu auch die Beiträge von Kai-Uwe Hellmann und Christine Weinbach im vorliegenden Band.

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Kanonforschung darauf hin, dass auch die Ausdifferenzierung der Literatur diese Asymmetrien in der Literaturkritik nicht beseitigt hat. So nehmen Renate von Heydebrand und Simone Winko in ihren Analysen der Gründe für das Fehlen von Autorinnen im (westlichen) Kanon die Wirksamkeit von gender-Mustern bei der Kanonisierung von literarischen Werken in den Blick.9 Sie konstatieren Geschlechterdifferenz sowohl auf der persönlichen als auch auf der institutionellen Ebene der Wertung, was sie gerade anhand der Ausbildung des autonomieästhetischen Paradigmas als maßgeblichen Wertmaßstabs für die Kanonbildung verdeutlichen. Dieses Paradigma entstand im Zuge der Entwicklung der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft und der damit einhergehenden Ausdifferenzierung des autonomen Sozialsystems Literatur, die sich in Westeuropa gegen Ende des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts vollzog. Die Kriterien zur Ausbildung der Autonomieästhetik wurden anhand von Texten gewonnen, die »[…] von Männern geschrieben sind, und sie führen bekanntlich zum Ausschluß unterhaltender und didaktischer Literatur aus dem Bereich der ›hohen‹ Literatur und damit zum Ausschluß ganzer Textgruppen, die – unter den Perspektiven sex und gender – überwiegend Frauen zugeordnet wurden.«10

Aus der russischen ›hohen‹ Literatur wird jene Literatur, die ein didaktisches Potential aufweist und moralisch-bessernd auf den Leser einwirkt, nicht ausgegrenzt, vielmehr machen nicht nur Tolstoj und Dostoevskij auf die Notwendigkeit der moralischen Funktion von Literatur und der Verantwortung des Autors mit seiner ganzen Person für die Verwirklichung dieses Ziels auf9 | Vgl. R. von Heydebrand/S. Winko: Arbeit am Kanon, S. 228f. 10 | Vgl. ebd., S. 226.

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merksam. Um die Jahrhundertwende sind es auch die fortschrittlicheren Autoren und Kritiker, die auf diese Kriterien als Maßstäbe für ›gute‹ Literatur rekurrieren und dabei die Möglichkeit der unterhaltenden Funktion von Literatur rigoros ausschließen.11 Von Heydebrand und Winko stellen weitere Thesen auf, die mit Blick auf soziokulturelle wie innerliterarische Bedingungen den Ausschluss von Autorinnen aus dem Kanon betreffen; im Zentrum steht jedoch die erwähnte Einsetzung des autonomieästhetischen Paradigmas. Es sei hier auf diejenigen Thesen eingegangen, die im Hinblick auf den russischen Kulturraum besonders aufschlussreich sind.12 Die Einstufung anerkannter weiblicher Autoren als Ausnahmen kann etwa mit dem absolut isolierten Status Marina Cvetaevas und Anna Achmatovas in der russischen Literatur verdeutlicht werden, während gleichzeitig eine Vielzahl schreibender Frauen nicht wahrgenommen oder nicht in den Kanon der russischen Literatur aufgenommen wurde. Die zeitgenössische Literaturkritik in Bezug auf die Werke Verbickajas und Nagrodskajas tendiert dazu, spezifische »Frauenthemen« und Schreibweisen festzulegen. Ein Beispiel dafür ist Aleksandra Kollontaj, die Nagrodskajas Roman Gnev Dionisa (Der Zorn des Dionysos) vor allem

11 | Vgl. D. Kretzschmar: Identität statt Differenz, S. 353-372. Auch symbolistische Dichter wie Aleksandr Blok etwa binden die Funktion des Autors an die Rolle des moralisch-ethisch Belehrenden. Gleiches gilt für Kritiker wie ^

Kornej Cukovskij und Autoren wie Maksim Gor’kij. Vgl. dazu Dagmar Steinweg: Schlüssel zum Glück und Kreuzwege der Leidenschaften – Untersuchungen zur russischen populären Frauenliteratur am Beispiel der Autorinnen Anastasija Verbickaja und Evdokija Nagrodskaja, Bochum: projekt Verlag 2002, S. 117-122. 12 | Vgl. R. v. Heydebrand/S. Winko: Arbeit am Kanon, S. 233.

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als eine Illustration des Konzepts der Neuen Frau sehen will,13 den Text somit vor allem im Hinblick auf seine Umweltreferenz untersucht. Da die Einsetzung von autonomieästhetischen Wertmaßstäben im russischen Kontext nicht in gleichem Maße erfolgt ist wie in Westeuropa, wird die Literatur in besonderer Weise für ideologische Indienstnahmen, aber auch für heteronome Wertungsmaßstäbe anfällig. Während für die westeuropäische Kanonbildung der double standard of form14 ein wichtiges Ausschlusskriterium weiblicher Autorschaft aus dem literarischen Kanon bedeutet und »[e]thische und moralische Werte des Gehalts […] im Ensemble der Werke geringer gewichtet [werden] als ästhetische Werte der Form, die das Kunstwerk als Kunstwerk […] auszeichnen«,15

gilt es für die nicht ausdifferenzierte russische Literatur, sich nach Maßgabe moralischer und ethischer Werte beurteilen zu lassen. Wenn für die russische Kultur die Durchsetzung des auto-

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13 | Vgl. Aleksandra Kollontaj: »Novaja zenscina«, in: Sovremennyj mir 9 (1913), S. 151-185. 14 | In der Literaturkritik – so die These – herrschen vor allem ergänzungstheoretische Modelle vor, so dass gegenüber der Literatur von Frauen und der Literatur von Männern grundsätzlich verschiedene Erwartungshaltungen bestehen, die von historischen Faktoren ebenso wie von geschlechtsspezifischen Erfahrungen abhängig sind. Angenommen wird, dass verschiedene Normen bezüglich weiblicher und männlicher Autorschaft existieren, was als Doppelstandard charakterisiert wird, der die weibliche Normkategorie des Schreibens in Abhängigkeit von der dominierenden männlichen gestaltet. 15 | Vgl. R. v. Heydebrand/S. Winko: Arbeit am Kanon, S. 230.

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nomieästhetischen Postulats und die Zurückweisung heteronomer Funktionen von Kunst nur in Ansätzen erfolgte, stellt sich die Frage, ob darin vielleicht sogar eine bessere Ausgangsposition für weibliche Autoren im literarischen Kommunikationsprozess bestand. Indessen blieben andere Ausschlussstrategien in Kraft, die auf dem Stadium geringer Ausdifferenzierung basierten, sodass die Asymmetrie der Geschlechterdifferenz stark war und auf ästhetische Werturteile ausgedehnt blieb. Die Rolle der Schriftstellerinnen um 1900 wurde in erster Linie geschlechtsspezifisch definiert, wobei die Autorinnen im aktuellen psychologischen und populärwissenschaftlichen Weiblichkeitsdiskurs der Jahrhundertwende sich als weibliche Autoren legitimieren mussten.

3. Der literarische Markt um 1900 – Goldenes Zeitalter für Autorinnen? Um 1900 bilden sich in Russland wie in Westeuropa Züge einer modernen Massenkultur und -literatur aus, die mit einem Modernisierungsschub in den Großstädten Moskau und Petersburg einhergehen. Die bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzende, von bestimmten gesellschaftlichen Gruppierungen und den politischen Institutionen geförderte Alphabetisierung auch der unteren Schichten trägt dazu bei, dass die potentielle Leserschaft sich innerhalb kurzer Zeit vervielfacht. Verlage und Autoren reagieren auf den wachsenden Bedarf an Lesestoffen: Es kommt zu zahlreichen Neugründungen von Zeitungen und Zeitschriften, darüber hinaus entsteht eine breit gefächerte Unterhaltungsliteratur, die den Unmut der vor allem an der Volksbildung interessierten Intellektuellen erregt. Signifikant tritt in dieser Situation hervor, dass es gerade Frauen sind, die auf dem literarischen Markt an Einfluss gewin-

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nen. Begünstigt durch die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Verbesserung der gesellschaftlichen Situation der Frauen, ihrer allmählich sich ausweitenden Bildungsmöglichkeiten und einer generellen Sensibilisierung des politischen und gesellschaftlichen Bewusstseins für Frauenfragen, können Frauen die sich verändernden Bedingungen des literarischen Marktes nutzen, indem sie als Autorinnen, Übersetzerinnen, Redakteurinnen oder Lektorinnen in den neu gegründeten Verlagen, Zeitungen und Zeitschriften tätig werden. Die Zeit zwischen 1880 und 1917 erweist sich somit aufgrund der sich wandelnden sozialen Bedingungen und der Veränderungen des literarischen Marktes als eine weibliches Schreiben begünstigende Zeit,16 jedoch spielen in diesem Zeitraum die Projektionen über das Weibliche nicht zuletzt durch den Einfluss des Symbolismus eine große Rolle. Zu bedenken ist, dass die Vorstellungen der Autorinnen von der Frau eben jene Projektionen der Vorgänger und Zeitgenossen widerspiegeln, sie sich also dem Jahrhundertwende-Diskurs um das idealisierte »ewig Weibliche« kaum entziehen können.17 Insbesondere weibliche Autorinnen verfassen im Zeitraum nach 1905 bis zur Revolution von 1917 populäre Literatur, vor allem Romane, die einen immensen Erfolg erzielen. Erstmals ist 16 | Vgl. Jeffrey Brooks: When Russia Learned to Read. Literacy and Popular Literature 1861-1917, Princeton: Princeton University Press 1985; Frank Göpfert: Dichterinnen und Schriftstellerinnen in Russland von der Mitte des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine Problemskizze, München: Kubon und Sagner Verlag 1992; vgl. weiter Catriona Kelly: A History of Russian Women’s Writing, 1820-1992, Oxford: Oxford University Press 1994, S. 134-135. 17 | Vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 42.

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es damit die Gattung des Romans, der sich Frauen – wenn auch im von der zeitgenössischen Literaturkritik abgewerteten Bereich der Massenliteratur – nun in größerer Zahl bemächtigen. Zu den populärsten Autorinnen der Jahrhundertwende gehören die bereits erwähnten Anastasija Andreevna Verbickaja und Evdokija Apollonovna Nagrodskaja, die mit auflagenstarken, umfangreichen Romanen zeitweise die russischen Klassiker Tolstoj und Cechov in den Ausleihstatistiken der Bibliotheken in den Schatten stellen. Damit ziehen sie die massive Kritik der Feuilletonisten und Rezensenten auf sich – nicht nur, weil in dieser Literatur eine ästhetisch minderwertige Gattung gesehen wird, sondern insbesondere auch, weil die Autorinnen Grenzen überschreiten, indem sie ›Hohes‹ und ›Niedriges‹ in ihren Texten miteinander mischen und durch ihre Präsenz im Literaturbetrieb sowie durch das Aufgreifen der virulenten Frauenfragen sogar eine gewisse Transparenz in die Ausschließungsmechanismen, die in der literarischen Kommunikation wirksam sind, hineintragen. So behandeln etwa die populärsten Romane, Verbickajas Kljuci scast’ja (Die Schlüssel zum Glück, 1909-1913) und Nagrodskajas Gnev Dionisa (Der Zorn des Dionysos, 1910), das Schicksal von als Künstlerinnen tätigen Frauen, die mit ihrem Streben nach schöpferischer Entfaltung in ihrem Beruf und gleichzeitigem persönlichen Glück als Ehefrau und Mutter scheitern müssen. Zum möglichen Leserkreis dieser Autorinnen gibt es keine verlässlichen Untersuchungen, allerdings ist u.a. aufgrund des hohen Anteils von Analphabetinnen unter der Bevölkerung kaum anzunehmen, dass das Publikum sich vor allem aus berufstätigen Frauen der unteren Schichten zusammensetzte.18 Es ^

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18 | Diese Position vertritt Brooks und grenzt damit im Nachhinein diese Literatur aus, indem er deren Rezeption auf diese Bevölkerungsschicht einschränkt. – Fieseler weist darauf hin, dass selbst Umfragen aus der Jahrhundertwende nicht als verlässlich gelten können, sind sich doch die Befrag-

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ist anzunehmen, dass die Namen dieser weiblichen Autorinnen in Biographien von Zeitgenossen und bei Umfragen nicht genannt werden, weil sie dem akzeptierten Anspruch von Literatur nicht genügen.19

4. Russische Definitionen des Trivialen Die literaturkritischen Debatten um diese Differenzierung des russischen Buchmarktes um 1900 weisen Argumentationsmuster auf, die den Umgang mit der Geschlechterdifferenz in der literarischen Wertung erkennen lassen.20 Zu einem zentralen Schlagwort in den Diskussionen um ›gute‹ und ›schlechte‹ Literatur gerät das Konzept der poslost’ (übersetzt etwa: Banalität, Abgeschmacktheit, Trivialität), das als ein Spezifikum der russischen Auseinandersetzung mit dem Trivialen gelten kann. Dieser Begriff, der vor allem Eingang in die Literaturkritik als einen Bereich ästhetischer Kommunikation gefunden hat, weist die Verklammerung von moralisch-ethischen und ästhetischen Kriterien auf und unterliegt zugleich einer charakteristischen Feminisierung. So zeigt bereits der Eintrag im erklärenden Wörterbuch Vladimir Dal’s die mögliche Bedeutungsvielfalt des Begriffs21, der somit für eine Verwen^

ten über die Erwartungen an sie und den literarischen Geschmack im Klaren. Vgl. Beate Fieseler: Frauen auf dem Weg in die russische Sozialdemokratie, 1890-1917. Eine kollektive Biographie, Stuttgart: Steiner 1995, S. 144-155. 19 | Vgl. dazu ebenfalls B. Fieseler: Frauen auf dem Weg. 20 | Eine ausführliche Analyse der literaturkritischen Diskussionen stelle ich in meiner Dissertation dar, vgl. D. Steinweg: Schlüssel zum Glück. 21 | Das erklärende Wörterbuch Vladimir Dal’s von 1880 weist als Grund^

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bedeutung des Wortes poslost’ bzw. poslyj die folgenden Einträge auf: 1. Ver-

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dung am Schnittpunkt verschiedener Bereiche – des Ästhetischen und des Moralischen und des Literarischen – prädestiniert scheint und dementsprechend auch in unterschiedlichen Kontexten verwendet wurde. Im 19. Jahrhundert wird poslost’ oft in engem Zusammenhang mit dem wachsenden Einfluss des Westens gesehen, also in gesellschaftlich-politischen Kontexten, in Argumentationszusammenhängen der Intelligencija. So stehen poslost’ und die vehemente Kritik an ihr im Kern der Definition der russischen kulturellen und nationalen Identität. Ein Autor, der sich der poslost’ verdächtig macht, kann kaum mehr seiner Rolle im Funktionsgefüge von Moral, Ethik und Ästhetik gerecht werden. Bis in die Gegenwart wird der Begriff jedoch auch in literaturwissenschaftlichen Arbeiten verwendet, wenn es darum geht, Triviales zu bezeichnen.22 Von uneingeschränkter Gültigkeit ist noch immer Vladimir ^

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altetes, etwas, das aus der Mode, aus dem Gebrauch gekommen ist, allgemein bekannt ist. Der Begriff enthält – so verstanden – zunächst keine eindeutig pejorative Färbung. 2. Es wird als Bedeutung das Niedere, Grobe, Gemeine und Niederträchtige genannt, wobei diese Bedeutungen bereits eine moralische Wertung implizieren. 3. Die dritte Bedeutung, die das Dal’sche Wörterbuch angibt, erfasst mit Trivialität und Vulgarität einen Grenzbereich der moralisch-ästhetischen Sphäre, dies verdeutlicht auch der Kontext, der die Verwendung des Begriffs in dieser Bedeutung erläutern soll. Zudem verweist der Begriff auf sexuell Anstößiges, wobei für diese Verwendung bezeichnenderweise kein Beispiel angegeben ist. Vgl. Vladimir Dal’: Tolkovyj slovar’ zivogo velikorusskogo jazyka. Vtoroe izdanie, ispravlennoe i znaci^

tel’no umnozennoe po rukopisi avtora, S.-Peterburg, Moskva, 1880-1882 (Nachdruck Moskva: Russkij jazyk 1989-1991). Bd. 3, S. 374. – Der Begriff ist im Grunde nicht angemessen zu übersetzen, so dass ich der gängigen Praxis folge und den russischen Begriff verwende. ^

22 | Vgl. Neja Zorkaja: Na rubeze stoletij. U istokov massovogo iskusstva v Rossii 1900-1910 godov, Moskva: Nauka 1976, S. 108-109.

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Nabokovs Definition, mit der er das Phänomen poslost’ umreißt und dabei auf das auch für den Kitsch gemeinhin angenommene Zuviel und den Habitus des So-tun-als-ob verweist. Zudem stellt Nabokov bereits die Fusion von moralischem und ästhetischem Urteil im poslost’-Vorwurf fest: ^

»Im Russischen gibt oder gab es ein besonderes Wort für selbstgefälliges Philistertum – poschlost. Poschlismus ist nicht nur ein offenkundiger Schund, sondern vor allem etwas, das mit falscher Gravität daherstolziert kommt, alles unecht Schöne, unecht Kluge und unecht Attraktive. Eine Sache mit dem tödlichen Etikett poschlismus zu versehen, bedeutet nicht nur ein ästhetisches Urteil, sondern auch eine moralische Anklage. Das Echte, das Offen-Unschuldige, das Gute ist nie poschlost. Man kann sogar sagen, dass ein einfacher, unkultivierter Mensch selten, wenn je, poschlost ist, da poschlismus den Firnis der Zivilisation voraussetzt. Ein Bauer muß zuerst Städter werden, bevor er vulgär sein kann.«23

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Poslyj ist dasjenige, das nur vorgibt, Kunst zu sein, das den Schein trägt, der hohen Kunst anzugehören, d.h. mit dem Begriff ist die Vorstellung einer Fälschung oder zumindest einer Hochstapelei assoziiert.24 Berücksichtigt man die in dieser Aussage implizier23 | Vladimir Nabokov: »Philister und Philistertum«, in: V. N.: Die Kunst des Lesens. Meisterwerke der russischen Literatur, Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S. 407-413, hier S. 411. Vgl. auch Vladimir Nabokov: Gogol, Oxford: Oxford University Press 1968, hier S. 71-73. 24 | Vgl. dazu Umberto Eco: »Massenkultur und Kulturniveaus« in: U. E.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 1986, S. 37-58, hier S. 40. Vgl. zum Problem der Fälschung auch Hermann Broch: »Das Weltbild des Romans«, H. B.: Schriften zur Literatur 2. Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1975, S.89-118 und H. B.:»Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches«, in: Schriften zur Literatur, S. 158-176.

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te charakteristische Befindlichkeit des Konsumenten trivialer Produkte und die dezidierte Verortung des Trivialen im städtischen Milieu, so kristallisiert sich fast der volle Bedeutungsumfang der poslost’ heraus. Zentral für unsere Fragestellung ist vor allem der Konnex der ästhetischen Wertung mit einer moralischen, der bei der Übertragung des Begriffs in literaturästhetische Diskussionen nicht aufgelöst wird. Ganz im Gegenteil wird eine weitere Komponente des Begriffs aktualisiert, die seit dem 19. Jahrhundert mit ihm assoziiert war, als er bereits auf Sexualität und Feminität bezogen wurde. Es ist wiederum Nabokov, der auf die Tendenz zur Feminisierung des Begriffs als Inspiration zu den folgenden Aussagen über den banalen, kleinbürgerlichen Menschen (posljak) Cicikov aus Gogols Roman Die toten Seelen zurückgreift. Aus der stereotypen Zuschreibungspraxis von vermeintlich weiblichen Symbolen für die poslost’ hat Nabokov sich dabei selbst (bewusst?) nicht befreit: ^

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»Poschlost hat etwas Rundliches und Glattes an sich, und dieser Glanz, diese sanften Rundungen, lockten den Künstler in Gogol. Wenn der riesige kugelförmige poschljak Pawel Tschitschikow die Feige am Boden der Milchschale ißt, […] und er schließlich voller Ekstase mit der rosa Ferse seines bloßen Fußes sein rundliches Gesäß – sein wahres Gesicht – trifft und sich damit selbst ins wahre Paradies der toten Seelen befördert, solche Visionen übersteigen die unbedeutenderen Ausprägungen von poschlost […]. Bei einem poschljak hingegen, selbst einem solchen von Tschitschikows ungeheuren Ausmaßen, gibt unvermeidlich ein Loch, ein Spalt, den Blick auf den Wurm frei, den kleinen runzligen Narren, der sich in der Tiefe der mit poschlost bemalten Leere zusammenkauert.«25 25 | Vladimir Nabokov: »Nikolai Gogol. Die toten Seelen«, in: V. N.: Kunst des Lesens, S. 41-94, hier S. 43.

