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German Pages 276 Year 1987
Historische Forschungen
Band 36
Freiheit und Bindung Wilhelm von Humboldts „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ und das Subsidiaritätsprinzip Von
Dr. Siegfried Battisti
Duncker & Humblot · Berlin
SIEGFRIED BATTISTI
Freiheit und Bindung
Historische Forschungen
Band 36
Freiheit und Bindung Wilhelm von Humboldts "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" und das Subsidiaritätsprinzip
Von
Dr. Siegfried Battisti
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Battisti, Siegfried: Freiheit und Bindung: Wilhelm von Humboldts "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" u. d. Subsidiaritätsprinzip / von Siegfried Battisti.Berlin: Duncker u. Humblot, 1987 (Historische Forschungen; Bd. 36) Zugl.: Innsbruck, Univ., Habil.-Schr., 1987 ISBN 3-428-06318-X NE : GT
Alle Rechte vorbehalten
© 1987 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3-428-06318-X
Vorbemerkung Wer immer kritisches Bewußtsein hat, wird nicht umhinkönnen, über seine Beziehung zur Gesellschaft (Staat) nachzudenken. Zu dieser Reflexion wird der einzelne spätestens dann gedrängt, wenn ihn die Öffentlichkeit mit Forderungen konfrontiert, die er nur ungern erfüllen mag. Unausweichlich stellt sich dann die Frage, wodurch solche Ansprüche legitimiert sind oder anders formuliert, was uns motiviert, diesen Forderungen nachzukommen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen den Wünschen, Bedürfnissen und Interessen des einzelnen und den Ansprüchen, mit denen die Allgemeinheit an das Individuum herantritt, ist nicht neu, es besteht seit Beginn menschlichen Daseins, zumindest seit dem Zeitpunkt, als sich der Mensch bewußt wurde, daß er ein mit seiner Umwelt nicht identisches, sondern davon gesondertes Wesen ist. Man kann sich fragen, warum es in der langen Zeit menschlicher Entwicklung noch niemandem gelungen ist, im Hinblick auf das genannte Spannungsverhältnis eine erfolgreiche Lösung anzubieten. An Versuchen hat es nicht gefehlt, denn es gibt kaum einen bedeutenden Denker in der abendländischen Tradition wie in anderen Hochkulturen, der sich nicht mit dieser Frage beschäftigt hat. Die Dynamik der menschlichen Natur, die Wandelbarkeit der menschlichen Lebensweise, die immer neuen Vorstellungen von einem glücklichen und zufriedenen Leben lassen jedoch keine abschließende, ein für allemal gültige Antwort zu; nur wer imstande wäre, alle individuellen Wünsche zu überblicken und künftige Entwicklungen in der Menschheitsgeschichte vorauszusehen, könnte sich ein solches Urteil erlauben. Doch mit solchen Fähigkeiten kann wohl kein menschlicher Geist aufwarten. Daraus ergibt sich als Folgerung, daß die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft (Staat) mit ihren gegenseitigen Interessen und Ansprüchen stets neu überdacht und einer der jeweiligen Situation angemessenen Lösung zugeführt werden muß. Das ist auch das Anliegen dieser Arbeit, wenn in Gegenüberstellung zweier Gesellschaftskonzeptionen der Versuch unternommen wird, daraus wertvolle Gedanken im Hinblick auf die Abgrenzung wie das Zusammenwirken von Individuum und Gesellschaft (Staat) aufzugreifen, weiterzuführen und für die Lösung der gestellten Aufgabe fruchtbar zu machen. Warum dafür Humboldts Jugendschrift "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" (1792) und das Sub si-
Vorbemerkung
6
diaritätsprinzip, wie es uns seit der Veröffentlichung der Enzyklika "Quadragesimo anno" von Pius XI. aus dem Jahre 1931 bekannt ist, ausgewählt wurden, läßt sich nicht nur damit begründen, daß die Begriffe Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Selbsterfahrung in der gegenwärtigen Situation eine besondere Bedeutung erlangt haben, sondern daß Humboldts Schrift mit dem Subsidiaritätsprinzip sehr viele Gemeinsamkeiten aufzuweisen hat, wenngleich auch die Differenzen (allein schon der zeitliche Abstand zwischen 1792 und 1931) nicht zu übersehen sind. Doch das Herausarbeiten des Gemeinsamen wie der Unterschiede vermag vielleicht Teillösungen für das heutige Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft (Staat) anzubieten. Mein besonderer Dank gilt Herrn Univ.-Prof. DDr. E. Coreth, der mit Wohlwollen und Interesse das Entstehen dieser Arbeit verfolgte, die als Habilitationsschrift für das Fach "Christliche Philosophie" an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck eingereicht wurde. Danken möchte ich auch meiner Frau, die als unermüdliche Gesprächspartnerin diese Arbeit begleitete. Ihr sei diese Schrift gewidmet. Innsbruck, im Mai 1987 Siegfried Battisti
Inhaltsverzeichnis 1 Einführung: Freiheit und Bindung als Grundverfassung menschlichen Daseins .........................................................
11
1.1 Zum Begriff Freiheit ............................ . .............
11
1.2 Die Grundfreiheit des Menschen ................................
13
1.3 "Richtiges" als Freiheitsorientierung ............................
15
1.3.1 Objektiv-seinsorientierte Gesetze ..........................
15
1.3.2 Subjektiv-rationalistische Orientierung ............... . . . . ..
16
1.4 Kriterien der " Richtigkeit "
....................................
17
2 Freiheit und Institution ............................................
21
2.1 Historische Ansätze im frühgriechischen Denken ..................
21
2.2 Die Notwendigkeit von Gesetz und Ordnung .......... . ...........
24
2.3 Institutionen und Staat: Zweck und Aufgabe .....................
26
3 Subjektive und objektive Freiheit ....................................
31
4 Zur Entstehung der Schrift: "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" ...................................
35
4.1 Der Einfluß der Berliner Aufklärung
35
4.2 Humboldts StaatSdienst (1790 - 1791)
39
4.2.1 Unbehagen an seinen Aufgaben
...........................
39
4.2.2 Ursachen für seinen Austritt ..............................
41
4.2.3 Beurteilung des Austritts .................................
44
4.3 "Ideen über Staatsverfassung durch die neue französische Cönstitution veranlaßt" ..................................................
45
4.4 Anregungen zu den "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" ..............................
47
4.4.1 Schwierigkeit mit der Veröffentlichung .....................
48
5 Humboldts Menschenbild
..........................................
52
5.1 Der politische Hintergrund ....................................
53
5.2 Der geistesgeschichtliche Hintergrund (Neuhumanismus) ........... ·55
8
Inhaltsverzeichnis 5.3 Humanität und Bildung ................. . .... . ...... . ......... 5.3.1 Bildung und Kultur
...................... . ..............
5.3.2 Individualität und Kraft
.................................
5.3.3 Individuum, Charakter, Idee 5.4 Idealität und Selbstverwirklichung 6 Grundbedingungen staatlicher Wirksamkeit ........................... 6.1 Philosophie und Politik
57 60 62 64 67 72
.......................................
