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German Pages 464 Year 2015
Bettina Hitzer, Thomas Welskopp (Hg.) Die Bielefelder Sozialgeschichte
Histoire | Band 18
Bettina Hitzer (Dr. phil.) arbeitet am Forschungsbereich »Geschichte der Gefühle« des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Thomas Welskopp (Prof. Dr. phil.) ist Professor für die Geschichte moderner Gesellschaften an der Universität Bielefeld und Sprecher der Bielefeld Graduate School in History and Sociology.
Bettina Hitzer, Thomas Welskopp (Hg.)
Die Bielefelder Sozialgeschichte Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Dank | 9
I.
E INFÜHRUNG Einleitung der Herausgeber: Die „Bielefelder Schule“ der westdeutschen Sozialgeschichte. Karriere eines geplanten Paradigmas? Bettina Hitzer/Thomas Welskopp | 13 Einführung in die Texte der Edition Bettina Hitzer/Thomas Welskopp | 33
II.
P ROGRAMMATISCHE AUFBRÜCHE Kehr, Der Primat der Innenpolitik. Einleitung Hans-Ulrich Wehler | 65 Geschichte und Gesellschaft. Vorwort der Herausgeber Helmut Berding, Wolfgang J. Mommsen, Hans-Jürgen Puhle, Hans-Ulrich Wehler | 91 Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vorwort Hans-Ulrich Wehler | 95 Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Einleitung Hans-Ulrich Wehler | 101
III. S OZIALGESCHICHTE ALS STRUKTURANALYTISCHER
ZUGANG
Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte Theodor Schieder | 137 Struktur und Persönlichkeit als methodologisches Problem der Geschichtswissenschaft Jürgen Kocka | 167
IV. T HEORIEORIENTIERUNG UND M ODERNISIERUNGSTHEORIE Modernisierungstheorie und Geschichte Hans-Ulrich Wehler | 185
V.
„K AISERREICH“ UND „S ONDERWEG“ Das deutsche Kaiserreich 1871-1918. Einleitung Hans-Ulrich Wehler | 255 Nach dem Ende des Sonderweges. Zur Tragfähigkeit eines Konzepts Jürgen Kocka | 263
VI. N EUERE HERAUSFORDERUNGEN UND REAKTIONEN 1.
Begriffsgeschichte Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte Reinhart Koselleck | 279 Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Rezension Jürgen Kocka | 297
2.
Alltagsgeschichte Einleitung. Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte? Alf Lüdtke | 303 Alltagsgeschichte. Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen? Hans-Ulrich Wehler | 337
3.
Frauen- und Geschlechtergeschichte Kontroversen um Frauengeschichte Jürgen Kocka | 363 Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte Karin Hausen | 371
4.
„Neue Kulturgeschichte“ „Kultur“ und „Gesellschaft“. Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte Ute Daniel | 393 Ein Kursbuch der Beliebigkeit. Eine neue Kulturgeschichte lässt viele Blumen blühen – aber die schönsten leider nicht Hans-Ulrich Wehler | 427 Historische Sozialwissenschaft. Eine Zwischenbilanz nach dreißig Jahren Hans Ulrich Wehler | 433
VII. ANHANG Zitierte und weiterführende Literatur | 445 Register | 455
Dank
Jörn Rüsen regte dieses Projekt ursprünglich an, um ein chinesisches Publikum mit der Sozialgeschichte Bielefelder Prägung bekannt zu machen. Dieses Projekt zerschlug sich. Doch nun waren wir überzeugt, dass eine Sammlung wichtiger programmatischer Texte um und über die westdeutsche Sozialgeschichte der 1970er und 1980er Jahre auch einer deutschen Leserschaft hoch willkommen sein würde. Denn die verstreut publizierten theoretischen Beiträge zur Sozialgeschichte werden in unserer Edition nicht nur für den praktischen Gebrauch zusammengeführt, sondern durch Einführungen und Kommentare in die damalige Diskussionslandschaft eingeordnet. Für aktuelle und künftige Studierendengenerationen scheint nur dadurch eine Chance gegeben, die von Mythen umwobene „Bielefelder Schule“ mehr als nur dem Namen nach kennen zu lernen. Glücklicherweise hat der Bielefelder transcript Verlag unser Projekt auch zu dem seinem gemacht. Unsere Zusammenarbeit ist erfreulich vertrauensvoll und konstruktiv verlaufen. Ohne die Einwilligung und Konzessionsbereitschaft der Rechteinhaber an den Texten wäre diese Edition nicht möglich gewesen. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Großer Dank gebührt auch Christian Schemmert von der Universität Bielefeld, der sich unermüdlich und, wenn nötig, hartnäckig um die Einholung der Abdruckrechte verdient gemacht hat. Auf Berliner Seite hat Marie Schubenz vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zum Gelingen dieses Projekts in vielfacher Hinsicht beigetragen. Überhaupt hat sich die Berlin-Bielefelder Kooperation, zumeist auf elektronischem Wege, bestens bewährt. Henning Kampherbeck und Christian Möller, beide von der Universität Bielefeld, haben die Konvertierung, Korrektur und Formatierung der Texte eigenverantwortlich übernommen und überaus rasch und präzise erledigt. Dafür sagen Verlag und Herausgeber herzlichen Dank. Die Originaltexte wurden im Wesentlichen unverändert übernommen (Rechtschreibung, Zitation, Auszeichnungen etc.); nur die Anführungen wurden vereinheitlicht. Die weiterhin höchst präsenten und aktiven ehemaligen „Bielefelder“ mögen dem vorliegenden Versuch einer Historisierung vielleicht mit ein wenig Unbehagen oder gar Unwillen begegnen, denn wer will sich schon gern historisieren lassen. Doch signalisiert eine Edition „klassischer Texte“
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auch bleibende Wirkung und Bedeutung. Und schließlich hoffen wir, dass diese Textausgabe nicht zuletzt als Geste der Wertschätzung verstanden werden wird, denn als solche haben wir sie – über die historische Einordnung hinaus – auch gedacht.
Berlin und Bielefeld, im Juni 2010 Bettina Hitzer und Thomas Welskopp
I. Einführung
Einleitung der Herausgeber: Die „Bielefelder Schule“ der westdeutschen Sozialgeschichte Karriere eines geplanten Paradigmas? B ETTINA H ITZER /T HOMAS W ELSKOPP
Historiker lassen sich ungern selbst historisieren. Diese Erfahrung macht man auch, wenn man sich auf die Spur der „Bielefelder Schule“ begibt, einer der einflussreichsten Strömungen in der bundesdeutschen Sozialgeschichte nach 1945, deren Aufschwungphase in die Zeit zwischen der Gründung der Reformuniversität Bielefeld (1969) und dem Wechsel Jürgen Kockas an die Freie Universität Berlin (1988) fällt. Zwar kann man nach der Lesart interessierter Kommentatoren offenbar „Bielefelder“ Sozialgeschichte seitdem auch in Berlin schreiben, oder in Bochum, Tübingen, Freiburg, Köln, Genf, Oldenburg, Florenz sowie an der Yale University in New Haven, Connecticut. Daran mag man den Verlust des Zentrums beklagen oder auch die geglückte Expansion in die Peripherie feiern. Ihre Bielefelder Nachfolger jedenfalls zehren in der Konkurrenz der deutschen Hochschulen untereinander kräftig von ihrem weiterwirkenden Ruf, der in den Lagern einstiger und heutiger Gegner freilich immer noch eher als obsessiver Reflex widerhallt. Allerdings haben sie aus der einst höchst „realen“, programmatisch und ideologisch kämpferischen Ortsgruppe aus Ostwestfalen eine in erster Linie nur noch werbewirksame „symbolische“ Lokalmarke gemacht – mit der für viele Markenzeichen typischen Vergessenheit gegenüber der eigenen Geschichte.1 Von den damaligen Protagonisten hört man dagegen ein freimütiges Bekenntnis zur „Bielefelder Schule“ selten. Natürlich ist die Sozialgeschichte unter dieser Bezeichnung nie eine Kaderschmiede gewesen, die ihre Mitglieder, Schüler und Leser auf eine disziplinierte ideologische Gefolgschaft eingeschworen hätte. Aber im Rückblick drohen manchmal die Konturen übermäßig zu verschwimmen: Alles sei nur ein lockerer Zusammenhang gewesen, man habe eigentlich viel „Bricolage“ betrieben und zu einer „sozi-
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algeschichtlichen Interpretation der allgemeinen Geschichte (Gesellschaftsgeschichte)“ allenfalls „Bausteine“ beigesteuert.2 Solche bescheidene Zurückhaltung hat sicher ihre Gründe, die ihrerseits in der Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung zu suchen sind: Da äußert sich der den Historikern ureigene Individualismus, den man auch unter solch prominente und erfolgreiche Gruppe nicht subsumiert sehen will. Da ist zweitens die Tatsache in Rechnung zu stellen, dass zuallererst die Gegner den Begriff geprägt haben – voll Ironie, als maße sich die Bielefelder Sozialgeschichte an, so etwas wie das historisch-empirische Pendant zur intellektualistischen „Frankfurter Schule“ zu verkörpern.3 Drittens hat man vor allem im Ausland bis weit in die 1980er Jahre – und dies fast durchweg in sympathisierender Anteilnahme – die „Bielefelder Schule“ als Synonym für die westdeutsche Sozialgeschichte wahrgenommen, nicht zuletzt wegen Georg G. Iggers’ einflussreichen Bestandsaufnahmen der westdeutschen Historiografie, die diese in den angelsächsischen Ländern bekannt machten.4 Eine andere Begriffsgeschichte weist nämlich den amerikanischen Wirtschaftshistoriker Gerald D. Feldman aus Berkeley als Urheber der Bezeichnung aus, im Sinne eines respektvollen Kompliments. Und schließlich steht hinter solch einer Zurücknahme das Selbstbewusstsein, dass eine erweiterte sozialgeschichtliche Perspektive, dass Theorieorientierung, Methodenbewusstsein und viele der hier geprägten und vertretenen Inhalte längst Eingang in den historiografischen Mainstream sowie in Schulbücher und Gesamtdarstellungen gefunden haben.5 Die Sozialgeschichte sowohl in einem weiteren als auch in einem engeren, die „Bielefelder Schule“ und ihr Umfeld meinenden Sinne, hat sich zu einer Säule des historiografischen und akademischen Establishments mit anerkanntem internationalen Standing entwickelt. Zumindest darüber besteht allgemeiner Konsens, mag der auch in manchen Teilen der Republik immer noch eher zähneknirschend bestätigt werden. Doch gerade dieser Status des Arrivierten drängt geradezu zu einem historischen Rückblick auf die Anfänge, die Durchsetzungsphase und die Behauptungsversuche einmal eroberten Territoriums. Denn wenn man die Texte aus der Frühzeit ihrer steilen Karriere liest, erschließt sich die Neigung zur retrospektiven Weichzeichnerei nicht unbedingt – oder auch nur zu gut. Es lässt sich nämlich mit guten Gründen argumentieren, dass die „Bielefelder Schule“ ihre Prominenz im deutschen Geschichtsdiskurs und ihre enorme internationale Ausstrahlungskraft gerade ihrem Mut zur Zuspitzung und ihrem kämpferischen, manchmal wenig zimperlichen Auftreten zu verdanken hat. Es ist allerdings nicht ganz leicht, das Phänomen „Bielefelder Schule“ aus dem Gestrüpp von Selbststilisierungen und Fremdzuschreibungen exakt herauszulösen. Das beginnt bereits damit, genau zu identifizieren, wer denn in den entscheidenden Jahren der „Bielefelder Schule“ eigentlich angehörte. Allzu schnell ist man bei den Namen Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka gelandet, obwohl ein näherer Blick auf die beiden doch auch gravierende Unterschiede in ihren Zielsetzungen und Arbeitsprogrammen zutage fördert.
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Reinhart Koselleck war mit Sicherheit eine Hauptfigur, aber er bezog immer auch innerhalb der Bielefelder Fakultät eine unverwechselbare Sonderstellung, erst recht in seinen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen.6 Hans-Jürgen Puhle lehrte während dieser Zeit in Bielefeld und gehörte sicherlich zur Kerngruppe, eine Reihe von Bielefelder Schülerinnen und Schülern der 1970er und frühen 1980er Jahre ebenfalls, so etwa Christiane Eisenberg, Claudia Huerkamp, Ute Frevert, Karl Ditt, Michael Prinz, Heinz Reif und Josef Mooser. Jedoch verdankte sich die Breitenwirkung dieser Form der westdeutschen Sozialgeschichte bei weitem nicht allein der Schlagkraft ihrer in Ostwestfalen damals tatsächlich residierenden Kernformation.7 Genauer lässt sich die Wirkung und Ausstrahlung der „Bielefelder Schule“ aus ihrer einzigartigen Kombination von Vernetzungsleistungen und Zuspitzungsbereitschaft herleiten. Mit vielfältigen Aktivitäten setzte sich Bielefeld ins geografische Zentrum überlappender, aber z.T. nur locker verkoppelter Diskussionszusammenhänge: Man nutzte persönliche Kontakte zur Lehrergeneration und ins Ausland, initiierte wichtige Konferenzen, häufig als programmatischer Auftakt zu groß angelegten kollektiven Forschungsprojekten, die alles andere als auf Bielefeld beschränkt blieben, und nutzte die frühe Mitgliedschaft in prominenten Forschungsinstitutionen wie dem 1957 von Werner Conze in Heidelberg gegründeten Arbeitskreis für Moderne Sozialgeschichte als Forum für eine unverwechselbare Profilbildung. Dazu kamen rasch einflussreiche Publikationsreihen wie die (in Göttingen seit 1972 erscheinenden) Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft und wissenschaftliche Periodika wie die 1975 ins Leben gerufene Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft. Dieses ausgreifende Geflecht von wissenschaftlichen Kontakten, Institutionen und Diskussionsforen unterstand keineswegs einem zentralen ostwestfälischen Kommando, aber die Bielefelder zeichneten sich dadurch aus, dass sie in sämtlichen Zusammenhängen vertreten waren und in strategisch wichtigen federführend wirkten. Die übrigen, nicht nur über das Bundesgebiet, sondern weit über ganz Westeuropa und Nordamerika zerstreuten Teilnehmer mochten in vielen oder auch nur einigen Punkten mit den Positionen des Bielefelder „Kerns“ übereinstimmen. Zumeist erwiesen sich die Zonen der Gemeinsamkeiten aber als ausgedehnt genug, um von den Initiativen, die von diesem Kern ausgingen, zu profitieren und seine enorme Energie zu weitergehender Vernetzung und Eigenprofilierung zu nutzen.8 Diese Diskussionszusammenhänge gab es auf mindestens sieben Ebenen, was dem filigranen Netzwerk engmaschige Stabilität verlieh: Erstens waren sie Teil oder Reflex einer Generationenerfahrung, die bei wenigen auf eigenes Kriegserleben (Reinhart Koselleck, Gerhard A. Ritter) oder das Trauma der Emigration (Hans Rosenberg) gründete, bei den meisten aber auf persönliche und familiäre Prägungen durch Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg zurückging. Der lebensweltlich wie politisch motivierte Drang zur Auseinandersetzung mit dieser gerade erst vergangenen und vielfältig weiterwirkenden düstersten Epoche der deutschen Geschichte verband
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diese Gruppe. Dazu kam bei erstaunlich vielen die Berührung mit der (Wissenschafts-)Kultur, der Gesellschaft und der Politik der Vereinigten Staaten von Amerika, in der Form von Stipendien, Studienaufenthalten, Forschungsreisen und (vor allem später) Gastprofessuren.9 Man kann darin eine entscheidende Horizonterweiterung vermuten, die die politische Position dieser Gruppe – bei allen weitergehenden Unterschieden im einzelnen – zwar deutlich gesellschaftskritisch färbte, sie aber zugleich fest an das Konzept des „Westens“ band, anders als das bei der Rechten im weitesten Sinne und der Neuen Linken in der Studentenbewegung um 1968 der Fall war. Auf diese Weise ließen sich harsche Traditionskritik und positive Loyalität, kritische Kapitalismusanalyse und Modernisierungsbejahung miteinander verbinden. Man stand fest zur Bundesrepublik Deutschland, gerade auch in Abgrenzung zum dogmatisch marxistisch-leninistischen „anderen“ Deutschland der DDR. Aber diese Treue zur neuen Republik verstand man zugleich als Auftrag, die in dieser Bundesrepublik noch verkrustet erscheinenden Verhältnisse aufzubrechen und zu reformieren, dem Gemeinwesen zu einer demokratisch-politischen und sozialstaatlichen Modernisierung zu verhelfen, die ihm das wirkliche und dauerhafte „Ankommen“ im Lager des „Westens“ ermöglichen sollte.10 Damit verbunden war zweitens die Entscheidung, die Traditions- und Gesellschaftskritik zwar engagiert und aktiv in die politische Öffentlichkeit zu tragen, dies aber weniger im Stil eines (partei-)politischen Aktivismus wie viele, meist etwas jüngere Vertreter der Studentenbewegung, sondern als Historiker, d.h. vom Boden der Fachwissenschaft aus. Mit dem Begriff der gesellschaftlichen „Relevanz“ versuchte diese Generation, politische Aufklärungsarbeit im Geiste einer engagierten, kritischen Geschichtswissenschaft zu leisten. Deren methodologische Standards sollten nicht durch oberflächliche Politisierung verwässert („Parteilichkeit“), sondern im Gegenteil durch einen interessengeleiteten, bewusst und offen wertbezogenen Diskurs theoretisch geschärft und politisch zum Einsatz gebracht werden. Eine Voraussetzung dafür war, dass zahlreiche Vertreter dieser Generation tatsächlich dauerhaft in die Fachwissenschaft, d.h. die universitäre Geschichtswissenschaft gingen, obwohl manche ursprünglich eine andere Karriere vor Augen gehabt hatten – als Lehrer (Hartmut Kaelble) oder Journalist (Jürgen Kocka) oder wie Hans und Wolfgang J. Mommsen, die wegen der zermürbenden Auseinandersetzungen um die Rolle ihres Vaters im Nationalsozialismus zunächst als Germanistik- und Physikstudenten an die Universität kamen.11 Natürlich waren außergewöhnliche Bedingungen die Voraussetzung dafür, dass es ganzen Freundeskreisen tatsächlich gelang, schnell und auf Dauer im Wissenschaftsbetrieb unterzukommen (wie etwa Karin Hausen, Jürgen Kocka, Hartmut Kaelble und Hans-Jürgen Puhle in Berlin) und damit aus dem gemeinsamen wissenschaftlich-politischen Anliegen ein institutionelles Generationennetzwerk zu schaffen. Eine zweite, bisher historiografiegeschichtlich noch nicht systematisch untersuchte Voraussetzung für die breite öffentliche Wahrnehmung dieser aufsteigenden
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Historikergeneration war darüber hinaus, dass zeitgleich genügend politischhistorische Mitstreiter gleichen Alters in den für den bundesrepublikanischen Diskurs zentralen Medien in Positionen einrückten, von denen aus sie den Sozialhistorikern als Historikern ein politisch-intellektuelles Forum bieten konnten. Dass wichtige Historikerkontroversen in den 1970er und 1980er Jahren in überregionalen Tageszeitungen, Wochenschriften und Nachrichtenmagazinen ausgefochten wurden, trug entscheidend zur Profilschärfung der „Bielefelder“ Positionen, aber auch zum schneidendpolemischen Stil dieser Auseinandersetzungen bei – wohlgemerkt, vom Boden der Fachwissenschaft aus.12 Fraglos konnte diese verbundweise Etablierung einer jüngeren Generation von Sozialhistorikerinnen und Sozialhistorikern in der universitären Geschichtswissenschaft drittens eben nur unter den besonderen Bedingungen einer energischen Förderung einerseits und der historisch singulären Expansion des bundesdeutschen Hochschulsystems zwischen den späten 1960er und den frühen 1970er Jahren andererseits erfolgen.13 Auch wenn diese jüngere Generation von Sozialhistorikern später die Abgrenzung betonen sollte, war der Weg einer breit verstandenen „Sozialgeschichte“ in den nach wie vor eng politikgeschichtlich dominierten Mainstream der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft schon von den „Strukturhistorikern“ nach 1945 freigekämpft, allen voran von Werner Conze und Theodor Schieder. Auch wenige andere Vorläufer wie u.a. Hans Rosenberg, der zurückgekehrte Emigrant, oder Gerhard A. Ritter, der als Schüler des liberalen Historikers Hans Herzfeld an der Freien Universität Berlin eine Mittlerstellung zwischen den Generationen einnahm, setzten sich von institutionell gefestigter Position aus für eine sozialhistorische Erweiterung des Faches ein.14 Schieder, Conze und Gerhard A. Ritter leiteten nacheinander zwischen 1967 und 1980 den Verband der Historiker Deutschlands, die wichtigste Berufsvereinigung in der „Zunft“. Wenn man die Karrierewege der in Frage stehenden jüngeren Generation systematisch nachvollzieht, dann zeigt sich, wie eng ihre „Aufstiegsschleuse“ in die akademische Fachwissenschaft der 1960er Jahre eigentlich gewesen ist. So wurde der Weg inhaltlich geebnet und institutionell von den wenigen, aber einflussreichen „Türöffnern“ beschleunigt, der die jüngeren Sozialhistoriker der Bundesrepublik dann nicht immer reibungslos und spannungsfrei, aber im Zuge der Bildungsexpansion doch rasch und fast vollzählig auf universitäre Lehrstühle führte. Nicht zufällig etablierten sich die „neuen Formen“ der Sozialgeschichte früh an neu gegründeten Reformuniversitäten wie Bielefeld oder Bochum. Hier konnte es keinen traditionell verwurzelten konservativen Widerstand gegen das neue „Paradigma“ geben. Die politischen Orientierungen innerhalb dieser Generationengruppe, deren Zentrum dann die „Bielefelder“ Sozialhistoriker bilden sollten, variierten zwar viertens, bewegten sich aber im Grundsatz zwischen einem gemäßigten, zumindest fachlich gezähmten Marxismus und einem schwammigen Randbereich, den Hans-Ulrich Wehler als „liberaldemokratisch“ bezeichne-
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te. Ein Zuordnungskriterium war die Zugehörigkeit zu einer diffusen, in den Worten Heinrich August Winklers „postumen Adenauerschen Linken“.15 Das bedeutete einen deutlichen Linksruck gegenüber der Generation ihrer Lehrer (und gegenüber dem nach wie vor konservativen bis nationalkonservativen Mainstream in der deutschen Geschichtswissenschaft). Damit verbunden waren jedoch auch das leidenschaftliche Bekenntnis zur „Westbindung“ sowie klare Abgrenzungen gegenüber dem verstaatlichten Marxismus-Leninismus der DDR und dem in den Jahren nach 1968 aufblühenden, fachlich aber in anderen Disziplinen wie der Soziologie oder der Politikwissenschaft beheimateten Neomarxismus.16 Obwohl ein beachtlicher Teil dieser Generationengruppe der SPD beitrat, gab es in den meisten ihrer Beiträge zu geschichtlichen und politischen Fragen keinen nachweisbaren parteipolitischen Einschlag. Eher färbte umgekehrt die polarisierende Schärfe der damaligen parteipolitischen Auseinandersetzung auf den Ton der geschichtswissenschaftlichen Debatte ab. Damit verband die Protagonisten über alle Unterschiede hinweg ein politischer Konsens, zu dessen Sprachrohr sich die Bielefelder Fraktion an neuralgischen Punkten des Diskurses zu machen verstand. Analog dazu verhielt es sich, und das ist entscheidend, in theoretischen, methodologischen und inhaltlichen Fragen der (deutschen) Geschichte. Während die Lehrergeneration im Zeichen einer Wiederbelebung des Historismus stand und vor allem Conze und Schieder für eine theoretisch reflektierte Wiederanknüpfung an dessen humanistischen Individualismus plädierten, einte die jüngere Generation der bundesdeutschen Sozialhistoriker fünftens die Suche nach einer „Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus“.17 Das konnte vieles heißen: eine politisch kritischere Form der Geschichtsschreibung, eine Abkehr von der personen- und ideenbezogenen Geschichte „großer Männer“, eine Fokussierung auf den Nationalsozialismus und den Holocaust ebenso wie eine Zuwendung zu einer Sozialgeschichte im weiteren Sinne. Auch wer mit dieser Formel nur die Öffnung gegenüber sozialhistorischen Methoden meinte, die in den angelsächsischen Ländern oder von den Anhängern der französischen Annales-Schule längst praktiziert wurde, konnte sie unterschreiben, ohne sich dem wesentlich ambitionierteren Bielefelder Programm anzuschließen, Geschichte fortan als „Historische Sozialwissenschaft“ zu betreiben, wie Hans-Ulrich Wehler und – vorsichtiger – Jürgen Kocka dies Anfang der 1970er Jahre proklamierten. Anders als in den angelsächsischen Ländern gab es in der deutschen Geschichtswissenschaft (und auch der deutschen Soziologie) keine Tradition des Positivismus, die der Sozialgeschichte dort den Weg im Zuge der fachlichen Spezialisierung gebahnt hatte.18 Anders als in England oder etwas später in den USA existierte in der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft auch kein unabhängiger innerfachlicher Marxismus, der eine eigene Linie hätte vorgeben können, oder eine so eigenwillige Kombination aus Positivismus und Marxismus, wie sie die französische Annales darstellte.19 Auch wenn man sich nur aus einem der oben genannten Gründe von der tra-
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ditionellen Politikgeschichte lossagen wollte, fand man sich in einem Lager wieder, in dem die eloquenteste und am stringentesten ausgearbeitete Stimme im Sinne der „Historischen Sozialwissenschaft“ die Meinungsführerschaft reklamierte. Sechstens propagierte die „Bielefelder Schule“ ein zeitlich und sachlich weit ausholendes Programm: Ausgehend von dem Problem, den „beispiellosen Zivilisationsbruch“ des Nationalsozialismus historisch zu erklären, richtete man einen weitreichenden Blick zurück in die Vergangenheit, der letztlich den gesamten Weg der Deutschen in die Moderne, also das 18. bis 20. Jahrhundert in kritisch-analytischen Augenschein nahm. Es galt, die tief liegenden, über lange Zeitstrecken und verschiedene politische Konstellationen hinweg kontinuierlich wirkenden Strukturbedingungen der deutschen Geschichte im nationenüberschreitenden Vergleich zu identifizieren. Das bedeutete auch, die politischen Krisen und Katastrophen weit ausgreifend aus ihren direkten und indirekten Bedingtheiten in den Bereichen der Ökonomie, der sozialen Ungleichheit, der Sozialisation und kulturellen Integration, schließlich der sozialen Bewegungen herzuleiten, also das Politische aus dem Gesellschaftlichen zu deuten. Hans-Ulrich Wehler hat dieses Programm in seiner persönlichen Zuspitzung der Deutschen Gesellschaftsgeschichte fraglos am konsequentesten eingelöst.20 Aber auch auf der in Umrissen erkennbaren weiter gefassten „Bielefelder Agenda“ bildeten die Betrachtung des „langen 19. Jahrhunderts“ und die Orientierung auf Politik als Fluchtpunkt der Interpretation im Sinne einer „politischen Sozialgeschichte“ die Benchmarks – und das ganz unabhängig davon, ob es um Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte, Unternehmenshistorie, Industrialisierungsforschung, Stadtgeschichte, historische Mobilitätsforschung oder die Geschichte der Interessenverbände und ideologischen Kampforganisationen ging. Zeitgleich hatten sich freilich zahlreiche andere Forschungstendenzen etabliert, die in den vielen von der „Bielefelder“ Langzeit- und Breitbandperspektive miteinander in Verbindung gebrachten Feldern aktiv und auch innovativ waren, ohne deren Kontinuitätsvorstellungen und Syntheseentwürfe notwendig zu teilen bzw. ohne überhaupt weiter- und übergreifende Interpretationsangebote im Auge zu haben. Solche Forschungen erlebten ihre eigene Blüte, einerseits im Gefolge einer immer stärker aufgefächerten „Strukturgeschichte“, die, nachdem sie ihre eigene Syntheseperspektive aus den Augen verloren hatte, die Spezialisierung in kaum noch miteinander verbundene Bindestrich-Geschichten bewirkte21, andererseits im Zuge der Rezeption einer im angelsächsischen Raum und Skandinavien weit fortgeschrittenen „Historischen Soziologie“, die zum Teil mit Methoden der empirischen Sozialforschung arbeitete und breit vergleichend angelegte historisch-makrosoziologische Studien vorlegte (u.a. Barrington Moore, Charles Tilly und Theda Skocpol).22 Diese Forschungen wurden als empirische Zuarbeiten oder exemplarische Vertiefungen beziehungsweise als partielle Bestätigung übergreifender Thesen gelesen und für das „Bielefelder Programm“ in Dienst genommen. Und auch wo dies nicht explizit geschah,
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wirkten diese „anderen“ Strömungen einer breit verstandenen „Sozialgeschichte“ aus der Fremdsicht nicht als Alternativen, sondern wie arbeitsteilige Beiträge zu einem umfassenderen sozialhistorischen Projekt, dessen Marksteine und Ziele die „Bielefelder“ dann umso genauer und öffentlichkeitswirksamer benannten. Ein zentrales Bindeglied zwischen den Vernetzungs- und Zuspitzungsleistungen der „Bielefelder“ Sozialgeschichte bildete schließlich siebtens ihre demonstrative Theorieorientierung.23 An keinem anderen Punkt kann man die Vielfalt und Reichweite ihrer „Anlehnungen“ und Koalitionsbildungen umfassender demonstrieren. Im Mittelpunkt der theoretischen und methodologischen Überlegungen vor allem Hans-Ulrich Wehlers und Jürgen Kockas stand von Anfang an das Interesse an gegenstandsbezogenen Theorien, von denen sie für empirische historische Sachverhalte eine überlegene Erklärungskraft und starke, rational begründbare Argumente für die historisch-politische Debatte erwarteten. In diesem Sinne sprach man in Bielefeld von „Theorien“ immer im Plural.24 Die Rationalitätserwartung spielte auch bei der sozialtheoretischen Auffassung, wer denn „die Geschichte“ eigentlich mache, eine zentrale Rolle. Sie übersetzte sich in den Begriff der „Struktur“, der letztlich als theoretisch gehaltvolles, ideologiekritisches Antidot zur vermeintlich irrationalen – oder gewollt apologetischen – „Einfühlung“ in die Taten und Gedanken „großer“ menschlicher Akteure in der Hermeneutik des „Historismus“ verordnet wurde. Mit dem häufig zitierten Diktum Jürgen Habermas’, dass „Geschichte nicht in dem aufgeht, was Menschen wechselseitig intendieren“, war aber die weitergehende Vorstellung verbunden, dass „Strukturen“ unabhängig von den menschlichen Akteuren eine eigene gesellschaftliche Existenz besäßen.25 Ein solcher Strukturrealismus ging davon aus, dass „Strukturen“ die Handlungsmöglichkeiten der Akteure entscheidend einschränkten und sich auch hinter ihrem Rücken Geltung verschafften.26 Bewegung kam danach hauptsächlich durch die funktionalen, sachlichen Beziehungen zwischen Strukturelementen in die Geschichte: „Die Funktion scheint in dieser Art von Sozialgeschichte die Aufgabe des historistischen ‚Sinns‘ übernommen zu haben.“27 Da man damit das Bewegungsprinzip der Geschichte in die Strukturen und ihre Wechselbeziehungen hineinverlagert hatte, war es eine logische Folge, sich vornehmlich solchen Strukturkategorien zu öffnen, denen ein Prozesscharakter immer schon immanent war. Das galt vor allem für ökonomische Verlaufsmodelle und Theorien sozialen Wandels, etwa Konjunkturtheorien, Modelle der Industrialisierung, der Urbanisierung, der Klassenbildung.28 Schließlich band alle diese „Theorien mittlerer Reichweite“, die oft nur auf eng begrenzte historische Zeiträume anwendbar waren, eine eher diffuse modernisierungstheoretische Rhetorik zusammen. „Modernisierung“ in diesem – sehr breiten – Sinne avancierte zur theoretischen Generalinterpretation der Geschichtsepoche seit der Amerikanischen und Französischen Revolution. Sie ersetzte das „Fortschritts“-Paradigma des Historismus. Sie diente einerseits dem internationalen Vergleich und der universalisierenden
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Verallgemeinerung. Andererseits bot sie zugleich die Basis für die Konstruktion nationaler Eigenwege aus „Pionier-“ und „Nachzüglerpositionen“ (Alexander Gerschenkron) sowie aus Abweichungen vom generellen Modernisierungspfad, was dann dem geschichtswissenschaftlichen Gebot der Individualisierung Rechnung trug.29 Die individualisierende Kalibrierung der Modernisierungstheorie auf den Fall der „Nachzüglernation“ Deutschland ergab die These vom „deutschen Sonderweg“. In dieser Form und Gestalt, als Vorstellung über die Beschaffenheit und den konkreten Verlauf der Geschichte, verkörperte „Theorie“ im Bielefelder Sprachgebrauch gewissermaßen auch die hauseigene Geschichtsphilosophie. Die knappe Zusammenschau überzeichnet sicherlich die Kohärenz dieses theoretischen Programms, gibt aber die „langen Linien“ in seiner Entwicklung einigermaßen genau wieder. Die Vernetzungswirkung resultierte dabei aus der Tatsache, dass in der Theoriedebatte erkenntnis-, sozial- und gesellschaftstheoretische Probleme aufgeworfen wurden, die in zahlreiche benachbarte Theoriediskussionen hineinspielten und schließlich die Auseinandersetzung innerhalb der Historie aufs Neue entzündeten, inwieweit „Theorie“ für die Geschichtswissenschaft überhaupt statthaft sei.30 Theoretische Fragen hatte bereits die „Strukturgeschichte“ freisinnig diskutiert, immer aber auf Distanz zu den „eigentlichen“ empirisch-historischen Darstellungen gehalten. Dieser theoretischen „Impliziertheit“ setzte die Bielefelder Sozialgeschichte die ausdrückliche Artikulation von theoretischen Erörterungen und die Anwendungsbezogenheit theoretischer Elemente entgegen. Theorieüberlegungen wurden zu einem Gestaltungsmittel und Strukturierungsinstrument empirischer Darstellungen. Nicht zuletzt sollte der theoretische Jargon die geforderte Rationalität einer Geschichte als „Historische Sozialwissenschaft“ verkörpern. In der daraufhin entbrennenden Debatte (zunächst zwischen „Strukturhistorikern“ wie Conze und den „Bielefeldern“) brachen ältere, grundsätzliche Fronten zwischen Vertretern des „Erklärens“ oder des „Verstehens“ als gebotenen Prinzipien der Geschichtswissenschaft wieder auf; das Beharren auf der Anwendungsbezogenheit von Theorie bedrängte die „Theoriefeinde“ in ihrem ureigenen Gebiet der Aktengläubigkeit und drängte zur Gegenreaktion. Nicht nur die „Spät-“ und „Neo-Historisten“, wie sie in Bielefeld genannt wurden, sondern auch die analytischen Geschichtsphilosophen wurden in diese Debatte hineingezogen, und erstmals seit langer Zeit diskutierten Geschichtsphilosophen und Historiker wieder miteinander über Geschichte, wenn auch oft nicht auf derselben Ebene.31 Innerhalb der Geschichtswissenschaft integrierte dieser zunächst sehr spezielle Theoriediskurs der Bielefelder mindestens zwei weitere, mehr oder minder benachbarte Stränge der Diskussion. Das galt zum einen für Reinhart Koselleck, der anfangs der 1970er Jahre die „Theoriebedürftigkeit der Geschichte“ angemahnt hatte, damit aber weniger ein sozialwissenschaftliches Kategoriengerüst für die sozialhistorische Forschung als vielmehr eine Theorie der „Geschichtlichkeit“ meinte, die die in Begriffen geronnenen Er-
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fahrungen der Zeitgenossen mit der anthropologischen Fähigkeit des Menschen zu verbinden suchte, Zeiterfahrungen und damit Erfahrungen von „Geschichtlichkeit“ überhaupt zu machen.32 Zum anderen galt dies für Jörn Rüsen und sein Projekt, eine neue, zeitgemäße „Theorie der Geschichte“ in der kritischen Nachfolge des historistischen Erbes zu entwickeln – seine Grundzüge einer neuen „Historik“.33 Die Fäden der Debatte verknüpften sich in den häufig von den „Bielefeldern“ zur Verfügung gestellten Foren. Da die „Bielefelder“ den internationalen Vergleich propagierten und durch ihre theoretischen Konstruktionen den Test in der Praxis quasi vorwegnahmen, zwang sie dies zum Blick über den Tellerrand hinaus auf die Entwicklungen der amerikanischen und englischen Historiografie, vor allem insoweit sie davon theoretisch-methodologische Anstöße erhofften. Das galt für die Historische Soziologie und mehr noch für die Historische Mobilitätsforschung, über die – neben der Historischen Demografie – quantifizierende Methoden Eingang in die deutsche Sozialgeschichte fanden.34 Da man in den englischen und amerikanischen Historikern kompetente und aufgeschlossene Gesprächspartner fand, die den Kontakt suchten, entfaltete sich ein weit gespanntes internationales Netzwerk, dessen „erste Adresse“ in der Bundesrepublik Deutschland fortan Bielefeld hieß. Gleiches galt – innerhalb Deutschlands und über die Grenzen hinaus – für den interdisziplinären Austausch mit der Soziologie und der Ökonomie. Da man sich gerade des sozialwissenschaftlichen Theoriefundus zu bedienen suchte, setzten die „Bielefelder“ Anfang der 1970er Jahre größere Hoffnungen in den interdisziplinären Austausch, als sich später realisieren ließen, zumal das Interesse an einer „Historisierung“ der eigenen Disziplin in Soziologie und Ökonomie35 noch schneller nachließ als die Bemühungen der „Historischen Sozialwissenschaft“, mit der dortigen Theorieentwicklung auch theoretisch Schritt zu halten.36 Eine dem angelsächsischen Vorbild entsprechende Historische Soziologie bekam in Deutschland nie eine Chance, von der Ökonomie ganz zu schweigen, die zunehmend die Wirtschaftsgeschichte im engeren Sinne vernachlässigte.37 Aber eine gemeinsame Sprachebene blieb, und wenn es Kontakte gab, dann liefen sie lange meist über Bielefeld.38 Anders wäre die im Jahr 2000 erfolgte Wahl des Historikers Jürgen Kocka zum Präsidenten des Wissenschaftszentrums zu Berlin, dem größten sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut Europas, kaum zu erklären. Eine letzte, aber in ihrer öffentlichen Wirksamkeit nicht zu unterschätzende Vernetzungsleistung ergab sich aus dem oben im Zusammenhang mit dem Vergleich erwähnten Hang der „Historischen Sozialwissenschaft“, empirische Forschungsprogramme durch theoretische „Vorerschließungen“ quasi vorwegzunehmen. In vielen historischen Forschungsfeldern – zumal in Deutschland – stießen ihre begrifflichen Vorklärungen und modellhaften Versuchsanordnungen auf wenig theoretische Konkurrenz. Dort füllten „Bielefelder“ Begriffsanstrengungen mühelos ein begriffliches Vakuum. In anderen Fällen brach die Dynamik, mit der etwa Jürgen Kocka mit Modellformulierungen vorpreschte, lange erstarrte dogmatisch-orthodoxe Theories-
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tellungen auf. Das Konzept des „Organisierten Kapitalismus“ beispielsweise drängte sowohl neomarxistische „Stamokap“-Theorien als auch leblose marxistisch-leninistische „Imperialismus“-Ladenhüter in den Hintergrund; das Modell der „Klassenbildung“ brachte die Arbeitergeschichte, verkrustet im ewigen ideologischen Streit um den „richtigen“ Klassenbegriff, Anfang der 1980er Jahre wieder spürbar in Bewegung.39 Der begriffliche Einfluss, der sich daraus ergab, empirisch noch nicht tief erschlossene Forschungsfelder durch theoretische Antizipation zu besetzen, wirkt aus heutiger Sicht frappierend. Dieser Eindruck, dass „Bielefeld“ nicht nur überall sei, sondern auch überall den Ton angeben wolle, ließ Kritiker vor einem neuen ostwestfälischen „Geschichtsimperialismus“ warnen. Zum Eindruck der Bielefelder Allgegenwart trugen die Vertreter der „Historischen Sozialwissenschaft“ nach Kräften selber bei. Ganz entgegen den heutigen altersmilden Rückbetrachtungen riefen Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka Anfang der 1970er Jahre im kühnen Anschluss an Thomas S. Kuhn40 den „Paradigmenwechsel“ aus, unter dem sie bei näherem Hinsehen nicht nur den Durchbruch der Sozialgeschichte in Deutschland nach 1945 im allgemeinen verstanden, sondern in erster Linie ihre eigene Zuspitzung zur kritischen, strukturanalytischen, politischen Sozialgeschichte als Gesamtgeschichte.41 Man stilisierte sich selbstbewusst zu den eigentlichen Gestaltern eines neuen „Paradigmas“ in der deutschen Geschichtswissenschaft, dessen vorwärts treibendes Zentrum das Programm einer Geschichte als „Historische Sozialwissenschaft“ mit dem Fluchtpunkt der „Gesellschaftsgeschichte“ bildete.42 Die Etablierung des neuen „Paradigmas“ hatte etwas Reißbrettartiges an sich. Es wurde zunächst in einer dichten Folge von zumeist mehrfach veröffentlichten Programmschriften zunehmend unverwechselbar dargelegt und verkündet. Dies geschah zumeist eingebettet in einen knappen Abriss der Entwicklung, die die deutsche Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert genommen hatte. So entwarf man die eigene Vorgeschichte, in die man seinen Ansatz dann als Flucht- und Kulminationspunkt platzierte.43 Die Konstruktion einer Entwicklungsgeschichte des eigenen Aufstiegs war mit einer zunehmend scharfen Abgrenzung von den strukturhistorischen Vätern verbunden, zunächst inhaltlich und auf theoretischem Gebiet, später auch, vor allem Werner Conze gegenüber, nicht ohne persönliche Untertöne. Mit Verve sprach sich Jürgen Kocka gegen eine zuvor im Sprachgebrauch übliche Gleichsetzung von „Strukturgeschichte“ und „Sozialgeschichte“ aus und reklamierte eine „komplette Sozialgeschichte“ im Sinne des „Bielefelder“ Programms gegen eine „zur strukturgeschichtlichen Betrachtungsweise verdünnten Sozialgeschichte“ für sich.44 Das implizierte, der „Strukturgeschichte“ eine eigenständige Position als frühe Repräsentantin von „Sozialgeschichte“ in der deutschen Historiografiegeschichte nach 1945 zu bestreiten und sie letztlich auf eine Übergangs- und Vorlaufphase zum eigentlichen Durchbruch des neuen „Paradigmas“ zu reduzieren, als dessen Wegbereiter man selbstbewusst sich selber sah.45
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Entsprechend bemüht war man um die Stiftung einer alternativen eigenen Tradition. Man berief sich auf historische Vorbilder wie Eckart Kehr und Otto Hintze und knüpfte vor allem auch an Hans Rosenbergs Forschungen aus den 1930er bis 1960er Jahren an.46 Die Festschrift zu Hans Rosenbergs 70. Geburtstag gab 1974 Hans-Ulrich Wehler heraus. Dieser Sammelband mit dem Titel Sozialgeschichte heute repräsentierte nicht nur ein Stück Traditionskonstruktion, sondern war mit seiner Vielzahl zum Teil ausgesprochen disparater Beiträge auch ein Beispiel für die Vereinnahmung sehr heterogener Formen von Sozialgeschichtsschreibung für das eigene Programm. Bereits mit einem früheren Sammelband unter dem Titel Moderne deutsche Sozialgeschichte, den Wehler 1966 erstmals herausgegeben hatte und der bis 1976 fünf zum Teil beträchtlich veränderte Auflagen erlebte, hatten sich die späteren „Bielefelder“ damit eine gewisse Definitionsmacht gesichert, was denn einer aktuellen Sozialgeschichte zuzurechnen sei, und sich damit zu einer Art Hüter über die ihren Ansprüchen genügende best practice aufgeschwungen. Anfangs versammelte Wehler unter dem Banner der Modernen deutschen Sozialgeschichte noch frühere Verbündete wie Werner Conze und Hans Rosenberg neben postum veröffentlichten Beiträgen aus der selbst gewählten Traditionslinie (Otto Hintze, Eckart Kehr) und disparaten Vertretern der Sozialgeschichte, von denen manche das Kriterium eines Bekenntnisses zur „Historischen Sozialwissenschaft“ verfehlten.47 Eine solche Kombination aus „Roll Call“- und „Türwächter“-Funktion verkörperte auch die mehrfach aufgelegte Bibliographie zur neueren deutschen Sozialgeschichte.48 Auf dem Feld der wissenschaftlichen Publikationen betrieb die „Bielefelder“ Sozialgeschichte ähnlich selbstbewusst unverwechselbare Profilbildung als neues „Paradigma“. Mit Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft schuf sie sich 1975 ein Flaggschiff unter den historischen Zeitschriften in Deutschland, das schnell auch international ein beträchtliches Renommee gewann.49 Die ebenfalls programmatisch betitelten Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft avancierten seit 1972 zu einer einflussreichen Publikationsreihe, in der vor allem neue Monografien erschienen, darunter zahlreiche Qualifikationsarbeiten des schnell anwachsenden Schülerkreises. 1966 wurde Hans-Ulrich Wehler Herausgeber der Historischen Reihe der Neuen Wissenschaftlichen Bibliothek, deren in schneller Folge erscheinende Bände nicht alle stromlinienförmig waren, aber der „kritischen Sozialgeschichte“ mit knappen, pointiert geschriebenen Gesamtdarstellungen zu Themen und Epochen der deutschen (und internationalen) Geschichte einen Einfluss auf dem Terrain der Handbücher und Textbooks sicherten. Abgerundet wurde dieses reiche publizistische Portfolio von der Reihe Deutsche Historiker, die 1971 und 1972 in fünf Taschenbuchbänden von Hans-Ulrich Wehler herausgegeben wurde und ihren Teil zu einer progressiven Traditionsstiftung beitrug, indem sie gleichberechtigt neben den traditionellen Größen des Fachs wie Ranke, Droysen und Treitschke disziplinübergreifende Klassiker wie Karl Marx und Max Weber, His-
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toriker aus der Arbeiterbewegung wie Eduard Bernstein und Karl Kautsky sowie politische und methodologische Außenseiter der „Zunft“ biografisch porträtierte. Vor diesem Hintergrund mochten Kritiker die zustimmenden Bestandsaufnahmen Georg G. Iggers’, Jörn Rüsens geschichtstheoretische Werke und Horst Walter Blankes Historiographiegeschichte als Historik als eine Art flankierende Historiografiegeschichte50 ausmachen, die der „Historischen Sozialwissenschaft“ noch in der Phase ihrer Hochblüte einen prominenten Platz in der ewigen Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung zuwies. Das wird dem Œuvre dieser Historiker und auch ihren eigenen geschichtsphilosophischen, geschichtstheoretischen und methodologischen Interessen und Positionen keineswegs gerecht. Aber indem Rüsen und Blanke den historiografiegeschichtlichen Dreischritt von der Aufklärungshistorie über den Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft etablierten, bestätigten und zementierten sie die Selbstsicht der „Bielefelder“ Sozialhistoriker auf ihre eigene Entwicklungsgeschichte.51 Doch Unterstützung von außen hätten die Vertreter der „Bielefelder Schule“ gar nicht nötig gehabt, da sie in allen Historikerdebatten seit den frühen 1970er Jahren mit einer Fülle eigener Beiträge ihre Standpunkte jeweils eloquent und nachdrücklich zur Geltung gebracht haben. Man könnte so weit gehen zu behaupten, dass die „Bielefelder“ Sozialgeschichte ihr neues „Paradigma“ in erster Linie im kontroversen Stil des wissenschaftlichen Streits profiliert, geschliffen und verteidigt hat. Das nahm zum Teil schneidend scharfe, polemische und in manchen Auseinandersetzungen zuweilen persönliche Züge an, wobei allerdings das unterschiedliche Temperament der Protagonisten das jeweilige Ausmaß der Aggressivität bestimmte.52 Nicht alle „Bielefelder“ teilten oder teilen Hans-Ulrich Wehlers Vorliebe für das „agonale Prinzip“, das den eliminierenden Wettbewerb um die Position des Überlegenen und Besten zum Ziel auch der wissenschaftlichen Auseinandersetzung erhebt. Aber man konnte und kann bei jeder Stellungnahme über die Sozialgeschichte Bielefelder Prägung mit energischem Widerspruch rechnen – und mit streitbaren Entgegnungen, die das Traditionsbild, das die „Bielefelder Schule“ von sich entworfen hat, zu behaupten versuchen. Das gilt auch in der Rückschau.53 Da man sich eben nicht kampflos einer Historisierung unterwerfen will, beansprucht man in periodisch wiederkehrenden eigenen Bestandsaufnahmen und Rückblicken die eigene Wirkungsgeschichte zu kontrollieren.54 Die Dynamik des wissenschaftlichen Feldes wird dies zu verhindern wissen. Dazu dient auch der vorliegende Band. Er versammelt zentrale, breit rezipierte und diskutierte Texte von prominenten Vertretern der „Bielefelder Schule“ aus ihren Aufstiegs-, Blüte- und Krisenjahren ebenso wie Repliken und Interventionen ihrer nicht minder prominenten Kritiker und Gegner. Ziel der Edition ist es, auf der einen Seite die Konturen dieser einflussreichen Strömung der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft nach 1945 in ihren eigenen Stellungnahmen sichtbar zu machen und auf der ande-
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ren Seite eine kritische Einordnung und Bewertung durch eine behutsam geführte Lektüre anzuregen. Natürlich hat die sprichwörtliche Produktivität der „Bielefelder Schule“, unterstützt durch ein meisterhaftes publizistisches Eigen-Management, die Auswahl der Texte nicht leicht gemacht. Es konnte nur ein Minimum aus der Überfülle der relevanten und interessanten Beiträge aufgenommen werden. Die Herausgeber haben sich bei der Auswahl an der Chronologie der Entwicklung, an den theoretischen und inhaltlichen Schwerpunkten dieser Form der Sozialgeschichtsschreibung sowie an der Abfolge wichtiger historiografischer Kontroversen orientiert, an denen die „Bielefelder“ Sozialhistoriker federführend beteiligt waren. Da sich ihr „neues Paradigma“, wie erwähnt, vornehmlich in harten Auseinandersetzungen mit Gegenströmungen und Kritikern entfaltet, geschärft und zur Verteidigung eingerichtet hat, haben die Herausgeber versucht, deren diskursive Gestalt dadurch abzubilden, dass auch die jeweiligen Gegenpositionen dialogisch zu Wort kommen, ohne freilich den Differenzierungen innerhalb der Debatten auch nur annähernd gerecht werden zu können. Im Folgenden werden die in thematische Kapitel gegliederten Beiträge sowie ihre Autorinnen und Autoren knapp vorgestellt und in den Kontext der jeweiligen historiografischen Debatten eingeordnet.
ANMERKUNGEN 1 2
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Siehe http://www.bielefelder-schule.de. Jürgen Kocka, Sozialgeschichte, in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Stuttgart 2002, S. 265-269; hier S. 268; ders., Sozialgeschichte – gestern und heute, in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Paradigmen deutscher Geschichtswissenschaft. Ringvorlesung an der HumboldtUniversität zu Berlin, Berlin 1994, S. 15-31; hier S. 24. Hans-Ulrich Wehler, Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Manfred Hettling und Cornelius Torp, München 2006, S. 89ff. Roger Fletcher, Recent Developments in West German Historiography: The Bielefeld School and Its Critics, in: German Studies Review 7 (1984), S. 451480; Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, Wien 21971; ders., New Directions in European Historiography, Middletown, CT 1975; dt. unter dem Titel: Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft – ein internationaler Vergleich, München 1978; ders. (Hg.), The Social History of Politics: Critical Perspectives in West German Historical Writing Since 1945, Leamington Spa u.a. 1985; ders., Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 1993; Thomas Welskopp, Westbindung auf dem „Sonderweg“. Die deutsche Sozialgeschichte vom Appendix der Wirtschaftsgeschichte zur Historischen Sozialwissenschaft, in: Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen u. Ernst Schulin (Hg.), Ge-
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schichtsdiskurs, Bd. 5: Globale Konflikte, Erinnerungsarbeit und Neuorientierungen seit 1945, Frankfurt/M. 1999, S. 191-237; hier S. 219. Vgl. die Liste der Themen und Autoren in: Gunilla Budde, Sebastian Conrad u. Oliver Janz (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006. Vgl. Willibald Steinmetz, Nachruf auf Reinhart Koselleck (1923-2006), in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 412-432. Josef Mooser, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Historische Sozialwissenschaft, Gesellschaftsgeschichte, in: Richard Dülmen (Hg.), Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt/M. 1990, S. 86-101. Vgl. Welskopp, Westbindung auf dem „Sonderweg“, S. 219-228. Paul Nolte, Die Historiker der Bundesrepublik. Rückblick auf eine „lange Generation“, in: Merkur 5 (1999), S. 413-432. Interview mit Jürgen Kocka, in: Rüdiger Hohls u. Konrad H. Jarausch (Hg.), Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart 2000, S. 387; Jürgen Kocka, Neubeginn oder Restauration?, in: Carola Stern u. Heinrich August Winkler (Hg.), Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1990, Frankfurt/M. 1994 (zuerst 1979), S. 159-192. Interview mit Hans Mommsen, in: Hohls u. Jarausch (Hg.), Versäumte Fragen, S. 167. Paul Nolte, Darstellungsweisen deutscher Geschichte. Erzählstrukturen und „master narratives“ bei Nipperdey und Wehler, in: Christoph Conrad u. Sebastian Conrad (Hg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, S. 236-268; hier S. 237f. Christoph Conrad, Die Dynamik der Wenden. Von der neuen Sozialgeschichte zum cultural turn, in: Jürgen Osterhammel, Dieter Langewiesche u. Paul Nolte (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 22), Göttingen 2006, S. 133-160; hier S. 138. Thomas Welskopp, Grenzüberschreitungen. Deutsche Sozialgeschichte zwischen den dreißiger und den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in: Conrad u. Conrad (Hg.), Die Nation schreiben, S. 296-332; hier S. 317. Anselm Doering-Manteuffel, Eine politische Nationalgeschichte für die Berliner Republik. Überlegungen zu Heinrich August Winklers „Der lange Weg nach Westen“, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 446-462. Interview mit Heinrich August Winkler, in: Hohls u. Jarausch (Hg.), Versäumte Fragen, S. 372ff. Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 21972. Thomas Welskopp, Alien Allies. The Relations between History, Sociology, and Economics in Germany, 19th-20th Centuries, in: Ignacio Olábarri u. Francisco J. Caspistegui (Hg.), The Strength of History at the Doors of the New Millenium. History and the other Social and Human Sciences along XXth Century (18992002), Barañàin (Navarra) 2005, S. 103-128. Geoff Eley, A Crooked Line. From Cultural History to the History of Society, Ann Arbor, MI 2005, bes. S. 72f.; Thomas Welskopp, Social history, in: Stefan
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Berger, Heiko Feldner u. Kevin Passmore (Hg.), Writing History: Theory and Practice, London 2003, S. 203-222. Diese monumentale Gesamtdarstellung ist mit Erscheinen des fünften Bandes vollendet, eine an sich schon beeindruckende Lebensleistung: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, München 1987; Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815-1845/49, München 1987; Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995; Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003; Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949-1990, München 2008. Welskopp, Grenzüberschreitungen, S. 316f. Barrington Moore, Social Origins of Dictatorship and Democracy. Lord, and Peasant in the Making of the Modern World, Boston 1966; Charles Tilly u.a., The Rebellious Century 1830-1930, Cambridge, MA 1975; Theda Skocpol, States and Social Revolutions. A Comparative Analysis of France, Russia, and China, Cambridge 1979. Valentin Groebner, Theoriegesättigt. Ankommen in Bielefeld 1989, in: Sonja Asal u. Stephan Schlak (Hg.), Was war Bielefeld? Eine ideengeschichtliche Nachfrage, Göttingen 2009, S. 179-189. Jürgen Kocka (Hg.), Theorien in der Praxis des Historikers (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 3), Göttingen 1977; ders., Theorien in der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte. Vorschläge zur historischen Schichtungsanalyse, in: Geschichte und Gesellschaft. 1 (1975), S. 9-42. Hans-Ulrich Wehler, Einleitung, in: ders. (Hg.), Geschichte und Soziologie, Köln 1972, S. 11-31; hier S. 24. Jürgen Kocka, Struktur und Persönlichkeit als methodologisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: Michael Bosch (Hg.), Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte. Historische Bestandsaufnahme und didaktische Implikationen, Düsseldorf 1977, S. 152-169; ders., Sozialgeschichte. Begriff – Entwicklung – Probleme, Göttingen 1977, S. 73-77, bes. S. 76f. Thomas Mergel u. Thomas Welskopp, Geschichtswissenschaft und Gesellschaftstheorie, in: dies. (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 9-35; hier S. 24. Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975, S. 59-63. Chris Lorenz, ‚Won’t You Tell Me, Where Have All The Good Times Gone‘? On the Advantages and Disadvantages of Modernization Theory for History, in: Rethinking History 10 (2006), S. 171-200. Das wird deutlich in der Bandbreite der Beiträge zum Band Kocka (Hg.), Theorien in der Praxis des Historikers, und zu Heft 1 von Geschichte und Gesellschaft, besonders aber zu den aus den seit 1975 veranstalteten Konferenzen des Arbeitskreises „Theorie der Geschichte“ hervorgegangenen sechs Bänden zur „Theorie der Geschichte“: Reinhart Koselleck, Wolfgang J. Mommsen u. Jörn
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Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. I), München 1977; Karl-Georg Faber u. Christian Meier (Hg.), Historische Prozesse (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. II), München 1978; Jürgen Kocka u. Thomas Nipperdey (Hg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik III), München 1979; Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz u. Jörn Rüsen (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik IV), München 1982; Christian Meier u. Jörn Rüsen (Hg.), Historische Methode (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik V), München 1988; Karl Acham u. Winfried Schulze (Hg.), Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik VI), München 1990. Vgl. die Beispiele in den oben angegebenen Bänden. Horst Walter Blanke, Zum Verhältnis von Historiographiegeschichte und Historik – Eine Analyse der Tagungsbände Theorie der Geschichte und Geschichtsdiskurs, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), S. 55-84. Reinhart Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: Werner Conze (Hg.), Theorie der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1972, S. 10-28. Jörn Rüsen, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983; ders., Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung, Göttingen 1986; ders., Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens, Göttingen 1989. Jürgen Kocka u.a., Familie und soziale Plazierung. Studien zum Verhältnis von Familie, sozialer Mobilität und Heiratsverhalten an westfälischen Beispielen im späten 18. und 19. Jahrhundert, Opladen 1980. Hansjörg Siegenthaler, Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 276-301. Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Geschichte und Soziologie, Königstein 31984 (zuerst Köln 1972); ders. (Hg.), Geschichte und Ökonomie, Königstein 21985 (zuerst Köln 1973); ders. (Hg.), Geschichte und Psychoanalyse, Berlin 21974 (zuerst Köln 1971). Werner Abelshauser, Von der Industriellen Revolution zur Neuen Wirtschaft. Der Paradigmenwechsel im wirtschaftlichen Weltbild der Gegenwart, in: Osterhammel, Langewiesche u. Nolte (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, S. 201-218. Willfried Spohn, Kulturanalyse und vergleichende Forschung in Sozialgeschichte und historischer Soziologie: Eine Einleitung, in: Comparativ (Heft1/1998), S. 715; ders., Kulturanalyse und Vergleich in der historischen Soziologie, in: ebd., S. 95-121. Jürgen Kocka, Organisierter Kapitalismus oder Staatsmonopolistischer Kapitalismus? Begriffliche Vorbemerkungen, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974, S. 19-
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35; ders., Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 1800-1875, Berlin u. Bonn 1983. Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago, IL 1964; dt. Übersetzung: ders., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1967. Kocka, Sozialgeschichte, S. 67. Conrad, Die Dynamik der Wenden, S. 150f.; Irmline Veit-Brause, Paradigms, Schools, Traditions: Conceptualizing Shifts and Changes in the History of Historiography, in: Storia della storiografia 17 (1990), S. 50-65. Als Zusammenstellungen der programmatischen Aufsätze Hans-Ulrich Wehlers waren einflussreich: Hans-Ulrich Wehler, Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt/M. 31980 (zuerst 1973); ders., Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung, Göttingen 1980. Sehr einflussreich wirkte Jürgen Kockas Band „Sozialgeschichte“. Kocka, Sozialgeschichte, S. 67-82, bes. S. 77-82; Zitat: S. 82. Adelheid von Saldern, „Schwere Geburten“. Neue Forschungsrichtungen in der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft (1960-2000), in: WerkstattGeschichte 40 (2005), S. 5-30. Eckart Kehr, Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußischdeutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hg. und eingel. von Hans-Ulrich Wehler, Berlin 1965 (das Vorwort schrieb Hans Herzfeld, der liberale und tolerante akademische Lehrer Gerhard A. Ritters); Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967; ders., Die Weltwirtschaftskrisis 1857-1859, Göttingen 1974 (zuerst Stuttgart 1934). Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 51976 (zuerst 1966); ders. (Hg.), Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, Göttingen 1974. Hans-Ulrich Wehler, Bibliographie zur neueren deutschen Sozialgeschichte, München 1993. Lutz Raphael, Nationalzentrierte Sozialgeschichte in programmatischer Absicht. Die Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft“ in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5-37. Christoph Conrad u. Sebastian Conrad, Wie vergleicht man Historiographien?, in: dies. (Hg.), Die Nation schreiben, S. 11-45; hier S. 25f. Horst Walter Blanke, Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart 1991. Hans-Ulrich Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum „Historikerstreit“, München 1988. Vgl. die Beiträge in: Franz-Josef Brüggemeier u. Jürgen Kocka (Hg.), Geschichte von unten – Geschichte von innen. Kontroversen um die Alltagsgeschichte, Fernuniversität Hagen 1985; zur Bilanz: Winfried Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, MikroHistorie. Eine Diskussion, Göttingen 1994. Jürgen Kocka, Sozialgeschichte in Deutschland seit 1945. Aufstieg – Krise – Perspektiven, Bonn 2002; ders. (Hg.), Sozialgeschichte im internationalen Über-
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blick. Ergebnisse und Tendenzen der Forschung, Darmstadt 1989. Zuletzt: Jürgen Kocka, Sozialgeschichte im Zeitalter der Globalisierung (= Schriftenreihe der Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets, Heft 19), Bochum 2006. 54 Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998; dort bes. Kapitel VII: Historische Sozialwissenschaft. Eine Zwischenbilanz nach dreißig Jahren, S. 142-153; ders., Rückblick und Ausblick oder: Arbeiten um überholt zu werden?, Bielefeld 1996.
Einführung in die Texte der Edition B ETTINA H ITZER /T HOMAS W ELSKOPP
I. P ROGRAMMATISCHE AUFBRÜCHE Als programmatisch verstanden sich viele Aufsätze der so genannten „Bielefelder Schule“ der deutschen Sozialgeschichte. Dennoch ragen drei Texte aus der kaum überschaubaren Zahl theoretischer Äußerungen heraus, markieren sie doch die entscheidenden programmatischen Aufbrüche dieser historiographischen Richtung. In einem geradezu klassischen Dreischritt wurde ein immer weiter reichender Anspruch formuliert: zunächst als „Kritische Sozialgeschichte“, dann als „Historische Sozialwissenschaft“ und schließlich als „Gesellschaftsgeschichte“ mit dem Anspruch, eine drei Jahrhunderte umfassende, sozialgeschichtlich integrierte Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte zu liefern. Nicht zufällig stammen alle diese Texte ganz oder teilweise aus der Feder Hans-Ulrich Wehlers, mit dessen Namen die deutsche Sozialgeschichte Bielefelder Provenienz besonders eng verknüpft ist.1 1931 im Siegerland geboren, erlebte er als Pimpf bzw. Mitglied der HJ den Krieg und das Ende der NS-Diktatur bereits bewusst mit.2 Unmittelbar nach dem Abitur 1952 ging er für ein Jahr als einer der ersten Fulbright-Stipendiaten nach Athens/ Ohio. Diese erste USA-Erfahrung legte den Grundstein für seine späteren vielfältigen Kontakte zu (deutsch-)amerikanischen Historikern. Nach einem kurzen Intermezzo in Bonn erhielt er als Student der Geschichte, Soziologie und Ökonomie entscheidende Anregungen durch den Historiker Theodor Schieder sowie den Soziologen René König (beide Köln). Bei Schieder promovierte Wehler schließlich 1960 mit einer Arbeit über „Sozialdemokratie und Nationalstaat“, in der er sich intensiv mit der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) in Deutschland auseinandersetzte. Nach einem weiteren Amerika-Aufenthalt schrieb er als Assistent des Amerika-Historikers Erich Angermann (Köln) eine Arbeit über den „Aufstieg des amerikanischen Imperialismus 1865-1900“, die er im Sommer 1964 als Habilitationsschrift einreichte. Obwohl Schieder für die Annahme plädierte, lehnte die Kölner Fakultät in ihrer Mehrheit die Studie als Habilitationsschrift ab. Angermann
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kündigte Wehler daraufhin seine Assistentenstelle, der jedoch von Schieder für zwei Jahre unter Vertrag genommen wurde. Nur ein Jahr nach diesem harschen beruflichen Misserfolg gab Wehler die Schriften des 1933 jung verstorbenen und in Deutschland fast in Vergessenheit geratenen Eckart Kehr heraus, die er im Zuge seiner Arbeiten zum amerikanischen Imperialismus durch die Vermittlung des nach Amerika emigrierten deutschen Historikers Alfred Vagts kennengelernt hatte. Die Auseinandersetzung mit dem Meinecke-Schüler Kehr erlaubte Wehler dreierlei: Erstens konnte er produktiv Abstand zum Kölner Debakel gewinnen und mit Kehr den Fokus vom amerikanischen zum deutschen Imperialismus verschieben. So wagte er 1967 einen zweiten Versuch in Köln mit einer Arbeit über „Bismarck und den Imperialismus“, ein Versuch, der abermals von der Habilitationskommission äußerst kontrovers aufgenommen wurde und nur durch das energische Auftreten Schieders erfolgreich endete. Zweitens bot sich Kehr zur biographischen und intellektuellen Identifikation als zu Unrecht von akademischen Weihen ausgeschlossener, streitbarer Neuerer an. Denn er war während seiner kurzen Lebenszeit insbesondere mit seinen thematisch verwandten Arbeiten zur wilhelminischen Flottenpolitik auf die zum Teil erbitterte Ablehnung eines Großteils der deutschen Historikerschaft gestoßen und blieb zeitlebens ein akademischer Außenseiter. Die ausführliche biographische Würdigung Kehrs ebenso wie die oft polemische Charakterisierung von Kehrs Gegnern verrät, dass Wehler in Kehr einen Geistesverwandten erkannte. Drittens aber – und das ist im Zusammenhang der hier vorliegenden Edition der wichtigste Punkt – trat Wehler in der Auseinandersetzung mit Kehrs theoretischen und inhaltlichen Vorgaben erstmals mit einer prägnanten Formulierung des eigenen historiographischen Anspruchs an die Fachöffentlichkeit. Denn im Anschluss an Kehrs These vom „Primat der Innenpolitik“ exemplifizierte Wehler in seiner Einleitung seine Vorstellung von Sozialgeschichte, die zur „Grundschicht der Kontinuitäten deutscher Geschichte [...] [vordringen muss], wo Konstanz unter dem Wirbel politischer Veränderungen vorherrscht[].“ (Wehler, Einleitung, S. 28) Und – ebenfalls in Anlehnung an Kehr – forderte Wehler hier, dass Sozialgeschichte der Gegenwart einen „kritischen Spiegel“ vorzuhalten habe, indem sie der Gesellschaft „den historisch gewordenen, prinzipiell immer noch offenen Charakter ihrer Institutionen und ihrer Entwicklungstendenzen aufweist“. (Wehler, S. 28) Mit dieser Positionsbestimmung bezog Wehler in dreierlei Hinsicht Stellung. Er wandte sich erstens gegen die Dominanz einer eng verstandenen politikgeschichtlichen Geschichtsdeutung in der Bundesrepublik, der er vorwarf, lediglich die historische Oberfläche der politischen Entscheidungen und Ereignisse zu untersuchen, ohne diese auf die eigentlich aufschlussreiche und prägende Tiefenschicht von Gesellschaft zu beziehen. Wie diese „Grundschicht“ beschaffen ist, welche Rolle Kontinuität bzw. Prozesshaftigkeit in der Geschichte spielen, blieb in Wehlers Einleitung von 1965 allerdings noch reichlich unbestimmt. Mit der Forderung nach einer „kriti-
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schen“, d.h. theoriegeleiteten Sozialgeschichte mit dezidiert moralischer Funktion positionierte sich Wehler zweitens gegen das historistische Postulat des „Verstehens“, so wie Leopold Ranke es mit den Worten formuliert hatte, dass jede Epoche unmittelbar zu Gott sei, also aus ihren eigenen Bedingungen und Erfahrungen heraus verstanden werden müsse, und wie es seither von der Mehrzahl der deutschen Historiker vertreten worden war. Schließlich ist Wehlers Edition der Kehrschen Aufsätze unter dem Titel „Der Primat der Innenpolitik“ auch vor dem Hintergrund der sogenannten Fischer-Kontroverse zu lesen, die mit den Veröffentlichungen des Hamburger Historikers Fritz Fischer Anfang der 1960er Jahre begonnen hatte und in der es um die Frage der deutschen Schuld am Ersten Weltkrieg ging.3 Mit dem Schlagwort vom „Primat der Innenpolitik“ wurde eine dritte Position in diesem Streit benannt – eine Position, die sich etwa Wehlers Freund und Kollege Wolfgang J. Mommsen (1930-2004) zu eigen machte.4 Wolfgang J. Mommsen bildete denn auch 1975 zusammen mit HansJürgen Puhle (*1940) und Wehler selbst das Gremium der geschäftsführenden Herausgeber, das für den ersten Jahrgang der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft verantwortlich zeichnete.5 Die Gründung dieser Zeitschrift zeugte nicht nur vom neu errungenen institutionellen Gewicht der jungen deutschen Sozialhistoriker, deren geographisches Zentrum sich immer mehr ins ostwestfälische Bielefeld an die 1969 dort errichtete Reformuniversität verlagerte.6 Vielmehr liest sich die hier abgedruckte Einleitung der Herausgeber geradezu als eine Art Gründungsmanifest der neu entstandenen „Bielefelder Schule“: Geschichtswissenschaft – so stellten die Herausgeber kategorisch fest – müsse sich als „Historische Sozialwissenschaft“ verstehen und eng mit den benachbarten Disziplinen der Soziologie, Politikwissenschaft und Ökonomie kooperieren bzw. sich deren Theorien zunutze machen. Und präziser als Wehler zehn Jahre zuvor in seiner Kehr-Edition benannten die Herausgeber nun die „Analyse sozialer Schichtungen, politischer Herrschaftsformen, ökonomischer Entwicklungen und soziokultureller Phänomene“ (S. 5) als ihr Arbeitsfeld. Während Wehler 1965 noch die Dauerhaftigkeit dieser „Strukturen“ betont hatte, standen 1975 „Strukturen und Prozesse gesellschaftlichen Wandels“ (ebd.) gleichberechtigt nebeneinander, ja schien das Pendel durch die Vorstellung des „Wandels“ ein wenig in Richtung der Prozesshaftigkeit von Geschichte ausgeschlagen zu haben. Die erste Nummer von Geschichte und Gesellschaft markiert einen der Höhepunkte in der Auseinandersetzung zwischen der sich formierenden Bielefelder Schule einerseits und der bereits etablierten bzw. nachrückenden Riege der Politikhistoriker andererseits, zu denen etwa Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand gehörten. So hatte der Kölner Historiker Andreas Hillgruber (1925-1989) in der altehrwürdigen Historischen Zeitschrift bereits 1973 gemahnt, den Eigenwert der Politikgeschichte bei der Analyse politischer Entscheidungen zu respektieren und die relative Entscheidungsfreiheit der politischen Akteure zu akzeptieren.7 Darauf antwortete Wehler in der Gründungsnummer von Geschichte und Gesellschaft selbstbewusst
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mit dem Hinweis, die Politikgeschichte, deren Politikbegriff im übrigen noch ungeklärt sei, wäre besser beraten, sich als Teildisziplin einer weit gespannten Gesellschaftsgeschichte zu verstehen, denn sich als neue Integrationswissenschaft zu präsentieren.8 Über diesen „Absolutheitsanspruch“ (Hildebrand) der „Historischen Sozialwissenschaft“ bzw. „Gesellschaftsgeschichte“ entbrannte dann wiederum eine zum Teil polemisch geführte Kontroverse zwischen Wehler und dem Bonner Historiker Klaus Hildebrand (*1941).9 Im Ergebnis standen sich Politikhistoriker und Sozialhistoriker der Bundesrepublik für lange Jahre als mehr oder weniger scharf getrennte Lager gegenüber. Diesen bereits 1975 formulierten umfassenden Syntheseanspruch der „Gesellschaftsgeschichte“ befestigte Wehler, inzwischen einer der bekanntesten und einflussreichsten Historiker der Bundesrepublik, Mitte der 1980er Jahre mit seinem gigantischen Projekt einer „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ seit Beginn des 18. Jahrhunderts.10 In unmittelbarer Konkurrenz zu Thomas Nipperdey (1927-1992), einem seiner wichtigsten Kontrahenten, legte Wehler damit erstmals ein Werk vor, das diese Forderung nicht nur theoretisch formulierte, sondern konkret umzusetzen suchte.11 In seiner hier abgedruckten Einleitung zum ersten Band benannte Wehler 1987 den Gegenstand der Gesellschaftsgeschichte nun als die Analyse von „drei gleichberechtigte[n], kontinuierlich durchlaufende[n] Dimensionen von Gesellschaft“, nämlich Herrschaft, Wirtschaft und Kultur, die miteinander in beständiger Wechselwirkung stünden und zu denen die „soziale Ungleichheit“ als vierte Dimension quer stehe. (Wehler, Einleitung, S. 6f.) Dabei ging es ihm auch um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Struktur und Handeln, das von der Sozialgeschichte Bielefelder Prägung lange zugunsten einer Überbetonung von Strukturen vernachlässigt worden war und das Wehler in seiner Einleitung nun mit den gleichwohl etwas vagen Worten näher zu bestimmen suchte: „Erst wenn die Wechselwirkungen zwischen diesen ‚Umständen‘, welche ‚die Menschen‘ prägen, und den ‚Menschen‘, welche ‚die Umstände machen‘, genauer erfasst werden, können wir Gesellschaftsgeschichte besser begreifen.“ (Wehler, S. 30)
II. S OZIALGESCHICHTE
ALS STRUKTURANALYTISCHER
Z UGANG
Der Strukturbegriff war – darauf wurde bereits mehrfach hingewiesen – so zentral wie problematisch für die Geschichtsauffassung der Bielefelder Schule. Dabei ging es bei allen theoretischen Überlegungen im Kern immer um zwei Fragen. Erstens: Wie lässt sich historischer Wandel erklären, wenn man Strukturen doch für die eigentlich entscheidende Dimension der Geschichte hält? Wie definiert man also das bereits oben angedeutete Zusammenspiel von Struktur und Prozess? Und zweitens: Wer ist, wer sind die historischen Akteure? Welchen Handlungsspielraum haben Menschen inner-
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halb einer von Strukturen geprägten Geschichte? In anderen Worten: Wie ist das Verhältnis von Struktur und Persönlichkeit(en) zu konzipieren? Diese Frage war für zwei Aufsätze titelgebend, die für ihre jeweilige Zeit von hervorragender Bedeutung waren und in vielen nachfolgenden Diskussionen aufgegriffen wurden. Der ältere Text stammt aus der Feder von Theodor Schieder, einem der akademischen Väter der Bielefelder Sozialhistoriker. Er erschien zunächst 1962 in der Historischen Zeitschrift, ist hier aber in der überarbeiteten zweiten Fassung von 1968 abgedruckt. Genau auf diesen Aufsatz bezog sich 1977 Jürgen Kocka mehr oder weniger explizit, als er die Frage nach dem Platz von Struktur und Persönlichkeit von der Warte der Bielefelder Sozialhistoriker aus theoretisch zu lösen versuchte. Mit dem Aufsatz Theodor Schieders finden die Schriften eines Historikers Aufnahme in diese Edition, der in den vergangenen fünfzehn Jahren postum zu einer umstrittenen Figur der deutschen Historiographie wurde. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die Frage, wie die Rolle des 1908 geborenen Schieder in den Jahren der NS-Herrschaft sowie seine Position als angesehener und einflussreicher Historiker in der Bundesrepublik zu bewerten sind.12 Damit verknüpft ist die Diskussion um eine mögliche geistige Kontinuität von der „braunen“ Volksgeschichte über die Strukturgeschichte, für die Schieder gemeinsam mit Conze stand, bis hin zur Bielefelder Sozialgeschichte, die der Schieder-Schüler Hans-Ulrich Wehler maßgeblich prägte.13 Ins Zwielicht geriet das Werk Schieders in Historikerkreisen erstmals 1992, als Angelika Ebbinghaus und Karl Heinz Roth ein bevölkerungsgeschichtliches Geheimgutachten edierten, mit dem Schieder Anfang Oktober 1939 die Ergebnisse einer Besprechung der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) über die Zukunft der Bevölkerung in den „wiedergewonnenen Ostprovinzen“ zusammenfasste.14 Die Diskussion darüber, ob Schieder darin „lediglich“ die Ansichten älterer Historiker wiedergab, diese teilte oder aber eigene Positionen formulierte, wurde zu einem zentralen Streitpunkt des Frankfurter Historikertages von 1998 sowie nachfolgender Publikationen zum Thema.15 Wehler etwa, der zunächst abwehrend reagiert hatte, gestand die nationalsozialistische Verstrickung Schieders 1998 zwar ein, verwies aber darauf, Schieder habe wie Conze nach 1945 „reflexiv gelernt“, wie an seinen Schriften ebenso wie an seiner Lehrtätigkeit als Professor in Köln von 1948 bis zu seiner Emeritierung 1976 bzw. bis zu seinem Tod 1984 abzulesen sei.16 Als einen solchen Versuch der indirekten Auseinandersetzung auf einer sehr abstrakten Ebene lässt sich auch der hier abgedruckte gewichtige Essay Schieders über das Verhältnis von Strukturen und Persönlichkeiten lesen, so wie er es an anderer Stelle des entsprechenden Sammelbandes formulierte: Nach „der Zerstörung aller Ordnungen und gesellschaftlichen Strukturen [muss] der Ansatzpunkt historischen Nachdenkens im Menschen selbst gesucht“ werden, „und zwar im Menschen, der Person ist im religiösen Sin-
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ne.“17 Stärker noch als seine Mitstreiter Otto Brunner und Werner Conze, die jeder für sich zu diesem Thema bereits einen Aufsatz vorgelegt hatten, setzte sich Schieder hier intensiv mit dem Erbe des Historismus auseinander, um einerseits die Notwendigkeit des Strukturbegriffes für die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 zu unterstreichen, andererseits den historistischen Begriff der Persönlichkeit gegen allzu strukturorientierte Theorien zu verteidigen und neu zu profilieren.18 Gegen zeitgenössische soziologische Theorien ebenso wie gegen den politikzentrierten historischen Mainstream seiner Zeit argumentierte Schieder für eine wechselseitige Abhängigkeit von Strukturen und menschlichem Handeln, deren Verhältnis historisch variabel sei und für jede historische Konstellation neu bestimmt werden müsse (Schieder, S. 177). Zwar nehme die Struktureinbindung des Menschen in der „technisch-industriellen“ Gesellschaft zu, jedoch bemesse sich die Größe einer historischen „Persönlichkeit“ daran, inwieweit sie in der Lage sei, die sie determinierenden Strukturen zu überschreiten und zwar im Sinne der Strukturbegründung, der Strukturerhaltung oder aber der Strukturzerstörung (Schieder, S. 188 und 190). Strukturgeschichte sollte und musste damit mehr sein als eine historische Spezialdisziplin, sie stieg in den Rang einer Synthesewissenschaft auf. Fünfzehn Jahre später setzte Jürgen Kocka (*1941) zu einer umfassenden Kritik dieses von Schieder und anderen formulierten Programms an. Er gestand der Strukturgeschichte zwar einerseits zu, auf die Schwächen und Mängel der deutschen Geschichtswissenschaft vor 1945 eine Antwort gesucht zu haben, konstatierte aber andererseits, dass dieses Bemühen zu einer „Überlastung“ des Strukturbegriffs (Kocka, S. 159) geführt habe. Indem Strukturgeschichte erstens als Sozialgeschichte gegen die Übermacht einer Politik- und Geistesgeschichte antrat, zweitens die Analyse von Strukturen gegenüber einer einseitigen Konzentration auf eine Personen- und Ereignisgeschichte einforderte und drittens ein Syntheseangebot liefern wollte, sei der Begriff „Struktur“ unpräzise verwandt und damit angreifbar geworden. Demgegenüber plädierte Kocka nun für eine engere Definition von Struktur im Sinne einer langfristig stabilen, überindividuellen Dimension von Geschichte (Kocka, S. 160f.). Anders als Schieder wies er der Persönlichkeit nurmehr ein Residuum zu, das dort beginnen sollte, wo die Erklärungskraft der Strukturgeschichte endete, und das dann mit der traditionellen Methode der Hermeneutik zu erschließen sei (Kocka, S. 168). Damit grenzte sich der damals noch junge Bielefelder Professor, er war erst 1973 mit gerade 32 Jahren berufen worden, eindeutig von der älteren Strukturgeschichte ab, ohne jedoch deren wegbereitende Wirkung für die gerade erst entstehende Sozialgeschichte Bielefelder Prägung gänzlich zu verleugnen. Als Schüler von Gerhard A. Ritter (*1929, Freie Universität Berlin) stand er Schieder und Conze ohnehin weniger nahe als der zehn Jahre ältere Hans-Ulrich Wehler, den er 1968 – im Jahr seiner Promotion – auf dem Freiburger Historikertag kennengelernt hatte.19 Ähnlich wie dieser hatte er prägende Eindrücke in den USA empfangen, war dort bereits 1965 dem
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deutschen Emigranten Hans Rosenberg begegnet und unter anderen durch diesen nachdrücklich auf die Bedeutung deutscher Soziologen wie Max Weber oder Karl Marx für die angloamerikanische Forschung aufmerksam gemacht worden.20 Diese Orientierung an soziologischen Theorien beeinflusste nicht nur Kockas eigene empirische Arbeiten – so war seine Promotion über die Firma Siemens angeregt durch Max Webers Bürokratiemodell, während etwa der bedeutende Essay von 1973 über die „Klassengesellschaft im Krieg“ in Auseinandersetzung mit Karl Marx entstand.21 Mehr noch forderte Kocka gemeinsam mit Wehler in unzähligen Aufsätzen Theorieorientierung als grundlegende Notwendigkeit jedweder historiographischer Arbeit.
III. T HEORIEORIENTIERUNG UND M ODERNISIERUNGSTHEORIE Dieses Postulat griff Hans-Ulrich Wehler mit seinem hier abgedruckten Essay über „Modernisierungstheorie und Geschichte“ auf. Der Aufsatz erschien in einer ausführlicheren Version mit umfassender Diskussion der Literatur in den Anmerkungen als selbständige Schrift 1975.22 Hier findet sich eine den hohen Ansprüchen der damaligen Theoriediskussion genügende Auseinandersetzung mit einer großen Bandbreite sozialer und politischer Modernisierungstheorien vor allem angelsächsischer Provenienz (unter ausdrücklicher Ausklammerung von Theorien ökonomischen Wachstums), wie sie seit den 1950er Jahren debattiert wurden. In kritischer Analyse arbeitet Wehler die Verkürzungen und den Reduktionismus zahlreicher modernisierungstheoretischer Ansätze aus den Politik- und Sozialwissenschaften heraus, wobei er zugleich die Fähigkeit und den Willen der Modernisierungstheoretiker zur Selbstkritik und Revision als größte Stärken dieser Theorieschule hervorhebt. Die mangelnde Geschlossenheit dieser Theorien, die oftmals nur Aussagen über begrenzte Teilbereiche von Gesellschaft und ihrer Entwicklung erlaubten, sei keine Schwäche, da eine solche Theorie nur auf Kosten einer hermetischen Abkapselung von der Empirie und eines ideologischen Determinismus zu haben sei. Gegenüber alternativen Großentwürfen wie der Marxschen Theorie oder den verschiedenen Spielarten des Marxismus sei die Modernisierungstheorie überlegen, da sie ihre normativen Vorannahmen offenlege und sie damit zur Debatte stelle. In der Folge spricht Wehler fast ausschließlich von „speziellen Modernisierungstheorien“ im Plural und behandelt sie als eine Art pragmatischen Werkzeugkasten für jeweils spezifische Fragen und Felder der historischen Entwicklung.23 „Modernisierungstheorie und Geschichte“ ist freilich die einzige wirklich theoretische Auseinandersetzung mit dieser Theorieschule geblieben.24 Sektorale Bezüge zu speziellen Modernisierungstheorien wie Alexander Gerschenkrons Theorie ökonomischer Rückständigkeit, Theorien der Sozialisation, der Professionalisierung und vor allem der (in Deutschland blo-
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ckierten) Demokratisierung prägten zwar Wehlers Kaiserreich-Buch bis hinein in die Gliederung und die narrative Struktur (s.u.). Sie bilden dort ein nicht mehr hinterfragtes Gerüst für eine sehr knapp gehaltene empirische Argumentation. Aber ansonsten zog sich die Bielefelder Sozialgeschichte auf eine allgemeine, im Hintergrund schwebende Modernisierungsrhetorik zurück, die im Grunde immer die Synchronisierung von Prozesskategorien, von der Industrialisierung bis zur Demokratisierung, meinte.25 In Wehlers Gesellschaftsgeschichte hat diese Rhetorik schließlich einer Max Weber folgenden, eher formalen sektoralen Gliederung der Gesellschaft fast vollständig Platz gemacht. In neueren Reflexionen spielt die Modernisierungstheorie kaum noch eine Rolle, auch wenn die Orientierung an ihr zuweilen nach wie vor als alternativlos gerechtfertigt wird, gerade wenn es gilt, die Abgrenzung vom Marxismus zu begründen.26
IV. „K AISERREICH “
UND
„S ONDERWEG “
Überblickt man die empirischen Arbeiten der Bielefelder Sozialhistoriker, fällt sofort ins Auge, dass das Schwergewicht gerade der früheren Werke auf der Auseinandersetzung mit dem „langen 19. Jahrhundert“, mehr noch mit der Geschichte des Deutschen Kaiserreiches lag. Das ist sicherlich nur zu einem kleinen Teil persönlichen „Zufällen“ und Vorlieben geschuldet.27 Entscheidender war der politisch und lebensgeschichtlich motivierte Wille, den verheerenden Erfolg des Nationalsozialismus in Deutschland zu erklären, sowie die damit verbundene, theoretisch fundierte Überzeugung, dass man dazu weit in die Vergangenheit ausgreifen und nach langfristig wirksamen Strukturen und Prozessen suchen müsste. Die Grundlinien einer in Bielefelder Kreisen lange vertretenen, wenn auch im Einzelnen immer wieder modifizierten bzw. kritisierten Interpretation des Kaiserreiches skizzierte Wehler 1973 in einem schmalen Band zur Geschichte des Deutschen Kaiserreiches, der in einer von Joachim Leuschner bei Vandenhoeck herausgegebenen Reihe zur deutschen Geschichte erschien. Wie Wehler in der hier abgedruckten Einleitung betont, wollte er eine „problemorientierte historische Strukturanalyse“ des Kaiserreiches (Wehler, S. 11) vorlegen. Ziel dieser Analyse sollte es sein, den von der westeuropäisch-nordamerikanischen Entwicklung abweichenden Sonderweg zu erklären, der mehr oder weniger geradlinig in die „Katastrophe des deutschen Faschismus“ geführt habe (Wehler, S. 12). Den Kern dieser Entwicklung erkannte Wehler in seiner erstaunlich politik- und staatszentrierten Darstellung des Kaiserreiches in der von ihm konstatierten Diskrepanz zwischen ökonomischer Modernisierung einerseits und gesellschaftlichpolitischer Rückständigkeit andererseits. Mit seinem Kaiserreich-Buch setzte Wehler zwar in der ihm eigenen Zuspitzung einen neuen Akzent auf dem Feld der historischen Forschung, aber er betrat nicht gänzlich wissenschaftliches Neuland. Die These eines weit
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ins 19. Jahrhundert zurückreichenden, auf 1933 letztlich zuführenden deutschen „Eigenweges“ hatte schon 1955 Karl Dietrich Bracher in seiner monumentalen Studie über die „Auflösung der Weimarer Republik“ vertreten und war dafür von vielen deutschen Historikern, unter anderen auch von Werner Conze und dem Rothfels-Schüler Waldemar Besson, harsch kritisiert worden.28 Zugleich bezog Wehler mit seiner Kaiserreich-Interpretation auch Position in der bereits erwähnten Fischer-Kontroverse. Fritz Fischer hatte mit seiner 1961 veröffentlichten Monographie „Griff nach der Weltmacht“ den ersten öffentlichkeitswirksamen Historikerstreit der Bundesrepublik ausgelöst. Gegen die in Historikerkreisen vorherrschende Sicht, der Erste Weltkrieg sei nichts als ein Verteidigungskrieg gewesen, argumentierte Fischer mit der von ihm im Verlauf der 1960er Jahre immer stärker zugespitzten These, dass bereits 1914 weit reichende expansive Kriegsziele von Bethmann Hollwegs Reichskanzlei formuliert worden seien und der Kriegsausbruch von der Reichsleitung zumindest billigend in Kauf genommen worden sei.29 Auf diese These reagierten vor allem die älteren deutschen Historiker wie etwa der ehemalige Vorsitzende des Verbandes der deutschen Historiker Gerhard Ritter (1888-1967), der sich 1915 freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte, mit scharfer Ablehnung, betonten sie doch die grundsätzlich defensive Haltung der Reichsleitung im Vorfeld des Ersten Weltkrieges.30 Die Kontroverse um die deutsche Kriegszielpolitik beherrschte die Historikerdebatten bis zum Berliner Historikertag 1964 und gehörte darüber hinaus noch bis in die frühen 1970er Jahre zu den „Reizthemen“ der Geschichtswissenschaft. Hier bezog Wehler Stellung, indem er Fischer konzedierte, auf die aggressive Haltung der Reichsleitung hingewiesen zu haben. Zugleich betonte Wehler aber im Anschluss an die von ihm herausgegebenen Schriften Eckart Kehrs zum „Primat der Innenpolitik“, dass diese Haltung nicht durch außenpolitische Bedingungen und langjährige Planungen, sondern durch die Unfähigkeit der Führungsschichten bestimmt gewesen sei, auf die vorhandenen gesellschaftlichen Probleme adäquat zu reagieren. Das Kaiserreich-Buch forderte in seiner thesenartigen Zuspitzung Widerspruch geradezu heraus. Tatsächlich war es Wehler selbst, der seinen gleichwohl geschätzten Kontrahenten Thomas Nipperdey, der zu diesem Zeitpunkt schon an seiner später dreibändigen „Deutschen Geschichte 18001918“ arbeitete, einlud, seine Kaiserreich-Deutung in der ersten Nummer von Geschichte und Gesellschaft zu rezensieren.31 In seiner ausführlichen Besprechung erhob Nipperdey drei methodische Einwände. So war es aus Nipperdeys Sicht erstens unzulässig, gegenwärtige Wertmaßstäbe, selbst wenn sie von einigen historischen Akteuren geteilt worden sein sollten, explizit in die Analyse mit einzubeziehen und auf dieser Grundlage quasi einen „Prozeß gegen die Urgroßväter“ zu führen. Zweitens mahnte er – ganz auf dieser historistischen Linie – an, den Eigenwert einer Epoche zu respektieren, sie also nicht oder nicht allein als Sonderweg mit dem Fluchtpunkt 1933 zu erzählen, da sich zu jeder Zeit die verschiedensten Kontinuitäten
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und Diskontinuitäten überlagern würden und geschichtliche Entwicklung zudem weitaus ergebnisoffener sei, als sie in Wehlers Darstellung erscheine. Im Einklang damit warf er Wehler drittens eine zu statische, in diesem Sinne zu strukturlastige Interpretation des Kaiserreiches vor, da Wehler die historische Situation von 1871 als Ausgangskonstellation beschreibe, in der alle späteren Entwicklungen bereits angelegt seien, die dort herausgearbeitete Krisensituation als eine Art „Dauerkrise“ also die gesamte Entwicklung bis 1918 mehr oder weniger unverändert bestimmt habe. Die von Nipperdey vorgebrachte methodische Kritik lässt sich nicht nur als Kritik an diesem einen Werk Wehlers lesen, sondern als in mancher Hinsicht zukunftsweisende Gegenposition zu dem, was Historische Sozialwissenschaft Bielefelder Art in den 1970er Jahren war bzw. sein wollte. Für die Forschung der Bielefelder Historiker wirkte jedoch die von Wehler so pointiert vorgetragene Sonderweg-These zunächst äußerst stimulierend. Als Ergebnis eines mehr oder weniger impliziten Vergleichs mit westeuropäischen Entwicklungen regte sie dazu an, diese Annahme nun auch explizit zu überprüfen. In dieser Form stand sie Pate für den ungemein produktiven Bielefelder Sonderforschungsbereich „Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums: Deutschland im internationalen Vergleich“, in dessen Rahmen von 1985 bis 1997 mehr als zwanzig Monographien und Sammelbände entstanden.32 Ein Ergebnis dieses Sonderforschungsbereiches war dann jedoch eine weitgehende Korrektur der Sonderweg-These, da sich zeigte, dass die Entwicklung des deutschen Bürgertums doch in vieler Hinsicht weniger vom westeuropäischen Entwicklungspfad abwich als zuvor angenommen. Dennoch setzte Jürgen Kocka, der 1992 die „Arbeitsstelle für vergleichende Gesellschaftsgeschichte“ an der FU Berlin gründete und damit in gewisser Weise das Bielefelder Forschungsprogramm fortsetzte, 1998 zu einem Versuch an, das Konzept des Sonderweges als solches zu retten, und verband dies mit einem deutlichen Plädoyer für die analytische Kraft des historischen Vergleichs, der im Sonderweg-Paradigma ja schon immer mit gedacht worden war.33 In gewisser Weise lässt sich dieser Rettungsversuch aber auch als ein leiser Abschied von einem einst wirkungsmächtigen Interpretament lesen, denn das, was Kocka in diesem Aufsatz als unverändert gültige Sonderweg-Interpretation präsentierte, hatte doch eine weitaus geringere Reichweite als etwa Wehlers Kaiserreich-Sonderweg von 1973. Dieses fast unmerkliche Verschwinden der für die Bielefelder Sozialgeschichte so bedeutsamen These erscheint in den Augen vieler sicher als symptomatisch für die Situation der Bielefelder Schule insgesamt: Zwar ist sie institutionell inzwischen hervorragend verankert, besetzen ihre Vertreter einflussreiche Positionen, hat ihre Stimme nach wie vor großes Gewicht in der historischen Debatte. Seit geraumer Zeit nehmen aber die methodischen und theoretischen Herausforderungen zu, denen sich die Bielefelder Sozialgeschichte zu stellen hat und auf die vor allem Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler mit nicht nachlassender Streitlust reagierten.
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R EAKTIONEN
In der Auseinandersetzung – zunächst mit der Begriffsgeschichte, später und weitaus polemischer mit der Alltagsgeschichte, der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie der „Neuen Kulturgeschichte“ – versuchten Kocka und Wehler, die gegenüber allen Alternativangeboten unverändert überragende Erklärungskraft „ihrer“ Sozialgeschichte zu verteidigen. Bevor jedoch diesen Herausforderungen der „Bielefelder Schule“ Raum gegeben wird, soll eine Zwischenbilanz aus Sicht der beiden wichtigsten Bielefelder Protagonisten rekapituliert werden.34 1975, in dem Jahr also, in dem die Gründungsnummer von Geschichte und Gesellschaft erschien, veröffentlichte Jürgen Kocka im bereits etablierten Archiv für Sozialgeschichte unter dem Titel „Sozialgeschichte – Strukturgeschichte – Gesellschaftsgeschichte“ eine erste Rückschau auf die (Vor-) Geschichte der eigenen historiographischen Position, die zugleich dazu diente, auf dem Höhepunkt des Streites zwischen Politik- und Sozialgeschichte die Gesellschaftsgeschichte als ein alles überragendes Syntheseangebot zu präsentieren. In einer bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ausgreifenden Rückschau beschrieb Kocka allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz die bis in die Jahre nach 1945 wirksame Dominanz der Politikgeschichte als „Ergebnis eines „fast hundertjährigen Verengungs- und Verdrängungsprozesses“.35 Die daraus folgende Position von Sozial- und Strukturgeschichte als randständige Sektorwissenschaft bzw. umkämpfte Oppositionswissenschaft erklärten aus Sicht Kockas manche Schwächen und Unzulänglichkeiten wie etwa die zu geringe Berücksichtigung der Handlungsebene im Rahmen der Strukturgeschichte. Hier formulierte Kocka bereits ähnliche Überlegungen wie in der zuvor erwähnten, zwei Jahre später verfassten Auseinandersetzung mit Schieder. Trotz aller Kritik an der Überbetonung von Strukturen maß jedoch auch Kocka selbst den „kollektive[n], vor allem sozialökonomisch vermittelte[n] gesellschaftliche[n] Strukturen und Prozessen“ eine besondere Geschichtsmächtigkeit zu (S. 35) und schlug deshalb vor, „die geschichtliche Wirklichkeit als ein in Teilsysteme differenziertes, sich wandelndes Gesamtsystem (= Gesellschaft im umfassenden Sinn)“ zu begreifen, „in dem die Gesellschaft im engeren Sinn, also jenes Teilsystem von sozialökonomisch vermittelten Bedürfnissen, Interessen, Abhängigkeiten, Kooperationen und Konflikten, das seit Hegel als ‚Differenz‘ zwischen Individuum und Staat bestimmt wurde, eine maßgebliche und andere Teilsysteme vor allem prägende (wenn auch von diesen geprägte) Rolle spielt“ (ebd.). Nur eine theoretisch reflektierte, hypothesengestützte, zumindest von ihren Begriffen her komparativ angelegte, auf angemessene Periodisierung und die Vermittlung der Theorien unterschiedlicher Reichweite ausgerichtete Gesellschaftsgeschichte könne diese geschichtliche Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität angemessen erfassen. Sozialgeschichte einerseits, Politikgeschichte andererseits, denen Kocka in sichtlichem Bemühen um Vermittlung relative Selbständigkeit konzedierte, könnten dagegen nur einzelne
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Bereiche dieser Wirklichkeit erschließen und blieben damit notwendigerweise „Teildisziplin“ (S. 41f.). Deutlich weniger konziliant und optimistisch gestimmt klang dagegen die Bilanz, die Hans-Ulrich Wehler nur drei Jahre später zog. 1978, als die Sozialgeschichte Bielefelder Prägung national und international bereits großes Ansehen genoss, hatte ihn Jürgen Habermas (*1929) gebeten, für seine zweibändige Bestandsaufnahme der Bundesrepublik, die er in Anlehnung an Karl Jaspers „Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘“ nannte, den Artikel über „Geschichtswissenschaft heute“ zu verfassen.36 In einem breit angelegten Rückblick beschreibt Wehler darin die Entwicklung der Geschichtswissenschaft bis zum Auftritt der späteren Bielefelder Sozialhistoriker als die Geschichte eines – von wenigen Ausnahmen abgesehen – theoretischen und methodischen Stillstandes.37 Erst in den 1960er Jahren sei, angefangen mit der Fischer-Kontroverse, Bewegung in das festgefahrene historiographische Lager gekommen, die dann von den streitbaren Anhängern der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu einem wirklichen geistigen und institutionellen Umbruch habe genutzt werden können. Doch schon sieht Wehler die Erfolge der Historischen Sozialwissenschaft erneut bedroht: ein „subtiler Neohistorismus“ (S. 745), eine „konfessionalistische Gegnerschaft“ (S. 746), ein „rabiate[r] rechtskonservative[r] Nationalismus“ (S. 748) formierten sich aus Wehlers Sicht gegen die noch junge Sozialgeschichte. Er rät darum zur „intellektuelle[n] Offensive“ (S. 752). Gelegenheit dazu war – so zeigen die nachfolgenden Ausführungen – oft gegeben. 1.
Begriffsgeschichte
Die älteste Herausforderung der Bielefelder Sozialgeschichte stammt quasi aus dem innersten Kreis, nämlich aus Bielefeld selbst und wird manches Mal schlicht und einfach zur „Bielefelder Schule“ hinzugerechnet.38 Was jedoch Reinhart Koselleck (1923-2006), der seit 1966 im Gründungsausschuss der Bielefelder Reformuniversität saß und von 1973 bis zu seiner Emeritierung 1988 dort lehrte, seit den 1950er Jahren unter dem Signum der „Begriffsgeschichte“ mit entwarf, ist im Grunde eine ganz eigene, wenn auch im Dialog mit der Sozialgeschichte entstandene historiographische Richtung.39 Genau um die Bedingungen und den möglichen Ertrag eines solchen Dialogs ging es Reinhart Koselleck im hier wieder abgedruckten Aufsatz „Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte“, der 1972 erschien – in dem Jahr also, in dem der erste Band jenes Werkes publiziert wurde, das als eines, wenn nicht das Hauptwerk Kosellecks gilt und ihm internationale Anerkennung brachte: die Geschichtlichen Grundbegriffe, die er ursprünglich zusammen mit Werner Conze und Otto Brunner herausgab und die in schließlich acht gewichtigen Bänden ein Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland bieten sollten.40 Das Programm bzw. die spezifische Leistung dieses Mammutwerkes auch und gerade für die Sozialgeschichte illustriert
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Koselleck in dem hier vorliegenden Aufsatz anhand von drei „Begriffsgeschichten“, nämlich des Bürgerbegriffs, des Demokratiebegriffs und des Bundesbegriffs. Diese Begriffe stammen allesamt aus dem Kontext seiner Habilitation über Preußen zwischen 1791 und 1848 und gehören mithin zum politisch-sozialen Vokabular der von Koselleck so genannten „Sattelzeit“, der Epoche zwischen Mitte des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts also, in der sich nach Überzeugung Kosellecks die politisch-sozialen Begriffe der Moderne ausprägten und in der – ein weiteres Spezifikum der Moderne – Erfahrungsraum und Erwartungshorizont des Menschen immer stärker auseinandertraten.41 Drei Funktionen benennt Koselleck schließlich, die das Verhältnis von Begriffs- und Sozialgeschichte charakterisieren: Erstens kläre die Begriffsgeschichte den Bedeutungsgehalt zeitgenössischer politischsozialer Begriffe und helfe damit als „spezialisierte Methode der Quellenkritik“ der Sozialgeschichte, die Interessen und Absichten der historischen Akteure zu verstehen (Koselleck, S. 120, Kursivierung im Original). Zweitens aber sei die Begriffsgeschichte ein ganz eigenes Forschungsgebiet, da sie nicht nur die synchrone Verwendung, sondern auch den historischen Wandel rekonstruiere und so die historisch gewachsene „Mehrschichtigkeit“ der Begriffe freilege (Koselleck, S. 128). Auch wenn oder gerade weil sich die Geschichte von Begriffen nicht immer mit der „Sachgeschichte“ decke, könne sie wertvolle „Indikatoren für die Sozialgeschichte“ liefern (Koselleck, S. 124). Eine Sozialgeschichte ohne begriffsgeschichtliche Reflexion sei zudem, drittens, theoretisch unzulänglich, da nur die Begriffsgeschichte die Divergenz zwischen vergangener und heutiger Begrifflichkeit, zwischen Quellen- und Wissenschaftssprache, klären könne und damit erst strukturale Aussagen ermögliche. Ein Jahr, nachdem Koselleck in dieser Weise eine geradezu symbiotische Arbeitsbeziehung von Begriffs- und Sozialgeschichte eingefordert hatte, folgte er einem Ruf nach an die Universität Bielefeld. Im selben Jahr 1973 trat auch der gerade erst habilitierte Jürgen Kocka eine Professur in Bielefeld an. Gut fünfzehn Jahre lang sollten Koselleck, Wehler und Kocka das Gesicht der Bielefelder Geschichtsfakultät prägen. Kocka hatte Koselleck 1966/7 kennengelernt und war von diesem sogleich als Autor des für die Geschichtlichen Grundbegriffe geplanten Artikels über den Begriff „Angestellte“ angeworben worden.42 Noch als Assistent rezensierte Kocka 1970 die Habilitation Kosellecks in der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt lässt sich in dieser Rezension die auch später gültige Haltung Kockas zur Begriffsgeschichte deutlich erkennen. Er ist zweifellos zutiefst beeindruckt von der Virtuosität, mit der Koselleck die Spannungen und Brüche zwischen den theoretisch formulierten Ansprüchen und der tatsächlichen Praxis ausmisst und darstellerisch brillant in seine Analyse der bürokratischen, preußisch-deutschen „Revolution von oben“ einfügt. Allerdings – so Kocka – fehle der Rückbezug auf sozial- und wirtschaftshistorische Entwicklungen und damit auch die eigentlich notwendige „ideologiekritische“
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Perspektive (Kocka, S. 124), die als Korrektiv zur mehr oder weniger hermetischen Geschlossenheit von Kosellecks Analyse unverzichtbar gewesen wäre. Geradezu in Umkehrung von Kosellecks Charakteristik des Verhältnisses von Sozial- und Begriffsgeschichte, nach der die Begriffsgeschichte als absolut eigenständige Methode eine notwendige Ergänzung der Sozialgeschichte sei, stellte Kocka damit die Begriffsgeschichte als eine ohne sozialhistorische Fundierung letztlich unzulängliche Methode dar. Die Sozialgeschichte blieb so – zumindest aus der Sicht Kockas und Wehlers – in der Auseinandersetzung mit der Begriffsgeschichte der methodische Königsweg, eine Position, die die Bielefelder Sozialhistoriker auch im späteren Streit mit der Alltagsgeschichte für sich beanspruchen sollten. 2.
Alltagsgeschichte
„Alltagsgeschichte“ hieß das Banner, hinter dem sich eine jüngere Generation von Historikern und geschichtsinteressierten Laien seit den frühen 1980er Jahren in der Bundesrepublik versammelte.43 In klarer Frontstellung gegen die nun fest etablierte Historische Sozialwissenschaft mit ihrem modernisierungstheoretischen Paradigma, ihrem Beharren auf der Bedeutung von Prozessen und Strukturen trat man für einen Wechsel der Perspektive ebenso wie der Organisation von Forschung ein. „Wechsel der Perspektive“ konnte vielerlei bedeuten: So beschäftigten sich Alltagshistoriker mit der Geschichte der „kleinen Leute“, sie wollten eine „Geschichte von unten“ als Geschichte der Kosten von Modernisierung betreiben oder sie forderten zur Erforschung von menschlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen auf. „Alltagsgeschichte“ war dabei auch insofern eine „Geschichte von unten“, als sie nicht nur bzw. nicht einmal in erster Linie an den Universitäten betrieben wurde. Eine der markantesten Neuerungen der Alltagsgeschichte war die Gründung von sogenannten Geschichtswerkstätten, in denen sich Bewohner und Bewohnerinnen eines Stadtviertels zusammenfanden, um die Geschichte eben dieses Viertels oder eines nahe gelegenen Betriebes zu erkunden. Vorbild für diese Geschichtswerkstätten, die sich 1983 zum bundesweiten „Geschichtswerkstatt e.V.“ zusammenschlossen, die Zeitschrift Geschichtswerkstatt ins Leben riefen und mehrere nationale „Geschichtsfeste“ feierten, waren die englischen „history workshops“. Auch methodisch kamen Anregungen aus dem westeuropäischen bzw. amerikanischen Ausland. Zu nennen sind etwa die Forschungen der Anglomarxisten, vor allem der berühmte Aufsatz Edward P. Thompsons über die „moral economy“ der englischen Unterschichten (1971), der italienischen microstoria, wie sie Carlo Ginzburg in beeindruckender Weise in seinem Werk „Der Käse und die Würmer“ (1976) präsentierte, den Arbeiten des amerikanischen Anthropologen Clifford Geertz mit der von ihm propagierten Methode der dichten Beschreibung (1973) sowie nicht zuletzt das Kultbuch des schwedischen Gewerkschafters Sven Lindqvist „Grabe, wo du stehst!“ (1978).44
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In Deutschland nahm die Alltagsgeschichte jedoch sowohl methodisch als auch inhaltlich und (wissenschafts-)politisch eine spezifische Wendung. Das lag zum einen an der äußerst scharfen Frontstellung gegenüber der Historischen Sozialwissenschaft, die nicht nur methodisch, sondern auch als Disziplin der fest besoldeten, politisch saturierten Lehrstuhlinhaber in einer Zeit zunehmender Stellenknappheit angegriffen wurde. Besondere Bedeutung bekam die Alltagsgeschichte zum anderen im Kontext des deutschen Historikerstreits über einen möglichen Vergleich von nationalsozialistischen und stalinistischen Verfolgungspraktiken (1986/7) durch ihre Forschungen über Alltagserfahrungen und Denunziations- bzw. „Kooperations“-Bereitschaft der Normalbürger im NS-Deutschland – neben der Beschäftigung mit dem Alltag von Industriearbeitern der zweite inhaltliche Schwerpunkt der Alltagsgeschichte.45 Der hier abgedruckte Beitrag Alf Lüdtkes „Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte?“ erschien 1989 und damit nach einem Jahrzehnt alltagshistorischen Aufbruchs sowie im Ausklang des Historikerstreits, der die Notwendigkeit alltagsgeschichtlicher Zugänge zur Geschichte in mancher Hinsicht bestätigt hatte. Mit Alf Lüdtke (*1943) meldete sich ein Historiker zu Wort, der zwar fast derselben Generation wie Jürgen Kocka angehörte, zu diesem Zeitpunkt aber am außeruniversitären Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen beschäftigt war und erst 1995 auf eine außerplanmäßige Professur in Hannover, 1999 dann auf eine ordentliche Professur für Historische Anthropologie in Erfurt berufen wurde. 1989 arbeitete Lüdtke an seiner Habilitationsschrift über Alltag und Erfahrungen von Fabrikarbeitern zwischen Kaiserreich und NS-Herrschaft, die 1993 erschien und mit der er den seither oft zitierten Begriff des Eigen-Sinns als eigen-willige Form der Aneignung von Herrschaftsnormen prägte.46 Dieses Konzept benennt Lüdtke bereits hier als eine der wichtigen methodischen Errungenschaften der Alltagsgeschichte, deren Methode er in diesem Text durch den Rückgriff auf die ethnologischen Begriffe des Eigenen und des Fremden zu schärfen sucht. Gegenüber dem Vorwurf der mangelnden Synthesefähigkeit, der den Alltagshistorikern vor allem von Seiten der Sozialhistoriker gemacht worden war, betont er die spezifischen Leistungen der Alltagsgeschichte im Sinne der Kontextualisierung und Differenzierung, die eben gerade auf die Unter- bzw. Gegenseite der großen Prozesse und Strukturen aufmerksam mache, ohne die sich diese Prozesse gar nicht hätten vollziehen können, die also notwendigerweise zu einer allgemeinhistorischen Deutung von Geschichte dazugehörten. Zugleich sucht Lüdtke hier nach alternativen Konzepten, die eine übergeordnete Perspektive ermöglichen würden, ohne die alltagshistorische Erfahrungs- und Handlungsorientierung zu verlassen. „Kolonisierung von Lebenswelten“ ist eines jener Konzepte, die Lüdtke diskutiert, ohne jedoch zu einem abschließenden Ergebnis zu kommen. Lüdtkes Text trägt damit deutliche Spuren einer zum Teil sehr harten Auseinandersetzung mit den Vertretern der Bielefelder Sozialgeschichte, allen voran Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka. Kocka hatte bereits auf
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dem Berliner Historikertag von 1984 die alltagsgeschichtliche Herausforderung aufgegriffen und unter dem Titel „Geschichte von unten – Geschichte von innen“ zu einer Podiumsdiskussion geladen, an der Vertreter beider Seiten teilnahmen. Auch Wehler hatte damals auf dem Podium gesessen.47 Der hier abgedruckte Text „Alltagsgeschichte. Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen?“ ist eine mehrfach überarbeitete Fassung seines Diskussionsbeitrages.48 Geradezu in Form einer Abrechnung – drei Gliederungspunkte mit jeweils zehn Unterpunkten – geht Wehler hier mit der Alltagsgeschichte hart ins Gericht. Zwar konzediert er, dass die Vertreter der Alltagsgeschichte auf gewisse Mängel und Leerstellen der Sozialgeschichte, etwa auf ihre Strukturlastigkeit, ihre fehlende Anschaulichkeit sowie die Vernachlässigung der Dimensionen von Erfahrung, Deutung, ganz allgemein Kultur in einem weiteren Sinne, aufmerksam gemacht hätten. Unnachgiebig kritisiert er jedoch den verschwommenen Alltagsbegriff, ihre mangelnde Synthesefähigkeit im Sinne übergreifender historischer Prozesse sowie ihre aus Wehlers Sicht verbreitete Theorielosigkeit bzw. unpräzise Verwendung von Begriffen. Zugleich verwehrt sich Wehler gegen die aus seiner Perspektive überzogene Modernisierungsfeindlichkeit der Alltagshistoriker ebenso wie gegen deren Forderung nach Empathie mit den historischen Subjekten. Deutlich ist Wehler hier die Irritation angesichts der neuartigen Erfahrung anzumerken, politisch von der „linken“ Seite angegriffen zu werden, und so endet sein Text in einem geradezu emphatischen Bekenntnis zu den Errungenschaften von westlicher Modernisierung und Rationalisierung, die es gegen den „biederen Hirsebrei“ der Alltagsgeschichte (S. 150) zu verteidigen gelte. Der alltagsgeschichtliche Ansatz – so prognostiziert Wehler schließlich – werde sein Autonomiebegehren über kurz oder lang verlieren und als „Aspekt“ (S. 147) unter dem „weiten Dach“ (S. 139) der Sozialgeschichte bzw. anderer historischer Disziplinen seinen Platz finden. 3.
Frauen- und Geschlechtergeschichte
Mit einem ähnlich hegemonialen Gestus der intellektuellen „Verkleinerung“ und anschließenden Vereinnahmung begegneten die Vertreter der Bielefelder Sozialgeschichte auch der Frauen- und Geschlechtergeschichte, die auf einem deutschen Historikertag erstmals 1984 mit einer eigenen Sektion präsent war.49 Nicht ohne Grund hatte sie ihren ersten Auftritt auf etabliertem Historikerterrain im gleichen Jahr wie die Alltagsgeschichte, lenkte diese doch den Blick auf die Sphäre des Alltäglichen und Privaten, in der traditionell der Familie bzw. den Frauen eine wichtige Rolle zugeschrieben wurde. Entstanden war die Historische Frauenforschung, wie sie zunächst programmatisch genannt wurde, etwas früher als die Alltagsgeschichte.50 Sie war ein Kind der neuen Frauenbewegung, die sich in den USA bereits in den 1960er Jahren, in der Bundesrepublik dann in den 1970er Jahren formierte. Dem politischen Anliegen der Frauenbewegung entsprechend ging es der Frauengeschichte darum, die vergessene oder bewusst „übersehene“ Ge-
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schichte der Frauen aufzuarbeiten. Dabei begab sie sich zunächst auf die Suche nach den Spuren „bedeutender“, will heißen: politisch einflussreicher Frauengestalten, um dann die häusliche Sphäre als Lebensraum einer Mehrheit von Frauen genauer zu erkunden. Der Historikertag von 1984 markierte schließlich für die bundesrepublikanische Frauenforschung eine Wegscheide: Die scheinbar überzeitlich gültige Dichotomie von privat und öffentlich im Sinne von weiblich bzw. männlich dominierten Sphären wurde dort als eine historisch gewachsene Norm entlarvt und demgegenüber auf die Vielfältigkeit von „Frauenräumen“ ebenso wie auf den allgemeingesellschaftlichen Bezug des „privaten“ bzw. familialen Handelns hingewiesen.51 Damit verließ die Frauengeschichte ihre Nische als Wissenschaft, die sich als Ergänzung zur „allgemeinen“ Geschichte der Erforschung des Sonderfalls der Frauen gewidmet hatte, und erhob als Geschlechtergeschichte den Anspruch, etablierte Begriffe, Kategorien und Periodisierungen der „allgemeinen“ Geschichte zu hinterfragen. Die bundesrepublikanischen Historikerinnen – denn Männer betrieben zu diesem Zeitpunkt kaum Frauenoder Geschlechtergeschichte – vollzogen damit eine Entwicklung nach, die amerikanische Historikerinnen wie Gerda Lerner, Joan Kelly und Natalie Zemon Davies bereits Mitte der 1970er Jahre angestoßen hatten.52 „Geschlecht“ sollte und musste – so stellten die Vertreterinnen dieser neuen Disziplin unmissverständlich klar – als zentrale historische Kategorie neben anderen wie Klasse oder Schicht Berücksichtigung finden. Zugleich konstatierten sie, dass über explizite und implizite Geschlechtszuschreibungen in allen Lebensbereichen immer auch Machtbeziehungen hergestellt und legitimiert würden, ein historisches Verständnis ohne Re- bzw. Dekonstruktion dieser Zuschreibungen demnach nicht möglich sei.53 1981 schrieb Jürgen Kocka seine hier abgedruckten „Kontroversen um Frauengeschichte“, die damit noch in den Kontext der älteren Diskussion um die historische Frauenforschung gehören. Mit diesem Text reagierte Kocka auf eine Herausforderung quasi vor der eigenen Haustür: Annette Kuhn (*1934), streitbare Vertreterin der Frauenbewegung und seit 1966 Professorin für Geschichte und ihre Didaktik in Bonn, hatte in diesem Jahr eine Tagung in der sozialhistorischen Hochburg Bielefeld organisiert, von der Männer ausdrücklich ausgeschlossen waren.54 Kocka verfasste daraufhin einen Protestbrief, auf den wiederum Kuhn mit einem in der Zeitschrift Geschichtsdidaktik abgedruckten offenen Brief antwortete. Dies nahm Kocka zum Anlass, seine Haltung zur Frauengeschichte auf einer grundsätzlicheren Ebene darzulegen. Er weist darin Kuhns Ansinnen, Frauengeschichte als von Frauen geschriebene Geschichte zu verstehen, als unwissenschaftlich zurück. Auch gegen den von Kuhn und anderen formulierten Anspruch der Frauenforschung, eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin zu vertreten, verwehrt sich Kocka mit dem Hinweis, Frauengeschichte biete weder einen nur ihr eigenen methodischen Zugang zur Geschichte noch könne sie sinnvoll ohne Bezug auf sozial-, wirtschafts-, kultur- und politikgeschichtliche Ergebnisse betrieben werden. Als Ergänzung zur „breiten“ und „dehn-
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baren“ allgemeinen Sozialgeschichte sei die Frauengeschichte jedoch willkommen (Kocka, S. 51). Bis in die Wortwahl hinein nimmt Kocka hier also die sechs Jahre später von Wehler gegenüber der Alltagsgeschichte vertretene Position vorweg.55 Dabei bestand – und besteht zum Teil bis heute – eine besondere Nähe zwischen Sozialgeschichte und Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte, die sich nicht zuletzt darin zeigt, dass namhafte Vertreterinnen der Geschlechtergeschichte wie etwa Ute Frevert und Claudia Huerkamp in Bielefeld ausgebildet worden sind.56 Auch Karin Hausen (*1938), die in dieser Edition mit ihrem 1998 verfassten Plädoyer für die „Nicht-Einheit der Geschichte“ als eine der ersten Repräsentantinnen der bundesrepublikanischen Frauenund Geschlechtergeschichte auftritt, war aufgrund ihrer sozialhistorischen Forschungen zum Zusammenhang von Familie und Erwerbsarbeit 1978 auf eine Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Technischen Universität Berlin berufen worden, die sie bis 1995 innehatte. In diesem Jahr wurde sie, die sich über viele Jahre hinweg sowohl inhaltlich als auch institutionell für die Belange der Frauen- und Geschlechterforschung eingesetzt hatte, zur Leiterin des neu gegründeten Berliner Zentrums für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung ernannt. Mit weit ausholender Geste beschreibt Hausen in dem hier abgedruckten Essay die Konstruktion einer als allgemein gedachten, tatsächlich aber unter anderem männlich definierten Nationalgeschichtsschreibung mit der Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft im späten 18. Jahrhundert. Gegenüber dieser hegemonialen Erfindung erhebt sie die „Nicht-Einheit“ der Geschichte, das heißt das Nebeneinander vieler Geschichten, zum Programm. Im Hinblick auf die Geschlechtergeschichte betont sie, dass zentrale Begrifflichkeiten der Sozialgeschichte ebenso wie der „allgemeinen“ Geschichte für sie nicht anwendbar seien, da diese männlich konnotiert seien und damit die Dynamik der Geschlechterbeziehungen eher verdecken als erhellen würden. Sie tritt damit dezidiert der von Kocka und Wehler formulierten Einschätzung entgegen, Geschlechtergeschichte sei nicht mehr als eine, wenn auch sinnvolle Ergänzung der Sozialgeschichte und beharrt auf der grundlegenden Eigenständigkeit und Innovationskraft der Geschlechtergeschichte.57 4.
„Neue Kulturgeschichte“
Geschlechtergeschichte, so wie sie von Karin Hausen und anderen definiert wird, steht damit in enger (Wechsel-)Beziehung zur so genannten Neuen Kulturgeschichte. Unter diesem Label firmiert seit den 1980er Jahre eine Strömung innerhalb der Geschichtswissenschaft, die außerordentlich vielgestaltig ist und Anregungen aus den verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen – u.a. von der Anthropologie, der Philosophie sowie der Literaturwissenschaft – aufgenommen hat, Disziplinen, in denen ebenfalls ein cultural bzw. linguistic turn vollzogen wurde.58 Als „neu“ definiert sich diese historiographische Tendenz in Abgrenzung zu älteren Versuchen einer Kulturge-
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schichtsschreibung. Dazu zählten im deutschen Sprachraum vor allem Karl Lamprechts ambitioniertes, aber bis heute mehr oder weniger folgenloses Konzept einer auf der Massenpsychologie basierenden Kulturgeschichte als Universalgeschichte (1896/7) sowie diejenigen Kulturgeschichten, die in Fortsetzung der älteren Sittengeschichten Kultur in einem eng eingegrenzten Sinn verstanden wissen wollten und sich einzelnen Aspekten dieser materiellen Kultur zuwandten.59 Ungleich schwerer zu definieren ist die „Neue Kulturgeschichte“, die so diverse Impulse wie die Theorien eines Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Roger Chartier oder einer Judith Butler ebenso wie ältere Ansätze etwa Max Webers oder Georg Simmels aufgriff. Sucht man nach Gemeinsamkeiten, lassen sich diese wohl am ehesten auf drei Ebenen finden: Erstens privilegiert die „Neue Kulturgeschichte“ eine Perspektive, die den konstruktivistischen Charakter aller geschichtlichen Erscheinungen, allen voran der historischen Diskurse betont. Zweitens wendet sich die „Neue Kulturgeschichte“ vornehmlich jenen Bereichen zu, die von der Politik- ebenso wie von der Sozialgeschichte zuvor vernachlässigt wurden: den Wahrnehmungen, Deutungen und Symbolen historischer Ereignisse und Prozesse. Und drittens setzt sie zumindest in einigen ihrer Spielarten den Akzent stärker auf die Ebene der Handlungen vieler, als deren Folge sie historische Prozesse interpretiert, als auf die der überindividuellen Strukturen und Prozesse. Damit sind auch die wesentlichen Punkte benannt, an denen bzw. mit denen die „Neue Kulturgeschichte“ die „klassische“ Sozialgeschichte herausfordert. Spezifisch für den deutschen Kontext ist jedoch die Tatsache, dass die „Neue Kulturgeschichte“ von den „Vätern“ der Bielefelder Schule als eine Art Gegenmodell angesehen wird, das allenfalls auf einige Schwachstellen ihrer Königsdisziplin verweist, während eine jüngere Generation sozialhistorisch geprägter Historiker und Historikerinnen eher danach fragt, inwiefern die „Neue Kulturgeschichte“ eine Antwort auf fundamentale Defizite der Sozialgeschichte darstellt und dementsprechend zu einer grundsätzlich erneuerten, kulturalistisch gewendeten Sozialgeschichte bzw. sozialhistorisch fundierten Kulturgeschichte beitragen könnte.60 Zu dieser „Schüler“-Generation gehört auch die Braunschweiger Historikerin Ute Daniel (*1953), die mit einer Arbeit über die familiäre und berufliche Situation von Arbeiterfrauen im Ersten Weltkrieg 1986 bei Jürgen Kocka promovierte und anschließend als Mitarbeiterin bzw. Assistentin von Jürgen Reulecke nach Siegen ging, wo sie 1994 ihre Habilitationsschrift zum Hoftheater im 18. und 19. Jahrhundert vorlegte.61 In diesem Zusammenhang befasste sie sich immer stärker mit den Ansätzen und Angeboten der „Neuen Kulturgeschichte“ gerade auch im Hinblick auf eine für notwendig erachtete Erneuerung der Sozialgeschichte. Ihre Überlegungen fasste sie schließlich erstmals 1993 im hier abgedruckten Aufsatz „,Kultur‘ und ,Gesellschaft‘“ zusammen, der in der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft, dem Flaggschiff der Bielefelder Schule, publiziert wurde und Teil einer in diesem Forum seit
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1992 geführten Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen der „Neuen Kulturgeschichte“ war.62 Nach einem Überblick über verschiedene ältere und neue Ansätze einer Kulturgeschichtsschreibung skizziert Daniel hier in drei Punkten das Potential, das die Übernahme des Kulturbegriffes aus ihrer Sicht für die Sozialgeschichte birgt, in deren Zentrum bislang der Begriff „Gesellschaft“ stand. Erstens fordert sie die Sozialgeschichte dazu auf, sich der Ebene der Weltund Gesellschaftsdeutungen zuzuwenden, da nur Bedeutung „‚Gesellschaft‘ in eine soziale Tatsache verwandelt und sozialen Wandel auch in den Veränderungen der Wahrnehmungs- und Sinnstiftungsprozeduren der Menschen verankert.“ (Daniel, S. 93) Zweitens sieht sie im „Kulturbegriff“ die Möglichkeit, den in der „klassischen“ Bielefelder Sozialgeschichte üblichen, aber letztlich nicht begründbaren Dualismus von Gesellschaft = objektiv versus Individuum = subjektiv zugunsten weniger starrer Begriffspaare wie etwa Praxis und Struktur zu überwinden. Drittens erkennt sie im Kulturbegriff als Wertbegriff die notwendige, gleichwohl lange umgangene Aufforderung an die Historiker und Historikerinnen, sich ihrer eigenen Werte zu vergewissern und darüber zu diskutieren, „was man an der eigenen ‚Kultur‘ bejaht und was man verändern möchte.“ (Daniel, S. 98) In einer Vielzahl von Aufsätzen führte Daniel in den folgenden Jahren die hier skizzierten Überlegungen fort, um schließlich im Jahr 2001 mit ihrem „Kompendium Kulturgeschichte“ einen enzyklopädischen Überblick über die aus ihrer Sicht relevanten Theorien und Ergebnisse der „Neuen Kulturgeschichte“ vorzulegen.63 Diesen Band rezensierte Hans-Ulrich Wehler in der Wochenzeitung „Die Zeit“, nachdem er selber bereits 1996 zusammen mit Wolfgang Hardtwig ein Sonderheft von Geschichte und Gesellschaft herausgegeben hatte, das als eine Art Bilanz der kulturgeschichtlichen Forschung gedacht war.64 In seiner Rezension porträtiert Wehler mit spitzer Feder und beißender Ironie Daniels Kompendium als „Kursbuch der Beliebigkeit“ und mangelnden gesellschaftlichen Verantwortlichkeit, da sie sich der von den Bielefelder Sozialhistorikern immer wieder eingeforderten Diskussion um die Relevanz historischer Themen entziehe. Demgegenüber zeigt Wehler deutlich seine Präferenz für die kulturhistorisch bedeutsamen Theorien eines Pierre Bourdieu und vor allem eines Max Weber, dessen eher kritische Darstellung durch Daniel er scharf rügt. Kulturgeschichte – so wird deutlich – hat nur da eine Berechtigung, wo sie sich den von Wehler so benannten „zentrale[n] Problemfelder[n] der Geschichtswissenschaft“ und das heißt der sozialen Ungleichheit, der kapitalistischen Globalisierung oder politischen Herrschaft zuwende und damit die Sozialgeschichte „von innen her in Unruhe“ versetze und bereichere. Auch die Kulturgeschichte muss so im „Duell“ mit der Sozialgeschichte um den Preis des „Königsweges“ letztlich unterliegen, kann nicht mehr sein, als eine Ergänzung der lange und erfolgreich verteidigten Sozialgeschichte.65 Damit führt Wehler eine Argumentation fort, die er bereits 1998 als Antwort auf die „Herausforderung der Kulturgeschichte“ formuliert hatte.66 Freimütiger als in der Daniel-Rezen-
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sion gestand er dort zwar theoretische und methodische Schwachpunkte sowie „auffällige Lücken“ der Sozialgeschichte zu (Wehler, S. 146). Auch betonte er in diesem Text, dass „Kultur“ nicht einfach von der Historischen Sozialwissenschaft als weitere Dimension von Gesellschaft zu ihrem Kanon hinzugefügt werden dürfe, sondern die Allgegenwart von Kultur theoretisch und methodisch erst hinreichend konzeptionalisiert werden müsse. Dann aber sei die Historische Sozialwissenschaft der Kulturgeschichte überlegen, vernachlässige die letztere doch die oben genannten zentralen Problemfelder von Geschichte, arbeite kaum vergleichend und – ähnlich wie die Sozialgeschichte selbst – selten transnational.
D IE Z UKUNFT DER S OZIALGESCHICHTE – EIN V ERSUCH DER N EUBESTIMMUNG So selbstgewiss, man möchte manchmal meinen: siegessicher klingen die „Zwischenbilanzen“, die die „Väter“ der Bielefelder Schule nach mehr als dreißig Jahren ziehen. Tatsächlich liegt eine eindrucksvolle Geschichte überaus produktiver und auch institutionell erfolgreicher Arbeit hinter ihnen. Aus ihrer Sicht sind zwar Anbauten und kleinere Korrekturen am in die Jahre gekommenen theoretischen Gebäude der Sozialgeschichte wünschenswert oder sogar notwendig, nicht aber ein weitgehender Umbau, der selbst die Fundamente dessen, was in Bielefeld als Sozialgeschichte verstanden wurde, betreffen würde. Ob dies die Zukunft der Sozialgeschichte als Gesellschaftsgeschichte mit überlegenem Syntheseanspruch sichern kann, darüber gehen die Meinungen auseinander. Es sind oft die „Schüler“ und „Schülerinnen“ Bielefelder Historiker, die eine Grunderneuerung der Sozialgeschichte anmahnen, ohne sich darüber einig zu sein, in welcher Weise diese Revision zu erfolgen hat.67 Ob und wenn ja auf welchem Weg die „Bielefelder Schule“ weiterhin Geschichte macht, das wird erst die Zukunft zeigen.
ANMERKUNGEN 1
Zur Biographie Wehlers vgl. das entsprechende Interview in: Hohls/Jarausch (Hg.), Versäumte Fragen, S. 240-266 sowie die Kurzvita im biographischen Glossar dieses Bandes: ebd., S. 475. Ausführlich äußert sich Wehler zu seinem Leben und akademischen Werdegang auch in einem soeben publizierten Gespräch, das seine Schüler Manfred Hettling und Cornelius Torp aus Anlass seines 75. Geburtstages mit ihm geführt haben: Hans-Ulrich Wehler, Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Manfred Hettling und Cornelius Torp, München 2006. Eine kritische Würdigung im Vergleich mit Reinhart Koselleck in: Frank Becker, Mit dem Fahrstuhl in die Sattelzeit? Koselleck und Wehler in
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Bielefeld, in: Sonja Asal u. Stephan Schlak (Hg.), Was war Bielefeld? Eine ideengeschichtliche Nachfrage, Göttingen 2009, S. 89-110. Wehler, Kampfsituation, S. 19-34. Vgl. zur Fischer-Kontroverse auch die Ausführungen über die sozialhistorische Deutung des Kaiserreiches (IV.) Zu Wehlers eigener Einschätzung dieser Kontroverse vgl. ders., Geschichtswissenschaft heute, in: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“, Bd. 2: Politik und Kultur, Frankfurt a.M., S. 709-753, S. 727ff. Eine ausführliche Darstellung dieser ersten, von einer breiteren Öffentlichkeit verfolgten historischen Debatte findet sich in: Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005, S. 47-67. Wolfgang J. Mommsen, Domestic Factors in German Foreign Policy before 1914, in: Central European History 6 (1973), S. 3-43. Vgl. zum Verhältnis Mommsen – Wehler auch dessen Nachruf auf Mommsen in: Hans-Ulrich Wehler, Notizen zur deutschen Geschichte, München 2007, S. 221-231. Während Wehler bis heute diese Funktion inne hat, gaben sowohl Puhle als auch Mommsen 1978 ihre Stellung im Gremium der geschäftsführenden Herausgeber auf. Mommsen hatte wie Wehler bei Theodor Schieder promoviert (1959: Max Weber und die Politik 1890 bis 1920) und sich dann ebenfalls in Köln habilitiert (1967: Die Politik des Reichskanzlers Bethmann Hollweg als Problem der politischen Führung). 1975 war er bereits sieben Jahre ordentlicher Professor in Düsseldorf. 1975 bis 1985 war er Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London, kehrte dann nach Düsseldorf zurück und war von 1988 bis 1992 Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands. Bis zu seinem Tod im Jahre 2004 leitete er die Gesamtausgabe der Schriften Max Webers. Der zehn Jahre jüngere Hans-Jürgen Puhle promovierte 1965 an der Freien Universität Berlin und habilitierte sich 1973 im westfälischen Münster (Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich 1893-1914), wo er bis 1978 als Dozent bzw. Professor wirkte. Von 1978 bis 1990 lehrte er wie Wehler und der etwa gleichaltrige Jürgen Kocka in Bielefeld, bis er 1990 als Professor für Politikwissenschaft nach Frankfurt am Main ging. Dorthin nämlich war Wehler noch im Gründungsjahr der Universität berufen worden, nachdem er erst ein Jahr zuvor ordentlicher Professor an der Freien Universität Berlin geworden war. 1973 kam dann auch Jürgen Kocka an die Bielefelder Fakultät, der ähnlich stark wie Wehler in den Folgejahren die Entwicklung der „Bielefelder Schule“ institutionell und intellektuell prägte. Andreas Hillgruber, Politische Geschichte in moderner Sicht, in: HZ 216 (1973), S. 529-552. Hans-Ulrich Wehler, Moderne Politikgeschichte oder „Große Politik der Kabinette“? in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 344-369, S. 366-369. Klaus Hildebrand, Geschichte oder „Gesellschaftsgeschichte“? Die Notwendigkeit einer politischen Geschichtsschreibung von den internationalen Beziehungen, in: HZ 223 (1976), S. 328-357, S. 356. Wehler antwortete darauf in: ders., Kritik und kritische Antikritik, in: HZ 225 (1977), S. 347-384.
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10 Inzwischen liegen nicht nur alle ursprünglich geplanten vier Bände vor, die auf jeweils gut 1500 Seiten die Zeit von 1700 bis 1949 umspannen. 2008 erschien ein fünfter Band, der die Geschichte von Bundesrepublik Deutschland und DDR bis 1990 in gewohnt eigenwilliger Interpretation präsentiert. Vgl. zur äußerst kontroversen Debatte um diesen fünften Band: Patrick Bahners u. Alexander Cammann, Bundesrepublik und DDR. Die Debatte um Hans-Ulrich Wehlers „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“, München 2009. 11 Thomas Nipperdey veröffentlichte etwa zeitgleich eine eigene Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte, die sich allerdings auf die Jahre von 1800 bis 1918 beschränkte. Vgl. ders., Deutsche Geschichte 1800-1866: Bürgerwelt und starker Staat, München 1983; ders., Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990 und ders., Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992. Für eine vergleichende Würdigung dieser beiden Projekte vgl. Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft: Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000. 12 Mit seiner 1933 vorgelegten Promotion bei Karl Alexander von Müller über „Die kleindeutsche Partei in Bayern in den Kämpfen um die nationale Einheit 1863 bis 1871“ zeigte sich Schieder zunächst noch als Vertreter einer konservativnationalen Richtung (vgl. Wolfgang J. Mommsen, Vom „Volkstumskampf“ zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Osteuropa. Zur Rolle der deutschen Historiker unter dem Nationalsozialismus, in: Winfried Schulze u. Otto Gerhard Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999, S. 183-214, S. 194). 1935 wurde Schieder die Leitung der Königsberger „Landesstelle Ostpreußen für Nachkriegsgeschichte“ übertragen, 1937 trat er schließlich in die NSDAP ein. In Königsberg arbeitete er an seiner Habilitation, die er ursprünglich bei Hans Rothfels schreiben wollte. Nachdem diesem als Juden die Lehrbefugnis entzogen worden war (wogegen Schieder nicht – wie andere Rothfels-Schüler und Kollegen – öffentlich protestierte), habilitierte sich Schieder schließlich bei Kurt von Raumer über „Deutscher Geist und ständische Freiheit 1569 bis 1772/93“. In Königsberg erhielt Schieder daraufhin 1940 eine außerordentliche, 1942 eine ordentliche Professur. 1948 wurde Schieder Professor in Köln. Weitere einflussreiche Positionen folgten: seit 1957 als Herausgeber der renommierten Historischen Zeitschrift, von 1967 bis 1972 als Präsident des Verbandes der Historiker Deutschlands, von 1964 bis zu seinem Tod 1984 als Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. 13 Zur Volksgeschichte vgl. Willi Oberkrome, Volksgeschichte: Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993 sowie die eher personen- bzw. institutionenhistorisch angelegte Studie von Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000. Die Frage nach einer möglichen Kontinuität bis hin zur Sozialgeschichte stellt Thomas Welskopp in ders., Grenzüberschreitungen. Deutsche Sozialgeschichte zwischen den dreißiger und den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in: Chris-
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toph Conrad u. Sebastian Conrad (Hg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, 296-332. Konkret zu Werk und Kategorien Otto Brunners vgl. Gadi Algazi, Otto Brunner – „Konkrete Ordnung“ und Sprache der Zeit, in: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt a.M. 1997, 166-203. Angelika Ebbinghaus u. Karl Heinz Roth, Vorläufer des „Generalplans Ost“. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 7 (1992), H. 1, S. 62-94. Winfried Schulze, Gerd Helm u. Thomas Ott, Bericht: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, in: Intentionen – Wirklichkeiten. 42. Deutscher Historikertag in Frankfurt am Main 1998, München 1999, 209-214. Vgl. zur Rolle Schieders die unterschiedlichen Einschätzungen von Götz Aly und Wolfgang J. Mommsen: Götz Aly, Theodor Schieder, Werner Conze oder Die Vorstufen der physischen Vernichtung, in: Schulze u. Oexle, Deutsche Historiker, S. 163-182 und Wolfgang J. Mommsen, „Volkstumskampf“. So etwa die Argumentation Wehlers in: Interview Hans-Ulrich Wehler in: Hohls u. Jarausch, Fragen, S. 240-266, S. 256. Ähnlich äußert sich Wehler auch noch in ders., Kampfsituation, S. 57ff. Theodor Schieder, Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung, 2. Auflage, München 1968, S. 19f. Otto Brunner, Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte, in: HZ 177 (1954), S. 469-494 und Werner Conze, Die Strukturgeschichte des technischen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, Köln 1957, S. 5-27. Wehler, Kampfsituation, S. 92f. Kockas Promotion erschien ein Jahr später unter dem Titel: Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847-1914: zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung, Stuttgart 1969. Kockas Habilitation wurde publiziert als: ders., Angestellte zwischen Faschismus und Demokratie. Zur politischen Sozialgeschichte der Angestellten: USA 1890-1940 im internationalen Vergleich, Göttingen 1977. Nach Stationen in Marburg, Wien und an der FU Berlin studierte Kocka 1964/5 in Chapel Hill, wo er seinen Master in Political Science ablegte, bevor er zur Promotion nach Berlin bzw. Münster zurückkehrte. Ein zweiter AmerikaAufenthalt folgte 1969/70, den Kocka als ACLS-Fellow in Harvard verbrachte. Interview Kocka, in: Hohls u. Jarausch, Fragen, S. 384 u. 389f. Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg: deutsche Sozialgeschichte 19141918, Göttingen 1973. Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. Ebd., S. 58ff. Chris Lorenz, „Won’t you tell me where have all the good times gone?“ On The Advantages and Disadvantages of Modernization Theory for History, in: Rethinking History 10 (2006), S. 171-200. Thomas Mergel, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: ders. u. Thomas Welskopp (Hg.), Ge-
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schichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 203-232. Hans-Ulrich Wehler, Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Manfred Hettling und Cornelius Torp, München 2006, S. 127ff.; ders., Kommentar, in: Mergel u. Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, S. 351-366; bes. S. 359f. So gesteht Wehler im Rückblick zu, dass sich Schieder im 19. Jahrhundert „am wohlsten“ fühlte und diese Vorliebe seine Schüler dazu veranlasste, ebenfalls dieses historische Terrain zu erforschen. Wehler, Kampfsituation, S. 87. Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Stuttgart 1955. Den Einfluss der Bracher-Studie erwähnt Wehler beispielsweise in: ders., Kampfsituation, S. 87. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914-1918, Düsseldorf 1961. Vgl. etwa die Rezension Ritters in der Historischen Zeitschrift: ders., Eine neue Kriegsschuldthese? Zu Fritz Fischers Buch „Griff nach der Weltmacht“, in: HZ 194 (1962), S. 646-668. Thomas Nipperdey, 1927 in Köln geboren, studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik in Köln und Göttingen. Er promovierte 1953 über Hegels Jugendschriften und wechselte erst danach – unter anderem auf Anregung Schieders – zur Geschichtswissenschaft, in der er sich mit einer Arbeit über „Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918“ 1961 habilitierte. Nach Stationen in Karlsruhe und an der FU Berlin lehrte er ab 1971 in München sowie als Gastprofessor mehrmals in Oxford und Princeton. Er starb 1992 in München. Vgl. die Bände der im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienenen Reihe „Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte“. Kocka verließ Bielefeld 1988, um dem Ruf auf die eigens für ihn an der FU Berlin eingerichtete Professur für die Geschichte der industriellen Welt zu folgen. 1992 wurde ihm der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis verliehen. Das Preisgeld verwandte er für die Einrichtung der „Arbeitsstelle für vergleichende Gesellschaftsgeschichte“, die bis 1997 unter diesem Namen bestand und danach mit wechselnder Finanzierung, erweiterter Leitung und unterschiedlicher Schwerpunktsetzung als „Zentrum für vergleichende Geschichte Europas“ (1998-2004) bzw. „Berliner Kolleg für vergleichende Geschichte Europas“ (seit Juli 2004) fortgeführt wurde. Von 2001 bis 2006 war Kocka zudem Präsident des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung Berlin, des größten sozialwissenschaftlichen Instituts in Europa. Beide Aufsätze sind in der Edition nicht abgedruckt, sollen hier aber dennoch kurz dargestellt werden, um zu verdeutlichen, wie die Bielefelder Sozialgeschichte im Moment der Herausforderung ihre Erfolge, Stärken und Schwächen selbst bilanzierte. Jürgen Kocka, Sozialgeschichte – Strukturgeschichte – Gesellschaftsgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 15 (1975), 1-42, S. 9. Für sein Projekt, das als – zweigeteilter – Band 1000 der edition suhrkamp erschien, sammelte Habermas 32 Wissenschaftler, Publizisten und Schriftsteller
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aus dem linksliberalen Spektrum um sich. Vgl. Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“, Bd. 1: Nation und Republik, Bd. 2: Politik und Kultur, Frankfurt a.M. 1979. Jaspers’ Schrift „Die geistige Situation der Zeit“ (1931) verfolgte jedoch ein ganz anderes Ziel als Habermas’ Sammelband, wollte er doch die Sinnkrise seiner Zeit infolge einer zunehmenden Rationalisierung und Technisierung der Welt illustrieren, um dem Einzelnen die Flucht in die Transzendenz als Lösung nahezulegen. Hans-Ulrich Wehler, Geschichtswissenschaft heute, in: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“, Bd. 2: Politik und Kultur, Frankfurt a.M. 1979, S. 709-753. Vgl. dazu: Frank Becker, Mit dem Fahrstuhl in die Sattelzeit? Koselleck und Wehler in Bielefeld, in: Sonja Asal u. Stephan Schlak (Hg.), Was war Bielefeld? Eine ideengeschichtliche Nachfrage, Göttingen 2009, S. 89-110, hier: S. 109f. Die Verbindung Reinhart Kosellecks zu verschiedenen Spielarten von Sozialgeschichte war jedoch älter als sein Wirken für und in Bielefeld. So arbeitete er von 1956 bis 1960 als Assistent in Heidelberg, zunächst bei Johannes Kühn, dann bei Werner Conze. 1960-65 war er Mitarbeiter, ab 1966 Mitglied und von 1986-1995 schließlich Vorsitzender des 1957 von Conze gegründeten Arbeitskreises für Moderne Sozialgeschichte. Conze war es auch, der Koselleck dazu riet, sich über die preußische Reformzeit zu habilitieren (1965, publiziert unter dem Titel: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967). Schon 1966/7 wurde Koselleck dann als Professor für Politische Wissenschaften nach Bochum berufen und lehrte schließlich von 1968 bis 1973 als Professor für Neuere Geschichte in Heidelberg, wo er 1954 bei Johannes Kühn über die Vorgeschichte der Französischen Revolution promoviert hatte (Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg u. München 1959). Zu Leben und Werk Kosellecks vgl. den Nachruf aus der Feder seines Schülers Willibald Steinmetz, In Memory of Reinhart Koselleck, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), Heft 3, S. 412-432. Der Einfluss Kosellecks auf die Bielefelder Sozialgeschichte lässt sich etwa an Jürgen Kockas Neudefinition des Strukturbegriffs festmachen. So waren es vor allem Reinhart Kosellecks Überlegungen zum Zusammenhang von Struktur und Erfahrung, die Kocka aufgriff, als er sich von Conzes und Schieders Strukturbegriff distanzierte und Struktur als ideologiekritische Erkenntniskategorie konzipierte. Vgl. Welskopp, Grenzüberschreitungen, S. 322f. Der letzte Band, ein in zwei Bände geteiltes Register, erschien 1997. Eine kritische Würdigung der Begriffsgeschichte Kosellecks aus heutiger Sicht findet sich unter anderem in: Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichte, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 40-44 sowie in: Kari Palonen, Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster 2004. Zum Programm der Geschichtlichen Grundbegriffe vgl. vor allem auch: Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck
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(Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII-XXVII. Vgl. zu Kosellecks Kategorien historischer Zeiterfahrung: ders., „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien (1976), in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt a.M. 1989, S. 349-375. Interview Kocka, in: Hohls u. Jarausch, S. 391. Vgl. als kurze Einführung zur Alltagsgeschichte die beiden Beiträge von Alf Lüdtke: ders., Alltagsgeschichte, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft, S. 21-24 und ders., Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 557-578. Als bedeutende empirische Arbeiten aus dem Kontext der deutschen Alltagsgeschichte vgl. u.a.: Gerhard Paul u. Klaus Mallmann, Herrschaft und Alltag: ein Industrierevier im Dritten Reich, Bonn 1991; Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen, 1650-1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 1996 und Lutz Niethammer, Alexander von Plato u. Dorothee Wierling, Die volkseigene Erfahrung: eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen, Berlin 1991 sowie die Arbeiten von Alf Lüdtke s.u. Edward P. Thompson, The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century, in: Past and Present 50 (1971), S. 76-136; Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer, Frankfurt a.M. 1979 (dt. Erstausgabe, ital. Original unter dem Titel “Il formaggio e i vermi” 1976); Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1983 (im Original: The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York 1973) und Sven Lindqvist, Grabe, wo du stehst!, Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte, Bonn 1989 (schwed. Original unter dem Titel „Gräv där du står“ 1978). Zum Historikerstreit vgl. „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987; Charles S. Maier, Die Gegenwart der Vergangenheit. Geschichte und die nationale Identität der Deutschen, Frankfurt a.M. 1992 sowie Klaus Große Kracht, Zankende Zunft, S. 91-114. Als bilanzierende Stellungnahme Wehlers, der in zahlreichen Interventionen während des Historikerstreits gegen Ernst Nolte und Andreas Hillgruber die Singularität der nationalsozialistischen Judenverfolgung betonte: Hans-Ulrich Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum „Historikerstreit“, München 1988 sowie die erstaunlich abgemilderte Position Wehlers zwanzig Jahre später: ders., Kampfsituation, S. 196-202. Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993. Die Podiumsbeiträge sind erschienen in: Franz Josef Brüggemeier u. Jürgen Kocka (Hg.), Geschichte von unten – Geschichte von innen. Kontroversen um die Alltagsgeschichte, Hagen 1985. Eine erste ausgearbeitete Fassung seines Podiumsbeitrags erschien unter dem gleichen Titel im zuvor erwähnten Sammelband von Brüggemeier u. Kocka, Geschichte von unten, S. 17-47.
60 | D IE B IELEFELDER SOZIALGESCHICHTE 49 Die von Karin Hausen und Heide Wunder geleitete Sektion stand unter dem Thema „Frauenräume“. 50 Zur Geschichte der Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte in der Bundesrepublik, die hier nur kurz skizziert werden kann, vgl. die einführenden Darstellungen: Christiane Eifert, Geschlechtergeschichte, in: Stefan Jordan, Lexikon, S. 130-134 und Bea Lundt, Frauen- und Geschlechtergeschichte, in: Hans-Jürgen Goertz, Geschichte, S. 579-597 sowie mit dem Versuch, Geschlechter- und Sozialgeschichte zu verbinden: Gunilla-Friederike Budde, Das Geschlecht der Geschichte, in: Thomas Mergel u. Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 125-150. 51 Zur historischen Entwicklung dieser Dichotomie vgl. den vielfach zitierten Aufsatz von Karin Hausen: dies., Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363-393. 52 Vgl. etwa die berühmt gewordene Frage Joan Kellys nach der Allgemeingültigkeit des Renaissance-Begriffs: dies., Did Women have a Renaissance?, in: Renate Bridenthal u.a. (Hg.), Becoming Visible, 1977, S. 137-164. 53 Grundlegend dazu: Joan W. Scott, Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: American Historical Review 91 (1986), S. 1053-1075. Für den deutschsprachigen Raum beispielhaft: Ute Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann”. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995. 54 Im selben Jahr wurde Kuhns Lehrstuhl um den Bereich „Frauengeschichte“ erweitert, den sie dann bis zu ihrer Emeritierung 1999 innehatte. Sie besetzte den ersten Lehrstuhl für Frauengeschichte in der Bundesrepublik. 55 Heute dagegen bezeichnet Kocka die Einbeziehung der Kategorie „gender“ als unverzichtbaren Bestandteil von Sozialgeschichte. Vgl. etwa das von Brigitta Bernet und Koni Weber mit Jürgen Kocka geführte Interview: Denken in sozialen Differenzen. Jürgen Kocka zum Stand der Sozialgeschichte, in: Etü – HistorikerInnen-Zeitschrift 2 (2004), S. 58-61, S. 60. Im Rückblick räumt auch Wehler entsprechende Defizite der Sozialgeschichte ein, die er jedoch nur als „offene Flanke“ der Sozialgeschichte verstanden wissen möchte. Im Vergleich mit Kocka sticht an Wehlers Haltung gegenüber der Geschlechtergeschichte vor allem die demonstrative Herablassung ins Auge, mit der er noch heute namhafte Vertreterinnen dieser Disziplin geradezu benoten zu müssen glaubt. Vgl. Wehler, Kampfsituation, S. 97f. 56 Zur thematischen bzw. methodischen Nähe von Geschlechtergeschichte und Sozialgeschichte vgl. auch Hanna Schissler, Geschlechtergeschichte. Herausforderung und Chance für die Sozialgeschichte, in: Manfred Hettling u.a. (Hg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen, München 1991, S. 22-30 sowie die Überlegungen von Gunilla Budde, die Kategorien Klasse und Geschlecht gleichwertig zu berücksichtigen bzw. aufeinander zu beziehen, in: dies., Geschlecht der Geschichte, S. 140-148. 57 Zum Verhältnis von Geschlechter- und Sozialgeschichte aus heutiger Sicht vgl. Brigitta Bernet u. Koni Weber, Für eine Geschichte des Verschwiegenen und
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Verdrängten. Karin Hausen über das Verhältnis von Geschlechter- und Sozialgeschichte, in: ROSA. Zeitschrift für Geschlechterforschung 30 (2005), S. 32-36. Vgl. den programmatischen, international einflussreichen Sammelband: Lynn Hunt (Hg.), The New Cultural History, Berkeley 1989. Eine Ahnung von der Vielgestalt der „Neuen Kulturgeschichte“ geben die beiden folgenden, für den deutschen Kontext wichtigen Editionen mit Übersetzungen theoretisch bedeutender Texte: Christoph Conrad u. Martina Kessel (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994 sowie dies. (Hg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998. Karl Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte? Beitrag zu einer empirischen Historik, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft N.F. 1 (1896/7), S. 75145 (Reprint in: Karl Lamprecht, Ausgewählte Schriften zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte und zur Theorie der Geschichtswissenschaft, hg.v. Herbert Schönebaum, Aalen 1974, S. 257-277 u. S. 297-327). An Lamprechts Konzept entzündete sich eine der ersten großen Methodenkontroversen der modernen deutschen Geschichtswissenschaft, vgl. zu Werk und Person Lamprechts: Roger Chickering, Karl Lamprecht. A German Academic Life, New Jersey 1993 und Luise Schorn-Schütte, Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen 1994. Das ist z.B. das Anliegen von Thomas Mergel u. Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997. Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft 1914-1918. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989 sowie dies., Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995. Vgl. v.a. das erste Heft des 23. Jahrgangs von 1997, das den Titel „Wege zur Kulturgeschichte“ trug und von Wolfgang Hardtwig herausgegeben wurde. Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 2001. Vgl. auch u.a. dies., Clio unter Kulturschock: Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft, in: GWU 48 (1997), H. 4, S. 195-218 u. H. 5, S. 259-278; dies., Geschichte als historische Kulturwissenschaft – Konturen eines Wiedergängers, in: Heide Appelsmeyer u. Elfriede BillmannMahecha (Hg.), Kulturwissenschaft. Felder einer prozeßorientierten wissenschaftlichen Praxis, Weilerswist 2001, S. 195-214; dies., Geschichte schreiben nach der „kulturalistischen Wende“, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 576-599; dies., Alte und neue Kulturgeschichte, in: Günther Schulz u.a. (Hg.), Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven. 100 Jahre Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart 2004, S. 345-358. Hans-Ulrich Wehler u. Wolfgang Hardtwig (Hg.), Kulturgeschichte Heute (= Sonderheft 16, Geschichte und Gesellschaft), Göttingen 1996. Vgl. auch den Kommentar Wehlers in: Mergel u. Welskopp, Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, S. 351-366.
62 | D IE B IELEFELDER SOZIALGESCHICHTE 65 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Das Duell zwischen Sozialgeschichte und Kulturgeschichte, in: Francia 28 (2001), S. 103-110. 66 Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998. 67 Vgl. etwa den Aufsatz von Thomas Welskopp, Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 173-198. Welskopp fordert darin eine grundlegende Neukonzeptionalisierung der nunmehr relational gedachten Kategorien Struktur und Handeln, durch die die Sozialgeschichte zur zukunftsfähigen Vergesellschaftungsgeschichte bzw. Historischen Gesellschaftswissenschaft werden könnte. In eine andere Richtung weisen die Überlegungen Benjamin Ziemanns in ders., Sozialgeschichte jenseits des Produktionsparadigmas. Überlegungen zu Geschichte und Perspektiven eines Forschungsfeldes, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 28 (2003), S. 5-35.
II. Programmatische Aufbrüche
Kehr, Der Primat der Innenpolitik. Einleitung* H ANS -U LRICH W EHLER
Eckart Kehrs Werk ist durch die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg bestimmt worden. Seither trug er das unsichtbare Brandmal des verlorenen Krieges, obschon er zu jung gewesen war, als daß es aus der unmittelbaren Erfahrung des Frontsoldaten hätte herrühren können. Der tiefe Einschnitt von 1918 lenkte aber erst die ihm eigene Dynamik in die Bahn, die den Inhalt seines bewußten Lebens bis hin zum frühen Tod als Dreißigjähriger umfaßt hat. Denn Kehr gehörte zu der kleinen Schar in seiner Generation, der diese im Schüleralter miterlebte Erschütterung Deutschlands, die so viel tiefer reichte als die Zertrümmerung des nationalsozialistischen Reiches im Frühjahr 1945, nicht zur Quelle eines unstillbaren, blinden Ressentiments gegen Niederlage und Republik wurde. Sie trieb ihn vielmehr dauerhaft zu bohrenden Fragen an die deutsche Geschichte, damit zur seltensten aller möglichen Reaktionen: der produktiven Auseinandersetzung mit den Ursachen der Katastrophe. Diese sachliche Bedingung verband sich mit sehr persönlichen Voraussetzungen zu nachhaltigem Einfluß auf Kehr, ehe er 1927 zu veröffentlichen begann und geradezu schlagartig in die vorderste Reihe der jungen deutschen Historiker rückte. Den am 25. Juni 1902 im altpreußischen Brandenburg an der Havel Geborenen erzog der Vater, Geheimrat Dr. Huldreich J. W. Kehr, der als Direktor die Brandenburgische Ritterakademie auf dem Dom leitete. Während der Vater der älteste Sohn des bekannten Pädagogen Karl Kehr war, entstammte die Mutter, eine geborene Herminghausen, einer siegerländischen Familie, die auf eine dreihundertjährige Juristen- und Theologentradition zurückblickte. Als viertes Kind unter fünf Geschwistern wurde Eckart Kehr in der Havelstadt groß, wo er von der Quarta ab die Rit*
Hans-Ulrich Wehler, Einleitung, in: Eckart Kehr. Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Bd. 19), hg. von HansUlrich Wehler, Berlin: de Gruyter 1965, S. 1-29.