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Dass ausgerechnet der stereotype weibliche Aspekt der Rundlichkeit die Bildlichkeit dominiert, macht die anhaltende Tradition der Feminisierung der poslost’ deutlich. In ihrer Anwendung als literaturkritisches Instrumentarium für die Beurteilung von Werken ist poslost’ in einem Zusammenhang mit der Veränderung des literarischen Marktes sowie der Partizipation von Autorinnen an ihm zu sehen. An diesem Konzept kann der Ausschlussmechanismus des Trivialen – und das wäre im russischen Kontext auch das moralisch und gerade nicht ästhetisch »Verwerfliche«, Obsolete – und zugleich der Ausschluss der weiblichen Autorschaft aus der russischen Literatur dargestellt werden. Sofern es den Gender Studies weniger darum geht, den Ausschluss der Frauen zu konstatieren, sondern vielmehr die Mechanismen aufzudecken, anhand deren Hierarchisierungen vorgenommen werden, die auf dem sex-gender-System beruhen, kann insbesondere das poslost’-Konzept als ein solcher Mechanismus interpretiert werden. Ein Ergebnis, das erst durch eine Perspektivierung ermöglicht wird, die mit der Analysekategorie des gender auf geschlechterdifferente Argumentationsmuster abstellt. ^

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5. Banalität ist weiblich?! ^

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Poslost’

Lilovyj lif i zeltyj bant u bjusta, Bezglavye glaza – kak dva pupka. ^ ^

Cuzie lokony k viskam prilipli gusto I masljanisto svesilis’ boka […] V ee salonach – vse, tolpoju smeloj, ^ ^

Sodravsi skuru s devstvennych idej,

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Chvatajut lapami bescuvstvennoe telo ^

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I r’jano rzut, kak stado losadej.[…] Poet. Risuet akvarel’ju rozy. ^

Sledit, droza, za modoj vsech sortov, Kopja ostroty, slucho, frazy, pozy I rastlevaja muzu i ljubov’. […]26 Madame Banalität Ein violettes Mieder und eine gelbe Schleife am Busen, Dümmliche Augen – wie zwei Nabel. Falsche Locken kleben dicht an den Schläfen Und hängen fettig zur Seite. In ihren Salons reißen alle – vereint als mutige Masse – Den jungfräulichen Ideen das Fell über die Ohren Und greifen mit ihren Pfoten nach dem fühllosen Körper Eifrig wiehernd wie eine Herde Pferde. Sie singt, malt Rosen in Aquarell. Folgt, zitternd, allen möglichen Moden, Sammelt Witze, Gerüchte, Phrasen, Posen Und schändet dabei Muse und die Liebe. […]

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1910 erschien dieser Text des Satirikers Sasa Cernyjs in einer Ausgabe der Zeitschrift Satirikon, die dem Phänomen der poslost’ gewidmet war. Das Bild der als Dame mit moralisch lockerem Lebenswandel personifizierten poslost’ weist mit Eklektizismus und Unoriginalität, die sich im Nacheifern von Moden und in ^

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26 | Sasa Cernyj 1910: »Poslost’«, in: S. C: Stichotvorenija. Moskva: Chudo^

zestvennaja literatura 1991, S. 28.

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der Wahl von Gesprächspartnern und -themen zeigen, sowie im praktizierten Kult von Gegenständen und in der Häuslichkeit, mit sexueller Freizügigkeit und der Beschäftigung mit ästhetisch anspruchslosen Genres all jene Züge auf, die der Begriff poslost’ in jener Zeit umfassen kann. In der Diskussion um ästhetische Werte kennzeichnet der Begriff Werke, die sich nicht durch Innovationscharakter auszeichnen, sondern den alten Formen verhaftet bleiben, und findet somit Anwendung auf vermeintlich triviale Werke, die einen hohen Grad an Konformität gegenüber herrschenden oder bereits vergangenen literarischen Mustern oder Formen aufweisen, mithin einen hohen Grad der Standardisierung zeigen. Poslost’ bildet demnach einen Gegenpol zur Kreativität. Zudem charakterisiert der Begriff im ästhetischen wie im ethischen Bereich den Prozess der Ritualisierung und Banalisierung als Ergebnis alltäglicher Wiederholung, die letztlich zu Inhaltsleere, Bedeutungslosigkeit des Immergleichen und daher nicht mehr Überraschenden und damit schließlich zur Langeweile führt. Es ist ein Mangel an Substanz, der mit dem Etikett der poslost’ versehen wird, ein Mangel, der im russischen Kontext auch für das Ideelle gilt, so dass poslost’ das Festhalten am Materiellen bezeichnet. Dies verbirgt sich auch hinter jener Haltung, die Cernyj in seinem Text in der dilettantischen kunsthandwerklichen Beschäftigung der Madame poslost’ mit den schönen Künsten karikiert. Signifikant tritt mit der Personifizierung des Begriffs die Verknüpfung mit der Sphäre des Weiblichen hervor, wobei die Bedeutungen des Vulgären, sexuell Anstößigen, die der Begriff poslost’ konnotieren kann, aktiviert und mit dem Weiblichen verbunden werden. Die Feminisierung des Begriffs ist sowohl auf verbaler Ebene als auch auf visueller zu beobachten, denn das Titelbild des Sati^ ^

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rikon stellt die visualisierte Variante der Frauenfigur dar, die Cernyj in seinem Text imaginiert. ^

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Abbildung: A. Jakovleva: Poceluj poslosti (Der Kuss der poslost’)

Satirikon 1910, No. 6, Titelseite

Auch hier werden die sexuellen Konnotationen des Begriffs aktiviert und auf eine Frauenfigur und deren Verhaltensweisen projiziert. Allein die satirische Überzeichnung der Größenverhältnisse deutet die Bedrohlichkeit des Phänomens an und korrespondiert zudem mit der Bildlichkeit im Heftinneren, wo ab-

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schließend die poslost’ als alles überschattende Übermutter gezeichnet wird.27 »Da ist sie – ihre königliche Hoheit, die grenzenlose, allrussisch-spießi^

ge Mutter-poslost’. […] Gott beschütze uns vor der königlichen Hoheit ^

Mutter-poslost’.«28

Herausragendes Beispiel für die Rezeption der Werke Verbickajas im Kontext des Begriffs poslost’ ist eine polemische Schrift des Kritikers Vasilevskij mit dem anspielungsreichen Titel Geroinja nasego vremeni (Eine Heldin unserer Zeit), in dem er das Phänomen des Erfolgs der Autorin und ihrer Romane Duch vremeni (Der Geist der Zeit) und Kljuci scast’ja zu ergründen sucht. Der Begriff der poslost’ bezieht sich auf den gesamten mehrbändigen Roman Kljuci scast’ja, allerdings wird das Werk immer dann als poslo abgewertet, wenn die weibliche Hauptfigur und ihre Handlungen sowie insbesondere ihr Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität erwähnt werden oder die oft gelobte Fähigkeit der Autorin, die weibliche Seele realitätsnah darstellen zu können. ^

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»Was ist das? Fiebertraum oder Realität? Ist denn wirklich diese aus^

schließliche, raffinierte poslost’ – sind dies die ›Schlüssel zum Glück‹, die der heutige Leser wichtiger, ernster und notwendiger findet als ^

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Cechov, Tolstoj und Dostoevskij?«29

»Über diese vulgären, dummen, banalen (poslymi) und langweiligen Seiten neigen sich die heutigen Leser, die ganze riesige kolossale Masse?«30 27 | Satirikon 1910, No. 6, S. 13. 28 | Satirikon 1910, No. 6, S. 13. ^

29 | Il’ja Vasilevskij: Geroinja nasego vremeni, Petrograd 1916, S. 30. 30 | Ebd., S. 46.

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Vasilevskij schließt an diese Bemerkung an, dass den »Frauenhassern« Weininger, Nietzsche, Schopenhauer zuzustimmen sei und dass die Existenz der neuen Frau, sofern sie dem Vorbild der Manja – der weiblichen Hauptfigur aus Verbickajas Roman – folge, das Ende der russischen Intelligenz, der russischen Frauen, der russischen Literatur und aller Hoffnungen und Erwartungen nach sich ziehe.31 Diese Aussagen legen die implizite Erwartungshaltung offen, die mit dem Phänomen weiblicher Autorschaft verbunden ist. Die scheinliberale Forderung Vasilevskijs, die Frau habe endlich ihr Schweigen brechen müssen, da das gegenwärtige Interesse gerade an Schriftstellerinnen zeige, dass eine Sehnsucht nach der »wahren« Darstellung der Frau durch die Frau bestehe, entpuppt sich als voraussetzungsvoll: Denn offensichtlich impliziert diese Forderung nicht die Freiheit der Schriftstellerin, die Darstellung der Frau nach eigenen Maßstäben zu gestalten. Vielmehr schreibt Vasilevskij über den Bereich des Literarischen hinaus die Möglichkeiten der Frau auf den Bereich der Familie fest und legt damit die Begrenztheit auch ihres literarischen thematischen Horizonts nahe: »Solange die Frau in ihrer spezifischen, in ihrer weiblichen Rolle ist, solange vor uns die Mutter, Schwester, Braut, die Verliebte steht, ziehen wir den Hut vor ihr! Mögen unsere Hochachtung und unser Wohlwollen, unsere Zärtlichkeit und Besorgtheit Dir den Lebensweg erleichtern! Aber wenn die Frau den Weg der gesellschaftlichen, literarischen oder politischen Tätigkeit beschreitet – dann ist keinerlei Nachsicht mehr angebracht – diese stellte nämlich eine Beleidigung dar!«32

Der Kritik Vasilevskijs liegt ein eindeutig asymmetrisches Muster 31 | Vgl. ebd., S. 47. 32 | Vgl. ebd., S. 52.

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zugrunde, das von der Existenz einer männlichen und einer weiblichen Normkategorie ausgeht. Die Frau, die sich in die männlich dominierten Bereiche der Literatur oder Politik begibt, hat sich der entsprechenden männlichen Normkategorie zu unterwerfen – die wiederum die Qualitäten des männlichen Subjekts erfordert, welche den Frauen abgesprochen werden. Dafür repräsentieren sie als Ergänzung des Mannes jenes andere, das in der Rolle der Mutter, Schwester oder Braut die Entlastung von den Alltagsproblemen und Trost verspricht. Mit Blick auf die Werke Verbickajas wird eingefordert, dass zwar eine Beschränkung auf die »Frauenthematik«, mithin auf das Schicksal einer Frau erwünscht sei, nicht aber deren Charakterisierung als emanzipierte, unabhängige Frau. Zudem verbirgt sich hinter den Forderungen nach der »wahren«, d.h. an der Realität orientierten Darstellung der Frau auch ein Literaturverständnis, das von einer mimetischen Abbildung der Wirklichkeit ausgeht – die sich allerdings in diesem Fall als Projektion des männlichen Kritikers entpuppen dürfte. Darüber hinaus scheinen mit der Veränderung des hier kritisierten Frauenbildes Werte von nationaler Bedeutung zur Disposition gestellt zu sein. Mit Konstruktionen des Weiblichen stehen Konstruktionen, Imaginationen des Männlichen zur Disposition; dies ist umso bedrohlicher, wenn ein direkter Einfluss von Literatur auf das außerliterarische Leben angenommen wird. Im Konzept der poslost’ bleibt demnach auch dann, wenn es als abwertendes Kriterium für Frauenliteratur herangezogen wird, ein Moment des Nationalen enthalten: poslost’ und poslye-Figuren stellen nationale Errungenschaften in Frage. ^

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Der ausschnitthafte Blick auf diesen um 1900 in Russland hochfrequenten Begriff zeigt, dass die Loslösung von einer fremdreferentiellen Übercodierung der Literatur zu dieser Zeit noch nicht stattgefunden hat. Anwendbar ist der Begriff in gleichem Maße

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auf ästhetische Qualitäten wie auf inhaltliche Aussagen der Texte und nicht zuletzt auf den moralischen Status der Autorin. Autonomieästhetische Wertmaßstäbe bleiben in der literarischen Bewertung dementsprechend zweitrangig, während eine auf Asymmetrie der (biologischen) Geschlechter setzende Beurteilungssemantik die Oberhand behält.

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»Ist es wahre Liebe…?« Kitsch und Camp aus evolutionstheoretischer Sicht Thomas Küpper

»If camp ›is‹ something, it is the crisis of identity, of depth, and of gravity.« Fabio Cleto

Kitsch und Camp werden auf unterschiedliche Weise mit dem Zweitrangigen und aus zweiter Hand Stammenden, mit Abfall und Abklatsch in Verbindung gebracht. Während Kitsch das Abgegriffene aufgreift und es dennoch für originär, echt, wahr, spontan ausgibt,1 stellt hingegen Camp seine Nicht-Ursprüng1 | Siehe etwa Theodor W. Adorno: »Kitsch«, in: Th. W. A.: Musikalische Schriften 5. Gesammelte Schriften Bd. 18, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 791-794, hier S. 791: »Kitsch ist der Niederschlag entwerteter Formen und Floskeln in einer Formwelt, die ihrem Umkreis entrückt ist.« Für Karl

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lichkeit eigens zur Schau. Camp versteht sich als ein Abgeleitetes – allerdings nicht als Kopie eines etwaigen Originals. Vielmehr erweist Camp die Kategorie des Originals selbst als fragwürdig: Was kopiert wird, ist seinerseits schon Kopie. Indem Camp solche Verhältnisse offen legt, entkräftet es den Anspruch auf das »Wahre« und »Echte«. Gerade auch die Geschlechter-Ontologie wird auf diese Weise unterlaufen. In der Camp-Theorie wird dies unter anderem mit Judith Butler erklärt.2 Butlers Begriff der Geschlechter-Parodie (gender parody) setzt nicht voraus, dass es ein Original, etwas Ursprüngliches, gibt, das parodistisch imitiert wird.3 Gegenstand der Parodie ist eher der Mythos der Ursprünglichkeit schlechthin, die Vorstellung einer natürlichen geschlechtlich bestimmten Identität. Nach Butler macht sich etwa Travestie über das Ausdrucksmodell der Geschlechtsidentität lustig,4 das versucht, Kontinuität und Kohärenz zwischen dem anatomischen Geschlecht (sex), der Geschlechtsidentität (gender) Markus Michel handelt es sich beim Kitsch um »Gefühle aus zweiter Hand«, »aber […] die Tatsache, daß diese Wonne- und Wehmutsschauer […] keinen Widerstand gegen konventionelle Reaktionsschemata verlangen, […] verleiht ihnen den Schein von Unmittelbarkeit, Wahrheit und persönlicher Konvenienz, nach dem der Kitschkonsument giert.« Karl Markus Michel: »Gefühl als Ware. Zur Phänomenologie des Kitsches«, in: Neue deutsche Hefte 57 (1959), S. 31-38, hier S. 36. 2 | Vgl. Fabio Cleto: »Introduction: Queering the Camp«, in: F. C. (Hg.): Camp. Queer Aesthetics and the Performing Subject. A Reader, Ann Arbor: The University of Michigan Press 1999, S. 1-42, insbes. S. 20; Moe Meyer: »Introduction: Reclaiming the discourse of Camp«, in: M. M. (Hg.): The Politics and Poetics of Camp, London/New York: Routledge 1994, S. 1-22, hier S. 4f. 3 | Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 203. 4 | Vgl. ebd., S. 201.

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und dem Begehren herzustellen und die kulturellen Geschlechtsidentitäten auf eine »Wahrheit« des Sexus, auf ein natürliches »Wesen« des Männlichen und des Weiblichen zurückzuführen.5 Dagegen lässt Travestie die Geschlechtsidentität nicht als Ausdruck des biologisch ermittelten Geschlechts, im Sinne einer zugrunde liegenden, ursprünglichen, unhintergehbaren Einheit, gelten, sondern führt die Kontingenz in der Beziehung zwischen biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität vor Augen.6 Anhand von Butlers Theorie können subversive Tendenzen des Camp herausgestellt werden, die darauf beruhen, dass Camp dem »Natürlichen« seine »Natürlichkeit« nimmt. Susan Sontag bescheinigt Camp »die Liebe zum Unnatürlichen«7; Camp sehe »alles in Anführungsstrichen«: »nicht eine Frau, sondern eine ›Frau‹«.8 Auf diese Weise kommt es zur Auflösung des Wesenhaften und Wesentlichen. Sontag erklärt: »Camp in Personen oder Sachen wahrnehmen heißt die Existenz als das Spielen einer Rolle begreifen. Damit hat die Metapher des Lebens als Theater in der Erlebnisweise ihre größte Erweiterung erfahren.«9 So stellt Camp Performativität zur Schau: Das »Äußerliche« der Person, ihr »Auftreten« in jedem Sinne des Wortes, geht nicht auf einen »inneren Kern« zurück (wie im Ausdrucksmodell der Geschlechtsidentität), sondern fabriziert10 ihn erst. Auch Butlers Begriff der Performativität deutet auf das 5 | Vgl. ebd., S. 38f. 6 | Vgl. ebd., S. 202. 7 | Susan Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«, in: S. S. (Hg.): Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, S. 269-284, hier S. 269. 8 | Vgl. ebd., S. 273. 9 | Ebd. 10 | Im Sinne des Begriffs fabrications bei J. Butler: Unbehagen der Geschlechter, S. 200.

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»Spielen einer Rolle« hin, wenngleich sich dieser Begriff nicht auf das Theatralische reduzieren lässt.11 Auf Camp angewandt, wird mit Butlers Theorie ersichtlich, dass Camp Essenzialisierungen der Geschlechter vermeidet, indem es Geschlechterattribute als performativ und nicht als expressiv vorstellt. Was Butler den Gender Studies bietet, ist somit unter anderem ein theoretisches Konzept zur Analyse subversiver Praktiken. Was kann die Systemtheorie dem hinzufügen? Lässt sich das Subversive mit Luhmann überhaupt theoretisch erfassen? Schließlich wird der Systemtheorie nachgesagt, sie sei in erster Linie auf das Bestehende und auf die Bestandserhaltung fixiert. Der vorliegende Aufsatz möchte zeigen, wie die Systemtheorie subversive Formen des Camp in den Blick nehmen kann und welche neuen Aspekte sich daraus ergeben. Dazu wird ein Theoriesegment herangezogen, das in der systemtheoretischen Geschlechterforschung bisher kaum genutzt worden ist: das Modell der Evolution sozialer Systeme. Gerade dieses ermöglicht es, Geschlechterkonzeptionen in ihrer Instabilität, ihrer Kontingenz und ihrer Anfälligkeit für Veränderungen zu betrachten. Evolution ist in diesem Fall auf der Ebene der Kommunikation (und nicht auf der Ebene des Organischen) angesiedelt. So lässt sich das zitationelle Prinzip des Camp – das Wiederholen in Anführungsstrichen, das Kopieren eines Nicht-Originals – näher untersuchen und vor allem das Verhältnis von Camp und Kitsch genauer herausarbeiten. Insbesondere als Formen des Abgeleiteten 11 | Vgl. Judith Butler: »Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie«, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 301-320, insbes. S. 304f. u. S. 311ff.; Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 36 u. S. 316ff.