72
6.2 Freiheit und Bildung ..........................................
74
6.3 Vermittlung von Freiheit ............... . ......................
76
6.4 Mannigfaltigkeit der Situationen ....... . .......................
78
6.5 Zwischenergebnis ............................................
80
7 Kritik am Wohlfahrtsstaat ..........................................
84
7.1 Wohlfahrt verursacht "Einförmigkeit" ...........................
84
7.2 Entfremdung und Passivität
...................................
87
7.3 Gesinnung und Zweck ........................................
90
7.4 "Nationalanstalten" statt Staatseinrichtungen ........ . ...........
91
8 Zweck der Staatseinrichtung
.................... . ..................
95
8.1 Naturrechtliche Bestimmung ...................................
95
8.2 "Sicherheit gegen auswärtige Feinde" ...... . .... . ........... . ...
97
8.3 Innere Sicherheit .................................... . ........ 100 8.3.1 Ablehnung einer öffentlichen Erziehung .................... 100 8.3.2 Staat und Sittlichkeit .............................. . . . ... 104 8.3.3 Staat und Religion
...................................... 109
8.3.4 Zwischenresümee ....................................... 114 9 Staatliche Wirksamkeit und Gesetze ................................. 118 9.1 Polizeigesetze .......... . ..................................... 118 9.2 Zivilgesetze .......................... . ......... . ...... . ..... 123 9.3 Kriminalgesetze .............................................. 129 9.3.1 Strafe als Vergeltung .................................... 129 9.3.2 Strafe als Abschreckung
.......... . .... . ........... . ..... 135
9.4 Der Staat als Entscheidungsinstanz ............. . ............... 140 9.5 Pflichten des Staates gegenüber Unmündigen ..................... 144 9.6 Mittel zur Erhaltung des Staates ................................ 146
Inhaltsverzeichnis
9
10 Theorie und Praxis . . . . . .... . .. . . ..... .. . ... . . .... .. . . .. ... .. . ... . . 150 10.1 Bezug zur Wirklichkeit .. .. . . . . .. .. .. .. . . .... .. . .. .. . ... .. . . .. . 150 10.2 Kontinuität in Humboldts Denken . . . . . .. ... . .. . . . ..... . . .. .. ... 153 10.3 Beurteilung der Schrift ..... . ... .. . ...... . ... . . .... . .... . . . . .. . 160 11 Bedeutung und Wert des Individuums ... . . .. ... . . . . .. . . .. . . ...... . ... 164 11.1 Die ontische Bestimmung des Individuums ... . . .... .. . .. . .. . .. ... 165 11.2 Eigenwert und kollektiver Wert des Individuums ... .. .......... .. . 170 11.3 Vermittlung von Individualität und Universalität bei Humboldt .. . ... 174 11.4 Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit der Individualität .. . . . .... ... 180 11.5 Individuum, Mitwelt und Umwelt .. .. . ..... ....... . .. . . .. . .. . . . . 183 12 Bedingungen menschlicher Selbstverwirklichung ...... . . ...... .. .. . ... 187 12.1 Der Mensch - das Wesen mit Bedürfnis nach Sinn
187
12.2 Primäre Ziele menschlicher Selbstverwirklichung
192
12.3 Primäre und sekundäre Normen
196
13 Das Subsidiaritätsprinzip ...... . ... . . . ............. .. ....... ... .... 201 13.1 Inhalt und Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips .. ... .. .. .. . . . . .. . 201 13.2 Der dreifache Aspekt des Subsidiaritätsprinzips 13.3 Das Subsidiaritätsprinzip als Zuständigkeitsregulativ
206 ........ . .. . . 212
13.4 Kriterien des "Subsidiums" : .. . ....................... .. ....... 217 13.5 Die Bedeutung der "kleineren Gemeinwesen" . . ........ .. . . ... .. . . 222 13.6 Subsidiarität ersetzt Solidarität .... . . . .. .. .. . .... . .. .. .. . ..... . 227 14 Ideologie, Recht und Staat . ...... . . .. .. . .......... . .. . ..... ... . . . .. . 234 14.1 Ideologie und Verfassung .... . ........... . . . .... . .... ....... ... 235 14.2 Ideologie und Recht
... . .. ........ . . . . .. . . ...... . . .. . .. . .. . . .. 240
14.3 Ideologie und Staat
246
15 Humboldt und das Subsidiaritätsprinzip . ..... . .. ........ . . ..... . .. .. . 253 15.1 Bildung und Subsidiarität .. .. . .... . .. . .... .. . .. . . ...... . ... . .. 253 15.2 Bildung und Demokratie . .. . . . . .. . .. . .. . .. . . . .. . .. .. ... . ...... 257 15.3 Der subsidiäre Gehalt in Humboldts "Ideen" - eine Gegenüberstellung 262 Literaturverzeichnis ... .... . . . ... ... .. . . ... . . . .. . ....... . . . . ........ .. 266
1 Einführung: Freiheit und Bindung als Grundverfassung menschlichen Daseins 1.1 Zum Begriff Freiheit
Freiheit ist ein Begriff, der aufgrund seines fast unbegrenzten Anwendungsbereiches (z. B. Pressefreiheit, freier Fall eines Körpers, freie Wirtschaft, freie Selbstverwirklichung ... ) und seiner vielfältigen Bedeutungen ("Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei und würd' er in Ketten geboren, ... "1) noch des näheren bestimmt werden muß, um in der Alltagssprache und noch mehr im Bereich der Wissenschaften verständlich zu werden. Das heißt, es ist nicht angebracht von Freiheit an sich zu sprechen, schon gar nicht in den Wissenschaften, zu deren Redlichkeit es gehört, zu klären und zu beweisen und nicht zu verdunkeln und zu überreden. Das Verständnis von Freiheit bleibt solange im unklaren, als man nicht anführt, worauf sich Freiheit bezieht oder wovon ein Freisein angestrebt wird, denn Freiheit ist keine Substanz, genausowenig eine Eigenschaft, soridern drückt eine Beziehung aus, zumindest eine zweistellige Relation in der Form von X ist frei von Y. Wer es unterläßt, das Freisein wovon anzuführen oder es versäumt, danach zu fragen, trägt dazu bei, daß der Begriff Freiheit nichtssagend wird und für alle möglichen Zwecke mißbraucht werden kann. In dieser Arbeit soll Freiheit als ein Freisein vom Zwang anderer Menschen definiert werden, was aber noch keineswegs eine Freiheit von jeglicher Bindung impliziert. Wieweit der einzelne z. B. auch durch Erbanlagen, Charakter, Milieu u. dgl. geprägt ist, was sich ebenfalls bestimmend auf sein Verhalten auswirken kann, soll hier nicht zur Diskussion stehen, sondern ist vorwiegend Aufgabe von psychologischen Untersuchungen. Gegenstand dieser Abhandlung hingegen ist ein Bewußtsein von Freiheit, aus eigenen Wünschen und eigener Einsicht handeln zu können und nicht durch äußeren Zwang, durch andere Menschen genötigt. Der Gegensatz von Freiheit in diesem Sinne ist also der Zwang, d. h. auf Geheiß anderer zu handeln, um größere Übel zu vermeiden. Die Aufhebung der Freiheit durch Zwang - als ihr Gegensatz - darf jedoch nicht so verstanden werden, daß Freiheit nur dann gegeben ist, wenn man die Möglichkeit hat zu tun, was man will, wenn man mit keinerlei Beschränkung, keinem Hindernis und keiner Bindung konfrontiert wird. 1 F. Schiller, Die Worte des Glaubens. In: Sämtliche Werke (Säkular-Ausgabe) Bd. I, Gedichte 1 (4. Buch). Stuttgart o. J., 163.