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terakademie, an der er 1921 das Abitur ablegte, besuchte. Nur schwer ertrug der frühreife, selbstbewußte Junge die harte Schulzucht; seit je in sich zurückgezogen, in der Familie als kompliziert geltend, nur der Mutter und seiner Schwester Martha offen zugetan, lebte er ein Eigenbrötlerdasein, in dem Bücher eine wachsende Rolle spielten. Auch äußerlich unterschied er sich durch seine Übergröße von einer Familie eher pyknischen Schlages; zeit seines Lebens etwas linkisch und rustikal, in praktischen Dingen unbeholfen, doch von unersättlicher Leselust, erschien er ganz als Einspänner, der sich in einer eigenen Welt bewegte. Den Generationenkonflikt zwischen Vater und Sohn, wie er der spätbürgerlichen Zeit in voller Schärfe eigen war, suchte die pädagogisch geschickte Hand des Vaters zu mildern. Doch in stetem Aufbegehren gegen die als Joch empfundene Disziplin der Akademie, eines Landjunkergymnasiums, durchlebte er die Schulzeit. Der Protest wurde frühzeitig sein Lebenselement. Aus Berlin fiel der entfernte Glanz der Wissenschaft in die kleinstädtisch enge Welt, denn seinen Onkel Paul Fridolin Kehr, den hervorragenden Mediävisten, in diesen Jahren erst Direktor des Preußischen Historischen Instituts in Rom, seit 1915 Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive, führten gelegentliche Besuche nach Brandenburg. Er mag etwas von der jungenhaften Sehnsucht nach einem Vorbild auf sich gezogen haben. Die Berührung mit der Geschichte vermittelten neben dem Onkel nicht nur Bücher und der als Altphilologe ausgebildete Vater, auch der Jüngste der Gebrüder Kehr, Karl, war erst durch einen plötzlichen Tod aus einer vielversprechenden Laufbahn als Historiker gleich zu Beginn herausgerissen worden1. Den Vater, der sich bis ins Innerste als Diener des preußischen Herrscherhauses fühlte, traf der Sieg der gegnerischen Koalition zutiefst. Auch die politisch noch unklare Vorstellungswelt des Sohnes erschütterte das eilfertige Exil des Kaisers, der drohende „rote“ Umsturz im Inneren. Doch so entging er dem sicheren Zwang, bald als Soldat eingezogen zu werden. Seitdem auch verdichtete sich seine Proteststimmung. Voller Gärung bezog er 1921 die Berliner Universität. Der Vater lehnte es ab, ein Stipendium von ehemaligen Zöglingen der Akademie für seinen Sohn anzunehmen. Zwar habe die Aristokratie oft ihre Gegner großgezogen, erklärte er, an seinem Sohn solle sich aber das historische Beispiel nicht noch einmal wiederholen. Die Episode wirft ein Schlaglicht auf die frühe politische Einstellung Eckart Kehrs. So ausgeprägt muß bei dem Neunzehnjährigen die Abneigung gegen die alte preußische Herrenschicht, als deren Vertreter er den brandenburgischen Landadel erlebt hatte, bereits greifbar gewesen sein. Während der zehn Semester, die er nun ausschließlich in Berlin mit elterlichem Wechsel studierte, wurde zweierlei für ihn bedeutsam. Einmal betrieb er von Anfang an kein enges Fachstudium. Daß er die Geschichte als Hauptfach wählen wollte, stand seit längerem fest; dazu aber belegte und arbeitete er in Soziologie, Nationalökonomie und Philosophie. Sein eigentlicher Lehrer wurde Friedrich Meinecke, doch begann er seine Ausbildung in den ersten Seminaren von Hans Rothfels. Zu seinen Professoren konnte er
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später Wissenschaftler wie Troeltsch, Harnack, Smend, Stutz, Spranger, Marcks, E. Meyer, Hofmeister, Brackmann, Eucken zählen. Zum Zweiten nahm er leidenschaftlichen Anteil an der Politik. Obwohl er zu keiner Zeit einer Partei angehörte, rückte er allmählich auf die linke Seite des politischen Spektrums, steigerte sich sein Groll gegen die zahlreichen Feinde der Republik. Die Kriegsniederlage schien ihm zu gebieten, unerbittlich die Vergangenheit und die in ihr angelegten Fehlentscheidungen zu überprüfen, statt den kurzsichtigen Eskapismus der Dolchstoßlegende zu pflegen. Diese allgemeine politische Entwicklung, die sein lebhaftes Temperament mitbedingte, wurde nun durch die Erarbeitung der methodologischen Grundlagen seines Studiums unterstützt. Rothfels hatte ihn angeregt, eine Dissertation über den Bau der deutschen Schlachtflotte in Angriff zu nehmen. Bereitwillig griff Meinecke den Vorschlag des jungen Doktoranden auf. In einer Gewaltanstrengung, die seinem Lehrer die anerkennenden Worte abnötigte, er habe sein „ungewöhnlich umfangreiches Material“ mit einer „ungeheuren Arbeitskraft“ zusammengetragen, arbeitete sich Kehr durch die ungedruckten Quellen des Reichswehrministeriums, die gedruckte Literatur, Reichstagsberichte, Tagespresse und Publizistik hindurch. Indem er in die Probleme der wilhelminischen Flottenpolitik eindrang, verspürte er die „revolutionierende Wirkung“, die vom Gegenstand der Arbeit auf ihn ausging2. Das Ungenügen der orthodoxen Diplomatiegeschichte als einer Bewegungsphysik blutleerer Schemen wurde ihm immer deutlicher bewußt. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge durchwuchsen eine Politik, deren vermeintliche Eigenständigkeit ihm fortlaufend fragwürdiger wurde. „Mein Studium“, konnte er daher rückblickend einmal schreiben, „begann unter dem Vorzeichen der politischen Geschichte und der Philosophie. In seinem Verlauf drängte sich aber, besonders intensiv bei den Vorausarbeiten für das Flottenbuch, immer stärker das Problem der Beeinflussung der reinen Politik durch die Wirtschaft und die soziale Gliederung in den Vordergrund, und die Untersuchung der Beziehungen zwischen beiden wurde zum Mittelpunkt meiner wissenschaftlichen Interessen3.“ Im November 1926 gab er bereits den ersten Entwurf der Dissertation über die Anfangsphase der Tirpitzschen Flottenpolitik bei Meinecke ab; unter dessen skeptischen Blicken erzählte er unumwunden von seinen Habilitationswünschen. Nahezu ein Vierteljahr mußte er warten, dann bestellte ihn Meinecke zu sich nach Dahlem. Er lobte Kehr als „ein starkes Talent“, das seine Arbeit „sehr respektabel“ durchgeformt habe. Mit unverhohlenem Stolz schrieb Kehr sofort nach Hause, daß dies „Töne“ gewesen seien, „die man gerade aus Meineckes Mund sehr selten hört.“ „Es gehört schon etwas dazu, ihm zu imponieren, aber man kann es nur durch den Kopf.“ Während der Kritik interessierte sich Meinecke für den Prozeß der inneren Veränderung, den Kehr im Laufe der Arbeit durchgemacht, hatte. Er „zuckte aber schmerzlich zusammen und ließ das Thema fallen“, als Kehr ihn in der Verteidigung an den Brief des Fürsten Salm erinnerte, worin dieser die Fortsetzung des Flottenbaus
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forderte, damit die Aktienkurse der Montanindustrie stiegen4. „Dieser Glaube an die ideologischen Grundlagen des Nationalismus“ fand Kehr, „ist so bezeichnend für die alte Generation.“ Als Meinecke ihn halb scherzend einen „vollständigen Nihilisten“ nannte, der, statt auf dem Standpunkt zu stehen, daß alles verstehen, alles verzeihen heiße, vielmehr glaube, „alles verstehen, heißt alles kritisieren“, erklärte Kehr diese Haltung als eine methodisch notwendige Position, „denn die comprendre-pardonner-Auffassung führe einfach zu der politischen Verabsolutierung des status quo.“ Kehr glaubte bei Meinecke eine „wirklich innere Anerkennung meiner Existenzberechtigung“ zu finden. Mit Feuereifer begab er sich an die Überarbeitung der Doktorarbeit. Währenddessen hörte er von Dietrich Gerhard, daß Meinecke von der Studie „sehr angetan“, aber durch die Schärfe des Urteils „sehr chokiert“ sei. Seinem Vetter Peter Richard Rhoden bezeichnete sie Meinecke als „sehr gut, sehr interessant … aber schrecklich radikal. Wie soll der junge Mann nur vorwärtskommen, wenn er sich nicht mäßigt?“ Wegen seines Fortkommens aber war Kehr „jetzt gar nicht mehr bange5.“ Noch ehe er im Sommer 1927 „summa cum laude“ promoviert wurde, hatte er seine beiden ersten großen Aufsätze geschrieben. Schon 1927 erschien im „Archiv für Politik und Geschichte“ die Untersuchung über „Die deutsche Flotte in den 90er Jahren und der politisch-militärische Dualismus des Kaiserreichs6.“ Sie basierte, wie auch die Dissertation, auf Marineakten des Reichswehrministeriums. Deshalb mußte sie dort vor dem Druck vorgelegt werden. „Das ganze Ministerium hat Kopf gestanden vor Wut“, berichtete Kehr seiner Schwester, ,,18 Punkte hatten diese Herrschaften zu monieren. Sie wollten den Aufsatz kurzerhand ganz verbieten und brachten die Affaire vor Geßler.“ Dem Reichswehrminister indessen blieb wohl die Protektion, die Kehr durch Meinecke und Paul F. Kehr genoß, nicht unbekannt, er befahl bedingungslose Freigabe. „Die eine Partei im Ministerium schnaubte nun Rache und will mich schikanieren, die andere ist ganz klein und häßlich geworden. Ich war Anfang Januar (1927) noch einmal selber im Ministerium und habe mich königlich amüsiert über diese Geheimräte und Kapitäne. Was werden sie toben, wenn sie erst das Buch freigeben müssen. Man muß diesen anmaßenden Gesellen gegenüber energisch auftreten“, urteilte er selbstbewußt, „damit sie stille sind7.“ Bei allem Vorbehalt gegen die „von Übertreibung nicht freie Zuspitzung“ von Kehrs Thesen sprach Hans Herzfeld in den „Jahresberichten für Deutsche Geschichte“ doch von „einer geistvollen Studie“ und nannte Kehrs Erstling eine „anregende Arbeit“8. Etwas länger dauerte es mit der Aufnahme des Aufsatzes über „Englandhaß und Weltpolitik“9 in Grabowskys „Zeitschrift für Politik“. „Die Dinge zögern sich entsetzlich lange hin“, beschwerte sich der ungeduldige Verfasser, doch wurde er für das Warten dadurch entschädigt, daß Meinecke ihn zu dem „kleinen Kreis“ der „künftigen Privatdozenten“ einlud10. Als 1928 die Analyse des Englandhasses gedruckt wurde, lobte Herzfeld, daß Kehr „in anregender Weise, geistvoll und konstruktiv ... die bestimmenden Grundlagen der Bülowschen Außenpolitik zu finden versucht habe.“ „Eine
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kühne Umkehrung vom Primat der Außenpolitik“, urteilte er, „die als Versuch, die Gesamtstruktur des deutschen politischen Lebens an dem kritischen Wendepunkt der Vorkriegsgeschichte einheitlich zu erfassen, Beachtung verdient.“ Da sie indessen „mehr auf konstruktivem Referat als auf umfassender Würdigung der tatsächlich erkennbaren Motive, aus denen die Entscheidungen der handelnden Personen gefallen sind“, beruhe, fordere sie „kritische Abstriche heraus11.“ Das hatte wohl auch der Herausgeber der „Zeitschrift für Politik“ empfunden, der deshalb an Kehrs Verfechtung des Primats der deutschen Innenpolitik eine auf den romantizistisch-organischen Staatsgedanken gegründete, die Staatsmetaphysik beschwörende Verteidigung der konventionellen Auffassung anhängte, mit der Kehrs realistische Analyse hell kontrastierte12. Im gleichen Jahr noch führte der jetzt eben 26jährige Kehr diese beiden Themen weiter fort, indem er in Rudolf Hilferdings „Gesellschaft“ eine ausführliche Besprechung von Meineckes Buch über das deutsch-englische Bündnisproblem veröffentlichte. Meinecke griff darin ganz knapp, doch in überraschend starker Übereinstimmung eine der Hauptthesen von Kehr auf, was dieser zum Anlaß nahm, seine Auffassung noch einmal breiter zu entwickeln13. In derselben Zeitschrift publizierte er dann eine Vorstudie aus dem Bereich seiner Doktorarbeit, die „Sozialen und finanziellen Grundlagen der Tirpitzschen Flottenpropaganda“. Gegen Jahresende erschien dort sogar noch die klassische Studie über die „Genesis des Kgl. Preußischen Reserveoffiziers“14. Inzwischen hatte Kehr sein Studium abgeschlossen. Meinecke bot ihm an, im Auftrag der Reichskommission die „Entstehungsgeschichte der Weimarer Verfassung“ zu bearbeiten. Kehr scheute vor dem zeitgeschichtlichen Thema, das ihn allzu sehr in die Tagespolitik zu verwickeln drohte, spürbar zurück. Aus einer Redakteursstelle bei der „Frankfurter Zeitung“ wurde nichts. Stattdessen entwickelte Kehr den Plan, die „preußische Kriegsfinanzpolitik“ zwischen 1806 und 1815 zu bearbeiten. Er hoffte, im Anschluß an die Archivarbeit in Deutschland in Paris und London, womöglich mit Hilfe eines Rockefeller-Stipendiums, diese „Reparationsfragen“ eingehend studieren zu können. Als letztes Ziel schwebte ihm eine „Gesamtdarstellung des Problems: Krieg und Geld im Zeitalter der Maschinenrevolution“ vor; das entspreche seiner Tendenz, schrieb er Meinecke, „Geschichte und Wirtschaftsgeschichte zu verbinden15.“ Im März 1928 beantragte er bei der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft ein Stipendium, das ihm auch im Frühjahr für dieses Projekt bewilligt wurde. Unverzüglich begann er mit der Materialsammlung im Dahlemer Archiv. Diese Tätigkeit nahm ihn die folgenden Jahre in Anspruch. Noch ehe er im Wintersemester 1929/30 als Dozent an der „Deutschen Hochschule für Politik“ zu wirken begann, hatte jedoch sein forciertes Arbeitstempo zu ersten Herzattacken geführt, die 1931 in verschärfter Form erneut auftraten. 1929 druckte die „Gesellschaft“ seine Studie über das „Soziale System der Reaktion unter dem Ministerium Puttkamer16.“ In einer kritischen Rezension wandte sich Wilhelm Mommsen ganz wie Kehr gegen die „völlig unzuläng-
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liche Veröffentlichung des Sohnes von Puttkamer“ über das Wirken des ehemaligen preußischen Innenministers. Kehrs „ebenso interessante wie überscharfe ... Betrachtung über die soziale Umschichtung in Preußen“ unter der Ägide der Puttkamerschen Beamtenpolitik schien ihm „ohne Zweifel auf Probleme“ hinzuweisen, „die wichtiger sind als manche in die Augen tretenden äußeren Vorgänge17.“ Mittlerweile war auch endlich die Drucklegung der überarbeiteten Doktorarbeit vorangeschritten. Sie erschien 1930 unter dem Titel „Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894 bis 1901. Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus“ als Band 197 von Eberings Historischen Studien18. Damit legte Kehr ein nahezu 500 Seiten umfassendes Werk vor, das die mit Abstand bedeutendste Monographie zur Geschichte des deutschen Imperialismus darstellt. Wegen des Inhalts und seiner methodischen Brillanz wirkt es auch heute noch ganz so frisch, wie es sachlich durch die platte Flottenapologetik Hallmanns und neuerdings wieder Hubatschs nicht überholt ist. Sogleich pries Karl Jacob in „Vergangenheit und Gegenwart“, daß sich die Arbeit „nach Gehalt und Methode weit über die bisherige Literatur auf diesem Gebiet“ erhebe. Das „überaus sorgfältig fundierte Buch“ beruhe „auf einer ungemeinen Belesenheit.“ „Verdienst und Bedeutung des Buches als einer selbständigen, neue Wege weisenden Leistung kann durch Urteilsverschiedenheit im einzelnen nicht abgeschwächt werden.“ In der „Frankfurter Zeitung“ widmete ihm G. W. F. Hallgarten noch im Dezember 1930 eine nicht minder freundliche Besprechung19. Dann entstand eine längere Pause, in der der Autor ungeduldig auf ein Echo wartete. Kehr litt unter dem Schweigen der engeren Fachwelt, er wünschte sich nichts dringender als Worte der Ermutigung. Dabei mußte er sich doch auf der einen Seite darüber klar sein, daß seine provozierende Arbeitsmethode und Schreibweise, der in imponierender geistiger Aufrichtigkeit jede Rücksichtnahme völlig fremd blieb, auf persönliche wie sachliche Widerstände treffen würde. Andererseits aber erwartete er gleichwohl aus dem ihm angeborenen Gefühl für Gerechtigkeit und Fairneß gegenüber dem Außenseiter eine wenn auch widerstrebende Würdigung der Ernsthaftigkeit und Berechtigung seiner Kritik. Er griff schroff und ungestüm an, hoffte aber dennoch auf Anerkennung durch eine vorwiegend nationalkonservative Zunft, der seine radikalen Fragestellungen suspekt erschienen. Tatsächlich aber hat es einige Jahre lang nicht an der gewünschten Anerkennung gefehlt. Die wichtigsten seiner Aufsätze, mit Ausnahme der Studien über den Reserveoffizier und die Historische Belletristik sind z. B. in den „Jahresberichten für Deutsche Geschichte“ eingehend rezensiert worden. An Lob hat es dort ebensowenig wie freilich auch an Ausstellungen und korrigierenden Einwänden gefehlt. Geradezu enthusiastischen Beifall spendete ihm der größte amerikanische Historiker, Charles Austin Beard, der durch seinen Schwiegersohn, den mit Kehr befreundeten Hamburger Historiker Alfred Vagts, auf das Buch hingewiesen wurde. „Seitdem Eva Adam den Apfel überreichte“, faßte Be-
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ard eine ausgiebige Besprechung in der linksliberalen „New Republic“ zusammen, „hat, wer die Wahrheit vom Trug unterscheiden will, selten eine bessere Gelegenheit besessen, die Frucht vom Baume der Erkenntnis zu essen20.“ Dagegen rügte Arthur Rosenberg in der „Gesellschaft“ an der „wichtigen“ und „ausgezeichneten“ Arbeit, daß „die äußere Form des Buches“, worunter Rosenberg den wissenschaftlichen Apparat der „seminarmäßigen Belegstellen“ verstand, „ihm die Wirkung auf die deutsche Öffentlichkeit größtenteils rauben muß21.“ Eine positivere Reaktion durfte Kehr wohl in Hilferdings Zeitschrift erwartet haben. Gegen das „zweijährige gründliche Totgeschwiegenwerden“ durch das „inländische Fachzeitschriftentum“ ritt schließlich Alfred Vagts in Mendelssohn-Bartholdys „Europäischen Gesprächen“ eine temperamentvolle Attacke. Er referierte eingehend, arbeitete dann aber außer den sozialgeschichtlichen Fundamenten des Buches, zu denen Kehr von einer „ursprünglich harmlosen Problemstellung der MeineckeSchule“ über „die liberal-demokratischen Ideologien im Rahmen der Machtpolitik“ vorgestoßen sei, die „nicht primär“ materialistische Grundanschauung Kehrs heraus, dem er völlig zutreffend einen „stürmischrationalen“ Erkenntnisdrang, verbunden mit einer vor den Problemen nicht zurückscheuenden intellektuellen Redlichkeit zuschrieb22. Bevor jedoch noch Wilhelm Mommsen in der „Historischen Zeitschrift“ auch eine Klinge für Kehr schlug, brachte der sowjetische „IstorikMarksist“ eine ausgiebige Rezension von V. M. Chvostow. Zwar unterstrich der russische Historiker, daß es sich bei Kehrs Buch, das ein „gigantisches Material aufbereitet“, um „eine der bedeutendsten Leistungen“ der neueren historischen Forschung handle. „Selten“ habe er „eine Arbeit gefunden, die so die historischen Interessen anregt“, doch der „durchaus reaktionäre“ Charakter des Werkes, seine „antimarxistische“, „gut maskierte politische Tendenz“ minderten seinen Wert in entscheidendem Maße. Die von Kehr aufgegriffene „pluralistische Methodologie Max Webers“, gestatte es ihm in seiner „Apologie des Imperialismus“ nicht, einen „einheitlichen Prozeß“ zu erfassen, daß nämlich im Sinn des Leninschen Entwicklungsschemas der Kapitalismus zwangsläufig in sein letztes, imperialistisches Stadium eintreten müsse. Damit leugne Kehr die Unausweichlichkeit der systemimmanenten Widersprüche, von der Kehr in der Tat bei seiner genauen Zurechnung der Verantwortung an die Interessengruppen nichts hatte wissen wollen23. Von allen deutschen Fachrezensionen, die in der Folgezeit erschienen, nahm sich nur Wilhelm Mommsen zustimmend des inzwischen hart umstrittenen Buches an. Inhaltlich erkannte Mommsen einen „Grundgedanken“ der Untersuchung, „daß der gesamten sogenannten Weltpolitik der geistige Unterbau fehlte und daß eine kapitalistisch eingestellte Außenpolitik mit einer agrarisch eingestellten Innenpolitik notwendig nicht zusammenpaßt“, als „beachtenswert“, das „Gesamtbild“ als „überaus fruchtbar ... anregend und weiterführend“ an. Die entscheidende Bedeutung des Buches erblickte Mommsen jedoch „in der Methode“. Kehrs „energischer Querschnitt“ ermögliche es, „Spezialisierung im Ansatzpunkt mit Breite der Fragestellung und
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des Blickfeldes“ zu verbinden. Die „fruchtbaren Ergebnisse“ dieses Vorgehens könnten die Forschung nur beleben, ja, Mommsen meinte sogar, „daß diese Anlage des Kehrschen Buches ein Muster bilden könnte für andere Untersuchungen aus dem Gebiet der jüngsten Vergangenheit.“ Insgesamt hielt er „die Verdienste des Buches“ für „groß genug“, daß die berechtigte Detailkritik die „Freude an der Gesamtleistung nicht trüben“ könne24. Dies blieb das letzte respektvolle Wort, das die deutsche Geschichtswissenschaft jahrzehntelang fürs Kehrs erstes Buch gefunden hat. Von der Seite der Marinepublizistik ließ sich angesichts der geschliffenen Polemik Kehrs keine Zustimmung erwarten. Ein biederer Wirrkopf monierte in der „Marinerundschau“, daß Kehr die „Triebkräfte ... heroischer Natur“, die der anonyme Rezensent aus ihrer „geopolitischen Herkunft“ ableitete, verkannt habe. Doch auch Besprechungen in den „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte“, der „Zeitschrift für Politik“ und der „Historischen Vierteljahrsschrift“ blieben zum Teil schon vom Ungeist der heraufziehenden neuen Zeit gefärbt, durch starre Ressentiments getrübt. Weder bereit noch fähig, eingefressene Vorurteile zu überprüfen, verharrten sie im nationalistischen Pathos der „höheren“ deutschen Ideale und in versteinerter Tirpitzverehrung25. Kehr, der sich der schweren Emanzipation von einem eindrucksvollen Lehrer wohl bewußt war, gab sich keinen Illusionen darüber hin, „wie unendlich weit“ er sich inzwischen von „all diesen Problemen der Meineckeschule, mit denen ich mich als Student auch weidlich herumgeschlagen habe, entfernt“ hatte, „Probleme, die menschlich doch viel sympathischer sind, als all die gräßlichen und brutalen Macht-, und Klassenkämpfe, an denen ich mir die Zähne ausbeiße.“ Zwar habe der Jazz den Wiener Walzer noch nicht ganz verdrängt, indessen „ist der Jazz doch nun mal die Musik dieses Jahrzehnts, meine ich, ... und damit tröste ich mich manchmal, wenn ich nicht sehe, wohin die ‚neue Historie‘ mich nochmal hinführt26.“ Seine Gesundheit machte ihm derweilen schwer zu schaffen. Ein Arzt stellte einen schweren Herzklappenfehler und heftige Kreislaufstörungen fest. Dennoch stimmte Kehr zu, als ihm das Dahlemer Archiv im Herbst 1931 anbot, im Rahmen der „Publikationen aus den Preußischen Staatsarchiven „eine vierbändige Aktensammlung über die preußische Finanzpolitik von 1806 bis 1815“, für die er als bester Sachkenner bereits bekannt war, herauszugeben27. Dank dem Stipendium der Notgemeinschaft hatte er seit 1928 die Untersuchungen zu diesem Thema weit vorantreiben können. Inzwischen glaubte er, die „Methode der Betrachtung der Reformzeit von der ethisch-idealistischen Seite her“ durch die „Schilderung der wirtschaftlich-sozialen Probleme des Jahrzehnts nach Jena“ ersetzen zu können. In diesem Sinn schrieb er im Sommer 1931 sein zweites Buch über „Wirtschaft und Politik in der preußischen Reformzeit“, von dem sich trotz angestrengten Suchens kein Manuskript mehr hat auffinden lassen28. Als das Preußische Innenministerium 1931 den Freiherr-vom-Stein-Preis ausschrieb, reichte Kehr diese Untersuchung ein. In ihr schilderte er, „die Problematik
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des Flottenbuches ausdehnend, den Kampf der die Leitung des Staates allmählich dem König abnehmenden preußischen Bürokratie mit dem im Krieg selbstbewußt werdenden Bürgertum einerseits, dem unter den Folgen der Kreditüberspannung in der Vorkriegszeit zusammenbrechenden Rittergutsadel andererseits, im Zusammenhang mit den finanziellen Schwierigkeiten einer Nachkriegsperiode und unter dem Druck hoher Tribute an das Ausland29.“ Ihm ging es aber auch darum, „die gesamte Auseinandersetzung zwischen Bankiers und Bürokratie, und damit auch die zentrale Frage der politischen Machtstellung der Bankiers“ auf der Grundlage seiner Aktenstudien „zum erstenmal“ anzuschneiden. Er skizzierte die allgemeine „Lage des Geld- und Kapitalmarktes von 1806“, die „zum vollen Verständnis der Entwicklung seit 1807 unbedingt notwendig ist“, da es sich um „ungemein wichtige und in ihrer Bedeutung für den Zusammenbruch Preußens stark unterschätzte Probleme“ handle. Die „preußische Finanzpolitik nach 1807“ untersuchte er als „die Finanzen eines Staates nach der Niederlage und den wirtschaftlichen Erschütterungen einer schweren Wirtschaftskrise.“ Finanzpolitik wollte er „hier nicht nur als Steuererhebung des Staates und seine Ausgabenwirtschaft aufgefaßt“ wissen. „Hier wird zum erstenmal“, urteilte er über seine Studien, „ein großes Feld erschlossen, das die Forschung bisher beiseite ließ und das uns, obwohl fast alle Einzelheiten wie die großen konkreten Zusammenhänge bisher unbekannt und in den Akten vergraben waren, doch merkwürdig bekannt und vertraut erscheint, als ob wir es schon durchwandert hätten. Und das ist im Grunde nicht so sonderbar, denn die finanziellen Probleme Preußens nach seiner Niederlage 1806/07 ähneln denen Deutschlands seit dem Weltkriege.“ Nicht nur die Reparationsfrage, da auch damals „die Bezahlung der Kontribution an Frankreich ... alles überschattete.“ Auch „die Katastrophe der Deflation“ besaß ähnliche Züge. „Das bare Geld mußte aus dem Lande geschickt werden, weil die Handelsbilanz keine Devisen zur Bezahlung der Kontributionen lieferte.“ Als „Folge der Deflation“, tauchten „Vorschläge zu ihrer Behebung“ auf, von der „Redeflation bis zur Deflation“; schließlich folgte „ein Preissturz, der das Land, besonders den Grundbesitz, schwer erschütterte. Die Osthilfe-Notverordnung hat ihren Vorgänger im Moratorium für den Immobiliarbesitz von 1807, wie jene scharf umstritten von den Interessenten pro und contra.“ Als „Folge der Kapitalknappheit“ ergab sich „ein Steigen des Zinsfußes und ein erbittertes Ringen des überschuldeten Grundund Hausbesitzes um eine Herabsetzung der Zinsen. Aber auch die Währung war nicht in Ordnung: über das im Kurs sinkende Papiergeld wurden heftige Diskussionen“ geführt. „Vor 125 Jahren wie heute- Reparation, Deflation, Preissturz, Papiergeld, Kampf zwischen Bankiers und Bürokratie um die Macht. Der am stärksten verschuldete Mann des Landes wird Staatskanzler ...30.“ Von dem Stein der patriotischen Lesebücher fand sich in Kehrs Schrift kein Wort. Man warf ihm bald vor, „daß er den Freiherrn vom Stein nur als typischen Bürokraten gelten“ lassen wolle31. Die Historische Kommission beim Reichsarchiv erkannte jedoch die „überlegene Qualität“
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der Kehrschen Studie; sie sprach ihm daher die Preissumme zu, verweigerte ihm aber die eigentliche Auszeichnung mit dem Preis wegen der „unorthodoxen Schlußfolgerungen“; er fiel einem „mittelmäßigen“ Wettbewerber zu32. Bitter hörte Kehr, daß seinem zweiten Werk eine „unmögliche Auffassung“ zugrunde liege. Er hielt seine „ganze Universitätszukunft“ für „erledigt“, hatte er sich doch gleichzeitig – und vergeblich – mit dieser Arbeit bei Rothfels habilitieren wollen32a. Unverdrossen arbeitete er jedoch an den Aktenbänden, in denen „ich das dokumentarische Material meines Buches ausbreiten kann“, weiter. In diesen Bänden werde er „konkret der Welt“ zeigen, „daß in der Reformzeit nicht Ethik und bürgerliche Phraseologie des 19. Jahrhunderts ihren Grund haben, daß damals auch so etwas wie ein verflucht unethischer und unidealistischer Kapitalismus sich entfaltet hat, der auf die Firma Schleiermacher, Fichte etc. ... G. m. beschränktem Horizont pfiff. Über diese Aktenbände“ werde die Zunft, der er darin eine „Sensation ersten Ranges“ prophezeite, „genau so hochgehen wie über das Buch; da sind sie machtlos, da redet auf 1500 Seiten kein Bolschewik, sondern da spielen sehr honorable Geheimräte.“ Wegen des „erbitterten und einmütigen Widerstandes der Zunft“ seien aber seine akademischen Aussichten „auf den Nullpunkt gesunken.“ Sobald er, „gewissermaßen als äußere Rechtfertigung“ die Akten veröffentlicht habe, fürchtete er, „umsatteln“ zu müssen33. Es ist Kehr trotz zweier schwerer Nervenzusammenbrüche im Winter 1931 und wieder 1932, bei denen Herzfehler und Enttäuschung mit der pausenlosen Überarbeitung zusammenwirkten, gelungen, seine ersten beiden Aktenbände fertigzustellen. Ihre Veröffentlichung wurde zwar unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verhindert, doch steht zu hoffen, daß die schon gesetzten Bände, von denen größtenteils die Fahnenabzüge erhalten geblieben sind34, in absehbarer Zeit noch herausgebracht werden können. Aus dem Umkreis der Studien über die preußische Reformzeit erwuchs auch Kehrs fundamental wichtiger Aufsatz über die „Genesis der preußischen Bürokratie und des Rechtsstaates35.“ Er vermittelt einen Eindruck, was der Verlust der Preisschrift für die Geschichtswissenschaft eigentlich bedeutet! Ein Kritiker gestand ihm zwar noch zu, daß „wie alle seine Arbeiten auch diese Untersuchung zahlreiche Anregungen“ bringe, „letzten Endes bleibt aber seine Kritik ... verneinend.“ Kehr wurde vorgeworfen, „das tiefe sittliche Empfinden“ der leitenden Staatsmänner zu vernachlässigen, auch, daß Stein allein „um der Gesamtheit und des Staates willen“ gehandelt habe. Er übersehe „das völkisch-sittliche Wollen des Bürgertums“, hieß es in einer bezeichnenden Wendung, an die sich eine nicht minder aufschlußreiche Zustimmung anschloß, „daß die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen für den Gedanken des liberalen Rechtsstaates in der Gegenwart zersetzt“ seien36. Kehr als Kronzeugen einer antidemokratischen Kritik zu berufen, hieß freilich den Schritt zur Karikatur tun, ist doch Kehr am Fernziel des Nachfolgers des liberalbürgerlichen Rechtsstaats, der sozialstaatlich verfaßten Massendemokratie, nicht irre geworden.
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Kehrs letzte wissenschaftliche Arbeiten entstanden im Zusammenhang mit seiner Lehrtätigkeit an der „Deutschen Hochschule für Politik“. Er las dort Kollegs, unter anderem über „Rüstungspolitik und Strategie 1859 bis 1914“, „Das Finanzkapital im 19. Jahrhundert“, „Heeresverfassung und Gesellschaftsstruktur“; seine Seminarübungen galten den „deutsch-englischen Bündnisverhandlungen“, der „Methode und Technik diplomatischer Verhandlungen am Beispiel des Juli 1914“, den „Putschen im Nachkriegsdeutschland“. Es vermittelt eine Berührung mit der Atmosphäre, in der sich eine unverdächtige, durch und durch bürgerliche, doch in der Sache scharfe historische Kritik damals bewegen konnte, daß Kehr, wenn er aus Max Lehmanns Scharnhorstbiographie unverbrämte Urteile über das Preußen Friedrich Wilhelms III. oder aus Schmollers „Untersuchungen“ nüchterne sozialhistorische Abschnitte „wörtlich vortrug“, das häufig „gleich für Bolschewismus erklärt bekam37.“ Hermann Oncken nannte damals freilich in einem Gespräch mit dem amerikanischen Gastprofessor Walter L. Dorn Kehr das „enfant terrible“ der deutschen Historikerzunft. Dem Amerikaner, der Kehr als „höchst brillant“ einschätzte, schien es, als ob dieser „für die gegenwärtigen Anhänger Rankes in Deutschland“ dasselbe „wie Charles Beard für eine ältere Generation amerikanischer Historiker“ bedeute38. Kehr schrieb jetzt unter anderem die Studie über „Klassenkampf und Rüstungspolitik im kaiserlichen Deutschland39.“ Zugleich trieb er die Vorarbeiten zu einer umfassenden Untersuchung über die Rüstungsindustrie voran. Manchmal hatte er vor, in „einem kleinen Buch, ,Rüstung und Krieg im Rahmen der sozialen Entwicklung‘“, noch Ende 1932 einen ersten Teil davon drucken zu lassen, doch hielten ihn die Editionsarbeiten an den Aktenbänden ebenso davon wie von einem auf seinen Vorlesungen basierenden geplanten Buch zur preußisch-deutschen Militärgeschichte ab, zudem das „beinah vollständig gesammelte Material“ schon vorlag; für eine dritte Schrift über „Das Geld in der Politik“ hatte er immerhin schon 5000 Exzerptseiten und Skizzen gesammelt40. Aus den Unterlagen zur Entwicklungsgeschichte der Rüstungsindustrie gingen dann der Beitrag zur „Encyclopaedia of Social Sciences“, als deren Mitarbeiter ihn auf Empfehlung Meineckes der Herausgeber, Prof. Seligman, in Berlin gewonnen hatte, sowie ein fragmentarisches Manuskript hervor, in dem er die seit 1928 gehegten Pläne auszuführen begonnen hatte41. Im Sommer 1932 bat Friedrich Adler, der für die 11. Sozialistische Internationale ein „Internationales Handbuch des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“ herausgeben sollte, Kehr um seine Mitarbeit. Dieser machte sich zwar darüber lustig, daß „man ein Nichtparteimitglied“ deswegen angehe; auch sah er gleich „hübsche Tänze um die Auffassung“ voraus. Dennoch sagte er zu. Er überarbeitete von Grund auf ein bereits vorliegendes Manuskript von Paul Kampffmeyer über die Zeit bis 1914. Er selber steuerte den Beitrag für die Jahre zwischen 1914 und 1933 bei. Auch diese parteigeschichtlichen Studien müssen indessen als verschollen gelten42.
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Außer allen Projekten, die Kehr in dieser Zeit wöchentlicher Herzanfälle, doch schier unbegreiflicher Produktivität betrieb, entwarf er einen Fortsetzungsband zu seiner Preisschrift. Um ihn ausführen zu können, bewarb er sich im Dezember 1931 bei der Rockefeller-Stiftung um ein Forschungsstipendium. Er sah sich zum Vergleich des historischen Ablaufs in Preußen mit den westlichen Staaten gedrängt. Vornehmlich zu einem breit angelegten Teil über die preußischen „Auslandsanleihen“ wünschte er eingehende Untersuchungen über den Kapitalmarkt von Paris und Amsterdam anzustellen. Ihm stand vor Augen, „für die moderne Problematik großer internationaler Kapitalsverschiebungen die historischen Parallelen“ herauszufinden, dabei auch der „Frage der Finanzierung großer Koalitionskriege“ nachzuspüren, um die „Gesamtverflechtungen von Wirtschaft und Politik in der Zeit der französischen Revolution und Napoleons“ freilegen zu können. „Allerdings“, argwöhnte er, „sind diesmal mehr Bewerber da als Plätze, und einen Putschinski wird man schließlich trotz allem offiziellen Wohlwollen lieber in die zweite Reihe stellen hinter die bedeutenden und braveren Nationalliberalen43.“ Die Wendung über das Wohlwollen spielte darauf an, daß Beard seinen beträchtlichen Einfluß zugunsten Kehrs in der amerikanischen Zentrale der Rockefeller-Stiftung aufbot, während Paul F. Kehr als der Vorsitzende des deutschen Stiftungsausschusses fungierte. Mit seiner Skepsis hatte Kehr dennoch so unrecht nicht. Während Meinecke ein befürwortendes Gutachten abgab, sprach sich Fritz Hartung als ehemaliger Korreferent von Kehrs Dissertation entschieden gegen ihn aus. In den ersten Ausschußsitzungen, zu denen sich Anfang März 1932 Staatsminister Schmidt-Ott, Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, Hermann Oncken und H. Schumacher mit dem Vertreter der Stiftung, A. W. Fehling, trafen, lehnten Oncken und Schumacher die Bewerbung Kehrs brüsk ab, wogegen sich MendelssohnBartholdy warm für ihn verwandte44. Schmidt-Ott bestand daraufhin auf einer Unterredung mit Kehr, dem er offenherzig die „Befürchtungen“ gestand, „sein Auftreten in Amerika könnte politisch einseitig ausgenutzt werden.“ Kehr versicherte ihm, er gehöre keiner Partei an, er sei ausschließlich wissenschaftlich interessiert. Daß sein Buch gegen die amerikanische Flottenaufrüstung verwertet worden sei, vermöge er nicht als Nachteil für Deutschland anzusehen. Oncken sei „offenbar erschreckt“, bei seinen, Kehrs, Forschungen „könnte sich vielleicht eine Abhängigkeit politischer Handlungen von den wirtschaftlichen Verhältnissen zeigen.“ Er versprach Schmidt-Ott, „vorsichtig aufzutreten.“ Der persönliche Eindruck nahm Schmidt-Ott offensichtlich für Kehr ein, doch ließ er Karl Griewank noch einmal Onckens Meinung erbitten. Oncken erklärte nun zwar, „er müsse es für aussichtslos halten, ... daß die antibourgeoisistische Grundtendenz“ aus Kehrs Arbeiten verschwinde. „Das grundsätzliche Bedenken, einen Vertreter solcher Auffassungen als Stipendiaten der Rockefeller-Stiftung zu senden, bleibe bestehen.“ Ein vorsichtiges Verhalten „würde das Mindestmaß dessen sein, was für eine Bewilligung zu fordern wäre.“ Doch ein energisches Telegramm des in Rom weilenden Paul F. Kehr entschied über Schmidt-Otts Ja für
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Eckart Kehrs Stipendium45. Noch im März erfuhr Kehr von der Zusage, zu wirtschaftswissenschaftlichen und methodologischen Studien nach den Vereinigten Staaten reisen zu dürfen. Er verschob aber wegen Krankheit und Archivarbeit die Abreise bis zum Januar 1933, als er mit den Umbruchkorrekturen der ersten beiden Aktenbände die Überfahrt antrat; seine Frau – er hatte im Sommer 1932 seine Cousine Hanna Herminghausen geheiratet –, blieb vorerst zurück. Bei der Landung wurde er wegen seines Herzleidens tagelang in Quarantäne gehalten, doch konnte er schließlich einreisen. Er lernte nun Beard kennen, hielt in Chicago vor Bernadotte Schmitts Seminar einen Vortrag über „Neuere deutsche Geschichtsschreibung“46, den frische Empörung über die nationalsozialistische Machtergreifung verschärfte; anschließend besuchte er Prof. Dorn in Columbus, Ohio. Die jahrelange rücksichtslose Überarbeitung rächte sich jetzt, sein Herzleiden plagte ihn immer schmerzhafter. Die Vorgänge in Deutschland deprimierten ihn. Auf Aufforderung Schmidt-Otts, der die Befürchtung hegte, Kehr könne sich „gegen die neue Regierung öffentlich aussprechen“, telegrafierte ihm sein Onkel: „Prudentia in politicis.“ Bitter fragte Kehr zurück: „Soll ich den Mund halten, soll ich schweigend zusehen, wie in Deutschland abgesägt wird, wenn ich mir an allen zehn Fingern abzählen kann, daß ich nach meiner Rückkehr nach Deutschland ins KZ gesteckt werde oder, wenn man mich damit verschont schließlich mit Zeitungen handeln gehen darf? Ganz egal, ob ich jetzt still bin oder nicht?47“ Albert Brackmann, seit 1929 Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive, entzog ihm im Mai den Archivauftrag. Kehrs Editionstechnik, deren skrupulöse Sorgfalt vor der Drucklegung niemand je beanstandet hatte, sei von einer Expertenkommission, der auch Meinecke angehörte, als inadäquat und ungenau verurteilt worden. Weigere sich Kehr, alle Unterlagen zurückzuschicken, stehe ihm sofort ein Prozeß, den Kehr allerdings abzuwarten bereit war, bevor48. Ende April hatte Kehr noch gehofft:, seine Frau bald nachkommen lassen zu können. Als er Mitte Mai in Washington eintraf, mußte er völlig erschöpft ein Hospital aufsuchen. Am 29. Mai 1933 starb er dort, noch nicht 31 Jahre alt, an seinem angeborenen Herzfehler. Die Urne mit der Asche wurde im Juni in Glückstadt an der Elbe beigesetzt. Pläne einer Nachlaßausgabe, für die sich Beard, Dorn und Vagts längere Zeit einsetzten, zerschlugen sich angesichts des Widerstandes der Familie, „es unter der jetzigen außenpolitischen Lage Deutschlands nicht mit unserem Gewissen der Regierung gegenüber vereinbaren zu können“, daß Schriften Eckart Kehrs im Ausland publiziert würden. „Ich habe außerordentlich viel von ihm gehalten“, schrieb im Sommer 1933 Rudolf Hilferding über Eckart Kehr, „von der Originalität seines Urteils, der Unabhängigkeit allem Legendären gegenüber, von seinem außerordentlichen Wissen und Fleiß49.“ Kehrs Name und Werk wurden in Deutschland erst zwölf Jahre totgeschwiegen, dann gerieten sie nahezu in Vergessenheit; nur in den Vereinigten Staaten wurde mehr als sein Andenken wach gehalten50. Daß der Histo-
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riker Kehr mit seinen Veröffentlichungen in Deutschland bis 1933 in völliger Einsamkeit blieb, erklärt sich sowohl aus dem, wogegen er entschlossen Front machte, wie aus den Zielen, denen er zustrebte. In der Auseinandersetzung mit der preußisch-deutschen Geschichte und den in sie eingebetteten Ursachen für den Verlust des Weltkrieges ging Kehr von der fundamentalen Tatsache der Revolutionierung der modernen Welt durch die Industrialisierung aus, der die Kettenreaktion des technologischen Fortschritts folgte. Kaum ein deutscher Historiker vor ihm hat diese ungeheuere Zäsur der Universalgeschichte, den unleugbaren Bruch mit der Vergangenheit so vorbehaltlos ernst genommen wie er. Unter vier verschiedenen Reaktionsweisen der Geschichtsschreibung über die Neuzeit, die sich mit diesem Bruch in Verbindung bringen lassen, wird man seinen Platz bestimmen können. 1. Es blieb stets die Möglichkeit, im Bann der Tradition das neuartige Phänomen zu übersehen. Die in der deutschen Historiographie lange Zeit vorwaltende ideologische Staatsfrömmigkeit, die durch das Erbe der facettenreichen Ranke-Tradition bestärkt wurde, ihre traditionell gewordene Beschäftigung mit Staatsaktion und Kriegsverlauf neigte vorwiegend dazu, die vermeintlichen Niederungen der Sozialgeschichte unbeachtet zu lassen. Für die rühmlichen Ausnahmen, die mit den „Acta Borussica“ entstehenden bahnbrechenden Studien vornehmlich Gustav Schmollers und Otto Hintzes, behielt Kehr zeitlebens eine ungeminderte Hochachtung. 2. Weitaus wichtiger als das schlichte Ignorieren der Probleme schien ihm immer der ingeniöse Ausweg zu sein, den die sogenannte Ideengeschichte während der Spätblüte des Historismus fand. Kehr hat die Ideengeschichte Meineckes und seiner Schüler im wesentlichen nicht aus einer geistigen Entwicklung seit der „Revolution“ des historischen Denkens, sondern aus der Sozialgeschichte des deutschen Bürgertums begriffen. Der Kernpunkt der politischen Sterilität des Besitz- wie Bildungsbürgertums lag darin beschlossen, daß die im frühen Liberalismus so deutlich ausgeprägte Vorstellung vom Zusammenhang von Wirtschaft und Staatsgesellschaft, klassisch eingefangen im Zentralbegriff der Politischen Ökonomie, verloren ging. Noch ehe das Bürgertum im preußischen Verfassungskonflikt seine zweite Niederlage nach der Revolution von 1848/49 erlitt, trat paradigmatisch die Politische Ökonomie in die starre Zweiteilung von Staatswissenschaft und Nationalökonomie auseinander, rettete nur Karl Marx in seiner „Kritik der Politischen Ökonomie“ die Einheitlichkeit von Sache und Begriff für die Sozialkritik. Die Abfolge der zwischen Verfassungskonflikt und Zabernaffäre eingespannten politischen Niederlagen des Bürgertums, denen indessen die Ausbildung aller Rechtsformen einer bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft und die Gewinnung des ökonomischen Übergewichts im Staate parallel lief, wurde durch die Verabsolutierung des in der realen Politik zumeist machtlosen, spezifisch bildungsbürgerlichen Begriffs des „Geistes“ kompensiert. Es ließe sich vermutlich anhand von Wegmarkierungen wie 1878/79, 1898, 1908, 1913 der Nachweis führen, wie als Reflex auf die stabilisierte politische Ohnmacht des Bürgertums in seiner Geschichtsschrei-
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bung trotz allem realpolitischen Einschlag die Reduktion des politischen Entscheidungshandelns auf geistige Antriebe laufend Fortschritte machte. Je mehr die Aussicht auf ausschlaggebenden politischen Einfluß auf die Staatspolitik entschwand, um so eher fielen die eigentlichen Entscheidungen in dem ihm vertrauten „Reich des Geistes“. Diesen Geistbegriff, der auch der sich entfaltenden spätbürgerlichen Ideengeschichte zugrunde lag, erkannte Kehr als ein eigentümliches Produkt jenes bildungs-aristokratischen Bürgertums, das sich im Klima des deutschen Idealismus und der sogenannten Deutschen Bewegung ausgebildet hatte51. Da die ganz überwiegende Mehrzahl der deutschen Historiker dem protestantischen Bildungsbürgertum entstammte, wurde ihr wissenschafts-theoretischer Ansatz von vornherein durch die soziale Herkunft gleichsam präjudiziert. Zugleich sonderte sie ihre materielle Existenz als Staatsbeamte mit festem Gehalt vom harten Kampf des Wirtschaftslebens ab. Überkommene gesellschaftspolitische und erworbene staatspolitische Auffassungen führten sie in einer sozialkonservativen Ablehnung sowohl der sozialistischen Theorien mit ihrem Schwergewicht auf den materiellen Lebensbedingungen wie auch der massentümlichen Arbeiterbewegung zusammen, in der sich der Umsturz der bestehenden Verhältnisse zu entfalten schien. Während der entscheidenden Bewährungsprobe, in der das deutsche Bürgertum die neue Wirklichkeit des Industriestaates geistig wie praktisch zu bewältigen hatte, hemmten traditionelle Bindungen, die zu einer schroffen Zerklüftung des Gesellschaftskörpers beitrugen, gerade auch die Gruppe, die ihm die Geschichte auslegte; gerade ihr fehlten wichtige Voraussetzungen zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit den dringendsten Problemen der Zeit. Um sich ihnen in ihrer allerdings furchterregenden Schärfe nicht stellen zu müssen, so glaubte Kehr, gewann die Ideengeschichte den Charakter einer Entlastungsfunktion. Sie gestattete die Gipfelwanderung in den geistigen Höhenlagen über dem Tal, in dem die unberücksichtigten Interessen des Alltagslebens zusammenprallten. Ihre Ausdrucksform wurde die Biographie. Zu ihr nahm sie Zuflucht, statt sich nach dem verlorenen Krieg der Untersuchung der Institutionen, der oft genug als marxistisch verketzerten modernen Sozialgeschichte zu widmen. Daß diese Biographien gewöhnlich mit dem ersten Band endeten, ehe der Held in die seine Größe ausmachenden Probleme des tätigen Lebens überhaupt eintrat, entsprach dann nur dem inneren Gesetz, nach dem sie begonnen worden waren: dem Kampf der nackten Interessen auszuweichen52. Kehr hat in diesem Zusammenhang nicht nur auf wichtige, bisher noch wenig beachtete Gemeinsamkeiten zwischen spätem Historismus und Freudscher Psychoanalyse aufmerksam gemacht, er hat auch die Krise, in die der Verstehensbegriff der deutschen Geschichtsschreibung getreten war, klar durchschaut. Aus dem aristotelischen Intuitionsbegriff erwachsen und fortab mit einem rational nicht ganz erklärlichen Einfühlungsvermögen gleichgesetzt, in hohem Maße also Ausfluß sensibler Begabung, setzte das „Verstehen“ insgeheim Harmonie und innere Übereinstimmung mit den als vorwaltend aufgefaßten Grundtendenzen einer Epoche voraus, welcher der
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Nationalstaat zum letzten unangefochtenen Wert an sich geworden war. Von dieser harmonischen Übereinstimmung war Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat“ noch sicher getragen, sie durchtränkte die Geschichtsschreibung der Vorkriegszeit. Trotz der Kantschen Kategorienlehre, trotz der Historizität gerade auch der erkenntnistheoretischen Kategorien glaubte der Späthistorismus die jeweils behandelte Zeit oder ihre herausragenden Persönlichkeiten aus den dieser Zeit immanenten Wertmaßstäben erfassen und würdigen zu können. Diese eigentlich ganz unhistorische erkenntnistheoretische Illusion, die namentlich im Luftschloß der Ideengeschichte gepflegt wurde, rückt ihn ungewollt in die Nähe der freilich naiveren puristischen Wissenschaftsideen des Neopositivismus. In der Wirkung auf ihre Gegenwart bedeutete diese Art von Historiographie die Kapitulation vor dem gesellschaftlichen Status quo53. Das innere Scharnier zwischen gleichwie vager Wissenschaftstheorie und politischer Zeitauffassung sah Kehr nun durch die Kriegsniederlage gesprengt. Das unabsehbare Feld eines historischen Revisionismus schien sich 1918 aufzutun, ja zur Durchforschung förmlich aufzuzwingen. Aufs Ganze gesehen hat es jedoch die Geschichtsschreibung in der Zeit der Weimarer Republik versäumt, aus der Niederlage die Konsequenzen zu ziehen. So hat Ludwig Dehio über ihre Haltung zur Außenpolitik geurteilt54. „Betrachtet man die Folgen des von der deutschen Historie vertretenen national- und obrigkeitsstaatlichen Geschichtsbildes“, hat H. Mommsen weiter geschlossen, „so drängt sich eine entsprechende Kritik auch in innenpolitischer Hinsicht auf. Was hat die Geschichtsschreibung getan, um die Ausbreitung der Dolchstoßlegende zu verhindern, in der sich das wilhelminische politische Wunschdenken fortsetzte? Inwiefern hat sie ein Verständnis für die veränderten gesellschaftlich-politischen Bedingungen schaffen helfen, die sich im Interessenpluralismus und der gewaltigen soziologischen Umschichtung der vorangehenden Jahrzehnte ankündigten? Die weiterhin ,nationalen‘ Geschichtsbücher verdeckten ein Vakuum politischen Denkens, und die Geschichtsschreibung trug nicht wenig dazu bei, die Neigung des deutschen Bürgertums, Politik in mythischem Lichte zu sehen und gegenüber der Erfahrung alltäglichen Interessenkampfes dem chimärischen Wunschbild ,wahrer‘ Politik zu folgen, lebendig zu erhalten55.“ 3. Kehr war bereit, aus dem Zusammenbruch die Konsequenzen zu ziehen. Das führte ihn zur Sozialgeschichte. Freilich nicht zu einer gleichsam gesellschaftsfrommen Geschichtsschreibung, wie sie sich als dritte mögliche historiographische Reaktion auf die industrialisierte Welt entwickelt hat. Man wird darunter jene Art von Sozialgeschichte verstehen können, welche die der staatsfrommen Geschichtsschreibung ursprünglich eigene harmonische Übereinstimmung mit der Staatsentwicklung auf die Gesellschaftsentwicklung überträgt, ohne die Probleme der hochkapitalistischen Epoche56 in kritischer Reflexion aufzugreifen. Ihr ist mit methodologischer Notwendigkeit die fehlende Tiefendimension und Harmlosigkeit von Abziehbildern eigen, die eine Wirklichkeit getreulich widerzuspiegeln suchen, wie sie eigentlich gewesen war. Liegen aber die Gefahren einer staatsfrommen Ge-
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schichtsschreibung heute nirgends so deutlich auf der Hand wie in Deutschland, so wird man das über ihren sozialgeschichtlichen Zwilling nicht guten Gewissens behaupten können. Gleichwohl läßt sich der Schluß schwerlich vermeiden, daß die mit der unkritischen Hinnahme der gesellschaftlichen Entwicklung verbundenen Gefahren bedrohlicher zu werden vermögen als die Mystifizierung des Staatsapparats und die Beschwörung einer vorgeblich „sachlichen“ Politik, hinter der sich die schwer kontrollierbare Herrschaft bürokratischer Experten im Zusammenspiel mit den mächtigsten Interessengruppen verbindet. „Nicht der ideele Zusammenhang zwischen den Staaten, die je einen geistigen Gehalt vertreten“, hat man daher mit scharfer Spitze gegen diese historiographische Tradition sagen können, „sondern der reale Wechsel der gesellschaftlichen Kräftekonstellationen macht den Inhalt der Geschichte aus57.“ 4. Diesem Wechsel glaubte Kehr nur mit Hilfe einer kritischen Theorie nachspüren zu können. Zu ihr hat er im Fortgang seines Studiums, fraglos unter dem maßgeblichen Einfluß Max Webers und Karl Marx’, hingefunden. Seine schroffe Wendung zur sozialökonomischen Theorie erklärt sich einmal aus der Auflehnung gegen die bildungsbürgerliche Verharmlosung der übermächtigen Wirtschafts- und Gesellschaftskräfte. Ihr gaben Temperament und stets wache Neigung zu vehementem Protest eine charakteristische Zuspitzung. Vor allem aber entsprang sie dem schmerzlich empfundenen Ungenügen, mit Hilfe allein des einfühlenden Verstehens den Schlüssel zu den Bewegungsmächten der modernen Welt zu finden. Sein großes wissenschaftliches Vorbild ist Max Weber gewesen. Das läßt sich überall aus seinen Arbeiten ablesen, das hat Kehr auch immer wieder gegenüber den Freunden der Berliner Jahre betont. Ein ausschlaggebender Antrieb für Kehrs „stürmisch-rationalen“ Drang nach wissenschaftlicher Wahrheit, wie Alfred Vagts mit einem glücklichen Wort seine explosiven geistigen Impulse charakterisiert hat, liegt daher sicher in seiner Beschäftigung mit dem Werk Webers. In einer Webers Art verwandten, absoluten geistigen Aufrichtigkeit zielte auch Kehr auf den Zusammenhang von Gesellschafts-, Wirtschafts- und Staatsverfassung ab; bis in die Sprache, die häufig ähnlich gewalttätig, um stilistische Politur unbekümmert, nur der möglichst präzis gefaßten Aussage dienend wirkte, läßt sich die Berührung verfolgen. Vor allem aber der universalgeschichtliche Aufriß in „Wirtschaft und Gesellschaft“ und die beißende Kritik an den politischen Verhältnissen des deutschen Kaiserreichs von 187158 haben Kehr in Webers Bann geschlagen. Wenn man Weber einen „bürgerlichen Marx“ hat nennen können, dann weist das schon auf die Anziehungskraft hin, die für Kehr von Karl Marx ausging. Radikal sein, bedeute, hatte einmal der junge Marx formuliert, die Dinge an ihrer Wurzel fassen. Wenige Worte hätte Kehr vorbehaltloser unterschrieben als dieses methodische Programm kritischer Forschung. Von einem seichten Vulgärmarxismus, der in positivistischer Selbstsicherheit einen platten Materialismus umrankte, trennte Kehr eine ganze Welt des Wollens und Empfindens. Ihm ging es ausschließlich um die Fruchtbarkeit
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der Methodik, um die neuen, wirklich relevanten Ergebnisse, die sie allein rechtfertigen mußten. Die schneidende Schärfe, zu der Kehr seine kritische Theorie entwickelt hat, beweist besser als alle erläuternden Worte, was er Marx nicht minder als Weber verdankte. Ähnlich wie Georg Lukacz zeigte auch Kehr, wie ein genialer Kopf durch die Berührung mit der ursprünglichen Antriebskraft des Marxismus die hemmenden Schranken eines eng orthodoxen Dogmengebäudes transzendierte. Kehr erwarb sich dabei das Rüstzeug seiner sozialhistorischen Theorie, deren gelegentlich vorschnelle Gewißheit man genau so wenig wird übersehen wollen wie die weit wichtigeren Einsichten, zu denen sie ihn befähigt hat. Kehr hat gewußt, daß die Historie auch immer Lehre ist, offene oder versteckte Anweisung für Hörer und Leser, die unter dem Aspekt einer als besser gedachten Zukunft vorgetragen wird. Dieser moralischen Aufgabe wie der unvermeidbaren Wirkung kann sie sich auch dann nicht entäußern, wenn sie sich im Traumland des historistischen Verstehens und zweckfreier, reiner Darstellung angesiedelt wähnt. Nicht als ob Kehr grundsätzlich darauf verzichtet hätte, historistisch zu argumentieren. So konnte er z. B. in seinem Flottenbuch den verantwortlichen deutschen Politikern vorwerfen, daß sie für den deutschen Imperialismus nicht einmal eine rechtfertigende Missionsideologie entwickelt hätten, wie er die Außenpolitik der westlichen Staaten überformte. Aber in erster Linie ging es ihm stets darum, im Rahmen einer kritischen Theorie eine vergangene Wirklichkeit zu befragen. Vergangen freilich nicht im Sinne eines endgültigen Abschlusses. Kehr ist von dem oft fatalen Fortleben bestimmter nationalgeschichtlicher Kontinuitäten in Deutschland sehr überzeugt gewesen. Gerade deshalb vermeinte er auch, die Mittel der kritischen Theorie59 verwenden zu müssen, um den Teufelskreis von machtvollem Status quo und seiner Bestätigung durch eine allein verstehende historische Betrachtung endlich durchbrechen zu können. An der Kategorie der Diskontinuität hätte er dagegen wohl ein apologetisches Moment gerügt, indem statt des rationalen Weiterforschens allzu schnell der Versuchung nachgegeben werden kann, den Einbruch des Irrationalen schlechthin zu verzeichnen, wo vorher doch historische Zusammenhänge alles durchwalteten. Ebenso kann der unbestreitbar notwendigen universalgeschichtlichen Perspektive eine leicht durchschaubare Scheu vor rücksichtslosen Fragen an die jeweilige Nationalgeschichte eignen. Dagegen suchte Kehr erst zur sozialgeschichtlich erfaßbaren Grundschicht der Kontinuitäten deutscher Geschichte vorzudringen, wo Konstanz unter dem Wirbel politischer Veränderungen vorherrschte60. Indem er diese Kontinuität kritischer Einsicht erschloß, glaubte Kehr, dem Charakter der Geschichtswissenschaft als Lehre am ehesten zu genügen. Im Vollzug dieser unendlich mühsamen Aufgabe schien sie ihm auch ihren eigentlichen Stellenwert in der geistigen Ökonomie der Nation zu gewinnen. Die Rechtfertigung für die Existenz staatlich besoldeter Geschichtsschreiber, ihrer Seminare und Bibliotheken kann in ihrer Aufgabe als Antiquare des kulturellen Erbes gesehen werden. Man beruft sich auf die Entwicklung der Kultur, die den Luxus von
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Historikern gestattet, die ihren geistigen Reichtum aufzubewahren helfen. Mit einem Tropfen antiquarischen Öls mag nun alle Geschichtsschreibung gesalbt sein. Doch läßt sich ihre Daseinsberechtigung auch darin sehen, daß sie einer Gesellschaft, für die gewaltige Kräfte das schier unentrinnbare, von sozialen Zwängen bestimmte „Gehäuse der Zukunft“ (Max Weber) errichten, den historisch gewordenen, prinzipiell immer noch offenen Charakter ihrer Institutionen und ihrer Entwicklungstendenzen aufweist. Gerade in dieser vorbeugenden Aufgabe, deren Schwierigkeiten kaum zu überschätzen sind, könnte sie einen festeren Platz im geistigen und finanziellen Haushalt eines Landes, das bewußt der Gefahr der Erstarrung entrinnen möchte, beanspruchen, als ihn das Ziel pfleglicher Bewahrung je zu reklamieren vermöchte. Ohne eine kritische Theorie, wie Kehr sie zu handhaben verstand, läßt sich dieses Unterfangen schwerlich fortführen. Gerade die Geschichtswissenschaft muß der Gegenwart einen kritischen Spiegel vorhalten, wenn sie sich nicht unter dem durchsichtigen Schleier einer historistischen oder positivistischen Enthaltsamkeit der übermächtigen Gegenwart um so sicherer ausliefern will. In ihrer Verbindung von kritischer Theorie und imponierender empirischer Forschung bleiben Kehrs Arbeiten, mögen sie auch Torso geblieben sein, auch heute noch ein großartiges Beispiel für eine der politischen Lehre und den drängenden Aufgaben unserer Zeit voll aufgeschlossene Geschichtswissenschaft. Der Abdruck der Stücke erfolgt gemäß dem deutschen Urheberrecht mit freundlicher Genehmigung von Frau Martha Kehr und der Verlage J. H. W. Dietz Nachfolger, Hannover; Carl Heymanns, Köln; A. Schroll, Nachfolger von L. W. Seidel, Wien; MacMillan, New York (siehe das Verzeichnis der Druckorte S. VIII). Mit einer Ausnahme stammen die ungedruckten Arbeiten aus dem Besitz von Alfred Vagts, der von den Originalexemplaren im Nachlaß Kehrs vor dessen Übersendung nach Deutschland wortgetreue Abschriften angefertigt hat, von denen er dem Herausgeber während seines Amerikaaufenthalts Fotokopien überließ. Das Original der Besprechung von Bülows Memoiren hat Frau Martha Kehr zur Verfügung gestellt. Die in englischer Sprache erhaltenen Arbeiten – von dem Rüstungsaufsatz für die „Encyclopaedia of Social Sciences“ ließ sich das deutsche Original nicht mehr finden – sind vom Herausgeber in möglichst enger Anlehnung an Kehrs Stil übersetzt worden. Der tatkräftigen Unterstützung durch Professor Hans Rosenberg und Professor Hans Herzfeld ist es zu verdanken, daß Kehrs Aufsätze in die Schriftenreihe der Historischen Kommission zu Berlin aufgenommen worden sind. Ihnen möchte ich daher an dieser Stelle besonders danken, nicht zuletzt auch Dr. Otto Büsch und Mag. Klaus Ehrler für ihr hilfreiches Entgegenkommen bei der Bearbeitung des Bandes.
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Die Angaben stützen sich auf einen verstreuten, in Form von Briefen, Manuskripten und Akten der Rockefeller-Stiftung erhaltenen Nachlaß, den vor allem A. Vagts, M. Kehr, A. W. Fehling und G. W.F. Hallgarten gesammelt und aufbewahrt haben. Zudem erhielt der Herausgeber mündliche und schriftliche Auskünfte von Prof. A. Vagts, Frau Oberstudiendirektorin M. Kehr, Prof. H. Rosenberg, Prof. E. Posner, Dr. A. W. Fehling, Dr. Hallgarten, Prof. F. Gilbert, Prof. H. Rothfels, Prof. D. Gerhard, Prof. E. Kessel, Prof. E. Fraenkel, Prof. G. v. Pölnitz. Ihnen allen möchte ich für ihre Hilfsbereitschaft, ihre Erinnerungen an E. Kehr weiterzugeben und ihre Sammlungen von Schriftstücken, die sich auf ihn beziehen, bereitwillig zur Verfügung zu stellen, herzlich danken. E. Kehr an M. Kehr, 22. Jan. 1927, Slg. M. Kehr. Arbeitsplan für die Rockefeller-Stiftung, Dez. 1931, Slg. Fehling. Salm an Tirpitz, 3. Dez. 1901, unten S. 146 f. E. Kehr an M. Kehr, 22. Jan. 1927, Slg. M. Kehr. S. u. S. 111-26. E. Kehr an M. Kehr, 22. Jan. 1927, vgl. 12. Juni 1927, Slg. M. Kehr. Jahresberichte für Deutsche Geschichte 3. 1927, Leipzig 1929, S. 266 f. S. u. S. 149-75. E. Kehr an M. Kehr, 12. Juni 1927, Slg. M. Kehr. Jahresberichte für Deutsche Geschichte 4. 1928, Leipzig 1930, S. 222 f. A. Grabowsky, Der Primat der Außenpolitik, Zeitschrift für Politik 17. 1928, S.527-42; zur Sache: H. Heffter, Vom Primat der Außenpolitik, HZ 171. 1951, S. 1 bis 20; O. Czempiel, Der Primat der Außenpolitik, Politische Vierteljahrsschrift 4. 1963, S. 266-87; C. beruft sich auf Kehr, S. 283; vor allem K. D. Bracher, Kritische Betrachtungen über den Primat der Außenpolitik, in: Faktoren der politischen Entscheidung, Festgabe E. Fraenkel, Berlin 1963, S. 115-48. S. u. S. 176-83. F. Meinecke, Geschichte des deutsch-englischen Bündnisproblems. 1890-1903, München 1927, S. 6, 8: „Und alles hing zusammen untereinander: Exportindustrialismus und Flottenbau, Tirpitzsche Flottengesetze und Miquelsche Sammlungspolitik, die die arbeitgebenden höheren Schichten in Stadt und Land gegen das Proletariat zusammenfaßt und den Zwecken der Flottenpolitik, zugleich aber auch den Staat den materiellen Interessen dieser Klassen dienstbar machte und dadurch den sozialen Riß in der Nation vergrößerte.“ S. u. S. 130-48 (dazu Jbb. f. Dt. Gesch. 4. 1928, Leipzig 1930, S. 222 f), u. S. 5363. E. Kehr an F. Meinecke, 19. März 1928, Slg. Fehling. S. u. S. 64-86. Jahresberichte für Deutsche Geschichte 5. 1929, Leipzig 1931, S. 273 f. Eine Neuausgabe, hg. von Prof. E. Fraenkel, ist in absehbarer Zeit zu erwarten. K. Jacob, Vergangenheit u. Gegenwart 20. 1930, S. 570; G. W. F. Hallgarten, Frankfurter Zeitung v. 28. Dez. 1930. C. A. Beard, Making a Bigger and Better Navy, New Republic 68. S. 223-26 (14. Okt. 1931, Nr. 880); wieder abgedruckt in: The Navy, Defense or Portent?, N. Y.
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1932, S. 14-38 (How von Tirpitz Played the Game) u. The Economic Basis of Politics and Related Writings, ed. William Beard, N. Y. 1957, S. 121-28; vgl. E. Kehr an Hallgarten, 8. Dez. 1931, 17. März 1932, Slgg. Vagts u. Hallgarten; an M. Kehr, 20. Dez. 1931 (Beards Rezension „war ein guter Ausgleich für die Ungnade, die die deutsche historische Zunft über mein sündiges marxistisches Haupt ausgießt“) Slg. M. Kehr; an Vagts, 2. Dez. 1931. – Pläne mit einer englischen Ausgabe bei MacMillan zerschlugen sich trotz Beards Fürsprache, vgl. Kehr an Vagts, 15. März 1932; an Hallgarten, 17. März 1932, Slgg. Vagts u. Hallgarten; an Fehling, 3. März 1932, Slg. Fehling. A. Rosenberg, Gesellschaft 8. 1931/11, S. 383. A. Vagts, Zur Entstehung der deutschen Flotte, Europäische Gespräche 10. 1932, S. 71-81 (mit wichtigem Aktenanhang); vgl. Kehr an Vagts, 30. April 1932: „... ein Lichtschein in der Düsternis des Rezensionsschweigens“, Slg. Vagts. V. M. Chvostov, Istorik-Marksist 1932, Nr. 1-2, S. 184-87. W. Mommsen, HZ 146. 1932, S. 70-72. Auch in den „Jahresberichten für Deutsche Geschichte“ (6. 1930, Leipzig 1932, S. 222) erklärte Mommsen, daß im Berichtsjahr „alle sonstigen Erscheinungen zur Geschichte der deutschen Innenpolitik ... an Bedeutung“ durch Kehrs Buch mit „seinem Reichtum an Anregungen“ „überragt“ würden; vgl. H. Goldschmidt, ebda, S. 274 f, u. Herzfeld, ebda, 7. 1931, Leipzig 1934, S. 230. Marinerundschau 37. 1932, S. 476 f, auch S. 362; vgl. Kehr an Vagts, 20. Aug. 1932, Slg. Vagts. F. Granier, Forschungen zur Brandenburgischen u. Preußischen Geschichte 45. 1933, S. 423-26; S. Mette, Zeitschrift für Politik 22. 1933, S. 40408; R. Schmidt, Historische Vierteljahrsschrift 28. 1933/34, S. 210-15; vgl. Kehr an Hallgarten, 25.0kt. 1932, Slgg. Vagts u. Hallgarten. E. Kehr an Felix Gilbert, 12. April 1931, Slg. Vagts. E. Kehr an M. Kehr, 25. Aug. u. 25. Sept. 1931, Slg. M. Kehr. Lebenslauf, Dez. 1931, Akten der Rockefeller-Stiftung, Slg. Fehling. Kehrs Frau teilte Fehling nach dem II. Weltkrieg mit (H. Kehr-Thun an Fehling, 5. Febr. 1948, Slg. Fehling; Fehling an Vagts, 9. Febr. 1948, Slg. Vagts), in ihrem Elternhaus in Glückstadt sei am 11. Dez. 1946 der gesamte, angeblich über die „1000 Jahre“ hinausgerettete Nachlaß verbrannt. – Weder G. Winter, der Kehrs Dahlemer Aktenreferent war und 1931 über eine verwandte Materie seinen Band über die „Reorganisation des preußischen Staates unter Stein u. Hardenberg“ herausgab, noch Joh. Schultze oder Ernst Posner war etwas über den Verbleib der Preisschrift erinnerlich, Posner an Vagts, 7. Juni, 3. u. 10. Juli 1948, Slg. Vagts, mündliche Auskünfte E. Posners an Herausgeber. Arbeitsplan für die Rockefeller-Stiftung, Dez. 1931, Slg. Fehling. Entwurf einer Einleitung zu den Aktenbänden, o. D. (Slg. Vagts), in der Kehr höchstwahrscheinlich die Gedanken der Preisschrift aufgriff; vgl. Kehr an Hallgarten, 30. Mai 1932: „Die beiden Aktenbände zur preußischen Reform werden bei Erscheinen aktenmäßig den Herrn sog. Historikern auf den Universitätskathedern die Augen aufreißen, daß die edle Reformzeit nicht nur aus patriotischen Denkschriften bestand, daß es damals schon Zinsen und Osthilfen gab.“ Slgg. Vagts u. Hallgarten.
86 | HANS-ULRICH W EHLER 31 Goldschmidt, Jahresberichte für Deutsche Geschichte 6. 1930, Leipzig 1932, S. 274. 32 So Walter L. Dorn an St. May von der Rockefeller-Stiftung, 16. Juni 1933, Slg. Vagts. Dorn hatte 1932 in Berlin an seinen Studien zur preußischen Verwaltungsgeschichte gearbeitet, Kehr kennengelernt und die Angelegenheit aus nächster Nähe mitverfolgt; vgl. Kehr an Hallgarten, 7. Febr. 1932, Slgg. Vagts u. Hallgarten. 32a Rothfels lehnte die Kehrsche Habilitationsarbeit ab. Als der Berliner Historiker H. Oncken von diesen gescheiterten Bemühungen hörte, glaubte er, wie er mit bösartigem Spott Gerhard Ritter eröffnete, die Motive von Rothfels nur aus dem „Bedürfnis des geborenen Juden, sich als Beschützer des ostpreußischen konservativen Adels aufzuspielen“, erklären zu sollen. Als Kehr dieselbe Arbeit dann für den Stein-Preis einreichte, erhielt sie auch Ritter, der diese „Bewerbungsarbeit“ zu beurteilen hatte. Ritter stimmte jetzt „Rothfels vollkommen zu“; auch er würde, versicherte er Oncken, „Kehr ebenfalls abgewiesen haben“. Denn „dieser Herr sollte sich, scheint mir, lieber gleich in Rußland als in Königsberg habilitieren. Denn da gehört er natürlich hin: einer der für unsere Historie ganz gefährlichen ,Edelbolschewisten‘“. G. Ritter an H. Oncken, 24. 9. 1931, Nachlaß Oncken, Niedersächsisches Staatsarchiv Oldenburg, Bestand 271 14, Nr. 462. Vgl. H. Heiber, W. Frank u. sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland, Stuttgart 1966, 191 f. 33 E. Kehr an Hallgarten, 8. Dez. 1931; an Vagts, 2. u. 4. Dez. 1931, Slgg. Vagts u. Hallgarten; an M. Kehr, 25. Sept. 1931. Slg. M. Kehr. 34 In der Slg. Vagts. 35 S. u. S. 31-52; vgl. Kehr an Hallgarten, 8. u. 24. Dez. 1931, Slgg. Vagts u. Hallgarten. 36 H. Croon, Jahresberichte für Deutsche Geschichte 8. 1932, Leipzig 1934, S. 304 f; zur Berechtigung der Kehrschen Kritik jetzt H. Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience, 1660-1815, Cambridge/Mass. 1958, demnächst in dt. Übers. 37 Lebenslauf, Akten der Rockefeller-Stiftung, Slg. Fehling; unten S. 259 u. E. Kehr an Hallgarten, 30. Mai 1932 (Slgg. Vagts u. Hallgarten), 11. Aug. 1932: „Lehmann hat damals Dinge gesagt, für die man heute noch den Pour le Merité für Tapferkeit auf dem Schlachtfeld der Wissenschaft verdiene.“ „Großartig die Absicht der Generale Anfang 1813, den König abzusetzen (als alle, alle riefen und der König endlich kam). Davon meldet kein Schulbuch und kein Heldensang, vor 1918 natürlich nicht, und nach 1918 hatten unsere Historiker noch weniger Interesse, davon zu reden, wie kgl. preußische Generäle mit ihrem angestammten Herrscherhaus umspringen wollten.“ Vgl. M. Lehmann, Scharnhorst, 2 Bde, 1886/87; G. Schmoller, Umrisse u. Untersuchungen, 1898. 38 Dorn an May, 16. Juni 1933, Slg. Vagts. 39 S. u. S. 87-110, vgl. H. Herzfeld, Jahresberichte für Deutsche Geschichte 8. 1932, Leipzig 1934, S. 240 f; Kehr an Hallgarten, 30. Mai 1932, Slgg. Vagts u. Hallgarten.
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40 Kehr an Vagts; 15. März 1932; H. Kehr an Vagts, 17. Juli 1933; E. Kehr an Hallgarten, 6. Aug. 1932; Vagts an H. Kehr, 28. Sept. 1933, Slgg. Vagts u. Hallgarten. Zum Material vgl. Anm. 28. 41 S. u. S.184-97, 198-234; dazu H. Kehr an Vagts, 17. Juli 1933 u. Dorn an May, 16. Juni 1933, Slg. Vagts, vgl. Anm. 15. – Für die „Encyclopaedia of Social Sciences“ steuerte Kehr weiter biographische Miniaturen über Clausewitz (lI/1, S. 545), Grauman (IV/1, S. 157 f), Krupp (IV/2, S. 605 f) u. Nobel (VI/1, S. 384 f) bei. Ausgeführte, doch verschollene Skizzen über Gneisenau, A. Gwinner u. J. L. Krug wurden nicht aufgenommen, vgl. Zusammenstellung von H. Kehr über „Schriften aus dem Nachlaß von E. Kehr“, o. D., Slg. Vagts. 42 Kehr an Hallgarten, 6. Aug. 1932; H. Kehr an Vagts, 17. Juli 1933, Memo. Prof. Corrells,. o. D., für die Rockefeller-Stiftung, Slg. Vagts. Adler besaß 1933 (F. Adler an Vagts, 5. Aug. 1933, Slg. Vagts): 1. Der Kampf der SPD nach dem Fall des Sozialistengesetzes unter dem Glauben an die Nähe des kapitalistischen Zusammenbruchs, 1890-1898,20 S. 2. Revisionismus und russische Revolution, 1898-1906, 13 S. 3. Vom Bülow-Block bis zum Kriegsausbruch, 1906-1914, 11 S. 4. Von der Revolution bis zur Vereinigung von USPD u. SPD, 30 S. 5. Das Mskr. für die Folgejahre schickte ihm Vagts am 7. Okt. 1933; Adler erhielt es in Zürich (an Vagts, 22. März 1934, Slg. Vagts), Vgl. Kehr an Hallgarten, 25. Okt. 1932 (Slgg. Vagts u. Hallgarten): „1918-1922, der wichtigste Teil, etwa 20-25 Seiten, ist fast fertig. Ich habe vor der Klarheit, mit der Hilferding immer alles beurteilt hat, einen sehr großen Respekt bekommen. Von dem, was er in den Jahren seit 1918 gesagt hat, ist heute das meiste als richtig anzuerkennen. Für die Ebert, Severing, O. Braun, H. Müller, Scheidemann – würgender Ekel vor dieser Spießerlichkeit. Gerade Severing und O. Braun sind indiskutable Größen, die kaum jemals einen großen Blick haben. Nur Taktiker des Augenblicks.“ – Weder im Amsterdamer „Internationalen Institut für Sozialgeschichte“ noch im Wiener Parteiarchiv der SPÖ haben sich in den dort aufbewahrten Teilen des Nachlasses von F. Adler die Kehrschen Manuskripte auffinden lassen (W. Blumenberg an Herausgeber, 14. Februar 1964; J. Zalda an Herausgeber, 7. Jan. 1964). Ebenfalls habe ich nicht mehr finden können: zwei Rundfunkvorträge Kehrs von 1931: „B. G. Niebuhr, zum 100. Todestag“ und „Untertan oder Staatsbürger“, sowie einen Vortrag „Krisis der Selbstverwaltung“, den Kehr am 9. Jan. 1931 im Rahmen der Innenpolitischen Informationsstunde an der „Deutschen Hochschule für Politik“ gehalten hat (vgl. Berichte. der DHfP, Bd.7, März 1931, beigebunden in Europäische Gespräche 9. 1931, S. 185). Lesenswert sind auch noch immer Kehrs Besprechungen in der ,.Gesellschaft“: V. Maccu, Das große Kommando Scharnhorsts, ebda 6. 1929/1, S. 287-90; S. v. Kardorff, Bismarck; R. Ibbeken, Das außenpolitische Problem Staat und Wirtschaft in der deutschen Reichspolitik 18801914; E. Zechlin, Staatsstreichpläne Bismarcks u. Wilhelm II., Th. Eschenburg, Das Kaiserreich am Scheidewege, ebda 7. 1930/I, S. 87-90; L. Bernhard, Der Hugenberg-Konzern, ebda 7. 1930/II, S. 282-87; S. v. Kardorff, Im Kampfe um Bismarck; M. Harden, Köpfe; O. Lehmann-Russbüldt, Die Reichswehr; W. Ziegler u. a., Zur Frage der politischen Erziehung in Deutschland; H. Pinnow, Deutsche Geschichte, ebda, 9. 1932/I,S. 364-8.
88 | HANS-ULRICH W EHLER 43 Arbeitsplan, Dez. 1931, Slg. Fehling; Kehr an Hallgarten, 24. Dez. 1931, Slgg. Vagts u. Hallgarten. 44 Fehling an F. Meinecke, 16. Jan. 1932; Meinecke an Fehling, 22. Jan. 1932; Fehling an F. Hartung, 16. Jan. 1932, Slg. Fehling; Febling an Herausgeber, 4. Jan. 1964; Kehr an Vagts, 15. März 1932; an Hallgarten, 17. März 1932, Slgg. Vagts u. Hallgarten. 45 Niederschrift des Gesprächs Schmitt-Ott mit E. Kehr von Karl Griewank, Gespräch Griewank-Oncken, 18. März 1932; Schmitt-Ott an P. F. Kehr, P. F. Kehr an Schmitt-Ott, Tel. vom 19. März 1932; Mendelssohn-Bartholdy an Fehling, 31. März 1932; Fehling an Kehr, 21. März 1932, Kehr an Fehling, 1. April 1932, Slg. Fehling. Kehr an Hallgarten, 18. März u. 30. Mai 1932, Slgg. Vagts u. Hallgarten. Zur Parteifrage vgl. Kehr an Hallgarten, 7. Febr. 1932: „... unsere very honorable party, deren Mitglied ich nicht einmal bin, geht ja schnurstracks auf ihrem Weg fort, aus Furcht vor dem Tode Selbstmord zu begehen. Schade ist’s nicht um sie, nur um uns und unsere Auswirkungsmöglichkeiten, aber den Leuten ist nichts beizubringen. Auf Kritik heißt es immer: ,Gehen Sie zur KPD‘.“ Er wolle weiterarbeiten, „ehe die Wogen der Koalition Junker-Reichswehr-Drittes Reich über uns zusammenbrechen.“ Slgg. Vagts u. Hallgarten. 46 S. u. S. 254-68; Kehr an Vagts, 10. Febr. 1933, Slg. Vagts. 47 Fehling an P. F. Kehr, 24. März 1933, Slg. Fehling. Konzept Kehrs, an P. F. Kehr, Ende März 1933, Slg. Vagts; vgl. Kehr an Hallgarten, 6. Aug. 1932: „In 30 Jahren werden wir ja auch genug Material haben, hoffe ich, um im Einzelnen zeigen zu können, was Adolf und seine 13 Millionen wildgewordenen Idiotenbürger für Huren der Thyssen etc. waren. Und wenn Geschichtsschreibung überhaupt einen Sinn hat, dann ist es heute der, die innere Verlogenheit all der Schichten aufzudecken, die heute wieder an die Macht kommen und denen das kopflose Spießbürgertum die Steigbügel hält. Bis die SA auch uns die Handgranaten ins Bett wirft, wollen wir unsere Pflicht tun.“ Slgg. Vagts u. Hallgarten. Zur Sache: W. Sauer, Die Mobilmachung der Gewalt, in: K. D. Bracher, W. Sauer, G. Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, Köln 1960, S. 685972; H. Rosenberg, Die Demokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: Geschichte und Probleme der Demokratie, Festschrift H. Herzfeld, Berlin 1958, S. 459-86. 48 Brackmann an Kehr, 2. Mai 1933, engl. Ubersetzung in Memo. Prof. Corrells, 8. Juni 1933, für die Rockefeller-Stiftung. Die Entscheidung der Kommission fiel – laut Dorn an May, 16. Juni 1933 – nach der Wahl vom 5. März 1933, die eine nationalsozialistische Mehrheitsregierung ermöglichte. Dorn ließ sich von Meinecke den Sachverhalt erklären, Dorn an Vagts, 5. Aug. 1933, alle Slg. Vagts; vgl. Kehr an Fehling, 27. April 1933, Slg. Fehling. 49 H. Kehr an Vagts, 24. Nov. u.l1. Aug. 1933; Beard an May, 17. Juni 1933; Dorn an Vagts, 27. Nov. 1933; Hilferding an Vagts, 17. Juni 1933, Slg. Vagts. Erste Pläne einer Nachlaßausgabe nach dem II. Weltkrieg, die außer A. Vagts auch Felix Gilbert und Franz Neumann übernehmen wollten (Gilbert an Vagts, 4. Dez. 1946, Slg. Vagts), konnten wegen der Ungunst der Verhältnisse nicht verwirklicht werden.
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50 Vgl. z. B. William L. Langers Urteil (The Diplomacy of Imperialism, N. Y. 1935. 2. Aufl. 1950, S. 444): bei Kehrs Buch handle es sich „sicherlich um den bemerkenswertesten Beitrag zur Geschichte der deutschen Flottenpolitik. Der Verf. ist durch eine ungeheure Menge zeitgenössischen Materials aller Art gegangen und beweist eine ungewöhnliche Erfassung“ der Probleme. – Pauline R. Anderson (The Background of Anti-English Feeling in Germany, 1890-1902, Washington 1939), die während ihres Studienjahrs in Deutschland mit Kehr oft zusammentraf und ihr Buch ganz aus seinem „Englandhaß“-Aufsatz entwickelte, widmete es ihm, wie auch G. W. F. Hallgarten seinen „Imperialismus vor 1914“ (2 Bde, München 1951, 2. Aufl. 1963); s. auch H. Rosenberg, Bureaucracy, passim; Paul M. Sweezy, The Present as History, 2. Aufl. N. Y. 1962, S. 98; G. Roth, The Social Democrats in Imperial Germany, Totowa 1963, S. 114; vgl. R. Stadelmann, Deutschland u. Westeuropa, Laupheim 1948, S. 164, Anm. 46. 51 Vgl. dazu H. Holborn, Der deutsche Idealismus in sozialgeschichtlicher Beleuchtung, HZ 174. 1952, S. 359-84; H. Weil, Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips, Bonn 1930; E. Kohn-Bramstedt, Aristocracy and the Middle Classes in Germany, N. Y. 1937; jetzt F. Zunkel (Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer, 1834-79, Köln 1962) über das westdeutsche Industriebürgertum. 52 Dazu ausführlich u. S. 254-68. 53 E. Kehr an M. Kehr, 22. Jan. 1927, Slg. M. Kehr u. oben S. 4. 54 L. Dehio, Deutschland und die Weltpolitik, Frankfurt 1961, S. 56-62; vgl. die bei allem Verständnis entschiedene Kritik von H. Herzfeld, Staat und Nation in der deutschen Geschichtsschreibung der Weimarer Zeit, jetzt in: Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1962, S. 49-67. 55 H. Mommsen, Das Verhältnis von Politischer Wissenschaft und Geschichtswissenschaft in Deutschland, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 10. 1962, S. 348, mit Verweis auf Dehio. 56 Nicht im Sinne Sombarts, sondern des Schumpeters der „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ (1912, zuletzt Berlin 1952) als der von den Großunternehmen bestimmten Epoche. 57 Hans Freyer, Einleitung in die Soziologie. Leipzig 1931, S. 67. 58 Man vgl. z. B. einmal Kehrs „Puttkamer“-Aufsatz (u. S. 64-86) mit M. Weber, Gesammelte Politische Schriften, 2. Aufl. Tübingen 1958. S. 86, 316, 332, 409, 508. 59 Hierüber jetzt am besten Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied 1963. 60 Vgl. dazu einmal K. W. Deutsch u. L. Edinger, Germany rejoins the Powers, Stanford 1959.
Geschichte und Gesellschaft Vorwort der Herausgeber* H ELMUT B ERDING , W OLFGANG J. M OMMSEN , H ANS -J ÜRGEN P UHLE , H ANS -U LRICH W EHLER
GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT ist eine interdisziplinäre Zeitschrift. Ihr liegt die Erkenntnis zugrunde, daß eine Geschichtswissenschaft, die sich als Historische Sozialwissenschaft versteht, für ihre Arbeit die enge Verbindung mit den systematischen Sozialwissenschaften, insbesondere mit der Soziologie, der Politikwissenschaft und der Ökonomie braucht, weil die historische Wirklichkeit nur dann angemessen erfaßt und erforscht werden kann, wenn Theorien, Fragestellungen und Methoden aus den Sozialwissenschaften in die geschichtswissenschaftliche Arbeit einbezogen und zur Grundlage einer eigenen kritisch-reflektierten Begrifflichkeit und Theoriebildung gemacht werden. Dabei ist das Ziel, historisch-hermeneutische und sozialwissenschaftlich-analytische Verfahrensweisen produktiv miteinander zu verbinden und eine Zeitschrift für die historische Dimension in allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen vorzulegen. Auch Anregungen aus den anderen Humanwissenschaften und, soweit möglich, den Naturwissenschaften wollen wir aufgreifen. Gegenstand der Zeitschrift ist die Gesellschaft und deren Geschichte – Gesellschaftsgeschichte im weiten Sinn, verstanden als die Geschichte sozialer, politischer, ökonomischer, soziokultureller und geistiger Phänomene, die in bestimmten gesellschaftlichen Formationen verankert sind. Das zentrale Thema ist die Erforschung und Darstellung von Prozessen und Strukturen gesellschaftlichen Wandels. Dabei wird die Analyse sozialer Schichtungen, politischer Herrschaftsformen, ökonomischer Entwicklungen und soziokultureller Phänomene im Vordergrund stehen; Veränderung und Dauer sollen gleichermaßen im Auge behalten werden. Über die herkömmliche politische Geschichte hinaus will GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT neuen Formen der Sozialgeschichte den Weg bahnen, ohne jedoch auf die politik*
Vorwort der Herausgeber, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft (Bd. 1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975, S. 5-7.
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geschichtliche Dimension zu verzichten. Eine sozialwissenschaftlich fundierte Politikgeschichte gehört vielmehr zu unserem Arbeitsfeld. Das gilt ebenso für die Klärung der theoretischen Grundlagen historischer und sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, allein schon deshalb, weil eine als Historische Sozialwissenschaft aufgefaßte Geschichtswissenschaft erkenntnistheoretische und methodische Fragen aufwirft, die der Beantwortung bedürfen. In GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT werden vornehmlich die Probleme seit den industriellen und politischen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts behandelt werden. Eine chronologische oder nationalgeschichtliche Begrenzung ist jedoch nicht geplant. Geplant sind im Gegenteil sowohl Untersuchungen weiter zurückliegender historischer Vorgänge als auch Analysen langlebiger Strukturen und langfristiger Entwicklungsprozesse, die die traditionellen Periodisierungsschemata sprengen. In der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte fehlen ja zumeist die scharfen Zäsuren, so daß es nötig ist, die langsam einsetzenden und auslaufenden Prozesse gesellschaftlichen Wandels mit Hilfe von Längsschnittanalysen präzise zu erfassen. Gerade hier will GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT dazu beitragen, den Anschluß an die in diesem Bereich weit vorangetriebene internationale Forschung zu finden und aufrecht zu erhalten. GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT wird sich nicht in erster Linie an bestimmten Gegenstandsbereichen, sondern an wissenschaftlichen Problemstellungen und an Lösungsversuchen orientieren. Das erfordert prinzipielle Offenheit gegenüber den benachbarten Fachwissenschaften, aber auch für unterschiedliche wissenschafts- und gesellschaftstheoretische Positionen. Es ist kein Zufall, daß die Herausgeber der Zeitschrift verschiedene Fachrichtungen und Diziplinen vertreten. Diese Zusammensetzung des Herausgeberkreises entspricht der Zielsetzung der Zeitschrift und wird, so hoffen wir, dazu beitragen, den interdisziplinären Ansatz zu verwirklichen. Zugleich soll sie gewährleisten, daß GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT von erstarrten Traditionen ebenso unabhängig sein wird wie von neuen Dogmen, welcher Herkunft auch immer. Wir sind mißtrauisch gegenüber jeder falschen Selbstsicherheit, die sich auf eine einzige Methode gründet, sei es die historische oder die politökonomische Methode. Je nach Erkenntnisabsicht und Problemlage sollen alle Verfahrensweisen und Ergebnisse Berücksichtigung finden, die Ergiebigkeit versprechen und rationaler Diskussion standhalten. Bestehen werden wir jedoch darauf, daß die jeweiligen Prämissen und Erkenntnisziele klar dargelegt werden und die Leistungskraft rivalisierender Theorien und Verfahrensweisen offen gegeneinander abgewogen wird; im Rahmen dieser Zielsetzung werden wir größten Wert auf solide empirische Forschung legen. GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT soll vor allem auch ein Diskussionsforum sein. Die Auseinandersetzung über kontroverse Methoden oder Interpretationen betrachten wir nicht als beklagenswerte Störung des Forschungspro-
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zesses, sondern als entscheidendes Moment des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts. Unserer Meinung nach gehören daher solche Auseinandersetzungen zu den Aufgaben dieser Zeitschrift. Wir werden immer wieder versuchen, diesen Klärungsprozeß in Gang zu bringen und hoffen, damit zugleich den interdisziplinären Dialog zu fördern und die Möglichkeit zu schaffen, daß unterschiedliche Fragestellungen, Methoden und Resultate geprüft und am Maßstab historischer Erkenntnis auf ihre Leistungs- und Tragfähigkeit hin befragt werden. Deshalb wird GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT neben Aufsätzen, Forschungs- und Literaturberichten und Wissenschaftlichen Nachrichten ein „Diskussionsforum“ enthalten, das Debatten und Kontroversen offensteht; auch Rezensionen wichtiger Veröffentlichungen, die eine breitere Diskussion verdienen, werden dort erscheinen. In GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT soll der Zusammenhang wissenschaftlicher Forschung mit der gesellschaftlichen Praxis Gegenstand beständiger Reflexion sein, und zwar sowohl weil die Geschichtswissenschaft durch gegenwärtige erkenntnisleitende Interessen wesentlich beeinflußt wird, als auch weil die Analyse historischer Prozesse und Entscheidungen direkt oder indirekt auf das gegenwärtige gesellschaftliche Bewußtsein und auf die Praxis zurückwirkt. Diesen doppelten Zusammenhang zwischen historischer Wissenschaft und aktueller Praxis im Auge zu behalten, ist schon ein Gebot theoretischer Klarheit. Wird die Gesellschaft als veränderbares Ergebnis historischer Prozesse und Entscheidungen, als Resultat genutzter und versäumter Möglichkeiten analysiert, kann Geschichte als Historische Sozialwissenschaft auch einen wichtigen Beitrag zur Selbstaufklärung der Gegenwart leisten und vernünftiges Handeln von Individuen und Gruppen erleichtern. Sie kann dann daran mitwirken, humane Formen des menschlichen Zusammenlebens zu entwerfen, zu erarbeiten und zu bewahren sowie zur Entwicklung einer historisch orientierten, zugleich aber praktisch relevanten Theorie der Gegenwart beizutragen. Wir sind uns darüber im klaren, daß dieses Ziel nur allmählich zu erreichen ist. GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT wird nicht allein an den Erfordernissen der aktuellen Forschung orientiert sein, sondern soll auch helfen, die Ergebnisse der neueren Forschung einem breiten Kreis von Interessenten zugänglich zu machen. Dementsprechend wendet sich die Zeitschrift nicht nur an Wissenschaftler, die in Forschung und Lehre an den Hochschulen tätig sind, und an Studenten; sie wendet sich gleichermaßen an die vielen Historiker, Soziologen, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler, für die es als Lehrer oder in anderen öffentlichen Funktionen wichtig ist, die neuen Fragestellungen und Ergebnisse der historisch-sozialwissenschaftlichen Forschung zu kennen und deren Entwicklung zu verfolgen. Insbesondere werden wir uns darum bemühen, regelmäßig über die für die Historische Sozialwissenschaft wichtigen Anstöße der Nachbarwissenschaften zu berichten. Die rasche und gezielte Information über einzelne Sachgebiete wird dadurch erleichtert, daß die Hefte so oft wie möglich jeweils einem bestimmten Themenbereich ge-
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widmet sein werden; die thematische Geschlossenheit in der Verbindung von Forschungsergebnissen und Literaturdiskussion soll die Möglichkeit verbessern, sich in neue Sachverhalte und Methoden einzuarbeiten. Ob es uns gelingt, die Ziele von GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT zu verwirklichen, hängt zu einem großen Teil von der Kooperation unserer Mitarbeiter und Leser ab. Ihre Anregungen und Vorschläge werden wir, wo immer es geht, dankbar aufgreifen.
Deutsche Gesellschaftsgeschichte Vorwort* H ANS -U LRICH W EHLER
Blickt ein Autor zu Beginn seines Buches auf vergangene Anstrengungen zurück, bemüht er sich nicht selten, seinen Lesern zu erläutern, welches Buch er eigentlich hatte schreiben wollen und warum er trotz aller Unvollkommenheiten der vorliegenden Fassung ihren Druck dennoch für sinnvoll hält. Die Versuchung ist mächtig, mit einer solchen Mischung aus aufrichtiger Klage und gütlichem Zureden zu beginnen, denn zahlreicher Lücken und Grenzen bin ich mir nur zu sehr bewußt, ganz zu schweigen von dem Abstand, der sich zwischen ursprünglicher Intention und geschriebenem Entwurf aufgetan hat. Dennoch sollen hier nur einige Absichten des Unternehmens klargemacht, einige Schwierigkeiten, die mit seiner Ausführung verbunden waren, kurz ins Auge gefaßt werden, ehe die „Einleitung“ auf diese Probleme ausführlicher eingeht. In diesem Buch geht es um eine problemorientierte Analyse wichtiger Prozesse und Strukturen, die nach meiner Auffassung die deutsche Gesellschaftsgeschichte in den letzten zweihundert Jahren in einem hohen, ja, soweit ich zu sehen vermag, in einem entscheidenden Maße bestimmt haben. Daß mit dieser Behauptung nicht beabsichtigt ist, ausschließlich ihnen Geschichtsmächtigkeit zuzusprechen, wird noch erläutert werden. Wohl aber scheint mir die Annahme begründbar, daß es sich um zentrale Entwicklungen und Kräfte gehandelt hat. Diese vorläufige Beschreibung wird bereits genügen, manchen von einem monströsen Projekt sprechen zu lassen, das, wenn es überhaupt schon verwirklicht werden könne, nur in Teamarbeit zu bewältigen sei. Gegen eine Kooperation sachkundiger Wissenschaftler sollen gar keine prinzipiellen Einwände erhoben werden. Die praktischen Schwierigkeiten, die sich einer solchen Gruppenarbeit in den Weg stellen können, sind jedoch nicht gering zu schätzen. An die Stelle mehrerer, von *
Wehler, Hans- Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära: 1700 – 1815. München: C.H. Beck 1987, S. 1-35.
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verschiedenen Experten verfaßter Studien, die oft nur durch eine „Buchbindersynthese“ zusammengehalten werden, tritt hier der Versuch, durch die Einheitlichkeit der Gesichtspunkte, der Darstellung und Sprache – eine Geschlossenheit, wie sie einem einzelnen noch am ehesten möglich zu sein scheint – das fehlende Spezialwissen ein wenig auszugleichen. Wer den Entwurf zu Ende gelesen hat, wird sein Urteil über diese Hoffnung fällen können. Da es bisher noch keine moderne deutsche Gesellschaftsgeschichte gibt, handelt es sich um eine lohnende Aufgabe, wenigstens den Grundriß wichtiger Entwicklungen auszuführen, denn auf absehbare Zeit wird es ungemein schwierig bleiben, eine umfassende, abgerundete Gesamtdarstellung aus dieser Perspektive zu wagen. Die Probleme, die sich dem in den Weg stellen, der einen derartigen Plan auszuführen beginnt, vertreiben mit entmutigender Hartnäckigkeit alle anfänglichen Illusionen. Das hängt in erster Linie mit den eigentümlichen Schwierigkeiten zusammen, die mit dem Vorhaben einer Gesellschaftsgeschichte an sich verbunden sind. In mancher Hinsicht wäre es wahrscheinlich leichter, eine deutsche Politikgeschichte zu schreiben. Aber auch wenn man von dieser besonderen Problematik absieht – dazu gleich mehr in der „Einleitung“ – existieren überhaupt nur sehr wenige Darstellungen einzelner Historiker, welche die deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert zu erfassen versuchen, so daß generell jene Synthesen fehlen, an denen man sich, zustimmend oder ablehnend, bei der Vorbereitung einer modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte orientieren könnte. An vier nennenswerte Bemühungen ist in diesem Zusammenhang zu erinnern, wobei die beiden älteren nicht an das selbstgesteckte Ziel gelangt sind. Heinrich v. Treitschke, dem „allgemeine“ Geschichte, wie den meisten deutschen Historikern vor und nach ihm, ganz vorrangig Politikgeschichte bedeutete, hat sein vor hundert Jahren geschriebenes Werk nur bis an die Mitte des 19. Jahrhunderts heranführen können. Seine Leitperspektive, daß es die Mission Preußens war, einen deutschen Nationalstaat zu errichten, wird heute keinen mehr zur Lektüre der fünf Bände ermuntern.1* Franz Schnabel dagegen hat fünfzig Jahre später seine „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert“ ungleich weiter angelegt: Technik und Wissenschaft, Philosophie und Religion wurden deshalb breit einbezogen. Aber die Sympathie für den Widerstand des liberalen Süddeutschen gegen die borussische Legende, für seinen Kampf gegen die Staatsmetaphysik einerseits und der Respekt vor seinem weiten Blick, vor dem Mut, Neuland zu betreten, andrerseits – sie werden durch den wunderlich idealisierenden Katholizismus, den zeitgebundenen Duktus der Sprache und des Urteils ständig ausgehöhlt. Zudem ist auch Schnabel vor der Mitte des 19. Jahrhunderts steckengeblieben.2 Seither haben nur sehr wenige Historiker die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts im Zusammenhang behandelt. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Ernst Rudolf Hubers „Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789“. Sie ist zunehmend zu einem enzyklopädischen Nach*
Die Anmerkungen zum Vorwort finden sich S. 126ff.
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schlagewerk geworden, dem ein weiter Verfassungsbegriff als Strukturierungsschema zugrunde liegt. Als Darstellung kann sie aber schwerlich mehr gelesen werden, sie dient vielmehr als lexikalische Informationsquelle oder als Repetitorium zur Examensvorbereitung. Die sieben Bände erdrücken durch die Überfülle des Stoffes auch den interessierten Leser. Sie besitzen zudem wegen ihrer Grundkonzeption, die auf eine unverhohlene Verklärung des deutschen Obrigkeitsstaates hinausläuft, vielfach einen traditionalistischen Charakter. Wegen der imponierenden Arbeitsleistung und der scharfsinnigen juristischen Interpretation im Verein mit den offenen oder stillschweigend eingeschleusten antiliberalen und antidemokratischen Vorurteilen ist die politische Wirkung dieses Kompendiums gefährlich.3 Sieht man von einigen vor allem in den Vereinigten Staaten und England gebrauchten „Textbooks“ für den akademischen Unterricht sowie von den in der Regel konventionell angelegten Handbüchern ab, in denen die Maxime, das sogenannte Grundwissen sachlich-neutral zu präsentieren, häufig mit massiven, aber nicht weiter diskutierten wissenschaftlichen und politischen Entscheidungen verknüpft ist, haben neue oder chronologisch vollständige Gesamtdarstellungen bis vor kurzem völlig gefehlt. Da dieser wunderliche Befund sowohl für das 19. als auch für das 20. Jahrhundert galt, handelte es sich unstreitig um einen überraschenden Zustand im Hinblick auf ein Land, dem die Geschichtswissenschaft soviel zu verdanken hat. Unlängst nun ist Thomas Nipperdey mit seiner „Deutschen Geschichte 18001866“ eine moderne Synthese gelungen, die sich auf der Höhe der internationalen Forschung und Diskussion bewegt. Nipperdey besitzt zwar eine Vorliebe für die Politikgeschichte, aber Wirtschafts- und Sozialgeschichte werden relativ ausführlich, auch mit sicherer Hand berücksichtigt, und der kulturgeschichtliche Teil zeichnet sich durch eine Kompetenz aus, die zur Zeit kaum jemand anderes besitzt. Vor allem aber wird die Problemanalyse auf einem hohen Reflexionsniveau durchgehalten, dazu in einem vorzüglichen Stil, dem es durchweg gelingt, die esoterische Geheimsprache des deutschen Wissenschaftsjargons zu vermeiden. Obwohl Nipperdeys Darstellung nicht alle der hier analysierten Probleme und eine etwas andere Zeitspanne behandelt, wird sich doch fortab jede Realkonkurrenz an dem von ihm gesetzten Maßstab messen lassen müssen.4 In dem vorliegenden Werk handelt es sich nun keineswegs um jene „allgemeine“ Geschichte, die bisher – wie gesagt – meist mit Politikgeschichte gleichgesetzt worden ist oder sie doch eindeutig bevorzugt hat, sondern hier folgen Studien, deren Gegenstand die moderne deutsche Gesellschaftsgeschichte ist. Die Thematik, die Auswahl der Probleme, damit auch die leitenden Gesichtspunkte, Selektionskriterien und theoretischen Konzeptionen werden entweder in der „Einleitung“ oder später, jeweils zu Beginn der einzelnen Kapitel, genauer vorgestellt und zu legitimieren versucht. Schnabel hat noch entschieden die Meinung vertreten, man solle „ein Geschichtswerk neuer Art nicht mit theoretischen Erörterungen belasten, sondern dem Urteil des Lesers überlassen, ob ihm die Weise gefällt und er
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seinen Nutzen darin findet“.5 Dieses Buch dagegen ist unter der diametral entgegengesetzten Devise geschrieben worden, dem Leser das größtmögliche Maß an Klarheit über die Kriterien, die Werturteile, die zugrundeliegenden theoretischen Annahmen, über ihre Vorzüge und Nachteile, ihre Chancen und Grenzen zu verschaffen. Die Grundlagen von Darstellung und Analyse transparent zu machen, damit dem kritischen Urteil und der Interpretation einige Verständnisbarrieren aus dem Weg zu räumen, Zustimmung oder Ablehnung in rationaler Argumentation zu erleichtern – das hat als eine Art kategorischer Imperativ die Niederschrift bestimmt. Ich bin mir darüber im klaren, daß es sich dabei nur um einen Grundriß handelt, dessen Funktion jedoch, wie ich hoffe, manchen Leser für ihn einnehmen wird. Selbstverständlich ist es menschenunmöglich, alle Annahmen, Vorentscheidungen und – im wortwörtlichen Sinne des Wortes – Vorurteile zu explizieren, ja: sich erst einmal bewußt zu machen. Im besten Fall steigt die Spitze eines Eisberges ein wenig höher empor, während der massive Teil unter der Oberfläche – der die Meinungen und Schwerpunkte, wie sie sich über die Jahre hinweg ausgebildet haben, verkörpert – unsichtbar bleibt oder erst im Verlauf der Darstellung seine Umrisse erkennen läßt. Dennoch bleibt die größtmögliche Offenheit der Argumentation ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit. Jeder Gewinn an Klarheit, an Einsicht in die Voraussetzungen und Konzeptionen einer geschichtswissenschaftlichen Analyse bringt einen Zuwachs an Rationalität für den kritischen Diskurs. Trotz der unschwer auszumachenden prinzipiellen wie praktischen Schwierigkeiten, die sich dem Unterfangen in den Weg stellen, ist an diesem Grundgedanken wissenschaftlicher Arbeit, daß die Diskussionsrationalität gesteigert werden muß, als Ziel festzuhalten, wie mühsam und bruchstückhaft man sich ihm auch immer nur annähern kann. Insbesondere sollen die beträchtlichen Probleme nicht geleugnet werden, die der Verwirklichung des Wunsches entgegenstehen, wichtige wissenschaftliche Probleme, die zum Teil in einer schwer vermeidbaren Fachsprache ausgedrückt werden, den Lesern zu vermitteln. Während Schnabel offenbar noch an ein Publikum gedacht hat, das an anschaulicher Erzählung interessiert war und dem lauter implizierte, keineswegs immer leicht zu erschließende Kategorien und Urteile zugemutet werden durften, ist bei diesem Buch ständig an Leser gedacht worden, die auf analytischer Klarheit bestehen, ohne mühsames Rätselraten über Gemeintes in eine Auseinandersetzung mit den Positionen oder Konzeptionen eintreten wollen und deswegen das unumgängliche Mindestmaß an wissenschaftlichen Ausdrücken, das der präzisen Verständigung dienen soll, als notwendig akzeptieren, vielleicht sogar begrüßen. Wo immer möglich habe ich mich bemüht, den ärgsten Fachjargon zu vermeiden. Der Kenner wird die Probleme ohnehin schnell erkennen. Dem mit der Materie vorerst weniger Vertrauten wird es dadurch aber hoffentlich erleichtert, zu ihnen vorzudringen.6 Der fachwissenschaftlichen Kritik sollte es nicht schwerfallen, das Buch entweder an seinen eigenen Absichten und Ansprüchen zu messen oder aber
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andere, ganz entgegengesetzte Maßstäbe anzulegen. Um mehr als einen ersten Aufriß von Problemen kann es sich angesichts des derzeitigen Forschungsstandes, des zumutbaren Umfangs und der begrenzten Kompetenz eines einzelnen Verfassers ohnehin nicht handeln. Denn besonders für eine Gesellschaftsgeschichte macht sich z. B. der Mangel an sozial- und wirtschaftshistorischen Darstellungen, ganz zu schweigen von den zahlreichen Lücken der Spezialforschung, erschwerend bemerkbar. Eine deutsche Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts steht weiterhin aus, während die an einer Hand mühelos aufzählbaren guten Darstellungen oder Handbücher zur deutschen, auch zur europäischen Wirtschaftsgeschichte die noch fehlende moderne Gesamtanalyse der deutschen Wirtschaftsentwicklung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert aus ganz verschiedenen Gründen nicht voll ersetzen können.7 Aber auch in der Kulturgeschichte – das Wort im modernen Begriffsverständnis weit gefaßt – gibt es zahllose Lücken; am häufigsten sind immer noch Fragen der Politikgeschichte behandelt worden, obwohl in der Regel keineswegs im Stil einer „modernen Politikgeschichte“, wie sie schon so oft von verschiedenen Seiten gefordert worden ist. Auf das vorhandene Material, vor allem auf die neueren und älteren Einzelstudien, habe ich, soweit mir das möglich war, zurückgegriffen. Selbstverständlich sind weite Strecken der Darstellung aus zweiter Hand gearbeitet, denn bei einem solchen Unternehmen kann man nur zum geringen Teil auf eigener Quellenarbeit aufbauen. Es wird jedoch jedermann einleuchten, daß an das Experiment mit einer Synthese nicht diejenige Elle angelegt werden kann, die der monographischen Detailforschung angemessen ist.8
Deutsche Gesellschaftsgeschichte Einleitung* H ANS -U LRICH W EHLER
In diesem Werk sollen wichtige Aspekte der Entwicklung der deutschen Gesellschaft in der Zeit vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart analysiert werden. Genauer gesagt schwebt diesem Grundriß der modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte als Ziel vor, den komplizierten Transformationsprozeß, der in nicht einmal zweihundert Jahren aus den nahezu zweitausend agrarisch-frühkapitalistischen, aristokratisch-patrizischen, ständisch-absolutistischen Herrschaftsverbänden des alteuropäischen Deutschland die interventionsstaatlich regulierte, republikanisch-demokratisch verfaßte Gesellschaft des hochorganisierten Industriekapitalismus unserer Gegenwart gemacht hat, in wesentlichen Grundzügen zu beschreiben und, wenn eben möglich, diesen Übergang zu einer qualitativ neuartigen Gesellschaftsformation zu erklären. Im Mittelpunkt stehen fortab nicht Staat und Verfassung, nicht die Politik von Regierungen und Verwaltungen, geschweige denn politische Ereignisabläufe an sich. Vielmehr geht es im folgenden um die Gesellschaft konstituierenden Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Herrschaft und Kultur in der modernen deutschen Geschichte, und das heißt: um Studien, die auf das Fernziel einer Gesellschaftsgeschichte hin konzipiert und ausgeführt sind. Noch handelt es sich um einen vorläufigen Grundriß, nicht um eine umfassende Gesellschaftsgeschichte selber, denn der Anspruch, der in diesem Begriff programmatisch angemeldet wird, beschreibt ein sehr hoch gestecktes Ziel. Wohl aber gilt diese Gesellschaftsgeschichte ständig als regulative Idee, wenn man so will, als Orientierungspunkt, dem sich die Darstellung streckenweise anzunähern hofft. Der Begriff muß deshalb zuerst erläutert werden. *
Wehler, Hans- Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära: 1700 – 1815. München: C.H. Beck 1987, S. 6-31.
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1. G ESELLSCHAFTSGESCHICHTE ALS V ERSUCH EINER S YNTHESE : D IMENSIONEN UND Z IELE Moderne Gesellschaftsgeschichte versteht ihren Gegenstand als Gesamtgesellschaft, im Sinne von „Society“ und „Société“; sie versucht mithin, möglichst viel von den Basisprozessen zu erfassen, welche die historische Entwicklung eines gewöhnlich innerhalb staatlich-politischer Grenzen liegenden Großsystems bestimmt haben und vielleicht noch immer bestimmen. Im Anschluß an die „Säkulartheorien“ und Kategorien, die Max Weber für seine universalhistorischen Studien entwickelt hat, um – das war die ursprüngliche Antriebskraft – die Eigenart des okzidentalen Gesellschaftstypus durch den Vergleich mit anderen Kulturkreisen möglichst präzis zu erfassen, lassen sich drei gleichberechtigte, kontinuierlich durchlaufende Dimensionen von Gesellschaft analytisch unterscheiden. Herrschaft, Wirtschaft und Kultur stellen diese drei, in einem prinzipiellen Sinn jede Gesellschaft erst formierenden, sich gleichwohl wechselseitig durchdringenden und bedingenden Dimensionen dar. Mit anderen Worten: Die menschliche Welt wird, blickt man auf die, wortwörtlich genommen, fundamentalen Elemente, durch „Arbeit, Herrschaft und Sprache“ (Habermas) begründet. Jeder dieser Bereiche besitzt eine relativ autonome Geltung und Wirkungsmacht, er kann aus den anderen nicht abgeleitet werden, so sehr auch für die Analyse der historischen Wirklichkeit alles auf die Mischungs- und Interdependenzverhältnisse ankommt. Dabei gilt es zu verfolgen, wie intensiv Herrschaft die Wirtschaft und Kultur, Wirtschaft die Herrschaft und Kultur, Kultur die Herrschaft und Wirtschaft in einem dialektischen Wechselverhältnis bedingen und beeinflussen. Nach meiner Überzeugung gibt es dagegen keine rationalen Entscheidungskriterien, die es gestatten, die überlegene Potenz der einen oder anderen Dimension von vornherein, gewissermaßen abstraktdefinitorisch festzulegen. Nur die exakte historische Konstellationsanalyse ergibt, welche Dimension oder Kombination von Wirkungsfaktoren jeweils am stärksten ausgeprägt ist. Erkennt man die Gleichberechtigung und Gleichrangigkeit dieser konstitutiven Dimensionen einmal an, kann man keine von ihnen mehr offen oder insgeheim privilegieren, ihr ein Plus an Geschichtsmächtigkeit oder Erklärungskraft zubilligen. Die Zielvorstellung einer solchen von Weber inspirierten Gesellschaftsgeschichte gleicht dann in der Tat dem, was die französische Geschichtswissenschaft seit einiger Zeit „Totalgeschichte“ nennt, oder was man ohne die ältere Einschränkung auf Politikgeschichte als „allgemeine Geschichte“ einer Gesellschaft bezeichnen könnte. Nun ist die Auffassung, Totalität tatsächlich erfassen zu können, bereits vom Anspruch her „illegitim“, von der praktischen Überforderung eines jeden Wissenschaftlers ganz zu schweigen. Menschliches Wissen in den Humanwissenschaften bleibt Partialerkenntnis, die an bestimmte Erkenntnisabsichten oder an „Kulturwertideen“ (Weber) gebunden ist und sich mit dem Wandel dieser
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Ideen selber wieder verändert. Aber als Fluchtpunkt, als Richtwert, als regulative Idee im Sinne Kants bleibt mit dieser Gesellschaftsgeschichte trotzdem eine solche Totalitätsutopie verknüpft, die selbstverständlich während der Arbeit an der Darstellung, mehr oder weniger weitreichend, pragmatisch eingeschränkt wird.1 Mit der Vorentscheidung für eine derart allgemein verstandene Gesellschaftsgeschichte ist gleichzeitig der Verzicht auf eine andere Art von theoretisch und empirisch ebenfalls möglicher Gesellschaftsgeschichte verbunden, die auf spezifisch deutsche Traditionen zurückverweist. Dieses andere Verständnis von Gesellschaftsgeschichte ist seit den 1820er Jahren durch jene einflußreiche deutsche Sozialtheorie geprägt worden, die seit Hegel, Stein und Marx Gesellschaft als „Sphäre zwischen Staat und Individuum“ begriffen hat, als ein eigenständiges „System der Bedürfnisse“ – wie es in der Hegelschen Rechtsphilosophie heißt -, als ein System von Interessen und Abhängigkeiten der vom Staat scharf abgesetzten „bürgerlichen Gesellschaft“, die in engster Wechselwirkung mit der modernen kapitalistischen Wirtschaft aufgestiegen war und sich rasch weiter entfaltete. Insofern ist diese Vorstellung von „Gesellschaft“ und ihrer Geschichte an die neuzeitliche Trennung von gebietsherrschaftlichem Anstaltsstaat und Societas Civilis bzw. Wirtschafts- und Staatsbürgergesellschaft gebunden. Von dem dynamischen sozioökonomischen Kernbereich des Gesamtsystems ausgehend, wird diesem Modernisierungszentrum von den hegelianisch-marxistischen Denkschulen – und den an sie, gleichwie vermittelt, anknüpfenden Gesellschaftswissenschaften – tendenziell eine, wie der alte Engels vorsichtig meinte, „in letzter Instanz“ überlegene Wirkungskraft zuerkannt, die eine strukturprägende Macht auf andere Wirklichkeitsbereiche ausübe. Von dieser Hierarchie der historischen Potenzen a priori auszugehen, setzt jedoch einen Glaubensakt voraus. Mit ausschließlich rationalen Argumenten ist ihre Überlegenheit nicht überzeugend zu beweisen. Demgegenüber befindet sich der Historiker, wenn er von der Gleichrangigkeit der drei Fundamentaldimensionen Herrschaft, Wirtschaft und Kultur ausgeht, auf einem ungleich zuverlässigeren Boden, er hat dadurch eine unnötige Präjudizierung der Ausgangsposition vermieden. Diese argumentative Distanzierung von einer einflußreichen Tradition der deutschen Gesellschaftstheorie und Sozialwissenschaft – von der ich ursprünglich auch einmal in einer frühen Phase vor der Niederschrift dieses Buches ausgehen wollte, ehe mich die Beschäftigung mit der Vielzahl der historischen Probleme immer eindeutiger auf die Webersche Konzeption hingelenkt hat – schließt es selbstverständlich keineswegs aus, das Schwergewicht durchaus einmal auch an erster Stelle in den Bereich der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Evolution zu verlagern. Aber erst aus der historischen Analyse ergibt sich, ob überhaupt – und in welchen unterschiedlichen Zeitabschnitten – solche Schwerpunkte oder die von Herrschaft und Kultur bevorzugt anerkannt werden müssen. In der Phase der Früh- und Hochindustrialisierung besitzt z. B. die „soziale Frage“ des Proletariats eine andere Bedeutung in der alltäglichen Lebenswelt wie auch in der Politik der Regierungen als die Lage der
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Industriearbeiterschaft in der Epoche des staatlich regulierten Kapitalismus, des sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Interventionismus, der auf ganz andere Steuerungserfahrungen und Entspannungsmaßnahmen zurückgreifen kann. Theoretisch-systematisch bleibt es jedoch, um diesen Punkt wegen seiner Bedeutung noch einmal nachdrücklich zu unterstreichen, die einzige auf die Dauer haltbare und mangels überzeugender Präferenzkriterien von der intellektuellen Redlichkeit gebotene Position, von der prinzipiellen Gleichberechtigung der Hauptdimensionen moderner Gesellschaftsgeschichte auszugehen. Freilich: Die Rede von solchen Dimensionen ist letztlich nur eine hilfreiche Metapher, um einen komplexen, realhistorisch dicht verschränkten Wirkungszusammenhang analytisch zerlegen und dann empirisch besser, glaubwürdiger erfassen zu können. Hierbei gilt unverändert, daß mir jedenfalls keine trennscharfen verläßlichen Kriterien zur Verfügung stehen, um für meine Zwecke definitiv entscheiden zu können, ob etwa die rationale Kultur des Okzidents den Industriekapitalismus erst ermöglicht und dann entwicklungsfähig erhalten hat; ob die eigentümlichen sozialen Strukturen Europas die entscheidende Bedingung für den Durchbruch der industriellen und politischen Revolutionen seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts gebildet haben; ob die kapitalistische Wirtschaft den folgenreichsten Entwicklungsstrang dargestellt hat oder ob die spezifischen politischen Herrschaftsordnungen des Westens die conditio sine qua non seiner historischen Einzigartigkeit begründet haben. Die Kristallisierung dieser Elemente zu einer einzigartigen Gesamtkonstellation hat, wie sich herausstellen wird, den Ausschlag gegeben. Eine so weit ausgreifende Gesellschaftsgeschichte in der Nachfolge Webers und die Gleichrangigkeit ihrer drei Basisdimensionen wirft mit ungemilderter, vergleichsweise sogar mit gesteigerter Schärfe das Auswahlproblem auf. Welche Problemwahl, und Auswahl bleibt ja ohnehin stets unvermeidbar, läßt sich innerhalb dieser Konzeption mit ihrem umfassenden Anspruch überhaupt noch überzeugend legitimieren? Dafür ist der Begriff der „Dimensionen“ und ihr jeweiliger Inhalt zuerst einmal etwas genauer zu bestimmen, ehe auf die vorherrschenden erkenntnisleitenden Interessen und die mit ihnen verbundenen Selektionspräferenzen ausführlicher eingegangen wird. Wenn man vor der Komplexität der historischen Realität nicht kapitulieren will, indem man sich ganz auf die überschaubare monographische Forschung, im Extremfall auf positivistische Miniaturarbeit, zurückzieht, sondern in einer Synthese die dominierenden Elemente eines Zeitalters in ihrem Zusammenhang erfassen möchte, ist es unvermeidbar, sie einem abstrakten Ordnungsschema zu unterwerfen. Dazu dient die bereits mehrfach genannte Unterscheidung von zentralen Dimensionen oder auch „Achsen“, welche das Gesellschaftsgefüge durchziehen. „Achse“ bedeutet hier zweierlei: sowohl einen – zumindest unterstellten – verdichteten realhistorischen Wirkungszusammenhang als auch ein heuristisches Hilfsmittel, das die genauere historische und systematische Untersuchung erleichtern soll. Gesellschaftsgeschichte hat es wesentlich mit der Verfassung des Binnenbereichs
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einer Gesamtgesellschaft zu tun, ihn kann man auch ihre „Sozialstruktur“ nennen. Mit dieser Kategorie gewinnt man einen allgemeinen Sammelbegriff für das ganze innergesellschaftliche Gefüge, das bestimmt wird durch die wirtschaftlichen Verhältnisse, die Lage der sozialen Schichten, die politischen Einrichtungen, auch durch gesellschaftliche Organisationen wie Parteien und Interessenverbände, durch Familie, Bildungssystem und Kirche – mit andern Worten: durch eine Vielzahl von Institutionen und vorstrukturierten Handlungsfeldern, nicht zuletzt auch durch kulturelle Normen, religiöse Wertvorstellungen und die wechselnde Deutung der sozialen Lebenswelt. So gesehen ist Gesellschaftsgeschichte über weite Strecken Sozialstrukturgeschichte. Auch gegenüber einem solchen Komplexphänomen wie Sozialstruktur in dem hier bezeichneten Sinn empfiehlt es sich, auf gliedernde und aufschlüsselnde Begriffe wie „Achse“ zurückzugreifen.2 Ob man nun Dimension oder „Achse“ verwendet, beide bedürfen, wie gesagt, einer ersten inhaltlichen Bestimmung. Um eine vorläufige terminologische Absprache zu treffen, soll gelten, daß Wirtschaft das Feld derjenigen Tätigkeiten absteckt, die Menschen im „Stoffwechsel mit der Natur“ zur Gewinnung ihres materiellen Lebensunterhalts betreiben.3 In der hier behandelten Zeit wird die wirtschaftliche Struktur – als jenes institutionalisierte Regelsystem, das natürliche Ressourcen, menschliche Kooperation und technologische Ausrüstung für die Herstellung von Gütern und die Bereitstellung von Dienstleistungen dauerhaft kombiniert – in zunehmendem Maße durch die Funktionsfähigkeit von Märkten für Boden und Waren, Kapital und Arbeit, durch den technischen Fortschritt als Treibstoff für den Motor der Industrialisierung sowie durch neuartige Verkehrs- und Kommunikationssysteme bestimmt, bis der Organisierte Kapitalismus und der moderne Interventionsstaat zusätzliche Steuerungsimperative einführen. Politische Herrschaft bezeichnet in der Tradition Max Webers sozial strukturierte und das heißt stets: organisierte und normierte Macht, die sei’s in der Regierung oder Lokalverwaltung, sei’s im Parlament oder auf dem Rittergut – Herrschaftsträgern von unterschiedlicher Legitimationsbasis aus die Chance zur Durchsetzung ihres Willens oder Auftrags eröffnet, vielleicht sogar gewährleistet. Von der öffentlich-politischen Herrschaft sind die ebenfalls zur Debatte stehenden Formen privater Herrschaft, etwa in der Familie oder im Betrieb, zu unterscheiden, auch wenn ihre rechtliche Sanktionierung von politischen Entscheidungen abhängen mag. Kultur soll, dem weiten Begriff der Kulturanthropologie folgend, die ideellen und institutionellen Traditionen, Werte und Einstellungen, die Denkfiguren, Ideologien und Ausdrucksformen, jene symbolisch verschlüsselte Erfassung und Deutung von Wirklichkeit umfassen, mit deren Hilfe nicht nur sprachlich-schriftliche, sondern schlechterdings jede Art von Kommunikation unterhalten und gespeichert wird, so daß alles Verhalten und Handeln in diesen Komplex symbolischer Interaktion eingebettet bleibt, durch ihn angeleitet wird.
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Natürlich wäre es eine arge Illusion zu glauben, daß sich diese Dimensionen in der Wirklichkeit derart säuberlich getrennt auffinden ließen. Vielmehr „durchwachsen“ sie gemeinsam, wenn auch mit einem stets wechselnden Ausmaß an Einfluß, fast alle menschlichen Institutionen – so ist etwa der adlige Gutsbesitz immer Herrschaftsverband, ökonomischer Betrieb und Ort kultureller Hegemonie zugleich. Aber sowohl ihre relative Autonomie als auch der Gewinn an analytischer Klarheit bei der Gliederung der Probleme und des Stoffs legten es nahe, in der Darstellung einer derart überschaubaren Einteilung zu folgen und die Interdependenzen jeweils am richtigen Ort zu betonen. Obwohl bei theoretisch-systematischen Überlegungen Sparsamkeit im Umgang mit Kategorien vorteilhaft ist, können aus pragmatischen Gründen noch weitere wichtige Achsen einer Gesamtgesellschaft hervorgehoben werden, zumal man bei der Analyse häufig mit ihnen arbeitet. So besitzt beispielsweise das System der sozialen Ungleichheit in jeder Gesellschaft eine so hervorragende Bedeutung, daß es berechtigt erscheint, dieses System sogar – wie das in diesem Buch geschieht – als eine der Zentralachsen zu behandeln. Man muß sich jedoch klar machen oder dessen bewußt bleiben, daß soziale Ungleichheit – um ein unten noch ausführlicher zu entwickelndes Argument vorwegzunehmen – strenggenommen ein Ergebnis des Zusammenwirkens von ungleicher Macht- und Herrschaftsverteilung, ökonomischer Lage und kulturellen Entwürfen der Weltdeutung darstellt. Deshalb bleibt sie ein Resultat der Überschneidung der drei systematisch vorgeordneten Dimensionen. Als ubiquitäres Phänomen, dessen Konsequenzen die Lebenschancen der Gruppen und Individuen bis in die abgelegenste Nische des Alltags hinein sichtbar oder insgeheim beherrschen, verdient es die soziale Ungleichheit jedoch, bereits an dieser Stelle genannt zu werden.4 Wenn man von der soeben umrissenen weiten Definition von Gesellschaftsgeschichte ausgeht, bleibt sie mithin der Absicht verpflichtet, von den strukturprägenden, epochaltypischen Grundzügen möglichst viel in einer Synthese einzufangen. Sie zielt in diesem, gewissermaßen ein unerreichbares Optimum anvisierenden Verständnis auf eine an Herrschaft, Wirtschaft und Kultur, an Bevölkerung, Politik und sozialer Ungleichheit orientierte Geschichte einer Gesamtgesellschaft in einem festgelegten Zeitraum. So läßt sich jedenfalls der Tendenztypus der Darstellung noch einmal formelartig kennzeichnen. Da es sich hier jedoch noch immer eher um eine Vorarbeit zu einer künftigen vielseitigeren, noch mehr wichtige Aspekte gleichermaßen berücksichtigenden Gesellschaftsgeschichte im vollen Wortsinn handelt, läßt sich wohl auch eine gewisse Bevorzugung der Dimensionen oder Achsen von Wirtschaft, Herrschaft und sozialer Ungleichheit vertreten. Im Hinblick auf die Dimension der Kultur, wo ich die Grenzen der Sachkompetenz am stärksten spüre, habe ich mich vorrangig auf die soziopolitischen Bedingungen und Entwicklungstendenzen von Kultur konzentriert. In diesem eingeschränkten Rahmen werden Kirchen, Schulen und Universitäten, werden Pressewesen,
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literarisch-publizistischer Markt und Wissenschaftsaufstieg ebenso behandelt wie der Linkshegelianismus, die Politische Romantik oder andere Ideologien von Eliten und Klassen. Insofern wird kulturellen Faktoren durchaus Rechnung getragen. Nirgendwo wird jedoch beansprucht, daß Kultur im Sinne von Philosophie-, Architektur-, Musikgeschichte usw. gleich gewichtig und gleich ausführlich wie die anderen Dimensionen behandelt wird. Sie wird zwar insgesamt hoffentlich deutlicher zur Geltung kommen, als dieser Vorbehalt zunächst vermuten läßt, dennoch sei aus dem, was ich selber als mißliches Defizit empfinde, kein Hehl gemacht.5 Trotz dieser Einschränkungen sind die verbleibenden Aufgaben sowohl schwierig als auch lohnend genug, bleibt Gesellschaftsgeschichte ein auch dem Provisorium noch zumutbarer Zielwert. Es ist eine der Grundannahmen dieser Arbeit, daß sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine beispiellose universalgeschichtliche Zäsur im Westen angebahnt hatte. Dadurch wurde auch in Deutschland eine neuartige Konstellation heraufgeführt, für deren Verständnis der gesellschaftshistorische Ansatz besonders ergiebig zu sein verspricht. Sein Erklärungspotential und die Grenzen, die mit einer solchen Präferenzentscheidung gewöhnlich verknüpft sind, werden noch besprochen. Dem naheliegenden Einwand, daß derjenige, der die staatliche Politik, die internationalen Beziehungen oder die Macht ideeller Überzeugungen nicht vorrangig behandle, die Geschichte von vornherein verzerre, braucht daher an dieser Stelle nur die Behauptung entgegengesetzt zu werden, daß von der Staatspolitik der traditionellen Politikgeschichte oder von den Ideen der traditionellen Geistesgeschichte her ein weniger erfolgversprechender Zugang zur inneren Dynamik des 19. und 20. Jahrhunderts zu finden ist. Den Beweis für diese Schlüsselthese zu führen, obliegt letztlich der gesamten Darstellung.
2. E INIGE
ERKENNTNISLEITENDE I NTERESSEN
Dieser Grundriß heruht auf einigen erkenntnisleitenden Interessen und theoretischen Voraussetzungen, die explizit klargestellt werden müssen, damit aus den Argumenten deutlich wird, warum die hier aufgegriffenen, nicht aber ganz andere Probleme für vordringlich gehalten werden. „Auch der gewöhnliche und mittelmäßige Geschichtsschreiber, der etwa meint und vorgibt“, hat bereits Hegel geurteilt, „er verhalte sich nur aufnehmend, nur dem Gegebenen sich hingebend, ist nicht passiv mit seinem Denken und bringt Kategorien mit und sieht durch sie das Vorhandene“. Daraus folgte sein Appell, daß der Anfang „immer damit gemacht werden“ müsse, „Kenntnisse allgemeiner Grundsätze und Gesichtspunkte zu erwerben“. Ungleich schärfer hat der berühmte englische Nationalökonom Alfred Marshall sogar erklärt, daß derjenige Wissenschaftler „am bedenkenlosesten handele und am tiefsten in die Irre führe, der behauptet, die Fakten und Zahlen für sich sprechen zu lassen“.6 Offenheit ist vor allem auch hinsichtlich der er-
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kenntnisleitenden Interessen nötig. Der verlockende Abkürzungsweg, sich mit Entschiedenheit zu seinen Vorurteilen nur zu bekennen und dann zu schreiben, kann hier, wie mir scheint, nicht eingeschlagen werden. In einem sehr allgemeinen Sinn richtet sich das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit darauf, die Entstehungsgeschichte unserer Gegenwart zu beleuchten. Zentrale Entwicklungsstränge der deutschen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert sollen herausgearbeitet, zugleich kritisch überprüft werden. Dafür darf der historische Rückgriff zeitlich nicht zu kurzatmig bemessen sein, sondern er sollte bis in die Phase zurückreichen, in der die moderne Welt deutlich erkennbar wird. Nur auf diese Weise läßt sich im Erfahrungshorizont unserer Zeit eine problemadäquate Tiefenschärfe gewinnen, die es gestattet, klar eingezeichnete Konturen zu erkennen. Diese Trennschärfe benötigen wir, um der Bedeutung der treibenden oder hemmenden, weiterwirkenden oder erloschenen Kräfte gerecht zu werden. Nicht nur fließt die Vergangenheit mit der Gegenwart im Kontinuum der Geschichte zusammen, sondern ganz unvermeidbar machen sich auch Vorstellungen über eine gewünschte Zukunft geltend, denn, wie Wilhelm Dilthey es mit aller nur wünschenswerten Klarheit ausgedrückt hat, „was wir unserer Zukunft als Zweck setzen, bedingt die Bestimmung der Bedeutung des Vergangenen“.7 In gebotener Kürze soll daher in diesem Zusammenhang vor allem auf drei Kardinalprobleme der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hingewiesen werden, an denen sich wesentliche erkenntnisleitende Interessen dieses Buches orientieren. Zuvor ist jedoch noch eine weitere Überlegung erforderlich, um bestimmte Prämissen klarzulegen. Wirtschaft, Sozialhierarchie, Herrschaft und Kultur werden hier als Hauptachsen der Gesellschaft angesehen und zugleich in ihrer Wechselwirkung im Verlauf des neuzeitlichen Modernisierungsprozesses vor allem während der beiden letzten Jahrhunderte verfolgt. Anders gesagt: Es geht um den historischen Inhalt eines langjährigen, komplexen sozialen Evolutionsprozesses. Gebraucht man aber Begriffe wie „Entwicklung“ oder „Evolution“ nicht nur als geläufige Floskeln, sondern will man sie präzisieren, die Worte ernst nehmen, ist auch die Angabe von Richtungskriterien für den Evolutionsverlauf geboten. Auf welche Ziele hin entwickelte sich denn – das ist die meist implizite, hier aber explizite Frage – eine spezifische Gesellschaft im Rahmen der seit langem vorgegebenen okzidentalen Gesamtkonstellation, die nicht etwa völlig beliebige, sondern innerhalb einer bestimmten, durch historische Analyse ermittelbaren Bandbreite gerichtete Evolutionsprozesse zuließ und stimulierte? Die Zieldefinition kann an dieser Stelle vorläufig nur in der Form einer abkürzenden, pointierten Bestimmung der Hauptprozesse und ihrer Richtungskriterien erfolgen; unten ist dann noch wiederholt davon zu sprechen. Im Anschluß wiederum an Weber wird unter der Modernisierung und dem Evolutionsziel der Wirtschaft die Durchsetzung des Kapitalismus bis hin zum hochentwickelten Industriekapitalismus verstanden; im Hinblick auf die Sozialschichtung die damit zusammenhängende Durchsetzung „marktbedingter Klassen“ bis hin zu großen, politisch handlungsfähigen „sozialen
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Klassen“; im Hinblick auf die politische Herrschaft die Durchsetzung des bürokratisierten Anstaltsstaats (seit dem 19. Jahrhundert in der Regel in der Form des Nationalstaats); im Hinblick auf die Kultur die Durchsetzung der „Rationalisierung“ in wachsenden Bereichen des kulturellen Lebens in dem vorn umrissenen weiten Sinn, wie das am Aufstieg der Wissenschaften, der Säkularisierung und „Entzauberung“ der Welt, an der Ausdehnung des Zweck-Mittel-Denkens einer instrumentellen Vernunft am augenfälligsten zutage tritt. Nach dieser knappen Klärung des Kontextes kann die Auskunft über die erkenntnisleitenden Interessen hoffentlich genauer eingeordnet werden. 1. Die Entfaltung erst des Kapitalismus, dann vor allem des Industriekapitalismus seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts wird hier als einer der Basisprozesse der gesellschaftlichen Evolution auch in Deutschland betrachtet. Inhalt und Wirkung der deutschen Industrialisierung können ohne ihr Grundgesetz, die ungleichmäßige Entwicklung, nicht verstanden werden. Daß Landschaften und Regionen, Branchen und Sektoren (schließlich auch ganze Volkswirtschaften und Teile des Globus) sich ungleich entwickeln, daß kurz- und langfristige Schwankungen des konjunkturellen Verlaufs „modo paulatim, modo saltatim“ den Wachstumspfad bestimmen, kann geradezu als die historische Natur privatwirtschaftlicher Industrialisierung gelten. Dieser Bewegungsrhythmus ist auf der einen Seite von einflußreichen Verfechtern mächtiger Interessen als ein Gesetz hingestellt worden, für dessen eherne Gewalt die Newtonsche Physik das faszinierende Vorbild abgab. Als Preis für die unleugbaren Vorzüge der industriellen Marktwirtschaft müßten, hieß es, ihre Fluktuationen hingenommen werden. Die Gesetze des freien Marktverkehrs sorgten, und zwar um so schneller, je ungestörter sie sich auswirken könnten, für Erholung, neuen Aufschwung und letztlich auch für das Gemeinwohl. Auf der anderen Seite hat insbesondere die von Marx herkommende Kritik der Politischen Ökonomie ebenfalls die harte Entwicklungslogik des Industriesystems in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt, aber den angeblich unüberwindbar eingebauten permanenten Krisencharakter kapitalistischer Wirtschaft betont, die aufgrund der ihr eigenen Gesetzmäßigkeiten tendenziell zur Selbstzerstörung neige. Während die eine Seite den politischen Zwang zur Beherrschung der sozialökonomischen und politischen Folgen des Industriekapitalismus unterschätzt oder die Selbstregulierungsfähigkeit der reinen Marktgesellschaft überschätzt hat, ist der Kritik lange Zeit eigen geblieben, die Chancen von Anpassung und politischer Steuerung als eine Folge schwieriger Lernprozesse für gering oder die systemimmanenten Bewegungsmechanismen für übermächtig zu halten. Es wird später ein Hauptthema der Darstellung bilden, wie der Aufstieg des Organisierten Kapitalismus und modernen Interventionsstaats in Deutschland als dialektische Antwort auf die Selbstgefährdung des Industriekapitalismus verstanden werden kann: Seine Krisenanfälligkeit erzwang, so gesehen, die Selbstverteidigung in der Gestalt anhalten-
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der Intervention und verbesserter Organisation. Die Gedankenführung bewegt sich daher fortab an zwei Fronten: Einerseits wird die Leistungsfähigkeit von Märkten betont, die Zuweisung von Ressourcen, die Reaktion des Angebots auf die Nachfrage, die elastische Anpassung an wechselnde Verhältnisse über längere Zeit hinweg institutionell zu gewährleisten, und zwar unter bestimmten Gesichtspunkten so erfolgreich zu regeln, daß ein vollständiger Ersatz für funktionsfähige Märkte schwer vorstellbar, bisher auch noch nicht gefunden ist. Andrerseits gilt es, die unübersehbar gewaltigen Kosten der Marktgesellschaft, die sie ständig und nicht nur während des Einbruchs von Krise und Depression auferlegt, ebenso deutlich zu sehen. Darüber hinaus ist auch dem Mythos entgegenzutreten, als habe sie jemals auf politische Steuerung völlig verzichten können. Politisch stellt sich auf absehbare Zeit die Aufgabe, ungeachtet der Legenden von der Freien Marktwirtschaft oder von der angeblich effizienteren Staatlichen Verwaltungswirtschaft ein neues Mischungsverhältnis von vorausschauender Steuerung und spontaner Marktreaktion zu finden. Da der staatlich regulierte moderne Kapitalismus die privaten Entscheidungsdomänen der Kontrolle über die Produktionsmittel, Investitionen und Gewinne seit langem mit massiver öffentlicher Unterstützung und dank unaufhörlicher politischer Eingriffe erhält, geht es hierzulande in erster Linie um die Transparenz des politischen Einflusses, der politisch effektiver zur Verantwortung gezogen werden muß. Nur so kann die Spannung zwischen einer privaten Wirtschaft, die längst zur politisch garantierten Veranstaltung geworden ist, und der schon aus diesem Grunde legitimen Forderung nach politischer Mitbestimmung, die bisher vor den Arkanbereichen der Wirtschaft haltmachen soll, gebändigt werden. Das Ausmaß des politischen Einflusses wird strittig bleiben. Über seine Intensität wird im politischen Streit entschieden werden. Auf das Zentralproblem, wie die Kontrolleure effizient kontrolliert werden können, lohnt es sich, erst alle Kraft des politischen Denkens, dann der politischen Praxis zu verwenden. Aber daß es bei einem Dauerkonflikt zwischen Markt- und Planrationalität bleiben wird, ist unschwer zu prognostizieren. Deshalb scheint es eine lohnende Aufgabe zu sein, die historischen Bedingungen dieser fundamentalen Problematik, des Mischungsverhältnisses von öffentlichen und privaten Elementen in der Wirtschaft, so klar wie möglich herauszuarbeiten. 2. Die Entwicklung auch der deutschen Gesellschaft in den vergangenen beiden Jahrhunderten ist durch die Dauerhaftigkeit struktureller sozialer Ungleichheit grundlegend bestimmt. Sie ist vielleicht die Hauptfrage jeder historischen Sozialforschung, jeder Stratifikationsanalyse, jeder Sozialgeschichte – nicht zuletzt auch deshalb, weil damit die Lebenschancen der vielen Individuen notwendig in den Blick kommen. Sie wird es auf absehbare Zeit auch bleiben. Ihr Gewicht in der Politik kann schwerlich überschätzt werden. Selbstredend wird hier nicht die vorindustrielle Vergangenheit idea-
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lisiert, um dann als Folie zu dienen, vor der sich die neuartige Ungleichheit, die von der industriellen Gesellschaft des Westens erzeugt wird, um so düsterer abhebt. Vielmehr teile ich die Auffassung, daß erfolgreiche Industrialisierung geradezu Bedingung der Möglichkeit für die Gesellschaftspolitik dieser Länder ist, soziale Ungleichheit auf die Dauer mindern zu können, und daß diese Ungleichheit in historischer Perspektive sogar erstmals abgebaut worden ist und noch weiter abgebaut werden kann. Anders gesagt: Sie ist im Vergleich mit früheren Epochen nicht verschärft worden oder gleich stark geblieben. Vorerst muß man sich jedoch sowohl Ursachen und Ausmaße, Wirkung und Wandel der je eigentümlichen Ungleichheit in der deutschen vorindustriellen, dann in der industriekapitalistischen Gesellschaft klarmachen, als auch sich der Frage stellen, auf welchen Bedingungen die Fähigkeit dieser Gesellschaften beruht, mit zum Teil außerordentlich schroffer Ungleichheit über lange Zeiträume hinweg leben, sie unterhalb des Gefahrenpunktes einer sozialen Eruption verarbeiten zu können. Anders gesagt: Relative Stabilität ist genauso erklärungsbedürftig, wie Spannung oder Konflikt es sind. Dazu ist die historische Analyse unumgänglich. Sie wird hier von der Überzeugung angeleitet, daß ein höheres Maß an Gleichheit der Lebenschancen unbedingt wünschbar, auch seit längerem möglich ist. Zugleich ist aber diese Zielvorstellung, daß die Gleichheitsrechte breiter als bisher verwirklicht werden sollten, nicht an die naive Leitidee der völligen sozialen Gleichheit aller gebunden. Ein bestimmtes Maß an funktioneller, freilich schärfstem Legitimationszwang auszusetzender Ungleichheit scheint nicht nur der historischen Erfahrung nach unvermeidbar, sondern mit guten systematischen Argumenten verfechtbar zu sein. Um einige Beispiele zu nennen: Auch zum Zusammenleben der Menschen in einem demokratischen Industrieland gehört die prinzipielle Ungleichheit von Positionen innerhalb der politischen Herrschaftsordnung, selbst wenn diese optimalen Kontrollen ausgesetzt wäre. Gesellschaftlich hochbewertete Funktionen mögen durchaus ein ungleiches Maß an politischer, psychischer, prestigeträchtiger, keineswegs nur ökonomischer Auszeichnung auf sich ziehen, da gibt es viele Äquivalente. Gleichrangig, aber in einem offenbar unaufhebbaren tiefen Spannungsverhältnis zu den demokratischen Gleichheitsrechten stehen liberale Freiheitsrechte, bei deren Verwirklichung Ungleichheit nicht umgehbar und vertretbar erscheint. Aber auch wenn alle möglichen Einschränkungen genannt und begründet wären, bliebe doch der grundlegende Impuls berechtigt, die auf schierer Tradition, auf blanker Macht, auf unbegründbarer Verteilung der Lebenschancen, die meist auf den Zufällen von Geburt und Herkunft beruhende Ungleichheit in Frage zu stellen, auf der argumentativen Legitimierung jedweder sozialen Ungleichheit zu beharren und sie bei unzureichender Rechtfertigung anzufechten. Um es zu wiederholen: Der Ausgleich, nicht die völlige Aufhebung struktureller sozialer Ungleichheit wird als ein Langzeitproblem auch der zukünftigen deutschen Politik verstanden. Die historischen Bedingungen, unter denen sich diese zweite fundamentale Problema-
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tik bisher entwickelt hat, sollten so klar wie möglich herausgearbeitet werden. 3. Schließlich stehen die Struktur und Ausübung, die Funktionsweise und Wirkung von politischer Herrschaft zur Debatte. Gerade die deutsche Geschichte der beiden vergangenen Jahrhunderte läßt es nicht zu, diesen Bereich zu vernachlässigen. Wenige Staaten haben in dieser Zeit einen vergleichbaren Wechsel der politischen Regime und Herrschaftsformen, derart abrupte Brüche und neue Anfänge erlebt wie Deutschland. Zugleich mahnt diese Geschichte zur Vorsicht gegenüber allzu glatten Thesen. So hat sich etwa die deutsche Industrialisierung im Gehäuse des traditionalen Obrigkeitsstaats durchsetzen können, und jahrzehntelang vertrugen sich bestechende ökonomische Erfolge mit autoritär-bürokratischer Politik. Die von wenigen Ausnahmen abgeleitete bequeme Gleichung, daß Industrialisierung zugleich notwendig Demokratisierung bedeute, führt auch hinsichtlich Deutschlands in die Irre. In einem Land, das so lange durch vorindustrielle Faktoren eine maßgebende Prägung erfahren hat, stellt sich die relative Autonomie von Politik sogar besonders scharf als Problem. Wie sehr auch der Organisierte Kapitalismus politisch polyvalent ist, zeigt sich daran, daß er in Deutschland mit den politischen Systemen des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, der nationalsozialistischen Diktatur und der Bundesrepublik vereinbar war und ist. Das ist selbstverständlich nur die eine Seite der Medaille. Die Kehrseite prüfen heißt, die restriktiven Bedingungen, die jeder Politik auferlegt sind, ins Auge fassen. Hat z. B. der Industriekapitalismus die Natur politischer Herrschaft grundlegend verändert oder nur ihr Instrumentarium verbessert? Hat er den immer eng begrenzten Spielraum für politische Entscheidungen so weit eingeengt, daß der Staatsapparat zur Agentur dominierender Interessen wird? Oder wie deutlich sind, da die Agententheorie von vornherein als simplifizierende Konstruktion verworfen werden muß, die wechselnden Grade der Abhängigkeit politischen Handelns von sozioökonomischen Interessen und umgekehrt dieser Interessen von der Politik ausgebildet? In welchen Bereichen wirken sich diese Interessen mehr oder weniger durchschlagskräftig aus? Welche Verhältnisse werden stillschweigend für gar nicht entscheidungsbedürftig, für die privilegiert-protegierten Bereiche der „Non-Decisions“ gehalten? Was konstituiert den vielbeschworenen Freiraum des Entscheidungshandelns? Was meint eigentlich die Formel von der relativen Autonomie der Politik?8 Die Grenzen zwischen politischer Herrschaft, die auf den Institutionen des modernen Staates mit ihrem spezifischen Eigengewicht, vor allem auch ihren eigenen Interessen, beruht, und der Herrschaft der Verwaltung im Alltag, die ihrerseits mit organisierten gesellschaftlichen Interessen aufs engste kooperiert, sind längst verschwommen. Politische Kontrolle erfolgreich ausgeübter bürokratischer Macht ist daher, wie nicht allein Max Weber wortgewaltig betont hat, seit langem zu einem Zentralproblem auch und gerade der deutschen Gesellschaft geworden. Das setzt auf der Linie der hier
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vertretenen Argumentation historische Einsicht in die Struktur und Politik von Bürokratien voraus, in ihre Möglichkeiten und Grenzen, in ihre eher noch wachsende Bedeutung als Konstante im Wirbel der Regimewechsel, der gesellschaftlichen Veränderungen, der politischen Tagesereignisse. Aber nicht nur der Herrschaftsapparat mit seinen Eigenarten und Funktionsmechanismen ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Thematik. Zugleich konvergieren im Herrschaftsproblem entscheidende Fragen der Wirtschafts- und Sozialentwicklung. Die politische Kontrolle ökonomischer und finanzieller Machtballung ist in einer Zeit, in der nationale und internationale Konzentrationsprozesse den Großunternehmen eine beispiellose Ausdehnung verschafft haben, immer dringender geworden. Der Markt genügt hier keineswegs als Regulator. Am Ende des 20. Jahrhunderts ähneln die Großunternehmen den schwer kontrollierbaren großen Feudalherren des Mittelalters. Wie diese bilden sie „imperia in imperio“: Sie vergeben ihre Belohnungen, teilen ihre Strafen aus und folgen privaten Strategien mit gewaltigen gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen. Daher kann der Abbau sozialer Ungleichheit und sozialer Privilegien, die auf solche ökonomischen oder auf politische Machtpositionen zurückgeführt werden können, nicht dem „freien Spiel“ der gesellschaftlichen Kräfte überlassen werden. Dieser Sozialdarwinismus begünstigte nur weiterhin die Mächtigen. Sondern hier muß wiederum politische Herrschaft erkämpft und zu steuernden, kontrollierenden, verändernden Eingriffen bewußt genutzt werden. Vom Interesse an Gesellschaftsgeschichte her ergibt sich eine starke Neigung, vor allem die restriktiven Bedingungen von Politik zu analysieren. Unstreitig ist es auch ein Gewinn, die sterile Konfrontation zwischen dem Vorwurf einerseits: Politik werde nur von Agenten übermächtiger ökonomischer Kräfte ausgeführt, und der Behauptung andrerseits: Politik bewege sich in einem Freiraum völliger Autonomie, durch genaue historische Analyse aufzulösen, um die Rahmenbedingungen, die wechselseitig aufeinander einwirkenden Einflußaggregate und die jeweils unterschiedlich ausfallenden Resultate des „Decision-Making“ möglichst konkret zu bestimmen. Dieses legitime Interesse, das in diesem Buch häufig verfolgt wird, darf jedoch nicht dazu verführen, die Eigenbedeutung von politischer Herrschaft schließlich ganz zu negieren. Es ist eine anthropologische Konstante, daß es immer Herrschende und Beherrschte gegeben hat und geben wird. Auf diesen Grundtatbestand zielt auch die Entscheidung, Herrschaft zu den drei Basisdimensionen oder Achsen von Gesellschaft zu rechnen. Es ist außerdem ein gravierender methodischer Fehler, sich mit dem vermeintlichen Übergewicht der restriktiven Bedingungen von Politik voreilig zufriedenzugeben, Politik darin gewissermaßen völlig aufzulösen. Mit andern Worten: Man sollte nie glauben, Politik dadurch hinreichend „erklären“ zu können, daß man sie ganz und gar auf andere Faktoren, auf ökonomische, strategische, ideologische Einflüsse reduziert. Ungeachtet aller derartigen Einflüsse bleibt ein Eigenbereich politischer Macht und Herrschaft bestehen, der auch mit genuin politischen Kate-
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gorien beurteilt werden muß. Das gilt überdies in besonderem Maße, wenn sich die Institutionen des neuzeitlichen Staatsapparats erst einmal herausgebildet haben, das politische System also in einem ungleich höheren Maße als früher ausdifferenziert und fest institutionalisiert, daher auch mit der Tendenz zur Verselbständigung ausgestattet ist, so daß sich schon deshalb spezifisch politische Interessen entwickeln und von einer festen Bastion aus verteidigt werden.9 Kurzum, auch hier gilt die Maxime der prinzipiellen Gleichrangigkeit der Dimensionen von Gesellschaftsgeschichte, damit auch der politischen Herrschaft. Wer sie unterschätzt, ist ihrer Macht um so wehrloser ausgeliefert. Ihre Fundamente und Ressourcen, ihre Freiräume und Grenzen zu erfassen, entspricht daher durchaus den Zielen dieser Arbeit. Außerdem läßt sich unstreitig argumentieren, daß mit der erneut steigenden realen Bedeutung politischer Entscheidungen im autoritären, aber auch im liberaldemokratischen Interventionsstaat eine wahrhaft moderne Politikgeschichte aufgewertet, ja dringend verlangt wird. Der Leitperspektive vollständiger Herrschaftsfreiheit vermag dieses Buch jedoch genausowenig zu folgen wie dem Ziel der sozialen Gleichheit aller. Nicht Herrschaftsfreiheit, sondern glaubwürdige Legitimation und maximale Kontrolle von Herrschaft umschreiben vielmehr seine Orientierungsvorstellungen. Daß es für absehbare Zeit als politische Daueraufgabe verstanden werden kann, die demokratischen Kontrollen zu verbessern, die politischen Entscheidungen transparenter zu machen, sie eventuell auch schneller korrigieren zu können, das „Gemeinwohl“ zu ermitteln und soweit wie möglich effektiv durchzusetzen – das dürfte schwer zu bestreiten sein. Wiederum scheint es daher eine lohnende Aufgabe zu sein, die historischen Bedingungen politischer Herrschaft in Deutschland so klar wie möglich herauszuarbeiten, damit der Gewinn, den sie bedeuten, aber auch der Preis, den sie verlangen kann, im Vergleich deutlich werden. Diese fraglos verkürzte und notwendig allgemeine Diskussion dreier Kardinalprobleme, in deren Licht diese Arbeit konzipiert und ausgeführt worden ist, beruht auf der Annahme, daß die historische Analyse größere Klarheit über unsere Herkunft und über den Weg vor uns verschaffen kann. Wissenschaftlich gesicherte Kenntnisse können über historische Chancen und Widerstände in der gesellschaftlichen Entwicklung orientieren und in diesem indirekten, vermittelten Sinn auch politisches Handeln anleiten, und zwar unabhängig von der mehr oder minder einflußreichen Stelle, die der Bürger im Gemeinwesen einnimmt. Das mag als aufklärerische Illusion belächelt werden. Aber birgt nicht Geschichte die einzigen verläßlichen Erfahrungen, aus denen wir zu lernen versuchen können? Die Geschichtswissenschaft ist immer und von der Struktur der Sprache her ganz unvermeidbar – ob nun, wie meist üblich, implizit oder, wie hier skizziert, explizit – auch auf politische Information, auf wenn auch gewöhnlich sehr vermittelte Anweisung zum politischen Handeln angelegt. Historisch aufgeklärtes Wissen und Handeln ist der gedächtnislosen Reaktion auf den dumpfen Druck der
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unmittelbar drängenden Gegenwart allemal vorzuziehen. Wenn daher die folgende Analyse von der vielleicht allzu kühnen Hoffnung begleitet wird, zu einer praktisch relevanten historischen Theorie unserer Zeit seit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts beizutragen, hat das nichts mit einer direkten politischen Instrumentalisierung von Wissenschaft, sondern vielmehr erneut mit dem Grundsatz zu tun, über Voraussetzungen und mögliche Folgen wissenschaftlicher Arbeit Rechenschaft abzulegen, dem Verlangen nach klarer Darlegung der Prämissen, Methoden und Interpretationen nachzugeben, damit der Leser über einige politische Implikationen nicht im unklaren bleibt.
3. W EITERE ABSICHTEN
DER
D ARSTELLUNG
Selbstverständlich ist diese Arbeit auch keineswegs ausschließlich von den praktischen, lebensweltlichen Zusammenhängen her bestimmt, in denen sie entstanden ist oder die sie als wünschbar antizipiert. Vielmehr folgt sie auf einer ganz anderen Ebene ebensosehr dem, was man wissenschaftliche Neugier nennen mag. Schließlich befaßt sich das Experiment mit Längsschnittanalysen z. B. der sozialen und ökonomischen Entwicklung über 200 Jahre hinweg mit arg vernachlässigten fachwissenschaftlichen Fragen. Auch dem Wunsch, eine historische Synthese zu bieten, wird man angesichts der starken Nachfrage auf diesem Gebiet die Berechtigung schwerlich versagen können. Insofern kommen ausgeprägte wissenschaftliche Interessen daran, sich mit lohnenden Problemen auseinanderzusetzen, zum Zuge. Um welche Probleme, die sich durch die Arbeit hindurchziehen, handelt es sich dabei? Welche Fragestellungen müssen wegen ihrer allgemeinen Natur an dieser Stelle hervorgehoben werden? 1. Zuallererst geht es vorrangig und immer wieder um das Problem der Verschränkung sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller Entwicklungen. Nicht Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Politikgeschichte, Kulturgeschichte an sich stehen im Vordergrund, sondern durchweg sollen, wie sich die Schwerpunkte auch jeweils ändern mögen, Wechselwirkungen innerhalb einer historischen Totalität ermittelt werden. Wenn es gelänge, deutlicher als andernorts zu zeigen, wie einige Zahnräder der historischen Evolution ineinandergreifen, wäre ein Hauptziel erreicht. Daß Lücken unvermeidbar auftreten werden, ist bereits eingeräumt worden. Wie die Ideen der Aufklärung oder des Liberalismus sich ausgewirkt haben, kommt vielleicht zu kursorisch zur Sprache, obwohl diese Ideen ihre „Dampfkraft“ auch in der deutschen Geschichte unleugbar gezeigt haben. Immerhin: Dampf ist – um bei der Verteidigung des eingeschränkten Ansatzes im selben Bild zu bleiben – „für den Antrieb einer Dampflokomotive unerläßlich, aber weder die Lokomotive noch das Schienennetz kann aus Dampf gebaut werden“.10
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2. Die zweite Frage richtet sich auf das Problem, wann und in welchen Bereichen man von einer irreversiblen Beschleunigung des Modernisierungsprozesses sprechen kann. Wie läßt sich, heißt das zugleich, die Entscheidung über die Anfangszeit dieser Arbeit begründen? Warum setzt sie im 18. Jahrhundert ein, obwohl es von dem gesellschaftsgeschichtlichen Ansatz, von der Wirkungsgeschichte und von dem dann vermutlich auch vereinfachten Duktus der Darstellung her zunächst naheliegend wäre, mit dem unübersehbaren Durchbruch des deutschen Industriekapitalismus vor der Mitte des 19. Jahrhunderts zu beginnen? Das verschüfe den Vorteil eines klaren Brennpunktes, kann man doch in Max Webers unvergänglichen Worten den modernen Kapitalismus als „die schicksalvollste Macht unseres modernen Lebens“ verstehen, die „den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen – mit überwältigendem Zwang bestimmt“.11 So überzeugend dieses wuchtige Argument zuerst klingen mag – folgt man ihm, führt das in die angestrebte Synthese fast zwangsläufig Verzerrungen ein. Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen: Die Entwicklung des deutschen Kapitalismus, insbesondere des Industriekapitalismus wird im folgenden oft genug im Vordergrund stehen. Er bleibt für die Gesamtkonzeption dieser Studien, wie vorn ausgeführt worden ist, ein Basisprozeß der deutschen Gesellschaftsgeschichte. Seine Wirkungsmacht besitzt einen historisch beispiellosen Charakter. Dennoch sind im Sinne der Gleichberechtigung von Ökonomie, Herrschaft und Kultur diejenigen Gründe stärker, die dagegen sprechen, ihn von Anfang an als den einzigen roten Faden der Darstellung zu behandeln. Offensichtlich setzte der säkulare Prozeß des Bevölkerungswachstums auch in Deutschland bereits vor der Mitte des 18. Jahrhunderts ein. Ebenso begann die allmähliche Modernisierung der Landwirtschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert, sie erfaßte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts größere Bereiche des dominierenden Sektors einer Gesellschaft, die noch immer primär Agrargesellschaft war; sie befestigte das ökonomische Fundament der vorindustriellen Elite des grundbesitzenden Adels und verschaffte diesem wirtschaftliche und soziopolitische Entwicklungsmöglichkeiten bis weit in das industrielle Zeitalter hinein. Die sozialen Strukturen der deutschen Territorialgesellschaften waren spätestens seit dem 18. Jahrhundert in einem tiefen Wandel begriffen, der bald nach der Jahrhundertwende noch einmal beschleunigt wurde. Vor dem „Großen Spurt“ (Gerschenkron) des Industriekapitalismus hoben sich die Konturen des Übergangs von der traditionalen Ständegesellschaft zur Klassengesellschaft deutlich ab. Das Vordringen „marktbedingter“ und schließlich „sozialer Klassen“ kann, wie erläutert, als „Maßstab dieser Modernisierung“ der Gesellschaft gelten. Diese und verwandte Prozesse können, ja müssen als unmittelbare oder vermittelte Folgen des Kapitalismus begriffen werden, andere aber entziehen sich dieser Deutung, verweisen vielmehr auf eigene Überlieferungen, Triebkräfte, Bedingungen. Die fortschreitende Staatsbildung gehört dazu, auch der Bürokrati-
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sierungsprozeß, der im 18. Jahrhundert in wesentlichen Grundzügen bereits zu erkennen ist; in den 1840er Jahren hatte er in allen größeren deutschen Staaten wichtige Etappen bereits hinter sich gebracht. Dieser „Fortschritt zum bürokratischen, auf Anstellung, Gehalt, Pension, Avancement, fachmäßiger Schulung und Arbeitsteilung, festen Kompetenzen, Aktenmäßigkeit, hierarchischer Unter- und Überordnung beruhenden Beamtentum“ kann als ein „eindeutiger Maßstab der Modernisierung des Staates“ gelten.12 Und nicht nur das: Mit der Bürokratisierung, deren Ambivalenz noch herauszuarbeiten bleibt, war längst vor der Mitte des 19. Jahrhunderts einer der wahrhaft universellen Organisationstrends der modernen Geschichte in unaufhaltsamem Vordringen begriffen. Die großen Rechtskodifikationen am Ausgang des 18. Jahrhunderts und im frühen 19. Jahrhundert führten zusammen mit dem Aufbau einer eigenen Justizverwaltung ungeachtet aller rückwärts gewandten Züge Elemente einer Modernität ein, die sich als ungemein folgenreich erweisen sollte – sei es für die vom preußischen „Allgemeinen Landrecht“ normierte Sozialordnung oder für die von vielen Gesetzeswerken verbesserte rationale Vorauskalkulierbarkeit von Rechtssicherheit, wirtschaftlichem Verhalten und Funktionieren des Staatsapparats. Das gesamte Erziehungssystem befand sich seit dem 18. und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in zügiger Entwicklung, vor der Mitte des 19. Jahrhunderts waren wichtige Fundamente befestigt und Fortschritte konsolidiert. Das trifft besonders auf den Bereich der Universitäten zu. Wenn man Deutschland das „Weltzentrum“ der Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat nennen können, sind maßgebliche Grundlagen seiner Institutionen und Ausbildungsmethoden vorher gelegt worden.13 Und wenn es zutrifft, daß akademische Fachbildung wiederum spätestens seit dem 18. Jahrhundert gerade in Deutschland in ständig zunehmendem Maße eine der stärksten Kräfte sozialer Differenzierung und Klassenbildung wurde, war auch dieser Prozeß bis dahin in Gang gesetzt. Aufklärung und Rationalismus faßten im 18. Jahrhundert festen Fuß. Eine lebhaft räsonnierende „aufgeklärte“ Intelligenz unterwarf fast alle Traditionen einer „vernünftigen“ Kritik, die tendenziell jede Überlieferung auflöste. Das Forum einer bürgerlichen Öffentlichkeit wurde deutlich erkennbar. An den Hochschulen drang rationale Kritik in nahezu allen Bereichen kräftig voran. Der indirekte Einfluß der Französischen Revolution gab dem Emanzipationsdenken mächtigen Auftrieb, der direkte Einfluß der napoleonischen Kriege führte zu einem neuen Modernisierungsschub. All das wäre ausschließlich im Zusammenhang des deutschen Kapitalismus nicht angemessen erfaßbar. Außerdem war eine Grundproblematik des 19. und 20. Jahrhunderts bereits im 17./18. Jahrhundert voll ausgebildet: das Spannungsverhältnis zwischen den höher entwickelten Pioniergesellschaften Westeuropas und den Nachfolgeländern des deutschsprachigen Mitteleuropa, die in immer erneuten Anstrengungen den Abstand zu vermindern suchten. Last not least aber hatte sich – um einen Katalog, der durchaus noch
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verlängert werden könnte, abzukürzen – kapitalistisches Wirtschaften in rational kalkulierenden, nach Gewinn und Rentabilität strebenden Dauerbetrieben in Landwirtschaft und Gewerbe, Handel und Bankwesen ständig weiterentwickelt. Dieser „Fortschritt zum Kapitalismus seit dem Mittelalter“ kann als „eindeutiger Maßstab der Modernisierung der Wirtschaft“ verstanden werden, obwohl es genauso irreführend wäre, anstelle des Industriekapitalismus die allgemeine Entwicklung des Kapitalismus zum einzigen Strukturierungskern der Darstellung zu machen.14 Fast jede Fixierung eines historischen Anfangsdatums – das gilt auch für die Einführung in Teil I – bricht den prinzipiell weiter fortführbaren Rückgriff ab und rationalisiert gewaltige heterogene Verursachungskomplexe zu einigen dominierenden Grundbedingungen. Ohne dies Verfahren führte jeder Rückblick sehr bald auf die griechische Polis, die jüdischen Propheten oder gar allgemeine Evolutionsbedingungen seit der Frühgeschichte der Menschheit zurück. Aus den angeführten Gründen dürfte jedoch hervorgehen, warum die Entscheidung, nicht mit der deutschen Industriellen Revolution, sondern bereits mit der breiteren Modernisierung zentraler Entwicklungsbereiche bis zum Ende des 18. Jahrhunderts einzusetzen, gefällt worden ist, auch wenn später der knappe Aufriß der Probleme diesen Versuch essayistisch wirken läßt. Richtig bleibt, daß die deutsche Industrielle Revolution seit 1845, die Agrarkrise von 1845 bis 1847 und die Revolution von 1848/49 zusammengenommen definitiv das Ende des seit den Merowingern anhaltenden tausendjährigen Feudalzeitalters signalisieren. Insofern liegt eine Epochenzäsur der neueren deutschen Geschichte in den 1840er Jahren. Die Entwicklung his dahin wird auch im Rahmen dieser Darstellung zur „Vorgeschichte“. Dieser Vorgeschichte gilt jedenfalls die zweite Frage, die den Stellenwert wichtiger Entwicklungen auf die Moderne hin inmitten einer noch weithin traditionalen Gesellschaft auszumachen bemüht ist. 3. In den vorn skizzierten Rechtfertigungsgründen sind schon einige weitere Fragen angeklungen. Welche Entwicklungen in der Bevölkerungsgeschichte, Wirtschaft und Sozialstruktur, im Staatsapparat und Bildungssektor müssen herausgearbeitet werden, um die Umbruchphase vor 1815 in wesentlichen Grundzügen zu erfassen? Wie verändern sich Gesellschaft, Wirtschaft und politische Herrschaft in den deutschen Staaten des ausgehenden Ancien Régime unter dem Druck der inneren Dynamik, welche äußeren Einflüsse treiben das Schwungrad der Entwicklung mit voran? Welche Bedeutung ist der „Defensiven Modernisierung“ von Rheinbund und Preußen im Zeitalter der napoleonischen Kriege zuzusprechen? 4. Mit diesen Fragen wird ein Dauerthema der neueren deutschen Geschichte angeschnitten: das Problem des Mischungsverhältnisses traditionaler und moderner Elemente. Zweifellos handelt es sich dabei um ein allgemeines Problem aller Gesellschaften auf dem Wege in die moderne Welt, aber die
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historische Natur der Legierung von Alt und Neu steht dabei jeweils zur Debatte. Offenbar ist im Hinblick auf Deutschland die spannungsreiche Verbindung dieser Elemente besonders untersuchungswürdig. Lassen sich in diesem Zusammenhang soziale Ungleichheit und wirtschaftliche Entwicklung, aber auch die Revolution von 1848/49, die Reichsgründung, das politische System des Kaiserreichs, überhaupt die Legitimationsprobleme politischer Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert angemessen erörtern? Hier ist auch der Ort, um darauf hinzuweisen, daß an geeigneter Stelle in komparativer Perspektive argumentiert werden soll. Denn erst der internationale Vergleich bietet die Möglichkeit, die Frage nach Gemeinsamkeiten der Entwicklung oder dem singulären Charakter der Phänomene genauer zu klären. 5. Die spezifische Eigenart der Verbindung oder Koexistenz, der Verschmelzung oder Autonomie von traditionalen und modernen Faktoren wird in einem schlechterdings grundlegenden Sinn durch die rapide Entwicklung des Industriekapitalismus seit den 1840er Jahren verändert, umgeprägt, verschärft. Konjunkturen und Krisen, Wachstum und Wirkung der Industrie gilt daher das Interesse ganz so wie den Veränderungen der Sozialverfassung und den neuartigen Steuerungsaufgaben der Politik. Wie verändert sich das System der sozialen Ungleichheit als Ganzes, wie verändern sich Schichten und Klassen in ihm? Welche Ursachen, Strukturen, Wandlungsprozesse, Konflikte, Konsequenzen spielen dabei eine wichtige Rolle? Wie verändert sich politische Herrschaft im Netzwerk neuer ökonomischer Bedingungen? Haben wir mit diesem durch den siegreichen Industriekapitalismus zugespitzten Spannungsverhältnis zwischen traditionalen und modernen Elementen eine Grundstruktur der deutschen Geschichte in dem Jahrhundert zwischen dem Beginn der Industriellen Revolution um 1845 und der Zerschlagung Ostelbiens durch die Rote Armee im Jahre 1945 vor uns? 6. Warum bahnt sich seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts der Aufstieg des Organisierten Kapitalismus und Interventionsstaates an, ehe er seit dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts zur Dominanz gelangt? In welchen Stufen vollzog sich diese Entwicklung? Was bedeutet die qualitative Veränderung der Industriewirtschaft für diese selber, für Gesellschaft und Politik? Wie und in welchem Ausmaß hat dieses neue Evolutionsniveau des Industriekapitalismus die Herrschaftsstrukturen verändert? Wie hängen politische Legitimationskrisen mit diesem Entwicklungsgang zusammen? Wie haben sich historische Traditionen von teilweise vorindustrieller Herkunft weiter ausgewirkt? 7. Solche Fragen führen zu einem weiteren zentralen Problem: Wo liegen die historischen Ursprünge des Nationalsozialismus? Welche Bedingungen haben seine soziale Basis, seine Programmatik, seine Anziehungskraft bis zur „Machtergreifung“ bestimmt? Wie steht es um Kontinuität und Diskon-
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tinuität in der neueren deutschen Geschichte? Ist die Diskontinuität dank Weltkrieg und Hitler-Bewegung dominant? Was war das Wesen der charismatischen Herrschaft bis 1945? Veränderten sich Wirtschaft und Gesellschaft unter der totalitären Diktatur? In welcher Richtung und in welchem Ausmaß vollzog sich ein Wandel? Wo liefen ältere Trends weiter? 8. Ebenso müßte im Hinblick auf die Zeit seit 1945/49 nach den Grundlagen des demokratischen Rechts- und Sozialstaats in Westdeutschland gefragt werden. Wie verhalten sich seither Tradition und Modernität? Welche Entwicklungstendenzen bestimmen Industriewirtschaft und Gesellschaft? Was ist die Legitimationsbasis der Bundesrepublik, und wie haben sich die Strukturen und Prozesse politischer Herrschaft seit 1949 entwickelt? Einige dieser Probleme orientieren sich chronologisch an einem kurzen Verlaufsprozeß. Andere ziehen sich durch hundert, ja mehrere hundert Jahre deutscher und europäischer Geschichte hindurch. Sie dürfen daher nicht mit einer eng zeitgebundenen Konfiguration verwechselt werden. Ständig sollen aber die erkenntnisleitenden Interessen auf die Probleme der sozialen Ungleichheit, der privaten und öffentlichen Elemente in der Wirtschaftsentwicklung, der Struktur und Kontrolle politischer Herrschaft, der soziopolitischen Bedingungen kultureller Phänomene hinlenken.