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und Sekundären bieten sich Camp und Kitsch dazu an, evolutionstheoretisch in Kommunikationsprozessen situiert zu werden. Im Folgenden werden zunächst die evolutions- und systemtheoretischen Voraussetzungen skizziert (1.), von denen ausgehend Camp und Kitsch modelliert werden sollen (2.). Auf dieser Grundlage wird der Zusammenhang von Camp und Kitsch am Beispiel von Marianne Rosenbergs Lied Er gehört zu mir untersucht (3.).

1. Evolutions- und systemtheoretische Voraussetzungen Geht man mit Luhmann von einer Evolution kommunikativer Prozesse aus, so beruhen sie auf den Mechanismen Variation, Selektion und Stabilisierung. Der Variationsmechanismus setzt bei den kommunikativen Ereignissen an: »Es wird etwas Neuartiges (Unerwartetes, Abweichendes) gesagt, vorgeschlagen, geschrieben, eventuell gedruckt.«12 Variationen treten zufällig auf, wobei mit ›Zufall‹ »das Fehlen einer Vorwegkoordination zwischen Ereignissen und Systemen« gemeint ist.13 Der Selektionsmechanismus entscheidet darüber, ob das Neue für eine Wiederverwendung in Frage kommt. Ist erwartbar, dass die Abweichung im weiteren Prozess aufgegriffen wird, dass sich Anschlusskommunikationen auf sie beziehen, berufen, stützen? Während sich durch die Selektion Strukturen bilden, die den Spielraum 12 | Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 560. 13 | Vgl. Niklas Luhmann: »Geschichte als Prozeß und die Theorie soziokultureller Evolution«, in: N. L.: Soziologische Aufklärung. Bd. 3, Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, S. 178-197, hier S. 184.

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der Nachfolgemöglichkeiten einschränken, betrifft die Stabilisierung »den Zustand des evoluierenden Systems nach einer erfolgten, sei es positiven, sei es negativen Selektion.«14 Ein Beispiel: In einer Variante der gewöhnlichen Hollywood-Liebesfilme findet am Happyend kein heterosexuelles, sondern ein homosexuelles Paar zueinander. Mit diesem »unerhörten«, für das Hollywood-Kino überraschenden Schluss kann der Film entweder Erfolg haben, zu einem »Vorbild künftiger Werke«15 werden – das erweist sich in der Selektion –, oder aber ohne programmatische Bedeutung für Anschlussfilme bleiben16 und in Vergessenheit geraten. Wenn eine Reihe von Filmen die Neuerung fortführt, ändern sich damit die Erwartungsstrukturen der FilmKommunikation. Die Variante wird standardisiert. Solche Prozesse laufen jeweils innerhalb eines Systems ab, von dem sie nicht losgelöst werden können: In dem Beispiel ist es das Kunstsystem.17 Möglicherweise überbieten die Filme einander in der Provokation, die sie, der Variante folgend, durch 14 | Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 454 (Hervorhebung im zitierten Text). 15 | Vgl. Niels Werber: »Der Markt der Musen. Die Wirtschaft als Umwelt der Literatur«, in: Gerhard Plumpe/Niels Werber (Hg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 183-216, hier S. 206. 16 | Zum Anschluss der Werke aneinander vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, insbes. S. 369ff.; Gerhard Plumpe: »Evolution des Literatursystems«, in: Harald Hillgärtner/ Thomas Küpper (Hg.): Medien und Ästhetik. Festschrift für Burkhardt Lindner, Bielefeld: transcript 2003, S. 167-185, hier S. 174ff. 17 | Zur Diskussion darüber, ob Kinofilme zum Kunstsystem zählen, vgl. Gerald Breyer/Niels Werber: »Die Systemtheorie zwischen Involution und Normativität«. Ein Interview mit Niklas Luhmann, in: Symptome 10 (1992), S. 46-56, insbes. S. 55f.

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die Darstellung homosexueller Liebe erreichen – als Ereignisse des Kunstsystems aber verwenden sie die Provokation in erster Linie dazu, das Publikum zu unterhalten, zu überraschen und sinnlich zu faszinieren. Damit erzeugen sie nicht unbedingt Resonanz (und insbesondere nicht: gleichsinnige Resonanz) in anderen Teilsystemen der Gesellschaft. Im Religionssystem etwa mag die gleichgeschlechtliche Liebe verworfen werden; doch gerade als Tabubruch kann sie wiederum als Sujet für die Kunst interessant sein. Die Verschiedenheit der Systemreferenzen zu berücksichtigen, ist grundlegend für eine polykontexturale Geschlechterforschung.18 So wird etwa in Rechnung gestellt, dass es in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft keine einheitlichen Selektionskriterien für die Kommunikation über das Geschlecht gibt, sondern jedes Funktionssystem eigene hervorbringt – sie beruhen auf der spezifischen Logik und Dynamik des jeweiligen Systems. Von den Besonderheiten des Funktionssystems hängt ab, inwiefern in ihm erwartungskonforme oder innovative Konzeptionen des Maskulinen und Femininen anschlussfähig sind.19 Es wird daher erforderlich sein, die Ge18 | Vgl. auch den Essay von Sabine Kampmann in diesem Band. 19 | In der systemtheoretischen Geschlechterforschung wird darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung von Männern und Frauen im Zuge der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen an Bedeutung verliert (vgl. Kai-Uwe Hellmanns Zwischenbilanz der Diskussion sowie den Beitrag von Christine Weinbach in diesem Band). Indessen bleibt zu fragen, warum diese Unterscheidung sich »immer noch überall finden läßt. Es ist dies eine Unterscheidung, die wie ein Parasit in der Lage ist, sich an beliebigen anderen Unterscheidungsgebräuchen anzupassen« (Armin Nassehi: »Geschlecht im System. Die Ontologisierung des Körpers und die Asymmetrie der Geschlechter«, in: Ursula Pasero/Christine Weinbach [Hg.]: Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp

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schlechterkonstrukte in den Funktionssystemen zu verorten. Damit ist keine Einordnung in eine Art fertiger Schubladen gemeint: Die Funktionssysteme koevoluieren, sie ändern ihre Strukturen und stellen sie gegenseitig zur Verfügung, so dass sie nach internen Gesichtspunkten unter anderem Geschlechterentwürfe voneinander aufgreifen. Mit dem Modell dieses Prozesses lässt sich der Zusammenhang von Kitsch und Camp rekonstruieren.

2. Kitsch und Camp in der Koevolution der Systeme Sowohl Kitsch als auch Camp sind jeweils durch ihre Stellung im Zusammenwirken evolutionärer Mechanismen gekennzeichnet. Kitsch heißt eine erwartungsgemäße Wiederverwendung lange etablierter Formen, bei der nicht beachtet wird, dass sie nach Maßgabe von Innovationsforderungen bereits obsolet sind. Die Muster, die sich in der Selektion einmal durchgesetzt haben, bleiben in Gebrauch. Die Varianten, auf die sie zurückgehen, sind höchst standardisiert20 und halten sich, indem sie ihre (Ge-) Haltlosigkeit nach dem Neuerungskriterium kaschieren. In

2003, S. 80-104, hier S. 88). Das häufige Vorkommen der Geschlechter-Unterscheidung kann insbesondere daraus erklärt werden, dass die Funktionssysteme eine eigene Verwendung für sie haben, nämlich sie unter anderem zur vereinfachenden Selbstbeschreibung einsetzen (vgl. Thomas Küpper: »Der beobachtete Körper. Systemtheorie und Gender Studies«, in: Alexandra Karentzos/Birgit Käufer/Katharina Sykora [Hg.]: Körperproduktionen. Zur Artifizialität der Geschlechter, Marburg: Jonas 2002, S. 34-41, hier S. 38f.). ^

20 | Vgl. auch Dagmar Steinwegs Untersuchung zum Begriff der poslost’ in diesem Band.

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anderer Weise greift Camp auf die Vorlagen zurück: Es wiederholt das Schon-Wiederholte als Schon-Wiederholtes. So macht Camp deutlich: Die »Substanz« der reaktualisierten Formen besteht allein darin, dass sie zu einem Schema geworden sind. Sie kommt durch den Vorgang des »Einschleifens« erst zustande. Die viel bemühten Formeln erscheinen insofern leer. Die subversive Strategie des Camp beruht somit auf seiner Selbstverortung in der Evolution: Es höhlt die gängigen Setzungen aus, indem es vorführt, dass sie wiederum gängigen Setzungen, nicht aber einer vor-gängigen Wahrheit folgen. Zur Demonstration zieht Camp insbesondere Kitsch-Elemente heran: Figuren, die so standardisiert sind, dass sie ohnehin dem Verdacht unterliegen, substanzlos zu sein. Dieser Zusammenhang erhält schärfere Konturen, wenn man ihn mit der Situation der so genannten Epigonen vergleicht. Karl Immermanns Epigonen zum Beispiel positionieren sich in der literarischen Evolution, indem sie die Hinterlassenschaften der Vorgänger als eine schwere Bürde aufnehmen: »Wir sind, um mit einem Worte das ganze Elend auszusprechen, Epigonen, und tragen an der Last, die jeder Erb- und Nachgeborenschaft anzukleben pflegt. Die große Bewegung im Reiche des Geistes, welche unsre Väter […] unternahmen, hat uns eine Menge von Schätzen zugeführt, welche nun auf allen Markttischen ausliegen.«21 Das Problem wird darin gesehen, dass die Nachkommen sich mit den vorgefundenen Versatzstücken nicht selbst artikulieren. Die Elemente, die gebräuchlich und leicht verfügbar sind, haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Die Epigonen tragen sie wie Accessoires an der Oberfläche auf, ohne dass dem Äußeren

21 | Karl Immermann: Die Epigonen. Familienmemoiren in neun Büchern. 1823-1835. Werke in 5 Bd., hg. von Benno von Wiese. Bd. 2, Frankfurt a.M.: Athenäum 1971, S. 121 (Hervorhebung im zitierten Text).

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ein Inneres, dem Schein ein Sein entspricht. So wird in Immermanns Werk vom Verkleiden gesprochen: »Die alten Jahrhunderte haben uns ihre Röcke hinterlassen, in die steckt sich die jetzige Generation. Abwechselnd kriecht sie in den frommen Rock, in den patriotischen Rock, in den historischen Rock, in den Kunstrock, und in wie viele Röcke noch sonst! Es ist aber immer nur eine Faschingsmummerei, und man muß um des Himmels willen hinter jenen würdigen Gewändern ebensowenig den Ernst suchen, als man hinter den Tiroler- und Zigeunermasken wirkliche Tiroler und Zigeuner erwarten soll […].«22

Das Bild der Kostümierung veranschaulicht den Mangel an Wahrhaftigkeit. Auf den ersten Blick scheint es der Theatralik des Camp und der Travestie zu entsprechen, die ihrerseits den Anspruch auf das Echte in Frage stellen. Allerdings erhält Immermann diesen Anspruch noch aufrecht: Die Forderung nach Authentizität wird nicht preisgegeben, sondern bleibt – nur uneingelöst. Für die Epigonen ist es ein Dilemma, dass sie auf uneigentliche, ihnen nicht eigene Ausdrucksformen angewiesen sind.23 Camp hingegen spielt mit den Requisiten, ohne wegen ihrer Abkunft besorgt zu sein, da es die Maßgabe der Ursprünglichkeit zurückweist. Die Klage der Epigonen liegt eher mit der Kitsch-Kritik auf einer Linie: Wenn die Epigonen die Abgedroschenheit ihrer Phrasen bemerken, setzen sie einen früheren Zustand voraus, in dem die Sätze noch nicht depraviert und »leer« waren. Ähnlich beruft man sich bei der (Dis-)Qualifizierung von Kitsch auf einen 22 | Ebd., S. 46. 23 | Vgl. Thomas Küpper: Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm von 1750 bis 1850, Würzburg: Königshausen und Neumann 2004, S. 91ff.

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Wahrheitsgehalt, der den Formen im Zuge ihrer ständigen und allseitigen Verwendung abhanden gekommen sein soll.24 Diese Vorbehalte gegen das Wiederholen wiederholen sich selbst; sie lassen sich dem von Manfred Schneider so genannten Recycling elementarer Argumentationsfiguren in der abendländischen Geschichte zuordnen. Aus Schneiders Sicht erfolgen »die Umschriften und Revolutionen innerhalb der politischen, philosophischen und theologischen Systeme zugunsten neuer Wahrheit und Verständigung […] jeweils als Wiederaufbereitung der gleichen Anklagen, der gleichen Versprechungen«25. Zu dem festen Repertoire gehört der Grundsatz, dass durch Missbrauch der Sprache die Wahrheit verfallen ist; die korrumpierte Rede, das Gerede, hat sich von den Sachen entfernt. So ist an die Stelle von Gottes ursprünglichem Wort eine Vielzahl menschlicher Setzungen und Satzungen getreten, bei denen, nicht zuletzt durch Geldgier, das Wesentliche aus den Augen verloren wurde. Der Topos für diese Verwirrung ist Babylon. Die Hoffnungen, dass der babylonische Zustand beendet wird, richten sich immer wieder auf den »guten Barbaren«, der »die Welt durch seine überwältigende Ursprünglichkeit aus den Banden des Verfalls befreit«26. Dieses von Schneider herausgestellte Grundmuster ist

24 | Dazu noch einmal Michel: »Sobald das einmal Errungene zum Besitz wird, läuft es Gefahr, zur bequemen Schablone, zum Kitsch zu verderben […]. So kann man beobachten, wie die einst revolutionäre Formsprache der abstrakten Malerei zum dekorativen Muster erstarrt und damit ihren Sinn verliert […].« K. M. Michel: Gefühl als Ware, S. 45. 25 | Manfred Schneider: »Kommunikationsideale und ihr Recycling«, in: Sigrid Weigel (Hg.): Flaschenpost und Postkarte. Korrespondenzen zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1995, S. 195-221, hier S. 198. 26 | Manfred Schneider: »Der Barbar der Bedeutungen. Walter Benjamins

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152 | Thomas Küpper auch in der Kitsch-Diskussion zu finden.27 Der Vorwurf lautet in diesem Fall etwa: Das originäre Werk des Künstlers als eines Schöpfer-Gottes wird aus kommerziellen Interessen zugerichtet und verkommt zu einer Menge planer, eingängiger, den eigentlichen Sinn entstellender Imitate. Paradigmatisch ist der Abfall von Frédéric Chopins Etüde opus 10 Nummer 3 zu der populären Melodie In mir klingt ein Lied aus dem Film Abschiedswalzer28. Die Logik solcher Argumentationen schließt ein, dass Kitsch nur durch die Wiederherstellung der Lesbarkeit des ursprünglichen Werks oder durch die Herstellung neuer ursprünglicher Werke überwunden werden kann. Zusammenfassend ist festzustellen, dass für Kitsch die Verortung in Babylon prekär ist: Er verbirgt die geringe Tragfähigkeit seiner Formeln und Floskeln, um mit ihnen fortbauen zu können. Evolutionstheoretisch betrachtet, hält er sich an bestehende Strukturen und ignoriert, dass sie hinfällig sind. Anders richtet sich Camp in Babylon ein: Die in der Evolution etablierten Programme werden weiter- und zugleich vorgeführt – insbesondere mit dem Hinweis, dass sie auf unsicherem Fundament stehen. Um welches System aber handelt es sich, in dessen Evolution Kitsch und Camp auf so unterschiedliche Weise eingelassen sind? Zunächst kommt das Kunstsystem in Betracht – ihm sind die vorigen Beispiele entnommen, und augenscheinlich platzieren sich sowohl Kitsch als auch Camp durch ihren Rekurs auf Künstlerisches und Künstliches unter anderem in diesem System. Darüber hinaus sind weitere, mit der Kunst koevoluierende Ruinen«, in: Norbert Bolz/Willem van Reijen (Hg.): Ruinen des Denkens. Denken in Ruinen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 215-236, hier S. 220. 27 | Und in vergleichbarer Weise bei den Epigonen, die von jugendlichen Progonen den Neuanfang erwarten. 28 | Géza von Bolváry (Regie): Abschiedswalzer. D 1934.

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Systeme einbezogen. Wenn etwa Kitsch die große Liebe in Szene setzt und Camp daraus »die große Liebe« macht, so geschieht dies in der Koevolution von Kunst und Liebe. Auch die Schwulenbewegung ist an solchen Umschriften und Neufassungen beteiligt. Die in der theoretischen Diskussion aufgekommene Unsicherheit, ob Camp eher als politische oder als ästhetische Kategorie aufzufassen ist, liegt daher in der multiplen Systemreferenz des Gegenstands begründet: Camp ereignet sich nicht nur in einem einzigen System, sondern in unterschiedlichen.29 Auch bei dem folgenden Beispiel für Camp werden mehrere Systemreferenzen auseinander zu halten sein.

3. Marianne Rosenberg Vor allem mit ihrem Lied Er gehört zu mir30 ist Marianne Rosenberg zu einem Star der Homosexuellenszene geworden.31 Zunächst scheint offensichtlich zu sein, welche Bedeutung dieses Lied für Männer hat, die sich zur gleichgeschlechtlichen Liebe bekennen wollen, aber gesellschaftliche Gegenmaßnahmen und 29 | Claudia Breger bemerkt zu Recht, dass weder eine ausschließlich politische Verortung noch eine rein ästhetizistische der Komplexität von Camp gerecht wird. C. B.: »Gewalt und Geschlecht im (dritten) Reich des Märchenkönigs. Syberbergs ›Ludwig‹«, in: Hanno Ehrlicher/Hania Siebenpfeiffer (Hg.): Gewalt und Geschlecht. Bilder, Literatur und Diskurse im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2002, S. 43-60, hier S. 47. 30 | Marianne Rosenberg: Er gehört zu mir; Am Tag, an dem die Liebe kam, Hamburg: Philips 1975. 31 | Ralf König: »La nuit en rose«, in: R. K.: Beach Boys. Comics, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1989, S. 126-142. Vgl. Frank Reimann: Marianne Rosenberg. Am Tisch und im Bett, Berlin: Frei 1999, S. 114.

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Ausschlüsse fürchten müssen: Es bekräftigt den Anspruch darauf, die homosexuelle Liebe offen, das heißt öffentlich, auszusprechen – oder vielmehr auszuschildern wie den eigenen »Name[n] an der Tür«.32 Damit steht das Lied bereits im Kontext diverser Systeme: Es ist nicht allein künstlerisch codiert – als ein Titel, der im Musiksystem als »interessant« goutiert wird – und findet auch nicht nur in der Liebeskommunikation Verwendung, sondern gerade in der Schwulenbewegung. Die Demonstration, die Kundgabe der homosexuellen Neigungen, die durch das Lied unterstützt wird, ist unter anderem die grundlegende Strategie der Gay-Pride-Parades, die zum Christopher Street Day stattfinden. So bieten sich die Gesangsverse als Parolen der Protestbewegung an. Die Doppelbödigkeit – oder auch Bodenlosigkeit – des Liedes reicht noch weiter. Wird sein Text mit der Liebe von Frau zu Frau in Verbindung gebracht – und das geschieht schon allein durch die Gerüchte über eine lesbische Beziehung zwischen Marianne Rosenberg und Marianne Enzensberger33 –, so kommt ein Verdacht auf: Gehört »er«, der Mann, der besungen wird, vielleicht nur äußerlich, als eine Art Aushängeschild, zu der Sängerin, wie ihr »Name an der Tür«? Auf diese Weise verliert das Lied seine Glaubwürdigkeit, eine Kluft zwischen den Worten und der Wahrheit (was auch immer sie sein mag) zeichnet sich ab, die Referenz der Zeichen wird fraglich. Vermehrt werden solche Zweifel durch die Entwicklung von Marianne Rosenbergs Image. In den 70er Jahren tritt sie mit dem Lied als junge Frau auf, die den Einen, den Mann für ihr Leben, gefunden haben will. Entsprechend ist die skeptische

32 | Der Refrain lautet: »Er gehört zu mir/ wie mein Name an der Tür.« 33 | Vgl. Marc Fest: »Auch der dröge Willy Stoph stand im Verdacht«, in: TAZ Berlin vom 21. Januar 1991, S. 21.