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1 Freiheit und Bindung als Grundverfassung menschlichen Daseins
Das ist ein grobes Mißverständnis: Eine in diesem Sinne verstandene Freiheit kann es für ein menschliches Wesen niemals geben, allein schon durch seine leiblich-biologische Struktur sind dem Menschen von Natur her Grenzen gesetzt: so ist z. B. sein Leistungsvermögen unter anderem auch abhängig von seinen Anlagen und seinem Erbsubstrat, die ihm nur in einem bestimmten Ausmaß seine Fähigkeiten zu entwickeln und zu entfalten ermöglichen. Ferner ist der Mensch bezüglich seiner Aktivitäten auch an Gesundheit und Altersstufen gebunden, schließlich unterliegt er wie alles Leben dem organischen Gesetz des Werdens und Vergehens, d. h. der Unentrinnbarkeit des Todes. Dazu kommt noch, daß auch die Mitwelt und Umwelt, die Konfrontation mit einer bestimmten Kultur und Zivilisation, das Leben in dieser und nicht in jener Gesellschaft, ebenfalls menschliches Verhalten prägen und dem Individuum für seine Selbstentfaltung mehr oder weniger Möglichkeiten einräumen. Dieser Gedanke ist von zentraler Bedeutung für die vorliegende Arbeit, wenn auf dem Hintergrund der Gesellschaftskonzeption Humboldts und der des Subsidiaritätsprinzips auf die freie Selbstverwirklichung des Individuums (ein Begriff, den es noch zu klären gilt) reflektiert wird. Abgesehen von inneren Komponenten (Anlagen, Erbgut), die bestimmend auf menschliches Verhalten wirken, wird unser persönliches Leben auch entscheidend von unserer Umwelt beeinflußt und geprägt. Zwischen der Welt, die uns umgibt (das sind die Menschen, mit denen wir leben, das ist die Kultur, die Zivilisation, die Gesellschaftsstruktur, die Institutionen, mit denen wir konfrontiert werden), und den einzelnen Individuen besteht eine ständige Wechselwirkung, und zwar auf die Weise, daß die Individuen die Umwelt gestalten und beeinflussen als auch von dieser Erkenntnisse erwerben und Wirkungen erfahren, die ihrerseits wiederum die Persönlichkeitsentwicklung mitbestimmen. Zweifelsohne kann diese gegenseitige Wechselwirkung von Ich und Welt, von Subjekt und Objekt, von Individuum und Gesellschaft (Staat) auch einseitig zugunsten der Welt, des Objektes, der Gesellschaft erfolgen, so daß im einzelnen Subjekt ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem Objekt (Gesellschaft) entsteht, weil di~ses ihm Entscheidungen vorwegnimmt und somit seiner freien Selbstgestaltung entgegenwirkt. Man mag zwar dagegen einwenden und sagen, daß es für manche, ja vielleicht für viele Individuen gut ist, wenn sich andere ihrer annehmen, wenn andere über sie befinden, was sie zu tun haben, da sie selber nicht imstande sind, für ihr Leben zu sorgen, geschweige denn ein glückliches Leben zu gestalten. Dieser Einwand kann aber damit widerlegt werden, daß Individuen nur insofern bereit sind, sich bevormunden zu lassen, als sie dessen sicher sein können, daß eine heteronome Bestimmung über sie zu ihrem Vorteil gereicht und ihnen ein besseres Leben bringt. In all den Bereichen, wo der einzelne auch nur vermutet, sein
1.2 Die Grundfreiheit des Menschen
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angestrebtes Ziel in Selbstbestimmung zu erreichen, läßt er andere nicht freiwillig über seine Lebensgestaltung befinden. Dieses Verlangen nach eigener Bestimmung, nach eigener Tätigkeit, ist der menschlichen Grundstruktur wesentlich eigen, ohne sie könnte das Individuum niemals seine Identität finden und sich zu einer Persönlichkeit entwickeln. Um sich als selbst zu erfahren, um seinen eigenen Willen wahrzunehmen, muß der Mensch eigene Wirkungen setzen und dafür auch verantwortlich gemacht werden können, das setzt aber voraus, daß ihm dafür auch Möglichkeiten gegeben oder diese durch den Zwang anderer zumindest nicht vereitelt werden. Es ist deshalb verständlich, meint E. Fromm in seinem Buch: "Anatomie der menschlichen Destruktivität", daß unter allen Bedrohungen vitaler Interessen des Menschen die Bedrohung seiner Freiheit von außerordentlicher Wichtigkeit ist. "Im Gegensatz zu der weitverbreiteten Meinung, daß dieses Verlangen nach Freiheit ein Erzeugnis der Kultur und speziell durch Lernen konditioniert sei, legt ein umfangreiches Tatsachenmaterial nahe, daß es sich beim Verlangen nach Freiheit um eine biologische Reaktion des menschlichen Organismus handelt. "2 Freiheit ist eine Vorbedingung dafür, "daß die Persönlichkeit sich voll entfalten kann und daß der Mensch zur geistigen Gesundheit und zu seinem Wohlbefinden gelangt. Geht ihm diese Freiheit ab, so verkrüppelt er und wird krank. "3 Aber zur Freiheit gehört nicht, führt Fromm weiter aus, daß jegliche Einschränkung fehlt, Wachstum ist nur innerhalb von bestimmten Strukturen möglich und jede Struktur erfordert Einschränkung.
1.2 Die Grundfreiheit des Menschen Im Vergleich zu anderen Lebewesen (Pflanzen und Tieren) ist der Mensch in seinem Verhalten bei weitem nicht so festgelegt, sondern er verfügt über eine offene Verhaltensplastizität. Man spricht von einer "Weltoffenheit" des Menschen gegenüber einer "Instinkt-, Trieb- und Umweltgebundenheit" des Tieres;4 d. h. das Tier ist an eine begrenzte Umwelt gebunden - selbst wenn es sich in weiten geographischen Räumen bewegen kann wie z. B. die Zugvögel, so reagiert es doch artgebunden - der Mensch hingegen ist in seinem Verhalten wesentlich offener, anpassungs- und entwicklungsfähiger, er kann sich in der Antarktis wie in den Tropen verwirklichen. Sein 2 Stuttgart 21974, 178.