4. T HEORIEANGEBOTE
FÜR EINE
S YNTHESE
Diese Fragen umschreiben ein überaus anspruchsvolles Programm. Wahrscheinlich kann es, soviel ist von vornherein zu vermuten, nur in Ansätzen, in einigen Richtungen, in manchen Bereichen besser als anderswo, verwirklicht werden. Aber wenn man das Programm einmal als solches akzeptiert, drängt sich die Frage unmittelbar auf, welche vereinheitlichenden theoretischen Konzeptionen dabei behilflich sein können, ein fast uferlos wirkendes Interessengebiet sinnvoll zu begrenzen und die inhaltlichen Probleme so zu strukturieren, daß die wichtigsten von ihnen tatsächlich erfaßt und analysiert werden können. Offenbar verleiht die Absicht einer Synthese, die langlebige Prozesse und Strukturen einer Gesellschaft, Kontinuität und Bruch, Beharrung und neuen Anfang gleichermaßen erfassen will, dieser Frage eine unabweisbare Dringlichkeit. Es gibt einige Ansätze, die den Anspruch auf Synthesefähigkeit explizit erheben oder diesen doch implizieren. Freilich wirkt es nicht ermutigend, festzustellen, wie schmal das Angebot aussieht. Außerdem besitzen alle Ansätze deutlich erkennbare Grenzen, die im Hinblick auf die genannten Probleme manche Erwartung enttäuschen. 1. Blickt man zuerst auf die Geschichtswissenschaft, sind vor allem zwei Konzeptionen zu erkennen, die sich auf den Prozeß der Staatsbildung und die Ausformung des Nationalstaats beziehen. Für viele Generationen von
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Historikern ist die Ausbildung des modernen institutionalisierten Flächenstaats das Leitthema gewesen, das sie, ausdrücklich oder unausgesprochen, in ihren Arbeiten verfolgt haben. Ohne Zweifel handelt es sich dabei um einen, auch sozialgeschichtlich, fundamental wichtigen Entwicklungsprozeß. Aber gleichzeitig wird man einzuräumen haben, daß Politik- und Verfassungsgeschichte, obwohl manchmal nicht eng verstanden, die Szene beherrschten. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte traten im Vergleich damit gewöhnlich deutlich zurück. Vor allem aber wurde die Staatsbildung oder die Entwicklung neuartiger Staatsfunktionen im allgemeinen weder konsequent durch das 19. und 20. Jahrhundert hindurch verfolgt noch so reflektiert, daß man heute ohne weiteres darauf zurückgreifen könnte. Von Ausnahmeerscheinungen wie Schmoller und Hintze läßt sich natürlich für die Phase vom 16. bis zum 19. Jahrhundert unentwegt viel lernen, so daß in den ersten Teilen auf sie zurückgegriffen werden kann. Ähnlich kann man die Beschäftigung mit dem Aufstieg des modernen Nationalstaats beurteilen. Von Ideen- und Politikgeschichte ist da viel die Rede. Wo aber bleibt das Wachstum des Kapitalismus oder der Wandel der sozialen Strukturen? In den Brennpunkt wird in beiden Fällen staatliche Politik mit ihren Antriebskräften gerückt. Wirtschaft und Gesellschaft erscheinen allenfalls in der Perspektive der politischen Einflüsse, die auf sie einwirken. Das mag die Wirkungsmacht widerspiegeln, die neuzeitliche Gebietsherrschaft und schließlich der nationale Staat auch in Deutschland ausgestrahlt haben. Zugleich folgt daraus aber eine zu starke Präjudizierung, die mit meinen Interessen nicht unmittelbar vereinbar ist.15 2. Sieht man zur Rechtswissenschaft hinüber, wird man die Konzeption des Verfassungsstaats und des Parteienstaats einschließlich ihrer Entartungsformen nennen können. Während die eine verfolgt, wie sich der konstitutionelle Staat mit seinen Institutionen und normativen Regeln entfaltet, bevorzugt die andere eine bestimmte qualitative Veränderung im Gebäude des modernen Staates so sehr, daß ihr der Rang eines Epochennamens zuerkannt wird. Beide Theoreme sind noch enger als die in der Historiographie üblichen angelegt. Sie blenden noch häufiger die Sozialökonomie aus. Sie versprechen daher an dieser Stelle a limine noch weniger Vorzüge. 3. In der Wirtschaftswissenschaft hat die neoklassische Theorie die moderne Wachstumslehre anzubieten. Sie könnte zwar Industrialisierung als ökonomischen und soziopolitischen Vorgang ziemlich weit fassen. Aber praktisch ist sie an dem ausdifferenzierten Subsystem der westlichen modernen Industriewirtschaften ausgebildet worden, und sie bleibt in vielfältiger Weise auf es bezogen. Soziale und politische Faktoren werden oft vernachlässigt, vielleicht mit Hilfe der Ceteris-Paribus-Klausel ganz in die vorgegebenen Rahmenbedingungen abgeschoben. Eine solche Behauptung tut allerdings einigen Strömungen der neueren Politischen Ökonomie unrecht, die aus den
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Mängeln der neoklassischen Wachstumstheorie ihre Konsequenzen zu ziehen versucht.16 Von einer gleichgewichtigen Berücksichtigung der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeitsbereiche neben der Wirtschaft wird man jedoch auch da nicht sprechen können. Diese Spezialisierung ist für eine Sektorwissenschaft völlig legitim, ja Bedingung ihres Fortschritts, obschon keine Empfehlung für die hier verfolgten Absichten. Überhaupt bestünde, wenn man allein von einer Industrialisierungstheorie für die geplante Synthese ausginge, eine potentielle Gefahr darin, daß die Probleme ökonomistisch verkürzt, vor allem der politischen Herrschaft und kulturellen Erscheinungen die Gleichberechtigung und ihr Eigengewicht verweigert werden könnten. Schon deshalb empfiehlt es sich, einen umfassenderen Ansatz mit mehreren Brennpunkten zu wählen. 4. Die Soziologie könnte vom System der sozialen Ungleichheit her eine umfassende Konzeption entwickeln, die weder ökonomische noch politische oder kulturelle Faktoren ausschlösse, sondern sie notwendig einbeziehen müßte. Das wäre jedenfalls denkbar, im Prinzip richtig und vermutlich auch praktisch ausführbar. Dennoch gibt es bislang erst wenige überzeugende Versuche, vielmehr beherrschen zahlreiche Detailstudien mit völlig verschiedenen Begriffen und Zielen dieses Feld, das nur sehr selten als Ganzes behandelt wird.17 Vielleicht wird man den einen oder anderen Ansatz noch nennen können. (Auf die Globaltheorien des Historischen Materialismus und der Modernisierungsforschung bin ich an anderer Stelle ausführlicher eingegangen.) Aber insgesamt ergibt ein derartiger Überblick, daß sich diese Konzepte entweder auf Prozesse erstrecken, die hier nicht in den Mittelpunkt treten sollen, oder aber Einseitigkeiten, methodische und empirische Nachteile aufweisen, die es nicht geraten erscheinen lassen, der beabsichtigten Synthese eines dieser Interpretationsmodelle allein zugrunde zu legen.
5. G ESELLSCHAFTSGESCHICHTE
ALS
„P ARADIGMA “
Daher empfiehlt es sich, eine andere Denkfigur einzuführen: Gesellschaftsgeschichte kann als ein lohnendes „Paradigma“ der Geschichtswissenschaft verstanden werden. Thomas Kuhn hat diesem Begriff in den vergangenen Jahren Geltung verschafft, er ist zwar als Sammelbegriff mehrdeutig geblieben, aber man kann auf eine seiner Hauptbedeutungen rekurrieren. Als Paradigma wird danach diejenige exemplarische Problemlösung verstanden, die das Wissen in bestimmten Bereichen um einige Schwerpunkte herum einleuchtend organisiert und die für erklärungswürdig gehaltenen Probleme hinreichend erklärt, bis neue Fragen und Kenntnisse eine Krise des etablierten Paradigmas auslösen, die schließlich dazu führt, daß es durch ein anderes Paradigma ersetzt wird. Mit anderen Worten: Auf die Herausforderung,
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die von veränderten Interessen und neuen Forschungsergebnissen repräsentiert wird, versuchen Wissenschaftler verschiedene Problemlösungsvorschläge als Antwort zu geben. Aus diesen schält sich nach unbestimmter Zeit im sogenannten Paradigmawechsel ein neues Paradigma heraus, das der veränderten Konstellation besser gerecht zu werden verspricht.18 Obwohl Kuhn seine Paradigmenlehre ursprünglich aus der Geschichte der naturwissenschaftlichen Theoriebildung entwickelt hat, ist die Nützlichkeit des Konzepts inzwischen auch in verschiedenen Humanwissenschaften erkannt worden. Im übertragenen Sinn kann man etwa die Vorstellungen vom „Primat der Außenpolitik“ oder von der gesellschaftsprägenden Bedeutung der „Frontier“, der nach Westen wandernden Siedlergrenze in der amerikanischen Geschichte, als Paradigmen verstehen. Sie haben historische Kenntnisse um diese Brennpunkte angeordnet und Probleme, die für ihre Verfechter im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen, so lange zu erklären vermocht, bis der Konsens über die Überzeugungskraft dieser Lösungsmodelle zerbrach. Im Zeichen einer solchen Umorientierung, die mit ihrem Dissens den Paradigmawechsel zu begleiten pflegt, steht auch seit längerem ein Gutteil der Debatten unter Historikern der Bundesrepublik. Ältere Konzeptionen wie Staatsbildung, Aufstieg des Nationalstaats, Primat der Außenpolitik können angesichts veränderter theoretischer Bedürfnisse und empirischer Kenntnisse die neuen Interessen nicht mehr befriedigen. Die anhaltende Diskussion über die Bedeutung und Funktion von Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, von Struktur- und Gesellschaftsgeschichte enthüllt die Suche nach neuen Leitvorstellungen. Unter diesen Umständen liegt es nahe, die Geschichte einer Gesamtgesellschaft, wie sie sich entlang ihren zentralen Achsen im zeitlichen Ablauf verfolgen läßt, als ein attraktives Paradigma zu verstehen. Denn in der Gesellschaftsgeschichte können einmal die Interessen einer zeitgemäß betriebenen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, aber auch einer modernen Politik- und Kulturgeschichte konvergieren. Zum zweiten setzt sie programmatisch dem Bedürfnis nach Integration verschiedener Realitätsbereiche ein Ziel. Dieses Bedürfnis kann angesichts der anhaltenden Tendenz zur Spezialisierung, die jeden größeren historischen Komplex zu zerreißen droht, gar nicht ernst genug genommen werden. Als Kooperationsfeld mehrerer Wissenschaftsdisziplinen, vor allem aber als Entwurf einer möglichen Synthese, die an der Einheit der Geschichte festhält, scheint sich dieses Paradigma, dessen Konturen unten genauer ausgefüllt werden sollen, als Fernziel heute verfechten zu lassen. Unter seinem Dach ist nach alledem nicht nur für verschiedene wissenschaftliche Interessen Platz – sei es für die Industrialisierungs- und Schichtungsforschung, sei es für die Historische Anthropologie und Soziologie-, vielmehr ist deren Zusammenwirken, genau genommen, sogar erforderlich. Infolgedessen wird man auch auf dem Wege zu einer Gesellschaftsgeschichte auf unterschiedliche Theorieangebote zurückgreifen müssen und sie, wo
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es möglich ist, im Lichte der Zielvorstellung zu einem konsistenten Ansatz kombinieren.19 Warum eine moderne deutsche Gesellschaftsgeschichte in erster Linie auf Max Weber, aber auch auf Marx und frühere große Historiker wie Hintze, Schmoller, Sombart und andere zurückgreifen kann und soll, habe ich an anderer Stelle ausgeführt, wie auch die Anforderungen an eine historische Theorie, von der nun schon öfters die Rede gewesen ist, in idealtypisch zugespitzter Form bereits erörtert worden sind.20 Das braucht hier nicht noch einmal wiederholt zu werden. Deshalb nur noch eine Bemerkung zu dem mit diesen beiden Fragen – nach den „Gründungsvätern“ von Gesellschaftsgeschichte und dem Charakter historischer Theorien – zusammenhängenden Begriff von Geschichte als Historischer Sozialwissenschaft. Geschichte wird im Folgenden vor allem deshalb als Historische Sozialwissenschaft verstanden und zu praktizieren versucht, weil praktische Probleme es erforderlich machen: ob es Fragen der sozialen Ungleichheit, des ökonomischen Wachstums oder der politischen Legitimationsbasis sind, gerade diese „historische Wirklichkeit kann nur dann angemessen erfaßt und erforscht werden, wenn Theorien, Methoden und Fragestellungen“ der benachbarten Sozialwissenschaften in die Arbeit des Historikers einbezogen werden, um dort zu „einer eigenen kritisch reflektierten Begrifflichkeit und Theoriebildung“ beizutragen.21 Mit anderen Worten: Wenn es in der Geschichte sowohl um allgemeine Strukturen und Prozesse einerseits als auch um individuelle Handlungen und Entscheidungen andrerseits geht, sie mithin keineswegs in dem aufgeht, „was die Menschen wechselseitig intendieren“, kann eine Geschichtswissenschaft, die sich als Historische Sozialwissenschaft begreift, unter den theoretischen Gesichtspunkten von heute wichtige strukturelle Rahmenbedingungen und prozessuale Entwicklungen herausarbeiten helfen, die an sich wissenswert sind, zugleich aber dem intentionalen Handeln von Einzelnen oder Gruppen schwer überschreitbare Grenzen setzen und auch deshalb „verstanden“ werden müssen. Erst wenn die Wechselwirkungen zwischen diesen „Umständen“, welche „die Menschen“ prägen, und den „Menschen“, welche „die Umstände machen“, genauer erfaßt werden, können wir Gesellschaftsgeschichte besser begreifen.22
6. D ER AUFBAU
DES
B UCHES
Das Werk ist chronologisch und nach Sachgesichtspunkten untergliedert. Die Bände I und II verfolgen die Entwicklung vom Mittelalter, vor allem vom 17./18. Jahrhundert bis 1849, die Bände III und IV von 1849 bis 1918 und von 1919 bis 1949. Die Periodisierung einer so langen Zeitspanne wirft wegen der spezifischen Interessen, die hier verfolgt werden, besondere Probleme auf, denn Entwicklungsphasen der sozialen Prozesse oder des Wirtschaftswachstums lassen sich nur selten mit den markanten politischen Daten in Übereinstim-
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mung bringen. Manchmal eignen sich jedoch allgemein durchgreifende Epochenzäsuren dafür, z. B. 1845/1848, 1871/1873, 1933, 1945/1949. Insofern stellt das Periodisierungsschema einen Kompromiß dar, da es die Einteilung nach sozialökonomischen Kriterien mit bekannten politischen Einschnitten zu verbinden sucht. Innerhalb der einzelnen Kapitel richtet sich die Untergliederung nach Sachgesichtspunkten. In der Regel stehen Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung am Anfang, ehe Probleme der sozialen Ungleichheit, politischen Herrschaft und Kultur erörtert werden. Da wesentliche gesellschaftliche Formationen sozioökonomisch definiert werden, verbindet sich die Sozialgeschichte eng mit der Wirtschaftsgeschichte. Funktionsverbände wie Bürokratie und Militär werden im Zusammenhang des politischen Herrschaftssystems untersucht. Knotenpunkte der historischen Entwicklung bieten die Gelegenheit, Tempo, Richtung und Wirkung wichtiger Prozesse noch einmal zusammenfassend zu analysieren. Auf diese Weise soll der Bewegungscharakter moderner Geschichte noch einmal unterstrichen werden. Obwohl die Orientierung an Sachgesichtspunkten ein höheres Maß an Klarheit als der streng chronologische Ereignisbericht verschafft, besteht doch der Preis leicht in einem Einfrieren der Prozesse zugunsten der Strukturen oder relativ statischer Querschnitte. Ob die Darstellung sowohl der Bewegung als auch der Beharrung, sowohl dem Prozeß als auch der Struktur gerecht zu werden vermag, darüber wird erst der Gesamteindruck entscheiden. Wenn die Sachgesichtspunkte zu Beginn der Kapitel vorgestellt werden, bietet sich auch die beste Gelegenheit, auf die Frage nach den jeweils angemessenen Konzeptionen einzugehen; sie auch noch in der „Einleitung“ zu diskutieren, würde diese nicht nur noch mehr befrachten, sondern auch einen zu großen Abstand zwischen solchen Erörterungen und den Realproblemen entstehen lassen. Zugleich können auf diese Weise auch noch allgemeine Vorüberlegungen der „Einleitung“ konkretisiert werden. Das Buch läßt die Bemühung deutlich erkennen, zwei gemeinhin widerstreitende Absichten zu verbinden. Zum ersten will es eine problemorientierte Darstellung bieten, welche die Beschreibung wichtiger Probleme mit analytischer Reflexion und Interpretation verknüpft; dafür genügten Belege für die Zitate und Zahlenangaben. Zum zweiten gibt es jedoch auch einen handbuchartigen Überblick, dessen einzelne Kapitel je für sich studiert werden können. Zu diesem Zweck enthalten die Anmerkungen eine Auswahl der wichtigsten Literatur, um genauere Orientierung und weiteres Nachlesen zu ermöglichen. Diese Kombination mag gewisse Spannungen erzeugen, sie ist jedoch bewußt gewählt worden, um die Nützlichkeit dieses Grundrisses zu erhöhen. Im ersten Teil wird ein Panorama wesentlicher Grundbedingungen der deutschen Geschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, bis hin zur napoleonischen Revolution in den deutschen Staaten, entworfen. Um dem Leser, der mit dem Gegenstand nicht enger vertraut ist, die Lektüre zu erleich-
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tern, dringt die Darstellung von einigen vermutlich eher bekannten Bedingungen allmählich zu den inneren Entwicklungen vor, die mit schwierigeren Fragen verknüpft sind. Erst nachdem maßgebliche Traditionen und endogene Antriebskräfte zugespitzt charakterisiert worden sind, kann der tiefe Einschnitt des revolutionären Zeitalters, mithin auch der Einfluß exogener Faktoren auf die „Defensive Modernisierung“ deutscher Staaten angemessen dargestellt und beurteilt werden. Dieser erste Teil ist vor allem dafür gedacht, in einem komprimierten Üherhlick den historischen Umriß der Schwellenzeit zu Beginn des beschleunigten Übergangs in die moderne Welt zu zeichnen. Zugleich kommt aber teilweise schon in ihm, erst recht dann mit den folgenden Teilen die ausführlichere historische Analyse zum Zuge.
ANMERKUNGEN Vorwort 1 2
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H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jh., 5 Bde, Leipzig 1879-94 u. ö./Königstein 1981. F. Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jh., 4 Bde, Freiburg 1929-37 u. ö. München 1987 – Schnabel benötigte für die Zeit bis in die 1840er Jahre rd. 2125, Treitschke für denselben Zeitraum sogar rd. 3640 Seiten. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 7 Bde, Stuttgart 195784 u. ö. Viel gelesen worden ist Golo Manns Darstellung (Deutsche Geschichte im 19. u. 20. Jh., Frankfurt 1958 u. ö.): dezidiert im Urteil, doch verständnisvoll; ironisch, wo nötig, und in den biographischen Vignetten schwer zu überbieten, aber aufs Ganze gesehen und mit Absicht eher ein glänzender Essay als ein fachwissenschaftlich fundierter Überblick mit neuen Forschungsinteressen und Erkenntniszielen. Etwas später hat Hajo Holborn (A History of Modern Germany, 3 Bde, N.Y. 1959-69; dt. Deutsche Geschichte in der Neuzeit, 3 Bde, München 1970-71/Frankfurt 1981) seine Überblicksvorlesungen zur neueren deutschen Geschichte in drei Bänden ausgearbeitet, die vom Spätmittelalter bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts führen: sicher in der Linienführung, die Politik ins Zentrum rückend, aber nicht mehr auf der Höhe der Schaffenskraft, vielmehr im Schatten des Todes abgeschlossen und eindeutig als Einführung für englischsprechende Leser konzipiert. T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt u. starker Staat, München 1983/1985³. Vgl. meine Rezension in: Die Zeit 14.10.1983; Merkur 38. 1984, 568-73; auch in: H.-U. Wehler, Aus der Geschichte lernen? München 1988. Im Rahmen der „Oxford History of Modern Europe“ erscheint demn.: J. J. Sheehan, Germany 1789-1866. – Auch in der DDR ist, abgesehen von dem Pendant zu westdeutschen Handbüchern (J. Streisand u. a. Hg., Lehrbuch der deutschen Geschichte, Beiträge, 12 Bde, Berlin 1961-70 u. ö.; Deutsche Geschichte 3 Bde, ebd. 1965-68 u. ö.; Deutsche Geschichte in 12 Bden, bisher I-IV, ebd. 1982 ff. [hier III: 1740er Jahre bis 1789, 1983; IV: 1789-1871, 1984]) ebensowenig
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eine derartige moderne Gesamtdarstellung der neueren deutschen Geschichte von einem einzelnen Historiker erschienen (denn J. Streisand, Deutsche Geschichte in einem Band, ebd. 1974³, gehört gewiß nicht dazu) wie in Österreich oder in der Schweiz. Schnabel I, V (Vorwort zur ersten Aufl. 1929). Wem die „Einleitung“ trotzdem zu abstrakt erscheint, kann unmittelbar zu Teil I übergehen, wo Darstellung und Analyse beginnen. – Wenn im Folgenden fremdsprachige Studien herangezogen werden, wird stets, sofern diese Wahlchance besteht, eine bequem zugängliche englische Ausgabe bevorzugt. Vgl. zur Sozialgeschichte die Literatur in: H.-U. Wehler, Bibliographie zur modernen deutschen Sozialgeschichte, 18.-20. Jh., (=BS, vgl. das Abkürzungsverzeichnis im Anhang, S. 665), Göttingen 1976, 15-21; sowie E. Sagarra, A Social History of Germany, 1648-1914, London 1977; W. Conze, Sozialgeschichte 1800-1850, 1850-1918, W. Zorn, dass. 1918-1970, in: Handbuch der Deutschen Wirtschafts- u. Sozialgeschichte (=HWS), Hg. H. Aubin u. W. Zorn II, Stuttgart 1976, 426-94, 602-84, 876-933; J. Gillis, The Development of European Society 1770-1870, Boston 1977. – Zur Wirtschaftsgeschichte die Literatur in: H.-U. Wehler, Bibliographie zur modernen deutschen Wirtschaftsgeschichte, 18.-20. Jh. (=BW), Göttingen 1976, 14-26; HWS I, 1971; II, 1976; K. Borchardt, Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 1985²; ders., Germany, 17001914, in: C. Cipolla Hg., Fontana Economic History of Europe (=FEHE, dt. ders. u. K. Borchardt Hg., Europ. Wirtschaftsgeschichte, 5 Bde, Stuttgart 1983-86²), lV/1, London 1975³, 76-160; dt. Die Industrielle Revolution in Deutschland, München 1972, u. in: ders. u. Cipolla Hg. IV, 1977, 135-202; A. Milward u. S. B. Saul, The Economic Development of Continental Europe 1780-1870, London 1973; dies., The Development of the Economies of Continental Europe 18501914, ebd. 1977. – Besser steht es um die Verfassungsgeschichte und die Geschichte staatlicher Politik. Vgl. die Literatur in: Huber I-VII (s. aber zum Gesamtwerk die Rez. von H. Boldt, in: Geschichte u. Gesellschaft [=GG] 11. 1985, 252-71); T. Schieder Hg., Handbuch der Europ. Geschichte (=HEG) V-VII / 1 u. 2, Stuttgart 1968/81; Gebhardt-Handbuch der Deutschen Geschichte III, Stuttgart 19709; IV / 1 u. 2, 19739/769; L. Just Hg., Handbuch der Deutschen Geschichte II-IV, Konstanz/Wiesbaden 1956-61; Streisand Hg., V-XII. Dazu unten jeweils die Literatur zu Beginn der Hauptteile und Kapitel. Ein persönlicher Grund für die Entscheidung, diesen Überblick anstelle einer besser überschaubaren Monographie im Bereich der Sozial- oder Wirtschaftsgeschichte in Angriff zu nehmen, liegt in der Vermutung, daß der einzige erkennbare Vorteil des Älterwerdens in unserem Beruf darin besteht, allmählich mehr gelesen und bessere Grundlagen für ein vergleichendes, zusammenfassendes Urteil gewonnen zu haben als ein jüngerer Wissenschaftler, der sich diesen Überblick noch nicht zutrauen mag, aber eine solche Monographie genauso gut übernehmen könnte. – Alle Urteile über den Stand der Diskussionen, die Leistungen der Historiographie, die Lücken der Forschung usw. spiegeln meine Kenntnisse zum Zeitpunkt der Drucklegung wider. Das mag eine Selbstverständlichkeit sein, sie kann aber auch folgenreiche Informationsmängel umschließen. Dennoch habe ich
128 | H ANS-ULRICH W EHLER nicht ständig die übliche Salvierungsklausel („soweit ich im Augenblick zu sehen vermag“) wiederholt. Im Folgenden werden die Belege und Nachweise gewöhnlich in der Reihenfolge derjenigen Stellen, die eines Belegs oder Verweises bedürfen, abschnittweise in den Anmerkungen zusammengefaßt. Dadurch wird dem Leser eine Vielzahl von Fußnoten erspart, während andrerseits Zitate, Thesen, statistische Angaben ziemlich mühelos aufgefunden werden können.
Einleitung 1
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J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Tübingen 1967, 179, 166 (Frankfurt 1970 u. ö.); G. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), München 19235, 67 f.; M. Weber, Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre (=WL), Tübingen 19734, 178; vgl. W. Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von M. Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979; ders., M. Webers Gesellschaftsgeschichte, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie (=KZfS) 30. 1978, 438-67; ders., Rationalismus der Weltbeherrschung, Frankfurt 1980; ders. u. G. Roth, M. Weber’s Vision of History, London 1979; ders. Hg., M. Webers Sicht des antiken Christentums, Frankfurt 1985; ders. Hg., M. Webers Studie über Hinduismus u. Buddhismus, ebd. 1984; ders. Hg., M. Webers Studie über Konfuzianismus u. Taoismus, ebd. 1983; ders. Hg., M. Webers Studie über das antike Judentum, ebd. 1981, J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns I, ebd. 1981, 225-366 (diese Schriften enthalten unter den oben betonten Gesichtspunkten eine vorzügliche Einführung). – Bekanntlich hat auch J. Burckhardt (Weltgeschichtl. Betrachtungen, Berlin 1929) hinsichtlich der wechselseitigen Beeinflussung seiner „historischen Potenzen“ ähnlich argumentiert. Vgl. allg. T. Nipperdey, Die anthropolog. Dimension der Geschichtswissenschaft, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, 33-58. – F. Braudel hat in „Civilization materiélle et Capitalisme“ (3 Bde, Paris 1979² engl. Civilization and Capitalism, 3 Bde, N.Y. 1981/84, dt. Sozialgeschichte des 15.-18.Jh., 3 Bde, München 1985/86) auch vier Ordnungssysteme (Wirtschaft, Politik, Kultur, „Sozialhierarchie“ ) eher locker, keineswegs streng systematisch zugrunde gelegt, vgl. II, 2, 409, 507-18; III, 63, 85; ders., Afterthoughts on Material Civilization and Capitalism, Baltimore 1981³, 64, 67 (dt. Die Dynamik des Kapitalismus, Stuttgart 1986), sowie S. Kinser, Annaliste Paradigm? The Geohistorical Structure of F. Braudel, in: American Historical Review (=AHR) 86. 1981, 91 f., 63-105; G. Roth, F. Braudel u. M. Weber, in: ders. u. Schluchter, 166-93, v. a. 183, Anm. 40. F. Engels an W. Borgius, 25.1.1894, in: Marx-Engels, Werke (=MEW), Bd. 39, Berlin 1968, 206, ähnlich öfters in den späten Briefen. – Bei J. Kocka, Sozialgeschichte – Strukturgeschichte – Gesellschaftsgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte (=AfS) 15. 1975, 1-42, findet sich eine klare Diskussion dieser Problematik; überarbeitet in: ders., Sozialgeschichte, Göttingen 1986², 48-111, 132-76, 217-46. Vgl. dagegen; H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, in: 2. Festschrift
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(=Fs.) W. Conze, Hg. W. Schieder u. V. Sellin I, Göttingen 1986, 33-52, auch in: ders., Aus der Geschichte lernen? E. J. Hobsbawm, From Social History to the History of Society, in: Daedalus 100. 1971, 20-45, dt. Von der Sozialgeschichte zur Geschichte der Gesellschaft, in: Geschichte u. Soziologie, Hg. H.-U. Wehler, Köln 1976²/Königstein 1984³, 331-53; P. Laslett, History and the Social Sciences, in: International Encyclopaedia of the Social Sciences (=IESS) 6. 1968, 434-40; dagegen L. Stone, History and the Social Sciences in the 20th Century, in: ders., The Past and the Present, Boston 1981, 3-43. – „Achse“ wird verwendet im Sinn etwa von A. Giddens, The Class Structure of the Advanced Societies, N.Y. 1975², 30, 96, 188, 294 (dt. Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften, Frankfurt 1984²) und von D. Bell, The Coming of Post-Industrial Society, N.Y. 1973, z. T. dt. Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt 1975, 27-29. Vgl. auch: F. Fürstenberg, Sozialstruktur als Schlüsselbegriff der Gesellschaftsanalyse, in: KZfS 18. 1966, 441, 443, 445f., 450-52; R. Mayntz, Sozialstruktur, in: Evangel. Staatslexikon, Stuttgart 1966, 2099-103. K. Marx, Das Kapital I, in: MEW, Bd. 23, 1962, 192. Fast gleichlautend die Formulierung bei: J. G. Droysen, Historik, Darmstadt 1974, 21. Als beste knappe Studie über die Entstehung der modernen Marktwirtschaft und -gesellschaft: K. Polanyi, The Great Transformation, Boston 19689, dt. dass., Wien 1977/Frankfurt 1978; vgl. D. C. Nonh, Markets and Other Allocative Systems in History: The Challenge of K. Polanyi, in: Journal of European Economic History (=JEEH) 6. 1977, 703-16. Die völlig neoklassisch orientierte IESS (17 Bde, N.Y. 1968) enthält nicht einmal einen kleinen Beitrag über „Markt“! Wegen ihrer Omnipräsenz und ihres Folgenreichtums wird soziale Ungleichheit in Teil 1, III eingehend erörtert. Im Zusammenhang dieser Überlegungen über die Hauptdimensionen von Gesellschaft und ihre Fusion in der Realität sollte vielleicht noch einmal eigens betont werden, daß viele soziale Institutionen und Abläufe eine gewisse Eigenständigkeit zu besitzen scheinen, tatsächlich aber gleichzeitig von Wirtschaft, Herrschaft und Kultur geprägt sind, sich daher auch einer linearen Zuordnung zu einer der Hauptachsen der Sozialstruktur schlichtweg entziehen. Zu denken ist dabei etwa an Familie und Sozialisation, Haushalt und Ehe, Adelssitz und Bauernhof usw. Diese sozialen Teilstrukturen und Prozesse gehen in den einzelnen ihrer verschiedenen Funktionen, ob sie nun ökonomischer, emotionaler, sexueller, rechtlicher oder kultureller Natur sind, nicht auf. Sie bündeln vielmehr eine Vielzahl von Funktionen wie in einem Mikrokosmos, der innerhalb historisch variierender Grenzen wieder auf Arbeitswelt, Politik, Freizeit, Mentalität zurückwirkt. Derartige: sozusagen koordinierende Einrichtungen überwiegen in der historischen Realität bei weitem die eindimensionalen; erst mit der modernen Ausdifferenzierung relativ scharf getrennter ökonomischer, politischer, sozialer Systeme wächst die Zahl der Institutionen und Aktionsfelder, die sich eindeutiger einer der drei genannten Dimensionen zuordnen lassen. Bei der Verortung gleich welcher Strukturen und Prozesse in der historischen Darstellung sind daher in der Regel zahlreiche Kompromisse oder Wiederholungen unumgänglich.
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Man könnte das Schema weiterhin dadurch vervollständigen, daß man die Außenbereiche einer Gesamtgesellschaft: Außenpolitik und Außenwirtschaft, ideelle, soziale und kulturelle Einflüsse gleichberechtigt mit einbezöge, so daß die Gesamtgesellschaft in ihren internationalen Kontext breit eingebettet würde. Da Innen- und Außenpolitik, Binnen- und Außenwirtschaft häufig nur aus analytischen Gründen getrennt werden, wäre diese Ausweitung nicht nur prinzipiell möglich, sondern sie bedeutete auch einen zusätzlichen Komplexitätsgewinn und wäre schon deshalb zu begrüßen (vgl. H.-U. Wehler, Kritik u. kritische Antikritik, in: Histor. Zeitschrift [=HZ] 225. 1977, 362-84, auch in: ders., Krisenherde des Kaiserreichs 1871-1918, Göttingen 1979², 404-26). Obwohl hier Probleme der Außenbereiche häufig berücksichtigt werden – vor allem die Auswirkungen der strukturellen Differenzierung des internationalen Schichtungs- und Staatensystems – treten sie doch nicht als gleichrangige Themen zu den genannten Brennpunkten der Gesellschaftsgeschichte noch hinzu. Für diese Entscheidung lassen sich primär pragmatische Gründe anführen. Die intendierte Schwerpunktbildung, die, wissenschaftsgeschichtlich gesehen, mindestens zum Teil auch als Kritik an der Privilegierung von Diplomatiegeschichte und Außenpolitik gedacht ist, umschließt bereits genug komplizierte Probleme, die nicht noch vermehrt werden sollen, zumal zahlreiche schwierige Fragen durch die Interferenz oder die relative Autonomie von Innen- und Außenbereichen aufgeworfen werden. Der Zwang zur Beschränkung läßt sich daher wohl rechtfertigen, sie entspricht überdies meinen derzeitigen Interessen. Deshalb bleibt es dabei, daß z. B. im Zusammenhang mit Fragen der relativen Rückständigkeit, des Transfers industrieller Technologie, des Imperialismus, des Außenhandels auf diese Bereiche eingegangen wird, weil das in jeder Hinsicht unumgänglich ist, ohne daß sie jedoch voll in den Vordergrund treten. – Da hier erneut von methodischen Schwierigkeiten die Rede ist, sei noch einmal hinzugefügt, daß ich mir anderer schmerzhafter inhaltlicher Lücken der Analyse durchaus bewußt bin. Die Rechtsgeschichte etwa, damit die Geschichte einer der großen Ordnungsmächte des gesellschaftlichen Lebens, aber auch die Religionsgeschichte und andere Bereiche der Geistesgeschichte fehlen neben manchem anderen entweder ganz oder kommen doch, gemessen an meinen Wunschvorstellungen, viel zu kurz. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1961, 37; ders., Phänomenologie des Geistes, Berlin 1970, 15; A. Marshall, Memorials, Hg. A. C. Pigou, London 1925, 168. W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtl. Welt in den Geisteswissenschaften, Göttingen 19736, Ges. Schriften (=G.Sch.) 7, 233. Es mag überraschen, daß auch Ranke (R. Vierhaus, Rankes Verständnis der neuesten Geschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte [=AfK] 39. 1957, 84) einen ähnlichen Gesichtspunkt vor Augen hatte, als er u. a. das menschliche Urteil – und damit, zumindest implizit, auch das des Historikers – jeweils durch drei „Momente“ bestimmt sah: „Die Resultate der Vergangenheit, die Bedürfnisse der Gegenwart und die Voraussicht in die Zukunft“. – Der Begriff der erkenntnisleitenden Interessen ist seit J. Habermas Studien über „Erkenntnis u. Interesse“ (Frankfurt 1968 u. ö.) in den wissenschaftlichen Jargon eingedrungen, dort aber sofort zu den allgemeinen Absich-
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ten, die man bei wissenschaftlichen Arbeiten verfolgt, verwässert worden. Mit dem ganz spezifisch definierten Habermasschen Begriff lassen sich die folgenden Punkte wohl vereinbaren. 8 Vgl. J. Rüsen, Geschichte als Aufklärung, in: GG 7. 1981, 212 f., allg. 189-218; ders., Histor. Vernunft, Göttingen 1983; ders., Rekonstruktion der Vergangenheit, ebd. 1986 (=Grundzüge einer Historik I u. II); H.-U. Wehler, Moderne Politikgeschichte oder Große Politik der Kabinette?, in: GG 1. 1975, 344-69; überarbeitet in: ders., Krisenherde, 1979², 383-403. Anregend auch zur Aufwertung von Politikgeschichte: C. Meier, Der Alltag des Historikers u. die histor. Theorie, in: H. M. Baumgartner u. J. Rüsen Hg., Seminar: Geschichte u. Theorie, Frankfurt 1976, 36-58. 9 Zum Teil nach der bekannten Formulierung Max Webers in: ders.,Wirtschaft u. Gesellschaft (=WG), Tübingen 19564, 126, u. in: ders., Ges. Polit. Schriften (=PS), ebd. 1958², 308. Vgl. die Literatur über Herrschaft unten zu Beginn von Kapitel III. Ein allgemeines Plädoyer für den irreduziblen Kern von Politik z. B. bei: A. Gramsci, Der moderne „Fürst“, in: ders., Zu Politik, Geschichte u. Kultur, Frankfurt 1980, 251-58; ders., Briefe aus dem Kerker, Berlin 1956; R. Macridis, Comparative Politics and the Study of Government: The Search of Focus, in: Comparative Politics 1. 1968,79-90; S. P. Hays, American Political History as Social Analysis, Knoxville 1980, 98; ein richtiger Appell, der Eigenart von Politik gerecht zu werden, u. a. auch in den sonst flüchtigen und arroganten Aufsätzen von: G. Eley u. K. Nield, Why Does Social History Ignore Politics?, in: Social History (=SH) 5. 1980, 249-71; T. Judt, A Clown in Regal Purple: Social History and the Historians, in: History Workshop (=HW) 7. 1979, 66-94; E. FoxGenovese u. E. D. Genovese, The Political Crisis of Social History, in: Journal of Social History (=JSH) 10. 1976, 205-20, u. in: dies., Fruits of Merchant Capital, Oxford 1984, 179-212. Zum Folgenden: H.-U. Wehler, Aus der Geschichte lernen?, in: Aus der Geschichte lernen? 10 C. Hill, Intellectual Origins of the English Revolution, Oxford 1965, 3. 11 M. Weber, Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie (=AR) I, Tübingen 1947², 4 u. 203. 12 Ders., PS, 308. Eine Definition von Schlüsselbegriffen wie Feudalismus, Kapitalismus, Stand, Klasse usw. folgt unten an der Stelle der Darstellung, wo es passend erscheint (vgl. z. B. den Anfang von II. u. III.). Erläutert werden muß hier jedoch der Begriff der „Modernisierung“, der als handliche Abkürzung für ein Bündel miteinander verzahnter, z. T. relativ autonomer, zunächst nur okzidentaler Entwicklungsprozesse, die seit den Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts besonders gut sichtbar ablaufen, verwandt wird. Als Sammelbegriff soll er die vorschnelle Festlegung allein auf Kapitalismus, Industrialisierung oder Staatsbildung vermeiden helfen, obwohl er diese Komplexe nicht nur umfaßt, sondern in den Mittelpunkt stellt. Selbstverständlich darf der Ausdruck die Evolution auf das derzeitige Niveau westlicher Industrieländer auf keinen Fall nur als strahlenden Aufstieg idealisieren, wenn auch dieser optimistische Gegenwartsbezug für manchen im Sprachgebrauch mitschwingen wird. Voll satten Selbstbewußtseins zeitgenössische Zustände als das Non-plus-ultra der Gattungsge-
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schichte zu verklären, bringt den „Vested Interests“ viel, kritischen wissenschaftlichen Vorhaben aber gar nichts ein. Was man die „Dialektik der Aufklärung“ genannt hat, was als die prinzipielle Ambivalenz der Weberschen „Rationalisierung“ zu gelten hat, muß von der Analyse einer Entwicklung vorbehaltlos ernst genommen werden, die ein beispielloses Potential zur Verbesserung der Conditio Humana zusammen mit ebenso neuartigen Mitteln der Zerstörung bis hin zur völligen Vernichtung hervorgebracht hat. Modernisierung dient mithin als Kürzel, als Chiffre für einen in antiker Vergangenheit einsetzenden, breit aufgefächerten, einen ganzen Kulturkreis, schließlich die Welt insgesamt verändernden, widerspruchsvollen Transformationsprozeß voller Konflikte und Chancen, Vorzüge und Rückschläge, Fortschritte und Abstürze in die Barbarei. Richtungskriterien, die ein solches Evolutionskonzept erfordert, sind soeben vorn genannt worden. Natürlich bleibt es eine diskutierenswerte Frage, ob nicht ein derart verwendeter Begriff von Modernisierung, der so viele heterogene Faktoren und Abläufe in sich vereinigt, zudem die Herkunft aus Fortschrittsideen nicht leugnen kann, durch passendere Begriffe für diesen Transformationsprozeß ersetzt werden kann. Für die erforderliche Allgemeinheit anderer Begriffe wie Evolution oder Rationalisierung, kapitalistische oder wissenschaftlich-technologische Entwicklung zahlt man freilich m. E. einen vergleichbaren Preis an Mehrdeutigkeit oder Einseitigkeit. Vgl. hierzu ausführlicher: H.-U. Wehler, Vorüberlegungen zu einer modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte, in: D. Stegmann u. a. Hg., 2. Fs. F. Fischer, Bonn 1978, 3-20, u. in ders., Histor. Sozialwissenschaft u. Geschichtsschreibung, Göttingen 1980, 161-80; ders., Modernisierungstheorie u. Geschichte, ebd. 1975. Vgl. J. Ben-David, The Scientist’s Role in Society, Englewood Cliffs 1971. Weber, PS, 308. Vgl. die Überlegungen in: C. Tilly Hg., The Formation of National States in Western Europe, Princeton 1975; als komparative Studie: G. Pfeiffer, Bayern u. Brandenburg-Preußen, München 1984; von O. Hintze: Ges. Abhandlungen, Hg. G. Oestreich, 3 Bde, Göttingen 1962-67² u. ö.; von G. Schmoller z. B.: Umrisse u. Untersuchungen, Leipzig 1898/Hildesheim 1974; ders., Grundriß der Allg. Volkswirtschaftslehre, 2 Bde, Leipzig 1923². Ob das „Property Rights“-Paradigma, das einen herrschaftstheoretischen Ansatz (Verfügungsrechte) mit einem ökonomischen (Kostenkalkül) verbindet, eine Synthese begünstigen kann, bleibt noch abzuwarten. Vgl. hierzu: K. Borchardt, Der „Property Rights“-Ansatz in der Wirtschaftsgeschichte, in: J. Kocka Hg., Theorien in der Praxis des Historikers, Göttingen 1977 (=GG SoH. 3), 140-60; M. Hutter, Die Gestaltung von Property Rights als Mittel gesellschaftlichwirtschaftlicher Allokation, ebd. 1979; E. H. Furubotn u. G. Pejovich Hg., The Economics of Property Rights, Cambridge/Mass. 1974. Als lebhaft umstrittene historische Anwendung: D. C. North u. R. P. Thomas, The Rise of the Western World, Cambridge 1972. Ein neuer, noch weniger überzeugender Anlauf: North, Structure and Change in Economic History, N.Y. 1981, 71-186, 201-09; vgl. E. L. Jones, in: Economic Inquiry 12. 1974, 114-24; ders., A New Essay on West-
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ern Civilization and Its Economic Aspects, in: Australian Economic History Review 16. 1976, 95-109. Vgl. z. B. für die USA: P. M. Blau u. O. D. Duncan, The American Occupational Structure, N. Y. 1967, u. R. Hamilton, Class and Politics in the United States, N. Y. 1972; für England: H. J. Perkin, The Origins of Modern English Society, 1780-1800, London 1969 u. ö.; W. G. Runciman, Relative Deprivation and Social Justice, ebd. 1966 u. ö. – Seit T. Geigers frühem Versuch für die 1920er Jahre (Die Soziale Schichtung des Deutschen Volkes, Stuttgart 1932/1967²) gibt es für Deutschland vergleichbare Arbeiten nur über die Bundesrepublik; vgl. die Lit. in: BS, 15-21, 96-106, 259-61. Historische Gesamtanalysen, die in der Tat auf enorme konzeptionelle und praktische Schwierigkeiten treffen, fehlen noch völlig. – Zum folgenden Abschnitt vgl. meine Arbeiten in Anm. 12 u. 20. T. S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962, 1967²; dt. Die Struktur wissenschaftl. Revolutionen, Frankfurt 1967; vgl. ders., Die Suche nach dem Neuen, ebd. 1977. Kuhn hat in einer Antwort auf Kritiker betont (Reflections on My Critics, in: I. Lakatos u. A. Musgrave Hg., Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge 1970, dt. Kritik u. Erkenntnisfortschritt, Braunschweig 1974, 223-69. Vgl. auch sein Postscript zur 2. Aufl.; dt. in: P. Weingart Hg., Wissenschaftssoziologie I, Frankfurt 1972), daß sein „Paradigma“ vor allem zweierlei bedeute: 1. die „disziplinäre Matrix“ einer „Community of Scholars“, also das „gesamte Ensemble von Überzeugungen, Werten, Methoden ..., die von den Mitgliedern geteilt werden“; 2. das vorn im Text referierte Problemlösungsmodell. Dazu übersichtlich für Historiker: D. A. Hollinger, T. S. Kuhn’s Theory of Science and Its Implications for History, in: AHR 78. 1973, 370-93. Auf andere einflußreiche Gedankengänge von Kuhn (daß Wissen nicht kumulativ, sondern unter dem Einfluß der Paradigmata selektiv angesammelt werde; daß die Geltung der Paradigmata vom Konsens der „Community of Scholars“ abhänge; daß der Paradigmawechsel in revolutionären Brüchen erfolge usw.) braucht hier nicht eingegangen werden. Kritisch dazu: P. C. Ludz, T. S. Kuhns Paradigmathese, in: Fs. E. Topitsch, Tübingen 1979, 217-46. Diese Formulierungen verraten meine Skepsis gegenüber Behauptungen, daß z. B. der Historische Materialismus oder die Systemtheorie umstandslos übernehmbare Paradigmata zur Verfügung stellen könnten, obwohl das Konzept der Gesellschaftsformation oder bestimmte systemtheoretische Überlegungen auch für die Geschichtswissenschaft durchaus diskutabel sind, es jedenfalls sein sollten. Vgl. Wehler, Vorüberlegungen, 4-20; zur Gesellschaftsgeschichte vgl. noch einmal Kocka, in: ders., Sozialgeschichte, 48-111, und Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Knapper Problemaufriß: T. Nipperdey, Probleme der Modernisierung in Deutschland, in: Saeculum 30. 1979, 292-303, u. in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986, 44-59. Vgl. hierzu erneut: Schluchter, Entwicklung des okzidentalen Rationalismus; Habermas, Theorie I, 225-366; Wehler, Gesellschaftsgeschichte; ders., Vorüberlegungen, 4-20; ders., Anwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft, in: J. Kocka u. T. Nipperdey Hg., Theorie u. Erzählung in der Geschichte, München 1979, 17-39, auch in: Wehler, Histor. Sozialwissenschaft, 161-80, 206-23. –
134 | H ANS-ULRICH W EHLER Wenn Gunnar Myrdal es einmal bildkräftig als „das logische Kreuz aller Wissenschaft“ bezeichnet hat, daß sie „a priori“ theoretische Annahmen machen müsse, um überhaupt sinnvolle Fragen stellen zu können, die auf die „essentiellen Tatsachen“ hinwiesen (Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft, Hannover 1965², 236), ist dieses Problem, dem auf den ersten Blick auch die Geschichtswissenschaft gegenüber zu stehen scheint, hier im Lichte von Prämissen und Fragen erörtert worden, die den Leser über die Struktur der Darstellung vorläufig aufklären. Auch dieses Projekt beginnt natürlich nicht „ab ovo“: Es steht vielmehr im Zusammenhang einer langen Tradition der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, auch wenn es einen Perspektivenwechsel bevorzugt. Im Verlauf der Jahre, in denen ich mich mit neuerer Geschichte beschäftigt habe, sind Schwerpunkte gebildet worden, die bestimmte Vorentscheidungen darüber begünstigen, welche Probleme zur Zeit wichtiger wirken als andere. Erkenntnisleitende Interessen und offene Forschungsfragen leisten einen weiteren Selektionsdienst. Der gesamte Kontext, in dem sich diese Auswahl abspielt und der es, genaugenommen, ausschließt, Myrdals Begriff der „a-priori“-Annahmen zu übernehmen, kann jedoch nicht reproduziert, geschweige denn belegt werden. Und der „innere Monolog“ an theoretischen Erwägungen, der die Entstehung dieser Arbeit begleitet, braucht ebensowenig vor dem Leser wiederholt zu werden. Die Einleitung versucht, einige wesentliche Voraussetzungen zu nennen, weitere Auskunft vermitteln die Erörterungen zu Beginn der einzelnen Kapitel. So wird das Amalgam aus Entscheidungen, Fragestellungen und Kenntnissen, aus Problemwahl und Interessen hoffentlich deutlicher werden, um die kritische Stellungnahme oder Zustimmung zu erleichtern. 21 GG 1. 1975, 5. 22 Habermas, Logik, 116; MEW, 3. Bd., 38.
III. Sozialgeschichte als strukturanalytischer Zugang
Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte* T HEODOR S CHIEDER
I. Die Frage nach dem Menschen in der Geschichte ist die Frage nach der Geschichte überhaupt. Dieser Satz scheint eine einfache Wahrheit zu enthalten, über die nicht erst noch ein Konsens herbeizuführen sein wird, aber sind wir ganz frei von Zweifeln, wenn wir ihn sprechen? Vermögen wir noch so leichten Herzens die Welt des Menschen als die Welt der Geschichte von dem Reich der Natur als dem Reich jenseits und außerhalb der Geschichte zu trennen, wie das die großen Methodiker der Geisteswissenschaften bis zur Jahrhundertwende getan haben? Können wir noch das Pathos des Wortes „Persönlichkeit“ nachempfinden, wie es sich in der idealistischen Philosophie findet? Fast erscheint uns auf den ersten Blick ein Begriff wie Strukturen eingängiger, der die großen, alle Einzelmenschen überformenden Ordnungen und Gliederungen meint, ja geradezu bis zur Leugnung aller personalen Elemente vorgetrieben werden kann. Überdies rückt dieser in beinahe allen Wissenschaften kometenhaft aufsteigende Begriff Menschenwelt und Natur wieder näher aneinander und gibt uns ein Instrument in die Hand, um naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Phänomene einheitlich zu bezeichnen. So ist mehr und mehr die Sphäre der Persönlichkeit in die Ferne gerückt, während die Strukturen zu einem Zentralbegriff geworden sind. Dieser Wandel, der durch viele zeitgeschichtliche Umstände begünstigt wurde, wie noch zu zeigen sein wird, ist vielerorts, namentlich in den Sozialwissenschaften, als der Durchbruch zu qualitativ neuen Erkenntnissen, ja zur wahren wissenschaftlichen Methode gefeiert worden. In dem Augenblicke, in dem Geschichte auf berechenbare Größen mit quantifizierenden Methoden zurückgeführt, die vollständige Determinierung menschlichen Han*
Theodor Schieder, Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte, in: ders., Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung, 2. überarb. Aufl., München – Wien: R. Oldenbourg 1968, S. 157-194, S. 230-233.
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delns durch soziale Faktoren nachgewiesen wurde, sollte endgültig das alte Bild eines von einzelnen großen Menschen beherrschten Welttheaters zerstört und das wahre Menschsein in den dauernden Verhaltungsweisen des Alltags, des alltäglichen Menschen aufgesucht werden. „Le mystère de la durée"1 wird in den täglichen Gewohnheiten der vielen, in Gruppen existierenden Einzelnen entdeckt und gegen die fragwürdige Romantik großer Ereignisse, der évenements, gestellt, mit denen sich die Geschichte bisher beschäftigt habe. So vor allem hat es mit höchster Entdeckerfreude die neue Richtung der französischen Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg empfunden. Es mochte dabei noch offen bleiben, ob man nur ein heuristisches Prinzip entdeckt hatte, um die neue Welt der industriellen Revolution mit adäquaten Mitteln zu beschreiben, oder ein neues Prinzip für die Deutung jeder geschichtlichen Epoche überhaupt. Um in diesem Streit einen Standort zu finden, soll zunächst zweierlei festgehalten werden: 1. Unleugbar scheint die Bewertung persönlicher und unpersönlich-kollektivistischer Elemente in der Geschichte einem Wechsel unterworfen zu sein, der von verschiedenen Erfahrungen einzelner Epochen bestimmt wird. Zu diesen Erfahrungen gehören für uns die prägenden Strukturen der industriellen Gesellschaft, die Einengung der Sphäre personalherrschaftlicher Entscheidungen durch solche, die von einem, „allgemeinen Willen“ demokratischer Institutionen geformt sind. Ob dies allerdings die einzigen Erfahrungen sind, die uns die Geschichte unserer Zeit vermittelt hat, bleibt gleich noch als Frage stehen. 2. Gilt dies, so kann es sich bei dem Übergang des Geschichtsdenkens von den Persönlichkeiten zu den Strukturen nicht um einen „qualitativen Sprung“ handeln, höchstens um methodische Verschiebungen, wenn auch sicher von beträchtlicher Bedeutung. Es kann geradezu vorausgesetzt werden, daß jedes geschichtliche Denken das Zusammenwirken und den Zusammenstoß individuell-persönlicher und allgemein-überindividueller oder außermenschlicher Kräfte als eine Urtatsache vorfindet, die in verschiedenen Zeiten verschieden bewertet, aber immer als existent anerkannt wurde. Die verschiedene Bewertung dieser beiden Faktoren kann sowohl der Ausdruck eines sich wandelnden Bewußtseins wie auch eines sich verändernden Seins sein. Beides kann aufeinander wirken, ohne daß wir dogmatisch für alle Zeiten einen Vorrang des einen oder anderen annehmen dürfen. In der christlichen Geschichtsdeutung des Mittelalters ist das Handeln des Menschen dem Ratschluß Gottes unterworfen, der in der Geschichte seinen Heilsplan verwirklicht. Die den einzelnen begrenzenden Mächte sind nicht der Geschichte immanent, sondern gesetzt durch die Transzendenz Gottes, wie sie in die Geschichte hinein wirkt. Erst in der Renaissance, am ausgeprägtesten bei Machiavelli, wird aus der providentia dei, die den Lauf der Geschichte bestimmt, die der Welt und der Geschichte innewohnende necessità, die Notwendigkeit der Dinge, worunter wir sowohl die Sachzwänge wie die in der Natur des Menschen selbst liegenden konstanten Gegebenheiten verstehen können. Die Vorsehung spaltet sich gleichsam in die
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blinde Willkür der fortuna und die für den Menschen berechenbare Macht der necessità. War erst einmal der Schritt in ein der Geschichte immanentes System getan, konnte von nun an das Wesen und die Form der den Menschen bedingenden „Notwendigkeiten“ auf die verschiedenste Weise beschrieben werden. Man sieht es gemeinhin als die Wirkung der idealistischen Philosophie auf die große Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts an, daß in dieser die große Persönlichkeit als die Mitte der Geschichte, als ihre einzige bewegende Kraft erscheint. Sicher gibt es namentlich historische Biographien genug, die diese Auffassung zu rechtfertigen scheinen, aber es läßt sich doch nicht übersehen, daß ihr die wichtigsten grundsätzlichen Äußerungen großer Historiker widersprechen. J. G. Droysen, der Biograph eines der außerordentlichsten Menschen, der je in der Weltgeschichte aufgetreten ist: Alexanders d. Gr., hat in seinem Grundwerk über die Historik das klassische System der idealistischen Geschichtslehre gegeben. Hier finden wir wohl die These, daß Geschichte die Bewegung der sittlichen Welt sei,2 die ihrerseits als Wille und individuelles, das heißt freies Wollen definiert wird. Aber der in den Dingen der Geschichte erfahrene Historiker Droysen ist weit davon entfernt, die einzelnen Menschen und ihre Willensakte als die Elemente der sittlichen Welt „individualistisch absolut“ und in „abstrakter Selbstbestimmung zu verstehen, wie er es von Hobbes, J. J. Rousseau und „dem heutigen Nihilismus“ annimmt.3 Er stellt diese einzelnen vielmehr in die „sittlichen Gemeinsamkeiten“, die „uns als sittliche Mächte“ beherrschen: „wir fühlen ihre Macht über uns mit unserer Selbstbestimmung versöhnt, indem wir sie als sittliche Pflichten erkennen“.4 Jede dieser sittlichen Mächte schaffe sich ihre Sphäre nach ihrer Art, ihre eigene Bewegung und Gestaltung „mit dem vollen Anspruch, in jedem einzelnen lebendig und wirksam zu sein, sein sittliches Sein an ihrem Teil zu bestimmen und zu prägen“. „Er, der einzelne ist nicht eine Moleküle Menschheit in der Art, daß diese Atome, in unendlicher Masse, wie der Sand einer Düne übereinandergehaucht, die Menschheit ausmachten, sondern die Menschheit ist nur die Summe und Zusammenfassung aller dieser sittlichen Mächte und Gestaltungen, und jeder einzelne ist nur in der Kontinuität und Gemeinschaft dieser sittlichen Mächte, nur als jeweiliger Träger und Arbeiter derselben, nur als lebendiges Glied in ihnen, ‚wie die Hand vom Körper getrennt nicht mehr Hand ist‘.“5 Es bedürfte nicht des Nachweises, daß unter den sittlichen Gemeinsamkeiten dieser Art Familie, Geschlecht, Volk, Gesellschaft, Wohlfahrt, Recht, Macht und andere erscheinen, um den Zusammenhang zu erkennen, der hier mit unserem Begriff Strukturen besteht. Wohl handelt es sich bei Droysen noch um wertbezogene Strukturbegriffe idealistischer Art, nicht um formal-soziologische Kategorien, noch auch um substantiell verstandene Kollektivwesenheiten, aber von seiner Anschauung läßt sich durchaus eine Brücke zu späteren Vorstellungen schlagen. Die im Zeichen des Idealismus stehende Geschichtsschreibung, zum Beispiel die Heinrich v. Treitschkes, hat die wertbezogenen Strukturbegrif-
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fe, wie sie sich bei Droysen finden, in ihren Werken verwendet: die sittliche Vollendung des einzelnen wird von ihr im Dienste an der Nation, am Staat gesucht. Doch der Historismus der Ranke-Schule und Rankes selbst ging noch von anderen Strukturideen aus; sie scheinen weniger konturiert, unpräziser, verleugnen andererseits eine theologische Wurzel nicht. Wir finden sie unter Namen wie „objektive Weltverhältnisse“, „Zug der Dinge“, „großer Gang der Dinge“, oder einfach „Notwendigkeit“ als die großen Bewegungstendenzen, die die Geschichte in ihre Bahn zwingen.6 So heißt es in der Darstellung des Lebens des preußischen Staatskanzlers Hardenberg: „Ich weiß nicht, ob man mit Recht so viel von gemachten Fehlern, versäumten Gelegenheiten, eingetretenen Vernachlässigungen reden darf, wie es geschieht. Alles entwickelte sich über die Köpfe der Beteiligten hin mit einer Notwendigkeit, welche etwas Unvermeidliches wie ein Fatum in sich trägt“. Hier erscheint die Geschichte selbst als epochale Struktur mit ihren den einzelnen überwältigenden Kräften der Bewegung und Veränderung und die ganze Geschichtsschreibung Rankes ist von dieser im eigentlichen Sinne historischen Anschauung durchzogen, die jeder Epoche eine nur ihr eigene – unmittelbar zu Gott stehende – „Gesamtstruktur“ zuweist. Weniger die stabilen Institutionen als die Kategorie der Veränderung tritt als strukturprägende Kraft hervor. Im Politischen Gespräch, das Rankes tiefste grundsätzliche Gedanken enthält, nennt er es die wichtigste Aufgabe, „die Regel des Werdens“ zu finden, worunter wir die Strukturgesetze der historischen Prozesse verstehen können. Diese sind bei Ranke nicht genereller Art, sie sind nicht beliebig vertauschbar oder übertragbar, sondern ein jedem geschichtlichen Werdeprozeß eigentümliches Prinzip, das als „realgeistig“ bezeichnet wird. Nicht als „Abstraktion der Meinung“, sondern als „inneres Leben“ definiert Ranke hier auch das „Prinzip“ derjenigen überpersönlichen Macht, die für den Historiker der großen Mächte an der Spitze aller überindividueller Gebilde steht: des Staates. Auch bei ihm gibt es wenig oder gar keine generellen Strukturformen, sondern nur ein individuelles Strukturprinzip wie bei der geschichtlichen Epoche. Es existieren für Ranke „gleichsam verschiedene geistige Substanzen, welche alle Modalitäten der Verfassung und der Gesellschaft erst beleben“, oder der Staat erscheint als die „bestimmende Modifikation“ der Formen der menschlichen Gesellschaft. Bei Ranke erscheint das geschichtliche Leben des Staates nicht als eine ungeordnete Folge willkürlicher Ereignisse, sondern durchaus als notwendiger Ausdruck eines „Prinzips“, eines geistigen Strukturgeschehens. Der Staat tritt auch in ein besonderes Verhältnis zum großen Individuum. Ranke, der zeitlebens von der unabhängigen Rolle der Persönlichkeit im Geschichtsverlauf höchst skeptisch gedacht hat, läßt ihre Bedeutung nur in einem Falle uneingeschränkt gelten: wenn sie mit der großen überpersönlichen „Struktur“ des Staates identisch geworden ist. Wenn das Ich sich mit dem Staat gleichstellt, so hören wir bei ihm, wie es in der absoluten Monarchie Ludwigs XIV. geschieht, dann ist eine der größten Stellungen erreicht, die der Mensch auf
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Erden erreichen kann. Hier wird die Persönlichkeitsidee gleichsam auf die Strukturen in der Geschichte aufgetürmt, aber der Geschichtsschreiber stellt doch gleich die zweifelnde Frage, ob das Individuum überhaupt fähig sein werde, die Aufgabe, die es sich setze, zu erfüllen, „die Persönlichkeit dahin zu erweitern, daß der Gedanke des Staates in ihr aufgeht“.7 Die epochale Struktur des Geschichtsverlaufs und die politische Struktur des Staates – dies sind bei Ranke die höchsten Notwendigkeiten, die den Menschen in der Geschichte bestimmen. Sie sind beide ebensowohl dynamische wie „realgeistige“ Phänomene, das heißt sie entspringen einer Idee, die sich in den realen Dingen der Geschichte verwirklicht. Sie sind nicht starre Strukturen, sondern bewegliche, ja die geschichtliche Bewegung ist selbst die stärkste strukturprägende Kraft und der Staat ihr eigentlicher Motor. Dieser Ansatzpunkt ist schon bei Alexis de Tocqueville und später noch im nachidealistischen Denken Jacob Burckhardts deutlich aufgegeben; Tocqueville hat als erster großer Historiker das, was wir heute gesellschaftliche Strukturen nennen – ,,l’ état social“ heißt es bei ihm –, als die prima causa „der meisten Gesetze, Gewohnheiten und Ideen“ bezeichnet, die das Verhalten der Völker regeln.8 Dieser état social ist bei ihm im Grunde aber das Produkt geistiger Prinzipien, in der Moderne des beherrschenden Prinzips der égalité. So nahe manche Formulierung Tocquevilles den Grundthesen des historischen Materialismus von Karl Marx zu kommen scheint, die Lehre vom ideologischen Überbau findet sich bei ihm nicht. Sein état social ist ein geistgeschaffenes Gebilde; gerade deshalb konnte er die Unwiderstehlichkeit und Unaufhaltbarkeit der egalitären Struktur mit einer Überzeugungskraft wie noch niemals jemand zuvor verkünden. Die Macht der Idee der égalité ist so überwältigend, daß ihr niemand entgegentreten kann; die Darstellung Tocquevilles in seinen Hauptwerken beschränkt sich daher auch fast ausschließlich auf „abstrakte“ Phänomene, und ihr fehlen gänzlich die personalistischen und biographischen Elemente. Auch Burckhardt entfernt sich von den Positionen Rankes, aber in anderer Weise als Tocqueville: ihm geht es nicht um ein beherrschendes Prinzip, sondern auf dem Schauplatz der Geschichte treten drei „Potenzen“ auf: Staat und Religion als die „stabilen“ Potenzen, die Kultur mit der Gesellschaft, die nur eine beigeordnete Größe ist, als freie, bewegliche Kraft. Staat, Religion, Kultur sind für Burckhardt die drei Hauptstrukturen des geschichtlichen Lebens, sie stehen in einem eigenartigen antagonistischen Verhältnis zueinander, können einander „bedingen“, durchkreuzen und überschneiden, wodurch die geschichtliche Bewegung ihre jeweilige Richtung erhält. Die Burckhardtschen Potenzen sind durchaus überpersönliche Mächte, aber sie erscheinen auch in den Persönlichkeiten oder allgemeiner in den Menschentypen, die von ihnen mit magnetischer Kraft angezogen werden. Das „Individuum“ behält noch etwas von seiner eigenen Macht. Etwas vom objektiven Geist Hegels steckt zwar noch in den geschichtlichen Potenzen, aber sie üben doch nur eine regulierende Funktion aus gegenüber dem eigentlichen
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Zentrum der Geschichte, dem „duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird“. Die Sonderstellung, die bei Burckhardt die Kultur einnimmt, wird in der modernen Geschichtsschreibung zu der Idee weiterentwickelt, daß die menschlichen Kulturen die bedeutendsten Grundstrukturen darstellen, die der Historiker in der Geschichte nachweisen kann. Epochale und staatlichpolitische Gliederungen treten zurück hinter den großen Strukturprinzipien der Hochkulturen, die allerdings, wie sich bei Toynbee zeigt, untereinander durch gemeinsame gesellschaftliche Grundzüge verbunden sind. Die herausgehobene Stellung der Kultur, die sich schon bei Burckhardt findet, ist bereits bei ihm aufs engste verbunden mit der besonderen Bedeutung, die den gesellschaftlichen Kräften zugemessen wird. In der modernen Geschichtsschreibung der Hochkulturen wird der Begriff Kultur schließlich zur Bezeichnung einer höchsten Strukturform, die namentlich auf den sozialen Gliederungen aufbaut.9 Das ist die Stelle, an der sich die Lehre von der Kulturgeschichte und der historische Materialismus berühren, nur daß die Kultur bei Burckhardt und seinen Nachfahren eine freie Schöpfung der Gesellschaft, bei Marx aber nur ihr ideologischer Überbau ist. Die bei Ranke und Burckhardt noch gegenwärtige Identität von Wirklichkeit und Idee wird vom Marxismus in ein Gegenüber von Sein und Bewußtsein aufgelöst, wobei das Bewußtsein nur als etwas Abgeleitetes verstanden wird. Damit büßt die Geschichte auch die personalistischen Züge ein, die sie bei Burckhardt noch behält. Das Handeln der Menschen als einzelne Menschen erscheint höchstens noch unter verschleiernden Strukturbegriffen wie denen der Produktivkräfte. Dieser Wandel kann unmöglich nur aus ideologischen Wurzeln abgeleitet werden; hinter ihm standen vielmehr die ungeheuren Veränderungen, denen das Leben der Menschen seit dem Beginn der industriellen Revolution unterworfen war. Das historische Denken des 19. Jahrhunderts war von der Erfahrung geprägt worden, daß alles Streben des Menschen und auch das gewaltigster Einzelmenschen wie Napoleons im letzten ohnmächtig bleibt gegenüber der Macht, die bei den geschichtlichen Traditionen liegt. Auf diesem Glauben an die Macht der Überlieferung ruhte das Bündnis von Historismus und Restauration, wie es in Leopold von Ranke Gestalt geworden ist. Das soziologische Denken gründete sich auf ein ähnliches Gefühl der Ohnmacht, das aber jetzt durch die gesellschaftliche Bewegung und ihre ökonomischen Ursachen ausgelöst wurde: Schon seit den frühen Sozialisten, seit Saint-Simon und Fourier, schließlich seit Karl Marx, wird die gesellschaftliche Existenz des Menschen zum Problem aller Probleme; in den Pariser Manuskripten definiert Marx die Gesellschaft als die „vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur“, den „durchgeführten Naturalismus des Menschen“ und den „durchgeführten Humanismus der Natur“.10 Die unabsehbaren Wirkungen dieser Lehre, die ihre stärksten Wurzeln im europäischen Naturrecht und seinen Ideen der Soziabilität hat, können kaum in ihrem Grade abgemessen werden. Die soziale Umwelt des Menschen
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wird nicht mehr nur als ein Wirkungsraum der menschlichen Persönlichkeit und der sie bestimmenden geistigen Kräfte verstanden, sondern im sozialen Sein wird die wahre menschliche Existenz gesucht. Dann kann mühelos alles Denken zu sozialen Bewußtseinsakten erklärt werden, die gesellschaftlichen Gebilde gleich welcher Art werden nicht mehr als Schöpfungen des sich wandelnden menschlichen Geistes gefaßt, sondern als die den Menschen überhaupt erst konstituierenden Faktoren gesetzt. Gesellschaftliche Strukturen, also die sozialen Gefüge mit ihren Bau- und Gliederungsgesetzen, wachsen über ihre Rolle als Sachgegebenheiten oder Sachzwänge für geschichtlich handelnde Menschen hinaus und werden zu Kollektivpersönlichkeiten umgedeutet, die jede personale Existenz untergehen lassen. Eine faszinierende Anziehungskraft ging und geht von diesem Denken aus, das in Marx und Engels nur seine konsequentesten Vertreter, keineswegs seine einzigen, besitzt. Unter den soziologischen Schulen hängt ihm vor allem die von Emile Durkheim an.11 Auch konservative Schriftsteller konnten ihm zuneigen, nur daß sie es wie beispielsweise Othmar Spann mit einem philosophischen Universalismus „organischer“ Art begründeten. Es scheint darin die Erfahrung eines Jahrhunderts verdichtet, für das die soziale Bewegung die geschichtliche Bewegung schlechthin gewesen ist und noch ist, und das dem sozialen Bewußtsein die gleiche Bindekraft zuerkennen will wie frühere Jahrhunderte dem religiösen. Die Geschichtswissenschaft sieht sich hier nicht zum ersten Mal einer mächtigen geistigen Kraft gegenüber, die ihr den Rang als Wissenschaft, die Sicherheit ihrer Methoden streitig macht. Während sie bei früheren Angriffen der Soziologie und Sozialwissenschaften, so etwa im sogenannten Lamprecht-Streit, noch aus einem ungebrochenen Methodenbewußtsein antworten konnte, ist dieses zwar heute noch latent vorhanden, aber es fehlen zuweilen die begrifflichen Mittel es modern auszudrücken, und es fehlt die Erinnerung an die eigene methodische Tradition. Gerade sie läßt das Verhältnis von Strukturen und Persönlichkeiten als ein sehr altes, in der Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung immer gegenwärtiges Problem erscheinen, das bei Ranke, Droysen und Burckhardt aber auch bei Mommsen und Tocqueville, ganz abgesehen von späteren wie Otto Hintze, im Zentrum steht. Die Geschichte hatte es immer mit Strukturen zu tun, ohne daß sie das Wort kannte, aber sie ließ das Verhältnis von Strukturen und Persönlichkeiten offen, variierte es nach Epochen und Kulturkreisen und legte ihm kein feststehendes Schema zugrunde. Sie wird daher durchaus an ihre eigene Überlieferung anknüpfen können und keinen Sprung in ganz andere Denksysteme tun müssen, wenn sie die Phänomene der sozialen Weltrevolution von heute zu beschreiben hat.12 Nur kann dies nicht mehr in der Sprache Niebuhrs oder Rankes und mit ihren Methoden geschehen; die neue Situation zwingt zu schärferem Nachdenken, und, wenn es sein muß, zu schonungslosem Überbordwerfen vertrauter, aber unhaltbar gewordener Vorstellungen.
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II. Beginnen wir den Akt kritischer Selbstprüfung mit der Frage was eigentlich die Historiker heute unter Strukturen in der Geschichte verstehen, und in welchem Sinn sie das Wort verwenden. Enttäuscht stellen wir hier eine beträchtliche begriffliche Unschärfe fest, ja kaum ein Bedürfnis, einen so zentralen Begriff näher zu bestimmen; er wird vielmehr fast ungeprüft als bekannt vorausgesetzt. Fernand Braudel hebt in seinem epochemachenden Buche La Méditerranée et le Monde méditerranéen à l’époque de Philippe II die histoire structurale von der histoire evénementielle ab mit einer eindeutigen Bevorzugung der ersten, aber es gibt keine eigentliche Definition für das, was hier unter Strukturgeschichte verstanden werden soll.13 In der deutschen Geschichtsschreibung haben wohl erst nach dem Zweiten Weltkrieg Otto Brunner und Werner Conze den Begriff voll durchgesetzt, nachdem ihn Otto Hintze schon früher gelegentlich gebraucht hatte und er vor allem auch bei Wilhelm Dilthey erschienen war. O. Brunner nennt in einem bahnbrechenden Aufsatz von 1954 den „inneren Bau, die Struktur der menschlichen Verbände“ als die Betrachtungsweise, die in der Sozialgeschichte im Vordergrund stehe, während die politische Geschichte das politische Handeln, die Selbstbehauptung zum Gegenstand habe.14 „Handeln“ der Verbände und ihr „innerer Bau“ werden hier nebeneinandergestellt, worunter man wohl auch die Phänomene der Wandlung und der Dauer in der Geschichte begreifen kann. Ähnlich äußert sich Werner Conze in einer im Jahr 1957 erschienenen Abhandlung Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht.15 Auch er unterstellt den Inhalt des Begriffs „Struktur“ als bekannt, warnt übrigens, im Einklang mit Brunner, vor einer Preisgabe der politischen Geschichte als Handlungs- und Ereignisgeschichte. Für Brunner und Conze besteht ein Verhältnis gegenseitiger Aufhellung strukturgeschichtlicher und ereignisgeschichtlicher Anschauung der Geschichte, nicht ein unüberwindbarer methodischer Gegensatz. Es besteht kein Zweifel daran, daß Wort und Begriff „Struktur“ von der historischen Wissenschaft aus den Sozialwissenschaften übernommen wurde, wo sie seit langem heimisch sind. Im Englischen erscheint die Wortverbindung „structure of society“ schon am Anfang des 19. Jahrhunderts,16 aber als Mittelpunktsbegriff der Gesellschaftswissenschaft tritt structure erst in der Soziologie seit Emile Durkheim und dann besonders bei Karl Mannheim, Hans Freyer und Alfred Weber auf. Doch ist es auch innerhalb der Soziologie nicht zu einheitlichen Auffassungen gekommen. Karl Mannheim steht der geschichtswissenschaftlichen Terminologie relativ am nächsten: sein Begriff der „principia media“ als einer „Art von regulierenden Sondergesetzen und Sonderzusammenhängen – die in einer bestimmten historischen Phase in einem besonderen gesellschaftlichen Bereich gelten“, erinnert an die „vorwaltenden Tendenzen“ Rankes. Struktur ergibt sich bei ihm aus „mehreren aufeinander bezogenen principia media“, sie soll die „Ge-
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samtsituation“, „das gesellschaftlich-historische Gesamtgeschehen einer Epoche“ bezeichnen, stellt also ein Mittelding aus epochaler und sozialer Bestimmtheit dar.17 Auch Hans Freyer verwendet soziologische Strukturbegriffe, die historischem Denken nahestehen und „größte historische Sättigung“ aufweisen sollen. Er fordert von ihnen, daß sie „die Geschichtlichkeit der gesellschaftlichen Tatsachen, ihr Wirklichsein in der konkreten Zeit“ in sich aufnehmen, wenn sie sich auch logisch von historischen Begriffen unterscheiden.18 René König kommt im Anschluß an Durkheim zu einer im strengen Sinne soziologischen Definition und spricht von einem doppelten Aspekt des Begriffs Struktur: einmal als Bezeichnung für das innere Gefüge einer Gesellschaft oder Gruppe, vermittels dessen sie in der Zeit überleben, und sodann als die in ihr enthaltene Möglichkeit einer objektiven, das heißt wertungsfreien Erkenntnis sozialer Zusammenhänge. Dieser zweite Aspekt sei historisch gesehen bei Emile Durkheim sogar der ursprüngliche gewesen, indem er dazu dienen konnte, einen „Bezugsrahmen“ zu schaffen, innerhalb dessen „normale“ und „pathologische“ Erscheinungen einwandfrei unterschieden werden können, ohne daß darum Werturteile ins Spiel treten müßten.19 Hierin liegen schon gewisse Milderungen der ursprünglichen Thesen Durkheims, der die Gruppengebilde geradezu als etwas von den individuellen Trägern Unabhängiges, als substanzhafte Größen verstanden wissen wollte. Aber immer noch gehen die von der Soziologie erfaßten Typen der Gesellschaftsstrukturen über die in der Wirklichkeit nicht vorhandenen, nur erdachten Idealtypen von Max Weber hinaus und wollen „durchaus Realtypen“ sein. Die Realität wird dabei in einem „mehr oder weniger generalisierten Verhalten“ gesehen: „Jede Abweichung davon gehört in den Rahmen der Pathologie, wobei die Zuweisung nicht mehr in unserem Belieben steht, sondern aus einer Strukturverfassung heraus entschieden wird.“ Mit anderen Worten: die Strukturverfassung bestimmt nicht nur das Verhalten, das damit seine autonomen personalistischen Antriebe völlig verliert, sie bestimmt auch die Urteile über jedes Verhalten. Es muß zunächst unerörtert bleiben, ob der Historiker mit einem solchen Strukturbegriff arbeiten kann, der jede Abweichung von der sozialen Norm mit dem durchaus nicht wertfreien Begriff des Pathologischen belegt. Das Pathologische in diesem Sinne könnte ja gerade ein, wenn nicht das Thema der Historie sein, wie das vor allen anderen Jacob Burckhardt behauptet hat. Vielmehr wollen wir vorerst noch fragen, worin sich Geschichte und Soziologie eigentlich einig sind, wenn sie von Strukturen sprechen. Doch offenbar darin, daß Strukturen als ein Element relativer Stabilität im sozialen Geschehen und in der Geschichte aufgefaßt werden müssen und in einer engen Beziehung zu der Dauer stehen, ja in gewissen Grenzen die Dauer repräsentieren gegenüber dem raschen Wechsel, wie er sich in den Ereignissen darstellt. Dauer erscheint jetzt in der französischen Sozialgeschichte als ein beinahe mystischer Begriff: „La longue durée“ wird gegen die rasche Veränderlichkeit der Ereignisgeschichte gestellt, die nur ein leichtes Kräuseln der Wellen an der Oberfläche des tief in sich ruhenden Meeres der Ge-
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schichte der „forces profondes“ bedeutet. Es ist eigentümlich zu verfolgen, wie hier in einem Augenblick, in dem der Wandel, die Veränderung auch die bisher stabilsten Bereiche des geschichtlichen Lebens, nämlich das tägliche Leben der großen Massen, ergriffen hat, die Kategorie der Dauer, der Kontinuität gerade am Beispiel der großen sozialen Strukturen ausgespielt wird. Fast scheint es, als ob dem Historiker in den Ereignissen jede Kontinuität entglitten sei und er sie nun auf dem Grunde des menschlichen Seins in der Geschichte wieder aufspüren wolle. Wir befinden uns damit jenseits rein positivistischer Positionen, beinahe schon wieder bei einer neuen Ontologie der Geschichte: die sozialen Strukturen treten geradezu als formae substantiales im Sinne der scholastischen Philosophie hervor, oder sie werden mindestens als Kollektivwesen vorgestellt, die ein Bewußtsein entwickeln, das gar nicht im Bewußtsein ihrer einzelmenschlichen Glieder vorhanden zu sein braucht, die sie ja in aller Regel an Lebensdauer übertreffen. So werden die „sozialen Tatsachen“ von Durkheim verstanden und so hat von marxistischer Seite Georg Lukács in seinem frühen Werk von 1923 über Geschichte und Klassenbewußtsein von der „Gesellschaft als konkreter Totalität“ gesprochen. Das Klassenbewußtsein, dieser zentrale Begriff der marxistischen Revolutionstheorie, erscheint dann als „die rational angemessene Reaktion, die ... einer bestimmten typischen Lage im Produktionsprozeß zugerechnet wird“, als „die Gedanken, die die Menschen in einer bestimmten Lebenslage haben würden, wenn sie diese Lage ... vollkommen zu erfassen fähig wären, die Gedanken also, die ihrer objektiven Lage angemessen sind“.20 An anderer Stelle wird die Herkunft dieses Denkens aus Hegels Philosophie deutlicher, wenn das Klassenbewußtsein als „der bewußt gewordene Sinn der geschichtlichen Lage der Klasse“ definiert wird. Ebensowenig wie bei Durkheim die faits sociaux in einem erkennbaren Zusammenhang mit den Individuen stehen, kann bei Lukács das Klassenbewußtsein noch auf das psychologische Bewußtsein einzelner Proletarier oder auch auf das massenpsychologische Bewußtsein ihrer Gesamtheit zurückgeführt werden. Das soziale Geschehen, die soziale Gruppe, das soziale Bewußtsein erscheinen in diesem Denken, so verschiedene Begründungen es annehmen kann, als eigenständige Größen, eine Lehre, die in ihren Wirkungen sich eigentümlich mit der Lehre von den lebendigen überindividuellen geschichtlichen Organismen des Konservativismus berührt. Die ungeheure Vielfalt individueller Erscheinungen, die die historische Arena in allen Zeitaltern der Menschheitsgeschichte aufweist, wird hier zwar auf einige typische oder generelle Phänomene hin geordnet, aber schließlich gelangt man mit solchen Auffassungen dazu, alle individuellen Abweichungen von der durch die Strukturverfassung gesetzten Norm her als pathologisch anzusehen. Vertritt der einzelne Klassenangehörige des Vierten Standes nicht die Lehre vom aktiven Klassenbewußtsein und Klassenkampf, dann kann er nur noch unter dem Gesichtspunkt eines falschen Bewußtseins gefaßt werden. Der frühe Lukács sieht es geradezu als Ausdruck eines unmarxistischen Opportunismus an, den tatsächlichen psychologischen Bewußtseinszustand der Proletarier mit
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dem Klassenbewußtsein des Proletariats oder besser mit dem, was er dazu erklärt, zu verwechseln.21 Einige Richtungen der Soziologie haben sich einem solchen Denken verschrieben, ganz abgesehen von der dogmatischen Geltung, die dieses im historischen Materialismus besitzt. Was muß dazu vom Standpunkt einer Geschichtswissenschaft gesagt werden, die sich stärker als je zuvor sozialen Gegenständen zuwendet? Fürs erste: Keine Geschichtsschreibung kann heute den Strukturbegriff als Grundbezeichnung für soziale Phänomene noch entbehren. In ihm hat sich gleichsam die gedankliche Abklärung der verschiedenen Bestimmungen eines Überpersönlich-Allgemeinen vollzogen, die in der Geschichtswissenschaft seit je üblich gewesen sind und von denen wir einige verfolgt haben. Der Strukturbegriff ist nicht nur eine Spiegelung der zeitgeschichtlichen Erfahrung von dem verstärkten Gewicht, das gesellschaftlichen Prozessen und Gebilden im technisch-industriellen Zeitalter zukommt, er ist auch ein Ausdruck gewandelter Wissenschaftstheorie, namentlich soweit sich diese mit dem Versuch abgibt, Erkenntnisse von relativer Allgemeinheit als Typen oder Modelle zu gewinnen. Diese anzustreben ist ein durchaus legitimes Ziel der modernen Geschichtswissenschaft und wird von ihr vor allem in ihren verfassungsgeschichtlichen und institutionsgeschichtlichen Disziplinen seit je geübt. Niemand kann mehr ohne gesellschaftliche Grundbestimmungen einer Epoche auskommen, nur dürfen sich diese nie in inhaltlose Formalbegriffe verlieren oder den Rang absolut zwingender Determinanten annehmen. Wer den Typus „kapitalistischer Unternehmer“ für das bürgerliche Zeitalter in den Mittelpunkt stellt, wird auch alle Formen „vorkapitalistischer“ Wirtschaft, die im 19. und 20. Jahrhundert weiterleben, als historisch gegebene Erscheinungen zu untersuchen und darzustellen haben. Ebenso hat eine Geschichte der Arbeiterbewegung alle Formen politischen und sozialen Handelns, die in der Arbeiterschaft der Industrievölker erkennbar geworden sind, ins Auge zu fassen und aus der Zusammenschau dieser vielfältigen Aktionsweisen das Gesamtbild „Arbeiterbewegung“ zu schaffen. Die historische Wirklichkeit schafft die Normen, die das historische Urteil bestimmen, nicht umgekehrt eine Norm gleich welcher Art eine Wirklichkeit von vermeintlich höherem Objektivitätsgrad. Gerade die Abweichungen von einer strukturellen Grundnorm, die sich als vorwiegend und bestimmend erweist, können vom Historiker durchaus als beachtliche und keineswegs nur pathologische Erscheinungen erfaßt werden: So wird Klassenbewußtsein historisch aus der Vielfalt tatsächlich gegebener, individueller und kollektiver Reaktionen auf eine Klassenlage und nicht aus einer hypothetisch objektiven Klassensituation verstanden werden müssen, die in der Regel nur mittels sehr greifbarer Wertvorstellungen konstruiert wird. Oder ein anderes Beispiel: Nationale Bewegungen scheinen im 19. Jahrhundert auf bestimmten sozialen Strukturvoraussetzungen – der Ausbildung einer starken bürgerlichen Schicht – zu beruhen, die einen gewissen Grad von verbindlichen allgemeinen Aussagen für alle europäischen Völker zulassen. Indessen wird die „Allgemeinheit“ der Erscheinungsfor-
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men überhaupt nur auf dem Hintergrund besonderer Züge jeder einzelnen Nation erfaßt werden können. Allgemeines und Besonderes kann gerade hier keinesfalls als Gesundes und Krankes gegeneinandergestellt werden, sondern beides gehört zur Wesensbestimmung des geschichtlich Lebendigen. Das Gleiche gilt auch für die politischen Verfassungsformen im Zeitalter des liberalen bürgerlichen Konstitutionalismus, wo wir am ehesten geneigt sind, normale und abnorme Erscheinungen zu unterscheiden. So wird etwa die deutsche Form der konstitutionellen Monarchie ohne parlamentarische Ministerverantwortlichkeit sehr oft a priori als abnorm oder pathologisch bezeichnet, wo sie doch eine besondere, wenn auch gewiß nur kurze Zeit effektive Kompromißform zwischen verschiedenen historischen Tendenzen darstellt. Dabei ist zweifellos die allgemeine Tendenz zu einer einheitlichen politischen Verfassungsform aller europäischen Staaten im 19. Jahrhundert eine außerordentlich wirksame Kraft gewesen. Die Geschichtswissenschaft wird hier ein gehöriges Maß von Offenheit für ihre Urteilsbildung wahren müssen. Eine solche Offenheit ergibt sich weiter auch daraus, daß der aus den Sozialwissenschaften übernommene Begriff Struktur für die Geschichte in der vielfältigsten Weise anwendbar ist: Die Historie wird soziale, politische wie nationale aber auch epochale Strukturen unterscheiden müssen, das heißt die Gliederungsformen sozialer Gruppen und politischer Gebilde wie Staaten, den Bau von Volkskörpern und schließlich die Schichtungen, die sich in den einzelnen historischen Epochen verfolgen lassen. Beispielhaft ist hier Fernand Braudel in seinem Werk über das Mittelmeer in der Epoche Philipps II., wo im zweiten Teil unter dem Sammelbegriff „Destins collectifs et mouvements d’ensemble“ die ökonomischen, politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Strukturen sowie die Strukturen des Krieges untersucht werden (les économies – les empires – les civilisations – les sociétés – les formes de la guerre). Aus dieser Einteilung Braudels wird bereits deutlich, daß historische Epochen nicht einfach aus ihrer sozialen Verfassung abzuleiten sind, sondern eine besondere geistige Struktur zeigen, deren Züge der Historiker von jeher unter dem Begriff des Zeitgeistes zu fassen versucht hat. Das eigentümliche Verhältnis von Dauer und Wandel muß jeweils aus einer solchen epochalen oder Temporalstruktur neu bestimmt werden: In jeder Epoche bestehen ältere und jüngere Strukturen nebeneinander oder besser über- und untereinander. Die jeweils jüngste hat wohl die Tendenz, sich allgemein durchzusetzen, sie stößt aber auf Widerstände, wird eingeengt und bedingt. Jacob Burckhardt hat aus solchen Vorgängen einer „übermäßigen Ausdehnung“ des einen Elements und einer „übermäßigen Einschränkung“ anderer die Entstehung geschichtlicher Krisen abgeleitet. Er stand dabei zweifellos schon unter dem Eindruck der „übermäßigen Ausdehnung“ der modernen Strukturen, ohne daß er dazu neigte, ihnen als den fortgeschrittensten von vornherein ein höheres Recht zuzuerkennen. Mehr und mehr werden wir aber seither bestimmt durch den rücksichtslosen Durchsetzungsprozeß der industriellen Gesellschaft gegenüber allen bisherigen geschichtlichen Strukturformen in
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der ganzen Welt, der dazu verleitet, alle Relikte früherer Geschichtszeiten nur noch unter dem Gesichtswinkel eines „time lag“ als überfällige Rückstände zu betrachten. Diese Tendenz unserer Zeit hat mehr an historischem Sinn zerstört als viele andere oft beklagte Gründe, die dafür geltend gemacht werden. Vielleicht wird dieser Schaden nur dadurch ausgeglichen, daß das Denken in Strukturen als Manifestationen der geschichtlichen Dauer auch umgekehrt dazu erzieht, die Unzerstörbarkeit alter Schichtungen und Daseinsformen gegenüber jüngeren Tendenzen nachzuweisen, die man bisher allzu einseitig als allein herrschende angesehen hat. Das ist namentlich im Hinblick auf das Fortwirken alteuropäisch-ständisch-feudaler Elemente im absolutistischen System geschehen: hier kann man geradezu von einer konservativen Tendenz der modernen historischen Strukturforschung sprechen.22 Möglicherweise stehen die Historiker eines Tages vor der Aufgabe, ein solches unterirdisches Weiterleben älterer Elemente auch in der modernen industriell-technischen Welt in den Mittelpunkt ihrer Forschung zu stellen. Manche Ansätze in der neueren amerikanischen Soziologie lassen eine solche Entwicklung sogar als wahrscheinlich erscheinen. Jedenfalls ist es heute noch keineswegs ausgemacht, ob die modernen Strukturformen zu einer völlig egalisierten Weltzivilisation führen werden, als deren Grundschema wir oft die letzte eben erreichte Phase unserer eigenen Entwicklung ansehen möchten. So enthielt im Grunde die historisch-ökonomische Theorie von Karl Marx eine Reihe von Fehlprognosen dieser Art, wie zum Beispiel die vom Untergang der kleineren und mittleren Betriebe zugunsten weniger großer. Der Reichtum an Möglichkeiten, der für die Entfaltung einer Strukturverfassung, selbst einer mit so klaren Umrissen wie der heutigen, besteht, darf niemals unterschätzt werden. So ist es noch gar nicht abzusehen, welche Ergebnisse aus der Anpassung der nicht-abendländischen Kulturen an die neue Weltzivilisation auf die Dauer hervorgehen werden. Hier erwächst für den Historiker aus der Untersuchung bereits historisch gewordener Beispiele solcher Anpassungen, wie zum Beispiel dem japanischen oder dem der kemalistischen Türkei eine ganz neue Problematik. Strukturen können schließlich nur als von Menschen gesetzte Ordnungen und mit den Menschen sich wandelnde Erscheinungen angenommen werden. Sie verlieren nie ihren anthropologischen Charakter, wenn auch in ihnen das personale Moment zurücktritt. „Zwingende Strukturen legen den Menschen nicht nur fest, sondern fordern den sie verändernden und gestaltenden Menschen heraus“ (Werner Conze). Der Sachverhalt darf nicht verdunkelt werden, daß kollektive, „personenhafte“ Gebilde als solche gar nicht existieren außer in den sie tragenden Einzelpersonen. Das hat Max Weber für seine „verstehende“ Soziologie im Unterschied zu Durkheim und seinen Schülern mit aller Deutlichkeit ausgesprochen:23 „Begriffe wie Staat, Genossenschaft, Feudalismus und ähnliche bezeichnen für die Soziologie, allgemein gesagt, Kategorien für bestimmte Arten menschlichen Zusammenhandelns, und es ist also ihre Aufgabe, sie auf ‚verständliches‘ Handeln,
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und das heißt ausnahmslos: auf Handeln der beteiligten Einzelmenschen zu reduzieren.“ Auf der anderen Seite, so wird man hinzufügen dürfen, können diese Einzelmenschen ihre Lebensziele nur erreichen, indem sie die ihnen zugeordneten Strukturgebilde verwirklichen. Das strukturkonforme Verhalten, das die Soziologie zu einem ihrer wichtigsten Themen gemacht hat, beruht nur auf der allerdings sozial bestimmten Erfüllungsbereitschaft, Gebote zu befolgen, nicht auf einem mechanischen Reagieren. Solche Gebote können sich bis zu regelrechten, mit Zwang vollstreckbaren Anweisungen und Befehlen steigern, wie die des Staates oder anderer Machtordnungen, oder sie können sich mehr auf die moralische Autorität sozialer Gruppen, so bei den meisten Geboten für gesellschaftliches Verhalten, gründen. In allen Fällen sind sie trotz ihrer sozialen Bestimmtheit Appelle an eine individuelle Erfüllung. Mit absoluten Antinomien von Individuum und Sozialgebilde, Individualismus und Kollektivismus kommt der Historiker nicht aus. Was nützt es ihm, solche Gegensätzlichkeiten „in harter Substantialität“ (Smend) zu konfrontieren, wenn er beispielsweise die Geschichte einer Partei, also eines zugleich gesellschaftlichen wie politischen Gruppengebildes, meist mit starkem Einfluß einzelner Persönlichkeiten, darstellen will: Er kann die Partei nicht in die unzähligen Individualitäten ihrer einzelnen Mitglieder auflösen, aber er kann andererseits auch nicht die Partei als eine von ihren Mitgliedern unabhängige Kollektivpersönlichkeit darstellen; zwar übt er in der Regel, um die wissenschaftliche Verständigung abzukürzen, ein ähnliches Verfahren wie es der Jurist etwa bei der Behandlung eines Gruppengebildes, zum Beispiel eines Vereins als juristischer Person anwendet, aber er kann dies nicht ohne einen ständigen Vorbehalt. Um die geschichtlichen Wissenschaften aus dem Dilemma individualistischer und kollektivistischer Substantialisierungen herauszureißen, hat Rudolf Smend schon in den zwanziger Jahren24 im Anschluß an Gedanken Theodor Litts von der „dialektischen Zusammenordnung der Einzelnen und der Gemeinschaft“ gesprochen und dafür den Begriff der Integration eingeführt, der seither, allerdings im abgewandelten Sinn, ebenso Furore gemacht hat wie der der Struktur. Nach Smend hat das „Ich“, wie es in den Geisteswissenschaften auftritt, nicht die Struktur „eines objektivierbaren Elements des geistigen Lebens, das zu diesem Leben in kausalen Beziehungen stände“. Es ist nur, sofern es geistig lebt, sich äußert, versteht, an der geistigen Welt Anteil hat. „Seine Wesensgestaltung und Wesenserfüllung vollziehen sich nur im geistigen Leben, das seiner Struktur nach sozial ist.“25 Auf der anderen Seite gibt es nach Smend noch weniger „ein auf sich beruhendes kollektives Ich“. „Die Kollektivitäten sind nur das Einheitsgefüge der Sinnerlebnisse der Individuen“, nicht deren Produkt, sondern deren „notwendiges Wesen“. Von diesen Auffassungen lassen sich meines Erachtens noch wesentliche Bestandteile nutzbar machen, wenn man den etwas spirituellen Charakter der Thesen Smends zugunsten der zu berücksichtigenden oft sehr massiven politischen und sozialen Wirkungskraft gesellschaftlicher Tendenzen verändert. Im Grunde ver-
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fährt jede Geschichtsschreibung danach, daß sie die Verschränkung, das Ineinander individuellen und überindividuellen Lebens aufzeigt, sie tut dies selbst da, wo sie thematisch am stärksten auf die Darstellung einer Individualität ausgeht: in der Biographie. Dies hat Ranke im Vorwort zu seinem einzigen biographischen Werk, der Geschichte Wallensteins, mit bedeutsamen Worten ausgesprochen: „Die Entschlüsse der Menschen gehen von den Möglichkeiten aus, welche die allgemeinen Zustände darbieten; bedeutende Erfolge werden nur unter Mitwirkung der homogenen Weltelemente erzielt; ein jeder erscheint beinahe nur als Geburt seiner Zeit, als der Ausdruck einer auch außer ihm vorhandenen allgemeinen Tendenz. Aber von der anderen Seite gehören die Persönlichkeiten doch auch wieder einer moralischen Weltordnung an, in der sie ganz ihr eigen sind; sie haben ein selbständiges Leben von originaler Kraft. Indem sie, wie man zu sagen liebt, ihre Zeit repräsentieren, greifen sie doch wieder durch eingeborenen inneren Antrieb bestimmend in dieselbe ein.“ Gibt man einmal die starre Antinomie von Persönlichkeits- und Strukturelementen in der Geschichte auf, dann wird es auch leichter, die ganze Skala der gegenseitigen Bedingtheiten und Verschränkungen zu erfassen, wie sie zwischen beiden möglich sind. So wird der Historiker niemals leugnen wollen, daß die Bindekraft sozialer Gebilde für den einzelnen in der Geschichte sich bis zu enormen Wirkungsgraden steigern kann. Sogar die Möglichkeit, daß der einzelne in ihnen geradezu seine Individualität verliert und nur noch einen bestimmten gesellschaftlichen Typus darstellen will und darstellt, muß zu allen Zeiten als gegeben angesehen werden. Dies scheint charakteristisch für Zeiten und Länder mit starken und geschlossenen ständischen Strukturen zu sein. Gesellschaftliche Haltungen können selbst die Funktionsfähigkeit sozialer Gruppen überdauern, so daß schließlich einzelne wie Versteinerungen geschichtlich längst abgelebter Gebilde wirken. Solche Erscheinungen treten unter anderem bei Auswanderer- und Emigrantengruppen auf, die sich in einem bestimmten Moment von ihren Mutterländern trennen. Dann kann es dazu kommen, daß sich bei ihnen die im Mutterland längst untergegangenen Strukturen der Trennungszeit über Jahrhunderte hinweg erhalten. Das Beispiel der Francokanadier mit ihrer Konservierung des vorrevolutionären Frankreich wird hier oft genannt, aber auch manche Gruppen des Auslandsdeutschtums in Südamerika zeigen das Phänomen mit ihrem Beharren in Formen deutschen Lebens vor 1914 sehr deutlich. Ich will damit sagen, daß für den Historiker alle Arten sozialer und struktureller Anpassung und Nicht-Anpassung in gleicher Weise interessant sein können: sein Thema ist, wörtlich und bildlich genommen, die Geschichte sowohl der Orthodoxien wie die „Ketzergeschichte“, des sozialen Konformismus wie Nonkonformismus, ohne daß dieser etwa gleich als Krankheitssymptom genommen zu werden braucht. Entscheidend ist nur, daß das jeweilige Verhältnis von Grundstrukturen und den Abweichungen von ihnen klar erkannt wird. Hat man dieses bestimmt, dann wird es sogar möglich, Bewegungen und Organisationen zu erfassen, die aus der Verneinung einer bestimmten
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gesellschaftlichen und politischen Verfassung erwachsen sind, wie die meisten revolutionären Bewegungen der neueren abendländischen Geschichte. Bei ihnen allen wird das geltende System nur in seinem Gegenbild sichtbar, man könnte also hier von Gegenstrukturen sprechen, die nur auf dem Hintergrund einer bestimmten gesellschaftlichen und politischen Ordnung verständlich werden. Der geschichtliche Zweitakt Toynbees von challenge und response wird hier sichtbar. Ein besonders einprägsames Beispiel für diese in einer revolutionären Bewegung faßbare Gegenstruktur ist bei der adligen und bürgerlichen russischen Jugend zu finden, als diese vor der Revolution die verschiedenartigsten Formen der „sozialen Askese“ betrieb, unter dem Volke lebte, auf ihr Erbe verzichtete und ihren sozialen Status freiwillig aufgab. In gewissem Umfang gehören überhaupt alle asketischen Bewegungen, zum Beispiel die Bettelorden, hierher. In den utopischen Schriften werden meist Gegenstrukturen theoretisch erdacht und konstruiert, so daß in ihnen die herrschenden Strukturen in der Negation heraustreten. Sinnbild dafür ist etwa die Verwendung von Gold nur noch für Geräte mit niederster Funktion, wie sie in der Utopia des Thomas Morus erscheint. Die Geschichte zeigt uns also eine unendliche Vielfalt der Begegnungen des Menschen mit den von ihm geschaffenen und ihn gleichzeitig prägenden Strukturen. Es ist gerade ihr Reiz, daß der Historiker diese Begegnungen nicht zu schematisieren braucht und sie etwa auf ein Verhältnis der reinen Abhängigkeit des einzelnen von den sozialen Gebilden zurückführen muß. Gewiß wird durch die technisch-industrielle Zivilisation unserer Zeit die Erwartung der einzelnen gedämpft, einer geschichtlichen Struktur von höchster Durchschlagskraft in irgendeinem Sinne entrinnen zu können, aber gerade dann eröffnet die Anschauung der Geschichte die tröstliche Hoffnung, daß immer die verschiedensten Formen der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Zeit und ihren strukturellen Gegebenheiten möglich gewesen sind.
III. Wenn unser Thema neben die Strukturen die Persönlichkeiten stellt, so zwingt uns auch dieser zweite Grundbegriff zu einigen Überlegungen. Es ist kein Zweifel, daß das Wort Persönlichkeit in unserem heutigen, vor allem im wissenschaftlichen Sprachschatz nicht mehr den Bedeutungsumfang und auch nicht mehr die Betonung hat, wie noch vor einem Jahrhundert. Wir sprechen mit geringerem Pathos vom Menschen oder der „Person“ in der Geschichte, aber wir können auf das Wort „Persönlichkeit“ doch nicht ganz verzichten, da in ihm der Anspruch des einzelnen Menschen in der Geschichte auf sein Lebensrecht am nachdrücklichsten formuliert ist. Dieses Lebensrecht und seine Wahrung durch die überpersönlichen Mächte, den Staat und die Gesellschaft, beschäftigt uns heute, nachdem wir seine Verletzungen erfahren haben, in erster Linie. Nicht zufällig hat namentlich in der
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Rechtssprache der Begriff der Menschenwürde neue Geltung gewonnen. Von der Achtung vor ihr bei jedem Menschen und unter jeder Bedingung, weniger von dem Recht der großen Persönlichkeit, sich in der großen Geschichte auszuleben, sie nach ihrem Bilde zu schaffen, wird heute gesprochen. Ihm ist die moderne Welt und ihre demokratische Struktur grundsätzlich sogar abgeneigt. Die modernen Verfassungsordnungen sind aus der in der absolutistischen Ära erwachsenen Tendenz entstanden, die Willkür des politisch führenden Menschen durch ein System des Rechts und durch die Mitwirkung der Regierten in immer größerer Zahl zu begrenzen, ja sie überhaupt auszuschalten. Vom rationalen Denkmodell der Demokratie her kann der einzelne, auch der große einzelne an der Spitze eines Staates nur handeln, wenn er sich in Übereinstimmung mit allen und im Einklang mit dem gesetzten Recht befindet. So konnte der Staat am Ende sogar als ein ausschließlich rechtliches Normensystem definiert werden. Herrschaft aus eigenem Recht und eigenem Anspruch ist diskreditiert und es wird nur noch Herrschaft aus Vollmacht und Auftrag geduldet. Diese Vorstellungen haben sich fast ausnahmslos am monarchischen System und im Gegensatz zu ihm gebildet und weniger darauf geachtet, daß auch in einem demokratischen System sich Herrschaftspositionen verschiedener, meist indirekter Art bilden konnten. Höchstens die monarchisch-demokratische Mischform des Caesarismus forderte im 19. Jahrhundert Kritik heraus. Vom „persönlichen Regiment“ wird im abschätzigen Sinne gesprochen. Auch im Kommunismus wird der „Personenkult“ an den Pranger gestellt, was wir hier nur als ein Symptom notieren. In Deutschland, wo eine alte Tradition autoritärer Führung bestand, wenn sie auch keineswegs die einzige ist, und wo dann in den Exzessen eines Führerstaats die Idee persönlicher Führung völlig verzerrt wurde, ist heute wohl die Neigung, den Spielraum politischer Entscheidungen für Persönlichkeiten einzuengen, besonders groß. Die Weimarer Verfassung erscheint vielen belastet, nicht weil ihr konsequenter Parlamentarismus und ihr Parteiensystem Regierungen von schwacher Konstitution hervorgebracht, sondern gerade weil sie die Fundamente für persönliche Herrschaft in der Stellung des Reichspräsidenten besonders stark gemacht habe, so daß von hier ein Übergang zur gesetzlichen und dann gesetzlosen Diktatur gefunden werden konnte. Zu einer solchen Einschätzung hat wohl wesentlich der Dezisionismus Carl Schmitts beigetragen, der hinter der staatsrechtlichen Fassade im Reichspräsidenten den wahren Träger der Souveränität erkennen wollte, weil er über den Ausnahmezustand entschied. Dieses dezisionistische Denken ging im letzten darauf aus, ein auf Rechtsnormen beruhendes politisches System nur als verschleiertes Machtsystem zu entlarven. Das überschritt aber weit die richtige Einsicht, daß jede Rechtsordnung auch Machtordnung ist. Das Mißtrauen in Herrschaft, das zugleich immer auch Mißtrauen in die das Maß überschreitende Persönlichkeit ist, hat so, wie es uns in der Moderne entgegentritt, eine Reihe von Gründen, aber den durchschlagendsten hat bereits Alexis de Tocqueville im Prinzip der Gleichheit erkannt. Es war für
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ihn das in der Demokratie entscheidende Prinzip überhaupt. Tocqueville begrüßte dieses Prinzip keineswegs enthusiastisch, sondern er stellte seine Diagnose aus der kühlen Distanz eines Analytikers; gerade dies ließ ihn die Gefahren mindestens ebenso deutlich sehen wie die Fortschritte. Unter den Gefahren war aber für ihn außer der Allmacht einer zentralistischen Verwaltung im demokratischen Staat keine so drohend wie die Uniformierung der einzelnen, der Verlust der Individualität in einer egalitären Gesellschaft: „Tout menace de devenir si semblable dans les nôtres (sociétés), que la figure particulière de chaque individu se perdra bientôt entièrement dans la physiognomie commune.“26 Der von Tocquevilles Ideen tief berührte Engländer John Stuart Mill hat die Wirkungen der Gleichheitstendenz mit noch schonungsloserer Offenheit ausgesprochen. Bei Mill lesen wir: „Die Gesellschaft von heute ... ist über die Persönlichkeit Herr geworden.“ Der Despotismus der gesellschaftlichen Sitte drohe jedermann zu einem Standardgeschöpf zu machen, und es bedeute die Hauptgefahr unserer Zeit, daß es so wenige wagen, exzentrisch zu sein. „Eigentümlichkeit des Geschmacks, Absonderlichkeit des Betragens werden wie Verbrechen gemieden und der eigenen Natur so lange der Gehorsam versagt, bis keine Natur mehr da ist, der man gehorchen könnte.“ Mit der Herrschaft der gesellschaftlichen Meinung über die freie und originelle Individualität ziehe die Drohung der „Herrschaft der Mittelmäßigkeit“ herauf, die „eine mittelmäßige Herrschaft“ sei.27 Dies waren die Worte eines Mannes, der nicht etwa als ein Gegner der Demokratie, sondern vielmehr als einer der wichtigsten Repräsentanten des demokratischen Liberalismus im 19. Jahrhundert angesprochen werden muß. Man kann sicher nicht sagen, daß sich seine Warnung als ganz unberechtigt erwiesen hat, wenn man auf die Geschichte der europäischen Demokratie in den letzten hundert Jahren blickt. Allerdings enthalten Mills Worte in mehr als einem Sinne nur eine Teilwahrheit. Auf der einen Seite übersah Mill in seinem Urteil die positive, ausgleichende Bedeutung der egalitären Tendenz in Staat und Gesellschaft, auf der anderen blieben ihm aber Gefahren noch verborgen, die zuerst schon von Tocqueville und nach ihm von Jacob Burckhardt mit ganzer Schärfe gesehen wurden. Was das erste, die positive Bedeutung der egalitären Tendenz anlangt, so kann man sie wohl darin sehen, daß sie anstelle einer aristokratischen Struktur einiger weniger hervorragender Führungskräfte und Persönlichkeiten eine Führungsschicht des gehobenen Mittelmaßes ermöglicht hat, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr auf dem Untergrund der sich verbreiternden allgemeinen Elementarbildung und eines steigenden Wissensniveaus durchsetzte. So werden für das 19. Jahrhundert Volksvertretungen von hohem Bildungsniveau, vielleicht mit einem Zuviel an theoretischer Bildung und einem Zuwenig an praktischem Verstand wie in Deutschland oder einem Überfluß an Rhetorik wie in Frankreich charakteristisch; Bürokratien von hohem fachlichem Können, moralischer Integrität und zum Teil auch politischer Initiative, aber im ganzen ohne überragende Einzelbegabungen legen die Fundamente staatlicher Verwaltung; eine Diplomatie be-
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herrscht das Feld der zwischenstaatlichen Beziehungen, die das Fingerspitzengefühl der Angehörigen alter Kasten mit dem Selbstbewußtsein einer sich auf Sachverstand berufenden Gruppe verbindet. Hier überall stoßen wir auf hohe Durchschnittswerte von „Eliten“, die aber den sozialen Aufstieg breiterer Schichten zur Voraussetzung haben. Dieser Eindruck wird selbst durch den Blick auf die Dynastien und Herrscherhäuser bestätigt: auch hier ein verbesserter allgemeiner Durchschnitt bei Fehlen genialer Begabungen. Gegenüber dem 18. Jahrhundert war eine durchgehende Verbreiterung der Basis eingetreten: es scheinen jetzt mehr Gruppen, Parteien, Klassen, Berufsschichten mit elitären Zügen zu handeln, als überragende einzelne. Die Revolutionen sowohl wie die Kriege bleiben ohne eigentliche Helden. Auch da, wo im Kriege große Strategen wirken, wie Helmuth von Moltke, bewegen sie sich doch in der Sphäre größerer Anonymität in sachorientierter und nicht mehr rein persönlicher Stellung. Beispielhaft ist die bekannte Erzählung, daß noch in den Tagen des preußischen Aufmarsches zur Schlacht in Böhmen im Jahre 1866 ein hochgestellter Armeeführer behauptete, nicht zu wissen, wer denn eigentlich der Generalstabschef Moltke sei, dessen Befehle er ausführen solle. Das persönliche „Charisma“ des alten Kriegshelden wandelt sich in die Autorität des spezialisierten Sachkenners – ein Prozeß, der später noch ganz andere Ausmaße annehmen sollte. In einer immer mehr pragmatisch-wissenschaftlich bestimmten Kultur erscheint der in der Verborgenheit, in größeren Arbeitsgruppen arbeitende Gelehrte häufiger als der einzelne große Erfinder. In der Öffentlichkeit tritt er nur dann hervor, wenn ihm eine ostentative Ehrung, wie die Verleihung des Nobelpreises, den Rang persönlicher Größe verleiht. Gegenüber dem 18. Jahrhundert, in dem die aristokratische Kultur auf ihrem Höhepunkt stand, ist eine demokratische Tendenz im 19. Jahrhundert auf allen Gebieten herrschend, doch erweisen sich die von Tocqueville und Mill befürchteten Gefahren noch nicht als stark genug, um das allgemeine Leistungsniveau herabzudrücken, eher wurde es auf vielen Gebieten, wie in den Wissenschaften, dadurch erheblich angehoben, daß breitere Schichten ins Spiel gekommen sind. Für die Politik mag diese Beobachtung vielleicht nicht so allgemein gelten, aber auch sie wurde durch die neuen sozialen Kräfte belebt und angeregt. Wenn wir uns dem zweiten von Mill vernachlässigten Problem zuwenden, gehen wir am besten von der fortgeschrittenen Entwicklung in unserem Jahrhundert aus. Seit der Französischen Revolution geht das Ringen um den Versuch, persönliche, willkürliche Herrschaft durch gesetzgebundene und von der Allgemeinheit sanktionierte Herrschaft zu ersetzen. Dahinter stand auch im Liberalismus zuweilen die Utopie vom Ende jeder Herrschaft überhaupt. Der frühe Marxismus setzte hier an und proklamierte das Absterben des Staates in einer klassenlosen Gesellschaft: „Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden, und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter“, so lesen wir schon im Kommunistischen Manifest. Engels formulierte den gleichen Gedanken im Anti-Dühring noch
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schlagkräftiger: „An die Stelle der Regierung über die Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ,abgeschafft‘, er stirbt ab.“ An diesem Punkt knüpfen heute einige Vertreter der Soziologie an; sie gehen nicht etwa von der Utopie einer klassenlosen Gesellschaft aus, sondern von der einer entpolitisierten Technik, die politische Herrschaft und Verwaltung in das Bedienen technisch-rationaler Apparaturen und die Anwendung wissenschaftlicher Methoden verwandelt. Danach werden Wahlen aus offenen politischen Entscheidungen zu machbaren technischen Prozessen, deren Ausgang durch statistische Methoden der Meinungsforschung ohnedies berechenbar gemacht werden soll; sie werden geradezu mit einem „deduzierbaren und manipulierbaren Produktionsvorgang“ gleichgesetzt. In der Verwaltung gelte technische Sachgerechtheit vor politischem Ermessen, „Sachdisziplin“ vor Herrschaftsdisziplin. Helmut Schelsky hat in einem Vortrag Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation28 diese Lage folgendermaßen beschrieben: „Wir behaupten nun, daß durch die Konstruktion der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ein neues Grundverhältnis von Mensch zu Mensch geschaffen wird, in welchem das Herrschaftsverhältnis seine alte persönliche Beziehung der Macht von Personen über Personen verliert, an die Stelle der politischen Normen und Gesetze aber Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation treten, die nicht als politische Entscheidungen setzbar und als Gesinnungs- oder Weltanschauungsnormen nicht verstehbar sind. Damit verliert auch die Idee der Demokratie sozusagen ihre klassische Substanz; an die Stelle eines politischen Volkswillens tritt die Sachgesetzlichkeit, die der Mensch als Wissenschaft und Arbeit selbst produziert. Dieser Tatbestand verändert die Grundlage unserer staatlichen Herrschaft überhaupt; er wandelt die Fundamente der Legitimität der Regierung als Herrschaft, der Staatsraison, der Beziehung der Staaten untereinander usw.“ Es ist unschwer zu erkennen, daß dies das Engelssche Rezept darstellt, und zwar übersetzt aus der Sprache des historischen Materialismus in die Sprache eines bis zum Äußersten vorgetriebenen soziologischen Strukturdenkens. Denken wir diese Gedanken zu Ende, so würde das Ergebnis lauten: An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Anwendung rational-technischer Verfahrensnormen, die der Politik, und das bedeutet auch den von ihr betroffenen Menschen, ihren Weg vorschreiben. „Der technische Staat beseitigt das traditionelle Verhältnis der Herrschaft.“ Die nur noch fiktive Entscheidungsfreiheit des Politikers besteht dann nur noch darin, „zwischen Sachgutachten wählen zu können“.29 Damit ist aber ein gefährlicher Punkt auf einer geistigen Gratwanderung erreicht, an dem der Staatsmann des technischen Staates nicht mehr als „Entscheidender“ oder „Herrschender“, sondern nur noch als „Analytiker“, „Konstrukteur“, „Planender“, „Verwirklichender“ erscheint. „Politik im Sinne der normativen Willensbildung fällt aus diesem Raume eigentlich prinzipiell aus, sie sinkt auf den Rang eines Hilfsmittels für Unvollkommenheiten des ,technischen Staates‘ herab (Schelsky).“30 Hier handelt es
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sich um nichts anderes mehr als um die totale Herrschaft einer Struktur, nämlich der technisch-rationalen Struktur unseres Zeitalters. Sicher ist es dem Soziologen erlaubt, gedankliche Modelle, Idealtypen unter Abstraktion von abweichenden Zügen der Wirklichkeit aufzustellen, aber sind hier noch Idealtypen im Sinne Max Webers gemeint? Wird nicht der „technische Staat“, der das Ende der Ideologie, der demokratischen sowohl wie der totalitären, herbeiführen soll, als die Vision einer ganz realen Zukunft verstanden? Der Historiker darf es sich gegenüber solchen Fragen nicht zu leicht machen und etwa allein auf den historischen Erfahrungssatz verweisen, daß in keinem Zeitalter der Menschheitsgeschichte von der ausschließlichen Herrschaft einer einzigen Struktur gesprochen werden kann und immer eine Mehrschichtigkeit historisch verschieden alter Strukturen nebeneinander bestand. Dies kann gewiß auch für unsere Zeit geltend gemacht werden, reicht aber nicht aus, um alle ihre Phänomene zu erklären. Eher kommen wir der Sache näher, wenn wir annehmen, daß es eine Art Gleichgewicht im Haushalt rationaler und irrationaler Kräfte eines Zeitalters gibt und die irrationalen Kräfte, mit ihnen die irrationalen Bedürfnisse der Menschen, sich an anderer Stelle ausbreiten, wenn sie an der einen unterdrückt werden. Das ist gewiß nicht statistisch beweisbar, wird aber durch unser geschichtliches Erfahrungswissen gerade über die letzten zwei Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte nahegelegt. Ähnlich scheint es mit dem Phänomen der Herrschaft zu sein: wird es über ein bestimmtes Maß hinaus eingeschränkt, bricht es an anderer Stelle wieder durch, oft in roher und brutaler Form, oft in höchst raffinierter Verkleidung. Jedenfalls ist auch in der am höchsten rationalisierten und technisierten Strukturwirklichkeit unserer Zeit der Drang nach Herrschaft von Personen über Personen nicht erloschen, sondern er erscheint immer wieder neu, zum Teil geradezu in Formen, die wir als pathologisch bezeichnen müssen, nicht weil sie von einer Durchschnittsnorm abweichen, sondern weil sie Krankheitssymptome einer höchst krisenhaften Gesellschaft darzustellen scheinen. Sowohl Tocqueville wie Jacob Burckhardt haben dies für unsere Zeit vorausgesehen: Tocqueville, indem er die Möglichkeiten der Machtkonzentration in einer auf dem souveränen Volkswillen beruhenden Ordnung ahnte; Burckhardt, weil er die Verwandtschaften industriell-technischer und militärischer Lebensformen sah. Später hat Max Weber andere bedeutsame Zusammenhänge aufgedeckt: Wenn alle traditionellen Herrschaftsformen untergehen, so meinte er, die nach ihm „kraft Glaubens an die Heiligkeit der von jeher vorhandenen Ordnungen und Herrengewalten“31 bestehen und wenn legale Herrschaftsformen wie die von Bürokratien oder auch Parlamenten zu versagen scheinen oder tatsächlich versagen, dann scheint die Neigung zu charismatischer Herrschaft „kraft affektueller Hingabe an die Person des Herrn und ihre Gnadengaben, insbesondere: magische Fähigkeiten, Offenbarungen oder Heldentum, Macht des Geistes und der Rede“32 zu Zeiten ins Ungemessene zu wachsen. Ich verwende hier den Begriff „charismatische Herrschaft“ im Sinne Max Webers ganz ohne Wertakzent. „Charisma“ soll bei ihm „eine als außeralltäglich ...
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geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften begabt oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird“.33 Eine besondere Anfälligkeit unserer Zeit für solche charismatische Herrschaft deutet Weber nur an; aus seiner in seinen politischen Schriften erhobenen Forderung nach plebiszitärem Führertum und ihm Raum gewährenden Verfassungsformen kann man indessen folgern, daß er aus der Analyse der strukturellen Bedingungen der modernen Zeit zu der Überzeugung von der Unvermeidlichkeit eines Sprungs in plebiszitärcharismatische Herrschaftsformen gelangt ist. Die Erfahrungen mit den modernen Formen „charismatischen Führertums“ und der in ihrem Zeichen geübten Gewaltherrschaft standen ihm dabei noch nicht zur Verfügung. Auch die volle Entwicklung der Herrschaft Lenins erlebte er nicht mehr. Diese Erfahrungen geben aber heute jeder Analyse dieses Phänomens einen veränderten Akzent: wir sehen hier nicht mehr eine Möglichkeit, die Krise politischen Handelns in der industriell-technischen Gesellschaft zu überwinden, sondern eher ein Symptom ihrer Krankheit. Tocqueville und Burckhardt, auch Spengler mit seiner Vorstellung vom Caesarismus als Ausdruck der politischen Formlosigkeit der Decadence, befanden sich schon auf diesem Wege. Indessen muß es sich beim Auftreten hemmungsloser Machtmenschen in unserem Jahrhundert, die ohne jede Bindung an höheres oder gesetztes Recht Entscheidungen nach Willkür treffen und darin weit über die Repräsentanten des Absolutismus hinausgehen, um eine strukturbedingte Erscheinung handeln. Sie besteht offenbar in der Möglichkeit, Macht in einer technisch-rationalen Welt fast vollständig lenkbar zu machen, sich der stärksten Mittel der Machtintensivierung zu bedienen, die die Geschichte bisher kennt. Sie gestatten es, ebensowohl Menschen willkürlich zu verpflanzen, wie sie auszurotten und sie in jeder Weise als ein Mittel zu gebrauchen. Wo solche Machtmittel ein unvorstellbares Maß von Wirkungskraft erreichen, kann Macht, ja der Staat selbst zum Ungeheuer entarten. Es tritt dann ein anderer Effekt als der des rein an Sachgesetzlichkeiten orientierten technischen Staates ein: Die Macht ist ferne davon, sich den Sachnotwendigkeiten der technischen Zivilisation anzupassen oder gar unterzuordnen, sie steigert sich vielmehr ins Gigantische, ja Monströse. Die äußerste Grenze, bis zu der sie dabei vordringt, ist der Punkt, wo sie sich durch die Überspannung ihres Systems selbst zugrunde richtet. Es ist eine sehr lebendige Erfahrung unserer Zeit, daß der weltgeschichtlich wirksame Mensch, emporgetrieben von den besonderen Strukturbedingungen unseres Jahrhunderts, aber selbst ohne innere Bindung an sie, die Strukturen zerstört, innerhalb deren er wirkte. So hat Hitler das Gefüge der nationalen Gesellschaft Deutschlands und seine historischen Fundamente vernichtet: den deutschen Nationalstaat nicht weniger als die räumliche Ausdehnung des deutschen Volkes, seine innere Zuordnung auf ein hauptstädtisches Zentrum, wie noch manches andere, noch
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gar nicht unmittelbar zu Greifende, was sich erst in Generationen herausstellen kann. Der Mensch als Zerstörer der Strukturen – das ist die drastischste Warnung, die uns unsere eigene Zeit vor dem Mißverständnis erteilt hat, ihr strukturelles Gefüge als unausweichliche Norm zu nehmen. Die Weltgeschichte belehrt uns auch hier wieder eines Besseren, selbst dadurch, daß sie uns das Schlechtere als reale Möglichkeit vor Augen führt: Das weltgeschichtliche Individuum, wie es Burckhardt genannt hat, erscheint in einer genormten Welt als die große Anomalie, ja als die Perversion wahrer Größe. Damit sind wir zu unserer Grundfrage nach dem Verhältnis von Persönlichkeiten und Strukturen auf einem Umwege wieder zurückgekehrt. Es läßt sich nicht mit einer eindeutigen Formel fixieren, die jede historische Eventualität decken könnte, sondern es muß in jeder Epoche einer besonderen „Verrechnung“ unterzogen werden. Diese Verrechnung ist eben das Geschäft des Historikers, der aus den Überresten einer toten Vergangenheit die Fakten zu rekonstruieren hat, bevor er an ihre Bewertung, an ihre Unterordnung unter allgemeinere idealtypische Begriffe gehen kann. Beim Sammeln solcher Überreste von Vergangenheiten ist sicher der große Mensch über Gebühr bevorzugt, weil er mehr hinterläßt als die vielen einzelnen, die nicht aus der geschichtlichen Anonymität heraustreten. Vielleicht ist er auch gegenüber den Strukturen, das heißt den Institutionen und sozialen Gebilden, in ähnlicher Weise im Vorteil, weil ihre Reste als die Hinterlassenschaften passiver Faktoren hinter denen der Handelnden und Handlungen an unmittelbarer Aussagekraft zurückbleiben. Darum wird die historische Wissenschaft, um eine Lücke ihres traditionellen Quellenmaterials zu schließen, zu neuen Methoden der Sammlung und Interpretation gedrängt, unter denen auch die Ermittlung quantitativer Größen eine erhebliche Bedeutung gewinnen muß. Sie sind weniger dazu geeignet, den Einfluß des großen Einzelmenschen festzuhalten als die Lebensgewohnheiten der vielen Einzelmenschen, die nicht durch große Handlungen und Leistungen hervortreten, deren tägliches Verhalten aber unser erhöhtes geschichtliches Interesse erweckt. Freilich wird man sich vor dem Mißverständnis zu hüten haben, in dieser Sphäre allein den Goldgrund des eigentlichen und wahren Menschseins ausheben zu können, wie dies die moderne französische Geschichtswissenschaft gelegentlich in der Entdeckerfreude neuer geschichtlicher Erkenntnisbereiche tat.34 Vielmehr ist der Mensch in allen Schichten und Strukturen des geschichtlichen Lebens, oben und unten, wirksam. Elitebildungen sind in jeder Gesellschaft möglich und notwendig, und es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, wollte man aus vergangenen Epochen die einzelnen Menschen und die leistungsfähigen Gruppen als Handlungsträger der Geschichte auslöschen. Je näher wir unserer Zeit kommen, desto breiter wird das Fundament geschichtlicher Wirksamkeit, desto interessanter darum auch das Tun und Denken der großen Massen, das der historischen Darstellung ganz neue, in erster Linie von der Sozialgeschichte zu erfüllende Aufgaben stellt. Indessen behält auch dann noch das große weltgeschichtliche
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Individuum seinen Rang in der Geschichte. Seine Funktionen lassen sich gerade gegenüber den Strukturen als überpersönlichen dauernden Gliederungsformen in der verschiedensten Richtung bestimmen. Ich will, nachdem wir vom Beispiel Hitlers als eines Zerstörers von Strukturen ausgegangen sind, noch an zwei weiteren Beispielen andere Möglichkeiten aufweisen, die auch in der technisch-industriellen Gesellschaft noch keineswegs verlorengegangen sind: die Möglichkeit der Strukturbegründung und die der Strukturerhaltung durch große Einzelmenschen. Für das erste möge uns Lenin als Testfall dienen. Ihm verdankt das kommunistische System seine erste Verwirklichung. Vor ihm gab es nur Theorien über die Strukturformen einer sozialistischen Gesellschaft, von denen das von Lenin begründete System in entscheidenden Punkten abweicht. So hat er das Machtproblem in der kommunistischen Politik und in ihrer Theorie mit äußerster Schärfe erkannt und in seinen Schriften vor der Revolution, wie Was tun? von 1902 und Staat und Revolution von 1917, die Frage der Machtergreifung und der Machterhaltung in den Mittelpunkt gestellt. So bricht er mit den Traditionen des älteren Marxismus in seiner Auffassung von der Partei und stellt die Forderung, die kommunistische Partei als Elitepartei von Berufsrevolutionären zu organisieren. Später konzentriert sich sein ganzes Denken auf die Periode der revolutionären Diktatur des Proletariats – ein Begriff, den zwar auch Marx schon gelegentlich verwendet, dem Lenin aber erst Inhalt und Bedeutungsfülle gibt. Gegen die Schlüsse, die aus Engels’ These vom „Absterben“ des Staates gezogen werden, entwickelt er das Programm eines Diktaturstaats mit „einer ungeteilten und sich unmittelbar auf die bewaffnete Gewalt der Massen stützenden Macht“. Dann heißt es: „Das Proletariat bedarf der Staatsmacht, einer zentralisierten Organisation der Macht, einer Organisation der Gewalt, sowohl zur Unterdrückung des Widerstandes der Ausbeuter als auch zur Leitung der ungeheuren Masse der Bevölkerung, der Bauernschaft, des Kleinbürgertums, der Halbproletarier, um die sozialistische Wirtschaft ,in Gang zu bringen‘.“35 Diesem Konzept ist die Leninsche Staatsschöpfung mit ihren harten Gewaltmethoden und ihrem Diktaturcharakter ebenso gefolgt wie dem in dem bekannten Satz formulierten Programm: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“ Es stellte die Einheit von politischer Revolution, staatlicher Machtbildung und industriell-technischem Aufbau her, die für das Schicksal Rußlands eine säkulare Wendung herbeigeführt hat, wenn sie auch schon im zaristischen System vorbereitet war. Es ist kein Zweifel, daß Lenin die besondere Struktur eines sowohl russischen wie sozialistischen Staates geschaffen und durchgesetzt hat. Er hat den Widerspruch gegen die Mehrheit der Führer der bolschewistischen Partei und gegen bisherige Dogmen des Kommunismus nicht gescheut, wenn es um die Grundprinzipien seines Revolutions- und Machtdenkens ging. Man kann ihm deshalb mit gutem Grund die Bedeutung einer strukturbegründenden Persönlichkeit zuerkennen.
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Von Strukturerhaltung können wir sprechen, wenn durch das Eintreten unerwarteter Ereignisse, vor allem durch das Eingreifen geschichtlicher Persönlichkeiten historisch fällige und als bevorstehend angesehene Wandlungen politischer oder sozialer Grundverhältnisse aufgeschoben oder vermieden werden. Ein Beispiel dafür gibt Bismarcks Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten im September 1862, als die preußische Monarchie durch den großen Verfassungskonflikt, durch die Auseinandersetzung zwischen Königtum und Parlament über die Armee, in eine bedrohliche Krise geraten war. Sicherlich hat Bismarck mit seiner Zusage an den König, auch gegen das Parlament die von der Krone inaugurierte Politik der Heeresreform fortzusetzen, die preußische Monarchie und ihr inneres System für mehr als ein halbes Jahrhundert erhalten. Hätte Wilhelm I. die Krone niedergelegt und wäre in irgendeiner Weise der Einfluß des Parlaments in einer neuen Regierung unter einem anderen König verstärkt worden, so wäre in Preußen eine Systemänderung eingetreten, die die grundlegenden politischen Strukturen des Staates und der Gesellschaft gewandelt hätte. Ein Systemwechsel im stärksten monarchischen Staat Deutschlands hätte aber die Lösung der deutschen Frage ebenfalls in andere Bahnen gedrängt, als sie Bismarck mit der nationalen Revolution von oben gegangen ist. Eine Strukturveränderung wäre auch für ganz Deutschland unvermeidlich geworden. Es kann nun zweierlei gegen diese These eingewandt werden: einmal dies, daß eine solche Veränderung auch unter Bismarck nicht unterblieben ist, ja daß sie wie zum Beispiel durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts und die Beseitigung einer Reihe norddeutscher Staaten im Jahre 1866 radikalere Konsequenzen hatte als sie unter dem stärkeren Einfluß der liberalen Bewegung zu erwarten gewesen wären. Indessen ist es unbestritten, daß Bismarck mit solchen Konzessionen an den demokratischen und nationalen Zeitgeist das Ganze des preußischen Systems gerettet hat. Der zweite Einwand kann sich dagegen richten, daß äußere Ereignisse wie das Auftreten Bismarcks und seine Erfolge in den sechziger Jahren nur ein Beweis für die strukturelle Stärke des alten Preußen gewesen sind, daß eben dieser und nicht einfach der großen Persönlichkeit eines Staatsmannes die Erhaltung der preußischen Monarchie zu verdanken ist. Doch eine solche Deutung würde die Abhängigkeit der Strukturen von einmaligen Ereignissen und den in ihnen wirkenden Personen nur verdunkeln: Begründung und Erhaltung von Staaten und gesellschaftlichen Systemen in der Geschichte wie auch ihr Untergang sind gewiß gebunden an die Kraft oder die Schwäche der sie tragenden Strukturen, aber ihr Schicksal kann sich in Tagen und Stunden entscheiden, in denen ein einzelner da ist, der dem Untergang widersteht oder ihn durch sein Versagen herbeiführt. Auch das Denken in Vorstellungen wie der ,,langen Dauer“ oder der Unbewegtheit tiefer Strukturen gegenüber Ereignissen an der Oberfläche des geschichtlichen Lebens kann den Entscheidungscharakter der Geschichte nicht aufheben. In ihr ereignen sich oft Dinge, die in ihrer Wirkung einen ähnlichen Zufallscharakter zu haben scheinen wie Naturkatastrophen. Sie können selbst die
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untersten Schichten des geschichtlichen Lebens, die am unberührtesten von den Veränderungen der großen Geschichte zu sein scheinen, tief aufwühlen und ihre Dauer in Frage stellen. Wer die Kriegskatastrophen unseres Jahrhunderts in ihren Folgen für das persönliche und gesellschaftliche Dasein erlebt hat, wird schwerlich dem falschen Glauben an die Unveränderbarkeit des einfachen Lebens anhängen können, obwohl es natürlich unbestreitbar widerstandsfeste Kerne der geschichtlichen Substanz gibt. Auch hierfür bieten die großen Katastrophen unserer Zeit in dem Wiederaufleben alter Tendenzen, Gewohnheiten und struktureller Gegebenheiten nach einer fast völligen Unterbrechung der Kontinuität manche Beispiele. Kontinuität und Diskontinuität halten sich in allen Schichten des geschichtlichen Lebens vom einfachen Manne bis zu den Spitzen eines politischen und sozialen Systems die Waage. Eine zu radikale Trennung zwischen Ereignisgeschichte und Strukturgeschichte würde den Eindruck allzusehr aufheben, daß es sich hier um einen untrennbaren Zusammenhang von oben und unten, der einzelnen und der Masse in der Geschichte handelt. Es ist vielmehr die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, gerade diesen Zusammenhang deutlicher sichtbar zu machen, als er bisher gesehen wurde. Wenn wir strukturelle Gebilde als von Menschen gestaltete, von ihrer Bereitschaft getragene Lebensformen ansehen, dann entsteht kein Gegensatz zwischen einer obersten Region der Geschichte, in der einzelne Ereignisse bewirken, und einer unteren, in der der einzelne Mensch nur als Spielball außermenschlicher Kräfte erscheint. Auch im Zeitalter der Massen, des common man, wird die Schichtung des politischen Lebens in gestaltende und bewirkende Kräfte und in die breite Masse der Ausführenden, der Leidenden und Mitgerissenen nicht aufhören, nur daß sie nicht eine abgeschlossene Schichtung ohne Übergänge und Vermittlungen ist. An die Stelle starrer Abkapselungen ist ein kontinuierlicher Austausch, ist Aufstieg und Abstieg getreten. Die Geschichtswissenschaft wird gerade diesen Prozessen der gleitenden Schichtungen ihre besondere Aufmerksamkeit schenken, und sie kann dies nur in engstem Kontakt mit den Sozialwissenschaften leisten. Sie wird auf der anderen Seite in der Geschichte nicht ein System völliger sozialer Determiniertheit, sondern eines ständigen Kampfes zwischen persönlicher Entscheidung und allgemeiner Notwendigkeit sehen. Ranke hat die Augenblicke in der Geschichte, in denen mehrere Möglichkeiten nebeneinander bestehen, gerne Momente genannt. In ihnen entscheiden Menschen mit ihren Fehlern und Fähigkeiten darüber, was einst als „Notwendigkeit“ in die Geschichte eingehen wird.36 Sie halten durch ihre Akte der Entscheidung die Geschichte offen.
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Der Ausdruck findet sich bei Philippe Ariès, Le temps de l’histoire, 1954, S. 282., zit. b. F. Wagner, Moderne Geschichtsschreibung. Ausblick auf eine Philosophie der Geschichtswissenschaft, 1960, S. 95. Vgl. dazu den Aufsatz von F. BraudeI, Histoire et sciences sociales. La longue durée, in: Annales XIII, 1958, S. 725 ff. J. G. Droysen, Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. von R. Hübner, 1943, S. 13. Droysen, a. a. O., S. 202. Droysen, a. a. O., S. 203. Droysen, a. a. O., S. 203. Darauf bin ich in meinem Aufsatz „Das historische Weltbild Leopold von Rankes“, in: Begegnungen mit der Geschichte, 1962, S. 105 ff., bes. S. 119 ff., näher eingegangen. Ranke, Französische Geschichte, 3. Band, 12. Buch, 3. Kap. Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique, (Œuvres Complètes, Ed. J.-P. Mayer I, 1, p. 45: „On peut le (sc. l’état social) considérer lui-même comme la cause première de la plupart des lois, des coutumes et des idées qui règlent la conduite des nations; ce qu’il ne produit pas, il le modifie.“ Darüber vor allen Alfred Weber, Ideen zur Staats- und Kultursoziologie, 1927, S. 31 ff.: Der soziologische Kulturbegriff. Karl Marx, Nationalökonomie und Philosophie, in: K. M., Die Frühschriften, hrsg. von S. Landshut, 1953, S. 237. Von Durkheim ist in diesem Zusammenhang das 1895 in Buchform erschienene Werk „Les règles de la méthode sociologique“ zu nennen. (Deutsche Ausgabe hrsg. von R. König 1961, Soziologische Texte, Bd. 3.) Die deutsche Richtung der verstehenden Soziologie, namentlich Max Weber, unterscheidet sich in diesem Punkt entscheidend von der Durkheim-Schule. Ähnlich wie es hier versucht wurde, hat auch in Frankreich Pierre Renouvin mehrfach auf die eigenen Traditionen der Geschichtswissenschaft, namentlich der Geschichte der Außenpolitik, hingewiesen, die schon immer die „forces profondes“ berücksichtigt habe. Vgl. die verschiedenen Äußerungen Renouvins vor allem in Introduction à l’histoire des relations internationales, 1964. Zum ganzen auch F. Wagner, Moderne Geschichtsschreibung, 1960, S. 99 f. Fernand BraudeI, La Méditerranée et le Monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, 1949, nennt in der Einleitung (Préface, p. XIII) als Kronzeugen für das Wort „l’histoire structurale“ Gaston Roupnel ohne nähere Angaben. Es erscheint als Kapitelüberschrift in dem Buche von Roupnel, Histoire et destin, 1943. Im übrigen macht Braudel noch differenziertere Unterscheidungen zwischen einer „histoire quasi-immobile“ („celle de l’homme dans ses rapports avec le milieu qui l’entoure“), einer „histoire lentement rythmée“, die mit der „histoire structurale“ gleichgesetzt und als Geschichte „des groupes et des groupements“ definiert wird. Dazu kommt dann schließlich noch die „histoire traditionelle“ oder „histoire événementielle“.
164 | T HEODOR S CHIEDER 14 Otto Brunner, Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte, in; Neue Wege der Sozialgeschichte, 1956, S. 7 ff. – W. Dilthey spricht gelegentlich von der „Struktur eines Wirkungszusammenhangs“ (Ges. Schriften, Bd. VII, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 19613, S. 153). 15 Arbeitsgemeinschaft f. Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften, Heft 66, 1957. 16 Bei Brougham, Colonial Policy I, 1803, S. 50 (nach New English Dictionary, Oxford 1919, IX, 1, p. 1165). 17 Karl Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, deutsch 1958, S. 210 ff., namentlich S. 216 f. 18 Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, 1930, Zitat S. 194. 19 Artikel „Struktur“ in: Soziologie, hrsg. von R. König, Fischer-Lexikon 1958. – Es sei noch hingewiesen auf die methodisch präzise Definition von „structure“ bei S. F. Nadel, The Theorie of Social Structure, 1957, namentlich S. 7 ff.: „Structure indicates an ordered arrangement of parts, which can be treated as transposable, being relatively invariant, while the parts themselves are variable. “ 20 Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, 1923, S. 57 ff., Zitat S. 62. 21 Lukács, a. a. O., S. 86. 22 Dieser Gedanke tritt in verschiedenen Arbeiten hervor, die Dietrich Gerhard jetzt gesammelt unter dem Titel „Alte und neue Welt in vergleichender Geschichtsbetrachtung“, 1962, herausgebracht hat. 23 Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1922, S. 415. 24 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht,1928. 25 Smend, a. a. O., S. 6. 26 Tocqueville, De la démocratie en Amérique, Œuvres Complètes I, 2, p. 334. 27 Zitate aus On liberty, deutsche Ausgabe Zürich 1945. 28 Arbeitsgemeinschaft für Forschung, Geisteswissenschaften, Heft 96, 1961. Folgendes Zitat S. 21 f. 29 Zitate a. a. O. S. 26 u. 28. Auf das oben wiedergegebene Zitat von Engels und seine Weiterführung durch Lenin in „Staat und Revolution“ weist Schelsky in Anm. 19, S. 26 selbst hin. Er sieht die „eigentliche Utopie“ der These von Engels und Lenin „in ihrer Kombination mit dem Sozialismus oder Kommunismus, also einer bestimmten, im voraus und das heißt ‚untechnisch‘ konzipierten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung“. 30 Alle Zitate Schelsky, a. a. O., S. 25. 31 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 11, S. 355. 32 Max Weber, a. a. O. I, S. 140. Über charismatische Herrschaft und plebiszitäres Führertum bei Weber vgl. auch das Buch von Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, 1959, vor allem S. 387 ff., und die sich daran knüpfende Diskussion in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 13.Jg. 1961, Heft 2, S. 258 ff. Neuerdings dazu auch: Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages. Max Weber und die Soziologie heute, 1965, namentlich das Referat von R. Aron „Max Weber und die Machtpolitik" und die daran anschließende Diskussion, S. 103 ff.
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33 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 19564, II, S. 552. 34 Darüber der aufschlußreiche Abschnitt „Unentschiedener Methodenstreit“ bei Fr. Wagner, Moderne Geschichtsschreibung, 1960, S. 89 ff., und Gerhard Ritter, Zur Problematik gegenwärtiger Geschichtsschreibung, in: Lebendige Vergangenheit, 1958, S. 255 ff. Neuerdings H. Stuart Hughes, The Obstructed Path. French Social Thought in the Years of Desperation 1930-1960, 1968; Hier vor allem das 2. Kapitel: The Historians and the Social Order (S. 19 ff.). 35 Lenin, Staat und Revolution. 36 Ein Beispiel dafür hat Theodor Eschenburg in seinem Aufsatz „Die Rolle der Persönlichkeit in der Krise der Weimarer Republik: Hindenburg, Brüning, Groener und Schleicher“ (Vjh. f. Zeitgesch., 9, 1961, S. 1 ff.) gegeben.
Struktur und Persönlichkeit als methodologisches Problem der Geschichtswissenschaft* J ÜRGEN K OCKA
Das kürzlich erschienene Buch eines Genfer Internisten versammelt die Krankengeschichten von 28 führenden Politikern der Gegenwart und Vergangenheit. Der Verfasser kommt zu dem Schluß, daß die parlamentarische Kontrolle der Staats- und Regierungschefs zu ergänzen sei durch eine unabhängige ärztliche Kontrolle. Eine Fallstudie, mit der er sich besonders stark befaßt, ist die über den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der 1921 an Kinderlähmung erkrankte, sich lange Jahre aber mit unbändiger Energie über die Behinderung hinwegsetzte. „Von Mitte 1944 an aber – etwa um die Zeit der alliierten Invasion – schmolzen seine Kräfte buchstäblich hinweg. Im Februar 1945, als der Dreiergipfel von Jalta die Landkarte großer Teile der Welt neu zeichnete, war Roosevelt ein dem Tod geweihter Mann. Genauso übrigens wie sein Chefberater Harry Hopkins, der an einer seltenen Blutkrankheit litt, die die Krebserkrankung der Leber beschleunigte. ‚Er ist ein alter kranker Mann‘, sagte Winston Churchill über Roosevelt, ‚und er ist bereit, allem zuzustimmen.‘ Churchills persönlicher Arzt ... beobachtete an Roosevelt ‚alle Anzeichen einer fortgeschrittenen Gehirnverkalkung‘. Roosevelts Reizbarkeit, seine Müdigkeit, sein Konzentrationsmangel seien augenfällig gewesen, Roosevelt und Hopkins – ‚zwei kraftlose Männer, deren Tage gezählt waren ... und ihnen oblag als Hauptaufgabe, Stalin gegenüberzutreten. Er (Roosevelt) kann einfach nicht voll begriffen haben, was er Stalin zugestand.‘ Zwei Monate nach Jalta war er tot.“1 Die Botschaft ist klar, die Teilung Europas hätte vielleicht vermieden werden können, die Teilungslinie wäre jedenfalls an einer anderen Stelle verlaufen und die Weltgeschichte hätte sich in einigen wichtigen Aspekten *
Jürgen Kocka, Struktur und Persönlichkeit als methodologisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: Michael Bosch (Hg.), Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte. Historische Bestandsaufnahme und didaktische Implikationen (Studien Materialien Bd. 1: Geschichtsdidaktik), Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann 1977, S. 152-169.
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anders entwickelt, hätte damals eine andere Persönlichkeit auf dem amerikanischen Präsidentenstuhl gesessen. Entsprechend implizieren auch jene, die – wie es auch auf der letzten Tagung, die zum Thema „Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte“ hier in Loccum abgehalten wurde, geschah2 – den Nationalsozialismus als Hitlerismus interpretieren und ihn primär als Produkt des Willens, der Macht, der Ziele und der Persönlichkeit Hitlers verstehen wollen. Dem damit nahegelegten persönlichkeitsgeschichtlichen Ansatz scheinen die Haupttrends der jüngeren Geschichtswissenschaft, auch hier in der Bundesrepublik, entgegenzulaufen. 1951 stellte Werner Conze in der Historischen Zeitschrift die erste Auflage des Buches von Fernand Braudel über die Welt des Mittelmeers zur Zeit Philipps II. vor. Das 1949 erschienene Buch hielt einzelne Ereignisse, Entscheidungen und Persönlichkeiten für ziemlich belanglos, widmete dafür aber der „histoire des structures“ und den übergreifenden Veränderungsprozessen, wie etwa Konjunkturen, große Aufmerksamkeit.3 Conze übersetzte damals „histoire des structures“ mit „Strukturgeschichte“, und spätestens um diese Zeit begann dieser Begriff seine Karriere auch in der hiesigen Geschichtswissenschaft. Strukturgeschichte wurde bald synonym mit „Sozialgeschichte“ gebraucht, und in der methodologischen Diskussion wurde zunehmend die Notwendigkeit betont, übergreifende Strukturen und Prozesse zu untersuchen, nicht aber so sehr Personen- oder Ereignisgeschichte zu treiben. Nun wird ja in der Praxis von Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht an Universität und Schule meist nur wenig von dem eingelöst, was in der jeweils methodologischen Diskussion programmatisch gefordert wird. Doch in diesem Falle wird man mindestens in bezug auf die Universitätsausbildung, aber wohl auch, wenn man dem soeben gehörten Referat4 folgt, in bezug auf den Schulunterricht, sagen können, daß die personengeschichtliche Ausrichtung in den meisten Veranstaltungen wohl nicht überwiegt. Dieser Gegensatz zwischen Betonung der Persönlichkeit und Betonung der Strukturen in der Geschichte ist natürlich nicht absolut. Auch die meisten methodologischen Abhandlungen, einschließlich der Überlegungen, die ich Ihnen jetzt vortragen möchte, kommen zu dem Ergebnis, daß beide Dimensionen in der Geschichtswissenschaft zu beachten sind und daß gerade die Vermittlung von beiden untersuchenswert ist. Handelt es sich also um ein Scheinproblem? Schon die Diskussion im Anschluß an den vorhin gehaltenen Vortrag läßt vermuten, daß dem nicht so ist. Um zu entwickeln, was ich als den eigentlichen Kern der Debatte für und gegen Strukturgeschichte begreife, möchte ich gern mit einer kurzen, notwendig verkürzten Skizze der wissenschaftsgeschichtlichen Situation beginnen, in der dieses Programm der Strukturgeschichte um 1950 herum in der Bundesrepublik vorgelegt wurde.
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I. Die Deutsche Geschichtswissenschaft – besser: einige ihrer kritischeren und selbstkritischeren Vertreter – sah sich nach 1945 vor allem mit drei Unzulänglichkeiten ihrer Zunft konfrontiert, die nach Abhilfe drängten. Ein relativ unverdächtiger Zeuge für dieses Gefühl scheint mir Gerhard Ritter zu sein, der dieses Gefühl der Unzulänglichkeit, dieses Gefühl der Selbstkritik in einem Vortrag auf dem Historikertag von 1949, dem ersten nach dem Krieg, deutlich formulierte und dann auch in der Historischen Zeitschrift druckte5: 1. hatte die deutsche Neuzeitgeschichte, die Fachhistorie, zumindest soweit sie sich mit der neueren Zeit beschäftigte, dem Staat als dem angeblich eigentlichen Gegenstand der Geschichte ein großes Übergewicht eingeräumt. Das hatte viele Gründe, viel ist darüber diskutiert worden, und ich muß mich hier auf sehr verkürzende Bemerkungen beschränken. Es handelte sich um eine allgemeine Tendenz der west- und zentraleuropäischen Geschichtswissenschaften im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die jedoch in Deutschland besonders stark hervortrat. Diese Staats- und Politikorientierung insbesondere der deutschen Neuzeitgeschichte hing damit zusammen, daß die Geschichtswissenschaft ihre entscheidenden Prägungen im frühen 19. Jahrhundert erfuhr, d. h. in einer Zeit, die in der Tat und nicht zu Unrecht von den Modernisierungsleistungen des absolutistischen Militär- und Beamtenstaates beeindruckt war. Im 17. und 18. Jahrhundert haben in der Tat die machtvollen Staatsapparate und ihre Spitzen in vielen Fällen wichtige Initiativ- und Entwicklungsfunktionen wahrgenommen, mehr als das von seiten der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Klassen geschah, und die Geschichtswissenschaft lag insofern nicht gar so falsch, wenn sie in diesen Staatsapparaten, in diesen Motoren der inneren und äußeren Staatsbildung (Otto Hintze), die Subjekte der Geschichte zu sehen glaubte. Problematischer wurde diese Sichtweise erst, als im Laufe des 19. Jahrhunderts sich ein Bereich „Gesellschaft“ auszufächern begann und von dem Bereich „Staat“ absetzte, als mit der Industrialisierung immer stärker Kräfte geschichtsmächtig wurden und Wandel vorantrieben, die nicht primär staatlich waren, sondern sich teilweise geradezu mit kritischer Spitze gegen staatliche Herrschaft durchzusetzen suchten. Man denke an die Dynamik wirtschaftlicher Wachstums- und Wandlungsprozesse und die Dynamik sozialer Konflikte in ihrem Gefolge. Je mehr dies geschah, desto mehr geriet eine aufs Staatliche konzentrierte Historie in die Gefahr, wichtige Bereiche der geschichtlichen Wirklichkeit zu vernachlässigen oder doch nur, wie etwa bei Treitschke, als Folgen und Bedingungen staatlicher Handlungen einzubeziehen; die Historie geriet damit in die Gefahr, eine Grunderfahrung der Zeit, nämlich die Erfahrung von der Geschichtsmächtigkeit sozialer und ökonomischer Prozesse, zu verdrängen. Eben solch ein Verengungs- und Verdrängungsprozeß lief ab trotz vieler einzelner Gegentendenzen und Ausnahmen, die hier nicht
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behandelt werden können. Und dieser Verengungs- und Verdrängungsprozeß hatte gewisse politische Funktionen für die Selbstdarstellung des endlich errungenen Nationalstaats und für die Abblendung seiner sozialen Konflikte und Probleme, die im Aufstieg der sozialistischen Arbeiterbewegungen nur ihren deutlichsten Ausdruck fanden. Der erste Weltkrieg, die Niederlage, die sich damit verstärkende Absetzung vom Westen sowie die den Historikern angesonnene und von ihnen aufgenommene Notwendigkeit, diesen Krieg und seinen Ausgang zu verarbeiten, trugen zur Verfestigung dieser Einengungstendenz bei, obgleich die stärkere Beachtung geistesgeschichtlicher Dimensionen – man denke an Meinecke – eine gewisse, wenn auch wiederum einseitige Gegentendenz darstellte. Wenn dies die Hauptlinie der deutschen fachhistorischen Entwicklung bis ins Dritte Reich hinein war – ich betone „fachhistorische“, weil die neuerdings häufiger diskutierten sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Ansätze vor 1914 ja doch, wenn man genauer hinsieht, meistens von Sozialwissenschaftlern wie Schmoller oder Sombart betrieben wurden, nicht von der Fachhistorie –, dann wird erklärlich, warum die Ökonomie und die sozialen Prozesse im engeren Sinn (etwa Veränderungen der Familienstruktur oder Urbanisierung) und die sozialen Schichten, Klassen, Gruppen und Konflikte, wenn überhaupt, dann nur von schwachen Randdisziplinen wie der separiert ein Eigenleben führenden Wirtschafts- und Sozialgeschichte wahrgenommen wurden oder aber eben von anderen Wissenschaftlern, so den damals noch stärker historisch arbeitenden Sozialwissenschaftlern. Hier hat nun die Erfahrung zweier Weltkriege, einer Diktatur und eines Zusammenbruchs, und das alles im Erlebnishorizont einer Generation, gewisse befreiende Nebenwirkungen gehabt. Solche Katastrophen ließen nämlich die traditionelle Staatsorientierung oder gar Staatsfrömmigkeit nicht unversehrt; diese aber hatten der an sich naheliegenden Zuwendung vieler Historiker zu sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Prozessen bis dahin starke Barrieren in den Weg gestellt. U. a. als Folge dieser Veränderung wuchs nach dem Krieg, besonders in der unmittelbaren Nachkriegszeit und dann wieder in den 1960er Jahren, das Bewußtsein, daß wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Themen und Fragen bisher zu wenig Raum gewährt worden sei. Die Kritik formulierte, wie gesagt, bereits Gerhard Ritter 1949: die deutsche Historie sei mit ihrer „einseitigen Pflege politischer Historie im engeren Sinn und einer allzu sublimierten Geistesgeschichte nachgerade rückständig geworden“ (S. 9). 2. Ein zweites Defizit der deutschen Geschichtswissenschaft hing eng mit dem eben genannten zusammen, war aber nicht damit identisch. Eine „gewisse Hilflosigkeit gegenüber dem modernen Massenmenschentum“ nannte es Ritter; er meinte die Hilflosigkeit der Historiker bei der Erfassung überindividueller, kollektiver Phänomene, bei der Erfassung von Verhältnissen und Zuständen im Unterschied zu Ereignissen, Persönlichkeiten, Entscheidungen und Handlungen. Und in der Tat wird man wiederum mit vielen
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Einschränkungen sagen dürfen, daß die in Deutschland und anderswo im 19. und frühen 20. Jahrhundert herrschende Geschichtsbetrachtung sich eher auf die Interpretation verstehbarer Entscheidungen und Handlungen einließ als auf die Analyse objektiver Bedingungen und Funktionen von Handlungen; daß sie Ereignissen und Geschehnissen eher ihre Aufmerksamkeit zuwandte als den sich nur langsam verändernden Hintergründen der Ereignisse und Geschehnisse; daß sie sich leichter tat, große Personen in das Zentrum ihrer Darstellungen zu rücken als überpersönliche oder auch „unterpersönliche“ Zusammenhänge. War doch die Geschichtswissenschaft seit Niebuhr und Ranke international auf Quellen und Methoden, meist auf verbale Quellen und hermeneutisch auslegende Methoden, orientiert, die ihr Entscheidungen und Handlungen, Handelnde mit ihren Motivationen und ihren Biographien, Ereignisse und Geschehnisse im Ablauf der Zeit interessanter und zugänglicher erscheinen lassen mußten als anonyme Kräfte, „Zustände“ und „Verhältnisse“, Handlungsbedingungen und -funktionen. Wiederum bezeichnen diese Aussagen nur den allgemeinen Trend, denn leicht ließe sich zeigen, daß gerade die bedeutenderen Historiker – denken Sie an Jacob Burckhardts welthistorische Potenzen oder den Staat bei Ranke – den Hintergrund der Ereignisse, die Bedingungen der Handlungen durchaus nicht ignorierten. Doch dürften die vorgetragenen Bemerkungen den Haupttrend in der damaligen Geschichtswissenschaft zwar stark vereinfacht, doch im ganzen richtig wiedergeben. Auch dieser Trend trat in Deutschland besonders stark in Erscheinung, denn hierzulande wurde im Streit um den Historiker Karl Lamprecht die von diesem geforderte Hinwendung zu den „zuständlich-kollektiven“ Aspekten der Geschichte besonders scharf und gründlich von der Historikerschaft abgewiesen und als kollektivistische Geschichtsauffassung verurteilt, was durch gewisse Schwächen der Lamprechtschen Argumentation erleichtert wurde. Die große Skepsis der meisten Historiker gegenüber den entstehenden systematischen Sozialwissenschaften ging mit dieser Abwehr gegenüber „kollektivistischer“, d. h. auf Kollektivphänomene konzentrierter Geschichtsbetrachtung Hand in Hand. Diese – wie gesagt: keineswegs absolute – Sichtweise der Geschichte erlaubte ihr in der Tat große Erfolge bei der detaillierten empirischen Arbeit und bei der sinnvollen Interpretation großer Bereiche der historischen Wirklichkeit. Doch zugleich wurde diese Sichtweise in wachsendem Maße ideologisch; versperrte sich doch die Geschichtswissenschaft auf diese Weise den Zugang zu fundamentalen Veränderungsfaktoren, die das Leben der vielen bestimmten. Sie versperrte sich die konsequente Thematisierung von Konstellationen, Kräften und Prozessen, die sich über die Köpfe der Menschen hinweg durchsetzten und wirkten, auch wenn die einzelnen Akteure es evtl. nicht so beabsichtigten. Die Methodologie einer so verfahrenden Geschichtswissenschaft implizierte ein bestimmtes Modell geschichtlichen Wandels, das insbesondere im Zeitalter der Industrialisierung nur noch par-
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tiell etwas mit Wirklichkeit zu tun hatte, ein Modell historischen Wandels nämlich, in dem die Hauptmotorik einzelnen Personen oder festmachbaren Ereignissen oder verstehbaren Handlungen zugeschrieben wurde. Wieder waren es die Diktatur, die Kriege und der Zusammenbruch, die dann auch mehrere deutsche Historiker dazu zwangen, sich diesen „forces profondes“, diesen Kräften und Konstellationen, diesen Bedingungen und Folgen menschlichen Handelns stärker zuzuwenden. Diese Historiker suchten nach Mitteln, dies zu tun. Das Gefühl der Hilflosigkeit, das Gerhard Ritter formulierte, steht in diesem Zusammenhang. 3. Das dritte Defizit, das Ritter in jener Rede deutlich machte, war der Mangel an Synthesen und an synthetischer Kraft. Immer stärker hatte sich nämlich die Fachwissenschaft den historischen Detailuntersuchungen, dem Spezialistentum gewidmet, der liebevollen Bemühungen ums ernst genommene Detail. Die Standards der Zunft wurden immer anspruchsvoller, so anspruchsvoll, daß sie nur bei deutlicher Beschränkung des einzelnen Wissenschaftlers auf Teilgebiete eingehalten werden konnten. Die Fragmentarisierung der Geschichtswissenschaft in Teildisziplinen (wie Wirtschaftsgeschichte, Verfassungsgeschichte, Kirchengeschichte usw.) war nur ein Aspekt dieses weitgetriebenen Spezialistentums. Weil die traditionelle und herrschende Geschichtswissenschaft die Aufgabe der Synthese hatte zu kurz kommen lassen, den Wald vor Bäumen und die Wirklichkeit vor Quellen und Quellenkritik nicht mehr recht sah, deshalb hatte sie an aufklärender und sinnorientierender Wirkung in der Öffentlichkeit verloren, deshalb benötigte sie einen Neuanfang, wie es Gerhard Ritter auf dem ersten Historikertag 1949 auch klar erkannte und aussprach. Gerhard Ritter, und er steht für die meisten, konnte praktische und theoretische Antworten auf diese Fragen nicht geben. Die meisten Historiker machten mit diesen Einsichten der ersten Nachkriegszeit nicht wirklich ernst, und die 50er Jahre waren dann auch auf diesem Gebiet kein Jahrzehnt der produktiven Unruhe. Doch eine Minderheit von Historikern versuchte durchaus auf diese offenen Probleme Antworten zu finden, und eine dieser Antworten, die uns hier interessiert, war das Programm der Strukturgeschichte, wie es vor allem von Werner Conze, Otto Brunner und vielleicht am deutlichsten, wenn auch ohne durchgehende Verwendung dieses Wortes, von Theodor Schieder vorgeschlagen wurde.6 Das Besondere, das Verwirrende und das Problematische, wenn auch vielleicht nicht das ganz Unberechtigte bestand nun darin, daß Strukturgeschichte eine Antwort auf alle drei aufgezählten Mängel zugleich sein sollte. „Strukturgeschichte“ wurde von Conze und vielen anderen Historikern bis heute – das können wir alle beobachten – synonym mit „Sozialgeschichte“ gebraucht und damit sollte sie die bisher vernachlässigten Bereiche der historischen Wirklichkeit, den Bereich Wirtschaft und den Bereich Gesellschaft im engeren Sinne mehr ins Blickfeld rücken. Das Gegenteil oder besser: der Komplementärbegriff zu Strukturgeschichte in diesem Sin-
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ne wäre etwa Politikgeschichte oder Geistesgeschichte. Strukturgeschichte in diesem Sinne kann man als Versuch der Antwort auf Defizit Nr. 1 verstehen, wie es oben skizziert wurde. – Zugleich wurde aber Strukturgeschichte als Geschichte der Strukturen im Sinne der Geschichte von Konstellationen, Handlungsbedingungen und Handlungsfolgen, als Geschichte der Zustände, der Verhältnisse, der Vorgegebenheiten verstanden. Das Gegenteil oder der Komplementärbegriff zu Strukturgeschichte in diesem Sinne wäre Ereignisgeschichte oder Personengeschichte. In diesem Sinne kann Strukturgeschichte als Versuch der Antwort auf Defizit Nr. 2 verstanden werden. – Struktur meinte aber gleichzeitig Zusammenhang, Strukturgeschichte war insofern Geschichte von Zusammenhängen, d. h., sie zielte auf die Erfassung des Ganzen, auf Synthese, auf Überbrückung der Segmentierung in „Präfixgeschichten“ wie Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte, Politikgeschichte etc. Das Gegenteil von Strukturgeschichte in diesem Sinn wäre weitgetriebene Spezialisierung. In diesem Sinn war Strukturgeschichte ein Versuch der Antwort auf Defizit Nr. 3. Diese Verknüpfung der drei skizzierten Unzulänglichkeiten im Versuch ihrer Behebung war natürlich kein Zufall. Denn in der Tat läßt sich argumentieren, daß Strukturen im Sinne von relativ langsam veränderbaren Konstellationen, Handlungs- und Funktionsbedingungen besonders große Bedeutung im Bereich der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte haben, während einzelne Entscheidungen und einzelne Handlungen im Bereich des Politischen häufiger, wichtiger und sichtbarer sind. Außerdem kann man argumentieren, daß, wenn überhaupt eine Synthese verschiedener Wirklichkeitsbereiche und Detailstudien erreichbar sein soll, dann nicht durch Konzentration auf einzelne Ereignisse, Personen und ihre Handlungen, sondern durch Erhellung übergreifender oder „unterliegender“ Zusammenhänge, eben Strukturen. Es liegt also zum Teil an der Sache selbst, wenn diese Vermischung der drei Bedeutungen von „Strukturgeschichte“ eintrat. Vor allem aber lag es an der skizzierten historischen Situation nach dem zweiten Weltkrieg, in der jene drei Probleme gemeinsam auf den Tisch kamen und es nahe lag, diese drei Bedeutungen von Strukturgeschichte zu verknüpfen. Dennoch bedeutet Strukturgeschichte als Versuch einer Antwort auf alle drei Defizite eine unglückliche Verwischung und Überlastung des Begriffs. Und so erklären sich auch manche Schärfen und Vehemenzen der Diskussion. Wer nämlich die Erforschung von Strukturen im Sinne einer Antwort auf Defizit Nr. 1 propagiert, will die stärkere Beachtung von Wirtschaftsund Sozialgeschichte; und wer dem opponiert, fürchtet vielleicht sozialökonomistische Herrschaftsansprüche und Interpretationsverengungen zum Schaden der doch so wichtigen Politikhistorie, die – obwohl realiter immer noch eindeutig dominant – permanent wähnt, ins Abseits gedrängt zu werden. Wer aber für die Strukturen als zentrales Thema der Geschichte im Sinne einer Antwort auf Defizit Nr. 2 plädiert, der will weg von der bloßen Ereignis- und Personengeschichte; und wer sich dagegen wehrt, der fürchtet vielleicht die Herrschaft der Sachzusammenhänge und der Unterbewertung
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des „menschlichen Elements“, der sorgt sich vielleicht um die Verstehbarkeit und die Erzählbarkeit der Geschichte und fürchtet, daß die Historie zur historischen Strukturanalyse degradiert werde. Und schließlich: Wer sich für Strukturgeschichte im Sinne einer Antwort auf Defizit Nr. 3 einsetzt, der kämpft gegen die Verabsolutierung des Details und des Fachidiotentums, der setzt sich ein für die Synthese in überprüfbarer Weise, für die Rekonstruktion einer nicht spezialistisch fragmentarisierten oder bloß additiv zusammengefügten geschichtlichen Wirklichkeit. Eben dies betrachten nun viele andere Historiker mit Mißtrauen, denn sie vermuten die Gefahr der unsoliden, wenn nicht gar ideologischen Gesamtkonstruktion mit politischer Relevanz (welcher Richtung auch immer); sie vermuten nicht zu Unrecht, daß solche Synthesen nicht ohne umfassende Theorien vom Typ der Modernisierungstheorien oder des Historischen Materialismus (um nur zwei von mehreren möglichen zu nennen) erreichbar sind; solchen theoretischen Ansätzen mißtrauen viele zutiefst. Diese Akkumulation dreier im Prinzip voneinander klar zu unterscheidender Probleme und Fronten liegt meines Erachtens der Aufladung der Diskussion um den Begriff Strukturgeschichte zugrunde. Ich bin nicht der Meinung, daß das Programm der Strukturgeschichte als solches diese drei Defizite wirklich beantworten kann, so wichtig und unverzichtbar es gewesen ist und obwohl es eine begrüßenswerte Umakzentuierung der geschichtswissenschaftlichen Praxis teils bewirkt, teils signalisiert hat.7 Doch das kann ich jetzt nicht ausführen. Hier sollte nur gezeigt werden, daß in der Auseinandersetzung – oft auch nur in den Sentiments und den Ressentiments – pro und contra „Struktur“ mindestens drei Diskussionsfronten durcheinander verlaufen. Das überlastet und das verwirrt die Diskussion; es ist dringend nötig sie zu entlasten. Das möchte ich jetzt versuchen, indem ich „Struktur“ und „Strukturgeschichte“ in Anlehnung an einige relativ klar formulierende Autoren, wie Reinhard Koselleck, definiere und sie sowohl von Ereignis wie von Persönlichkeit absetze.