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Frage »Oder muss ich lernen,/ dass alles zerrinnt?«34 als Ausdruck einer tiefen Besorgnis zu verstehen. In den 80ern und 90ern hingegen, als Marianne Rosenberg mehr Erfahrung zugerechnet wird, erscheinen diese Verse wie bloße Phrasen – sie werden nicht mehr als authentisch rezitiert, sondern nur noch spielerisch zitiert. Die zeitliche Distanz zwischen der »naiven« und der älteren Marianne Rosenberg ermöglicht die Wiederholung mit neuen Vorzeichen, gleichsam mit Anführungszeichen. 1992 erklärt die Künstlerin: »Bei einem Lied übernehme ich eine Rolle. Es ist diese Gratwanderung zwischen Kitsch, Ironie und Wahrheit, die mir Spaß macht. Es ist immer auch ein Teil von mir dabei, sonst könnte ich das nicht singen. Er gehört zu mir war 1976 ein Lied, das ich ernst gemeint habe, heute singe ich es ironisch.«35 Die Ironie wird auf die Spitze getrieben, wenn Marianne Rosenberg in den 90er Jahren bei Gay-Happenings im weißen Brautkleid auftritt.36 Das Zeichen der unberührten, reinen, natürlichen Weiblichkeit wird zur Maskerade und damit verkehrt. Ebenso wie das Brautkleid sind die roten Rosen, mit denen sich Marianne Rosenberg, ihren Namen ins Bild setzend, als Markenzeichen umgibt, ein viel beanspruchtes Symbol. Mit roten Rosen Liebe zu inszenieren, ist längst zur Regel geworden, so dass es sich eher auf die Regeln der Inszenierung als auf Liebe zurückführen lässt. Vor allem aber wenn mit dem Lied Er gehört zu mir vorgeblich große Gefühle besungen werden, sind die Versatzstücke dazu als Versatzstücke erkennbar. Es ist kaum zu übersehen, dass der Text aus Formeln besteht: »Ist es wahre Liebe,/ die nie mehr vergeht,/ oder wird die Liebe/ vom Winde

34 | M. Rosenberg: Er gehört zu mir. 35 | Zit. n. F. Reimann: Marianne Rosenberg, S. 135. 36 | Vgl. ebd.

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156 | Thomas Küpper verweht?«37 Die Rede von der »wahre[n]«, ewigen Liebe fasst sich selbst nicht als wahr auf. Indem auf Gemeinplätze und gemeine Liebesfilme wie Vom Winde verweht38 angespielt wird, verweist der Text sozusagen ins Leere; er greift auf Muster zurück, die als kitschig diskreditiert sind. Dadurch sperrt er sich gegen eine Unterstellung von Gehalten. In Zweifel zieht der Text auf diese Weise nicht nur sich selbst, sondern auch das Konzept der großen Liebe, von der er handelt. Er kehrt die Richtung so genannter Liebesschnulzen um. Diese führen dem Publikum das Glück eines heterosexuellen Paares oft mit einem Schein von Unmittelbarkeit vor Augen, der die Differenz von Signifikant und Signifikat vergessen lässt.39

37 | M. Rosenberg: Er gehört zu mir. Nicht der Wortlaut, aber der Sinn dieser Verse hat sich seit den 70er Jahren verändert: Durch die Ironisierung sind die Sätze nicht mehr gewichtig. Matei Calinescu meint hingegen, dass »camp sensibility, […] under the guise of ironic connoisseurship, can freely indulge in the pleasures offered by the most awful kitsch. […] Externally, […] camp is often hard, indeed impossible, to distinguish from kitsch« (M. C.: Five Faces of Modernity. Modernism, Avant-Garde, Decadence, Kitsch, Postmodernism, Durham: Duke University Press 1987, S. 230). Zur systemtheoretischen Modellierung von Ironie vgl. den Artikel von Alexandra Karentzos in diesem Band. 38 | Victor Fleming (Regie): Gone with the Wind. USA 1939. 39 | Walther Killy nennt als Merkmal des literarischen Kitsches eine Art der Lyrisierung, durch welche die Worte und Dinge ihre Bestimmtheit verlieren (W. K.: »Versuch über den literarischen Kitsch«, in: W. K.: Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen, 2. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1962, S. 9-33, hier S. 13). Vor allem aber kann Lyrisierung den Eindruck erwecken, dass Signifikant und Signifikat zusammenfallen. Nach Emil Staiger deutet sich im Lyrischen, das auf Klang, Melodie und Rhythmus basiert, die Möglichkeit einer »Verständigung ohne Begriffe« an: »Ein

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»Ist es wahre Liebe…?« | 157

Mit solchen Szenarien unterstützt Kitsch das Kommunikationsmedium Liebe, das Paar-Bindungen wahrscheinlich macht,40 und legt diese zugleich auf Heterosexualität fest. In seiner Schablonenhaftigkeit zeichnet Kitsch die Strukturen intimer Kommunikation gleichsam vor. Diese Setzungen werden durch Camp unterminiert. Marianne Rosenbergs Er gehört zu mir bringt die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem zur Geltung und löst die Liebesmetaphysik auf. Nicht von ungefähr bezieht sich Camp gerade auf Kitsch: Dieser hypostasiert die »wahre Liebe« mit Elementen, die durch ihre häufige Verwendung bereits suspekt geworden sind. Entscheidend ist die in der Selbstreflexion des Kunstsystems aufgestellte Regel, dass Formen sich bei wiederholtem Gebrauch abnutzen. Die Kunst bietet der Homosexuellenbewegung mit dieser Regel ein Mittel, mit dem sich besonders Etabliertes, und so auch die herkömmliche Ordnung der Geschlechter, in Frage stellen lässt. Dadurch erbringt die Kunst eine Leistung41 für die soziale Bewegung: In der Evolution des Kunstsystems gerät das Standardisierte unter Druck, und die Bewegung kann diese Anfälligkeit als Prinzip für eigene Belange umfunktionieren. So

Rest des paradiesischen Daseins scheint im Lyrischen bewahrt« (E. S.: Grundbegriffe der Poetik, 3. Aufl. dtv: München 1975, S. 14f.). 40 | Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994; Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation, München: Fink 2003, insbes. S. 20ff. 41 | Zum Begriff der Leistung vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 757ff.; Gerhard Plumpe: »Systemtheorie und Literaturgeschichte. Mit Anmerkungen zum deutschen Realismus im 19. Jahrhundert«, in: Hans-Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 251-264, hier S. 254.

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wird der Öffentlichkeit vorgeführt, dass der von ihr gewohnten Heterosexualität Gewöhnliches – Kitsch – zugrunde liegt. Das subversive Potenzial des Camp lässt sich somit aus der Koevolution der Kunst, der Liebe und der Homosexuellenbewegung erklären: Die Systeme sind strukturell gekoppelt, und die im Kunstsystem vorgenommene Kategorisierung von Kitsch steht der sozialen Bewegung dazu bereit, übersetzt, umgesetzt und neu besetzt zu werden. Kitsch als Paradigma dessen, was ohne festen Grund auskommen muss, wird zum Medium der Subversion.

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Manifest für Ironiker/innen. Zur Kunst der Beobachtung Alexandra Karentzos

»Ironie erscheint hier als eine Kunst, zu den Grundsätzen hinaufzusteigen und sie zu Fall zu bringen.« Gilles Deleuze

Mit einem »ironischen Traum« beginnt Donna Haraways Manifest für Cyborgs.1 Sie versucht, einen ironisch-politischen Mythos zu entwickeln. Haraway erklärt, dass Ironie von Widersprüchen handelt, die sich nicht auflösen lassen, sowie von Humor und ernsthaftem Spiel.2 Die Cyborg ist nach Haraway »überzeugte 1 | Donna Haraway: »Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften«, in: D. H.: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Herausgegeben und eingeleitet von Carmen Hammer und Immanuel Stieß, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1995, S. 33-72, hier S. 33. 2 | Ebd.

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160 | Alexandra Karentzos AnhängerIn von Partialität, Ironie, Intimität und Perversität«.3 Dabei verbindet Ironie Heterogenes auf paradoxe Art, so sind Cyborgs nach Haraway Hybride, Mosaike, Chimären.4 Auf diese Weise unterlaufen sie starre dichotome Strukturen. Gerade Ironie bietet sich in den Gender Studies dazu an, Geschlechterpositionen zu verschieben, sie ist subversiv.5 Was Ironie für viele Ansätze der Gender Studies auszeichnet, ist vor allem ihr spielerischer Umgang mit Sinnkonstrukten. Dabei wird der Begriff der Ironie allerdings häufig unscharf verwendet, so dass ihre Funktionsweise nicht näher in den Blick rückt. Im Folgenden soll versucht werden, anhand eines systemtheoretischen Instrumentariums Ironie genauer zu fokussieren. Als Grundlage für diese Konzeption dient Niklas Luhmanns im Anschluss an Heinz von Foerster entworfenes Modell der Beobachtung zweiter Ordnung. Von diesem Ausgangspunkt lassen sich Verbindungslinien zu Judith Butlers Begriff der Parodie ziehen (1.). In einem weiteren Schritt soll am Beispiel Kara Walkers gezeigt werden, auf welche Weise in der zeitgenössischen Kunst Ironie eingesetzt wird (2.). 3 | Ebd., S. 35. 4 | Ebd., S. 67. 5 | Richtungen wie der Cyberfeminismus berufen sich auf dieses subversive Potential der Ironie. Vgl. dazu Melanie Groß: Von den riot grrrls, Cyberfeminismus und Kommunikationsguerilla – Postfeministische Strategien, in: postfeminismus.de. www.netz-kasten.de/postfeminismus/widersprueche. html; Jutta Weber: »Ironie, Erotik und Techno-Politik: Cyberfeminismus als Virus in der neuen Weltunordnung? Eine Einführung«, in: Die Philosophin. Forum für feministische Theorie und Philosophie 12 (2001), H. 24, S. 81-97. Darüber hinaus stellt Ironie einen Grundzug postmoderner Vorgehensweisen dar, vgl. dazu Umberto Eco: »Postmodernism, Irony, the Enjoyable«, in: Peter Brooker (Hg.): Modernism/Postmodernism. London/New York: Longman 1992.

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1. Ironie als Beobachtung zweiter Ordnung Die Beobachtung zweiter Ordnung im Sinne Luhmanns ist die Beobachtung einer Beobachtung.6 Damit handelt es sich um die Unterscheidung einer Unterscheidung. Beobachten ist nach Luhmann ausschließlich durch den Gebrauch von Unterscheidungen möglich; erst wenn etwas unterschieden wird, lässt es sich bezeichnen: Männlichkeit zum Beispiel konstituiert sich durch die Differenz zum Weiblichen. Eine Sicht, die auf diese Weise Männliches und Weibliches in der Welt voneinander abgrenzt, als ob es vorfindbar sei, ist eine Beobachtung erster Ordnung. Sie entwirft einen monokontexturalen Sinnzusammenhang und kann insofern »ontologisch« genannt werden, als sie nicht mitsieht, dass das Sichtbare von der gewählten Unterscheidung und von deren Implikationen abhängt. Anders verhält es sich mit der Beobachtung zweiter Ordnung: Indem sie eine Beobachtung beobachtet, bringt sie deren Kontingenz zum Vorschein. Die in der Beobachtung erster Ordnung gewählte Unterscheidung hätte aus dieser Perspektive auch eine andere sein können. So erweist sich die zugrunde gelegte Unterscheidung nicht nur als Sicht-eröffnend, sondern auch als beschränkend: Sie führt einen »blinden Fleck« mit sich, den die Beobachtung zweiter Ordnung herausstellen kann. Indessen ist das Verhältnis von Beobachtung erster und Beobachtung zweiter Ordnung nicht hierarchisch: Auch die Beobachtung zweiter Ordnung ist letztlich auf ihren Unterscheidungsgebrauch angewiesen und unterliegt damit ebenfalls dessen Restriktionen. Aus der Beobachtung zweiter Ordnung geht zwar ein polykontexturaler Sinnzusam6 | Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 92ff. Vgl. dazu auch Georg Kneer/Armin Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. München: Fink/UTB 1993, S. 95ff.

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menhang hervor, in dem es eine Vielzahl von Unterscheidungen gibt, doch diese lassen keinen privilegierten Punkt zu, von dem aus eine absolut richtige Über-Schau möglich wäre. Diese theoretische Konzeption kann, wie Ernst Behler gezeigt hat,7 als Modell für die Analyse von Ironie dienen. So lässt sich Ironie als Beobachtung zweiter Ordnung beschreiben, da sie die Unterscheidungen der Beobachtung erster Ordnung distanziert wiederholt und ihnen ihren absoluten Geltungsanspruch streitig macht. Dabei wird zum Beispiel die Unterscheidung von Männlichem und Weiblichem nicht reproduziert, sondern problematisiert: Sie wird zum Gegenstand der Beobachtung. Auf diese Weise ist es möglich, Setzungen spielerisch zu zitieren und sie damit zu unterlaufen. Mit den systemtheoretischen Begriffen lässt sich folglich exakt der Einsatzpunkt der Ironie in der zitationellen Praxis der Geschlechtskonstitution beschreiben. Dadurch können geschlechtertheoretische Ansätze von Judith Butler und Donna Haraway mit Niklas Luhmanns systemtheoretischem Konzept kombiniert werden.8 Butler weist mit dem Begriff der zitationellen Praxis darauf hin, dass sich Geschlecht über die performative Wiederholung normativer Setzungen konstituiert: Durch unentwegte Nachah7 | Vgl. Ernst Behler: Ironie und literarische Moderne. Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh 1997, insbes. S. 324-327. Behler geht zudem auf die besondere Ironie der Luhmann’schen Systemtheorie ein. Vgl. dazu ferner Peter Sloterdijk: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 84-133, insbes. S. 129. 8 | Vgl. den Hinweis auf Butler bei Armin Nassehi: »Geschlecht und System. Die Ontologisierung des Körpers und die Asymmetrie der Geschlechter«, in: Ursula Pasero/Christine Weinbach (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 80-104, hier S. 88.

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mung wird die Kategorie des Geschlechts hervorgebracht.9 Die Wiederholung lässt jeweils eine Differenz zum Vorhergehenden entstehen, da sie nicht zur vollkommenen Deckung gelangen kann. Sie enthält demnach immer das Potential der Verschiebung. Butlers zentrales Paradigma für die Subversion aber ist die Parodie. Die parodistische Wiederholung von Geschlechterbedeutungen konterkariert diese zugleich: Durch eine solche subversive Methode wird die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität demonstriert.10 Geschlecht gilt damit nicht mehr als etwas Ursprüngliches, sondern als Ergebnis eines unentwegten Prozesses der Sinnstiftung. Als Imitation einer Imitation verschiebt die Parodie die Bedeutung des Originals mit dem ihm zugrunde liegenden Mythos der Ursprünglichkeit und ermöglicht damit eine Resignifizierung und Rekontextualisierung.11 Indessen ist Parodie nicht per se subversiv.12 Sie kann nur dann irritieren, wenn das Konstrukt des Sexus sich als phantasmatischer Identitätseffekt und so als kontingent erweist. Dieser Zusammenhang kann mit der Systemtheorie verdeutlicht werden, indem man ihn mit dem Begriff der Beobachtung zweiter Ordnung reformuliert: Die Parodie ist nur dann subversiv, wenn sie als eine Beobachtung zweiter Ordnung das Parodierte entsubstanzialisiert. Erst dann zitiert sie die Vorlagen als Setzungen, die instabil und auch anders möglich sind. Mit der Systemtheorie bietet sich so ein Modell der Ironie, 9 | Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. 10 | Ebd., S. 203. 11 | Vgl. ebd. und Hannelore Bublitz: Judith Butler zur Einführung, Hamburg: Junius 2002, S. 92ff., ferner den Artikel von Thomas Küpper in diesem Band. 12 | Vgl. J. Butler: Unbehagen der Geschlechter, S. 204.

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das Butlers Begriff der Parodie wie auch Haraways Begriff der Ironie beschreiben kann. Auch Haraway hebt die antiontologische Stoßrichtung der Ironie hervor; damit wird der Konstruktcharakter der Geschlechtsidentitäten herausgestellt und deren Kontingenz betont.13 Der Unterschied zwischen Beliebigkeit und Kontingenz ist in diesem Punkt zentral: »Zu sagen, die Dinge hätten anders sein können, ist nicht dasselbe wie zu sagen, sie seien beliebig.«14 Haraway versteht ›Ironie‹ wie auch Butler ›Parodie‹ als politische Methode der Subversion. Was bedeutet jedoch Politik? Systemtheoretisch gesehen, wäre der Begriff der Politik in eine Vielzahl von Systemreferenzen aufzulösen. Die ironische Strategie findet sich nicht nur und nicht in erster Linie im politischen System15, sondern vor allem auch in der Wissenschaft, in sozialen Bewegungen, in der Kunst et cetera und unterliegt damit verschiedenen Codes. Diese Polykontexturalität16, das Heteroge13 | Vgl. zum engen Zusammenhang von Ironie und Kontingenz: Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Rorty nennt »Ironikerin« eine Person, »die der Tatsache ins Gesicht sieht, daß ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind [...]«, ebd., S.14 und insbes. S. 128. 14 | »›Wir sind immer mittendrin‹. Ein Interview mit Donna Haraway«, in: D. Haraway: Neuerfindung der Natur, S. 98-122, hier S. 109. 15 | Dieses wäre codiert nach Regierung/Opposition, vgl. Niklas Luhmann: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag 1986, S. 169f. 16 | Vgl. dazu Thomas Küpper: »Der beobachtete Körper. Systemtheorie und Gender Studies«, in: Alexandra Karentzos/Birgit Käufer/Katharina Sykora (Hg.): Körperproduktionen. Zur Artifizialität der Geschlechter, Marburg: Jonas 2002, S. 34-41 sowie den Artikel von Sabine Kampmann im vorliegenden Band.

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ne der verschiedenen Kommunikationszusammenhänge, gerät aus dem Blick, wenn man lediglich vom Politischen spricht. Im Anschluss an Luhmann lässt sich die Unterschiedlichkeit der systemischen Kontexte fokussieren. So kann auch der spezifische Rahmen künstlerischer Formen der Ironie berücksichtigt werden. Vor allem aber ist es möglich, die Konzeption der Ironie als einer Beobachtung zweiter Ordnung auf das Medium Bild zu übertragen, da auch Bilder den Gebrauch von Unterscheidungen vorführen können, wie es der Beobachtung zweiter Ordnung entspricht. In Bildern manifestiert sich, wie das Kunstsystem seine Umwelt – unter anderem die Ordnung der Geschlechter – beobachtet.17 Dadurch können die Werke den in der Umwelt üblichen Gebrauch der Unterscheidung männlich/weiblich zitieren und umcodieren. Dieses Umcodieren bedeutet, dass die Kunst nicht etwa »objektive Strukturen« abbildet, sondern immer nur vom eigenen, relativen Beobachtungsstandpunkt ausgeht. Dass sich die Kunst die Beobachtung zweiter Ordnung zu Eigen macht, ist in der Romantik reflektiert worden; nicht zufällig ist mit der Autonomie der Kunst der Begriff der Ironie zentral geworden und neu definiert worden.18 Der romantische Ironiebegriff steht für die Relativität des eigenen Standpunktes, er demonstriert ein »Bewußtsein der Kontingenz aller Operationen« und eine »Haltung reflektierter Selbstrelativierung aller Systemleistungen«.19 Während die Kunst der klassischen Tradi17 | Bilder lassen sich systemtheoretisch als Elemente des Kunstsystems fassen und das Werk als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium desselben. Vgl. bezogen auf Literatur Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. Bd. 2, S. 293ff.; bezogen auf das Kunstsystem N. Luhmann: Kunst der Gesellschaft. 18 | N. Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 270. 19 | Vgl. G. Plumpe: Ästhetische Kommunikation, Bd. 1, S. 162.