Ebd. Seitens der philosophischen Anthropologie versucht man schon seit Jahrzehnten, die Sonderstellung des Menschen gegenüber anderen Lebewesen hervorzuheben. Vgl. dazu: M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (Darmstadt 1928) Bern 71966. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin (1928) 21965. A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt. Frankfurt (1940) 71962 u. a. 3
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1 Freiheit und Bindung als Grundverfassung menschlichen Daseins
instinktfreies Verhalten und sein Nichtgebundensein an spezifische Lebensund Umweltbedingungen heben den Menschen im hohen Maße von anderen Lebewesen ab, zeichnen ihn durch eine "Grundfreiheit" 5 aus, die ihn eigentlich erst zu geistigen Leistungen befähigt. Denn Geistigkeit ist nur möglich aus Freiheit, nur aufgrund eines Freiseins von Instinkt-, Trieb- und Umweltgebundenheit ist der Mensch imstande, Sachverhalte und Dinge in ihrer Eigenart zu erkennen, sie auch unabhängig von eigenen Interessen und Bedürfnissen zu bewerten und Entscheidungen zu treffen. Geistige Akte, die der Mensch im Erkennen und Wollen vollzieht, setzen ein Abstraktionsvermögen voraus. Bedingung dafür ist die genannte Grundfreiheit. Allerdings bringt diese Grundfreiheit auch Probleme mit sich, mit denen das Tier nicht konfrontiert ist, denn sein Verhalten ist ihm spezifisch vorgezeichnet, es kann sich gar nicht anders verhalten, als seinen Trieben und Instinkten gemäß. Der Mensch hingegen muß sein nicht festgelegtes Verhalten selber erst festlegen, er verfügt über eine Fülle von Verhaltensmöglichkeiten, von denen er nicht beliebig auswählen kann, sondern die "richtigen" zu wählen hat, wenn er leben und überleben will. Das heißt, daß bereits die Grundfreiheit des Menschen, seine biologische Unspezialisiertheit und sein Nichtfestgelegtsein im Verhalten, auf eine Orientierung in der Verwirklichung von Verhaltensmöglichkeiten angelegt ist, die lebensbejahend sein muß, andernfalls würde sich der Mensch selbst und seine Mitmenschen zerstören. Freiheit ohne Orientierung an dem für den Menschen "Richtigen", ohne Bindung an Werte und Normen, artet zur Willkür aus und bedeutet nur noch Bedrohung und Belastung für den Menschen. Damit hebt sich die ursprüngliche Intention der Grundfreiheit, den Menschen im Sinne seiner Selbstverwirklichung für die Entfaltung seiner Anlagen und Fähigkeiten freizusetzen, selbst auf, da er im Mißbrauch von Freiheit und im Mangel an Instinktsicherheit seine eigenen Überlebenschancen verspielt. Weil Freiheit das Wesenscharakteristikum für den Menschen ist, kann er nicht umhin, sie sinnvoll zu verwirklichen, will er nicht von vornherein auf sein eigenes Leben und das Überleben seiner Art verzichten. Daraus ergibt sich, daß die oben angeführte Bestimmung der Freiheit als "Freiheit von" (in der Form X ist frei von Y) erweitert werden muß zu einer positiven Bestimmung, nämlich als "Freiheit zu" etwas, formal ausgedrückt: X ist frei von Y zu Z. Nur in dieser erweiterten Bedeutung als Freiheit zu einem "richtigen" Verhalten, steht Freiheit im Dienste der menschlichen Selbstverwirklichung. Es stellt sich allerdings sofort die Frage, was unter einem "richtigen" Verhalten zu verstehen ist, welche Kriterien dafür aufgewiesen werden können. 5 E. Coreth, Was ist der Mensch? Grundzüge einer philosophischen Anthropologie. Innsbruck 31980, bes. 78f.
1.3 "Richtiges" als Freiheitsorientierung
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1.3 "Richtiges" als Freiheitsorientierung
Unter formalen Gesichtspunkten betrachtet kann man unter dem Begriff des "Richtigen" jene Mannigfaltigkeit von Verhaltensmöglichkeiten verstehen, deren Verwirklichung sich positiv auf die Entfaltung des menschlichen Individuums wie der gesamten menschlichen Art auswirkt. Das heißt konkret, daß sich "Richtiges" als ge sollte Verhaltenspotentialitäten auf verschiedenen Ebenen (politischen, wirtschaftlichen, positiv rechtlichen, ästhetischen, religiösen usw.) verwirklichen läßt und daß auch in den diesen Bereichen zugeordneten Disziplinen die Frage nach dem "Richtigen" erörtert und analysiert wird. Philosophie vermag niemals diese fachspezifischen Forschungen in den Einzeldisziplinen zu ersetzen, dennoch gilt es zu überlegen und zu prüfen, ob und in welchem Ausmaß die Frage nach dem "Richtigen" in den genannten Einzelbereichen von sittlicher Relevanz ist und somit zum Gegenstand der Philosophie, im besonderen der Ethik, wird. Denn es ist und bleibt vorwiegend Aufgabe der Philosophie, die Frage nach dem Menschen, seinem Wesen und damit verbunden auch die Frage nach seinem "richtigen" Verhalten zu stellen; die Einzelwissenschaften mit ihren noch so fundierten Kenntnissen und Forschungsergebnissen vermögen niemals ein ganzheitliches Menschenbild zu vermitteln. Es geht ja nicht nur darum, daß der Mensch auf bestimmten Gebieten "richtig" handelt (z. B. als Künstler, als Arzt, als Sportler usw.), sondern die Frage nach dem "Richtigen" muß sich auf sein gesamtes Verhalten als Person im mitmenschlichen Zusammenleben beziehen. Diesbezüglich hat sich die Philosophie in allen Strömungen, Denkrichtungen und Schulen seit jeher mit dem für das menschliche Verhalten "Richtigen" beschäftigt, wobei - als Orientierungin der für unseren Kulturkreis relevanten abendländischen philosophischen Tradition hauptsächlich zwei Prinzipien maßgebend waren: ein "objektivseinsorientiertes" und ein "subjektiv-rationalistisches" 6.
1.3.1 Objektiv-seinsorientierte Gesetze Schon zu Beginn der griechischen Philosophie, bei den Vorsokratikern, findet sich der Gedanke eines obersten, den gesamten Weltprozeß beherrschenden Gesetzes; und diese Vorstellung von einem höchsten Gesetz läßt sich durch die gesamte abendländische Philosophie verfolgen: bei Sokrates als einem dem menschlichen Individuum innewohnenden Gesetz als Stimme des Gewissens, bei PI at on in der Form ewiger, unwandelbarer Ideen und bei Aristoteles, der zwar - im Gegensatz zu Platon - nicht mehr an überweltliche Ideen glaubt, wohl aber von einem allem Seienden innewohnenden 6 Vgl. zum folgenden: A. Süsterhenn, Das Naturrecht. In: Naturrecht oder Rechtspositivismus. Hrsg. v. W. Maihofer (Wege der Forschung XVI). Darmstadt 1966, 11 15.