II. Unter einem Ereignis soll ein Zusammenhang von Begebenheiten verstanden werden, der von den Zeitgenossen als Sinneinheit innerhalb eines Rahmens chronologischer Abfolge von Vorher und Nachher erfahren und insofern auch vom Historiker in Kategorien chronologischer Abfolge „erzählt“ werden kann; Ereignisse sind dadurch gekennzeichnet, daß sie den „chronologisch registrierbaren Erfahrungsraum der an einem Ereignis Beteiligten“ nicht überschreiten, von bestimmbaren Subjekten (Personen) ausgelöst oder erlitten werden und von Strukturen bedingt sind, ohne doch aus diesen voll ableitbar zu sein. Dann wird man unter Strukturen (nicht notwendig als Sinneinheiten erfahrbare) Zusammenhänge oder Vorgegebenheiten (vorgegeben dem Ereignis, der Entscheidung, der Handlung, der Person) verste-
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hen, die „im Hinblick auf ihre Zeitlichkeit nicht in der strikten Abfolge von erfahrbaren Ereignissen aufgehen“ und über den zeitlichen Erfahrungsraum mitlebender Zeitgenossen hinausweisen; die deshalb auch nicht „erzählt“ werden können, wenn konstitutiv für »erzählen« die Einbindung in einen kategorialen Rahmen des Vorher und Nachher ist; die überindividuell sind und sich nicht auf einzelne Personen, selten auf exakt bestimmbare Gruppen reduzieren lassen; die den Ereignissen „in anderer Weise vorausliegen als in einem chronologischen Sinne des Zuvor“; die in die Ereignisse eingehen (wenn auch nicht ganz) und deshalb auch zum Teil in Ereignissen als ihren Artikulationen faßbar sind8. Personen wären als Träger von Haltungen, Motivationen, Entscheidungen und Handlungen bestimmt. Einige Konsequenzen: 1. Wenn man Struktur so definiert, dann versteht man Struktur nicht als Gegensatz zu Prozeß, wie das bei manchen Strukturalisten geschieht und außerhalb der Geschichtswissenschaft sicher sehr sinnvoll sein kann. Struktur wird durch die vorgetragene Definition vielmehr von Ereignis, Entscheidung, Handlung und Persönlichkeit abgegrenzt und somit als etwas bestimmt, was zwar ein Element relativer Stabilität – relativ zum raschen Wechsel der Ereignisse – besitzt, was sich aber dennoch, wenn auch vergleichsweise langsam ändern kann und in aller Regel auch ändert. Struktur wird damit als etwas bestimmt, was zwar nicht eine chronologische Zeitstruktur besitzt wie eine Abfolge von Ereignissen, was aber gleichzeitig doch nicht zeitlos ist. Struktur in der Geschichtswissenschaft nicht in scharfem Gegensatz zu Prozeß zu definieren, ist wichtig, wenn es stimmt, daß es in der Geschichtswissenschaft vor allem um die Beschreibung und Analyse des Wandels der Wirklichkeit in der Zeit geht. 2. Wenn man Struktur so definiert, so erkennt man schnell, daß es Struktur in allen Wirklichkeitsbereichen gibt. Die Verfassungen und politischen Institutionen, die Herrschaftsformen und die politische Kultur eines Landes sind ebenso Strukturen wie die Gebräuche und Gewohnheiten, unbewußte Verhaltensformen und kollektive Mentalitäten, Religions- und Wertesysteme, Generationsabfolgen, eingeschliffene Freund-Feind-Konstellationen und sprachliche Differenzierungen schichten- oder regionenspezifischer Art. Zu den Strukturen zählen weiterhin geographisch-räumliche Vorgegebenheiten ebenso wie Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Unternehmensorganisationen und Schulsysteme, stabilere internationale Beziehungen und natürlich internationale Organisationen. Diese Beispiele ließen sich vermehren. Daraus folgt: Strukturgeschichte ist kein Monopol der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Auch Bewußtseinsgeschichte und Politikgeschichte, natürlich Kirchen- und Verfassungsgeschichte, aber ebenfalls Religions- und Ideengeschichte wie die meisten anderen historischen Unterdisziplinen auch, können und sollten unter Betonung struktureller Aspekte betrieben
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werden. Das ist ja auch schon längst weit verbreitete Praxis, man denke z. B. an die Geschichte der Parteien und des Parlamentarismus. Zwar kann man wohl sagen, daß das relative Gewicht von strukturellen und nichtstrukturellen Momenten in den einzelnen Wirklichkeitsbereichen verschieden ist und die Bedeutung von Ereignissen und Personen, einzelnen Entscheidungen und Handlungen etwa im Bereich der Politikgeschichte größer ist als z. B. in der Wirtschaftsgeschichte. Dem müßte man weiter nachgehen. Aber andererseits ist klar, daß auch in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ereignisse, Entscheidungen und Persönlichkeiten ihre Rolle spielen. Deshalb ist es eine bedauerliche und letztlich nur historisch erklärliche Verwirrung, wenn, wie das so häufig geschieht, Politikgeschichte mit Ereignis- und Handlungsgeschichte prinzipiell in eins gesetzt wird und andererseits Sozialgeschichte mit Strukturgeschichte synonym gebraucht wird. Das ist nicht nur eine sprachliche Unsauberkeit, sondern hat auch praktische Konsequenzen. Man kann nämlich eine strukturgeschichtliche Politikgeschichte oder strukturgeschichtliche Bewußtseinsgeschichte unter dem Namen „Sozialgeschichte“ treiben, ohne sich überhaupt mit Wirtschaft und Gesellschaft, als bestimmte Bereiche von Wirklichkeit verstanden, einlassen zu müssen. Umgekehrt ist es falsch und unglücklich anzunehmen, man könnte außerhalb der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ohne strukturgeschichtliche Betrachtungsweisen auskommen. Man sollte aufhören, „Sozialgeschichte“ und „Strukturgeschichte“ synonym zu verwenden und „Strukturgeschichte“ als Antwort auf das oben skizzierte Defizit Nr. 1 verstehen. 3. Ausgehend von der oben skizzierten Strukturdefinition meint Strukturgeschichte vielmehr eine geschichtswissenschaftliche Betrachtungsweise, die auf alle Bereiche geschichtlicher Wirklichkeit angewandt werden kann, also auf den Bereich des Sozialen wie auf den der Politik, auf die ökonomische Entwicklung wie auf das Reich der Ideen etc. Für diese Betrachtungsweise stehen die „Verhältnisse“ und „Zustände“, die überindividuellen Entwicklungen und Prozesse, weniger die einzelnen Ereignisse und Personen im Vordergrund; sie lenkt den Blick eher auf die Bedingungen, Spielräume und Möglichkeiten menschlichen Handelns in der Geschichte als auf individuelle Motive, Entscheidungen und Handlungen selber; sie beleuchtet eher Kollektivphänomene als Individualitäten; sie macht Wirklichkeitsbereiche und Phänomene zum Gegenstand der Forschung, die eher durch Beschreibung und Erklärung als durch hermeneutisch-individualisierendes Sinnverstehen zu erschließen sind; sie interessiert sich vor allem für die relativ dauerhaften, „harten“, nur schwer veränderbaren Phänomene, für Wirklichkeitsschichten mit langsamer oder sehr langsamer Veränderungsgeschwindigkeit, nicht so sehr für Wirklichkeitsbereiche, die sich schnell ändern und Wandlungsanstößen nur geringen Widerstand entgegenstellen. Daß diese Betrachtungsweise überhaupt mit einem besonderen Namen belegt, mit Vehemenz propagiert und wohl nicht ohne Widerstände erst durchgesetzt werden mußte, verweist auf den anfangs skizzierten herrschenden Zustand der allgemei-
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nen deutschen Geschichtswissenschaft um 1950, gegen den jene Betrachtungsweise Front machte. Insofern wird man Strukturgeschichte als wichtige Antwort auf das oben skizzierte Defizit Nr. 2 verstehen können, das denn auch tatsächlich in der geschichtswissenschaftlichen Praxis der letzten Jahre und Jahrzehnte weitgehend abgebaut worden ist. 4. „Strukturgeschichte“ zielt – jedenfalls im Anspruch einiger ihrer Vertreter – auf die Erfassung von Zusammenhängen, die mehrere Ereignisse, Handlungen und Personen umgreifen. Sie zielt insofern auf Synthese und will auf das oben skizzierte Defizit Nr. 3 antworten. Für unser gegenwärtiges Thema ist das nicht zentral und muß jetzt nicht diskutiert werden. Ich glaube, daß Strukturgeschichte als solche dies nicht leisten kann, sondern dazu bestimmter Theorien zusätzlicher Art bedarf, wenn solche Synthesen sicherlich umgekehrt auch nicht anders als strukturgeschichtlich (im unter 3. definierten Sinn) möglich sind. Doch ist dies nicht unser Thema9.
III. Abschließend soll kurz auf das Verhältnis von Strukturgeschichte einerseits und Ereignis- und Personengeschichte andererseits eingegangen werden. Oben wurde im Anschluß an Koselleck „Struktur“ in Absetzung von und im Verhältnis zu „Ereignis“ definiert und umgekehrt. Wenn man diese Definition ernst nimmt, dann wird man daraus folgern können, daß es zum Begreifen von Ereignissen unabdingbar ist, auf die ihnen vorgegebenen und in sie eingehenden Strukturen zu rekurrieren, wenn auch daran festzuhalten ist, daß weder in der Erfahrung noch in der wissenschaftlichen Analyse die Ereignisse voll aus ihren strukturellen Bedingungen erklärbar, ableitbar sind; daß also eine von strukturellen Aspekten völlig absehende Ereignisgeschichte eine schlechte Abstraktion darstellen würde, wenn auch eine Analyse der Strukturen die Erzählung oder Beschreibung der Ereignisse nicht völlig obsolet macht, weil letztlich auch die vollkommenste Analyse von Strukturen nur zur Erkenntnis von möglichen Ereignissen und Handlungen führt. Umgekehrt sind Strukturen zwar auch, aber nicht nur in auf sie hinweisenden Ereignissen faßbar, sondern auch in gewissermaßen nachgeordneten (aber nicht notwendig zeitlich nachgeordneten) Strukturen; etwa die Struktur des absolutistischen Staats in der Struktur der Militärverwaltung oder die Struktur des entstehenden Industriekapitalismus in der Struktur eines Industriezweiges. Insofern scheint eine verschiedene Strukturdimensionen miteinander verknüpfende Strukturgeschichte ohne ereignisgeschichtliche Momente eher möglich zu sein als eine Ereignisgeschichte, die von Strukturen ganz abstrahiert. Um ein unvorsichtiges Beispiel zu wählen: man kann eher den Absolutismus ohne Friedrich II. als Friedrich II. ohne den Absolutismus begreifen.
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2. Trotzdem wäre es sehr problematisch, wollte sich der Historiker ausschließlich mit der Analyse von Strukturen befassen. Man wird, in bloßer Umstellung eines Satzes aus der „Deutschen Ideologie“ von Marx und Engels (um zwei in dieser Hinsicht unverdächtige Zeugen zu nennen), davon ausgehen dürfen, daß die Menschen ebenso sehr die Umstände machen wie die Umstände den Menschen. Man könnte mit Droysen, Dilthey, Max Weber, Habermas und vielen anderen prinzipiell zu zeigen versuchen, daß die geschichtlichen Prozesse durch sinnorientierte Handlungen, motivierte Handlungen, intentionale Handlungen von Menschen vermittelt sind. (Wenn diese Menschen auch bekanntlich keineswegs immer ein volles Bewußtsein von jenen Prozessen besitzen und deshalb, wie Habermas das ausdrückte, der zu begreifende historische Zusammenhang nicht in dem aufgeht, was die Menschen jeweils meinen und wechselseitig beabsichtigen). Wenn das so ist, dann kann man von dieser Position her argumentieren, daß die Beschränkung der Untersuchung auf Strukturen leicht in die Gefahr geriete, wichtige Aspekte der geschichtlichen Wirklichkeit zu übersehen. Es steht zu vermuten, daß mit der Vernachlässigung der Haltungen, Entscheidungen und Handlungen historischer Akteure, daß durch die Vernachlässigung von Personen, wichtige Faktoren der Veränderung außerhalb der Untersuchung blieben. Damit würde sich aber die Geschichtswissenschaft, wenn es ihr denn primär um die Erklärung des Wandels der Wirklichkeit in der Zeit geht, einen Bärendienst erweisen. Daß durch das Abblenden der Handlungen leicht auch der Veränderbarkeitsaspekt historischer Wirklichkeit aus dem Blick geraten und die Vorstellung von einem quasi sachgesetzlichen, von Menschen bewußt nicht zu beeinflussenden Geschichtsprozeß entstehen könnte, mag hier nur als politisch wenig wünschenswerte Folge einer rein strukturgeschichtlichen Betrachtungsweise angedeutet werden. 3. Schließlich dürfte es zu den Arbeitserfahrungen jedes empirisch arbeitenden Historikers gehören, daß er häufig oder doch manchmal ganz ohne Berücksichtigung von Ereignissen, Einzelhandlungen und Personen nicht auskommt und daß diese zwar meist weitgehend aus vorgegebenen, sich verändernden Strukturen erklärt, aber nicht aus diesen voll abgeleitet werden können, während sie umgekehrt zur Veränderung der Strukturen beitragen. Auch in betont strukturgeschichtlichen Analysen des Kaiserreichs werden, wenn sie nicht unzulässig verkürzen, der Person Bismarcks ein gewisses Gewicht und eine relative Eigenständigkeit nicht abgesprochen. Jede zutreffende Erklärung des Nationalsozialismus wird auf die nicht auf ihre strukturellen Bedingungen reduzierbare Person Hitlers zu sprechen kommen müssen, wenn man dabei auch schnell des Guten zuviel tun und in die Gefahr verkürzender Personalisierung geraten kann. Selbst bei der Beschreibung und Erklärung von ökonomischen, sozialen und sozialpsychologischen Strukturen und Prozessen mit äußerst langsamer Veränderungsgeschwindigkeit stößt man manchmal auf Ereignisse als Kausalfaktoren, wenn auch gleichzeitig solche Ereignisse in ihrer weitgehenden strukturellen Bedingt-
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heit expliziert werden müssen. Die Rolle eines Unternehmers für die Entwicklung seines Unternehmens oder die Bedeutung einer Seuche für langfristige demographische Prozesse sind Beispiele dieser Art. D. h. also, daß man gut daran tut, eine dichotomische Entgegensetzung von Strukturgeschichte einerseits und Ereignis- und Personengeschichte andererseits zu vermeiden. Beide Betrachtungsweisen sind aufeinander verwiesen. Doch möchte ich nicht mit einem solchen harmonisierenden „sowohl als auch“ schließen, sondern zum Schluß einerseits eine Schwierigkeit einräumen und zweitens eine Priorität betonen. 4. Zunächst die Schwierigkeit: Wenn man so etwas wie die Juli-Krise 1914 oder die Gründung eines Unternehmens oder das Schaffen einer Verfassung untersucht, steht man als Historiker vor dem empirischen Problem, das relative Gewicht des Einflusses von Persönlichkeiten einerseits und von überindividuellen Strukturen andererseits gegeneinander abschätzen zu müssen. Das ist ein empirisches Problem, welches von Fall zu Fall, von Zeit zu Zeit, von Gegenstand zu Gegenstand zu verschiedenartigen Antworten führen kann. Wie macht man so etwas überhaupt? Am ehesten Chancen hat solch ein Versuch, das relative Gewicht von Strukturen und Personen zu bestimmen, dann wenn die Möglichkeit des Vergleichs gegeben ist. Ein Beispiel: Wenn man die Siemens-Unternehmen und die AEG um die Jahrhundertwende untersucht, dann hat man zwei Unternehmen, die in den meisten Hinsichten sehr ähnlich waren. Sie glichen sich weitgehend (leider nicht ganz) nach Produktionsart, Größe, Lokalisierung des Zentrums und vielem mehr, sie unterschieden sich aber deutlich nach den sie leitenden Personen, deren Motiven, Traditionen und Erfahrungen. Vergleicht man die beiden Unternehmen hinsichtlich ihres Wirtschaftsverhaltens, so stellt sich heraus, daß sie sich entgegen den Intentionen der jeweils leitenden Männer immer ähnlicher wurden10. Könnte man ein drittes oder viertes Unternehmen dieser Art hinzunehmen, wäre dies eine Möglichkeit, hinsichtlich des interessierenden Problems: relative Bedeutung der Unternehmerpersönlichkeit in der deutschen Großindustrie oder doch Elektroindustrie jener Zeit zu einigermaßen eindeutigen Aussagen zu kommen. Aus dem Vergleich der beiden genannten Unternehmen ergab sich die relativ geringe Bedeutung des persönlichen Elements für die Wachstumsstrategie jener Unternehmen, aufgrund von Ursachen, die man weiter verfolgen kann, die aber jetzt nicht weiter interessieren. Leider findet sich aber in vielen Untersuchungen eine Vielzahl ähnlich gelagerter Fälle nicht (z. B. bei der Untersuchung der Konferenz von Jalta) oder die Fälle unterscheiden sich zugleich in so vielen Hinsichten, daß die Kausalbedeutung eines Unterschieds (des Unterschieds der leitenden Personen etwa) schwer zu isolieren ist. Zum Beispiel: Vergliche man die Situation in den verschiedenen Ländern, die im August 1914 in den Krieg eintraten, so unterschieden sich diese Länder durch so viele soziale und politische Faktoren, daß das relative Gewicht der Verschiedenartigkeit von Lloyd
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George hier und Bethmann Hollweg dort für die Erklärung des britischen und deutschen Verhaltens in dieser Krise nicht leicht eingeschätzt (weil nicht leicht von anderen Wirkungsfaktoren isoliert) werden kann. Es wäre zu überlegen, wie Historiker eigentlich verfahren, wenn sie trotz dieser üblichen Schwierigkeit etwas darüber sagen, wie wichtig ein Erklärungsfaktor im Vergleich zu anderen Erklärungsfaktoren war. Schließlich geschieht das ja sehr häufig in historischen Analysen und Darstellungen. Es geht sehr häufig nur mit impliziten kontrafaktischen Annahmen nach dem Muster: was wäre gewesen, wenn dieses eine Element (dessen Kausalbedeutung erforscht werden soll) in der Situation anders gewesen wäre oder gefehlt hätte. Man kann solche kontrafaktischen Annahmen, die fast durchweg nicht expliziert werden und methodisch im Halbbewußtsein bleiben, nur durchspielen, weil man gleichzeitig ein bestimmtes ebenfalls implizites Wissen von dem zu erwartenden und normalen Verhalten des einzelnen Faktors in der jeweiligen Situation („nomologisches Wissen“) hat. Implizit spielt also auch bei der Untersuchung einzelner Fälle der Akt des Vergleiches eine wichtige Rolle, wenn man überhaupt auf Kausalerklärung zielt. Dies ist eine sehr große, hier nicht weiter zu diskutierende Schwierigkeit, und als Folge dieser generellen Schwierigkeit ist das Problem der relativen Gewichtigkeit von Strukturen und Persönlichkeiten im konkreten Fall häufig so schwer zu lösen. Nur, das ist kein Spezialproblem des Verhältnisses Persönlichkeit und Struktur, das ist ein Problem jeder Kausalerklärung, jeder Abwägung von Gründen in der Geschichtswissenschaft und die Frage, welche Einwirkung Personen im Unterschied zu Strukturen haben, ist nur ein Sonderfall der immer wieder den Historiker irritierenden, ihn vor kaum lösbare Aufgaben stellenden Schwierigkeit, das relative Gewicht verschiedener Ursachen eines Phänomens festzustellen und so kausale Zurechnung (Erklärung) zu leisten. Wenn man die Frage des relativen Gewichts von Person und Struktur als Sonderfall der geschichtswissenschaftlichen Kausalproblematik generell stellt, dann bleibt sie sicher schwierig, läßt sich aber vielleicht mit weniger Emotionen und größerer Sachlichkeit diskutieren. 5. Zum Schluß möchte ich eine Lanze für die Untersuchung von Strukturen brechen. Ich habe betont, daß man meines Erachtens ein bestimmtes Ereignis, eine bestimmte Handlungsweise oder eine Person nicht lückenlos aus den ihnen zugrunde liegenden oder „vorausliegenden“ Strukturen ableiten und sie als notwendig erklären kann. Es bleibt sehr oft ein Rest, der sich nicht aus den vorher explizierten Strukturen mit Notwendigkeit ergibt. Man mag etwa nicht darum herumkommen, schließlich vom „Banaldämonischen“ in Hitler, von seiner Unvorhersehbarkeit, eben seiner Individualität zu sprechen. Doch wäre es absurd, mit diesem strukturgeschichtlich nicht zu fassenden Rest zu beginnen oder gar die Analyse darum zu konzentrieren, sofern man nicht überhaupt den Historiker von dem Geschäft des Erklärens befreien will. In gewisser Weise ist jenes Abheben auf das schier Individuelle ein Akt notwendiger Resignation, wenn man jenen Punkt erreicht, wo
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UND
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man ein zu erklärendes Phänomen nicht mehr aus seinen Strukturen erklären kann. Denn was ist denn Erklärung anderes, als ein Phänomen aus seinen Bedingungen folgen zu lassen. D. h., wenn Historiker Ereignisse, Handlungen und Personen erklären wollen, dann müssen sie versuchen, diese so intensiv wie möglich auf ihre strukturellen Determinanten hin zu befragen und damit den Spielraum einzuengen, den Spielraum von Möglichkeiten, den die verschiedenartigen Strukturen in ihrem Zusammenspiel noch offen lassen mögen. Man muß versuchen, die Grenzen dieses Spielraums so eng wie möglich zu ziehen. Darin besteht der Akt der Erklärung. Der Rest, der nicht hinwegexpliziert werden darf, mag erzählt oder beschrieben, als Eigenart der jeweiligen Person oder des jeweiligen Ereignisses „verstanden“ oder in seiner Faktizität einfach festgestellt werden. Ein zweiter Grund, warum ich der Strukturgeschichte (wie oben definiert) eindeutig die Priorität einräumen würde, besteht darin, daß auf diese Weise die Möglichkeit eröffnet wird, sich des Instrumentariums der systematischen Nachbarwissenschaft, insbesondere der systematischen Sozialwissenschaften, zu bedienen, deren Begriffe und Modelle, Theorien zu benutzen (und dabei allerdings zu modifizieren und zu kritisieren). Ein dritter Grund: Eine Grunderfahrung nicht nur des wissenschaftlich arbeitenden Historikers, sondern auch des Historikers als Zeitgenossen, besteht wohl darin, daß es so etwas wie die „Heterogonie der Zwecke“ gibt. Gemeint ist die Erfahrung, daß eine konstitutionelle Diskrepanz zu bestehen scheint zwischen Intentionen und Handlungsfolgen, daß es häufig anders kommt als man denkt. Das Bewußtsein, das Ernstnehmen dieser Diskrepanz zwischen Intention und Prozeß, zwischen Handlungsabsicht und Handlungsfolge – in der philosophischen Tradition mehrfach, u. a. unter dem Stichwort „Entfremdung“, aber auch ganz anders, diskutiert – ist ja gewissermaßen Basis dessen, was hier als Strukturgeschichte verstanden wird, und begründet deren Notwendigkeit. Denn diese in der Regel ärgerliche Diskrepanz wird man – soweit sie überhaupt historisch analysierbar ist – nur durch die Analyse der Konstellation, aus der sie resultiert, begreifen können. Man wird strukturgeschichtlich verfahren müssen, allerdings wiederum nicht so einseitig-strukturgeschichtlich, daß die Handlungsintentionen aus dem Blick geraten, denn sonst erfaßte man das Ärgernis von der anderen Seite her nicht mehr. Schließlich mag bedacht werden, daß die Feststellung von Strukturen hinter, unter und in den Ereignissen und Handlungen in der Regel das Schwierigere ist, in der Regel über die (immer notwendig bleibende) quellenkritische Arbeit hinausgeht und zusätzliche analytische Anstrengungen vom Historiker fordert. Es ist eben schwieriger, die in Quellen erkennbaren Motivationen, Haltungen, Entscheidungen und Handlungen auch noch auf ihre strukturellen Bedingungen zu „hinterfragen“, als dies nicht zu tun. Der strukturgeschichtliche Appell erscheint mir von daher wichtiger als der Appell, die Ereignis- und Personengeschichte nicht zu vergessen, zumal jedenfalls in der westdeutschen Geschichtsschreibung mit ihren alten und kei-
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neswegs wirkungslosen historistischen Traditionen eine strukturgeschichtliche Hypertrophie ohnehin nicht droht.
ANMERKUNGEN 1
P. Accoce u. P. Rentchnik, Ces malades qui nous gouvernent, Paris 1976; Zitat nach Neue Westfälische, Bielefeld 25.10.1976. 2 Vgl. vor allem K. Hildebrands Ausführungen, in diesem Band S. 55-61. 3 F. Braudel, La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, Paris 1949 (2. Aufl. 1966); s. die Besprechung von W. Conze in: HZ, Bd. 172 (1951), S. 358-362. 4 Vgl. G. Schneider, in diesem Band S. 96-124. 5 G. Ritter, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft, in: HZ, Bd. 170 (1950), S. 1-22. 6 Vgl. W. Conze, Art. Sozialgeschichte, in: RGG, Bd. 6, Tübingen 3. Aufl. 1962, Sp. 169-176; ders., Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, Köln/Opladen 1957; O. Brunner, Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte (1953), in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 2. Aufl. 1968, S. 80-102; Th. Schieder, Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte, in: ders., Geschichte als Wissenschaft, Wien 1965, S. 149-186. 7 Vgl. dazu J. Kocka, Sozialgeschichte – Strukturgeschichte – Gesellschaftsgeschichte, in: Archiv f. Sozialgeschichte, Bd. 15 (1975), S. 1-42; überarbeitet jetzt in: ders., Sozialgeschichte. Begriff – Entwicklung – Probleme, Göttingen 1977; in diesem Aufsatz finden sich überhaupt viele der hier nur angedeuteten Thesen näher ausgeführt und dokumentiert. 8 R. Koselleck, Darstellung, Ereignis und Struktur, in: G. Schulz (Hrsg.), Geschichte Heute, Göttingen 1973, S. 307-317. 9 Vgl. S. 27 f. des in Anm. 7 genannten Aufsatzes. 10 Näheres zu diesem Vergleich in: J. Kocka, Siemens und der aufhaltsame Aufstieg der AEG, in: Tradition, Jg. 17 (1972), S. 125-142.
IV. Theorieorientierung und Modernisierungstheorie
I. Modernisierungstheorie und Geschichte* H ANS -U LRICH W EHLER
Wer die Forderung ernst nimmt, daß Geschichte heute auch als Historische Sozialwissenschaft betrieben werden sollte, sieht sich seit geraumer Zeit dem Anspruch der Modernisierungstheorien gegenüber, daß sie auch dem Historiker spezifische Theorien des sozialen Wandels zur Verfügung stellen oder doch zumindest für die Neuzeit ein Interpretationsangebot machen können. Da inzwischen die nicht zuletzt von der Systemtheorie angeregte Modernisierungsdiskussion auch in der Bundesrepublik intensiver geworden ist und zu einem sichtbaren Bodengewinn der System- und Modernisierungstheorien geführt hat, ist es noch dringender erforderlich, daß einmal der Versuch gemacht wird, einige Probleme der internationalen Modernisierungsforschung unter dem Gesichtspunkt ihrer Impulse für die moderne Geschichtswissenschaft zu prüfen. Zugegeben, es handelt sich dabei nur um eine Auswahl von Problemen, aber immerhin um einen Anlauf, die Diskussion streckenweise zu rekonstruieren und eine kritische Überprüfung der Modernisierungstheorien anzuregen. Zur Vorklärung des hier behandelten Themas nur das Folgende: 1. Man kann gegenwärtig davon ausgehen, daß die Modernisierungstheorien „kein geschlossenes theoretisches System“, sondern einen „Bereich von Problemen und Lösungsvorstellungen“ darstellen, „zu dem die verschiedenen Sozialwissenschaften beitragen“. Da die älteren Ziele, Hoffnungen und Entwicklungsstufen der Modernisierungstheorien an dieser Stelle nicht beschrieben zu werden brauchen, mag die Frage nach ihrem Inhalt vorläufig mit einer bewußt sparsamen Definition beantwortet werden, die mit guten Gründen bevorzugt werden kann. Danach befaßt sich die Theorie der Modernisierung „mit einer epochalen, langfristigen, nicht selten gewaltsamen Transformation, die in Westeuropa begonnen, dann aber die ganze Welt in ihre Dynamik einbezogen hat“. Modernisierung wird dabei verstanden als „ein systematischer Prozeß, in dem sich generelle Probleme stellen“, *
Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, in: ders., Die Gegenwart als Geschichte. Essays, München: C . H . Beck 1995, S. 13-59, S. 266284.
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gleichzeitig und gleichgewichtig, aber auch als „ein historischer Prozeß, der ganz unterschiedliche Lösungen produziert“.1 2. Jede Beschäftigung mit den Modernisierungstheorien zieht einen sehr deutlichen Gewinn sowohl aus der innerwissenschaftlichen Debatte der Modernisierungstheoretiker selber als auch aus den Überlegungen eines kritischen oder sogar radikal ablehnenden „Revisionismus“, wobei die außerwissenschaftlichen Einflüsse deutlich zu erkennen sind. Diese anhaltende Kontroverse hat inzwischen dazu geführt, daß die ursprünglichen Positionen weithin differenziert, umformuliert oder aufgegeben worden sind. Aus dem Eindruck der Unzulänglichkeit, aus dem Scheitern von theoretischen Entwürfen an der Realität, aus dem Bedürfnis nach problemadäquateren Begriffen ist die Konsequenz gezogen worden, die Modernisierungstheorien bescheidener, empirisch und historisch gehaltvoller neu zu bestimmen. Die eindrucksvolle Leistung dieser offenen wissenschaftlichen Selbstkritik soll hier mit allem Nachdruck hervorgehoben werden. Ich muß gestehen, daß ich sie nach einem gewissen Überblick über die Auseinandersetzungen um so sympathischer finde, als die Gefahr, ständig die alten Gebetsmühlen zu drehen, die überkommenen Theorien nur zu neuer Ableitungsakrobatik zu benutzen, die einmal erklommene Abstraktionshöhe zur Immunisierung gegen neue empirische Resultate zu mißbrauchen, in einem bemerkenswerten Maße vermieden worden ist. Auch meine Kritik hat aus dieser kritischen Debatte und der in ihr erreichten „Durchsichtigkeit“ nicht weniger Probleme direkt Nutzen gezogen. 3. Das hat es auch erleichtert, die zentrale Problematik – wenn auch natürlich nur vorläufig – näher zu klären, ob die Interpretation und Erklärung bestimmter historischer Phänomene im Rahmen von Modernisierungstheorien möglich ist, ob diese bessere als die bisher gebrauchten Kategorien anbieten, ob der Gewinn einer Beschäftigung mit ihnen und ihre Überlegenheit über andere Theorien plausibel gemacht werden kann. Auf diese Fragen wird hinten näher eingegangen. 4. Schließlich gilt es, eine Vorentscheidung zu erläutern: Im folgenden werden primär ökonomische Modernisierungstheorien bzw. neuere Theorien des wirtschaftlichen Wachstums nicht eigens behandelt. Es geht vielmehr fast ausschließlich um Theorien der sozialen, kulturellen und politischen Modernisierung, wobei freilich wirtschaftliches Wachstum als einer der zentralen Basisprozesse in den meisten Fällen zugrunde gelegt oder vorausgesetzt wird, manchmal sogar auf der Linie eines ökonomischen Determinismus Modernisierung ausschließlich verursacht und dann in Gang hält. Diese Abtrennung der ökonomischen Theorien bzw. Aspekte von den soziopolitischen und soziokulturellen ist fraglos problematisch, da ein Vorzug vieler Modernisierungstheorien gerade darin liegt, daß sie statt einer einzigen kritischen Variablen und monokausaler Erklärungsversuche eine die wirtschaftliche Entwicklung einbeziehende multivariable Theorie anzubieten versuchen. Diese Entscheidung möchte ich mit einem sachlichen und einem persönlichen Argument begründen. Alle mir bekannten ökonomi-
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schen Wachstumstheorien mit empirischer Triftigkeit sind inzwischen – auch das ist ein Beispiel für einen wissenschaftlichen Lernprozeß – von der in den 1950er Jahren noch oft dominierenden Vorstellung abgekommen, daß die Kombination einiger sog. rein ökonomischer strategischer Variablen für ihre Zwecke ausreiche, da man wichtige soziale, politische, kulturelle Größen gemäß der ceteris-paribus-Klausel in einen nicht weiter zu diskutierenden Kranz vorgegebener Bedingungen verbannen könne. Eben diese Fülle nicht-ökonomischer Voraussetzungen ist, vor allem aufgrund von Erfahrungen in den „Entwicklungsländern“, sehr bald zu einem vorrangigen Problem geworden. Wenn man aber „diese exogenen Variablen ordnen und selbst systematisch erklären will“,2 bewegt man sich mitten in den Problemfeldern der Modernisierungstheorien. – Was das persönliche Interesse angeht, hatte ich mich mit den Theorien des Wirtschaftswachstums schon seit einigen Jahren beschäftigt.3 Die Neugier richtete sich jetzt eher auf die anderen Dimensionen der Modernisierung und ihre Theorien, und das um so mehr, als die komplizierten Probleme der Vermittlung zwischen Sozialökonomie und Politik gleichfalls auf diesen Komplex hinwiesen.4 Dieser Beitrag zu einer anhaltenden Diskussion hätte seinen Zweck erreicht, wenn er über die Information hinaus dazu anregen könnte, erneut die Vorzüge der Modernisierungstheorien kritisch abzuwägen oder aber den Widerspruch zu präzisieren und die Überlegenheit anderer Theorien mit Argumenten glaubhaft zu machen. Ob sich eine Modernisierung der Modernisierungstheorien lohnt, ist heute freilich umstrittener denn je zuvor. Was Ranke den „Zug der Zeit“ nannte, wirkt sich seit einigen Jahren nicht mehr vor allem fördernd, sondern auch gegen sie aus. Außerdem hat eine prinzipiell positiv eingestellte, aber auf Verbesserung bedachte interne Diskussion zusammen mit einem kritischen „Revisionismus“ die von vornherein „eingebaute“ Neigung zum vorzeitigen Veralten einiger Auffassungen, die eigentümliche Schwäche und Anfälligkeit mancher Theorien klar herausgearbeitet. Seit mehr als dreißig Jahren – seit dem Ende der 1950er Jahre mit einem vorläufigen Höhepunkt in der Mitte der 60er Jahre – haben die Modernisierungstheoretiker jedoch, vor allem in den Vereinigten Staaten, eine breite, sozialwissenschaftlich, aber auch politisch einflußreiche Schule gebildet.5 Sie erhob den Anspruch, ein neues, überlegenes Paradigma6 zur Organisation und Interpretation von Wissen, von Forschungsaufgaben und Forschungsergebnissen, letztlich auch zur Anleitung für das politische Handeln anbieten zu können. Dieser Anspruch verdient unter Berücksichtigung der kritischen Einwände eine genauere Überprüfung, die sich hier auf die wissenschaftliche Erklärungskraft der Modernisierungstheorien beschränkt. Dabei sollen zur Beantwortung der leitenden Fragen, ob sich Modernisierungstheorien – alle oder einige, ganz oder teilweise – einer theoretisch interessierten Geschichtswissenschaft empfehlen oder ob sie ihr nicht weiterhelfen können, fünf Komplexe behandelt werden:
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I. Nachdem die Entstehung und Herkunft der Modernisierungstheorien beschrieben worden sind, werden wesentliche Begriffe, Vorstellungen und Denkfiguren sowie einige explizite und implizite Annahmen erörtert.7 II. Danach werden kritische Einwände unter Sachgesichtspunkten zusammengefaßt.8 Diese Einwände verzichten zunächst darauf, Schulen, Strömungen und Einzelmeinungen zu differenzieren. Sie nivellieren bewußt. Sie richten sich häufig gegen gemeinsame Schwächen mehrerer Modernisierungstheorien. Sie attackieren vielleicht in erster Linie Theorien von mittlerem Qualitätsniveau oder auch Positionen, die inzwischen alles andere als unbestritten oder sogar schon verlassen worden sind. Dennoch ist eine derartige Kritik nicht überflüssig. Sie baut auch keineswegs, wie man einwenden könnte, einen „Popanz“ auf, um ihn dann um so leichter angreifen zu können, und von einer „Leiche“ der Modernisierungstheorien wird man nur mit Überheblichkeit sprechen können. Denn erstens sind nicht alle kritisierten Elemente bisher völlig aufgegeben worden, auch nicht von hervorragenden Repräsentanten der Modernisierungsforschung; und zweitens ist ein Modernisierungsjargon in einer manche Schwächen noch steigernden popularisierenden Version in die akademische Umgangssprache auch der Bundesrepublik eingedrungen. Während einige dieser Theorien von Sozialwissenschaftlern und nicht zuletzt von Modernisierungsforschern selber teilweise scharf kritisiert werden, breiten sich Modernisierungsbegriffe mit dem bekannten Verzögerungseffekt und weitgehend ungeprüft als „absinkendes Kulturgut“ auch unter Historikern aus. III. Dem naheliegenden Vorwurf, die folgende Kritik gehe zu pauschal, zu ungerecht, zu unfair vor, wird – wie ich hoffe – dadurch etwas die Spitze genommen, daß anschließend zwei Ansätze als gewissermaßen positives Gegenbild, als – mir jedenfalls – weithin einleuchtende Positionen der gegenwärtigen Modernisierungsforschung paradigmatisch besonders herausgestellt werden: 1. Der theoretische Rahmen, der vor allem im Kreis des „Committee on Comparative Politics“ (CCP) für die Analyse von „politischer Entwicklung“ erarbeitet worden ist, wird knapp umrissen. 2. Später wird in dem Zusammenhang, in dem Möglichkeiten, Vorzüge und Nachteile einer Eingrenzung des Modernisierungsbegriffs erörtert werden, der historisch-komparative Ansatz hervorgehoben, wie er vor allem von Reinhard Bendix, Shmuel N. Eisenstadt, Stein Rokkan, M. Rainer Lepsius, Wolfgang Zapf u. a. vertreten wird. Diese beiden Positionen bieten wegen ihrer konzeptionellen Differenzierung und dezidiert historischen Argumentation der an „Modernisierung“ interessierten Geschichtswissenschaft als Historischer Sozialwissenschaft am ehesten die Chance, unmittelbar oder vermittelt an sie anzuknüpfen. Ihre Überlegungen können sehr wohl aufgegriffen oder weiterentwickelt werden.
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IV. Sodann wird ein vorläufiges Fazit gezogen, wobei Nutzen und Kosten einer Einengung, Umdefinierung oder Neuformulierung von Modernisierungstheorien zur Debatte gestellt werden. V. Schließlich wird die Frage angeschnitten, ob statt einer Reform der Modernisierungstheorien der Verzicht auf sie geboten erscheint und ob dann überlegene Alternativen vorhanden sind oder erst noch entwickelt werden müßten. VI. Der Ausblick am Ende versucht, das Potential der Modernisierungsforschung für die Historische Sozialwissenschaft, die insbesondere an den drei vergangenen Jahrhunderten interessiert ist, noch einmal abzuschätzen und auf den möglichen Ertrag hinzuweisen.
I. E NTSTEHUNG
UND WESENTLICHE
B EGRIFFE
1. Die politisch motivierte sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit den sog. unterentwickelten (später sagte man: unentwickelten) Ländern hat in den 1950er Jahren infolge eines kaum zu überschätzenden Mangels an bewährten, spezifisch darauf zugeschnittenen Konzeptionen das Bedürfnis nach einem inhaltlich weiten Sammelbegriff aufkommen lassen, der nicht so diskriminierend klang wie „Europäisierung“, „Verwestlichung“ oder „Zivilisierung“.9 „Modernisierung“ wirkte attraktiv gerade wegen ihres vagen, allgemeinen, vieldeutigen, amorphen Charakters; obendrein weckte das Wort durchweg positive Assoziationen. Unter dem Dach dieses neuen Schlagworts fand sich fortab eine Modernisierungstheorie nach der andern ein und wurde ein Interpretationsraster für die Entwicklung zur „modernen“ Welt entwickelt, das sich bis in die Mitte der 60er Jahre weithin durchgesetzt hatte und schließlich dem Anspruch nach als universeller Kategorienrahmen aufgefaßt wurde. Vom „sozialen Wandel“, der inzwischen den „sozialen Fortschritt“ abgelöst hatte, war „Modernisierung“ jedoch kaum zu unterscheiden. Wie diese beiden Schlüsselbegriffe und wie vorher Evolution, Industrialisierung, Kapitalismus, Demokratisierung, Bürokratisierung, Rationalisierung wurde auch „Modernisierung“ in erster Linie auf die Makroebene bezogen; sie hob auf gesamtgesellschaftliche Veränderung und auf die vergleichende Analyse der „Modernisierung“ mehrerer Gesellschaften ab. Was die inhaltliche Bestimmung und die Bezugsgröße für Modernität angeht, war „Modernisierung“ jahrelang sehr stark sowohl an eine bestimmte innere und äußere Situation der Vereinigten Staaten als auch an überkommene Vorstellungen von einem universellen Evolutionsprozeß gebunden. 2. Die Modernisierungstheorien stellen eine Reaktion der intellektuellen Elite Amerikas auf die Weltmachtrolle der Vereinigten Staaten nach 1945, die West-Ost-Rivalität und Entwicklungen in der „Dritten Welt“ dar, ehe sich die Tiefenwirkung von Vietnamkrieg, Bürgerrechtsproblemen, Städte-
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verfall, Gewaltsteigerung und inneramerikanischer Armut geltend machte und zu einem deutlichen Rückgang des Angebots und der Attraktivität von Modernisierungstheorien führte. Bis zu dieser Ernüchterung galt Nordamerika – ähnlich wie im 19. Jahrhundert Großbritannien – als Modell für die inhaltliche Bestimmung von Modernität: vornehmlich aufgrund seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, die mit der statistischen Fiktion des ProKopf-Einkommens griffig demonstriert werden konnte, und aufgrund seiner demokratischen Verfassung, die im Interessenpluralismus und in friedlicher Konfliktbewältigung ihre Überlegenheit erweise. Beides zusammen wurde als allgemein erstrebenswertes Entwicklungsziel unterstellt und häufig in wechselseitiger Abhängigkeit miteinander verkoppelt. So beruhen, um nur ein prominentes Beispiel zu nennen, die Untersuchungen Lipsets aus jener Zeit auf der Annahme, daß wirtschaftlicher Wohlstand Demokratie funktionsfähig mache und erhalte, umgekehrt Demokratie industrielles Wachstum begünstige, wenn nicht gar die Bedingung seiner Möglichkeit sei.10 Irritierende Sonderfälle der Abweichung wie Deutschland und Japan wurden keineswegs etwa als „konservative Modernisierung“ systematisiert.11 Vielmehr wurde das anglo-amerikanische Vorbild durch „Exotisierung“ der Abweichungen (Lepsius) immunisiert. Das Wohlgefallen von Karl Popper konnte durch diese hartnäckig anhaltende Verletzung seines Falsifizierungspostulats schwerlich errungen werden. Obwohl die von ihm nachhaltig beeinflußte neopositivistische Wissenschaftstheorie einen ersten Höhepunkt erreicht hatte, wurde dennoch aus dem Ergebnis, daß die allgemeinen Modernisierungstheorien in wichtigen Bereichen durch die hinlänglich bekannten Sonderfälle zumindest partiell falsifiziert wurden, noch nicht der Schluß gezogen, diese Theorien zu revidieren, sie mit den abweichenden Erfahrungen in Übereinstimmung zu bringen. Außer den drei vorn genannten Faktoren aus der Konstellation nach 1945 schlugen sich in nahezu allen Modernisierungstheorien auch noch ältere ethnozentrische Vorurteile nieder, die das selbstbewußte Posieren auf dem Gipfel der „modernen“ Entwicklung begünstigten. Tief verwurzelte Traditionen machten sich erneut geltend, war doch Amerika seit dem 17., 18. Jahrhundert als ein „neues Jerusalem“, als Zufluchtstätte aller Rechtschaffenen, als Modell eines republikanischen Gemeinwesens, als Höhepunkt angelsächsischer Weltreichsbildung, als Inkarnation demokratischer Tugenden verstanden worden. Die Leitidee von der „Manifest Destiny“, der schicksalhaften Bestimmung der Vereinigten Staaten, weltweit als Vorbild zu wirken und über den Erdball zu expandieren, konnte sich noch einmal zeitweilig durchsetzen.12 Vielleicht war es angesichts der Spitzenstellung nach 1945 überhaupt kaum möglich, auf die alte Maxime des Landes, die Welt nach dem Bilde Amerikas umzugestalten, gerade jetzt zu verzichten. Zudem erwiesen sich die Kräfte der sozialen Herkunft und Umwelt der amerikanischen Modernisierungstheoretiker als außerordentlich stark, so daß in ihre Überlegungen allenthalben normative und hochgradig selektiv stilisierte Elemente aus amerikanischen Traditions- und Lebensbereichen einflossen, z. B. Verallgemeinerungen des Lebensstils und
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der politischen Kultur der „WASP“, der oberen „weißen, angelsächsischen, protestantischen“ Mittelklassen. 3. Überall haben die Modernisierungstheorien an die globale Gültigkeit beanspruchenden Evolutionslehren seit dem 18. Jahrhundert angeknüpft und sie mit dem Funktionalismus des 20. Jahrhunderts verbunden.13 Zum Teil handelte es sich sogar bloß um sprachkosmetische Verschönerungen, etwa wenn der ältere Gegensatz von Zivilisation und Barbarei in den von Modernität und Tradition übersetzt wurde. Zum Teil wurden überlieferte Stereotype auch direkt übernommen, etwa der Gedanke, daß Gesellschaften typische Stadien der Entwicklung durchlaufen. Dabei wurde dann in neuer, zeitgenössischer Wissenschaftssprache die alte Suche nach evolutionären Universalien fortgesetzt, die in allen Entwicklungsprozessen in bestimmter zeitlicher Abfolge und struktureller Ordnung auffindbar sein sollten. Namentlich Talcott Parsons, der zahlreiche Modernisierungstheoretiker direkt und indirekt beeinflußte, hat jahrelang nach derartigen universellen Bedingungen der Systementfaltung gesucht.14 Bei ihm rückten allmählich zwei Probleme in den Vordergrund: 1. die von frühen naturwissenschaftlichen Systemtheorien, dann auch von der Kybernetik beeinflußten Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeiten, die Selbststeuerungs- und Anpassungskapazität „sozialer Systeme“ vor allem gegenüber graduellen exogenen und endogenen Veränderungen zu erhöhen, da anhaltende „moderne“ Entwicklung nur mit wachsenden Kapazitäten dieser Art gewährleistet sei; 2. die Frage nach der Mobilisierung von Menschen und Ressourcen (Rohstoffen, Geld, Macht), über die kraft eines den Mitteleinsatz legitimierenden Konsensus politische Entscheidungen je nach den Präferenzen durchgesetzt werden. Zu den strukturellen Bedingungen für beide Komplexe rechnete Parsons unter anderem ein Markt- und Geldsystem, ein demokratisches politisches System zur Konsenserzeugung usw. Statt von Universalien hat man von einem „Prokrustesbett“ amerikanischer Erfahrungen (Bendix) sprechen können, in das Parsons seine Evolutionstheorie eingespannt habe. 4. Parsons vertrat jedoch nur ein – wenn auch besonders folgenreiches – Derivat derjenigen Evolutionstheorien, die als geschichtsphilosophisch oder naturwissenschaftlich inspirierte Deutungen der Neuzeit vor allem die Erfahrungen eines schroffen Aufeinanderpralls von Altem und Neuem seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf ihre Begriffe zu bringen suchte. Viele von ihnen neigten zu einer skeptischen oder optimistischen Polarisierung: Verlorenes Paradies oder aber finsteres Mittelalter einerseits – Neue Welt oder aber unaufhaltsamer Verfall andererseits.15 Große sozialwissenschaftliche Denker des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts haben an diesen symmetrischen Dichotomien der sozialen Entwicklung festgehalten. Mit dem Idealtypus der Tradition wurde der Ausgangspunkt, mit dem Idealtypus der Moderne der gegenwärtige Zustand oder das Ziel eines gerichteten Evolutionsprozesses bestimmt. Solche Gegensatzpaare finden sich z. B. in Herbert Spencers Homogenität und Differenzierung, Max Webers Traditionali-
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tät und Rationalisierung, Emile Durkheims mechanischer und organischer Solidarität, Ferdinand Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft, Henry S. Maines Status und Kontrakt. Traditional
Modern
Alphabetismus
gering
hoch
Berufe
einfach, stabil
ausdifferenziert, wechselnd
Soziale Bewegung
stabil
mobil
Soziale Differenzierung
gering
hoch
Einkommen
niedrig, große Unterschiede hoch, tendenzielle Angleichung
Empathie
gering
hoch
Familie
Dominanz großer Primärgruppen
Kernfamilie, konkurrierender Gruppeneinfluß
Funktionen
diffus
spezifiziert
Herrschaft
lokal, personal
zentralistisch, anonym
Kommunikation
personal
Medien
Konflikte
offen, disruptiv
institutionalisiert, eingehegt
Soziale Kontrolle
direkt, personal
indirekt, bürokratisch
Lebenserwartung
gering
hoch
Mobilität
gering
hoch
Normen
konsistent
inkonsistent
Organisationsgrad
niedrig, informell
hoch, formell
Politische Partizipation
gering
groß
Positionsrekrutierung
geschlossen, zugeschrieben
offen, erworben
Produktivität
gering
hoch
Recht
religiös, personalistisch
abstrakt, formelle Verträge
Religion
Dogmatik, Staatsbeistand
Säkularisierung, Trennung von Staat und Kirche
Rollen
allgemein
spezialisiert
Siedlungsweise
ländlich
städtisch
Sozialstruktur
homogen, stabile lokale Gruppen
heterogen, hohe Mobilität
Stratifikation
„Deferential Community“, Stände
egalitäre Schichtung auf Berufsleistung basierend
Technik
gering
hoch
Verhalten
Innensteuerung
Außensteuerung
Werte
partikularistisch
universalistisch
Wirtschaft
agrarische Subsistenzweise
industrielle Marktwirtschaft
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Einige Modernisierungstheorien stellen zwar eine einzige kritische Variable (Wirtschaftswachstum, Rationalisierung, Technologie) in den Mittelpunkt und verfolgen ihre Auswirkungen. Die ganz überwiegende Mehrheit aber erstrebte eine multivariable Theorie und übertrug deshalb die Polarität von Tradition und Moderne in einen mehr oder minder umfangreichen Katalog von deskriptiven Dichotomien, wobei die Idealtypen leicht die Grenze zu empirischen Verallgemeinerungen überschritten. Man gewinnt den Eindruck, daß zunächst Modernität als das vermeintlich Vertraute definiert, dann erst der traditionale Gegensatz dazu gesucht oder vielleicht sogar konstruiert worden ist. Der Entwurf zu einem Dichotomien-Alphabet soll dieses gemeinsame Element der meisten Modernisierungstheorien veranschaulichen. Wegen der durchweg unterstellten generellen Interdependenz innerhalb sozialer Systeme wurde häufig ein simultaner, gleichgerichteter Fortschritt auf allen diesen Ebenen von der Tradition hin zur Moderne fingiert. Tendenziell handelte es sich hier um Konvergenztheorien, die von der gemeinsamen Annahme eines globalen, gleichartigen Prozesses her, von einer einzigen „Logik der Industrialisierung“ aus die Umwandlung der Welt nach dem Bild der höchstentwickelten Industrienation für unvermeidbar, zumindest für wünschenswert und erreichbar hielten, sofern nicht politische, sprich: sowjetische oder maoistische Bösartigkeit Barrieren dagegen errichtete.16 5. Auffällig war an solchen Überlegungen eine dominierende Denkfigur: die „Große Dichotomie“. Aus der zu überwindenden Tradition führte die Brücke des „Grandiosen Prozesses der Modernisierung“ hinüber zur „Großartigen Moderne“.17 Für diesen Modernisierungsprozeß galten einige teils offen dargelegte, teils stillschweigend unterschobene, oft enthusiastisch suggerierte Annahmen.18 Modernisierung sei ein revolutionärer, unausweichlicher, irreversibler, globaler, komplexer, systematischer, langwieriger, aber in Phasen unterteilbarer, tendenziell homogenisierender und – last, but not least – progressiver Prozeß. In diesem Modernisierungsprozeß setzten sich angeblich vor allem sechs Subprozesse durch: • Wirtschaftliches Wachstum als eine kumulative Dauerbewegung industri-
eller Expansion; sie soll hier nicht weiter verfolgt werden. • „Strukturelle Differenzierung“, wie sie Herbert Spencer oder vor ihm
Adam Smith als Basisaxiom entwickelt hat.19 Aus dem alteuropäischen „Ganzen Haus“ gliederte sich eine zunehmend arbeitsteilige Wirtschaft, aus Herrschaft als individueller Verfügungsmacht über einen Personenverband die überindividuelle Staatsorganisation eines Territoriums, aus dem öffentlichen Leben die bürgerliche Privat- und Intimsphäre aus. Auf einer Integrationsebene mußten dann, ganz à la Spencer, die Differenzierungen wieder vermittelt werden, etwa im Konsens über allgemein akzeptierte Werte.
194 | H ANS -U LRICH W EHLER • Wertewandel, z. B. im Sinne von Parsons als Übergang von partikularisti-
schen, diffusen, unspezifischen zu universalistischen, funktional spezifizierten Wertmustern, die in Sozialisationsprozessen verinnerlicht und handlungsleitend werden. • Mobilisierung. Sie wird verstanden als Erzeugung von räumlicher und sozialer Mobilität, aber auch als Erhöhung der Erwartungen (kulturelle Mobilisierung, „Revolution of Rising Expectations“) und als Verfügbarmachung von Ressourcen und Mitteln.20 • Partizipation. Je komplizierter die Differenzierung, um so mehr – so der Gedankengang – seien Vermittlungsmechanismen erforderlich, die Teilnahme unabweisbar machen. Und je erfolgreicher die Mobilisierung von Ressourcen sei, um so wichtiger würden Entscheidungsgremien, in denen zur Legitimierung von Präferenzentscheidungen Mitwirkung notwendig werde. • Institutionalisierung von Konflikten. Um die Tradition ungeregelter Konflikte überwinden zu können, die noch im 19. Jahrhundert (z. B. im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit) tendenziell an die Grenze des Bürgerkriegs führen konnten, sei eine Vermeidungsstrategie erforderlich, die Konflikte dadurch einhegt, daß sie organisations- und verfahrensabhängig gemacht werden. Der gezähmte Konflikt kann fortab zum konfliktimitierenden Ritual werden, bei dem Drohgebärde und Imponiergehabe die potentiell systemsprengende Wirkung ersetzen (Tarifkonflikt). Den Hauptgewinn des Modernisierungsprozesses sehen viele Theoretiker – ganz analog zu Comtes Fortschritt oder Webers Rationalisierung – in der wachsenden Herrschaft des Menschen über seine natürliche und soziale Umwelt, anders gesagt: in der anhaltenden Ausweitung der Steuerungs- und Leistungskapazität.21
II. G ESICHTSPUNKTE
DER
K RITIK
1. Die kritischen Einwände, die sich, wie gesagt, unmittelbar an die innerwissenschaftliche Diskussion über die Verbesserung der Modernisierungstheorien und an die Ergebnisse des „Revisionismus“ anzuschließen vermögen, können mit einer ideologiekritischen Bemerkung eröffnet werden. Vielen Modernisierungstheorien galt die amerikanische Gesellschaft der zwei Nachkriegsjahrzehnte seit 1945 zumindest implizit als eine realisierte Utopie. Wie im selbstbewußten viktorianischen England mit seiner ökonomischen und politischen Spitzenstellung die Evolutionstheorien und der mit ihnen eng verwandte Sozialdarwinismus einen Höhepunkt erreichten, spiegelten manche Modernisierungstheorien die ethnozentrische Selbstgefälligkeit und weltpolitisch-weltwirtschaftliche Superiorität der Vereinigten Staaten nach 1945 wider.22 Verwunderlich ist das nicht, hatte sich das Land doch seit seiner Kolonialzeit als das „Neue Zion“ begriffen. Die theoretisch und empirisch präjudi-
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zierenden Wirkungen dieser Vorstellung reichten sehr weit, bis in vermeintlich ganz neutrale Kategorien, bis in evolutionäre Universalien hinein. 2. Da in vielen Modernisierungstheorien eine allgemeine Evolutionsmechanik im Vordergrund stand, wurden Krieg und Kolonialherrschaft, Imperialismus und internationale Politik darin oft völlig ausgeblendet.23 Im Hinblick auf die weniger entwickelten Regionen bedeutete das, daß das vom okzidentalen Entwicklungsvorsprung gesetzte und vom Imperialismus besiegelte schroffe Gefälle an Macht und Wohlstand mit all seinen direkten oder vermittelten Folgewirkungen nicht intensiv thematisiert wurde. Weitgehend unbeachtet blieb die Tatsache, daß westliche Kolonialherrschaft mancherorts Generationen, ja Jahrhunderte lang angedauert hatte. Daher konnte auch das Potential autochthoner Entwicklungschancen von den Modernisierungstheorien zeitweilig nicht ernsthaft genug geprüft werden, obwohl es zumindest für die Identitätssuche oder das Nationalbewußtsein von Ländern der „Dritten Welt“ politisch-ideologisch enorm wichtig werden kann.24 Hier zeigte sich insofern eine konservative Neigung der Modernisierungstheorie, als die Evolutionslehre mit ihrem gradualistischen Aufstiegsrhythmus Revolutionen in Entwicklungsländern geradezu für überflüssig erklären oder schlichtweg negieren konnte. Infolgedessen konnte „Modernisierung“ als Entwicklungspolitik mit Vorrang gegen Labilität und Kommunismus in der „Dritten Welt“ instrumentell eingesetzt werden. 3. In diesem Zusammenhang muß noch ein weiterer Aspekt erwähnt werden. Vermutlich ist die Behauptung, daß in den Modernisierungstheorien der Sozialdarwinismus des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts nur in veränderter Gestalt fortlebe, reichlich überzogen. Zumindest der Rassismus zahlreicher Sozialdarwinisten hat in die Modernisierungstheorien keinen Eingang gefunden. Das geheime oder unverhüllte Selbstbewußtsein aber, daß die neuere europäisch-amerikanische Geschichte zu einer Überlegenheit im Sinne des „Überlebens der Bestgeeigneten“ geführt habe, oder auch der unübersehbare Ethnozentrismus der Modernisierungstheorien mag auf nichtwestliche Kritiker sehr wohl als ein modernisierter Sozialdarwinismus wirken.25 Hatte der Sozialdarwinismus Expansion legitimiert, lebte in den Modernisierungstheorien eine Art intellektueller Imperialismus fort, der zur Überstülpung westlicher Begriffe über andersartige Lebenswelten führte. 4. Bei der Überprüfung der Modernisierungstheorien geht es jedoch vor allem um ihren wissenschaftlichen Nutzen, über den durch eventuelle ideologische Belastungen des Entstehungszusammenhangs noch keineswegs definitiv entschieden ist. Sie müssen ihre Erklärungskraft an Komplexphänomenen erweisen. Wurden sie etwa ihrem eigenen Anspruch gerecht, als neues Paradigma „mehr zu erschließen als jedes andere Kategorienbündel“?26 Die „Große Dichotomie“ verführte oft dazu, die Tradition als Anfang, die Modernität als Ende der Geschichte zu begreifen. Das hieß aber: Alle Geschichte zwischen ihrem Anfang und Ende wurde Übergangsgeschichte, wurde Transformation, wurde „Transition“.
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Um Natur und Inhalt dieses Übergangs, der je nach Theorie zwei bis vier Jahrhunderte umfaßte, präziser als bisher zu bestimmen, fehlte jedoch sehr viel. Prozesse, Strukturen, Umfang, Zeitmaß, Grad, Richtung und Richtungswechsel dieses Wandels blieben nur zu oft unklar. Dabei hätte die Übergangsgeschichte eigentlich die zentrale Aufgabe sein müssen, statt zum Überbleibsel von Tradition vor dem endgültigen Erreichen der Moderne degradiert zu werden. Die formelle Differenzierung von Tradition und Modernität, die unablässig vorangetriebene Vermehrung struktureller Dichotomien hat offenbar so viel Elan auf sich gezogen und die Kräfte so stark absorbiert, daß die Analyse der Transformationsepoche selber, durch welche die Tradition doch offenbar erst zur Moderne geworden ist, arg vernachlässigt, das mühsame Geschäft der historischen Verlaufsanalyse umgangen wurde. Mit anderen Worten: Anstatt die historische Wirklichkeit zu studieren, wurden wie bei einem Glasperlenspiel Begriffe endlos diskutiert. Der Wahrheitsgehalt auch noch so verfeinerter sozialwissenschaftlicher Kategorien muß sich aber auf dem Prüfstand der empirischen Bewährung erweisen. Dort erst entscheidet sich, „ob unsere Strukturbegriffe Sinn haben, ob sie überhaupt etwas erklären“. Und hier ist die Ausbeute mancher Modernisierungstheorien bis heute recht mager geblieben. Auch deshalb kann man oft eher von einer „komparativen Statik“ (Moore) als von Theorien eines unbestreitbar dynamischen Wandels sprechen.27 Weit besser als die Erfassung und Erklärung der innerlichen Motorik der Transformation selber gelang die etikettierende Beschreibung auffälliger Unterschiede. 5. Mit der Denkfigur der deskriptiven Dichotomie war, zumal die Grenze zwischen Idealtypus und empirischer Verallgemeinerung nicht selten verschwamm, eine Reihe besonders auffallender Fehler in der Beurteilung von „Tradition“ verbunden.28 Generell gilt, daß die Tradition von vornherein zu sehr nivelliert, ja deformiert wurde, während in der „Modernität“ wenigstens ein Bündel von Charakteristika westlicher Gesellschaften erkennbar blieb, auch wenn es sich dabei oft um euphemistisch hochstilisierte Eigenarten vor allem der Vereinigten Staaten handelte. Praktisch – und viel stärker als im Hinblick auf Modernität – wurde Gleichheit oder mindestens hinreichende Ähnlichkeit der Traditionen vieler Länder unterstellt. Da aber erst der Modernisierungsprozeß die von ihm erfaßten Länder in gewissen Grenzen „homogenisiert“, wurde die auch von Modernisierungstheorien prinzipiell nicht geleugnete Vielfalt sehr unterschiedlicher Traditionen um ihr Eigengewicht gebracht, wurden Qualität wie Umfang ihrer Auswirkungen rigoros vereinheitlicht. Man behauptete: • Die traditionale Gesellschaft sei statisch gewesen. Daß auch sie in Bewe-
gung war, wurde ignoriert. Die neuere Debatte über Mobilität im Zeitalter des Merkantilismus oder über Proto-Industrialisierung demonstriert die Fragwürdigkeit dieser Annahme. Sie zwingt zur Analyse von unterschiedlichen Graden der Veränderung.29
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• Die traditionale Kultur habe ein konsistentes Ensemble von Normen und
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Werten gebildet. Die Konflikte z. B. von Orthodoxen und Häretikern, von schichtspezifischen Lebensidealen, von Volks- und Adelskultur scheinen nicht existiert zu haben. Die traditionale Gesellschaft habe eine homogene Sozialstruktur besessen. Daß sie ein Gehäuse vieler konfligierender „Traditionen“ darstellte, daß Bauernkriege und Stadtrevolutionen ihre Heterogenität bewiesen, wurde übergangen. Tatsächlich ist die relative Homogenität von Sozialstrukturen eher eine Eigenart industrieller als traditionaler Gesellschaften. Tradition und Modernität seien stets in Konflikt geraten. Die neuenglische Gemeindeverfassung aus dem 16./17. Jahrhundert hat aber neben „modernen“ Textilfabriken und die „Deferential Community“ preußischer Rittergüter wenige Kilometer neben der Industriestadt Berlin bestanden. Traditionen würden stets durch moderne Veränderungen verdrängt. Die Mischung beider, ja ihre gegenseitige Stützung – so daß ihre Kombination auf Dauer gestellt wird – wurden dagegen selten ins Auge gefaßt. Tradition und Modernität schlössen sich aus. Gegenseitige Anpassung, Fusion oder partielle Verbindung, Indifferenz oder anhaltende Feindschaft ohne totalen Sieg des Neuen paßten nicht in das Korsett dieses SchwarzWeiß-Denkens. Wie aber ist dann aus einem altertümlichen Adelsparlament in London ein Forum moderner Konfliktaustragung geworden? Auf jeden Fall schwäche „Modernisierung“ immer Tradition. Das war sozusagen die Mindestthese. Es gibt aber auch eine labile Koexistenz, etwa die Instrumentalisierung von Modernem zugunsten von Tradition (z. B. die höchst moderne Demagogie und Strategie des „Bundes der Landwirte“ zur Stärkung alter Machtprivilegien). Und wie oft wird nicht Tradition zur Legitimationsquelle für modernes Handeln mit modernen Mitteln? Hat der „moderne“ Nationalstaat in Osteuropa nicht Traditionen wiederbelebt oder sogar erst erfunden? Haben nicht Traditionen der Staatsintervention moderne Sozialpolitik erleichtert?
Zugegeben, für die punktuelle Richtigkeit der verschiedenen Behauptungen lassen sich ebenso Beispiele anführen. Als generalisierbare Hypothesen aber sind sie nicht tauglich, obwohl es natürlich eine methodologische Naivität oder Rigorosität wäre, wegen einer einzigen Ausnahme eine allgemeine, nachweislich gehaltvolle Hypothese ganz aufzugeben. Hier geht es jedoch um unvorsichtige und daher nicht tragfähige Verallgemeinerungen. 6. Es ist unbestreitbar, daß der Globalbegriff „Modernisierung“ operationalisiert werden muß. Wenn eben möglich, sollten auch diejenigen Elemente, die sich dafür eignen, meßbar gemacht und gemessen werden. Um diesen Forderungen gerecht zu werden, hat man ingeniöse Indikatoren der „Modernisierung“ ersonnen. In einer Reihe von neueren Indikatorensammlungen sind diese Bemühungen um eine zuverlässige Informationsgrundlage anhand von langen Zeitreihen, Aggregatdaten, Korrelationskoeffizienten usw. zu verfolgen.30 Wenn der bei manchen Modernisierungstheoretikern
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keineswegs unterentwickelte Indikatorenfetischismus31 vermieden wird und historisch sinnvolle gegenstandsadäquate Indikatoren gewählt werden, kann der Informationswert von Urbanisierungs- und Alphabetismusraten, von Verschiebungen der Beschäftigtenzahl und Wertschöpfung im primären, sekundären und tertiären Sektor einer Volkswirtschaft usw. groß sein. Die entscheidende Voraussetzung dafür ist jedoch die empirische Zuverlässigkeit der quantifizierten Ergebnisse. Hier aber entstehen schwerwiegende Probleme. Für das „vorstatistische Zeitalter“, das in den verschiedenen Ländern zu ganz verschiedenen Zeiten endet, gibt es nur in sehr begrenztem Maße zuverlässige Zahlen.32 Selbst bei langjähriger historischer Vertrautheit mit diesen früheren Perioden wohnt Schätzungen noch immer ein beträchtliches Maß an Willkür inne. Wenn die Datensammlungen, um einen Jahrhunderte währenden Modernisierungsprozeß abzubilden, ins vorstatistische Zeitalter zurückgehen, sind sie auf solche Schätzungen, auf Rückverlängerung später feststellbarer Trends, Extrapolation usw. angewiesen, d. h. aber: Sie bieten nur selten oder gar keine verläßlichen Angaben. Im Hinblick auf Deutschland trifft das durchweg schon auf die Zeit vor 1850 zu.33 Aber auch für das ausgehende 19. und das 20. Jahrhundert ist die Quellenbasis sehr unterschiedlich tragfähig, da statistische Kategorien wechseln und das Rohmaterial der Statistischen Ämter, das eine neue Kontrolle erlauben würde, durchweg vernichtet worden ist. Ohne geschichtswissenschaftliche Schulung ist zudem mit den Zahlen selbst nur des 19. und 18. Jahrhunderts kaum umzugehen. Auf den Historiker wirken daher viele Zahlen dieser Handbücher geradezu abenteuerlich. Sie erzeugen, was weit schlimmer als dieser Eindruck ist, durch ihre fiktive Genauigkeit ein gefährlich irreführendes, nämlich ein scheinbar zuverlässiges Bild. Auch wenn man von diesem Dilemma absieht, fallen die Zahlenangaben oft so aus, daß die kritischen Schwellen des Übergangs zur Moderne sehr breit geraten. In universalgeschichtlicher Perspektive mag eine Schwelle von hundert oder noch mehr Jahren ihren Wert besitzen. Für eine genauere Analyse ist eine solche Spanne zu breit. Andererseits gestatten die Zahlen selber oder für sich allein genommen offenbar keine weitere Eingrenzung. Vor allem aber müssen alle Zahlen, auch die empirisch voll gesicherten, erst interpretiert werden, selbst wenn sie, etwa in Form langer Zeitreihen, Verlaufsrichtungen suggerieren. Auch Korrelationen erklären noch nicht die Phänomene, sondern müssen selber erklärt werden. Umgekehrt wird natürlich die Analyse von Modernisierung erleichtert, wenn es eine zuverlässige Zahlenbasis gibt. Der Prozeßcharakter von Modernisierung ist mit solchen Zahlen jedoch schwer einzufangen, da sie Prozesse nur symbolisieren und vermutlich für den Kontrast von traditionalen Ausgangspositionen bzw. Zwischenetappen und modernem Zustand nützlicher sind als für die Erklärung der Transformation. Mit andern Worten: Auch die beste Indikatorensammlung bleibt ein Hilfsmittel. Sie ist kein Ersatz für die umfassende historische Prozeßanalyse, sondern verbessert dort, wo sie exakt erarbeitet werden kann, nur die Voraussetzungen dafür.
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7. Wesentliche Schwächen vieler Modernisierungstheorien, wie sie in den Dichotomien, der Egalisierung von Traditionen, den Indikatorenzahlen nur besonders kraß zutage traten, hingen mit ihrem evolutionstheoretischen und systemtheoretischen Charakter zusammen. Evolution wurde häufig als linearer Aufstieg verstanden, während Verfall und Abbruch, Umweg und Pathologie von Entwicklung nicht problematisiert wurden. Wo blieben die nachweisbaren Schübe von Rückentwicklung, Rückgängigmachung von Mobilität, Entdifferenzierung, Zerfall (dedevelopment, de-mobilization, de-differentiation, dis-integration), obwohl sie doch in ein und derselben sich modernisierenden Gesellschaft, und zum Teil gleichzeitig, eine unleugbare Realität darstellten? Wo blieb die Einsicht, daß Modernisierung in einem Bereich oder in einer Region mit Rückgang, mit Involution an anderer Stelle erkauft wird? Wo blieben Nationalsozialismus und italienischer Faschismus mit ihrer Gemengelage von soziopolitischer und ideologischer „Entmodernisierung“ (de-modernization) einerseits, aber höchster „Modernisierung“ von Rüstungswirtschaft und Militärapparat andererseits?34 Allenthalben war das optimistische Schema gradlinigen Aufstiegs fragwürdig: Differenzierung führt nicht überall notwendig zur Mobilisierung, sie kann sich vielmehr mit Passivität zur Stagnation vereinen. Mobilisierung führt nicht überall notwendig zur Partizipationssteigerung, sie kann vielmehr die Energien absorbieren und von Politik fernhalten. Überhaupt ist die allgemeine politische Partizipation von erwachsenen Männern und Frauen eine sehr spezifische normative Vorstellung der „Demokratischen Revolution“35 und stets im politischen Kampf durchzusetzen, keineswegs aber eine systemnotwendige Universalie. Partizipationssteigerung führt auch nicht überall notwendig zur Konfliktinstitutionalisierung, sie kann vielmehr Konflikte bis hin zur offenen Revolution steigern. Konfliktinstitutionalisierung führt nicht überall notwendig zur Erhöhung der Steuerungs- und Anpassungskapazität, sondern kann auch zur ritualisierten Erstarrung werden, während – da Interessen nur jeweils selektiv berücksichtigt worden sind – neue Gegensätze außerhalb der institutionalisierten Regelungsdämme aufbrechen, die Steuerungsmechanismen unvorbereitet vorfinden und überrennen. 8. Zu einem zentralen Gegenstand der Kritik werden auch einige Nachteile der strukturell-funktionalistischen Systemtheorie, die in viele Modernisierungstheorien eingingen oder gar ihren theoretischen Kern bildeten. • Dem Glaubenssatz, daß die „Form der Funktion folgt“ (Form Follows
Function), daß mithin die Übermacht der Funktionswahrnehmung bestimmte Institutionen erzwinge, kann der Historiker schier zahllose Gegenbeweise entgegensetzen. Vermutlich lohnt es sich eher, eine „Universalisierung von Funktionen“ zu erörtern, welche die institutionellen Lösungen offen und empirisch zu klären läßt.36 In eine solche Annahme, wie sie der neuen funktional-strukturellen Richtung und zum Teil auch den
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Arbeiten des CCP zugrunde liegt, würde die präjudizierende Prämisse eingehen, daß bestimmte fundamentale (universelle) Probleme stets in ähnlicher, wenn nicht gar gleicher Weise auftreten – Probleme, auf die unter wechselnden restriktiven Bedingungen, mit Routine oder Innovation unterschiedlich reagiert werden kann. Darauf wird noch einmal eingegangen. Da diese Systemtheorien zur Klasse derjenigen Theorien gehören, die mit der allgemeinen Leitvorstellung eines Gleichgewichts arbeiten, ist es verständlich, daß der Gleichgewichtszustand nicht nur wegen seines heuristischen Nutzens eingeführt, sondern auch oft zum normativen Sollwert gesteigert wurde. Wandel wurde dann als Abweichung von der hypostasierten Norm statt als Normalität verstanden. Strukturen wurden folglich gegenüber Prozessen überbetont. Dagegen gilt es an einer Einsicht festzuhalten, die den älteren Evolutionstheorien selbstverständlich war, daß nämlich „Wandel geradezu in der Natur der Dinge liegt“ (Whitehead).37 Es geht gar nicht um An- oder Abwesenheit von Wandel, sondern immer nur um den Grad oder das Ausmaß des Wandels. Wandel wurde zu oft und voreilig als Trauma begriffen, vielleicht infolge der Definition von Wandel als „Deviance“. Problematisch, manchmal traumatisch, wird Wandel aber in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nur dann, wenn er grundlegende Sicherheitslagen und -vorstellungen bedroht, unverstanden bleibt oder aufgezwungen wird.38 Wandel verschiedenster Art, der diese kritischen Schwellen nicht übersteigt, vermögen zahlreiche Gesellschaften jedoch offenbar als „normale“ Beanspruchung zu verarbeiten. Das Interesse am Wandel der Werte führte zu einer unübersehbaren Bevorzugung derjenigen Probleme, die mit der Verinnerlichung und Stabilisierungskraft von Werten verbunden sind. Daraus entstand nicht selten ein Psychologismus, der den psychischen Internalisierungsmechanismen Vorrang gab gegenüber dem zweiten Hauptaspekt des Sozialisierungsprozesses: dem Institutionengefüge, das Werte vermittelt, auf Dauer stützt, schwächt oder gar ihre Befolgung nicht zuläßt.39 Vermutlich ist das auch der Grund, warum die objektive, soziale Lage mit ihren Anforderungen so häufig in den Hintergrund trat. Leutnant Calley hatte die Werte von „Suburbia“ wahrscheinlich normal verinnerlicht, aber die konkrete Situation, sie war nicht so, daß normgetreues Verhalten in Vietnam mühelos möglich gewesen wäre. Auf jeden Fall sind für endogen oder exogen initiierten Wandel Prozeß – und das heißt auch immer Zeitkategorien notwendig.40 Alle Entwicklungsprozesse werden auch durch Zeitmaße und Zeitetappen bestimmt. So gehört, um nur ein Beispiel anzuführen, zum Durchbruch der modernen Welt eine beispiellose Steigerung der Kommunikationsmöglichkeit, Kommunikationsintensität, Kommunikationsgeschwindigkeit. Damit verbinden sich neue Zeiterfahrungen, verändern sich Spielräume politischer Entscheidung, werden in moderne Schlüsselbegriffe „Zeitkoeffizienten“ (Ko-
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selleck) eingelassen. Diese Veränderung der Zeiterfahrung und ihre Auswirkung hat man geradezu als die wahre Signatur der „modernen“ Welt bezeichnet.41 • Wo Wandel als Prozeß analysiert wurde, erschien er vorwiegend als eurhythmischer Prozeß, nicht aber als das, was er realhistorisch meist ist: als ein dysrhythmischer Prozeß.42 Das schöne Gleichgewicht, der harmonisch abgestimmte Gleichschritt dominierte, obwohl damit die schwer entdeckbare Ausnahme zur Regel erhoben wurde. Anstatt insgeheim am Leitbild eines „gleichmäßigen Wachstums“ von „Modernisierung“ festzuhalten, hätte auch hier der bisherige historische Regelfall des „ungleichmäßigen Wachstums“ zugrunde gelegt werden sollen. • Daß das viel zu wenig geschehen ist, scheint wiederum mit verhängnisvollen Wirkungen des Interdependenztheorems zusammenzuhängen, wonach jede Veränderung eines Elements des Systems alle anderen Elemente verändert. Selbst wenn das stimmte, käme es immer noch sehr auf die Zeitspanne an, innerhalb derer solche Veränderungen sich fortpflanzen und mitteilen. Zunächst aber gilt: Es hängt keineswegs alles mit allem zusammen. Das ist ein typischer Trugschluß von Systemtheoretikern, aber auch von Historikern, die vor der Präzisierung einflußreicher, nachweislich wichtiger Faktoren in das Verlegenheitsabstraktum der allgemeinen Interdependenz oder in die Floskel flüchten, daß in der Geschichte eben alles miteinander zusammenhänge. Wer setzt sich schon gern dem Vorwurf aus, Komplexität nicht berücksichtigen zu wollen? Es hängt gewiß vieles mit vielem zusammen, viel auch mit dem Wichtigen, aber eben nicht unendlich vieles mit unendlich vielem. Ein Beispiel für zwei unterschiedliche, aber unleugbar wichtige Faktoren: Das „europäische Heiratsmuster“ zur Kontrolle der Bevölkerungsvermehrung in der „World We Have Lost“43 und damit die fundamental wichtige Steuerung des generativen Wachstums als eines stummen, aber zentralen Prozesses der Sozialgeschichte hängt nirgendwo mit dem Verhalten des Hofs und der Londoner City im gleichzeitig ablaufenden englischholländischen Konkurrenzkampf so eng zusammen, daß man von Interdependenz sprechen dürfte. Es gibt, soll das heißen, säkulare Prozesse, die ohne nachweisbare Einwirkung nebeneinander herlaufen. Da ein System gewöhnlich per definitionem als interdependentes Gefüge von Elementen bestimmt wird, ist an dieser Stelle der Einwand möglich, daß es sich bei einer Abwesenheit von Interdependenz um kein System handeln könne. Unleugbar wurde jedoch von vielen Modernisierungstheorien Interdependenz und damit auch Systemqualität schlichtweg behauptet, ohne daß sachlich zutreffend davon gesprochen werden durfte. Wem ein tautologisierender Begriffsdezisionismus – England ist ein soziales System, folglich herrscht Interdependenz – zuwider ist, wird aber auch eine so fragwürdige Immunisierung gegen empirische Kritik nicht gelten lassen und auf dem schlüssigen Nachweis von Interdependenz bestehen. Mit andern Worten:
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Die Rede von der Interdependenz verwischte oft die völlige oder relative Autonomie einzelner Elemente, die Neutralisierung von Impulsen, die Indifferenz und Isolierung, die Einkapselung und Einigelung, die friedliche oder feindliche Koexistenz. An vier oft unausgesprochenen Annahmen lassen sich noch einige weitere Schwächen eines voreilig aufgestellten Interdependenztheorems illustrieren:44 • Alle Institutionen sind interdependent, daher hat jeder institutionelle
Wandel kumulative Wirkungen. Das ist eine Art Domino-Theorie: Ist erst eine Institution modernisiert, müssen alle anderen folgen. Realhistorisch bestehen jedoch altertümliche und moderne Institutionen neben- und miteinander: „postindustrielle“ Gesellschaft und Lehrlingsausbildung wie in der Frühindustrialisierung, das Männerreservat der Hochschullehrerschaft im Zeitalter der Frauenemanzipation. • Neue psychische Einstellungen in bestimmten Bereichen erzwingen in einer Kettenreaktion ähnliche Einstellungen und ein entsprechendes Verhalten auch auf anderen Gebieten. Die Entwicklungsgeschichte der Wissenschaften in den letzten 400 Jahren zeigt hier eher das Gegenteil. • Infolge der generellen Interdependenz unterminieren fundamental unterschiedliche Normen die Kohärenz und Funktionsfähigkeit des sozialen Systems. In Wirklichkeit ist jedoch das Nebeneinander, ja das gegenseitige Durchdringen rivalisierender Wertsysteme keineswegs notwendig mit systemgefährdenden, geschweige denn systemsprengenden Wirkungen verbunden, wie das Verhältnis von englischer Adels- und Bürgerwelt zeigt. Durch Vermittlungsmechanismen können Unterschiede ausbalanciert, Verschmelzungen herbeigerührt und kann beides dauerhaft stabilisiert werden. • Moderner Wandel erzeugt einen Persönlichkeitstypus, der an Wandel an sich interessiert ist und ihn in alle Lebenssphären hinein ausdehnt. Tatsächlich ist aber oft eine fast schizophren anmutende Nachbarschaft von Innovationsbereitschaft und Konservativismus in ein und derselben Person oder Gruppe nachweisbar, z. B. an rheinischen Unternehmern des 19. Jahrhunderts. Zwar wurde in solchen Überlegungen Wandel an sich oft verherrlicht, mühsam erworben werden mußte aber offenbar erst die triviale Einsicht, daß Wandel, „wenn er sich ereignet, nicht notwendig einen Schritt nach vorn bedeutet“45 – was selbst ein kurzer Blick auf Deutschland nach 1933, auf Vietnam nach 1962, auf Chile nach 1973 bestätigt. 9. Daß die Theorien des „sozialen Systems“ für die Modernisierungstheorien ohne Einschränkung einen Gewinn dargestellt hätten, läßt sich insgesamt bezweifeln. Auf die Fragwürdigkeit des allgemeinen Interdependenzgedankens wurde vorn bereits hingewiesen. Aber auch bei der für Systeme entscheidenden Frage nach der Grenzbestimmung und Grenzerhaltung ent-
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standen zahlreiche Probleme. Denn Grenze wurde in den Modernisierungstheorien zu oft mit nationaler Grenze, „System“ mit einer nationalstaatlichen Gesellschaft unbefangen gleichgesetzt. Das bedeutete nicht nur im Hinblick auf die grenzüberschreitenden Prozesse in etablierten europäischen Nationalstaaten eine arge Einengung (z. B. gegenüber Industrialisierungsregionen wie Westdeutschland-Belgien-Nordfrankreich oder dem deutsch-russischösterreichischen Oberschlesien).46 Noch anfechtbarer wurden solche Grenzbestimmungen bei Entwicklungsländern, die aus willkürlich-zufällig abgegrenzten Kolonialgebieten entstanden sind. Und was ist „die Gesellschaft“ im „sozialen System“? Verspricht es wissenschaftliche Präzisierung, europäische Nationen mit afrikanischen Stämmen, asiatischen Zivilisationen, lateinischen Kulturbereichen, pazifischen Königreichen zusammen als „soziale Systeme“ zu klassifizieren? Ursprünglich ist der funktionalistische Systembegriff vor allem von der Sozialanthropologie für wenig entwickelte Gesellschaften, von der Parsons-Schule jedoch für sehr komplexe Gesellschaften gebraucht worden. Weder seine inflationäre Verwendung noch seine Verbindung mit evolutionären Universalien können jedoch die Frage zum Schweigen bringen, ob er für alle Entwicklungsphasen zwischen diesen beiden Gesellschaftstypen gleich gut geeignet ist oder ob überhaupt in einer am sozialen Wandel interessierten Wissenschaftsdisziplin ein Begriff Furore machen sollte, der wegen mangelhafter Berücksichtigung des Wandels auch von Soziologen zunehmend kritisiert wurde. Andererseits erfordert die Logik vergleichender Modernisierungsstudien vergleichbare Größen, möglichst im selben kategorialen Bezugssystem, um funktionelle Äquivalente genauer bestimmen zu können.47 Aber stellt nicht die Andersartigkeit dieser „Gesellschaften“ den Nutzen der Sammelkategorie „soziales System“ in Frage? Nivelliert sie nicht, wenn man auf ihr beharrt, wesentliche Unterschiede? Macht sie sie nicht vielleicht geradezu unkenntlich? Kurzum: Überwiegen die Nachteile der Denkfigur „soziales System“ nicht die Vorzüge der hohen Verallgemeinerungsstufe? Muß nicht zumindest der Hochmut der Systemtheorien, nur auf ihrem Königsweg ließe sich vorankommen, hartnäckig in Frage gestellt werden? Ist es nicht oft empirisch ergiebiger, vom höchsten Abstraktionsniveau herunterzusteigen und ohne Vorentscheidung für ein interdependentes System einzelne Prozesse und Strukturen zu analysieren?48 Anstatt sogleich ein vollständiges „soziales System“ mit angeblich funktional integrierten Institutionen zu untersuchen, könnte man auf den Spuren von Weber und Marx, von Hintze und Bloch die Rivalitäten von Institutionen und Gruppen, Klassen und Individuen als historische Prozesse darstellen, Aktionen wieder in ihr Recht gegenüber Funktionen einsetzen, Stabilität und Koordination nicht aus der Verinnerlichung der Werte von „Main Street“, sondern aus Interessen- und Kräftekonstellationen entstehen lassen. Maßgeblich ist dabei die Enge oder Weite des Erkenntniszieles. Darauf ist noch einmal zurückzukommen.
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10. Zu den Belastungen durch systemtheoretische Ansätze gehörte vielfach – die sich auf Politik konzentrierende Schule der „Politischen Entwicklung“ wird hinten eigens erörtert – eine theoretisch und empirisch fatale Unterschätzung der Politik. Politik wurde als Subsystem des umfassenden „sozialen Systems“ aufgefaßt; sie wurde abgeleitet, anstatt als relativ selbständige „Gedanken- und Aktionssphäre“ anerkannt zu werden; sie diente primär der Erhaltung des Gesamtsystems, besaß aber keinen potentiell disruptiven Eigencharakter. Die realistische Ansicht, daß die politische Herrschaftsordnung zwar einen „integralen Teil der Sozialstruktur“ bilde, aber dennoch „die Fähigkeit haben“ könne, „diese entscheidend zu verändern“, lag „nicht im Hauptstrom“ dieser Theorie.49 Die Folge war, daß die Steigerung des modernen bürokratisierten Flächenstaats zum Leviathan des Hitlerreichs die ganze Denkfigur von einem Subsystem Politik sprengte. Oder es wurde ignoriert, daß die kontinentaleuropäische Industrialisierung von Beginn an auch unter einem „politischen Imperativ“ stand.50 Daß politischer Wandel angeblich nur aus einem Systemwandel abgeleitet werden konnte oder aus einer ominösen Systementwicklung auf Sollwerte hin resultierte, verfehlte ihn genauso wie die vulgärmarxistische Agententheorie. Dagegen kann die Bedeutung von Politik besser gewichtet, das Netz ihrer restriktiven Bedingungen, ihre relative Autonomie vermutlich schärfer erfaßt werden, wenn sie auf der Linie Max Webers analysiert wird sowohl als Kampf um Herrschaft, der wegen der Labilität der Kräftekonfigurationen und der Rivalität der Legitimationsprinzipien ständig anhält, als auch als Kampf um Durchsetzung von Interessen, seien sie materieller oder ideeller Natur, wobei „Weltbilder ... sehr oft als Weichensteller die Bahn bestimmt (haben), in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegt“.51 Auch die Kurzformel vom „Primat der Systemerhaltung“ müßte und könnte auf diese Weise aufgeschlüsselt werden, da über diesen Primat je nach Herrschafts- und Eigeninteresse gestritten wird. Einer Unterschätzung der Politik entsprang wahrscheinlich auch die Vorstellung von einem notwendigen Nexus zwischen Industrialisierung und Demokratisierung.52 Demokratie ist aber, historisch gesehen, weit eher die Ausnahme als die Regel geblieben. Der anonym-zentralistisch-autoritäre Staat kann durchaus, zumindest unter Effizienzkriterien und auf kurze Sicht, auf manche Probleme schneller und adäquater reagieren als Demokratien, obwohl diese bisher, auf mittlere oder lange Sicht, ein höheres Potential zur Problembewältigung und Spannungsmeisterung entwickelt haben. Industrialisierung mobilisiert zwar, aber demokratische Partizipation ist keine generelle Folge. Für ihre Erkämpfung bleiben die Amerikanische und die Französische Revolution weitaus wichtiger als die Industrielle Revolution.53 Daraus ergibt sich eine wichtige allgemeine Konsequenz und zugleich ein Plädoyer für die Modernisierungsforschung als Historische Sozialwissenschaft. Wenn mithin „der in der Modernisierungstheorie angenommene Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Demokratisierung empirisch nicht zu halten ist, beide durchaus unabhängigen Tendenzen folgen“, hat Rainer
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Lepsius diesen Schluß gezogen, „löst sich der Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und politischer Ordnung in eine nicht näher definierte Wechselbeziehung auf. Ob die Modernisierung im Sinne von Industrialisierung die Demokratisierung fördert oder hindert, ist dann eine offene Frage, die historisch höchst unterschiedliche Antworten findet. Zwischen beiden Prozessen besteht jedenfalls keine Synchronisation. Die wesentlichen demokratischen Ordnungsideen und politischen Institutionen sind vor der Industrialisierung entwickelt worden und hatten keineswegs eine industrielle Massengesellschaft als Ordnungsobjekt vor sich. Jedenfalls können dem Modernisierungsprozeß nicht mehr ohne weiteres materielle Qualitäten für die politische Ordnung zugeschrieben werden. Das Verhältnis von Industrialisierung und Demokratisierung wird darum nur in historischen Zustandsabfolgen und Mischungsverhältnissen von konkreten Strukturelementen erfaßbar.“ 11. Generell galt für viele Modernisierungstheorien: Herrschaft, Konflikt und Interesse wurden nicht hinreichend thematisiert, und zwar Herrschaft im umfassenden deutschen Wortsinn, nicht nur je als Power, Rule, Domination, Authority. Hinter der Deskription von Faktorenbündeln trat die kausalfunktionale Erklärung der endogenen, aber auch der exogen beeinflußten Dynamik des realhistorischen Prozesses der Transformationsgeschichte zurück. Exkurs: Einige nationalhistorische Beispiele für empirische Einwände gegen die anfänglichen Modernisierungstheoreme könnten mühelos vervielfältigt werden. England:54 1. Statt von einem autochthonen selbstgeregelten Modernisierungsprozeß auszugehen, kommt man auch im Hinblick auf England schwerlich um die Anerkennung einer „Herausforderung zur Modernisierung“ durch das weiterentwickelte, zahlreiche Demonstrationseffekte auslösende Holland herum. Wahrscheinlich führten auch ganz bewußte und geplante Anstrengungen, um den schmerzhaften Rückstand zu überwinden, zur relativ schnellen Kommerzialisierung der Landwirtschaft durch profitorientierte Agrarunternehmer, zur Förderung des Außenhandels, zur Verbesserung der Zahlungsbilanz. 2. Von einer Zentralisierung der Staatsgewalt, wie sie beim „NationBuilding“ gemeinhin unterstellt wird, kann bis weit in das 19. Jahrhundert hinein, bis zur „viktorianischen Verwaltungsrevolution“, vielleicht auch noch darüber hinaus bis zum „Wohlfahrtsstaat“ nicht ernsthaft die Rede sein, da die Stabilisierung und Verteidigung der Lokalgewalt von Aristokratie und Gentry die Signatur der englischen Innenpolitik bildeten. 3. Politische Partizipationsrechte wurden gerade im Zeitalter der Industriellen Revolution eingeschränkt. 1715 gab es relativ mehr wahlberechtigte Männer als 1832 (4,7 : 4,2%). Der Oligarchisierung der Politik durch strategisch postierte Adelscliquen korrespondierte eine dank der Ächtung der Tories lange funktionierende Einparteiherrschaft.
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4. Der Rückgang des Analphabetismus, der in bestimmten Sozialschichten bereits um 1640 stark abgenommen hatte, sparte bis ins frühe 19. Jahrhundert die Arbeiter aus. Auch danach blieb das Mutterland der Industriellen Revolution weit hinter Preußen, Holland und der Schweiz zurück. Das weniger entwickelte, aber „bildungsbewußte“ Schottland der Aufklärung dagegen war England im 18. Jahrhundert auch auf diesem Sektor weit überlegen. 5. Weder in der Politik des 18. und 19. Jahrhunderts noch im Bildungswesen läßt sich der Sieg des Gleichheitsgedankens im Sinne mancher Modernisierungstheorien nachweisen. Für das Schulwesen ist ein schroffes Gefälle sogar bis heute kennzeichnend. In manchen Lebensbereichen steht die durch keine „Demokratische Revolution“ veränderte Prägung des Landes im späten 17. und 18. Jahrhundert noch immer dem Gleichheitspostulat entgegen. Vereinigte Staaten: 1. Warum sollte das Einfrieren von Selbstverwaltungsformen der Tudorzeit eigentlich per se „modern“ sein? Das gilt doch nur, wenn man zugleich normative Vorentscheidungen über Partizipationsrechte begründen kann. 2. Wie grob mußte das Netz von Modernisierungstheorien gewebt sein, daß die „Parteimaschinen“ mit ihrer Entmündigung des Bürgers hindurchfallen konnten? 3. Weshalb gilt ein Präsidialsystem, dessen Leitfunktionen ganz nach dem Vorbild des 18. Jahrhunderts von einem „Monarchen auf Zeit“ wahrgenommen werden, als spezifisch modern? 4. Da zum Sieg des – freilich von Bundesregierung, Einzelstaaten und Gemeinden massiv subventionierten – amerikanischen „Free Enterprise“ nur ein Minimum von Sozialleistungen gehörte, ist der ganze Bereich „moderner“ Daseinsvorsorge im Stile des kontinentaleuropäischen Sozialstaats als „Modernisierung“ kaum thematisiert worden. 5. Wie ließen sich mit der Gleichberechtigungsidee die Behandlung und Lage der Neger, Puertorikaner und Chicanos, die Verspätung des Frauenwahlrechts und die Tatsache vereinbaren, daß 30% der Bevölkerung unter der Armutsschwelle des offiziellen Existenzminimums einer wohlhabenden „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ lebten? Deutschland: 1. Welches Wertesystem war universaler als das des mittelalterlichen Katholizismus im Deutschen Reich? 2. Ein erstaunlich hoher Alphabetismus ließ sich über mehr als hundert Jahre hinweg mit geringen Partizipationsrechten vereinbaren, und gerade in den akademischen Eliten gab es nicht wenige Vorkämpfer für eine radikale Beschränkung der politischen Teilnahme. 3. Wann löste sich – angeblich ein typischer Modernisierungsvorgang – die Herrschaftsfunktion wirklich vom Familienstatus?55 Gab es nicht bis ins 20. Jahrhundert hinein die Selbstergänzung der herrschenden Klassen aus
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einem ganz schmalen Reservoir, und galt nicht eine traditionale Positionsrekrutierung mindestens bis 1918? 4. An sozialer Mobilität stand das Ruhrgebiet dem pennsylvanischen Industriegebiet kaum nach, ohne daß Partizipationsverlangen und Partizipationsrechte automatisch zugenommen hätten. 5. Eine hochdifferenzierte Berufswelt gab es gewiß, aber das gesamtgesellschaftliche Stratifikationsgefüge blieb eine Mischung von traditionalen und modernen Elementen, von Ständeresten und Klassengesellschaft, von Besitz- und Erwerbsklassen.
III. Z U
DEN T HEOREMEN DER „P OLITISCHEN E NTWICKLUNG “
Auch entschiedene Kritik darf aber, zumal wenn sie so pauschal vorgebracht wird und zum Teil nur auf die Vergangenheit zutrifft, nicht zum Dünkel werden, der übersieht, daß nicht wenige kluge Sozialwissenschaftler sich inzwischen bemüht haben, die Modernisierungstheorien zu verbessern. Um einen solchen Versuch, der – wie man heute gern sagt – auf langjährigen Lernprozessen beruht, geht es nunmehr. Die Theoreme der „Politischen Entwicklung“ (Political Development), die in den Diskussionszusammenhang der „Modernisierung“ gehört, sind zwar bisher noch nicht stringent verknüpft worden, wie es mit hochgemuten Hoffnungen anfangs erwartet wurde. Allgemein notwendige Stufenfolgen der „Politischen Entwicklung“ hat man erst recht noch nicht entdeckt. Nicht selten trifft auch die Kritik zu, daß „Entwicklung“ zu unscharf oder zu teleologisch, das „politische System“, das an erster Stelle „Politische Entwicklung“ zu verarbeiten hat, zu ungenau definiert wird. Das „politische System“ ist nämlich (analog zum „sozialen System“) mit den schwierigen Problemen der Interdependenz und Grenzbestimmung verknüpft. Oft wird darunter ein besonders privilegiertes Verteilungssystem für knappe Güter verstanden, das zu Präferenzentscheidungen ermächtigt ist, über die dafür notwendigen Institutionen, Verfahrensweisen zur Legitimierung und Sanktionsmechanismen zur Durchsetzung verfügt und seine Entscheidungen tendenziell in der gesamten Gesellschaft durchsetzen kann. (Auch so definiert ist es z. B. nicht leicht von der Kirche mancher Länder zu unterscheiden). Das soziale Umfeld dieser Institutionen (z. B. Verbände, öffentliche „Meinungsmacher“, Funktionseliten) soll dabei voll einbezogen werden, weshalb die Grenzen schnell verfließen. Dieser Ansatz versucht, die zu frühe Fixierung auf staatliche Institutionen im Sinne der älteren Institutionenlehre zu vermeiden, er ist auch potentiell zu Recht weiter gespannt, führt aber, da in modernen Gesellschaften die Bedeutung der staatlichen Entscheidungsfunktionen zugenommen hat, dank dem sich empirisch aufdrängenden Gewicht des Staatsapparats nicht selten doch nur zu einer Analyse staatlicher Politik. Seine begriffliche Weite bietet andererseits unübersehbar den Vorzug, Bereiche politischer Entscheidungen umfas-
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send genug definieren zu können. Auf jeden Fall wird das „politische System“ von den meisten Protagonisten der „Politischen Entwicklung“ nicht mehr als untergeordnetes Subsystem des „sozialen Systems“ begriffen, sondern als relativ autonomes, wenn nicht gar vorrangiges System betrachtet. Auch in diesem Bereich einer politikwissenschaftlich orientierten Modernisierungsforschung gibt es genug offene Fragen. Eine Prüfung der Positionen empfiehlt sich aber nicht zuletzt deshalb, weil die im folgenden knapp skizzierte Position der Mitarbeiter des „Committee on Comparative Politics“ aus einer Verbindung breiter empirischer Erfahrungen mit anhaltender theoretischer Diskussion hervorgegangen ist.56 Von den Traditionen der „Comparative Politics“ beeinflußt und von den Problemen der „Dritten Welt“ vorangestoßen, haben die in diesem Arbeitskreis seit etwa 1960 zusammenwirkenden Sozialwissenschaftler – vor allem G. A. Almond, seit Anbeginn der Spiritus Rector, L. W. Pye, D. Rustow, J. S. Coleman, S. Verba, L. Binder, J. LaPalombara, M. Weiner u. a. – ein kategoriales Verbundsystem entwickelt, das vergleichende empirische Analysen theoretisch abgesichert ermöglichen soll.57 Dieser Anspruch wird hier von vornherein – wie es auch zunehmend der Diskussionsrichtung des Arbeitskreises entsprochen hat – auf die Zeit der „Modernisierung“ eingegrenzt, ohne die ursprünglich von manchen geäußerte Hoffnung zu erörtern, eines Tages, möglichst bald natürlich, ein universelles Schema „Politischer Entwicklung“ anbieten zu können. Diesem Kategoriengefüge liegen einige Annahmen über fundamentale Funktionen des „politischen Systems“, zentrale Dimensionen des politischen Entwicklungsprozesses und typische politische Entwicklungsprobleme, meist „Krisen“ genannt, zugrunde. Der Modernisierungsprozeß, in den diese Krisen alle eingebettet sind, wird sehr viel vorsichtiger und realitätsadäquater als bei den Theoretikern einer zwangsläufig aufwärtsgerichteten, linearen Evolution als eine „Herausforderung“, als eine historische Möglichkeit verstanden.58 Als (bisher) universelle Funktionen des „politischen Systems“ gelten: • die Legitimationsfunktionen (wie politische Sozialisation, Verteilung von
Herrschaft, Beschaffung von Loyalität); • die Prozeßfunktionen (wie politische Rekrutierung, insbesondere von Eli-
ten, Artikulation und Aggregation von Interessen, politische Kommunikation); • die Leistungsfunktionen (wie Mobilisierung und Verteilung von Ressourcen, Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und stabiler Außenbeziehungen). Die Ausübung dieser Funktionen muß drei Entwicklungsdimensionen des Modernisierungsprozesses, den von ihnen gesetzten Bedingungen und Grenzen gerecht zu werden versuchen. Diese zu einem „Modernisierungssyndrom“ verbundenen Prozesse umfassen:
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• die strukturelle Differenzierung, • die Durchsetzung der Gleichheitsimperative, • die Steigerung der Steuerungs- und Leistungskapazität (der „integrative,
adaptive, innovative, responsive capacity“ ). Die Interaktion dieser Prozesse und ihre Einwirkung auf das traditionale Erbe führt zu starken Spannungen und immanenten Widersprüchen, welche die moderne Entwicklung vieldeutig und unabschließbar halten. Je nach der Beeinträchtigung der politischen Funktionen, die angesichts des Sogs oder gar Staus verschiedener Entwicklungsprobleme wahrzunehmen sind, kommt es zu „Krisen“, für die man typische Felder potentieller Konfliktentfaltung zu lokalisieren versucht hat. Da diese Krisen nacheinander, alle zusammen (als „Kumulative Revolution“) oder teilweise gleichzeitig auftreten, sie auch nur im extremen Ausnahmefall „gelöst“ werden können, weil sie als in der Zeit variierende und stets von neuem wieder auftretende Herausforderung verstanden werden, bleibt das Schema ziemlich elastisch. Bisher sind sechs solcher Krisen in den Mittelpunkt gestellt worden: die Identitäts-, Legitimitäts-, Partizipations-, Integrations-,59 Penetrations- und Distributionskrise. • Die Identitätskrise entsteht bei der Schaffung eines nationalen Gemein-
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schaftsgefühls, wenn als Folge einer politischen Umdefinierung und eines institutionellen Umbaus regionale und religiöse Eigenarten, Stammes- und Einzelstaatstraditionen auf neue Bezugswerte hin umgeformt werden. Die Legitimitätskrise entsteht durch den Wandel der Legitimitätsbasis, etwa von einer traditional-charismatisch-religiösen zu einer rational-legalsäkularisierten Grundlage, durch den Wechsel fundamentaler Zielvorstellungen oder durch die Notwendigkeit, für die Struktur der Herrschaft Loyalität auch unter Belastungen zu erhalten oder bei einem Defizit neu zu beschaffen. Die Partizipationskrise entsteht durch Politisierung zentraler Staatsfunktionen und wachsende politische Beteiligung, wobei dahingestellt bleiben mag, ob der vorn erwähnte Zusammenhang zwischen Differenzierung, Mobilisierung und Ausdehnung der Teilnahme oft oder nur gelegentlich besteht. Als Konflikt zwischen traditionalen Eliten und bisher Unterprivilegierten führt die Partizipationskrise zu Kämpfen um das Wahlrecht, die Institutionalisierung politischen Einflusses, die Veränderung der rechtlichen Normen. Die Integrationskrise entsteht als Reaktion auf anhaltende strukturelle Differenzierung, aber auch aus dem Kampf um die Überwindung regionaler, konfessioneller, stammesgebundener Unterschiede, um Gleichberechtigung oder Sonderstellung, um Anerkennung neuer verbindlicher Loyalitätspole. Die Penetrationskrise entsteht, wenn die Gesellschaft gegen den Widerstand bisher autonomer oder begünstigter Gruppen bis in ihre geographische und
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soziale Peripherie hinein von modernen Verwaltungsstrukturen in den Bereichen des Finanz- und Steuerwesens, der Bildung und Infrastruktur, der Verteidigung und Konjunktursteuerung durchdrungen wird. Gemeint sind vor allem der Aufbau und die Wirkung der modernen Bürokratie, das Wachsen der Verfügungsgewalt herrschender Gruppen und damit auch jener Zentralisationstrend zugunsten des Staates, den Max Weber als „Monopolisierung legitimer Gewaltsamkeit“ charakterisiert hat. • Die Distributionskrise entsteht aus den Problemen der Umverteilung von Gütern, Werten und Lebenschancen. Dafür können neue Gerechtigkeitsideale und Sicherheitswünsche, Daseinsvorsorge- und Loyalitätsprobleme verantwortlich sein. „Ein – modernes, politisches System ist danach zu charakterisieren: durch eine Politisierung der Identität; eine weitgehend auf Leistung bezogene Legitimität; eine wachsende Fähigkeit, nationale Ressourcen zu mobilisieren und (um-) zu verteilen; eine Ausdehnung der politischen Beteiligung, eine zunehmende Integration der verschiedenen Sektoren einer Gesellschaft“, um ihre Differenzierung auf anderen Ebenen wieder aufzufangen.60 Diese Charakteristika werden auf Entwicklungspfaden erworben, die durch alle oder durch einige dieser Entwicklungskrisen hindurchführen. Man kann die ersten beiden Krisen den Legitimierungsfunktionen, die dritte und vierte den Prozeßfunktionen, die fünfte und sechste den Leistungsfunktionen zuordnen und auf diese Weise die unter Krisenzeichen erfolgende „Verarbeitung“ bestimmter Probleme, die bei der Funktionsausübung auftauchen, schärfer ins Auge fassen. Man kann die Kombination auch variieren und Penetration und Integration als Aufgaben der Staatsbildung, Identität und Legitimität als Aufgaben der Nationsbildung, Partizipation und Distribution als Probleme der Konsolidierung des Gemeinwesens bestimmen. Oder man kann die Penetrations-, Integrations- und Distributionskrisen aus den Konflikten über die Ausbreitung und Differenzierung des Verwaltungsapparats moderner Nationalstaaten, die Identitäts-, Legitimitätsund Partizipationskrisen aus den Konflikten zwischen Eliten und Gegengruppen hervorgehen lassen. Es gibt mithin eine relative Beliebigkeit der analytischen Elemente und ihrer Kombinationsmöglichkeiten, anders gewendet: eine nützliche Flexibilität je nach Interesse und Besonderheit des Untersuchungsgegenstands. Der Gewinn dieses Rasters ist ein doppelter: Einmal wird eine Problemtypologie entwickelt, die überschaubar, aber nicht zu starr ist; zum zweiten wird eine Lösungstypologie angeregt, die enthält, wie unter wechselnden restriktiven Bedingungen auf einen unterschiedlichen Problemhaushalt reagiert wird. Vielleicht wird manchmal auch schon eine Erklärungsskizze suggeriert, da sich aus spezifischen Konstellationen der Leistungs- und Steuerungskapazität, der Herausforderung durch „Krisen“ und der möglichen Lösungsstrategie Unterschiede politischer Regimes (der „Politischen Entwicklung“) im Sinne einer erklärenden Strukturanalyse ableiten lassen.
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Diese Vorzüge, dazu die verschiedenen Abstraktionsebenen, die potentiell weitreichende Berücksichtigung politischer und sozialer, ökonomischer und psychischer, ideologischer und kultureller Faktoren zusammen mit einer begrenzten Offenheit der analytischen Kombinationen machen die Attraktion dieser Theorie aus, die empirische Forschung offenbar erfolgreich anleiten kann. Was auf höherem theoretischen Niveau als Nachteil gelten mag – die fehlende Formulierung von Gesetzen über die Voraussetzungen und Stufenfolgen der Krisen, über ihre Verschiebungen und Knotenpunkte, über Klimax und Katharsis – mindert für eine bescheidenere Historische Sozialwissenschaft den heuristischen Wert dieser Überlegungen keineswegs. Die von ihnen bereits angeregten Einzelstudien, z. B. Elitenanalysen (Elitenrekrutierung als wesentliche Funktion des politischen Systems, Eliten als Modernisierungsträger, Eliten in Legitimationskrisen), aber auch die in der Bundesrepublik geführte staatstheoretische und staatssoziologische Diskussion über die Legitimationsproblematik zeigen, daß man nur zum eigenen Nachteil auf eine Beschäftigung mit diesen Theoremen verzichtet.61
IV. Z UM P OTENTIAL DER M ODERNISIERUNGSTHEORIEN Einige Vorzüge der Modernisierungstheorien dürften trotz aller Kritik oder aber wegen der Lernprozesse in der Zwischenzeit schwer zu bestreiten sein. Dabei braucht der Nutzen der soeben skizzierten Theoreme nicht noch einmal beschrieben zu werden. Ein kritisches Abwägen der Schwächen und Vorzüge kann sich an dem allgemeinen Gesichtspunkt orientieren, welche Nachteile innerhalb und welche nicht mehr innerhalb der Modernisierungstheorien überwunden werden können. Bei der immanenten Diskussion im Rahmen der Modernisierungstheorien kann man zuerst die Frage stellen, welche einzelnen Prämissen und Ziele, Begriffe und Theoreme nützlich bleiben oder verbessert werden könnten (I.). Darauf kann die Frage folgen, ob sich durch inhaltlich oder chronologisch genauere Definition des Gesamtkonzepts ursprüngliche Schwächen vermeiden lassen (II.). I.1. Zu den potentiellen Vorzügen gehört zunächst die Tatsache, daß Modernisierungstheorien die Grundlage für eine Analyse des gesamtgesellschaftlichen Wandels bereitstellen wollen. Über den häufigen Preis zu hoher, nichtssagender Verallgemeinerung braucht hier nicht wieder gesprochen zu werden. Sie flüchten aber nicht von vornherein in die triviale Bebauung winziger Forschungsparzellen, sondern bieten in ihren besten Versionen Kategorien und Theoreme an, die sowohl der vorrangig behandelten Makroebene gelten als auch die Vermittlung mit Mikroproblemen leisten sollen. So kann man z. B. im Begriff der „Political Culture“ das Bestreben erkennen, Tradition und Moderne in ihrer Verschränkung, gesamtgesellschaftliche und schichtenspezifische Bedingungen, aber auch individuelle Einflußfaktoren zu erfassen; am Prozeß der „politischen Sozialisation“ kann
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dann analysiert werden, wie soziokulturelle Klimata bis in die sozialkulturelle Persönlichkeit des einzelnen hinein vermittelt werden.62 2. Im Zusammenhang mit diesem Anspruch, gesamtgesellschaftliche Analysen betreiben zu wollen, kann auch die relative Berechtigung des Versuchs verteidigt werden, Modernisierung im Sinne eines Idealtypus möglichst umfassend, ja allseitig, und logisch geschlossen zu entwickeln. Es handelt sich dann, durchaus im Sinne von Max Weber, um eine „Utopie“, da dieser Idealtypus „durch einseitige Steigerung ... einiger Gesichtspunkte ... zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde“63 gewonnen wird. Aber erst diese gedankliche Präzisierung des Instrumentariums gestattet es, empirische Abweichung und empirische Kritik in einem ersten Durchgang festzuhalten und in einer zweiten Arbeitsphase zu ordnen und zu erklären. Dabei kann es selbstverständlich vorkommen, daß der ursprüngliche Idealtypus auf keine hinreichende Erklärung der Abweichungen hinlenken kann, so daß Informationswissen und Erklärungsansätze eventuell unter neuen Gesichtspunkten organisiert werden müssen. Insofern wären aber auch die rein theoretischen Bemühungen der Modernisierungsforschung zumindest zum Teil notwendige Durchgangsphasen des wissenschaftlichen Entwicklungsprozesses und nicht nur Ausweichen vor der Empirie oder verlorene Liebesmüh gewesen. Die Modernisierungstheorien müssen fraglos die Kluft zwischen Theorie und Praxis stärker als bisher überwinden. Wenn das Wuchern verselbständigten Theoretisierens nach Thomas Kuhn eine Krise des Paradigmas anzeigt, haben die Modernisierungstheorien von Anfang an ein Krisendasein geführt. Die Überbrückung der Kluft wird am ehesten durch Einschränkung gelingen. Aber einige Theoreme mittlerer Reichweite reichen für Einzelprobleme, nicht jedoch als Gegenkonzept aus, wenn an den Ansprüchen einer Makroanalyse, am Ziel der Erklärung und des Vergleichs von gesamtgesellschaftlichem Wandel festgehalten wird. 3. Die Flexibilität, wie sie an dem Begriffsinstrumentarium der Gruppe um Almond verfolgt worden ist, kann als Gewinn gelten, besonders gegenüber jenen Theorieansätzen, die sich zu frühzeitig, zu voreilig oder in monadologischer Heilsgewißheit starr festlegen. Der einzelne Sozialwissenschaftler behält je nach Erkenntnisabsicht und Forschungsgegenstand die Freiheit einer gewissen „Theoriekombinatorik“ (Zapf). Auf die Versuchung, deskriptive Momentaufnahmen ohne Erklärungsversuch unverbindlich aneinanderzureihen, braucht hier nicht noch einmal hingewiesen zu werden. 4. Der Zwang zum Vergleich westlicher mit nicht-westlichen Gesellschaften wird ernstgenommen. Das bisher erarbeitete, wenn auch schmale komparative Material ist, selbst wenn es manchmal kategorial deformiert wirkt, nicht gering zu schätzen. Tendenziell wird die nationale Nabelschau durch weitere, vergleichende Perspektiven überwunden, die letztlich auch wieder einer dank dem Vergleich differenzierten Nationalgeschichte zugute kommen können.
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5. Die Bestimmung eines Vorher-Nachher-Modells ist eine unvermeidbare Aufgabe jeder Entwicklungsanalyse.64 Obwohl früher viele Modernisierungstheorien die beiden Stadien nur unzureichend bestimmt haben, ändert das nichts an der prinzipiellen Richtigkeit der Konstruktion. Auch lassen sich die vorn kritisierten Dichotomien in gewissen Grenzen durchaus im Sinne größerer historischer Genauigkeit verbessern. Sie besitzen zudem einen Nutzen als vorläufiges Klassifikationssystem, zumal sie nicht nur diachron, sondern auch synchron gehandhabt werden können, wie z. B. Parsons selber an der Gleichzeitigkeit traditionaler und moderner Elemente im Deutschland der Zwischenkriegszeit zu zeigen versucht hat.65 Dieser heuristische Wert steigt, wenn an die Stelle tollkühner Simplifizierung historische Präzisierung tritt. Es handelt sich dann auch um ein nützliches und schnell erlernbares Orientierungswissen für Studienanfänger, die von der Komplexität solcher Prozesse leicht erdrückt werden. Freilich kann die Verteidigung des Klassifikationsgewinns nicht ernsthaft mit der Behauptung verknüpft werden, daß empirisch-historische Einwände die Dichotomien als Kassifikationssystem gar nicht träfen. Auch als idealtypische Asymmetrien, erst recht als empirische Verallgemeinerungen müssen sie dem Gewicht solcher empirischen Einwände ausgesetzt bleiben und ihnen Rechnung tragen. Generell ist hier auch zu beachten, daß gegenüber der Simultaneität und diachronen Dichotomisierung der Modernisierungstheorien die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ weit stärker als bisher als eine der historischen Grunderfahrungen präsent gehalten werden muß. Statt linearen Aufstiegs und totalen Siegs des Neuen kann erst das Nebeneinander von Alt und Neu, können ihre Vermischung, Kollaboration und schleichende Mutation, die Verstärkung von Modernem durch Traditionelles, von Traditionellem durch Modernes die Spannungen des realhistorischen Prozesses erfassen helfen. Zahlreiche Modernisierungsforscher dürften inzwischen dieser Feststellung zustimmen. 6. In einer ähnlichen Richtung läßt sich für Evolutionstheorien und evolutionäre Universalien plädieren. Wenn modernisierende Evolution nicht mehr – wie so oft in einer amerikanischen sozialwissenschaftlichen Tradition – als Wachstumsprozeß mit Gleichgewichts- und nur gelegentlichen Ungleichgewichtslagen, sondern vielmehr – wie häufig in einer europäischen Theorietradition – als Strukturwandel mit inhärenten Krisen, Konflikten, Disparitäten, mit Wachstum, aber auch Involution verstanden würde, könnte schon die Veränderung solcher kategorialen Elemente des allgemeinen Evolutionsverständnisses manche Einwände entkräften.66 7. Eine Antwort muß auch auf die prinzipielle Frage gesucht werden, ob eine Evolutionstheorie überhaupt vermieden werden kann, wobei zugleich noch zu fragen ist, wie weit oder wie eng sie gefaßt werden und wieviel wirklichkeitsnäher als bisher ihr Inhalt unter Verarbeitung möglichst umfassenden historischen Materials bestimmt werden muß. Setzt nicht auch die Kritik eine materiale Geschichtstheorie voraus, die meist nur in vagen Umrissen, bruchstückhaft und inhaltlich nicht hinreichend expliziert hinter den
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Einwänden steht? Auch die evolutionären Universalien – sei es nun die Sozialstratifikation, die ich als Universalie entschieden verteidigen würde, oder die Trennung der Berufsrolle vom Familienverband, der Rechtsnormen von der Religion, der Verwaltung vom politischen Machtkampf usw. – könnten entweder ihres übermäßigen Anspruchs entkleidet werden; sie wären dann zwar keine Universalien mehr, regten aber zumindest einen heuristisch wertvollen Fragekatalog an, der an inzwischen nicht wenige Gesellschaften herangetragen werden könnte. Oder aber – und das vermute ich – eine ganze Reihe dieser Universalien würde sich als idealtypisch zugespitzte universelle Tendenzbegriffe argumentativ vertreten lassen. 8. Das Problem der Grenzbestimmung, das den Theorien des „sozialen Systems“ so sehr zu schaffen macht, tritt auch bei Alternativvorstellungen auf, etwa beim Hegel-Marxschen Totalitätsbegriff. Gewiß, die Systemtheorien sind zur exakten Definition von Grenzen besonders verpflichtet und machen es sich mit dem Ausweichen auf herkömmliche Begriffe des Staatsrechts (Staatsgrenze, Staatsvolk, Staatsgebiet) manchmal zu leicht. Aber im Grunde sind die theoretischen und pragmatischen Abgrenzungsschwierigkeiten ein allgemeines Problem. 9. Interpretiert man weiterhin wohlwollend, läßt sich vielleicht auch die Interdependenzvorstellung als historisches Definitionsproblem behandeln. Statt Interdependenz in jedem „sozialen System“ ahistorisch zu generalisieren, könnte man Interdependenz historisch aufladen und z. B. an die Durchsetzung von Industrialisierung binden, die gegen starken traditionalen Widerstand und die Autonomie mit Übermacht die Interdependenz erzwingt. Das entspräche weiten Bereichen der historischen Erfahrung nach der Zäsur der Industriellen Revolution. Es genügte auch dem Anspruch, Modernisierung als in diesem Sinne neuartige Durchsetzung von nationaler, ja globaler Interdependenz möglichst klar von ihrer „Vorgeschichte“ ohne allgemeine Interdependenz abzuheben. 10. Daß der Politik auch in systemtheoretisch inspirierten Theorien Rechnung getragen, ja ein Vorrang eingeräumt werden kann, zeigt sowohl das Beispiel des „Committee on Comparative Politics“ als auch die Wiederbelebung des Interesses an Staatspolitik, das in der von Systemtheorien mitbeeinflußten westdeutschen Diskussion über Legitimationsprobleme unübersehbar zugenommen hat. 11. Ähnlich läßt sich vermuten, daß die Indikatoren exakter bestimmt, zuverlässigeres Zahlenmaterial verarbeitet und damit eine erhöhte Zuverlässigkeit des Informationswertes von Datenhandbüchern erreicht werden könnte. Auf die Computergläubigkeit, daß in quantifizierten Resultaten schon die Erklärung mit eingebaut sei, muß dabei jedoch ebenso verzichtet werden wie meistens auch auf die Hoffnung, für die Frühzeit der Modernisierung quantitative Genauigkeit erreichen zu können. 12. Überhaupt hängt, da es hier um den Gewinn möglicher Einschränkung und Spezifizierung geht, viel von der Weite und Enge der Erkenntnisabsicht ab. Beim Studium gesamtgesellschaftlicher Transformation, das
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wahrscheinlich einen System- oder Totalitätsbegriff mit all seinen Vorzügen und Nachteilen als regulative Idee erfordert, erst recht beim Vergleich ganzer Gesellschaften treten sehr viel schwierigere Probleme auf als bei der komparativen Analyse isolierbarer Einzelphänomene (z. B. der Angestellten, sozialistischen Arbeiterparteien oder Unternehmer in Deutschland und Amerika). Im Hinblick auf solche Aufgaben, die fraglos wichtig und auch eher lösbar sind, ist gewiß nicht zu bestreiten, daß einzelne Kategorien oder Theoreme der Modernisierungstheorien ihre Nützlichkeit bewiesen haben oder noch beweisen können. Man braucht nur daran zu denken, wie weit Neil J. Smelser in seiner Untersuchung über die Baumwollindustrie von Lancashire mit der „strukturellen Differenzierung“ gekommen ist oder welche Ergebnisse die vergleichende politische Soziologie von Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan erbracht hat.67 II. Die Erörterung der ersten Frage, welche Vorzüge die Modernisierungstheorien bieten und durch welche Korrekturen, sofern sie überhaupt nötig sind, vermutlich einige ihrer Schwächen behoben werden könnten, eröffnet die Aussicht, durch immanente Reformen verbesserte, leistungsfähigere Varianten entwickeln zu können. Es gibt noch weitere Argumente gegen die vom radikalen Revisionismus angeratene allgemeine Ablehnung aller Modernisierungstheorien. Ehe auf sie und auf das Problem eingegangen wird, ob denn überhaupt auf überlegene Alternativen zurückgegriffen werden kann oder ob diese erst entwickelt werden müssen, soll an vier Beispielen die zweite Frage verfolgt werden, wie „Modernisierung“ eingeengt, umdefiniert, präzisiert werden könnte, um Trennschärfe zu gewinnen, ohne Vergleich und Verallgemeinerung abzublocken. Was „Modernisierung“ inhaltlich ist, kann aus den bestehenden Modernisierungstheorien wegen der vorn kritisierten Nachteile nur zum Teil übernommen werden. Auch gilt bei alledem immer, daß gegen Modeworte schwer anzukommen und ihr Gebrauch durch wissenschaftliche Einwände nicht zu regulieren ist. 1. Modernisierung könnte strikt als normative Theorie z. B. des industriellen, massendemokratischen, westlichen Sozialstaats definiert werden. Als modernisierend würden dann all die Entwicklungen verstanden, die zu dieser Verfassungsform beigetragen haben. Entgegengesetzte oder ambivalente Entwicklungen würden als antimodern stigmatisiert. Das bedeutete eine Kopplung an im einzelnen noch zu klärende Ziel- und Wertvorstellungen, umschlösse die Bindung an das okzidentale Modell und wäre der Gefahr ausgesetzt, jeweils gegenwärtige Zustände mit einem stolzen „Es ist erreicht“ zu beschönigen oder gar zu verabsolutieren. Inhaltlich könnte eine solche Variante aber auch auf andere „Modernisierungs“-Sollwerte umgepolt werden, so daß man sich ein Bündel konkurrierender normativer Theorien vorstellen kann. Hier wird man sich an die selbstgefällige Erstarrung einer solchen kommunistischen Modernisierungstheorie vor allem in den staatssozialistischen Ländern mühelos erinnern. Auf diese Weise zwänge der Modernisierungsbegriff zu einer klaren Definition der normativen Entwicklungsziele, so daß die expliziten Wertmaßstäbe das Pro und Contra er-
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leichterten. Aber legt man Modernisierung auf diese Weise fest, hilft das Konzept nur bei einer eng begrenzten Anzahl von Fragen weiter und schafft ständig die Versuchung, die Probleme allzusehr zu verengen, Ambivalenzen, Dissonanzen, Schattenseiten der „Dialektik der Aufklärung“ zu verdrängen, „Moderne“ zu schmal, zu einspurig zu fassen. 2. Weiter könnte man „Modernisierung“ mit Webers „Rationalisierung“ gleichsetzen, entweder nur für die Zeit bis zum Durchbruch der Industriellen Revolution oder aber generell. Direkte Verbindungen bestehen ohnehin. Parsons etwa hat Webers Begriffe weiter entfaltet, und ganz fraglos hat dieser mit „Rationalisierung“ viele der Zusammenhänge im Auge gehabt, die auch Modernisierungstheorien anziehen. Bekanntlich hat Weber seinen Rationalisierungsbegriff in vielfacher Hinsicht differenziert, um vor allem auch die wesentlichen Voraussetzungen des okzidentalen Kapitalismus – „was letzten Endes den Kapitalismus geschaffen hat“ – erfassen zu können. Zu ihnen zählte er u. a. „die rationale Dauerunternehmung, rationale Buchführung, rationale Technik, das rationale Recht ... , die rationale Gesinnung, die Rationalisierung der Lebensführung, das rationale Wirtschaftsethos“. „Nur der Okzident kennt“, heißt es bei ihm immer wieder, „rationale Arbeitsorganisation“, „rationale Kapitalrechnung“, „rationalen Staat“.68 Setzte man also „Modernisierung“ mit Webers „Rationalisierung“ bis zur Industriellen Revolution gleich, würde eine bestimmte okzidentale Entwicklungsphase und -problematik erfaßt, die man sinnvoller als Vorgeschichte der späteren Modernisierung auf breiter Front betrachten kann. Versteht man „Rationalisierung“ jedoch ohne zeitliche Einschränkung als einen säkularen Prozeß bis ins 20. Jahrhundert hinein, stellt sich heraus, daß anregende Modernisierungstheorien wie die des „Arbeitskreises für vergleichende Politik“ mehr zu beantworten versuchen als von Webers „Rationalisierung“ abgedeckt wird. Zwar ist unschwer zu erkennen, wie diese Modernisierungstheorien vielfach an Weber anknüpfen. Der Rationalisierungsbegriff, der bei ihm manchmal sehr global ausfällt, ist inzwischen jedoch weiter differenziert worden. Nicht zuletzt die Modernisierungstheorien haben neue Elemente und neue Erkenntnisse aufgenommen. Die direkte Gleichsetzung mit „Rationalisierung“ bzw. die exklusive Bindung an Weber – so unbestritten er auch der klügste und weitsichtigste Ideen- und Impulsspender bleibt! – würde keiner Modernisierungstheorie einen so durchschlagenden Vorteil verschaffen, daß wichtige Gegengründe hinfällig würden. 3. Faßte man „Modernisierung“ als Vordringen der „Rationalisierung“ bis zur Industriellen Revolution auf, begriffe man sie im Sinne einer notwendigen Voraussetzung für den Sieg des Industriekapitalismus. Ginge man zeitlich einen Schritt weiter und bezeichnete man ausschließlich die Industrialisierung als „Modernisierung“, würde Industrialisierung zur einzigen kritischen Variablen einer solchen Modernisierungstheorie.69 Welche Vorzüge hätte das über die bereits bestehenden Industrialisierungstheorien hinaus? Modernisierung gleich Industrialisierung wäre eindeutiger an einen zentra-
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len Vorgang gebunden. Damit verbänden sich die Vorzüge, die gemeinhin mit einer solchen Spezifizierung verbunden sind. Zugleich tauchten aber vertraute Probleme erneut auf. Sofern Industrialisierungstheorien bisher hauptsächlich an ökonomischen Fragen interessiert waren, konnten sie diese begrenzten Fragen vielleicht auch direkter beantworten; der Preis dieser Einschränkung trat häufig als Ökonomismus zutage. Wollten Industrialisierungstheorien dagegen die soziopolitischen Dimensionen gleichgewichtig miteinbeziehen, näherten sie sich sehr dicht den Modernisierungstheorien für das 19. und 20. Jahrhundert. Zuletzt würden sich beide nicht mehr voneinander unterscheiden. Selbst dann bestünde bei Industrialisierungstheorien wohl noch eher die Gefahr, z. B. die vorindustrielle oder die neben der Frühindustrialisierung herlaufende Problematik der Säkularisierung und Demokratisierung entweder nicht voll zu erfassen oder sie von der Industrialisierung abzuleiten, anstatt sie als früher einsetzende, eigenständige, auf weit zurückreichende okzidentale Traditionen oder auf die „Demokratische Revolution“ (und nicht auf die Industrielle Revolution) zurückweisende Prozesse anzuerkennen. Dieser Gefahr wäre „Modernisierung“ ebenfalls ausgesetzt, wenn sie auf Industrialisierung eingeengt würde. Kurzum, der Wert von spezifischen Industrialisierungstheorien sei nicht bestritten, aber es sieht doch so aus, als ob historische und theoretisch präzisierte Modernisierungstheorien einen weiteren Problemhorizont, zahlreichere Gesichtspunkte, geringere Präjudizierungsgefahren anbieten könnten, ohne die Industrialisierung als strategische Variable zu unterschätzen. Als Ausgangsposition sind sie darum zunächst einmal überlegen. Die katholische Zentrumspartei im deutschen Kaiserreich von 1871 etwa entzieht sich einer Klassenanalyse. Viele Modernisierungstheorien lenken dagegen den Blick auf die Neubestimmung des Verhältnisses von traditionaler Religion und Kirche zum säkularisierten Staat und seiner Gesellschaft, und sie bieten für die Untersuchung dieser Spannung zwischen Tradition und Säkularisierung Überlegungen an (etwa auch die Identitäts-, Legitimitäts- und Penetrationskrisen), auf die man schwerlich verzichten kann. In diesem Zusammenhang ist auch ein Dilemma zu erwähnen, in das die vorn kritisierten, zu unspezifischen, unvorsichtig verallgemeinernden Modernisierungstheorien geraten, da ihre Art von „Modernisierung“ auch ohne Industrialisierung, Industrialisierung wiederum ohne diese „Modernisierung“ vorkommen kann. „Modernisierung“ mag eine notwendige Bedingung von Industrialisierung sein, vielleicht aber keine hinreichende. Innerhalb und außerhalb des „Westens“ sind Kommerzialisierung, Bürokratisierung70 und Universalisierung der Werte auch ohne Industrialisierung aufgetreten. Aber nicht nur das. Selbst England, das leuchtende Beispiel vieler Modernisierungstheorien, zeigt – wie vorn schon der Exkurs verdeutlichen sollte – besonders irritierende Unstimmigkeiten. Denn offenbar ist das verbindende Gelenk zwischen „Modernisierung“ und Industrialisierung eher das Ergebnis besonderer historischer Konstellationen als eine unausweichli-
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che Notwendigkeit, die denn auch beim Übergang von einer zwar modernisierten, aber vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft keineswegs immer geherrscht hat. London oder Amsterdam zeigten zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht wenige Züge von Modernität, ohne industrialisiert zu sein. Den neuen großen Konglomeraten der Industriestädte oder Industriesiedlungen in den „Midlands“ dagegen fehlten im selben Jahrhundert zeitweilig nicht wenige Charakteristika von „Modernisierung“: Das Analphabetentum war weit verbreitet, es gab hohe Sterblichkeitsziffern, durch das „Trucksystem“ und den „Company Shop“ weithin geschwächte Marktmechanismen, geringen Konsumgüterverbrauch und wenig Raum für Rationalität und aufgeklärtes Eigeninteresse – kurzum: wenn man die Elle einer vagen „Modernisierung“ anlegt, manche regressiven Züge.71 4. Da der Hinweis auf Säkularisierung und Demokratisierung prototypischen Charakter besitzt, ist es eine naheliegende Konsequenz, Modernisierung weiter als Industrialisierung zu definieren, aber dennoch feste historische, räumlich-zeitliche Grenzen zu respektieren. Im Gegensatz zu jenen hochgemuten Theoretikern, die der Chimäre einer universell gültigen Modernisierungstheorie nachjagen, hat sich Reinhard Bendix, der hier stellvertretend für ähnlich argumentierende Sozialwissenschaftler wie Eisenstadt, Rokkan, Zapf u. a. stehen mag, in den vergangenen Jahren in unmittelbarem Anschluß an Max Weber immer wieder mit Nachdruck für eine solche erweiterte, aber historisch-vergleichend konkretisierte Fassung von „Modernisierung“ ausgesprochen.72 Diese wird von ihm so verstanden, daß er die „Doppelrevolution“ des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die politische Revolution Frankreichs und Amerikas zusammen mit der Industriellen Revolution Großbritanniens, als Zäsur betrachtet und die Epoche im Zeichen der vereinigten Folgewirkungen dieser Revolutionen als Epoche der „Modernisierung“ bezeichnet. Zwar müssen dem Einschnitt und der Wirkungsgeschichte universalgeschichtliche Bedeutung zugesprochen werden, aber zunächst werden – auch nach Bendix – diese Revolutionen selber • als Kulminationsprozesse jahrhundertelanger, spezifisch europäisch-ame-
rikanischer Entwicklungen verstanden; • die dem „einzigartigen“ revolutionären Durchbruch folgende „Moderni-
sierung“ wird streng als ein europäisch-amerikanisches Phänomen behandelt; sie muß in historischen Theorien adäquat eingefangen werden; • die „Modernisierung“ außereuropäisch-außeramerikanischer Gebiete seit dem 18./19. Jahrhundert kann auf diesen Maßstab bezogen werden.73 Er ermöglicht als Idealtypus oder in Zukunft einmal als historische Theorie der einzigen autonomen Modernisierung die wünschenswerte Präzisierung. Er birgt selbstredend auch die Gefahr in sich, die Entwicklungen der „Dritten Welt“ als Abweichung vom Originalprozeß negativ zu akzentuieren. Zugleich enthält aber das Problembewußtsein des okzidentalen Historismus die Chance, dem Eigencharakter nicht-westlicher Entwicklungs-
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pfade gerecht zu werden; methodisch wären dafür eindeutige Vergleichsgrößen gegeben. Es kann deshalb nur als Vorzug gelten, daß Bendix noch auf zwei weitere Aspekte besonderes Gewicht legt: 1. Gegenüber der Isolierung endogener Modernisierung weist er nachdrücklich auf den internationalen Transfer von Ideen und Technologien, von Kapital und Vorbildern, damit auf die sog. Nachfolgeproblematik hin: auf die Veränderung der Bedingungen für alle Modernisierungsbestrebungen nach einmal erfolgreicher Industrieller oder Demokratischer Revolution; hier kann auch das Imperialismusproblem berücksichtigt werden. 2. Er wendet sich gegen die „Ökonomie als Schicksal“ und betont vor allem auch die Bemühungen, die Prozesse und Auswirkungen der Industrialisierung politisch zu kontrollieren. Dadurch behält Politik bei ihm ihr relatives Eigengewicht. Ihre Maßnahmen und Konsequenzen schaffen neue Bedingungen für die sozioökonomischen Prozesse, die nicht als jederzeit übermächtiges Fatum stilisiert werden. Hier läßt sich ziemlich mühelos die Verbindung zu den Überlegungen über „Politische Entwicklung“ herstellen, ebenso, wie das Bendix auch schon selber getan hat, zu den Vorstellungen Alexander Gerschenkrons von den Nachfolgeproblemen der „relativen Rückständigkeit“. Gerschenkrons historische Theorie der europäischen Industrialisierung bietet nicht nur eine vorzügliche Ausgangsposition für den Wirtschaftshistoriker, besonders im Hinblick auf vergleichende Studien, sondern sie bewährt sich offenbar auch in der vergleichenden Sozialgeschichte74 und im Rahmen der Modernisierungsforschung. Im wesentlichen geht Gerschenkron davon aus, daß „in jedem der industrialisierenden europäischen Länder spezifische Züge des Industrialisierungsprozesses abhingen von dem Grad der relativen Rückständigkeit dieser Länder am Vorabend des ‚Großen Spurts‘ in ihrem industriellen Wachstum“.75 Als direkt abhängig von dem Grad dieser relativen Rückständigkeit der Nachfolgestaaten haben sich nach Gerschenkron erwiesen: die Geschwindigkeit des industriellen Wachstums; die Bevorzugung von Großunternehmen; die Zusammensetzung der wachsenden Gesamtproduktion, wobei vor allem Schwerindustrie und Produktionsgüterindustrie begünstigt werden; die Abhängigkeit vom Ausland bei der Einführung fortgeschrittener Technologien und Investitionskapitalien; der Druck auf das Konsumniveau; die passive Rolle der Landwirtschaft; die auffällige Rolle der Großbanken und staatlichen Förderungsmaßnahmen, z. B. für die frühzeitige Ausbildung von „Humankapital“ in Gestalt von Technikern und Naturwissenschaftlern mit Hochschulausbildung; der Einfluß von Entwicklungsideologien wie etwa des Wirtschaftsnationalismus. Allgemein verläuft Gerschenkron zufolge die Industrialisierung mit allen ihren Auswirkungen um so komplexer und spannungsreicher, je größer die relative Rückständigkeit vor dem Durchbruch der Industriellen Revolution war und je abrupter und komprimierter dieser „Große Spurt“ dann erfolgt. Wenn man dabei – wie
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Gerschenkron – von Großbritannien als dem klassischen „Pionier“ der ersten erfolgreichen Industrialisierung als Modell ausgeht, müssen die Nachfolger Ersatzlösungen finden, die an die Stelle der ursprünglichen Leistungen treten können, da diese in derselben Form oft nicht zu erbringen sind. So rücken z. B. die deutschen Universalbanken seit den 1850er Jahren an die Stelle privater englischer Vermögensbesitzer, Banken, Chartergesellschaften; das russische Finanzministerium tritt zeitweilig an die Stelle solcher Kapitaleigner usw. Diese sog. Substitutionstheorie impliziert die Fähigkeit zu schöpferischen Innovationen, zum Entdecken und Anwenden funktionaler Äquivalente. Daher gründet sie auch auf einer „optimistischeren Auffassung“ der Zukunft unentwickelter Länder als die schematisierte Stufentheorie à la Rostow mit ihrem geradezu mechanistischen Determinismus. Als generelles Interpretationsmodell hat die Gerschenkronsche Theorie inzwischen mehrfach ihre problemaufschließende Kraft bewiesen, so daß die Modernisierungsforschung an sie anschließen kann. Die historische Sättigung, die Historiker für den von Bendix und anderen vertretenen Ansatz einnimmt, könnte noch ausgedehnt werden, und mit den vorn vorgeschlagenen Einzelkorrekturen ist diese historisch-komparative Konzeption durchaus vereinbar. Für eine solche Bindung von „Modernisierung“ an die okzidentale Geschichte bis ins 18. Jahrhundert (als Ensemble der entscheidenden Vorbedingungen), dann an die europäisch-atlantische „Doppelrevolution“ und die von ihr ausgelösten Kettenreaktionen – „eine Umwandlung“, die Bendix wie Hans Freyer und Arnold Gehlen „in ihrer Bedeutung nur mit dem Seßhaftwerden der Nomadenvölker“ im Neolithikum für „vergleichbar“ hält – lassen sich triftige Argumente anführen: Die Konzentration auf die Genesis und die Kernzone, in der moderne Dynamik entstanden ist, die Einengung des Geltungsbereichs, die historische Konkretisierung, die Ermöglichung von historischen Theorien, die analytische Kontrolle von Ethnozentrismus, die „Weltgeschichte Europas“ (Freyer). „Modernisierung“ in diesem Sinn könnte zentralen historischen Prozessen und Bedingungskonstellationen der Welt des 18., 19. und 20. Jahrhunderts noch am ehesten adäquat sein, wenn die Suche nach einem übergreifenden Trendbegriff bei „Modernisierung“ enden sollte.
V. Z UR F RAGE
DER
ALTERNATIVEN
Wer sich diesem Urteil über die Chancen verbesserter Modernisierungstheorien nicht anschließen kann, weil er die radikale Alternative eines ganz anderen theoretischen Konzepts für unabweisbar hält, müßte zu den folgenden Gesichtspunkten Gegenargumente entwickeln. Man wird schwerlich umhinkönnen zuzugeben, daß Alternativen zu einer historisch und theoretisch differenzierten Modernisierungstheorie gegenwärtig weder klar zu erkennen noch leicht zu entwickeln sind. Dem An-
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spruch nach hat die traditionelle marxistische Theorie eine solche Alternative vertreten, und da sie in ihrer unorthodoxen Form die einzige Gegenposition mit einem ähnlich umfassenden, ja eher noch höher gespannten Anspruch darstellt, wird sie allein in äußerster Kürze hier diskutiert. Es wäre aber eine Illusion zu glauben, daß sie unmittelbar eine befriedigende Alternative bietet.76 Zunächst kann die Frage aufgeworfen werden, ob die Marxsche Theorie nicht eine besondere Variante der Modernisierungstheorie ist: Es gibt dort einen bevorzugten Entwicklungspfad in die Moderne. Die riskante Verallgemeinerung fehlt nicht: „das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft“, wie es im Vorwort zum „Kapital“ heißt. Schwerwiegende Vorentscheidungen binden die Formen öffentlicher Herrschaft an den Entwicklungsstand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse. Entwicklungskrisen werden vor allem als Revolutionen thematisiert. Die Prognose des gewissermaßen vollendet modernen Stadiums des herrschaftsfreien Kommunismus erweist die Bindung an ganz spezifische, seit der Zeit der antiken Polis ausgebildete okzidentale Wertvorstellungen usw. Zugegeben, die Marxsche Theorie muß nicht zwangsläufig in diesen Zusammenhang eingefügt werden. Offenbar kann man sie aber in die Tradition der europäischen Evolutions-, sprich Modernisierungstheorien einordnen. Gegen eine offene Konkurrenz „bürgerlicher“ Modernisierungstheorien und marxistischer Entwicklungstheorien ist nichts einzuwenden. Wer jedoch bestreiten möchte, daß die Marxsche Theorie legitimerweise in den Traditionszusammenhang der Modernisierungstheorien eingeordnet und damit auch relativiert werden kann, steht unter dem Argumentationszwang, die Eigentümlichkeit und Überlegenheit der Marxschen Theorie überzeugend zu begründen. Abgesehen von dieser allgemeinen Frage ist dann darauf hinzuweisen, daß Marx wie Weber von einem genetischstrukturellen Ansatz ausgegangen ist und ganz ähnliche, zum Teil sogar dieselben Bedingungsbündel hervorgehoben hat, um den Aufstieg des Industriekapitalismus zu erklären. Denn die technologischen Veränderungen, die ständigen Innovationen, die sozialen und politischen Strukturelemente des Kapitalismus sind bei ihm an eigentümliche Vorbedingungen, an ganz bestimmte soziale Institutionen, Sitten und Verhaltensweisen Europas gebunden, wozu übrigens auch universalistische, spezifizierte, leistungsorientierte Normen, hohe soziale und räumliche Mobilität, auf Leistung statt Status beruhende Klassen gerechnet werden könnten.77 Wenn man glaubt, mit dem Begriff der „ursprünglichen Akkumulation“ dieses Bündel komplexer Vorbedingungen für den Sieg des Industriekapitalismus adäquat abkürzen zu können, schafft man sich zwei Barrieren, die einem angemessenen Verständnis dieser Vorbedingungen entgegenstehen: Einmal verfehlt man entscheidende Differenzierungen, die ganz unterschiedliche Voraussetzungen sozialer und kultureller, rechtlicher und politischer Natur zu erfassen gestatten. Zum zweiten ist die „ursprüngliche Akkumulation“ empirisch radikal in Frage gestellt worden; der traditionelle
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Inhalt des Begriffs hält der Konfrontation mit den Ergebnissen der internationalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte nicht stand. Im einzelnen gehören bei Marx zu den spezifischen Bedingungen des europäischen Kapitalismus vor allem • die bürgerlichen Städte mit autonomen sozioökonomischen und politi-
schen Selbstverwaltungskörperschaften; • die Institutionalisierung von privaten Eigentumsrechten; • die individualistische Grundeinstellung gegenüber Eigentum und Produk-
tion; • die Kommerzialisierung von Land und Landwirtschaft; • die Rationalisierung der Umwelt und des menschlichen Verhaltens, das
heißt aber: „Entzauberung“ der Welt durch ein Bürgertum, das beweist, was rationales Arbeitshandeln erreichen kann. Das Hohelied auf diesen Erfolg wird im „Kommunistischen Manifest“ angestimmt; • die Universalisierung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen und Kontaktmöglichkeiten. Im Zeichen des allmählich entstehenden kapitalistischen Weltmarktes schafft das Bürgertum erstmals die Grundlagen einer wahren Weltgeschichte. Zusammengebunden werden diese Faktoren im Begriff der okzidentalen „bürgerlichen Gesellschaft“ als Vorbedingung des Kapitalismus. Wo diese Voraussetzungen nicht bestehen, wie in Portugal oder in Asien, kann nach Marx’ unzweideutig entschiedener Auffassung kein autonomer Kapitalismus entstehen, er muß dorthin exportiert werden.78 Festzuhalten bleibt daher, daß Marx und Weber im Hinblick auf die Bedingungskonstellationen für den Aufstieg des okzidentalen Kapitalismus eng verwandte, ja weithin identische Vorstellungen entwickelt haben. Beide haben diese Bedingungen ganz strikt ausschließlich im „Westen“, in Europa lokalisiert. Marx’ Urteil fällt hier ebenso apodiktisch aus wie dasjenige Webers.79 In der Analyse der Situation nach der erfolgreichen Etablierung des Industriekapitalismus besitzt Marx andere Interessen und Schwerpunkte als Weber, oder er untersucht Probleme, die Weber zum guten Teil zwar auch beschäftigen, bei ihm aber einen anderen Stellenwert erhalten. Im Hinblick auf diese Epoche werden aber einige Vorentscheidungen oder Ergebnisse von Marx – wie begründbar sie auch immer in seiner Zeit gewesen sein mögen – im eigentlichen Sinn des Wortes fragwürdig. So ist entgegen dem Basis-Überbau-Theorem nicht einzusehen, warum „der Bereich der Produktion, Ökonomie, Industrialisierung“ generell eine „größere Dignität“ beanspruchen können, ein „materielles Substrat von prinzipiellerem Charakter“ darstellen soll als andere „Entwicklungsdimensionen“. Warum sollte beispielsweise „jene besonders kunstvolle Organisationsleistung: die moderne Industriewirtschaft ,materieller‘ sein ... als etwa die Gewalt einer parochialen Tradition oder autoritärer Herrschaft“? Beginnt man einmal mit einer solchen Kritik, wird die Notwendigkeit unabweisbar, bestimmte Basistheo-
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reme von Marx zu überprüfen und im Lichte der historischen Erfahrungen zu korrigieren, etwa auf der Linie der Vorschläge von Habermas.80 Es bleiben dann eher einige Intentionen und Denkfiguren, Methoden und Erklärungsstrategien erhalten, als daß eine blanke Übernahme des Inhalts weiter möglich ist. Beispiellose Mengen neuen historischen Materials, neue historische Erfahrungen und andere Theorien gestatten oder erfordern es sogar, zentrale Probleme von Grund auf anders zu behandeln. Ein Beispiel: Marx hat die Bürokratie fraglos zu eng an eine zu kurzlebige, überwindbare Durchgangsphase einer gesellschaftlichen Formation gebunden. Weber dagegen hat die Bürokratie ungleich weiter als „systemneutralen“ allgemeinen Organisationstrend kapitalistischer und sozialistischer Gesellschaften erfaßt. Da es nur schwer zu umgehen ist – radikale Alternativen hin, reformierte Methoden her –, die Bürokratisierung als ein Grundphänomen moderner Gesellschaften zu analysieren, genügt der Rückgriff allein auf Marx keineswegs.81 Oder aber: Marx’ Vorstellung vom „Wesen“ des Kapitalismus ist oft tabuisiert worden und hat dadurch die erneute historische Realanalyse abgeblockt. Von den erkenntnistheoretischen Aspekten dieses Problems ganz abgesehen – dieses „Wesen“ kann nicht als ein mystifiziertes Grundprinzip (verkörpert etwa im Wertgesetz)82 unbezweifelt und kritiklos mitgeschleppt werden, sondern muß immer wieder als ein Komplex von auf Dauer gestellten institutionellen Regelungen untersucht werden, die – sei es durch Institutionalisierung von Märkten, durch institutionalisierte Internalisierung adäquater Werte und Interessen oder durch institutionalisierte Stabilisierungshilfe staatlicher Instanzen – den Fortbestand und die Funktionsfähigkeit des Industriekapitalismus gewährleisten. Dabei wird es unablässig um Konflikte von Institutionen, Rivalität von Legitimationsprinzipien, Kampf um Herrschaft gehen, und daher wäre ein Verzicht auf Weber mit unerträglichen Kosten verbunden. Ein dritter Einwand: Begriff und Inhalt der „Produktivkräfte“ sind trotz einer riesigen Literatur bisher „weitgehend unexpliziert geblieben“. Oft wird darunter „Arbeit, Technik, Produktionsorganisation“ verstanden. Marx selber versuchte mit diesem Begriff, auch die Verbindung und den Zusammenhang eines gesellschaftlichen Entwicklungsniveaus mit einer wirtschaftlichen Entwicklungsstufe zu erfassen; eine revolutionäre Klasse kann bei ihm ebenso Produktivkraft sein wie es diejenigen hochqualifizierten Arbeitskräfte sein können, die man heute im Begriff des „Humankapitals“ zusammenfaßt. Wenn aber unter Produktivkräften auch „die soziale Organisation, die politische Mobilisierung, die wissenschaftliche Qualifizierung“ verstanden werden können, sollte dieser Globalbegriff zum einen möglichst schnell ebenso in Einzelbegriffen präzisiert werden wie der Sammelbegriff „Mobilität“ in horizontale und vertikale, intragenerationelle und intergenerationale, Aufstiegs- und Abstiegsmobilität differenziert worden ist. Und zum anderen heißt dann, genau besehen, „Entfaltung der Produktivkräfte nichts anderes als Modernisierung“.83
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Ein vierter Bereich, wo die marxistische Theorie und Gesellschaftswissenschaft ein erkennbares Defizit aufweist, ist derjenige der historischen Psychologie. Auch die Modeströmung, Marx und Freud oft unbesehen miteinander zu verbinden, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die traditionelle marxistische und die neomarxistische Theorie außerordentliche Schwierigkeiten gehabt haben, individualpsychischen Veränderungen und sozialpsychischen Faktoren gerecht zu werden, da die Versuchung, psychische Entwicklungen von den vermeintlich übermächtigen sozioökonomischen Konstellationen direkt abzuleiten, offenbar groß war. Ob sich der psychische Habitus der sog. „Modalpersönlichkeit“ im Zuge der Modernisierung von Grund auf gewandelt hat, ob dieser Vorgang eine notwendige Voraussetzung, nur eine Begleiterscheinung oder aber gar ein notwendiges Element zur Stabilisierung von „Modernität“ bedeutet, ist bisher eingehend und differenziert eher im Rahmen der Modernisierungstheorien behandelt worden. Einer gelegentlich erkennbaren Tendenz zum „Psychologismus“ gegenüber gilt es jedoch an der fundamentalen Ausgangsposition eines aufgeklärten Historischen Materialismus, daß das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nur in ihrer dialektischen Verschränkung adäquat erfaßt werden kann, weiterhin festzuhalten.84 Nicht nur die Revisionsbedürftigkeit und die Notwendigkeit einer Verbindung mit anderen Theorien, auch der bewußt historische Charakter der Marxschen Kapitalismustheorie selber erinnert überdies an raum-zeitliche Grenzen dieser „Alternative“. Man sollte Marx’ Warnung vor dem Mißverständnis seiner Theorie als „Universalschlüssel“ nicht ignorieren, und man sollte Engels’ Interpretation, sie sei nicht „eine Doktrin“, sondern eine „Methode“, keine „fertige Schablone“, sondern „ein Leitfaden beim historischen Studium“, ernst nehmen.85 Ebenso ernstgenommen werden müssen andrerseits die Bedenken, daß die Modernisierungsforschung geraume Zeit der Gefahr nicht entgangen ist, das Imperialismusproblem zu übersehen, Herrschaft und Konflikt, Unterprivilegierung und Klassenschranken in all ihrer Härte zu verharmlosen oder auszublenden. Die Kritik an solchen Leerstellen ist vorn bereits knapp umrissen worden. Es wäre in der Tat fatal, wenn auch eine differenzierte historische Modernisierungstheorie die Beantwortung von derartig zentralen Fragen von vornherein abblockte oder diesen Problemen ihren hohen Stellenwert nicht einräumen wollte. Zu einer prinzipiellen Skepsis besteht aber kein plausibler Anlaß. Der ideologische Ballast der anfänglichen Modernisierungstheorien, ob er nun auf politische Konstellationen oder auf evolutionsphilosophischen Optimismus zurückzuführen ist, braucht eine „reformierte“ Modernisierungsforschung nicht zu belasten. Er ist außerdem im Verlauf des Lernprozesses der Modernisierungstheoretiker weithin schon abgeworfen worden. Es gibt keinen durchschlagenden Einwand dagegen, daß eine Modernisierungstheorie, die sich an eine breite europäische Tradition der Sozialwissenschaften, wo seit jeher Herrschaft, Konflikt und Krise zentrale Themen dargestellt haben, bewußt und noch stärker als bisher an-
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schließt, auch imstande ist, dieser Problematik gerecht zu werden. Der deutlich erkennbare Trend zur Historisierung der Modernisierungstheorien wird diesen früher vernachlässigten Bereichen auch zugute kommen. Dem naheliegenden Einwand, daß es auch verfeinerten Modernisierungstheorien (die gegenwärtig vorliegenden versagen hier ohnehin meistens) schwerfalle, die Motorik der historischen Entwicklung zu erklären, während eben das getan zu haben, eine der Leistungen von Marx bilde, läßt sich entgegenhalten: Wer die Geschichtsphilosophie von Marx teilt, mag Gewißheit darüber besitzen, was die eigentlichen Triebkräfte der Geschichte seien. Nur muß man dazu eben diese Philosophie teilen. Wer das nicht tut, hat diese Gewißheit nicht, kann aber dennoch an der allgemeinen Marxschen Intention festhalten, die Wirkungszusammenhänge von ökonomischer Entwicklung, sozialem Wandel, politischer Herrschaft, Ideen und Ideologien zu erfassen und aus ihrer Wechselwirkung die Dynamik des Entwicklungsprozesses abzuleiten. Das ist es, was vorn mit dem Wert einiger Erklärungsstrategien und Denkfiguren gemeint war. Wechselwirkungen wie die von Marx anvisierten können aber auch innerhalb der historisch-komparativen Modernisierungstheorie erfaßt werden. Auch wenn man ihr ein mehr deskriptiv verknüpfendes Verfahren polemisch vorwerfen würde, ist in ihrem Rahmen kausal-funktionales Erklären durchaus möglich. Ebenso mag es im Arbeitskreis um Almond aus politischen Motiven zuerst eher um ein den Eliten dienliches Instrumentarium zur Krisenmilderung gegangen sein als um die Erklärung von Krisenursachen (was aber als allgemeine Behauptung wohl unfair und unzutreffend wäre). Trotzdem kann mit diesem Kategoriensystem durchaus kausal-funktional erklärt werden. In beiden Fällen muß „Gesellschaft“ keineswegs als ein Sollwerten zustrebendes Gleichgewichtskonstrukt behandelt, sondern kann als „System objektiver Bedürfnisse“, als Verbindung von Antagonismen und Allianzen, von Kampf und Kooperation, als ein von Konflikten vorangetriebener Prozeß thematisiert werden, der innerhalb von Institutionen abläuft, sie umgeht oder sprengt.86 Die Probleme der Verknüpfung und Gewichtung der Einzelfaktoren bleiben für den historisch arbeitenden Sozialwissenschaftler überall gleich groß und als die eigentliche Herausforderung bestehen. Die Pragmatik komparativer Studien gebietet die Isolierung von Einzelphänomenen, und die Logik des Vergleichs arbeitet, um Individualisierung oder Generalisierung zu ermöglichen, zunächst auf eine ähnliche Spezifizierung hin. Wie diese in der empirischen Forschung kaum zu ignorierenden Tendenzen dennoch mit der Erfassung von historischer Totalität, mit den Wechselwirkungen zwischen Komplexphänomenen, mit den Ansprüchen des Vergleichs vereinbart werden können, entzieht sich handlichen Kurzformeln. Aber eine umfassende, Theorie und Empirie verschmelzende, weite historische Problemanalyse kann an die historisch-komparative Richtung der gegenwärtigen Modernisierungsforschung, damit auch an die Überlegungen des „Committee on Comparative Politics“, anknüpfen. Keine Alternative vermag
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zur Zeit so zweifelsfrei zu überzeugen, daß man auf die Chancen dieser Modernisierungsforschung von vornherein freiwillig verzichten könnte.
VI. C HANCEN
UND
AUFGABEN
Zum Schluß kann ein vorläufiges Fazit versucht werden, wobei die eine oder andere Wiederholung in Kauf zu nehmen ist. Daß die Entwicklung der Modernisierungstheorien in ihrer ersten Phase unter ideologisch-politischem Ballast, unter begrifflicher Unschärfe, irreführenden Denkfiguren, zu hoch gesteckten theoretischen Erwartungen gelitten hat – wer würde das heute noch ernsthaft bestreiten? Gerade hervorragende Vertreter der Modernisierungstheorien wären die letzten, das zu tun. In einem bemerkenswerten Lernvorgang haben jedoch die an der Modernisierungsforschung beteiligten Sozialwissenschaftler aus bitteren Erfahrungen zunehmend ihre Konsequenzen gezogen. Das „Scheitern ehrgeiziger Entwicklungspläne und das Versagen westlicher wie sowjetischer Modelle in der Dritten Welt“, der „Niedergang allgemeiner Theorien, die Wiederentdeckung der historischen Vielfalt“ und der „Kraft der Tradition“ führten zu bescheideneren Ansprüchen, aber größerer Wirklichkeitsnähe. Vor allem haben die „ganz unterschiedlichen Symbiosen ,traditionaler‘ und ,moderner‘ Elemente während des gesamten Modernisierungsprozesses“, die „Vielfalt traditionaler Ausgangslagen“, die „Diversifikation von möglichen Bezugsgesellschaften für die heutigen ,Nachzügler‘“, die „unterschiedliche historische Zeit, die der Modernisierung zur Verfügung steht“, die zahlreichen „Retardierungen und ,Zusammenbrüche‘ der Modernisierung“ zu einer bewußten Historisierung der gegenwärtigen Modernisierungsforschung geführt.87 Wenn Almond eine „Rückkehr zur geschichtlichen Natur“ der Evolutionsprozesse und für die Modernisierungstheorie „die Medizin der Geschichte“ fordert, wenn Eisenstadt dem zustimmt und Rokkan inzwischen bis zu den frühmittelalterlichen Grundlagen europäischer Politik zurückgreift, wenn Lipset, Lepsius, Zapf, Flora und andere diese Wendung zu einer historischen Makrosoziologie oder Modernisierungsforschung nachhaltig unterstützen und sie mittragen, wird dieser Trend deutlich.88 Mit ihm hängt eine unübersehbare Rückkehr zur Analyse der Modernisierungsprozesse in denjenigen Regionen zusammen, in denen sie entstanden sind und von denen sie ihren Ausgang genommen haben: Europa und Nordamerika sind erneut zu Forschungsbereichen geworden; die „Dritte Welt“ ist nicht mehr wie in den Anfangsjahren der Modernisierungstheorien der unbedingt vorrangige oder gar einzige Schwerpunkt. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung lassen sich noch einmal knapp einige Charakteristika und Vorzüge der gegenwärtigen historisch-komparativen Modernisierungsforschung für die Historische Sozialwissenschaft, die in erster Linie an der europäischen und amerikanischen Geschichte interessiert ist,89 knapp zusammenfassen:
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1. Die historische Modernisierungstheorie trägt dazu bei: • die Voraussetzungen für den epochalen Einschnitt im ausgehenden 18.
Jahrhundert weiter zu klären;90 • die Zäsur, den Durchbruch der „Moderne“ genauer zu bestimmen; • die Folgewirkungen im Okzident und dann für die gesamte Welt, die Epoche der Modernisierung präziser als bisher zu analysieren. In diesem Sinn beansprucht sie tendenziell, die moderne Epoche allmählich auf eine adäquate historische Theorie zu bringen. Sie begreift mithin, um es zu wiederholen, Modernisierung als einen auf ganz spezifischen Ausgangskonstellationen beruhenden „bestimmten Typ des sozialen Wandels, der im 18. Jahrhundert eingesetzt hat ..., der seinen Ursprung hat in der englischen Industriellen Revolution ... und in der politischen Französischen (und Amerikanischen) Revolution; er besteht im wirtschaftlichen und politischen Vorangang einiger Pioniergesellschaften und den darauf folgenden Wandlungsprozessen der Nachzügler; diese stehen vor dem Problem, ihre historisch überkommene Struktur und ihre typischen Spannungen (einschließlich des Impulses zur Modernisierung) mit den Einwirkungen der von außen kommenden Ideen und Techniken in einen Zusammenhang zu bringen“.91 2. Für die Analyse dieses okzidentalen Modernisierungsprozesses bietet die historische Modernisierungstheorie mit der Summe aller ihrer Überlegungen und Begriffe, Theoreme und Ergebnisse das zur Zeit wahrscheinlich differenzierteste Instrumentarium an: Ob es um die Rolle des industriewirtschaftlichen Wachstums oder der Bürokratie92 geht, um die Entstehung und Funktion sozialer Protestbewegungen oder die fundamentale Bedeutung des Stratifikationssystems,93 um den Wandel der „Modalpersönlichkeit“ oder die Bildungsinstitutionen94 – jedesmal kann die Modernisierungstheorie die Fragen, Kategorien und Ergebnisse der verschiedenen Sozialwissenschaften aufgreifen, sie prüfen, sie sich eventuell gemäß ihrem spezifischen Erkenntnisziel: die Dynamik eines eigentümlichen Evolutionsprozesses zu erfassen, zunutze machen und ihrem Kategoriengefüge und Erfahrungswissen inkorporieren. Und wie die einzelnen Sozial- oder Humanwissenschaften ihre Probleme und Resultate in die Modernisierungsforschung hineinspeisen, ist diese auch an die allgemeine Theoriediskussion unmittelbar angekoppelt. Auch das ist ein Vorzug, wenn man damit die Tatsache vergleicht, wie sich der Marxismus schwergetan hat, der allgemeinen Theorieentwicklung zu folgen, sich ihren Problemen zu stellen und die überzeugenden Ansätze zu rezipieren.95 3. Zu dieser differenzierten historischen Modernisierungsforschung gibt es derzeit, soweit ich zu sehen vermag, keine überlegene Gegenposition. Auf einige Probleme der marxistischen Alternative ist vorn knapp eingegangen worden; es erübrigt sich, noch einmal zu betonen, daß auf den Marxschen Grundgedanken, Prozesse und Strukturen aus ihren geschichtlichen Voraussetzungen zu erklären, auf keinen Fall verzichtet werden darf. Aber auch speziellere Theorien wie die der Industrialisierung oder „Rationalisierung“ besitzen jeweils Nachteile, die im Vergleich mit der konkurrie-
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renden historischen Modernisierungstheorie schwerlich geleugnet werden können. Ähnlich erfassen hinlänglich bekannte Interpretationsansätze der verschiedenen historischen Disziplinen (Aufstieg des Nationalstaats, des Liberalismus, des Verfassungsstaats) jeweils nur Teilaspekte des okzidentalen Modernisierungsprozesses. Auch diese spezifischen Entwicklungslehren sind dem Modernisierungskonzept keineswegs um eine Länge voraus, sondern beschäftigen sich vielmehr mit Prozessen, die innerhalb der Modernisierung einen bestimmten Stellenwert besitzen. 4. Die historische Modernisierungstheorie gestattet es, ja erfordert es, die normativen Elemente des Modernisierungskonzeptes klar anzugeben. Zu denken ist dabei an die liberalen und demokratischen Werte nicht nur im politischen Verfassungsleben, sondern auch im gesellschaftlichen und privaten Bereich. Gegenüber dem naheliegenden Konservativismusverdacht, daß auch das historische Verständnis von okzidentaler Modernisierung allzuleicht zu einer Verklärung des jeweiligen Status quo geraten könne, wird man geltend machen, daß der explizite liberaldemokratische Wertmaßstab zweierlei gestattet: jeweils auf ein Defizit an solchen Werten, an fehlender Berücksichtigung oder Realisierung in den okzidentalen Staaten hinzuweisen sowie diesen Abstand vom Werte-Idealtypus in nicht-westlichen, von der Modernisierung erfaßten Gesellschaften ebenfalls festzustellen. Dieses Vorgehen ist dann gerechtfertigt, wenn man den Vorrang dieser liberal-demokratischen Werte vor anderen konkurrierenden Werten und Normen argumentativ begründen kann. Diese Position halte ich für außerordentlich verteidigungswürdig, wobei selbstredend das Moment der Entscheidung, allerdings eines möglichst weit begründeten Dezisionismus gar nicht geleugnet werden kann. Methodologisch kann die ohnehin unumgängliche explizite Darlegung der normativen Prämissen die Diskussion nur klären und daher den Austausch rationaler Argumente erleichtern.96 5. Was die konkrete historisch-sozialwissenschaftliche Arbeit angeht, scheint die historische Modernisierungstheorie mindestens drei Vorzüge zu besitzen. Wenn eines ihrer wesentlichen Vorhaben, „vielleicht die zentrale Aufgabe“, darin gesehen werden kann, sowohl „die offensichtlichen Gemeinsamkeiten des Modernisierungsprozesses“ als auch „die ebenso auffälligen Divergenzen in einen theoretischen Einklang zu bringen“, bedeutet die Entwicklung ihrer „Problemtheorie und Lösungstypologien“ einen Schritt nach vorn. „Dieser Unterscheidung liegt die Annahme zugrunde, daß Gesellschaften im Laufe ihrer Modernisierung vor ähnlichen ,Problemen‘ stehen, aber sehr verschiedene ,Lösungen‘ für sie finden.“97 (Diese Frage ist vorn erörtert worden.) Auf der Linie dieses Vorschlags zur „Heuristik der Modernisierungsmodelle“ (Flora) lassen sich heute zahlreiche solcher Probleme und Lösungsversuche typologisch bündeln. Diese Bemühungen können und müssen fortgesetzt, auch noch differenzierter betrieben werden. Der Historiker kann sich daher an diesen Problemkatalogen und an diesen Lösungstypologien orientieren. Es handelt sich dabei – das ist kein geringer Vorteil- um ein ziemlich schnell erlernbares Wissen zur Anleitung konkreter Untersuchungen.