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tion sich durch Mimesis und Repräsentation auf die Welt bezieht und folglich Beobachtung erster Ordnung, »objektive Kunst« ist, hat die moderne Kunst als Beobachtung zweiter Ordnung keine vorgegebenen Referenzpunkte mehr und kann Konstruktionen aus der Umwelt autonom umformen. Das gilt insbesondere auch für die Beobachtung der üblichen Geschlechter-Beobachtung. In Schlegels Lucinde etwa, einem Werk, das durch eine ungewöhnliche, fragmentarische Struktur gekennzeichnet ist, wird das Rollenverständnis von männlich/weiblich für einen Moment verkehrt.20 In der ironischen Struktur des Romans wird das Spielerische des Rollentausches stets reflektiert. Durch Ironie werden Maßgaben im Schein bestätigt und zugleich zur Disposition gestellt; so zeigt sich im Spiel die Kontingenz der Unterscheidungen.21 Seit der Romantik ist die Autonomie der Kunst in vielen Variationen zur ironischen Brechung von GeschlechterStereotypen genutzt worden. Diese komplexen Verbindungslinien ironischer Kunst können an dieser Stelle nicht ausführlicher behandelt werden. Als Beispiel aus der gegenwärtigen Kunst soll insbesondere eine Arbeit Kara Walkers untersucht werden, die nicht von ungefähr auf romantische Formen zurückgreift. Indessen kann es auch nicht das Ziel sein, dieses Werk in seinem Facettenreichtum zu 20 | Friedrich Schlegel: Lucinde, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. München/Paderborn/Wien/Zürich: Schöningh 1958ff., 1. Abt. Bd. 5. Vgl. zu einer Interpretation des Romans unter dem Aspekt des Geschlechts Sigrid Weigel: »Wider die romantische Mode: Zur ästhetischen Funktion des Weiblichen in Friedrich Schlegels ›Lucinde‹«, in: Inge Stephan (Hg.): Die verborgene Frau. Argument-Sonderband 96 (1983), S. 67-82. 21 | Dirk Baecker: »Ernste Kommunikation«, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 389-403, hier S. 402.

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behandeln; vielmehr soll eine ironische Dimension herausgestellt werden, die sich mit der Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung besonders deutlich machen lässt.

2. Die »Verpackungskünstlerin«. Das Geschenk der Kara Walker Zu Weihnachten packt man seine Geschenke meist ein. Die Künstlerin Kara Walker gestaltete aus diesem Anlass in der Wochenzeitung DIE ZEIT eine Doppelseite als Geschenkpapier (Abb. 1 u. 2).22 Doch was hier geliefert wird, hat es in sich: Kara Walkers großformatiger Schattenriss mit der einheitlich schwarzen Oberfläche und den arabeskenhaft anmutenden Umrissen führt die BetrachterInnen zunächst in die Irre. Die Technik, die vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts populär ist, suggeriert ein bürgerliches Idyll23 – die Erwartung eines harmlosen Themas wird jedoch enttäuscht. Die scheinbaren Genreszenen entpuppen sich als drastische Darstellungen von Sexismus und Rassismus. Die Silhouettenbilder überzeichnen nicht nur die gängige physiognomische Typisierung der Schwarzen mit wulstigen Lippen, sondern überspitzen auch die geschlechtlichen Merkmale: Die schwarzen Frauen im Profil sind nackt, ihre Brüste erscheinen stark erotisiert mit markant nach oben gerichteten Brustwarzen. In ihren kompliziert aufgetürmten Frisuren erkennt man zunächst die Profildarstellungen eines »weißen« Paares, gekleidet in der Mode vom Anfang des 19. Jahrhunderts, und darüber zwei männliche Figuren in vornehmer Kleidung mit monströs erigier22 | In: DIE ZEIT, Nr. 51 vom 11. Dezember 2003, S. 56f. 23 | Sabine Schulze (Hg.): Goethe und die Kunst. Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 1994, v.a. S. 214.

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Abbildung 1: Kara Walker: Geschenkpapier

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Abbildung 2: Kara Walker: Geschenkpapier (Detail)

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170 | Alexandra Karentzos tem Glied.24 Der Penis symbolisiert damit den Phallus und nimmt einen phantasmatischen Charakter an. Butler weist auf die Unerfüllbarkeit einer solchen Symbolisierung hin: »Die Symbolisierung setzt zwischen dem, was symbolisiert – oder signifiziert, und dem, was symbolisiert wird – oder signifiziert wird, die ontologische Differenz voraus und produziert sie. Die Symbolisierung entleert das, was symbolisiert wird, seiner ontologischen Verbindung mit dem Symbol selbst.«25 Das Haar der Frau wird auf seinen erotischen Zeichencharakter festgelegt. Die sexuellen Konnotationen, die es bereits in gewöhnlichen Kontexten hat,26 werden durch die Art der Formierung noch hervorgehoben. Es dient als Medium einer detailreichen Form.27 Im Haar der schwarzen Frau spielen sich in jedem Sinne des Wortes komplexe Verflechtungen ab: Das Paar in der mittleren Ebene personifiziert die scheinheilige Institution der Monogamie, die durch die priapeische Figur darüber hintertrieben wird: »Auf den Baumwollplantagen ihrer [Walkers] Fantasie vereinigen sich Südstaatenschönheiten und der Sklavenhal-

24 | Die Figuren sind in einer Kleidung zu sehen, die in der Tradition Weißen vorbehalten ist. Somit wird das Klischee des hyperpotenten schwarzen Mannes mit übergroßem Glied konterkariert. Durch die Technik des Scherenschnitts ist indessen auch der weiße Mann schwarz. Auf diesen Aspekt wird zurückzukommen sein. 25 | Judith Butler: Körper von Gewicht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 123. 26 | Inge Stephan: »Das Haar der Frau. Motiv des Begehrens, Verschlingens und der Rettung«, in: Claudia Benthien/Christoph Wulf (Hg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 2748, insbes. S. 37. 27 | Vgl. zur Differenz von Medium und Form die Beiträge von Natalie Binczek und Bettina Gruber in diesem Band.

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ter und seine Lieblingssklavin in einem Machtspiel aus Sinnlichkeit und Sex.«28 Die geschlechtliche und die rassische Unterscheidung verschränken sich. Bereits dadurch zitiert Walker Topoi, die durch Differenzen erzeugt werden. Die Körper der schwarzen Frauen sind im Rassismus nach wie vor Schauplätze der Eroberung.29 Die Darstellung schwarzer Frauen in diesen Diskursen geht einher mit ihrer vollständigen Sexualisierung, wobei sie zugleich exotisiert werden und als Ikonen des Primitivismus gelten. Ihre »abnorme« Sexualität wird gerade in medizinischen Diskursen des 19. Jahrhunderts mit der der Affen, vor allem der Orang-Utans, was wörtlich »Waldmensch« heißt, in Verbindung gebracht.30 Zur Untermauerung dieser Klischees diente die so genannte »Hottentottenvenus«, die durch ihre hervortretenden Genitalien zum Inbegriff schwarzer Sexualität und Triebhaftigkeit wurde31 – und zum Inbegriff der Zurschaustellung und Entprivatisierung schwarzer Sexualität. In anderen Arbeiten zeigt Walker obszöne, »abnorme« Formen der Sexualität, die damit das Fremde, Exotische übersteigern. Die Palette der polymorphen Perversität reicht in Szenen à la de Sade von skatologischen Handlungen über

28 | Heike Faller: »Ein Papier zum Geschenk«, in: DIE ZEIT, Nr. 51 vom 11. Dezember 2003, S. 55. 29 | J. Butler: Körper von Gewicht, S. 241ff. 30 | Vgl. dazu Katharina Sykora: »Weiblichkeit, das Monströse und das Fremde. Ein Bildamalgam«, in: Annegret Friedrich/Birgit Haehnel u.a. (Hg.): Projektionen. Rassismus und Sexismus in der visuellen Kultur, Marburg: Jonas 1997, S. 132-149. 31 | Vgl. das Interview mit Kara Walker, in: Stephan Berg (Hg.): Kara Walker. Ausst.-Kat. Kunstverein Hannover, Freiburg/Breisgau: Modo-Verlag 2002, S. 176-185, hier S. 176 und auch Eungie Joo: »Kara Walker«, in: ebd., S. 41-130, hier S. 118.

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Pädophilie bis hin zu Verstümmelungen und anderen Bestialitäten.32 Neben der Sexualisierung wird in Walkers Entwurf für DIE ZEIT noch ein anderer Gemeinplatz des Schwarzen aufgegriffen: die Rolle des Dieners oder der Dienerin.33 Das Geschenkpapier als Verpackung verweist auf die vielfach noch abgebildeten Schwarzen auf »exotischen« Produkten. Der bekannte SarottiMohr ziert Schokoladen, barbusige »kaffeebraune« Frauen fungieren als Emblem für Kaffee und präsentieren zudem noch zwischen ihren gespreizten Schenkeln Kaffeebohnen (Espresso Caffè New York). Die Schwarzen repräsentieren hier nicht nur Exotik, sondern auch kostbares »Material« – sie bestätigen den Reichtum der Kolonisatoren. Walker spielt durch die barbusige Schwarze mit diesen Assoziationen. Die Schwarzen werden wie Elfenbein und Diamanten zum »natürlichen Rohmaterial« degradiert. Auch die Gestaltung der Haare führt Klischees vor. Walker erklärt in einem Interview, das die Arbeit in der ZEIT kommentiert: »Unser Haar kann gerade nach oben zeigen, es kann gedreht und geknotet und in geometrische Formen gedrückt werden, die nichts Natürliches mehr haben. Trotzdem wird über die Frisuren manchmal geredet, als handele es sich dabei um den Ausdruck eines natürlichen oder primitiven oder afrikanischen Stils.«34 Diese Klischees setzt Walker gleichsam in Anführungszei32 | Vgl. Hamza Walker: »Nigger Lover oder: Wird es in Utopia Schwarze geben?«, in: Parkett 59 (2000), S. 160-164. 33 | Vgl. auch die Auseinandersetzung mit dem »dienenden Mohr« bei dem Künstler Fred Wilson im Pavillon der USA auf der Biennale in Venedig 2003. 34 | Heike Faller: »Meine Seite der Geschichte. Ein Gespräch mit Kara Walker«, in: DIE ZEIT, Nr. 51 vom 11. Dezember 2003, S. 55.

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chen: Die Figuren gerinnen zu Schablonen von Weiblichkeit, von Männlichkeit, von Schwarzsein. Durch die Technik des Scherenschnittes wird der Unterscheidungsgebrauch selbst reflektiert. In eben diesem Sinne ist es eine Technik der Beobachtung zweiter Ordnung. Die konstitutive Funktion der Unterscheidungen wird selbst zum Thema, da der Scherenschnitt mit einem starken Kontrast von Figur und Grund operiert. Das Differenzierungsgeschehen, durch das sich erst die Figur vom Grund abhebt und sichtbar wird, ist selbst Gegenstand der Reflexion. In der Mitte des Bogens findet sich eine weiße Figur, die an eine Märchenhexe erinnert, vor einem schwarzen und weißen schneeflockenartig ornamentalen Gebilde – das Weiß auf Weiß lässt keine klare Differenz zu. Erst die schwarzen Figuren heben sich vor diesem Hintergrund als markierte ab. Das Werk illustriert geradezu das Prinzip, nach dem »das, was gesehen werden kann, was eine sichtbare Markierung qualifiziert, mit der Fähigkeit zusammenhängt, einen markierten Körper im Verhältnis zu unmarkierten Körpern entziffern zu können, wobei unmarkierte Körper die Währung normativen Weißseins darstellen.«35 So verhalten sich Weiß und Schwarz zueinander wie Positiv und Negativ im doppelten Sinne. Eine Seite der Differenz ist immer auf die andere Seite als konstitutives Außen angewiesen. Mit der Reflexion auf die Mechanismen der Unterscheidung und Abgrenzung bezieht sich Walker auf den Status des kolonisierten Subjekts, das seinem Kolonialherrn in einem gewissen Grade ähnlich sein muss, dem aber untersagt ist, dem Kolonialherrn allzu sehr zu ähneln.36 35 | J. Butler: Körper von Gewicht, S. 237. 36 | Vgl. Homi Bhabha: The Location of Culture. London/New York: Routledge 1994, S. 126 und J. Butler: Körper von Gewicht, S. 372, Anm. 159. Auf diese postkoloniale Debatte kann im Rahmen des vorliegenden Essays indessen nicht weiter eingegangen werden.

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Durch das Spiel mit den Unterscheidungen entfaltet der Schattenriss auch ein Potential der Verschiebung. Weiß wird zu Schwarz und Schwarz wird zu Weiß: »Die alten Schattenrisse wirkten [...] fast ironisch auf mich [Walker] – all die weißen Menschen, die da ganz schwarz erscheinen.«37 Walker spricht hier zentrale Aspekte ihrer eigenen Arbeit an: Die schwarze, undifferenzierte Binnenform unterläuft rassistische Stereotypen ironisch. Walker kehrt die Universalität des Weißseins als Norm um zu einer Universalität des Schwarzseins. Da alle Figuren einheitlich schwarz sind, können die BetrachterInnen sich nur noch an den gängigen Klischees bezüglich der Physiognomie, Kleidung und Gestik orientieren, um Schwarz und Weiß zu unterscheiden, wobei die Figuren immer wieder mehrdeutig sind – die Unsicherheit der Zuordnung bleibt letztlich bestehen. Damit werden die typischen Attribute der Weißen und Schwarzen als Requisiten einer performativen Inszenierung von Rasse erkennbar. Rasse erweist sich als ebensolche Konstruktion wie Geschlecht. Auch in anderer Weise unterminieren Walkers Schattenrisse gängige Realitätskonstruktionen: Die »Schatten« sind keineswegs bloße Ausläufer vorgängiger Objekte, sie verweisen nicht auf eine originäre Wirklichkeit. So spielt Walker mit den Schattenrissen ironisch auf den »Ursprung der Kunst« an: In seiner Naturgeschichte beschreibt Plinius der Ältere die Entstehung des Portraits aus dem Schattenbild. In der Legende hält die Tochter des griechischen Töpfers Butades das Abbild ihres Geliebten fest, indem sie vor ihm eine Kerze aufstellt und seinen Schatten an der Wand nachzeichnet. Das Schattenbild verweist damit auf 37 | Zit. n. Marion Ackermann: »Schatten und Risse in der zeitgenössischen Kunst«, in: M. A.: SchattenRisse. Silhouetten und Cutouts. Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. Herausgegeben von Helmut Friedel. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2001, S. 233-250, S. 233.

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einen Referenten und hat gleichsam eine indexikalische Struktur. Es ist eine Art Nachweis für die Existenz der Objekte, eine metonymische Verkörperung der Dinge, die es umreißt. Vor allem seit dem 18. Jahrhundert sollten die physiognomischen Merkmale der Personen – durch ihren Schatten im Porträt – festgehalten werden. Die Schattenbilder avancieren im 19. Jahrhundert durch Johann Kaspar Lavater zur Grundlage der hierarchischen Typologisierung: Mittels des Scherenschnittes werden Menschentypen eingeteilt und klassifiziert.38 Bei Walker ist der Schatten jedoch nicht Spur oder Abdruck einer Realität; vielmehr stellt sich die Frage, wer der Referent des Schattens ist. Da die Schattenrisse Gemeinplätze reproduzieren, erscheinen sie als Imitationen von Imitationen. Auch insofern handelt es sich um Stereotype im wörtlichen Sinne: Eungie Joo beschreibt in Bezug auf Walker das Klischee, Stereotyp als identische Druckform, als Negativform.39 Gerade das im Massenmedium Zeitung erschienene Werk potenziert dieses Prinzip noch. Walker wiederholt solche Muster in Form einer Beobachtung zweiter Ordnung, die den Status der Abziehbilder deutlich macht und markiert. Das Spiel der Differenzen wird in dem Geschenkpapier weitergetrieben, indem die Fläche zweigeteilt ist: Auf der einen Seite finden sich schwarze Silhouetten auf weißem Grund, auf der anderen Seite weiße Figuren auf schwarzem Grund. Die schwarzen 38 | Walker bedient sich just des Mediums, mit dem Lavater »den Schwarzafrikaner« als »thierisch beschränkt, doch geschickt im Kleinen, worin er beschränkt ist«, bezeichnet. Vgl. Marion Ackermann: SchattenRisse, Abb. 28, S. 51; vgl. auch E. Joo: Kara Walker, S. 23f. und Edna Moshenson: »The Emancipation Approximation«, in: Ariane Grigoteit (Hg.): Ausst.-Kat. Deutsche Guggenheim Berlin, Frankfurt a.M.: Deutsche Bank 2002, S. 51-54, hier S. 51. 39 | E. Joo: Kara Walker, S. 118ff.

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Figuren in der einen Papierhälfte erscheinen zunächst wie das Spiegelbild der weißen, doch erkennt man bei genauerem Hinschauen, dass sich die Formen verändert haben. Der Mund der weißen Figuren ist halb geöffnet und lässt spitze kleine Zähne hervortreten. Eine kleine weiße Figur mit wehendem Rock hangelt sich von der Frisur am Kopf hinab und landet beinahe in diesem bedrohlichen Maul. Ihr Schuh wird aber zugleich selbst zu einem spitzen Zahn. In dieser Anspielung auf den Topos des Kannibalismus werden die gewöhnlich zugewiesenen Rollen von Schwarz und Weiß vertauscht: Die Figur ist weiß, doch wir sehen darin sofort »den Schwarzen« aufgrund der klischeehaften Physiognomie. Diese irritierende Vertauschbarkeit, Reziprozität und (A-) Symmetrie von Weiß und Schwarz wird auch dadurch verstärkt, dass die Randsilhouetten kein ganzes, einheitliches Bild ergeben: »Wenn Sie die Papierenden zusammenfügen, dann bekommen Sie ein Bild, das wie ein komplettes Ganzes aussieht, aber eigentlich ist es ein Spiegelbild.«40 Der Spiegel als Projektionsfläche der Selbstvergewisserung kommt ins Spiel, doch ähnlich wie bei den Schatten ist auch seine Referenz fraglich, da er lediglich Schablonenhaftes aufeinander abzubilden scheint. In der horizontalen Achse gewährleistet der Spiegel nicht einmal diese Symmetrie der Abziehbilder; sie sind nicht deckungsgleich. Beim Versuch, sie aufeinander abzubilden, »kippt« das Bild der dienstbereiten Schwarzen zum Schreckbild des menschenfressenden Vamps. Mit diesen Pointen nähert sich Walker dem Thema Sexismus und Rassismus buchstäblich von den Rändern her. Die Positionen der Marginalisierten wird auch in diesem Sinne gespiegelt. Ironisch ist diese Arbeit nicht nur, weil sie mit der Beobach40 | H. Faller: Ein Gespräch mit Kara Walker, S. 55.

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tung zweiter Ordnung operiert, sondern auch, weil die Künstlerin ihren eigenen Status, als weiblich wie auch als schwarz, reflektiert. Durch den Selbstbezug wird das Werk der Künstlerin paradox: Walker nennt sich selbst provozierend »eine Negerin von bemerkenswertem Talent«.41 Die Bezeichnung passt insofern zu ihren Arbeiten, als dass diese vorgeben altmodisch, sexistisch und rassistisch zugleich zu sein. Durch die Paradoxie der Selbstbezeichnung wird die Aussage ad absurdum geführt, ebenso wie im Bekenntnis des Kreters, dass alle Kreter lügen. Aufgrund der selbstreferentiellen Struktur des Unterscheidungsgebrauchs hebt sich dieser selbst auf. Walker konstituiert sich als Künstlerin und »Negerin« zum einen erst über die Unterscheidungen; zum anderen aber ist sie es, die diese Unterscheidungen verwendet. So verweist dieses Paradox auf das Problem der Subjektbildung, wie sie sich im Anschluss an Butler beschreiben lässt: Wer oder was wird unterschieden? Ist es nicht die Unterscheidung und Bezeichnung selbst, die jenes Subjekt hervorbringt, das unterscheidet?42 Die »Verpackungskünstlerin« Walker verpackt auf diese Weise ihre Reflexionen ironisch. Die Gabe erweist sich als Trojanisches Pferd. Es bedient scheinbar Wünsche und verkehrt sie zugleich. Was geschenkt wird, ist subversiv.