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1 Freiheit und Bindung als Grundverfassung menschlichen Daseins
Zweckprinzip (Entelechie) spricht. Erst recht wird die Lehre von einem allen Normen zugrunde liegenden Weltgesetz in der Stoa vertreten, dessen Auswirkungen sich auch in der römischen Rechtslehre (Cicero) zeigen: "Das wahre Gesetz ist die richtige Vernunft in Übereinstimmung mit der Natur ... Es umspannt alle Völker und Zeiten als ewiges und unveränderliches Gesetz. Es spricht zu uns gleichsam der Lehrer und Herrscher der Welt: Gott. Er hat dieses Gesetz erdacht, ausgesprochen und gegeben. Wer ihm nicht gehorcht, wird sich selbst untreu und verleugnet seine Menschennatur. "7 In der Patristik, bei Augustinus, wird dieses wahre Gesetz noch ausdrücklicher als göttliches Gesetz, als lex aeterna, interpretiert. Doch zweifelsohne am ausgereiftesten kommt das objektiv-seinsorientierte Prinzip in der Hochscholastik zum Ausdruck, nach deren Lehre Gott in die Welt und damit auch in die menschliche Natur die Gesetze ihres Seins und Werdens hineingelegt hat, "die im Bereich der vernunftlosen Kreatur mit mechanisch-physikalischer oder triebhafter Notwendigkeit wirken, beim Menschen als einem mit Vernunft und freiem Willen begabten Wesen als sittliche Forderung ... Durch die Befolgungen des von Gott stammenden natürlichen Sittengesetzes entfaltet und verwirklicht der Mensch sein Wesen und erfüllt seinen natürlichen Daseinszweck. Kraft seiner Vernunft ist der Mensch in der Lage, aus seiner Natur und aus seinem Wesen sowie aus seiner Stellung in der Welt die Forderungen zu erkennen, deren Erfüllung die sittliche Ordnung gebietet. "8 Diese Auffassungen sind zum tragenden Gedankengut für die folgenden Jahrhunderte, hauptsächlich für die Spätscholastik wie für die Neuscholastik geworden und finden sich auch in den Enzykliken der Päpste unseres Jahrhunderts wieder.
1.3.2 Subjektiv-rationalistische Orientierung Die Orientierung an einem subjektiv-rationalistischen Prinzip für die "Richtigkeit" menschlichen HandeIns nimmt ebenfalls von der Antike ihren Ausgang, hauptsächlich von den Sophisten, für die der Mensch zum Maß aller Dinge (Protagoras) wird. Im Nachfolgenden dieser Denkrichtung könnte man auf die Kyniker verweisen, insofern sie vorgegebene Ordnungen ablehnen und gesellschaftliche Bindungen ignorieren. Da in der Patristik und im Mittelalter doch vorwiegend der "Ordo-Gedanke" vorherrschte, kommt das subjektiv-rationalistische Element erst im ausgehenden Mittelalter, im philosophischen Nominalismus vor allem bei Wilhelm von Ockham zur Geltung, bei dem das Individuelle eindeutig den Primat vor dem Allgemeinen hat. In der Renaissance, die sich als große Wiedergeburt der Antike 7 Cicero, De republica III, 22. Hrsg. v. K. Ziegler, Staatstheoretische Schriften: Lateinisch und Deutsch. Darmstadt 1974. B Süsterhenn (s. Anm. 6) 13.
1.4 Kriterien der " Richtigkeit "
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versteht, wird zwar ein Jenseits und eine absolute Wertordnung nicht geleugnet, doch wird sie hineingenommen in die unendliche menschliche Dynamik, so z. B. beim Florentiner Fürst Giovanni Pico della Mirandola, nach dem der Mensch in einem unendlichen Prozeß immer N eues schaffen und sich dadurch verwirklichen soll. Des weiteren muß von einem subjektiv-rationalistischen Prinzip als Orientierungsmaßstab für menschliches Verhalten im philosophischen Empirismus des 17. und 18. Jahrhunderts gesprochen werden, in dem sich ein radikaler Bruch mit der platonischaristotelischen Metaphysik vollzog und folglich auch ewige Wahrheiten und übergeordnete Gesetze ihre Verbindlichkeit verloren. Am ausgeprägtesten und bis in unsere Zeit am einflußreichsten jedoch kommt das subjektiv-rationalistische Denken in der Aufklärung zum Durchbruch, in der vollkommene Autonomie der Vernunft in Ablehnung jeglicher Autorität und damit auch vorgegebener Normen gefordert wird. Bedeutete für die Vertreter des objektiv-seinsorientierten Prinzips die menschliche Vernunft lediglich Erkenntnismittel und die Natur Erkenntnisquelle, so übernimmt nun immer mehr die Vernunft auch die Funktion der Erkenntnisquelle. 9 Was zu tun oder zu unterlassen, was richtig oder falsch ist, darüber entscheidet allein die menschliche Vernunft. 1.4 Kriterien der "Richtigkeit"
Sofern nun unter einem objektiv-seinsorientierten Prinzip absolute, ein für allemal festgelegte Ordnungen, denen sich der Mensch zu fügen hat und die sich seiner Urteilskraft entziehen, verstanden werden, ist die Kritik der Aufklärung berechtigt, zumal wir erkannt haben, daß Humanität mehr aufgegeben als vorgegeben ist. Folglich haben wir die Frage nach dem "Richtigen" selbst zu stellen und zu beantworten, wobei stets die Offenheit menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten im Sinne seiner Selbstverwirklichung mitberücksichtigt werden muß. Das Wesen des Menschen ist nicht ein für allemal festgelegt, "welche Wandlungen haben z. B. Grundgehalte wie die Freiheit, die Persönlichkeit und die ,Würde des Menschen' erfahren, und wer wollte behaupten, daß wir nach dem so kurzen Lauf der Menschheitsgeschichte am Ende angelangt seien",1 O Somit kann keine Disziplin, die sich mit Richtlinien menschlichen Verhaltens beschäftigt, jemals zu einem Abschluß kommen, sondern muß fortwährend die Offenheit menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten miteinbeziehen. Das bedeutet aber nicht, daß überhaupt keine Orientierungskriterien und Normen für menschliches Verhalten mehr aufgestellt werden können, weil Vgl. ebd. 14. H. Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie. Philosophische Anthropologie des Politischen. Berlin 1969, 240. 9
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2 Battisti
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1 Freiheit und Bindung als Grundverfassung menschlichen Daseins
sie menschliche Entfaltungsmöglichkeiten hindern und dem auf Dynamik angelegten Wesen des Menschen widersprechen könnten. Durch seine Lebensverfassung sind dem Menschen aus der Fülle von Verhaltensmöglichkeiten ge sollte Verhaltenspotentialitäten vorgezeichnet. Demnach bleibt das "Was" des Sollens und der Verbindlichkeit nicht völlig offen, "denn letzte Direktive ist die Selbstverwirklichung, die Einrichtung und Entfaltung des Menschen in gegebener Welt".1 1 Damit ist freilich nur eine äußerst formale Bestimmung von "Richtigem" für menschliches Verhalten gegeben, die es noch zu konkretisieren gilt, wenn sie maßgeblich und wirksam werden soll. Denn unter "Selbstverwirklichung, Einrichtung und Entfaltung des Menschen in gegebener Welt" lassen sich mannigfaltige Verhaltensformen z. B. eine vom Alltagsleben abgewandte Askese wie ein engagiertes bis zur Selbstaufopferung reichendes Leben für Gemeinschaft und Gesellschaft verstehen. Es ist aber davon auszugehen, daß jede Richtigkeitsvorstellung eine vom Menschen formulierte und interpretierte ist, insofern unzulänglich und nicht frei von Irrtümern, selbst wenn von vorgegebenen, unveränderlichen Ordnungen oder ewigen Gesetzen die Rede ist. Eine an der menschlichen Selbstverwirklichung orientierte Richtigkeitsvorstellung hat gegenüber starren, übergeordneten Normen den Vorteil, daß die in der Grundfreiheit des Menschen angelegte Entfaltung seiner Möglichkeiten mehr berücksichtigt wird als in einem festgesetzten Gefüge, wo jedem Menschen ein bestimmter Ort zugewiesen ist und damit auch seine Entfaltungsmöglichkeiten vorbestimmt und eingeschränkt werden. Die Auffassung, daß Ordnungen mehr aufgegeben als vorgegeben und somit der menschlichen Selbstgestaltung überantwortet sind, impliziert noch keineswegs eine völlige Ablehnung vorhandener Tradition und gewachsener Institutionen, wohl aber sind die von ihnen erstellten Normen dahingehend zu überprüfen, ob sie noch menschliche Bedürfnisse und Interessen erfüllen oder bereits ein "Eigenleben" führen, d. h. die Menschen in ihren "Dienst" nehmen, an statt für die Menschen da zu sein. "Wie im Bereiche der theoretischen Erfahrung, des Erkennens und Erforschens zunächst noch unbekannter Wirklichkeiten, muß heute auchjm Bereich der praktischen, der sittlichen und der politischen Erfahrung sozusagen experimentiert werden. Normen müssen wie theoretische Hypothesen erprobt und gegebenenfalls geändert oder ersetzt werden. "12 Richtmaß für eine solche Erprobung von Normen kann aber nur der Mensch sein, denn allein seine offene Verhaltensplastizität hat es erforderlich gemacht, nach Normen und Richtlinien Ausschau zu halten. Soll menschliches Dasein Bestand haben und seine Selbstverwirklichung gewährleistet sein, so müssen bestimmte Verhaltensweisen unter allen Umständen befolgt werden. 11 12
Ebd.133. Ebd.312.