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Die damit jeweils verknüpften theoretischen Ansätze oder Theorien der Probleme oder Lösungen erfüllen auch eine wichtige Anforderung an ihre Funktions- und Leistungsfähigkeit: Sie stellen z. B. Kriterien zur Verfügung für die Selektion von wichtigen Untersuchungsfeldern und Forschungslücken, die Bildung überprüfbarer Hypothesen für die funktionale und kausale Erklärung strittiger Phänomene, den Vergleich, besonders auch von ungleichzeitigen Entwicklungen, Unterschieden, funktionalen Äquivalenten („relative Rückständigkeit“ der Nachfolgegesellschaften), die Periodisierung und die Relevanz für unsere Gegenwart.98 Diese Behauptung kann an den in die historische Modernisierungsforschung einbezogenen Theorien der Stratifikation, des Wirtschaftswachstums, der Bildungsökonomie, der Sozialpsychologie usw. überprüft werden. Nach dem Eindruck, den man bisher gewinnen konnte, fällt das Urteil hinreichend positiv aus. In strittigen Fällen ist immerhin ein beachtliches und nutzbares Potential zur Beantwortung derartiger Fragen vorhanden. Der dritte Vorzug der historischen Modernisierungstheorie kann in dem Angebot gesehen werden, das sie für eine synthetische Darstellung und Interpretation langlebiger Entwicklungsprozesse macht. Gegenüber der derzeitigen Bevorzugung von Entwicklungskrisen werden gerade Historiker trotz aller damit verknüpften Schwierigkeiten auf dem Wert von Längsschnittund Prozeßanalysen, in denen die Knotenpunkte („Krisen“) der Entwicklung einen bestimmten Stellenwert besitzen, bestehen müssen. Nicht zuletzt dürfte die Einengung auf „Krisen“ eine der Reaktionen auf die früheren übermäßigen Ansprüche, insofern vermutlich ein notwendiger Rückzug auf überschaubare Phänomene, aber ebenso nur eine Durchgangsphase sein. Hier bietet sich dem Historiker eine Chance, aufgrund seiner Erfahrungen mit dem Prozeßcharakter von Geschichte zu einer offenen Diskussion einiges beizusteuern. In diesem Zusammenhang braucht die Problematik der rivalisierenden Ansätze für solche Synthesen nicht noch einmal aufgegriffen zu werden. Weder reicht der traditionelle Marxismus als Interpretationsschema für die letzten dreihundert Jahre der nordamerikanischen Geschichte aus, noch die Lehre vom Nationalstaat für die nachrevolutionären europäischen Länder. Dagegen könnte die historische Modernisierungsforschung ein relativ einheitliches, dennoch auch für den Vergleich okzidentaler Gesellschaften geeignetes Raster für Synthesen anbieten. Sie könnte die historischen Ausgangskonstellationen (Sozialstruktur, Wirtschaftslage, politisches Regime, kulturelle Traditionen) in voller Breite erfassen, Entwicklungsimpulse und Entwicklungsrichtungen (soziale Konflikte, eventuelle Klassenkämpfe, ökonomisches Wachstum, Ideologien) angeben, das Augenmerk auf bestimmte Entwicklungsprobleme und „Krisen“ lenken und dank der Lösungstypologie auf die bisher bekannten variierenden Reaktionen hinweisen. Die historische Modernisierungstheorie würde es z. B. vermutlich gestatten, eine synthetische Darstellung der deutschen Geschichte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, mit andern Worten: des deutschen Moderni-
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sierungsprozesses, um einige Brennpunkte herum zu organisieren, die mutatis mutandis auch eine synthetische Darstellung der Geschichte der Vereinigten Staaten in den beiden letzten Jahrhunderten, des amerikanischen Modernisierungsprozesses also, strukturieren könnten.99 Dabei würden selbstverständlich die tiefen historischen Unterschiede ihr Gewicht nicht verlieren dürfen, aber andererseits wäre in einem relativ gleichbleibenden theoretischen Rahmen eine gewisse Einheitlichkeit der Darstellung dieser Modernisierungsprozesse möglich. Zugegeben, hier handelt es sich um offene Fragen, um noch zu lösende Aufgaben. Aber wer die „New Cambridge Modern History“ oder das „Handbuch der Europäischen Geschichte“ kennt,100 wird angesichts der dort vorherrschenden nationalhistorischen Parzellierung, des Verzichts auf solche gemeinsamen Strukturprinzipien, der Dominanz des Individualitätsaxioms trotz aller unleugbaren Gemeinsamkeiten der okzidentalen Modernisierung die potentiellen Chancen, welche die historische Modernisierungsforschung für historische Synthesen bietet, nicht gering schätzen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hängt alles von überzeugenden empirisch fundierten historischen Analysen und Darstellungen ab. Da alternative Angebote an Spannweite und Differenzierung unterlegen wirken, sollte die Historische Sozialwissenschaft das Potential der historisch-komparativen Modernisierungsforschung in konkreten Untersuchungen oder Übersichtsdarstellungen prüfen und nutzen.
ANMERKUNGEN 1
In zahlreichen Diskussionen ist mir seit den frühen 1970er Jahren die „Herausforderung“ durch die Modernisierungstheorien zunehmend deutlicher geworden. Die Aufforderung, auf dem Braunschweiger Historikertag 1974 in einer Arbeitsgruppe mitzuwirken, die das Verhältnis von Modernisierungstheorien und Geschichtswissenschaft erörtern sollte, gab dann den willkommenen Anlaß, eine Reihe von Fragen näher zu verfolgen. – Die Zitate stammen aus der klaren Zusammenfassung des Berliner Soziologen Wolfgang Zapf (Die soziologische Theorie der Modernisierung, in: Soziale Welt (=SW) 26. 1975, 212-26), der einer der profiliertesten Vertreter der westdeutschen Modernisierungsforschung ist. – Einen knappen Überblick zur Einführung bieten: R. Münch, Die Struktur der Moderne, Frankfurt 19922; D. Harrison, The Sociology of Modernization, London 1988; schwach sind: H. van der Loo u. W. van Rejen, Modernisierung, München 1992; P. Wehling, Die Moderne als Sozialmythos. Zur Kritik der sozialwissenschaftl. Modernisierungstheorie, Frankfurt 1992. Vgl. aber W. Zapf, Modernisierung u. Modernisierungstheorien, in: ders. Hg., Modernisierung moderner Gesellschaften, Frankfurt 1991, 23-39; ders., Der Untergang der DDR u. die soziolog. Theorie der Modernisierung, in: B. Giesen u. C. Leggewie Hg., Experiment Vereinigung, Frankfurt 1993, 38-51; ders., The Role of Innovation in Modernization Theory, in: Revue Intemationale de Sociologie 1991/3, 83-94; S. N. Eisen-
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stadt, A Reappraisal of Theories of Social Change and Modernization, in: H. Haferkamp u. N. J. Smelser Hg., Social Change and Modernity, Berkeley 1992, 112-30; J. OʼConnell, The Concept of Modernization, in: C. E. Black Hg., Comparative Modernization, N. Y. 1976, 13-24; B. N. Varma, Modernization Theories, in: ders. Hg., The New Social Sciences, Westport/Conn. 1976, 139-67; D. Lerner u. J. S. Coleman, Modernization (Social and Political Aspects), in: International Encyclopaedia of the Social Sciences (= IESS) 10. 1968, 386-402; vgl. dort auch: W. E. Moore, Social Change, 14. 1968, 365-75; L. A. Fallers, Societal Analysis, ebd., 562-72; J. R. T. Hughes u. W. E. Moore, Industrialization, ebd., 7. 1968, 252-70; D. Lerner, Comparative Analysis of the Process of Modernization, in: S. Rokkan Hg., Comparative Research Across Cultures and Nations, Paris 1968, 82-92; R. Bendix, What is Modernization? in: W. A. Beling u. G. O. Tottem Hg., Developing Nations: Quest for a Model, N. Y. 1970, 3-20; F. Nuscheler, Bankrott der Modernisierungstheorien? in: D. Nohlen u. ders. Hg., Handbuch der Dritten Welt I, Hamburg 1974, 195-207, 368f.; von westdeutschen Soziologen: W. Zapf, Modernisierungstheorien, in: Fs. B. Hanssler, Pullach 1974, 302-17; P. Flora, Indikatoren der Modernisierung, Opladen 1975; ders., Modernisierungsforschung, ebd. 1974. – „Politische Modernisierung“ wird auch oft im Konzept des „State-Building“ oder „Nation-Building“ zusammengefaßt. Vgl. C. Tilly, Reflections on the History of European State-Making, in: ders. Hg., The Formation of National States in Western Europe, Princeton 1975, 3-83; ders., Western State-Making and Theories of Political Transformation, in: ebd., 601-38; S. Rokkan, Dimensions of State Formation and Nationbuilding: A Possible Paradigm for Research on Variations within Europe, in: ebd., 562-600; ders., Nation Building, in: Current Sociology 19. 1971, 7-38; K. W. Deutsch u. W. J. Foltz Hg., Nation-Building, N. Y. 19662; V. R. Lorwin, The Comparative Analysis of Nation Building in Western Societies, u. R. Rose, Modern Nations and the Study of Political Modernization, beide in: S. Rokkan Hg., 102-17 u. 118-28; S. N. Eisenstadt u. S. Rokkan Hg., Building States and Nations I, Beverly Hills 1973. – „Modernisierung“ als Begriff der Entwicklungspolitik – als bewußte und geplante Entwicklung zur Steigerung der Leistungsfähigkeit bestimmter Staaten – soll hier außer Betracht bleiben. – Festzuhalten ist: Auch nach einer fast vierzigjährigen Debatte gibt es noch keinen auf der Grundlage der Soziologie Max Webers basierenden Entwurf einer Modernisierungstheorie, die sich – durch und durch historisch-komparativ gesättigt – auf der Höhe des derzeit möglichen Reflexionsniveaus bewegt. Danken möchte ich für scharfe Kritik und ausführliche Diskussion: 1. den Teilnehmern unseres Bielefelder „Colloquiums zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“, das einem guten „Workshop“ nach meinen Erfahrungen bisher am nächsten kommt, v. a. J. Kocka, S. Pollard, H. Dreitzel, H. Ginsburg, G. Höhler, G. Meyer-Thurow, J. Mooser, H. Müller-Link, H. Schaeppi, H. u. J. Schissler und R.-D. Schmidt; 2. Kollegen im Bielefelder „Faculty Seminar“, v. a. E.-W. Böckenförde, J. Hellwege, R. Koselleck und W. Mager; 3. einer Tübinger Gesprächsrunde, v. a. D. Geyer, G. Lehmbruch, A. Lüdtke und E. Müller; 4. all denen, die in den Sitzungen der Arbeitsgruppe „Modernisierung“ auf dem Braunschweiger Histo-
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rikertag 1974 mitgestritten haben, v. a. W. Zapf, K. Hausen, W. J. Mommsen und T. Nipperdey. Last but not least danke ich H. Berding, H. Rosenberg und W. Hellmann für ihre kritischen Ratschläge, die dem Text wieder zugute gekommen sind. Da die allgemeine Debatte über Modernisierung anhält und die neue Literatur nur schwer zu überschauen ist, sei erwähnt, daß dieser Beitrag im Mai 1974 geschrieben und im Juli 1994 noch einmal überarbeitet worden ist. Zapf, SW 26; ders., Modernisierungstheorien; bei Flora (79-83) eine knappe Besprechung der ökonomischen Theorien, auch ihres Modellcharakters für die anfängliche Modernisierungsforschung. Einen Überblick über Theorien des wirtschaftlichen Wachstums gewinnt man aus: K. Elsner, Wachstums- u. Konjunkturtheorien, in: Kompendium der Volkswirtschaftslehre, W. Ehrlicher u. a. Hg. I, Göttingen 19734, 237-87; P. A. Samuelson, Economics, N. Y. 19739, 765-86; R. A. Easterlin u. a., Economic Growth, in: IESS 4. 1968, 395-429; G. Bombach, Wirtschaftswachstum, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften 12. 1965, 763-801; H. König Hg., Wachstum u. Entwicklung der Wirtschaft, Köln 1968 (Lit.: 401-24); A. E. Ott Hg., Wachstumszyklen, Berlin 1973; J. D. Gould, Economic Growth in History, London 1972; S. Kuznets, Economic Growth of Nations, Cambridge/Mass. 1971; ders., Modern Economic Growth. Rate, Structure, and Spread, New Haven 1966. Vgl. hierzu: H.-U. Wehler Hg., Geschichte u. Ökonomie, Köln 1973/Königstein 19852; ders., Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt (1973) 19803, 45-84; ders., Theorieprobleme der modernen deutschen Wirtschaftsgeschichte (1800-1945). Prolegomena zu einer kritischen Bestandsaufnahme der Forschung u. Diskussion seit 1945, in: I. Fs. H. Rosenberg, G. A. Ritter Hg., Berlin 1970, 66-107, z. T. auch in: ders., Historische Sozialwissenschaft u. Geschichtsschreibung, Göttingen 1980, 106-25. Versuche der praktischen Anwendung: ders., Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus 1865-1900, Göttingen 1974/19872; ders., Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973/19947; ders., Bismarck u. der Imperialismus, Köln 1969/Frankfurt 19845; ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bde I-III, München 19892/1995. Eine Folge dieser Vorentscheidung mag eine gewisse Verzerrung der Erörterung sein. Ein Korrektiv läßt sich aber verhältnismäßig leicht aus der in Anm. 2 u. 3 angegebenen Lit. und den dort wieder reichlich verzeichneten Veröffentlichungen gewinnen. Vgl. z. B. außer der Lit. vorn in Anm. 1 mit den dort angeführten Veröffentlichungen aus einer großen Lit. nur: D. E. Apter, The Politics of Modernization, Chicago 1965; M. Weiner Hg., Modernization, N. Y. 1966; S. N. Eisenstadt, Modernization: Protest and Change, N. Y. 1966; ders., Modernization: Growth and Diversity, Bloomington 1963; M. J. Levy, Modernization and the Structure of Society, 2 Bde, Princeton 1966; ders., Modernization: Latecomers and Survivors, N. Y. 1972; S. P. Huntington, Political Modernization: America vs Europe, in: World Politics (= WP) 18. 1966, 378-414; ders., Political Order in Changing Societies, New Haven 1968; D. Lerner, The Passing of Traditional Society (1958), N. Y. 19662; D. A. Rustow, A World of Nations: Problems of Political
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Modernization, Washington 1967; mit subtilen Beobachtungen: C. Geertz Hg., Old Societies and New States: The Quest for Modernity in Asia and Africa, N. Y. 1963; ders., The Interpretation of Cultures, N. Y. 1976. Im Sinne von T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1967 (engl. Chicago 19702). Im ersten Teil folge ich mehrfach der ebenso anregenden wie genauen Analyse von M. R. Lepsius (Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der „Moderne“ u. die „Modernisierung“, in: R. Koselleck Hg., Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart (1977) 19822, 10-29, jetzt auch in: Lepsius, Interessen, Ideen u. Institutionen, Opladen 1990, 211-31), aber auch den allgemeinen Erörterungen von S. P. Huntington, The Change to Change: Modernization, Development and Politics, in: CP 3. 1971, 283-322; W. Zapf Hg., Theorien des sozialen Wandels, Köln (1969) 19702; vgl. dazu H. Schissler, Theorien des sozialen Wandels, in: Neue Politische Literatur 19. 1974, 155-89; Zapf, Modernisierungstheorien; H. P. Dreitzel Hg., Sozialer Wandel, Neuwied (1967) 19722; C. E. Black Hg., Comparative Modernization; ders., The Dynamics of Modernization, N. Y. 1966; ders. u.a., The Modernization of Japan and Russia, N. Y. 1975, und die in Anm. 8 zit. Lit. – Übersichten über die Modernisierungsliteratur findet man in: S. Rokkan u. a., Building States and Nations: A Selective Bibliography of the Research Literature by Theme and by Country, in: Eisenstadt u. Rokkan Hg., 277397; J. Brode Hg., The Process of Modernization. An Annotated Bibliography, Cambridge/Mass. 1969; Black, Dynamics, 18-9; Zapf Hg., 513-26; Flora, 19197; W. L. Bühl, Evolution u. Revolution. Kritik der symmetrischen Soziologie, München 1970, 407-33. Vgl. hierzu vor allem: D. C. Tipps, Modernization Theory and the Study of National Societies, in: Comparative Studies in Society and History (= CSSH) 15. 1973, 199-226; F. Eberle, Bemerkungen zum Stand der Diskussion um die Modernisierungstheorie, in: Jb. Arbeiterbewegung 4. 1976, 242-58; R. Sinai, Modernization and the Poverty of the Social Sciences, in: A. R. Desai Hg., Essays on Modernization of Underdeveloped Societies I, Bombay 1972, 53-75; M. N. Srinivas, Modernization: A Few Queries, in: ebd. I, 149-58; M. Kesselmann, Order or Movement? The Literature of Political Development as Ideology, in: WP 26. 1973, 139-54 (ziemlich oberflächlich und ohne Alternativangebot); H. Bernstein, Modernization Theory and the Sociological Study of Development, in: Journal of Development Studies (= JDS) 7. 1971, 141-60; W. F. Wertheim, The Way Towards ‘Modernity’, in: Desai Hg. I, 77-93; R. J. Rhodes, The Disguised Conservatism in Evolutionary Development Theory, in: Science and Society (= S & S) 32. 1968, 383-412; Huntington, Change, 285-93; G. Brandt, Industrialisierung, Modernisierung, gesellschaftliche Entwicklung. Zum gegenwärtigen Stand gesamtgesellschaftlicher Analysen, in: Zeitschrift für Soziologie (= ZfS) I. 1972, 5-14; R. H. Lauer, The Scientific Legitimation of Fallacy: Neutralizing Social Change Theory, in: American Sociological Review (= ASR) 36. 1971, 881-89; T. K. Hopkins, The Forms and Significance. of Modernization, in: Revue Internationale de Sociologie 6. 1970, 19-39; D. N. Levine, The Flexibility of Traditional Culture, in: Journal of Social Issues (= JSI) 24. 1968, 129-42; R. Kothari, Tradi-
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tion and Modernity Revisited, in: Government and Opposition (= G & O) 3. 1968, 273-93; J. R. Gusfield, Tradition and Modernity: Misplaced Polarities in the Study of Social Change, in: American Journal of Sociology 72. 1967, 351-62; J. Favret, Le traditionalisme par excès de modernité, in: European Journal of Sociology 8. 1967, 71-93; C. S. Whitaker, A Dysrhythmic Process of Political Change, in: WP 19. 1967, 190-217; D. Weintraub, The Concepts Traditional and Modern in Comparative Social Research. An Empirical Evaluation, in: Sociologia Ruralis 9. 1969, 23-39; M. Walzer, The Only Revolution: Notes on the Theory of Modernization, in: Dissent II. 1964, 432-40; wichtig: R. A. Nisbet, Ethnocentrism and the Comparative Method, in: Desai Hg. I, 95-115; S. N. Eisenstadt, Breakdowns of Modernization, in: Economic Development and Cultural Change 12. 1964, 345-67, auch in: W. Goode Hg., The Dynamics of Modern Society, N. Y. 1966, 434-48; ders., Reflections on a Theory of Modernization, in: A. Rivkin Hg., Nations by Design, Garden City 1968, 35-61; ders., Social Change and Development, in: ders. Hg., Readings in Social Evolution and Development, London 1970, 3-33; vgl. dazu auch von dems., Comparative Perspectives on Social Change, Boston 1968; Essays in Comparative Institutions, N. Y. 1965; Essays on Sociological Aspects of Political and Economic Development, Den Haag 1961; W. E. Moore, Order and Change. Essays in Comparative Sociology, N. Y. 1967. Besonders aber R. Bendix, Kings or People, London 1978, dt. König oder Volk, Frankfurt 1978; ders., Tradition and Modernity Reconsidered, in: CSSH 9. 1967, 292-346, auch in: ders., Embattled Reason I, New Brunswick 19882, 279320, fast vollst. dt.: Modernisierung u. soziale Ungleichheit, in: W. Fischer Hg., Wirtschafts- u. sozialgeschichtliche Probleme der Frühen Industrialisierung, Berlin 1968, 179-246; ders:, Nation-Building and Citizenship, N. Y. 19692; ders., Die vergleichende Analyse historischer Wandlungen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie (= KZfS) 17. 1965, 429-46 (gekürzt in: Zapf Hg., 177-87; engl. in: T. Burns u. S. B. Saul Hg., Social Theory and Economic Change, London 1967, 6786, u. in: Bendix u. G. Roth, Scholarship and Partisanship. Essay on M. Weber, Los Angeles 1971, 207-24); ders., Modernisierung in internationaler Perspektive, in: Zapf Hg., 505-12; ders., Concepts and Generalization in Comparative Sociological Studies, in: ASR 28. 1963, 532-39, auch in: ders., Embattled Reason, N. Y. 19701 175-86; ders., Culture, Social Structure, and Change, ebd. I, 19882, 15178; ders., Industrialization, Ideologies, and Social Structure, in: ASR 24. 1959, 613-23, auch in: Embattled Reason, 19882, 237-50; ders., Social Stratification and the Political Community, in: European Journal of Sociology I. 1960, 181210, auch in: ders., Embattled Reason I, 19882, 251-78; ders., The Lower Classes and the „Democratic evolution”, in: Industrial Relations I. 1961, 91-116; ders., Concepts in Comparative Historical Analysis, in: Rokkan Hg., Comparative Research, 67-81, sowie seinen Sammelband unter Anm. 48. Diese Unzufriedenheit mit den disparaten Einzelkonzepten der Politikwissenschaft, Ökonomie, Soziologie, Anthropologie usw. kann nicht nachdrücklich genug betont werden. Sie wurde besonders deutlich bei den ersten Studien über politische Integration und Kommunikation, wie sie in den frühen 50er Jahren im Hinblick auf die Integrationschancen der europäischen Staaten, die „Nordatlanti-
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sche Gemeinschaft“, die übernationale Politik vor allem der Vereinten Nationen (von K. W. Deutsch u. a.) angestellt wurden. Vgl. S. M. Lipset, Political Man, N. Y. 19633, dt. gekürzt: Soziologie der Demokratie, Neuwied 1962; ders., The First New Nation, Garden City 1967; ders., Revolution and Counterrevolution, N. Y. 19702. Vgl. hierzu K. O. Hondrich, Wirtschaftliche Entwicklung, sozialer Konflikt u. politische Freiheiten, Frankfurt 1970, 32-41. Die Hilfskonstruktion der „partiellen Modernisierung“, die m. W. zuerst Bendix, dann D. Rüschemeyer (Partielle Modernisierung, in: Zapf Hg., 382-96; Modernisierung u. die Gebildeten im kaiserlichen Deutschland, in: P. C. Ludz Hg., Soziologie u. Sozialgeschichte, Opladen 1973, 515-29) und viele andere benutzt haben, ist entweder als Abweichung vom Idealtypus „voller“ Modernisierung ziemlich schwer, wenn überhaupt, systematisierbar oder aber schon historisierter Regelfall von „Modernisierung“ überhaupt. – Nützlicher scheint mir der Begriff der „defensiven Modernisierung“ zu sein, wie ihn u. a. Black gebraucht; er läßt sich z. B. auf Preußen, Japan und gegenwärtige Entwicklungsländer anwenden. Vgl. den knappen Überblick über die „Leitmotive des amerikanischen Nationalismus“, in: Wehler, Aufstieg des amerikanischen Imperialismus, 10-14. Vgl. A. D. Smith, The Concept of Social Change. A Critique of the Functionalist Theory of Social Change, London 1973; R. A. Nisbet, Social Change and History, N. Y. 1969; ders., Tradition and Revolt, N. Y. 1968; K. E. Bock, Theories of Progress and Evolution, in: W. J. Cahnman u. A. Boskoff Hg., Sociology and History , N. Y. 1964, 21-41; J. W. Burrow, Evolution and Society: A Study in Victorian Social Theory, Cambridge 19702; R. C. Lewontin u. a., Evolution, in: IESS 5. 1968, 202-38; N. J. Smelser, Mechanisms of Change and Adjustment to Change, in: B. F. Hoselitz u. W. E. Moore Hg., Industrialization and Society, Paris 1966, 32-54; v. a. S. N. Eisenstadt, Social Evolution, 228-34, sowie ders., Social Change, Differentiation and Evolution, in: ASR 29. 1964, 375-86, dt. Sozialer Wandel, Differenzierung u. Evolution, in: Zapf Hg., 75-91; ders., Social Differentiation and Stratification, London 1971; K. E. Bock, Evolution, Function and Change, in: ASR 28. 1963, 229-37. Vgl. T. Parsons, Evolutionary Universals in Society, in: ASR 29. 1964, 339-57, dt. Evolutionäre Universalien der Gesellschaft, in: Zapf Hg., 55-74; ders., Societies. Evolutionary and Comparative Perspectives, Englewood Cliffs 1966, dt. Gesellschaften, Frankfurt 1975; ders., The System of Modern Societies, Englewood Cliffs 1970, dt. Das System moderner Gesellschaften, München 1972; ders., Zur Theorie sozialer Systeme, S. Jensen Hg., Wiesbaden 1975; ders., Sociological Theory and Modern Society, N. Y. 1967; ders. Hg., Theories of Society, 2 Bde, N. Y. 1961; ders., Structure and Process in Modern Societies, Glencoe 1960; ders. u. N. J. Smelser, Economy and Society, ebd. 1956; ders., The Social System, ebd. (1951) 19634; ders. u. E. Shils Hg., Toward a General Theory of Action, N. Y. (1951) 19625; ders., Politics and Social Structure, ebd. 1969; ders., Comparative Studies in Evolutionary Change, in: J. Vallier Hg., Comparative Methods in Sociology, Berkeley 1971; vgl. dazu – außer einer der ersten und besten Rez.: D. Lockwood, Some Remarks on the Social System, in: British
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Joumal of Sociology (= BJS) 7. 1956, 134-46 – aus einer schnell wachsenden Lit.: W. G. Runciman, Social Science and Political Theory, Cambridge 1963, dt. Sozialwissenschaft u. politische Theorie, Frankfurt 1967, 116-42; J. Bergmann, Die Theorie des sozialen Systems von T. Parsons, ebd. 1967; K.-H. Tjaden, Soziales System u. sozialer Wandel, München 19722; D. Rüschemeyer, Reflections on Structural Differentiation, in: ZfS 3. 1974, 279-94; A. W. Gouldner, The Coming Crisis of Western Sociology, N. Y. 1970, 138-338, dt. Die westliche Soziologie in der Krise, 2 Bde, Reinbek 1974; G. C. Homans, Bringing Men Back, in: ASR 29. 1964, 809-18, dt. Funktionalismus, Verhaltenstheorie u. sozialer Wandel, in: Zapf Hg., 95-107; H. Stretton, The Political Sciences, London 1969, 286-99. Vgl. auch den Anhang zu: W. W. Rostow, Politics and the Stages of Growth, Cambridge 1971, 334-60. Hierzu u. zum Folgenden: Bendix, in: Fischer Hg., 181-208; Eisenstadt, Modernization, 1-19; Black, 9-26; L.-E. Shiner, Tradition/Modernity: An Ideal Type Gone Astray, in: CSSH 17. 1975, 245-52; E. Shils, Tradition, in: Desai Hg. I, 139; D. Rüschemeyer, Notes on Ideology and Modernization, in: J. J. Loubser u. a. Hg., Explorations in General Theory in the Social Sciences (Fs. T. Parsons), N.Y. 1976, 736-55; R. N. Bellah, Meaning and Modernization, in: ders., Beyond Belief, N. Y. 1970. Vgl. auch den häufigen Begriffswandel (in dem in Anm. 41 genannten Lexikon) während und seit dieser Periode. Vgl. I. Weinberg, The Problem of the Convergence of Industrial Societies, in: CSSH II. 1969, 1-15; A. S. Feldman u. W. E. Moore, Are Industrial Societies Becoming Alike? in: A. W. Gouldner u. S. M. Miller Hg., Applied Sociology, N.Y. 1965, 260-65. Für „die Logik der Industrialisierung”: C. Kerr u. a., Industrialism and Industrial Man, Cambridge/Mass. 1960/Harmondsworth 1973; ders., Marshall, Marx, and Modern Time, N. Y. 1969. Dagegen sind heranzuziehen: W. E. Moore, The Impact of lndustry, Englewood Cliffs 1965; N. J. Smelser u. S. M. Lipset Hg., Social Structure and Mobility in Economic Development, Chicago 1966, v. a. 1-50; M. Olson, Some Social and Political Implications of Economic Development, in: WP 17. 1965, 525-54; Hoselitz u. Moore Hg., v. a. 357-59; J. H. Goldthorpe, Theories of Industrial Society, in: European Journal of Sociology 12. 1971, 263-88, und natürlich die weiter wachsende Literatur zur Industriewirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts. Nach Huntingtons (Change, 288) ironischem Kommentar. Vgl. Tipps, 201-4; Bendix, in: Fischer Hg., 222; Huntington, Change, 288-90. Auf Spencer, der in der englisch-amerikanischen Welt ungeheuren Einfluß ausgeübt hat, berufen sich noch immer oder wieder viele amerikanische Modernisierungstheoretiker. Vgl. R. L. Carneiro, H. Spencer, in: IESS 15. 1968, 121-28; D. J. Y. Peel, Spencer and the Neo-Evolutionists, in: Sociology 3. 1969, 173-91; T. B. Bottomore, Sociology, London 1962, 263-92; M. Ginsburg, On the Concept of Evolution in Sociology, in: ders., Essays on Social Philosophy I, London 1957, 180-89; K. Eder, Komplexität, Evolution u. Geschichte, in: F. Maciejewski Hg., Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Beiträge zur HabermasLuhmann-Diskussion I, Frankfurt 1973, 9-42. Zur Pionierleistung von Smith: H. Medick, Naturzustand u. Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Göttin-
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gen (1973) 19812, 171-295. – Als Beispiel neuer, einflußreicher und manchmal überzeugender Verwertung Spencerscher Begriffe: N. J. Smelser, Social Change in the Industrial Revolution, Chicago (1959) 19693; ders., Sociological History: The Industrial Revolution and the British Working Class Family, in: Journal of Social History (= JSH) 1. 1967/68, 17-35, auch in: ders., Essays in Sociological Explanation, Englewood Cliffs 1968, 76-91; ders., Processes of Social Change, in: ders. Hg., Sociology, N. Y. 1967, 674-728; ders. u. J. A. Davis Hg., Sociology, Englewood Cliffs 1969, 81-84; ders., Theory of Collective Behavior, N. Y. 1962, dt. Theorie des kollektiven Verhaltens, Köln 1972; ders., Toward a Theory of Modernization, in: A. u. E. Etzioni Hg., Social Change, N. Y. 1964, 258-74. Statt vieler Titel: K. W. Deutsch, Social Mobilization and Political Development, in: ASR 55. 1961, 493-514, dt. Soziale Mobilisierung u. politische Entwicklung, in: Politische Vierteljahresschrift (= PVS) 2. 1961, 104-24, u. in: Zapf Hg., 32950; J. P. Nettl, Political Mobilization, N. Y. 1967; J. Davis, Soziale Mobilität u. politischer Wandel, München 1971; P. Flora, Historische Prozesse sozialer Mobilisierung, in: ZfS 1. 1972, 85-117 (engl. in: Eisenstadt u. Rokkan Hg., 213-58). Es ist nicht unfair zu behaupten, daß diese Steigerung der Leistungs- und Steuerungskapazität ganz überwiegend positiv bewertet wird. Das hat auch gute Gründe, aber die tiefe Ambivalenz dieser Entwicklung wird dabei zu wenig berücksichtigt, da die erhöhte Steuerungsfähigkeit zugleich auch die Möglichkeit des Terrors und der Unterdrückung, der Manipulation und Vergeudung vermehren kann. Diesen Problemen, vergleichbar mit der „Dialektik der Aufklärung“, hat sich, soweit ich sehe, die ältere Modernisierungsforschung nicht intensiv genug gestellt. Vgl. C. C. Moskos u. W. Bell, Emerging Nations and Ideologies of American Social Scientists, in: American Sociologist 2. 1967, 67-72; D. C. O’Brien, Modernization. Order and the Erosion of a Democratic Ideal: American Political Science 1960-1970, in: JDS 8. 1972, 331-78; Coleman, 396, u. allg. die Lit. in Anm. 8. – Zweifellos muß hier hervorgehoben werden, daß nicht wenige prominente Modernisierungsforscher keine Amerikaner waren oder sind (z. B. Eisenstadt, Rokkan, Nettl u. a.) oder seit den 30er Jahren nach Amerika ausgewandert waren (wie z. B. Deutsch, Bendix, Hoselitz, Rüstow u. a.). Aber entweder haben sie an amerikanischen Universitäten gelehrt oder doch in engster Verbindung mit dem „Hauptstrom“ der Modernisierungsforschung in Amerika an der Debatte teilgenommen. Vgl. dazu vor allem Rhodes; Bendix; Kesselman, 149; N. Birnbaum, Toward a Critical Sociology, N. Y. 1971, 107; G. Omvedt, Modernization Theories: The Ideology of Empire, in: Desai Hg. I, 119-38; S. J. Bodenheimer, The Ideology of Developmentalism, in: Berkeley Journal of Sociology 35. 1968, 130-59. Hier ist selbstredend Skepsis gegenüber jener naiven Auffassung geboten, daß der westliche Imperialismus ein mit Europa/Amerika vergleichbares oder jedenfalls prinzipiell vorhandenes Entwicklungspotential zerstört habe. Marx z. B. war dezidiert und konzessionslos der Meinung, daß Asien wegen der fehlenden Voraussetzungen einen selbständigen Entwicklungssprung wie der Westen nicht getan habe noch werde tun können. (Vgl. unten V.) Nicht nur ist für diese Proble-
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matik die Quellenlage desparat, sondern alle Diskussion bleibt auch notwendig im Bereich kontrafaktischer Quasi-Geschichte. Vgl. A. A. Mazrui, From Social Darwinism to Current Theories of Modernization, in: WP 21. 1968, 69-83; Bock, Theories, 35-37; Nisbet, Change, 161-64; enttäuschend: H. W. Koch, Der Sozialdarwinismus, München 1973; H.-U. Wehler, Sozialdarwinismus im expandierenden Industriestaat, in: Fs. F. Fischer, Düsseldorf (1973) 19742, 133-42, auch in: ders., Krisenherde des Kaiserreichs, Göttingen 19792, 281-89, sowie die dort zit. Lit. zum amerikanischen und englischen Sozialdarwinismus. A. Kaplan, The Conduct of Inquiry, San Francisco 1964, 52. W. E. Moore, Social Change and Comparative Studies, in: International Social Science Journal 15. 1963, 523; das Zitat vorher: P. Abrams, The Sense of the Past and the Origins of Sociology, in: Past and Present (= P & P) 55. 1972, 32; Bendix, in: Fischer Hg., 226; Huntington, Change 296. Vgl. Gusfield, 352-58; Levine, 129-42; Kothari, 273-93; Coleman, 396. Vgl. H. Kellenbenz, Der Merkantilismus in Europa u. die soziale Mobilität, Wiesbaden 1965; H. Medick, Bevölkerungsentwicklung, Familienstruktur u. Proto-Industrialisierung, in: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht u. Studium 3. 1974, 33-38; C. u. R. Tilly, Agenda for European Economic History, in: Journal of Economic History (= JEH) 31. 1971, 184-98; F. Mendels, ProtoIndustrialization: The First Phase of the Industrial Process, in: JEH 32.1972, 24161; H. Freudenberger u. F. Redlich, The Industrial Development of Europe, in: Kyklos 17. 1964, 372-401; H. Freudenberger, Three Mercantilist Protofactories, in: Business History Review 40. 1966, 167-89; ders., Die Struktur der frühindustriellen Fabrik im Umriß, in: Fischer Hg., 413-33; ders. u. G. Mensch, Von der Provinzstadt zur Industrieregion (Brünn-Studie). Ein Beitrag zur Politökonomie der Sozialinnovation, dargestellt am Innovationsschub der Industriellen Revolution im Raum Brünn, Göttingen 1975; W. Fischer, Rural Industrialization and Population Change, in: CSSR 15. 1973, 158-70; J. D. Chambers, Population, Economy, and Society in Pre-Industrial England, London 1972; D. V. Glass u. R. Revelle Hg., Population and Social Change, London 1972; H. J. Habakkuk, Population Growth and Economic Development Since 1750, Leicester 1972; E. L. Jones, The Agricultural Origins of Industry, in: P & P 40. 1968, 58-71; R. Braun, Sozialer u. kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet im 19. u. 20. Jahrhundert, Erlenbach 1965; ders., Industrialisierung u. Volksleben vor 1800, ebd. 1960/Göttingen 19792; H. Helczmanovski Hg., Beiträge zur Bevölkerungsu. Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1973; Geschichte und Gesellschaft (= GG) 1. 1975, H. 2: Historische Familienforschung u. Demographie, H.-U. Wehler Hg. Beste neue Zusammenfassung: P. Kriedte u. a., Sozialgeschichte in der Erweiterung – Protoindustrialisierung in der Verengung. Eine Zwischenbilanz, in: GG 18. 1992, 70-87, 231-55. Vgl. z. B. hierzu Flora, Indikatoren der Modernisierung; D. Nohlen u. F. Nuscheler Hg., Handbuch der Dritten Welt I: Theorien u. Indikatoren der Unterentwicklung, Hamburg 1974; C. L. Taylor u. M. Hudson Hg., World Handbook of Political and Social Indicators, New Haven 1972 (die 2. Aufl. von Russett Hg., s. un-
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ten); A. S. Banks, Cross-Polity Time-Series Data, Cambridge/Mass. 1971; J. V. Gillespie u. B. A. Nesvold Hg., Cross-National Research. Macro-Quantitative Analysis, Beverly Hills 1970; B. M. Russett u. a. Hg., World Handbook of Political and Social Indicators, New Haven (1967) 19722; I. Adelman u. C. T. Morris, Society, Politics, and Economic Development, Baltimore (1967) 19712; F. H. Harbison u. a., Quantitative Analysis of Modernization and Development, Princeton 1970; J. Meyriat u. S. Rokkan Hg., International Guide to Electoral Statistics I, Den Haag 1969; K. Davis, Basic Data for Cities, Countries, and Regions, World Urbanization, 1850-1970 I, Berkeley 1969; M. Dogan u. S. Rokkan Hg., Quantitative Ecological Analysis in the Social Sciences, Cambridge/Mass. 1969; R. L. Merritt u. S. Rokkan Hg., Comparing Nations: The Use of Quantitative Data in Cross-National Research, New Haven 1968; E. B. Sheldon u. W. E. Moore Hg., Indicators of Social Change, N. Y. 1968; Rokkan Hg., Research; T. Deldycke u. a., International Historical Statistics I: The Working Population, Brüssel 1968; R. A. Bauer Hg., Social lndicators, Cambridge/Mass. 1966; A. S. Banks u. R. Textor, A Cross-Polity Survey, Cambridge/Mass. 1966. Vgl. auch S. Rokkan Hg., Data Archives for the Social Sciences, Den Haag 1966; ders., Cross-National Survey Analysis, in: ders. u.a., Citizens, 251-92. – Zur Diskussion: W. Zapf, Soziale Indikatoren, in: Fs. R. König, Opladen 1973, 261-90; ders. u. P. Flora, Zeitreihen als Indikatoren der Modernisierung, in: PVS 12. 1971, 2970 (gekürzt, vollständig engl.: Some Problems of Time-Series Analysis in Modernization Research, in: Social Science Information 10. 1971, 53-102, bzw. als: Differences in Paths of Development. An Analysis of Ten Countries, in: Eisenstadt u. Rokkan Hg., 161-211); P. Flora, Die Bildungsentwicklung im Prozeß der Staaten- u. Nationbildung. Eine vergleichende Analyse, in: Ludz Hg., 294-319 (dieser Aufsatz ist auch eingegangen in: ders., Modernisierungsforschung); R. F. Hopkins, Aggregate Data and the Study of Political Development, in: Journal of Politics 3 I. 1969, 71-94; R. Grew u. S. L. Thrupp, Horizontal History in Search of Vertical Dimensions, in: CSSH 8. 1966, 258-64, auch in: C.L Taylor Hg., Aggregate Data Analysis, Paris 1968, 107-13 (vom Standpunkt des Historikers aus). Vgl. hierzu auch S. Rokkan Hg., Comparative Survey Analysis, Paris 1969; S. Verba, Some Dilemmas of Comparative Research, in: WP 20. 1967168, 111-27; L. M. Salarnon, Comparative History and the Theory of Modernization, in: WP 23. 1970, 83-103; R. P. Swierenga, Computers and Comparative History, in: Journal of lnterdisciplinary History (= JIH) 5. 1974, 267-86, sowie J. J. Sheehan, Quantification in the Study of Modern German Social and Political History , in: V. R. Lorwin u. J. M. Price Hg., The Dimensions of the Past, New Haven 1972, 301-31, dt. Die Verwendung quantitativer Daten in politik- u. sozialwissenschaftlichen Forschungen zur neueren deutschen Geschichte, in: Ludz Hg., 584-614. 31 Vgl. auch hier die Kritik „von innen“ durch: F. W. Riggs, The Theory of Developing Politics, in: WP 16. 1963, 147-71; J. LaPalombara, in: ders. u. M. Weiner Hg., Political Parties and Political Development, Princeton 1966, 35-39. 32 Vgl. nur einmal: D. S. Landes, Statistics as a Source for the History of Economic Development in Western Europe: The Protostatistical Era, in: Lorwin u. Price Hg., 53-91; auch schon früher ders., The Statistical Study of French Crises, in:
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JEH 10. 1950, 195-210. – Aus der Debatte über die französische „Quantitative Wirtschaftsgeschichte“: P. Chaunu, Histoire Quantitative et Histoire Sérielle, in: Cahiers V. Pareto 3. 1964, 165-75; ders., Lʼhistoire sérielle, in: Revue Historique 243. 1970, 297-320 (gegen die naive oder unseriöse Behandlung vormoderner Zahlen, in: J. Marczewski Hg., Histoire Quantitative de lʼÉconomie Française, 11 Bde, Paris 1961/69). – Dazu die überzeugende Kritik an der preußischen Statistik vor 1850 von O. Büsch, Industrialisierung u. Gewerbe im Raum Berlin/Brandenburg 1800-1850, Berlin 1971, 151-212, u. O. Behre, Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preußen bis zur Gründung des Königl. Statistischen Büros, Berlin 1905/ND Vaduz 1979. Vgl. außer Büsch auch W. G. Hoffmanns Probleme (ders. u.a. Hg., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1965) und Floras Bildungszahlen. Vgl. dazu die diese Einwände intensiv diskutierenden Beiträge von S. P. Huntington, Political Development and Political Decay, in: WP 17. 1965, 386430, dt. Politische Entwicklung u. politischer Verfall, in: M. Jänicke Hg., Politische Systemkrisen, Köln 1973, 260-94; W. Connor, Nation-Building or NationDestroying? in: WP 24. 1972, 319-55; Eisenstadt, Breakdowns; J. J. Spengler, Breakdowns in Modernization, in: Weiner Hg., 321-33; H. Bernstein, Breakdowns of Modernization, in: JDS 8. 1972, 309-18; F. Krantz u. P. M. Hohenberg Hg., Failed Transitions to Modern Industrial Society: Renaissance Italy and 17th Century Holland, Montreal 1975; C. Tilly, Clio u. Minerva, in: H.-U. Wehler Hg., Geschichte u. Soziologie, Köln 19762/Königstein 19843, 97-131. – Zum Faschismusproblem: A. F. K. Organski, Fascism and Modernization, in: S. J. Woolf Hg., The Nature of Facism, N. Y. 1969, 19-41; G. Germani, Fascism and Class, in: ebd., 65-96, spez. 83-96; H. A. Turner, Fascism and Modernization, in: WP 24. 1972, 547-64, dt. Faschismus u. Anti-Modernismus, in: ders., Faschismus u. Kapitalismus in Deutschland, Göttingen (1972) 19802, 157-82; hierzu: A. J. Gregor, Fascism and Modernization, in: WP 26. 1974, 370-84. Diese vier Aufsätze werfen auch Einwände gegen den Nutzen der Modernisierungstheorien für die Faschismusdiskussion auf, obwohl es in einer genaueren und differenzierteren Form durchaus möglich ist, auf diesem Wege weiter voranzukommen. Vgl. etwa H. Matzerath u. H. Volkmann, Modernisierungstheorie u. Nationalsozialismus, in: J. Kocka Hg., Theorien in der Praxis des Historikers (GG SoH. 3), Göttingen 1977, 86-116, sowie die neue Debatte über „Modernisierung“ unter dem NS-Regime, in: GG 19. 1993 ff. Im Sinne von R. R. Palmer, The Age of the Democratic Revolution, 1760-1800, 2 Bde, Princeton 1959/64, 1. Bd. dt. Das Zeitalter der demokratischen Revolution, Frankfurt 1970/71, u. E. J. Hobsbawm, The Age of Revolution, 1789-1848, N. Y. 1962, dt. Europäische Revolutionen, München 1962. Black, 49. Diese Abkürzung gibt aber auch eine der Positionen wieder, die Luhmann explizit entwickelt hat. Vgl. P. Drewe, Die „strukturell-funktionale“ Theorie u. der soziale Wandel, in: KZfS 18. 1966, 329-36; abwägend auch hierzu: E. Pankoke, Soziale Systeme in historischen Prozessen. Zur Problemgeschichte der soziologischen Wandlungstheorie, in: Archiv für Sozialgeschichte II. 1971, 483-
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99; D. Lockwood, Social Integration and System Integration, in: G. K. Zollschan u. W. Hirsch Hg., Explorations in Social Change, Boston 1964, 244-57, dt. Soziale Integration u. Systemintegration, in: Zapf Hg., 124-37. – Als Reaktion auf das häufig empirisch leere „Modernisierungs“-Wortgeklingel mit höchstem theoretischen Anspruch verspürt der Historiker vermutlich zuerst eine heftige Zuneigung zum Individualitätsprinzip. Sie kann aber nur eine Durchgangsphase während der Beschäftigung mit diesen Fragen bleiben, da Abstraktion auf verschiedenen Ebenen nicht ernsthaft bestritten werden kann. Zit. nach Lauer, 882. Vgl. ebd., 883; J. S. Migdal, Why Change? Toward a New Theory of Change Among Individuals in the Process of Modernization, in: WP 26. 1974, 189-206, u. die Lit. hinten Anm. 56 über Bewältigungskapazitäten und „Krisen“. Anstatt wie E. E. Hagen (On the Theory of Social Change, Homewood 1962) Spekulationen über eine innovationsproduzierende Kinderaufzucht anzustellen, sollte man sich lieber auf dem gesicherten Boden der sozialen Lage von Minderheiten bewegen. Vgl. hierzu die glänzende Kritik von A. Gerschenkron, How Economic Growth Begins, in: ders., Continuity in History, Cambridge/Mass. 1968, 368-74. Andererseits lassen sich bei großer Sachkenntnis und Vorsicht auch Parsons „Pattern Variables“ historisch sinnvoll auswerten, vgl. etwa von B. F. Hoselitz, Sociological Aspects of Economic Growth, Glencoe 1960; ders., Wirtschaftliches Wachstum u. sozialer Wandel, Berlin 1969. Vgl. E. A. Nordlinger, Political Development: Time Sequences and Rates of Change, in: WP 20. 1968, 494-520; M. Heirich, The Use of Time in the Study of Social Change, in: ASR 29. 1964, 386-97; R. Mukherjee, Some Observations on the Diachronic and Synchronic Aspects of Social Change, in: Social Science Information 7. 1968, 31-55; M. Kracauer, Time and History, in: History and Theory (= HT), Beiheft 6 (1966), 65-78; G. W. Wallis, Chronopolitics: The Impact of Time Perspectives on the Dynamics of Change, in: Social Forces 49. 1970, 1028; Lauer, 882; G. Gurvitch, The Spectrum of Social Time, Dordrecht 1964; W. E. Moore, Man, Time, and Society, N. Y. 1963; schwer zu verstehen finde ich: N. Luhmann, Weltzeit u. Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten u. sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme, in: Ludz Hg., 81-115. Vgl. R. Koselleck, Einleitung, in: O. Brunner u. a. Hg., Geschichtliche Grundbegriffe I, Stuttgart 1972, XIII-XXIV; ders. Hg., 264-99, sowie seine Aufsätze: Vergangene Zukunft, Frankfurt (1979) 19892. Vgl. Whitaker; empirisch breiter abgestützt: ders., The Politics of Tradition. Continuity and Change in Northern Nigeria 1946-66, Princeton 1970. P. Laslett, The World We Have Lost, London 19712, dt. Verlorene Lebenswelten. Geschichte der vorindustriellen Gesellschaft, Köln 1988. Vgl. Whitaker, Process, 198. J. LaPalombara, in: ders. Hg., Bureaucracy and Political Development, Princeton 1963, 38f. Vgl. S. Pollard, Industrialization and the European Economy, in: Economic History Review 26. 1973, 636-48; ders., European Economic Integration, 18151914, London 1974; E. A. Wrigley, Industrial Growth and Population Change,
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Cambridge 1961, auch J. Hughes, Industrialization and Economic History, N. Y. 1970. Vgl. A. Przeworski u. H. Teune, The Logic of Comparative Social Inquiry, N. Y. 1970, 12f.; A. L. Kalleberg, The Logic of Comparison: A Methodological Note on the Study of Political Systems, in: WP 19. 1966, 69-82; R. T. Holt u. J. E. Turner Hg., The Methodology of Comparative Research, N. Y. 1970. Vgl. auch: D. A. Rustow, Modernization and Comparative Politics: Prospects in Research and Theory, in: Comparative Politics (= CP) I. 1968, 37-51; G. Lewy, Historical Data in Comparative Political Analysis, in: ebd., 103-10, sowie die Lit. bei K. v. Beyme, Die politischen Theorien der Gegenwart, München 19742, 124f. – Huntington (Change, 316) scheint mit seinem Vorschlag, sich auf fünf zentrale Komponenten des politischen Systems zu konzentrieren (Kultur, Struktur, Formelle und Informelle Gruppen, Führung, Politische Aktionen), doch wieder die Jagd nach einem Minimum an systemneutralen Universalkategorien anzutreten. Vgl. R. Collins, A Comparative Approach to Political Sociology, in: R. Bendix Hg., State and Society, Boston 1968, 42-67; G. Roth, M. Weber's Comparative Approach and Historical Typology, in: I. Vallier Hg., Comparative Methods in Sociology, Berkeley 1971, 75-93; ders., Sociological Typology and Historical Explanation, in: Bendix u. ders., 109-28. Bendix, in: Fischer Hg., 230f.; M. Halpern, Toward Further Modernization of the Study of New Nations, in: WP 17. 1964, 163; ders., The Revolution of Modernization in National and International Society, in: C. J. Friedrich Hg., Revolution, N. Y. 1966, 178-214; J. P. Nettl u. R. Robertson, International System and the Modernizing of Societies, N. Y. 1968; s. auch R. T. Holt u. J. E. Turner, The Political Basis of Economic Development, Princeton 1966. D. S. Landes, Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel u. industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart, Köln 1973/München 1983, 137. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 19474, 252. Vgl. zu dieser weitverbreiteten Annahme die Lit. in Anm. 35, sowie E. Gellner, Democracy and Industrialization, in: Europäisches Archiv für Soziologie 8. 1967, 47-70; ders., Thought and Change, London 1969, 139; K. de Schweinitz, Industrialization and Democracy: Economic Necessities and Political Possibilities, London 1964; W. A. Faunce u. W. H. Form Hg., Comparative Perspectives on Industrial Society, Boston 1969. Unhistorisch ist hierzu auch die Argumentation von Hondrich, der den Sonderfall in seinen Überlegungen verallgemeinert. Das betonen auch pointiert A. S. Milward u. S. B. Saul, The Economic Development of Continental Europe I: 1780-1870, London 1973, 250. Das folgende Zitat aus: M. R. Lepsius, Demokratie in Deutschland als historisch-soziologisches Problem, in: T. W. Adorno Hg., Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Stuttgart 1969, 199 (jetzt auch in: Lepsius, Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, 11-24). Die Punkte über England nach: H.-C. Schröder, Die neuere englische Geschichte im Lichte heutiger Modernisierungstheorien, in: Koselleck Hg., 30-65. Vgl. C.
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H. Wilson, England’s Apprenticeship 1603-1763, London (1965) 19714 (England-Holland); J. R. Strayer, The Historical Experience of Nation-Building in Europe, in: Deutsch u. Foltz Hg., 17-26, u. in: Black Hg., 109-15 (EnglandFrankreich); P. Stansky Hg., The Victorian Revolution. Government and Society in Victoria's Britain, N. Y. 1973; L. Stone, Literacy and Education in England, 1640-1900, in: P & P 42. 1968, 69-139; B. E. Brown, The French Experience of Modernization, in: WP 21. 1969, 366-91, u. in: Black Hg., 165-85. 55 Vgl. W. Struve, Elites Against Democracy. Leadership Ideals in Bourgeois Political Thought in Germany 1890-1933, Princeton 1973; E. Barker, The Development of Public Services in Western Europe 1660-1930 (1944), Hamden/Conn. 19663, 1-6. 56 Vgl. die Bände des CCP: G. A. Almond u. S. Verba Hg., The Civic Culture, Princeton (wie fast alle Bände) 1963; L. W. Pye Hg., Communications and Political Development, 1963; J. LaPalombara Hg., Bureaucracy and Political Development, 1963; R. E. Ward u. D. A. Rustow Hg., Political Modernization in Japan and Turkey, 1964; L. W. Pye u. S. Verba Hg., Political Culture and Political Development, 1965; J. S. Coleman Hg., Education and Political Development, 1965; J. LaPalombara u. M. Weiner Hg., Political Parties and Political Development, 1966; L. Binder Hg., Crises and Sequences in Political Development, 1971 (darin: S. Verba, Sequences and Development, dt. Entwicklungskrisen u. ihre Abfolge, in: Jänicke Hg., 295-313; vgl. diesen Band insgesamt u. ders. Hg., Herrschaft u. Krise, Opladen 1973); G. A. AImond u. a., Crisis, Choice and Change. Historical Studies of Political Development, Boston 1973 (darin: S. C. Flanagan, Models and Methods of Analysis, dt. Das politische System u. die systematische Krise, in: Jänicke Hg., Systemkrisen, 98-111; spez. für deutsche Leser: V. Rittberger, Revolution and Pseudo-Democratization: The Formation of the Weimar Republic, 285-391); C. Tilly Hg., The Formation of National States. 57 Eine Art Signal bildete: G. A. Almond u. J. S. Coleman Hg., The Politics of the Developing Areas, Princeton 1960; verfeinert in: G. A. Almond, Political Development. Essays in Heuristic Theory, Boston 1970; ders. u. G. B. Powell, Comparative Politics, Boston 1966; vgl. auch Almond, Comparative Politics, in: IESS 12. 1968, 331-36; ders., A Developmental Approach to Political Systems, in: WP 17. 1965, 183-214; ders., Political Systems and Political Change, in: American Behavioral Scientist 6. 1963, 3-10, dt. Politische Systeme u. politischer Wandel, in: Zapf Hg., 211-27; sowie die Überlegungen nach Huntington, Change; L. W. Pye, The Concepts of Political Development, in: Annals 358. 1965, 2-13; ders., Political Systems and Political Development, in: S. Rokkan Hg., Comparative Research, 93-101; S. Rokkan, Models and Methods in the Comparative Study of Nation-Building, in: Acta Sociologica 12. 1969/II, 53-73; auch in: Fs. P. Nettl, T. J. Nossiter u. a. Hg., London 1972, 121-56, u. in: S. Rokkan u. a., Citizens, Elections, Parties, Oslo 1970, 46-71; A. Lijphart, Comparative Politics and the Comparative Methods, in: American Political Science Review (= APSR) 65. 1971, 682-93; v. Beyme, 124-60 (der sehr informative Überblick behandelt zwar die Theoreme der „Politischen Entwicklung“, nicht aber eigens die Modernisierungstheorien); O. Massing, Vergleichende politische Analyse, in: G. Kress u. D.
244 | H ANS -U LRICH W EHLER Senghaas Hg., Politikwissenschaft, Frankfurt (1969) 19724, 286-323, u. in: ders., Politische Soziologie, Frankfurt 1974, 37-75. – Zum „politischen System“ aus einer wachsenden Lit. außer v. Beyme (176-89) nur: J. Habermas u. N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung? Frankfurt 1971; N. Luhmann, Soziologie des politischen Systems, in: ders., Soziologische Aufklärung, Köln 19723, 154-77; K. W. Deutsch, Politics and Government, Boston 1970, Kap. 6: The Political System; ders., The Nerves of Government, N. Y. 19662, dt. Politische Kybernetik, Freiburg (1969) 19702; D. Senghaas, Systembegriff u. Systemanalyse, in: C. Koch u. ders. Hg., Texte zur Technokratiediskussion, Frankfurt 1970, 174-95; W.-D. Narr, Theoriebegriffe u. Systemtheorie, Stuttgart 1969 u. ö. Speziell zum CCP: R. L. Merritt, Systematic Approaches to Comparative Politics, Chicago 1969; S. E. Finer, Almond’s Concept of „The Political System“, in: G & O 1969/70, 321; S. K. Arora, Political Development: Policy Constraints and Value Preferences, in: Desai Hg. I, 195-209; F.-W. Heimer, Begriffe u. Theorien der „politischen Entwicklung” (G. A. Almond), in: D. Oberndörfer Hg., Systemtheorie, Berlin 1971, 449-515; J. Walton, Political Development and Economic Development, in: Studies in Comparative International Development 7. 1972, 39-64; J. D. Montgomery, The Quest for Political Development, in: CP I. 1969, 285-95; C. Bay, The Cheerful Science of Dismal Politics, in: T. Roszak Hg., The Dissenting Academy, N. Y. 1968, 208-30; Chong-Do Hah u. J. Schneider, A Critique of Current Studies on Political Development and Modernization, in: Social Research (= SR) 35. 1968, 130-58; A. R. Dennon, Political Science and Political Development, in: S & S 23. 1969, 285-98; K. Messelken, Politikbegriffe der modernen Soziologie, Opladen 1968; F. W. Riggs, The Dialectics of Developmental Conflict, in: Comparative Political Studies I. 1968, 197-220. Besonders klar ist die präzise Zusammenfassung bei Zapf (Modernisierungstheorien, 305-7) und Flora (Modernisierungsforschung, 89-92), die ich so einleuchtend fand, daß ich ihnen bei der Überarbeitung gefolgt bin. Auf zwei bekannte andere Modernisierungs- bzw. Entwicklungsmodelle soll hier nicht eingegangen werden: 1. auf W. W. Rostows Überlegungen (Politics and the Stages of Growth), die drei universelle Probleme der Politik (Sicherheit, Wachstum, Verfassungsordnung) mit seinem Stadienmodell (ders., The Stages of Economic Growth, Cambridge 1960, dt. Stadien wirtschaftlichen Wachstums, Göttingen 19672, vgl. allg. hierzu G. Zimmermann, Sozialer Wandel u. ökonomische Entwicklung, Stuttgart 1969) verbinden, um spezifische Lösungen herauszuarbeiten, – 2. auf B. Moores Buch (Social Origins of Dictatorship and Democracy, Boston 1966, dt. Soziale Ursprünge von Diktatur u. Demokratie, Frankfurt 1969); vgl. von den Rez.: D. Lowenthal, in: HT 7. 1968, 257-78; S. Rothmann, in: ASPR 64. 1970, 61-85, 182f.; H. Mey, Der Beitrag von B. Moore zur soziologisch orientierten Sozialgeschichte, in: Ludz Hg., 473-90. Dort gilt die politische Zähmung des Agrarsektors als zentrales Problem, das Moore zusammen mit drei Lösungsversuchen erörtert. Zu beiden Modellen wieder klar: Flora, 79-83, 84-89.
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58 Dies und das folgende nach Flora, 89-92; vgl. Huntington, Change, u. S. Rokkan, Die vergleichende Analyse der Staaten- u. Nationenbildung: Modelle u. Methoden, in: Zapf Hg., 233-40; ders., Vergleichende Sozialwissenschaft, Berlin 1972, 59-63. 59 Die These von der Integrationskrise ist in letzter Zeit aufgegeben worden (z. B. in: Binder Hg.; vgl. Kesselman, 139-54) oder doch sehr zurückgetreten. 60 Flora, Modernisierungsforschung, 89; Rokkan, Sozialwissenschaft, 60 f. 61 Vgl. die empirischen Einzelstudien in den Bänden des CCP. Aus der westdeutschen Debatte: J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt 1973; C. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, ebd. 1972. 62 Vgl. dazu Pye u. Verba Hg.; Almond u. Verba Hg.; v. Beyme, 189-208; ders., Politische Kultur u. politischer Stil, in: ders. Hg., Fs. C. J. Friedrich, Den Haag 1971, 352-74; P. V. Dias, Der Begriff ‚Politische Kultur’ in der Politikwissenschaft, in: Oberndörfer Hg., 409-48; D. Berg-Schlosser, Politische Kultur, München 1972. 63 Vgl. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 19612, 191. 64 Das betont u. a. Bendix (in: Fischer Hg., 214; Nation-Building, 15) mehrfach zu Recht. Vgl. dagegen T. Adorno, Bemerkungen über Statik u. Dynamik in der Gesellschaft, in: KZfS 8. 1956, 321-28. 65 Vgl. T. Parsons, Some Sociological Aspects of the Fascist Movements (1942), in: ders., Essays in Sociological Theory, Glencoe 19542, 124-41; ders., Democracy and Social Structure in Pre-Nazi Germany (1942), ebd., 104-23, dt. in: ders., Beiträge zur soziologischen Theorie, D. Rüschemeyer Hg., Neuwied (1964) 19682, 256-81. 66 Dazu gehört dann natürlich die gleichgewichtige Berücksichtigung von Konflikttheorien neben den funktionalistischen Integrations- bzw. Konsenstheorien, mithin auch die Anerkennung der stabilisierenden Funktion von Konflikten, wie das von Georg Simmel bis hin zu Lewis Coser (Theorie sozialer Konflikte, Neuwied 1965) und Ralf Dahrendorf (Soziale Klassen u. Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957; Pfade aus Utopia, München 1967; Konflikt u. Freiheit, ebd. 1972) immer wieder betont worden ist. 67 Vgl. die Arbeiten von Smelser (Anm. 21), Lipset (Anm. 10) und Rokkan (Anm. 57 u. 58), sowie die Beiträge in: S. M. Lipset u. S. Rokkan Hg., Party Systems and Voter Alignments, N. Y. 1967; E. Allardt u. Y. Littunen Hg., Ideologies and Party Systems, Helsinki 1964. – Die Verbesserungsvorschläge werden hier ganz vom Standort des Historikers aus vorgetragen. Ein Evolutionstheoretiker oder Politikwissenschaftler könnte an anderen Punkten ansetzen. 68 M. Weber, Wirtschaftsgeschichte, Berlin 19583, 302 u. 271, als Zusammenfassung zahlreicher anderer Stellen. Vgl. hierzu: G. Abramowski, Das Geschichtsbild M. Webers. Universalgeschichte am Leitfaden des okzidentalen Rationalisierungsprozesses, Stuttgart 1966; J. Dieckmann, M. Webers Begriff des „modernen okzidentalen Rationalismus“, Diss. Köln, Düsseldorf 1961; W. J. Mommsen, The Alternative to Marx: Dynamic Capitalism Instead of Bureaucratic Socialism, in: ders., The Age of Bureaucracy. Perspectives on the Political Sociolo-
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gy of M. Weber, Oxford 1974, 47-71; ders., M. Weber, Frankfurt 1974; ders., M. Weber als Kritiker des Marxismus, ebd., 144-81 (u. ZfS 3. 1974); ders., Soziologische Geschichte u. historische Soziologie, ebd., 182-207 (u. in: H.-U. Wehler Hg., Deutsche Historiker, Göttingen 1973, 299-324); R. Bendix, M. Weber. Das Werk, München 1964; ders. u. G. Roth; A. Giddens, Marx, Weber and the Development of Capitalism, in: Sociology 4. 1970, 289-310, dt. Marx, Weber u. die Entwicklung des Kapitalismus, in: C. Seyfarth u. W. M. Sprondel Hg., Seminar: Religion u. gesellschaftliche Entwicklung, Frankfurt 1974, 65-96; ders., Capitalism and Modern Social Theory. An Analysis of the Writings of Marx, Durkheim, and M. Weber, London 1971; H. S. Hughes, Consciousness and Society: The Reorientation of European Social Thought. 1890-1930, N. Y. 1958, 278335; K. Löwith, M. Weber u. K. Marx, in: ders., Ges. Abhandlungen, Stuttgart 1960, 1-67; J. Kocka, K. Marx u. M. Weber im Vergleich, in: Wehler Hg., Geschichte u. Ökonomie, 54-84; überarbeitet in: ders., Sozialgeschichte, Göttingen (1977) 19862, 9-47. Wie das im Grunde bei Levy und W. E. Moore (Social Change, Englewood Cliffs 1963, dt. Strukturwandel der Gesellschaft, München 19682) der Fall ist. Vgl. Auch J. P. Nettl u. R. Robertson, Industrialization, Development or Modernization? in: BJS 17. 1966, 274-91. Vgl. nur S. Eisenstadt, The Political Systems of Empires, N. Y. 19692. E. A. Wrigley, The Process of Modernization and the Industrial Revolution in England, in: JIH 3. 1972/73, 247, 258f.; vgl. ders., A Simple Model of London's Importance in Changing English Society and Economy, 1650-1750, in: P & P 37. 1967, 44-70, sowie S. Rothman, Modernity and Tradition in Britain, in: SR 28. 1961, 297-320, und Anm. 54. – Über eine „modernisierte”, aber nicht industrialisierte Landschaft in Holland s. H. K. Roessingh, Village and Hamlet in a Sandy Region of the Netherlands in the Middle of the 18th Century, in: Acta Historiae Nederlandicae 4. 1970, 105-29. Es gibt daher in der Modernisierungsdebatte nicht etwa nur eine WeberRenaissance, sondern mindestens zwei von Weber herkommende Schulen: die hochabstrakt-verallgemeinernde von Parsons und die historisch-restriktive von Bendix, um das mit zwei repräsentativen Namen abzukürzen. Beide können legitim an zwei bei Weber vorhandene Komponenten anknüpfen: an den Allgemeinheitsanspruch der soziologischen Kasuistik des Spätwerks und an die historisch vergleichenden Studien vorher. – Die wichtigsten Arbeiten von Bendix zu dieser Thematik finden sich in Anm. 9. Für eine Historisierung haben außer Eisenstadt, Rokkan, Lepsius, Zapf u. a. auch noch plädiert: A. F. K. Organski, The Stages of Political Development, N. Y. 19674; J. H. Kautsky Hg., Political Change in Underdeveloped Countries, N. Y. 1962, 3-119; L. Binder, Iran, Berkeley 1962, 158. Bendix, in: Fischer Hg., 179, 222, 227; ders., Nation-Building, 12, vgl. 39-126; ähnlich C. Geertz, Peddlers and Princes, Chicago 1968, 2. Dieser „Beginn der modernen Welt“ wird auch in dem in Anm. 7 genannten Sammelband des „Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte“ diskutiert.
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74 So hat z. B. Jürgen Kocka Gerschenkrons Überlegungen einer Analyse der Besonderheiten des deutschen Unternehmertums im 19. und frühen 20. Jahrhundert streckenweise zugrunde gelegt und dadurch aufschlußreiche Ergebnisse gewonnen, die sich dank der komparativen Vorzüge von Gerschenkrons Begriffen wiederum für den Vergleich eignen, also nicht nur nationalspezifische Eigentümlichkeiten herausarbeiten: J. Kocka, Expansion, Integration, Diversifikation. Wachstumsstrategien industrieller Großunternehmen in Deutschland vor 1914, in: H. Winkel Hg., Vom Kleingewerbe zur Großindustrie, Berlin 1975, 203-26; ders., Entrepreneurship in a Latecomer Country: The German Case, in: K. Nakagawa Hg., Order and Entrepreneurship, Tokio 1977, 149-90; ders., Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, Göttingen 1975. 75 Gerschenkron hat seine Vorstellungen von „relativer Rückständigkeit“ (im Verhältnis zu seinem ersten Maßstab: England, dann zu weiterentwickelten Ländern generell) und von der Substitution funktioneller Äquivalente mehrfach präzisiert: Economic Backwardness in Historical Perspective (1962), N. Y. 19652 (der Hauptaufsatz, 5-30, dt. in: Wehler Hg., Geschichte u. Ökonomie, 121-39 u. in: R. Braun u. a., Industrielle Revolution, Köln 1972, 59-78); ders., Continuity in History, Cambridge/Mass. 1968; ders., Europe in the Russian Mirror, Cambridge 1970, Zit. 98f., 107; ders., Die Vorbedingungen der europäischen Industrialisierung im 19. Jh., in: W. Fischer Hg., Wirtschafts- u. sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung, Berlin 1968, 21-28. Anregende Kritik: L. Barsby, Economic Backwardness and the Characteristics of Development, in: JEH 29. 1969, 449-64; vorzügliche Einordnung in: M. Hildermeier, Das Privileg der Rückständigkeit, in: HZ 244.1987, 557-603. 76 Zu optimistisch urteilen hier Rhodes und Brandt, vgl. gegen Brandt die Einwände von H. Schissler, in: ZfS I. 1972,281-84, u. dazu Brandt, ebd., 284-86. Man vergleiche auch einmal die differenzierten Ansätze der leistungsfähigen Modernisierungsforschung (Rokkan, Eisenstadt, Deutsch, Bendix, Lipset, Zapf usw.) mit neomarxistischen Texten, z. B. P. A. Baran, The Political Economy of Growth, N. Y. 1960, dt. Politische Ökonomie des wirtschaftlichen Wachstums, Neuwied 1966 (mit grobschlächtigen Kategorien); P. M. Sweezy, The Theory of Capitalist Development, N. Y. 1942, dt. Theorie der kapitalistischen Entwicklung, Köln 1959/Frankfurt 1970, oder auch, als Beispiel für die Theorie vom „Staatsmonopolistischen Kapitalismus“, die auch eine bestimmte „Modernisierungs“-Phase entwickelter Länder erfassen will: Der Imperialismus der BRD. Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED Hg., Berlin 19734. Vgl. dazu J. Kocka, Organisierter Kapitalismus oder Staatsmonopolistischer Kapitalismus? in: H. A. Winkler Hg., Organisierter Kapitalismus, Göttingen 1974, 19-35. – Auch nach der welthistorischen Zäsur von 1989/1991 mit dem Niedergang und Zerfall der meisten kommunistischen Diktaturen bleibt die Auseinandersetzung mit einer unorthodoxen marxistischen Gesellschaftstheorie ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit. 77 Vgl. hierzu S. Avineri, Marx and Modernization, in: Review of Politics 31. 1969, 172-88; ders., K. Marx on Colonialism and Modernization, Garden City 19692; ders. Hg., The Social and Political Thought of K. Marx, Cambridge 1968 u. ö.,
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150-74; L. J. Rudolph u. S. H. Rudolph, Marx, Modernity, and Mobilization, in: dies., The Modernization of Tradition, Chicago 1967, 18-29; R. C. Tucker, Marxism and Modernization, in: ders., The Marxian Revolutionary Idea, N. Y. 1969, 92-129; N. Birnbaum, Conflicting Interpretations of the Rise of Capitalism: Marx and Weber, in: BJS 4. 1953, 125-41, dt. Konkurrierende Interpretationen der Genese des Kapitalismus: Marx u. Weber, in: Seyfarth u. Sprondel Hg., 38-64; J. L. Peacock, Religion, Communications, and Modernization. A Weberian Critique of Some Recent Views, in: Human Organization 28. 1969, sowie die einschlägige Lit. in Anm. 68. Darin bestand nach Marx die historische Aufgabe britischer Kolonialherrschaft in Indien. Marxʼ Urteil ist hier ganz so schroff formuliert wie früher das von Engels über die ebenfalls mangels eines autochthonen Entwicklungspotentials angeblich zum Untergang verurteilten Balkanslawen, vgl. H.-U. Wehler, Sozialdemokratie u. Nationalstaat, Göttingen 19712, 29-31. Belege z. B. in Avineri. Die Zitate aus Zapf, 10. Zur Kritik an Marxschen Grundannahmen vgl. v. a. J. Habermas, Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt 1975; ders., Legitimationsprobleme; ders., Bedingungen für eine Revolutionierung spätkapitalistischer Verhältnisse, in: Marx u. die Revolution, Frankfurt 1970, 2444, u. in: ders., Kultur u. Kritik, ebd. 1973, 70-86, sowie seine Einl. zu: ders., Theorie u. Praxis, ebd. 19714, 9-47. Dazu vorzüglich: W. Schluchter, Aspekte bürokratischer Herrschaft, München 1972/ ND Frankfurt 1985: vgl. I. Fetscher, Marxismus u. Bürokratie, in: ders., K. Marx u. der Marxismus, München 1967, 163-81; T. Leuenberger, Bürokratisierung u. Modernisierung der Gesellschaft, Bern 1975. Hierzu ist die Kritik von C. Helberger (Marxismus als Methode, Frankfurt 1974, 99-113, 166, 194) sehr überzeugend und klar begründet. Die Zitate stammen aus dem einleuchtenden Argumentationszusammenhang von Zapf (Anm. 1). Vgl. D. Lerner (Passing of Traditional Society, 46-75, dt. z. T. Die Modernisierung des Lebensstils, in: Zapf Hg., 362-81), der die allgemeine Ausbildung gesteigerter Empathie (Einfühlungs- und auch Anpassungsvermögen) geradezu als zentralen Vorgang innerhalb der Modernisierung bewertet; vgl. A. Inkeless, The Modernization of Man, in: M. Weiner Hg., 138-53; F. J. Greenstein, Personality and Politics, Chicago 1969; L. W. Pye, Politics, Personality, and Nation Building, New Haven (1962) 19685; ders., Aspects of Political Development, Boston 1966; ders., Personal Identity and Political Ideology, in: D. Marvick Hg., Political Decision Makers, N. Y. 1961, 290-313, auch in: B. Mazlish Hg., Psychoanalysis and History, N. Y. 19712, 150-73, dt. Persönlichkeit u. politische Ideologie, in: E. Krippendorff Hg., Political Science, Tübingen 1966, 29-55; D. C. McClelland, The Achieving Society, Princeton 1961, dt. gek. Die Leistungsgesellschaft, Stuttgart 1966; z. T. auch Hagen; G. Platt u. F. J. Weinstein, The Wish to be Free. Society, Psyche, and Value Change, Berkeley 1969; F. I. Greenstein, Personality and Political Socialization, in: Annals 361. 1965, 81-95; ders., The Impact of Personality on Politics, in: APSR 61. 1967, 629-41; ders., The Need for
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Systematic Inquiry into Personality and Politics, in: JSI 24. 1968, 1-14; ders., Personality and Politics, in: S. M. Lipset Hg., Politics and the Social Sciences, N. Y. 1969, 163-206; N. J. Smelser, Personality and the Explanation of Political Phenomena at the Social-System Level, in: JSI 24. 1968, 111-26; A. Inkeles u. D. S. Levinson, National Character: The Study of Modal Personality and SocioCultural Systems, in: G. Lindzey u. E. Aronson Hg., Handbook of Social Psychology, Cambridge/Mass. 1968; R. D. Brown, Modernization and the Modern Personality in Early America, 1600-1865, in: JIH 2. 1972, 201-28; K. Kenniston, Psychological Development and Historical Change, in: ebd., 329-45; R. L. Bushman, From Puritan to Yankee. Character and the Social Order in Connecticut, 1690-1765, Cambridge/Mass. 1967; M. Walzer, Puritanism as a Revolutionary Ideology, in: HT 3. 1963, 59-90. S. auch allg.: L. Little, Psychology in Recent American Historical Thought, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences 5. 1969, 152-72, sowie die Lit. in: H.-U. Wehler Hg., Geschichte u. Psychoanalyse, Berlin 19742, 167-75; ders. Hg., Soziologie u. Psychoanalyse, Stuttgart 1972, 169-73. Marx-Engels-Werke 39, 428; 37, 411. Vgl. ebd., 27, 452; K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1963, 111. – Wenn E. Nolte (Ideologie, Engagement, Perspektive, in: G. Schulz Hg., Geschichte heute, Göttingen 1973, 304 u. 306, Anm. 289) sich an „eine(r) vergleichende(n) Analyse der Prozeßstrukturen der ‚Industrialisierung‘“ interessiert zeigt, aber zugleich meint, eine solche Analyse „ließe sich am angemessensten als Phänomenologie der praktischen Transzendenz charakterisieren“ (nach ders., Der Faschismus in seiner Epoche, München 19723), fragt man sich, ob diese Aufgabe – anstatt sie in einer gespreizten Terminologie anzugehen – von der differenzierten historischen Modernisierungstheorie nicht hic et nunc weitaus angemessener wahrgenommen werden kann. Diese Bilanz wird hier mit den Worten eines gut informierten Vertreters der Modernisierungsforschung wiedergegeben: Zapf, SW 26, 14, 11. Ganz ähnlich: Eisenstadt, unten Anm. 100. G. A. Almond, Approaches to Developmental Causation, in: ders. u.a. Hg., Crisis, 22, vgl. 1-42; S. N. Eisenstadt, Varieties of Political Development. The Theoretical Challenge, in: ders. u. Rokkan Hg., 41-72 (zugleich noch einmal eine Zusammenfassung der bisherigen Kritik); S. Rokkan, Cities, State, and Nations. A Dimensional Model for the Study of Contrasts in Development, in: ebd., 7398, v. a. 88; ders., Nation-Building, Cleavage Formation, and the Structuring of Mass Politics, in: ders., Citizens, 72-114; ders., The Structuring of Mass Politics in the Smaller European Democracies, in: CSSH 19. 1967/68, 173-210; ders., The Comparative Study of Political Participation, in: A. Ranney Hg., Essays on the Behavioral Study of Politics, Urbana 1962, 47-90, auch in: ders., Citizens, 13-45 (vgl. zu Rokkan auch Flora, Modernisierungsforschung, 56-59, 71-78); S. M. Lipset, Einleitung zu: T. H. Marshall, Class, Citizenship, and Social Development, N. Y. 1965, V-XXII; Zapf Hg., Einleitung; ders., Materialien zur Theorie des sozialen Wandels, Habil.-Schrift, Konstanz 1967, MS; ders., Wandlungen der deutschen Elite, 1919-1961, München (1965) 19662; Flora, Modernisierungs-
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forschung; s. auch J. Galtung, Theory and Methods of Social Research, Oslo 1967, und den Sammelband von C. Tilly Hg. – Vgl. außerdem noch allgemein zur Historisierungstendenz in der Soziologie: R. Krekel, Soziologische Erkenntnis u. Geschichte, Opladen 1972; R. König, Einige Bemerkungen über die Bedeutung der empirischen Forschung in der Soziologie, in: ders. Hg., Handbuch der empirischen Sozialforschung II, Stuttgart 1969, 1284, 1287; H.-U. Wehler, Geschichte u. Soziologie; ders. Hg., Geschichte u. Soziologie. Beiläufig nur sei hier auch die Frage aufgeworfen, warum ähnlich konsequente Schlüsse aus Erfahrungen von Vertretern der Politikgeschichte hierzulande nicht gezogen werden. Ist es eine Folge mächtiger Traditionen, unterschiedlicher wissenschaftlicher Sozialisation oder dramatisierter politischer Erfahrungen seit 1967/68, daß aus einer Krise der Politikgeschichte heraus nicht ebenso dezidiert, wie sich die Modernisierungsforschung der Geschichtswissenschaft nähert, der Anschluß an die Sozialwissenschaften gesucht wird? Vgl. zu dieser Problematik: H.-U. Wehler, Moderne Politikgeschichte oder „Große Politik der Kabinette“? in: GG 1. 1975, 344-69; auch in: Krisenherde, 19792, 383-403. Auf diesen Bereich soll die Erörterung, eigenen Interessen folgend, eingegrenzt werden. Damit wird natürlich keineswegs der Nutzen eines klar herausgearbeiteten Idealtypus okzidentaler Modernisierung und erst recht historischer Theorien dieser Prozesse für Untersuchungen über andere Regionen bestritten. Im Gegenteil, diese würden, wie vorn ausgeführt, außerordentlichen Nutzen daraus ziehen. Dabei kann selbstverständlich auf eine riesige historische Literatur zurückgegriffen werden, die – um ein Beispiel anzuführen – den Prozeß der neuzeitlichen „Staatsbildung“ differenziert erfassen hilft. Die Bereitschaft der Modernisierungsforschung, ihren „Präsentismus“ aufzugeben und diese historischen Vorarbeiten heranzuziehen, ist, wie gesagt, fraglos gewachsen. Bendix, in: Zapf Hg., 506, 510f. Vgl. dazu A. de Tocquevilles (Memoirs, Letters, and Remains I, London 1861, 423) eindrucksvolle Beschreibung dieser Entwicklung: „Society is not in process of modification, but of transformation.“ Vgl. Anm. 2, auch noch N. J. Smelser, Notes on the Methodology of Comparative Analysis of Economic Activity, in: Transactions of the 6. World Congress of Sociology II, Evian 1966, 101-17, und Anm. 81. Vgl. die Arbeiten der Tillys: Popular Disorders in 19th Century Germany, in: JSH 5. 1971/72, 1-40; C. Tilly, Collective Violence in European Perspective, in: H. D. Graham u. T. R. Gurr Hg., The History of Violence in America, N. Y. 19703, 4-45; ders., The Changing Place of Collective Violence, in: M. Richter Hg., Essays in Theory and History, Cambridge/Mass. 1970, 139-64; ders., How Protest Modernized in France, 1845-1855, in: W. O. Aydelotte u. a. Hg., The Dimensions of Quantitative Research in History, London 1972, 192-255; ders., The Modernization of Political Protest in France, in: E. B. Harvey Hg., Perspectives on Modernization, Toronto 1972; ders., Revolutions and Collective Violence, in: F. J. Greenstein u. N. Polsby Hg., Handbook of Political Science III, Reading/Mass. 1975, 483-555; E. Shorter u. ders., The Shape of Strikes in France, 1830-1960, in: CSSH 13. 1971, 60-86; dies., Strikes in France, 18301968, Cambridge 1974; L. Tilly, La révolte frumentaire, in: Annales 27. 1972,
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731-57. – Zur Stratifikationsproblematik: J. Kocka, Theorien in der Sozial- u. Gesellschaftsgeschichte, in: GG 1. 1975, 9-42, u. H.-U. Wehler Hg., Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, sowie die wichtigste Lit. in: ders., Bibliographie zur neueren deutschen Sozialgeschichte, München 1993, 100-22. 94 Vgl. Anm. 84 u. die Arbeiten von Flora; L. Stone Hg., The University in Society, 2 Bde, Princeton 1974. 95 Vorzüglich hierzu die Erörterung von Helberger. – Gewiß gilt auch hier die allgemeine Faustregel, daß eine gute Theorie noch keineswegs die volle Gewähr bietet, daß alle Resultate der von ihr angeleiteten Forschung nützlich und richtig sind (vgl. die Überlegungen von K. W. Deutsch, On Political Theory and Political Action, in: APSR 65. 1971, 15, wo freilich der Gedanke an eine im voraus „konstruierte“ Theorie vorherrscht). Aber der historische, auf räumlich-zeitliche Eingrenzung und Empirie beruhende Charakter der neueren Modernisierungstheorie bietet doch eine gewisse, wenn auch immer nur vorläufige Sicherheit auch für anspruchsvollere, d. h. europäische und amerikanische Verhältnisse miteinander vergleichende Arbeiten. 96 Insofern entspricht sie auch einleuchtenden Forderungen Max Webers in seinem „Objektivitäts“-Aufsatz (Anm. 63). 97 Flora, Modernisierungsforschung, 78. 98 Nach Kocka, in: Winkler Hg.; ders., Diskussionsbeitrag, in: H. Mommsen u. a. Hg., Industrielles System u. politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, 957-59, 981-83; H.-U. Wehler, Anwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft, in: ders., Histor. Sozialwissenschaft u. Geschichtsschreibung, Göttingen 1980, 206-23. 99 Es könnten auch wichtige Aspekte der deutschen Geschichte zwischen 1789 und 1990 mit Hilfe der Krisentypologie der CCP interpretiert werden. Ähnlich ließe diese sich im Hinblick auf die Vereinigten Staaten vom Ende des Krieges gegen Mexiko bis zur Gegenwart aufgreifen. 100 Vgl. The New Cambridge Modern History, 12 Bde, 1957-70; Handbuch der Europäischen Geschichte, T. Schieder Hg., 7 Bde, Stuttgart 1968-87. Ähnliche Überlegungen: Zapf (Anm. 1) und S. N. Eisenstadt, Studies of Modernization and Sociological Theory, in: HT 13. 1974, 225-52; ders., Some Reflections on Political Sociology and the Experience of Modernizing Societies, in: Desai Hg. I, 175-94; A. R. Desai, Need for Revaluation of the Concept, in: ebd., 458-74.
V. „Kaiserreich“ und „Sonderweg“
Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 Einleitung* H ANS -U LRICH W EHLER
Eine Geschichte des Deutschen Kaiserreichs von 1871 kann heute meines Erachtens nicht mehr im Stil der herkömmlichen Ereigniserzählung geschrieben werden. Denn wenn man weiter auf den Darstellungs- und Interpretationskonventionen der deutschen Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert beharrt, wenn man sich fügsam innerhalb der dominierenden Zunfttradition mit ihrem verengten Begriff „der“ Politik bewegt, wenn man die nur historisch erklärbaren Grenzzäune zwischen den historischsozialwissenschaftlichen Fächern respektiert – dann kann man schwerlich berechtigten Ansprüchen an ein neues Buch, in dem hundert Jahre nach der Reichsgründung eine kritische Bilanz zu ziehen versucht wird, gerecht werden. Richten sich diese Ansprüche doch darauf, daß Information mit Erklärung verbunden wird, daß die Entwicklungslinien in Wirtschaft und Gesellschaft verfolgt und auch von daher politische Entscheidungsprozesse transparent gemacht werden, daß nach den Bedingungen und den Folgen dieser Entwicklungen und Entscheidungen gefragt wird. Da aber die überkommene historische Darstellung: der chronologische Bericht über die Ereignisgeschichte, nicht nur anfechtbar ist, sondern auch dem analytischen historischen Interesse unserer Zeit zuwiderläuft, wird man einen legitimen Weg aus diesem Dilemma heraus in der problemorientierten historischen Strukturanalyse der deutschen Gesellschaft und ihrer Politik in den fünfzig Jahren zwischen 1871 und 1918 erblicken dürfen. Die Auswahl der Probleme und Strukturelemente, die dabei in den Mittelpunkt rücken, wird selbstverständlich durch erkenntnisleitende Interessen bestimmt. Auf einige ist hier vorab hinzuweisen. Sie sind 1. mit dem Fundamentalproblem der modernen deutschen Geschichte seit den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts verknüpft, mit der Er*
Hans-Ulrich Wehler, Einleitung, in: ders., Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, 3. durchg. u. bibliograph. erg. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977, S. 11-18.
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klärung des verhängnisvollen Sonderwegs der Deutschen, vor allem seit dieser Zeit. Immer wieder wird es daher, ohne daß die westeuropäisch-nordamerikanische Entwicklung mit ihren vergleichbaren Problemen zu positiv gezeichnet werden soll, um die Frage nach den eigentümlichen Belastungen der deutschen Geschichte gehen, nach den schweren Hemmnissen, die der Entwicklung zu einer Gesellschaft mündiger, verantwortlicher Staatsbürger entgegengestellt worden sind – oder sich ihr entgegengestellt haben –, nach dem zielstrebigen und nur zu erfolgreichen Widerstand erst gegen eine liberale, dann gegen eine demokratische Gesellschaft, einem Widerstand mit fatalen Folgen, sofort oder später. Ohne eine kritische Analyse dieser historischen Bürde, die namentlich im Kaiserreich immer schwerer geworden ist, läßt sich der Weg in die Katastrophe des deutschen Faschismus nicht erhellen. Und so wenig auch die neuere deutsche Geschichte ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt von Aufstieg und Untergang des Nationalsozialismus beurteilt werden soll, so unausweichlich ist es doch, vorrangig von diesem Problem auszugehen. Nur ein Dutzend Jahre nach dem Ende des Kaiserreichs stand die „Machtergreifung“ Hitlers bevor. Wie könnte man bei einem Erklärungsversuch ohne die historische Dimension und das heißt auch immer: die Geschichte des Kaiserreichs auskommen? 2. Zum zweiten aber – und das hängt aufs engste mit der Problemwahl zusammen – wird hier die Geschichtswissenschaft als eine kritische Gesellschaftswissenschaft verstanden, die zwar den verschiedenen „Temporalstrukturen“ (R. Koselleck) der Geschichte voll Rechnung trägt, aber vor allem auch bewußt zur Schärfung eines freieren, kritischen Gesellschaftsbewußtseins beitragen möchte. Anders gesagt: Hier wird sowohl nach dem Sinn gefragt, an dem historische Akteure im Erfahrungshorizont ihrer Zeit sich orientiert haben, als auch nach demjenigen Sinn, den historische Aktionen unter theoretischen Gesichtspunkten von heute annehmen können. Beiden Aufgaben muß sich der Historiker stellen, nicht nur der ersten, wie es einer Illusion des späten Historismus entsprach. Die emanzipatorische Aufgabe einer derart verstandenen Geschichtswissenschaft besteht dann darin, ideologiekritisch den Nebel mitgeschleppter Legenden zu durchstoßen und stereotype Mißverständnisse aufzulösen, die Folgen von getroffenen oder die sozialen Kosten von unterlassenen Entscheidungen scharf herauszuarbeiten und somit für unsere Lebenspraxis die Chancen rationaler Orientierung zu vermehren, sie in einen Horizont sorgfältig überprüfter historischer Erfahrungen einzubetten. In diesem Sinn wird sich das Wort von der „Historia Magistra Vitae“ erneut bewähren können: für das Verhalten demokratischer Bürger in einem Gemeinwesen, zu dessen Geschichte noch immer spürbar auch das Kaiserreich gehört. Der Standpunkt, von dem aus bestimmte Probleme herausgegriffen und beurteilt werden, sollte mithin dem Leser nicht unklar bleiben, obwohl der vorläufig noch sehr allgemeine Umriß erst bei der Problemanalyse schärfere Konturen gewinnen kann. Von jener esoterischen Schule, die Geschichte „um ihrer selbst willen“ betreibt,
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unterscheidet er sich ebenso wie vom gegenwärtigen Neohistorismus mit seiner verfeinerten Apologie des jeweiligen Status quo. Es ist ein verbreiteter Irrtum, der zeitliche Abstand als solcher eröffne bereits automatisch die Perspektiven, die ein sicheres Urteil begünstigen. So wird zwar häufig eine pseudotheoretische Grundlage der Geschichtsschreibung beschrieben. Diese Rede von der zeitlichen Distanz verschleiert aber nur die Notwendigkeit historischer Theorie, ganz gleich, wie weit die zu interpretierende Vergangenheit zurückliegt. Das ist ein Tatbestand, über den sich die wissenschaftliche Zeitgeschichte, die Historische Soziologie und die Politikwissenschaft weniger Täuschungen leisten können. Global formuliert besteht das Koordinatensystem, in das die folgende Strukturanalyse eingespannt ist, aus drei miteinander verzahnten Komplexen: 1. dem ungleichmäßigen, oft gestörten, seinem Säkulartrend nach aber anhaltenden industrie- und agrarwirtschaftlichen Wachstum; 2. dem sozialen Wandel der Gesamtgesellschaft, ihrer Gruppen und Klassen – auch innerhalb dieser und im Verhältnis zueinander als Voraussetzung, Begleiterscheinung und Folge der ökonomischen Entwicklung; 3. der Politik als Kampf um Machtchancen und als Resultat der gesellschaftlichen Kräftekonstellationen unter dem Primat der Systemerhaltung oder -veränderung. Auch die Wirksamkeit handlungsbestimmender Ideologien läßt sich innerhalb dieses Dreiecks hinreichend genau bestimmen, handle es sich nun um Antisemitismus und Sozialdarwinismus, Pangermanismus oder Anglophobie. Und ganz wie die Gegenwart aus der Vergangenheit, so kann auch oft die Vergangenheit mit Hilfe der Gegenwart, d. h. moderner sozialwissenschaftlicher Kategorien und Modelle (z. B. Rolle, Status, Bezugsgruppe, Persönlichkeitstyp) erklärt werden. Diese besitzen einen so hinreichend hohen Allgemeinheitsgrad auch für die Analyse von historischen Sozialstrukturen, daß der berechtigte Ruf nach zeitadäquater Begriffsbildung den heuristischen Nutzen dieser theoretischen Instrumente nicht zu entwerten vermag. Damit ist noch nichts über die Priorität eines dieser Bereiche gesagt. Logisch zwingend kann auch vorab nicht darüber entschieden werden: Erst der „Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten“,1 vom theoretischen Orientierungsschema zur empirischen Analyse kann sowohl die unterschiedlichen Schwerpunkte, als aber auch den interdependenten Zusammenhang dieser Komplexe deutlich machen. Mit Absicht steht jedoch das politische Herrschaftssystem im Mittelpunkt. Nicht nur, weil das die erklärte Intention dieser Reihe ist. Hier greifen vielmehr die sozialökonomischen und politischen Entwicklungsprozesse besonders folgenreich für die Gesamtgesellschaft ineinander. Ein Zentralproblem bildet dabei in unserem Zusammenhang die Verteidigung tradierter Herrschaftspositionen durch vorindustrielle Eliten gegen den Ansturm neuer Kräfte – ein Defensivkampf, der mit der Erosion
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der ökonomischen Fundamente dieser privilegierten Führungsschichten nicht nur immer schroffer geworden ist, sondern langfristig dank der erzielten Erfolge immer gefährlichere Spannungen erzeugt und ein böses Erbe angesammelt hat. Diesem Bündel von Leitperspektiven sind noch drei hinzuzufügen: die Frage nach dem „Gründungs“-Problem, nach der Kontinuität von 1871 bis 1945 und nach dem Gegenmodell als einem der Wertmaßstäbe, mit denen der Geschichtsverlauf beurteilt wird. 1. Aus der Individual- und Sozialpsychologie, aber auch aus der Geschichte zeitgenössischer Entwicklungsländer ist die buchstäblich grundlegende Bedeutung der formativen Anfangsperioden in der Geschichte der Individuen und Gruppen bekannt. In dieser Phase werden oftmals die Weichen für die spätere Entwicklung gestellt, Verhaltensmuster eingeschliffen, Sozialideologien fest verankert. Diese Prägung erfahren auch gesellschaftliche Großgruppen wie Nationen, vor allem in Epochen der Revolution oder der staatlichen Neugründung, mithin auch das Deutsche Reich von 1871. „Über den Ländern bilden sich“ dann, um es in der Metapher von Eugen RosenstockHuessy auszudrücken „geistige Klimata“, die lange Zeit über ihnen „stehen bleiben“.2 Unverkennbar hat auch die Gründungsperiode des neuen deutschen Staates von 1866 bis 1879 diesen Charakter einer Inkubationsphase, in der über vieles entschieden, vieles festgemacht wurde, das dann lange gehalten hat. Auf den eigentümlichen Charakter der Konstellation der Reichsgründungszeit: die Überschneidung von Agrarrevolution, Industrieller Revolution und Staatsbildung wird sogleich im 1. Kapitel eingegangen, und der mühsame, vielfach blockierte Weg in die moderne Industrielle Welt wird in den drei folgenden Kapiteln unter wechselnden Aspekten nachgeschritten werden. Jedoch muß dazu unverzüglich eine grundsätzliche Überlegung zu bedenken gegeben werden. Unstreitig ist, auch in universalgeschichtlicher Perspektive, die Industrialisierung eine der großen Bewegungskräfte der modernen Welt, aber es ist die Frage, ob nicht von (und in) der Agrargesellschaft langfristig wirksame Vorentscheidungen getroffen worden sind, die die Entwicklung der Industrialisierung fundamental, jedenfalls auf lange Zeit, mitbeeinflußt haben. Diese Auffassung ist unlängst allgemein in vergleichenden Studien von Barrington Moore, im Hinblick auf die reichsdeutsche Geschichte besonders von Hans Rosenberg pointiert vertreten worden.3 Um es vorweg zu sagen: Es spricht in der Tat sehr viel dafür, daß gerade auch in Deutschland nach 1866/71 wichtige ökonomische, gesellschaftliche und politische Entscheidungen im Interesse der agrargesellschaftlichen Führungseliten gefällt worden sind, die dann aufs Nachhaltigste die Entfaltung der reichsdeutschen Industriegesellschaft mitbestimmt haben. Ja, ein Gutteil der auffälligen Diskrepanzen und „Verwerfungen“ dieser Gesellschaft läßt sich eben darauf zurückführen. Als einer der Grundkonflikte des Kaiserreichs: der Status-quo-Verteidigung gegen die unaufhaltsame politische Mobilisierung von Bürgern eines Industriestaats wird
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diese Problematik mehrfach thematisiert werden. Es mag Friedrich Engels aufs Ganze gesehen mit seinem Urteil ja durchaus Recht haben, daß „alle Regierungen, seien sie noch so selbstherrlich, ... ,en dernier lieu‘ nur die Vollstrecker der ökonomischen Notwendigkeit der nationalen Situation“ sind. „Sie mögen diese Aufgabe in verschiedener Weise – gut, schlecht oder leidlich – besorgen; sie mögen die ökonomische Entwicklung und die politischen und juridischen Konsequenzen beschleunigen oder aufhalten, ,à la longue‘ müssen sie ihr folgen“.4 Nur wird man sich hüten müssen, unter ökonomisch allein industriewirtschaftlich zu verstehen, denn es kann eine Staatsleitung fraglos als „ökonomische Notwendigkeit“ auch die Bedürfnisse einer niedergehenden Agrarwirtschaft verstehen – und politisch danach handeln, in dem sie bemerkenswert „à la longue“ keineswegs dem Niedergang „folgt“. Das gilt bis heute. 2. Das Kontinuitätsproblem in der modernen deutschen Geschichte wird im Grunde erst wieder seit der Debatte über die Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg ernsthaft diskutiert. Bis dahin war es konservativen Historikern gelungen, eine selbstkritische Diskussion zu ersticken – man denke nur an die Abwürgung der Militarismusdiskussion durch Gerhard Ritter oder an die ursprüngliche Reaktion auf Karl-Dietrich Brachers Sezierung des Weimarer Zerfalls –, um die, verglichen mit Weimar und Hitlers Deutschland, angeblich heile Welt vor 1914 zu verteidigen. Mit einer gewissen Kurzatmigkeit wurden auch von anderen Sozialwissenschaftlern die Hauptursachen für den Nationalsozialismus überwiegend in der Zeit nach 1918 gesucht. Nun steht es der Geschichtswissenschaft, der die historische Kontinuität zu Recht als Kernbegriff gilt, ohnehin schlecht an, diese Kategorie nurmehr mit tausend Vorbehalten anzuwenden oder statt ihrer die Diskontinuität zu kultivieren, obwohl es natürlich Brüche und neues Beginnen gibt. Welche Gründe auch immer für diese Scheu verantwortlich waren – meist handelte es sich doch um einen mehr oder weniger bewußten oder explizit gerechtfertigten Eskapismus, der die nationalsozialistische Politik als angeblich illegitimes Ergebnis der deutschen Geschichte verdrängen wollte, statt sie zuerst einmal als ein Resultat tief verwurzelter Kontinuitäten eben dieser Geschichte anzuerkennen. Die beliebte Formel von der allgemeinen Krise des Nationalstaates, der Demokratie, der Industriegesellschaft half hier, genau gesehen, auch nicht weiter, als den Vergleich mit weniger bedrohlichen Fehlentwicklungen in anderen Ländern zu einer beruhigenden Apologie zu mißbrauchen. Das Problem des deutschen Radikalfaschismus mit seiner Kriegspolitik im Inneren und nach außen ist unstreitig nicht ein allgemeines Problem okzidentaler Gesellschaften, „sondern zunächst eins der besonderen Bedingungen der deutschen Gesellschaft vor 1933“.5 Die Mehrzahl dieser Bedingungen, wenn auch nicht alle wichtigen, ist im Kaiserreich zu finden oder als Ergebnis seiner Politik aufzufassen. Man wird es ja verstehen können, daß einer älteren Generation das kleindeutsche Großpreußen von 1871 als Erfüllung nationaler Wünsche galt; daß nach 1918 für viele ein kritisches
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Urteil so bald schwer möglich war; daß auch ein starkes psychisches Bedürfnis nach 1945 bestand, die Epoche der kaiserlichen Reichseinheit zu idealisieren und von der „Verfallsgeschichte“ seit 1918, zumindest des „Dritten Reiches“ scharf abzuheben. Die Folgen dieser Haltungen sind jedoch nachweisbar unheilvoll gewesen. Heute tritt in einem kritischen Rückblick die Kontinuität von 1871 bis 1945 – auf einigen Gebieten auch noch darüber hinaus – klar hervor; einzelne Entwicklungsstränge dieser Kontinuität, vor allem die eigentlichen „Krisenherde“6, werden im folgenden näher analysiert werden. Unverkennbar jedoch hingen – und hängen – die Bedenken gegenüber dieser Kontinuitätsdiskussion auch mit der Theoriefeindschaft und Theoriearmut der deutschen Historiographie zusammen. Ohne die Ausnutzung von Theorien benachbarter Sozialwissenschaften läßt sich aber weder die politische Ereignisgeschichte, noch ein zu wenig reflektierter historischer Verstehensbegriff positiv überwinden. Die traditionale Haltung der politisch meist konservativ oder nationalliberal eingestellten deutschen Historiker verdichtete sich nach 1871 zu einer Kollektivmentalität, die mit Hilfe effektiver Zulassungs- und Verteidigungsmechanismen Andersmeinende aus der „Zunft“ fernhielt und ihnen dann ein „wissenschaftliches“ Geschichtsbild absprach; ihre wissenschaftstheoretisch konservative Haltung, die auf sozialkonservativem Nährboden ohnehin bevorzugt gedeiht, verhinderte andererseits die Rezeption neuer Forschungsansätze. Diese beiden sich gegenseitig verstärkenden Prozesse haben jedenfalls das Resultat gehabt, jahrzehntelang eine kritische Analyse deutscher Kontinuitätsprobleme zu blockieren. Nur beiläufig sei erwähnt, daß sie auch die völlige Wehrlosigkeit der Universitätshistoriker gegenüber dem Nationalsozialismus und ihre fast reibungslose Anpassung mit herbeigeführt haben. Vor 1914 war hier angelegt, was zwischen 1933 und 1945 unübersehbar deutlich wurde.7 3. Der kritischen Bewertung des realhistorischen Verlaufs der deutschen Geschichte liegt die Auffassung zugrunde, daß zu der fortschreitenden ökonomischen Modernisierung der deutschen Gesellschaft eine Modernisierung der Sozialverhältnisse und Politik gehört hätte. Der Industrialisierung mit ihrer permanenten technologischen Revolution, institutionellen Umformung und sozialen Veränderung hätte eine Entwicklung in Richtung auf eine Gesellschaft rechtlich freier und politisch verantwortlicher, mündiger Staatsbürger mit Repräsentativkörperschaften entsprochen, von deren Vertretern die Verantwortung für die Politik zu tragen war. Alle Parlamentarisierungsund Demokratisierungsfragen vor 1918 hingen hiermit zusammen. Die eigentliche Aufgabe der deutschen Politik nach dem Durchbruch der Industriellen Revolution zwischen 1850 und 1873 bestand mithin darin, Deutschland „bewußt und endgültig auf die Bahn der modernen Entwicklung zu leiten, seine politischen Zustände seinen industriellen Zuständen anzupassen“ (F. Engels). Das hat aber von den „beiden stärksten politischen Köpfen Deutschlands“ seit 1870 allein Engels bejaht, Bismarck dagegen mit
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schlimmen Ergebnissen nur zu wirksam bekämpft.8 Dabei sollte Industrialisierung nicht im Sinne einer ökonomistisch-technokratischen Auffassung als autonomer, allein das Entwicklungstempo bestimmender Faktor verstanden, sondern in den sozio-politischen Kontext eingebettet werden. Demokratisierung gilt daher auch nicht als nahezu automatisches, nur mit einem gewissen „Lag“ nachfolgendes Ergebnis der Industrialisierung, sondern sie muß von gesellschaftlichen Kräften erkämpft werden, da sie am ehesten eine der sozialökonomischen Entwicklung und den politischen Ideen der Moderne adäquate Verfassung darstellt. Diese notwendige Synchronisierung von sozialökonomischer und politischer Entwicklung ist im Kaiserreich bis zuletzt vereitelt worden. Ob sie freilich im Kräftefeld der Zeit überhaupt zu realisieren war, wird noch eingehender zu prüfen sein. Vielleicht liegt hierin: im realen Stärkeverhältnis der gesellschaftlichen Antagonisten das eigentliche Dilemma der deutschen Politik. Eine partielle Modernisierung unter konservativer Ägide ist auch im Gehäuse des Kaiserreichs möglich gewesen, jedoch um den Preis ungeheurer Disparitäten in der Sozial- und Machtstruktur, mit Konsequenzen bis 1945. Gerade eine ökonomisch erfolgreiche Modernisierung ohne die Ausbildung einer freiheitlichen Sozial- und Staatsverfassung wirft aber auf die Dauer Probleme auf, die auf dem Wege friedlicher Evolution kaum mehr gelöst werden können. Daran, und nicht nur an dem verlorenen Weltkrieg, den seine Führung auf der Flucht vor innerer Veränderung bewußt riskiert hat, ist das Kaiserreich zerbrochen. Kriegsauslösung, Niederlage und Revolution, die sein Ende besiegelt haben, resultierten aus der Unfähigkeit, im Frieden die Staats- und Gesellschaftsstruktur den Bedingungen eines modernen Industriestaates anzupassen.
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ANMERKUNGEN 1
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K. Marx, Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie (1857). MEW (s. Verzeichnis der Abkürzungen S. 240) 13. 1961, 632. – Belegt werden im allgemeinen nur Zitate. Die Bibliographie im Anhang V.3 gibt in der Reihenfolge der nummerierten Abschnitte einen knappen Überblick über die wichtigste Literatur. E. Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen u. der Charakter der Nationen. Stuttgart ³1962, 526. B. Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur u. Demokratie. Frankfurt ²1971; H. Rosenberg, Probleme der deutschen Sozialgeschichte. Frankfurt 1969; ders., Große Depression u. Bismarckzeit. Berlin 1967. F. Engels an Danielson, 18.6.1892. MEW 38. 1968, 365. R. Dahrendorf, Demokratie u. Sozialstruktur in Deutschland, in: ders., Gesellschaft u. Freiheit. München 1961, 262. Vgl. dazu H.-U. Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs 1871-1918. Göttingen 1970, 12 f. K. F. Werner, NS-Geschichtsbild u. Geschichtswissenschaft. Stuttgart, 1967, 97. F. Engels, 1887/88. MEW, 21. 1962, 454; A. Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik. Frankfurt 131971, 95.
Nach dem Ende des Sonderweges Zur Tragfähigkeit eines Konzepts* J ÜRGEN K OCKA
Vergleiche eröffnen der Geschichtswissenschaft große Erkenntnismöglichkeiten. Nicht ohne Grund ist der Vergleich als „Königsweg“ historischsystematischer Erkenntnis bezeichnet worden. Andererseits können Vergleiche auch zu problematischen Ergebnissen führen, wenn sie methodisch nicht gründlich durchdacht werden oder empirisch auf der Oberfläche bleiben. Auch empfiehlt es sich in vielen Fällen, den auf die Herausarbeitung von Ähnlichkeiten und Unterschieden konzentrierten Vergleich durch einen beziehungsgeschichtlichen Zugriff zu ergänzen, der die gegenseitige Beeinflussung der verglichenen Einheiten thematisiert: Prozesse der Verflechtung, des Transfers und der Abstoßung zwischen ihnen, die ihr Verhältnis über Ähnlichkeiten und Unterschiede hinaus bestimmen und (teilweise) erklären können. Christoph Kleßmann hat dies in seiner Analyse der deutschen Geschichte in der Phase der Zweistaatlichkeit vorbildlich gezeigt.1 Schließlich sollte mitbedacht werden, daß die Wahl von Vergleichszielen und Vergleichspartnern oft keine rein wissenschaftliche Frage darstellt, sondern von außerwissenschaftlichen Faktoren mitentschieden wird.2 Im folgenden sollen einige der sich damit stellenden Probleme am Beispiel der Debatte über den „deutschen Sonderweg“ aufgerollt werden. Diese Debatte eignet sich dazu, weil die mit dem Stichwort „Sonderweg“ bezeichnete kritische Sicht auf die neuere deutsche Geschichte implizit oder explizit eine vergleichende Perspektive enthält.3 Zuerst soll die „Sonderweg-These“ vorgestellt werden, dann die wichtigste Kritik an ihr. Drittens führe ich aus, welche Elemente der Sonderweg-These nach den Forschungen und Debatten der letzten Jahre aufgegeben, modifiziert bzw. aufrechterhalten werden sollten. Abschließend werden einige Konsequenzen für die Methodik des historischen Vergleichs gezogen. *
Jürgen Kocka, Nach dem Ende des Sonderweges. Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, in: Arnd Bauerkämper u . a . (Hg.), Doppelte Zeitgeschichte. Deutschdeutsche Beziehungen 1945-1990, Bonn: Verlag J . H . W . Dietz Nachf. 1998, S. 364-375.
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1. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert haben deutsche Historiker und Publizisten häufig eine positive Variante der Sonderweg-These vertreten. Sie betonten Eigenarten der deutschen Geschichte, die diese aus ihrer Sicht vorteilhaft von der Geschichte des westlichen Europa unterschieden oder doch durch die besondere – teils geographische, teils konfessionelle, teils allgemein-historische – Situation Deutschlands begründet und gerechtfertigt seien: so etwa den starken Beamtenstaat im Unterschied zum westlichen Parlamentarismus, das preußische Dienstethos im Gegensatz zu westlichem Eudämonismus, deutsche „Kultur“ gegen westliche „Zivilisation“, auch den sich früh entwickelnden Sozialstaat in Absetzung vom wirtschaftsliberalen laisser-faire und zur Plutokratie im Westen.4 Diese positive Version der Sonderweg-These hat nach 1945 keine größere Rolle mehr gespielt. Sie wird im folgenden nicht weiter berücksichtigt. An ihre Stelle trat seit den vierziger Jahren eine kritische Variante der Sonderweg-These, die sich auf berühmte Ahnen berufen konnte, etwa auf Friedrich Engels und Max Weber. Wissenschaftler, die in den dreißiger Jahren aus Deutschland geflohen oder vertrieben worden waren und die häufig in England oder USA Aufnahme gefunden hatten – beispielsweise Ernst Fraenkel und Hans Rosenberg oder jüngere wie George Mosse und Fritz Stern – trugen zur Entwicklung dieser Interpretation deutscher Geschichte entscheidend bei, bald auch eine damals jüngere Generation von deutschen Historikern und Sozialwissenschaftlern, mit frühen Erfahrungen in Westeuropa und den USA, darunter Karl-Dietrich Bracher, Gerhard A. Ritter, Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler – Autoren, die sich im übrigen sehr voneinander unterschieden. Im Kern versuchte die kritische Version der Sonderweg-These eine fundamentale Frage zu beantworten, nämlich die, warum Deutschland im Unterschied zu vergleichbaren Ländern im Westen und Norden in der allgemeinen Krise der Zwischenkriegszeit faschistisch und/oder totalitär pervertiert war. Und sie interpretierten wesentliche Entwicklungen der deutschen Geschichte zumindest seit dem 19. Jahrhundert im Licht dieser Frage. Niemand von ihnen übersah die große Bedeutung der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, der folgenden Inflation und der späteren Wirtschaftskrise, d. h. kurzfristig wirkender Faktoren, für den baldigen Zusammenbruch der Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus. Und jedenfalls ernstzunehmende Wissenschaftler hüteten sich davor, den Durchbruch des Nationalsozialismus als zwingende Folge langfristiger Entwicklungen der deutschen Geschichte hinzustellen. Doch Historiker des „deutschen Sonderwegs“ blickten ins 19. Jahrhundert und manchmal sogar weiter zurück, um auf der Grundlage expliziter oder impliziter Vergleiche mit England, Frankreich, Nordamerika oder „dem Westen“ Eigenarten der deutschen Geschichte zu identifizieren, die langfristig die Entwicklung frei-
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heitlicher Demokratie in Deutschland erschwert und am Ende den Aufstieg und Durchbruch des Nationalsozialismus erleichtert hatten. Helmut Plessner sprach von der „verspäteten Nation“, also vom retardierten Prozeß deutscher Nations- und Nationalstaatsbildung als Last. Ernst Fraenkel, Karl-Dietrich Bracher und Gerhard A. Ritter beschrieben strukturelle Schwächen des Regierungssystems im Kaiserreich: die blockierte Parlamentarisierung, ein relativ rigide fragmentiertes Parteiensystem und andere Eigenarten, die später zu offenen Problemen des Weimarer Regierungssystems wurden. Leonard Krieger, Fritz Stern, George Mosse und Kurt Sontheimer betonten die langfristig sich entwickelnden illiberalen, antipluralistischen Elemente der deutschen politischen Kultur; an diese Elemente konnten später Feinde der Weimarer Republik und auch die Nationalsozialisten anknüpfen. Hans Rosenberg und andere zeigten, daß vorindustrielle Führungsschichten, insbesondere die ,Junker“ östlich der Elbe, viel Einfluß und Macht bis in die Zwischenkriegszeit hinein behielten und ein Hindernis für die liberale Demokratie in Deutschland darstellten. Bismarcks Variante der Nationalstaatsbildung mit „Blut und Eisen“ führte zu einer Verstärkung des politischen und sozialen Gewichts des Offizierskorps, das in der preußischen Tradition ohnehin stark war und jenseits von parlamentarischer Kontrolle stand. Nicht nur verfassungsgeschichtlich, sondern auch sozial bedeutete Militarisierung eine Folge, die ausländischen Besuchern des deutschen Kaiserreichs häufig auffiel. Die „Feudalisierung“ des deutschen Großbürgertums hatte schon Max Weber lebhaft kritisiert: Große Teile des gehobenen Bürgertums akzeptierten danach aristokratische Dominanz in Kultur und Politik, statt an bürgerlichem Lebensstil festzuhalten und die Frage der Macht im Innern auch gegen Adel und Bürokratie zu stellen. Ohne die Erfahrung einer erfolgreichen Revolution von unten, geprägt durch die lange Tradition eines starken Beamtenstaats und effektiver Reformen „von oben“, zusätzlich herausgefordert durch eine immer mächtiger werdende proletarische Bewegung „von unten“, erschien das deutsche Bürgertum als vergleichsweise schwach und „unbürgerlich“, jedenfalls im Vergleich mit dem Westen. Das Kaiserreich war nach der einflußreichen Interpretation HansUlrich Wehlers durch eine merkwürdige Mischung höchst erfolgreicher kapitalistischer Industrialisierung und sozioökonomischer Modernisierung einerseits und überlebender vorindustrieller Institutionen, Machtverhältnisse und Kulturen andererseits geprägt.5 Das Zusammenspiel solch langfristig wirkender Muster mit den kurzfristig wirksam werdenden Faktoren der zwanziger und dreißiger Jahre trug aus dieser Sicht viel dazu bei, den frühen Zusammenbruch der Weimarer Republik und – analytisch davon zu trennen – den Aufstieg und Durchbruch des Nationalsozialismus zu erklären. Die nationalsozialistische Diktatur mit ihren katastrophalen Folgen brachte den deutschen Sonderweg auf seinen tiefsten Punkt, trug jedoch gleichzeitig dazu bei, daß Voraussetzungen entstanden, unter denen er nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik schrittweise zu Ende gebracht werden konnte. Denn trotz der Existenz zweier, in vielem ge-
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gensätzlicher deutscher Staaten und trotz der Belastung durch das Erbe der Zeit vor 1945 gelang es der Bundesrepublik, was wirtschaftliche Ordnung, soziales Leben, Verfassung und Kultur betrifft, zu einem einigermaßen normalen westlichen Land zu werden, dessen Selbstverständnis sich nicht mehr aus der Entgegensetzung „zum Westen“ speiste.6 Dies mag als geraffte Rekapitulation der kritischen Sonderweg-These genügen, wobei eine Reihe extremer Äußerungen, insbesondere aus der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg – etwa nach dem Motto „von Luther bis Hitler“ – als wenig diskussionswürdig unberücksichtigt bleiben. Der Kern sei noch einmal wiederholt: Aus dem Blickwinkel der SonderwegThese wurden langfristig wirksame Strukturen und Prozesse in der neueren deutschen Geschichte identifiziert, die dazu beitrugen, daß in der Krise der Zwischenkriegszeit und unter dem Einfluß zahlreicher anderer Faktoren – von den Folgen der Kriegsniederlage über die Klassenkonflikte der zwanziger Jahre bis zu Eigenarten der Person Hitlers – die Weimarer Republik scheiterte und der Nationalsozialismus zum Durchbruch kam, ohne daß das Scheitern der Weimarer Republik und der Durchbruch des Nationalsozialismus als zwingend notwendige Folgen jener langfristig wirksamen Strukturen und Prozesse begriffen worden wären. Aus dem Blickwinkel der Sonderweg-These wurden wichtige Entwicklungen der neueren deutschen Geschichte unter dem Gesichtspunkt ihrer Beziehung zur „deutschen Katastrophe“ der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts befragt und interpretiert, ohne daß unterstellt wurde, daß die moderne deutsche Geschichte insgesamt in dieser ihrer Beziehung zu „1933“ gefaßt werden könnte und ohne daß die Legitimität anderer Interpretationsperspektiven bestritten wurde. Viele Autoren haben zu dieser These oder Sichtweise beigetragen, in jeweils anderer Weise und oft ohne das Wort „Sonderweg“ zu benutzen. Auf Englisch sprach man übrigens lieber, und im Grunde zutreffender, von der „German divergence from the West“. Tatsächlich scheint das Wort „Sonderweg“ eher von den zahlreichen Kritikern der These benutzt worden zu sein als von ihren Verteidigern.
2. Die Kritik war teilweise methodologisch. Als einer der ersten unterstrich Thomas Nipperdey, daß es „mehrere Kontinuitäten“ in der deutschen Geschichte gäbe. Das Kaiserreich sei nicht nur Vorgeschichte von 1933, sondern eben auch Vorgeschichte unserer Gegenwart, und überdies eine Periode in eigenem Recht. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Nationalsozialismus läge es auch immer weniger nahe, deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts vor allem und primär in bezug auf den Kollaps der Weimarer Republik und den Sieg des Nationalsozialismus zu interpretieren.7 David Blackbourn und Geoff Eley haben darauf hingewiesen, daß die These vom „Sonderweg“ die Vorstellung eines „Normalwegs“ unterstellt,
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von dem die deutsche Entwicklung abgewichen sei. Je nach der Bedeutung des Begriffs „normal“ fordere dies eine andere kritische Antwort heraus. Falls „normal“ soviel wie „durchschnittlich“ oder „am häufigsten“ heiße, dürfte es schwierig sein, zu zeigen, daß die französische, die englische oder die amerikanische Entwicklung „die Normalität“ darstellten, ganz abgesehen davon, daß zwischen ihnen große Unterschiede bestanden und sie sich deshalb zur Zusammenfassung als „westlich“ wenig eignen. Falls „normal“ aber im Sinne von „Norm“ verstanden werde, dann impliziere dies eine sehr subjektive Wertentscheidung und überdies die Gefahr einer Idealisierung „des Westens“.8 Man mag hinzufügen, daß mit wachsenden Zweifeln an der Überlegenheit „des Westens“ in den letzten Jahrzehnten die SonderwegThese einen Teil ihrer unmittelbaren Plausibilität verlor. Demgegenüber bleibt festzuhalten, daß mit Bezug auf das säkulare Ereignis des Zusammenbruchs der Demokratie und des Aufstiegs der Diktatur in der Zeit zwischen den Weltkriegen West- und Nordeuropa ebenso wie Nordamerika sich sehr viel besser bewährt haben als Deutschland und weite Teile des mittleren, östlichen und südlichen Europa. Mindestens ebenso wichtig war die empirische Kritik an der SonderwegThese, die sich aus Untersuchungen ergab, welche teilweise von der Debatte über den Sonderweg ausgingen. Ich erspare mir einen Literaturüberblick und beschränke mich auf ein Beispiel: Das große Bielefelder Projekt über die Geschichte des europäischen Bürgertums ist teilweise durch die kontroverse Debatte über den „Sonderweg“ angeregt worden. Im Laufe der Untersuchungen stellte sich heraus, daß der adlige Einfluß auf das Großbürgertum wahrscheinlich in Deutschland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht stärker ausgeprägt war als an vielen anderen Orten Europas. Der gegen das Bürgertum gerichtete und seine Schwäche belegende Vorwurf der „Feudalisierung“ verlor dadurch als Teil der Sonderweg-These ganz erheblich an Gewicht. Wenn man bürgerliche Selbstverwaltung in deutschen, westeuropäischen und osteuropäischen Städten des 19. Jahrhunderts miteinander vergleicht, ergibt sich kein Beleg für eine besondere Schwäche bürgerlicher Normen und Praktiken in Deutschland, im Gegenteil. Das deutsche „Bildungsbürgertum“ erweist sich im internationalen Vergleich als kraftvoll und klar profiliert. Solche und andere Befunde ließen die empirische Grundlage der Sonderweg-These bröckeln.9 Eine dritte Infragestellung der Sonderweg-These hat noch wenig Dynamik entwickelt, dürfte aber zukünftig wichtiger werden. Es zeichnet sich die Tendenz zu einer gewissen Europäisierung des Bildes der Geschichte des 20. Jahrhunderts ab. Je mehr diese Platz greift, wird man den Nationalsozialismus weniger ausschließlich als deutsches Phänomen und stärker als Teil eines größeren europäischen Phänomens verstehen. Ernst Nolte hat Mitte der achtziger Jahre die Europäisierung der Interpretation des Nationalsozialismus in einer radikalen Variante vorgeschlagen. Das entbehrte nicht der apologetischen Züge, wurde im „Historikerstreit“ kritisiert und hat sich nicht durchgesetzt.10 Als einflußreicher dürfte sich hingegen der Versuch
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von François Furet erweisen, der bekanntlich ebenfalls die europäischen Faschismen (einschließlich ihres radikalsten Falls, des deutschen Nationalsozialismus nämlich) in ihrem großen europäischen Zusammenhang und ihrer Wechselwirkung mit dem sowjetischen Bolschewismus interpretierte.11 Insgesamt bleibt dies sicher eine Aufgabe der historischen Forschung und Interpretation: Der vergleichende Blick auf die europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts in ihrem Wechselverhältnis wird die nationalgeschichtliche Nabelschau zunehmend ergänzen. Die graduelle Europäisierung der Fragen, Definitionen und Deutungen trägt aber zur weiteren Relativierung der Sonderweg-Sicht bei.
3. Dennoch glaube ich nicht, daß die Sonderweg-Interpretation der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert widerlegt worden ist oder aus anderen Gründen in absehbarer Zeit aufgegeben werden sollte. Empirisch ist der Befund ambivalent. Sicherlich, manches, wie die aristokratische Einfärbung der oberen Bürgerschichten und ihre Abwendung vom Liberalismus seit dem späten 19. Jahrhundert, ist weniger ein spezifisch deutsches als vielmehr ein in Europa weit verbreitetes Phänomen gewesen. Es ist überdies einzuräumen, daß die vormodernen und unbürgerlichen Züge des Kaiserreichs lange überzeichnet worden sind. Die Zeit zwischen 1871 und 1914 war in Wirklichkeit voller moderner Dynamik, zum Beispiel in den Bereichen Wissenschaft, Kunst und Kultur. Auch hat die intensive Forschung der letzten Jahre dazu geführt, daß der Nationalsozialismus heute weniger als ein Resultat vormoderner Überreste und anachronistischer Traditionen, sondern stärker als ein Phänomen der Moderne selbst verstanden wird. Dies reduziert die Tragkraft der Sonderweg-These. Doch entscheidende Fundamente dieser These sind durch die kritische Forschung der letzten Jahrzehnte nicht widerlegt, sondern bestätigt worden. Erstens: In Deutschland und nur in Deutschland gerieten drei fundamentale Entwicklungsprobleme moderner Gesellschaften fast gleichzeitig, nämlich im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts, auf die Tagesordnung: zum einen die Bildung des Nationalstaats, zum zweiten die Entscheidung der Verfassungsfrage und zum dritten die soziale Frage als Folge der bereits begonnenen Industrialisierung. Mit der zeitlichen Überlappung und gegenseitigen Beeinflussung dieser drei Krisen hing die Art ihrer unvollkommenen Lösung zusammen, die vieles in Deutschland beeinflußt hat: so die Eigenarten einer früh selbständigen, früh fundamentaloppositionellen Arbeiterbewegung, die ausgeprägte Schwäche des Parteiliberalismus, die eng gezogenen Grenzen bürgerlicher Macht im Kaiserreich und illiberale Züge in der damaligen politischen Kultur, auch die Art der Nationalstaatsbildung mit „Blut und Eisen“ und die dadurch erleichterte Aufwertung des Militärs in Gesellschaft und Staat.
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Zweitens: Man wird heute nicht mehr generell von einem „Defizit an Bürgerlichkeit“ im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sprechen können. Doch klar ist auch, daß das Bürgertum die Gesellschaft als ganze bei uns weniger geprägt hat, als es in der Schweiz, in Frankreich, Italien oder den Niederlanden der Fall war. Drittens: Immer wieder hat die jüngere Forschung eine Grundtatsache der deutschen Entwicklung bestätigt, die auch von der Sonderweg-These betont worden ist: das Gewicht und die Kontinuität der bürokratischen Tradition. Durch ein früh entwickeltes, effizientes, angesehenes, ausstrahlungskräftiges Berufsbeamtentum und durch eine lange Tradition der erfolgreichen Reformen von oben unterschied sich die deutsche Entwicklung nach Westen wie nach Osten. Sie war gekennzeichnet durch einen starken Obrigkeitsstaat, der viel leistete und nicht ohne Grund auf verbreitete Bewunderung stieß, aber mit einer spezifischen Schwäche bürgerlich-liberaler Tugenden – gewissermaßen als Preis – verbunden war. Die bürokratische Tradition beeinflußte die verschiedensten Wirklichkeitsbereiche: die soziale Klassen- und Schichtenbildung, das Schulsystem, Struktur und Mentalität des Bürgertums, die Arbeiterbewegung und das Parteiensystem, die Organisation der großen Wirtschaftsunternehmen und selbst die sozialen Theorien eines Max Weber. Die bürokratische Tradition erleichterte den in Deutschland besonders frühen Aufstieg des Sozialstaats und hat langfristig – bis heute – mitgeholfen, ein Maß an Leistungskraft und Handlungsfähigkeit dieser Gesellschaft zu gewährleisten, das unter vielen Gesichtspunkten zu begrüßen und keineswegs selbstverständlich ist. Aber die Tradition des mächtigen Beamtenstaats half eben auch mit, die Parlamentarisierung von Reich und Einzelstaaten bis 1918 zu blockieren. Die bürokratischen Traditionen prägten die Mentalitäten. In den verschiedensten sozialen Milieus erwartete man viel vom Staat, und wenn diese staatsorientierten Erwartungen enttäuscht wurden, konnten sie leicht in staatsorientierte und schließlich systemkritische Proteste umschlagen.12 Gewiß: Das Bild vom Scheitern der Weimarer Republik und vom Sieg des Nationalsozialismus wurde differenziert und verändert. Es ist notwendig, bei der Frage nach den Ursachen zwischen Entstehung und Durchbruch des Nationalsozialismus einerseits, den Schwächen und dem Niedergang der Weimarer Demokratie andererseits zu unterscheiden. Den Nationalsozialismus aus den Traditionen des deutschen Sonderwegs abzuleiten, führt in die Irre; dazu war er zu neu, zu modern, zu sehr Teil eines europäischen Phänomens. Aber daß ihm in Deutschland so wenig Widerstand entgegengesetzt wurde, daß die Weimarer Republik gegenüber seinem Angriff so schwach und hilflos war, daß ihr Parlamentarismus so schlecht funktionierte, ihre Eliten sie kaum akzeptierten und es an Unterstützung der Republik in der politischen Kultur der Zeit so ausgeprägt fehlte, das hing sehr wohl mit den Traditionen zusammen, die aus dem Blickwinkel der Sonderweg-These immer wieder nachdrücklich analysiert worden sind.13
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Zur These vom deutschen Sonderweg gehört seit den siebziger Jahren, daß er in der Bundesrepublik zu Ende gegangen sei – als nichtintendierte Folge von Diktatur, Krieg und Zusammenbruch, als Ergebnis bewußter Lernprozesse, als Frucht einer Politik der Westorientierung und des parlamentarisch-demokratischen Neubeginns, die innerhalb der Bevölkerung nach einer Weile auf breite Zustimmung stieß und von den westlichen Besatzungsmächten unter den Bedingungen des Kalten Kriegs ermöglicht und gefördert wurde. Auch dieser Teil der Sonderweg-Sicht auf die deutsche Geschichte wurde durch die Forschungen und die Erfahrungen der letzten Jahre bestätigt. Selbst die Wiedervereinigung von 1989/90 läßt sich in diesem Rahmen deuten: Elemente des Sonderwegs, vor allem seine illiberalobrigkeitsstaatliche Dimension, hatten in der DDR in einer realsozialistischen Form noch existiert, als er in der Bundesrepublik schon längst geendet hatte. So gesehen, hört 1989/90 der deutsche Sonderweg auch dort auf, wo er – in stark gewandelter Form – noch überlebt hatte, ohne daß die Bundesrepublik, deren Ordnung nach Osten hin ausgedehnt wurde, dadurch auf einen Sonderweg zwischen West und Ost zurückgedrängt worden wäre.14 Die sich abzeichnende Europäisierung des Blicks auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts wird zwar – und dies ist zu begrüßen – über die üblichen nationalgeschichtlichen Verengungen hinausführen. Doch am Ende wird man nicht davon ablenken können und dürfen, daß Deutschland das Hauptland des europäischen Faschismus war und der Zweite Weltkrieg wie auch der Holocaust von Deutschland ausgingen. Die Europäisierung der Nationalsozialismus-Interpretation hat insofern klare Grenzen.15 Und deshalb bleiben jedenfalls die Fragen akut, auf die die Sonderweg-These eine Antwort gesucht hat. Und wie steht es mit der nachlassenden Überzeugungskraft der Sonderweg-These angesichts der wachsenden zeitlichen Distanz zum Nationalsozialismus? Nach mehr als fünfzig Jahren, nach einer neuen tiefen Zäsur (1989/90), angesichts neuer sozialökonomischer und soziokultureller Probleme, die für moderne westliche Gesellschaften typisch statt für Deutschland spezifisch sind, läßt, so ist zu vermuten, die Tragfähigkeit des Deutungsangebots nach, das die Sonderweg-These enthält. Die Neigung, deutsche Geschichte sub specie „1933“ zu interpretieren, müßte eigentlich schwächer werden. Die lange Phase der Selbstkritik, die sich in einem betont skeptischen Blick auf die deutsche Nationalgeschichte niederschlug, sei, so hat man vermutet, in Deutschland vorbei.16 Damit würde die Plausibilität der Sonderweg-These bröckeln, weil sie auf Fragen antwortet, die jetzt am Ende des Jahrhunderts kaum noch gestellt werden. Manches in den gegenwärtigen Debatten der Historiker und Publizisten weist in der Tat in diese Richtung. Auch fällt auf, daß die vergleichende Forschung sich heute stärker dem lange tabuisierten Vergleich zwischen braunen und roten, faschistischen und kommunistischen Diktaturen widmet als dem Vergleich zwischen der deutschen Entwicklung, die in die Diktatur führte und den westeuropäischen Entwicklungen, denen dies erspart blieb.
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Allerdings ist unbestreitbar, daß das Interesse am nationalsozialistischen Deutschland und seinen Untaten keinesfalls abnimmt. Je mehr man sich mit der Geschichte der zweiten deutschen Diktatur, der DDR, beschäftigt, desto mehr Aufmerksamkeit widmet man auch der ersten, eben der nationalsozialistischen. Das nationalsozialistische Deutschland ist im historischen Bewußtsein heute stärker präsent als vor zwanzig Jahren. Es sieht nicht so aus, als ob sich dies bald ändern würde. Die deutsche Katastrophe von 1933 bis 1945 – von der der Holocaust nur ein Teil, wenngleich ein besonders schrecklicher war – bleibt die Zeitspanne, in der sich deutsche Geschichte und Weltgeschichte besonders eng verflochten haben, enger als jemals sonst im Zeitalter der Moderne. Dies ist weder angenehm noch zu ändern: ein Stück Vergangenheit, das mit der Zeit nicht vergeht, sondern eher präsenter wird. Solange das so ist, bleiben die Fragen aktuell, die zu den Antworten der Sonderweg-These geführt haben. Alle diese Argumente für die Sonderweg-These gelten allerdings nur unter einer Bedingung, die ihren Geltungsanspruch erheblich einschränkt. Das Sonderweg-Konzept hat nur Sinn, wenn es um die Diskussion der Frage geht, warum Deutschland unter bestimmten Bedingungen in ein totalitäres, faschistisches System pervertierte, während dies in den westlichen Ländern, mit denen man sich in Deutschland traditionell gern vergleicht, unter ähnlichen Bedingungen nicht geschah. Dies ist die Frage, die zur kritischen Sonderweg-Perspektive auf die deutsche Geschichte führte, und hier war der Kontext, in dem die kritische Sonderweg-These ursprünglich formuliert wurde. Sie entstand auf der Grundlage der Lebenserfahrungen und Erkenntnisinteressen von zwei Generationen, der der Emigranten und Exilanten sowie der nachfolgenden jüngeren, die sich zunehmend als Teil „des Westens“ sahen und die Last ihrer Vergangenheit mit den Chancen ihrer Zukunft kompatibel machen wollten. Als Antwort auf jene Frage und als Teil dieses Kontextes hat die Sonderweg-These weiterhin Sinn, wenngleich in inhaltlich modifizierter Form. Ansonsten führt sie in die Irre. Wenn man – beispielsweise – regionale oder nationale Industrialisierungsprozesse unter dem Gesichtspunkt ihrer Abhängigkeit von vorindustriellen Strukturen oder wenn man die Erziehungssysteme verschiedener Länder unter den Gesichtspunkten von Exklusion und Inklusion vergleichend untersucht, ist die Sonderweg-These fehl am Platz. Im Hinblick auf die meisten Fragen schlägt nämlich jedes Land, auch jede Region, einen Sonderweg ein. In bezug auf die meisten Themen und Problemstellungen besitzt das Konzept vom deutschen Sonderweg keine – oder kaum – aufschließende Kraft. Geltungsansprüche und Nützlichkeit des Sonderweg-Ansatzes sind eng an bestimmte Fragestellungen und Erkenntnisinteressen gebunden. In diesen Grenzen bleibt er weiter gültig.
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4. Die Sonderweg-Sicht der deutschen Geschichte hat einen komparativen Kern. Sie konfrontiert die deutsche Entwicklung unter bestimmten Gesichtspunkten mit Entwicklungen im westlichen Europa und in Nordamerika, wobei Ähnlichkeiten – etwa hinsichtlich des sozialen Entwicklungsstands und der zu bewältigenden Herausforderungen – vorausgesetzt und Unterschiede scharf herausgearbeitet werden. Doch resultierten die Aussagen zur Sonderweg-These selten aus gleichgewichtigen Vergleichen, die sich dadurch auszeichnen, daß sie jede der einbezogenen Vergleichseinheiten in etwa mit gleicher Genauigkeit und Ausführlichkeit untersuchen. Dagegen repräsentiert der Sonderweg-Ansatz zumeist einen extrem asymmetrischen Typ des Vergleichs, eher eine vergleichende Perspektive als einen ausgewachsenen Vergleich. Das Erkenntnisinteresse ist auf das bessere Begreifen der Geschichte des eigenen Landes unter bestimmten Fragestellungen gerichtet. Zu diesem Zweck wird die knappe Skizze der Geschichte eines anderen Landes oder anderer Länder als Folie benutzt, um auf ihr als Hintergrund Eigenarten des Falles zu identifizieren, an dem man eigentlich interessiert ist, also Deutschland. Asymmetrische Vergleiche sind häufig riskant, wie sich an der Geschichte des Sonderweg-Theorems zeigt. Die in der Regel auf ausgewählter Sekundärliteratur fußende Skizze des Vergleichshintergrunds, in diesem Fall die Skizze der Geschichte eines westlichen Landes bzw. „des Westens“, kann so selektiv, oberflächlich, stilisiert und auch idealisiert ausfallen, daß es zu verzerrenden Ergebnissen kommt. Auch kann man einwenden, daß der asymmetrische Vergleich einen Vergleichspartner mißbraucht, da er ihn nicht in eigenem Recht studiert, sondern instrumentalisiert. Man blickt auf den anderen, um sich selbst besser zu verstehen. Doch lassen sich auch gute Argumente für den asymmetrischen Vergleich beibringen, solange es gelingt, Oberflächlichkeit und Verzerrung zu vermeiden. Er hat arbeitsökonomische Vorteile, weil er nicht den gleichen Aufwand in bezug auf alle einbezogenen Vergleichseinheiten verlangt. Für Dissertationen und andere unter zeitlichen Beschränkungen stehende Arbeiten ist der asymmetrische Vergleich oft die einzige Möglichkeit, sich überhaupt komparativ zu öffnen. Selbst in seiner asymmetrischen Form führt der Vergleich zu Fragen und Antworten, die ohne vergleichenden Ansatz weder gestellt noch gegeben würden. Bedenkt man, wie sehr weiterhin nationalspezifische Zugriffe jedenfalls in der modernen Geschichte – und auch in der Zeitgeschichte17 – dominieren, dann spricht vieles dafür, die vergleichende Perspektive zum Zweck der Horizonterweiterung zu akzeptieren, auch wenn sie nicht gleichgewichtig, sondern nur asymmetrisch eingelöst wird. Wenngleich der asymmetrische Vergleich zu problematischen Ergebnissen und Verzerrungen führen kann, kann er auch empirische Forschungen motivieren, die zur Korrektur der anfangs einseitigen Annahmen und Zwischenergebnisse führen.
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Am Beispiel der Sonderweg-Debatte wird überdeutlich, wie sehr die Ergebnisse eines Vergleichs von der Wahl der Vergleichspartner abhängen. Vergleicht man das deutsche Wirtschaftsbürgertum des 19. Jahrhunderts mit niederländischen oder englischen Parallelen, dann erscheint es als vergleichsweise beschränkt in Ausdehnung, Kraft und Bürgerlichkeit. Rückt man es in eine ostmittel- oder osteuropäische Vergleichsperspektive, erscheint es dagegen stark und ausgeprägt bürgerlich. Die westliche Vergleichsperspektive läßt den deutschen Nationalsozialismus als Abweichung erscheinen. Aus süd- und südosteuropäischer Perspektive wird er zum Teil eines große Gebiete Europas überziehenden Phänomens. Die Wahl der Vergleichspartner hängt nicht ausschließlich von wissenschaftlichen Erwägungen ab. Vielmehr spielen auch normative Entscheidungen und lebensgeschichtliche Erfahrungen mit. Die dadurch bedingte Selektivität des Vergleichs wird man nicht aus dem Auge verlieren dürfen. Durch den Wechsel der Vergleichspartner kann man sie bewußt machen und mildern. Doch läßt sich die entschiedene „Westorientierung“ der Vergleichsperspektive auch mit guten Gründen verteidigen, trotz der Selektivität, die sich aus ihr ergibt. Der Vergleich dient in der Geschichtswissenschaft zu verschiedenen Zwecken, und er erfüllt viele Funktionen. Im Fall der Sonderweg-Debatte dient er der kollektiven Identitätsprüfung, und zwar in kritischer Absicht. Der Vergleich mit dem Westen öffnet den Blick auf Alternativen der historischen Entwicklung, in diesem Fall auf bessere, nichtfaschistische, weniger diktatorische Alternativen, die von der deutschen Geschichte leider nicht eingeschlagen worden sind. Im Licht solcher Alternativen, die nicht nur möglich, sondern – in den Vergleichsländern – Wirklichkeit waren, erscheint der Kurs der deutschen Geschichte weniger zwingend, stärker fragwürdig, mehr als Problem denn als Faktum. Der historische Vergleich dient der Kritik, und die Sonderweg-These wird in ihm weiterhin ihren Platz haben.
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Chr. Kleßmann, Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: APZ, B 29-30/1993, S. 30-41. Generell vgl. H.-G. Haupt/J. Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1996, hier bes. die Einleitung, S. 9-45. Der Begriff „Königsweg“ stammt von H.-U. Wehler. Ich führe einen älteren Diskussionsbeitrag zum Thema fort: J. Kocka, Ende des deutschen Sonderwegs?, in: W. Ruppert (Hg.), „Deutschland, bleiche Mutter“ oder eine neue Lust an der nationalen Identität? Texte des Karl-HoferSymposions 12.-17.11.1990, Berlin 1992, S. 9-32; Kocka., Geschichte und Aufklärung, Göttingen 1989, S. 101-113, 187-190. Dazu B. Faulenbach, Die Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980. Vgl. H. Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1959; E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964; K.-D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Villingen 1962; M. R. Lepsius, Parteiensysteme und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: W. Abel u. a. (Hg.), Wirtschaft, Geschichte, Wirtschaftsgeschichte. Festschrift für Friedrich Lütge zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1966, S. 371-393; L. Krieger, The German ldea of Freedom, Boston 1957; F. Stern, The Politics of Cultural Despair. A Study in the Rise of the German Ideology, Berkeley 1961; G.L. Mosse, The Crisis of German Ideology. lntellectual Origins of the Third Reich, New York 1964; K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962; H. Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660-1815, Cambridge/Mass. 1958; ders., Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse (1958), in: ders., Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen, Göttingen 1978, S. 83-101; H. A. Winkler, Die „neue Linke“ und der Faschismus. Zur Kritik neomarxistischer Theorien über den Nationalsozialismus, in: ders., Revolution, Staat, Faschismus, Göttingen 1978, S. 65117; H.-U. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen (1973) 1983, F. Fischer, Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871-1945, Düsseldorf 1979. Vgl. J. Kocka, Ursachen des Nationalsozialismus, in: APZ, B 25/1980, S. 3-15; H. A. Winkler, Unternehmensverbände zwischen Ständeideologie und Nationalsozialismus, in: ders., Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20.Jahrhunderts, Göttingen 1979, S. 175-194; H. Möller, Parlamentarismus-Diskussion in der Weimarer Republik. Die Frage des „besonderen“ Wegs zum parlamentarischen Regierungssystem, in: M. Funke u. a. (Hg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa, Düsseldorf 1987, S. 140-157; J. Kocka, 1945: Neube-
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ginn oder Restauration?, in: C. Stern/H. A. Winkler (Hg.), Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1990, Frankfurt 1994 (Neuausgabe), S. 159-192. Th. Nipperdey, 1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte, in: HZ 227 (1978), S. 86-111. D. Blackbourn/G. Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung, Berlin 1980; überarb. engl. Fassung: The Peculiarities of German History: Bourgeois Society and Politics in 19th Century Germany, Oxford 1984. Vgl. H. Kaelble, Wie feudal waren die Unternehmer im Kaiserreich?, in: R. Tilly (Hg.), Beiträge zur quantitativen deutschen Unternehmensgeschichte, Stuttgart 1985, S. 148-174; D.L. Augustine, Patricians and Parvenus. Wealth and High Society in Wilhelmine Germany, Oxford 1994; H.-U. Wehler, Deutsches Bildungsbürgertum in vergleichender Perspektive. Elemente eines „Sonderwegs“?, in: J. Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 215-237; J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, 3 Bde., München 1988 (gekürzte Neuaufl., Göttingen 1995). „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987. F. Furet, Das Ende der Illusionen. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1995; jetzt auch F. Furet/E. Nolte, Feindliche Nähe. Kommunismus und Faschismus im 20. Jahrhundert. Ein Briefwechsel, München 1998. Näher in Kocka, Ende, S. 24-25; H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995, S. 449-486. Vgl. H A. Winkler, Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993. Vgl. J. Kocka, Ein deutscher Sonderweg. Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR, in: ders., Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995, S. 102-121; ders., in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. IX, Baden-Baden 1995, S. 591f. Jetzt gekonnt zur Verflechtung der europäischen und der deutschen Dimension: S. Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1, München 1998. Kritisch dazu: S. Berger, The search for normality. National identity and historical consciousness in Germany since 1800, Oxford 1997. Vgl. Chr. Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 19451955, Göttingen 1982; J. Kocka, Die Geschichte der DDR als Forschungsproblem, in: ders. (Hg.), Historische DDR-Forschung, Berlin 1993, S. 9-26.
VI. Neuere Herausforderungen und Reaktionen
Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte* R EINHART K OSELLECK
Nach einem bekannten Diktum von Epiktet seien es nicht die Taten, die die Menschen erschüttern, sondern die Worte über die Taten1. Trotz der stoischen Pointe, sich nicht von Worten irritieren zu lassen, ist der Gegensatz zwischen „pragmata“ und „dogmata“ sicher vielschichtiger als Epiktets Moralanweisung zuläßt. Sie erinnert uns an die Eigenkraft der Worte, ohne deren Gebrauch unser menschliches Tun und Leiden kaum erfahrbar, sicher nicht mitteilbar sind. Epiktets Satz steht in der langen Tradition, die sich seit alters mit dem Verhältnis von Wort und Sache, von Geist und Leben, von Bewußtsein und Sein, von Sprache und Welt beschäftigt hat. Auch wer sich auf das Verhältnis der Begriffs- zur Sozialgeschichte einläßt, steht unter dem Reflexionsdruck dieser Tradition. Er gerät schnell in den Bereich theoretischer Prämissen, die hier von der Forschungspraxis her anvisiert werden sollen2. Die Zuordnung zwischen Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte scheint auf den ersten Blick lose, zumindest schwierig. Beschäftigt sich doch die eine Disziplin in erster Linie mit Texten und mit Worten, während sich die andere nur der Texte bedient, um daraus Sachverhalte abzuleiten und Bewegungen, die in den Texten selber nicht enthalten sind. So untersucht etwa die Sozialgeschichte Gesellschaftsformationen oder Verfassungsbauformen, die Beziehungen zwischen Gruppen, Schichten, Klassen, sie fragt über Geschehenszusammenhänge hinaus, indem sie auf mittel- oder langfristige Strukturen und deren Wandel zielt. Oder sie bringt ökonomische Theoreme ein, kraft derer Einzelereignisse und politische Handlungsabläufe hinterfragt werden. Texte und die ihnen zugeordneten Entstehungssituationen haben hier allenthalben nur Hinweischarakter. Anders die Methoden der Begriffsgeschichte, die dem Umkreis der philosophischen Terminologiegeschichte, der historischen Philologie, der Semasiologie und der Onomasio*
Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Peter Christian Ludz (Hg.), Soziologie und Sozialgeschichte. Aspekte und Probleme, Opladen: Westdeutscher Verlag 1972, S. 116-131.
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logie entstammen, und deren Ergebnisse immer wieder durch Textexegesen überprüfbar und auf diese zurückzuführen sind. Nun ist eine solche erste Gegenüberstellung vordergründig. Aber die methodischen Einstiege zeigen, daß das Verhältnis der Begriffs- und der Sozialgeschichte komplexer ist, als daß die eine Disziplin auf die andere reduzierbar wäre. Das erweist bereits der Sachverhalt in den Objektbereichen beider Disziplinen. Ohne gemeinsame Begriffe gibt es keine Gesellschaft, vor allem keine politische Handlungseinheit. Umgekehrt gründen aber unsere Begriffe in politisch-gesellschaftlichen Systemen, die weit komplexer sind, als daß sie sich bloß als Sprachgemeinschaften unter bestimmten Leitbegriffen erfassen ließen. Eine „Gesellschaft“ und ihre „Begriffe“ stehen in einem Spannungsverhältnis, das auch die ihnen zugeordneten wissenschaftlichen Disziplinen der Historie kennzeichnet. Es soll versucht werden, das Verhältnis der beiden Disziplinen auf drei Ebenen zu klären: 1. Inwieweit die Begriffsgeschichte der klassischen historisch-kritischen Methode folgt, aber mit erhöhter Trennschärfe dazu beiträgt, Themen der Sozialgeschichte griffig zu machen. Hier arbeitet die Begriffsanalyse der Sozialgeschichte subsidiär in die Hand. 2. Inwieweit die Begriffsgeschichte eine eigenständige Disziplin mit eigener Methodik darstellt, deren Inhalt und deren Reichweite parallel zur Sozialgeschichte, aber sich mit ihr gegenseitig überlappend, zu bestimmen ist. 3. Inwieweit Begriffsgeschichte einen genuinen theoretischen Anspruch enthält, ohne den einzulösen Sozialgeschichte nur unzulänglich betrieben werden kann. Für die folgenden Überlegungen gelten zwei Einschränkungen: daß nicht von Sprachgeschichte, auch nicht als Teil der Sozialgeschichte, gehandelt wird, sondern nur von der politisch-sozialen Terminologie, die für die Erfahrungsbestände der Sozialgeschichte relevant ist. Ferner wird innerhalb dieser Terminologie und ihrer zahlreichen Ausdrücke vorzüglich auf Begriffe abgehoben, deren semantische Tragfähigkeit weiter reicht als die „bloßer“ Worte, die im politisch-sozialen Bereich überhaupt verwendet werden3.
I. Um die historisch-kritischen Implikationen einer Begriffsgeschichte als notwendige Hilfe für die Sozialgeschichte zu erweisen, sei ein Beispiel genannt. Es stammt aus dem Zeitraum der Französischen und der anhebenden industriellen Revolution, also aus einem Umkreis, der für die Entstehung der Soziologie und sozialhistorischer Fragen wegweisend wurde. In seiner bekannten Septemberdenkschrift aus dem Jahre 1807 entwarf Hardenberg Richtlinien für die Reorganisation des preußischen Staates. Der ganze Staat sollte nach den Erfahrungen der Französischen Revolution wirt-
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schaftlich und sozial neu strukturiert werden. Dabei äußerte nun Hardenberg: „überhaupt gehört eine vernünftige Rangordnung, die nicht einen Stand vor dem anderen begünstigte, sondern den Staatsbürgern aller Stände ihre Stellen nach gewissen Klassen nebeneinander anwiese, zu den wahren und keineswegs zu den außerwesentlichen Bedürfnissen eines Staates4.“ Um einen solchen für die künftige Reformpolitik Hardenbergs programmatischen Satz zu verstehen, bedarf es einer quellenkritischen Exegese, die speziell die in ihm enthaltenen Begriffe aufschlüsselt. Daß die traditionelle Unterscheidung zwischen „wahren“, wesentlichen und außerwesentlichen Bedürfnissen auf den „Staat“ angewendet wurde, war eine Sichtweise, die seit einem knappen halben Jahrhundert geläufig war und auf die hier nicht eingegangen sei. Auffällig ist zunächst, daß Hardenberg dem vertikalen Standesgefälle eine horizontale Klassengliederung gegenüberstellt. Die Standesordnung wird insofern pejorativ bewertet, als sie die Begünstigung eines Standes vor anderen impliziert, während doch alle Standesmitglieder Staatsbürger und insofern gleich sein sollen. Sie bleiben zwar in diesem Satz als Staatsbürger immer auch Standesmitglied, aber ihre Funktionen sollen nicht nach Ständen, sondern „nach gewissen Klassen“ nebeneinander definiert werden, wobei gleichwohl eine vernünftige Rangordnung entstehen soll. Rein sprachlich bereitet ein solcher mit politisch-sozialen Ausdrücken gespickter Satz nicht geringe Verständnisschwierigkeiten, auch wenn die politische Pointe, gerade auf Grund der semantischen Zweideutigkeit, herausspringt. An die Stelle der überkommenen Standesgesellschaft soll eine Gesellschaft (formal gleichberechtigter) Staatsbürger treten, deren Zugehörigkeit zu (wirtschaftlich und politisch zu definierenden) Klassen eine neue (staatliche) Rangordnung ermöglicht. Es ist klar, daß der genaue Sinn nur aus dem Kontext des ganzen Memorandums hervorgeht, aber ebenso aus der Lage des Verfassers und des Adressaten abgeleitet werden muß, ferner daß die politische Situation und die soziale Gesamtlage des damaligen Preußen dabei zu berücksichtigen sind, wie schließlich der Sprachgebrauch des Autors, seiner Zeitgenossen und der ihm vorausgehenden Generation verstanden werden muß, mit der er in einer Sprachgemeinschaft lebte. Alle diese Fragen gehören zur herkömmlichen historisch-kritischen, speziell zur historisch-philologischen Methode, auch wenn bereits Fragen auftauchen, die mit dieser Methode allein nicht beantwortbar sind. Das betrifft speziell die soziale Struktur des damaligen Preußen, die ohne ökonomische, politologische oder soziologische Frageraster nicht hinreichend erfaßbar ist. Die spezielle Einengung unserer Fragestellung auf die Untersuchung der in einem solchen Satz verwendeten Begriffe leistet nun entschieden Hilfe, über das Verständnis dieses einen Satzes hinaus sozialgeschichtliche Fragen zu stellen und zu beantworten. Wird vom Sinn des Satzes selber hinübergeleitet zur historischen Einordnung der darin verwendeten Begriffe wie „Stand“, „Klasse“ oder „Staatsbürger“, so zeigt sich schnell, welche ver-
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schiedenen Schichten des damaligen Erfahrungshaushaltes in diesen Satz eingegangen sind. Indem Hardenberg von Staatsbürgern spricht, verwendet er einen terminus technicus, der gerade geprägt worden war, der im Allgemeinen Preußischen Landrecht legal noch nicht verwendet wurde und der eine polemische Pointe gegen die altständische Gesellschaft anmeldete. Es handelte sich noch um einen Kampfbegriff, der sich gegen die ständische Rechtsungleichheit richtete, ohne daß damals ein Staatsbürgerrecht existierte, das einem preußischen Bürger politische Rechte zugesprochen hätte. Der Ausdruck war aktuell, er verweist auf ein Verfassungsmodell, das nunmehr zu verwirklichen sei. – Der Begriff des Standes enthielt um die damalige Jahrhundertwende unendlich viele Bedeutungsstreifen politischer, rechtlicher, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher Art, so daß aus dem Wort selber keine eindeutige Zuordnung abzuleiten ist. Indem Hardenberg Stand und Begünstigung zusammendachte, hat er jedenfalls die traditionellen Herrschaftsrechte der oberen Stände kritisch unterlaufen, während der Gegenbegriff in diesem Zusammenhang Klasse lautet. – Der Begriff „Klasse“ enthielt damals ebenso mannigfaltige Bedeutungen, die sich streckenweise mit dem von „Stand“ überlappten. Immerhin kann für den deutschen, speziell den preußischen Sprachgebrauch der Bürokratie gesagt werden, daß damals eine Klasse eher durch wirtschaftliche und verwaltungsrechtliche Kriterien bestimmt wurde als durch politische oder gar geburtsständische Kriterien. In diesem Zusammenhang muß etwa die physiokratische Tradition berücksichtigt werden, innerhalb derer die alten Stände erstmalig nach ökonomisch funktionalen Kriterien umdefiniert wurden: ein Vorhaben, das Hardenberg in wirtschaftsliberaler Absicht teilte. Die Verwendung von „Klasse“ zeigt, daß hier ein soziales Modell ins Spiel gebracht wird, das in die Zukunft weist, während der Begriff des Standes an eine jahrhundertealte Tradition anknüpft, an Strukturen, wie sie im Landrecht gerade noch einmal legalisiert worden sind, dessen Ambivalenzen aber bereits Risse im Standesgefüge und seine Reformbedürftigkeit indizieren. – Die Ausmessung des Bedeutungsraumes jedes der verwendeten zentralen Begriffe zeugt also von einer gegenwartsbezogenen, polemischen Pointe, von einer planerischen Zukunftskomponente, wie von dauerhaften aus der Vergangenheit herrührenden Elementen der Sozialverfassung, deren spezifische Zuordnung den Sinn dieses Satzes freigibt. Innerhalb der Textexegese gewinnt also die spezielle Hinblicknahme auf den Gebrauch von politisch-sozialen Begriffen, die Untersuchung ihrer Bedeutungen einen sozialgeschichtlichen Rang. Die in einer konkreten politischen Situation enthaltenen Momente der Dauer, des Wandels und der Zukünftigkeit werden im sprachlichen Nachvollzug erfaßt. Damit werden – noch allgemeiner gesprochen – soziale Zustände und ihr Wandel bereits thematisiert. Es ist nun eine begriffs- und sozialgeschichtlich gleich relevante Frage, seit wann Begriffe so streng wie in unserem Beispiel als Indikatoren für po-
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litisch-sozialen Wandel und geschichtliche Tiefe verwendet werden konnten. Für den deutschen Sprachraum läßt sich zeigen, daß seit rund 1770 eine Fülle neuer Bedeutungen alter Worte und Neuprägungen auftaucht, die mit dem Sprachhaushalt den gesamten politischen und sozialen Erfahrungsraum verändert und neue Erwartungshorizonte gesetzt hat. Ohne hier die Frage nach „sachlicher“ oder „begrifflicher“ Priorität im Prozeß der Veränderungen zu stellen, bleibt der Befund aufschlußreich genug. Der Kampf um die „richtigen“ Begriffe gewinnt an sozialer und politischer Brisanz. Auch unser Autor, Hardenberg, legte großen Wert auf begriffliche Unterscheidungen, er bestand auf Sprachregelungen, wie sie seit der Französischen Revolution zum Alltagsgeschäft der Politiker gehören. So redete er adelige Gutsherren unter den Notabeln wie im Schriftverkehr als „Gutsbesitzer“ an, während er sich nicht scheute, Vertreter der regionalen Kreisstände korrekt als ständische Deputierte zu empfangen. „So sollten“, wie sein Gegner Marwitz sich entrüstete, „durch Verwechslung der Namen auch die Begriffe verwirrt und die alte Brandenburgische Verfassung zu Grabe getragen werden.“ In seiner Schlußfolgerung korrekt, übersah Marwitz bewußt, daß sich Hardenberg tatsächlich neuer Begriffe bediente und damit einen Kampf um Benennungen der neuen gesellschaftlichen Gliederung eröffnete, der sich in den folgenden Jahren durch den gesamten Schriftverkehr zwischen den alten Ständen und der Bürokratie hindurchzieht. Marwitz erkannte freilich sehr scharf, daß an der Benennung ihrer ständischen Organisation der Rechtstitel haftete, den es zu verteidigen galt. So desavouierte er eine Mission seiner Mitstände an den Kanzler, weil sie sich als „Einwohner“ der Mark Brandenburg angemeldet hatten. Das könnten sie, solange „vom Ökonomischen“ die Rede sei. „War aber von unseren Rechten die Rede, so zerstörte dies eine Wort – Miteinwohner – den Zweck der Sendung5.“ Damit ging Marwitz den Schritt nicht mehr mit, den seine Mitstände, eben aus ökonomischen Erwägungen, zu tun schon geneigt waren. Sie suchten ihre politischen (Vor-)Rechte in ökonomische Vorteile umzumünzen. Der semantische Kampf, um politische oder soziale Positionen zu definieren und kraft der Definitionen aufrecht zu erhalten oder durchzusetzen, gehört freilich zu allen Krisenzeiten, die wir durch Schriftquellen kennen. Seit der Französischen Revolution hat sich dieser Kampf verschärft und strukturell verändert: Begriffe dienen nicht mehr nur, Vorgegebenheiten zu erfassen, sie greifen aus in die Zukunft. Zunehmend wurden Zukunftsbegriffe geprägt, erst künftig zu erringende Positionen mußten sprachlich vorformuliert werden, um überhaupt bezogen oder errungen werden zu können. Der Erfahrungsgehalt vieler Begriffe wurde dadurch geringer, der darin enthaltene Anspruch auf Verwirklichung proportional dazu größer. Erfahrungsgehalt und Erwartungsraum kommen immer weniger zur Deckung. Hierzu gehören die zahlreichen -ismus-Prägungen, die als Sammlungs- und Bewegungsbegriffe dazu dienten, die ständisch entgliederten Massen neu zu ordnen und zu mobilisieren. Die Verwendungsspanne solcher Ausdrücke reicht – wie heute noch – vom Schlagwort bis zum wissenschaftlich defi-
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nierten Begriff. Es sei nur an „Konservatismus“, „Liberalismus“ oder „Sozialismus“ erinnert. Seitdem die Gesellschaft in die industrielle Bewegung geraten ist, liefert die politische Semantologie der darauf bezogenen Begriffe einen Verständnisschlüssel, ohne den die Phänomene der Vergangenheit auch heute nicht begriffen werden können. Man denke nur an den Bedeutungs- und Funktionswandel des Begriffs „Revolution“, der zunächst eine Modellformel möglicher Wiederkehr der Ereignisse bot, dann aber zum geschichtsphilosophischen Zielbegriff und politischen Aktionsbegriff umgeprägt wurde, der – für uns – ein Indikator strukturellen Wandels ist6. Hier wird die Begriffsgeschichte integraler Teil der Sozialgeschichte. Daraus folgt eine methodische Minimalforderung: daß nämlich soziale und politische Konflikte der Vergangenheit im Medium ihrer damaligen begrifflichen Abgrenzung und im Selbstverständnis des vergangenen Sprachgebrauchs der beteiligten Partner aufgeschlüsselt werden müssen. So gehört die begriffliche Klärung unserer beispielsweise herangezogenen Termini Stand, Klasse, Gutsbesitzer, Eigentümer, des Ökonomischen, des Einwohners und des Staatsbürgers zur Voraussetzung, den Konflikt zwischen der bürokratischen Reformgruppe und den preußischen Junkern deuten zu können. Gerade die Tatsache, daß die Kontrahenten sich personengeschichtlich und soziographisch gesehen überlappten, macht es um so notwendiger, die politischen und sozialen Fronten innerhalb dieser Schicht semantisch zu klären, um dahinter sich verbergende Interessen oder Absichten dingfest machen zu können. Die Begriffsgeschichte ist also zunächst eine spezialisierte Methode der Quellenkritik, die auf die Verwendung sozial oder politisch relevanter Termini achtet und die besonders zentrale Ausdrücke analysiert, die soziale oder politische Inhalte haben. Daß eine historische Klärung der jeweils verwendeten Begriffe nicht nur auf die Sprachgeschichte, sondern ebenso auf sozialgeschichtliche Daten zurückgreifen muß, ist selbstverständlich, denn jede Semantik hat es als solche mit außersprachlichen Inhalten zu tun. Darin gründet ja ihre prekäre Randlage in den Sprachwissenschaften7, darin ihre vorzügliche Hilfeleistung für die Historie. Im Durchgang durch die Düse der Begriffsklärung werden vergangene Aussagen präzisiert, werden die ehedem intendierten Sachverhalte oder Beziehungen in ihrer sprachlichen Fassung für uns um so deutlicher in den Blick gerückt.
II. Wenn bisher nur der quellenkritische Aspekt einer Begriffsbestimmung als Hilfe für sozialgeschichtliche Fragen betont wurde, so liegt darin eine Verkürzung dessen, was eine Begriffsgeschichte zu leisten vermag. Ihr methodischer Anspruch umreißt vielmehr einen eigenen Bereich, der zur Sozialgeschichte in einer sich gegenseitig stimulierenden Spannung steht. Schon historiographisch gesehen war die Spezialisierung auf die Begriffsgeschichte
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von nicht geringem Einfluß auf sozialhistorische Fragestellungen. Sie begann erstens als Kritik an der unbesehenen Übertragung gegenwärtiger und zeitgebundener Ausdrücke des Verfassungslebens in die Vergangenheit8, zweitens intendierte sie eine Kritik an der Geschichte von Ideen, sofern diese als konstante Größen eingebracht wurden, die sich nur in verschiedenen historischen Gestalten artikulieren, ohne sich im Kern zu ändern. Beide Impulse führten zu einer Präzision der Methoden, indem bei der Geschichte eines Begriffs der Erfahrungsraum und der Erwartungshorizont der jeweiligen Zeit ausgemessen werden, indem die politische und soziale Funktion der Begriffe und ihr schichtenspezifischer Gebrauch untersucht werden, kurz, indem die synchronische Analyse Situation und Zeitlage mit thematisiert. Ein solches Verfahren steht unter dem Vorgebot, vergangene Wortbedeutungen in unser heutiges Verständnis zu übersetzen. Jede Wort- oder Begriffsgeschichte führt von einer Feststellung vergangener Bedeutungen zu einer Festsetzung dieser Bedeutungen für uns. Indem dieser Vorgang von der Begriffsgeschichte methodisch reflektiert wird, wird bereits die synchronische Analyse der Vergangenheit diachronisch ergänzt. Es ist ein methodisches Gebot der Diachronie, die Registratur vergangener Wortbedeutungen wissenschaftlich für uns neu zu definieren. Konsequenterweise verwandelt sich diese methodische Perspektive über die Zeiten hinweg auch inhaltlich in eine Geschichte des jeweils thematisierten Begriffs. Indem die Begriffe im zweiten Durchgang einer Untersuchung aus ihrem situationsgebundenen Kontext gelöst werden, und ihre Bedeutungen durch die Abfolge der Zeiten hindurch verfolgt und dann einander zugeordnet werden, summieren sich die einzelnen historischen Begriffsanalysen zur Geschichte des Begriffs. Erst auf dieser Ebene wird die historischphilologische Methode begriffsgeschichtlich überhöht, erst auf dieser Ebene verliert die Begriffsgeschichte ihren subsidiären Charakter für die Sozialhistorie. Gleichwohl steigt der sozialhistorische Ertrag. Gerade indem die Optik streng diachronisch auf Dauer oder Wandel eines Begriffs eingestellt wird, wächst die sozialhistorische Relevanz der Ergebnisse. Wieweit hat sich der intendierte oder gemeinte Inhalt ein und desselben Wortkörpers durchgehalten – wie sehr hat er sich geändert, daß mit der Zeitabfolge auch der Sinn eines Begriffs einem geschichtlichen Wandel unterlegen ist? Nur diachronisch können Dauer und Geltungskraft eines sozialen oder politischen Begriffs und dem korrespondierende Strukturen in den Blick kommen. Durchgehaltene Worte sind für sich genommen kein hinreichendes Indiz für gleichbleibende Sachverhalte. So ist das gleichlautende Wort „Bürger“ bedeutungsblind, wenn nicht der Ausdruck „Bürger“ in seinem Begriffswandel untersucht wird: vom (Stadt-)Bürger um 1700 über den (Staats-)Bürger um 1800 zum Bürger (= Nichtproletarier) um 1900, womit nur ein grobes Raster genannt sei.