41 | Walker gab einer Zeichenserie von 1995 etwa auch den Titel »Notizen einer Negerin« oder nannte 2000 eine Installation »Warum ich weiße Knaben liebe. Ein illustrierter Roman. Von Kara E. Walker, Negerin«. 42 | Vgl. J. Butler: Körper von Gewicht; A. Nassehi: »Geschlecht im System«, S. 88.

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Was heißt eigentlich Post-Feminismus? »… eine möglichst trittsichere und graziöse Flucht nach vorn« 1 (Pipilotti Rist) Sabine Kampmann

Seit der Veröffentlichung von Frauen, Männer und George Spencer Brown2 im Jahre 1988, Niklas Luhmanns polemischer Attacke auf die fehlende theoretische Fundierung der Frauenforschung, ist viel passiert. Mittlerweile lehrt eine erste Generation von Wis1 | Pipilotti Rist: »Alle wollen von allen benutzt werden, das ist gut so«, in: Himalaya: Pipilotti Rist, 50 kg. Ausst.-Kat. Kunsthalle Zürich/Museé d’Art Moderne de la Ville de Paris, Köln: Oktagon 1999, o. S. 2 | Niklas Luhmann: »Frauen, Männer und George Spencer Brown«, in: Zeitschrift für Soziologie 17, Heft 1 (1988), S. 41-71; wieder abgedruckt in: Ursula Pasero/Christine Weinbach (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 15-62.

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senschaftlerinnen und Wissenschaftlern an den Universitäten, in deren Ausbildung Frauen- und Geschlechterforschung bereits auf dem Lehrplan stand. Und auch die von Luhmann geforderte Selbstreflexion der Frauenforschung ist im Zuge ihrer Transformation zu den Gender Studies (von Luhmann nicht beobachtet) zu einer zentralen Größe der wissenschaftlichen Disziplin geworden. Anstelle einer bloßen Kritik an der anderen, der männlichen Wissenschaft gerät etwa mit Donna Haraways Konzept des »situierten Wissens«3 auch die feministische Wissensproduktion selbst in den Blick: Da wissenschaftliche Objektivität immer historisch kontingent, subjektabhängig und an Machtbeziehungen gebunden sei, entscheidet sich Haraway dafür, offensiv auf einer partialen Perspektive und der Übernahme von Verantwortung dafür zu beharren. Auch der gegen Ende der 90er Jahre in der Diskussion auftauchende Begriff des Post-Feminismus kann als Zeichen einer distanzierenden Befragung und Weiterentwicklung eines wissenschaftlichen Feminismus verstanden werden. Zeitgleich zu diesen Entwicklungen im wissenschaftlichen Feld sind seit Mitte der 90er Jahre verstärkt bildende Künstlerinnen erfolgreich auf dem Kunstmarkt vertreten, die nun zum ersten Mal in der Geschichte der Kunstgeschichte auf weibliche 3 | Haraways Text hat seinen Ursprung in einem bereits 1986 gehaltenen Vortrag und erschien 1995 in deutscher Übersetzung. Donna Haraway: »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Hg. und eingeleitet von Carmen Hammer und Immanuel Stieß, Frankfurt a.M./New York: Campus 1995, S. 7397. Vgl. auch Katharina Sykora: »Selbst-Verortungen. Oder was haben der institutionelle Status der Kunsthistorikerin und ihre feministischen Körperdiskurse miteinander zu tun?«, in: Kritische Berichte 26 (1988), H. 3, S. 4350.

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Vorbilder und deren zum Teil »feministische Kunst« der 70er Jahre zurückblicken können. Ihre Positionierungen gegenüber »dem« Feminismus beziehungsweise die Diskussion eines PostFeminismus nehmen in der Kommunikation über Kunst und Künstlerinnen eine zentrale Rolle ein. Eine dieser Künstlerinnen ist die Schweizerin Pipilotti Rist, deren rasanter Aufstieg in der Kunstwelt Anfang der 90er Jahre begann. Die schillernden Charakterisierungen der Kunstkritik, wie »Elfe mit den Zauberbildern« oder »Bildmagierin des Jetztgefühls«4, »Bildstörerin«5 oder »Video-Gladiatorin der 90er Jahre«6 zeugen von der intensiven Beschäftigung mit ihrer Person. Und diese spitzt sich immer wieder auf die gleichen Fragen zu: Ist Pipilotti Rist Feministin? Macht sie feministische Kunst? Oder ist das vielleicht PostFeminismus? Mit dieser Fixierung auf Feminismus als Wesenszug der Künstlerin oder Inhalt der Kunst manövrieren sich Kunstwissenschaft und Geschlechterforschung jedoch in eine Sackgasse. Denn durch die zugrunde liegenden Annahmen eines einheitlichen Künstlersubjekts, eines eindeutig dechiffrierbaren künstlerischen Themas beziehungsweise einer allgemein gültigen Definition von Feminismus und Post-Feminismus entzieht sich der vielschichtige Produktionsprozess dieser Begriffe dem Blickfeld. Die so erzwungene Entweder-Oder-Entscheidung widerspricht zudem der erklärten Abneigung der Geschlechterforschung gegenüber Dichotomien, wie sie besonders in der Kritik 4 | Gerhard Mack: »Die Elfe mit den Zauberbildern. Gerhard Mack über Pipilotti Rist«, in: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst 48 (1999), H. 31, S. 3-6, hier S. 3. 5 | Manuel Bonik: »Die Bildstörerin«, in: Vogue (1999), S. 118-122, hier S. 118. 6 | Claudia Pantellini: »Pipilotti Rist«, in: Isabelle Malz/Claudia Pantellini u.a. (Hg.): Nicht nur Körper. Künstlerinnen im Gespräch, Baden: Verlag Lars Müller 1998, S. 78-88, hier S. 78.

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an einer zwanghaften heterosexuellen Matrix (männlich/weiblich ohne etwas Drittes) zum Ausdruck kommt.7 An dieser Stelle setzt der in diesem Aufsatz vorgeschlagene Austausch zwischen Gender Studies und Systemtheorie ein: Von Seiten der Luhmann’schen Systemtheorie sollen das Konzept der Form »Person« ebenso wie die Grundperspektive auf eine funktional differenzierte Gesellschaft beigesteuert werden. Denn so wird es möglich, die Bildung der Künstlerfigur Pipilotti Rist im Prozess ihrer kommunikativen Konstruktion und in ihrer Abhängigkeit von den unterschiedlichen Funktionen in sozialen Systemen zu beobachten. Auch die verschiedenen begrifflichen Besetzungen von »Post-Feminismus« werden dabei in ihrer Rolle bei der kommunikativen Entstehung der Figur Pipilotti Rist offenbar. Das Besondere an der Person Pipilotti Rist ist überdies, dass sie sich als Künstlerin auch im Kunstsystem bewegt, welches über eine lange Tradition künstlerischer Identitätsbildung mit sehr konkreten Rollenvorgaben verfügt. Wie stark die Rollenvorgabe »Künstler« von der Kategorie des Geschlechts ausgeht, hat die kunsthistorische Geschlechterforschung in den vergangenen Jahren herausgearbeitet.8 Diese

7 | Prominent hierzu Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. 8 | Vgl. etwa Linda Nochlin: »Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben?« Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christa Erbachervon Grumbkow (engl. 1971), in: Beate Söntgen (Hg.): Rahmenwechsel: Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft in feministischer Perspektive, Berlin: Akademie Verlag 1996, S. 27-56; Roszika Parker/Griselda Pollock: Old Mistresses. Women, Art and Ideology, London: Pandora Books 1981; Silke Wenk/Kathrin Hoffmann-Curtius (Hg.): Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg: Jonas 1997.

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Ergebnisse sollen von Seiten der Gender Studies in die Untersuchung einfließen. Ziel dieser Analyse ist es also, den Produktionsprozess der Person Pipilotti Rist in seiner Abhängigkeit von geschlechtsbestimmten Parametern zu beschreiben. Wie sich dies im Rahmen einer Diskussion um Post-Feminismus vollzieht und wie genau eine »trittsichere und graziöse Flucht nach vorn« aussieht – so Rist über ihre Arbeitsweise in einem Katalogtext –, wird auch anhand ausgewählter Arbeiten untersucht.

Die Form »Person« in der funktional differenzierten Gesellschaft »Doch selbst hinsichtlich der unscheinbarsten Dinge des Lebens sind wir nicht ein objektiv erfassbares Ganzes, das für alle gleich ist, so daß jeder nur davon Kenntnis zu nehmen braucht wie von einem Lastenheft oder einem Testament; als soziale Person sind wir eine geistige Schöpfung der anderen.«9 Marcel Proust

Luhmanns Überlegungen zur Form »Person« befinden sich jenseits der Vorstellung eines einheitlichen Subjekts und konzentrieren sich ganz auf die Ebene des Sozialen. Ähnlich wie bei Proust formuliert – und von ihm in den unterschiedlichen perspektivabhängigen Beschreibungen seines Protagonisten Swann vorgeführt – ist die »soziale Person« eine »geistige Schöpfung der anderen«. Und Luhmann wird noch präziser:

9 | Marcel Proust: »Combray«, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 29.

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»Eine Person ist […] nicht einfach ein anderer Gegenstand als ein Mensch oder ein Individuum, sondern eine andere Form, mit der man Gegenstände wie menschliche Individuen beobachtet.«10

Der Begriff der Form ist dabei anders als gewohnt zu denken. Und zwar »nicht als eine zeitresistente Struktur, sondern als ein[] zeitverbrauchende[r] Vollzug.«11 Es gibt nichts, was an sich Form wäre, sondern dies ist immer an ein Medium gekoppelt und geht aus ihm hervor. Zugleich sind Formen zeitlich variabel, und auch die Seiten können getauscht werden: Was in dem einen Kontext Medium ist, so dass dessen einzelne Elemente lose gekoppelt sind, kann in einem anderen Zusammenhang zur Form werden, wobei sich die Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen verdichten. Luhmanns Medium/Form-Begriff bezieht sich nicht nur auf die Form »Person«, sondern strukturiert viele verschiedene Kommunikationen. Ein Beispiel aus der Kunst soll den Gedanken verdeutlichen: Ein Künstler möchte ein Kunstwerk machen und dazu ausschließlich Produkte aus seinem Supermarkt um die Ecke verwenden. Schließlich entscheidet er sich für eine Dose Tomatensuppe der Firma Campbell und macht daraus ein Ready-Made. Der gesamte Inhalt des Supermarkts fungiert hier als Medium für die Produktion eines Kunstwerks, und durch die Auswahl der Suppendose und deren Exponierung als Kunstwerk bildet sich eine Form. Betrachten wir dieselbe Campbell’s-Dose jedoch aus der Perspektive eines Suppenfabrikanten, so handelt 10 | Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung Bd. 6, Die Soziologie und der Mensch, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 148. 11 | Sybille Krämer: »Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form?«, in: Rechtshistorisches Journal 17 (1998), hg. von Dieter Simon, Frankfurt a.M.: Löwenklau Gesellschaft, S. 558-574, S. 560.

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es sich bei der Dose im Supermarkt schon längst um Form: Aus allen möglichen Vorkommensweisen von Suppe – etwa im Kochtopf auf dem Herd, in dehydrierter Form in einer Tüte oder in einer Dose aller möglichen Marken – ist bereits eine ganz bestimmte, eben jene Campbell’s Tomatensuppe aus dem Medium »Suppen aller Art« ausgewählt worden und wird dem Kunden angeboten. An diesem Beispiel wird überdies auch der Gedanke der funktionalen Differenzierung von Gesellschaft deutlich. Kunstsystem und Wirtschaftssystem beispielsweise existieren nebeneinander, folgen jedoch unterschiedlichen Codes und beobachten somit die gleichen Objekte unter verschiedenen Parametern: interessantes Kunstobjekt auf der einen und Umsatz versprechendes Produkt auf der anderen Seite. Doch zunächst zurück zur Form »Person«. Während bisher ihre Variabilität und Perspektivabhängigkeit deutlich wurde, ist überdies ihre stabilisierende Funktion innerhalb der Gesellschaft zu betonen. Die Form »Person« dient der Selbstorganisation des sozialen Systems und schränkt den Spielraum möglicher Verhaltensweisen ein, um so individuelles Verhalten erwartbar zu machen und Komplexität zu reduzieren.12 So wird etwa der Künstler Markus Lüpertz häufig als »Künstlerfürst« vorgestellt oder Joseph Beuys mit den Beinamen »Prophet« oder »Magier« versehen. Prophetische oder magische Züge werden dabei Beuys’ 12 | N. Luhmann: Soziologische Aufklärung, S. 132. Des Weiteren dient die Form »Person« der strukturellen Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation, also der verschiedenen Systemtypen (psychischen und sozialen Systemen). Für eine detaillierte Darstellung dieses Zusammenhangs vergleiche Christine Weinbach: »Die systemtheoretische Alternative zum Sex-undGender-Konzept: Gender als geschlechtsstereotypisierte Form ›Person‹.«, in: U. Pasero/Ch. W.: Frauen, Männer, Gender Trouble, S. 144-170 und ihren Beitrag in diesem Band.

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Kunst ebenso wie seinem Auftreten attestiert und so die Wiedererkennbarkeit von Kunst und Künstler sichergestellt. Dass die »Person« Beuys innerhalb des Kunstsystems in plausibler Weise mit diesen aus dem Kontext der Religion entnommenen Attributen beschrieben wird, schließt allerdings nicht aus, dass sie noch weitere Facetten birgt: Als Teilnehmer am Religionssystem mag Beuys gläubiger Christ sein oder auch nicht, im Kontext der Politik ein Parteigründer (tatsächlich hat er Die Grünen mitbegründet) oder Vater im System der Familie. Festzuhalten bleibt, dass man sich mit der Form »Person« auf der Ebene sozialer Systeme bewegt, die sich über Kommunikationen strukturieren. Person ist ein kontextabhängiges, zeitlich variables, kommunikatives Konstrukt, das jedoch unverzichtbar ist, um individuelles Handeln – sowohl dasjenige anderer als auch das eigene – erwartbar zu machen. Doch das »stabile Erwartungsbündel«13 der Form »Person« bleibt in einer solchen theoretischen Skizze farblos. Der Blick ist unbedingt auch auf die semantische Ebene zu richten. Was sind das für Erwartungen und Rollenverpflichtungen, die hier virulent werden? In Hinblick auf unser Thema ist es vor allem der Begriff »Künstler«, der eine Person wie Pipilotti Rist semantisch ausstattet, der Rollenmuster und Erwartungen an sie heranträgt und diese zugleich durch ihren kommunikativen Gebrauch verändert. Niklas Luhmann zufolge ist »Künstler« weder physisches Substrat noch Leben oder Bewusstsein, sondern übernimmt »im Prozeß der Autopoiesis von Kunst eine Strukturfunktion«.14 Erwartungen werden damit gebündelt. Der »Verdichtungsbegriff Künstler« ist, so Luhmann in einer anderen Formulierung, ein

13 | C. Weinbach: »Die systemtheoretische Alternative«, S. 150. 14 | Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2. Aufl. 1996, S. 87f.

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»Kondensat[] des Kommunikationssystems Kunst«15. Zur konkreten Ausgestaltung der Semantik des Künstlerbegriffs und deren historischer Entwicklung macht Luhmann selbst in seiner Kunst der Gesellschaft nur wenige Andeutungen.16 In der kunsthistorischen Forschung und kunstwissenschaftlichen Geschlechterforschung liegen in Bezug auf diese Semantik jedoch weitreichende Ergebnisse vor, die später in einem kleinen Exkurs in den für Pipilotti Rist relevanten Aspekten vorgestellt werden sollen. Wie verhalten sich nun die Form »Person« und der »Verdichtungsbegriff Künstler« zur Vorstellung einer funktional differenzierten Gesellschaft, wie sie mit der Erwähnung der unterschiedlichen Systeme Kunst, Wirtschaft, Religion oder Politik bereits angeklungen ist? Luhmann geht aufgrund seiner zugrunde liegenden Beobachtertheorie davon aus, dass Gesellschaft nicht aus Individuen und deren Verhältnissen untereinander besteht, sondern aus Kommunikationen. Die Gesellschaft hat sich in verschiedene Teilsysteme ausdifferenziert, in denen Kommunikationen nach unterschiedlichen Vorgaben produziert werden. So existieren beispielsweise – um auf das Beispiel Joseph Beuys zurückzukommen – Kunstsystem und Politiksystem nebeneinander. Sie sind füreinander Umwelt. Während in der Politik die Kommunikationen gemäß dem Code Regierung/Opposition strukturiert sind und Parteien sowie Wählerstimmen von Interesse sind, folgt das Kunstsystem der Leitdifferenz interessant/langweilig17 und interessiert sich auf der Ebene eines

15 | Ebd. 16 | Dass etwa seit der Renaissance das Konzept für ein Kunstwerk vom Künstler selbst stammen und dieser der Urheber des Werks sein soll, ist dort zu lesen. Ebd., S. 417. 17 | Luhmanns eigener Vorschlag für den Code des Kunstsystems lautet »schön/hässlich«. Demgegenüber regen Gerhard Plumpe und Niels Werber,

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Programms beispielsweise für Kunst als Gegenentwurf zur herrschenden Gesellschaftsordnung.18 Mit dem Begriff des Programms ist ein weiteres Stichwort gefallen, das für Luhmanns Theorie sozialer Systeme und unsere Frage zentral ist. Während der Code der gesellschaftlichen Funktionssysteme stabil ist (etwa wahr/falsch für Wissenschaft oder Recht/Unrecht für das Rechtssystem), ist das Programm flexibel.19 Nach beiden, Code und Programm, richtet sich die Kommunikation des jeweiligen Systems. Während der Code dabei grundsätzlich beim Kunstsystem nach dem Schema interessant/ langweilig unterscheidet, obliegt es dem Programm, die jeweils historisch flexiblen Ausgestaltungen dessen, was denn als schön bzw. interessant wahrgenommen wird, zu beschreiben. Beispielsweise kann ein Programm des Kunstsystems das politische Engagement von Kunst schätzen und deshalb solche Kunstwerke als besonders interessant empfinden, die politische Themen aufgreifen. Für ein anderes Programm desselben Systems sind jedoch Autonomie und Selbstreferenz von Kunstwerken untrügliche Anzeichen von Qualität. Das heißt, so unterschiedliche in erster Linie bezogen auf die Literatur als Teilsystem der Kunst, dazu an, die passendere Leitdifferenz »interessant/langweilig« zu verwenden. Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 51ff.; Gerhard Plumpe/Niels Werber: »Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft«, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 9-43. 18 | Dies läuft auf eine Perspektive der »Polykontexturalität« hinaus – ein wissenschaftlicher Blick, der Kommunikationen in ihrer Abhängigkeit von den verschiedenen Systemreferenzen beobachtet. Vgl. auch den Beitrag von Thomas Küpper in diesem Band. 19 | Vgl. G. Plumpe: Epochen moderner Literatur, S. 38.