1.4 .Kriterien der "Richtigkeit"
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So geht es z. B. darum, dem Menschen ein Mindestmaß an Erfüllung seiner elementaren Lebensbedürfnisse zuzusichern, und darunter sind nicht nur Nahrung, Kleidung und Behausung zu verstehen, sondern ebenso mitmenschliche Kommunikation, die in verschiedensten Formen als Wohlwollen, Verständnis, Vertrauen, gegenseitige Hilfe u. dgl. ihren Ausdruck finden kann. Da der Mensch sich aber nur im gemeinschaftlichen Dasein entfalten kann (selbst ein Robinson ist nur imstande zu überleben aufgrund des Wissens und der Erfahrung, die ihm die Gemeinschaft, in der er zuvor lebte, vermittelt hat), ist nicht nur die je eigene Selbstverwirklichung für die Gültigkeit von Normen und Ordnungen maßgebend, sondern die Selbstverwirklichung eines jeden Menschen. Es gibt kein allgemeingültiges Kriterium, wodurch dem einen Menschen mehr Recht auf Selbstverwirklichung zugebilligt werden könnte als dem anderen. Alle Privilegien, worin sich Menschen voneinander abheben und "auszeichnen", sind gesellschafts- und zeitbedingt, ihnen liegen keine absoluten Wertmaßstäbe zugrunde. Damit soll nicht in Frage gestellt werden, daß den einzelnen Individuen aufgrund ihrer verschiedenen Aufgaben, die sie in der Gesellschaft erfüllen, unterschiedliche Entscheidungsbefugnisse zukommen können. Komplexe Gesellschaftssysteme mit ihrer Vielzahl von zu bewältigenden Aufgaben erfordern Heterogenität. Es kann für eine Gesellschaft nur von Vorteil sein, wenn in ihr Individuen leben, die über außerordentliche Fähigkeiten verfügen und diese der Gesamtheit der Gesellschaft zugute kommen lassen. Anders hingegen verhält es sich, wenn dieser Vorsprung an Wissen, dieses Mehr an Fähigkeiten von einzelnen Individuen gegen ihre Mitmenschen ausgespielt und diese somit zu eigennützigen Zwecken mißbraucht werden. Ein solches Verhalten kann durch kein allgemeingültiges Kriterium gerechtfertigt werden, dahinter steht reiner Egoismus. Es ist aber vielmehr davon auszugehen - und zwar nicht nur als ethisches Postulat, sondern als empirische Tatsache - daß wir Menschen alle bedürftig und aufeinander angewiesen sind. l3 Die Bedürftigkeit und Angewiesenheit auf den Mitmenschen ist schon durch die physiologische Konstitution des Menschen gegeben, allein - ohne jemandes Hilfe - kann der Mensch nicht überleben; selbst, wenn er nur ein tierhaftes Dasein fristen will, braucht er Hilfe, um so mehr, um seine psychischen und geistigen Fähigkeiten zu entfalten und als Mensch unter Menschen leben zu können. W. Kamlah ist der Ansicht, daß für den Satz, wir Menschen sind bedürftig und aufeinander angewiesen, die Humesche Feststellung, daß aus dem Sein niemals ein Sollen folge (we cannot go from Is to Ought) nicht gelte. "Wer die Wahrheit dieses Satzes einsieht, der kann ihn nicht als neutralen generellen Satz verstehen. Anders ausgedrückt: Wer diesen Satz als neutralen 13 Vgl. W. Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik. Mannheim 1972, 95.
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1 Freiheit und Bindung als Grundverfassung menschlichen Daseins
generellen Satz, als neutrale ,Tatsachenwahrheit' hört oder liest, der versteht ihn eben noch nicht (was nicht ausschließt, daß der Satz einen wirklichen Sachverhalt, also eine Tatsache darstellt) ... Das ,Verstehen' ist hier nicht bloßer Verstand, sondern eben ,Einsicht', und man wird noch weiter gehen und sagen dürfen: erst wer diese praktische Einsicht im Handeln befolgt, der hat sie wirklich." 14 Aufgrund unserer Lebenserfahrung sind wir alle in der Lage, einzusehen, daß nicht nur wir selbst bedürftig und auf die anderen angewiesen, sondern ebenso die anderen bedürftig und auf uns angewiesen sind. Daraus ergibt sich - bezogen auf unser Thema "Freiheit und Bindung" - als Konsequenz für ein "richtiges" Handeln, daß nur die Bedürftigkeit und Angewiesenheit auf fremde Hilfe den Menschen berechtigt, in den Freiheitsraum seiner Mitmenschen einzugreifen. Ein Gedanke, der sowohl auf Humboldts "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" wie auf das Subsidiaritätsprinzip zutrifft.
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Ebd. 96. 97.