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„Stadtbürger“ war ein ständischer Begriff, in dem rechtliche, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Bestimmungen ungeschieden vereinigt waren, Bestimmungen, die mit anderem Inhalt die übrigen Standesbegriffe füllten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Stadtbürger im Allgemeinen Landrecht nicht mehr durch Aufzählung positiver Kriterien definiert (wie noch im Entwurf), sondern negativ als nicht zum Bauern- oder Adelsstand gehörig. Damit meldete er per negationem einen Anspruch auf höhere Allgemeinheit an, die im „Staatsbürger“ auf ihren Begriff gebracht wurde. Die Negation der Negation war gleichsam erreicht, als der Staatsbürger – 1848 – in seine positiv umschriebenen politischen Rechte eintrat, die er zuvor nur als „Einwohner“ und Teilhaber einer freien Wirtschaftsgesellschaft genossen hatte. Auf dem Hintergrund der formalen Rechtsgleichheit einer liberalen, vom Staat gedeckten Wirtschaftsgesellschaft wurde es dann möglich, den „Bürger“ rein ökonomisch einer Klasse zuzuordnen, aus der erst – sekundär – politische oder gesellschaftliche Funktionen abgeleitet wurden. Das gilt sowohl für das Klassenwahlrecht wie für die Theorie von Marx. Erst die diachronische Tiefengliederung eines Begriffs erschließt langfristige Strukturänderungen. So ist auch der schleichende und langsame Bedeutungswandel der „societas civilis“ als politisch verfaßter Gesellschaft zur „Bürgerlichen Gesellschaft“ sine imperio, die schließlich bewußt als vom Staat geschieden konzipiert wird, eine sozialhistorisch relevante Erkenntnis, die nur auf der Reflexionsebene der Begriffsgeschichte erreicht werden kann9. Das diachronische Prinzip konstituiert also die Begriffsgeschichte als eigenes Forschungsgebiet, das durch die Reflexion auf Begriffe und ihren Wandel methodisch zunächst von den außersprachlichen Inhalten – als Eigenbereich der Sozialhistorie – absehen muß. Dauer, Wandel oder Neuheit von Wortbedeutungen müssen erst einmal erfaßt werden, bevor sie als Indikatoren für die außersprachlichen Inhalte selber, für soziale Strukturen oder politische Konfliktlagen verwendbar sind. Unter rein temporalem Aspekt lassen sich nun die sozialen und politischen Begriffe in drei Gruppen ordnen: einmal kann es sich um Traditionsbegriffe handeln, wie die der aristotelischen Verfassungslehre, deren Wortbedeutungen sich teilweise durchhalten, deren Anspruch sich auch unter heutigen Verhältnissen noch empirisch einlösen läßt. Ferner lassen sich Begriffe registrieren, deren Inhalt sich so entschieden gewandelt hat, daß trotz gleicher Wortkörper die Bedeutungen kaum noch vergleichbar und nur noch historisch einholbar sind. Man denke an die moderne Bedeutungsvielfalt von „Geschichte“, die zugleich ihr eigenes Subjekt und Objekt zu sein scheint – im Gegensatz zu den „Geschichten“ und „Historien“, die von konkreten Gegenstandsbereichen und von Personen handeln; oder man denke an „Klasse“ im Unterschied zur römischen „classis“. Schließlich lassen sich die jeweils hochtauchenden Neologismen registrieren, die auf bestimmte politische oder soziale Lagen reagieren, deren Neuartigkeit sie zu registrieren
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oder gar zu provozieren suchen. Dafür sei „Kommunismus“ oder „Faschismus“ genannt. Innerhalb dieses temporalen Schemas gibt es natürlich unendlich viele Übergänge und Überlagerungen. So läßt sich die Geschichte des Begriffs „Demokratie“ unter allen drei Aspekten betrachten. Die antike Demokratie als eine von endlich vorgegebenen, möglichen Verfassungsformen der Polis: sie kennt Bestimmungen, Verfahrensweisen oder Regelhaftigkeiten, die auch heute noch in „Demokratien“ zu finden sind. Im 18. Jahrhundert wurde der Begriff aktualisiert, um für moderne Großstaaten und seine sozialen Folgelasten neue Organisationsformen zu bezeichnen. Mit der Berufung auf die Herrschaft der Gesetze oder den Gleichheitssatz werden alte Bedeutungen aufgegriffen und modifiziert. Aber im Hinblick auf die sozialen Veränderungen im Gefolge der industriellen Revolution wachsen dem Begriff neue Valenzen zu: Er wird zu einem Erwartungsbegriff, der in geschichtsphilosophischer Perspektive – sei es legislatorisch oder revolutionär – stets neue und neu auftauchende Bedürfnisse zu befriedigen erheischt, um seinen Sinn einzulösen. Schließlich wird „Demokratie“ zu einem allgemeinen Oberbegriff, der, an die Stelle der „Republik“ (= politeia) tretend, nunmehr alle anderen Verfassungstypen als Herrschaftsformen in die Illegalität drängt. Auf dem Hintergrund dieser globalen Allgemeinheit, die politisch völlig verschieden besetzbar ist, wird es nötig, den Begriff durch Zusatzbestimmungen neu zu prägen. Nur so läßt er sich politisch funktionsfähig halten: es entstehen die repräsentative, die christliche, die soziale, die Volksdemokratie usw. Dauer, Wandel und Neuheit werden also entlang den Bedeutungen und dem Sprachgebrauch eines und desselben Wortes diachronisch erfaßt. Die temporale Testfrage einer möglichen Begriffsgeschichte nach Dauer, Wandel und Neuheit führt dabei zu einer Tiefengliederung sich durchhaltender, überlappender, ausgefällter und neuer Bedeutungen, die sozialhistorisch nur relevant werden können, wenn die Geschichte des Begriffs zuvor gleichsam isoliert herausgearbeitet wird. Die Begriffsgeschichte liefert somit Indikatoren für die Sozialgeschichte, indem sie ihrer eigenen Methode folgt. Die Einengung der Analyse auf Begriffe bedarf einer weiteren Erläuterung, um die Eigenständigkeit der Methode davor zu schützen, vorschnell mit sozialhistorischen Fragen, die sich auf außersprachliche Inhalte beziehen, identifiziert zu werden. Selbstverständlich läßt sich eine Sprachgeschichte entwerfen, die selber als Sozialgeschichte konzipiert wird. Eine Begriffsgeschichte ist schärfer umgrenzt. Die methodische Einengung auf die Geschichte von Begriffen, die sich in Worten ausdrücken, erfordert eine Begründung, die die Ausdrücke „Begriff“ und „Wort“ unterscheidbar macht. Wie auch immer das linguistische Dreieck von Wortkörper (Bezeichnung) – Bedeutung (Begriff) – Sache in seinen verschiedenen Varianten verwendet wird, im Bereich der Geschichtswissenschaft läßt sich – zunächst pragmatisch – eine schlichte Unterscheidung treffen: die gesellschaftlich-politische Terminologie der Quellensprache kennt eine Reihe von Aus-
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drücken, die sich auf Grund quellenkritischer Exegese definitorisch als Begriffe herausheben lassen. Jeder Begriff hängt an einem Wort, aber nicht jedes Wort ist ein (sozialer und politischer) Begriff. Begriffe enthalten einen konkreten Allgemeinheitsanspruch und sie sind immer vieldeutig – und beides in jeweils anderer Weise als Worte schlechthin. So kann sich sprachlich eine Gruppenidentität durch den emphatischen Gebrauch des Wortes „Wir“ artikulieren oder herstellen, begrifflich ist dieser Vorgang erst faßbar, wenn das „Wir“ mit Kollektivnamen wie „Nation“, „Klasse“, „Freundschaft“, „Kirche“ usw. auf seinen Begriff gebracht wird. Die allgemeine Verwendbarkeit des „Wir“ wird durch die genannten Ausdrücke konkretisiert, aber auf einer Ebene begrifflicher Allgemeinheit. Nun mag die Ausprägung eines Wortes zum Begriff, je nach dem Sprachgebrauch der Quellen, gleitend sein. Das liegt zunächst in der Mehrdeutigkeit aller Worte beschlossen, an der – als Worte – auch die Begriffe teilhaben. Darin liegt ihre gemeinsame geschichtliche Qualität enthalten. Aber die Mehrdeutigkeit läßt sich, je nachdem ob ein Wort als Begriff verstanden werden kann oder nicht, verschieden lesen. Gedankliche oder sachliche Bedeutungen haften zwar am Wort, aber sie speisen sich ebenso aus dem intendierten Inhalt, aus dem gesprochenen oder geschriebenen Kontext, aus der gesellschaftlichen Situation. Das gilt zunächst für beide, für Worte und Begriffe. Ein Wort kann nun – im Gebrauch – eindeutig werden. Ein Begriff dagegen muß vieldeutig bleiben, um ein Begriff sein zu können. Auch der Begriff haftet zwar am Wort, er ist aber zugleich mehr als ein Wort: Ein Wort wird zum Begriff, wenn die Fülle eines politisch-sozialen Bedeutungs- und Erfahrungszusammenhanges, in dem und für den ein Wort gebraucht wird, insgesamt in das eine Wort eingeht. Was alles geht z. B. in das Wort „Staat“ ein, daß es zu einem Begriff werden kann: Herrschaft, Gebiet, Bürgertum, Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung, Steuern, Heer, um nur Geläufiges zu nennen. Alle in sich mannigfachen Sachverhalte mit ihrer eigenen Terminologie, aber auch Begrifflichkeit, werden vom Wort Staat aufgegriffen, auf ihren Begriff gebracht. Begriffe sind also Konzentrate vieler Bedeutungsgehalte. Wortbedeutungen und das Bedeutete können getrennt gedacht werden. Im Begriff fallen Bedeutungen und Bedeutetes insofern zusammen, als die Mannigfaltigkeit geschichtlicher Wirklichkeit und geschichtlicher Erfahrung in die Mehrdeutigkeit eines Wortes so eingeht, daß sie nur in dem einen Wort ihren Sinn erhält, begriffen wird. Ein Wort enthält Bedeutungsmöglichkeiten, ein Begriff vereinigt in sich Bedeutungsfülle. Ein Begriff kann also klar, muß aber vieldeutig sein. „Alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt, entziehen sich der Definition; definierbar ist nur, das, was keine Geschichte hat“ (Nietzsche). Ein Begriff bündelt die Vielfalt geschichtlicher Erfahrung und eine Summe von theoretischen und praktischen Sachbezügen in einem Zusammenhang, der als solcher nur durch den Begriff gegeben ist und wirklich erfahrbar wird.
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Hiermit wird deutlich, daß „Begriffe“ zwar politische und soziale Inhalte erfassen, daß aber ihre semantische Funktion, ihre Leistungsfähigkeit nicht allein aus den sozialen und politischen Gegebenheiten ableitbar ist, auf die sie sich beziehen. Ein Begriff ist nicht nur Indikator der von ihm erfaßten Zusammenhänge, er ist auch deren Faktor. Mit jedem Begriff werden bestimmte Horizonte, aber auch Grenzen möglicher Erfahrung und denkbarer Theorie gesetzt. Deshalb kann die Geschichte von Begriffen Erkenntnisse ermitteln, die von der Sachanalyse her nicht in den Blick rücken. Die Begriffssprache ist ein in sich konsistentes Medium, Erfahrungsfähigkeit und Theoriehaltigkeit zu thematisieren. Das läßt sich zwar in sozialhistorischer Absicht tun, aber die begriffsgeschichtliche Methode muß dabei gewahrt bleiben. Freilich darf die Eigenständigkeit der Methode nicht dazu führen, die sachgeschichtlichen Inhalte – bloß weil sie für eine bestimmte Strecke der Untersuchung ausgeklammert werden – als unwichtig abzutun. Im Gegenteil. Durch die Zurücknahme der Fragerichtung auf die sprachliche Erfassung von politischen Situationen oder sozialen Strukturen werden diese selbst zum Sprechen gebracht. Die Begriffsgeschichte als historische Methode hat es immer mit politischen oder sozialen Ereignissen oder Zuständen zu tun, freilich nur mit solchen, die bereits früher in der Quellensprache begrifflich erfaßt und artikuliert worden sind. Sie interpretiert in einem engen Sinne Geschichte durch ihre jeweilig vergangenen Begriffe – auch wenn die Worte heute noch verwendet werden –, so wie sie die Begriffe geschichtlich versteht – auch wenn ihr ehemaliger Gebrauch für uns heute neu definiert werden muß. Insofern hat die Begriffsgeschichte, überspitzt formuliert, die Konvergenz von Begriff und Geschichte zum Thema. Geschichte wäre dann nur insoweit Geschichte, wie sie je schon begriffen worden ist. Erkenntnistheoretisch hätte sich dann geschichtlich nichts ereignet, was nicht auch begrifflich erfaßt worden wäre. Ganz abgesehen von der Überbewertung schriftlicher Quellen, die sich weder theoretisch noch empirisch halten läßt, lauert hinter dieser Konvergenzthese die Gefahr, Begriffsgeschichte ontologisch mißzuverstehen. Auch der kritische Impuls, die Ideenoder Geistesgeschichte sozialhistorisch einzuholen, ginge dabei verloren und damit auch der ideologiekritische Effekt, den die Begriffsgeschichte auslösen kann. Die begriffsgeschichtliche Methode durchbricht vielmehr den naiven Zirkelschluß vom Wort auf die Sache und zurück. Es wäre ein theoretisch nicht einlösbarer Kurzschluß, Geschichte nur aus ihren eigenen Begriffen, etwa als Identität von Zeitgeist und Ereigniszusammenhang, zu begreifen. Vielmehr besteht gerade zwischen Begriff und Sachverhalt eine Spannung, die bald aufgehoben wird, bald wieder aufbricht, bald unlösbar erscheint. Immer wieder ist ein Hiatus zwischen sozialen Sachverhalten und dem darauf zielenden oder sie übergreifenden Sprachgebrauch registrierbar. Wortbedeutungswandel und Sachwandel, Situationswechsel und Zwang zu Neubenennungen korrespondieren auf je verschiedene Weise miteinander.
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Daraus ergeben sich methodische Weiterungen. Die Untersuchung eines Begriffs darf nicht nur semasiologisch verfahren, sie kann sich nie auf die Wortbedeutungen und deren Änderung beschränken. Eine Begriffsgeschichte muß immer wieder geistes- oder sachgeschichtliche Forschungsergebnisse berücksichtigen, vor allem muß sie alternierend mit dem semasiologischen Zugriff auch onomasiologisch arbeiten. Das heißt, die Begriffsgeschichte muß ebenso die Vielzahl der Benennungen für (identische?) Sachverhalte registrieren, um Auskunft darüber geben zu können, wie etwas auf seinen Begriff gebracht wurde. So läßt sich das Phänomen der „Säkularisation“ nicht nur durch die Analyse dieses Ausdrucks untersuchen10. Wortgeschichtlich müssen auch parallele Ausdrücke wie „Verweltlichung“ oder „Verzeitlichung“ herangezogen werden, sachgeschichtlich müssen die Bereiche des Kirchen- und Verfassungsrechts berücksichtigt werden, geistesgeschichtlich die ideologischen Strömungen, die sich an diesen Ausdruck ankristallisiert haben – bevor der Begriff „Säkularisation“ als Faktor und als Indikator der damit bezeichneten Geschichte hinreichend erfaßt ist. Oder um ein anderes Phänomen zu nennen: die förderale Struktur des alten Reiches gehört zu den langfristigen, politisch und rechtlich gleich relevanten Tatbeständen, die vom Spätmittelalter bis zur Bundesrepublik Deutschland bestimmte Grundmuster politischer Möglichkeiten und politischen Verhaltens gesetzt haben. Nun reicht die Wortgeschichte von „Bund“ allein nicht hin, die begriffliche Klärung der föderalen Struktur im Zug der Geschichte zu erfassen. Das sei, grob vereinfachend, kurz skizziert. Der Terminus „Bund“ ist in der deutschen Rechtssprache eine relativ späte Bildung des 13. Jahrhunderts. Bundesabmachungen (Einungen), sofern sie nicht unter lateinischen Ausdrücken wie „foedus“, „unio“, „liga“, „societas“ u. a. subsumiert wurden, konnten in der deutschen Rechtssprache zunächst nur verbaliter ausgedrückt und vollzogen werden. Erst die Summe bereits vollzogener, dann so genannter „Verbündnisse“ kondensierte sich zu dem Institutionsausdruck „Bund“. Erst mit wachsender bündischer Erfahrung gelang die sprachliche Verallgemeinerung, die dann als Begriff „Bund“ zur Verfügung stand. Seitdem ließ sich – begrifflich – über das Verhältnis eines „Bundes“ zum Reich und über die Verfassung des Reiches als „Bund“ nachdenken. Indes wurde diese Möglichkeit zur Theorie im ausgehenden Mittelalter kaum genutzt. „Bund“ blieb schwerpunktweise ein standesrechtlicher Begriff, besonders um Städtebünde zu bezeichnen, im Unterschied zu fürstlichen Einungen oder ritterschaftlichen Gesellschaften. – Die religiöse Aufladung des Bundesbegriffs im Zeitalter der Reformation führte dann – gegenläufig zur calvinistischen Welt – zu seinem politischen Verschleiß. Für Luther konnte nur Gott einen Bund stiften, weshalb sich der Schmalkaldische „Vorstand“ niemals als „Bund“ bezeichnet hatte. Erst historiographisch wird er so genannt. Der emphatische, zugleich religiöse und politische Gebrauch des Ausdrucks bei Müntzer und den Bauern 1525 führte außerdem zu einer Diskriminierung bzw. Tabuierung seiner Verwendung. Als
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verfassungsrechtlicher terminus technicus trat er deshalb zurück, und die konfessionellen Kampfgruppen sammelten sich unter den zunächst austauschbaren und neutralen Ausdrücken „Liga“ und „Union“. Im Vollzug der blutigen Auseinandersetzungen gerannen diese Ausdrücke zu religiösen Kampfbegriffen, die dann ihrerseits mit dem VerIauf des 30jährigen Krieges anrüchig wurden. Französische Ausdrücke wie „Allianz“ imprägnierten seit 1648 das reichsstaatliche Bündnisrecht der deutschen Fürsten. Es wurde von völkerrechtlichen Kriterien durchsetzt und schleichend verändert. Erst mit der Auflösung der altständischen Reichsordnung tauchte der Ausdruck „Bund“ wieder hoch, und zwar jetzt auf gesellschaftlicher, auf staats- und auf völkerrechtlicher Ebene nebeneinander. Der soziale Ausdruck „bündisch“ wurde geprägt (von Campe), die rechtliche Unterscheidung zwischen „Bündnis“ und „Bund“ – früher das gleiche meinend – konnte jetzt artikuliert werden, schließlich wurde mit dem Ende des Reichs der Ausdruck „Bundesstaat“ gefunden, in dem die früher unlösbaren verfassungsmäßigen Aporien erstmals auf einen geschichtlichen Begriff gebracht wurden, der in die Zukunft wies. Diese Hinweise mögen genügen, um zu zeigen, daß eine Wortgeschichte der Bedeutungen von „Bund“ nicht hinreicht, die Geschichte dessen zu beschreiben, was an föderalen Strukturproblemen im Verlauf der deutschen Reichsgeschichte „auf den Begriff gebracht“ worden ist. Semantische Felder müssen ausgemessen werden, das Verhältnis von Einung zu Bund, von Bund zu Bündnis, das Verhältnis dieser Ausdrücke zu Union und Liga oder zu Allianz müssen jeweils untersucht werden. Die Frage nach den – wechselnden – Gegenbegriffen muß gestellt werden, um politische Fronten und religiöse oder soziale Gruppierungen zu klären, die sich innerhalb der föderalen Möglichkeiten ausgebildet haben. Neubildungen müssen interpretiert werden, z. B. muß die Frage beantwortet werden, warum der Ende des 18. Jahrhunderts übernommene Ausdruck „Föderalismus“ nicht zu einem Kernbegriff des deutschen Verfassungsrechts im 19. Jahrhundert aufrückte. Ohne die Parallel- oder Gegenbegriffe einzubeziehen, ohne Allgemein- und Spezialbegriffe aufeinander zuzuordnen, ohne Überlappungen zweier Ausdrücke zu registrieren, ist es nicht möglich, den Stellenwert eines Wortes als „Begriff“ für das soziale Gefüge oder für politische Frontstellungen zu ermitteln. Begriffsgeschichte zielt also, gerade im Wechsel semasiologischer und onomasiologischer Fragen, letztlich auf die „Sachgeschichte“. Der wechselnde Stellenwert des Ausdrucks „Bund“ kann dann z. B. besonders aufschlußreich sein für Verfassungslagen, die unter diesem Ausdruck auf ihren Begriff gebracht worden sind – oder nicht. Die rückwärtsgewandte Klärung und heutige Definition des vergangenen Wortgebrauchs vermittelt dann verfassungsgeschichtliche Einsichten: ob der Ausdruck „Bund“ als standesrechtlicher Begriff, ob er als religiöser Erwartungsbegriff, ob als politischer Organisationsbegriff oder als völkerrechtlicher Zielbegriff (wie in Kants Prägung eines „Völkerbundes“) verwendet wurde, das
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zu klären heißt Unterscheidungen finden, die die Geschichte auch „sachlich“ gliedern. Begriffsgeschichte ist, anders gewendet, kein Selbstzweck, auch wenn sie ihrer eigenen Methode folgt. Sofern sie Indikatoren und Faktoren für die Sozialgeschichte liefert, läßt sich die Begriffsgeschichte also auch als methodisch eigenständiger Teil sozialhistorischer Forschung definieren. Aus dieser Eigenständigkeit entspringt nun noch ein spezifisch methodischer Vorzug, der auf die gemeinsamen theoretischen Prämissen der Begriffs- und Sozialgeschichte hinweist. Alle bisher aufgeführten Beispiele, die Geschichte des Bürgerbegriffs, des Demokratiebegriffs oder des Bundesbegriffs zeugen von einer formalen Gemeinsamkeit: sie thematisieren – synchronisch – Zustände und – entlang der Diachronie – deren Veränderung. Damit zielen sie auf das, was im Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte mit Strukturen und deren Wandel bezeichnet werden mag. Nicht, daß das eine unvermittelt aus dem anderen abgeleitet werden dürfte, aber die Begriffsgeschichte hat den Vorzug, diesen Zusammenhang zwischen Begriff und Wirklichkeit zu reflektieren. Damit entsteht eine erkenntnisträchtige, für die Sozialgeschichte produktive Spannung. Es ist nicht notwendig, daß Dauer und Wandel von Wortbedeutungen der Dauer und dem Wandel der damit bezeichneten Strukturen entsprechen. Gerade weil durchgehaltene Worte für sich genommen kein hinreichendes Indiz für gleichbleibende Sachverhalte sind und weil – umgekehrt – langfristig sich ändernde Sachverhalte von sehr verschiedenen Ausdrücken erfaßt werden, ist die begriffsgeschichtliche Methode eine conditio sine qua non sozialgeschichtlicher Fragen. Es gehört zum Vorzug der Begriffsgeschichte, im Wechsel synchronischer und diachronischer Analysen die Dauer vergangener Erfahrungen und die Tragfähigkeit vergangener Theorien aufschlüsseln zu helfen. Im Wechsel der Perspektive können Verwerfungen sichtbar werden, die zwischen alten Wortbedeutungen, die auf einen entschwindenden Sachverhalt zielen, und neuen Gehalten desselben Wortes auftauchen. Dann können Bedeutungsübergänge beachtet werden, denen keine Wirklichkeit mehr entspricht, oder Wirklichkeiten scheinen durch einen Begriff hindurch, deren Bedeutung unbewußt bleibt. Gerade der diachronische Rückblick kann Schichten freilegen, die im spontanen Sprachgebrauch verdeckt sind. So ist der religiöse Sinngehalt von „Bund“ niemals ganz abgestreift worden, nachdem der Ausdruck im 19. Jahrhundert zu einem sozialen und politischen Organisationsbegriff wurde. Marx und Engels haben das gewußt, als sie aus dem „Glaubensbekenntnis“ für den „Bund der Kommunisten“ das „Manifest der kommunistischen Partei“ gemacht haben. Die Begriffsgeschichte klärt also auch die Mehrschichtigkeit von chronologisch aus verschiedenen Zeiten herrührenden Bedeutungen eines Begriffs. Damit führt sie über die strikte Alternative der Diachronie oder Synchronie hinaus, sie verweist vielmehr auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die in einem Begriff enthalten sein kann. Sie thematisiert also –
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anders gewendet – was für die Sozialgeschichte zu den theoretischen Prämissen gehört, wenn sie kurze, mittlere oder lange Fristen, wenn sie Ereignisse und Strukturen gegeneinander abwägen will. Die geschichtliche Tiefenlage eines Begriffs, die nicht identisch ist mit der chronologischen Abfolge seiner Bedeutungen, gewinnt damit einen systematischen Anspruch, dem jede sozialhistorische Forschung Rechnung tragen muß.
III. Die Begriffsgeschichte arbeitet unter der theoretischen Prämisse, Dauer und Wandel gegeneinander abwägen und aneinander messen zu müssen. Sofern sie dies im Medium der Sprache, der Quellensprache und der Wissenschaftssprache tut, reflektiert sie theoretische Prämissen, die auch von einer „sachgeschichtlich“ bezogenen Sozialhistorie eingelöst werden müssen. Es ist ein allgemeiner Befund der Sprache, daß jede ihrer Wortbedeutungen weiter reicht als jene Einmaligkeit, die geschichtliche Ereignisse zu haben beanspruchen können. Jedes Wort, selbst jeder Name weist seiner sprachlichen Möglichkeit nach über das Einzelphänomen hinaus, das sie jeweils bezeichnen oder benennen. Das gilt ebenso für geschichtliche Begriffe, auch wenn sie – zunächst – dazu dienten, komplexe Erfahrungsbestände in ihrer Singularität begrifflich zu bündeln. Ein einmal „geprägter“ Begriff enthält rein sprachlich in sich die Möglichkeit, generalisierend verwendet zu werden, Typen zu bilden oder Blickwinkel zum Vergleich freizugeben. Wer von einer bestimmten Partei, einem bestimmten Staat, einer bestimmten Armee handelt, bewegt sich sprachlich auf einer Ebene, die Parteien, Staaten oder Armeen potentiell mitsetzt. Eine Geschichte der entsprechenden Begriffe induziert also strukturale Fragen, die zu beantworten die Sozialgeschichte aufgefordert ist. Begriffe belehren uns nicht nur über die Einmaligkeit vergangener Bedeutungen, sondern enthalten strukturale Möglichkeiten, thematisieren Gleichzeitigkeiten im Ungleichzeitigen, die nicht auf die Ereignisabfolge der Geschichte heruntergestimmt werden können. Begriffe, die vergangene Tatbestände, Zusammenhänge und Prozesse umgreifen, werden für den Sozialhistoriker, der sich ihrer im Erkenntnisgang bedient, zu Formalkategorien, die als Bedingungen möglicher Geschichte gesetzt werden. Erst Begriffe mit dem Anspruch auf Dauer, wiederholbare Anwendbarkeit und empirische Einlösbarkeit, also Begriffe mit strukturalem Anspruch, geben den Weg frei, wie eine ehemals „wirkliche“ Geschichte heute überhaupt als möglich erscheinen und somit dargestellt werden kann. Das wird noch deutlicher, wenn das Verhältnis der Quellensprache zur Wissenschaftssprache begriffsgeschichtlich vermittelt wird. Jede Historiographie bewegt sich auf zwei Ebenen: Entweder untersucht sie Sachverhalte, die bereits früher sprachlich artikuliert wurden, oder sie rekonstruiert Sachverhalte, die früher sprachlich nicht artikuliert worden sind, die aber mit
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Hilfe bestimmter Methoden und von Indizienschlüssen herauspräpariert werden. Im ersten Fall dienen die überkommenen Begriffe als heuristischer Einstieg, die vergangene Wirklichkeit zu erfassen. Im letzteren Fall bedient sich die Historie ex post gebildeter und definierter Begriffe, die angewendet werden, ohne im Quellenbefund aufweisbar zu sein. So werden etwa wirtschaftstheoretische Prämissen gesetzt, um den Frühkapitalismus mit Kategorien zu untersuchen, die damals unbekannt waren. Oder es werden politische Theoreme entwickelt, die auf vergangene Verfassungsverhältnisse appliziert werden, ohne schon deshalb eine Geschichte im Optativ hervorrufen zu müssen. In beiden Fällen klärt die Begriffsgeschichte die Differenz, die zwischen vergangener und heutiger Begrifflichkeit herrscht, sei es daß sie den alten, quellengebundenen Sprachgebrauch übersetzt und definitorisch für die gegenwärtige Forschung aufbereitet, sei es, daß sie die modernen Definitionen wissenschaftlicher Begriffe auf ihre geschichtliche Tragfähigkeit hin überprüft. Die Begriffsgeschichte umfaßt also jene Konvergenzzone, in der die Vergangenheit samt ihren Begriffen in die heutigen Begriffe eingeht. Es ist offenkundig zu kurz gegriffen, um ein bekanntes Beispiel zu wiederholen, vom Gebrauch des Wortes „Staat“ (status, état) auf das Phänomen des modernen Staates zu schließen, was kürzlich in einer gründlichen Untersuchung aufgearbeitet wurde11. Nun bleibt sozialgeschichtlich die Frage immer aufschlußreich, warum erst zu einer bestimmten Zeit bestimmte Phänomene auf ihren gemeinsamen Begriff gebracht wurden. So hat trotz lange etablierter Bürokratie und Armee die preußische Rechtssprache erst 1848 die Summe der preußischen Staaten als einen „Staat“ legalisiert: zu einer Zeit also, da die liberale Wirtschaftsgesellschaft die ständischen Unterschiede relativiert und zugleich ein durch alle Provinzen hindurchgreifendes Proletariat hervorgerufen hatte. Der preußische Staat wurde rechtssprachlich erst als bürgerlicher Verfassungsstaat aus der Taufe gehoben. Solche singulären Befunde können freilich die Historie nicht hindern, einmal etablierte Begriffe des geschichtlichen Lebens wissenschaftlich zu definieren und auf andere Zeiten oder Bereiche auszudehnen. So läßt sich natürlich von einem Staat des hohen Mittelalters reden, wenn nur die definitorischen Ausweitungen begriffsgeschichtlich abgesichert werden. Damit versetzt freilich die Begriffsgeschichte die Sozialgeschichte in Zugzwang. Mit der Ausweitung späterer Begriffe auf frühere Zeiten oder umgekehrt mit der Dehnung (wie heute im Sprachgebrauch von Feudalismus üblich) früherer Begriffe auf spätere Phänomene werden – zumindest hypothetisch – minimale Gemeinsamkeiten im Gegenstandsbereich gesetzt. Die lebendige Spannung zwischen Wirklichkeit und Begriff taucht also auf der Ebene der Quellen- und Wissenschaftssprache wieder auf. Sozialgeschichte, sofern sie langfristige Strukturen untersucht, kann demnach nicht darauf verzichten, die theoretischen Prämissen der Begriffsgeschichte zu berücksichtigen. Auf welcher Ebene der Verallgemeinerung man sich bewegt, und das tut jede Sozialhistorie, die Dauer, Trends und Fristen erfragt, das kann nur die Reflexion auf die dabei angewendeten Begriffe sagen, die
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das zeitliche Verhältnis von Ereignis und Struktur oder das Nebeneinander von Dauer und Veränderung theoretisch klären hilft. So war beispielsweise „Legitimität“ zunächst ein Ausdruck der Rechtssprache, der dann im Sinne des Traditionalismus politisiert wurde und in den Kampf der Parteien einging. Damit rückte er in geschichtsphilosophische Perspektiven ein und wurde je nach dem politischen Lager derer, die sich des Ausdrucks bedienten, propagandistisch eingefärbt. Alle diese Bedeutungsebenen, die sich gegenseitig überlappten, lagen vor, als Max Weber den Ausdruck wissenschaftlich neutralisiert hatte, um Typen der Herrschaftsformen beschreiben zu können. Damit hatte er aus dem empirisch vorliegenden Reservoir möglicher Bedeutungen einen Wissenschaftsbegriff herausgearbeitet, der formal und allgemein genug war, um langfristige und dauerhafte, aber auch wechselnde und sich überschneidende Verfassungsmöglichkeiten beschreiben zu können, die die historischen „Individualitäten“ auf die ihnen innewohnenden Strukturen hin aufschlüsseln. Es ist die Begriffsgeschichte, deren theoretische Prämissen strukturale Aussagen herausfordern, ohne die einzulösen eine exakt verfahrende Sozialgeschichte nicht auskommen kann.
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ANMERKUNGEN 1 Epiktet, Encheiridion, c. V. 2 Die folgenden Überlegungen gründen auf der Redaktionsarbeit an dem von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck herausgegebenen Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland“ (5 Bände, Stuttgart, Band I, 1972; die weiteren Bände folgen im Jahresabstand). Zur Ergänzung der folgenden Gesichtspunkte sei auf die Einleitung des Lexikons verwiesen. Für Herkunft und gegenwärtigen Forschungsstand der Begriffsgeschichte – nicht nur als historischer Disziplin – vgl. den gleichnamigen Artikel von H. G. Meier, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 1, Basel-Stuttgart 1971, S. 788-808. 3 Eine klare und bibliographisch gründliche Aufarbeitung der politischen Semantologie findet sich bei Walther Dieckmann, Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache, Heidelberg 1969. Speziell zur Methode und Theorie seien genannt Richard Koebner, Semantics and Historiography, in: Cambridge Journal 7 (1953); Mario A. Cattaneo, Sprachanalyse und Politologie, in: Methoden der Politologie, hrsg. von Robert H. Schmidt, Darmstadt 1967; sowie Louis Girard, Histoire et lexicographie, in: Annales 18 (1963), eine Besprechung von Jean Dubois, Le vocabulaire politique et social en France de 1869 à 1872, Paris 1962. 4 Georg Winter, Hrsg., Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg. Erster Teil, Band I, Leipzig 1931, S. 316. Für den sozialgeschichtlichen Zusammenhang der Interpretation vgl. mein Buch „Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848“ (Industrielle Welt, Band 7), Stuttgart 1967, S. 158, 190 f. und Exkurs II zur Begriffsbestimmung des Staatsbürgers und ähnlicher termini. 5 Friedrich Meusel, Hrsg., Friedrich August Ludwig von der Marwitz, 3 Bände, Berlin 1908-1913, Band II, 1, S. 235 ff.; Band II, 2, S. 43. 6 Vgl. dazu meinen Aufsatz „Der neuzeitliche Revolutionsbegriff als geschichtliche Kategorie“, in: Studium generale 22 (1969), S. 825-838. 7 Siehe Noam Chomsky, Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt/Main 1965, S. 202 ff. 8 Dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Band 1), Berlin 1961. 9 Vgl. den Artikel „Bürgerliche Gesellschaft“ von Manfred Riedel im Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“ (a.a.O., Anm. 2). 10 Vgl. Hermann Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg-München 1965, und Hermann Zabel, Verweltlichung – Säkularisierung. Zur Geschichte einer Interpretationskategorie, Diss. Münster 1968. 11 Paul-Ludwig Weinacht, Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte eines Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Band 2), Berlin 1968.
Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Rezension* J ÜRGEN K OCKA
Diese materialreiche, grundsätzliche und brillante Heidelberger Habilitationsschrift untersucht zentrale Aspekte des Übergangs von der zerbröckelnden und absolutistisch-ausgehöhlten „altständischen“ Gesellschaft der VorRevolutionszeit zur ständisch durchsetzten bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jhs., und das heißt in Preußen primär: die Rolle der Bürokratie in diesem Prozeß der tendenziellen Trennung von Staat und Gesellschaft. Das erste Kapitel vergleicht – vor allem für die Zeit bis zur Reformgesetzgebung – den ansatzweise an Ideen staatsbürgerlicher Gleichheit und Unmittelbarkeit orientierten Landrechtsentwurf mit dem Allgemeinen Landrecht von 1794 als Kompromiß ähnlich zukunftsweisender mit altständischen Momenten; es vergleicht zudem die Umbruch signalisierenden sozialen Implikationen des Allgemeinen Landrechts mit der durch noch fortgeschritteneren Zerfall geburtsständischer Strukturen gekennzeichneten sozialen Wirklichkeit. Das zweite untersucht die Reformziele und -erfolge der Beamten um Stein und Hardenberg in ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden, den „Behördenausbau von 1815 bis 1825 als verfassungspolitische Vorleistung“, das Selbstverständnis der Beamten, ihre durch Bildung und Besitz voraussetzende Selektionsmechanismen garantierte soziale Homogenität, den Machtgewinn der Verwaltung gegenüber den Gerichten. Überzeugend zeigt K., daß die Reformer angesichts des Mangels an Reform fordernden und reformbereiten sozialen Kräften, angesichts der wirtschaftlich-reaktionären Forderungen der über den Verlust altständischer Rechte verärgerten Adligen und angesichts der Zunft- und Zollschutzwünsche der meisten Stadtbürger Öffentlichkeit und „Nationalrepräsentation mit entscheidender legislativer Gewalt“ nur um den Preis des Scheiterns ihrer ökonomischen und sozialen Reformen hätten gewähren können. Seine bis dahin den „Interessen der Allgemein*
Jürgen Kocka, Rezension zu: Reinhart Koselleck. Preußen zwischen Reform und Revolution, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Bd. 57), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1970, S. 121-125.
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heit“ dienende Rolle „verspielt“ das Beamtentum, so argumentiert das dritte Kapitel, nach 1820 durch Zugeständnisse an Großgrundbesitz und Adel, durch politische Diskriminierung des Bürgertums, während innerbürokratische Veränderungen zentrale Kontrollen sowie adligen Einfluß stärken, und während Wandlungen im Bildungswesen und in den Auswahlmechanismen zur Sprengung der ehemaligen weitgehenden Identität von Beamten- und Bildungsbürgertum beitragen. Eindringlich und mit vielen konkreten Details entwickelt K. die gleichzeitige Konsolidierung der adligen Macht auf der Kreis- und Gutsebene unter der Einwirkung proadliger Gesetzgebung wie unter den sozioökonomischen Auswirkungen der Reformen (Ermöglichung der Vermehrung und Assimilation der Bürger im dadurch ökonomisch gestärkten Rittergutsbesitzerstand, der sich so in eine gutsherrschaftlich abgesicherte landwirtschaftliche Unternehmerklasse wandelte; [Land]gewinne durch Reformen auf der Basis der schon durchs Landrecht fixierten Eigentumsgarantie; Nutzen vom entstehenden Landproletariat). Ebenfalls als Konsequenz der Reformen analysiert K. schließlich zwei Frontstellungen, denen sich die Bürokratie zunehmend gegenüber sah und in der Revolution zum Teil erlag: die Stadtbürger, denen diese Verwaltung die Städteordnung und die liberale Gewerbereform einst aufgezwungen und lange eine gewerbefreundliche Wirtschaftspolitik gewährt hatte, entwickelten auf dieser Basis ökonomische Erfolge und politisches Selbstbewußtsein. Sie stellten verfassungs- und wirtschaftspolitische Forderungen, die die Beamten verweigerten. Bürokratiekritik einerseits und die Zunahme von Zensurmaßnahmen andererseits reflektierten die wachsende Spannung zwischen Bürokratie und entstehender Öffentlichkeit, die allmählich und vergeblich danach strebte, zur öffentlichen Gewalt zu werden und das Herrschaftsmonopol der Bürokratie zu brechen. Durch die Industrialisierung, deren Grundlagen nach K. ebenfalls der Staat legte, entstand die Fabrikarbeiterschaft, die zusammen mit dem Landproletariat bald den Kern der „sozialen Frage“ ausmachte. An deren Lösung versagte die Verwaltung, indem sie am Wirtschaftsliberalismus festhielt und insofern Partei für die Unternehmer nahm. Bürgerliche Forderungen und soziale Krise, Konsequenzen jener Reformen, die die Verwaltung initiiert und gegen Widerstand zum Erfolg geführt hatte, trieben zur Revolution. „Der Verwaltungsstaat erlag gleichsam seiner eigenen Schöpfung“ (S. 587). Als Quellengrundlage benutzte K. vor allem die Überlieferung verwaltungsinterner Kommunikationsvorgänge, vornehmlich in den Archiven der ehemaligen preußischen Provinzen, sowie Gesetze, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen, Reskripte, Kabinettsordres und Rechtskommentare; daneben zeitgenössische Statistiken in vorsichtigem Gebrauch (vgl. S.17) und einige publizistische, wissenschaftliche und philosophische Veröffentlichungen der Zeit. Vorwiegend stellt sich die soziale und ökonomische Wirklichkeit der Zeit dem Verf. somit in der Form dar, die sie in der (allerdings vielseitigen) Sichtweise und Darstellung der Beamten und in der Reflexion zeitgenössischer „anspruchsvoller“ Interpreten (Hegel, Marx z. B.)
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erhielt. Die historisch-philologische Interpretation dieser Texte steht methodisch für K. im Mittelpunkt, wobei ihm eine allgemeine, nicht explizierte, in den skizzierten Leitlinien und Hauptergebnissen der Arbeit sichtbar werdende, modifizierend an die Philosophie des deutschen Idealismus, besonders Hegels, anknüpfende theoretische Konzeption von seinem Gegenstand dazu verhilft, die Quellen auf überindividuelle Zusammenhänge hin zu transzendieren, die von jenen meist nicht direkt ausgesprochen werden. Umstrittener als solch strukturgeschichtlicher Ansatz dürfte dessen „korrelative“ Ausrichtung sein, die er bei K. erhält. K. konzentriert sich, wenn auch nicht ausschließlich, auf die Feststellung von Entsprechungen und NichtEntsprechungen, von Spannungen, Brechungen und Differenzen zwischen historischen Teilprozessen unterschiedlicher Dimension und Zeitqualität (dazu S. 14), die nur in dieser formalen Weise, selten aber mit Hilfe kausalanalytischer Kategorien vermittelt oder gar in einer sie umfassenden oder ihnen zugrundeliegenden, positiv formulierbaren Gesamtbewegung aufgehoben werden. Diese Methode impliziert die Absage an materiale Geschichtstheorien mit kausalen Erklärungsmustern wie auch an positivistische Faktenaufreihung in chronologischer Ordnung. Sie erlaubt die flexible Strukturierung von Daten aus sehr heterogenen Bereichen in plausibler Form, ohne sie doch in einer inhaltlich bestimmbaren Totalität zu integrieren. K. mißt etwa das Landrecht an dessen Entwurf, die soziale Wirklichkeit am kodifizierten Recht, das Handeln der Verwaltung an deren Anspruch, er fragt aber z. B. nicht nach den ökonomischen und sozialen Ursachen jener rechtstheoretischen und -praktischen Entwicklung im letzten Drittel des 18. Jhs. Er thematisiert auch nicht ausdrücklich die Frage nach den Ursachen der reaktionären Wende der Bürokratie nach 1820, deren Inhalte und Symptome er in ständigem Wechsel zwischen den Dimensionen des Verwaltungshandelns, seines Anspruchs und der sozialen Wirklichkeit analysiert. Zwar breitet er zahlreiche Faktoren vor dem Leser aus, die dieser als soziale und ökonomische Ursachen der adelsfreundlichen, bürgerfeindlichen Politik der Bürokratie seit Beginn der 20er Jahre zuordnen kann, so vor allem den Wandel der Kreisverfassung und der ländlichen Sozialverfassung und damit die Erstarkung des Adels. Doch versucht K. selbst nur am Rande ein Ursachen-Folge-Verhältnis zwischen ökonomisch-sozialer Erstarkung des Großgrundbesitzes – die ja (siehe S. 487 ff.) selbst z. T. Resultat bestimmter Verwaltungsentscheidungen war – und Adelsfreundlichkeit der Bürokratie (oder irgendeinen anderen Kausalnexus) zu etablieren. Diese Zurückhaltung gegenüber kausalanalytischen Fragestellungen (die in der Regel nicht auf monokausale Erklärungen, wohl aber auf die gewichtende Zuordnung von mehreren Ursachen und Kausalsträngen zum erklärungsbedürftigen Phänomen wie auf gegenseitige Bedingungsverhältnisse abzielen dürften) durchbricht K. gleichwohl, wenn er das Handeln der preußischen Bürokratie teils als Ursache und Triebkraft, teils als „Auslöser“ für soziale und ökonomische Entwicklungen vor allem im Bürgertum und in den Unterschichten analysiert, die ihrer Schöpferin schließlich entglitten,
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bzw. sich gegen sie wandten. Dieses zentrale, überzeugend argumentierte und belegte Ergebnis des Buches dürfte der Sichtweise der Verwaltung und der von K. vor allem benutzten Quellen entsprechen. – Die Frage nach den wirtschafts- und sozialhistorischen Ursachen und Bedingungen des Verwaltungshandelns, der Reform und ihres politisch entscheidenden Umkippens bleibt am Rande der Untersuchung. Auch bei dieser Begrenzung der Fragestellung (die eventuelle Bedingtheit des Verwaltungshandelns durch Konjunkturverlauf, ökonomische Krisen etc. wird nicht untersucht) liegt die Parallele zur Perspektive der damaligen Verwaltung und ihrer Akten auf der Hand. Solange aber die von K. stark herausgearbeitete und auf die frühen 20er Jahre ziemlich genau datierte Kehre der Bürokratie – für 1820 akzeptiert K. den Beamten-Anspruch, (alleiniger) Vertreter des allgemeinen Interesses über den konfligierenden Gruppen zu sein, als korrekte Schilderung der Wirklichkeit (S. 263), die Konstruktion der Provinzialstände 1823 wird bereits als restaurative Abweichung von der „überständischen Aufgabe“ der Verwaltung, die sie in der Auseinandersetzung um die Kreisverfassung 1825-1828 endgültig einbüßt, analysiert (S. 337 ff., 467) – nicht eingehender nach ihren Ursachen erklärt wird, bleibt beim Leser ein Erstaunen über die anscheinende Unvermitteltheit dieser Wende, bzw. die Vermutung, sie könne vielleicht doch vom Verf. überzeichnet sein. Der Verdacht verstärkt sich, der sich angesichts der nunmehr zunehmend reaktionären Entscheidungen und den objektiv großteils adelsgünstigen Folgen auch der früheren Reformen aufdrängt, daß auch für 1820 und die Jahre davor das Bild von der Bürokratie als wahrer Vertreterin des Allgemeinen, wie es der Hegel der Rechtsphilosophie formulierte und K. bestätigt, zwar dem entspricht, was die Beamten über sich dachten, in bezug auf die Realität aber zumindest eine gewisse Stilisierung bedeutet und eines ideologiekritischeren Ansatzes bedarf. Trotz aller Gegensätze zwischen Beamtentum und Adelsinteressen während der Reform und trotz der von K. erwiesenen relativen Fortschrittlichkeit der bürokratischen Entwürfe bliebe zu fragen: ob das feudalbürokratische Bündnis der späteren Jahre nicht auch schon 1807 ff. zumindest angelegt war; und vor allem: ob sich hinter dem von Hegel und K. für die Zeit bis 1820 anerkannten Anspruch der Bürokratie, Vertreterin und Exekutorin der Vernunft über den Einzelinteressen zu sein, nicht immer schon auch Herrschaftsinteressen der neuen Machtelite versteckten. Ein (von K. kaum untersuchtes) Streben der Bürokratie nach Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft würde (neben ihrer zunehmenden feudalen Bindung in einer zunehmend interessengespaltenen Gesellschaft) zu der Erklärung beitragen, warum die Bürokratie notwendig Hindernis eines von ihr initiierten Emanzipationsprozesses in dem Augenblick wurde, als dieser konsequent ihre Herrschaftsposition in Frage stellte. Solch kritische Fragestellung, die auf die sich als Allgemeininteresse gerierenden Partikularinteressen der gesellschaftlichen Gruppe „Beamtenschaft“ zielt, wird in den Forschungen E. Kehrs (dessen bedeutenden Aufsatz „Zur Genesis der preußischen Bürokra-
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tie und des Rechtsstaats“ K. offenbar nicht heranzieht!) und H. Rosenbergs mit Vorteil stärker berücksichtigt als in der vorliegenden Arbeit. Trotz solcher Einschränkungen erscheint diese dem R. mit ihrem Gedankenreichtum, ihrer Differenzierungsfähigkeit und Theoriehaltigkeit als eine überzeugende, faszinierende Sozialgeschichte wichtigster Aspekte der preußisch-deutschen „Revolution von oben“. Indem sie mit beneidenswerter Quellenkenntnis ganz heterogene Lebensgebiete übersieht und so die naheliegende Einseitigkeit mancher Spezialstudie vermeidet – K.s klärende Einschätzung der sich wandelnden Funktion der Bürokratie für die anlaufende Industrialisierung wäre dafür nur ein Beispiel unter vielen, bestimmt sie eindrucksvoll die teils in Gang setzende und beschleunigende, teils behindernde und bremsende, in jedem Fall bedeutsame Einwirkung der Bürokratie auf die Entstehung der deutschen bürgerlichen Gesellschaft, die von diesen ihren bürokratischen Geburtshilfen weit über den Vormärz hinaus geprägt blieb.
Einleitung. Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte?* A LF L ÜDTKE
Was „Alltagsgeschichte“ sei, wem sie nütze – dies ist nicht nur unter Geschichtsforschern und -forscherinnen umstritten. Die Auseinandersetzung reizt aber offenbar das Interesse. In den letzten Jahren sind zahlreiche einschlägige Texte und Bildbände, Filme und Fernsehserien produziert worden. Sie finden mit dem Hinweis auf „historische Alltage“ Abnehmer und nicht selten erhebliche Aufmerksamkeit. Nicht nur die Sache ist kontrovers; auch der Name stößt auf Kritik. In der Tat ist die Bezeichnung in manchem eine Verlegenheitslösung. Dennoch – sie taugt als Kurzformel. Polemisch wendet sie sich gegen eine Geschichtsschreibung, die den „Alltag“ weithin ignoriert hat. Bei einer ersten Annäherung zeigt sich: Im Mittelpunkt alltagsgeschichtlicher Forschungen und Darstellungen stehen Handeln und Leiden derer, die häufig als „kleine Leute“ ebenso vielsagend wie ungenau etikettiert werden. Es geht um ihr Arbeiten und Nicht-Arbeiten. Geschildert werden Wohnen und Wohnungslosigkeit, Kleidung und Nacktheit, Essen und Hungern. Das Interesse gilt dem Lieben und Hassen, dem Streiten und Kooperieren, den Erinnerungen, Ängsten und Zukunftserwartungen. Bei Alltagsgeschichte richtet sich die Aufmerksamkeit nicht mehr nur auf die Taten (und Untaten), auf das Gepränge der „Großen“, d. h. der weltlichen oder kirchlichen Herren. Wichtig werden vielmehr Leben und Über-Leben der in der Überlieferung weithin Namenlosen, bei täglicher Mühsal wie bei gelegentlicher „Verausgabung“. In Studien zu alltäglichen Mühen wie festtäglichen Freuden von Männern und Frauen, Kindern und Alten treten Handelnde hervor. Aber: In dieser Perspektive wird auch der Blick für die Opfer und die Konturen ihrer Leiden geschärft. Das letztere gilt zumal für das brutale Foltern und Morden zehntausender von Frauen, aber auch von Männern und Kindern in den Wel*
Alf Lüdtke, Einleitung. Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte?, in: ders. (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt/Main – New York: Campus 1989, S. 9-47.
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len der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen.1 Dies ist weit über die Zunftgrenzen hinaus zu einem viel beachteten Thema geworden. Zumal feministisch engagierte Frauen sehen die Erinnerung an historische Unterdrückung als unerläßlich; nur auf diesem Wege sei die Prägung der eigenen Identität zu verstehen. Folgenreicher für öffentliche Debatten, aber auch für die „privaten“ Stimmen über die eigene Geschichte sind jedoch alltagsgeschichtliche Untersuchungen der NS-Geschichte geworden. Sie versuchen, den im und durch den deutschen Faschismus Geschlagenen, Ausgebeuteten und Ermordeten eine eigene Kontur (zurück)zugeben.2 Erst das genaue Nachzeichnen der „gewöhnlichen“ Verachtung für die ab 1942/43 massenhaft eingesetzten ausländischen Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen hat z. B. deutlich gemacht, in welcher Weise sich „vor Ort“ nationale wie „völkische“ Ressentiments mit lebensgeschichtlich eingeschliffenen Ängsten und Folgsamkeiten verschränkten, zumindest bei der großen Mehrheit der „Reichsdeutschen“. Alltagsgeschichtliche Erkundungen zeigen, wie sich die meisten der „Normalverbraucher“ in ihrer Sorge ums eigene „Durchkommen“ an die NS-Herrschaft klammerten. Die „Kosten“ trugen schließlich „die anderen“, zumal diejenigen, deren Ausgrenzung so geschäftsmäßig möglich schien, die „Untermenschen“ und „Gemeinschaftsfremden“, die „Fremdarbeiter“ und „Fremdarbeiterinnen“. Alltagsgeschichtliche Forschung zielt aber auch auf die „Innenseite“ von Machterwerb und Durchsetzung der NS-Machthaber: Die Distanz zwischen Herrschenden und Beherrschten, die vielfach so entlastend wirkt, vermindert sich. Erkennbar werden Formen und Maß des „grundsätzlichen Einverständnisses“ (R. Hilberg) bei denen, die angeblich nur Befehle ausführten.3 Solche Einsichten lassen sich aus den Auseinandersetzungen um die Geschichte der Deutschen nicht mehr ausblenden. Das hat sich nicht zuletzt im Zusammenhang des „Historikerstreits“ gezeigt. Andreas Hillgruber argumentierte unter Bezug auf die Erfahrungen von Betroffenen, die Historiker müßten sich „mit dem konkreten Schicksal der deutschen Bevölkerung im Osten“ und den „verzweifelten und opferreichen Anstrengungen“ der deutschen Armeen 1944/45 „identifizieren“.4 – Das alltagsgeschichtliche Freilegen der zahllosen und fortgesetzten Grausamkeiten, die deutsche Funktionäre und Beamte, Polizisten und Soldaten nach 1933 bzw. 1939 „vor Ort“ verübt oder begründet haben, wurde zentral für die Widerlegung solcher Thesen. Denn diese Arbeiten zum „täglichen Faschismus“ haben klar gemacht, wie sehr die Leiden von Deutschen gegen Ende des Krieges auf die Kette von Terror und Leiden durch Deutsche verweisen – und von vielen Deutschen seinerzeit auch so verstanden wurden. Das heißt zugleich: Wer Handlungen und Erfahrungen aus den Zusammenhängen ihrer Entstehung und Wirkung heraustrennt, verfehlt Alltagsgeschichte. Brisant sind Untersuchungen zu den Formen, in denen „die Vielen“ im deutschen Faschismus „durchkamen“, vor allem deshalb, weil sie die übergroße Mehrheit der NS-„Volksgenossen“ als (Mit-)Täter erweisen. Adressa-
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ten sind freilich nicht allein die Mitlebenden. Auch wir Jüngeren können uns nicht mehr nur durch die Armierung mit Theorien und analytischen Konzepten ‚sicher‘ fühlen. Offenbar reicht es nicht zu prüfen, wie „die Verhältnisse“ waren, und ob sie sich geändert haben. Unübersehbar ist: Die Akteure waren (und sind) mehr als nur blinde Marionetten oder hilflose Opfer.
1. Z UM K ONZEPT : „D AS R EPETITIVE “ ODER F ORMEN DER „A NEIGNUNG “? Inhaltliche Schwerpunkte und konzeptuelle Orientierungen von Alltagsgeschichte bedürfen genauerer Bestimmung.5 Dabei lassen sich zwei Schwerpunkte unterscheiden. Erstens: Hier stehen im Zentrum jene „alltäglichen Tätigkeiten“, in denen „das Repetitive“ vorherrscht.6 Folgen wir dieser Bestimmung (von Peter Borscheid), so heißt es weiter: Durch „Wiederholung“ werde das „Alltagsdenken und -handeln pragmatisch“, denn Routine „entlaste“ die einzelnen (von fortwährender Unsicherheit bzw. Zweifeln). Für soziale Gruppen und Institutionen bedeute Routinisierung „Unterordnung“ – sei Bedingung ihrer „Stabilität“. – In dieser Sicht, die begrifflich fraglos an Arnold Gehlen angelehnt ist, tritt die Kontinuität jenes älteren Entwurfs einer Sozialgeschichte als „Strukturgeschichte“ hervor. Der Akzent lag auf dem „Bau“ sozialer Gebilde.7 Es entspricht einer derart statischen Konzeption, daß in der neueren, auf Alltagsgeschichte bezogenen Variante die entschiedene Trennung der Sphären des Alltäglichen und des Nicht-Alltäglichen vorausgesetzt ist. Zugleich wird eine eindeutige Hierarchie angenommen. Das Alltägliche sei die „Vorschule“ des „Nicht-Alltäglichen“. Die Krönung aber findet sich in der Vorstellung über historischen Wandel: Nur „wenigen Persönlichkeiten“ sei es vergönnt, den „Übertritt“ in das Nicht-Alltägliche zu leisten; allein sie aber „vermögen (die) alltägliche Basis ... des Alltags weiterzuentwickeln“ – dies erfordere Handeln von „außerhalb des Alltags“. Zweitens: Davon unterscheiden sich sehr grundsätzlich andere Sichtweisen, die im einzelnen durchaus differieren mögen. Dennoch lassen sich wesentliche Übereinstimmungen erkennen – es sind zugleich Kern-Punkte der in diesem Band versammelten Beiträge. Im Unterschied zu der eben skizzierten Konzeption ist hier nicht das „Ewig-Gleiche“ der Bezugspunkt. Im Gegenteil: Dynamik und Widersprüchlichkeit historischer Umwälzung werden auf die „Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens“ (F. Engels)8 bezogen. In dieser Auffassung gelten alltagsgeschichtliche Rekonstruktionen nicht nur den Situationen des täglichen Über-Lebens (und des momentanen Auslebens). Vor allem zeigen sie, in welcher Weise die Beteiligten Objekte und zugleich Subjekte waren bzw. werden konnten. Ausweitung von Marktbeziehungen, Durchsetzung von Lohnarbeit und vermehrter Arbeitsteilung, Bürokratisierung und „moderne“ Staatlichkeit, aber auch der Übergang zu einer „sicheren Lebenszeit“ (A. E. Imhof): Dies
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sind in der Perspektive historischer Sozialwissenschaft die zentralen historischen Prozesse der letzten Jahrhunderte.9 Alltagsgeschichte als Geschichte des alltäglichen Verhaltens und der Erfahrungen der Menschen versucht hingegen, die säkularen Umwälzungen nicht „hinter den Rücken“ der Menschen zu verlegen. Historischer Wandel wie Dauerhaftigkeit werden vielmehr dem Handeln konkreter Individuen und Gruppen zugerechnet. Ins Zentrum rückt die soziale Praxis der Menschen.10 Der forschende Blick richtet sich nicht auf die „Durchschnittsachse“ (F. Engels)11 von Interessenlagen. In den Vordergrund treten vielmehr die vielfältigen Ausdrucksweisen, in denen einzelne wie Gruppen ihre Kosten- und Nutzenabwägungen anmelden – oder verschweigen, sie durchsetzen, aber auch blockieren. Zu zeigen ist, wie gesellschaftliche Zumutungen oder Anreize als Interessen und Bedürfnisse, aber auch als Ängste und Hoffnungen wahrgenommen, bearbeitet – dabei zugleich hervorgebracht werden. Anders: Im Mittelpunkt stehen die Formen, in denen Menschen sich „ihre“ Welt „angeeignet“12 – und dabei stets auch verändert haben. Handlungsbedingungen erweisen sich in dieser Sicht als mehrdeutig; sie sind gegeben, gleichermaßen aber produziert. In den „Aneignungen“ werden sie nuanciert, aber auch verändert. Die historischen Subjekte sind also dem gesellschaftlichen „field-of-force“ (E. P. Thompson)13 nicht entzogen. Das bedeutet zunächst: Sie gelten nicht als „autonome“ Persönlichkeiten. Es geht nicht um „Ich-Stärke“ als Gegenpol zu sozialen Ausdrucksverhältnissen. Individuen und Gruppen formen das Profil ihrer Wahrnehmungs- und Handlungsweisen nicht jenseits, sondern in und durch gesellschaftliche Beziehungen.14 Auch Distanzierungen von gesellschaftlichen Regeln nutzen (oder verweisen auf) „Sprachen“, die von anderen verstanden werden: Die Matrix von Widerständigkeit bezeichnet ebenfalls ein soziales Verhältnis. Es wird freilich von den Subjekten in konkreten Situationen je neu hervorgebracht, in für sie spezifischer Weise.
2. D E -Z ENTRIERUNG
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„ DAS F REMDE “
Alltagsgeschichte bezeichnet nicht nur Versuche, historische Forschung und Darstellung in neuer Weise anzusetzen. Diese Arbeit ist vielmehr Teil einer umfassenderen Anstrengung: den Blick auf die „Errungenschaften“ der Neuzeit in einem sehr grundsätzlichen Sinn neu zu justieren. Es geht nicht mehr nur darum, die gängigen Begriffe um die Kalkulation der „Kosten“ zu erweitern, welche die säkularen „Modernisierungen“ seit dem 16. Jahrhundert mit sich brachten. Drängend werden vielmehr Fragen nach den treibenden Momenten der historischen Umwälzungen, die vielfach als „Moderne“ gilt. Als fragwürdig erweisen sich Thesen zur unausweichlichen „Rationalisierung“, die vor allem eine säkulare „Emanzipation“ von unbegriffenen (oder „mythischen“) Gewalten voranbringe. An Überzeugungskraft haben eingebüßt Konzepte zur Verknüpfung von „Rationalisie-
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rung“ mit humanem Fortschritt. Diese Zweifel haben eine methodischtheoretische Kehrseite: Korrespondiert das Bild von den „großen Zusammenhängen“ mit den Erfahrungen „der Vielen“? Es käme also darauf an, die Annahme von der „Prägekraft überindividueller Mächte“, d. h. „gesamtgesellschaftlicher Strukturen und Prozesse“15 selbst zu historisieren. Sind sie nicht Produkt einer dezidiert „bürgerlichen“ Gesellschaft und Kultur – in der ebenso disziplinierte wie kommandogewaltige „Herren“ als Erforscher wie als Entrepreneurs ihre Elle an den Rest der Welt legten? Nicht nur über die kolonisierten Völker hat sich in den europäischen „Zentren“ die Vorstellung von den „Völkern ohne Geschichte“ (E. Wolf) eingekerbt. Auch in den Zentren bleibt das ‚Fremde im Eigenen‘ vielfach verborgen; die bisher überwiegend stumme Geschichte der (tatsächlich oder angeblich) Abhängigen und Beherrschten ist noch freizulegen. In Frage steht die ‚andere Hälfte‘ eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses: die Erfahrungsgeschichte der Ausbreitung von Warenproduktion, von Staat und Bürokratie. Wie ist die ungleichmäßige Entfaltung der Produktivkräfte, die nicht von der Entwicklung der Destruktivkräfte abzulösen ist, durchgesetzt worden? Das heißt auch: Wie sind diese Umwälzungen für „die Vielen“ in den Zentren nützlich (oder doch erträglich) geworden? Eine solche Veränderung der Perspektive erfordert eine doppelte Anstrengung. Erstens sind geschichtliche Prozesse nicht nur zu beschreiben, sondern zu erklären – ohne dabei jedoch (zweitens) den Versuchungen des objektivierenden Blicks zu erliegen. Historiker, die sich ihre Objekte mit möglichst „trennscharfen“ Kategorien zurichten, folgen dabei dem Prinzip des Panoptikums: weitgehende Einsicht, aber nur aus dem eigenen Hochstand. Je weiter dieser Blick reicht, umso mehr ist paradoxerweise jede Chance blockiert, auch die Blicke „von unten nach oben“ nachvollziehen zu können. Die Kritik an den eingefahrenen Formen wissenschaftlicher Objektivierung hat als Gegenentwurf nicht das schwärmende Nachempfinden oder unkritische Alles-und-jedes-Verstehen. Es geht vielmehr darum, die Distanz zwischen „uns“ und den „anderen“ nicht als selbstverständlich, sondern als problematisch zu erkennen; sie ist vielleicht zu überbrücken, nicht aber aufzuheben (dazu in diesem Band Hans Medick)16. Das heißt vor allem, die eigenen Vorstellungen über die „anderen“, über Bauern im 17. oder Arbeiter im 19. Jahrhundert, über Bildungsbürger oder Staatsbeamte stets erneut als nachträgliche Re-Konstruktionen zu begreifen. Dabei wird klar, daß diese Konzepte auch bei fortgesetzter Verfeinerung (nicht: Schärfung!) dennoch stets Konstruktionen sind, daß sie vorläufig und brüchig bleiben. Der Rück-Blick auf die eigenen Ansätze mag vor allem zeigen: Untaugliche oder erschütterte Begriffe lassen sich keineswegs sofort ersetzen oder ausbessern; Vieldeutigkeiten sind nicht aufzulösen. Zum Wissenschaftsbetrieb gehört der Angstmechanismus vor solchen Situationen – vor fehlenden
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Konzepten, Begriffen und Theorien. Vielleicht liegt aber gerade darin eine jener Selbst-Blockierungen, die ein produktives Umgehen mit Unklarheiten und Vieldeutigkeiten in aller Regel verhindern. Allerdings hat solche Einäugigkeit Tradition. Gehört es nicht zu den Illusionen eines naiven Aufklärungsoptimismus (auch in der Marxschen Variante!), daß die Negation des Bestehenden immer schon mit dem ‚Besseren‘ schwanger gehen müsse? Wäre nicht an dieser Stelle historische Aufklärung der Gesellschaftswissenschaften über sich selbst dringlich?
3. ALLTAGSGESCHICHTE : „ NEUER I RRATIONALISMUS “? Die Versuche einer De-Zentrierung eingefahrener historischer Sehweisen äußern sich überwiegend als Alltagsgeschichte. Im einzelnen sind die Ansätze unterschiedlich. Zumindest in der Wahrnehmung der Kritiker handelt es sich aber in hohem Maße um Spielarten jenes „neuen Irrationalismus“, den sie vielerorts ausmachen. So hat Jürgen Kocka in seinem Beitrag zum Frankfurter Kongreß „Zukunft der Aufklärung“ als Beispiele für diesen „Irrationalismus“ nicht nur jene genannt, die – wie Ernst Nolte oder Andreas Hillgruber – den deutschen Faschismus auf methodisch groteske, politisch zynische Weise umdeuten und verharmlosen.17 Er sieht auch in den Geschichtswerkstätten und in „einigen Varianten“ der Alltagsgeschichte Zentren einer fundamental unwissenschaftlichen, d. h. aufklärungsfeindlichen Einstellung und Praxis.18 Kocka hat zur Erläuterung weit ausgeholt: Geschichte als Wissenschaft gründe sich auf der Vorstellung von einer – im Kern – einheitlichen Geschichte, jenseits der unendlich vielen Einzel-Geschichten. Dieses Konzept vom Zusammenhang der Ursachen, Handlungen und Wirkungen erlaube es, Differenz wie Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erfassen – richte sich also gegen die „Wiederkehr des Gleichen“. Man darf ergänzen: gegen mythische Vorstellungen vom Lauf der Welt und vom Schicksal der Menschen. Entscheidend sei bei „wissenschaftlichem Umgang mit Geschichte“, daß (seit dem späten 18. Jahrhundert) der Standard „rigider Methoden“ und „argumentativer“, d. h. nicht bloß erzählender Darstellung gesetzt sei. Halte man sich daran, könne der daraus folgende wissenschaftliche „Diskurs“ sich gegen „Legenden und Mythen, Verzerrungen und Lügen“ sperren. In den Vorwürfen, daß Alltagsgeschichte die Regeln von kritischer Wissenschaft nicht ernst nehme oder völlig ignoriere, sind stets auch politische Wertungen im Spiel. So sah Hans-Ulrich Wehler, einer der Begründer der „historischen Sozialwissenschaft“, Alltagsgeschichte zwar als „biederen Hirsebrei“. Dennoch fand er darin Keime für etwas offenbar überaus Gefährliches: „billigen Defätismus“ gegenüber „den längst nicht überholten Errungenschaften des eigenen Kulturkreises.“19 – Auch in den DGB-
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Gewerkschaften regte sich erhebliche Skepsis gegenüber alltagsgeschichtlichen Versuchen, die humanen Kosten von Industrialismus und bürokratisierter Politik nachzuzeichnen. – Weiterhin: In manchen „linken“ Salons verknüpf(t)e sich der Vorwurf kritikloser Sympathie für alle „Namenlosen“ – vielleicht auch für die „kleinen Eichmanns“? – mit dem eher hagestolzen Verdacht, gesellschaftstheoretische Ansprüche würden über Bord geworden. Alltagsgeschichte sei doch nichts als die gemütvolle Feier der ewig gleichen „kleinen Leute“. Und im „Historikerstreit“ von 1986/87 ging es den Kritikern der „Wende“-Historie à la Nolte ebenfalls nicht ausschließlich um Abwehr einer illegitimen ‚Entschuldung‘ der Deutschen. Denn zugleich wurde die Fluchtlinie für den danach einzig angemessenen Duktus der Kritik markiert: Kocka argumentierte, die Bedingungen für die Möglichkeit des Faschismus ließen sich nur klären, wenn die „großen Zusammenhänge“ auf der Ebene von Makro-Theorien und Makro-Begriffen, z. B. „Industrialisierung und Kapitalismus ... Nation und Revolution“20, erforscht würden. Akzeptiert wird also wiederum nur ein Verständnis von Rationalität. Dieser Zugriff beansprucht, auch disparateste historische Lebensweisen gleich zu machen und zu systematisieren; ihm sei nichts und niemand ‚fremd‘. – Parallel dazu hat Jürgen Habermas die These vertreten, Kritik an der „Wende“-Geschichtsklitterung, an den Versuchen national-konservativer „Sinnstiftung“ (M. Stürmer) könne allein von der Position der „Westbindung“ und eines „Verfassungspatriotismus“21 geleistet werden. Angeblich sei bis dahin hierzulande unbestritten gewesen ein Konsens, der sich als Antwort auf Auschwitz verstehen lasse: „die abstrakte Idee der Verallgemeinerung von Demokratie und Menschenrechten“. Grenzt diese Beschwörung eines – angeblich gesellschaftsweiten! – Bundesrepublik-Konsenses faktisch aber nicht jene Linken aus, die es für immer drängender halten, „mehr Demokratie“ tatsächlich auch konkret zu „wagen“, nicht selten jenseits der „Altparteien“ (und Alt-Bürokratien)?22 Ein zweites Bedenken ist anzufügen: Wenn sich tatsächlich ein Konsens über Lager-, Klassen- und Milieugrenzen hinaus entwickelte – war es nicht der, millionenfache Mittäterschaft am NS-Regime zu verdrängen oder ganz zu ignorieren? Freilich: Die hier skizzierten Kritiken an Alltagsgeschichte waren und sind eigentümlich einäugig. Dabei entfalten sie – gerade deshalb? – einen bemerkenswerten Selbstlauf. Sie kranken daran, daß weder die programmatischen Texte noch die einschlägigen Arbeiten und Aktivitäten wirklich zur Kenntnis genommen werden. Offenbar ist es einfacher, eingefahrenen Klischees treu zu bleiben. Der Ärger mancher Kritiker läßt sich erklären. Die Erforschung von Erfahrungszusammenhängen und täglicher Praxis setzt immerhin das vorherrschende Modell der „westlichen“ Rationalität mit der Lebenswirklichkeit „der Vielen“ in Beziehung. Für Mandarine des Wissenschaftsbetriebes ist dies offenbar ebenso unerwartet und unbequem wie für die Bewahrer „lin-
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ker“ Theorie. Getroffen sehen sich aber auch die Verwalter der bürgerlichen wie der proletarischen Emanzipationsbewegungen. Am Beispiel der Arbeiterbewegung kann man das verdeutlichen: Alltagsgeschichtliche Erkundung macht Verhaltensweisen plastisch, die sich an unterschiedlichen Erfahrungen festmachen; gezeigt werden Innenseiten von klasseninterner Abgrenzung – zwischen „respektablen“ und „ungeschliffenen“, ländlichen und städtischen Arbeitern (sowie Arbeiterinnen und Arbeiterfamilien). Dieser Zugriff erschließt aber auch Formen der SelbstOrganisierung – die weithin den Differenzen der Lebensweise, d. h. den kulturellen Trennlinien innerhalb der Klasse folgten. Markiert werden also Grenzen der Organisierbarkeit „von außen“. In dieser Sicht treten jedoch nicht nur Leistungen hervor; es zeigen sich zugleich Defizite von „freien“ (wie christlichen) Gewerkschaften und Arbeiterparteien im Kaiserreich, mehr noch in der Weimarer Republik. Und daraus folgen Fragen an die „Lernfähigkeit“ von Mitgliedern und Repräsentanten: Galt (und gilt) die Hochschätzung betrieblicher Rationalisierung und der „deutschen Qualitätsarbeit“, wie sie die ADGB-Gewerkschaften der 1920er Jahre betonten, auch in der Bundesrepublik? Es zeigt sich: Die Debatte um Nutzen und Nachteil der Alltagsgeschichte folgt keineswegs bisher gewohnten Einteilungen. Unterscheidungen zwischen kritisch-historischer Sozialwissenschaft einerseits und einer auf Verstehen angelegten Geschichte von (Haupt- und Staats-)Aktionen andererseits, gelten ebensowenig wie die zwischen marxistischen und nichtmarxistischen Historikern und Historikerinnen. Der Blick über die (Staats-)Grenzen ist hier hilfreich. In der englischen Debatte findet man sog. „Anglo-Marxisten“, die schon seit Jahrzehnten die Frage nach den Menschen und ihrer „agency“, ihrem Handeln besonders intensiv bearbeitet haben, als Gegner wie Befürworter einer „history of the every-day life“.23 Interessant und wichtig für uns ist aber auch die Entwicklung, die sich anhand der „Geschichte des Alltags des deutschen Volkes“ von Jürgen Kuczynski (Berlin/DDR) beobachten läßt.24 Sein 5- bzw. 6bändiges Werk hat in der DDR sehr kontroverse Debatten ausgelöst (vgl. dazu in diesem Band Harald Dehne). Ganz offenbar ist eine große Zahl von „Allgemeinhistorikern“ nach wie vor davon überzeugt, daß es Alltagshistorikern nur um farbige Ergänzungen, um Anekdotisches, eigentlich nur um Beiläufigkeiten des historischen Prozesses gehe. Und hier mag man eine ironische Parallele finden zu der Kritik, die H.-U. Wehler seit 1979 in unterschiedlicher Form, aber doch mit immer gleichem Tenor geäußert hat: Es handle sich bei der Alltagsgeschichte (abgesehen vom bereits erwähnten „Hirsebrei“) bestenfalls um Ergänzungen zur ‚großen‘ Geschichte, also um Fragen der „Bevölkerungs-, Familien-, Stadt-, Bildungs-, Frauen- und der Sportgeschichte...“25
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4. R EIZ UND M ETHODE DES GENAUEN B LICKS : „R OMANTISIERUNG “ ODER V ERFREMDUNG ? Zahlreiche Kritiker sind sich einig: Alltagsgeschichte romantisiere vergangene Verhältnisse. Der Versuch, Leiden und Mühsal, aber auch kleine wie große Freuden „des Alltags“ darzustellen, münde in die Schilderung pittoresker Details.26 Das Ergebnis seien Stippvisiten in exotischem Terrain – nicht Einsicht in womöglich „fremde“ Erfahrungen. Diese Kritik überzieht. Dennoch trifft sie Defizite. Richtig ist, daß die Annahme, bei „den Vielen“ zeige sich die immer gleiche „Abhängigkeit“, von den Besonderheiten ihrer Lebensweisen, vor allem von historischem Wandel absieht. Zugleich neigt diese Sicht ‚von außen‘ dazu, die Fremdheiten im ‚Eigenen‘ zu ignorieren. Übergangen wird, welche Distanzen einzelne Lebensweisen trennen – selbst wenn sie chronologisch gesehen gleichzeitig sind. Will man diese Eigentümlichkeiten – oder auch: Fremdheiten in ihrer Reichweite und Motivationskraft erfassen, sind historische „Entdeckungsreisen ins eigene Volk“ (F. J. Brüggemeier) unerläßlich. Nur auf gleichsam ethnologischem Wege lassen sich jene Potentiale und jene Praktiken erkennen, die es den (tatsächlich oder angeblich) Abhängigen ermöglichten, ihr ‚Eigenes‘ anzumelden und durchzusetzen. Allerdings sollte der Hinweis auf ethnologische Verfahren nicht als Rezept mißverstanden werden. Feldforschung und „teilnehmende Beobachtung“, diese Königswege der empirischen Sozial- und Kulturanthropologie, lassen sich gerade im entscheidenden Punkt nicht auf historische Forschung übertragen.27 Während sich ethnologische Feldforscher in ihren alltäglichen Lebensvollzügen auf eine ganz „andere“ Gesellschaft einlassen müssen, zumindest Widerrede oder Aufschrei der Untersuchten zu gewärtigen haben, können Historiker in aller Regel ungestörte Schreibtischruhe erwarten. Bis auf die Zeitzeugen der allerjüngsten Vergangenheit sind die Objekte ihrer Annäherung zu Widerwort oder handgreiflichem Protest nicht in der Lage. Für den Feldforscher ist der Bruch mit seinen bisherigen Lebensgewohnheiten, der sich in der Figur des „sozialen Todes“ (M. Erdheim) zusammenziehen läßt, eine zutiefst bedrohliche, zugleich aber unausweichliche Perspektive. Historiker können sich hier sicher wissen: Sie legen nicht nur womöglich sehr „fremde“ Motive und Praktiken z. B. von Arbeitern des 19. Jahrhunderts frei – zeigen also in den Annäherungen die Differenzen; zugleich bleiben sie auch in ihrem Forschungsalltag auf Distanz. Alltagsgeschichte beschäftigt sich wesentlich mit denjenigen, die nur wenige Quellen im herkömmlichen Sinne hinterlassen haben. Selten finden sich Briefe oder andere schriftliche Belege, die von den Betroffenen selbst angefertigt wurden (oder bewußt überliefert worden sind). Für die allerjüngste Vergangenheit können mitunter „Zeitzeugen“ befragt werden. Historiker und Historikerinnen produzieren dann ihre eigenen
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Quellen.28 Generell gilt freilich: Die Leiden und Freuden, Sorgen und Sehnsüchte der Menschen früherer Generationen sind den Überresten vielfach nur in verwischter oder (vielfach) verschlüsselter Form eingeschrieben. Ein erster (und bis auf die Geschichte der allerjüngsten Zeit vielfach der einzige) Weg ist, jene Zeugnisse neu zu lesen, die nicht selten bereits mit anderer Blickrichtung ausgewertet worden sind. Vielfältige Aufschlüsse bieten Berichte von Polizei- oder Gewerbeinspektoren, von Schulräten oder Pfarrern, aber auch Briefe, (Reise-)Notizen und visuelle Zeugnisse von entfernten oder nur zeitweise „teilnehmenden“ Beobachtern. Wenn Pfarrer oder Lehrer sich über die angebliche Unsittlichkeit ihrer Zuchtbefohlenen in vielen präzisen Details entrüsten – dann können wir von solcher Empörung gleichsam absehen. Erkennbar wird dann keineswegs nur geduckter, sondern auch freizügiger, vielfach zugleich überaus ruppiger Umgang miteinander, z. B. zwischen Männern und Frauen in Textilfabriken. Methodische Verfahren, mit denen Alltagsleben, aber auch Lebensweisen zu rekonstruieren sind, werden unter dem Stichwort Mikrogeschichte diskutiert. Das Spektrum umfaßt Einzelfall-Studien, d. h. Untersuchungen einzelner Lebensläufe, mehr noch einzelner lokaler Kontexte (Dörfer, Stadtteile); aber auch langfristige Zusammenhänge bzw. Veränderungen über zwei oder drei Jahrhunderte sind Thema alltagsgeschichtlicher Forschungen. Sozialbiographien bzw. „Prosopographie(n) der Masse“29 sollen mit spezifischen Methoden erforscht werden. In jedem Fall gilt: Überreste z. B. von Wohnungen, Verkehrsverbindungen oder Geräten, erhaltene bzw. freigelegte Schrift- wie (vielfach missachtet!) Bilder-Texte, also z. B. Steuerlisten oder Industriefotografien enthüllen die Spuren historischer Praxis nicht von selbst. Die Entzifferungsarbeit muß sich auf eine Vielfalt von Details und Einzelfacetten einlassen. Zugleich bleibt sie jedoch ohne rekonstruktive Vernetzung der Einzelmomente hilflos und antiquarisch. Rekonstruktion meint hier nicht, daß ein angeblich immer schon wirksames Tragegerüst historischer ‚Abläufe‘ gleichsam nur freizulegen wäre. Ein solches Mißverständnis mag z. B. das Konzept des „Habitus“ signalisieren; es verweist auf eine „strukturierende Struktur“, zugleich auf „das System ... unbewußter Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“ (P. Bourdieu). Zunächst finden sich die Rekonstrukteure ihrerseits in einem unübersichtlichen Kontext oder „Netz“, das erst unter ihren (tastend-forschenden) Bewegungen festere Gestalt annimmt. Und für dieses „Netz“ gilt: Von jedem „Punkt“ aus zeigt es sich als Gleichzeitigkeit einer Vielzahl je eigener Verknüpfungen. Um im Bild zu bleiben: Diese Verknüpfungen sind weder dauerhaft stabil noch von gleicher Stärke, sondern abhängig vom spezifischen Kräftefeld und dem Handeln der Akteure; mitunter erweisen sie sich als brüchig oder fehlen auch ganz. „Brüche“ und „Lücken“ sind Elemente des „Netzes“. Anders: Es geht um jene Vermittlungen, aber auch Brüche zwischen den Denkbildern, Deutungsweisen und Handlungsregeln, die im jeweiligen Kontext als möglich gelten können.30
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Der ‚genaue Blick‘ nutzt, rekonstruiert aber auch Deutungs-, Wahrnehmungs- und Orientierungsweisen. Damit ist zugleich ein zentrales Feld alltagsgeschichtlicher Arbeiten markiert. Dem entspricht es, daß drei Aufsätze dieses Bandes vor allem auf die damit verbundenen Fragen eingehen. Hans Medick erörtert in seinem Beitrag die ethnologisch informierte Kritik an der herkömmlichen Hermeneutik: Reflektion auf „das Fremde“ erfordere, die Frage nach der jeweiligen Logik von sozialer Praxis neu zu begründen; zugleich biete sich aber im sorgfältigen Nachspüren ethnologischer Erfahrungen auch die Möglichkeit, angemessene Perspektiven für das historische Arbeiten zu entwickeln. – Peter Schöttler untersucht in seiner Diskussion der „dritten Ebene“ drei Konzepte bzw. Perspektiven, die in der Bundesrepublik sehr unterschiedlich eingeführt sind (oder auch abgewehrt werden). Im genauen Durchmustern von „Mentalität“, „Ideologie“ und „Diskurs“ zielt er auf jene Ansätze, die zweierlei leisten: das kulturelle Feld (der Wahrnehmungen und Deutungen) gleichermaßen als materiale Produktion und als gesellschaftlich produzierte Matrix von ‚Deutungen‘ zu erfassen. Dabei geht es ihm insbesondere darum, Alternativen zu nicht selten kurzschlüssigen Rückgriffen auf „die“ historischen Subjekte vorzuschlagen. – Bei Alltagsgeschichte sollen die Vermittlungsformen, aber auch die Diskrepanzen zwischen Orientierungsmustern („Lebensweise“) und den Formen täglichen Verhaltens und Erfahrens („Alltagsleben“) aufgehellt werden. Eine striktere Abgrenzung der Struktur „Lebensweise“ von deren subjektiven Erfahrung „im Alltag“ öffne den Blick für „historische Individualitätsformen“. Damit lasse sich alltagsgeschichtliche Forschung konsequenter in die Debatte um Formen und Antriebe gesamtgesellschaftlicher Umwälzung einbeziehen; diese These vertritt Harald Dehne in seinem Beitrag.
5. „U NEGALE “ V ERÄNDERUNGEN UND G EMENGELAGEN : V ERZICHT „ GROSSE Z USAMMENHÄNGE “?
AUF
Alltagsgeschichte konzentriert sich auf kleine Einheiten. Bedeutet dies aber nicht die Beschränkung auf ein punktuelles ‚Hier und Jetzt‘? In den Augen der Kritiker ist für alltagsgeschichtliche Positionen ein „oft geradezu programmatischer Verzicht aufs Begreifen der Zusammenhänge“ kennzeichnend; ignoriert würden „die großen Fragen“, z. B. die nach „Staats- und Klassenbildung“. Überhaupt sei Alltagsgeschichte unfähig für „Zusammenhangserkenntnis“.31 Damit verbunden ist der Vorwurf mangelnder Theorie – sogar von Theorie-Feindschaft. Fraglos erfordert Alltagsgeschichte die systematische De-Zentrierung von Analyse und Interpretation. Dabei zeigen sich Ansätze für ein verändertes Verständnis von Theorie. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Klassifikation einzelner Erscheinungen und deren Systematisierung.32 Vordringlich wird vielmehr eine Neuorientierung, bei der Theorie nicht mehr nur „Be-
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griff“, sondern auch „Vorstellung“ meint. Theorie zielt auf das Verständlich-Machen, schließt dann aber ein das „Vorstellen“ der Gleichzeitigkeit von je eigentümlichen Momenten oder Entwicklungen – mögen sie sich als widersprüchlich, eventuell als miteinander un-vermittelt erweisen. Der Blick auf die „unegale“ Veränderung (K. Marx33) von Produktionsformen oder Deutungsweisen läßt erkennen, wie Handlungschancen mit Handlungsgrenzen der historischen Subjekte „im Gemenge“ lagen. Der Bezug auf das „Unegale“, zugleich auf Mehrdeutigkeiten sozialer Praxis erlaubt, das jeweilige Kräftefeld von Zumutungen und Anreizen, von Symbolen und Interessen freizulegen. Formen der Aneignung durch die historischen Subjekte lassen sich rekonstruieren, ohne vorab eine Rangfolge von „bedingenden“ oder „bedingten Faktoren“ annehmen zu müssen. Daraus folgt vor allem: Interessen und „objektive“ Zwänge gehen nicht aller Praxis voraus, sind vielmehr deren Teil. Sie werden von Individuen wie Gruppen wahrgenommen – durch Deutungen. Das Repertoire dieser Deutungen trägt auch Spuren von „Interessen“; insgesamt bewahrt es die Vielfalt individueller und kollektiver Erfahrungen. In diese Erfahrungen bleiben die Symbole und Denkbilder, die jene Deutungen transportieren und vorzeigen, eingelagert. Im Aneignen von „Welt“ und „Gesellschaft“ werden diese Sinngebungen genutzt, d. h. variiert, aber auch ausdrücklich bestätigt oder verändert. Eine neue Syntax für angemessenere theoretische Verallgemeinerungen ist dabei nur allmählich zu erschließen: Die Prägekraft jener Vorstellung von Theorie, in der „das Allgemeine“ nach dem Bild des „Gleichen“ angelegt ist, läßt sich offenbar nicht kurzerhand tilgen. Der Blick auf einzelne „Konfigurationen“ (S. Rokkan) von Zwängen und Chancen, von Deutungen und Verhalten ermöglicht aber Vergleiche neuen Typs – Vergleiche ‚von unten herauf‘. Das „Grabe wo Du stehst!“ war notwendig, reicht aber nicht aus. Sven Lindquist34 hatte mit diesem Aufruf Arbeiter bzw. diejenigen, die sich gar nicht zutrauen mochten, immer auch ihre eigene Geschichte gemacht zu haben, auf eben diesen Zusammenhang hinweisen wollen. Erforderlich ist es, tiefer zu schürfen und die eigenen Grabungen in die Horizontale voranzutreiben, also auch den Horizont zu erweitern. Allerdings verfängt sich alltagsgeschichtliche Arbeit an diesem Punkt nur zu häufig in den eigenen Fangleinen. Denn die vorliegenden Angebote, wie denn der geschichtliche Prozeß als Zusammenhang zu begreifen oder auf den Begriff zu bringen sei, blockieren die alltagsgeschichtliche Pointe. Weder Konzepte, die der Perspektive der „Kapitalisierung“ (im Sinne der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie) folgen, noch solche, die der „Rationalisierung“ (im Sinne der Weberschen „Entzauberung“ der Welt) gelten, erreichen die hier geforderte Mehrschichtigkeit. Vergleichsweise doppelbödig operiert die These von der „Kolonisierung der Lebenswelt“35: Die spezifischen Horizonte von „Lebenswelt“ würden in der „Kolonisierung“ keineswegs aufgelöst oder eingeebnet. Vielmehr vollziehe sich „Mediatisierung der Lebenswelt an und mit den Strukturen der
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Lebenswelt“. Die „Reproduktionszwänge“ des gesamtgesellschaftlichen „Systems“ und die – in dieser Konzeption – damit verbundenen „Zwecktätigkeiten“ würden sich also „gleichsam in den Poren kommunikativen Handelns verstecken“. Das relativ dauerhafte Hinnehmen ungleicher Ressourcen- und Güterverteilung – durch die Benachteiligten und Beherrschten – ist sicherlich mit einer solchen Konstruktion zu begründen. Allerdings bleibt eine teleologische Falle. Denn das Faktum, daß Herrschaft und „System“ (vorerst weiter) bestehen, muß dabei als Beleg für gelungene Mediatisierung gelten. Ausgeklammert ist aber, ob nicht die „Mediatisierten“ sehr wohl Verhaltens„Stile“36 entwickeln, die vielleicht unauffällig, aber wirkungsvoll ‚eigene‘ Sphären etablieren und abschirmen. Freilich: Fragen nach „Stilen“ unterstellten Handlungschancen nicht als Nullsummenspiel. Systemgrenzen gelten in dieser Sicht vielmehr als plastisch, d. h. als Produkt variationsreicher sozialer Praxis. Diese Überlegung läßt sich konkretisieren: Betroffene Besitzlose reklamierten oder praktizierten z. B. in den Formen, in denen sie sich seit dem späten 19. Jahrhundert „kolonisierende“ Zugriffe – von der „Bildung“ bis zur „Hygiene“ – aneigneten, stets auch eigene Formen der Lebensführung. Nicht ausgeschlossen war dabei, die „progressiven“ Aspekte neuer Zumutungen oder Angebote durchaus zu nutzen. Kenntnisse über Nährwerte oder die Hygiene der Säuglingspflege37 öffneten neue Möglichkeiten, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen oder weiterzuentwickeln. Die „Fabriken-“ bzw. Arbeitsgerichtsbarkeit seit den 1820er Jahren bzw. die Verwaltungsgerichtsbarkeit nach 1875 erlaubten Versuche, den „Rechtsstaat“-Anspruch des Staates beim Wort zu nehmen. Und so sehr staatliche Sozialversicherungen das „Zuckerbrot“ der polizeilichen Repression38 waren und sein sollten – damit öffneten sich Chancen, Leistungen von Arbeit-„gebern“, Versicherungen und Fürsorgestellen einzuklagen, mit denen sich bei aller Dürftigkeit die täglichen (Überlebens-)Risiken mindern ließen.39 Nicht die – analytische – Trennung, sondern die konkrete Verknüpfung von ‚Verhältnissen‘ und ‚Deutungen‘, d. h. von ‚Klasse und Kultur‘ kennzeichnet alltagsgeschichtliche Sichtweisen. Das bedeutet freilich auch, die NichtVermittlungen zu rekonstruieren. Demgegenüber legt man z. B. in der Historischen Sozialwissenschaft bisher den Akzent auf drei analytisch „gleichberechtigte Dimensionen von Wirtschaft, Herrschaft und Kultur“.40 Sie gelten als grundsätzlich miteinander vermittelt, werden aber dennoch unterschiedlich gewichtet. Zumindest in dieser Hinsicht deutet sich im Rahmen des Projekts zu „Bürger, Bürgerlichkeit und bürgerliche Gesellschaft“ eine bemerkenswerte Veränderung an: Nicht Klassenlagen, Rechtsverhältnisse und politische Affiliationen werden hervorgehoben, sondern eine spezifische Prägung von „Normen, Einstellungen und Lebensweisen“. Diese bilde die Basis des „Zusammenhalts der Bürger und ihrer Unterscheidung von anderen“.41
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Das Problem, wie konkrete Situationen und ‚große Linien‘ aufeinander zu beziehen sind, ist vertrackt. Mir scheint, die Rede vom (Gesamt-) Zusammenhang suggeriert nur zu leicht, die Macht der Dinge und Verhältnisse würde sich immer schon naturwüchsig durchsetzen. „Vermittlung“ meint dann vielfach nichts als eine stillschweigend ‚immer schon‘ wirksame Übereinstimmung zwischen unterschiedlichen oder widersprüchlichen Momenten. – Eine Kehrseite bleibt: Sicherlich lassen sich ‚umgreifende‘ Zusammenhänge auffächern und einzelne Akteure sowie ihre Interessen und Deutungen benennen. Die Spuren ihrer Zugriffe, Zumutungen und Anreize sind in den Handlungen und Erfahrungen der Betroffenen dennoch keineswegs stets deutlich auszumachen. Zur Resignation ist jedoch kein Anlaß. Alltagsgeschichtliche Rekonstruktion begrenzt sich nicht auf abgeschottete kleine Welten. In Anlehnung an Münchhausen könnte man auch sagen: Es gibt die Möglichkeit, sich gleichsam am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen… Die Formen „dichter Beschreibung“ und Analyse erlauben eine Erweiterung des Blicks. Die knifflige Mühsal von Arbeit an der Drehbank oder am Webstuhl hierzulande ist also nicht zu trennen von den Bedingungen und Erfahrungen derer, die die Voraussetzungen schaffen oder die Produkte verwenden. Konkreter: Kaffeegenuß in der Frühstückspause in der Fabrik oder in der entspannten Behaglichkeit eines Cafés – dies verweist immer auch auf die Produktionsbedingungen und -erfahrungen der Kaffeebauern, z.B. in Kolumbien oder an der afrikanischen Ostküste. In anderen Worten: Erfahrungen erscheinen zwar, sind aber niemals punktuell. In ihrer Ausformung sind Befriedigungen und Versagungen für andere aufgehoben. Die Erfahrungen der Menschen versammeln ihre „durch Aufmerksamkeit ausgezeichneten Erlebnisse“.42 Sie beziehen sich auf das Profil eigener wie fremder Bedürfnisse – das sie zugleich mitprägen. Insofern lassen sich für Geschlechtergruppen, für Kollegengruppen, Haushalte und Nachbarschaften spezifische Erfahrungsweisen unterscheiden. Die Formen, in denen Bedürfnisse ausgedrückt und (vielleicht) befriedigt werden, definieren sich im (Hin-)Blick auf konkrete Öffentlichkeiten. Freilich sind dies bei Beherrschten vorwiegend privatisierte Arenen der (Selbst-)Darstellung. Auch z. B. in der organisierten Arbeiterbewegung blieb die Anstrengung bestimmend, sich gegenüber den Kontrollversuchen von Obrigkeiten oder Vorgesetzten abzuschirmen. Aber nicht nur Äußerungen ‚spielten‘ auf den Verständigungsformen, die in den Bezugsgruppen geläufig oder doch verständlich waren. Selbst Schweigsamkeiten, mehr noch die nicht selten überaus persönlich nuancierten Formen von Hinnahme, Sich-Distanzieren und „Eigen-Sinn“ zeigten niemals bloß individuelle Bedürfnisse. In Frage stand und steht immer die Organisation sozialer Beziehungen; es geht um Politik (dazu auch mein Aufsatz in diesem Band). Angesichts der Aufmerksamkeit für die Handlungsgrenzen wie Handlungschancen der „Namenlosen“ kann es nicht überraschen, daß alltagsgeschicht-
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liche Perspektiven in der hier vertretenen Sicht von zwei Fragen geprägt, zumindest angeregt sind: der „Klassenfrage“ und – zunehmend – der nach den Geschlechterbeziehungen. Vier Beiträge dieses Bandes zeigen im einzelnen sehr unterschiedliche Näherungsweisen. Zugleich prüfen sie, welche Einsichten für ein erweitertes Verständnis von ‚Politik‘ und Handeln der Menschen zu gewinnen sind. – Besonderes Gewicht im Rahmen der Forschungen zu Erfahrungen und sozialer Praxis haben bisher Forschungen zur Geschichte der Arbeit bzw. der Lohn-Arbeiter und -Arbeiterinnen gehabt. Freilich wird Arbeit dabei nicht nur als ‚ökonomisches‘ Verhältnis begriffen, gegründet auf der Kalkulation eigener Interessen. Proletarische (Über-) Lebensweise bündelt vielmehr sozial-kulturelle Verhältnisse („Identität durch Arbeit“) und lebensgeschichtliche Profile – sie ‚verwirft‘ jede als einlinig unterstellte Klassenlage; dazu in diesem Band der Beitrag von Wolfgang Kaschuba (sowie mein eigener Aufsatz). Die „Geschlechterfrage“ konzentrierte sich zunächst auf „Frauenleben“. Ein Ergebnis war, Haushalt und Familie nicht mehr als homogene Einheit zu sehen. Deutlich wurde, daß in „modernen“ Gesellschaften hausarbeitende Frauen tagtäglich eine ungemein widersprüchliche ‚Engführung‘ von (Haus-)Arbeit, Liebe und Unterdrückung erfahren. Erst allmählich wird jedoch klar: Geschlechterbeziehungen sind weder auf ein Geschlecht noch auf einzelne Segmente der alltäglichen Praxis begrenzt – zu den Verklammerungen, aber auch den Differenzen von Erfahrungsanalyse und der Erforschung geschlechterspezifischer Strukturen hier der Beitrag von Dorothee Wierling. Wie sehr Erfahrungen von Männern und Frauen ungeachtet aller (Vor)Prägungen jeweils im Plural zu nehmen sind, wie „Knoten“ privater Erinnerung individuelle und allgemeine Geschichte zusammenziehen, also auch ein neues Verständnis von „Politik“ ermöglichen: Dies sind Themen von Lutz Niethammer. Er legt hier erste Ergebnisse eines Projektes zu Lebensgeschichten in der DDR vor. Erkundet werden „Erfahrungstypen“; es tritt hervor das Spektrum von Politikvorstellungen bei der Generation, die den Aufbau der DDR nach 1945 zu leisten hatte.
6. K ONTEXTE
UND
M INIATUREN
Alltagsgeschichtliche Perspektiven erfordern, daß sich Forscherinnen und Forscher auf Kontexte einlassen. Insofern sind lokale und regionale Eingrenzungen unerläßlich. Mit gutem Grund stehen jeweils einzelne bäuerliche oder hausindustrielle Dörfer im Zentrum;43 untersucht werden einzelne Gewerbelandschaften oder auch Arbeiterquartiere;44 in Frage stehen geschlechterspezifische Erfahrungen in einzelnen Gewerbe- und Industriebranchen, zugleich in Familien und Nachbarschaften, bei Geselligkeit und in Organisationen.45
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Verhältnisse „vor Ort“ auszuleuchten, heißt aber auch, daß es nicht nur bei den „kleinen Leuten“ bleibt. Einfluß und Status, Macht und Prestige der „großen Leute“ können nicht ausgeklammert bleiben. Herrschafts- und Besitztitel, insbesondere auch ihre symbolisch-repräsentativen Darstellungen erweisen sich als „Münzen“ sozialer Beziehungen und Konflikte. Auf dem Lande zeigt gerade die mikroskopische Untersuchung der Lebensverhältnisse, in welcher Weise das Erbrecht bzw. Realteilung oder Anerbenrecht die demographische Entwicklung, die Familienbeziehungen und Verwandtschaftsverbände unterschiedlich prägten.46 Oder in Industriestädten werden das Polizeiregiment und die „Ordnung“ in den Fabriken zu Belegen für weitgespannte Kontroll- und Disziplinierungsanstrengungen; sie zeigen aber auch Profile fortdauernder Widersetzlichkeit der Beschäftigten.47 Oder: Rechtsinstitute erweisen sich bei aller Beharrungskraft als (relativ) veränderbar. Zugleich läßt sich die Doppelfunktion von Rechtsformen erfassen: Rechtsvorschriften regulieren nicht nur Handlungsgrenzen; zugleich repräsentieren sie Handlungschancen für diejenigen, deren Status und „Recht“ von vielen in der Gesellschaft als „minder“ eingestuft wurden. Kontextualisierung bedeutet also keineswegs, sich nur auf die lauten oder leisen Äußerungen der Betroffenen zu beschränken. Erforderlich ist vielmehr ein genauer und ‚tiefer‘ Blick auf soziale Situationen und Beziehungen, aber auch auf ihre Verflechtungen und die Rhythmen ihrer Veränderung. Erst damit eröffnet sich die Chance, Bruchlinien nicht nur zwischen, sondern innerhalb von Klassen und Schichten zu erkennen. Konkreter: Welche Dynamik der Formierung von „Dorffrauen“ und „Knabenschaften“ in Dörfern des Fürstbistums Basel im frühen 18. Jahrhundert innewohnte, ist nicht zu verstehen ohne die Einbeziehung der herrschaftlichen Privilegierung der „Dorfbürger“.48 Übersetzt ins Allgemeine: Die Gleichzeitigkeit von Klassen- und Herrschaftskonflikten mit Polarisierungen der Geschlechter, aber auch mit Generationenkonflikten erfordert, ein stets mehrschichtiges soziales Feld auszuloten. Vermehrte Aufmerksamkeit von Historikerinnen und Historikern für einzelne Situationen, zugleich für deren Doppel- und Mehrdeutigkeiten, hat Folgen für die Darstellung. Wenn sich Ambivalenzen nur in der Verknüpfung einer Vielzahl von Einzelbeobachtungen bzw. von disparaten Quellen und Überresten erschließen, dann sind einzelne Fälle und deren Geschichte unerläßlich. Sie geben nicht nur Kolorit, sondern zeigen Geschichte als Prozeß, als Geflecht wie als Mosaik von (Inter)Aktionen. In der Form der Miniatur49 läßt sich die ‚Dichte‘ von Lebenssituationen und Handlungszusammenhängen anschaulich machen, zugleich aber auf Brechungen, Neben- und Untertöne, auf verdeckte Motive und Resultate befragen. Überdies verzichten die Autoren von Miniaturen demonstrativ darauf, die Mehrschichtigkeit historischer Prozesse erschöpfend behandeln zu wollen. Collagen oder Mosaiken lassen einzelne Schichten oder Knotenpunkte von gesellschaftlichen Gemengelagen plastisch werden.50 Dabei tre-
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ten die Reliefs jener verschlüsselten oder (zunächst) „unsichtbaren Strukturen“ (Ginzburg/Poni) hervor, die in der Praxis der Menschen ‚fühlbar‘ werden. Sie brechen sich in den Miniaturen bzw. den geschilderten Episoden – gehen aber nicht notwendig in ihnen auf. Miniaturen erweisen sich somit als produktiv gewendetes Eingeständnis, daß eine „histoire totale“ nicht in kurzem Prozeß zu leisten ist.
7. P IONIERARBEITEN : ANSTÖSSE „ VON
AUSSEN “
Hierzulande ist der Versuch, die Wechselbeziehungen zwischen „objektiven“ Lebenslagen und „subjektivem“ Wahrnehmen und Handeln als Kernfrage historischer Arbeit zu nehmen, eher zögerlich aufgenommen worden. Besonders anregend waren dabei Studien englischer und französischer, USamerikanischer und nicht zuletzt italienischer Historiker und Historikerinnen; z.T. liegen ihre Arbeiten mittlerweile auch in deutscher Übersetzung vor. Als entscheidender Anstoß für alle Arbeiten zur Geschichte der Praxis „der Vielen“ erwies sich die These, daß rebellische „Haufen“ nicht irrational handeln, sondern konsequent ihrer erfahrungsgesättigten Rationalität folgen. E. P. Thompson hat diese Perspektive am Beispiel der Logik bzw. der „Moral Economy“ plebejischer „Tumultuanten“ in englischen Städten des 18. Jahrhunderts eindrucksvoll entfaltet.51 In solchen Untersuchungen von – vielfach unterdrückten oder ausgegrenzten – „Logiken“ treten die Potentiale gruppenspezifischer Orientierungsweisen hervor.52 Zu entziffern sind die nicht selten visuellen oder gestischen „Sprachen“, in denen sich Unterdrückte oder Marginalisierte äußerten und darstellten. Besonders deutlich ist das an den Schilderungen der Spektakel des Karnevals im frühneuzeitlichen Frankreich geworden (Natalie Z. Davis).53 Sie zeigt, wie sich in den Reden und Festen der „verkehrten Welt“ Praktiken entfalteten, die über die begrenzte Situation gleichsam ‚hinausschwappten‘. Fraglos wurden die Ungleichheiten der Klassen, Geschlechter und Generationen in den Ritualen der „Verkehrung“ nur momentan suspendiert, nicht aber dauerhaft aus den Angeln gehoben. Wenn Frauen, Junge und Alte, Zeit und Raum für sich ‚besetzten‘, bildeten sich jedoch Erfahrungen aus, welche die Selbstverständlichkeit erschütterten, mit der soziale Hierarchien sonst akzeptiert wurden. In dieser Sicht brechen sich auch schlichte und (zu) geradlinige Zuschreibungen oder Unterscheidungen. Herrschende waren in z. T. erheblichem Maße von den Beherrschten abhängig; Widerständige richteten sich keineswegs nur gegen „die Herrschaft“. So zielte z. B. tumultuarische Gewalt der (städtischen) Massen im Frankreich des 16. Jahrhunderts gegen die Obrigkeiten. Zu den Opfern gehörten aber nicht ausschließlich die Reichen, sondern protestantischer wie katholischer „Mob“ traf vor allem einfache
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Priester oder Pastoren, überwiegend aber Handarbeiter – menu peuple wie die Tumultuierenden selbst. Eine solche Auflösung hergebrachter ‚Großbegriffe‘ ist ebenfalls das Ergebnis von Studien zu Rolle(n) und Einfluß von Frauen in Gesellschaften, die patriarchalisch geprägt sind. Erkennbar werden ‚doppelte Böden‘ hinter scheinbar fugenlosen Abhängigkeiten: Dörfliches Leben regulierte sich in erheblichem Maße durch das von Frauen kontrollierte Wissen (um Verwandtschaftsverhältnisse oder magische Bräuche – Beispiele aus dem vorrevolutionären Frankreich oder Berberdörfern im Marokko unserer Tage; Y. Verdier bzw. V. Maher).54 Furore über die Zunftgrenzen hinaus hat aber ein Buch von Carlo Ginzburg gemacht. Ihm geht es nicht um ein bloßes Panorama von Dispositionen und Mentalitäten. Vielmehr untersucht er ihre Schub- und Prägekraft im Konflikt von „herrschender Kultur“ mit der „Kultur der Unterschichten“ in einer spezifischen Situation. Die Überlieferung der Herrschenden ermöglichte hier in ironischer Weise ein besonderes Glanzstück historischer Aufklärung: Aus den peniblen Akten der gegenreformatorischen Inquisition rekonstruiert Ginzburg die Facetten der Gottes- und Weltdeutung der Beherrschten in der rigorosen Beschränkung auf eine Person und ihren ‚Fall‘: den Müller Menocchio aus dem Friaul des 16. Jahrhundert.55 Der Titel seines Buches, „der Käse und die Würmer“, bringt gleichsam auf den Punkt, in welcher Weise der Müller seine Kritik an der Kirche in gleichermaßen drastische wie blasphemisch-subversive Metaphern kleidete.
8. B ETROFFENHEIT
ODER
„ANTEILNAHME “?
Die Erforschung historischer Alltage führt in zahllose historische Leben; sie öffnet vielfältige Einblicke in die Lebensweisen von Klassen und Gruppen. Die unumgänglich detaillierten Untersuchungsschritte erfordern erhebliche Zeit – was ist das Motiv für die Mühe? In der Arbeit der Geschichtswerkstätten, aber auch bei den überregionalen Treffen von geschichtsinteressierten und -forschenden Profis wie Laien bei den „Geschichtsfesten“ (seit 1984), bei ihrem „Markt der Möglichkeiten“, wurde deutlicher als in manchen der wohlgesetzten programmatischen Erklärungen bzw. Vorwörtern, was für viele vordringlich ist: Es geht ihnen darum, bei Lesern und Betrachtern Betroffenheit zu wecken.56 Was aber heißt das? Ist der damit verbundene Appell, „Betroffenheit“ über Not und Unterdrückung hier und anderswo praktisch werden zu lassen, nicht entweder zu vage oder zu naiv? Mehr noch: Ist er nicht ausgehöhlt durch eine vielfach inflationierte Rede von „Betroffenen“? Für das im engeren Sinne historische Interesse bedeutet eine solche Handlungsorientierung wohl zweierlei: Zum einen steht sie für das nachdrückliche Interesse an den einzelnen, d. h. an historisch-konkreten Einzelmenschen, ihren Lebensläufen und -erfahrungen. Zum zweiten ist es der
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Versuch, am historischen Beispiel die (noch) nicht diskreditierten Alternativen zu jenen Verhältnissen zu zeigen, die im eigenen Alltag als bedrückend erfahren werden. Das gilt nicht zuletzt für manche Hinwendung zum Arbeiteralltag, vor allem zu den informellen Aktionsformen von Arbeitern, die hierzulande in den letzten zehn Jahren zu beobachten war. Was aber ist der ‚Rechtsgrund‘ für derartige Fragen und Ansprüche? Suggeriert nicht manches Beharren auf „Betroffenheit“ eine fragwürdige Sicherheit der eigenen Maßstäbe? Spiegelt sich nicht darin – sicherlich gegen manche Absicht – ein hartnäckiges Sich-Abwenden von unverständlichen, von „fremden“ oder „anderen“ Lebensverhältnissen? Verleitet diese Einstellung nicht dazu, Rück-Fragen an die Forscher und Forscherinnen bereits im Ansatz zu ersticken? Bleibt nicht selbstkritische Reflexion im Gestus moralischer Selbstsicherheit blockiert? Ein Hinweis von Christa Wolf führt weiter. Sie hat in ihrem Roman „Kindheitsmuster“ die Verwicklungen von individuellem Erleben mit den vor-herrschenden Verhältnissen im deutschen Faschismus nachgezeichnet.57 Es ist die Zeit der 1930er Jahre, es geht um eigene Erfahrungen mit den Nazis, zugleich um die der Eltern und die mit den Eltern bzw. der eigenen Familie, der eines kleinen Ladenbesitzers. Thema sind die Taktiken des SichEinrichtens und die Formen des Durchkommens. Im Rückblick auf diese Rekonstruktion hat die Autorin an anderer Stelle dafür plädiert, das Besondere einer solchen Arbeit zu verstehen.58 In Frage stehe gleichermaßen persönliche wie kollektive Erinnerung. Aber damit soll nicht „Betroffenheit“ geweckt werden – gefordert sei vielmehr, „Anteil zu nehmen“ an sich selbst wie an den anderen. Dieses Anteilnehmen zielt also nicht primär vom Autor bzw. der Autorin auf die anderen. Wer Anteil nimmt, will den oder die anderen nicht ändern, sondern versucht vielmehr, ihn oder sie – aber auch sich selbst zu verstehen. Christa Wolf betont, daß ohne solche Anteilnahme „kein Gedächtnis, keine Literatur“ möglich wären. Anzufügen ist: Es gäbe nicht nur keine Historie als Geschichtsschreibung, sondern auch keine Geschichte als Versuch der Menschen, die „Wiederkehr des Gleichen“ zu verhindern. Fragen nach der Bedingung, den Folgen und Grenzen von „Anteilnahme“ könnten beitragen, eine bisher zu wenig beachtete Kehrseite der Beschäftigung mit den Betroffenen ins Licht zu rücken. Sind denn tatsächlich alle Namenlosen in der Geschichte unterschiedslos zu respektieren? Erweisen sich nicht manche oder gar viele der „Betroffenen“ keineswegs nur als Beherrschte, Ausgebeutete und Leidende? Vor allem: Was bedeutet die Einsicht in die Gleichzeitigkeit von (Mit-)Täterschaft und Opfersein der „Vielen“ im deutschen Faschismus? Das heißt auch: Wie ist KZ-Wachmannschaften oder Mitgliedern von SD-Einsatzgruppen zu begegnen? Daß es den „Bruder Eichmann“ (H. Kipphardt) gebe, kann nicht von kritischer Distanz gegenüber den identifizierbaren Eichmännern und ihren Helfern und Helferinnen entbinden.
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Dieser Aspekt „kommunikativer“ Geschichtsforschung bleibt freilich bei vielen ihrer Verfechter ausgeblendet. Zu häufig wird das Ernstnehmen der Subjekte mit schrankenloser Sympathie verwechselt. Dem entspricht die Beschränkung des Blicks – eben auf diejenigen, die als „reine“ Opfer gelten können. Es wundert nicht, daß die Kritiker sich dann in ihrer Sorge bestätigt sehen, Annäherung und mikrologische Analyse erlaubten doch nur die Verlängerung der Selbstdeutung „Betroffener“. Das Gegenteil trifft zu. Erst wenn die Entstehung jener Erfahrungen freigelegt wird, die z. B. „alte Kämpfer“ des NS zum Mitmachen ermuntert haben, lassen sich die gesellschaftlichen Bedingungen als jeweils reale Möglichkeiten zeigen, Nazismus individuell zu erfahren – in diesen Fällen: zu fördern und mitzutragen. „Anteilnehmen“ meint also: das Eigenartige, Besondere und vielleicht auch „Fremde“, nicht zuletzt das Grauenhafte in vielen Lebensgeschichten „alter Kämpfer“ wie Mitläufer zu erkennen. Zugleich geht es darum, verstehen zu lernen, in welcher Weise mörderische Gewalt, aber auch Staats-Terror z. B. in einer parlamentarisch verfaßten Industriegesellschaft attraktiv werden (oder bleiben) können. „Anteilnehmen“ meint im Unterschied zum klassischen Konzept der historischen Hermeneutik nicht die Verschmelzung von „Sinnhorizonten“ (H. G. Gadamer). Denn alles „Nahetreten“ bleibt Rekonstruktion.59 Insbesondere dementieren alle Versuche, die Vieldeutigkeit von Lebensverhältnissen minutiös zu erschließen, jede vorgebliche Vertrautheit. Anteilnehmen zielt nicht auf naives Sich-anschmiegen. Möglich wird vielmehr Einsicht in das Profil der Distanz zwischen ‚ihnen‘ und ‚uns‘.
9. AKTEURE : Z UNFTGENOSSEN , F ILMEMACHER , G ESCHICHTSWERKSTÄTTEN , „B ARFUSSHISTORIKER “ Spätestens dann, wenn Rechtfertigungen und Motive benannt werden, ist nach den Akteuren zu fragen: Wer betreibt Alltagsgeschichte? In den letzten Jahren hat eine Reihe von professionellen (Sozial-)Historikern alltagsgeschichtliche Perspektiven in ihr Repertoire aufgenommen. Im Zusammenhang zeitgeschichtlicher Studien läßt sich als ein Beispiel die Gruppe um Lutz Niethammer und Alexander von Plato (Fernuniversität Hagen) nennen. Wesentliche Ergebnisse ihres Projekts „Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930-1960“ sind inzwischen in drei Bänden veröffentlicht.60 Die hierbei in großem Umfang benutzte „oral history“ ist für zahlreiche andere, vornehmlich lokalhistorische Vorhaben – nicht zuletzt außerhalb der Wissenschaftsbetriebe – so etwas wie ein Königsweg geworden. – Zu dem neuesten Versuch, lebensgeschichtliche Erinnerung mit Interviews zu „erheben“ und zu deuten vgl. Lutz Niethammer in diesem Band. Alltagsgeschichte ist aber vor allem auch jenseits der Zunft vorangebracht worden. Filmemacher haben erheblich dazu beigetragen – nicht durch
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Programmentwürfe, sondern durch ihre Arbeiten. Vielleicht nicht „massenwirksam“, aber dennoch medienweit beachtet wurden (und werden) die Ergebnisse, die Eberhard Fechner vorgelegt hat, z. B. „Das Leben der Klara Heydebreck“ von 1979. In Form einer Text-Bild-Collage zeigt dieser (Fernseh)Film das Leben (und stille Dulden) einer Berliner Kriegerwitwe. Deutlich wird auch, wie sich die Rekonstruktion von einem zufällig bewahrten Klassenphoto gleichsam Bild um Bild vorantastet. Sehr große Resonanz fand 1983 der Fernsehfilm „Rote Erde“: Peter Stripp macht mit Hilfe einer fiktiven Handlung Einwandererschicksale und Sich-Durchschlagen über wie unter Tage in einer Ruhr-Zeche und ZechenKolonie anschaulich. Die Panoramen und Szenen sind sozial- und alltagsgeschichtlich recherchiert – es gab viel Zuschauer- und Rezensentenbeifall (und wohl auch Buchverkaufserfolg).61 Ein Jahr später stellte Edgar Reitz seinen Film „Heimat“ vor, d. h. seinen Versuch einer visuellen Dorfchronik von den 1920er bis in die 1960er Jahre. – Während „Rote Erde“ die Dramatik von Naturereignissen, von Bergkatastrophen, aber auch von Arbeits- und Ehekonflikten einsetzte, versuchte Reitz eine andere Erzählhaltung. Er machte in weit höherem Maße undramatische Situationen augenfällig, zeigte atmosphärische Ensembles.62 Die damit verknüpften dokumentarischen Perspektiven vermitteln allerdings keine Vorstellung oder Wahrnehmung jener „Brüche“, in und aus denen die Menschen z. B. in dem fiktiven Hunsrückdorf Schabbach den Faschismus erlebt, d. h. hingenommen und genutzt, aber auch nicht ungern ‚erledigt‘ gesehen haben. Filme erreichen wohl in jedem Fall ein weit größeres, zugleich weit weniger eindeutig definiertes Publikum als Bücher – wenn sie in einem der Fernsehprogramme erscheinen. In den Dritten Fernsehprogramme wurde im Frühjahr 1985 der (ebenfalls) vielstündige Film „Shoah“63 von Claude Lanzmann ausgestrahlt. In langandauernden Einstellungen erzählt der Autor keine Geschichten; dokumentiert sind vielmehr Interviews, unterbrochen durch – ebenfalls ganz ruhige – Kamerafahrten über Geleise und Terrains der Vernichtungslager ‚heute‘. Im Unterschied zu den eben genannten, offenkundig fiktiven Annäherungen an historische Lebensweisen wird der Völkermord, werden Erinnerungen und Schweigsamkeiten hier nicht ‚inszeniert‘. Lanzmann versucht keine Vergegenwärtigung. Die Präsentation der Erinnerungen von Tätern und Überlebenden, aber auch von (polnischen) Mitlebenden (und Mit-Überlebenden), läßt das Relief der Vernichtungsmaschinerie sichtbar werden – belegt die Wirksamkeit über den historischen Moment hinaus. Zum Beispiel die Sequenz mit den Erinnerungen der einstigen „Lehrersgattin“, deren Mann 1942 an die deutsche Schule in Chelmno versetzt worden war: Offenbar unverändert ist ihr Naserümpfen über die unablässig „so nah vorbeifahrenden“ Lastwagen, d. h. die Vergasungswagen, über die „Zumutung“ durch das „Geschrei“ der Opfer. Die Nüchternheit von Bild- und Tonbandprotokoll der erinnernden Aussage zeigt die „Banalität“ (H. Arendt) des achselzuckenden Billigens von millionenfachem Morden,
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anscheinend damals wie heute. – Nachdenklich muß stimmen, daß im Unterschied zu der soap opera „Holocaust“ (1979) die öffentliche Resonanz unvergleichlich gedämpfter war. Das rasche Verebben der Erschütterung, die 1979 in den ersten Wochen nach der Ausstrahlung von „Holocaust“ sichtbar geworden war, unterstreicht aber auch, daß Heftigkeit bzw. Meßbarkeit von Reaktionen ein fragwürdiges Indiz für die Qualität ‚massenhafter‘ Erinnerungsarbeit ist. Alltagsgeschichte ist der gemeinsame Nenner für neue Formen der Erinnerungsarbeit im lokalen und regionalen Rahmen geworden. Neben einzelnen, z. T. gewerkschaftlich engagierten (Jugend-)Gruppen64 und politischen Bildungsprojekten65 sind zunehmend die „freien Initiativen“ von Geschichtswerkstätten66 aktiv geworden: Sie gehen den „Spuren“ der „Namenlosen“ nach, zumal der Unterdrückten und Ausgegrenzten „vor Ort“.67 Projekte zur Erforschung und Darstellung von Leben, Leiden und Widerstehen von Arbeitern und Arbeiterinnen, nicht zuletzt zum Sterben von jüdischen Gefangenen, von Fremdarbeitern und Fremdarbeiterinnen, von Sintimännern und -frauen, von weiblichen und männlichen Homosexuellen im deutschen Faschismus: Sie sind in den letzten Jahren erst durch die mühevolle, vielfach konfliktträchtige (Vor-)Arbeit dieser Gruppen möglich geworden. Geschichtswerkstatt-Gruppen haben darüber hinaus versucht, öffentliche Diskussion und politisches Handeln anzustoßen: Forderungen nach Umbenennungen von Straßen und Schulen, nach Gedenktafeln und dem Neubzw. Ausbau von Erinnerungsstätten sollen beitragen, das Verdrängen und Vergessen zu erschweren.68 Mit Nachdruck sind in den beiden letzten Jahren aus Geschichtswerkstätten die Planungen für ein „Deutsches Historisches Museum“ in Berlin (und die für das „Haus der Geschichte der Bundesrepublik“ in Bonn) kritisiert worden.69 Dabei geht es nicht nur darum, ob nicht auch dieser (Minderheiten-)Aspekt oder jener (Frauen-)Akzent berücksichtigt werden müsse. Inhaltliche Grund-Zweifel stützen sich vielmehr auf zwei Thesen: Entscheidend auch für ‚unsere‘ Geschichte seien zum einen die in vieler Weise längst wirksamen Prozesse der Überwindung national(-staatlicher) Formierung von der Nutzung kolonialer Abhängigkeiten bis zu den ‚modernen‘ Formen der Ausnutzung von Dritter und Vierter Welt. Zum zweiten sei zu fragen, ob nicht gerade die geplante plurale Vielfältigkeit nur um so nachdrücklicher den Schein von Objektivität durchsetze, ohne Rücksicht auf die Brüche in der angeblichen „Bewußtseinskontinuität“. Da eine Vielzahl von kontroversen Positionen auch gleichzeitig ausgestellt werden sollen, seien sie „wechselseitig kurzgeschlossen“. Der Effekt: „Statt den Gegenstand Geschichte in Frage zu stellen, verleihen sie ihm den Schein von Objektivität“. Das Ganze sei nichts als eine breit angelegte hermetische Fluchtbewegung vor jener „kollektiven Amnesie“, die seit mehr als vierzig Jahren herrsche. Die Forderungen richten sich folgerichtig nicht auf eine Veränderung des Konzepts. Ermunterung zu Blicken über und unter die bisherige „Großgeschichte“ heißt hier: Verzicht auf das „Deutsche Historische Museum“.
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Die Aktiven in den Geschichtswerkstätten sind z. T. Angehörige einer neuen Generation von (Lokal-)Historikern. Viele erlebten ihre politische Sozialisation seit Mitte der 1970er Jahre. Sie fanden sich in einer Gesellschaft, in der frech-phantasievolle Widerspenstigkeit, zugleich Ansätze einer streitfreudig-offenen „politischen Kultur“ den Forderungen nach polizeilicher und materieller Sicherheit nachgeordnet wurden. In den außeruniversitären Arbeitszusammenhängen, insbesondere in den Geschichtswerkstätten gelten theoretische Reflexion und methodische Präzision zunehmend als unerläßlich.70 Auch wenn hier noch viel zu tun bleibt, ist zu erinnern, daß es gute Gründe gibt für nachdrückliche Skepsis gegen ein bloßes Pochen auf den herkömmlichen Kanon von Wissenschaftlichkeit.71 Für nicht wenige der Außenstehenden buchstabiert sich „Wissenschaft“ aufgrund mancher bitteren Erfahrung nicht selten als Kampf um Stellen und knappe Mittel, durchmischt mit dem Ringen um Reputation – das Ganze hinter dem Vorhang unermüdlicher Betriebsamkeit. Anstrengungen zur Alternative, vor allem zu offenem, vielleicht sogar solidarischem Austausch der Forschenden untereinander, gehören deshalb zu den gemeinsamen Erwartungen. Sie sind verbunden mit einer nachdrücklichen Forderung: die Verantwortlichkeit gegenüber den Erforschten in neuer Weise ernstzunehmen. Forscherinnen und Forscher versuchen deshalb immer wieder, ihren Expertenstatus zu relativieren. Ihr Text ist nicht notwendig angemessener als der, den die ‚Objekte‘ der Forschungen selbst formulieren (oder verschweigen!). Bei „oral history“-Projekten ist es möglich, (Zwischen-)Ergebnisse zurückzumelden. Freilich läßt sich schwer ausmachen, ob damit eher die Rechtfertigungsnöte von Forschern gelindert – oder tatsächlich Hilfe für die „Stimmen“ der anderen bzw. der Akteure gegeben wird. Zumindest richten sich aber viele Anstrengungen darauf, Adressaten außerhalb der akademischen Kleinkreise zu finden bzw. zu erreichen. Das scheint insbesondere dann zu gelingen, wenn nicht Bücher, sondern andere „Medien“ genutzt werden. Bei Ausstellungen avancieren die Erforschten gelegentlich zu Experten und Mitgestaltern.72 Es liegt auf der Hand, daß diese Chancen an lebende Zeitzeugen gebunden sind. Alltagsgeschichte und neue Formen kooperativer Forschungsarbeit: Die Situation ist in Bewegung. In der Arbeit von Geschichtswerkstätten wird zunehmend erkennbar, daß professionelles Bewahren und Erschließen von Überresten, Spuren und Quellen keineswegs den Anspruch dementiert, die verbreitete Sterilität des Wissenschaftsbetriebes zu überwinden. Ansätze zu radikaler Kritik bleiben auf einen Fundus bisheriger Debatten und interpretationsbedürftiger Materialien ebenso verwiesen wie auf die Nachprüfbarkeit der Fragen und Ergebnisse. Andererseits: „Barfuß“ bleibt man dem Boden der Realität näher – für institutionalisierte Wissenschaftler und -innen eine vielfach vergessene Einsicht.
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Bei den Aktiven außerhalb der Zunft ist freilich geboten, sich nicht in lokalen „Feldern“ einzuigeln. Allmählich wird erkennbar, daß zum eigenen Anspruch gehört: die Gleichzeitigkeit von Handeln und Leiden „der Vielen“ nicht nur punktuell, sondern in den überregionalen, den nationalen wie globalen Wechselwirkungen in den Blick zu nehmen. Oder anders: Dringlich wird die Frage, wie denn Lokalstudien aufeinander zu beziehen sind; in welcher Weise läßt sich z. B. Industriearbeit in Eßlingen mit der in Essen, St. Etienne und Turin ‚von unten herauf‘ vergleichen? Unterschiedliche Zielsetzungen, aber auch Sprachbarrieren behindern nicht nur den Austausch (und Streit) zwischen Skeptikern und Befürwortern alltagsgeschichtlicher Arbeit; sie kennzeichnen in erheblichem Maße auch die Situation zwischen Alltagshistorikern und -historikerinnen selbst. Dennoch gilt für Autoren von Sachbüchern oder von Drehbüchern, für „Teamer“ in der gewerkschaftlich-politischen Jugendbildungsarbeit, zumal für die Vielfalt von Geschichtswerkstätten: Die Zunft verfügt bei der Alltagsgeschichte weniger als sonst über ein Monopol. Alltagsgeschichtliche Perspektiven überschreiten und ‚schneiden‘ die Abgrenzungen der eingeführten Wissenschaftsbetriebe. Alltagsgeschichte erweitert die Chancen für bisher verkannte oder abgedrängte Stimmen, die ‚eigene‘ Geschichte zur Sprache zu bringen.
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Vgl. P. Kriedte, Die Hexen und ihre Ankläger. Zu den lokalen Voraussetzungen in der frühen Neuzeit. Ein Forschungsbericht, in: Zeitschrift für Historische Forschung 14 (1987), S. 47-71. Vgl. dazu die Begleit- und Auswertungsbände des „Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten“ 1980/81 und 1982/83, bes.: D. Peukert/J. Reulecke (Hg.), Die Reihen fast geschlossen, Wuppertal 1981; für 1982/83 („Ost“- und „Fremdarbeiter“!): D. Galinski, W. Schmidt (Hg.), Die Kriegsjahre in Deutschland, 1939-1945, Hamburg 1985. – Von den Aufarbeitungen im Zusammenhang der „50 Jahre 1933-1983“, die insbesondere von „freien“ Initiativen, Geschichtswerkstätten und isolierten Einzelarbeitern vorangebracht worden sind, vgl. als Beispiele: Solinger Geschichtswerkstatt, Fremdarbeiter in Solingen, 1939-45, Solingen (als MS veröffentlicht), o. J. (1982); G. Hoch, Zwölf wiedergefundene Jahre. Kaltenkirchen unter dem Hakenkreuz, Bad Bremstedt o. J. (ca. 1982/83). – Zur Unterdrückung und Ermordung von Homosexuellen, Sinti und Roma, zu Zwangssterilisierungen, der Verfolgung von Krüppeln und Prostituierten: Projektgruppe für die „vergessenen“ Opfer des NSRegimes in Hamburg (Hg.), Verachtet, verfolgt, vernichtet, Hamburg 1986. – Weit vor der „neuen Geschichtsbewegung“ (so „Der Spiegel“ 1983) entstanden: H. G. Adler, Theresienstadt 1941-45. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, 2. verb. Aufl., Tübingen 1960; H. Langbein, Menschen in Auschwitz, Wien u. a. 1972; E. Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, Frankfurt 1983. Zum System der Ausbeutung ausländischer Zwangsarbeiter jetzt U. Herbert, Fremdarbeiter, Berlin/Bonn 1985. – Wichtige Beiträge zur lokalen und regionalen Alltäglichkeit der Repression stammen aus Hochschulprojekten (z.B. Universität Hannover, H. Obenaus; Ghk Kassel, D. Krause-Vilmar). Insgesamt dazu den Literaturbericht von D. J. K. Peukert, Das „Dritte Reich“ aus der „Alltags“Perspektive, in: Archiv für Sozialgeschichte 26 (1986), S. 533-556 sowie D. Schmidt/H. Gerstenberger (Hg.), Normalität oder Normalisierung? Geschichtswerkstätten und Faschismusanalyse, Münster 1987. R. Hilberg, The Destruction of the European Jews, New York 1985, S. 993; vgl. M. Broszat – S. Friedländer, Um die „Historisierung des Nationalsozialismus“. Ein Briefwechsel, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36 (1988), S. 339-372, bes. S. 362 ff., S. 369 ff. – Vgl. zu Fragen der Erinnerungsarbeit auf und mit dem Ort der Zentrale des NS-Terrors R. Rürup (Hg.), Topographie des Terrors. Gestapo, SS und RSHA auf dem Prinz-Albrecht-Gelände, Berlin 1987 und G. Aly (Hg.), Aktion T4 1939-45. Die Euthanasie-Zentrale in der Tiergartenstr. 4, Berlin 1987. A. Hillgruber, Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des deutschen Reiches und der Untergang des europäischen Judentums, Berlin 1986, S. 24 f. Zur Auseinandersetzung vgl. Anm. 17. Hier ist nicht Vollständigkeit beabsichtigt. Die Vielfalt, vor allem die Defizite begrifflicher Annäherungen an den „Alltag“ sind pointiert umrissen bei N. Elias, Zum Begriff des Alltags, in: K. Hammerich/M. Klein (Hg.), Materialien zur So-
328 | A LF L ÜDTKE ziologie des Alltags, Opladen 1978 (SH 20 der Kölner Zeitschr. f. Soziol. u. Sozialpsychol.), S. 22-29. 6 P. Borscheid, Plädoyer für eine Geschichte des Alltäglichen, in: Ders./H.J. Teuteberg (Hg.), Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit, Münster 1983, S. 1-14, S. 8 ff. – Dies ist der programmatische (Kurz-)Text einer mittlerweile sieben Bände umfassenden Reihe von „Studien zur Geschichte des Alltags“, vornehmlich im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Im einzelnen finden sich hier eine Reihe von nützlichen, d. h. „dichten“ sozialgeschichtlichen Untersuchungen, die keineswegs durch das hier skizzierte Programm eingeschränkt sind. 7 Vgl. die programmatische Schrift von W. Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters, Köln 1957. 8 F. Engels an J. Bloch, 21./22.9.1890, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 37, Berlin/DDR 1978, S. 462-465, S. 463. 9 Dazu die kritisch-„historisierende“ Argumentation von H.-U. Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975; vgl. auch Ch. Tilly, Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons, New York 1984; materiale Studien, die in globaler Perspektive weniger die „Modernisierung“ als den Wandel von Herrschaftsformen untersuchen, von B. Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie, Frankfurt 1978 (amerik. 1967) und Th. Skocpol, States and Social Revolutions, Cambridge u. a. 1979; vgl. auch Ch. Bright, M. Geyer, For a Unified History of the World in the Twentieth Century, in: Radical History Review (1987) No. 39, S. 69-91. 10 Vgl. vor allem M. de Certeau, L’invention du quotidien, vol. 1: Arts de faire, Paris 1980. – Demgegenüber zeigt sich „soziale Praxis“ als Chiffre eines ebenso komplexen wie hermetischen, d. h. die Regungen der Akteure immer schon bestimmenden Systems gesellschaftlicher Beziehungen bei P. Bourdieu, Entwurf zu einer Theorie der Praxis, Frankfurt 1976 (franz. 1972); dabei hat sich zumal der „Habitus“-Begriff als in vieler Hinsicht fruchtbar erwiesen für das Überwinden eines kruden Entweder-Oder von gesellschaftlicher Determination oder „autonomen“ Subjekten, und selbst bei Skepsis über die Möglichkeiten dieses Ansatzes bleibt der Ansporn zur Selbst-Aufklärung über die verdeckten Grenzen von individuell-„selbstbestimmtem“ Verhalten, vgl. Ders., Dass., S. 177 ff., S. 357 ff. und Ders., Sozialer Sinn, Frankfurt 1987 (franz. 1980), S. 97 ff. 11 F. Engels an W. Borgius, 25.1.1894, in: MEW 39, Berlin/DDR 1968, S. 205-207, S. 207. 12 K. Marx: Nationalökonomie und Philosophie, in: Ders., Die Frühschriften, hg. S. Landshut, Stuttgart 1953, S. 225-316, S. 240; Marx insistiert hier darauf, daß „Aneignen“ nicht einseitigen „Genuß“, nicht bloßes „Haben“ meint – es gehe um die Vielfalt der „sinnliche(n) Aneigung des gegenständlichen Menschen, der menschlichen Werke für und durch den Menschen“; das „Verhalten“ der „Organe seiner Individualität“ wie seiner „gemeinschaftlichen Organe“ sind danach in ihrem „Verhalten zum Gegenstand“ die „Aneignung der menschlichen Wirklichkeit“.
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13 E. P. Thompson: Eighteenth-century English society: Class struggle without class? In: Social History 3 (1978), S. 1333-165, S. 151: „societal ‚field-of force‘“ – zumindest für die Analyse der „gentry-plebs relations“ im England des 18. Jahrhunderts. 14 „Ich-Leistungen“ erscheinen als eigentümlich un-gesellschaftlich bei H.-P. Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft, Stuttgart 1968, S. 199 ff., S. 212 ff.; anregend L. Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität, 5. Aufl., Stuttgart 1978, S. 11 f.; hier wird das Individuum als Resultat seiner „sozialen Biographie“ vorgestellt. 15 H.-U. Wehler, Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen? Die westdeutsche Alltagsgeschichte: Geschichte „von innen“ und „von unten“, in: F.J. Brüggemeier/J. Kocka (Hg.), „Geschichte von unten – Geschichte von innen“. Kontroversen um die Alltagsgeschichte, Fernuniversität Hagen 1985, S. 17-47, S. 35. 16 Vgl. auch meine Skizze: „Fahrt ins Dunkle“? Erfahrung des Fremden und historische Rekonstruktion, in: U. A. J. Becher/K. Bergmann (Hg.), Geschichte – Nutzen oder Nachteil für das Leben? Düsseldorf 1986, S. 69-78. 17 Dazu vor allem D. Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Frankfurt 1987 und W. F. Haug, Vom hilflosen Antifaschismus zur Gnade der späten Geburt, Hamburg 1987; vgl. auch: Chr. Meier, Vierzig Jahre nach Auschwitz. Deutsche Geschichtserinnerung heute, München 1987; „Historikerstreit“, München/Wien 1987; J. Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, in: Ders., Dass. Frankfurt 1987, S. 115-158; H. Gerstenberger/D. Schmidt (Hg.), Normalität (wie Anm. 2); G. ErIer u. a. (Hg.), Geschichtswende? Entsorgungsversuche zur deutschen Vergangenheit, Freiburg 1987; H.-U. Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum „Historikerstreit“, München 1988. 18 J. Kocka, Geschichte als Aufklärung? In: Frankfurter Rundschau, 4. Januar 1988; vgl. jetzt auch in: J. Rüsen u. a. (Hg.), Die Zukunft der Aufklärung, Frankfurt 1988, S. 91-98, S. 97. 19 Wehler, Königsweg (wie Anm. 15), S. 47. 20 Vgl. J. Kocka, Hitler soll nicht durch Stalin und Pol Pot verdrängt werden. Über Versuche deutscher Historiker, die Ungeheuerlichkeit von NS-Verbrechen zu relativieren, in: „Historikerstreit“, München 1987, S. 132-142, S. 137. 21 J. Habermas, Schadensabwicklung (wie Anm. 17), S. 142; Ders., Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität. Die Westbindung der Bundesrepublik, in: Ders., Schadensabwicklung (wie Anm. 17), S. 161-179, S. 162, S. 173 f. (zuerst im November 1986 in „Die Zeit“ bzw. Mai 1987 in „Frankfurter Rundschau“). 22 Vgl. dazu prononciert B. Hahn/P. Schöttler, Jürgen Habermas und das „ungetrübte Bewußtsein des Bruchs“, in: D. Schmidt/H. Gerstenberger (Hg.), Normalität (wie Anm. 2), S. 170-177. 23 In mancher Hinsicht ‚zugespitzt‘ in den beiden Festschriften, die dem marxistischen Historiker Eric Hobsbawm zu seinem 65. Geburtstag gewidmet wurden: eher alltagsgeschichtlich interessierte Beiträge in: R. Samuel/G. Stedman Jones (Hg.), Culture, Ideology and Politics, London 1983; eher sozialgeschichtlich ak-
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zentuierte Aufsätze in: P. Thane/G. Crossick/R. Floud (Hg.), The Power of the Past, Cambridge u. a. 1984. J. Kuczynski, Geschichte des Alltags des Deutschen Volkes, Bde. 1-5, Berlin/DDR, Köln 1980-82; Ders., Dass. Nachträgliche Gedanken, Berlin/DDR, Köln 1985; allerdings setzt danach historischer Wandel „im Alltag“ erst mit der Durchsetzung der Fabrikindustrie ein: Es habe von „1870 vor unserer Zeitrechnung bis 1870 nach unserer Zeitrechnung“ als „Hauptereignisse des Alltags“ nur „Arbeit, Essen und Geschlechtsverkehr“ gegeben, Ders., Erlebnisse beim Schreiben einer Geschichte des Alltags des deutschen Volkes seit 1600, in: Ders., Nachträgliche Gedanken, S. 69-73, S. 70. Inhaltlich gehen insbesondere für das 19. Jahrhundert darüber hinaus: S. u. W. Jacobeit, Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes, 1810-1900, Köln 1987 (vgl. für die Visualisierung: Dies., Dass., 1550-1810, Köln 1986); weniger von den zünftlerischen Diskussionen belastet die Arbeiten der Gruppe um D. Mühlberg, vgl. Ders. (Hg.), Proletariat. Kultur und Lebensweise im 19. Jahrhundert, Leipzig 1986; s. auch H. Dehne in diesem Band. H.-U. Wehler, Geschichtswissenschaft heute, in: J. Habermas (Hg.), Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘, Bd. 2, Frankfurt 1979, S. 709-753, S. 744. Im folgenden beziehe ich mich auf kritische Einwände, wie sie in polemisch zugespitzter Form und in mehrfachen Varianten besonders von H.-U. Wehler formuliert worden sind, vgl. ders., Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen? Die westdeutsche Alltagsgeschichte: Geschichte „von innen“ und „von unten“, Masch. Bielefeld 16. Nov. 1984. Dieses „graue“ Papier, das zwischen Bielefeld und Los Angeles verbreitet wurde, hat in erheblichem Maße das „Feld“ der Debatte beeinflußt; in der ursprünglichen Fassung schließlich veröffentlicht unter dem Titel: Alltagsgeschichte: Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen?, in: Ders., Aus der Geschichte lernen? München 1988, S. 130-151, S. 307-312. – Die „Pose“ Wehlers wird zwar beklagt von P. Borscheid, vgl. Ders., Alltagsgeschichte – Modetorheit oder neues Tor zur Vergangenheit? In: W. Schieder/V. Selling (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. III. Göttingen 1987, S. 78-109, S. 85; zugleich aber setzt Borscheid die Vermeidung der Auseinandersetzung à la Wehler fort. Dem entspricht, daß er in völliger Verkennung des mit dem Bild Gemeinten das „Stranden“ der „Missionare im Ruderboot“ wünscht – obendrein an „menschenleeren Küsten“: auch eine Form von Diskussionsvermeidung (a. a. O., S. 87)! Eine informierte, offenbar auf produktive Klärung bedachte Diskussion der Einwände aus „historisch-sozialwissenschaftlicher“ Sicht hat Jürgen Kocka vorgelegt: Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1986, Kap. 4, bes. S. 152-160, S. 16274. Vgl. auch K. Tenfelde, Schwierigkeiten mit dem Alltag, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 376-94. – Eine sehr abwägende Aufarbeitung der Kontroversen um „Alltag“, „Lebensweise“ und Klassenverhältnisse bei H. Dehne, Aller Tage Leben, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 28 (1985), S. 9-48; vgl. seinen Beitrag in diesem Band. Ausführlicher dazu mein Text: „Fahrt ins Dunkle“? (wie Anm. 16). Demgegenüber hat H. Medick nachdrücklich dafür plädiert, das Feldforschungskonzept für eine Neukonzeption von historischer Hermeneutik zu nutzen, in der es nicht
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mehr darum gehe, die prinzipielle Identität von jeweiligen Erfahrungen zu zeigen (vgl. aber H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. Tübingen 1965, S. 284 ff., S. 449 ff.); vgl. Medick, „Missionare im Ruderboot“? (revidierte Fassung in diesem Band); insgesamt dazu S. Sangren, Rhetoric and the authority of ethnography, in: Current Anthropology 29 (1988), S. 405-435. Zusammenfassende Problemübersicht zu „oral history“ bei L. Niethammer, Fragen – Antworten – Fragen, in: Ders./A. v. Plato (Hg.), „Wir kriegen jetzt andere Zeiten“, Berlin/Bonn 1985, S. 392-445. C. Ginzburg/C. Poni, Was ist Mikrogeschichte? in: Geschichtswerkstatt No. 6 (1985), S. 48-52, S. 51. Vgl. dazu N. Schindler, Für eine Geschichte realer Möglichkeiten, Nachwort, in: N.Z. Davis, Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt, Frankfurt 1987, S. 328-349, S. 334 ff. J. Kocka, Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1986, S. 168 f. Vgl. auch Anm. 26. Vgl. auch D. Sabean: Zur Bedeutung von Kontext, sozialer Logik und Erfahrung, in: F.J. Brüggemeier/J. Kocka (Hg.), „Geschichte von unten“ (wie Anm. 15), S. 52-60. K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58), Frankfurt/Wien o. J. (1973), S. 30 f.; vgl. auch E. Bloch, Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik (1932), in: Ders., Erbschaft dieser Zeit. 2. Aufl. Frankfurt 1962, S. 104-126, bes. S. 108 f., S. 120 f., S. 122 ff. S. Lindquist, Grabe, wo du stehst, in: H.Ch. Ehalt (Hg.), Geschichte von unten, Wien u. a. 1984, S. 295-304 (als schwed. Buch 1978). Im Zusammenhang eines umfassenden gesellschaftstheoretischen Entwurfs wurde der Terminus vorgeschlagen von Jürgen Habermas, Ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt 1981, s. S. 489 ff., bes. S. 520-522, S. 539-542. Demgegenüber ist das Konzept auf eine verkürzte ‚Paßform‘ gebracht bei D. Peukert, Arbeiteralltag – Mode oder Methode? In: H. Haumann (Hg.), Arbeiteralltag in Stadt und Land, Berlin 1982, S. 8-39, bes. S. 26 ff. – Einen Entwurf, wie z. B. „Mobilisierung“ oder „Kapitalisierung“ in theoretischer Absicht diskutiert und gleichermaßen historisch untersucht werden können, zeigt D.W. Cohen, Doing Social History from Pim’s Doorway, in: O. Zunz (Hg.), Reliving the Past, Chapel Hill/London 1985, S. 191-235. K.L. Pfeiffer, Produktive Labilität. Funktionen des Stilbegriffs, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt 1986, S. 685-725,S. 710 ff. Forschungen zur Politik der staatlich-verbandlichen Medikalisierung, zur Heilung wie zur Ausgrenzung von „Kranken“ erreichen nur in Ansätzen die Verhaltensweisen der „Laien“; zusammenfassend weiterhin R. Spree, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Zur Sozialgeschichte des Gesundheitsbereichs im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1981; vgl. für die ärztliche Praxis auch G. Göckenjan, Medizin und Ärzte als Faktor der Disziplinierung der Unterschichten. Der Kassenarzt, in: Chr. Sachße/F. Tennstedt (Hg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankfurt 1986, S. 286-303 – Eine systematische Aus-
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wertung autobiographischen Materials könnte weiterführen, vgl. C. Lipp, „Uns hat die Mutter Not gesäugt an ihrem dürren Leibe“. Die Verarbeitung von Hungererfahrungen in Autobiographien von Handwerkern, Arbeitern und Arbeiterinnen, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde (1985) H. 2, S. 54-58. K. Saul: Der Staat und die „Mächte des Umsturzes“, in: Archiv für Sozialgeschichte 12 (1972), S. 293-350. Dieses Feld ist noch wenig erkundet, vgl. aber summarische Hinweise bei G. A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983, S. 62-75. Aufschlußreich sind die – allerdings auf Einzelfälle begrenzten – Berichte aus der sozialen Schiedsbarkeit vor 1914 bei R. Wissell, Aus meinen Lebensjahren, Berlin 1983; vgl. auch U. Borsdorf, Hans Böckler. Arbeit und Leben eines Gewerkschafters von 1875 bis 1945, Köln 1982. H.-U. Wehler, Geschichtswissenschaft heute, in: J. Habermas (Hg.), Stichworte (wie Anm. 25), S. 743. J. Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 21-63, S. 44; vgl. auch die Hinweise auf „Sogeffekt“ wie „Sickereffekt ... bürgerlicher Normen und Werte“ bei H.-U. Wehler, Wie bürgerlich war das Deutsche Kaiserreich? In: J. Kocka (Hg.), a. a. O., S. 243-280, S. 252. A. Schütz/Th. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2, Frankfurt 1984, S. 13 f. U. Jeggle, Kiebingen – eine Heimatgeschichte, Tübingen 1977; W. Kaschuba/C. Lipp, Dörfliches Überleben, Zur Geschichte der materiellen und sozialen Reproduktion ländlicher Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Tübingen 1982. J. Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1780-1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984; E. Lucas, Zwei Formen von Radikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung, Frankfurt 1976; F.-J. Brüggemeier, Leben vor Ort. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau 1889-1914, München 1983; M. Grüttner, Arbeitswelt an der Wasserkante. Sozialgeschichte der Hamburger Hafenarbeiter 1886-1914, Göttingen 1984; H. Steffens, Autorität und Revolte. Alltagsleben und Streikverhalten der Bergarbeiter an der Saar im 19. Jahrhundert, Weingarten 1987. U. Nienhaus, Berufsstand weiblich. Die ersten weiblichen Angestellten, Berlin 1982; C. Lipp (Hg.), Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen, Moos/Baden-Baden 1986. – Zur Diskussion der Perspektiven von Frauengeschichte vgl. jetzt K. Hausen, Patriarchat – Vom Nutzen und Nachteil eines Konzepts für Frauengeschichte und Frauenpolitik, in: Journal für Geschichte (1986) H. 5, S. 12-21, 58. Vgl. in diesem Band den Beitrag von D. Wierling. S. dazu die Fallbeschreibungen und Analysen bei D. W. Sabean, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit, Berlin 1986.
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47 R. Wirtz, Die Ordnung der Fabrik ist nicht die Fabrikordnung. Bemerkungen zur Erziehung in der Fabrik während der frühen Industrialisierung an südwestdeutschen Beispielen, in: H. Haumann (Hg.), Arbeiteralltag in Stadt und Land (Argument-Sonderband 94), Berlin 1982, S. 61-88; A. Lüdtke, Arbeitsbeginn, Arbeitspausen, Arbeitsende. Skizzen zu Bedürfnisbefriedigung und Industriearbeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: G. Huck (Hg.), Sozialgeschichte der Freizeit, 2. Aufl., Wuppertal 1982, S. 95-122. 48 A. Suter, „Troublen“ im Fürstbistum Basel (1728-1740). Eine Fallstudie zum bäuerlichen Widerstand im 18. Jahrhundert, Göttingen 1985, bes. S. 349 ff., S. 355 ff. 49 H. Bock/W. Heise (Hg.), Unzeit des Biedermeiers. Historische Miniaturen zum Deutschen Vormärz, 1830-48, Leipzig 1985. – Als Beispiele vgl. auch H. Ch. Ehalt u. a. (Hg.), Glücklich ist, wer vergißt...? Das andere Wien um 1900, Wien u. a. 1986; Chr. Stansell, City of Women. Sex and Class in New York, 17891860, New York 1986, bes. „The Politics of Sociability“ (S. 39-101) und „The Politics of the Street“ (S. 171-216); A. Corbin u.a., De la Révolution à la Grande Guerre, Bd. 4 von: Histoire de la vie privée, Paris 1987: Fragen nach „Akteuren“, „Räumen“, aber auch den „Geheimnissen des einzelnen“ öffnen Perspektiven für eine ‚Vernetzung‘ der Einzelbeschreibungen. Fraglos bleibt unerreicht die Herausforderung der Arbeiten von Walter Benjamin, der in der „äußerste(n) Konkretheit“ einzelner Szenen und Schilderungen „ein Zeitalter“ zu ‚zeigen‘ versuchte, vgl. Ders., Brief an G. Scholem, 15. März 1929, in: Ders., Briefe, hg. G. Scholem/Th. W. Adorno, Frankfurt 1966, S. 491. – Vgl. auch A. Söllner, Peter Weiss und die Deutschen, Opladen 1988, S. 145 ff., S. 200 ff. – Hinzuweisen wäre auf Th. Fontane und seine fiktionale Vergegenwärtigung z. B. der junkerlichen wie der bürgerlichen Gesellschaft des späten Bismarckreiches – was ist angemessener: Fontanes „Stechlin“ oder H.-U. Wehlers „Kaiserreich“? 50 Zu beachten ist die erneuerte Diskussion um das „Erzählen“ in der Historiographie, zugleich um rhetorische (Grund-)Elemente aller historiographischen Darstellung, vgl. H. White, Auch Kilo dichtet oder: Die Fiktion des Faktischen, Stuttgart 1986 (amerik. 1982); nicht nur auf die Schreib-Struktur reduzierend M. de Certeau, Die Geschichte, Wissenschaft und Fiktion, in: G. Schmid (Hg.), Die Zeichen der Historie, Graz/Wien 1986, S. 29-50, S. 34 ff., S. 47 ff.; H. R. Jauss, Der Gebrauch der Fiktion in Formen der Anschauung und Darstellung der Geschichte, in: R. Koselleck u. a. (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung, München 1982, S. 415-451. Besonders anregend scheint mir die Frage nach unterschiedlichen Theorie‚Idiomen‘, d. h. ob Theorie nicht auch in scheinbar a-theoretischer Erzählung gezeigt und vermittelt wird, vgl. dazu Th. Lindenberger, Das „empirische Idiom“: Geschichtsschreibung, Theorie und Politik in The Making of the English Working Class, in: Prokla 18 (1988) H. 70, S. 167-188, S. 182 ff. 51 E.P. Thompson, Die ‚moralische Ökonomie‘ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: Ders., Plebejische Kultur und moralische Ökonomie, Frankfurt u. a. 1980, S. 67-130, S. 332-347 (engl. 1971).
334 | A LF L ÜDTKE 52 Hier ist natürlich auch an Pionierarbeiten zu Themen mittelalterlicher Geschichte zu erinnern, vgl. A.J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, Dresden 1978 (russ. 1972); E. LeRoy Ladurie, Karneval in Romans, Stuttgart 1982 (franz. 1979); Ders., Montaillou, Frankfurt u. a. 1983 (franz. 1976); A. Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt u. a. 1979. 53 N.Z. Davis, Humanismus (wie Anm. 30); Dies., Frauen und Gesellschaft am Beginn der frühen Neuzeit. Studien über Familie, Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Körpers, Berlin 1986; vgl. auch P. Burke, Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981. 54 V. Maher, Women and Property in Morocco, Cambridge u. a. 1974; Dies., Mutterschaft und Mortalität: Zum Widerspruch der Frauenrollen in Marokko, in: H. Medick/D.W. Sabean (Hg.), Emotionen und materielle Interessen, Göttingen 1984, S. 143-178; Y. Verdier, Drei Frauen. Das Leben auf dem Dorf, Stuttgart 1982 (franz 1979). 55 C. Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt 1979 (ital. 1976); zu den Implikationen und Akzenten von Ginzburgs Arbeitsweise und -richtung vgl. ders., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berlin 1983. 56 Vgl. das Programmheft „Geschichtsfest ’84“ in Berlin, in: Moderne Zeiten (MOZ) 4 (1984) H. 4, sowie die Berichte in: Geschichtswerkstatt-Rundbrief Nr. 4 (August 1984); A. G. Frei, Spannungsfelder. Geschichtsfest Berlin, in: Journal für Geschichte (1984) H. 4, S. 4-7. 57 Chr. Wolf, Kindheitsmuster, Darmstadt, Neuwied 1977 (DDR 1976). 58 Chr. Wolf, Ein Satz, in: Dies., Fortgesetzter Versuch. Aufsätze, Gespräche, Essays, Leipzig 1979, S. 137-142, S. 141. 59 Vgl. für den Stand der Hermeneutik-Diskussion unter Historikern G. O. Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, in: Historische Zeitschrift 238 (1984), S. 17-55. 60 L. Niethammer (Hg.), „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll“, Berlin/Bonn 1983; Ders. (Hg.), „Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß es schiefgegangen ist“, Berlin/Bonn 1983; Ders., A. v. Plato (Hg.), „Wir kriegen jetzt andere Zeiten“, Berlin/Bonn 1985; dazu den Rezensions-Essay von R. Wirtz, Lese-Erfahrungen – mit mündlicher Geschichte, in: Sozialwissenschaftliche Informationen (SOWI) 15 (1986) H. 3, S. 33-43. 61 P. Stripp, Rote Erde, München 1983. Dies ist der Roman zum gleichnamigen Fernsehfilm des WDR, der als Serie im Spätherbst 1983 ausgestrahlt wurde. 62 Vgl. „Deswegen waren unsere Muttis so sympathische Hühner“ (Edgar Reitz). Diskussion zu Heimat, in: Frauen und Film (1985) Nr. 38. – In Erzählhaltung und Bildführung in manchem vergleichbar der Dreiteiler von Käthe Kratz „Lebenslinien“ (ZDF, 1984). 63 C. Lanzmann, Shoah, Düsseldorf 1985; vgl. T. Judt, Moving Pictures, in: Radical History Review (1988) No. 41, S. 129-144; sowie P. Schöttler, „Der Blick zurück ist nicht genug“. Dokumentarfilme über das Nazi-System und die Gegenwart, in: Geschichtswerkstatt No. 12 (1987), S. 112-115; generell auch N. Z. Da-
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UND WER TREIBT
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vis, „Any Resemblance to Persons Living or Dead?“: Film and the Challenge of Authenticity, in: Yale Review 76 (1987) No. 4. 64 Vgl. zusammenfassend M. Scharrer, Macht Geschichte von unten, Köln 1988. 65 D. Lecke (Hg.), Handbuch Spurensicherung – Lebensorte als Lernorte, Kassel 1983. – Zunehmend haben museumspädagogische Projekte alltagsgeschichtliche Arbeiten angeregt bzw. gefördert, vgl. Museumspädagogischer Dienst Berlin (Hg.), Geschichtsarbeit im Stadtteil. Bericht über das Projekt „Borsig und Borsigwalde – wir entdecken unsere Geschichte“. Berlin 1986. Stärker noch scheint das Interesse einer ganzen Reihe von Volkshochschulen an einschlägigen Angeboten, vgl. für Nordrhein-Westfalen die Auflistung bei M. Brown/K.I. Rogge (Bearb.), Von der Lokalgeschichte zur Stadtteilkommunikation, Soest 1987, S. 19-38. 66 Zu nennen ist vor allem die Gründung der „Geschichtswerkstatt e.V.“ als bundesweitem Verein im April 1983 (nach einer mehr als zweijährigen Vorbereitungsphase); bis Frühsommer 1988 liegen 15 Nummern des Rundbriefes bzw. (seit 1985) der Zeitschrift „Geschichtswerkstatt“ vor; außerdem sind seit 1984 vier bundesweite Treffen als „Geschichtsfeste“ veranstaltet worden (in Berlin, Hamburg, Dortmund und Hannover); einzelne Arbeitsgruppen (z.B. „Nachkriegsgeschichte“, „Bürgerliche Gesellschaft“) haben Tagungen abgehalten. 67 Informativ die Übersicht in G. Paul/B. Schoßig (Hg.), Die andere Geschichte. Geschichte von unten. Spurensicherung. Ökologische Geschichte. Geschichtswerkstätten, Köln 1986; zu Arbeitsfeldern und -techniken s. auch H. Heer/V. Ullrich (Hg.), Geschichte entdecken, Reinbek 1985. 68 Vgl. dazu einige der in Anm. 2 genannten Titel und Projekte sowie Berichte in den Heften der „Geschichtswerkstatt“, z. B. zur Auseinandersetzung mit dem „Volkstrauertag“. 69 Vgl. vor allem Geschichtswerkstatt Berlin (Hg.), Die Nation als Ausstellungsstück, Hamburg 1987 (zugleich Geschichtswerkstatt No. 11); besonders die Beiträge von F. Th. Gatter, V. Wünderich, FFBIZ sowie vor allem D. HoffmannAxthelm, a. a. O., S. 53, S. 57, S. 60. 70 Vornehmlich im Horizont von Methodenerklärung verbleibt G. Zang mit seinem Vorschlag, „strukturelle Biographie(n)“ als methodisches Prinzip von Alltagsgeschichte zu begreifen; Ders., Die unaufhaltsame Annäherung an das Einzelne, Konstanz 1985. – Zur Diskussion (wissenschafts-)politischer wie inhaltlicher Anfragen an alltagsgeschichtliche Projekte und Konzepte vgl. A. G. Frei/M. Wildt, Hirsebrei und Seifenblasen. Die Geschichtswerkstatt und ihre Kritiker. In: Geschichtswerkstatt No. 10 (1986), S. 12-15. – Die selbstkritische Debatte ist vergleichsweise weit mehr entwicklungsbedürftig, vgl. aber D. Trittel, Geschichtswerkstätten – auch eine „Heimatbewegung“? In: Geschichtswerkstatt No. 6 (1985), S. 25-31; M. Leuenberger, Entpolitisiert der Alltag die Geschichte? In: Widerspruch (Zürich) (1985) H. 10, S. 58-69. 71 Vgl. grundsätzlich dazu M. de Certeau, Die Geschichte (wie Anm. 50) S. 32 ff., S. 46 f. 72 Ein besonders beeindruckendes Beispiel gab die Ausstellung von Bergarbeitern über ihre (1985 geschlossene) Zeche Gneisenau zwischen Dortmund und Lünen
336 | A LF L ÜDTKE „Leben mit Gneisenau“, Dortmund, 12. Sept.-26. Okt. 1986, Ausstellung der VHS im städtischen Museum für Kunst und Kulturgeschichte; vgl. auch die Sammel-Ausstellung Bremer Geschichtsgruppen unter dem Titel „Entdeckte Geschichte“ 3.-10. Okt. 1986 im Bremer Alten Rathaus (und das Programmheft mit demselben Titel).
Alltagsgeschichte Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen?* H ANS -U LRICH W EHLER
„Alltagsgeschichte“ ist eins der neuen Wörter, die in den vergangenen Jahren blitzschnell Karriere gemacht haben; in letzter Zeit ist es um die Modeströmung freilich schon wieder ruhiger geworden. Alltagsgeschichte – das ist ein schillernder Ausdruck, der auf ganz unterschiedliche Ansätze von Historikern, Interessen von Laien und ideologische Strömungen unterschiedslos angewandt wird. Einen monolithischen Block „Alltagsgeschichte“ gibt es nicht. Auf ihrer buntscheckigen Vielfalt kann man gar nicht nachdrücklich genug bestehen. Da finden sich einmal Veröffentlichungen von gestandenen Historikern, die an Universitäten und Forschungsinstituten tätig sind. Sie haben die „Alltagswelt“ von Einzelnen und Gruppen – von westfälischen Adligen, ravensbergischen Bauern, Ruhr-Bergarbeitern – zu erkunden versucht. Aus dieser neuen Art von „Erfahrungsgeschichte“ sind die bisher wichtigsten, anregenden Studien hervorgegangen. Daneben gibt es Historiker, welche die Kulturanthropologie als großen Anregungsspender, als methodisches Vorbild gar betrachten und eine ethnologisch inspirierte Kultur- und Sozialgeschichte fordern, wenn auch eher zögern, sie selber zu praktizieren. Neuerdings machen alternativkulturelle „Geschichtswerkstätten“ von sich reden, wo mit historischen Projekten experimentiert, gleichzeitig aber auch in geschäftiger Betriebsamkeit wieder auf Selbstfindungs- und Selbsterweckungserlebnisse hingearbeitet wird. In diesen basisdemokratischen „Initiationsgruppen“ wird manchmal, vor allem durch zur Zeit arbeitslose Historiker, seriöse Lokalforschung betrieben. Öfters aber ist eine handwerklich und methodisch exakte Geschichtswissenschaft keineswegs gewährleistet. Außerdem werden die ideologischen Scheuklappen der Illiberalität sichtbar, wenn ein Sprecher dieser „Werkstätten“ mit Nachdruck
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Hans-Ulrich Wehler, Alltagsgeschichte. Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen?, in: ders., Aus der Geschichte lernen? Essays, München: C . H . Beck 1987, S. 130-151.
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nur ein „linkspluralistisches Meinungsspektrum“ unter seinesgleichen für erwünscht erklärt. Dieser vieldeutige Begriff der Alltagsgeschichte und ihre nicht minder umstrittenen Ergebnisse verdienen es, genauer unter die Lupe genommen zu werden. Dabei muß der häufig zu hörende kritiklose Hymnus auf die neue Modeerscheinung durch eine nüchterne Bestandsaufnahme der Ursachen und Motive, der möglichen Vorzüge und Chancen, insbesondere aber auch der deutlich erkennbaren Grenzen und Nachteile ersetzt werden. Man braucht nach alledem nicht erst umständlich zu fragen, ob sich hier und heute eine Debatte über Alltagsgeschichte lohnt: Unstreitig läuft bereits seit Jahren eine lebhafte Diskussion.1 Um die Erörterung strittiger, aber auch vermutlich unstrittiger Aspekte zu erleichtern, wird an dieser Stelle ein einfaches Strukturierungsschema zugrundegelegt. Gefragt wird nach: (I.) den Ursachen und Motiven; (II.) den Vorzügen und Chancen und (III.) den Grenzen und Nachteilen. Die Eindrücke und Überlegungen werden in jeweils zehn Punkten zusammengefaßt, wobei das Schwergewicht auf der Kritik ruht. Ein Anspruch auf vollständige Erfassung der wesentlichen Gesichtspunkte ist damit keineswegs verbunden; vermutlich ist dieser Überblick mancherorts ergänzungsbedürftig, erst recht aber kritisierbar. I. Wahrscheinlich läßt sich am ehesten eine vorläufige Einigkeit im Hinblick auf maßgebliche Ursachen und Motive der historischen und sozialwissenschaftlichen Debatte über den Alltag erzielen. Eine Hierarchie der Gründe ist damit noch nicht verbunden. 1. Eine entscheidende Antriebskraft bildet die Krisenerfahrung der letzten Jahre: Die Umweltproblematik, der Rüstungswettlauf, die neue Massenarbeitslosigkeit, die nur allzu begründete Unsicherheit im Hinblick auf die eigenen späteren Berufschancen haben einen Nährboden für kritische Fragen und die Suche nach einer realitätsnahen Geschichtswissenschaft mitgeschaffen. 2. Für viele gelten die Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums als unübersehbares Menetekel. Hatte in den Zeiten der Hochkonjunktur die Prosperität als naiv unterstellter Dauerzustand gegolten, wird inzwischen nicht weniger voreilig das angeblich endgültige Erlahmen der westlichen und weltwirtschaftlichen „Wachstumsmaschine“ diagnostiziert. 3. Mit diesem Phänomen ist eine Art Erschöpfung des Fortschrittsgedankens verbunden. Die optimistische Grundstimmung der 50er und 60er Jahre trifft seit dem Trendwechsel zu Beginn der 70er Jahre auf eine historisch keineswegs neuartige, aber als neu erfahrene Fortschrittsskepsis, die offenbar noch weiter um sich greift. 4. Mit diesem Wechsel der ideell-ideologischen Großwetterlage ist das Bedürfnis gewachsen, die sozialen Kosten der Modernisierung (das Wort pauschal als Summe verschiedenartigster Modernisierungsprozesse verstanden) zu betonen oder auch zuallererst einmal zu erforschen. Das Interesse gilt dem individuellen und kollektiven Lebensschicksal der Benachteiligten,
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Entrechteten, Pauperisierten, die als Opfer des Wachstumsfanatismus ein gerechteres Verständnis verdienten, in einem nächsten Schritt aber auch dem der zuerst oder zeitweilig Begünstigten. Ein solches Interesse findet die breit aufgefächerte wissenschaftliche Beschäftigung mit der Arbeiterschaft, Arbeiterbewegung und „Arbeiterkultur“ vor. Aus diesem Umfeld stammt eine der stärksten ursprünglichen Antriebskräfte der Alltagsgeschichte, nämlich der Wunsch, den Alltag der Arbeiter, der „kleinen Leute“, von Unterschichten überhaupt, möglichst konkret und voll Liebe zum anschaulichen Detail zu erfassen. 5. Von daher drängt sich Kritik an der sogenannten Pathologie des Fortschritts, an den Exzessen der Sozialdisziplinierung, an der perfektionierten Lebensregulierung mit innerer Konsequenz auf. Komplementär verbindet sich damit eine nostalgische Neigung zur „kleinen“ Alternative, die angestrengte Suche nach Widerstand gegen die Überwältigung durch Rationalisierungsschübe, das Verlangen nach Überschaubarkeit der Lebensverhältnisse, nach „Geborgenheit“, nach „Wurzeln“, „Identität“, „Heimat“.2 Der amorphe Begriff der Alltagsgeschichte, eine durchweg undefinierte Hülse, füllt sich mit dem Versprechen, all diesen Wünschen entgegenzukommen. 6. Hiermit eng verwandt ist der Protest gegen eine Welt, die von anonymen Mammutorganisationen umstellt ist. Ob es sich um die Staatsbürokratie, die Bundeswehr, die Unternehmensverwaltung handelt, überall wird individuellem, spontanem Leben der Ozon geraubt, der Einzelne zum Rädchen im Getriebe ferngesteuerter Entscheidungszentren degradiert. Analog zum Dinosaurier wird auch den hypertrophen Organisationen ein Kleinhirn unterstellt, dem der Einzelmensch nichts gilt. Verdikt und Aufbegehren richten sich daher gegen Großbürokratie, Großbetrieb, Großtechnologie gleichermaßen und schlagen in die Bevorzugung des „einfachen Lebens“ um, das die menschenfeindlichen Routinevorschriften in überschaubaren Lebensbereichen überwinden will. 7. Im Wissenschaftsbetrieb hat sich währenddessen an manchen Stellen Enttäuschung darüber ausgebreitet, was die großen Theoriesysteme (Neomarxismus, Modernisierungstheorie, Systemtheorie) unlängst noch versprochen, häufig aber empirisch nicht eingelöst haben. Insbesondere die Kurzlebigkeit der marxistischen Renaissance hat dazu geführt, daß enttäuschte „Linke“ auf der Suche nach prallem Leben den Weg zur Alltagsgeschichte eingeschlagen haben. Obwohl die Historiker durchweg ein zu Recht eklektizistisch genanntes Theorieverständnis besaßen und besitzen und aufgrund ihrer berufsspezifischen Sozialisation und Erfahrungen bei weitem nicht so theoriegläubig, ja theoriesüchtig wie viele Soziologen und Politologen waren, wirkt sich die Skepsis gegenüber Globaltheorien auch unter ihnen aus. Geschichte soll im Alltag unmittelbar nachvollziehbar, anschaulich, von sinnlicher Qualität, sozusagen „anfaßbar“ sein. Die realen, individuell erfahrenen Folgen von Politik und Ideologie, Krise und Konjunktur, Klassenlage und Wohnviertel sollen im Vordergrund stehen.