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Arbeiten wie die von Hans Haacke und Barnett Newman werden beide als interessant und somit als Kunst wahrgenommen, weil dieses Urteil aufgrund unterschiedlicher parallel existierender Programme zustande kommt. Neben diesen Programmen des Kunstsystems, mit denen die Kommunikation durch Kunst sich strukturiert und die Werke an vorhergehende anschließen, gilt der Programm-Begriff aber auch auf der Ebene des einzelnen Kunstwerks.20 Laut Luhmann ist jedes Kunstwerk sein eigenes Programm, das sich durch das Sichtbarmachen des Unterschiedes von Werk und übergreifendem Programm als gelungen und neu erweist.21 Verbindungen bestehen zwischen den Metaprogrammierungen auf der Ebene des Kunstsystems als auch zwischen den Programmen der Einzelwerke. Was heißt das alles für die vermeintlich (post-)feministische Künstlerin Pipilotti Rist? Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Theorie können wir die unterschiedlichen Perspektiven auf die Künstlerfigur Pipilotti Rist voneinander unterscheiden und in handhabbare Einzelfragen zerlegen. Zunächst wäre aus Perspektive des Kunstsystems in Hinblick auf Pipilotti Rists Werke zu fragen: Werden in den Kunstwerken geschlechtsspezifische Assoziationen geweckt oder feministische Inhalte transportiert? Welche Hinweise dafür gibt es? In welchem Verhältnis steht ein solches Programm ihrer Arbeiten zu Metaprogrammierungen des Kunstsystems? Alle diese Themen sind im Rahmen der Kunstkommunikation angesiedelt, die dem Code interessant/ langweilig folgt. Wird die »Person« Pipilotti Rist überdies im Kontext der Wissenschaft diskutiert, steht eine Plausibilisierung, warum sie denn gute und interessante Kunst macht und keine langweilige, 20 | Vgl. N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 328ff. 21 | N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 328.

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im Vordergrund. Wahr/falsch ist der zugehörige Code. Dabei wird die Identifikation Rists als (Post-)Feministin entsprechend der unterschiedlichen wissenschaftlichen Programme sehr verschieden gehandhabt: Während die eine wissenschaftliche Gruppierung nur auf die Qualität der Werke schaut und die Person der Künstlerin in dieses vermeintlich objektive Urteil nicht einzubeziehen sucht, ist die Künstlerfigur für eine andere Gruppierung gerade interessant. Kunstwissenschaftliche Geschlechterforschung fragt etwa danach, wie sich die Künstlerin mit ihren Arbeiten innerhalb der aktuellen Genderdebatte positioniert. Ist es vielleicht eine post-feministische Stellungnahme, die sie in ihren Arbeiten zum Ausdruck bringt? Eine andere Gewichtung setzt der Feminismus als soziale Bewegung und nimmt damit ebenfalls Anteil an der kommunikativen Konstruktion der Person Pipilotti Rist. Arbeitet Pipilotti Rist mit an einer Durchsetzung der gesellschaftlichen Gleichberechtigung der Frau? Aus dieser Perspektive ist ihre Kunst Mittel zum Zweck: Was zählt, ist der dahinter stehende »anständige« Mensch mit den korrekten gesellschaftspolitischen Zielen. Diese Vorstellung eines mit Eigenschaften versehenen individuellen Menschen leitet auch die Kommunikationen im Kunstsystem, die über die Künstlerperson handeln. Ob Pipilotti Rist Künstlerin ist und wie sich ihre Identitätsbildung als Künstlerin und Frau vollzieht, wird unter anderem in Zusammenhang mit Authentizitätsfragen diskutiert, die in der Semantik der Künstlerfigur eine traditionsreiche Rolle spielen. Auch im ersten künstlerischen Beispiel markiert dieses authentische Künstler-Selbst eine zentrale rhetorische Figur. Die Kommunikationen über die Person Pipilotti Rist, in ihren Anziehungen und Abstoßungen zwischen Künstlersein, Frausein und (Post-)Feminismus sollen nun beobachtet werden.

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Pipilotti Rist, Künstlerin Wände voller Handtaschen, Menstruationsblut, Büstenhalter oder der ins Bild gesetzte weibliche nackte Körper – die Indizien scheinen eindeutig zu sein, dass es in den Kunstwerken Pipilotti Rists um »Frauenthemen« geht, was immer das sein mag. In ihrem Video Ever Is Over All aus dem Jahre 1997 wollen wir uns das genauer ansehen (Abb. 1). Abbildung 1: Pipilotti Rist: Ever Is Over All, 1997, Videoinstallation (6 Videostills)

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Lächelnd und beschwingten Schrittes geht eine hübsche junge Frau in flatterndem hellblauen Sommerkleid und mit einem überdimensionierten Blütenstiel in der Hand an einer Reihe parkender Autos entlang. Und dann schlägt sie zu. Die offensichtliche Lust, mit der sie das Glas der Autoscheiben splittern sieht, und die Divergenz zwischen der Vorstellung eines nächtlichen Randalierers und der feengleichen Gestalt mit den roten Schuhen am helllichten Tag machen schmunzeln. Pipilotti Rists als »trittsicher« und »graziös« beschriebenes Vorgehen scheint in dieser Arbeit visualisiert und wäre vielleicht noch um die Vokabel »schlagkräftig« zu ergänzen. Aus Perspektive eines politisch motivierten Feminismus läge eine Deutung nahe, die das Video als Ausdruck weiblicher Selbstermächtigung sieht, als – vielleicht etwas überzeichnend – radikales, schlagkräftiges Aufbegehren gegenüber patriarchalen Gesellschaftsstrukturen. Damit wäre der Fall klar. Die Künstlerin Pipilotti Rist würde mit ihrer Arbeit ein Beispiel, einen Denkanstoß geben, um das feministische Programm einer Umgestaltung der Gesellschaftsstrukturen zugunsten einer vollkommenen Gleichberechtigung der Frau voranzutreiben. Doch eine solche Eindeutigkeit wird durch den hohen Fiktionsgrad des Videos verhindert. Eine die Szenerie passierende Polizistin grüßt freundlich, der Schlagstock der Frau ist eine Blume, sie agiert nicht in Guerillamanier, sondern öffentlich, und weder ein konkreter Grund noch eine extreme Wut sind als Auslöser ihrer Zerstörungslust auszumachen. Für die Untersuchungen einer kunstwissenschaftlichen Geschlechterforschung sind jedoch gerade diese irritierenden Aspekte ideale Interpretationsansätze. Die Blume als Schlaginstrument etwa könnte als Visualisierung und Ironisierung der Natur/Kultur-Dichotomie gelesen werden. Denn die Entdeckung, dass sich diese Differenz historisch herausgebildet und an die Geschlechter in der Zuordnung Mann/Kultur und Frau/Natur

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angelagert hat, ist ein wichtiges Ergebnis der Geschlechterforschung. Demzufolge würde mit dem Blütenstiel als Symbol für Natur also gerade jenes Instrument zum Schlag erhoben, das bisher auch der Unterdrückung und dem Ausschluss von Frauen gedient hat. Durch die äußerst feminine Aufmachung der Darstellerin und die durch Tonspur, Farben und Licht als heiter charakterisierte Atmosphäre sind jedoch Kritik und ironisch-fröhliche Brechung dieses Frauenbildes gleichermaßen präsent. Für die Geschlechterforschung wäre Pipilotti Rists Video also Bestätigung und künstlerischer Spiegel ihrer aktuellen Forschungsdebatte über die geschlechtliche Codierung von Kultur und Gesellschaft.22 Das Programm des Kunstwerks würde mit dem Programm des wissenschaftlichen Forschungsansatzes kongruent gesetzt. Oder anders herum betrachtet: Es zeigt sich, dass die Wissenschaft nicht nur ein beobachtbares Funktionssystem darstellt, sondern dass dessen Kommunikationen auch zum Medium für die Produktion von Kunstwerken taugen. Rists Kunstwerk erzielt mit Hilfe geschlechtertheoretischer Kommunikationen Formgewinne, indem diese einen Kontextwechsel vollziehen und aus der Wissenschaft in die Kunst transferiert werden. Auch wenn wir bisher auf der Ebene des Werks verblieben sind und die »trittsichere und graziöse Flucht nach vorn« zunächst auf das Video und dessen Darstellerin bezogen haben, sind solche Deutungen auch an der Konstruktion der Person Pipilotti Rist beteiligt. Denn der semantische Übertrag von Werk 22 | Ähnlich liest beispielsweise die Geschlechterforscherin Elisabeth Bronfen Pipilotti Rists Video (Entlastungen) Pipilottis Fehler als eine komplexe Antwort auf die psychoanalytische Hysterie-Debatte. Elisabeth Bronfen: (Entlastungen) Pipilottis Fehler ([Absolutions] Pipilotti’s Mistakes), in: Peggy Phelan/Hans Ulrich Obrist/Elisabeth Bronfen: Pipilott Rist. London/New York: Phaidon 2001, S. 78-91.

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zu Leben hat Tradition. Und die Frage, ob es denn die Künstlerin selbst ist, die in ihrer Arbeit erscheint, ist für Kunstkritik und -wissenschaft von größtem Interesse. So meint etwa die Wissenschaftlerin Barbara Vinken, das Video Ever Is Over All wäre weniger interessant, wenn es Pipilotti Rist selbst wäre, die darin agiert.23 Ob sie es denn nun ist oder nicht, soll zunächst nicht verraten werden. Aber der Frage, warum die Qualität der Arbeit von der Präsenz der Künstlerin im Werk abhängen könnte, möchte ich in einem Exkurs zum Thema Autorschaft nachgehen. In der Kunstgeschichte ist das Leben eines bildenden Künstlers eng mit den von ihm produzierten Werken verknüpft. Diese fast schon naturalisierte Leben-Werk-Verbindung ist im Wesentlichen ein Produkt der Künstlerbiographik, die von zeitgenössischer Forschung mittlerweile als ein literarisches und anekdotenreiches Genre aufgefasst wird.24 Bekanntester und einflussreichster Vertreter dieses Genres ist der Renaissancekünstler und Kunsttheoretiker Giorgio Vasari, der auch als der »Vater der Kunstgeschichte« gilt. Seine im 16. Jahrhundert formulierten Lebensbeschreibungen von Künstlern prägen bis heute als strukturelle Muster die Kunstgeschichte. Dass etwa das Kunstwerk als subjektiver Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers aufgefasst wird, geht auf ihn zurück. Auch die Tradition, künstlerische Ein-

23 | »Thomas Meinecke und Barbara Vinken im Gespräch«, in: Die Wohltat der Kunst. Post\Feministische Positionen der neunziger Jahre aus der Sammlung Goetz. Ausst.-Kat. Sammlung Goetz/Kunsthalle Baden-Baden, hg. v. Rainald Schumacher und Matthias Winzen, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2002, S. 209-241, hier S. 233. 24 | Frühzeitig, nämlich bereits 1934, haben Ernst Kris und Otto Kurz in ihrem Buch Die Legende vom Künstler den genrehaften Charakter der Kunstgeschichtsschreibung betont. Ernst Kris/Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995.

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flussverhältnisse in Form von Genealogien zu konstruieren, sie also nach dem Muster des Vater/Sohn- beziehungsweise Meister/Schüler-Verhältnisses zu beschreiben, hat dort ihre Ursprünge. Ein bis heute dominierendes Autorschaftsmodell versteht überdies den Künstler als ein exemplarisches Individuum – eine Vorstellung, die im Geniediskurs gipfelt. Der aus seinem Inneren heraus subjektiv-geistig schöpfende Künstler hat sich allerdings, wie feministische Kunsthistorikerinnen herausgearbeitet haben, am Beispiel des männlichen Subjekts entwickelt. Dies ist, neben dem historisch realen sozialen Ausschluss von Frauen aus dem Kunstbetrieb und der damit zusammenhängenden fehlenden »weiblichen Ahnenreihe«25, ein Grund dafür, warum die Etablierung weiblicher Autorschaft ein Problem darstellt. Die Frau, so die feministische Forschung, ist dem Bedeutungsfeld Natur zugeordnet und in der Kunst als Muse oder Modell präsent. Der Mann hingegen wird als der Kultur angehörig verstanden und markiert als Künstler den produktiven Pol. Diese tradierte Rollenzuordnung zu überschreiten, fällt Künstlerinnen aber noch aus einem weiteren Grund schwer. Sie befinden sich im Status eines »double margin«.26 Was heißt das? Dem männlichen Künstler kommt seit der Renaissance ein Sonderstatus zu, der sich im Laufe der Geschichte in vielfältige Außenseiterrollen ausdifferenziert – vom Geisteskranken über den Verbrecher bis zum Eremiten, um nur einige zu nennen. Da Künstlerinnen aber bereits durch die Tatsache »Frau« zu sein eine Außenseiterposition einnehmen, befinden sie sich als Künstlerin und Frau in ei-

25 | Vgl. etwa L. Nochlin: Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben?, sowie R. Parker/G. Pollock: Old Mistresses. 26 | Susan Rubin Suleiman: Subversive Intent. Gender, Politics and the Avantgarde, Cambridge/Mass./London: Harvard University Press, S. 11ff.

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nem Zustand doppelter Marginalisierung. Die Strategien der Selbstdarstellung oder Identitätsbildung müssen für Frauen also andere sein als diejenigen ihrer männlichen Kollegen. Warum wäre also, um auf die Meinung Barbara Vinkens zurückzukommen, das Video von Pipilotti Rist weniger interessant, wenn sie selbst die Frau im blauen Kleid wäre? Eine Antwort ist, dass der Verdichtungsbegriff »Künstler« explizit die Rolle des gegen die Verhältnisse aufbegehrenden Außenseiters vorsieht und somit radikales Handeln wie dasjenige des Scheibeneinschlagens wenig überrascht. Freilich setzt man bei diesem Gedanken einen über das Kunstgeschehen informierten Betrachter voraus, der, dem Code des Kunstsystems folgend, solche radikalen Gesten als erwartbar und somit langweilig empfindet. Doch noch ein weiterer Grund mag zu Vinkens Urteil geführt haben. Denn parallel zu den skizzierten Entwicklungen einer feministischen Kunstgeschichte hat sich in den 60/70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine später so genannte »feministische Kunst« oder »Frauenkunst« etabliert. Sie markiert gesellschaftliche Missstände und Geschlechterdiskriminierung bei radikaler Konzentration auf den weiblichen Körper und dessen Repräsentation. Wie um sich der eigenen körperlichen Präsenz zu versichern und die Kategorie »Frau« zu befragen, erheben viele Künstlerinnen ihren eigenen Körper zum Motiv und Thema ihrer Kunst und legen damit zugleich den Finger in die Wunde: die Reduzierung der Frau auf Körper und des Mannes auf Geist. Arbeiten von Gina Pane, VALIE EXPORT oder Marina Abramovic´ wären als Beispiele für oft kämpferisch-strenge feministische Identitätsbefragungen dieser Zeit zu nennen. Wenn Rist also heute mit dem Körper in ihren Kunstwerken präsent ist, steht sie unweigerlich auch in dieser künstlerischen Tradition. Ihr Körper ist Medium zur Formierung des Kunstwerks. Und mit diesem Körper, der zugleich Körper der Künstle-

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rin und Körper einer Frau ist, kommt eine Semantik mit ins Spiel, wie sie sich etwa angesichts feministischer Körperkunst entwickelt hat. Auch Barbara Vinken mag diese Kunstformen im Hinterkopf gehabt haben, die heute bereits als historisch und – ganz dem Imperativ der Innovation folgend – mitunter auch als überholt gelten. Dreißig Jahre später darf Pipilotti Rist nicht genauso arbeiten wie ihre Vorgängerinnen, sonst würde sie einem auf Innovation abgestellten Programm des Kunstsystems zufolge langweilige Kunst produzieren. Schaut man sich ihre Kunstwerke jedoch genauer an, sind die Differenzen in der Arbeitsweise leicht herauszuarbeiten. Weniger die eigene körperliche Identität, sondern die Befragung von Rollenklischees und Geschlechtermustern in einer lustvoll-sinnlichen Manier steht bei Rist im Mittelpunkt. Eigentlich besteht also kein Grund zur Besorgnis, mit explizit feministischen Positionen der 70er Jahre verwechselt zu werden. Umso mehr erstaunt Pipilotti Rists deutliche und wiederholte verbale Abgrenzung und Differenzierung. So formuliert sie in einem Interview im Rahmen eines Dokumentarfilmes: »Klar betrachte ich mich als Feministin. Jede gesunde normale Frau heutzutage muss das tun […] aber ich würde nie sagen, dass ich feministische Kunst mache, weil es das nicht gibt.«27

Und an anderer Stelle ist zu lesen: »Feministin sein heißt für mich, sich bewusst sein, dass wir Frauen eine ganz andere Geschichte haben als die Männer. Heißt, dass ich mich in meinem Leben – in meiner Kunst – um eine autonomere, weniger

27 | It’s a she-thing! Von Drachenladies, Riot Grrrls und Kunst-Schlampen. Ein Film von Susanne Ofteringer. ZDF/Arte 2000.

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vom Gegengeschlecht her definierte Identität bemühe, wobei ich jedoch keine Anhängerin des weinerlichen feministischen Tons bin.«28

Rists eigener Beitrag an der verbalen Konstruktion der Person Pipilotti Rist29 identifiziert sie zwar als Feministin, aber als eine, die anders ist als die anderen und auf keinen Fall »weinerlich«. Auch wird sie nicht müde, immer wieder zu betonen, dass sie deshalb oft die Darstellerin in ihren Videos ist, weil es schneller und billiger und ihr zudem peinlich sei, andere wegen Nacktaufnahmen zu fragen. Dass jedoch Rists Wunsch, lediglich »ein Prototyp von allen anderen Körpern«30 zu sein, nicht in Erfüllung geht, belegen die zahlreichen Hinweise in kunstkritischen Texten darauf, dass sie es selbst ist: »The video features the bikini-clad artist swimming in an intensely blue tropical realm«31 ist als erster Satz über ihr Video Sip My Ocean zu lesen oder anderswo, wenn auch nicht den Tatsachen entsprechend, da sie keineswegs immer ihr eigenes Modell ist: »The artist is always 28 | Anne Reich: »Pipilotti Rist – Der Reiz des Unsauberen. Ein Interview«, in: Kunst-Bulletin, Nr. 12 (1992), S. 16-25, hier S. 23. 29 | Pipilotti Rist ist übrigens seit 1986 der Künstlername der 1962 in Rheintal (Schweiz) geborenen Künstlerin Elisabeth Charlotte Rist, die damit ihrer Kindheitsheldin Pipi Langstrumpf, einer Romanfigur von Astrid Lindgren, Tribut zollt. Die durch diesen Namen geweckten Assoziationen lassen das Bild eines fröhlich-lauten, selbständig-starken und freiheitsliebenden Wildfangs in bunt zusammengewürfelter Kleidung vor dem geistigen Auge entstehen, der sich Konventionen widersetzt und über eine kindliche Begeisterungsfähigkeit verfügt. 30 | It’s a she-thing! (Film). 31 | Ausst.-Kat. Outer & Inner Space. Pipilotti Rist, Shirin Neshat, Jane & Louise Wilson, and the History of Video Art. Hg. v. John B. Ravenal, Virginia Museum of Fine Arts, Richmond, VA: Virginia Museum of Fine Arts, University of Washington Press 2002, S. 30.

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the protagonist in her films.«32 Während diese Kritiker erfreut die Präsenz der Künstlerin im Werk registrieren, schlägt sich Rist, allerdings nur verbal, auf die Seite der Wissenschaftlerin Vinken: »Ich will explizit nicht als Pipilotti wahrgenommen werden, sonst verlieren die Filme an Reiz.«33 Was wir hier beobachten, ist eine feine Ausdifferenzierung der Programme. Wird die Präsenz der Künstlerin im Werk von der einen Gruppe als Verweis auf ein authentisches KünstlerSelbst goutiert, sieht die andere Gruppe genau diese Präsenz als qualitätsmindernden Umstand an. Dass der im Kunstsystem vorherrschende Zwang zur Innovation für einen solchen Perspektivwechsel verantwortlich sein kann, haben wir bereits gesehen. Doch noch ein anderer Einfluss ist zu bedenken: derjenige der feministischen Kunstgeschichte. Sie hat herausgearbeitet, wie die Vorstellung vom Künstler als genialem Schöpfersubjekt männlich codiert ist, wie die geschlechtsspezifische Rollenverteilung im Kunstsystem aussieht und warum weibliche Autorschaft also per se ein Problem darstellt. Spätestens vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse kann eine Künstlerin sich keineswegs mehr ohne Weiteres selbst ins Bild setzen. Der Künstlerin wird eine mehrfache Reflexion ihrer Arbeiten quasi aufgenötigt. Hatte bereits die historisch geprägte Kommunikationsstruktur des Kunstsystems, die stets die Frau als »Ausnahme« vorsah, eine positive Setzung der eigenen Künstlerpersönlichkeit verhindert und die Künstlerinnen zu vermehrter Reflexion der eigenen Identität und Autorschaft veranlasst, ist es nun überdies die feministische Theorie selbst, die dies durch ihre mittlerweile verbreiteten Forschungsergebnisse einfordert.