2 Freiheit und Institution 2.1 Historische Ansätze im frühgriechischen Denken
Unter welchen Aspekten man menschliche Geschichte auch immer sehen mag, sie ist auch vorwiegend ein Ringen um Freiheit, verstanden als ein Freiwerden vom Zwang und der Fremdbestimmung anderer, um in Eigenverantwortung und Selbstbestimmung sein Leben gestalten zu können oder wie Hegel formuliert: "Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, - ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben." 1 Die Orientalen wußten - so Hegel- noch nicht um die Freiheit des Geistes oder des Menschen an sich, sondern nur um die Freiheit eines einzigen, des Despoten. Weil aber dessen Handeln von Willkür ("Wildheit" oder "Zahmheit", "Dumpfheit der Leidenschaft" etc.) geprägt ist, ist auch er noch kein freier Mensch, sondern eben nur ein Despot. "In den Griechen ist erst das Bewußtsein der Freiheit aufgegangen, und darum sind sie frei gewesen. "2 Zweifelsohne sind die Ursprünge unseres abendländischen Freiheitsverständnisses im frühen Griechentum anzusetzen und zwar bei den Begriffen "eleutheria" (Freiheit) und "eleutheros" (der Freie), wenngleich es bei den Griechen auch Sklaven gab und somit nicht alle Menschen frei waren, wie Hegel ebenfalls kritisch bemerkt. Beide Begriffe "eleutheria" und eleutheros" haben ursprünglich noch keine philosophische, sondern eine rechtlichpolitische Bedeutung; man versteht unter "eleutheros" den freien, auf seiner Vaterlands erde unter niemandes Herrschaft lebenden Mann, im Gegensatz zum Kriegsgefangenen, der unter dem Feind als seinem Herrn in der Fremde Knecht (doülos) sein muß. "In nachhomerischer Zeit wird eleutheros noch eindeutiger ein Wort der Polis-Sprache. Die Polis, die Erde der Polis selbst ist frei (Solon), und frei ist, wer auf der Polis - Erde leben darf, wo ein Nomos herrscht, in dem Gewalt (bia) und Recht (dike) zur Harmonie gebracht sind. "3 Freiheit wird von den Griechen niemals als Willkür, sondern als eine an Gesetz und Ordnung gebundene Freiheit verstanden, was sich schon in den 1 W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg. v. J. Hoffmeister (PhB 171 a). Hamburg 51955, 63. 2 Ebd.62. 3 W. Warnach, Freiheit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. J. Ritter. Bd. 11. Basel 1972, Sp. 1065.
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2 Freiheit und Institution
frühesten Quellen griechischer Literatur nachweisen läßt. Neben dem unbändigen Freiheitswillen und der Abscheu vor jeglicher Knechtschaft4, wissen sich die Griechen auch immer dem Gesetz verpflichtet. So läßt z. B. Herodot in seinen Historien durch den Spartaner Demarat dem Perserkönig Xerxes sagen: "So steht es mit den Lakedaimoniern ... sie sind zwar frei, aber nicht in allem. Über ihnen steht nämlich das Gesetz als Herr, das sie vielmehr fürchten als deine Untertanen dich. "5 Freiheit ist also nicht Anarchie, sondern Bindung an das Gesetz. Das Gesetz ist der Herr der Freien. Die Leistungen, die von den Griechen nach freiem Willen erbracht werden, sind größer und edler als diejenigen, welche die Untertanen unter dem Befehl eines gefürchteten Despoten vollbringen. "Das Gesetz ist die Schranke der Ordnung, die die Freien anerkennen. Diese Freiheit unter dem Gesetz ist also das Ordnungsprinzip des Staates im Recht."6 Nun hängt es aber wesentlich davon ab, wie das Gesetz beschaffen ist, was sein Inhalt ist. Das Wort Gesetz allein verbürgt noch nicht für eine "Schranke der Ordnung, die die Freien anerkennen"; Gesetze können Verschiedenes intendieren und eine sture Befolgung kann erst recht zur Unzufriedenheit führen. So verweist z. B. Herodot auf die unterschiedliche Bedeutung, welche die Spartaner und Athener jeweils ihren Gesetzen beimessen. Da der Nomos die Spartaner absolut regiert, sind die Spartaner "unbeweglicher, starrer, abhängiger in ihrem Verhalten. Die Einhaltung des religiösen Nomos hindert sie, rechtzeitig zur Schlacht bei Marathon auszurücken 7 •.• An einem einmal bezogenen Ort müssen sie siegen oder sterben. .. Dagegen stehen die Athener den Bedürfnissen jeder Situation anpassungsfähiger und beweglicher gegenüber. "8 Ihr Blick ist auf das Wesentliche gerichtet, so überlassen sie in der Krise einem Spartaner den Oberbefehl, "weil ihnen die Rettung Griechenlands am Herzen lag und sie 4 Vgl. dazu die Antwort der Spartaner Sperthies und Bulis auf das Angebot des persischen Feldherrn Hydarnes, in den Dienst des Großkönigs Xerxes zu treten und als Vasallen sogar über griechisches Land zu herrschen. "Du verstehst das eine: Sklave zu sein; von der Freiheit aber hast du noch nicht erfahren, ob sie süß ist oder nicht. Hättest du sie gekostet, so würdest du uns raten nicht nur mit der Lanze, sondern auch mit Beilen um sie zu kämpfen." Herodot, Historien 7, 135. Hrsg. v. J. Felix. München 1963. 5 Ebd. 7, 104. 6 Th. Gelzer, Die Verteidigung der Freiheit der Griechen gegen die Perser bei Aischylos und Herodot. In: Freiheit. Begriff und Bedeutung in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. A. Mercier. Bern 1973, 43. 7 Vgl. dazu: Herodot, Historien 6, 106. Zitiert nach Felix: "Die Spartaner entschlossen sich, Athen beizustehen. Es war ihnen nur nicht möglich, diese Hilfe sofort zu leisten, weil sie nicht gegen eines ihrer Gesetze verstoßen wollten. Es war nämlich der neunte Tag im Monat; und sie erklärten, sie dürften am Neunten nicht ins Feld rücken, sondern erst, wenn die Mondscheibe voll sei. Also warteten sie den Vollmond ab." 8 Gelzer (s. Anm. 6) 48.
2.1 Historische Ansätze im frühgriechischen Denken
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wohl wußten, daß Griechenland im Streit um den Oberbefehl zugrunde gehen müsse"9. In den Ausführungen Herodots zeigen sich immer wieder kritische Bedenken gegenüber Gesetz und Ordnung, sofern über deren Zweck und Sinn nicht genügend reflektiert wird. So erklärt sich auch, daß er in seinem Vergleich, den er zwischen den Athenern und Spartanern anstellt, diesen - bei aller Anerkennung des Einsatzes im Kampf für die Freiheit - weniger Sympathie entgegenbringt als jenen. Der Grund dafür liegt darin, daß die Athener nicht wie die Spartaner "in einer durch althergebrachten Nomos geregelten Oligarchie leben"lo, sondern sich für die Verfassung entschieden haben, "die den schönsten Namen von allen hat, Gleichheit vor dem Gesetz"l!, nämlich für die Demokratie. Noch schärfer wird der Gegensatz zwischen athenischer und spartanischer Vorstellung vom Gesetz von Thukydides herausgearbeitet.1 2 In PerikIes' Rede auf die Gefallenen zeigt Thukydides die Wirkungen der Demokratie Athens als eine alle Bereiche durchdringende Freiheit auf: "Und wie in unserem Staatsleben die Freiheit herrscht, so halten wir uns auch in unserem Privatleben fern davon, das tägliche Tun und Treiben des Nachbarn mit Argwohn zu verfolgen. Wir versagen es niemandem, wenn er tut, was ihm gefällt, und setzen auch nicht jene kränkende Miene auf, die ihm zwar nichts zuleide tut, aber doch höchst widerwärtig ist. Aber bei dieser Weitherzigkeit im persönlichen Verkehr verbietet uns die Ehrfurcht vor dem Gesetz, die Gesetze zu übertreten." 13 Auch in diesen Ausführungen handelt es sich nicht um reine Willkür, sondern darum, die Bürger so viel wie möglich zu fördern und so wenig wie möglich bei ihrer Lebensgestaltung zu hindern, allerdings immer in Rückbindung an das Gesetz, das im Sinne demokratischer Gleichheit jedem Bürger den Anspruch auf Entfaltung zur Persönlichkeit einräumt. Nicht durch Zwang, spartanische Härte und die Freiheit einengende Gesetze soll der Charakter der Bürger geformt werden, sondern durch Bildung. Ein Gedanke, der sich mit frappanter Ähnlichkeit auch bei Humboldt finden läßt und zum zentralen Thema seiner Staats theorie wird.