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8. Gleichzeitig ist Alltagsgeschichte das Heerzeichen einer Opposition gegen die Arrivierten, das Vehikel eines profilierungsbedürftigen Zunftnachwuchses, die „kritische Absetzbewegung“ von einer angeblich oder tatsächlich vorherrschenden „struktur-orientierten Sozialgeschichte“.3 Man sollte dieses Moment nicht überbetonen, aber es spielt, da erfolgreiche Innovation auch in der Geschichtswissenschaft prämiiert wird, fraglos eine gewisse Rolle. 9. Ebenso unstrittig ist der kräftige Sog, der von der Kommerzialisierung alles Neuen ausgeht. Publizistik, Verlage, moderne Medien jagen gierig dem neuen Trend nach und verstärken ihn – wie unlängst auch während der „Preußenwelle“ – auf schnelle Resonanz und möglichst noch schnelleren Verkaufserfolg bedacht, übermäßig. Oft liegt aber ein konkretes Kalkül des Konsumenteninteresses vor, und der Erfolg wiederum lenkt auf tiefere Ursachen als die pure Neuigkeitssucht zurück. Unversehens war der Alltag „in“. 10. Erklärungsbedürftig bleibt freilich das Phänomen, daß die Diskussion über Alltagsgeschichte und -soziologie in der Bundesrepublik mit besonders auffälliger Vehemenz geführt wird, jedenfalls enthüllt der Vergleich mit derselben Debatte in Frankreich, England und den Vereinigten Staaten ein stark ausgeprägtes Engagement, ja leidenschaftlich verteidigte Positionen. Es scheint der Umstand zu sein, daß sich in Westdeutschland eine eigentümliche Überschneidung von Öko-Krise, Aufstieg der Grünen, generationsspezifischer Ersterfahrung des Wettrüstens, Wachstumsverlangsamung, Fortschrittspessimismus und wissenschaftsimmanenter Suche nach Vernachlässigtem und Neuem herausgebildet hat. Diese Problemüberlappung gibt der Diskussion ihre spezifische Brisanz, sie unterstreicht überdies noch einmal, daß es sich um ein Bündel komplexer Ursachen und Motive, keineswegs nur um eine fachinterne Kontroverse handelt. Unstreitig besteht aber, wie jede ideologiekritische Analyse zeigt, ein symbiotischer Zusammenhang zwischen Alternativkultur, grüner Bewegung und einer großen Zahl jüngerer Alltagshistoriker. Auch unter ihnen werden sich die bekenntnisfreudigen „Fundamentalisten“ von den arbeitsfreudigen „Realisten“ noch scheiden müssen. II. In mancher Historikerrunde ließe sich schnell eine allgemeine, wenn auch oberflächlich-vorschnelle Euphorie aufgrund der Übereinstimmung erzeugen, daß die Alltagsgeschichte zu einer willkommenen Ergänzung, Bereicherung, Erweiterung unserer bisherigen Kenntnisse beitragen kann, daß dem Innovationswilligen nach einem Erfolg die gebührenden Lorbeerkränze zu winden sind. Es gibt da jedenfalls wertvolle Anregungen und diskutierenswerte Postulate. Soweit ich zu sehen vermag, geht es vor allem um die folgenden Vorzüge und potentiellen Chancen. 1. Das weite Problemfeld der „Kultur“ ist in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten – und nicht nur während dieser Zeit! –, in denen die westdeutsche Sozialgeschichte und Wirtschaftsgeschichte, auch die Historische Sozialwissenschaft einen unleugbaren Aufschwung erlebt haben, in der Tat
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vernachlässigt worden. Während die Faszination durch Sozialstruktur, Ökonomie und eine sozialökonomische Erklärung von Politik anhielt, blieben Sitten, Rituale, Feste, Gebräuche, Verhaltensweisen, Symbole, Emotionen, Affektkontrolle, Wahrnehmungsformen vernachlässigte „Wirklichkeitsdimensionen“, wenn man von wenigen, zum Teil bedeutenden Ausnahmen – wie etwa Rudolf Brauns Studien – absieht.4 Gerade wer die Webersche Trias von Herrschaft, Wirtschaft und Kultur oft beschworen hat, muß konzedieren, daß diese Terra incognita weiter unerforscht blieb. Hier warten zahlreiche ungeklärte, fraglos aber wichtige Probleme, die von den an „Alltagskultur“ interessierten Historikern angegangen werden können. Wegen dieses Defizits wirken auch die Anregungen der Ethnologie, die sich seit langem mit solchen Fragen abmüht, besonders vielversprechend. 2. An Weber anzuknüpfen, der – überspitzt gesagt – zum Machtfetischismus neigt, verleitet leicht dazu, die Bedeutung von Macht und Herrschaft überall und jederzeit als vorrangig anzusehen. Auf jeden Fall wäre es naiv, diese Gefahr zu leugnen. Demgegenüber kann die Kulturanthropologie in der Tat nicht nur allgemein den „genaueren Blick“ für das Fremde schärfen und die fremdartigen Erscheinungen auch in der eigenen Kultur besser verstehen helfen, sondern sie mißt überhaupt der oft extrem weit verstandenen, aber präzisierbaren „Kultur“ a limine ein prinzipiell höheres Gewicht zu und dient schon deshalb als wichtiges Korrektiv. Sie kann dazu beitragen, „kulturelle Ausdrucksformen und -weisen als eine historische Triebkraft“ exakter zu erfassen, „die als ein die Erwartungen, Handlungsweisen und deren Folgen prägendes Moment im historischen ,Ereignis‘ ebenso anwesend ist wie in der ,Strukturierung‘ der sozialen Welt der Klassen-, der Herrschafts- und der ökonomischen Beziehungen“; sie kann dabei behilflich sein, das „Problem der historischen Dynamik, welche Kulturen durch ihre Selbst- und Fremdinterpretation erfahren“, genauer als bisher zu analysieren.5 3. Offene Kritik an der Strukturlastigkeit mancher sozialgeschichtlichen und historisch-sozial wissenschaftlichen Studien ist berechtigt. Manchmal werden dynamische historische Prozesse gewissermaßen eingefroren, so daß geschichtliche Bewegung in einen Zustand gläserner Erstarrung gerät. Es scheint auch kaum bestreitbar zu sein, daß die Historische Sozialwissenschaft und Sozialgeschichte mit einer realitätsadäquaten Erfassung von vielschichtigen individuellen und kollektiven Erfahrungen erhebliche begriffliche und konzeptuelle Schwierigkeiten haben; das gilt ebenso für die Interpretation sinnkonstituierender Symbole, „Weltbilder“, religiöser Glaubensvorstellungen, Perzeptionen von „Wirklichkeit“. Dieses Umfeld weiter auszuleuchten, mit konkreter Anschaulichkeit und Konzentration auf kulturelle Phänomene solchen Mängeln zu begegnen, könnte eine Stärke von kulturanthropologisch angeleiteter Alltagsgeschichte sein. 4. Der Zugewinn an konkreter Anschaulichkeit, welche die analytischsystematische Argumentation ergänzt, wird ebenfalls nicht zu Unrecht als ein Vorzug beansprucht. Eine farbige, plastische Geschichte individueller
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und kollektiver Erfahrungen, Erlebnisse, Wahrnehmungsweisen, Verhaltens- und Aktionsdispositionen erweitert das Verständnis der Vergangenheit, regt auch die Phantasie an und befriedigt nicht allein den Verstand. Gelungene Strukturgeschichte ist luzide und argumentativ überzeugend. Gelungene Alltagsgeschichte könnte leichter lesbar, im guten Sinne eingängiger sein.6 5. Die Infragestellung und Modifizierung, die Korrektur oder auch Widerlegung allzu globaler Beschreibungen und Urteile durch sorgfältige Detailarbeit kann eine besonders nützliche Korrektivfunktion wohlverstandener Alltagsgeschichte sein – eine Aufgabe, die jeder Historiker nicht geringschätzen wird. In dem Plädoyer von Marx für den Aufstieg vom Konkreten zum Abstrakten liegt eine alte Wahrheit, welche die Alltagsgeschichte erneut zu beherzigen imstande sein sollte. 6. Die Geschichte gegen den Strich bürsten – anstatt aus der bislang meist bevorzugten Perspektive „von oben“ zu urteilen jetzt aus der Perspektive „von unten“ die schmählich vernachlässigte Welt der „kleinen Leute“ mit allem Nachdruck zur Geltung zu bringen, das ist ein unstreitig legitimes Ziel, eine nützliche Korrektivfunktion. Schließlich liegt hier, im Bereich der Arbeitergeschichte, auch eine der wichtigsten Wurzeln von Alltagsgeschichte überhaupt. Heikle Probleme entstehen jedoch dann, wenn die Sympathie für die „Underdogs“ zu einer emotionsgeladenen Idealisierung und bizarren Verabsolutierung führt, die erst einmal mühsam wissenschaftlich diszipliniert werden muß. Vielleicht wirkt auch hier die nüchterne Analyse stärker als leidenschaftlich empörte Anteilnahme. 7. Im Prinzip teilen viele Beiträge zur Alltagsgeschichte den Aufklärungsanspruch, den insbesondere die Historische Sozialwissenschaft verfochten hat. In den Beispielen für eine gehaltvolle „History From Below“ werden die Grenzen und Kosten des Weges in die moderne Welt betont, vergessene Vergangenheitsbereiche erhellt, versäumte Möglichkeiten beleuchtet, ausgeblendete Realität wiederentdeckt, verschüttete Chancen aufgewiesen. All das kann zu einer Aufklärung über die Macht historischer Prozesse, über den begrenzten Handlungsspielraum der Einzelnen und Gruppen, über nicht intendiertes, aber folgenschweres Unrecht aufklären. Solch eine Alltagsgeschichte hilft daher, den stummen Handlungszwang, dem die Akteure unterworfen waren, die Einschnürung ihrer Optionen, die gerade bei den Unterschichten buchstäblich auf ein Minimum schrumpfen konnten, genauer zu verstehen und die Frage nach den Ursachen erneut kritisch aufzuwerfen. 8. Es ist ein legitimes Ziel von jüngeren Historikern, sich relativ vernachlässigte Gebiete zu erschließen und – auch durch Überbetonung der Unterschiede zu den Vorgängern – ein eigenes Forschungsfeld zu beanspruchen. Auf diese Weise können im Glücksfall wirkliche Entdeckungen gemacht, neue Forschungsfelder erschlossen werden. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die Überzeugung, daß sich die Anstrengung lohnt, weil überall ungelöste Aufgaben locken. Das stimuliert eine anhaltende Motiva-
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tion zu angestrengter Arbeit. Öfters sind die Fragen nicht ganz so neu, wie mancher im ersten Überschwang glaubt, aber die neuen überwiegen doch insgesamt, wie ein faires Urteil einräumen wird. 9. Wenn man bereits einmal von ausgetretenen Pfaden abweicht, gewinnt man die Chance – oder wird man mit der Notwendigkeit konfrontiert –, neue Fragestellungen zu erarbeiten, neue Methoden zu erproben, neue Interpretationen zu riskieren. In Neuland kann man Entdeckungen machen. Diese Aussicht läßt die empirischen Anstrengungen als lohnend erscheinen, sie stimuliert zu mühsamer Kärrnerarbeit, sie „motiviert“, wie es derzeit im Jargon heißt. Dadurch kann eine Innovationslust freigesetzt werden, der sich die Routiniers eines Fachs nicht mehr öffnen wollen. Im Effekt kann das – über kurz oder lang, da ist auch auf allen Seiten Geduld am Platz – einen „Zugewinn an Wirklichkeitserkenntnis erbringen“.7 Das Wissen über vernachlässigte, unstreitig aber analysebedürftige Bereiche der Vergangenheit kann auf diese Weise vermehrt werden. 10. Schließlich kann eine gute, das meint hier: eine theoriegeleitete, rational disziplinierte und dennoch konkrete, anschauliche Alltagsgeschichte das allgemeine Interesse an Geschichte weiter beleben und vertiefen. Vielleicht ist es für manchen Leser auch leichter, auf dem Weg über alltagsgeschichtliche Studien einen Zugang zu allgemeinen historischen Problemen zu finden als auf dem Weg über eine streng argumentierende, Prozesse und Strukturen analysierende Sozialgeschichte. Gewiß, die zur Zeit vorherrschenden Perspektiven der Alltagsgeschichte sind, wenn man weithin akzeptierte Qualitätsstandards der Geschichtswissenschaft zugrunde legt, mit nicht wenigen Gefahren verbunden. Man muß aber auch eine längere Phase des Experimentierens einräumen und den üblichen Vertrauensvorschuß gewähren, daß gewisse Ecken und Kanten der Alltagsgeschichte, sofern sie sich kritischen Einwänden wirklich stellt, im Prozeß der wissenschaftlichen Auseinandersetzung abgeschliffen, offensichtliche Mängel korrigiert, Lücken geschlossen werden. Wahrscheinlich ist die Prognose nicht riskant, daß man demnächst immer schärfer zwischen einem allgemeinen alltagsgeschichtlichen Interesse, einer ethnologisch angeleiteten Alltagsgeschichte, einer sozial-, politik- oder wirtschaftsgeschichtlich geprägten Alltagsgeschichte, einer historisch-sozialwissenschaftlichen Alltagsgeschichte und der Alltagsgeschichte der alternativ-kulturellen „Barfußhistoriker“ unterscheiden kann und muß. Auch hier sind explizite Theorieverwendung und Spezialisierung Bedingungen der Möglichkeit des wissenschaftlichen Fortschritts und werden dazu beitragen, das diffuse Konglomerat „Alltagsgeschichte“ aufzulösen. Offen bleibt jedoch noch immer die Frage, ob sich die Vertreter der Alltagsgeschichte auf dem öffentlichen Forum der Fachkritik den Einwänden gegen die erkennbaren Grenzen und Nachteile ihres Wirkens zu stellen bereit sind. Worum geht es bei diesen Einwänden? III. 1. Den Alltag „an sich“ gibt es nicht, „nur und ausschließlich … in der Gegensetzung zu einem je spezifizierten Besonderen“ wird er überhaupt
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diskutierbar.8 Dieser Alltag ist immer durch allgemeine „hochkomplexe, außeralltägliche“ Strukturen und Prozesse geprägt – durch Klassenlagen, Wirtschaftskonjunkturen, Ideologien, Kriegs- und Friedenszeiten. Alltag sollte daher, erstens, stets als „integraler Bestandteil“ von gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen und Bedingungen, die Autor und Leser präsent sein oder zumindest dem Leser klargemacht werden müssen, verstanden werden; zweitens bedarf er der Definition. Dabei hat sich herausgestellt, daß „der historische Alltag ... keineswegs“ leichter und „besser zu präzisieren“ ist „als der gegenwärtige“. Vielmehr ist der inflationär aufgeblähte Begriff „Alltag für jeden, der auf Präzision der Begriffe als einer Voraussetzung wissenschaftlichen Denkens besteht, zu einer Qual der Wahl zwischen Abgrenzungen und definitorischen Ingredienzien“ geworden.9 Für ihren gewöhnlich undefinierten, amorphen Alltag hat die Alltagsgeschichte bisher keine eigenen wissenschaftlichen Begriffe entwickelt, vielmehr auf Anleihe und Adaption zurückgegriffen. Das scheint kein Zufall oder nur ein Anfangsproblem zu sein. Vermutlich ist die Alltagsgeschichte zu einer eigenen, überlebensfähigen Begrifflichkeit prinzipiell nicht imstande. Menschliche Gesellschaften werden auch „im Alltag“ durch Herrschaft, Arbeit und Kultur konstituiert und können vermutlich am ehesten mit Hilfe von Kategorien aus Wissenschaften, die diesen Dimensionen zugeordnet sind, aufgeschlüsselt werden. Bisher hat die Alltagsgeschichte sich weithin darauf beschränkt, viele Details aus vielen Wirklichkeitsbereichen zusammenzutragen, sie aber nicht in eine strukturierte Ordnung gebracht, geschweige denn funktional-kausal erklärt, da übergreifende Konzeptionen und Theorien fehlen, oft sogar dezidiert abgelehnt werden. Angesichts des evidenten Defizits wird neuerdings der kühne Anspruch vertreten, es lasse sich im Gegensatz zur sogenannten herkömmlichen, angeblich in lauter Sackgassen verrannten Sozialgeschichte nicht nur eine „alternative“, von der modernen Sozialanthropologie inspirierte „Perspektive“, sondern ein neues Paradigma gewinnen. Im Originalton: „Ethnologische Erkenntnisweisen“ könnten ein „fruchtbares Paradigma für die sozialgeschichtliche Forschung abgeben“.10 Diese Behauptung ist schon deshalb außerordentlich fragwürdig, weil die gegenwärtige Kulturanthropologie selber in einer heftigen Grundlagendebatte steckt, auf dem Weg aus alten Schulgebäuden zu neuen Ufern (auch denen der Geschichtswissenschaft11) unterwegs ist und vorerst nur einige Methoden und Hinweise anzubieten hat. Der aufmunternde Hinweis auf ihre Sichtweisen ist daher vorerst allemal dem hochgemuten Versprechen eines Paradigmas vorzuziehen. Eine solche wissenschaftliche Spitzenleistung wie ein erprobtes, weithin anerkanntes, ethnologisches Paradigma – muß es sofort immer gleich das sein? – vermag ich nicht zu erkennen. Das kann natürlich das Ergebnis eines beschränkten Informationsstands oder bornierter Wahrnehmung sein. Vielleicht hat es aber gerade die Sozialanthropologie wegen der schier grenzenlosen soziokulturellen Vielfalt der menschlichen Verbände in einem sehr grundsätzlichen Sinn ungemein schwer, so etwas wie ,das‘ ethnologische Paradigma über-
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haupt zu entwickeln. Der unscharfe, unmäßig aufgeschwemmte „Kultur“Begriff z. B. müßte zuallererst so präzisiert werden, wie ,Klassenlage‘ oder ,Industriekonjunktur‘ längst präzisiert worden sind. Das mit siegessicheren Trompetenstößen angekündigte ethnologische Paradigma soll imstande sein, die bisherige Sozialgeschichte, die Historische Sozialwissenschaft, die Gesellschaftsgeschichte zu verdrängen, zu zersprengen oder zumindest doch in die verdiente Rumpelkammer zu schicken. Eben das kann die kulturanthropologisch inspirierte Alltagsgeschichte aber nicht, hier sind ihre Postulate ganz auf Sand gebaut, sie bedarf offenbar „dringend der Selbstaufklärung“.12 Wohl kann eine Alltagsgeschichte mit bescheidenerem Anspruch unser Wissen – wie vorn erörtert – vielfach ergänzen, durch konkrete realitätsnahe Beschreibung der Erfahrungen und Handlungen, der Freuden und Leiden von Menschen erweitern, durch Anschaulichkeit die Strukturgeschichte auflockern und die Dimensionen der „Kultur“ nachhaltiger zur Geltung bringen. Wenn die Historische Sozialwissenschaft ihre nie geleugneten Probleme bei der Kooperation mit bisher bevorzugten Nachbarwissenschaften wie der Soziologie, der Politologie, der Ökonomie hat – vor allem das bekannte Spannungsverhältnis beim Aufgreifen, Erproben, Zurechtschneiden, Modifizieren von Begriffen, Methoden und Theorien, bis sie sozusagen historisch „paßgerecht“ sind –, treten selbstverständlich dieselben Transferprobleme bei der Übernahme, Erprobung und Veränderung von „Erkenntnisweisen“, Methoden und Theoremen aus der Kulturanthropologie auf. In diesem Punkt unterscheidet sich die Beziehung zwischen der Geschichtswissenschaft und der Kulturanthropologie keinen Deut von der Beziehung zwischen der Geschichtswissenschaft und den soeben genannten Nachbardisziplinen. Nur beiläufig braucht der Vorwurf, daß Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft Theorieangebote der Nachbarwissenschaften ohne weiteres in toto, als geschlossene Blöcke, übernommen hätten, zurückgewiesen zu werden. Vielmehr hat der Einwand, es werde zu eklektizistisch vorgegangen – mit dem Rückgriff auf Marx, Weber, Gerschenkron, Hintze, Schumpeter usw., wo immer sie Nützliches zu bieten hatten –, seit jeher ein Standardargument der Kritiker dargestellt. Die Attraktivität der Ethnologie ist einerseits verständlich, da sie in der Beschäftigung mit fremden Kulturen bereits ein nützliches Instrumentarium ausgebildet hat, zur Zeit in einem Zustand produktiver Gärung ist, Belebung und Beistand anbieten kann. Andrerseits eröffnet die Ethnologie jedoch keineswegs einen Königsweg zur Lösung der wichtigsten Probleme: Sich auf sie einzulassen bietet nur eine aussichtsreiche Kooperationschance neben mancher anderen. Deshalb muß man sie fraglos nutzen! Ihre Theorien unterliegen aber selbstredend denselben wissenschaftstheoretischen Regeln wie die Theorien der anderen Sozialwissenschaften. Überdies gibt es zur Zeit bei den auf die Ethnologie setzenden Historikern eine kokettierende Beliebigkeit in der additiven Häufung von Berichten über Kabylen und Neufundländer, über philippinische Kopfjäger und provençalische Bauern. Der vor prä-
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zisen Fragen flüchtenden Erweiterung sind da keine prinzipiellen Grenzen gesetzt. Indes: Cui bono? Man kann aus der soziokulturellen Vielfalt der Welt zweifellos unentwegt lernen. Daß die Welt der Menschen bunt ist, wußten Thukydides und Herodot aber auch schon. Welche erhellenden Fragen aus der Ethnologie für die Geschichtswissenschaft destilliert werden können, welche Projekte sie besser als andere Nachbarwissenschaften anleiten könnte, das bleibt noch in Ruhe abzuwarten. „Culture is Trendy“ – heißt es in Amerika, wo es eine bereits weiterentwickelte neue Kulturgeschichte gibt. Vielleicht könnte sie in ihrer Mischung aus Anregungen der Sozialanthropologie und Pragmatismus hierzulande als Vorbild dienen? 2. Wenn z. B. „Emotionen“ als so zentral angesehen werden13 – warum erfolgt dann kein Rückgriff auf die Entwicklungspsychologie, die Lernpsychologie, eine unorthodoxe Psychoanalyse? Wenn „Religion“ als prägende Kraft im Alltagsleben interessiert, weil an ihr jene „historische Dynamik“ besonders einprägsam verfolgt werden kann, die kulturelle Faktoren entfalten können,14 warum wird dann das noch immer nicht ausgeschöpfte riesige Potential der Religionssoziologie Max Webers, dessen Rationalismus Alltagshistoriker so gern schmähen, nicht ausgenutzt? Und wenn schon nicht Weber, warum dann nicht die moderne Religionssoziologie überhaupt? Für andere Fragen drängt sich die Rechtsgeschichte, die Kunstgeschichte, die Kriminologie auf. Alle diese Disziplinen, sofern sie explizierbaren Qualitätskriterien im Hinblick auf historische Probleme entsprechen, kann die Historische Sozialwissenschaft willkommen heißen, denn sie ist seit jeher weit und liberal verstanden worden; sie befindet sich, wie auch die Sozialgeschichte im engeren Sinne einer Sektorwissenschaft, ständig „in der Erweiterung“ (W. Conze); sie kann von verschiedenen Humanwissenschaften unablässig hinzulernen. Die ominöse Clio besitzt bekanntlich eine breite Brust, an die sie viele Spielarten der Geschichtsschreibung drücken kann, auch die Historische Sozialwissenschaft. Und diese wiederum bietet ein weites Dach, unter der eine breite Kooperation möglich ist, und zwar ganz unabhängig von der Frage, mit welchen Nachbarwissenschaften die Zusammenarbeit zuerst begonnen hat. Wegen ihrer Flexibilität kann die Historische Sozialwissenschaft auch mühelos eine sozialanthropologisch angeleitete Forschung als neuen Teilbereich akzeptieren, ja willkommen heißen. Umgekehrt ist jedoch eine ethnologische Historie keineswegs imstande, ein solches weites Dach abzugeben. Die Alltagsgeschichte auch dieser Provenienz kann vielmehr ohne Beistand aus dem Arsenal der Historischen Sozialwissenschaft (oder der Sozial-, der Wirtschafts-, der Politikgeschichte) eklatante Schwachstellen nicht überwinden. So ist z. B. die „Aussagekraft mikro-historischer Untersuchungen“ der Alltagsgeschichte unleugbar „begrenzt“, sie müssen auf Repräsentativität, typische Aussagekraft befragt, in allgemeinere Zusammenhänge eingebettet, dem harten Test des Vergleichs ausgesetzt werden. Bedingungen, Erfahrungen und Konsequenzen von Handlungen „können nicht hinreichend
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durch deren Rekonstruktion begriffen werden“. Auch hier muß diese Rekonstruktion in den allgemeinen historischen Kontext, hinsichtlich der Erklärung in theoretische Zusammenhänge eingefügt werden. Die „neohistoristische Illusion, die Begriffe und Theorien“ ließen sich aus der historischen Wirklichkeit selber entwickeln, muß der Einsicht weichen, daß Theorien weithin vom Forscher selber an historische Probleme herangetragen werden. „Die Differenz zwischen Alltag und Wissenschaft konstituiert diese geradezu.“15 Dazu gleich mehr. Für eine Vielzahl von erstrangigen Problemen – wie Soziale Ungleichheit, Wirtschaftswachstum, Staatspolitik kann die Alltagsgeschichte vorerst offenbar nur punktuelle individuelle „Betroffenheit“ in der sympathisierenden Rekonstruktion beitragen. Sie beschränkt sich zu oft darauf, viele Details aus vielen Wirklichkeitsbereichen zusammenzutragen, ohne sie jedoch in eine strukturierte Ordnung zu bringen. Die bevorzugte Mikrohistorie eines Dorfes (womöglich noch verbunden, Sancta Simplicitas, mit einer Pseudokontrolle der durch „Oral History“ gewonnenen Aussagen durch die Befragten selber), eines Wohnviertels, eines Fußballvereins, einer entrechteten Kleingruppe bleibt gewöhnlich in ihrer Isolierung stecken. Vor allem reicht, um ein anderes Beispiel auszuführen, das Nachempfinden der „Betroffenheit“ durch Polizeieingriffe oder industrielle Arbeitsdisziplin nicht aus, um diese Erfahrungen angemessen einzuordnen und zu beurteilen. Die Einstellung von Schwarzwälder Bauernfamilien, welche die Schulpflicht ihrer Kinder feindselig ablehnten, ist eine nachweisbare Erfahrung – aber hatten aufgeklärte Pädagogen und Beamte nicht dennoch recht, auf dieser Pflicht zu insistieren? Der Antisemitismus unter hessischen Kleinbauern, unter Angestellten, aber auch Arbeitern ist eine nachweisbare Erfahrung – wer kann jedoch auf die historische Erklärung und auf klare Werturteile verzichten? 3. Unter Alltagshistorikern wird häufig ein ganz und gar törichtes Vorurteil gegen präzise Begrifflichkeit, insbesondere gegen theoriegeleitetes funktional-kausales Erklären mit Hingabe kultiviert: Man möchte einen „weichen“ Ansatz anstelle eines „harten“ Zugriffs; man wehrt sich überhaupt dagegen, daß Theorien „von außen“ an Alltagsprobleme herangetragen werden. Keine Frage: „Verschwommenheit“ wird dann „zum Programm gemacht“.16 Mit der bestrickenden Naivität von frisch in einen neuen Kult Initiierten hängen manche dem Glauben an, man könne (1.) durch Empathie, durch teilnehmendes Versenken in die Probleme diese gewissermaßen „von innen“ her aufschlüsseln; (2.) bis zum Arkanbereich der sogenannten „,eingeborenen‘ Theorien der historischen Subjekte“ vordringen und diese dann dechiffrieren;17 und (3.) die Totalität des Alltagslebens allmählich einfangen, was angeblich bei kleinen Gruppen und überschaubaren Räumen möglich sei. Wegen dieser Grundannahme werden der Geertzschen „Thick Description“ – der Wirklichkeitserfassung durch dichtgewobene Beschreibung – so viele Räucherkerzen gestiftet. Ihr Dunst vernebelt jedoch nicht nur die Gemüter, sondern auch vor allem den analytischen Verstand. Die mit diesem Ansatz verknüpften potentiellen Chancen einer Tiefenhermeneu-
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tik, die in noch nicht erschlossene psychosoziale Schichten vordringt, sind bisher nicht einmal diskutiert, geschweige denn genutzt worden. Gemessen an einer differenzierten Verstehenslehre, wie sie seit dem klassischen Historismus entwickelt worden ist, bietet die „Thick Description“ vorerst keinen erkennbaren Zugewinn, wie die ethnologische Interpretation überhaupt trotz mancher Anregungen und neuer Perspektiven bisher noch nicht zu Droysens Lob berechtigt, daß sich „in der Frage und Fragestellung … die historische Genialität“ ausspreche.18 Nur wenn die hermeneutischen Verstehenskategorien, idealtypisch scharf zugespitzt, als Forschungsinstrument eingesetzt werden und dann die Abweichung, die Unzulänglichkeit von Analogieschlüssen usw. festgestellt und das bisher Fremdartige auf angemessene Begriffe gebracht wird, kommen wir erfahrungsgemäß weiter. Damit zur allgemeinen Kritik an der fast obskurantistischen Begriffs- und Theoriefeindlichkeit nicht weniger Alltagshistoriker, welche scharfe Begrifflichkeit als geradezu repressiv verwerfen. a) Analytische Begriffe und Theorien können nie allein den Quellen oder „historischen Subjekten“ entnommen werden. Sie werden immer zu einem großen Teil in einem bewußten Selektionsvorgang von außen an vergangene Wirklichkeit herangetragen, um diese in unserer Sprache und Begrifflichkeit interpretieren und erklären zu können. Es ist blanke Illusion, daß die „Thick Description“ „von sich aus über sich hinaus zu den systematischen Problemen“ führe.19 Denn „wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Inneren der zu erkennenden Wirklichkeit kann es nicht geben“. Für jede Art von historischem und auch kulturanthropologischem Erkennen gehört „die aktiv gestaltende Leistung des Forschers hinzu (nicht aber dessen sympathisierende Selbst-Hingabe an die zu erforschende Wirklichkeit)“.20 Wenn für die Ethnologie geltend gemacht wird, daß ihre Stärke in der Erfassung des gesamten historischen Kontextes bestehe, während die analytische Geschichtswissenschaft diesen in „Dimensionen“ zerreiße, muß einmal daran erinnert werden, daß (1.) eine argumentativ legitimierte Selektion von Problemen immer schon ein breites, auf eingehender Beschäftigung mit den Problemen beruhendes Kontextverständnis des Historikers voraussetzt; daß (2.) Handelnde fast immer in mehrere „Kontexte“ – wenn der greuliche Anglizismus einmal gebraucht werden darf – eingebunden sind, die durch konkurrierende Interpretation am ehesten präzisiert werden können, und daß es (3.) auch bei Ethnologen nicht die mit divinatorischer Sicherheit erfolgende Erfassung des einzig richtigen, ausschlaggebenden Kontextes gibt. b) Es gibt mithin keinen direkten wissenschaftlichen Weg „nach innen“ auf den Spuren der Sozialanthropologie. Wer diesen Pfad, der dem wissenschaftlich arbeitenden Historiker versperrt ist, vorgaukelt, folgt einer vorkantianischen, vorweberianischen Fata Morgana. Es ist und bleibt rätselhaft, wie sich die Anhänger solcher mystizifierender Vorstellungen – die man eher in neuen Gemeinden Taulers, Böhmes, der Pietisten vermuten würde – auf diesen Holzweg begeben können. Manche Äußerung erinnert an Rankes Vorsatz, die eigene Persönlichkeit „auszulöschen“, um sich der Vergangen-
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heit unvoreingenommen hingeben zu können. Überdies wird mit solchen utopischen – Hoffnungen und der Mystifikation des Wegs „nach innen“ leicht ein irrationaler „Exklusivitätsanspruch“ verbunden: Nur wer ähnliche Erfahrungen gemacht habe wie die zu erforschenden Menschen, könne ihnen wahrhaft gerecht werden.21 Also: Studierte Bauerntöchter schreiben über den dörflichen Alltag, studierte Arbeitersöhne über den Fabrikalltag – oder kann die fachwissenschaftliche Ausbildung demnächst sogar ganz entfallen? Offen bleibt indessen, wie viele Jahre viele bildungsbürgerliche Alltagshistoriker überhaupt mit manueller Arbeit in der Industrie und Landwirtschaft verbracht haben. Und generell gilt auch hier, daß natürlich auch, wer kein Instrument beherrscht, ein guter Musikkritiker sein kann. Selbstverständlich gibt es starke lebensweltliche Impulse, die bestimmte Interessen begünstigen. Wer ist noch so töricht, das zu leugnen? Aber ein wissenschaftlich diszipliniertes historisches „Verstehen“ muß folgen; es kann sich die unterschiedlichsten, auch die zunächst fremdartigen, lebensfernen Gegenstandsbereiche erschließen. c) Totalität wissenschaftlich zu erfassen, ist schon vom Anspruch her „illegitim“.22 Nur als dringender Appell, als mahnender Fluchtpunkt, als regulative Idee wird das empirisch unerreichbare Ziel akzeptabel. Wissenschaftliches Wissen bleibt eine Summe von Partialerkenntnissen, die durch explizite Interpretation, durch Theorien, durch synthetisierende Konzeptionen verknüpft werden können. Alles andere führt zu einem naiven methodischen Holismus mit einer eingebauten Tendenz zum unvermeidbaren wissenschaftlichen Rückschritt. Daher bleibt die Maxime wahr: „Kein Alltag ohne Theorie.“23 d) Die neohistoristischen Illusionen, die unter Alltagshistorikern grassieren, bedeuten einen Verrat an der Einsicht, wie tief überindividuelle Mächte die Einzelnen und Gruppen allgegenwärtig prägen; sie verachten das Insistieren auf der Kraft der gesamtgesellschaftlichen Strukturen und Prozesse, das man von Weber, Marx, Hintze, Bloch, Braudel – von vielen großen Sozialwissenschaftlern und Historikern lernen kann. Die „antianalytische Stimmung von Teilen der heutigen Alltagsgeschichte“ ist „als neohistoristische Regression und Flucht vor der Anstrengung des Begriffs“ leicht durchschaubar.24 Aber dieser „Verzicht auf übergreifende theoretische Reflexion“ treibt die Alltagsgeschichte in die Gefahrenzone der Regression, in eine aussichtslose Sackgasse. „Begrifflos“ igelt sie sich selber in jener „mikrohistorischen Besenkammer“ ein, die ihr einige Kritiker ohnehin zugedacht haben.25 Darin können sich Gesinnungsfreunde vielleicht wohnlich einrichten, aber zweifellos wird dann die Absonderung noch ausdrücklicher „eine Art situativen Historismus“ mit der Vorstellung fördern, „daß jeder Alltag unmittelbar zu Gott sei“.26 In die Leerstellen des systematischen Argumentierens ist inzwischen die ad nauseam beschworene „soziale Logik“ flugs eingedrungen. Nachdem das Wirken des Hegelschen Weltgeistes bei Marx in die Dynamik der entfesselten Produktivkräfte und Klassenkämpfe verwandelt worden war, ist es bei
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den sozialanthropologisch orientierten Alltagshistorikern zum allgegenwärtigen Gerede von der „sozialen Logik“ verwässert worden, die angeblich individuelles und kollektives Verhalten dauerhaft steuert, in aller Regel aber viel zu viel historische Notwendigkeit, Starrheit und Unentrinnbarkeit suggeriert, wo es um plastische, historisch wandelbare, auf kurze oder auf sehr lange Sicht verfestigte und verinnerlichte Regelungen geht. Jedenfalls verführt das Modewort leicht dazu, Gesetze der „Logik“ flugs zu unterstellen, wo es um kulturabhängige, in langwierigen Prozessen internalisierte, jedoch veränder- und korrigierbare Verhaltensanleitungen geht. Die korrigierende komparative Perspektive fehlt bisher so gut wie ganz. Kurzum: Diese neohistoristische Strömung treibt in eine sterile Isolierung und beruhigt sich mit dem sozialromantischen, gefühlsseligen Bekenntnis des „Small Is Beautiful“. 5. In der Alltagsgeschichte lebt ein mächtiges zivilisationskritisches Ressentiment gegen die Modernisierung: gegen die Kosten und Belastungen, welche die Durchsetzung des Kapitalismus, die neuzeitliche Staatsbildung, die Bürokratisierung in Staat und Wirtschaft mit sich gebracht haben. Letztlich gilt die Kritik allen Rationalisierungsprozessen schlechthin. Und diese Kritik wird, während sonst für äußerste Differenzierung und Problemsensibilisierung plädiert wird, mit dem diskreten Charme eines anrollenden russischen T-34 verfochten. Freilich werden die sozialen Kosten der Modernisierung „eher unterstellt als erforscht“, „allein die Betroffenheit durch sie interessiert“.27 Unleugbar gibt es ein anhaltendes, sympathisierendes Interesse an den Verlierern und „Underdogs“. Daraus resultieren unübersehbare Gefahren: z. B. die einer „globalen Verlustgeschichte“; einer „nostalgischen Idyllisierung des vorindustriellen Lebens des Volkes“; einer Neigung, zuviel Widerstand zu vermuten anstatt ihn zu beweisen; einer Überschätzung des Konfliktes zwischen „traditionalen Lebenswelten“ und rationalisierenden Systemen; der Fehlstilisierung der Arbeiterbewegung als „anti-modernistische Protestbewegung“. Leichterhand wird der Gewinn an Lebenschancen durch die Modernisierung minimalisiert oder sogar ganz unterschlagen.28 Ideologiekritisch ist, wie bereits erwähnt, ohnehin schwer von der Hand zu weisen, daß ein großer Teil der Alltagsgeschichte in einem symbiotischen Verhältnis zu der grünen, alternativ-kulturellen Stimmungslage lebt. Deshalb ähneln ihre mißlungenen Produkte so oft grünlich schillernden Seifenblasen. Ohne Zweifel: Es bleibt legitim, nach dem „Entfesselten Prometheus“ endlich die „Büchse der Pandora“ zu schreiben. Aber die Schattenseiten der Modernisierung und Rationalisierung sind ja nicht unbekannt geblieben, nie völlig vernachlässigt oder geleugnet worden – Weber etwa wäre der allerletzte, auf den dieser Vorwurf zuträfe. Die Ambivalenz der Modernisierung ändert aber nichts daran, daß der Weg in die moderne Welt zuerst einmal eine kaum zu überschätzende Leistung des Okzidents bedeutet: Die Lebenschancen der Mehrheit sind verbessert, die Lebensrisiken im Hinblick auf Kindheit, Gesundheit und Alter gemindert, soziale Ungleichheit ist abge-
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mildert, materieller Wohlstand für eine beispiellose Zahl geschaffen, das politische System kontrollierbarer und humaner geworden. Man soll und muß dennoch an die sozialen Kosten dieses revolutionären Transformationsprozesses erinnern, aber letztlich müssen dann die Proportionen stimmen! Glücklicherweise sind die Unterlegenen, die bei manchen Alltagshistorikern im Mittelpunkt stehen, nicht die historischen Sieger gewesen – mit all ihrem Aberglauben, ihrer Brutalität, ihrem Fremdenhaß, ihrer Fortschrittsfeindlichkeit, ihrem Antisemitismus, woran ja wohl einmal erinnert werden darf –, sondern à la longue jene Reformkräfte, die eine Gesellschaft gleichberechtigter Staatsbürger im Auge hatten, die Verfechter des Liberalismus oder Sozial- und Interventionsstaats in der Verwaltung, die Aufklärer, die Schullehrer, auch die Unternehmer und Gewerkschaftsfunktionäre! Wer von uns wollte denn schon in einer Welt leben, wie sie die geplagten und geschundenen „kleinen Leute“ der Alltagsgeschichte verteidigt haben und geschaffen hätten? 6. Unverkennbar favorisiert die Alltagsgeschichte weithin eine Geschichte „von unten“. Das wird von einer starken „populistischen“ Grundströmung unterstützt, die für die „kleinen Leute“ in unkritischer Überschätzung und mit radikaler Verengung der Perspektiven bereitwillig und ohne rationale Bedenken Partei ergreift. Vielen gilt das sogar als „besonders demokratisch“.29 Mit „unkritischen Verflachungen und populistischen Anbiederungen“ ist jedoch nichts zu gewinnen, wohl aber von dem Instrument einer scharfen rationalen Analyse. Uneingeschränkt trifft auf diese Haltung das ironische Urteil zu: „Was das ,Volk‘ am allerwenigsten braucht, sind volkstümelnde Historiker.“30 Eine differenzierte Alltagsgeschichte müßte überdies selbstverständlich genau so detailliert den Alltag der Mittel- und Oberschichten untersuchen, wie sie jetzt dem der Unterschichten nachspürt. Aus der historischen Vogelperspektive ist das schon deshalb unumgänglich, weil in den letzten 200 Jahren das Bürgertum die soziale und politische Welt geprägt hat, in der sich unsereins wohlfühlt und weiterhin leben möchte – von meiner Hochachtung vor den adligen Reformpolitikern des frühen 19. Jahrhunderts, vor Männern wie Hardenberg, Montgelas, Reitzenstein und ihren adligen Mitarbeitern, ganz zu schweigen! Natürlich hat die organisierte Arbeiterbewegung, deren Beitrag zur Modernisierung viel wichtiger ist als die damit verknüpften und neumodisch angeklagten Nachteile von Disziplinierungsprozessen, nach anfänglichen Illusionen auch den demokratisch-liberalen Verfassungs- und Rechtsstaat und – das Wort und den Vorgang weit genug verstanden – die bürgerliche Gesellschaft in den westlichen Ländern mit ausgebaut und verteidigt – nicht selten entschiedener und mutiger als die Bürgerlichen selber. Eine Erfindung aus dem Umkreis des Arbeitermilieus ist jedoch beides nun einmal nicht gewesen. Geschichte „von unten“, als Ergänzung bisher vorherrschender Perspektiven, als Wiedergutmachung, als Korrektur am gängigen Geschichtsbild – das alles ist durchaus berechtigt. Letztlich sind es aber nur Durchgangsstati-
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onen, bis ein vielseitiges, ausgewogenes, differenziertes Gesamtbild entsteht. Gesellschaftsgeschichte z. B. kann von daher, wenn das Wort ernst genommen wird, nicht geschrieben werden. Und was das hochgeschätzte Gefühlsengagement, das beim Erzählen nachvollzogene Mitleiden mit den „kleinen Leuten“ und die damit verbundene Aversion gegen den „kalten Blick“ des Sozialhistorikers betrifft, lohnt sich die Erinnerung an ein anderes Urteil Droysens. Man dürfe nicht meinen, erklärte er, daß die analytische Darstellung „soviel einfacher, soviel leichter und bequemer“ sei als „die erzählende. Sie fordert vielmehr eine größere Konzentration und Schärfe des Gedankens. Denn sie will nicht wie die erzählende anschaulich sein, sondern überzeugen; sie will nicht die Phantasie beschäftigen, sondern den Verstand befriedigen“.31 7. Gegenüber der ausgesprochenen oder latenten Modernisierungskritik in der Alltagsgeschichte ist darauf zu beharren, daß „die Geschichtswissenschaft auf die Kategorie des Fortschritts“ nicht verzichten kann, auch wenn sie zur Zeit wieder einmal von der Alltagsgeschichte und vom Neokonservativismus – in mancher Hinsicht ohnehin Geschwister wider Willen – verketzert oder schon durch eine „globale Untergangsstimmung“ verdrängt wird.32 Natürlich ist mit ,Fortschritt‘ nicht die naive, optimistische Fortschrittsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts gemeint. Aber jede Rede von Entwicklung, von der Historiker doch fast auf jeder Seite einmal sprechen, bezieht sich auf Evolutionsprozesse, in der Regel von durchaus ambivalenter Natur, und die intellektuelle Redlichkeit gebietet Auskunft über die Richtungskriterien, um sie diskussionsfähig zu machen. Nicht die „kleinen Leute“ haben die Dynamik der Geschichte „von unten“ bestimmt, sondern – um erneut mit Weber zu reden – der ,Fortschritt‘ zum Kapitalismus, der ,Fortschritt‘ zur „marktbedingten“ Klassengesellschaft, der ,Fortschritt‘ zum bürokratischen Anstaltsstaat, der ,Fortschritt‘ anhaltender Rationalisierungsschübe, der ,Fortschritt‘ bei der „Entzauberung der Welt“. Protest und Widerstand verdienen ihre Chronisten, denen es an Mitgefühl gewiß nicht fehlen darf, aber sie bleiben hilflos, versperren sich auch Möglichkeiten der Wirkung, wenn sie vor den evolutionstheoretischen Problemen die Augen verschließen und ihre eigenen Probleme nicht mit dem richtigen Stellenwert in übergreifende Prozesse einordnen. Es lohnte sich auch für die Alltagshistoriker, wenn sie über die Ziele der von ihnen bearbeiteten Entwicklungen, über die von ihnen gewünschten (hypothetischen, alternativen) Entwicklungsziele und deren Realisierungsfähigkeit einmal genauer Auskunft gäben. Aus der Opposition gegen den Fortschritt der Rationalisierungsprozesse wird übrigens heute mit der schillernden Metapher von der „Kolonialisierung der Lebenswelten“ viel Schindluder getrieben. An allen Ecken und Enden wird eine durchorganisierte, verrechtlichte, bürokratisierte, Spontaneität und Lebensgenuß erstickende Welt angeklagt. Der Geist des Widerstands gegen die Schattenseiten von Modernisierung und Aufklärung muß fraglos hellwach bleiben. Wer aber möchte andrerseits in einer ent-rechtlichten Gesellschaft leben, in der Not der traditionalen Agrargesellschaft, unter dem
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Faustrecht vor-staatlicher Herrschaftsverbände, ohne das „Soziale Netz“ der Leistungsverwaltung, in einer magisch verzauberten Welt anstatt endlich in der „entzauberten“ Welt der Moderne?33 8. Das leitet zu einem weiteren schwerwiegenden Einwand von prinzipieller Natur über. Die Alltagsgeschichte besitzt keine Synthesefähigkeit. Sie kann daher einen Gipfel der Historiographie, die große integrierende Gesamtdarstellung, nicht erklettern. Das liegt nicht nur an ihrer Aversion gegenüber expliziten Theorien, sondern vor allem daran, daß es für Alltagsgeschichte kein integrationsfähiges Paradigma gibt: Der Zweifel an der Leistungsfähigkeit des angekündigten kulturanthropologischen Paradigmas ist vorn schon ausgedrückt worden. Anderen Disziplinen stehen dagegen solche Paradigmata zur Verfügung. Die Politikgeschichte z. B. kann den Prozeß der inneren und äußeren Staatsbildung einer solchen Gesamtdarstellung zugrunde legen. Die Verfassungsgeschichte kann das mit dem Aufstieg des modernen Verfassungsstaats tun. Die Sozialgeschichte mit dem Zentralproblem des Systems der sozialen Ungleichheit. Die Wirtschaftsgeschichte mit dem Wachstums- und Krisenrhythmus der sich entfaltenden Marktwirtschaft – und so fort. Gesellschaftsgeschichte kann sich an Webers, um Herrschaft, Wirtschaft und Kultur zentrierter „Gesellschaftsgeschichte des Okzidents“ orientieren und eine zeitgemäße Ergänzung und Erweiterung vornehmen. Auch ein aufgeklärter Neomarxismus könnte seine Modernisierungsgeschichte um mehrere theoretische Brennpunkte herum schreiben. Ob sich aus Luhmanns „Theorie sozialer Systeme“ für Historiker etwas Vergleichbares gewinnen läßt, können wir vorerst den systemtheoretisch interessierten Historikern überlassen. Ein auch nur von ferne vergleichbares Synthesekonzept für die Alltagsgeschichte ist weit und breit nicht zu entdecken. Die Alltagsgeschichte dagegen kann Geschichten aus dem Alltag erzählen, aber sie kann keine Geschichte des deutschen Alltags von 1800 bis 1980 schreiben. Sie bleibt bei der Geschichte eines Wohnquartiers, eines Dörfchens, eines Vereins oder bei der additiven „Buchbindersynthese“ von Alltagsgeschichten stehen. Zur Spitzenleistung einer unterschiedliche Probleme und mehrere Wirklichkeitsbereiche realitätsadäquat berücksichtigenden und integrierenden Darstellung kann sie wegen ihres zur Zeit unübersehbaren prinzipiellen theoretischen Defizits nicht vorstoßen. Das braucht noch nicht unbedingt sogleich ihr Ziel zu sein. Nach einer längeren Experimentierphase aber wird sich das Problem stellen. Indem die Geschichtswissenschaft die alltagsgeschichtlichen Dimensionen, wo immer sinnvoll und geboten, berücksichtigt und die Nützlichkeit mancher Anregungen anerkennt, tut sie das Beste, was sie der Alltagsgeschichte antun kann: Sie macht die Alltagsgeschichte als Modetrend überflüssig.34 In ein paar Jahren ist die Stimmung, von der die Alltagsgeschichte heute lebt, vermutlich ohnehin verflogen. Ihre Grenzen sind für den, der sehen will, zu deutlich markiert. Als ein Aspekt der Sozialgeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der Kulturgeschichte, der Politikgeschichte wird der alltagsgeschichtliche Ansatz vermutlich übrigbleiben.
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9. Im Vergleich mit diesem Kardinalproblem der Alltagsgeschichte treten andere Mängel, obwohl sie einmal konstatiert werden sollen, deutlich zurück. Trotz allen Streits gibt es bekanntlich geschichtswissenschaftliche Qualitätskriterien, über die auch von divergierenden Standpunkten aus schnell Einigkeit zu erzielen ist: Kenntnis des Forschungsstands und der Literatur z. B., Problembewußtsein, logische Konsistenz, Verzicht auf Überdehnung der Quellenaussagen, Respektierung der „Vetogewalt“ der Quellen (R. Koselleck), Einfallsreichtum der Interpretation, Einbettung in theoretische Zusammenhänge usw. In dieser Hinsicht besitzen alltagsgeschichtliche Studien häufig gravierende Mängel. Nicht wenige Beiträge zu den sich rasch vermehrenden Sammelbänden über Alltagsgeschichte sind unausgereifte Seminararbeiten, die hart redigiert und von Grund auf überarbeitet werden müßten. Dieses Niveau hängt vermutlich auch damit zusammen, daß Historiker im Grunde eine langwierige Einübung und Disziplinierung brauchen, die nicht zufällig immer wieder mit dem im Handwerk herrschenden Lehr- und Lernverhältnis verglichen wird; auch aus diesem Grunde hält sich so zäh der Begriff der „Schüler“ eines großen Meisters der Historiographie. Deshalb ist der von manchen enthusiastischen Freunden der Alltagsgeschichte bereitwillig aufgegriffene Appell ihres schwedischen Gesinnungsfreundes Lindquist: „Grabe, wo Du stehst“ (d. h. erkunde selber als Laienhistoriker die Geschichte deines Industriebetriebs, deines Bauernhofs, deiner Werft) mit den unübersehbaren Gefahren einer naiven, pseudowissenschaftlichen Heimatgeschichte verbunden. Angemessen geschrieben, stellt gerade sie außerordentlich hohe Anforderungen an breite allgemeine und lokalspezifische Kenntnisse, an ein sicheres, geschultes Urteil. Einem noch so interessierten Amateur fliegt beides nicht einfach zu. Eine Illusion ist es zu glauben, beides werde sich ohne sorgfältige Schulung als Historiker nach geraumer Zeit wohl von selbst einstellen. Dazu ist diese Art von Freizeitbeschäftigung vielleicht amüsant, aber mit einer kaum vermeidbaren Regression des rationalen Diskurses verbunden. Überdies würde es den Anhängern von Lindquist nicht schaden, endlich zur Kenntnis zu nehmen, daß bereits 60 Jahre früher der bekannte amerikanische Historiker Carl Becker mit der Verwirklichung seiner analog formulierten Devise „Everybody His Own Historian“ rundum gescheitert ist. Vestigia terrent? Die häufige Polemik dagegen, daß Alltagsprobleme von der bisherigen Geschichtswissenschaft angeblich völlig übersehen worden seien, gegen den Vorrang der Quantifizierung (eine besonders beliebte und irreführende Marotte), gegen analytische – d. h. in Dimensionen, Faktoren, Elemente zerlegende – Begrifflichkeit ist sachlich in der Regel verfehlt. So ist etwa „der Alltag“ bisher weder ganz ignoriert, noch gerade hierzulande die Quantifizierung überschätzt worden. Solche Kritiker haben offenbar viel zu wenig in den leicht zugänglichen Büchern der Kritisierten gelesen; sie bauen einen „Pappkameraden“, auf den dann unbekümmert Breitseiten abgefeuert werden. Hermann Heimpels ironische Warnung trifft auch hier zu: „Literatur-
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kenntnis schützt vor Neuentdeckungen.“ Hier hätte sie vor der Entdeckung fiktiver Mängel bewahrt. Häufig gewinnt man zudem den Eindruck, daß gesinnungsethisches Pathos das rationale Argumentieren, die Kosten-Nutzen-Abwägung ersetzt. Gesinnungsethische Entscheidungen haben ihren legitimen Ort, auch ganz und gar unvermeidbar unter Historikern – daran ist kein Zweifel erlaubt. Aber nach dem Engagement laufen die Wege der Geschichtswissenschaft in der Regel über Verstand und kritischen Diskurs, nicht über Gemüt und Gefühl. Außerdem wird, wenn die Quellenlage offenbar schwierig ist, die vorgefaßte These aber „bewiesen“ werden soll, auch aus wenigen Quellenstücken ein Maß an längst bis zum Überdruß proklamiertem proletarischem „Eigen-Sinn“, an Lust an der „Bartwichserei“, an geschädigter Geruchs- und Farbwahrnehmung herausgepreßt, welches simpelsten Proseminar-Anforderungen an eine zuverlässige, tragfähige Basis nicht standhält. Offenbar versagt auch häufig die interne Kritik unter Alltagshistorikern. Wenn z. B. von einem Sprecher für die „Geschichtswerkstätten“, wo möglichst viel Alltagsgeschichte gebastelt werden soll, nur das erwähnte „linkspluralistische“ Meinungsspektrum zugelassen wird, ist die Illiberalität und Immunisierung gegen rationale Kritik von anderen Positionen aus für jedermann offensichtlich zu erkennen!35 Dabei liegen „Wertkonservative“, Grüne und Alltagshistoriker doch oft so dicht beieinander! Und natürlich ist eine konservative oder liberale Alltagsgeschichte ebenso legitim wie eine „linkspluralistische“. Andrerseits sticht manchmal eine verblüffende apolitische Zurückhaltung ins Auge. Seitdem z. B. im Juni 1986 der „Historikerstreit“ über die bestrittene Singularität der nationalsozialistischen Judenvernichtung, die vermeintliche Identitätskrise der Westdeutschen, die Pseudoprobleme der deutschen „Mittellage“, in aller-, allererster Linie aber über das derzeitige und zukünftige Selbstverständnis der Bundesrepublik und ihrer Bürger eingesetzt hat, ist keine einzige kritische Stimme aus dem bunt gemischten Lager der Alltagshistoriker, sei’s von einer Geschichtswerkstatt, sei’s von einem derjenigen, die sonst ihr Fähnlein so flink in den lauen Wind der Alltagsgeschichte hängen, bekannt geworden. Alltagshistoriker mögen diesen Streit als uninteressantes Getöse „da oben“ beiseite schieben. Eine fatal unpolitische Haltung bleibt es allemal. Und von dem vielbeschworenen kritischen, aufklärerischen Engagement ist in dieser fundamentalen Kontroverse bisher nichts zu spüren. Krasser könnte man wichtige eigene Ziele kaum desavouieren. Last not least: Ständige intellektuelle Neugier und Bereitschaft zur Kooperation mit jeder Wissenschaft, die weiterhelfen kann, sollten den Historiker auszeichnen. Manchmal aber werden die Theorien auch wie jeweils neue Steckenpferde in Hetze gewechselt. Da setzt man erst auf einen unorthodoxen Neomarxismus. Dann folgt etwa die „Protoindustrialisierung“, anfangs sogar als neue „Gesellschaftsformation“ empfohlen – ein anregendes Konzept, aber offenbar mit erheblichen Schwierigkeiten bei der prakti-
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schen Ausführung verbunden.36 Zwischendurch gibt es ein rührendes Vertrauen auf die ein halbes Dutzend Jahre lang währende quantifizierende Erfassung schwäbischen Dorflebens. Jetzt wird das Heil von Sozialanthropologen erwartet. Morgen ist es eine ökologisch orientierte Geschichte, übermorgen die Friedensgeschichte. Für die meisten dieser Bedürfnisse gibt es gewöhnlich auch irgendwelche Konzeptionen. In der Geschichtswissenschaft zählen jedoch die besseren Ergebnisse in Monographien, Aufsätzen, Gesamtdarstellungen, wenn einmal bilanziert wird. 10. Ein letzter Einwand ist primär politischer Natur. Gegen die modische Modernisierungskritik, gegen die Pauschalverurteilung aller Rationalisierungsprozesse, gegen das zivilisationskritische Ressentiment – und selbstverständlich ist eine breite Skala, die vom plumpen Poltern einäugiger Trendsüchtiger bis zur differenzierten Diagnose wirklicher Dilemmata reicht, zu konzedieren und selbstverständlich ist auch noch die radikale Fortschrittskritik eine typische Erscheinungsform des westlichen rationalen Diskurses –, gegen diese Kritik ist hier und heute eine bewußte Verteidigung der beispiellosen Leistungen des Okzidents geboten. Verflogen sind inzwischen die Illusionen jener zwei Jahrzehnte nach 1945, die westliche Modernisierung werde als ein so attraktives ökonomisches, soziales und vor allem auch politisches Vorbild wirken, daß sie außerhalb des Ostblocks allenthalben sofort oder doch binnen kurzem akzeptiert werde. Heute verkörpert weiterhin innerhalb der „Weltgesellschaft“ nur eine Minderheit von Staaten, vielleicht sogar eine schrumpfende Minderheit die westlichen Errungenschaften als ein „Entwicklungsprodukt“ des okzidentalen Kulturkreises, „hinter das der bewußte Kulturmensch“ – um Webers heute etwas altertümlich klingenden Ausdruck mit Absicht zu gebrauchen –, „will er sich nur selbst treu bleiben, nicht mehr zurück kann“.37 Heute ist es besonders notwendig, den ungeheuren Entwicklungssprung, den okzidentale Rationalität bedeutet, dezidiert zu verteidigen. Der „Dritten Welt“ kann nur durch ein Maximum an rationaler Politik der industriell starken Staaten in einer Art globaler Sozialpolitik geholfen werden. Hunger, Armut, Elend überall in der Welt können nur mit einem Maximum an rationaler Politik bekämpft werden. Die Zerstörung der Umwelt, ökologische Krisen, die Ausdehnung dieser Gefahrenherde – sie können nur durch ein Maximum an rationaler Politik eingehegt werden.38 Wachstumskonjunktur und Prosperität können nur durch rationale Anstrengungen wiedergewonnen und ihre Wohlfahrtseffekte gerechter verteilt werden. Eine bessere Kontrolle der Bürokratie und politischer Machtträger kann in erster Linie nicht durch aufrechte Gesinnung von Fundamentalisten, sondern nur durch rationale institutionelle Lösungen auf Dauer erreicht werden. Auf dieser Linie ließe sich ein langer Katalog von Problemen aufzählen, die alle nicht durch Modernisierungsskepsis und Rationalismuskritik, sondern nur durch rational entworfene und durchgeführte Lösungen der politischen, sozialen, ökonomischen Fragen bewältigt werden können.
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Die Vieldeutigkeit westlicher Rationalität und Rationalisierung ist vielen längst bewußt. Auch die Vernichtungsmaschine des Nationalsozialismus folgte zweckrationaler Planung. Rationale Wissenschaftler erfinden beispiellose Zerstörungswaffen. Es gibt jedoch eine spezifisch westliche Wertrationalität, einen positiven Rationalisierungsbegriff vernünftig angeleiteten Handelns, argumentativen Diskutierens, rationalen Planens, Forschens und Verhaltens, deren Verteidigung sich auch und gerade heute allemal lohnt. Da die Alltagsgeschichte mit emphatischer Kritik nicht spart, kann man gemäß Webers Forderung, konkurrierende Wertideen so pointiert und offen wie möglich herauszuarbeiten – ebenso entschieden dieser Kritik entgegenhalten: Wenn das Erbe der gewaltigen historischen Leistung der okzidentalen Modernisierung und Rationalisierung gegen den biederen Hirsebrei der Alltagsgeschichte „von innen“ und „von unten“ und der sie tragenden Ideologien verkauft werden soll, ist das intellektuell die naive Zumutung eines Verzichts auf manche bewährten Rationalitätsstandards, politisch aber ist es in der gegenwärtigen Situation ein billiger Defätismus gegenüber den längst nicht überholten Errungenschaften des eigenen Kulturkreises.39 Dem Appell, ihre „letzten“ Wertideen zu überprüfen, sie endlich explizit zur Debatte zu stellen, anstatt sich im Nebel verschwommener AntiHaltungen und mystifizierter Gegenwerte wohlzufühlen, werden sich die ernstzunehmenden Alltagshistoriker auf die Dauer nicht entziehen können. Bei der Klärung all dieser Probleme kann die Idealisierung von gefühlsstarken „Barfußhistorikern“ in ihren alternativkulturellen, „linkspluralistischen“ Werkstätten keinen Millimeter weiterhelfen.
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ANMERKUNGEN 1
Einen guten Überblick über die in letzter Zeit diskutierten Probleme der Alltagsgeschichte, zugleich auch über die einschlägige Literatur gewinnt man aus: J. Kocka, Historisch-antropologische Fragestellungen – ein Defizit der Historischen Sozialwissenschaft?, in: H. Süssmuth Hg., Historische Anthropologie, Göttingen 1984, 73-83; ders., Klassen oder Kultur? Durchbrüche u. Sackgassen in der Arbeitergeschichte, in: Merkur 36.1982, 955-66; ders., Zurück zur Erzählung? Plädoyer für historische Argumentation, in: Geschichte u. Gesellschaft 10. 1984, 395-408; K. Tenfelde, Schwierigkeiten mit dem Alltag, in: ebd., 376-94; D. Peukert, Ist die neue Alltagsgeschichte theoriefeindlich?, in: Conceptus 18.1984, 717; ders., Neuere Alltagsgeschichte u. historische Antropologie, in: Süssmuth Hg., 57-72; ders., Arbeiteralltag – Mode oder Methode?, in: H. Haumann Hg., Arbeiteralltag in Stadt u. Land, Berlin 1982, 8-39; D. Langewiesche, Arbeiterkultur, in: Ergebnisse 26: Arbeiterkultur in Deutschland, Hamburg 1984, 9-29; L. Niethammer, Das kritische Potential der Alltagsgeschichte, in: Geschichtsdidaktik 10.1985, 245-47, u. in: U. A. J. Becher u. K. Bergmann Hg., Geschichte – Nutzen oder Nachteil für das Leben?, Düsseldorf 1986,60-62; ders., Anmerkungen zur Alltagsgeschichte, in: K. Bergmann u. R. Schörken Hg., Geschichte im Alltag – Alltag der Geschichte, Düsseldorf 1982, 11-29; R. Sieder, Zur Theoriebedürftigkeit der neuen Alltagsgeschichte, in: Conceptus 18.1984, 24-41; H. Medick, „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte u. Gesellschaft 10. 1984, 295319; gekürzt ders., Vom Interesse der Sozialhistoriker an der Ethnologie, in: Süssmuth Hg., 49-56; ders., Wer sind die „Missionare im Ruderboot“?, in: Becher u. Bergmann Hg., 63-68; ders. u. D. Sabean, Emotionen u. materielle Interessen in Familie u. Verwandtschaft. Überlegungen zu neuen Wegen u. Bereichen einer historischen u. sozialanthropologischen Familienforschung, in: dies. Hg., Emotionen u. materielle Interessen, Göttingen 1984, 27-54 (vgl. aber die pointierte Kritik an diesem heterogenen Sammelband bei M. Anderson, Rez., in: Social History 10. 1985, 231-33; H. Tyrell, Soziologische Anmerkungen zur Historischen Familienforschung, in: Geschichte u. Gesellschaft 12. 1986, 254-73); J.-M. Greverus, Alltag u. Alltagswelt. Problemfeld oder Spekulation im Wissenschaftsbetrieb, in: Zeitschrift für Volkskunde 79. 1983, 1-14; reichlich versponnen wirkt: G. Zang, Die unaufhaltsame Annäherung an das Einzelne. Reflexionen über den theoretischen u. praktischen Nutzen der Regional- u. Alltagsgeschichte, Konstanz 1985; M. Kater, Begrifflichkeit u. Historie. „Alltag“, „Neokonservativismus“ u. „Judenfrage“ als Themen einer NS-bezogenen Sozialgeschichtsschreibung, in: Archiv für Sozialgeschichte 23.1983, 688-703; Alltagsgeschichte der NS-Zeit. Neue Perspektive oder Trivialisierung?, München 1984; P. Borscheid, Plädoyer für eine Geschichte des Alltäglichen, in: ders. u. H. J. Teuteberg Hg., Ehe, Liebe, Tod, Münster 1983, 1-14; P. Borscheid, Alltagsgeschichte – Modetorheit oder neues Tor zur Vergangenheit, in: W. Schieder u. V. Sellin Hg., Sozialgeschichte in Deutschland, III, Göttingen 1987, 78-100; P. Steinbach, Alltagsleben u. Landesgeschichte. Zur Kritik an einem neuen Forschungsinteres-
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se, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 29. 1979, 225-305; ders., Neue Wege der regional-historisch orientierten Alltagsgeschichte, in: ebd., 30.1980, 312- 36; ders., Geschichte des Alltags – Alltagsgeschichte, in: Neue Politische Literatur 31. 1986, 249-73; Alltagsgeschichte u. neues Geschichtsbewußtsein, in: ebd. 1987/Beiheft 3; C. H. Hauptmeyer, Heimatgeschichte heute, in: ders., Landesgeschichte heute, Göttingen 1987, 77-96; E. Hinrichs, Regionalgeschichte, in: ebd., 16-34; V. Ullrich, Entdeckungsreise in den historischen Alltag, in: Geschichte in Wissenschaft u. Unterricht 36.1985, 403-14; ders., Geschichte von unten, in: Das Parlament 36. 1986, Nr. 20/21, 17./24.5.1986,7; ders., Alltagsgeschichte. Über einen neuen Geschichtstrend in der Bundesrepublik, in: Neue Politische Literatur 29. 1984, 50-71. Erste Kritik in: H.-U. Wehler, Neoromantik u. Pseudorealismus in der neuen „Alltagsgeschichte“, in: ders., Preußen ist wieder chic ..., Frankfurt 1983, 99-106; ders., Geschichte – von unten gesehen, in: Die Zeit 3.5.1985. – An dieser Stelle möchte ich nachdrücklich betonen, daß die im Folgenden erörterten Probleme und der Kern der eigenen Meinung ziemlich zugespitzt zur Debatte gestellt werden. Die Thesen sind auch in der Hoffnung bewußt pointiert formuliert – damit gewiß auch vereinfacht –, um möglichst schnell auf die diskussionswürdigen Probleme zu sprechen zu kommen. Es ist keine Captatio Benevolentiae, wenn ich außerdem hinzufüge, daß ich gegenüber einer Runde von Diplomatiehistorikern einige Monographien und Aufsätze von Alltagshistorikern entschieden verteidigen würde. Hier geht es jedoch primär (in Teil III.) um ihre Probleme im Kontext einer Diskussion, die auch die folgende Kritik vertragen kann, zumal es mit der Binnenkritik der Alltagshistoriker offenbar häufig hapert, wenn nicht sogar Einigelung und wechselseitige Bestätigung die kritische Erörterung „offener Flanken“ weithin ersetzen. Vgl. z. B. das klägliche Machwerk von Prof. Dr. Hans Müller/Geschichtswerkstatt Dortmund, Streit mit Wehler, in: Geschichtsfest 1985, 41-44, vgl. 46-52; vgl. dagegen: T. Lindenberger, Wer hat Angst vor den Barfußhistorikern?, in: Geschichtsdidaktik 11. 1986, 17-20 (amüsante Defensive, aber kein einziger Hinweis auf ein geschichtswissenschaftlichen Kriterien genügendes Produkt). – Hier handelt es sich um eine Vorlage, mit der ich mir über Argumente für eine Diskussion über Alltagsgeschichte, die auf dem 35. Deutschen Historikertag im Oktober 1984 in Berlin stattgefunden hat, vorher und vorläufig Klarheit zu schaffen versucht habe. Sie ist im wesentlichen enthalten in meinem Beitrag in: F. Brüggemeier u. J. Kocka Hg., Geschichte von unten – Geschichte von innen, Lehrbrief/Fernuniv. Hagen 1985, 17-47 Kocka, Klassen, 958. Peukert, Alltagsgeschichte, 57. Vgl. Kocka, Klassen, 957. – R. Braun, Industrialisierung u. Volksleben, Zürich 1960/Göttingen 19792; ders., Sozialer u. kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet im 19. u. 20.Jahrhundert, Zürich 1965; neuerdings ders.: Das ausgehende Ançien Regime in der Schweiz. Aufriß einer Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1984. Medick, Missionare, 308-10. Vgl. Kocka, Fragestellungen, 79.
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Ebd., 81. Tenfelde, 387, ähnlich wie in dem schon vor zehn Jahren gedruckten Beitrag von N. Elias, Zum Begriff des Alltags, in: K. Hammerich u. M. Klein Hg., Materialien zur Soziologie des Alltags (=Sonderheft 20, Kölner Zeitschrift für Soziologie), Opladen 1978, 22-29. Elias wird oft fälschlich für einen der geistigen Väter der Alltags-Diskussion gehalten. Vgl. jetzt: E. W. Müller u. a. Hg., Ethnologie als Sozialwissenschaft (So.H.26, Kölner Zs. für Soziologie), Opladen 1984. Peukert, Alltagsgeschichte, 68, u. Tenfelde, 387. Medick, Missionare, 303, 305. (Inzwischen gibt es aber eine klare Distanzierung: „Die Absicht eines Paradigmenwechsels liegt mir fern“, so H. Medick, Wer sind die „Missionare im Ruderboot“? in: Becher u. Bergmann Hg., 67.) Gegen die vollmundige Kritik (297: es gebe bisher noch gar keine wahre „SozialGeschichte“, da Strukturen und Prozesse nicht mit konkreten Personen vermittelt worden seien; die „Gesellschaftsgeschichte“ sei nur imstande, Dimensionen zu kombinieren oder diese auf eine Addition von Faktoren zu reduzieren; überhaupt stecke die „Historische Sozialwissenschaft“ in einer Sackgasse) läßt sich mit guten Gründen auf nicht wenige Bücher und Aufsätze hinweisen, die für die Sozialgeschichte und Historische Sozialwissenschaft in Anspruch genommen werden können. Man vergleiche z. B. einmal die entsprechenden Monographien unter den ersten 76 Bänden der „Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft“ (1972-1987), unter den ersten 42 Bänden der „Neuen Historischen Bibliothek“, aber auch in nicht wenigen anderen Reihen und in einigen Zeitschriften. Ein Überblick in: H.-U. Wehler, Zur Lage der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik 1949-1979, in: ders., Historische Sozialwissenschaft u. Geschichtsschreibung, Göttingen 1980, 314 f. Für die Kritiker gilt zumindest die Parole: „Cool your jets“. Dann können sie auch ihre seit langem ausstehenden Monographien endlich ruhiger zu Ende schreiben. Vgl. z. B. E. R. Wolf, Europe and the People Without History, Berkeley 1982, dt. Die Völker ohne Geschichte. Europa u. die andere Welt seit 1400, Frankfurt 1986. Kocka, Fragestellungen, 81. Medick u. Sabean Hg., Emotionen. – Zur veränderten Bedeutung der Gefühle, Emotionen, Affekte möchte ich die Vermutung äußern, daß hier generationsspezifische Erfahrungen vermutlich eine wesentliche Rolle spielen. Für diejenigen Generationen, die den Zweiten Weltkrieg, die Flucht und die Nachkriegszeit bewußt miterlebt haben, war Affektkontrolle ein unabdingbare Voraussetzung des psychischen und physischen Überlebens. Gefühlen wurde nur im Kreis der Familie, unter engen Freunden und Freundinnen offen nachgegeben; in vermittelter Form gingen sie natürlich auch in politisches und wissenschaftliches Engagement ein. Für Jüngere besitzt die Äußerung und Verteidigung von Emotionen offenbar einen anderen Stellenwert, sie gelten nicht mehr als strikt privatisiert; Kontrollmechanismen rasten nicht sofort quasi-automatisch ein. Von daher eröffnet sich auch ein anderer Zugang zur Bedeutung von Gefühlen in der Alltagsgeschichte. Medick, Missionare, 310.
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15 Kocka, Fragestellungen, 79f. 16 Ders., Klassen, 957. 17 Medick, Missionare, 313. M. verwirft explizit (308) Webers Trennung von Theorie und Realität. 18 J. G. Droysen, Historik, Darmstadt 19778, 34. 19 Medick, Missionare, 314. 20 Kocka, Erzählung, 405, Anm. 14. 21 Ders., Fragestellungen, 82, Anm.8. 22 J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Tübingen 1967,179,166. Klassisch ein halbes Jahrhundert vorher: G. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, München 19235, 67f. 23 Niethammer, 24. 24 Kocka, Klassen, 965. 25 Peukert, Alltagsgeschichte, 68. 26 Tenfelde, 391. 27 Kocka, Fragestellungen, 78. 28 Peukert, Alltagsgeschichte, 61; Kocka, Klassen, 964. 29 Kocka, Fragestellungen, 78. 30 Peukert, Alltagsgeschichte, 60f. 31 Droysen, 278, § 90. 32 Vgl. Tenfelde, 383; Peukert, Alltagsgeschichte, 66. 33 Peukert, Alltagsgeschichte, 64f.; ausführlicher ders., Arbeiteralltag, z. T. im Anschluß an J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde, Frankfurt 1981. 34 Dieses Urteil, das man vor einigen Jahren den Quantifizierungsaposteln entgegenhalten konnte, trifft jetzt erneut zu. 35 Tenfelde, 380, Anm. 16. Die Kritik an „Grabe, wo Du stehst:“ richtet sich z. B. gegen einige in Anm. 1 angeführte Aufsätze. 36 Außer einigen lohnenden Aufsätzen gibt es bisher erst ein einziges hervorragendes Buch, dessen Autor diese Anregungen selbständig verarbeitet hat: J. Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848. Bauern u. Unterschichten, Landwirtschaft u. Gewerbe im östl. Westfalen, Göttingen 1984. Vgl. aber auch A. Tanner, Spulen, Weben, Sticken. Die Industrialisierung in Appenzell-Außerrhoden, Zürich 1982. 37 W. Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1979, 34. Detlef Peukert neigt in einem in „Geschichte u. Gesellschaft“ (12.1986, 425-42) erschienenen anregenden Aufsatz: Die „letzten Menschen“: Beobachtungen zur Kulturkritik im Geschichtsbild Max Webers, dazu, die an Nietzsche geschulte pessimistische Kulturkritik vor allem des späten Weber zu verabsolutiern und sie als den Leitfaden durch sein labyrinthisches Werk auszugeben, obwohl es sich nur um einen – unstreitig vorhandenen und diskussionswürdigen – roten Faden neben wichtigeren anderen handelt. Die Herausarbeitung und Erklärung der historischen Eigentümlichkeit des okzidentalen Kulturkreises und ihre emphatische Verteidigung besitzen nach meinem Eindruck bei Weber doch meis-
362 | H ANS-ULRICH W EHLER tens den Vorrang vor der in seinen letzten Jahren deutlich zunehmenden Evolutionsskepsis. 38 Dabei besitzt etwas „populistischer“ Treibstoff durchaus seinen instrumentellen Wert, bis der „grüne“ Stachel im Fettpolster der großen Parteien diese selber zur Anerkennung und Inangriffnahme fundamentaler Probleme zwingt. Hinsichtlich der Lernfähigkeit der großen Parteien, ihrer Überlebenskraft und der „Problembewältigungskapazität“ des parlamentarischen Systems bin ich weit optimistischer als seine basisdemokratischen Kritiker. 39 Dieses Urteil halte ich nicht für eine unzulässige Dramatisierung, sondern für die in solchen Situationen gebotene Auskunft über die eigenen Werturteile und Überzeugungen.
Kontroversen um Frauengeschichte* J ÜRGEN K OCKA
Annette Kuhn veröffentlicht im Heft 3/1981 von „Geschichtsdidaktik“ einen Brief, in dem ich gegen den Ausschluß von Männern durch die Veranstalterinnen einer wissenschaftlichen Tagung zur Frauengeschichte an der Universität Bielefeld im April 1981 protestierte. Sie kritisiert meinen Brief als verletzenden und alarmierenden Ausdruck von Anti-Feminismus. Sie scheint jenen Ausschluß von Männern für berechtigt zu halten, da es „nicht ungewöhnlich“ sei, „bei wissenschaftlichen Veranstaltungen nur einen bestimmten Teilnehmer(innen)kreis zuzulassen“. Sie kritisiert die allgemeine Sozialgeschichte als „männlich“ und sieht darin das Recht und die Notwendigkeit begründet, jedenfalls auf absehbare Zeit Frauengeschichte als „eigenständige sozialwissenschaftliche Disziplin“ zu betreiben, als „autonome“, also wohl allein durch Frauen zu tragende Forschung. Sie fürchtet, daß anders die spezifischen Erfahrungsweisen von Frauen nicht in die Forschung eingebracht werden können. Von Annette Kuhns Bemerkungen überzeugt mich vor allem eine: die, daß es ihr schwerfalle, auf meinen Protestbrief vernünftig zu reagieren. In der Tat, ihre emotionale Polemik ist reich an Mißverständnissen. Aber die Mißverständnisse, denen sie aufsitzt, und die Mythen, an denen sie strickt, sind nicht nur die ihren, und so dürfte es richtig sein, sich mit ihnen öffentlich auseinanderzusetzen. Es ist klar, daß soziale und politische Strukturen und Prozesse, vorwissenschaftliche Interessen und lebensweltliche Erfahrungen auf den wissenschaftlichen Prozeß und insbesondere auf die Geschichtswissenschaft durch viele Kanäle und Mechanismen einwirken. Darin liegt nicht nur eine Belastung, sondern auch eine Chance. Denn indem neue, oder neu entdeckte oder doch neu artikulierte Erfahrungen und Interessen auf die geschichtswissenschaftliche Forschung, Diskussion und Lehre einwirken, können sie neue, bisher vernachlässigte Fragestellungen hervorbringen und bisher unterbelichteten Wirklichkeitsdimensionen zur Beachtung verhelfen. Sicher geht ein Teil des wissenschaftlichen Fortschritts in unserem Fach so vonstatten. So wirkten die Reformbewegungen der 60er Jahre auf den Aufschwung der *
Jürgen Kocka, Kontroversen um Frauengeschichte, in: ders., Geschichte und Aufklärung. Aufsätze, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989, S. 45-52.
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Sozialgeschichte ein. So erhält die Sozialgeschichte heute wichtige Anstöße von einigen Strömungen in der Frauenbewegung. Erfahrungen und Interessen, die dort – durchaus uneinheitlich – formuliert werden, beeinflussen Erkenntnisinteressen und Fragestellungen, mit denen bisher nicht genug berücksichtigte (wenn auch keineswegs ganz vernachlässigte) Wirklichkeitsdimensionen historisch thematisiert werden können. Eine Sensibilisierung für früher weniger beachtete Dimensionen historischer Wirklichkeit findet statt (z. B. für die vielfältigen sozialen Unterschiede zwischen Männern und Frauen), und bis dato Selbstverständliches wird zum Problem. Neue Forschungsbereiche werden so erschlossen (z. B. Geschichte der Mutterliebe), und die herkömmliche Sicht mancher anderer Bereiche mag sich allmählich modifizieren (soziale Ungleichheit, Verhältnis von Familie und Arbeitswelt, private Voraussetzungen öffentlicher Wirksamkeit etc.). Von außerhalb der Wissenschaft kommende Anstöße können so zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen. Natürlich geht es dabei ohne Kritik, Kontroversen, Auseinandersetzungen von „Schulen“ und andere Konflikte nicht ab, u. a. (nicht nur) weil es teilweise entgegengesetzte Interessen und Erfahrungen sind, die da auf die Wissenschaft Einfluß nehmen. Unbeschadet dieser Einsicht in die außerwissenschaftliche Bedingtheit der Wissenschaft ist es richtig und notwendig, die qualitative Differenz zwischen sozialen bzw. politischen Auseinandersetzungen und wissenschaftlichem Prozeß sowie dessen relative Autonomie gegenüber anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zu betonen. Diese wird, theoretisch-methodologisch gesehen, durch bestimmte Prinzipien konstituiert, deren Erfüllung zugleich Voraussetzung der Teilnahme am wissenschaftlichen Prozeß ist. Zu diesen Prinzipien gehört kritische Rationalität in einem weiten Sinn: u. a. die Bereitschaft, Vorverständnisse und bisherige Ergebnisse empirisch und argumentativ zu prüfen, zu modifizieren und zu revidieren, wenn neue Evidenz und überzeugende Argumente dies verlangen; die Bereitschaft, konkurrierende Fragestellungen, Methoden und Interpretationen nicht nur zuzulassen, sondern darüber hinaus zu fordern und zu begrüßen; die Bereitschaft, Evidenz und Argumente zu prüfen, zu akzeptieren oder zu verwerfen, ganz gleich welchen Geschlechts, welcher Herkunft, welcher Nation, welchen Glaubens und welcher politischen Orientierung jene sind, die sie vorbringen; das Ziel, in der Forschung Prozesse zu realisieren und Ergebnisse hervorzubringen, die – in diesem gruppenübergreifenden Sinn – universalistischen Geltungsanspruch haben; die Bereitschaft, die Teilnahme am wissenschaftlichen Prozeß von der Akzeptanz dieser Prinzipien, von Qualifikation und von Interesse abhängig zu machen, nicht aber von Kriterien wie Geschlechtszugehörigkeit, Nationalität, Abstammung, Glauben, politischer Orientierung und dergleichen. Es kommt darauf an, die oben erwähnten vorwissenschaftlichen Interessen und Erfahrungen so in die Wissenschaft einzubeziehen, daß diese Prinzipien nicht verletzt werden. Dies ist, ein Stück weit, möglich, wie die erfolgreiche Kooperation sehr verschiedenartiger Wissenschaftler mit sehr
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verschiedenartigen, ja entgegengesetzten Erfahrungs- und Interessen-Hintergründen in den verschiedensten Wissenschaften immer neu beweist. Gelingt das nicht, entweder weil die vorwissenschaftlichen Erfahrungs- und Interessenzusammenhänge zu antagonistisch oder zu verschieden und gleichzeitig zu determinierend sind, oder weil jene wissenschaftlichen Grundprinzipien nicht recht verstanden und vertreten werden, dann kommt es zu einem Verlust innerwissenschaftlicher Rationalität mit nachteiligen Folgen für die gesellschaftliche Praxis: zur Blockierung des Diskurses, zur Immunisierung von „autonomen“ Wissenschaftlerkreisen gegen alternative Deutungen und Kritik, im Endeffekt zum unwissenschaftlichen Dogmatismus. Unter Berufung auf die Prinzipien wissenschaftlicher Rationalität können auch aus der Frauenbewegung kommende, an Fragestellungen historischer Frauenforschung orientierte Historikerinnen ihr Recht einfordern, innerhalb des geschichtswissenschaftlichen Diskussionsprozesses Raum zu erhalten, soweit sie gleichzeitig den Grundregeln und Funktionsvoraussetzungen dieses wissenschaftlichen Diskussionsprozesses Rechnung tragen; dies geschieht ja auch zunehmend. Unter Berufung auf jene Prinzipien können sie fordern, daß die institutionalisierte Geschichtswissenschaft offen und wandlungsfähig genug ist, ihren Fragestellungen, Themen und Interpretations-Angeboten jedenfalls eine faire Chance zu geben. Auch dies ist zunehmend der Fall, wenn es sicher im einzelnen auch Dissens über das Maß, den Stellenwert, die Geltungskraft, die Relevanz konkurrierender Schwerpunkte, Fragestellungen, Ergebnisse und Sichtweisen gibt und geben wird (wie immer in unserem Fach). Unter Berufung auf dieselben Prinzipien kann und muß man aber auch als unwissenschaftlich und wissenschaftsfeindlich zurückweisen, daß teilnahmewillige Personen eingestandenermaßen aufgrund ihres Geschlechts von einer wissenschaftlichen Veranstaltung ausgeschlossen werden, wie es in dem oben erwähnten, ansonsten öffentlichen Bielefelder HistorikerinnenTreffen der Fall war (wobei ich weiterhin davon ausgehe, daß dieses sich als wissenschaftliche Veranstaltung verstand). Natürlich braucht nicht jede wissenschaftliche Veranstaltung öffentlich zu sein, und sicherlich ist es nicht ungewöhnlich, den Kreis der Teilnehmer und Teilnehmerinnen auf unmittelbar Eingeladene zu beschränken. Aber etwas ganz anderes ist es doch, eine wissenschaftliche Tagung öffentlich zu machen und dann die Öffentlichkeit durch Ausschaltung aller Männer zu halbieren. Damit wird das Geschlecht zum Zulassungskriterium, und das schlägt wissenschaftlichen Grundsätzen ins Gesicht. Es überrascht, daß eine etablierte Wissenschaftlerin wie A. Kuhn diesen Unterschied offenbar nicht erkennt. Aufgrund derselben Grundprinzipien von Wissenschaft ist eine „autonome“ Frauengeschichte strikt abzulehnen, wenn damit eine von Frauen für Frauen, vielleicht gar mit besonderen Methoden (welchen?) und losgelöst vom übergreifenden organisatorischen und diskursiven Zusammenhang des Faches betriebene Geschichte der Frauen gemeint ist. Frauengeschichte wird, wenn sie ernst genommen werden will, nicht in geschützten Nischen und separa-
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ten Abteilungen betrieben werden dürfen, als Wissenschaft von Frauen über Frauen für Frauen, als subkulturelles Unternehmen, das sich sein gutes Gewissen durch totalen Ideologieverdacht gegen die „etablierte“ Geschichtswissenschaft zu verschaffen versucht. Sie wird sich vielmehr der Konkurrenz der Argumente und dem Wettbewerb um Aufmerksamkeit, Mittel, intellektuellen Einfluß und Chancen aller Art stellen müssen wie jeder andere Ansatz auch – als einer unter anderen. Dafür stehen die Aussichten auch gar nicht schlecht. Denn: Weder ist das Fach so „männlich“ geprägt, daß es sich überzeugenden frauengeschichtlichen Ansätzen nicht öffnen würde, noch sind alle Vertreterinnen und Vertreter frauengeschichtlicher Ansätze so argumentations- und kompetenzschwach, daß sie in den fachwissenschaftlichen Diskussionen häufiger den kürzeren zögen als andere und einen vor rationaler Kritik abgeschotteten Schonraum bräuchten, um überhaupt das Wort zu nehmen. Gesellschaftliche Konflikte schlagen selten voll auf den wissenschaftlichen Prozeß durch; das liegt an der methodisch und auch institutionell begründeten relativen Distanz zwischen Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis, an der relativen Autonomie des wissenschaftlichen Teilsystems. Deshalb können sich auch oft Wissenschaftler entgegengesetzter politischer und ideologischer Herkunft als Wissenschaftler miteinander verständigen, während zwischen ihren politisch-ideologischen Lagern Feindschaft und Verständnislosigkeit herrschen mögen. Erst recht aber gilt, daß das gesellschaftliche Spannungsverhältnis zwischen Männern und Frauen, zwischen männlichen und weiblichen Erfahrungen und Interessen den gemeinsamen wissenschaftlichen Diskurs nicht sprengt. Denn dieses ist nur ein Spannungsverhältnis neben anderen, gemildert von so manchen geschlechtsübergreifenden Gemeinsamkeiten. Meist ist es viel schwächer ausgeprägt als das zwischen Klassen und Nationalitäten, ethnischen Gruppen oder Religionsgemeinschaften.1 Frauen und Männer können vieles zusammen betreiben, u.a. auch Wissenschaft. Mir ist bewußt, daß Diskriminierungs- und Ausschließungsmechanismen traditionell eher gegen Frauen gewirkt haben und auch heute noch wirken, wenn auch in abnehmender Intensität. Das gilt auch und gerade für den wissenschaftlich-akademischen Bereich und hier für die Geschichtswissenschaft.2 Sicherlich hängen gewisse Einseitigkeiten der herkömmlichen Geschichtswissenschaft mit dieser scharfen Unterrepräsentation von Frauen zusammen. Diese ist heute weniger ein Resultat vorurteilsgeführter, frauenfeindlicher oder frauenskeptischer Entscheidungen durch jene Personen und Institutionen, die über die Rekrutierung und Beförderung des wissenschaftlichen Personals entscheiden, obwohl vielleicht auch solche direkte Diskriminierung manchmal nicht ganz fehlt. Viel gewichtiger unter den Ursachen jener Unterrepräsentation sind vielmehr Mechanismen, die tief in wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, in kulturellen Traditionen, verbreiteten Mentalitäten und eingeschliffenen Handlungsmustern verankert sind, die im voruniversitären Bereich (in Familie, früher Erziehung, herrschenden Formen
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der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung, gängigen Verkehrsformen etc. etc.) viel stärker zu beobachten sind als im universitären Bereich selbst, auf diesen aber indirekt einwirken, u. a. indem sie jene Unterrepräsentation so schwer abbaubar machen. Gegen Fälle der genannten direkten Diskriminierung wird man ebenso direkt argumentieren und vorgehen können, unter Berufung auf mittlerweile weit akzeptierte, z. T. gesetzlich artikulierte Normen der Chancengleichheit und realen Gleichberechtigung. Auch die Korrektur der indirekt wirkenden, gewissermaßen strukturellen Mechanismen ist meines Erachtens auf dem Weg. Jeder einzelne hat dazu seine, je nach Stellung und Funktion verschiedenen, sicher immer sehr begrenzten Möglichkeiten, die von symbolischen Kleinaktionen bis zur Berücksichtigung der Dimension bei Personalentscheidungen (jedoch ohne Verletzung anderer Kriterien wie Leistungskriterien) reichen mögen. Schnell geht diese, auch im wissenschaftlichen Interesse liegende, Korrektur sicherlich nicht. Aber Diskriminierungen mit umgekehrtem Vorzeichen und Ausflüchte in das Ghetto einer sogenannten autonomen Frauengeschichte tragen gewiß nicht dazu bei. Wie gesagt: Wenn sich „autonome“ Frauengeschichte von der allgemeinen Sozialgeschichte dadurch abgrenzen will, daß sie nur durch Frauen betrieben wird, widerspricht sie wissenschaftlichen Grundsätzen. So wenig es zutrifft, daß amerikanische Geschichte nur von Amerikanern, Geschichte der SPD nur von Sozialdemokraten und Unternehmergeschichte nur von Unternehmern angemessen bearbeitet werden kann, so unsinnig ist die Vorstellung, daß Geschichte der Frauen nur – oder doch angemessener – von Frauen selbst erforscht werden kann. Ähnlich absurd wäre es zu meinen, weibliche Historiker könnten (oder sollten) nur (oder vornehmlich) Frauengeschichte treiben – ein aus der Forderung nach „autonomer“ Frauengeschichte folgender Umkehrschluß, dessen Problematik gerade den an Frauengeschichte und Frauenbewegung interessierten Historikerinnen nicht entgehen dürfte! Zweifellos ist es aber auch äußerst problematisch, Frauengeschichte inhaltlich von der sonstigen Geschichte abzugrenzen und derart als „eigenständige sozialwissenschaftliche Disziplin“ (A. Kuhn) zu begründen. Denn man kann Frauen nicht außerhalb ihrer Klassen- und Schichtzugehörigkeit, ihrer gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Situation historisch analysieren, und d. h., man kann Frauengeschichte nur begrenzt außerhalb der allgemeinen Wirtschafts-, Gesellschafts-, Politik- und Kulturgeschichte betreiben.3 Frauengeschichte kann deshalb höchstens eine Interessenrichtung oder fachinterne Spezialisierung sein, ähnlich wie Arbeitergeschichte oder Familiengeschichte, die man auch nur als Teil der allgemeinen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte richtig bearbeiten kann und nicht isolieren darf. Schließlich sehe ich nicht, daß man Frauengeschichte methodisch als eigenständige Disziplin von der allgemeinen Sozialgeschichte abgrenzen könnte. Denn die in ernstzunehmenden frauengeschichtlichen Studien verwandten Methoden (z. B. Textinterpretation oder „Oral History“) finden sich durch-
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weg auch in anderen Bereichen der Sozialgeschichte; jedenfalls auf einige erprobte Methoden der Geschichtswissenschaft (z. B. Quellenkritik, Quantifizierung) können frauengeschichtliche Studien sicher nicht verzichten, wenn sie wissenschaftliche Geltung beanspruchen wollen; sollten in frauengeschichtlichen Arbeiten aber neue erfolgversprechende Methoden gefunden oder entwickelt werden (was ich bisher nicht sehe), wird man sie auch dankbar in anderen Bereichen der Sozialgeschichte zur Kenntnis nehmen und erproben. Wie aber sonst ließe sich eine Forschungs- und Studienrichtung als „eigenständige Disziplin“ begründen, wenn nicht durch ihre spezifischen Inhalte und/oder spezifischen Methoden? Doch nicht durch besondere Erkenntnisinteressen und Vorverständnisse, denn Differenzen in diesen Hinsichten schließen keineswegs aus, zu ein und derselben Wissenschaftlergemeinschaft zu gehören! Vielmehr lebt die Geschichtswissenschaft teilweise geradezu davon, daß verschiedene Erkenntnisinteressen und Vorverständnisse in sie eingebracht werden.4 Es ist andererseits auch nicht nötig, daß frauengeschichtliche Studien außerhalb der allgemeinen Sozialgeschichte betrieben werden. Diese hat viele Strömungen und Schattierungen. Sie ist breit oder doch dehnbar genug, sich durch frauengeschichtliche Fragestellungen, Forschungen und Ergebnisse stärker als bisher anzureichern. Einen Paradigmawechsel braucht man dazu nicht, wohl aber überzeugende frauengeschichtliche Studien. Wie wichtig war und ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen im Vergleich zum Unterschied zwischen Klassen und Schichten bzw. sozialökonomischen Unterschieden überhaupt, was die Verteilung der Lebenschancen und -risiken, die Prägung von Erfahrungen und Bewußtsein, die Strukturierung kollektiven Handelns etc. angeht? A. Kuhn ist wie andere Fürsprecherinnen einer „autonomen“ Frauengeschichtsforschung von der Übergewichtigkeit des Geschlechterunterschieds überzeugt. Ich halte diesen nur für einen sozial relevanten Unterschied, für eine Dimension sozialer Ungleichheit, für ein Spannungsverhältnis neben anderen, meist weniger gewichtig als sozialökonomische, nationale oder auch konfessionelle Trennungslinien. Aber das ist keine Frage des Glaubens und auch nicht nur eine Frage der persönlichen Erfahrung (durch die wir uns unterscheiden mögen), sondern auch eine empirisch diskutierbare und insofern lösbare Frage, auf die es überdies in verschiedenen historischen Situationen verschieden nuancierte Antworten geben dürfte. Man kann sich Forschungen vorstellen, die mit Bezug auf eine bestimmte Zeit und bestimmte Wirklichkeitsbereiche dieser Frage nachgehen, und man sollte solche Forschungen stärker betreiben, wie es auch A. Kuhn will. Man kann sie aber nur betreiben, wenn man die Geschlechterdifferenz nicht aus dem Zusammenhang der allgemeinen Sozialgeschichte herauslöst, sondern als Teil von dieser untersucht. Am Beispiel: Wie wichtig 1850-1900 der Mann-Frau-Unterschied für Situation, Leben, Erfahrungen, Bewußtsein, kollektives Verhalten etc. der Menschen in Deutschland war, kann man empirisch nur untersuchen, wenn man zu-
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gleich mitprüft, wie prägend der Unterschied zwischen Lohnarbeitern und Bürgern für Situation, Leben, Erfahrung, Bewußtsein, kollektives Verhalten etc. war. Durch solche Forschungen kann die allgemeine Sozialgeschichte nur gewinnen, und natürlich ist in ihr für solche Forschungen Platz. Wenn dagegen die Bedeutung des Geschlechterunterschieds zum Gegenstand einer eigenständigen („autonomen“) Disziplin („historische Frauenforschung“) gemacht wird, kann das relative Gewicht dieses Unterschieds nicht hinreichend bestimmt werden. Seine Übergewichtigkeit würde dann vorweg unterstellt statt empirisch überprüft.
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Daraus ergibt sich die äußerst schwankende Basis jedes Versuchs, allgemeine weibliche Erfahrungsweisen und Interessen als solche zum Forschungsgegenstand zu machen und Frauengeschichte als abgrenzbare Einheit aufzufassen. Vielleicht bestehen ja gewisse sozial relevante Gemeinsamkeiten von Frauen als Frauen einer bestimmten Zeit, aber doch – und das war und ist für Selbstverständnis und Lebenspraxis, Erfahrungen und Interessen der meisten Frauen trotz irgendwo ähnlicher Sozialisations- und Ausgrenzungserfahrungen viel wichtiger – in konkreten und damit sehr verschiedenartigen, vor allem wohl von Klassenund Schichtzugehörigkeit abhängigen Ausprägungen. Hat nicht die junge, gebildete adlige Frau in der Hauptstadt des neugegründeten Bismarck-Reiches mit ihrem etwa gleichaltrigen Bruder sehr viel mehr gemein als mit einer älteren, verwitweten, aus ärmsten Verhältnissen stammenden, weder lese- noch schriftkundigen polnischen Saisonarbeiterin, wie sie zur selben Zeit allsommerlich in Sachsen zu finden waren? Man lese unter diesem Gesichtspunkt einmal M. von Bunsen, Die Welt in der ich lebte. Erinnerungen 1860-1912, Biberach 1959, sowie F. Rehbein, Das Leben des Landarbeiters, Jena 1911, S. 61 ff. Wer diese fundamentalen Unterschiede zugunsten einer angeblich allgemeinen weiblichen Erfahrung unterschlägt, ist auf dem besten Weg, eine neue Spielart von „feminine mystique“ zu kreieren (s. das Buch von Betty Friedan, 1963). Dazu H.-J. Puhle, Warum gibt es so wenige Historikerinnen?, in: GG 7, 1981, S. 364-393. Vgl. Anm. 1. Ich lasse die Auseinandersetzung mit der absurden Vorstellung, es gebe weibliche Formen des wissenschaftlichen Denkens (im Unterschied zu männlichen) beiseite. Dies ist schlimmster anti-aufklärerischer Sexismus und mit Wissenschaft unvereinbar. Obwohl heute manchmal von feministischer Seite vertreten, steht diese – von A. Kuhn übrigens nicht vertretene – Vorstellung in der Tradition der überkommenen Geschlechtsstereotype, deren Verfestigung (wenn auch mit veränderten Wertungen) sie dient. Zu der Entstehung dieser Stereotype: K. Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtercharaktere“, in: W. Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363-93.
Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte* K ARIN H AUSEN
V ORREDE Am 26. Mai 1789 hielt der knapp dreißig Jahre alte Friedrich Schiller an der Universität Jena seine Antrittsvorlesung zum Thema „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte“. Der Andrang des Publikums war so groß, daß in das größte, bis zu 400 Menschen fassende Auditorium gewechselt werden mußte.1 Bevor Schiller den „Begriff der Universalgeschichte“ zu erörtern begann, verwandte er einige Redezeit darauf, die Kopfarbeiter einzuteilen in die Brotgelehrten mit der Sklavenseele und die Wahrheit suchenden philosophischen Köpfe, um dann zu betonen, daß Universalgeschichte allein etwas für die philosophischen Köpfe sei. Allerdings hatte er sich vorher mit den ersten Sätzen seines Vortrags bereits des Publikums vergewissert, indem er ihm die Chance gab, sich auf die richtige Seite zu schlagen: „Erfreuend und ehrenvoll ist mir der Auftrag, meine h. H., an Ihrer Seite künftig ein Feld zu durchwandern, das dem denkenden Betrachter so viele Gegenstände des Unterrichts, dem thätigen Weltmann so herrliche Muster zur Nachahmung, dem Philosophen so wichtige Aufschlüsse, und jedem ohne Unterschied so reiche Quellen des edelsten Vergnügens eröffnet, das große weite Feld der allgemeinen Geschichte. Der Anblick so vieler vortreffliche[r] jun[ger] Männer, die eine edle Wißbegierde um mich her versammelt, und in deren Mitte schon manches wirksame Genie für das kom*
Karin Hausen, Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Hans Medick, Anne-Charlott Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte: Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen: Wallstein Verlag 1998, S. 15-55.
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mende Zeitalter aufblüht, macht mir meine Pflicht zum Vergnügen, läßt mich aber auch die Strenge und Wichtigkeit derselben in ihrem ganzen Umfang empfinden. Je größer das Geschenk ist, das ich Ihnen zu übergeben habe – und was hat der Mensch dem Menschen größeres zu geben als Wahrheit? – destomehr muß ich Sorge tragen, daß sich der Werth desselben unter meiner Hand nicht verringere. Je lebendiger und reiner ihr Geist in dieser glücklichsten Epoche seines Wirkens empfängt, und je rascher sich ihre jugendlichen Gefühle entflammen, desto mehr Aufforderung für mich, zu verhüten, daß sich dieser Enthusiasmus, den die Wahrheit allein das Recht hat zu erwecken, an Betrug und Täuschung nicht unwürdig verschwende. Fruchtbar und weitumfassend ist das Gebiet der Geschichte; in ihrem Kreise liegt die ganze moralische Welt. Durch alle Zustände, die der Mensch erlebte, durch alle abwechselnde[n] Gestalten der Meinung, durch seine Torheit und seine Weisheit, seine Verschlimmerung und seine Veredlung, begleitet sie ihn, von allem was er sich nahm und gab, muß sie Rechenschaft ablegen. Es ist keiner unter Ihnen allen, dem Geschichte nicht etwas Wichtiges zu sagen hätte; alle noch so verschiedene Bahnen Ihrer künftigen Bestimmung verknüpfen sich irgendwo mit derselben; aber Eine Bestimmung theilen Sie alle auf gleiche Weise mit einander, diejenige, welche Sie auf die Welt mitbrachten – sich als Menschen auszubilden – und zu dem Menschen eben redet die Geschichte.“2 Es läge nahe, als Ergänzung zum Zitat auf die großen Heldenrollen, mit denen Schiller die Historiengemälde seiner Dramen belebt hat, oder auf „Das Lied von der Glocke“, das unseren Schatz geflügelter Worte um die Zeilen „Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben“ und „drinnen waltet die züchtige Hausfrau“ bereichert hat, hinzuweisen. Doch ich will mich damit begnügen, der gerade zitierten Einleitung zur Antrittsvorlesung nur kurz einen Platz auf der Bühne des weiteren Bedenkens zuzuweisen. Die aufscheinende Vision einer Wissenschaft, die zwischen philosophischen Köpfen geteilt werden muß, damit im Lichte dieser Vision das Studium der Universalgeschichte seinen Zweck erfüllen kann, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Schiller übersetzt hier erstens Universalgeschichte als allgemeine Geschichte; er erfaßt beides im Bild eines Feldes voller Gegenstände des Unterrichts, herrlicher Muster zur Nachahmung, wichtiger Aufschlüsse, reicher Quellen edelsten Vergnügens und sieht im Kreis der Geschichte die ganze moralische Welt eingeschlossen. Sich diese Schätze beim Durchwandern des Feldes auf die eine oder andere Weise zu erschließen, lädt Schiller zweitens ausdrücklich den denkenden Betrachter, den tätigen Weltmann, den Philosophen, aber auch jeden ohne Unterschied ein. Eingeschlossen fühlen kann sich damit ein jeder der vortrefflichen jungen Männer, die sich aus edler Wißbegierde im Auditorium zusammengefunden haben und es wohl kaum ablehnen, sich als wirksames Genie für das kommende Zeitalter zu sehen. Schiller bringt drittens mit großer Geste sich selbst als Führer durch das Feld bzw. Vermittler zwischen Gegenstand und Publikum ins Spiel.
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Zwischen Männern der Wissenschaft gibt es ein Geben und Nehmen. Die Nehmenden verpflichten den Gebenden auf Strenge und Wichtigkeit und machen ihm zugleich das Geben zum Vergnügen. Die Gabe, die Schiller zu übermitteln verspricht, ist nichts geringeres als die Wahrheit, und Enthusiasmus für die Wahrheit zu wecken, erklärt er zu seiner Aufgabe. Nicht genug damit, will Schiller schließlich viertens die um ihn versammelten Männer ausdrücklich darauf einschwören, sich durch Geschichte zum Menschen auszubilden. Die Frage, ob Schiller mit seiner Behauptung: „zu den Menschen eben redet Geschichte“, auch andere Menschen als gebildete Männer, vielleicht sogar Frauen, hätte gemeint haben können, ist mehr als nur eine rhetorische Frage. Die Frage zielt auf die Art und Weise, wie Schiller – dem das Lehramt die Aussicht auf dringend benötigte Einnahmen eröffnete – gegenüber seinem Publikum sich selbst als Professor und die Universalgeschichte als Aufmerksamkeit heischenden Gegenstand von Wert darstellte. Schiller hatte noch am 13. Mai seinem Freund Christian Gottfried Körner geschrieben, er sei „nicht ohne Verlegenheit, öffentlich zu sprechen“, wolle diese aber noch „ganz überwinden“.3 Am 28. Mai berichtete er Körner, er habe nun „endlich das Abentheuer auf dem Katheder rühmlich und tapfer bestanden ... Ob ich gleich nicht ganz frey von Furcht war, so hatte ich doch an der wachsenden Anzahl Vergnügen und mein Muth nahm ehr zu. Ueberhaupt hatte ich mich mit einer gewissen Festigkeit gestählt ... Mit den ersten zehn Worten, die ich selbst noch fest aussprechen konnte, war ich im ganzen Besitz meiner Contenance, und ich las mit einer Stärke und Sicherheit der Stimme, die mich selbst überraschte.“ Schiller berichtete mit sichtlichem Vergnügen über seine triumphale Eroberung des Publikums, aber gleichzeitig auch über den „Geist des Neides“ in Jena und vor allem über seine eigene Beunruhigung, „daß zwischen dem Catheder und den Zuhörern eine Art von Schranke ist, die sich kaum übersteigen läßt. ... Keine Möglichkeit sich, wie im Gespräch, an die Fassungskraft des andern anzuschmiegen.“4 Der Wissenschaftsgestus verlangte offenbar diese Schranke zwischen dem Katheder und den Zuhörern, um die mit pflichtgetreuer Strenge und Wichtigkeit verkündeten Wahrheiten mit Wert auszustatten. Diese Anordnung machte sich bezahlt, sofern zahlende Menschen das Auditorium füllten. Die Wahrscheinlichkeit aber, daß sich das Auditorium füllte, dürfte auch damals um so größer gewesen sein, je deutlicher die vom Professor verkündeten Wahrheiten eine Resonanz fanden in den Relevanz- und Wahrheitsvorstellungen der Zuhörenden.
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FRAGLICHE ALLGEMEINE 5 DER ALLGEMEINEN G ESCHICHTE Am Ende des 20. Jahrhunderts signalisiert das zweifelhafte Andocken an das „Post“ der Moderne, des Strukturalismus, der Histoire mehr die Not-
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wendigkeit, sich von obsolet gewordenen Vorstellungen zu trennen, als die Hinwendung zu aussichtsreicheren Neuformulierungen. Das gilt auch für die Geschichtswissenschaft. Seitdem das im 19. Jahrhundert insbesondere in Deutschland für die Wissenschaft von der Geschichte und der Geschichtsschreibung entworfene und breit akzeptierte Grundkonzept des Nationalstaates und der Konkurrenz von Nationalstaaten seine ordnende und integrierende Kraft für die historische Deutung weltweiter Entwicklungen eingebüßt hat, ist das Nachdenken über neue historiographische Konzepte angesagt.6 In dieser Hinsicht ähnelt die derzeitige Situation der des späten 18. Jahrhunderts.7 Damals ging es um die bürgerliche Neukonzipierung einer Geschichte der Menschheit oder Universalgeschichte. Diese sollte das Nebeneinander beliebig vieler Partikulargeschichten der Herrscherhäuser, Adelsgeschlechter, Familien, Klöster, Städte mit ihrer bunten Vielfalt unterschiedlichster Eingrenzungen und Strukturierungen der Geschichten ablösen.8 Gesucht wurde eine Geschichtsschreibung allgemeineren Sinns und höherer Ordnung, in welcher der heilsgeschichtliche Bezug säkularisiert oder aufgegeben werden konnte. Der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewagte Paradigmenwechsel im Nachdenken über eine Theorie der Geschichte und über Historiographie eröffnete ein extrem offenes, weit über Zeit und Raum ausgreifendes Experimentierfeld. Damit wurde jedoch gleichzeitig die Frage akut, wie die Fülle der Erscheinungen in Raum und Zeit in eine kommunizierbare Ordnung gebracht werden könne. Ein eher hierarchisch gedachtes Verhältnis des Ganzen zu den Teilen, des Allgemeinen zum Besonderen vermochte schließlich auf lange Sicht in der Geschichtsschreibung das wissenschaftliche Tun stärker zu inspirieren als eine Vorstellung von der Gleichrangigkeit des Verschiedenen.9 Die Neukonzipierung der Lehre vom Menschen und der Geschichte als Geschichte der Menschheit, die die sozialen und politischen Hierarchien des Ancien Régime aufbrechen und dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen verpflichtet sein sollte, bediente sich vor allem zweier neuartiger Hierarchisierungen mit weitreichenden Folgen. Als hilfreich erwies sich erstens die im Weltzuschnitt kulturvergleichend eingesetzte Erziehungsmetapher. Diese erlaubte, Europäer des christlichen Abendlandes als Erwachsene einzustufen, zu Erziehern der Menschheit avancieren zu lassen und damit höher zu plazieren als alle anderen, in unterschiedliche Stadien der Menschheitskindheit verwiesene Gruppen von Menschen. So veröffentlichte z.B. Gotthold Ephraim Lessing 1780 die Menschheitsgeschichte als „Die Erziehung des Menschengeschlechts“.10 Er deutete die Menschheitserziehung als Offenbarung und entwarf eine Analogie zwischen der Erziehung des Kindes zum Erwachsenen und den Entwicklungsabfolgen der Menschheitsgeschichte. Ebenso wie andere Theoretiker der Moderne ließ auch Lessing seine Menschen und Individuen zum Knaben, Jüngling und Mann heranwachsen. Auch er überging in den hundert Paragraphen seines kurzen Traktats mit Stillschweigen, daß das Geborenwordensein die Voraussetzung für das Kindsein ist und daß dementsprechend
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die Linie Kind-Mädchen-Jungfrau-Frau ebenso notwendig zum Menschsein gehört wie die Linie Kind-Knabe-Jüngling-Mann. Das übliche Aussparen der weiblichen Menschen-Linie ist um so erstaunlicher, als Geschichte im Abendland nicht als Wiedergeburt, sondern als Abfolge von Menschengenerationen und qua Memoria als Nachleben über den Tod hinaus gedacht wird. Die zweite Hierarchisierung erfolgte durch die – wie Claudia Honegger es genannt hat11 – Ausarbeitung einer Sonderanthropologie des Weibes. Diese machte es möglich, das Allgemeine des Menschseins im männlichen Geschlecht verkörpert zu sehen und demgegenüber dem weiblichen Geschlecht eine spezifische Naturhaftigkeit und damit Sonderstellung in der Kultur zuzuweisen. Das eröffnete den gesuchten Ausweg aus einem Dilemma: das aufklärerische Programm setzte einerseits auf die freie Entfaltung eines jeden Menschen; dessen gesellschaftlicher Platz sollte nicht länger von Geburt an gottgewollt festgelegt sein. Im Widerspruch hierzu aber blieb es andererseits gleichzeitig erstrebenswert, Ungleichheit und Hierarchie als Stützpfeiler der eng mit der Ordnung der Ehe- und Familienverhältnisse verwobenen gesellschaftlichen Ordnung der Geschlechterverhältnisse zu erhalten. Diese Ordnung unbeschadet in die bürgerliche Gesellschaft hinüberzuretten und gegen die Dynamik des modernen Denkens und des sozialen Wandels zu verteidigen, war ein Vorhaben, das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ebenso vielfältig wie anhaltend bearbeitet wurde. Das wünschenswerte oder auch nur erträgliche Maß an Differenz bzw. Gleichheit der Geschlechter, der Geschlechterpositionen und der Lebensweisen von Frauen und Männern wurde zum endlosen Thema diskursiver politischer und alltäglicher Auseinandersetzungen und kultureller Verständigungen. Auch die exklusiv Männern überantworteten Wissenschaften, die im 19. Jahrhundert zunehmend institutionalisiert und ausdifferenziert wurden und gesellschaftliche Definitions- und Gestaltungsmacht entfalteten, widmeten der Stabilisierung der Geschlechterverhältnisse beträchtliche Aufmerksamkeit. Die seit der Spätaufklärung als Wissenschaft vom Menschen entwickelte Anthropologie stellte auch für die wissenschaftliche Fundierung von Geschichtsschreibung und die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft entscheidende Weichen12, indem sie die Geschlechterdifferenz als natürliche, schließlich auch anatomisch an der Ungleichheit der Körper wissenschaftlich fundierte Tatsache ausarbeitete und mit weitreichenden sozialen Bedeutungen ausstattete. Dieses schließlich breit akzeptierte polarisierende Ausdeuten der natürlichen Geschlechterdifferenz für alle Lebensbereiche ermöglichte es, die im späten 18. Jahrhundert vorübergehend auch innerhalb der Wissenschaften höchst virulente Frage nach der Historizität der Geschlechterordnung langfristig stillzulegen und die Geschlechterordnung mit Hilfe der Verweisung an die Natur zu stabilisieren.13 Die Aufmerksamkeit auf das abgrenzbare Besondere des weiblichen Geschlechts zu konzentrieren, bewährte sich darüber hinaus als die Bedingung der Möglichkeit, das Allgemeine des Menschengeschlechts ausschließlich am Menschsein des männlichen Geschlechts abzulesen. Folgerichtig fiel seit Mitte des 19. Jahr-
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hunderts die wissenschaftliche Zuständigkeit für das Besondere des weiblichen Geschlechts der von Medizinern gestalteten neuen Gynäkologie zu, während „der ‚Mensch als Mann‘ von den unterschiedlichsten kognitiven Bemühungen erfaßt und in diversen akademischen Disziplinen verhandelt“ wurde.14 Noch im 20. Jahrhundert war die Denkweise geläufig, die Natur habe vorgegeben, daß in den Geschlechtskörper des männlichen Geschlechts der öffentliche Bereich mit der ihm zugesprochenen Geschichtsmächtigkeit und in den des weiblichen Geschlechts der familiale Bereich mit der ihm zugesprochenen Naturhaftigkeit eingeschrieben sei. Zwischen der Erarbeitung einer allgemeinen Anthropologie plus weiblicher Sonderanthropologie und dem Bestreben, die ältere Tradition der Geschichtsschreibung durch eine im modernen Sinne als Wissenschaft betriebene Geschichtsschreibung zu ersetzen, gab es wohl nicht nur eine zeitliche Parallele, sondern auch einen inhaltlichen Zusammenhang. Dem Programm einer umfassenden Menschheitsgeschichte fehlte es zunächst an Kriterien, historisch Relevantes auszuwählen und ein historisch relevant erachtetes Allgemeines vom historisch irrelevanten Besonderen abzugrenzen. Für die gleichzeitig angestrebte intersubjektive Verständigung über Geschichte aber schienen eine solche Auswahl und Abgrenzung notwendig zu sein. Ein erster Schritt zur Lösung des Problems war es, den Fortschritt der Zivilisation als historische Zielperspektive anzusetzen und in dieser Perspektive bestimmte Gruppen von Menschen zu privilegieren. Für die Aufklärer waren dieses wie selbstverständlich die Menschen weißer Rasse, abendländischchristlicher Zivilisation und männlichen Geschlechts. Ein zweiter Schritt zur Eingrenzung des mit Relevanz ausgestatteten Geschichtsterrains wurde im 19. Jahrhundert getan. Die wissenschaftlich betriebene Historiographie wurde nun immer konsequenter auf die Staaten- bzw. Nationalstaatengeschichte und politische Geschichte verengt; damit wurde zugleich festgeschrieben, daß Geschichte von Relevanz ausschließlich dem im 19. Jahrhundert als männlich ausgewiesenen Wirkungsbereich eigen ist.15 Bei dem, was im 19. Jahrhundert in den Nationalstaaten als universitäre Geschichtswissenschaft etabliert und als wissenschaftlich erforschte Geschichte Rang und Ansehen gewann, kamen Frauen als Geschichtsschreiberinnen überhaupt nicht und als Gegenstand des historischen Interesses nur selten vor. Damit spiegelten und bestätigten die wissenschaftlich fundierten Geschichtsvorstellungen immer erneut die anthropologische Grundannahme, daß das weibliche Geschlecht mehr der auf unwandelbare Dauer angelegten Natur, denn der dem historischen Wandel zugewandten Kultur angehöre. Das Interesse für die Geschichte der Geschlechterbeziehungen brach zwar nicht ab. Es kam seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sogar wieder verstärkt zum Ausdruck in der Kultur- und Sittengeschichte und in den Matriarchats- und Evolutionstheorien. Aber zwischen solchen außerhalb der Geschichtswissenschaft angesiedelten Experimenten und der von Universitätshistorikern verwalteten sogenannten allgemeinen Geschichte gab es eine tiefe Kluft, die jahrzehntelang sicherstellte, daß die Geschichtswissenschaft erfolgreich der historischen Er-
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forschung der Geschlechterordnungen und Geschlechterverhältnisse Wissenschaftlichkeit und Relevanz absprechen konnte. Die im 19. Jahrhundert mit einer neuartigen Verständigung über allgemeine Geschichte und mit der Durchsetzung verbindlicher Konzepte und Methoden einhergehende Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung verbaute langfristig den wissenschaftlichen Zugang zur Geschichte der Geschlechterverhältnisse, der Geschlechterordnungen und der Art und Weise, wie Menschen unter den Normen von Weiblichkeit und Männlichkeit ihr Leben gestalteten. Wie aufwendig es dementsprechend heute ist, hierzu einen Zugang freizuräumen, ist von seiten der historischen Frauenforschung seit Jahren ausgelotet worden.16 Das Problem liegt nicht nur im mühsamen Werben um wissenschaftliche Akzeptanz, sondern auch in der Handhabung und Kritik bewährter Methoden und Konzepte. Der Weg dazu ist gebahnt worden mit dem Ausbruch aus dem eng gewordenen Korsett der politischen Geschichte und der seit den 1960er Jahren erfolgreichen Durchsetzung vielfältiger Formen der Sozialgeschichte. Erstaunlicherweise kam diese innovative Weichenstellung zum Zuge, ohne die Geschlechter-Schranken ernsthaft infragezustellen bzw. überhaupt als Problem wahrzunehmen, obwohl die historische Frauenforschung dieses seit Mitte der 1970er Jahre einforderte. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Geschichte der Geschlechterverhältnisse aber zwingt zunächst einmal zur Radikalisierung der Quellenkritik. Die überlieferten Text- und Bildquellen müssen als Teilstücke der über Sprache, Bilder und Zeichen vermittelten kommunikativen Konstruktion von Geschlechts-Wirklichkeiten entschlüsselt und dekonstruiert werden. Denn da auch die kulturelle Ordnung der Geschlechterverhältnisse dem historischen Wandel unterliegt, aber gleichwohl in ihren Grundregeln möglichst stabil gehalten werden soll, hat sie schon immer der stets erneuerten kollektiven Vergewisserung bedurft. Die Ordnung wurde daher unablässig als Norm und System praxisleitender Verhaltens- und Handlungsanweisungen mit Hilfe einprägsamer Handlungen, Zeichen, Bilder, Vorstellungen, Redewendungen, Sichtweisen bearbeitet. Dabei verstärkte sich im 19. Jahrhundert die auch sonst beobachtbare Tendenz, gesellschaftlich favorisierte Vorstellungen sozial und überregional zu vereinheitlichen, zu verallgemeinern und wissenschaftlich zu bekräftigen. Allen voran die bürgerlichen Eliten verständigten sich über die Ordnung der Geschlechterverhältnisse in neuartigen Wahrnehmungs-, Denk- und Sprechweisen und mit Hilfe generalisierender Verfahren des Definierens, Ordnens und Bewertens. Da diese Eliten gleichzeitig bei der Ausgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse an Einfluß gewannen, konnten sie erfolgreich darauf hinwirken, auch die von ihnen eingeleitete diskursive Amalgamierung von Alltags- und Wissenschaftskommunikation in der öffentlichen Diskussion voranzutreiben. Ein Höchstmaß an kritischer Umsicht ist daher nicht nur bei der Quellenanalyse, sondern auch bei der Weiterverwendung altbewährter Konzepte und Begriffe angesagt. Im Hinblick auf die normative Ordnung und die gelebten Beziehungen der Geschlechter spricht viel für die Annahme, daß im
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19. Jahrhundert das Wechselspiel zwischen den Formen und Inhalten der alltäglichen, der wissenschaftlichen und der künstlerischen Bilder und Ausdrucksweisen besonders intensiv wurde. Die durch Wissenschaft bekräftigten Zuschreibungen durchdrangen im 19. Jahrhundert zunehmend die von den Zeitgenossen nicht eigens reflektierten, da gebräuchlich gewordenen Denk- und Sprechweisen. Kritische Dekonstruktion ist angesagt, wenn in den Quellen vom männlich besetzten weiten Raum des Politischen, des Öffentlichen, des Allgemeinen und dem weiblich besetzten engen Raum des Privaten, des Besonderen, des Unpolitischen die Rede ist. Auch die sozial erwünschte strukturelle Stärke des männlichen und strukturelle Schwäche des weiblichen Geschlechts findet in einer kaum zu überschauenden Vielfalt von Bildern und Redeweisen ihren beredten Ausdruck bis hinein in die Mitteilungen über Einzelheiten des Alltagsgeschehens. Die in der kollektiven Verständigung geschlechtsspezifisch zugewiesenen Fähigkeiten und Zuständigkeiten und die zu Bildern verfestigten Geschlechtervorstellungen finden – keineswegs nur im bürgerlichen Milieu – selbst noch in den individuell formulierten Wünschen und wechselseitigen Wahrnehmungen und Erwartungen der Geschlechter ihren Niederschlag. Die methodischen Probleme geschichtswissenschaftlicher Forschungen über Geschlechterordnungen und Geschlechterverhältnisse spitzen sich weiter zu, sobald wir uns eingestehen, daß das jeweils gebräuchliche Raster der Wahrnehmung und Verständigung immer auch fester Bestandteil der erfahrenen Wirklichkeit war. Für die Erforschung der Frauenseite und der Männerseite der Geschlechtergeschichte kommen noch weitere Schwierigkeiten hinzu. Die gesellschaftlich erwünschte Dominanz und Privilegierung des männlichen Geschlechts hat auch in den Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache, Bilder und sonstigen Medien eine feste Verankerung gefunden, und die im 19. Jahrhundert auch in dieser Hinsicht modernisierten Sprach- und Bildmuster der Kommunikation und Wahrnehmung sind bis heute geläufig geblieben. Während uns bei Texten und Bildern früherer Jahrhunderte deren Fremdartigkeit auffällt und zur Analyse und Kritik herausfordert, behindert uns bei Quellen des 19. Jahrhunderts der Mangel an Distanz zu den damaligen Ausdrucksgewohnheiten häufig so sehr, daß uns das Identifizieren wirkungsmächtiger Konstruktionen nicht immer gelingt. Wenn im 19. und 20. Jahrhundert die Rede davon ist, daß Frauen Hilfsarbeiten leisten, daß sie eines besonderen gesetzlichen Schutzes bedürfen, daß sie gefühlsbetont handeln, daß sie unpolitisch und unorganisierbar sind, dann sind diese nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen überlieferten Aussagen mitnichten schlichte Belege für historische Fakten. Sie vereinheitlichen vielmehr häufig genug höchst divergierende Phänomene diskursiv zu einer als Einheit gedachten Wirklichkeit, indem sie Nicht-Paßförmiges unberücksichtigt lassen.17 Im frühen 19. Jahrhundert wurde die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vorgenommene Suche nach einer neu fundierten Einheit der Geschichte als Universal- und Menschheitsgeschichte ergebnislos abgebrochen. Als sich die moderne Geschichtswissenschaft erfolgreich als Universitätsdisziplin
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etablierte, gereichte es ihr zum Vorteil, daß sie sich um Nation und Nationalgeschichte als organisierendes Prinzip gruppierte und damit für das geschichtswissenschaftliche Forschen und Darstellen handliche und identifikatorisch wirksame Prinzipien der Sinnstiftung, der Grenzziehungen, der Auswahl, kurzum der Hierarchisierung dessen, was das Relevante und was das Irrelevante, was das Höhere und was das Niedere, was das Gestaltende und Obsiegende, was das Verfallende und Vergehende usw. sei, gewann. Dieser nationalgeschichtlichen Ausrichtung lag bis in die 1970er Jahre unwidersprochen außerdem die historiographische Zentralperspektive weißhäutiger Mittelschichtmänner zugrunde. In den USA wird seit mehr als zwei Jahrzehnten nachdrücklich daran gearbeitet, den race und gender bias der Geschichtswissenschaft aufzudecken und zu überwinden. In der Bundesrepublik werden diese Herausforderungen äußerst zögernd aufgenommen und wegen ihrer weitreichenden Konsequenzen eher vorbeugend abgewehrt als theoretisch diskutiert.
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Ich halte es für dringlich, sehr viel kritischer als bisher nachzufragen, was die in der Geschichtswissenschaft wirkungsmächtige Fiktion einer Einheit der Geschichte geleistet hat und weiterhin zu leisten vermag bzw. was sie verstellt hat und zukünftig nicht länger verstellen sollte. Es ist an der Zeit, über diese Fragen sehr viel offener und offensiver als bisher zu diskutieren. Ich schlage vor, statt der bisherigen Einheit die Vielheit der Geschichte als wohldurchdachtes historiographisches Programm auszugestalten. Die NichtEinheit der Geschichte zu akzeptieren und in der Wissenschaft produktiv zu gestalten heißt, die vielen Geschichten lokaler ebenso wie weltweiter Prozesse des historischen Wandels gerade um ihrer Widersprüchlichkeit, um ihrer Uneinheitlichkeit, um ihrer Differenz willen zu vergegenwärtigen. Nicht nur die Uneinheitlichkeit von Zeiten und Räumen, sondern auch die nach Herkunft und Lebenssituation ausgeprägte Unterschiedlichkeit von jungen und alten Menschen, von Frauen und Männern zusammen mit der Vielfalt der Möglichkeiten und Interessen der im historischen Zeitverlauf handelnden und sinnstiftenden Subjekte gilt es sehr viel entschiedener als bisher zum Zentrum wissenschaftlich fundierter Geschichtsdarstellung zu machen. Dieses Programm fordert dazu heraus, auf größere kritische Distanz zur bewährten Hilfskonstruktion der Kollektivsubjekte zu gehen und sich von der Meister-Erzählung zu verabschieden.18 Lenken wir zunächst die Aufmerksamkeit auf die Frage, warum in Deutschland das Konzept der Einheit der Geschichte als Bedürfnis und Notwendigkeit so besonders zäh verteidigt wird. Welchen Nutzen hat die Fiktion einer Einheit der Geschichte? Diese Vorstellung ist eine ebenso grundlegende, wie bewährte Fiktion der Geschichtswissenschaft, die die Erforschung und Darstellung der Geschichte und schließlich auch die Rezepti-
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on und Verbreitung des durch Wissenschaft vorgearbeiteten Geschichtsbildes anleitet. Erst die Denkfolie der Einheit der Geschichte macht es möglich, eine bestimmte Geschichte als allgemeine Geschichte gegenüber diversen Geschichten, die dann als Spezialgeschichten erscheinen, abzugrenzen und zu privilegieren. Durchmustert man die allgemeine Geschichte im Hinblick auf das, was eingeschlossen und was ausgeschlossen wurde, so ist sie unschwer identifizierbar als ein Produkt und ein Medium der Selbstverständigung über kulturelle Hegemonie. Männer weißer Hautfarbe im besten Lebensalter aus Europa/USA werden in dieser Fiktion des Allgemeinen als historische Subjekte so eindeutig privilegiert, daß es überaus schwierig ist, wenn es denn überhaupt versucht wird, Menschen, die nicht zu dieser historiographisch privilegierten Gruppe zählen, anders denn als Objekte bzw. als Reagierende in diese Geschichte einzubeziehen. Ausgeformt wird dieses Allgemeine üblicherweise in dem Paradigma der Staats- bzw. Nationalstaatsgeschichte. Auch die aktuellen Versuche, eine Europa-Geschichte zu konstruieren, lösen sich bislang nicht prinzipiell vom bewährten Schema. Im Rahmen dieses Paradigmas gelten weitreichende Vorentscheidungen über die Bewertungssysteme, die Methoden der Gegenstands- und Problemformulierung, die Hierarchisierung dessen, was überhaupt Relevanz erhalten soll, was die Haupt- und Nebensachen sind, und schließlich auch über das Deuten und Ordnen dessen, was historisch als relevant und mitteilenswert erachtet wird. Gewiß ist das von der professionellen Geschichtswissenschaft methodisch produzierte Wissen über Geschichte keineswegs monolithisch. Spezialisierungen und ein pluralistisches Nebeneinander unterschiedlicher methodischer Vorgehensweisen und Erkenntnisinteressen sind in der Geschichtswissenschaft durchaus erlaubt. Allerdings werden insbesondere in Deutschland die Grenzen des noch Zulässigen nach wie vor besonders hartnäckig und unter Einsatz aller verfügbaren positionellen und rhetorischen Definitionsmacht verteidigt. Das alte Gebäude der Nationalgeschichte darf zwar zahlreiche Anbauten und vielleicht auch einige weniger gravierende Umbauten erhalten; aber der Charakter des alten Gebäudes soll insgesamt erhalten und auf den ersten Blick erkennbar bleiben. Für gleichberechtigte Parallel- und Neubauten ist das Bauherren-Plazet nicht zu erwarten, wie die Nervosität zeigte, mit der in der Bundesrepublik das Verhältnis zwischen Politikgeschichte und politischer Gesellschaftsgeschichte, zwischen politischer Gesellschaftsgeschichte und Alltagsgeschichte in den letzten Jahrzehnten ausgehandelt worden ist. Warum aber steht das Paradigma der Nationalstaatsgeschichte, die gleichzeitig als allgemeine Geschichte ausgegeben wird, nach wie vor so hoch im Kurs? Zu dieser Frage will ich für die Situation in der Bundesrepublik nur eine Überlegung skizzieren. Das Festhalten an dieser nationalstaatlich verengten Ausformung der Einheit der Geschichte dürfte mit der erstaunlich stabilen Engführung zwischen universitärer Geschichtswissenschaft, Lehrerausbildung und Entwicklung von Schulcurricula zusammenhängen. Die behauptete Einheit der Geschichte erleichtert ganz ohne Frage
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die wissenschaftliche Produktion und Übermittlung verallgemeinerbarer Geschichtsbilder. Solange von der Geschichtswissenschaft eine nationalstaatliche Bringschuld erwartet und bei der Finanzierung der Geschichtswissenschaft aus öffentlichen Geldern auch auferlegt wird, ist die historische Wissenschaft gut beraten, nationale Identität zu bearbeiten, Orientierungswissen anzubieten und eine entsprechende Hierarchisierung und Bewertung von Wissensbeständen vorzunehmen. Im Vergleich zu diesen erwiesenen Leistungen nimmt sich der wissenschaftspolitische Ertrag des von mir vorgeschlagenen Programms der NichtEinheit der Geschichte zunächst dürftig aus. Wenn die nationalstaatliche Einheit als historiographischer Fluchtpunkt aufgegeben wird, dann sind auf dem Schauplatz der nun nicht mehr nationalstaatlich eingegrenzten und gewichteten Geschichte viele konkurrierende Geschichten zu betrachten. Dieses Programm hat ohne Frage seine Risiken und Gefahren. Der heute mit Recht erneut auf die Agenda gesetzte universalhistorische Anspruch schafft zunächst einmal aus sich heraus keine Handhabe, um einerseits den professionellen Dilettantismus und andererseits die pure Beliebigkeit der zur Schau gestellten historischen Ansichten methodisch abzuwehren. Außerdem läßt sich das von mir vorgeschlagene historiographische Durcharbeiten und Diskutieren vieler möglicher Geschichten nicht in der gewohnten Weise für Schulzwecke handlich aufbereiten und darbieten. Solange historische Bildung das Ziel haben soll, ein bestimmtes Quantum historischen Wissens zusammen mit einem Satz von Wertorientierungen zu verankern, ist es einfach, ein Programm der Nicht-Einheit von Geschichte mit dem Vorwurf abzuwehren, hier werde der Unverbindlichkeit das Wort geredet, auf die Auflösung der Geschichte hingearbeitet und historische Bildung unmöglich gemacht. Trotz allem lohnt es den Versuch, die in der geschichtswissenschaftlichen Praxis schon heute immer weniger durchgehaltene Fiktion der Einheit der Geschichte bewußt und begründet aufzugeben, statt weiterhin Symptome der Nicht-Einheit als ein leider offensichtliches Übel stillschweigend hinzunehmen oder die beschwerliche Unübersichtlichkeit der Geschichte zu beklagen. Es ist an der Zeit, endlich die Nicht-Einheit als Programm genauer zu reflektieren, offensiv zu bearbeiten und dabei die primäre Orientierung am Nationalstaat aufzugeben. Neue historiographische Orientierungen sind erforderlich, um den säkularen Prozessen der Globalisierung und Universalisierung von Märkten und Nutzungsweisen für Güter, Arbeit und Kapital, von Wissenschaft, Technik und Kommunikation verstärkt Rechnung zu tragen; um außer den Nationen und Nationalstaaten auch die Internationalität, Regionalität und Ethnizität mit der ihnen angemessenen Bedeutung auszustatten; um für die Menschen, die unter den Bedingungen historischer Zeit ihr Leben ausgestalten, in der Geschichtsdarstellung ausreichend Platz freizuhalten gegenüber den historiographisch häufig übermächtig herausgestellten Strukturen, Institutionen, Kollektivsubjekten und großen Einzelpersönlichkeiten.
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Vor allem aber kommt es darauf an, auf neue Weise die historische Bedeutung von Ungleichheit und Dominanz so zu analysieren und zu vergegenwärtigen, daß in der historischen Analyse und Darstellung das NichtDominante gleichberechtigt berücksichtigt und die historiographische Marginalisierung des Nicht-Dominanten erfolgreicher als bisher abgewehrt wird. Diese Aufgabe kann mit Aussicht auf Erfolg nur dann angegangen werden, wenn an Stelle der Einheit der Geschichte als orientierendes Konzept die Nicht-Einheit der Geschichte konsequent reflektiert würde. Denn in das Konzept der Einheit der Geschichte ist Hierarchie als ordnendes Prinzip eingelassen, und dieses Prinzip privilegiert die Logik des und der Dominierenden. Das eben Gesagte ließe sich am Beispiel der Weltgeschichte der kolonialen bzw. imperialistischen Durchdringung der Welt verdeutlichen. Diese Geschichte ist jahrzehntelang aus der Perspektive des kolonisierenden Abendlandes geschrieben worden. Wer heute sicherstellen will, daß sich die Geschichte der in den ehemaligen Kolonien und Halbkolonien lebenden Menschen nicht weiterhin in der kolonialen Situation erschöpft und verflüchtigt, muß mit den überlieferten Sichtweisen auch die bereits ausgearbeiteten historischen Fakten und deren Bewertung einer so grundlegenden Kritik und Neuformulierung unterziehen, daß das tradierte Gebäude der modernen Kolonialgeschichte wahrscheinlich zusammenstürzt.19 Die Einheit der sogenannten allgemeinen Geschichte ist bislang um den Preis der autoritativen Entscheidung über das, was als historisch relevant und dominant zu gelten hat, erkauft worden. Dieser Preis ist viel zu hoch, um als historiographische Notwendigkeit einfach hingenommen zu werden. Eine kritische Bilanzierung ist überfällig. Sie muß offenlegen, was auf der Kostenseite zu verbuchen ist, wenn um der Konstruktion einer allgemeinen Geschichte willen über den Ausschluß aus der Geschichte bzw. über den Einschluß allein nach Maßgabe der Dominierenden entschieden wird. Die Entscheidung darüber, was als geschichtsmächtig in der historischen Erinnerung aufbewahrt und was als unwichtig dem Vergessen anheimgegeben werden soll, ist in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen eine politische Entscheidung. Im folgenden soll die gerade formulierte Kritik an der Einheit der Geschichte und den zu ihrer Konstruktion eingesetzten Prinzipien und Verfahren am Beispiel der Geschichte des „anderen Geschlechts“ und der Geschichte der Geschlechterverhältnisse näher erläutert werden. Von den Wertorientierungen und normativen Postulaten der Civil Society und der Aufklärung ist seit dem 18. Jahrhundert und bis heute immer wieder, sei es emphatisch oder skeptisch-distanziert, die Rede. Dabei bleibt allerdings üblicherweise ausgeblendet, daß seit dem 18. Jahrhundert beträchtliche Anstrengungen darauf gerichtet wurden, alle Menschen weiblichen Geschlechts prinzipiell nicht gleichberechtigt zu den naturrechtlich begründeten Persönlichkeits- und Freiheitsrechten und den Möglichkeiten vermehrter Partizipation und Selbstbestimmung zuzulassen. Die Losung der Französischen Revolution „Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit“ war damals so und nicht an-
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ders gemeint. Frauen sollten weiterhin der Herrschaft und der Vertretung durch den Vater, Ehemann, Bruder subsumiert bleiben.20 Seit dem 18. Jahrhundert wurde für Frauen der Platz in der modernen Gesellschaft bewußt anders zugeschnitten als der für Männer. Um diesen Zuschnitt zu verallgemeinern und zu verteidigen, wurde in immer neuen Diskursen daran gearbeitet, Frauen aus der Geschichte herauszunehmen, der Natur zu überantworten und sie dergestalt in das System der Arbeitsteilungen einzufügen, daß für sie nur ein gleichsam angeborener „natürlicher Beruf“ möglich erschien, während für Männer das Erlernen und Ausüben einer Profession angesagt war. Frauen hatten als Menschen weiblichen Geschlechts im Gattungswesen aufzugehen und deshalb – bis heute, wie der Streit um den § 218 zeigt – Verzicht zu leisten auf einen gleichermaßen umfassenden Anspruch auf Autonomie und Selbstbestimmung, wie er Menschen männlichen Geschlechts zugestanden worden war. Auch nach Auflösung der Ständegesellschaft blieben Frauen bis ins 20. Jahrhundert in weit stärkerem Maße als Männer sozial und wirtschaftlich auf Gedeih und Verderb ihrer jeweiligen familialen Standeszugehörigkeit unterworfen. Der Familienstand entschied über die gesellschaftliche Position von Frauen. Für Ehefrauen bedeutete der Verlust des Ehemannes durch Scheidung, Eheverlassen oder Verwitwung, zumal wenn Kinder zu versorgen waren, in den meisten Fällen einen jähen wirtschaftlichen und sozialen Absturz. Der Status der lebenslang unverheirateten Frau blieb ebenfalls charakterisiert durch soziale und wirtschaftliche Diskriminierung. Unabhängig von Alter und Familienstand wurden Frauen von der partizipativen Teilhabe an der bürgerlichen Öffentlichkeit ausgeschlossen. Der für sie gesellschaftlich einzig akzeptable Ort sollte die Privatheit der Familie sein. Dieser im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend umstrittene Zuschnitt der bürgerlichen Geschlechterordnung und die bis zur Gegenwart unablässig erfolgte Bearbeitung der kulturellen Geschlechterdifferenz, die unverhohlen auf dauerhafte Privilegierung der Individuen männlichen Geschlechts zielte, war konstitutiv für die bürgerliche Gesellschaft. Dennoch oder richtiger deshalb gehört die Geschichte der Geschlechterordnungen und Geschlechterverhältnisse bis heute zu den aus der vorgeblich allgemeinen Geschichte ausgegrenzten Themen. Daran hat auch die sozialgeschichtliche Einfärbung der allgemeinen Geschichte kaum etwas geändert. Diese Ausgrenzung ist systematisch angelegt. Daher ist es nicht möglich, das heute durchaus wahrgenommene Defizit durch eine einfache Ergänzung des tradierten Geschichtsbildes zu beheben. Frauen- und Geschlechtergeschichte erschöpft sich nicht in zusätzlichen Bindestrich-Geschichten, die in einem der beliebig zahlreichen Nebengebäude der allgemeinen Geschichte einziehen und gefahrlos geduldet werden könnten. Ich will in drei Punkten erörtern, inwiefern es nicht mit An- und Umbauten an einer als Einheit gedachten allgemeinen Geschichte getan sein kann und worin die Herausforderung des Neu-Konstruierens besteht, auf die ich mit dem Programm der Nicht-Einheit der Geschichte zu antworten versuche.
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Erstens: Eine Geschlechtergeschichte kommt nicht umhin, den mit der modernen Geschichtswissenschaft realisierten Ausschluß des weiblichen Geschlechts aus der Geschichte und die Überhöhung des männlichen Geschlechts zur Allgemeinheit des Menschengeschlechts selbst direkt zur Sprache zu bringen.21 Dazu bedarf es u.a. einer erneuten kritischen Erforschung der Geschichte der politischen Rhetorik und des wissenschaftlichen Definierens. Das kritische Sichten der von Zeitgenossen und später von Gesellschaftswissenschaftlern und Historikern benutzten Sprache mit allen mehr oder weniger reflektiert benutzten Begriffen, Konzepten und Theorien eröffnet ein weites Feld der Nachforschungen. Aufschlußreiche Ergebnisse solcher Nachforschungen liegen bereits in großer Zahl vor. Beispielsweise ist die mit einem deutlichen Geschlechterbias versehene begriffliche und konzeptionelle Dichotomisierung der modernen Wahrnehmung von Gesellschaft in ihren Erscheinungsformen, Ursachen und Wirkungen untersucht worden. Es gibt seitdem gute Gründe, die konzeptionellen Einteilungen in Privatheit und Öffentlichkeit, in Natur und Kultur, in Emotionalität und Rationalität, in das Besondere und das Allgemeine etc. immer auch als Medium zur politischen Gestaltung von Geschlechterverhältnissen zu begreifen.22 Auch pflegt der übliche Gebrauch von scheinbar geschlechtsneutralen Kollektivnormen – der Mensch, das Individuum, die Jugend, der Arbeiter etc. – sprachlich darüber hinwegzutäuschen, daß es meistens einzig um die männliche Variante des Kollektivs geht und daß die weibliche Variante allenfalls als Abweichung von der männlichen vermessen wird. Gefragt worden ist auch, was es für die jeweilige historische Zeit und für das von dieser Zeit entworfene Geschichtsbild bedeutet hat, daß Menschen weiblichen Geschlechts in der Regel nur im Zusammenhang mit den für Menschen männlichen Geschlechts zentral erachteten Räumen und Handlungszusammenhängen und aus deren Perspektive wahrgenommen und fast ausnahmslos in deren Sprache vorgestellt werden. Die in früheren historischen Zeiten ausgeprägt anders gearteten Aktivitäten, Vorstellungen, Interessen und Erfahrungen von Frauen mit größerer Aufmerksamkeit zu untersuchen und darüber in angemessener Sprache zu berichten, ist ein erst ansatzweise eingelöstes Desiderat. Es ist aber durchaus möglich, mit der auch in den Quellen vorherrschenden Wahrnehmung und Sprache zumindest sehr viel kritischer als bisher umzugehen und die möglichen Auswirkungen der auch sprachlich manifesten Männer-Dominanz im öffentlichen Raum genauer zu überdenken. Das Gesagte läßt sich anhand von Beispielen illustrieren: • Für die Geschichte der Weltkriege liegt es auf der Hand, daß Frauen und
Männer die Ereignisse an unterschiedlichen Orten mit höchst verschiedenen Interessen und Erfahrungen durchlebt haben. Gleichwohl bleibt es nach wie vor schwierig, gleichzeitig die Geschichte der Front und der Heimatfront ebenso sehr als Alltags- wie als Kriegsgeschichte zu erfassen.
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• Einen Einblick in die Effekte der Einschluß-Ausschluß-Verfahren bietet
die Geschichte der Frauenbewegung. Die von der alten Frauenbewegung frühzeitig unternommenen Versuche, die eigene Geschichte zu tradieren, fielen für Jahrzehnte dem historischen Vergessen anheim. Das Ausmaß des Vergessens wurde in den 1970er Jahren deutlich, als in der neuen Frauenbewegung die überraschende Entdeckung gemacht wurde, daß wichtige feministische Diskussionen, Kontroversen, Konflikte, ja selbst Phantasien und Zukunftsentwürfe schon einmal auf hohem Niveau durchgespielt worden waren. • Der Prozeß des historisch-politischen Konstruierens von weiblicher Ohnmacht und Schutzbedürftigkeit erweist sich bei genauerem Hinsehen als wichtiges Medium der Verständigung über die Herausforderungen des sozialen Wandels. Das Medium erlaubte den konstruierenden und den mit den Konstruktionen bedachten Menschen männlichen und weiblichen Geschlechts innerhalb geordneter Geschlechterverhältnisse zu interagieren und die gesellschaftlichen Verhältnisse in einer für die Ausgestaltung der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, aber auch für das Leben einzelner Menschen höchst folgenreichen Weise zu bearbeiten. Zweitens: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Frau und Familie gesellschaftspolitisch zu einer „natürlich“ genannten Einheit verschmolzen. Diese gesellschaftspolitische Plazierung der Menschen weiblichen Geschlechts hatte weitreichende Konsequenzen. Die Frau-Familie-Einheit blieb in der Phase der Entfaltung der modernen Öffentlichkeit ohne eigene Stimme und Vertretung. Dementsprechend konnte sich die politische und historiographische Aufmerksamkeit um so freier auf Individuen männlichen Geschlechts richten. Deren Vergesellschaftung wurde mit Interesse verfolgt, aus deren Sicht wurden die große und die kleine Politik nebst ihren neuen Spielregeln der erhöhten politischen Partizipation, aber auch die Mechanismen der Konkurrenz und des Marktes analysiert und kommentiert.23 Es hat zweifellos die Historiographie der „allgemeinen“ Geschichte beträchtlich erleichtert, daß aus der Geschichte des sozialen Wandels alle von Tag zu Tag erforderlichen gesellschaftlichen Arbeiten zur generativen, physischen und psychischen Reproduktion der Menschen konsequent ausgeblendet und in den Schatten des nicht geschichtsmächtig erachteten Privaten und der Natur verwiesen wurden. Richtete sich die Aufmerksamkeit überhaupt einmal auf die Familie, dann interessierte die Familie nur als eine Einheit unter der Regie ihres männlichen Oberhauptes. Das aber hieß, geflissentlich die konfliktträchtige Interaktion zwischen den Menschen einer familialen und verwandtschaftlichen Solidargruppe zu übersehen und die gesellschaftspolitische Relevanz der in der bürgerlichen Gesellschaft immer auch geschlechtsspezifisch ausgeprägten Ungleichheit der Zuständigkeiten, Chancen, Ressourcen und Einkünfte stillschweigend zu übergehen. In den öffentlichen Diskursen wirkten Alltagswissen und Wissenschaft zusammen, um die unterstellte Naturhaf-
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tigkeit der Einheit Familie-Frau und deren natürliche Subsumtion unter das männliche Familienoberhaupt unhinterfragt zu belassen und immer erneut fest zu verankern. Noch immer gehört es nicht zum Kanon des tradierten politischen und historischen Wissens, die in den Debatten über Sittlichkeit, Volk und Rasse jahrzehntelang so erfolgreich propagierte Beschränkung der autonomen Persönlichkeit weiblichen Zuschnitts als Teil der Geschichte der bürgerlichen und nachbürgerlichen Gesellschaft zu begreifen. Unser Geschichtsbild vermittelt derzeit nicht einmal eine Ahnung davon, daß und mit welcher Intensität die familiale Organisation der Menschen und die Ordnung der Geschlechterverhältnisse unablässig ideologisch und gesellschaftspolitisch bearbeitet worden sind. Das historische Interesse verstärkt auf diese systematisch ausgeblendeten oder unterbelichteten Bereiche und Ebenen von Geschichte lenken zu wollen, heißt der sogenannten allgemeinen Geschichte ihren bisherigen Platz streitig zu machen und deren jahrzehntelang eingeübte konsequente Fixierung auf männerdominierte Öffentlichkeit zu kritisieren und auszuhebeln. Drittens: Die bürgerliche Gesellschaft und ebenso der Wohlfahrtsstaat kapitalistischer oder sozialistischer Provenienz haben das soziale Ordnungsgefüge der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung vielfältig genutzt. Trotzdem wird die Arbeitsteilung nach Geschlechtern bis heute in der allgemein genannten Geschichte kaum der Erwähnung für wert befunden und damit wirksam der Anschein bekräftigt, es handele sich um eine ahistorische, natürliche Selbstverständlichkeit. Allenfalls die „Anomalien“ der männlichweiblichen Arbeitsteilungen in Kriegszeiten werden angesprochen, um dann nur um so nachdrücklicher die natürliche Normalität der Friedenszeiten zu erhärten. Mit welcher Macht und um welchen Preis diese angebliche Natürlichkeit der Verhältnisse immer wieder dem historischen Wandel abgetrotzt worden ist, wer sich aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln der Verteidigung dieser als natürlich erachteten Ordnung jeweils angenommen hat und welche Konsequenzen diese Arbeitsteilung nach Geschlechtern für die einzelnen Menschen und die Gesellschaft hatte, sind Fragen, die innerhalb des für die allgemeine Geschichte abgesteckten Rahmens und der damit vorgegebenen Relevanzkriterien kaum zu erforschen und darzustellen sind. Auch hier kann ein Beispiel die historische Relevanz des Ausgeblendeten kurz beleuchten. Die heftigen Kontroversen um die Pflegeversicherung haben eine Ahnung davon vermittelt, welche Verteilungskonflikte und politischen Kontroversen heraufbeschworen werden, wenn der Umbau unseres wohlfahrtsstaatlich flankierten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems akut wird, weil Frauen nicht länger bereit sind, sich in die bislang vergleichsweise einfach durchgesetzte ungleiche Verteilung der gesellschaftlichen Chancen und Zugänge zu Ressourcen einzufügen. Wenn Frauen aber nicht mehr bereit sind, um jeden Preis – oder besser ohne Preis – innerhalb der Familie die häusliche Alten- und Kinderpflege zu übernehmen und die über den Arbeitsmarkt vermittelten Pflegearbeiten zu den üblichen Niedrigpreisen auszuführen, dann ist heute endlich der Zeitpunkt gekommen, auch in der histo-
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rischen Retrospektive die tatsächlichen sozialen Kosten der modernen Wirtschaftsgesellschaft auf neue Weise zu kalkulieren und für deren angemessene historiographische Berücksichtigung die erforderlichen theoretischen, methodischen und konzeptionellen Voraussetzungen zu schaffen. Die im Hinblick auf Geschlechtergeschichte für drei Bereiche angeführten Beispiele mögen zur Demonstration der Unzulänglichkeiten des derzeitigen historiographischen Zuschnitts einer allgemeinen Geschichte ausreichen. Die aktuelle Situation fordert dazu heraus, die Geschichte der Geschlechterordnungen, der Geschlechterverhältnisse und der von Weiblichkeits- und Männlichkeitszuschreibungen beeinflußten Menschen historiographisch so zur Geltung zu bringen, wie es ihrer de facto großen gesellschaftlichen Relevanz entspräche. Dafür ist die Geschichtswissenschaft mit ihrer bisherigen Ausrüstung denkbar schlecht vorbereitet. Nachrangig eingestufte Ergänzungen zur derzeit als allgemein erachteten Geschichte – neuere Schulgeschichtsbücher bieten bisweilen ein Sonderkapitel „Frauen“ an – bekräftigen nur die gängigen Relevanzentscheidungen zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen der Geschichte. Es ist überfällig, diese Relevanzentscheidungen selbst infrage zu stellen. Das dem nationalstaatlichen Paradigma verpflichtete Konzept einer allgemeinen Geschichte wird sich mit Sicherheit als zu eng erweisen, sobald ernsthaft versucht wird, neben den Männern nun gleichberechtigt auch die Frauen mit ihren Handlungen und gesellschaftlichen Räumen historiographisch zu berücksichtigen. Es wäre allerdings eine Illusion zu glauben, daß mit dem heute in der Geschichtswissenschaft verfügbaren Handwerkszeug und angesammelten Können schnell eine wissenschaftlich akzeptable Frauen- und Männergeschichte ausgearbeitet und durch deren Kombination zur Geschlechtergeschichte dann gleichsam automatisch eine für die Zukunft attraktivere Form der allgemeinen Geschichte geschaffen werden könne. Dem steht zunächst einmal das im Vergleich zur Frauengeschichte auffallend große Forschungsdefizit auf Seiten der Männergeschichte entgegen. Die historische Frauenforschung neigte anfangs dazu, die derzeit allgemein genannte Geschichte als Männergeschichte zu kritisieren. Inzwischen ist längst hinreichend deutlich geworden, daß diese Gleichsetzung falsch ist. Es bleibt für viele Bereichen überhaupt erst einmal zu untersuchen, was es historisch bedeutet hat, daß Männer stets auch als Männer gehandelt haben, daß sie sich immer wieder mit Männlichkeitsvorstellungen auseinandergesetzt und ihre Definitionsmacht als Beamte, Politiker, Gewerkschafter, Unternehmer, Arbeiter usw. nicht zuletzt dazu genutzt haben, um Weiblichkeitszuschreibungen vorzunehmen und zu stabilisieren und sich mit allen verfügbaren Mitteln zu wehren, wo immer die gesellschaftliche Männlichkeitsposition bedroht erschien. Doch es ist nicht allein das große Forschungsdefizit insbesondere für den Bereich der Männergeschichte, was den schnellen Höhenflug zur neuartigen Einheit einer als Geschlechtergeschichte konzipierten allgemeinen Ge-
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schichte behindert. Probleme macht vielmehr bereits die Errichtung einer sicheren Startposition. Denn die lange erprobten grundlegenden Kategorien und Konzepte, mit deren Hilfe die sozialen und historischen Gesellschaftswissenschaften eine Interpretation von Wirklichkeiten versucht haben, sind eher dazu angetan, die spannungsreiche Dynamik der Geschlechterbeziehungen zu verdecken als diese aufzudecken. Für eine Geschlechtergeschichte sind Begriffe und Konzepte wie Klasse, Schicht, Qualifikation, Professionalität, Partizipation, Öffentlichkeit, gesellschaftliche Organisation etc. höchst problematische Einsätze, weil sie die Positionen, Interessen und Handlungen von Männern bzw. von männlich konnotierten Bereichen deutlich privilegieren. Sie sind daher schwerlich geeignet, die Aktivitäten, Interessen, Politiken von Frauen gleichberechtigt zu analysieren und historisch zu bewerten. Die Gefahr ist groß, den in diese Konzepte eingebauten Geschlechter-Bias in der historischen Analyse unreflektiert zu reproduzieren. Eine erneuerte Geschichtsschreibung, die beide Geschlechter gleichberechtigt in der vergegenwärtigten Geschichte berücksichtigen will, wird daher ihr Ziel verfehlen, wenn sie sich der altbewährten Konzepte und Begriffe unkritisch bedient. Vor allem die Sprache und die Organisationsformen des Politischen sind davon durchdrungen, daß alle nicht primär auf Menschen männlichen Geschlechts zielenden Belange keine angemessene Sprachform finden und zum „Nebenwiderspruch“ verkommen. Es resultiert mit Sicherheit nicht aus der Logik der Sache, sondern aus dem konzeptionellen Zuschnitt unserer Wahrnehmungen, daß Frauen als Verkörperung des Unpolitischen und die den Frauen zugewiesenen Bereiche in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik als Randbereiche gelten und daß diejenigen, die sich mit derartig „Marginalem“ beschäftigen, ihrerseits Gefahr laufen, marginalisiert zu werden. Es ist offensichtlich kein Zufall, daß die gängige Einteilung politischer Landschaften in rechte und linke, radikale und gemäßigte Entscheidungen, Positionen und Parteien ihren Dienst versagt, sobald es um Probleme geht, die die Geschlechterordnung tangieren. Denn diese sind quer gelagert zur Ordnung des Politischen. Sobald die bislang als irrelevant ausgegrenzte „Privatheit“ wieder stärker der historisch relevant erachteten „Öffentlichkeit“ angenähert und dadurch aufgewertet und der bequeme Rückzug auf die vermeintliche Natürlichkeit der Geschlechterordnungen konsequent aufgegeben werden soll, wird es mit einem einfachen Anbau an das bestehende Gebäude der allgemeinen Geschichte nicht getan sein. Für die erforderlichen tiefgreifenden Umbauten werden auch die alten Grundmauern verändert werden müssen. Sobald jedoch dieses geschieht, wird es allerdings kaum mehr zulässig sein, die allgemeinen und die besonderen Interessen, die öffentlichen und die privaten Belange fein säuberlich gegeneinander abzugrenzen, hierarchisch zu ordnen und zu bewerten. Nichts vermag dann noch die gesellschaftspolitische und die diese getreulich nachzeichnende historische Gewißheit zu legitimieren, daß es stets und immer in der Geschichte etwas Wichtigeres und historisch Bedeutenderes gegeben hat und geben wird, als Menschen, die
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sich mit ihrer fürsorgenden Arbeit der direkten Bedürfnisse anderer Menschen annehmen. Die Schwierigkeiten, im Rahmen der behaupteten Einheit der allgemeinen Geschichte die bislang ausgegrenzten bzw. abgedrängten oder nachgeordneten Bereiche von Geschichte gleichberechtigt zum Zuge kommen zu lassen, sind groß und vermutlich kaum überwindbar. Was kann demgegenüber ein – meines Erachtens notwendiger denn je gewordenes – Programm der Nicht-Einheit der Geschichte leisten? Bislang hat die geschichtswissenschaftliche Favorisierung bestimmter Analyse- und Deutungskonzepte große Bereiche möglicher Geschichte konsequent zum Verschwinden gebracht oder zum allenfalls sinnigen Beiwerk degradiert. Bei der wissenschaftlichen Bearbeitung der Geschichte wurde beiläufig mitentschieden, bestimmte Bereiche, die zweifellos zur Geschichte gehören, gleichsam dem Naturzustand anheimzugeben. Obwohl diese hierarchisierenden historiographischen Ordnungsverfahren schon längst ihre ideologische Legitimierung eingebüßt haben, funktionieren sie in der Praxis der Geschichtsforschung und Geschichtsübermittlung weiter, ohne prinzipieller Kritik ausgesetzt zu sein. Demgegenüber zielt das von mir vorgeschlagene Programm der NichtEinheit von Geschichte auf eine historische Konstruktion mehrsinniger Relevanzen. Die Vieldeutigkeit in den historischen Bildern, Sprachen, Einrichtungen, Erfahrungen und Handlungen soll herausgearbeitet, gedeutet und historisch so vergegenwärtigt werden, daß das Nebeneinander, Ineinander oder Gegeneinander von gleichzeitig beobachtbarer Differenz oder auch Gleichheit historisch gleichermaßen berechtigt aufscheint. Gefordert ist damit eine erstrebenswerte und außerhalb Deutschlands im übrigen auch bereits mit aufregenden Ergebnissen und unbestrittenen Erfolgen weit entfaltete Innovation. Das um der Einheit der Geschichte willen so unbekümmert vorgenommene und immer wieder mit definitorischer Macht bestätigte Einund Ausgrenzen soll nicht länger fortgesetzt, sondern in seinen Kosten kritisch diskutiert werden. Die größte Aufmerksamkeit aber wird zukünftig darauf zu richten sein, neue, weniger hierarchisierend ausgelegte Prinzipien und methodische Verfahren zu entwickeln und durch deren Einsatz zu beweisen, daß diese besser als die alten geeignet sind, Geschichte überzeugend zu bearbeiten, zu ordnen und zu vergegenwärtigen.
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ANMERKUNGEN 1
Vgl. Dichter über ihre Dichtungen. Friedrich Schiller. Von den Anfängen bis 1795, hg. von Bodo Lecke, München 1969, S. 462-464. 2 Schillers Werke, Nationalausgabe Bd. 17, Weimar 1970, S. 359 f. 3 Dichter über ihre Dichtungen, hg. von Lecke, S. 461. 4 Ebd., S. 463-466. 5 Meine folgende Argumentation bezieht sich in erster Linie auf den deutschsprachigen Raum. Vorüberlegungen habe ich zuerst in der Evangelischen Akademie Loccum vorgestellt, vgl. Karin Hausen, „Einheit und Perspektive der Geschichtswissenschaft in der neu angebrochenen Epoche der Unübersichtlichkeit. Die Nicht-Einheit der Geschichte als Programm“, in: Historische Orientierung nach der Epochenwende, oder: Die Herausforderungen der Geschichtswissenschaft durch die Geschichte, hg. von Jörg Calließ, Loccumer Protokolle 71, 1993, S. 167-182; fortgeführt habe ich diese in meinem Nachwort zur deutschen Ausgabe der Geschichte der Frauen, Bd. 4: 19. Jahrhundert, hg. von Geneviève Fraisse und Michelle Perrot, Frankfurt a.M./New York 1994, S. 607-621. 6 Vgl. die ausgezeichnete Skizze der aktuellen Forschungsdiskussion von Christoph Conrad und Martina Kessel, „Geschichte ohne Zentrum“, in: Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, hg. von Christoph Conrad und Martina Kessel, Stuttgart 1994, S. 9-36; sowie Ute Daniel, „Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 48 (1997), S. 195-219, 259-278. Lothar Gall, „Das Argument der Geschichte. Überlegungen zum gegenwärtigen Standort der Geschichtswissenschaft“, in: Historische Zeitschrift, 264 (1997), S. 1-20, umgeht demgegenüber mit seinem Vorschlag, im Menschen die Einheit der Geschichte wiederzufinden, die offensichtlich gewordenen Probleme. 7 Vgl. Horst Walter Blanke, Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart 1991; Wolfgang Hardtwig, Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 1391. 8 Vgl. Memoria als Kultur, hg. von Otto Gerhard Oexle, Göttingen 1995; Heide Wunder, „‚Gewirkte Geschichte‘. Gedenken und ‚Handarbeit‘. Überlegungen zum Tradieren von Geschichte im Mittelalter und zu seinem Wandel am Beginn der Neuzeit“, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a.M./Leipzig 1994, S. 324-354. 9 Vgl. insbes. Peter Hanns Reill, „Das Problem des Allgemeinen und des Besonderen im geschichtlichen Denken und in den historiographischen Darstellungen des späten 18. Jahrhunderts“, in: Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichte und Sozialwissenschaften, hg. von Karl Acham und Winfried Schulze, München 1990, S. 141-168. 10 Gotthold Ephraim Lessing, Sämtliche Werke, Bd. 13, hg. von Karl Lachmann und Franz Muncker, Reprint Berlin/New York 1979, S. 413-436. 11 Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, Frankfurt a.M./New York 1991.
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12 Dies wird üblicherweise übersehen, so z.B. von Jörn Rüsen, „Von der Aufklärung zum Historismus“, in: Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens, hg. von Horst Walter Blanke, Jörn Rüsen, Paderborn 1984, S. 15-59. 13 Barbara Stollberg-Rilinger, „Väter der Frauengeschichte? Das Geschlecht als historiographische Kategorie im 18. und 19. Jahrhundert“, in: Historische Zeitschrift, 262 (1996), S. 39-71, zeigt, wie das universalgeschichtliche Konzept des Kulturfortschritts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Geschlechtergeschichte durchaus zuließ, während diese im 19. Jahrhundert in den verfestigten Grenzen der Fachwissenschaft keinen Platz mehr fand. 14 Honegger, Die Ordnung der Geschlechter, S. 211. 15 Zu den Übergängen jüngst Matthias Dümpelmann, Zeitordnung. Aufklärung, Geschichte und die Konstruktion nationaler Semantik in Deutschland 1770-1815, Berlin 1997, bes. S. 247 ff. 16 Eine einflußreiche Zusammenführung der methodischen Erfahrungen und theoretischen Diskussionen erarbeitete Joan Wallach Scott, „Gender: A Useful Category of Historical Analysis“, in: American Historical Review, 91 (1986), S. 10531075; erneut abgedruckt in: Joan Wallach Scott, Gender and the Politics of History, New York 1988, S. 28-50; interessant dazu die Besprechung von William H. Sewell Jr., in: History and Theory, 29 (1990), S. 71-82. 17 Als Versuch, Denkgewohnheiten zu hinterfragen, vgl. Karin Hausen, „Wirtschaften mit der Geschlechterordnung. Ein Essay“, in: Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, hg. von Karin Hausen, Göttingen 1993, S. 40-67. 18 Ähnliche Überlegungen entwickelt Wolfgang J. Mommsen, „Geschichte und Geschichten: Über die Möglichkeiten und Grenzen der Universalgeschichtsschreibung“, in: Saeculum, 43 (1992), S. 124-136. 19 Vgl. z.B. den Forschungsbericht von Michael Geyer und Charles Bright, „World History in a Global Age“, in: American Historical Review, 100 (1995), S. 10341060. 20 Anregend hierzu Geneviève Fraisse, „Von der sozialen Bestimmung zum individuellen Schicksal. Philosophiegeschichte zur Geschlechterdifferenz“, in: Geschichte der Frauen, Bd. 4, hg. von Fraisse und Perrot, S. 63-95. 21 Vgl. Hilge Landweer, „Geschlechterklassifikation und historische Deutung“, in: Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, hg. von Klaus Müller und Jörn Rüsen, Reinbek 1997, S. 142-164. 22 Vgl. zur erforderlichen Reformulierung z.B. Carola Lipp, „Politische Kultur oder das Politische und Gesellschaftliche in der Kultur“, in: Kulturgeschichte Heute, hg. von Wolfgang Hardtwig und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1996, S. 78110. 23 Als eine in diesem Sinne formulierte Kritik vgl. Karin Hausen, „Geschichte als patrilineale Konstruktion und historiographisches Identifikationsangebot. Ein Kommentar zu Lothar Gall, Das Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989“, in: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, 8 (1997), S. 109-131.