32 | Harm Lux: »Pipilotti Rist«, in: Flash Art 26 (1993), H. 171, S. 92. 33 | Marius Babias: »Ich freue mich, daß ich eine Frau bin«, in: Jungle World 16 (1998), o. S.

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Abbildung 2: Pipilotti Rist: Me As a Human Being, 2000, 120 Fotografien (Ausschnitt)

Doch jenseits solcher komplexen theoriegeleiteten Denkfiguren entsteht die Person Pipilotti Rist vor der Folie des Feminismus auch ganz handfest: in der Abgrenzung vom Klischee der Feministin als einer »unattraktiven, dominanten und humorlosen

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Frau.«34 Auf visueller Ebene ist es Rists Erscheinungsbild und Auftreten – sowohl in den Medien als auch als Protagonistin ihrer Arbeiten –, das eine deutliche Stellungnahme abgibt. Die Fotocollage Me As a Human Being aus dem Jahre 2000 gibt einen Überblick über Pipilotti Rists »Looks« der letzten Jahre. (Abb. 2) Rist hat 120 Porträtfotos gleichen Formats Bildkante an Bildkante symmetrisch zu einem Rechteck arrangiert, die, laut Bildtitel, sie selbst als Mensch zeigen. Die Verschiedenheit der Aufnahmen fasziniert und verblüfft: Die strahlendschöne, perfekt geschminkte und gut ausgeleuchtete Dame mit den blaugrauen Haaren soll die gleiche sein wie die junge Frau auf dem Schwarzweißfoto, die ungeschminkt und ungekämmt recht ernst und etwas müde in die Linse des Fotofix-Automaten blickt? Und diese ist wiederum mit jener Frau identisch, die, im John-LennonLook, unter einem dunkelbraunen Bubikopf durch eine blau getönte Brille schaut? Die »schönen« Porträtfotos sind deutlich in der Überzahl und legen nahe, dass nicht nur Rists Arbeiten fröhlich, bunt und sinnlich daherkommen, sondern auch die Künstlerin selbst nicht zur Fraktion der strengen und verbitterten Frauen mit lila Halstuch und Strickpullover gehört – um im Klischee zu bleiben. Post-Feminismus wäre auf dieser Ebene die Lust an Verkleidung und Stilwechsel, an bunt-leuchtenden Kleidungsstücken und wechselnden Haarfarben sowie ein offensives Präsentieren der eigenen Weiblichkeit und das Bekenntnis »schön« sein zu wollen. Dass dieser Wunsch mit einer gehörigen Portion Selbstironie versehen ist, daran lassen auch andere Fotografien keinen 34 | Jessica Morgan: »Un-Amerikanisch, aber Post-Britisch«, in: Die Wohltat der Kunst. Post/Feministische Positionen der neunziger Jahre aus der Sammlung Goetz. Ausst.-Kat. Sammlung Goetz/Kunsthalle Baden-Baden, hg. von Rainald Schumacher/Matthias Winzen, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2002, S. 25-36, hier S. 26.

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Abbildung 3: Pipilotti Rist: Selbstporträt (Fotografie)

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Zweifel: Ein gut ausgeleuchtetes »Star-Porträt«35 (Abb. 3) der Künstlerin zeigt sie perfekt geschminkt mit großen blauen Augen – Ton in Ton mit den in die Stirn fallenden Pony-Fransen – in die Kamera blickend. Pipilotti Rist als strahlendes Cover-Girl – wäre da nicht dieses lächerliche Propellerhütchen aus Pappmaschee auf ihrem Kopf, auf dem in groben Pinselstrichen »Dernier cri«, der letzte Schrei, gemalt ist und das so mit Worten den modischen Gehalt dieses Accessoires zu beglaubigen versucht. Auf verbaler Ebene klingt diese Positionierung Pipilotti Rists wie folgt: »Ich freue mich, daß ich eine Frau bin. […] Ich finde Geschlechterdifferenz supergut […] die ganze angewandte Frauenkultur, Schminken, Schmücken, Verhüllen […] Feminismus ist für mich ein Kampf um gleiche Rechte und gleiche Löhne.«36

Sie ist also Post-Feministin insofern, als sie sich von Erscheinungsbild und Auftreten der Klischee-Feministin deutlich abgrenzt, dabei aber zugleich Relevanz und Ziele eines gesellschaftspolitisch engagierten Feminismus unterstützt. Mit dieser Kommunikation des »Sowohl-als-auch« hängt es zusammen, dass Rist sowohl in feministischen Kontexten als auch in der Welt der Mode und Popkultur Diskussionsgegenstand ist. Paradigmatisch hierfür ist die Tatsache, dass fast zeitgleich Beiträge über die Künstlerin in den Zeitschriften Emma und Vogue er35 | Das Porträt ist unter anderem in Pipilotti Rists Künstlerbuch »Himalaya« abgedruckt. Dort ist es kombiniert mit einem anderem Rist-Porträt, das sie unfrisiert und ungeschminkt zeigt, so dass der aus Frauenzeitschriften bekannte Stil des »Vorher-Nachher-Bildes« assoziiert wird. Ausst.-Kat. Himalaya: Pipilotti Rist, 50 kg. Kunsthalle Zürich/Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris. Köln: Oktagon 1999, o. S. 36 | M. Babias: Ich freue mich, daß ich eine Frau bin, o. S.

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schienen: 1998 ein großer Beitrag in der von Alice Schwarzer herausgegebenen feministischen Zeitschrift Emma und ein Jahr später in dem Mode- und Lifestyle-Hochglanzmagazin Vogue. Im System der Wissenschaft wird mitunter jene epistemologische Wende in der Geschlechterforschung mit Post-Feminismus belegt, die sich seit den 90er Jahren vollzieht: Nicht nur der Begriff der »Frau« wird als Identitätskategorie und Sammelbegriff in Zweifel gezogen, auch der Vorstellung eines fixen biologischen Geschlechts und dem zuvor etablierten Sex-Gender-System wird nun misstraut.37 Die so genannte heterosexuelle Matrix »subversiv zu unterlaufen« wird nun – spätestens nach Butlers Lob der Travestie – zur Königsdisziplin erhoben; auch in der Kunst. Pipilotti Rists Wandlungsfähigkeit liegt ganz auf dieser Linie – während ihrer Zeit als künstlerische Leiterin der Schweizer Expo favorisierte sie sogar ein absolut männliches Erscheinungsbild: mit kurzen braunen Haaren und in Helmut LangAnzügen. Während Rist also aus dieser Perspektive eine PostFeministin par excellence ist, widerspricht jedoch ihre Äußerung »ich finde Geschlechterdifferenz supergut« der Gleichheitsutopie, die auch einem wissenschaftlichen Post-Feminismus nach wie vor zugrunde liegt. Oder vielleicht doch nicht? Denn schließlich sagt sie dies als eine Person, die als Künstlerin Werke produziert, die diese Differenz humorvoll überzeichnen und subvertieren. Interessant ist nun, dass die Programme einer wissenschaftlichen Geschlechterforschung und des Kunstsystems Korrespondenzen eingehen. Die wissenschaftliche Kritik an einer stark abgrenzenden Frauenförderung und -forschung wird in Bezug auf 37 | Eva Waniek/Silvia Stoller: »Verhandlungen des Geschlechts – Ein Vorwort«, in: Eva Waniek/Silvia Stoller (Hg.): Verhandlungen des Geschlechts: Zur Konstruktivismusdebatte in der Gender-Theorie, Wien: Turia & Kant 2001, S. 7-17, hier S. 12.

2004-04-14 12-33-37 --- Projekt: T197.sozialtheorie.kampmann karentzos küpper / Dokument: FAX ID 01d250073162888|(S. 179-206) T01_10 kampmann.p 50073163232

Was heißt eigentlich Post-Feminismus? | 205

die Kunst umformuliert zur Klage einer Selbst-Isolation der Frauen in der Kunst. Wenn feministische Kunst bedeutet, dass Frauen Kunst über Frauen für Frauen machen, dann wird zu Recht der Vorwurf einer Förderung von »Ausnahmen« (die man ja nicht sein will) erhoben und die geringe Reichweite dieser Kunst wird kritisiert. Deshalb sind kunstwissenschaftliche und -kritische Texte bemüht, die Differenz der Arbeiten Pipilotti Rists zu einer derart sich selbst ghettoisierenden »Frauenkunst« herauszustellen: Sie »thematisiere das eigene Frausein, ohne in der Schublade Frauenkunst zu landen«, verfolge »keine primär weibliche, sondern eine künstlerische Strategie«38 und überhaupt würden ihre Arbeiten sowohl Männern als auch Frauen Identifikation ermöglichen.39 Abbildung 4: Produktionsprozess von Pipilotti Rist: Ever Is Over All, 1997 in Zürich

38 | Christoph Doswald: »Pip-Pop II«, in: Ausst.-Kat. Hannah Villiger, Pipilotti Rist. 22. Biennale von Sao Paulo 1994, Baden 1994, S. 28; S. 32. 39 | Ulf Erdmann Ziegler: Art in America, June (1998), S. 82.

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206 | Sabine Kampmann

Ach ja, ist sie denn nun selbst das elfengleiche Geschöpf in dem Video Ever Is Over All? Wohl wissend um den personality appeal40 des Künstlerkörpers im Werk, gibt uns Pipilotti Rist im Anhang eines ihrer Kataloge die Antwort. (Abb. 4) Unter einer kleinen und unscharfen Abbildung zum Entstehungsprozess von Ever Is Over All ist zu lesen: »l. to r., Silvana Ceschi, Pipilotti Rist« – Rist ist also die dunkel gekleidete Person mit Mütze, Brille und Kamera auf der rechten Seite. Na, dann ist ja alles gut – auch das Video.

40 | M. Babias: Ich freue mich, daß ich eine Frau bin, o. S.

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Zu den Autorinnen und Autoren | 207

Zu den Autorinnen und Autoren

Natalie Binczek, wissenschaftliche Assistentin im Fach Germanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte zur Literatur-, Film- und Medientheorie sowie zur Geschichte der Sinne seit dem 17. Jahrhundert. Buchpublikationen u.a.: »Eigentlich könnte alles auch anders sein« (Mithg. 1998); »…sie wollen eben sein, was sie sind, nämlich Bilder.« Anschlüsse an Chris Marker (Mithg. 1999); Im Medium der Schrift. Zum dekonstruktiven Anteil in der Systemtheorie Niklas Luhmanns (2000); diverse Aufsätze in Fachzeitschriften und Sammelbänden. Bettina Gruber, PD an der Ruhr-Universität Bochum, Habilschrift: Die Seherin von Prevorst. Romantischer Okkultismus als Religion, Wissenschaft und Literatur (2000); Vertretungs- und Gastprofessuren in Deutschland, Österreich und den USA, komparatistische und germanistische Veröffentlichungen vom 17. Jh. bis zur Gegenwart, kulturwissenschaftliche Schwerpunkte (Epistemologie, Literatur und Religion, Gender).

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208 | Gender Studies und Systemtheorie

Kai-Uwe Hellmann, geb. 1962, Promotion 1995 an der FU Berlin, Habilitation 2003 am Institut für Soziologie der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg, zur Zeit Vertretungsprofessur am Fachbereich 1 Soziologie der Universität Duisburg-Essen, Standort Essen. Zuletzt erschienen: Sind wir eine Gesellschaft ohne Moral? Soziologische Anmerkungen zum Verbleib der Moral in der Moderne, in: Ulrich Willems (Hg.): Interesse und Moral als Orientierungen politischen Handelns (2003); Soziologie der Marke (2003). Sabine Kampmann, geb. 1972, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, arbeitet an einer Dissertation zum Thema »Konzepte von Autorschaft in der Kunst der Gegenwart«. Zuletzt erschienen: Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst (Mithg. 2003); Gender Identity and Authorship. Eva & Adele – just about »Over the Boundaries of Gender«, in: Eva & Adele. Day by Day-Painting (Ausst.-Kat. 2003). Alexandra Karentzos, geb. 1972, Promotion 2002, wissenschaftliche Assistentin an den staatlichen Museen zu Berlin und Lehrbeauftragte für Kunstwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Arbeitsschwerpunkte: Kunst des 19. bis 21. Jahrhunderts mit dem Fokus auf geschlechtergeschichtliche und medientheoretische Fragestellungen. Zuletzt erschienen: Körperproduktionen. Zur Artifizialität der Geschlechter (Mithg. 2002); Parastou Forouhar: Tausendundein Tag (Ausst.-Kat. Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof 2003). Thomas Küpper, geb. 1970, Promotion 2001 an der Fakultät für Philologie der Universität Bochum, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater-, Film und Medienwissenschaft der Universität Frankfurt/Main. Zuletzt erschienen: Medien und

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Zu den Autorinnen und Autoren | 209

Ästhetik. Festschrift für Burkhardt Lindner (Mithg. 2003); Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm von 1750 bis 1850 (2004). Dagmar Steinweg, Studium der Russistik und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum, Promotion 2002. Zuletzt erschienen: Zwischen Anachronismus und Fortschritt. Modernisierungsprozesse und ihre Interferenzen in der russischen und sowjetischen Kultur des 20. Jahrhunderts (Mithg. 2001); Schlüssel zum Glück und Kreuzwege der Leidenschaften – Untersuchungen zur russischen populären Frauenliteratur am Beispiel der Autorinnen Anastasija Verbickaja und Evdokija Nagrodskaja (2002). Christine Weinbach, geb. 1966, Promotion an der Universität Bielefeld zur »Geschlechterdifferenz aus der Perspektive der Systemtheorie nach Niklas Luhmann«, zurzeit beschäftigt im DFG-Forschungsprojekt »Krisen politischer Inklusion. Zur Form des modernen Staates«, Universität Bielefeld. Zuletzt erschienen: Systemtheorie und Gender. Das Geschlecht im Netz der Systeme (2004); Zur Genealogie des politischen Raums. Staats- und Politikkonzepte (Mithg. 2004).

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210 | Zu den Abbildungen

Zu den Abbildungen

Zu Dagmar Steinweg: Der Tanz ums Triviale Abb. 1: A. Jakovleva: Poceluj poslosti (Der Kuss der poslost’), Satirikon 6 (1910), Titelseite. ^

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Zu Alexandra Karentzos: Manifest für Ironiker/innen Abb. 1: Kara Walker: Geschenkpapier, in: DIE ZEIT, Nr. 51 vom 11. Dezember 2003, S. 56f. Abb. 2: Ebd. (Detail) Zu Sabine Kampmann: Was heißt eigentlich Post-Feminismus? Abb. 1: Himalaya: Pipilotti Rist, 50 kg. Ausst.-Kat. Kunsthalle Zürich/Museé d’Art Moderne de la Ville de Paris, Köln: Oktagon 1999, o. S. Abb. 2: Peggy Phelan/Hans Ulrich Obrist/ Elisabeth Bronfen: Pipilotti Rist. London/New York: Phaidon 2001, S. 6. Abb. 3: Himalaya: Pipilotti Rist, 50 kg. Ausst.-Kat. Kunsthalle Zürich/Museé d’Art Moderne de la Ville de Paris, Köln: Oktagon 1999, o. S. Abb. 4: Peggy Phelan/Hans Ulrich Obrist/ Elisabeth Bronfen: Pipilotti Rist. London/New York: Phaidon 2001, S. 151.

2004-04-14 12-33-38 --- Projekt: T197.sozialtheorie.kampmann karentzos küpper / Dokument: FAX ID 01d250073162888|(S. 210

) T01_12 abbildungen.p 50073163248

Die Titel dieser Reihe:

Hannelore Bublitz

Gabriele Klocke

In der Zerstreuung

Über die Gleichheit

organisiert

vor dem Wort

Paradoxien und Phantasmen

Sprachkultur im geschlossenen

der Massenkultur

Strafvollzug

Juni 2004, ca. 150 Seiten,

April 2004, 350 Seiten,

kart., ca. 14,80 €,

kart., 26,80 €,

ISBN: 3-89942-195-7

ISBN: 3-89942-201-5

Gabriele Klein (Hg.)

Barbara Zielke

Bewegung

Kognition und soziale Praxis

Sozial- und kulturwissenschaft-

Der Soziale Konstruktionismus

liche Konzepte

und die Perspektiven einer

Mai 2004, ca. 300 Seiten,

postkognitivistischen

kart., ca. 26,80 €,

Psychologie

ISBN: 3-89942-199-X

April 2004, 376 Seiten, kart., 29,80 €,

Peter Fuchs

ISBN: 3-89942-198-1

Theorie als Lehrgedicht Systemtheoretische Essays I.

Bettina Heintz, Martina Merz,

hg. von Marie-Christin Fuchs

Christina Schumacher

Mai 2004, ca. 200 Seiten,

Wissenschaft, die Grenzen

kart., ca. 22,80 €,

schafft

ISBN: 3-89942-200-7

Geschlechterkonstellationen im disziplinären Vergleich

Sabine Kampmann,

April 2004, 320 Seiten,

Alexandra Karentzos,

kart., 26,80 €,

Thomas Küpper (Hg.)

ISBN: 3-89942-196-5

Gender Studies und Systemtheorie

Sven Lewandowski

Studien zu einem

Sexualität in den Zeiten

Theorietransfer

funktionaler Differenzierung

April 2004, 212 Seiten,

Eine systemtheoretische

kart., 22,80 €,

Analyse

ISBN: 3-89942-197-3

März 2004, 340 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-210-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2004-04-14 12-33-39 --- Projekt: T197.sozialtheorie.kampmann karentzos küpper / Dokument: FAX ID 01d250073162888|(S. 211-212) anzeige kampmann et al.p 500731632

Die Titel dieser Reihe:

Sandra Beaufaÿs

Christian Papilloud

Wie werden Wissenschaftler

Bourdieu lesen

gemacht?

Einführung in eine Soziologie

Beobachtungen zur

des Unterschieds

wechselseitigen Konstitution

Mit einem Nachwort von Loïc

von Geschlecht und

Wacquant

Wissenschaft

2003, 122 Seiten,

2003, 300 Seiten,

kart., 13,80 €,

kart., 25,80 €,

ISBN: 3-89942-102-7

ISBN: 3-89942-157-4

Theresa Wobbe (Hg.) Zwischen Vorderbühne und

Peter Fuchs Der Eigen-Sinn des

Hinterbühne

Bewußtseins

Beiträge zum Wandel der

Die Person – die Psyche – die

Geschlechterbeziehungen in

Signatur

der Wissenschaft vom 17.

2003, 122 Seiten,

Jahrhundert bis zur

kart., 12,80 €,

Gegenwart

ISBN: 3-89942-163-9

2003, 312 Seiten, kart., 25,80 €,

Martin Ludwig Hofmann

ISBN: 3-89942-118-3

Monopole der Gewalt Mafiose Macht, staatliche

Julia Reuter

Souveränität und die

Ordnungen des Anderen

Wiederkehr normativer Theorie

Zum Problem des Eigenen in

2003, 274 Seiten,

der Soziologie des Fremden

kart., 25,80 €,

2002, 314 Seiten,

ISBN: 3-89942-170-1

kart., 25,80 €, ISBN: 3-933127-84-X

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2004-04-14 12-33-39 --- Projekt: T197.sozialtheorie.kampmann karentzos küpper / Dokument: FAX ID 01d250073162888|(S. 211-212) anzeige kampmann et al.p 500731632