„Kultur“ und „Gesellschaft“ Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte* U TE D ANIEL
„... the last thing to be discovered in any science is what the science is really about“1
Der deutschen Sozialgeschichtsschreibung stand 1991 ein Jubiläum ins Haus, das weniger zum Feiern als zur Standortüberprüfung einlud: Vor genau hundert Jahren erschien der erste Band von Karl Lamprechts „Deutscher Geschichte“, der ebenso wie die weiteren Bände dieses Werks von damals wortführenden Vertretern der Geschichtswissenschaft in einer Auseinandersetzung, die unter dem eher euphemistischen Begriff „Methodenstreit“ in die Geschichte der Geschichtswissenschaft eingegangen ist, „geradezu abgeschlachtet“2 wurde. Die Diskussionen um Lamprechts Version von Kulturgeschichte – so der damalige Ausdruck für Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte – stellten in Deutschland den Kulminations- und vorläufigen Endpunkt geschichtswissenschaftlicher Teilhabe an jenem bedeutsamen Umdenkungsprozeß dar, der in Reaktion auf den sozialen Wandel zur Entdeckung des Sozialen bzw. Gesellschaftlichen als eines gegenüber dem Staat eigenständigen Bereichs und damit zur Verselbständigung der Sozialwissenschaften führte. „Kultur“ war im 19. Jahrhundert der Kampfbegriff, der Historikern, Soziologen – mit Ausnahme Durkheims – und Ethnologen in jeweils unterschiedlichen inhaltlichen Füllungen gemeinsam war, wenn es ihnen um die analytische Abgrenzung und Beschreibung dessen ging, für das sich später die Begriffe „Gesellschaft“ und „Soziales“ durchsetzten. In diesem Sinne beibehalten wurde er nur in der Ethnologie, was ihn lange Zeit hindurch zum Fachterminus für die Untersuchung sog. primitiver Sozialformen mach*
Ute Daniel, „Kultur“ und „Gesellschaft“. Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft (Jg. 19), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, S. 69-99.
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te, während die Industriegesellschaften sich dadurch auszeichneten, daß sie „Gesellschaften“ waren – eine ironische Umkehrsituation gegenüber dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als die die ethnologische Disziplin theoretisch begründende Schrift Edward Burnett Tylors unter dem Titel „Primitive Culture“3 den „zivilisierten“ Gesellschaften den Alleinbesitz von „Kultur“ absprach und damit einen erheblichen Eklat erregte. In den letzten Jahren erleben die Sozialwissenschaften nicht nur im deutschsprachigen Raum eine geradezu triumphale Rückkehr des Kulturbegriffs in ihren Reihen. „Kultur“ figuriert im Titel von Zeitschriftensonderbänden und -themenheften,4 von neuen Zeitschriften,5 von neugegründeten wissenschaftlichen Sektionen,6 ganz zu schweigen von zahlreichen Veröffentlichungen.7 Daß hundert Jahre nach dem Lamprecht-Streit es erneut der Begriff „Kultur“ ist, der die Sozialwissenschaften umtreibt, verweist allerdings nicht auf die Identität, sondern gerade auf die Unterschiedlichkeit der Problemkonstellationen damals und heute. Ende des 19. Jahrhunderts ging es darum, den Bereich gesellschaftlicher Strukturen und Wandlungsprozesse aus dem angeblich allein wirkungsmächtigen politischen Handlungszusammenhang des Staates herauszulösen und nach eigenen Fragestellungen untersuchbar zu machen – nicht um den Staat nun umgekehrt auf das Soziale zu reduzieren, vielmehr um nicht durch den Staat, sondern durch eine eigene Dynamik induzierte soziale Phänomene untersuchen zu können und die Frage nach der jeweils konkreten Wechselwirkung zwischen Staat und Gesellschaft durch die Abkehr vom apriorischen Primat der Politik überhaupt erst formulierbar zu machen.8 Das heutige Problem dagegen besteht darin, daß das damalige zu „gut“ gelöst worden ist: Der im 20. Jahrhundert etablierte Gesellschaftsbegriff der Soziologie, wie er heute auch in der bundesrepublikanischen Sozialgeschichte vorherrschend ist, hat „Gesellschaft“ zu einer Art autopoietischem Sozialapparat verdinglicht: Indem die Soziologie „,die Gesellschaft‘ als einen gesetzmäßigen Sachzusammenhang sozialer Zustandsgrößen“ konzipiert, ist sie gezwungen, diesen Zusammenhang „zu einem autonomen Seinsbereich mit eigenen Notwendigkeiten zu verdinglichen. Weil es ihr Ideal ist, das Spiel der Zustandsgrößen als selbständiges und geschlossenes System zu begreifen, muß sie alle übrigen Bestandteile der Wirklichkeit entweder als sowieso belanglos ausschließen oder zu bloßen Folgen jener Größen erklären.“9 In der prägnantesten Ausformulierung des sozial- und gesellschaftsgeschichtlichen Credos liest sich dies so: „Gesellschaft im engeren Sinn“ meint „jenes Teilsystem von sozialökonomisch vermittelten Bedürfnissen, Interessen, Abhängigkeiten, Kooperationen und Konflikten, das seit Hegel als ,Differenz‘ zwischen Individuum und Staat bestimmt wurde“ und das „eine maßgebliche und andere Teilsysteme vor allem prägende (wenn auch umgekehrt von diesen geprägte) Rolle spielt.“10 Fragen der „Lebensführung“ und der „Kultur“ sind damit ausdrücklich nicht als konstitutive Bestandteile, sondern als „sich einstellende Folgen sozialöko-
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nomisch begründeter gemeinsamer Klassenlage“11 begriffen. Damit ist genau das geschehen, vor dem der junge Marx 1844 gewarnt hatte: „Es ist vor allem zu vermeiden, die ,Gesellschaft‘ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung – erscheine sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit andern zugleich vollbrachten Lebensäußerung – ist daher eine Äu12 ßerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens.“
Ende des 20. Jahrhunderts geht es somit darum, den Bereich menschlicher Lebens-, Handlungs- und Deutungszusammenhänge aus dem angeblich allein wirkungsmächtigen gesellschaftlichen Dominanzverhältnis herauszulösen und nach eigenen Fragestellungen untersuchbar zu machen – nicht um Gesellschaft nun umgekehrt auf Individuelles zu reduzieren, vielmehr um die Frage nach der jeweils konkreten Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Individuum durch die Abkehr vom apriorischen Primat des Gesellschaftlichen überhaupt erst formulierbar zu machen. Im Mittelpunkt dieser neueren sozialwissenschaftlichen Bemühungen um die theoretische Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft steht also die Frage danach, wie die Sinnzuweisungen, Bedeutungs- und Wahrnehmungsmuster der gesellschaftlichen Subjekte in die sozialwissenschaftliche Theoriebildung integriert werden können und wie die theoretischen Formulierungen des Sozialen bzw. Gesellschaftlichen beschaffen sein müssen, um diese Integration zu leisten. Der Kulturbegriff, der heute zur Diskussion steht, unterscheidet sich also in fundamentaler Weise von dem, was vor hundert Jahren im Zusammenhang des Lamprecht-Streits darunter verstanden worden ist: War „Kultur“ damals mehr oder weniger deckungsgleich mit dem, was man heute unter dem Bereich des Sozialen und Gesellschaftlichen versteht, so bezeichnet „Kultur“ heute – nachgefragt als Korrektiv gegen eine sozialwissenschaftliche Praxis, die „dazu neigt, Menschen wie Mäuse zu behandeln“ –, „das System kollektiver Sinnkonstruktionen, mit denen Menschen die Wirklichkeit definieren“, d. h. jenen „Komplex von allgemeinen Vorstellungen, mit denen sie zwischen wichtig und unwichtig, wahr und falsch, gut und böse sowie schön und häßlich unterscheiden.“13 Es ist diese neue, bedeutungsorientierte sozialwissenschaftliche Verwendungsweise des Kulturbegriffs, die m. E. in Theorie und Praxis der historischen Sozialwissenschaft stärkere Berücksichtigung finden sollte. Die erste und wichtigste Voraussetzung dafür wäre, die sozialhistorischen Grundbegriffe und hier vor allem ihren Kernbegriff, den der „Gesellschaft“, daraufhin zu überprüfen, ob sie für eine kulturtheoretische Wende der Sozialgeschichte offen sind bzw. inwiefern sie revidiert werden müßten, um die Anregungen der neueren Sozialwissenschaft theoretisch reflektiert aufzugreifen. Als Beitrag zu diesem Problemfeld soll im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes die These zur Diskussion gestellt werden, daß es insbesondere die konstitutiven Aspekte des Gesellschaftsbegriffs der bundesdeutschen Sozial-
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und Gesellschaftsgeschichte sind, die in ihrer jetzigen Form „Kultur“ im oben umrissenen Sinn an die Peripherie des sozialhistorischen Gegenstandsbereichs verweisen und eine theoriegeleitete Beschäftigung mit sozialen Phänomenen auf der Ebene der Wahrnehmungen, Bedeutungen und Sinnstiftungen verhindern. Sollen jedoch, wie im Titel dieses Beitrags vorgeschlagen, diese grundsätzlichen Überlegungen einer bedeutungsorientierten Erweiterung der Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte unter dem Oberbegriff „Kultur“ angestellt werden, dann bedarf es vorab einer kritischen Selbstvergewisserung über die äußerst vielschichtigen und heterogenen Verwendungstraditionen, die „Kultur“ als analytischer Begriff seit dem 18. Jahrhundert durchlaufen hat und deren Sedimente bis heute in ihm abgelagert sind. Da eine ausführliche Darstellung der wissenschaftlichen Verwendungsweisen des Kulturbegriffs an dieser Stelle nicht möglich ist,14 werden im folgenden zwei disziplinenspezifische Verwendungs- und Auseinandersetzungslinien von und um „Kultur“ knapp umrissen. In einem ersten Schritt soll dies am Beispiel der Ethnologie15 geschehen (I.). Für eine Beschäftigung mit dem Kulturbegriff der Ethnologie sprechen vor allem drei Gründe: Zum einen ist es diese Disziplin, die bezüglich der Erörterungen und Differenzierungen des Kulturbegriffs auf die längste und kontinuierlichste Traditionslinie zurückblicken kann. Zum zweiten ist „Kultur“ in der Ethnologie und hier vor allem in der sehr einflußreichen nordamerikanischen cultural anthropology, auf der der Schwerpunkt der Darstellung liegen wird, zum Schlüsselbegriff einer Herangehensweise an menschliche Gesellschaften geworden, für die der „subjektive Faktor“ im Mittelpunkt der Analyse steht: Die Dynamik, der sich die Ethnologie in den sogenannten einfachen Gesellschaften gegenübersah und die sie begrifflich zu handhaben lernen mußte, war nicht vorrangig die zwischen Staat und Gesellschaft, sondern die zwischen Gesellschaft und Individuum. Dadurch konzentrierte sich die ethnologische Diskussion immer wieder genau auf diejenige Problematik, die hier zur Diskussion gestellt werden soll, nämlich auf die Frage nach der theoretischen Formulierung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft; daher soll hier in knapper Form ein problemorientierter Überblick über die Geschichte der ethnologischen Begriffsbildung mit dem Schwerpunkt auf der Frage danach gegeben werden, in welcher Weise jeweils der Kulturbegriff verwendet wurde, um „Gesellschaft“ und Individuen auf der analytischen Ebene zu integrieren. Drittens schließlich bietet sich eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff der Ethnologie deswegen an, weil es nicht zuletzt die bedeutungsorientierte Wende der cultural anthropology seit den 1950er Jahren war, die die bis heute andauernden Diskussionen über die Verbindung von Soziologie, Geschichtswissenschaft und Ethnologie zu einer integrierten Kulturwissenschaft anstieß. In einem zweiten Schritt soll die Auseinandersetzung der deutschen Geschichtswissenschaft mit den Herausforderungen des Kulturbegriffs skizziert werden (II.). Dabei kann es ebenso wie im ersten Abschnitt nicht um
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eine wissenschaftsgeschichtliche Gesamtdarstellung gehen, sondern um die Frage, welche Rolle der Kulturbegriff hier im Rahmen von Überlegungen einnahm, die dem Verhältnis von „Gesellschaft“ und Individuen gewidmet waren. Im letzten Abschnitt wird dann auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen sein, in welcher Hinsicht die Diskussionen um „Kultur“ zu einer kritischen Reflexion über die sozialgeschichtlichen Grundbegriffe und hier insbesondere die Konzeption von „Gesellschaft“ beitragen können (III.) Der hier zur Diskussion gestellte Beitrag beansprucht somit nicht, bereits selbst ein konsistenter Entwurf zu einer Neufundierung der sozialhistorischen Theoriebildung zu sein. Er ist als Problemaufriß konzipiert, dessen bis zu einem gewissen Grad heterogener Charakter durch die Notwendigkeit bedingt ist, angesichts der Defizite des gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen Diskussionsstandes zunächst einmal die als wichtig erachteten Diskussionspunkte unter Rückgriff auf die Geschichte wissenschaftlicher Begriffsbildung und auf andere Disziplinen herausarbeiten zu müssen. Positiv formuliert ist jedoch diese Notlösung gleichzeitig Programm: Erst die Einbeziehung vergangener Problemlösungsversuche und solcher aus Nachbardisziplinen ermöglicht es, die dringend erforderliche Diskussion über den Gegenstand und die Theoriebildung der Sozialgeschichte auf einem angemessenen Argumentationsniveau zu führen. I. Die Karriere des Kulturbegriffs als eines wissenschaftlichen Zugangs zur Analyse menschlichen Zusammenlebens begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Form des hierarchischen Kulturkonzepts.16 Es beruht auf einem normativen Kulturbegriff, der diachron – durch Postulieren eines universalen Kulturprozesses der Menschheit hin zu einem immer „kultivierteren“ Zustand – oder synchron – etwa durch Abgrenzung einer „bürgerlichen Kultur“ von einer wie auch immer darunter verorteten Unkultur oder durch Kontrastierung von „Kultur“ und „Massenkultur“ – „Kultur“ als Zielvorgabe formulierte. In seiner Ausprägung durch die aufklärerische Geschichtsphilosophie und hier vor allem durch Herder und Adelung wurde der Begriff, der bis dahin sehr viel enger gefaßt worden war, in zwei entscheidend neue Bedeutungszusammenhänge gestellt: „Kultur“ wurde zu einem Merkmal von menschlichen Kollektiven, von Nationen oder des menschlichen Geschlechts überhaupt, und sie wurde historisiert: „Kulturgeschichte“ wurde mit der Zielvorgabe betrieben, den Fortschritt der Menschheit zu beschreiben.17 Dabei wurde der Fortschritt z. T. bereits als gesellschaftlicher, nicht auf den engeren Bereich von Wissenschaft und Kunst beschränkter gedacht.18 Diesem Programm folgten denn auch die zahlreichen und mitunter sehr ambitionierten Unternehmungen einer Kulturgeschichte, die im 19. Jahrhundert – meist an der Peripherie oder außerhalb der Fachwissenschaft Geschichte entstanden – vorgelegt wurden.19 Bei allen sonstigen Unterschieden war ihnen gemeinsam, daß sie, fernab von der Staats- und Politikzentriertheit der historistischen Fachwissenschaft, die materiellen und gesellschaftli-
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chen Lebensgrundlagen in ihrer, getreu dem optimistischen Credo des 19. Jahrhunderts, als Fortschritt begriffenen Entwicklung in den Blick nahmen: Kulturgeschichte in dieser Gestalt war gewissermaßen die Modernisierungstheorie des 19. Jahrhunderts. Bemerkenswert eng waren dabei in einigen Fällen die Verbindungen der Kulturgeschichtsschreibung zur entstehenden Völkerkunde.20 Die Anfänge der Ethnologie waren ebenfalls von der Vorherrschaft des hierarchischen Kulturkonzepts geprägt. Der Kulturbegriff Lewis H. Morgans, des berühmtesten Vertreters dieser als Evolutionismus bezeichneten Phase der ethnologischen Disziplin, der mit seinem Entwicklungsschema auf Friedrich Engels großen Einfluß ausübte,21 war stark durch den zeitgenössischen Fortschrittsglauben geprägt und strikt funktionalistisch, indem er die durch zweckrationales Denken vermittelte Anpassung der Menschen an äußere Gegebenheiten in den Mittelpunkt stellte. In Abgrenzung vom Evolutionismus mit seinem funktionalen Kulturbild, unter dessen Vorherrschaft die sogenannten einfachen Kulturen daran gemessen wurden, wie groß ihr „Abstand“ zur jeweils eigenen Gegenwart war, bildete sich das distinktive Konzept von Kultur heraus. Es diente der Identifizierung und Beschreibung verschiedener „Kulturen“, setzte also die plurale Verwendung des Wortes voraus, die im hierarchischen Konzept nicht möglich war; es bildete Zustände stärker ab als Prozesse und wurde in dieser Form zum wichtigsten analytischen Begriff der Ethnologie. Ein Merkmal allerdings hatten das hierarchische und das distinktive Kulturkonzept gemeinsam, nämlich das ihrer ahistorischen Verwendungsweise: War im Evolutionismus Geschichte auf unilineare Modernisierungsabläufe reduziert, so verdächtigten Vertreter des distinktiven Konzepts anfangs jede Beschäftigung mit historischen Wandlungsprozessen des evolutionistischen bias. Die Freisetzung des Kulturbegriffs von normativen Entwicklungsmodellen war die Leistung der um die Jahrhundertwende in den Vereinigten Staaten entstehenden cultural anthropology.22 Sie vollzog unter dem Einfluß Franz Boas’23 und seines entschiedenen Plädoyers für die Gleichwertigkeit aller Kulturen die Umdeutung des Kulturbegriffs von einer Meßlatte des Fortschritts bzw. dessen, was man jeweils darunter versteht, zu einem begrifflichen Instrument der Unterscheidung der vielfältigen Formen menschlicher Gesellschaftsbildung und der ihnen zugrundeliegenden Dynamik. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts begann die bis heute andauernde Ausdifferenzierung der ethnologischen „Schulen“ und damit der jeweiligen Vorstellungen von „Kultur“. Um der Vielfalt der Konzeptionen bei aller gebotenen Kürze gerecht zu werden, wird sich der folgende kursorische Überblick vorwiegend auf den angloamerikanischen Sprachraum konzentrieren: Hier lag von vornherein nicht nur rein quantitativ das Übergewicht der ethnologischen Disziplinen, sondern von hier gingen und gehen bis heute auch die nachhaltigsten Einflüsse auf die internationale Diskussion aus. Als erste Trennlinie zur Charakterisierung der Verwendungsweisen von „Kultur“ bieten sich die jeweils bevorzugten Argumentationsweisen an, in
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denen sich die apriorische Vorentscheidung darüber ausdrückt, welche Seite des Dreiecks Individuum – Kultur – Gesellschaft24 die Basislinie der Interpretation abgibt: Nach diesem Kriterium läßt sich eine vorwiegend zweckrational-funktional argumentierende Interpretationslinie von einer vorwiegend wertrational argumentierenden Sichtweise unterscheiden, wobei die erste „Kultur“ mehr in Richtung „Gesellschaft“, die zweite mehr in Richtung „Individuum“ oszillieren läßt.25 Idealtypisch kontrastiert geht die zweckrational-funktionale Argumentationsweise von der entscheidenden Wirkung wirtschaftlicher, technischer, sozialer bzw. ökologischer Faktoren auf Lebensweisen und Vorstellungswelten der Menschen aus; „Kultur“ konstituiert hier einen eigenen Gegenstandsbereich, dessen historische Entwicklung wirtschaftlich-technischen und anderen Gesetzmäßigkeiten folgt und nach sozialwissenschaftlichen Methoden untersucht werden muß. In der ethnologischen Diskussion schlug sich diese Kulturauffassung lange Zeit hindurch in der etwas eigentümlichen Bezeichnung des „Superorganischen“ nieder.26 Demgegenüber geht die wertrationale Argumentationsweise von der entscheidenden Wirkung von Normen und Werten, kognitiven Strukturen und symbolischen Repräsentationen aus, die, indem sie das Individuum prägen, dieses erst zum gesellschaftlichen Wesen machen bzw. die in ihrer individuellen oder kollektiven Praxis Wirtschaft, Technik und Sozialstruktur und damit die „Gesellschaft“ gestalten. „Kultur“ konstituiert hier keinen eigenen Gegenstandsbereich, sondern spezifische Zugangsweisen, die nicht im engeren Sinn sozialwissenschaftlich, sondern je nachdem psychologisch, sprachwissenschaftlich oder hermeneutisch sind. Bis etwa zur Mitte des Jahrhunderts deckt sich der Unterschied zwischen diesen beiden Argumentationsweisen in etwa mit der gegenseitigen Abgrenzung der amerikanischen cultural anthropology von der britischen social anthropology. Bedingt durch wissenschaftliche wie außerwissenschaftliche Faktoren,27 entwickelte sich in den USA in diesem Zeitraum eine besonders enge Zusammenarbeit mit der Psychologie bzw. vor allem der Psychoanalyse. Die sog. Kultur- und Persönlichkeitsforschung, zu deren führenden Köpfen die Boas-Schülerinnen Margaret Mead und Ruth Benedict gehörten,28 stellte unter dem Leitbegriff der culture patterns den Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft in den Mittelpunkt ihrer Studien. Ausgehend von der Kultur- und Persönlichkeitstheorie Sigmund Freuds, erhielt hier der Kulturbegriff als Gegenreaktion gegen die ersten Formulierungsversuche einer „superorganischen“ Kulturtheorie29 eine dominierende individualpsychologische Komponente.30 „Kultur“ wurde mehr und mehr auf Enkulturation reduziert, Individuen auf die passive Rolle der durch „Kultur“ geprägt Werdenden; Geschichtlichkeit besaßen die untersuchten Gesellschaften nurmehr in Form der zu Kulturmustern geronnenen Ablagerungen vergangener Entwicklungen. Parallel dazu etablierte sich die britische social anthropology, seit Beginn der 1930er Jahre unter dem dominierenden Einfluß Bronislaw Malinowskis und Alfred Reginald Radcliffe-Browns, zu einer strukturfunktionalis-
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tischen Sozialwissenschaft,31 die mit der culture-and-personality-Forschung nur die ahistorische Ausrichtung teilte. Unter Bezug auf die Durkheimsche Sozialtheorie ging Malinowski bei seiner ethnographischen Arbeit von einem funktionalen Kulturbegriff aus: Glaubensvorstellungen und Gebräuche, Rituale und Institutionen wurden auf biologische, ökonomische oder soziale Zweckrationalität reduziert und dadurch „erklärt“.32 Über die britischen Grenzen hinaus sehr viel folgenreicher als dieser „Kannibalismus der Funktion an der Form“33 war der im wesentlichen von Malinowski inspirierte Feldforschungsmythos der „teilnehmenden Beobachtung“ als Zugang zum „wirklichen Leben“34 – ein Mythos, der erst in den 1960er Jahren durch die posthume Veröffentlichung von Malinowskis Feldforschungs-Tagebuch durch seine Witwe zerstört wurde.35 Das Unbehagen darüber, daß in der Kultur- und Persönlichkeitsforschung Kultur und Gesellschaft nurmehr in ihren individuellen Aneignungsund Verarbeitungsformen beziehungsweise als verdinglichte culture patterns untersuchbar waren,36 führte auch in den Vereinigten Staaten der 1930er und 1940er Jahre zum verstärkten Interesse an ethnologischen Kulturtheorien, die in Abwehr des psychologischen Reduktionismus einen „superorganischen“ Kulturbegriff in den Mittelpunkt stellten. Der hier entwickelte überindividuelle Interpretationsansatz unterschied sich von seiner britischen Variante durch eine Wiederbelebung des evolutionistischen Grundmodells der Ethnologie, das zwar auf Morgan zurückgriff, aber ohne Neubelebung seines hierarchischen Kulturkonzepts. Leslie A. White machte mit seiner sogenannten Kulturologie den Anfang, bei deren Ausformulierung er zu einem der meistdiskutierten – wenn auch nicht meistakzeptierten – Kulturbegriffe des 20. Jahrhunderts gelangte. „Kultur“ stellt für White einen klar umgrenzten Gegenstandsbereich dar, der nach eigenen Gesetzen funktioniere und unabhängig von den Menschen analysiert werden könne, da „Kultur“ das Unabhängige, demgegenüber menschliches Verhalten die abhängige Variable darstelle. Die Aufgabe der Ethnologie sei es dementsprechend, diese Gesetze aufzufinden. Whites eigener Vorschlag für eine gesetzesförmige Formulierung kultureller Entwicklung war, die soziokulturelle als durch die technische Entwicklung determiniert zu betrachten, wobei den Stadien der Energieversorgung die wichtigste Rolle zugesprochen wurde.37 Als „superorganisches“ Konkurrenzmodell entwickelte Julian Steward seit den 1940er Jahren seine Kulturökologie, die die gesetzesförmigen Entwicklungsschritte von „Kultur“ in den Wechselwirkungen zwischen „Kultur“ und Umwelt suchte.38 Beide Ansätze teilen die Suche nach den überindividuellen historischen Gesetzmäßigkeiten des Kulturprozesses, die Proklamierung von „Kultur“ als eigenständigem Gegenstandsbereich – der im wesentlichen deckungsgleich mit „Gesellschaft“ ist – und die neo-evolutionistische Ausrichtung. Nach dem Zweiten Weltkrieg fächerten sich die ethnologischen Ansätze weiter aus, während sich die Unterschiede zwischen cultural anthropology und social anthropology zunehmend verwischten. In gemeinsamer Abgren-
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zung von der Rückführung ihres Gegenstandsbereichs auf Psychologie und in wechselseitiger Abgrenzung voneinander entwickelten sich einerseits die „superorganischen“, andererseits die von Werten und Bedeutungen her argumentierenden symbolorientierten Ansätze weiter; letztere griffen aber statt auf Psychologie bzw. Psychoanalyse zunehmend auf Ansätze zurück, die es erlaubten, „Kultur“ nicht mehr „in den Köpfen“ – beziehungsweise in denjenigen Prozeduren, die sie „in die Köpfe“ transferierten39 – ansiedeln zu müssen. Die konzeptionelle Trennlinie zwischen „superorganischen“ und symbolorientierten40 Ansätzen verlief und verläuft bis heute – wenn man einmal von den jeweiligen Kulturdefinitionen absieht – zwischen einem „holistischen“ und prozessualen Kulturbegriff auf der einen Seite, der zur Analyse des Entwicklungsgangs menschlicher Gesellschaften verwendet wird und dabei nur die Beobachtersprache zuläßt, und andererseits einem Kulturbegriff, der partial41 und eher zustandsbezogen verwendet wird und den Rückgriff auf die Sprache beziehungsweise Deutungs- und Wertungsebene der Beobachteten fordert. Der heute wohl bekannteste Vertreter für die erstgenannte Richtung der cultural anthropology, Marvin Harris, entwickelte seit den 1960er Jahren seinen „Kulturmaterialismus“ in Abgrenzung von der sich in den 1950er Jahren mehrheitlich durchsetzenden Orientierung an einem auf die kognitive und Deutungsebene eingeschränkten Kulturbegriff. Gegen die Aufforderung Clyde Kluckhohns, Alfred Kroebers und anderer, „Kultur“ sei aus der Sicht der an ihr beteiligten Menschen selbst heraus zu analysieren,42 setzte er die Forderung, dieses als unzuverlässige Verfahrensweise durch eine Kulturanalyse zu ersetzen, die ausschließlich die Beobachtersprache, nicht aber die der Beobachteten zuläßt und soziales Handeln im Zusammenhang säkularer Entwicklungstrends untersucht.43 Zunehmende Aufmerksamkeit gewann nach dem Zweiten Weltkrieg die symbolorientierte Ethnologie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Der symbolische Kulturbegriff, der in kritischer Auseinandersetzung mit „der endemischen westlichen Antinomie zwischen einem weltlosen Subjekt und einem Objekt ohne Denken“44 entwickelt wurde, hat nicht zu einer einheitlichen Verwendungsweise von „Kultur“ geführt. Doch lassen sich zwei Hauptrichtungen identifizieren, die nacheinander „Schule gemacht“ haben. In einer heute meist als kognitive Ethnologie zusammengefaßten Richtung entwickelte vor allem Ward H. Goodenough seit Beginn der 1950er Jahre als Zielvorgabe ethnologischer Analysen, „es dem Leser möglich zu machen, sich in den Begriffen der beschriebenen Kultur verhalten zu lernen, ähnlich wie es ihm eine Grammatik möglich machen würde, eine Sprache sprechen zu lernen.“45 Die Analogie von Kultur und Sprache wurde in der kognitiven Ethnologie zum Programm, indem sie als Zugang zu den kognitiven Strukturen der Menschen die Analyse von Sprachstrukturen und hier vor allem der semantischen Ebene von Sprachklassifikationen – etwa für Verwandtschaftssysteme – in den Mittelpunkt stellte.46 Die zu Beginn der 1970er Jahre einsetzende Kritik an diesem auf Sprachstrukturen reduzierten Kulturbegriff betonte vor allem,
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daß „Kultur“ mehr sei als Wissen und daß sie nicht nur in den Köpfen von Menschen existiere.47 Die enge Verbindung von Ethnologie und Linguistik führe in eine Sackgasse, indem sie „harte“ wissenschaftliche Methoden mit der Preisgabe der Vielfalt ihres Untersuchungsgebietes erkauft habe. Wie ein für pragmatischere wissenschaftliche Selbstvergewisserungsweisen plädierender Kritiker 1972 anmerkte: „I too yearn for rigor in my research. I just urge that in my colleagues’ search for scientific rigor, they not inadvertently succumb to scientific rigor mortis.“48 Als Gegenreaktion auf die kognitive Ethnologie entwickelte sich, etwa seit Mitte der 1960er Jahre unter dem Begriff der symbolischen Ethnologie zusammengefaßt, eine Sichtweise auf „Kultur“, die diese ebenfalls auf die Ebene von Bedeutungen eingrenzt, jedoch dabei mit dem Schlüsselbegriff des Symbolischen operierte und damit „Kultur“ ausdrücklich außerhalb der Köpfe, im Bereich des sozialen Handelns verortet.49 Der derzeit wohl bekannteste Vertreter dieser Richtung, Clifford Geertz, definiert Symbole – die auskristallisierten Formen des Deutungssystems Kultur – als „aus der Erfahrung abgeleitete, in wahrnehmbare Formen geronnene Abstraktionen, konkrete Verkörperungen von Ideen, Verhaltensweisen, Meinungen, Sehnsüchten und Glaubensanschauungen ... Kulturelle Handlungen – das Bilden, Auffassen und Verwenden symbolischer Formen – sind soziale Ereignisse wie all die anderen auch; sie sind ebenso öffentlich wie eine Heirat und ebenso beobachtbar wie etwa die Landwirtschaft.“50 Ungeachtet dieser auf der theoretischen Ebene geforderten engen Verbindung von „Kultur“ und „Sozialstruktur“ weist auch die Geertzsche Fassung der symbolischen Anthropologie – für die sich auch die Bezeichnung „verstehende Ethnologie“ eingebürgert hat – eine deutliche Tendenz auf, sich bei ihren empirischen Forschungen – ebenso wie dies bei Max Webers verstehender Soziologie der Fall war – doch eher auf expressive Symbolsysteme wie Religion zu konzentrieren und diese vom sozialen Umfeld mehr oder weniger stark zu isolieren.51 Auch von der Verdinglichung historischer Prozesse in symbolischen Zuständen sind die Äußerungen der verstehenden Ethnologie ebenso wenig frei wie von hermeneutischen Kurzschlüssen.52 Die spezifische Leistung dieser neueren ethnologischen Denkrichtung ist jedoch unbestreitbar, die bisher weitestgehende Annäherung an sozialwissenschaftliche Verfahrensweisen ohne gleichzeitige Aufgabe der spezifischen ethnologischen Mitgift – des Wissens darum, daß Menschen bedeutungsvolle Leben leben53 – vollbracht zu haben.54 Diese Annäherung hat sich sowohl für die Ethnologie als auch für die Sozialwissenschaften in den letzten Jahrzehnten als äußerst anregend erwiesen. In der Ethnologie, deren traditioneller Gegenstandsbereich der „einfachen“ Gesellschaften ohnehin kaum noch aufzufinden ist, beförderte sie ein zunehmendes Interesse für die Analyse komplexer und industrialisierter Gesellschaften55 sowie für deren Geschichte.56 In den Sozialwissenschaften, die seit einiger Zeit auf der Suche nach der verlorenen Bedeutungsebene ihrer Subjekte sind, bewirkte diese Annäherung eine gewisse Anthropologisie-
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rung ihrer Fragestellung und Methodendiskussionen, die heute unter dem Oberbegriff der „Praxis“ Perspektiven einer integrierten historischen Sozialund Kulturwissenschaft eröffnet.57 Der Blick auf „Praxis“ – die komplexe Einheit von Gedanken und Handeln, von Bedeutung als durch Handeln konstituiert und als ihm zugrundeliegend58 – stellt symbolische Prozesse als soziales Handeln, nicht reifizierte Symbole oder Sozialstrukturen in den Mittelpunkt der sozialwissenschaftlichen Analyse. Dies verlangt, daß die Bedeutungen, die Menschen ihrer Welt und ihren eigenen Handlungen in ihr verleihen, als Teile ihres Lebens und ihrer Handlungen untersucht werden und damit als Teil der „Gesellschaft“, anstatt künstlich von ihr getrennt zu werden.59 Eine so verstandene wissenschaftliche Kulturanalyse eröffnet die Chance, die statische Dreieckskonfiguration Gesellschaft – Kultur – Individuum zu verflüssigen und die Analyse derjenigen Prozesse in den Mittelpunkt zu rücken, in denen einerseits „Kultur“ bzw. „Gesellschaft“ die Menschen prägen, ihnen Grenzen setzen und Vorgaben machen, in denen aber andererseits die Menschen in ihren Handlungen und Bedeutungszuweisungen „Gesellschaft“ und „Kultur“ gestalten, verstetigen und verändern. II. Mit der großen Ausnahme des Oeuvres von Jacob Burckhardt war dem Kulturbegriff bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kein Einbruch in die fest geschlossenen Reihen der historischen Fachwissenschaft gelungen. Beide Traditionen des Umgangs mit Geschichte liefen vielmehr parallel nebeneinander her, ohne sich zu tangieren. Das änderte sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, teils aus außerwissenschaftlichen Gründen, teils infolge einer inhaltlichen Annäherung von Nationalökonomie, entstehender Soziologie und Geschichtswissenschaft.60 Vor allem waren es der von der Nationalökonomie kommende Eberhard Gothein, der zur Soziologie tendierende Kurt Breysig und Karl Lamprecht, in deren Arbeiten der Kulturbegriff eine entscheidende Rolle zu spielen begann. Gothein proklamierte die Kulturgeschichte zur allgemeinen Geschichte, in deren Rahmen die politische Geschichtsschreibung nur die Rolle einer Teildisziplin spiele.61 Kulturgeschichte hatte nach Gothein die Aufgabe, die bedingenden Faktoren geschichtlichen Wandels zu analysieren, indem sie den Schwerpunkt auf die Untersuchung von kollektiven Phänomenen wie Recht, Wirtschaft und Religion legt und die Entwicklungsstufen der Kultur herausarbeitet.62 Allerdings war Gotheins Konzept von Kulturgeschichte deutlich an Ideengeschichte angelehnt: „Kulturgeschichte in ihrer reinsten Form ist Ideengeschichte“; sie „führt Ereignisse auf Kräfte, Kräfte auf Ideen zurück.“63 Kurt Breysigs Konzept von „Kulturgeschichte“ betonte dagegen besonders ihre Aufgabe als universalgeschichtlich angelegte „Entwicklungsgeschichte“64 menschlicher Gesellschaften. Diese Entwicklungsgeschichte war allerdings nicht mehr Modernisierungsgeschichte: Zum Dreh- und Angelpunkt der historischen Entwicklung wie demzufolge auch der Kultur- bzw. Sozialgeschichte erklärte Breysig das sich wandelnde Verhältnis zwischen
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Individuen und Gemeinschaften. „Kultur“ umfaßt für Breysig das Ensemble aller gesellschaftlichen Verhältnisse vom Staat bis zum Individuum,65 stellt ein Kontinuum von bedingenden Faktoren dar, dessen Wandlungsprozesse die Kulturgeschichte zu untersuchen habe.66 Der Sozialgeschichte als derjenigen kulturgeschichtlichen Teildisziplin, der infolge des beschleunigten sozialen Wandels der Gegenwart nach Breysigs Ansicht wohl „die nächsten Jahre gehören“ werden,67 kommt dabei die Aufgabe zu, sich dem „wichtigste(n) Problem der Historie“ zu widmen, nämlich die Beziehungen zu untersuchen, „die den Einzelnen, d. h. jeden Menschen, mich den Schreiber, und dich, den Leser dieser Zeilen, so gut wie alle anderen Sterblichen, mit festen und lockern Banden umspannen und an den Nächsten fesseln ... Denn diese Beziehungen schließen uns entweder zu ungreifbaren geistigen, oder zu sehr realen politischen oder wirthschaftlichen, immer aber zu unsäglich mächtigen Einungen zusammen und sie beherrschen unser Leben von der Wiege bis zum Grabe in jedem Augenblick. Ich meine, Persönlichkeit und Gemeinschaft in ihrem Verhältnis zueinander zu erkennen, die stets flie68 ßende Geschichte dieses Verhältnisses aufzudecken, das ist die Aufgabe.“
Sozial- oder auch „Gesellschaftsgeschichte“, wie es bei Breysig mehrfach heißt,69 umfaßt das Gebiet der „praktischen Kultur“ – Geschichte der inneren und äußeren Politik, Sozial- und Wirtschafts-, Verfassungs- und Verwaltungs- wie Rechtsgeschichte –; zusammen mit der Geistesgeschichte als Teildisziplin zum Studium der „geistigen Kultur“ bildet sie die Kultur- bzw. Universalgeschichte.70 Dabei machte Breysig für die Sozial- oder Gesellschaftsgeschichte die heuristische Vorgabe, daß diese sich keineswegs nur mit den Verbindungen der Menschen zu beschäftigen habe, sondern immer auch „mit dem Einzelnen, dem Individuum, dem Menschen als Einzelwesen, dem sozialen Atom, aus dem sich alle jene Verbindungen erst zusammensetzen und das doch nicht ganz in ihnen aufgeht, sondern sehr oft einen sehr regen Trieb zu selbständiger Entwicklung beweist. Wenn der Sozialhistoriker auch zunächst immer von Neuem von den Berührungen, den Wechselwirkungen, den Kämpfen zwischen den einzelnen sozialen Gebilden, zwischen Staaten und Staaten, zwischen Staat und Ständen, zwischen Ständen und Klassen unter sich und so fort, zu berichten hat, so wird er bald finden, daß sein Interesse mindestens ebenso sehr von dem stetig wechselnden Verhältniß zwischen dem gesellschaftlichen Atom und den Verbindungen, die es eingegangen ist, also zwischen dem Individuum einerseits und dem Staat oder der Klasse oder der Familie andererseits, in Anspruch genommen wird. Ja vielleicht wird sich ergeben, daß eben aus diesem Verhältniß die wichtigsten Thatsachen der sozialen Geschichte entspringen, daß seine Wandlungen recht eigentlich epochemachend sind, daß nach ihm sich die Zeitalter der gesellschaftlichen Entwicklung der Völker schei71 den.“
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Karl Lamprechts Vorstellungen von Kulturgeschichte erhielten in der damaligen Historikerschaft die größte negative Publizität, was einerseits an ihrem „materialistischen“ Einschlag, andererseits daran lag, daß Lamprecht im Gegensatz zu Gothein und Breysig „Vollhistoriker“ war. Sein Credo war, daß „die kollektivistische, generisch untersuchende Methode der individualistischen überlegen ist; entsprechend der Tatsache, daß das Reich des Sozialen, Zuständlichen in der ununterbrochenen Kontinuität seiner Entwicklung die Basis, nicht den Annex des Reiches der freien Tat bildet.“72 Die Untersuchung dieser historischen Basis und ihrer Wandlungen obliegt nach Lamprecht der Kulturgeschichte und zwar mit dem Schwerpunkt auf den sogenannten sozialpsychischen Faktoren: Sprache, Wirtschaft und Kunst, Sitte, Moral und Recht, deren Entwicklungsstufen die Entwicklung des nationalen Lebens „charakterisieren“: „Die weltgeschichtliche Entwicklung aber kommt zustande, indem vermöge von Renaissancen, Rezeptionen, Ex- und Endosmosen bei Eintritt bestimmter Bedingungen psychische Errungenschaften der einen Nation auf die andere übertragen und in dem Entwicklungsgang der aufnehmenden Nation zu anderen Formen integriert wer73 den.“
Zu einer begrifflichen und analytischen Weiterentwicklung des Konzepts einer Kulturgeschichte als Sozialgeschichte trug Lamprechts Kulturstufentheorie nicht viel Dauerhaftes bei; das lag unter anderem vor allem an seiner Reduktion der Sozialpsychologie auf Individualpsychologie74 und an seinem Festhalten an der Nationalstaatsgeschichte als Bezugspunkt jeder Kulturgeschichte.75 Sein dauerhaftester Beitrag zur Auseinandersetzung um die Kultur- bzw. Sozialgeschichte blieb der durchaus unfreiwillige, mit seiner „Deutschen Geschichte“ die Abwehrfront der historistischen deutschen Historiker gegen jede Art von gesellschaftlich orientierter Geschichtsschreibung zu stärken und mit Argumenten zu versehen. Daß die Ausgrenzung kultur- und sozialgeschichtlicher Fragestellung aus der deutschen Geschichtswissenschaft bis zum Ende des Dritten Reichs anhielt,76 beruhte nicht zuletzt auf außerwissenschaftlichen Entwicklungen: Der verlorene Erste Weltkrieg und der Versailler Vertrag förderten als Gegenstand der Geschichtswissenschaft erneut eine rein politische Schwerpunktsetzung, und nach 1933 waren eigenständige Weiterentwicklungen ohnehin nicht möglich. Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich bis zum Ende der 1950er Jahre die Auseinandersetzung mit neueren Ansätzen in der Geschichtswissenschaft mangels eines entsprechenden innerbundesrepublikanischen Diskussionsstandes überwiegend in der Abgrenzung gegenüber geschichtswissenschaftlichen Entwicklungen der westlichen Nachbarländer und hier insbesondere Frankreichs. Besonders deutlich wird dies an Gerhard Ritters Auseinandersetzung mit der von den französischen Annales-Historikern postulierten kulturhistorischen Wende der Geschichtswissenschaft. Auf dem internationalen Histori-
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kerkongreß in Paris 1950 konfrontiert mit den Forderungen der französischen Historiker nach einer Abkehr von der auf Staat und Politik orientierten Geschichtswissenschaft zugunsten der Analyse von sozialen, ökonomischen und mentalen Strukturen, betonte Ritter erneut die schon aus dem Lamprecht-Streit bekannte – wenn auch von ihm durchaus differenzierter als seinerzeit von Schäfer und von Below vorgetragene – Gleichsetzung von Geschichte mit politischem „Geschehen“.77 Zwar konzedierte er durchaus die Eingebundenheit von Staat und Politik in wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge,78 verwahrte sich jedoch gegen die „Verkennung der politischen Wirklichkeit, wenn man heute so weithin geneigt ist, die Histoire des faits politiques als bloße ,Oberflächenhistorie‘ abzutun und statt dessen die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in das Zentrum des historischen Interesses zu rücken.“79 Den hier ein letztes Mal unter dem Oberbegriff der Kulturgeschichte formulierten Warnrufen vor einer sozialgeschichtlichen Neuorientierung war bekanntlich kein dauerhafter Erfolg beschieden.80 Nach den ersten Ansätzen in den 1950er Jahren, die vor allem mit dem Namen Werner Conzes verbunden waren, setzte sich in den 1960er Jahren auch in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft zunehmend eine sozialwissenschaftliche Orientierung durch. In den ihre Konstituierung begleitenden Diskussionen tauchte dann der Kulturbegriff gewissermaßen am anderen Ende des Argumentationsspektrums wieder auf, nämlich als Versuch, Alternativen zur sich etablierenden historischen Sozialwissenschaft zu formulieren, und zwar jetzt nicht mehr aus Abneigung gegen jede, sondern aus – durch die oben skizzierte neuere Entwicklung der symbolischen Ethnologie inspirierte – Kritik an dieser Sozialgeschichte. Frühester Befürworter einer Anthropologisierung der Geschichtswissenschaft war Thomas Nipperdey, der um 1970 in mehreren Beiträgen ein Gegenmodell zur in Mode gekommenen strukturgeschichtlichen Betrachtungsweise anregte.81 Nipperdey kritisierte an der bundesdeutschen Sozialgeschichte, daß diese „gerade auch wo sie Strukturgeschichte sein will, praktisch von einem verkürzten Begriff des sozialen Phänomens“82 geprägt sei: „Man geht gleichsam ,von außen‘, von den gesellschaftlichen Umständen auf die Menschen zu, ohne die Welt, in der sie leben, auch von ihrer ,Innenseite‘ her zu er83 fassen, ohne zu fragen, wie Menschen durch die soziale Welt geprägt werden.“
In der Wiederbesinnung auf die Kulturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts müsse sie stärker der Tatsache Rechnung tragen, „daß die soziale Welt in dem Dreiecksverhältnis von Gesellschaft, Kultur und Person besteht“.84 Eine anthropologisch fundierte Sozialgeschichte habe „aus dem Handeln selbst die Selbstverständlichkeiten, die subjektiv nicht bewußten Werte, Normen, kulturellen Annahmen und Sinnhorizonte und die personalen Strukturen herauszuarbeiten, die es historisch bestimmen“.85 Erst dann
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ließen sich, so Nipperdey, sozialhistorische Befunde – etwa Korrelationen von sozialem Status und Wahlverhalten, von politischer Einstellung und sozioökonomischer Position etc. – verstehend begreifen. Eine solche „kulturanthropologisch fundierte Sozialgeschichte“86 – für deren Skizzierung Nipperdey auf die Ergebnisse der amerikanischen cultural anthropology zurückgriff – sei keineswegs als eigene historische Disziplin zu denken, sondern sie sei die Voraussetzung für eine richtig verstandene allgemeine Sozialgeschichte, die nicht von den individuellen Sinnzusammenhängen abstrahiere, sondern den „konstitutiven Bezug von Person und sozialen und kulturellen Institutionen“87 wahre. Dieses ebenso engagierte wie differenzierte Plädoyer für eine kulturanthropologisch fundierte Sozialgeschichte blieb vorerst folgenlos.88 Zwar entwickelte sich seit etwa 1970 auch in der Bundesrepublik in vielfältiger Weise eine Kooperation zwischen Ethnologie und Geschichte;89 doch beschränken sich diese Ansätze mehrheitlich auf spezielle Gegenstandsbereiche wie historische Sozialisations- und Familienforschung und andere durchaus für sich genommen sehr anregende geschichtswissenschaftliche Einzelgebiete, ohne ihre „Kulturorientiertheit“ zu einer Herausforderung für die allgemeine Sozial- und Gesellschaftsgeschichte werden zu lassen. Dies gilt auch für die in den 1980er Jahren im Umfeld des Göttinger Max-Planck-Instituts für Geschichte entwickelten Überlegungen zu einer Alltagsgeschichte, die zwar anfangs durchaus eine allgemeinere Stoßrichtung enthalten hatten,90 dabei jedoch über plakative, aber relativ vage Vorschläge wie Übernahme der ethnologischen Feldforschungspraktiken und „dichte Beschreibung“ nicht hinauskamen und mittlerweile auf „mikroanalytische Geschichte“ mit einem angeblich eigenen Gegenstandsbereich91 geschrumpft sind. III. „... ‚culture‘ ist difficult to talk about and impossible to agree upon, which is as it should be“,92 resümierte vor knapp zwanzig Jahren ein Ethnologe die Diskussionen seiner Zunft über den Kulturbegriff. Schon der hier skizzierte kurze Aufriß jener Debatten zeigt, was man von der Ethnologie nicht erwarten darf: Patentrezepte für die methodische oder begriffliche Frischzellenkur haben die (historischen) Sozialwissenschaften hier nicht zu erwarten; weder neue Schibboleths wie „Feldforschung“ oder „dichte Beschreibung“ – deren Begrenztheit die ethnologische Diskussion ausführlich reflektiert – noch ein ausgereifter, konsensfähiger Kulturbegriff – den es nicht gibt – können den sich umorientierenden Nachbardisziplinen einfach implantiert werden. Dennoch kann die Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte m. E. aus der Entwicklung der Verwendungsweisen des Kulturbegriffs und den sie begleitenden Auseinandersetzungen lernen. Zunächst einmal kann man daraus lernen, den Nachvollzug jenes relativ fruchtlosen Diskussionsstranges zu vermeiden, in dessen Verlauf „Kultur“ entweder zum umfassenden Totalbegriff – Sozialstruktur plus materielle Kultur plus Ökologie – aufgebläht oder auf Symbole, Kognition oder Spra-
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che eingegrenzt wird. Auf welches Oszillationsstadium des Kulturbegriffs am ethnologischen Sternenhimmel man sich auch immer einlassen würde – „Kultur“ als roter Riese oder als weißer Zwerg –, das Ergebnis wäre in beiden Fällen das Verschwinden von jedweder Bedeutung von „Geschichte“ im schwarzen Loch. Während die Kulturgeschichtsschreibung bis hin zu Lamprecht und Breysig durchaus eine Tendenz zur Überdehnung des Kulturbegriffs gehabt hat, besteht die Gefahr heute eher in einer Einklammerung von „Kultur“ in unterschiedliche reduktionistische Verwendungsweisen – ein Wandel, der vor allem daher rührt, daß im 19. Jahrhundert „Kultur“ als vor-sozialwissenschaftlicher Gesellschaftsbegriff fungierte, heute dagegen, wo die Sozialwissenschaften alles „Gesellschaftliche“ oder „Soziale“ besetzt zu haben scheinen, als außergesellschaftliche oder bestenfalls randständige soziale Kategorie wieder auf der Bühne erscheint. In der verkürzten und um sein herausforderndes innovatives Potential gebrachten Form figuriert der Kulturbegriff heute • im Titel der zahlreichen Genitiv-Kuturgeschichten des Rauchens, Schla-
fens, Weinens etc. „Kultur“ ist hier zum Oberbegriff einer Ansammlung von Paraphernalia geschrumpft, die, so anregend und instruktiv sie im Einzelfall sein mögen, dem traditionellen Genre der Sittengeschichte wenig hinzuzufügen haben;93 • als Bestandteil der Begriffstrias „Herrschaft – Wirtschaft – Kultur“, die im Rahmen von „Gesellschaftsgeschichte“ zur Sammelbezeichnung für Institutionen wie Schule, Universität und Kirche, publizistisch-literarische Öffentlichkeit sowie Ideologien geronnen ist;94 • als Bezeichnung spezifischer Ausprägungen von Lebenspraxis wie Arbeiterkultur, Volkskultur etc.; • als begrifflich-inhaltlicher Notanker zur Bezeichnung von konstitutiven Momenten von „Bürgerlichkeit“ im 19. Jahrhundert, die in einer sozioökonomischen Klassentheorie nicht abbildbar sind.95 Demgegenüber liegen die eigentlichen Herausforderungen des Kulturbegriffs und der Anreiz für seine Diskussion im sozialhistorischen Kontext m. E. auf einer ganz anderen Ebene: dort nämlich, wo der oben kurz skizzierte Kulturbegriff in seiner um „Bedeutung“ als sozialem Konstrukt zentrierten Variante Anregungen zur Überprüfung des sozialgeschichtlichen Begriffsinstrumentariums und Gegenstandsbereich geben kann. Dies erscheint mir vor allem für drei Problemkomplexe möglich und nötig zu sein: 1. Die Analyse von „Bedeutung“, also von Wahrnehmungsstrukturen, Sinnstiftungsprozessen und Wertorientierungen muß in den Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte aufgenommen werden. Das bedeutet nicht, in Zukunft auf die Beschäftigung mit überindividuellen Prozessen und Strukturen zu verzichten, wie immer wieder eingewendet worden ist, mit der ausdrücklichen oder impliziten Befürchtung, dieses „means the end ... of reason, freedom, footnotes, and civilization“.96 Es geht nicht darum, etwa
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den Antisemitismus im deutschen Kaiserreich durch hermeneutischen Nachvollzug verstehend zu rechtfertigen.97 Vielmehr geht es darum, Weltund Gesellschaftsdeutungen in ihrer Relevanz für soziales Handeln und Verhalten, für gesellschaftliche Kontinuitäten und Diskontinuitäten ebenso ernst zu nehmen wie sozioökonomische oder andere Strukturen: Das Forschungsgebiet der (historischen) Sozialwissenschaften „umfaßt Phänomene, die bereits sinnhaft konstituiert sind. Bedingung für den ‚Eintritt‘ in dieses Forschungsgebiet ist, sich das anzueignen, was Akteure schon wissen und wissen müssen, um sich in den täglichen Aktivitäten des gesellschaftlichen Lebens ,zurechtfinden‘ zu können“.98 Auch die „überindividuellen“, „gesellschaftlichen“ Strukturen, Institutionen und Prozesse existieren „nur in und durch das reflexiv (d. h. deutend U. D.) gesteuerte Handeln situierter Akteure, das beabsichtigte so gut wie unbeabsichtigte Folgen hat“.99 Damit soll keineswegs einem individualistischen Reduktionismus das Wort geredet werden: Selbstverständlich gehen Gesellschaft und Geschichte nicht in dem auf, was die Menschen wechselseitig intendieren; allerdings läßt diese Feststellung nicht den Umkehrschluß zu, daß alles, was passiert, unabhängig von menschlichen Vorstellungsweisen und Deutungsvorgängen untersucht werden kann. Es bedarf also einer sozialwissenschaftlich fundierten Hermeneutik beziehungsweise, umgekehrt formuliert, einer hermeneutisch ergänzten sozialhistorischen Theoriebildung, um in methodologisch reflektierter Weise „Bedeutung“ als dasjenige soziale Phänomen analysierbar zu machen, das „Gesellschaft“ in eine soziale Tatsache verwandelt und sozialen Wandel auch in den Veränderungen der Wahrnehmungs- und Sinnstiftungsprozeduren der Menschen verankert.100 Mit ihrer Betonung der symbolischen Seite gesellschaftlicher und sozialer Reproduktion war es über Jahrzehnte hinweg die Ethnologie, die als die eigentliche Erbin der deutschen Gründerväter der Soziologie, Max Weber und Georg Simmel, angesprochen werden muß. Deren sozialwissenschaftliche Philosophie und Methodenlehre, so unterschiedlich sie in mancher Hinsicht auch ausfielen, enthielten als Kernaussage die der ontologischen und methodologischen Zentralität des Verhältnisses zwischen individuellen und überindividuellen Faktoren bei der Analyse von sozialen Zusammenhängen. Demgegenüber setzte sich in der Soziologie und der von ihr beeinflußten historischen Sozialwissenschaft über weite Strecken eine Vorgehensweise durch, die wissenschaftliche Präzision mit der Eliminierung von sperrigen, weil hermeneutisch zu interpretierenden Untersuchungsbereichen erkaufte101 – eine Vorgehensweise, die sich ungeachtet der Hypostasierung von Max Weber zum Homo Heidelbergensis der (historischen) Sozialwissenschaft eigentlich auf Emile Durkheim und dessen Vorgabe, Soziales nur durch Soziales zu erklären, hätte berufen müssen.102 2. Eine „symbolische Wende“ der historischen Sozialwissenschaft hat allerdings zur Voraussetzung, daß die Grenzziehungen zwischen „Gesellschaft“ beziehungsweise Sozialstruktur einerseits und Individuum andererseits erneut zur Diskussion gestellt werden müssen. Solange dies unter-
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bleibt, gehen Wahrnehmungsweisen und Sinnstiftungsprozesse nicht als konstitutive Elemente, sondern als schmückendes Beiwerk in die Analysen ein; oder aber sie werden – dies hat sich an den Diskussionen um die neueren Bindestrich-Geschichten Frauen-, Alltags- und Mentalitätsgeschichte in der Bundesrepublik gezeigt, in denen es u. a. auch um diese Problematik ging – auf Gegenstandsbereiche abgedrängt, deren Abgrenzung vom „Sozialen“ zu akuten Begründungsnotständen geführt hat: Frauengeschichte oder auch Geschlechtergeschichte kann nicht Geschichte der Frauen und/oder Männer sein,103 ebensowenig wie Alltagsgeschichte Geschichte des Alltags oder Mentalitätsgeschichte Geschichte der Kopfinhalte sein kann. Ursache dieser Abgrenzungsnöte ist jedoch in allen Fällen die eigentümliche Form des sozialhistorischen Territoriums, an das sich diese neueren geschichtswissenschaftlichen Ansätze mit mehr oder weniger großen Bereichen von Überlappung anzulagern versuchen. Dieses Territorium heißt „Gesellschaft“ und ist ein Konstrukt, das, unabhängig von der jeweils zugrundeliegenden Definition, seine Form und seinen Inhalt zwei sehr unterschiedlichen und heute kaum jemals begründeten Vorgaben verdankt: 1. Die inhaltliche Füllung von „Gesellschaft“ beruht auf dem Dualismus „objektiv“ versus „subjektiv“:104 „Objektiv“ ist, was sich in einer wissenschaftlichen Beobachtersprache unabhängig von den Bedeutungszuweisungen der Subjekte beziehungsweise, wo auf die Sprache der Beobachteten rekurriert wird, in einem vom Ideal- zum Realtypus mutierten Typus des zweckrationalen Handelns105 beschreiben läßt; Handelnde sind in diesem Zusammenhang vorzugsweise institutionalisierte Akteure in Politik und Verwaltung, in Interessenvertretungen oder Unternehmen. Vor allem aber ist „objektiv“ die Ausgrenzung von „subjektiv“, also von denjenigen deutenden, sinnzuweisenden Tätigkeiten der Menschen, die angeblich in einem kontingenten Verhältnis zu sozialen Strukturen, Institutionen und Prozessen stehen. 2. Die Form von „Gesellschaft“ ist nach wie vor der Tendenz nach oder in vollem Umfang die des Nationalstaates106 – ein Phänomen, das sich gerade heute, nachdem die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft zum Ende des 20. Jahrhunderts ins Stadium des publikatorischen Monolithikums eingetreten ist, an den zahlreichen „Deutschen Geschichten“ beobachten läßt. Die Begründung dafür, daß die Schnittmenge zwischen staatlichen Verwaltungseinheiten und „objektivierbaren“ Strukturen und Handlungszusammenhängen einen sinnvollen Gegenstandsbereich eingrenzt, ist jedenfalls nicht selbstevident und wird von Ethnologen vor dem Hintergrund ihrer bedeutungsgesättigten Analysen gesellschaftlicher Zusammenhänge mit guten Gründen in Frage gestellt: „The assumption of national histories is like the anthropologist’s assumption of the ,authentic‘, namely, that there is a well-defined field of study … What occurred in India cannot be understood in temporal or spatial terms because it was representational or cultural. The units of study in anthropological history should be cultural and
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culturally derived: honor, power, authority, exchange, reciprocity, codes of conduct, 107 systems of social classification, the construction of time and space, rituals.“
Die sozialwissenschaftlichen Umdenkungsprozesse der letzten Jahre lassen sich nicht zuletzt als Versuche lesen, vom Dualismus „objektiv“ versus „subjektiv“ los- und zu einem Gesellschafts- beziehungsweise Menschenbild hinzukommen, das diese Trennung nicht mehr ontologisiert. Der „Nichtangriffspakt zwischen dem Soziologen und der Gesellschaft“108 ist längst aufgekündigt und der historischen Sozialwissenschaft täte es angesichts ihrer deutlichen Neigung zu einem „superorganischen“ Gesellschaftsbegriff gut, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen und sich ebenfalls auf das weite Feld der Erörterungen zu begeben, das dadurch eröffnet worden ist. Es ist keineswegs mehr unbeackert, ganz im Gegenteil sprießen hier die Neuansätze – teils inspiriert durch die ethnologischen Diskussionen,109 teils durch die Wiederentdeckung der soziologischen Klassiker und hier vor allem in den letzten Jahren Georg Simmels110 – und mit ihnen Vorschläge zur Ersetzung des Dualismus Gesellschaft/objektiv – Individuum/subjektiv durch weniger starre Begrifflichkeiten wie etwa Handeln beziehungsweise Praxis und Struktur.111 Eine Distanzierung der historischen Sozialwissenschaft vom Gesellschaftsbegriff hätte im übrigen die m. E. sehr wünschenswerte Nebenfolge, die Subsumierung der historischen Entwicklung vor allem der neueren und neuesten Geschichte unter einem mehr oder weniger expliziten Modernisierungstheorem112 zu erschweren. Die Problematik modernisierungstheoretischer Grundannahmen besteht nicht nur in der Grobschlächtigkeit der Gegenüberstellung von „traditionalen“ und „modernen“ Gesellschaften oder in der Vernachlässigung der Widersprüche und der sozialpsychischen Kosten von Modernisierungsprozessen, sondern auch und vor allem in ihrer Koppelung mit einem „superorganischen“ Gesellschaftsbegriff: Dadurch wird von vornherein die Identifizierung von als wesentlich betrachteten säkularen Tendenzen auf die Ebene gesellschaftlicher Makrostrukturen beschränkt; historische Interpretationen entlang anderer säkularer Leitlinien – wie etwa der seinerzeit von Kurt Breysig aufgeworfenen Frage nach der historischen Entwicklung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft – werden damit an die Peripherie geschichtswissenschaftlichen Entwicklungsdenkens gerückt. Eine hermeneutische oder – „if that word frightens, conjuring up images of biblical zealots, literary humbugs, and Teutonic professors“113 – eine symbolorientierte Wende der historischen Sozialwissenschaft, mit der solche und ähnliche Fragen in den Mittelpunkt des Interesses rücken, bedeutet nicht das Ende, sondern vielmehr die eigentliche Eröffnung der Diskussion über den Charakter des historischen Prozesses. 3. Die Aufkündigung des Nichtangriffspaktes zwischen Sozialwissenschaft und Gesellschaft als Folge der ethnologischen Erkenntnis, daß die Menschen bedeutungsvolle Leben führen, impliziert jedoch noch mehr als einen Begriffswandel. Sie verweist auf die Notwendigkeit – und in diesem
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Zusammenhang hat Bourdieu seine Sentenz auch formuliert –, nicht nur auf der Ebene der beobachteten Subjekte „Werte“ im weitesten Sinn des Wortes wieder zuzulassen, sondern auch auf der Ebene der Beobachtenden. Diese Notwendigkeit ist im Kulturbegriff als „Wertbegriff“114 immer schon impliziert, so daß er im Gegensatz zu „Gesellschaft“ oder „Sozialstruktur“ die explizite Aufforderung zur Diskussion von Werten auch unter denjenigen, die „werturteilsfreie“ Wissenschaft betreiben, enthält.115 Über „Kultur“ zu sprechen, heißt immer auch: über das zu sprechen, was man an der eigenen „Kultur“ bejaht und was man verändern möchte, das heißt also: was sein soll; über „Gesellschaft“ zu sprechen, verleitet demgegenüber sehr viel eher dazu, ausschließlich über das zu sprechen, was ist.116 Es ist also kein Zufall, daß die Sozialwissenschaft in ihrer Gründungsphase, solange sie sich als „Kulturwissenschaft“ begriff, im Unterschied zu späteren Zeiten sich dieser Aufgabe der Diskussion von praktischen, politischen und ethischen Wertungen sehr bewußt war und daß heute, in der Entstehungsphase einer neuen integrierten Kulturwissenschaft, die sozialwissenschaftliche Diskussion von Werten und Veränderungsvorstellungen gefordert wird.117 Man mag die Aufforderung an die Sozial- oder Gesellschaftsgeschichte, jetzt auch noch die Frage danach, welche Gesellschaft man nun eigentlich will, in den bislang Richtung Zukunft so eindeutig abgegrenzten geschichtswissenschaftlichen Gegenstandsbereich zu integrieren, als Zumutung empfinden. Unangenehmer noch könnten allerdings, wenn die Sozialwissenschaften weiterhin darauf beharren, ihr wissenschaftliches Selbstverständnis aus der Nichtbefassung mit vergangenen und gegenwärtigen Deutungs- und Wertsetzungsproblematiken zu gewinnen, die Zumutungen einer Zukunft sein, deren Belange ausgerechnet die Wissenschaften vom Menschen der Astrologie überlassen. Erforderlich wäre dem gegenüber eine historische Kulturwissenschaft, die die sinnstiftende menschliche Praxis in den Mittelpunkt stellt und damit nicht nur zum Zentrum der Analyse, sondern auch der wissenschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit macht: „People made it, is the principal lesson of modern anthropology; people can remake it, must become the principal lesson of our work in the future.“118
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F. Eggan, Social Anthropology and the Method of Controlled Comparison, in: American Anthropologist 56. 1954, S. 743-63, hier: S. 760 (zit. nach G. Weiss, A Scientific Concept of Culture, in: ebd. 75. 1973, S. 1376-413, hier: S. 1376). 2 G. Oestreich, Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland, in: HZ 208. 1969, S. 320-63, hier: S. 353. 3 London 1871. Der deskriptive Tylorsche Kulturbegriff hat bis heute in der ethnologischen Diskussion einen hohen Stellenwert: „Culture, or civilization, … is that complex whole which includes knowledge, belief, art, law, morals, customs, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society”; ebd., S. 1 (zit. nach A. L. Kroeber u. C. Kluckhohn, Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions, New York o. J. [orig. 1952], S. 81). 4 W. Lipp u. F. H. Tenbruck (Hg.), Kultursoziologie (Schwerpunktheft der KZSS 31) 1979, H. 3; F. Neidhardt u. a. (Hg.), Kultur und Gesellschaft, Opladen 1986 (= KZSS SoH 7). 5 S. z. B. Theory, Culture & Society 1. 1984ff. 6 1984 wurde die Sektion „Kultursoziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gegründet. 7 F. H. Tenbruck, Die Aufgaben der Kultursoziologie, in: KZSS 31. 1979, S. 399421; J. Weiß, Sammelbesprechung: Kultur als soziale Lebenswelt, in: Soziologische Revue 4. 1981, S. 367-81; M. S. Archer, Culture and Agency. The Place of Culture in Social Theory, Cambridge 1988; R. Robertson, The Sociological Significance of Culture: Some General Considerations, in: Theory, Culture & Society 5. 1988, S. 3-23; Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, des 11. österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt/M. 1989; H. Berking u. R. Faber (Hg.), Kultursoziologie – Symptom des Zeitgeistes?, Würzburg 1989; H. Haferkamp (Hg.), Sozialstruktur und Kultur, Frankfurt/M. 1990. In der bundesdeutschen Kultursoziologie zeigt sich allerdings eine gewisse Tendenz der Neubelebung eines hierarchischen, letztlich auf „bürgerliche Kultur“ zulaufenden Kulturkonzepts; s. z. B. J. Stagl, Kulturanthropologie und Kultursoziologie. Ein Vergleich, in: F. Neidhardt u. a. (Hg.), Kultur und Gesellschaft, S. 75-91, sowie ders., Über den Einfluß kultureller Inhalte auf die sozialen Strukturen, in: Zeitschrift für Politik 33. 1986, S. 115-47. 8 S. hierzu L. Schorn-Schütte, Karl Lamprecht, Wegbereiter einer historischen Sozialwissenschaft?, in: N. Hammerstein (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 153-91, hier: S. 161. 9 F. H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz 1984, S. 183f. 10 J. Kocka, Sozialgeschichte. Begriff – Entwicklung – Probleme, Göttingen 19862, S. 98.
414 | U TE DANIEL 11 Ders., Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800 (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, hg. v. G. A. Ritter, Bd. 1), Bonn 1990, S. 228, Anm. 26. 12 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW, Erg.Bd.: Schriften, Manuskripte, Briefe bis 1844, 1. Teil, Berlin (O) 1973, S. 538f. (Hervorh. i. Orig.). 13 F. Neidhardt, „Kultur und Gesellschaft.“ Einige Anmerkungen zum Sonderheft, in: ders. u. a. (Hg.), Kultur und Gesellschaft, S. 10-18, hier: S. 10f. 14 Für eine allgemeinere Begriffs- und Definitionsgeschichte von „Kultur“ s. J. Niedermann, Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, Florenz 1941; Kroeber u. Kluckhohn, Culture; H. Schell, Kultur und Zivilisation. Anfang einer sprachvergleichenden Studie, Bonn 1959; I. Baur, Die Geschichte des Wortes „Kultur“ und seiner Zusammensetzungen, in: Muttersprache 71. 1961, S. 220-29; D. Sobrevilla, Der Ursprung des Kulturbegriffs, der Kulturphilosophie und der Kulturkritik. Eine Studie über deren Entstehung und deren Voraussetzungen, Diss. Tübingen 1971; B. Kopp, Beiträge zur Kulturphilosophie der deutschen Klassik. Eine Untersuchung im Zusammenhang mit dem Bedeutungswandel des Wortes Kultur, Meisenheim a. GI. 1974; J. Fisch, Kultur, Zivilisation. Ms. (wird erscheinen im 7. Band der „Geschichtlichen Grundbegriffe“; ich danke Jörg Fisch für die Überlassung seines Manuskripts). 15 Um der verwirrenden internationalen Begriffsvielfalt zur Bezeichnung derjenigen Humanwissenschaften, die ursprünglich auf die Analyse nichtindustrieller Gesellschaften spezialisiert waren, auszuweichen, wird im folgenden in allgemeinen Zusammenhängen der deutsche Ausdruck Ethnologie verwendet werden, während die Bezeichnung spezifischer Ausprägungen dieser Disziplin wie cultural anthropology und social anthropology beibehalten wird. 16 Die Unterscheidung der Kulturkonzepte erfolgt in Anlehnung an Z. Bauman, Culture as praxis, London, Boston 1973, S. 1-57. 17 Fisch, Kultur, Zivilisation, VI. 1. b. 18 Um 1765 stellt Mendelssohn in seiner Schrift „Über die Frage: was heisst aufklären“ fest: „Bildung, Cultur und Aufklärung sind Modifikationen des geselligen Lebens; Wirkungen des Fleisses und der Bemühungen der Menschen ihren geselligen Zustand zu verbessern“; zitiert nach Schell, Kultur, S. 109. 19 S. z. B. G. Klemm, Allgemeine Culturgeschichte der Menschheit. 10 Bde, Leipzig 1843-52; ders., Allgemeine Culturwissenschaft. Die materiellen Grundlagen menschlicher Cultur, 2 Bde, Leipzig 1854/55; G. F. Kolb, Geschichte der Menschheit und der Cultur, 1843; ders., Culturgeschichte der Menschheit mit besonderer Berücksichtigung von Regierungsform, Politik, Religion, Freiheits- und Wohlstandsentwicklung der Völker; eine allgemeine Weltgeschichte nach den Bedürfnissen der Jetztzeit, 2 Bde, 1869/70; Wachsmuth, Allgemeine Culturgeschichte, 1850-52; Drumann, Grundriss der Culturgeschichte, 1846; J. Lippert, Kulturgeschichte der Menschheit in ihrem organischen Aufbau, 2 Bde, Stuttgart 1886/87; F. v. Hellwald, Die Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung,
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1875; vgl. die Überblicke bei V. Hartmann, Die deutsche Kulturgeschichtsschreibung von ihren Anfängen bis Wilhelm Heinrich Riehl, Diss. Marburg 1971, u. F. Jodl, Die Culturgeschichtsschreibung, ihre Entwickelung und ihr Problem, Halle 1878. Der bekannteste Fachhistoriker mit kulturgeschichtlichem Ansatz war bis zum Lamprechtstreit Jacob Burckhardt, auf den hier nicht weiter eingegangen werden kann. Im Gegensatz zu den o. g. „Kulturgeschichten“ war Burckhardts kulturgeschichtlicher Ansatz keineswegs von Fortschrittsglauben geprägt, sondern nahm in gewisser Weise eine ethnologische Betrachtungsweise vorweg; s. hierzu W. Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jakob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen 1974, v. a. S. 165-81; V. Papathanassion, Kulturwissenschaftliche Ansätze in den Werken von Jacob Burckhardt, Diss. Universität Saarbrücken 1982, und F. Gilbert, History: Politics or Culture? Reflections on Ranke and Burckhardt, Princeton 1990. V. a. bei G. Klemm, den die spätere Ethnologie zu ihren Pionieren rechnet; s. R. H. Lowie, The History of Ethnological Theory, New York 1937, S. 11-16. L. H. Morgan, Systems of Consanguinity and Affinity of the Human Family (1871); ders., Ancient Society (1877) (dt.: Die Urgesellschaft. Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation, Lollar 1976). Vgl. zu Morgan B. Ganzer, Lewis Henry Morgan (18181881), in: W. Marschall (Hg.), Klassiker der Kulturanthropologie. Von Montaigne bis Margaret Mead, München 1990, S. 88-108, sowie M. Sahlins, Kultur und praktische Vernunft, Frankfurt/M. 1981, S. 85-98. Der Begriff cultural anthropology verdrängte in den Vereinigten Staaten seit Beginn der dreißiger Jahre den der Ethnologie. S. zum folgenden, wenn nicht anders angegeben, W. Rudolph, Die amerikanische „Cultural Anthropology“ und das Wertproblem, Berlin 1959; M. Harris, The Rise of Anthropological Theory. A History of Theories of Culture, New York 1968; A. de W. Malefijt, Images of Man: A History of Anthropological Thought, New York 1974; J. Stagl, Kulturanthropologie und Gesellschaft. Wege zu einer Wissenschaft, München 1974 (19812); J. J. Honigman, The Development of Anthropological Ideas, Homewood Ill. 1976; F. W. Voget, A History of Ethnology, New York 1975; R. Girtler, Kulturanthropologie. Entwicklungslinien, Paradigmata, Methoden, München 1979, sowie für die neuere Entwicklung den sehr instruktiven Beitrag von S. B. Ortner, Theory in Anthropology since the Sixties, in: CSSH 26. 1984, S. 126-66. F. Boas, The Mind of Primitive Man, New York 1911. Dieses triadische Bezugssystem prägt die ethnologische Diskussion bis heute; s. R. König, über einige Grundfragen der empirischen Kulturanthropologie, in: ders. u. A. Schmalfuß (Hg.), Kulturanthropologie, Düsseldorf 1972, S. 7-48, hier: S. 15 f., und C. Geertz, Ritual und sozialer Wandel: Ein javanisches Beispiel, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1987, S. 96-132, hier: S. 99f. Vom Ergebnis her entspricht das in etwa Keesings Unterscheidung zwischen Kultur als adaptivem System (holistischer Kulturbegriff) und Kultur als Ideensystem (symbolischer Kulturbegriff) bzw. Vivelos Unterscheidung zwischen ei-
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nem holistischen und einem mentalen Kulturbegriff: R. M. Keesing, Theories of Culture, in: Annual Review of Anthropology 3. 1974, S. 73-97, hier: S. 73-81; F. R. Vivelo, Handbuch der Kulturanthropologie. Eine grundlegende Einführung, hg. v. J. Stagl, Stuttgart 1981, S. 50-54. Der Begriff „holistisch“ ist allerdings insofern irreführend, als er sehr wohl ausgrenzt, nämlich die Ebene von Bedeutungen und bedeutungsgeleitetem Handeln. A. L. Kroeber, auf den die Propagierung des Begriffs zurückgeht, definierte Kultur in einer durch Dilthey und Rickert inspirierten Weise als eine von psychischen Prozessen der Menschen unabhängige und daher überorganische geistige Wesenheit; A. L. Kroeber, The Eighteen Professions, in: American Anthropologist 17. 1915, S. 283-88; ders., The Superorganic, in: ebd. 19. 1917, S. 163-213. Aktuelle zeitgenössische Tendenzen wie Rassismus, Nationalismus, Nationalsozialismus und Faschismus und schließlich der Zweite Weltkrieg förderten das Interesse an Fragen nach der kulturellen Formung der Individuen durch die Gesellschaft; König, Grundfragen, S. 7. Die andere damals in Frage kommende Nachbardisziplin, die Soziologie, bot sich wegen ihrer Schwerpunktsetzung auf der empirischen Sozialforschung wenig zur Kooperation an. Dies änderte sich auch in den folgenden Jahren nur bedingt. Zwar zog Talcott Parsons im Zuge seines Versuchs, eine allgemeine Handlungs- und Systemtheorie zu entwickeln, auch Anthropologen hinzu (s. v. a. T. Parsons u. E. A. Shils [Hg.], Toward a General Theory of Action, New York 1951), doch ließ er „die zu ,Normen und Werten‘ verblaßte Kultur als Geist über allen Gesellschaften schweben. Die Systemvorstellung seines evolutionären Optimismus verlangte die Versicherung, daß diese Werte sich angemessen von selbst bilden“; F. H. Tenbruck, Die Aufgaben der Kultursoziologie, S. 420, Anm. 5. M. Mead, Coming of Age in Samoa: A Psychological Study of Primitive Youth for Western Civilization, New York 1928; dies., Growing Up in New Guinea: A Comparative study of Primitive Education, New York 1930; R. Benedict, Patterns of Culture, New York 1934. E. Sapir, Do we need a Superorganic, in: American Anthropologist 19. 1917, S. 441-47. Ders., Cultural Anthropology and Psychiatry (1932), in; D. Mandelbaum (Hg.), Selected Writings of Edward Sapir, Berkeley 1951, S. 508-21; R. Linton, The study of Man, New York 1936; ders., The Cultural Background of Personality, London 19523; A. Kardiner, The Psychological Frontiers of Society, New York 1945. In Großbritannien gab es zur Entstehungszeit der neuen Disziplin Anthropologie keine an den Universitäten etablierte Sozialwissenschaft, so daß die britische Anthropologie diese Leerstelle besetzte. Das eigentliche Geburtsjahr der social anthropology war 1922, als die beiden empirischen Studien von Alfred Reginald Radcliffe-Brown („Andaman Islanders“) und Bronislaw Malinowski („Argonauts of the Western Pacific“) erschienen; Stagl, Kulturanthropologie, S. 50f. Vgl. u. a. K.-H. Kohl, Bronislaw Kaspar Malinowski (1884-1942), in: Marschall (Hg.), Klassiker, S. 227-47. Sahlins, Kultur, S. 124.
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34 Kohl, Malinowski, S. 232-35. 35 B. Malinowski, A Diary in the Strict Sense of the Term, London 1967; s. hierzu C. Geertz, „Aus der Perspektive des Eingeborenen“. Zum Problem des ethnologischen Verstehens, in: ders., Dichte Beschreibung, S. 289-309. 36 „Let no one minimize the possible historical importance of swaddling or toilet training; but to the extent that these are significant dimensions of the historical process, to that extent they must be linked with other regular features of sociocultural systems“; Harris, Rise, S. 458. Neuere Ansätze zu einer Verbindung von Geschichte, Ethnologie und Psychoanalyse, die die Engführungen der Kulturund Persönlichkeitsforschung vermeiden, sind v. a. mit dem Namen des Historikers und Psychoanalytikers Mario Erdheim verbunden; s. M. Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß, Frankfurt/M. 1984; ders., Die Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur. Aufsätze 1980-1987, Frankfurt/M. 1988. 37 L. A. White, The Science of Culture. A Study of Man and Civilization, New York 1949; ders., Der Begriff Kultur, in: C. A. Schmitz (Hg.), Kultur, Frankfurt/M. 1963, S. 358-409; Ch. E. Guksch, Leslie Alvin White (1900-1975), in: Marschall (Hg.), Klassiker, S. 277-94. 38 J. Steward, Theory of Culture Change. The methodology of multilinear evolution, Urbana, Ill. 1955; J. W. Raum, Julian Haynes Steward (1902-1917), in: Marschall (Hg.), Klassiker, S. 248-76; s. zur Weiterentwicklung der Kulturökologie auch A. Vayda (Hg.), Environment and Cultural Behavior, New York 1969. Innerhalb der britischen social anthropology wurde die evolutionistische Kulturinterpretation von Gordon Childe vertreten; V. G. Childe, Man Makes Himself, New York 1936. 39 Kultur hatte „the character of a blurred miasma floating over people's heads somehow directing their activities“; Weiss, A Scientific Concept, S. 1395. 40 Der Begriff des Symbolischen als Kurzform für Wert- und Bedeutungszusammenhänge begann seine Karriere mit Ernst Cassirers „Essay on Man“ (1944); s. zur ethnologischen Diskussion des Symbolbegriffs R. Firth, Symbols. Public and Private, London 1973. 41 Einen auf die Bedeutungs- und Wertebene eingegrenzten Kulturbegriff forderten als erste A. L. Kroeber, Reality Culture and Value Culture (1950/51), in: ders., The Nature of Culture, Chicago, London 1987 (Orig.ausg. 1952), S. 152-66, sowie ders. u. T. Parsons, The Concept of Culture and of Social System, in: American Sociological Review 23. 1958, S. 582f. 42 C. Kluckhohn, Mirror for Man, New York 1949, S. 300 (zit. nach Harris, Rise, S. 591); ders. u. a., Values and Value-Orientations in the Theory of Action: An Exploration in Definition und Classification, in: Parsons u. Shils (Hg.), Toward a General Theory of Action, S. 388-433. 43 Vgl. M. Harris, The Nature of Cultural Things, New York 1964; ders., Rise, v. a. S. 568-604, 643-87; ders., Cultural Materialism. The Struggle for a Science of Culture, New York 1980. 44 Sahlins, Kultur, S. 10. Vgl. zu den frühen Formulierungen des Problems neben der in Anm. 46 genannten Literatur A. I. HalloweIl, Culture, Personality, and
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Society, in: S. Tax (Hg.), Anthropology Today. Selections, Chicago 1962 (Orig.ausg. 1952), S. 351-74, sowie D. Bidney, Theoretical Anthropology, New York 1967 (Orig.ausg. 1953), v. a. S. XXXI, 104-09, 328 und passim. W. H. Goodenough, Property, Kin, and Community on Truk, New Haven 1951, S. 10 (zit. nach Vivelo, Handbuch, S. 56). S. hierzu neben Goodenough, Property, ders., Language, Culture, and Society, Menlo Park, ca. 1971; St. A. Tyler (Hg.), Cognitive Anthropology, New York 1969; ders., The Said and the Unsaid: Mind, Meaning, and Culture, New York 1978, sowie E. Renner, Die Grundlinien der kognitiven Forschung, in: H. Fischer (Hg.), Ethnologie. Eine Einführung, Berlin 1983, S. 391-425. Keesing, Theories, S. 83-88; Ortner, Theory, S. 129. G. D. Berreman, Is Ethnoscience relevant?, in: J. P. Spradley (Hg.), Culture and Cognition. Rules, Maps, and Plans. San Francisco 1972, S. 223-32, hier: S. 232 (Hervorh. i. Orig.). Am deutlichsten ist die enge Verbindung des Symbolischen mit dem Sozialen bei Clifford Geertz; s. C. Geertz, Religion als kulturelles System, in: ders., Dichte Beschreibung, S. 44-95. Andere Vertreter der symbolischen Anthropologie betonen demgegenüber stärker die Trennung der kognitiven von der Handlungsebene (D. M. Schneider, American Kinship: A Cultural Account, Englewood Cliffs, N. J. 1968) oder die strukturellen Aspekte (V. Turner, Das Ritual. Struktur und Antistruktur, Frankfurt/M. 1989; ders., Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/M. 1989). Geertz, Religion als kulturelles System, S. 49 f. J. Fabian, Time and the Other: How anthropology makes its object, New York 1983., S. 131-41. „Gesellschaften bergen wie Menschenleben ihre eigene Interpretation in sich; man muß nur lernen, den Zugang zu ihnen zu gewinnen“; C. Geertz, „Deep play“: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf, in: ders., Dichte Beschreibung, S. 202-60, hier: S. 260. B. S. Cohn, History and Anthropology: The State of Play, in: CSSH 22. 1980, S. 198-221, hier: S. 201. S. als Beispiele für die Arbeiten der symbolischen Anthropologie u. a. R. Wagner, The Invention of Culture, Englewood Cliffs, N. J. 1975; J. L. Dolgin u. a. (Hg.), Symbolic Anthropology. A Reader in the Study of Symbols and Meanings, New York 1977; A. L. Yengoyan (Hg.), The Imagination of Reality. Essays in Southeast Asian Coherence Systems, Norwood, N. J. 1979; Geertz, Dichte Beschreibung; ders., Local knowledge. Further essays in interpretive anthropology, New York 1983. Die Forderung nach Einbeziehung „moderner“ Gesellschaften in ihren Untersuchungsbereich ist schon fast zu einem Topos der ethnologischen Diskussion geworden. Vgl. z. B. L. B. Despres, Anthropological theory, cultural pluralism and the study of complex societies, in: Current Anthropology 9. 1968, S. 3-26; E.-W. Müller, Die Ethnologie und das Studium komplexer Gesellschaften, in: K. Tauchmann (Hg.), FS zum 65. Geburtstag von Helmut Petri, Köln 1973., S. 37489; St. R. Barrett, The Rebirth of Anthropological Theory, Toronto 1984, S. 6f.
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und passim; A. Jackson (Hg.), Anthropology at Home, London 1987. S. als Beispiele hierzu M. Harris, America Now: The Anthropology of a Changing Culture (1980) (Neuaufl. u. d. T. Why nothing works. The Anthropology of daily life, New York 1987); M. Augé. Ein Ethnologe in der Metro, Frankfurt/M. 1988. Auch die Forderungen nach einer Historisierung der Anthropologie sind mittlerweile Legion. Um nur einige neuere Beispiele zu nennen: C. Lévi-Strauss, Einleitung: Geschichte und Ethnologie, in: ders., Strukturale Anthropologie, Frankfurt/M. 1972, S.11-40; ders., Histoire et ethnologie, in: Annales ESC 38. 1983, S. 1217-231; W. Lepenies, Geschichte und Anthropologie. Zur wissenschaftshistorischen Einschätzung eines aktuellen Disziplinenkontakts, in: GG 1. 1975, S. 325-43; Cohn, History; M. Sahlins, Other Times, Other Customs: The Anthropology of History, in: American Anthropologist 85. 1983, S. 517-44; M. Szalay, Ethnologie und Geschichte. Zur Grundlegung einer ethnologischen Geschichtsschreibung, Berlin 1983; K. R. Wernhart (Hg.), Ethnohistorie und Kulturgeschichte, Wien 1986; N. Thomas, Out of Time. History and Evolution in Anthropological Discourse, Cambridge 1989; C. Geertz, History and Anthropology, in: New Literary History 21. 1990, S. 321-35; eher warnend W. Rudolph, Ethnologie, Geschichte, Soziologie, in: ders., Ethnologie. Zur Standortbestimmung einer Wissenschaft, Tübingen 1973, S. 23-49, S. als ein Beispiel für ethnologische Geschichtsschreibung „moderner“ Gesellschaften J. Frykman u. O. Löfgren, Culture Builders. A Historical Anthropology of Middle-Class Life, New Brunswick, London 1987. Zum sogenannten Praxisansatz s. P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/M. 1979 (Orig. ausg. 1972); Baumann, Culture; L. Goldmann, Cultural Creation in Modern Society, Oxford 1977; A. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt/M. 1988; Ortner, Theory, v. a. S. 144-60; Dolgin u. a. (Hg.), Symbolic Anthropology: Introduction, S. 3-44. Die Grenzen zwischen Praxisansatz, phänomenologischer und interpretativer Soziologie sind in vielerlei Hinsicht fließend, da das Grundanliegen ein durchaus ähnliches ist. Vgl. zur interpretativen Soziologie u. a. W. L. Bühl (Hg.), Verstehende Soziologie, München 1972; P. Rabinow u. W. M. Sullivan (Hg.), Interpretive Social Science. A Reader, Berkeley 1979; A. Giddens. Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung, Frankfurt/M. 1984. Zur phänomenologischen Soziologie, die sich vor allem auf Alfred Schütz bezieht, s. P. L. Berger u. Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1982; W. Sprondel u. R. Grathoff (Hg.), Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften, Stuttgart 1979; A. Schütz u. Th. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, 2 Bde, Frankfurt/M. 1979/84; R. Eickelpasch u. B. Lehmann, Soziologie ohne Gesellschaft? Probleme einer phänomenologischen Grundlegung der Soziologie, München 1983; R. Grathoff, Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung, Frankfurt/M. 1989. Dolgin u. a. (Hg.), Symbolic Anthropology: Introduction, S. 37. Ebd., S. 44.
420 | U TE DANIEL 60 Oestreich, Anfänge, S. 321-26. 61 E. Gothein, Die Aufgaben der Kulturgeschichte, Leipzig 1889, S. 2f. Gothein war zwar mit einem historischen Thema habilitiert worden, hatte jedoch einen Lehrstuhl für Nationalökonomie; Oestreich, Anfänge, S. 327, Anm. 21. Sein Plädoyer für Kulturgeschichte war eine Streitschrift gegen Dietrich Schäfers Veröffentlichung „Das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte“ (Akademische Antrittsrede, Jena 1888), in der Schäfer den Primat der Politikgeschichte betont hatte. 62 Ebd., S. 12, 16, 36. 63 Ebd., S. 50. 64 K. Breysig, Ueber Entwicklungsgeschichte, in: Dt. Zs. f. Geschichtswissenschaft N. F. 1. 1896/97, S. 161-74, 193-211. S. zu Breysig B. vom Brocke, Kurt Breysig. Geschichtswissenschaft zwischen Historismus und Soziologie, Lübeck 1971. 65 „Die Kultur, die ich meine, umfaßt im buchstäblichen Sinn des Wortes alle sozialen Institutionen, wie alles geistige Schaffen. Ich möchte von Verfassung und Verwaltung der Staaten eben so viel wie von Recht und Sitte der Gesellschaft, vom Schicksal der Klassen und Stände eben so viel wie von dem äußeren Verhalten der politisch geeinten und aktionsfähigen Völker in Krieg und Frieden erzählen. Ich möchte die Geschichte der Dichtung und der bildenden Kunst, der Wissenschaft und des Glaubens gleichmäßig überliefern. Und ich möchte vor Allem die Fäden aufdecken, die geistiges und soziales Leben der Völker mit einander verbunden und umsponnen halten“; K. Breysig, Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd. 1: Aufgaben und Maßstäbe einer allgemeinen Geschichtsschreibung, Berlin 1900, S. VII. 66 Ders., Ueber Entwicklungsgeschichte, S. 165 ff., 193-200. 67 Ebd., S. 174. 68 Ders., Aufgaben und Maßstäbe, S. VIII. 69 S. z. B. ebd., S. 9, 16. Am Gesellschaftsbegriff, den er als analytischen Begriff zu unbestimmt findet, hält Breysig aus pragmatischen Gründen fest, da er sich für die Gesamtheit sozialer Gemeinschaften unter Abzug des Staates – also Familie, Stände, Klassen und Vereine etc. zusammen – mittlerweile eingebürgert habe; ebd., S. 81. 70 Ebd., S. 16, 25. 71 Ebd., S. 19. 72 K. Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte? Beitrag zu einer empirischen Historik (1896/97), in: H. Schleier (Hg.), Karl Lamprecht. Alternative zu Ranke, Leipzig 1988, S. 213-72, hier: S. 225. S. zu Lamprechts kulturgeschichtlichem Ansatz auch L. Schorn-Schütte, Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen 1984, und P. Griss, Das Gedankenbild Karl Lamprechts. Historisches Verhalten im Modernisierungsprozeß der „Belle Epoque“, Bern 1987. 73 Ebd., S. 271. 74 Ebd., passim; s. hierzu auch seine Vorstellung, prähistorische Kulturen über die „Analogiewissenschaft“ Kinderpsychologie erschließen zu können; K. Lamprecht, Die Forschungsabteilung für Kultur- und Universalgeschichte betref-
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fend. Denkschrift vom 3. August 1914, in: Schleier (Hg.), Karl Lamprecht, S. 436-44, hier: S. 439f. Ders., Was ist Kulturgeschichte, passim. Auf die gegenüber kulturorientierten Fragestellungen sehr viel offenere Entwicklung der Landes- und Regionalgeschichte kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden; s. hierzu Schorn-Schütte, Karl Lamprecht, v. a. S. 172-84. Auch dem Verhältnis der deutschen Geschichtswissenschaft zum biologistischen und rassistischen Kulturbegriff der Zwischenkriegszeit ist hier nicht weiter nachzugehen; zum Verhältnis von „Kultur“ und „Rasse“ in der damaligen Ethnologie vgl. jetzt H. Fischer, Völkerkunde im Nationalsozialismus. Aspekte der Anpassung, Affinität und Behauptung einer wissenschaftlichen Disziplin, Berlin 1990. G. Ritter, Zum Begriff der Kulturgeschichte. Ein Diskussionsbeitrag, in: HZ 171. 1951, S. 293-302, hier: S. 298f. Ders., Zur Problematik gegenwärtiger Geschichtsschreibung. I. Vom Problem der „Kulturgeschichte“, in: ders., Lebendige Vergangenheit. Beiträge zur historisch-politischen Selbstbestimmung, München 1958, S. 255-71, hier: S. 265f. Ebd., S. 269. S. zur Entwicklung der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 E. Schulin, Zur Restauration und langsamen Weiterentwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, in: ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen 1979, S. 133-43; ders. (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1965), München 1989; H.-U. Wehler, Zur Lage der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik 1949-1979, in: ders., Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung, Göttingen 1980; W. Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 (Beihefte der HZ N. F., Bd. 10), München 1989. Th. Nipperdey, Bemerkungen zum Problem einer historischen Anthropologie, in: E. Oldemeyer (Hg.), Die Philosophie und die Wissenschaften. Simon Moser zum 65. Geburtstag, Meisenheim a. GI. 1967, S. 350-70; ders., Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, in: G. Schulz (Hg.), Geschichte heute. Positionen, Tendenzen, Probleme, Göttingen 1973, S. 225-55; ders., Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, historische Anthropologie, in: VSWG 65. 1968, S. 145-64. Ders., Kulturgeschichte. S. 155. Ders., Die anthropologische Dimension, S. 242. Ders., Kulturgeschichte, S. 155, 157 (Zitat: S. 157). Ebd., S. 158. Ebd., S. 164. Nipperdey, Die anthropologische Dimension, S. 229; auch die von Rudolf Vierhaus angedeutete Konzeption von „Kulturgeschichte“ weist in diese Richtung; s. R. Vierhaus, Kulturgeschichte, in: K. Bergmann u. a. (Hg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, Bd. 1, Düsseldorf 1979, S. 146-49, und ders., Kultur und Gesellschaft im achtzehnten Jahrhundert, in: B. Fabian u. W. Schmidt-Biggemann (Hg.), Das achtzehnte Jahrhundert als Epoche, Nendeln 1978, S. 71-86. In einem
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sehr ähnlichen Argumentationsrahmen fordern seit den 1960er Jahren Historikerinnen und Historiker vielfach eine Öffnung der Geschichtswissenschaft für ethnologische Anregungen: K. Thomas, History and Anthropoloy, in: PP 24. 1963, S. 3-24; E. P. Thompson, Volkskunde, Anthropologie und Sozialgeschichte, in: ders., Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1980, S. 290-318; B. S. Cohn, Toward a Rapprochement, in: JIH 12. 1982, S. 227-52; N. Z. Davis, The Possibilities of the Past, in: ebd., S. 267-75; C. Ginzburg, A Comment, in: ebd., S. 277f. Auch Nipperdeys eigene Darstellungen neueren Datums sind davon nur rudimentär (Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 19912) oder gar nicht (ders., Deutsche Geschichte 18001866: Bürgerwelt und starker Staat, München 1983) beeinflußt. So im Stuttgarter Institut für Anthropologische Verhaltensforschung von August Nitschke, im Freiburger Institut für Historische Anthropologie von Jochen Martin, im Göttinger Max-Planck-Institut von Alf Lüdtke und Hans Medick und im Tübinger Institut für empirische Kulturwissenschaften; s. hierzu H. Süssmuth (Hg.), Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte. Göttingen 1984. S. als Beispiele für die aus diesem Disziplinenkontakt heraus entstandenen Arbeiten u. a. H. Medick u. D. Sabean (Hg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen 1984; J. Martin u. R. Zoepffell (Hg.), Aufgaben, Rollen und Räume von Frau und Mann (Kindheit – Jugend – Familie im interkulturellen Vergleich der Geschichtsepochen und Zivilisationen, Bd. 3), Freiburg 1989; D. W. Sabean, Property, production, and family in Neckarshausen, 1700-1870, Cambridge 1990; W. Kaschuba, Lebenswelt und Kultur der unterbürgerlichen Schichten im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990; A. Lüdtke (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991. S. z. B. R. M. Berdahl u. a., Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt/M. 1982; H. Medick, „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: GG 10. 1984, S. 295-319; Kocka, Sozialgeschichte, S. 162-74. A. Lüdtke, Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte, in: ders. (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt/M. 1989, S. 9-47, hier: S. 9-13. J. A. Boon, Further Operations of „Culture“ in Anthropology: A Synthesis of and for Debate, in: L. Schneider u. Ch. M. Bonjean (Hg.), The Idea of Culture in the Social Sciences, Cambridge 1973, S. 1-32, hier: S. 1. Vgl. z. B. H. Böhme (Hg.), Zur Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt/M. 1987; P. Dibie, Wie man sich bettet. Eine Kulturgeschichte des Schlafzimmers, Stuttgart 1989; M. Seefelder, Opium. Eine Kulturgeschichte, München 1990; V. Křižek, Kulturgeschichte des Heilbades, Leipzig 1990. H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1.: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, München 1987, S. 11f.
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95 J. Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 21-63, hier: S. 42-48. Die hier vertretene Auffassung von bürgerlicher „Kultur“ als Normen- und Wertehierarchie der (wohl überwiegend männlichen) Bürger ist durchaus diskussionswürdig, fällt aber m. E. hinter Jürgen Kockas eigenen Diskussionsstand zurück; vgl. Kocka, Sozialgeschichte, S. 152-60, wo er den Kulturbegriff als sehr viel umfassender analysiert und seine Implikationen – wenn auch nur als wahrnehmungsgeschichtliche Ergänzung der traditionellen Sozialgeschichtsschreibung – begrüßt. Zu den z. T. sehr anregenden Einzelbeiträgen der Bielefelder Bürgertumsforschung s. die Beiträge von W. Kaschuba, M. Kraul, K. Rutschky, U. Frevert und G. Motzkin in: J. Kocka u. U. Frevert (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 3, München 1988, S. 9-171. Daß es sich bei diesem Rückgriff auf den Kulturbegriff um einen „Notanker“, nicht aber um eine grundlegende theoretische Wende handelt, wird hier deswegen vermutet, weil in den gerade erschienenen Bänden Jürgen Kockas zur Geschichte der deutschen Arbeiterschaft die Arbeiterklasse sowohl in ihrer theoretischen Begründung wie in ihrer empirischen Analyse weiterhin ohne „Kultur“ auskommen muß; vgl. Kocka, Weder Stand noch Klasse, v. a. S. 34, 228 (Anm. 26); ders., Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert (= Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, hg. v. Gerhard A. Ritter, Bd. 2), Bonn 1990. 96 Geertz, History and Anthropology, S. 321. Geertz formuliert dies mit polemischer Spitze gegen die traditionelle Politikgeschichte, doch ist unschwer die angesprochene Befürchtung z. B. bei Jürgen Kocka zu identifizieren, wenn er gegen die Alltagsgeschichte einwendet, es sei „im Augenblick ein Verlust auch an Intellektualität in der Geschichtswissenschaft zu beobachten“; Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte: Alltagsgeschichte der NS-Zeit. Neue Perspektiven oder Trivialisierung?, München 1984, S. 52. 97 J. Kocka, Diskussionsbeitrag in: Alltagsgeschichte der NS-Zeit, S. 50-53, hier: S. 52f. 98 Giddens, Konstitution, S. 338. 99 Ebd., S. 270. 100 In der Ethnologie liefert auch für die Geschichtswissenschaft anregende methodologische Grundüberlegungen Wagner, Invention. 101 Daß eine bedeutungszentrierte Sozialgeschichtsschreibung empirisch fruchtbar ist, belegen mittlerweile zahlreiche Einzelstudien; ihre kritische Würdigung unter dem Gesichtspunkt ihres expliziten oder impliziten Beitrags zu einer bedeutungsorientierten sozialhistorischen Theoriebildung kann hier nur angeregt werden. Zu nennen wären „Klassiker“ wie etwa E. LeRoy Ladurie, Karneval in Romans. Von Lichtmeß bis Aschermittwoch 1579-1580. Stuttgart 1982, und E. P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse. 2 Bde, Frankfurt/M. 1987; als neuere Beispiele s. z. B. R. Darnton, Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution, München
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1989; R. Schulte, Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts (Oberbayern 18481910), Reinbek 1989; R. lsaac, The Transformation of Virginia, 1740-1790, Chapel Hill 1982; D. W. Sabean, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit, Berlin 1986; M. SegaIen, Die Familie. Geschichte, Soziologie, Anthropologie, Frankfurt/M. 1990; U. Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991. E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, hg. v. R. König. Neuwied, Berlin 19652, S. 186-93 und passim. Vgl. hierzu etwa G. Bock. Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, in: GG 14. 1988, S. 364-91. Giddens, Konstitution, S. 34. Eine bis heute anregende wissenschaftsphilosophische Zerstörung dieses Dualismus lieferte Georg Simmel in der „Philosophie des Geldes“; G. Simmel, Philosophie des Geldes (Gesamtausgabe, hg. v. O. Rammstedt, Bd. 6), Frankfurt/M. 1989, S. 23-54. Max Weber hatte seinerzeit vorgeschlagen, den Idealtypus des zweckrationalen Handelns als methodisches Werkzeug zur Analyse sozialen Handelns zu verwenden; M. Weber, Soziologische Grundbegriffe, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 19725, S. 1-30, hier: S. 2f. Ungeachtet seiner Warnung, dieses rein methodisch motivierte Verfahren dürfe „nicht etwa zu dem Glauben an die tatsächliche Vorherrschaft des Rationalen über das Leben umgedeutet werden“ (ebd., S. 3), gilt der heutigen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte allem Anschein nach nur dasjenige Handeln als gesellschaftlich relevant, das sich in Zweck-Mittel-Relationen beschreiben läßt. Bauman, Culture, S. 43, 78f. Die Vergegenständlichung räumlicher Beziehungen im Gesellschaftsbegriff kritisierte seinerzeit schon Georg Simmel; s. z. B. G. Simmel, Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 19685, S. 460-526, v. a. 460ff. Cohn, History and Anthropology, S. 208-20. P. Bourdieu, Strukturalismus und soziologische Wissenschaftstheorie, in: ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1983, S. 7-41, hier: S. 8. Dies gilt etwa für Bourdieu und Sahlins; s. P. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, passim, sowie ders., Entwurf, oder Sahlins, Kultur, S. 10 und passim. S. zu Simmels anregender Ersetzung von „Gesellschaft“ durch „Vergesellschaftung“ G. Simmel, Das Problem der Soziologie, in: ders., Soziologie, S. 1-31. Vgl. zu Simmels soziologischer Methodologie und Begrifflichkeit darüber hinaus K. Schrader-Klebert, Der Begriff der Gesellschaft als regulative Idee. Zur transzendentalen Begründung der Soziologie bei Georg Simmel, in: Soziale Welt 19. 1968, S. 97-118; P.-E. Schnabel, Die soziologische Gesamtkonzeption Georg Simmels, Stuttgart 1974; B. Nedelmann, Strukturprinzipien der soziolo-
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gischen Denkweise Georg Simmels, in: KZSS 32. 1980, S. 559-73; H.-J. Dahme, Soziologie als exakte Wissenschaft. Georg Simmels Ansatz und seine Bedeutung in der gegenwärtigen Soziologie, Teil II: Simmels Soziologie im Grundriß, Stuttgart 1981; J. Faught, Neglected affinities: Max Weber und Georg Simmel, in: The British Journal of Sociology 36. 1985, S. 155-74; O. Rammstedt (Hg.), Simmel und die frühen Soziologen, Frankfurt/M. 1988. Auch bei Max Weber hatte übrigens der Gesellschaftsbegriff keine analytische Bedeutung; M. Riedel, Artikel „Gesellschaft, Gemeinschaft“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, hg. v. O. Brunner u. a., Stuttgart 1975, S. 801-62, hier: S. 858. Um diese Begriffe kreisen neben Bourdieu Anthony Giddens, Zygmunt Bauman und eine Reihe weiterer Vertreter des sogenannten Praxis-Ansatzes. Vgl. z. B. Kocka, Weder Stand noch Klasse, S. 224f., Anm. 4; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 555, Anm. 12; s. hierzu die Kritik von A. Grießinger, Das symbolische Kapital der Ehre. Streikbewegungen und kollektives Bewußtsein deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1981, S. 28-31, und R. Scholz, Gesellschaftsgeschichte als „Paradigma“ der Geschichtsschreibung. Das theoretische Fundament von H.-U. Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte, in: ders. (Hg.), Kritik der Sozialgeschichtsschreibung, Hamburg 1991, S. 87-133, hier: S. 92-95. C. Geertz, Blurred Genres. The Refiguration of Social Thought, in: The American Scholar 49. 1980, S. 165-79, hier: S. 167. M. Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, in: ders., Soziologie – Universalgeschichtliche Analysen – Politik, Stuttgart 19735, S. 186-262, hier: S. 217. „Weit entfernt davon also, daß vom Standpunkt der Forderung der ,Wertfreiheit‘ empirischer Erörterungen aus Diskussionen von (praktischen, nicht nur wissenschaftlichen, U. D.) Wertungen steril oder gar sinnlos wären, ist gerade die Erkenntnis dieses ihres Sinnes Voraussetzung aller nützlichen Erörterungen dieser Art“; Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der Sozialwissenschaften, in: ders., Soziologie, S. 263-310, hier: S. 267. Im wissenschaftlichen Selbstverständnis der führenden Vertreter der historischen Sozialwissenschaft/Gesellschaftsgeschichte hat der Konnex zwischen Geschichtswissenschaft und gegenwärtiger politischer Selbstvergewisserung einen hohen Stellenwert; vgl. Kocka, Sozialgeschichte, S. 112-31, und Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 12-20. Gerade deswegen müßte m. E. die Diskussion darüber geführt werden, ob nicht die theoretische Fundierung der Gesellschaftsgeschichte durch den oben kritisch skizzierten „objektivierten“ Gesellschaftsbegriff den Konnex zwischen wissenschaftlicher Diskussion und gegenwärtigen Problemlagen – die notwendigerweise auf der Ebene von Wertund Sinnhierarchien diskutiert werden – zerreißt. Vgl. zu diesem Aspekt der Diskussion um die Jahrhundertwende D. P. Frisby, Soziologie und Moderne: Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber, in: Rammstedt (Hg.), Simmel, S. 196-221; H.-J. Dahme, Der Verlust des Fort-
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Ein Kursbuch der Beliebigkeit Eine neue Kulturgeschichte lässt viele Blumen blühen – aber die schönsten leider nicht* H ANS -U LRICH W EHLER
Der Streit um den Rang und die Erklärungskraft der Kulturgeschichte oder, allgemeiner gesagt, der Historischen Kulturwissenschaft beschäftigt die internationale Geschichtswissenschaft seit fast drei Jahrzehnten. Wer sich für eine aus deutscher Perspektive geschriebene Einführung in die gegenwärtige Diskussion interessiert, kann jetzt zu dem handlichen Kompendium Kulturgeschichte der Braunschweiger Historikerin Ute Daniel greifen. Dort wird ihm, in Gestalt von sechs nicht immer leicht erklimmbaren Wissensblöcken, ein Treppenaufgang angeboten, der ihn in einige wichtige Dimensionen der Kontroverse hineinführt. Unter dem Stichwort „Kulturwissenschaftliches Wissen“ werden zum einen einige intellektuelle Erzväter porträtiert, die – wie Friedrich Nietzsche, Georg Simmel, Max Weber, Ernst Cassirer, John Dewey (Wirklich? Warum nicht eher Ernst Troeltsch und Aby Warburg?) – in der seit der vorletzten Jahrhundertwende geführten Grundsatzdebatte über eine „Kulturwissenschaft“ als zumindest ebenbürtige Partnerin der Naturwissenschaft eine prominente Rolle gespielt haben. Zum andern werden von den Inspiratoren der letzten drei Jahrzehnte nur Hans-Georg Gadamer, Michel Foucault und Pierre Bourdieu (Warum nicht Clifford Geertz, Jacques Derrida, JeanFrançois Lyotard, Ferdinand de Saussure?) im selben Stil gewürdigt, während Sachkomplexe wie „Postmoderne“ und „Poststrukturalismus“ als kulturwissenschaftliche Wissensspeicher beschrieben werden. Ein historiografischer Rückblick macht danach mit älteren Vorläufern der Kulturhistorie wie Jacob Burckhardt, Karl Lamprecht und Kurt Breysig bekannt, ehe als maßgebliche Anreger der derzeitigen Debatte illustre Figuren wie Norbert Elias, Natalie Davis und Carlo Ginzburg, aber auch Strömungen wie die *
Hans-Ulrich Wehler, Rezension zu: Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M. 2001, in: Die Zeit 26.07.2001.
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Mentalitätsgeschichte und Nachbarwissenschaften wie die Ethnologie skizziert werden. Aus den Themenfeldern, wo die neue Kulturgeschichte als Impulsgeber bereits zu einem bemerkenswerten Bodengewinn geführt hat, greift die Verfasserin wenige Bereiche heraus: Das sind die (längst von der Kulturgeschichte aufgesogene) Alltagsgeschichte, die (vielfältig schillernde) Historische Anthropologie, die (die Frauengeschichte mitumfassende) Geschlechtergeschichte, die (bisher eigentlich noch nirgendwo existierende) Generationengeschichte, die (unabhängig von der neuen Kulturgeschichte vor ihrem Aufschwung von Reinhart Koselleck initiierte) Begriffsgeschichte, die (chamäleonartige) Diskursgeschichte und die (grosso modo erfolgreiche) Wissenschaftsgeschichte. Warum aber nicht Spitzenreiter wie die neue Nationalismusforschung und die Körpergeschichte, die Festgeschichte und die Kulturgeschichte der Politik? Vornehmlich mit dem Blick auf bisher untersuchte historische Phänomene der Frühen Neuzeit wird über einige Entwicklungstrends und, ein Lob des Zettelkastens, zahlreiche Buchprojekte berichtet, die unter den wärmenden Strahlen des kulturhistorischen Solariums gediehen sind. Schließlich werden noch Schlüsselwörter der laufenden Diskussion, etwa Tatsache, Wahrheit, Verstehen, Historismus, Kontingenz, im aufgelockerten Stenogrammstil charakterisiert. Ein derart weit gespanntes, fraglos ambitiöses Unternehmen gab es bisher, soweit ich zu sehen vermag, weder für deutsch- noch für englischsprachige Leser. Es demonstriert Sachkunde, Engagement, Überzeugungsstärke, die während einer langjährigen Beschäftigung mit diesen Fragen gewachsen sind. Darüber hinaus ist es nicht nur informativ, sondern auch in einem locker-zügigen Stil mit jener Verve geschrieben, die durch die Lust an teils erquicklich charmanter, teils aber auch aufgeregt schriller Polemik belebt wird.
D R . O ETKERS G ÖTTERSPEISE Nichts gegen pointierte Urteile, die konventionelle Denkgewohnheiten aufbrechen sollen, aber bringt es tatsächlich Gewinn, Max Webers „Denkbewegung“ als „intellektuellen Coitus interruptus“ derart, sagen wir, zu verfremden? Suggeriert das Bild für diesen Verfechter des Partialwissens nicht die Möglichkeit des vollen Genusses: mithin der historischen „Wahrheit“? Und nähert sich der kulturhistorisch noch unerleuchtete Historiker im gemeinhin unerotischen Völkchen des Mehrheitslagers der Muse Clio wirklich
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„wie ein Mann, der nur auf das Eine aus ist, sie als das Andere zu penetrieren“? Trotzdem: Unter historisch Interessierten wird dieses Handbuch ebenso neugierige Leser finden wie vor allem unter den der neuen Lehre folgenden Adepten, die vermutlich nur die abschließende Prognose, was die hochgemut erwartete, insgeheim auch wegen der gepriesenen Leistungskraft insinuierte Hegemonialstellung der neuen Leitwissenschaft betrifft, vermissen werden. Zugleich besitzt dieses Kompendium jedoch zahlreiche Schwachstellen und evidente Grenzen, die seinen Wert einschränken. So lässt das offenherzige Plädoyer für die postmoderne Beliebigkeit, sei es im normativen oder im eher empirischen Bereich, keinen Zweifel an der Grundposition der Autorin aufkommen. Um Rankes Wort abzuwandeln: Alle Themen sind ihr offenbar gleich nahe zu Clio. Daher ist sie rigoros unwillig, jene Entscheidungskriterien abzuwägen, die es gestatten, eine Hierarchie der Probleme zu rechtfertigen. Die Loyalität, welche etwa die Mehrheit der Deutschen Hitler bis ins Frühjahr 1945 entgegengebracht hat, bleibt aber auch und gerade in kulturwissenschaftlicher Perspektive weiterhin erklärungsbedürftiger als der muntere Betrieb am Hoftheater eines Duodezfürsten; die nationale Habitusformierung ist ein wichtigerer Gegenstand als die kurzlebige Lehre von der Phrenologie. In der Nacht dieser Beliebigkeit werden alle Probleme gleich grau. Dazu passt, dass die Heroen der Kulturgeschichte und ihre Ideen fast durchweg in einem gleichmäßigen, alle Dilemmata und Sackgassen übergehenden Duktus penetranten Wohlwollens vorgeführt werden. Immer wieder Dr. Oetkers Götterspeise für den kulturhistorischen Geschmack, nie und nimmer dagegen die unverzichtbare Kosten-Nutzen-Abwägung der Vorzüge und Grenzen, die mit jedem theoretischen Ansatz, mit jeder spezifischen Begrifflichkeit verbunden sind. Außerdem geht es in diesem Text durchweg nur um theoretische und methodische Vorstellungen, nie um überzeugend abgewogene Beispiele für den Gewinn aus ihrer Anwendung. Aufs Ganze gesehen, kommt mithin der Signalbegriff „Praxis“ im Untertitel viel zu kurz.
D ER T RAUMTÄNZER F OUCAULT Natürlich sollen auch die Kulturwissenschaftler ihre analytischen Messerchen scharf schleifen, aber schließlich kommt in einer empirischen Wissen-
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schaft, sofern man an diesem axiomatischen Verständnis von Clios Disziplin festhält, alles darauf an, ob man mit ihnen innovative Fragen generieren, die Erörterung bisher ungelöster Probleme weitertreiben, sie umfassender und argumentativ überzeugender erklären und empirisch besser abstützen kann als zuvor. Der Ruf nach der Innovation um ihrer selbst willen bleibt ohne den Gegenstandsbezug ein hohler, folgenloser Appell. Dagegen zeigt sich die Pranke des Löwen, wie man im 19. Jahrhundert über die akademischen Qualifikationsrituale gern sagte, natürlich auch die der Löwin, erst dann, wenn ein Komplexphänomen theoretisch und empirisch erhellender, als das den Vorgängern gelungen war, erfasst wird. Unverändert gilt: The proof of the pie is in the eating. Kein erläuterndes, geschweige denn ein vergleichendes Wort fällt über Bourdieus empirische Leistungen, seine Sozialgeschichte Frankreichs im späten 20. Jahrhundert etwa, seine Kultursoziologie, seine Elitenanalysen kein Wort auch über seine Distanzierung vom „Traumtänzer“ Foucault. Vielmehr werden beide wie verwandte Geister in einem Atemzug genannt. Kein kritisches Wort aber auch über Foucault selber: seine irrlichternden Vorstellungen, die ihn keinen Unterschied zwischen Trumans Amerika und Stalins Sowjetunion sehen, dann aber Partei für die KPF, den Maoismus, die „Geistesrevolution“ Khomeinis ergreifen ließen, kein Wort über seinen radikalen „Antinormativismus“ (Michael Walzer), der freilich der postmodernen Beliebigkeit entgegenkommt, kein Wort aber auch über seine sympathische Selbstkritik an der Absurdität seiner anfänglichen Methode „archäologischer“ Diskursanalyse. Überhaupt scheint es zu den Eigenarten mancher Protagonisten der neuen Kulturgeschichte zu gehören, dass sie zwar echte Kontrahenten oder flugs aufgebaute Strohmänner wortreich attackieren, doch nicht einmal einen Hauch von Kritik an ihren weißen Rittern vertragen können. Bei der Erörterung des einflussreichsten Kulturanthropologen nach Claude Lévi-Strauss, Clifford Geertz, fehlt jeder Hinweis auf die ganz von Talcott Parsons und der damals geläufigen Modernisierungstheorie bestimmte Frühphase der Studien über Indonesien, daher auch auf Geertz' imponierenden und international folgenreichen Lernprozess bis in die siebziger Jahre. Bei Elias mangelt es an jedem Urteil darüber, was die historische Forschung zur neuzeitlichen Staatsbildung von den anonymen Entwicklungsschüben des kultursoziologischen Entwurfs übrig gelassen hat, dazu an jedem Vergleich mit anderen Studien zur höfischen Gesellschaft, obwohl mit Jürgen von Kruedeners Buch über die Herrschaftsmechanismen der Sozialdisziplinierung und Machtbalancierung an einem deutschen Hof ein überlegenes, freilich auf Max Webers Ideen beruhendes Modell längst vorliegt. Bei Ginzburg taucht seine inzwischen vollzogene Distanzierung vom Experiment mit der Mikro-Historie genauso wenig auf.
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Wenn das Jubilate auch den Grundakkord bildet, mit dem die großen Ideenspender ins Walhalla der Kulturgeschichte emporgefeiert werden, gibt es doch eine zähneknirschend vorgestellte Koryphäe, die in einem grottenschlechten Essay als Ausnahme behandelt wird. Man kann ja gegen jene Instrumentalisierung Max Webers, die ihn, je nach Interesse, wie die Goldadern eines Steinbruchs ausbeutet (eine Position, die mir sehr zusagt), mit Argumenten angehen. Ziemlich abstrus aber mutet es an, sein Anregungspotenzial ausgerechnet nur mithilfe der Beiträge in der von Marianne Weber erfundenen „Wissenschaftslehre“ zu bestreiten und mit dem Blick darauf die Entdeckung von lauter erkenntnistheoretischen Schwachpunkten zu proklamieren. Wie soll man aber bloß dort auf die Modellanalysen der „Religionssoziologie“, auf den analytischen Zugriff auf tausend Probleme in Wirtschaft und Gesellschaft und in einigen Aufsatzbänden stoßen? Findet sich dort die von Weber angeregte historische Professionalisierungstheorie, welche die Monopolisierung von Machtressourcen in Gestalt von begehrten Expertenkenntnissen im Auge hat, dort die eminent folgenreiche Bürokratisierungstheorie, dort die Theorie der „marktbedingten“ sozialen Klassen, dort die Theorie der (Hitlers Regime erschließenden) charismatischen Herrschaft?
V ERANTWORTUNG
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Der Schrumpfkenntnis, mit der Weber vorgeführt wird, entspricht es auch, dass bei ihm als einzige normative forschungsleitende „Kulturwertidee“ das Ideal des nationaldeutschen Machtstaats anerkannt wird. Dagegen taucht die dem aristokratischen Liberalismus Webers entstammende, von Wilhelm Hennis pointiert zugespitzte Frage nach Herkunft und Verteidigung der autonomen Persönlichkeit ebenso wenig auf wie jene Fragen nach der universalgeschichtlichen Sonderstellung des Okzidents oder nach dem Verhältnis von religiösen „Weltbildern“ und materieller Lebensgestaltung. Als ob bedeutende Köpfe jahrzehntelang nur einer einzigen Leitidee verpflichtet wären! Folgerichtig fehlt jeder Hinweis darauf, wie Habermas mit seiner Kategorie der „erkenntnisleitenden Interessen“ das Problem von Webers forschungssteuernden „Kulturwertideen“ aufgegriffen hat. Ute Daniel feiert die Standortgebundenheit des Historikers wie eine brandneue Innovation. Doch wer hat sie präziser betont, dazu die Unvermeidbarkeit des kontextabhängigen Partialwissens und die Unmöglichkeit der Totalitätserfassung mehr eingeschärft als Weber? Der Preis für die Entscheidung, allein dem Glasperlenspiel reichlich abstrakter epistemologischer Überlegungen ohne spürbare Bodenhaftung zu folgen, um Anknüpfungspunkte für die Kulturgeschichte zu markieren, erweist sich als extrem hoch. Ob bei Nietzsche oder Simmel, bei Foucault oder Bour-
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dieu, bei Weber allemal – stets hätte ein kräftiger Schuss erdnaher Anwendungsorientierung auf jene Vorzüge oder Grenzen hinlenken können, die für die empirische Forschung und Darstellung letztlich entscheidend sind. Nach alledem kann es nicht überraschen, dass zentrale Problemfelder der Geschichtswissenschaft, auf denen auch die Kulturgeschichte ihre Erschließungs- und Erklärungskraft beweisen müsste, nicht einmal flüchtig umrissen werden. Das hängt vermutlich zum einen mit jener Scheu zusammen, sich überhaupt über Gegenstandsbereiche zu äußern, stattdessen aber die Theoriekugel usque ad infinitum zu schieben. Zum andern kommt das gesinnungsstarke Vorurteil zum Zuge, die Rangordnung von wichtigen und unwichtigen Problemen zu leugnen. Stattdessen könnte die Kulturgeschichte die Bastionen der Sozialgeschichte (die Rolle handlungsleitender „Weltbilder“), der Wirtschaftsgeschichte (Diskursgeschichte der sozialen Marktwirtschaft von 1929 bis 1999), der Politikgeschichte („Biopolitik“ im Nationalsozialismus), anstatt sie durch starrsinnige Abwendung von den Problemen der sozialen Ungleichheit, der kapitalistischen Globalisierung, der politischen Herrschaft zu befestigen, von innen her in Unruhe versetzen und bereichern. Lässt sich die Verfasserin aber doch einmal auf methodische Probleme dieser Disziplinen ein, etwa auf den Erkenntnisgewinn der kontrafaktischen Methode (was wäre geschehen, wenn nicht ...), herrscht sogleich eine irritierende Unklarheit, die durch abseitige Titelverweise unterstrichen wird. Dagegen taucht die umfang- und außerordentlich aufschlussreiche jahrzehntelange Diskussion der amerikanischen „Cliometriker“, jener Fusion von neoklassischer Theorie, Statistik und Wirtschaftsgeschichte, nicht einmal von ferne auf, von Webers Pionierrolle in dem fast alle wesentlichen Probleme vorwegnehmenden Aufsatz über Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung (1906) ganz zu schweigen. Schließlich und nicht zuletzt fehlt es diesem Kompendium, herbe Folge der postmodernen Beliebigkeit, auch an Verantwortungsbewusstsein. Das mag manchem allzu gravitätisch, anderen gar moralinsauer klingen. Gemeint ist aber nur, dass die Geschichtswissenschaft, einschließlich der Kulturgeschichte, zuerst einmal die unabdingbare Aufgabe besitzt, aufzuklären über die Ursachen und Folgen von Machtkonstellationen und Weltbildern, von Wirtschaftssystemen und kulturellen Prägungen, um der Gegenwart ein Orientierungswissen zu verschaffen; ganz umsonst sollte die Relevanzdiskussion doch nicht geführt worden sein. Und zweitens hat sie als Hüterin des kulturellen Erbes, als Memoria zu fungieren. Mitnichten aber ist sie eine Spielwiese, auf der beliebige, möglichst bizarre und exotische, eben allzu oft unwichtige Themen nach dem Motto „Lasst viele bunte Blumen blühen“ verfolgt werden. Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001 476 S., 29,90 DM
Historische Sozialwissenschaft Eine Zwischenbilanz nach dreißig Jahren* H ANS -U LRICH W EHLER
Diese Bestandsaufnahme drängt sich auf, da die Vorstellungen von einer Historischen Sozialwissenschaft seit den späten 1960er Jahren konkretisiert wurden, so daß man inzwischen einen Zeitraum von dreißig Jahren übersehen kann. Als Sprachrohr der erneuerten Sozialgeschichte erscheint seit 1975 „Geschichte und Gesellschaft“, die sich im Untertitel ausdrücklich eine „Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft“ nennt. Seit ungefähr derselben Zeit hat aber auch eine leidenschaftliche Grundlagendiskussion, vor allem in Amerika, Frankreich und England eingesetzt. In ihr wird über eine „neue Kulturgeschichte“ debattiert, die ihren Überlegenheitsanspruch gegenüber der Sozialgeschichte, der Gesellschaftsgeschichte, der Historischen Sozialwissenschaft frühzeitig angemeldet hat. Seither wird darum gestritten, ob – pointiert gesagt – der Gesellschaftsbegriff der Sozialgeschichte durch den Kulturbegriff der „neuen Kulturgeschichte“ ersetzt werden muß. Geboten ist zunächst ein kurzer Rückblick auf die Entstehung und den Anspruch der Historischen Sozialwissenschaft. Ihm folgt eine Abwägung der Kritik seit den 1970er/80er Jahren. Und abschließend wird die Frage geprüft, ob die Historische Sozialwissenschaft angemessen erweiterungsfähig ist oder ob die neue „Historische Kulturwissenschaft“ ihrem Kairos entgegengeht. 1. In der westdeutschen Neuzeitgeschichte war in den 1950er/60er Jahren die Dominanz der Politikgeschichte noch ganz unbestritten. Auch die Ideengeschichte wirkte an vielen Universitäten fest etabliert. Beide Disziplinen waren, von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen, ziemlich starr fixiert auf die äußere und innere Staatsbildung von der Frühen Neuzeit bis in die Epoche der Nationalstaaten, auf die politische Ereignisgeschichte vor allem der als vorrangig betrachteten Außenpolitik, auf die Höhenkamm*
Hans-Ulrich Wehler, Historische Sozialwissenschaft. Eine Zwischenbilanz nach dreißig Jahren, in: ders., Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München: C . H . Beck 1998, S. 142-153.
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Literatur der neueren europäischen Geistesgeschichte. Demgegenüber wirkte auf eine jüngere Generation die Geschichte von Wirtschaft und Gesellschaft einschließlich ihres Interdependenzverhältnisses zur Politik ungleich attraktiver. Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit diesen Problemen war jedoch an den deutschen Universitäten seit dem Untergang der „Jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie“ abgerissen. Die zuerst völkisch, dann nationalsozialistisch kontaminierte „Volksgeschichte“ zwischen dem Ende des Ersten und des Zweiten Weltkriegs hatte nur sehr selektiv einige sozialhistorische Fragen aufgegriffen. Einige ihrer Exponenten, wie etwa Otto Brunner, Gunther Ipsen, Werner Conze und Theodor Schieder, verfolgten nach dem sprachkosmetischen Wechsel von der „Volksgeschichte“ zur „Sozialgeschichte“ ihre früheren, aber auch neue Interessen auf diesem Gebiet weiter, unterstützten jüngere Wissenschaftler und trugen zu einer institutionellen Anerkennung der Sozialgeschichte in der Bundesrepublik bei. Die kräftige sozialgeschichtliche Strömung, die sich seit den späten 1960er Jahren ausdehnte, erhielt jedoch ihre entscheidenden Impulse durch das Werk von Max Weber und Karl Marx, insbesondere auch durch die Anregungen von Hans Rosenberg, die in vielen Fällen durch Gerhard A. Ritter weitervermittelt wurden. Diese wissenschaftsgeschichtliche Klarstellung wird zum einen durch die Veröffentlichungen der neueren Sozialhistoriker, zum anderen durch den quantifizierbaren Vergleich ihrer wissenschaftlichen Herkunft unzweideutig bestätigt. Die mit dem Ziel der Delegitimierung geführte gegenwärtige Diffamierungsattacke, welche die neuere Sozialgeschichte ausschließlich aus den „braunen“ Wurzeln der „Volksgeschichte“ hervorgehen sieht, ist daher trotz der unübersehbaren Mittlerrolle von Conze, Brunner und Schieder wortwörtlich unberührt von jeder Sachkenntnis. Für die Konkretisierung der Analyse genügte indes der Rückgriff auf Weber und Marx nicht. Vielmehr mußte sich die Sozialgeschichte dafür denjenigen anregenden, eher systematisch argumentierenden Nachbarwissenschaften zuwenden, die als Ideen-, Theorien- und Methodenspender in Frage kamen. Das waren in erster Linie die Soziologie, die Ökonomie und die Politikwissenschaft. Mit dieser Entscheidung waren jedoch erhebliche erkenntnistheoretische Probleme verknüpft. Wie sollte, lautete die vordringliche Frage, vergangene Wirklichkeit überhaupt neu konzeptualisiert werden? Im Sinne von Max Webers „Objektivitäts“-Aufsatz ging es um ein typisches Problem des historischen Konstruktivismus. Bisher hatte für die Neuzeithistoriker der Staat meist als zentrale, vorgegebene Kategorie gegolten, an die sich andere Kategorien wie Krieg, Verfassungskonflikt, Parteienkampf ankristallisierten. Jetzt aber ging es unter dem Einfluß von Weber und Marx darum, „Wirtschaft“ als dynamisches, institutionalisiertes Bewegungszentrum zu konstruieren, das – von Gewinnkalkül, technologischen Innovationen, Marktnachfrage, Kommerzialisierungsschüben vorangetrieben – die Entwicklung des Agrar-, Gewerbe-
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und Handelskapitalismus, zuletzt auch des Industriekapitalismus vorwärtsstieß. „Gesellschaft“ wurde in engster Verbindung mit der modernen Wirtschaft konzeptualisiert. Daher fühlte sich die neuere Sozialgeschichte bei den „marktbedingten Klassen“ (M. Weber), ob Besitzklassen oder Erwerbsund Berufsklassen, am wohlsten. Der Gesellschaftsbegriff war flexibel genug, um auf Städte und ländliche Regionen, auf kleine Einzelstaaten und großräumige Nationalstaaten angewandt werden zu können. „Politik“ galt im Kern als interessengeleiteter Kampf um Macht und Herrschaft in einer Arena, die von restriktiven sozialen und ökonomischen Bedingungen so weitreichend determiniert wurde, daß man mit der Analyse dieses Bedingungsgeflechts – so die ursprüngliche Annahme – Politik zu erklären hoffte. Methodisch ging es um das Bemühen, hermeneutisches Verstehen mit Erklären aus dem Fundus des theoretischen Gegenwartswissens zu kombinieren. Auch das Erklären von Phänomenen, die nicht notwendig ihren Niederschlag in den Quellen gefunden hatten, diente selbstverständlich einem umfassenderen Verständnis historischer Probleme, als dies dem Historismus gelungen war. Gegenüber seinem verengten Individualitätsbegriff wurden jetzt überindividuelle Prozesse und Strukturen ins Feld geführt, denen eine hohe Erklärungskraft zugebilligt wurde. Der theoretische und methodische Schwachpunkt der neueren Sozialgeschichte bestand von Anfang an darin, daß kulturelle Traditionen, „Weltbilder“ und Sinnkonstruktionen, Religion, Weltdeutung und Perzeption der „Realität“ durch die Akteure, Kollektivmentalität und Habitus in ihrer wirklichkeitsprägenden Kraft unterschätzt, im Forschungsprozeß an den Rand gedrängt oder sogar völlig übergangen wurden. Ihre Bedeutung wurde zwar abstrakt konzediert, forschungspragmatisch aber lange Zeit zu sehr vernachlässigt. Interessengeleitete Ideologien schienen ungleich besser zu dem sozialhistorischen Ansatz zu passen. Da man aber bei Max Weber hätte lernen können, daß Handeln immer sinn- und deutungsgeleitetes Handeln ist, bedeutete die Vernachlässigung von Sinnkonstruktionen, „Weltbildern“ und Wirklichkeitsdeutungen eine Halbierung der Weberschen Handlungstheorie. Mit anderen Worten, die doppelte Konstituierung der Realität: zum einen durch die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen, zum anderen durch die Sinndeutung und Konstruktion von Wirklichkeit durch die Akteure selber, wurde nicht ernst genug genommen. Die Entwicklung der Historischen Sozialwissenschaft ist geraume Zeit durch die Großwetterlage begünstigt worden. Der Ausbau der Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik demonstrierte die Bedeutung dieser Wirklichkeitsbereiche, insbesondere in jener Zeit, die Eric Hobsbawm das „Goldene Zeitalter“ des westlichen Aufstiegs nach dem Zweiten Weltkrieg genannt hat. Die politische Reformphase der späten 1960er und 70er Jahre verschaffte spürbaren Rückenwind. Das intellektuelle Klima unterstützte ein
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relativ optimistisches Fortschrittsdenken, deshalb auch die Attraktivität der Modernisierungstheorien zur Deutung langlebiger Evolutionsprozesse. Es wäre kokett, auf die Leistungsbilanz ausführlicher einzugehen. Aber sie kann sich in der Forschung über Interessenverbände und Parteien, Unternehmen und Arbeiterschaft, Klassenbildung und Mobilität, Imperialismus und Rüstungspolitik, Liberalismus und Demokratie, nicht zuletzt über den Nationalsozialismus auch und gerade im Vergleich mit anderen Ansätzen und anderen Ländern durchaus sehen lassen. Andrerseits sind auffällige Lücken bestehen geblieben: Religion, Recht, Technik, Krieg, Internationale Beziehungen blieben an der Peripherie. Die Geschlechtergeschichte ist von feministischen Historikerinnen, nicht von der neueren Sozialgeschichte, unwiderruflich auf die Agenda gesetzt worden. Lange Jahre gab es in der Geschichte des Bürgertums, des Adels, der Bauern und Landarbeiter riesige Lücken. Auch die Zeit nach 1945 ist eklatant vernachlässigt worden. Der Sog der „Sonderweg“-These, die den „Zivilisationsbruch“ zwischen 1933 und 1945 erklären wollte, hat unleugbar einen hohen Preis verlangt. 2. Der internationale Aufschwung und die Theoriedebatte der „neuen Kulturgeschichte“ griffen seit den frühen 1980er Jahren auch auf die Bundesrepublik über. Sieht man von einigen Sonderbedingungen ab (z. B. von Derridas dubiosem Einfluß in den Vereinigten Staaten), lassen sich die wichtigsten allgemeinen Einflußfaktoren knapp zusammenfassen. – Die Enttäuschung über die Großtheorien von Marx, Weber, Luhmann, Parsons, welche die hochgespannten Erwartungen nicht erfüllt hatten, breitete sich aus. – Die Opposition gegen die Vernachlässigung des individuellen Lebensschicksals, der individuellen Erfahrung und Lebenswelt, ihrer Perzeption und Verarbeitung wuchs an. – Damit hing der Widerstand gegen die Abstraktheit und vermeintliche „Kälte“ der Prozeß- und Strukturanalyse in einer Zeit zusammen, die „Betroffenheit“ und „Befindlichkeit“ zu Kultworten erhob. Kontingenzerfahrungen wurden gegen die strukturelle Determination geltend gemacht. Außer solchen wissenschafts- und theoriegeschichtlichen Veränderungen wirkte sich die generationsspezifische Kontextabhängigkeit und Standortgebundenheit aus. • An erster Stelle stand die Diskreditierung des optimistischen Fortschritts-
glaubens durch die Umwelt- und Wachstumskrisen, die Staaten- und Bürgerkriege. • Zu den lebensgeschichtlichen Einflüssen gehörten auch die Erfahrungen mit multikulturellen Gesellschaften im Westen und leicht erreichbaren exotischen Ländern, mit kulturell motivierten Konflikten in ethnisch heterogenen Gesellschaften.
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• Die Zählebigkeit kultureller Traditionen trat nicht nur in Europa, sondern
auch in den fundamentalistischen Protestbewegungen gegen die Modernisierung westlichen Stils hervor; dazu muß man auch die religiösen Fronten zählen, die durch den muslimischen, israelischen, protestantischen Fundamentalismus aufgerissen wurden. • Mit derartigen Erfahrungen wuchs der Zweifel am Projekt der westlichen Modernisierung, der Aufklärung, ja der Überlegenheit der liberalen Demokratie überhaupt. Im Vergleich mit solchen Veränderungen tritt die Bedeutung der unleugbar ebenfalls vorhandenen Profilierungswünsche neuer Wissenschaftlergenerationen, ihr Wunsch nach Karriereerleichterung durch schicke „Trendiness“, ihr Kampf um akademische Ressourcen deutlich zurück. Das Wesentliche ist die grundsätzliche Herausforderung, nicht der Alltagskonflikt des akademischen Betriebs. Man kann idealtypisch zwischen einem „tiefen“ und einem „weiten“ Kulturbegriff unterscheiden. Die Verfechter des tiefen Kulturbegriffs wollen im Grunde die etablierten Gegenstandsbereiche und Forschungsperspektiven ergänzen durch die Analyse von Sinndeutungen und Weltbildern, Ritualen und Symbolen, Sprachgebilden und individuellen Erfahrungen. Dafür schwebt ihnen eine Art von Tiefenhermeneutik vor. Ihr Anspruch zielt auf komplementäre Vervollständigung, etwa der Weberschen oder Bourdieuschen Handlungstheorie, wenn sie vorher um solche Dimensionen verkürzt worden war. Ungleich radikaler ist der Anspruch der Verfechter des weiten Kulturbegriffs. Sie sind häufig von der Kulturanthropologie beeinflußt und wollen im Prinzip den Begriff der Gesamtgesellschaft durch den nicht minder umfassenden „Culture“-Begriff der Ethnologie ersetzen. Nicht selten erliegen sie dabei, trotz ihres Plädoyers für Mikrogeschichte, der vertrauten Illusion, Totalität erfassen zu können, anstatt sich ganz auf den Nachweis zu konzentrieren, wo denn der signifikante Gewinn eines derart anspruchsvoll erweiterten Kulturbegriffs im Vergleich mit einem Gesellschaftsbegriff liegen könnte, der dezidierter und bereitwilliger als zuvor die kulturelle Dimension mit einbezöge. Diese Denkströmung besitzt oft drei weitere Eigenarten. • Sie ist zutiefst skeptisch nicht nur gegenüber jedem Fortschrittsdenken,
sondern sogar gegenüber jedem Evolutionsbegriff. Fortschritt – das ist für sie eine semantische Illusion. Die Extremposition, die nicht wenige teilen, findet sich paradigmatisch in Duerrs Elias-Kritik, in der die Kulturen aller menschlichen Verbände gleich nahe zu Gott sind. • Sie verzichtet viel zu oft auf die Frage nach dem „Warum“ und auf eine klare Antwort, mithin auf die Ursachenforschung, auf die genetische, kausale, funktionale Erklärung. Sie insistiert vielmehr auf der Vorrangigkeit des „Wie“ und seiner beschreibbaren Verflechtungen.
438 | H ANS-ULRICH W EHLER • Sie neigt dazu, Kultur im Kern integrationistisch zu verstehen, Konflikte
dagegen zu minimieren, sie auf jeden Fall nicht als Antriebskräfte des historischen Prozesses zu privilegieren. Das Ergebnis ist allzu leicht Statik, Harmonisierung und Ästhetisierung. 3. Wenn man die Berechtigung eines Teils der Kritik von seiten der tief oder weit argumentierenden Kulturgeschichte anerkennt, stellt sich die Frage, wie die Sozialgeschichte, die Gesellschaftsgeschichte, die Historische Sozialwissenschaft ihre Defizite beheben können. Es scheint nicht weit genug zu führen, „Kultur“ als bisher vernachlässigte Dimension den bisher behandelten Gegenstandsbereichen additiv hinzuzufügen. Das wird dem alles durchwachsenden, ubiquitären Charakter von Kultur nicht gerecht. Gesucht ist vielmehr eine Konstruktion der Probleme und der methodischen Ansätze, die von vornherein, etwa in Max Webers oder Pierre Bourdieus Sinn, der Omnipräsenz kultureller Prägungen und Potenzen adäquat zu sein verspricht. Dann erst gewinnt die Historische Sozialwissenschaft den unabweisbar geforderten erweiterten analytischen Bezugsrahmen. Manches könnte sie zu diesem Zweck vergleichsweise leicht lernen. An Max Webers „Religionssoziologie“ kann sie sich unverändert schulen, wie man „Weltbilder“ angemessen berücksichtigt. Von der neueren Kulturanthropologie kann sie sich belehren lassen, wie man sich an die Sinnkonstruktionen und Weltdeutungen einer fremden Vergangenheit heranpirscht. Aus der Begriffsgeschichte, der Wissenssoziologie, der modernen Sprachanalyse könnte sie eingehender als zuvor entnehmen, wie die Sprache, die soziale Wirklichkeit stets mitkonstruiert, genauer analysiert werden sollte. Von Bourdieu kann sie lernen, wie man den Strukturbegriff neu zu fassen vermag. Zu oft ist Struktur als institutionelles Gefüge gefaßt (was eine Teilwahrheit bleibt) oder als anonymes Gerüst verstanden worden, das etwa das generative Verhalten oder den Konjunkturrhythmus stabilisiert. Dagegen werden bei Bourdieu Strukturen durch den Habitus historischer Akteure geprägt, aufrechterhalten oder gegebenenfalls auch flexibel verändert. Denn der Habitus besitzt den bekannten Doppelcharakter, daß er von der gesellschaftlichen Ordnung strukturiert wird und selber dann wieder strukturierend auf sie einwirkt. Dagegen ist das Problem, wie man Prozesse angemessen zu konstruieren hat, im Grunde weiterhin eine noch offene Frage. Man kann nicht mehr unbefangen auf den technischen Fortschritt, die letztlich von Darwin inspirierte Evolutionslehre, die lokomotorischen Vorstellungen der neoklassischen Wachstumstheorie zurückgreifen. Am anregendsten für eine historisch und systematisch angemessene Modellierung von dynamischen Prozessen, durch die möglichst viel von ihrer Komplexität erfaßt werden soll, scheint immer noch Max Webers brillanter Text letzter Hand zu sein, die knappe „Vorbemerkung“ zum ersten Band seiner „Religionssoziologie“.
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Von diesem Anspruch, möglichst viel von der Komplexität historischer Probleme zu erfassen, und von den vorliegenden Beweisen der Einlösung her bleibt die Historische Sozialwissenschaft der bisher erkennbaren „neuen Kulturgeschichte“ noch immer überlegen. Und sie bliebe das erst recht, wenn sie der Ubiquität von „Kultur“ allmählich theoretisch und methodisch gerecht würde. Der Hauptgrund dafür, daß sich dieses selbstbewußte Urteil vertreten läßt, liegt in folgendem Umstand begründet. Alle theoretischen und methodischen Entscheidungen besitzen, auch wenn sie noch so umsichtig begründet werden, einen Exklusionscharakter. Die siegessichere neuere Sozialgeschichte hat Probleme und Themenbereiche exkludiert, die „neue Kulturgeschichte“ tut genau dasselbe. Und zwar verfährt sie so mit zentralen Problemen der Historischen Sozialwissenschaft: Die Bevölkerungsgeschichte, das Regelwerk des generativen Wachstums oder Rückgangs, die Historische Demographie überhaupt sind bisher – im Gegensatz zur Kulturanthropologie – für die „neue Kulturgeschichte“ nicht zum Thema geworden. Damit aber bleibt, wie Marx sagt, die Bevölkerung als die „Grundlage und das Subjekt des ganzen gesellschaftlichen Produktionsprozesses“ im Abseits. Die Wirtschaft als ein eigenes, längst rechtlich, politisch, sozialpsychisch tief verankertes Institutionengefüge mit eigenen Entwicklungsrhythmen und eigener mentalitäts- und verhaltensprägender Kraft ist in der „neuen Kulturgeschichte“ völlig an den Rand gerückt. Nicht einmal die Diskursanalyse der Entscheidungsprozesse, etwa derjenigen über den Aufbau und die Ausdehnung der Marktwirtschaft und der Marktgesellschaft oder über folgenreiche wirtschaftspolitische Entscheidungen, interessieren heute ihre Adepten, und sei’s auch nur von ferne. Von den Problemen der Sozialen Ungleichheit wird zur Zeit am ehesten die immer kulturell durchgeformte Ungleichheit der Geschlechter thematisiert; hinzu kommt die Ungleichheit des Alters und der ethnischen Herkunft. Fraglos gibt es in dieser Hinsicht einen großen Nachholbedarf. Aber außerhalb der Geschlechterproblematik übt die unverändert klassische Triade von ungleicher ökonomischer Lage, ungleichem Zugang zu Macht- und Herrschaftschancen, ungleichem kulturellen Prestige noch keine Attraktion auf die „neue Kulturgeschichte“ aus. Auch an der Politik interessiert sie nicht mehr die Analyse von Entscheidungsprozessen, der unablässige Kampf um Macht und Herrschaft. Vielmehr geht es ihr primär um die symbolische Handhabung von Politik, überhaupt um Symbole und Rituale, um Feste und Zeremonien, um die politischen Implikationen der Geschlechterdefinitionen, um den Zwang der sprachlichen Konventionen und Diskursregeln. Dadurch können lange Zeit vernachlässigte Dimensionen von Politik fraglos heller ausgeleuchtet werden. Aber zahlreiche brennende Probleme werden bestenfalls nur von der Seite her angestrahlt. In Diskussionen hört man immer wieder, daß die „neue Kulturgeschichte“ auch ein neues Verständnis von Politik, Sozialhierarchie und Wirtschaft
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bereits besitze oder doch allmählich gewinne. Die Argumente für diese beanspruchte Neuartigkeit des Verstehens entbehren aber noch der Überzeugungskraft. Daher sind die intellektuellen und politischen Kosten der Vernachlässigung zentraler Probleme bisher zu hoch. Außerdem scheint es sich, blickt man auf die kulturwissenschaftliche Debatte der vergangenen zwanzig Jahre zurück, nicht um eine vorübergehende Mangelsituation zu handeln. Die „neue Kulturgeschichte“ bezahlt ihre Abwendung von der Historischen Sozialwissenschaft und ihre Hinwendung zu neuen Interessengebieten mit einem hohen Preis. Denn nach der rigorosen Exklusion von Wirtschaft, Sozialer Ungleichheit und Politik im Sinne der neueren Sozialgeschichte wird es ihr ungleich schwerer fallen, diese Problemfelder wieder angemessen zu integrieren und mit innovativen Ergebnissen aufhorchen zu lassen, als der Historischen Sozialwissenschaft vermutlich die Bewältigung ihrer Aufgabe fallen wird, mit ihrem dringendsten Problem, der Integration von Kultur, voranzukommen. Außer dem Wettstreit zwischen Historischer Sozialwissenschaft und neuer Kulturwissenschaft, der hier in einer idealtypischen Dichotomisierung zugespitzt worden ist, während es in manchen Bereichen und in manchen abgeschlossenen Projekten auch durchaus Konvergenz gibt, bestehen freilich für beide Disziplinen noch zwei weitere „Herausforderungen“, die über die geschilderte Konkurrenz hinausgehen. 1. In dem Maße, in dem Europa, die westliche „atlantische Welt“ (R. Palmer) und der Globus insgesamt zu einheitlichen Aktionsfeldern zusammenwachsen, steigt auch die Bedeutung des zielstrebig verfolgten Vergleichs. Die komparative Analyse hat daher in der Sozialgeschichte während der letzten Jahrzehnte ganz folgerichtig zusehends an Bedeutung gewonnen, sieht aber noch ein fast unübersehbar weites Aufgabenfeld vor sich. Um es weiter zu vermessen, müssen die Probleme der Logik, der Methodik und der Empirie des Vergleichs intensiv weiterdiskutiert werden. Die „neue Kulturgeschichte“ hält sich dagegen aus Respekt vor dem „historischen Individuum“, aus einer geradezu historistischen Scheu vor der Verletzung der Individualität ihres jeweiligen Gegenstands, auffällig vor dem Vergleich zurück. 2. Damit hängt zusammen – kann aber als eigenständiger Problemkomplex behandelt werden –, daß die historischen Auswirkungen der internationalen politischen und wirtschaftlichen, technologischen und kulturellen Beziehungen sowohl von der Historischen Sozialwissenschaft als auch von der „neuen Kulturgeschichte“ eklatant vernachlässigt worden sind. In den 1960er und 70er Jahren gab es einmal im Zeichen der Imperialismusforschung und der Analyse des Industrialisierungsprozesses mit Hilfe der Gerschenkronschen Kategorien der „Pionierländer“ und der „relativen Rückständigkeit“ der „Nachzügler“ eine Debatte darüber. Sie ist aber inzwischen unter den Historikern und Historikerinnen trotz des Nord-Süd-Gefälles fast ganz zum Erliegen gekommen. Die Sozialgeschichte bleibt ebenso wie die Gesellschaftsgeschichte überwiegend an den nationalhistorischen Kontext der politischen Neuzeit
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gebunden. Die „neue Kulturgeschichte“ greift zwar unbefangen die Anregungen und Methoden auf, welche etwa die Kulturanthropologie in der weiten Welt gewonnen hat, setzt sie jedoch noch nicht in streng komparative Studien um. Auf diesem Gebiet teilen beide Disziplinen die Dilemmata einer „relativen Rückständigkeit“, während im Bereich der komparativen Analyse die Historische Sozialwissenschaft zwar noch keinen Boom ausgelöst hat, aber einen deutlichen Vorsprung besitzt, der nicht zuletzt im Hinblick auf ihr ungleich schärfer ausgeprägtes Problembewußtsein zutage tritt. Noch besitzt daher im Vergleich mit der „neuen Kulturgeschichte“ die Historische Sozialwissenschaft im Hinblick auf die vier Dimensionen der Bevölkerung, Wirtschaft, Sozialen Ungleichheit und Politik einen klaren Vorsprung, den sie nicht zu verlieren braucht. Gelänge es ihr, die unabweisbaren Impulse aus der kulturwissenschaftlichen Debatte flexibel aufzunehmen und in ihr theoretisch-methodisches Arsenal zu integrieren, könnte sie ihren Vorsprung weiter verteidigen.
VII. Anhang
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Register*
Abendland 149, 374-376, 382 ADGB-Gewerkschaften 310 Adler, Friedrich 75 Agency 310, 413 Agrarrevolution 258 Alltagsgeschichte 46-48, 59, 299-355 Amsterdam 83, 218 Ancien Regime 118, 355, 374 Angermann, Erich 29 Angestellte 45, 52, 215, 347 Annales 18, 405 Anthropologie, Kultur- 101, 311, 337-345, 415-417, 437-441 Anthropologie, Sozial- 203, 344-348 Anthropologie, Historische 47, 123 Antisemitismus 257, 347, 351, 409 Arbeitergeschichte/Arbeiterbewegungsgeschichte 19, 23, 147, 342, 367 Arbeitskreis für Moderne Sozialgeschichte 15, 58, 247 Arbeitsstelle für Vergleichende Gesellschaftsgeschichte 42, 57 Aufklärung 115, 117, 206, 382, 437 Aristokratie 66, 205 * Kursive Seitenzahlen: in den Anmerkungen.
Auschwitz 309, 327, 329 Außenpolitik, Primat der 69, 123 Autonome Frauengeschichte 365, 367 Beamtenstaat 169, 264-269 Beard, Charles Austin 70, 75-77 Begriffsgeschichte 43-46, 279295, 428 Bendix, Reinhard 188, 218 Berliner Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung 50 Berkeley 14 Berlin/DDR 310 Bethmann Hollweg, Theobald von 41, 180 Bewusstseinsgeschichte 175176 Beziehungen, internationale 175, 436 Bielefelder HistorikerinnenTreffen 365 Bielefelder Schule 13-26, 35-53 Bildungswesen 206, 298 Biographie 79, 139, 151, 171, 312 Biopolitik 432 Bismarck, Otto von 34, 161, 178, 261, 265 Blackbourn, David 266, 271
456 | DIE BIELEFELDER SOZIALGESCHICHTE
Blanke, Horst Walter 25, 30 Bloch, Marc 203, 349 Boas, Franz 398-399 Bochum 17, 39 Bonn 36, 49, 324 Borscheid, Peter 305, 330 Borussismus 96 Bourdieu, Pierre 51-52, 312, 412, 427, 430, 437-438 Bracher, Karl Dietrich 41, 255, 264-265 Braudel, Fernand 144, 148, 168, 349 Braun, Rudolf 341 Brüggemeier, Franz-Josef 311 Brunner, Otto 38, 44, 144, 172, 434 Bundesrepublik Deutschland 355, 379-380, 394, 407, 435-436 Bürgertum 42, 78-80, 222, 265273, 298, 351, 436 Bürokratie 39, 73-74, 113, 125, 210, 223, 282-283, 297-301, 356 Burckhardt, Jacob 141-158, 171, 427 Butler, Judith 51 Cassirer, Ernst 417, 427 Committee on Comparative Politics, CCP 188, 208, 214, 225 Comte, Auguste 194 Conze, Werner 15, 17, 23-24, 38, 41, 44, 144, 149, 172, 434 Chartier, Roger 51 Civil Society 382 cultural turn 23 Daniel, Ute 51-53, 427, 431 Davies, Natalie Zemon 49 DDR 16, 18, 270, 310, 317 Demokratie/Demokratisierung 45, 74, 153-156,
190, 204, 265-269, 309, 436437 Demografie, historische 22, 439 Depression, große 110, 262 Derrida, Jacques 427, 436 Deutsches Historisches Museum, Berlin 324 Dewey, John 427 Dichte Beschreibung 59, 407 Dilthey, Wilhelm 108, 144, 178 Diskursanalyse, Diskursgeschichte 428, 430, 432, 439 Disziplinierung 318, 339, 347, 354, 430 Ditt, Karl 15 Doering-Manteuffel, Anselm 27 Droysen, Johann Gustav 24, 139-143, 178, 348, 352 Durkheim, Émile 143-149, 192, 393, 400, 409 Eigen-Sinn 47, 59, 316, 355 Eisenberg, Christiane 15 Eisenstadt, Shmuel N. 218, 226 Eley, Geoff 27, 266 Elias, Norbert 427, 430, 437 Eliten 155, 207, 209-211, 257258, 269, 377 Emanzipation 117, 306, 310 Engels, Friedrich 103, 143, 155160, 178, 224, 259-260, 292, 305, 398 Ereignis, Ereignisgeschichte, Personen- und 38, 144-145, 162, 168, 173, 177, 260, 432 Erklären 21, 113, 180-181, 187, 196, 198, 212, 225, 307, 435436 Erfahrungsgeschichte 306, 337 Erster Weltkrieg 35, 41, 65, 120, 170, 259, 264 Ethnologie 345-348, 396-407, 437 Eucken, Walter 67
R EGISTER | 457
Familie 50, 105, 170, 192, 310, 317, 321, 364-367, 375, 383, 385-386 Faschismus 40, 199, 256, 259, 270, 304, 321 Feldman, Gerald D. 14, 232 Fischer, Fritz 35, 41 Fischer-Kontroverse 41 Flottenpolitik 34, 67 Föderalismus 291 Fortschritt 93, 117-118, 189, 193-194, 300, 307, 338-340, 352, 376, 397-398, 436-437 Foucault, Michel 51, 427, 429431 Fraenkel, Ernst 264-265 Frankfurter Schule 14 Frankfurter Zeitung 69-70 Französische Revolution 204 Frauengeschichte/Frauenforschung, Historische 4850, 359-367, 387, 410, 428 Freie Universität Berlin 13, 38 Frevert, Ute 15, 50 Freyer, Hans 144-145, 220 Furet, François 268 Gadamer, Hans-Georg 322, 427 Geertz, Clifford 46, 347, 402, 430 Gehlen, Arnold 220, 305 Geistesgeschichte 38, 107, 170, 173, 289, 404, 434 Generation 66, 170, 175, 223, 318-319, 428, 436 Gerschenkron, Alexander 39, 219-220, 440 Geschichte und Gesellschaft, Zeitschrift für 15, 24, 35, 41, 43, 51, 91-94, 433 Geschichtsdidaktik, Zeitschrift 49, 363 Geschichtswerkstätten/history workshops 46, 308, 320, 324-326, 337
Geschichtsphilosophie 21, 225, 397 Geschlechtergeschichte 48-50, 371-389, 410, 428 Gesellschaft, bürgerliche 315, 351, 375, 383, 386 Gesellschaftsgeschichte 14, 19, 23, 33, 36, 40, 43, 91, 95-99, 101-124, 345, 352-353, 380, 393-404, 412, 433, 440 Ginzburg, Carlo 46, 319-320, 427, 430 Globalisierung 52, 381, 432 Grundbegriffe, Geschichtliche 59, 241, 296 Habermas, Jürgen 20, 44,102, 178, 223, 309, 431 Habitus 224, 312, 429, 435, 438 Hallgarten, George Friedrich Wilhelm 70 Hardtwig, Wolfgang 52 Hartung, Fritz 76 Haus der Geschichte der Bundesrepublik, Bonn 324 Hausen, Karin 16, 50 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 43, 103, 107, 141, 146, 157, 214, 299-300, 349, 394 Hegemonie, kulturelle 380 Heidelberg 15, 297, 409 Heimpel, Hermann 354 Hennis, Wilhelm 431 Herder, Johann Gottfried von 397 Hermeneutik 20, 38, 313, 322, 408, 437 Herzfeld, Hans 17, 68, 83 Hilberg, Raul 304, 323 Hildebrand, Klaus 35-36 Hillgruber, Andreas 35, 304, 308 Hintze, Otto 24, 78, 121, 124, 143-144, 169, 203, 345, 349
458 | DIE BIELEFELDER SOZIALGESCHICHTE
Historik 22, 25, 139 Historikerstreit 47, 267, 304, 309, 355 Historiografiegeschichte 23, 25 Historismus 18, 20, 38, 44, 7880, 140, 256, 257, 348, 435 history workshops s. Geschichtswerkstätten Hitler, Adolf 158-160, 168, 180, 256, 266, 431 Hobbes, Thomas 139 Holocaust 18, 270-271, 324 Honegger, Claudia 375 Hubatsch, Walther 70 Huerkamp, Claudia 15, 50 Ideengeschichte 78-80, 175, 403, 433 Iggers, Georg G. 14, 25 Imperialismus 33-34, 70-71, 82, 195, 436, 440 Individualisierung 21, 225 Industriegesellschaft 258-259, 322, 394 Innenpolitik, Primat der 37, 6583 Interventionsstaat 101, 105, 109, 114, 119, 351 Ipsen, Gunther 434 Jalta 167, 179 Jaspers, Karl 44, 58 Junker 265, 284 Kaelble, Hartmut 16 Kaiserreich, Das Deutsche 255261 Kalter Krieg 270 Kant, Immanuel 80, 103, 292, 348 Kapitalismus, organisierter 29, 247 Kaschuba, Wolfgang 317 Kehr, Eckart 24, 34-35, 41, 6583
Kirche 172, 175, 207, 217, 288, 290, 320, 408 Klassenbewusstsein 146-147 Klassenbildung 20, 23, 117, 313, 436 Klassengesellschaft 39, 116, 207, 352, Kleßmann, Christoph 263 Kocka, Jürgen 13, 16, 18, 2223, 37, 38, 42-45, 47, 49-50, 57 Köln 33-35, 37 Kolonialgeschichte 382 Kommunismus 153, 160, 195, 221, 287 König, René 33, 145 Konjunkturtheorien 20 Konstitutionalismus 148 Konstruktivismus, historischer 434 Konvergenztheorien 193 Körpergeschichte 428 Koselleck, Reinhart 15, 21, 4446, 58 Kruedener, Jürgen von 430 Kuczynski, Jürgen 310, 330 Kuhn, Annette 49, 363 Kuhn, Thomas 122, 212 Kulturgeschichte, Kulturwissenschaft 396, 403, 412, 427, 429, 433, 440-441 Kulturstufentheorie 405 Lamprecht, Karl 51, 61, 143, 171, 393, 403, 405, 408, 427 Lanzmann, Claude 323, 334 Lepsius, M. Rainer 188, 205, 226 Liberalismus 78, 115, 154-155, 228, 268, 284, 298, 351, 431, 436 linguistic turn 50 Lipset, Seymour Martin 190, 215, 226 Longue durée 145, 163
R EGISTER | 459
Lüdtke, Alf 47, 422 Luhmann, Niklas 353, 436 Lukacs, Georg 146 Lyotard, Jean-François 427 Malinowski, Bronislaw Kasper 399-400 Marktwirtschaft, soziale 109110, 192, 353, 432, 439 Marshall, Alfred 107 Materialismus, historischer 122, 141-142, 147, 156, 174, 224 Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen 47, 407 Marx, Karl 24, 35, 78, 81, 141142, 149, 434 Marxismus 17-18, 39-40, 81, 142, 155, 160, 227, 229, 339, 353, 355 Massenpsychologie 51 Medick, Hans 307, 313, 330331, 422 Meinecke, Friedrich 34, 66-69, 71, 80, 170 Mentalität, Mentalitätsgeschichte 410, 428 Methodenstreit 393 Meyer, Eduard 67 Microstoria 46 Militär, Militarismus 259 Mill, John Stuart 154 Mobilitätsforschung, historische 19, 22 Modernisierungstheorie 21, 3940 Mommsen, Hans 16, 27, 80 Mommsen, Wolfgang J. 16, 35 Moore, Barrington 258 Mooser, Josef 11 moral economy 46, 319 Mosse, George 264-265 Napoleon 76, 117-118, 125, 142 Nationalismus 44, 68, 219, 428
Nationalgeschichtsschreibung 50 Nationalsozialismus 18-19, 40, 168, 178, 199, 256, 259, 264273, 436 Natur, Naturhaftigkeit 375-376 Neohistorismus 44, 257 Neomarxismus 18, 339, 353, 355 New Cambridge Modern History 230, 251 Niebuhr, Reinhold 143, 171 Niethammer, Lutz 59, 317, 322 Nietzsche, Friedrich 361, 427, 431 Nipperdey, Thomas 36, 41-42, 55, 57, 97, 266, 406-407 Nolte, Ernst 59, 267, 308 Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG) 37 Ökonomie, Politische 78 Oncken, Hermann 75-76 Ontologie 146 Oral History 322, 325, 347, 367 Ostelbien 119 Parlamentarisierung 260, 265, 269 Parsons, Talcott 191, 194, 203, 213, 216, 430, 436 Plato, Alexander von 59, 322 Plessner, Helmut 265, 274 Pluralismus 80, 190 Politikgeschichte 19, 35-36, 43, 92, 96, 99, 102, 114, 173, 176, 346, 353, 433 Politikwissenschaft 18, 35, 91, 208, 257, 434 Popper, Karl 190 Positivismus 427, 429-430, 432 Postmoderne 427, 429-430, 432 Poststrukturalismus 427 Pressewesen 106
460 | DIE BIELEFELDER SOZIALGESCHICHTE
Preußen 45, 70, 73, 76, 96, 161, 259, 281, 297, 340 Prinz, Michael 15 Professionalisierung 39, 431 Produktion, Produktionsmittel 110 Psychologie 51, 224, 229, 258, 346, 399, 401, 405 Puhle, Hans-Jürgen 15-16, 35, 54 Quantifizierung 354, 368 Quellenkritik 45, 172, 284, 368, 377 Ranke, Leopold von 35, 78, 140-142, 151, 162, 171, 187, 348, 429 Rassismus 195, 416 Rationalisierung 48, 109, 189, 192, 216, 227, 306, 314, 339, 352, 356-357 Rationalität, kritische 364 Reif, Heinz 15 Reulecke, Jürgen 51 Revisionismus, historischer 80, 186, 194, 215 Revolutionstheorie, marxistische 146 Ritter, Gerhard 41, 169-170, 172, 259, 405 Ritter, Gerhard A. 15, 17, 24, 39, 258, 264, 434 Rokkan, Stein 188, 215, 218, 226 Rosenberg, Arthur 71 Rosenberg, Hans 15, 17, 24, 39, 258, 264, 434 Rosenstock-Huessy, Eugen 258 Roth, Karl Heinz 37 Rothfels, Hans 41, 55, 66, 74, 86 Rüsen, Jörn 22, 25
Sattelzeit 45, 53 Saussure, Ferdinand de 427 Schelsky, Helmut 156, 164 Schieder, Theodor 17, 33, 37, 54, 172, 434 Schleiermacher, Friedrich 74 Schmitt, Carl 77, 153 Schmoller, Gustav 75-78, 121, 124, 170 Schnabel, Franz 96-98 Schöttler, Peter 313 Schumpeter, Joseph Alois 345 Simmel, Georg 51, 409, 411, 431 Skocpol, Theda 19 Smelser, Neil J. 215 Smith, Adam 193 Sombart, Werner 124, 170 Sonderweg, deutscher 21, 4042, 256, 263-266, 436 Sontheimer, Kurt 265, 274 Sowjetunion 430 Sozialdemokratie 33, 248, 367 Sozialstaat 16, 74, 120, 206, 215, 264, 269 Sozialwissenschaft, Historische 91-94, 124, 185, 340, 342, 346, 433, 441 Spencer, Herbert 191, 193 Spengler, Oswald 158 Staatsbürger 103, 256, 260, 281-284, 286, 351 Stadtgeschichte 19 Stamokap-Theorien 23 Stein-Hardenbergsche Reformen 280-283, 297, 351 Stern, Fritz 264-265 Stratifikationsanalyse 110 Strukturgeschichte 15, 21, 23, 37-38, 43, 144, 162, 168, 172-181, 305, 342 Stürmer, Michael 309 Systemtheorie 185, 199, 203, 339
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Thompson, Edward P. 46, 306, 319 Tilly, Charles 19 Tocqueville, Alexis de 141, 143, 153-155, 157-158 Totalität, Totalitätserfassung 102, 115, 146, 214-215, 225, 299, 347, 349, 431, 437 Toynbee, Arnold J. 142, 152 Troeltsch, Ernst 67, 427 Treitschke, Heinrich von 24, 96, 139, 169 Ungleichheit, soziale 36, 102, 111, 119, 347, 350, 364 Universalgeschichte 51, 78, 371-373, 404 Unternehmensgeschichte 275 Urbanisierung 20, 170, 198 USA 18, 33, 38, 48, 264, 319, 379, 399 Utopie 103, 155-156, 194, 212 Vandenhoeck & Ruprecht 40, 57 Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (Deutscher Historikerverband) 17 Verstehen 21, 35, 68, 79, 81-82, 149, 176, 260, 310, 348, 402, 407, 435, 440 Völkerkunde 398 Volksgeschichte 37, 434 Warburg, Aby 427 Weber, Marianne 431 Weber, Max 24, 39-40, 51-52, 71, 81, 102, 116, 124, 149, 157, 191, 210, 212, 269, 402, 428, 434, 438 Wehler, Hans-Ulrich 23-24, 3336, 39-44, 52
Weimarer Republik 264-266, 269, 310 Wertfreiheit 425 Westbindung 14, 309 Westen 16, 104, 107, 111, 170, 222, 264, 267, 271 Wiedervereinigung 270 Wierling, Dorothee 317 Widerstand 306, 319, 352 Winkler, Heinrich August 18, 264 Wissenschaftsgeschichte 428 Wissenschaftszentrum, Berlin 22, 57 Yale University, New Haven, Connecticut 13 Zabernaffäre 78 Zapf, Wolfgang 188, 212, 218, 226 Zeitschrift für Politik 68-69, 72 Zeitschrift, Historische 334, 390, 391 Zivilisation, technischindustrielle 149, 152, 156, 158, 264, 376, 436 Zivilisationsbruch 19 Zweistaatlichkeit 263 Zweiter Weltkrieg 15, 144, 173, 270, 405, 434 1968 16-18
Histoire Thomas Etzemüller Die Romantik der Rationalität Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden Juni 2010, 502 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1270-7
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