Herodot, Historien 8, 3. Gelzer (s. Anm. 6) 49. 11 Herodot, Historien 3, 80. 12 Vgl. zum folgenden auch Gelzer (s. Anm. 6) 49f. 13 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg II, 37. Übertr. v. A. Horneffer, Bremen
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1957.
2 Freiheit und Institution
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2.2 Die Notwendigkeit von Gesetz und Ordnung
Auch wenn man Humboldts überschwengliche Begeisterung für die Griechen nicht teilt, wird man dennoch zugestehen müssen, daß eine Vielzahl von Fragen, die für unsere abendländische Geistesgeschichte Bedeutung haben, bereits von den Griechen aufgegriffen wurden. So hat z. B. schon Aristoteles darauf hingewiesen, daß der Mensch von Natur aus ein nach staatlicher Gemeinschaft strebendes Wesen (z06n politik6n)14 ist. Erst in der Gemeinschaft findet der Mensch zu seiner eigentlichen Bestimmung. Menschliche Vergesellschaftung ist aber mehr als tierischer Herdentrieb. Die Tiere verfügen nur über Laute, mit denen sie Lust und Schmerz zum Ausdruck bringen, der Mensch hingegen hat Sprache. Und "die Sprache ist dafür da, das Nützliche und das Schädliche und so denn auch das Gerechte und das Ungerechte anzuzeigen. Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, daß sie Sinn haben für Gut und Bös, für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat ... Wer aber nicht in Gemeinschaft leben kann, oder ihrer, weil er sich selbst genug ist, gar nicht bedarf, ist kein Glied des Staates und demnach entweder ein Tier oder ein Gott." 15 Mit dieser Feststellung hat Aristoteles eine fundamentale Erkenntnis geäußert, die nach ihm kaum mehr in Zweifel gezogen, im Gegenteil- nur noch bestätigt wurde; so z. B. auch seitens der Anthropologie und Verhaltensforschung, die ebenso zur Ansicht gekommen sind, daß der Mensch nicht aus Verabredung oder durch verstandesmäßigen Entschluß zur Vergesellschaftung kommt, sondern aufgrund seiner natürlichen primären Anlage.1 6 Der Mensch versteht sich immer schon als Gemeinschaftswesen. Jeder Schritt menschlicher Entwicklung ist begleitet von der Beziehung zu anderen. Es gibt kein menschliches Wesen, das völlig unabhängig von irgendeiner Form der Gemeinschaft existieren könnte. Wie sehr aber der Mensch auch auf Gemeinschaft (Gesellschaft) hingeordnet ist, menschliches Zusammenleben ist dennoch keine prästabilierte Harmonie, in der - analog den Monaden von Leibniz - die Interessen der Individuen aufeinander abgestimmt sind; es zeigt sich darin vielmehr jener Antagonismus der menschlichen Natur, den Kant "ungesellige Geselligkeit" nannte. Das heißt, neben der Neigung sich zu vergesellschaften, hat der Mensch "auch einen großen Hang sich zu vereinzelnen (isolieren): weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet" 17, so Aristoteles, Politik I, 2 (1253 a 3). Ebd. (1253 a 14 - 18 und 28 - 29). Zitiert nach E. Rolfes (PhB 7). Leipzig 31922, 4f. 16 Vgl. A. Portmann, Das Tier als soziales Wesen. Zürich 21953,94. 17 1. Kant, Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. VIII. Leipzig 1923, 21. 14
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2.2 Die Notwendigkeit von Gesetz und Ordnung
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wie er selbst auch anderen Widerstand bereitet. Da aber die Menschen "in wilder Freiheit nicht lange neben einander bestehen können", gilt es, in den "Zustand des Zwanges zu treten" 18, sich zu disziplinieren oder, wie Kant an einer anderen Stelle schreibt, "die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen"19 zu vereinen. In der Tat eine über alle Gesetze und Ordnungen sich erhebende, individualistisch verstandene Freiheit gibt es nicht und kann es nicht geben. Das Leben der Menschen in der Gesellschaft ist nur möglich, wenn die Individuen sich nach bestimmten Regeln verhalten. Ohne Ordnung ist ein menschliches Zusammenleben nicht denkbar. Diese Ausage wird kaum jemand in Abrede stellen. Auch Revolutionäre bekennen sich zu Ordnungen, sie wollen "nur" andere als die bestehenden. Wann und wo immer Ordnungen umgestoßen wurden, sind stets neue an ihre Stelle getreten. Die Kontroversen, die bezüglich Ordnungen und Gesetze bestehen, betreffen weniger die Frage nach deren Notwendigkeit, sondern deren Inhalt, genauer gesagt, es geht um die Maßstäbe und Werte, die den Ordnungen und Gesetzen zugrunde liegen, und um die Art und Weise ihrer Durchführung. Allein von diesen Komponenten hängt es ab, ob Ordnungen und Gesetze Voraussetzungen sind für die Entfaltung menschlicher Freiheit ("Where there is no Law, there is no freedom ")20 oder jenen unheilvollen Unterton enthalten, der den ganzen Schrekken legitimierter Gewalt in sich zusammenfaßt und sanktioniert. 21 Mit anderen Worten: Die soziale Natur des Menschen, sein Leben in der Gesellschaft, verweist zwar auf die Notwendigkeit von Gesetz und Ordnung, läßt aber die Frage nach deren Inhalt noch völlig offen. Menschliche Vergesellschaftung kann auf verschiedenste Weise zur Darstellung kommen, was die zahlreichen Gesellschaftsmodelle in Geschichte und Gegenwart nur bestätigen; wie man aber menschliches Zusammenleben tatsächlich gestaltet und welche Gesetze und Ordnungen konkret zur Geltung kommen, hängt davon ab, was für Ziele damit verfolgt werden sollen, was ,wiederum darauf zurückzuführen ist, welchen Wert und welche Würde man den Menschen zuerkennt. Fast könnte man in sprichwörtlicher Weise formulieren: sage mir, was du vom Menschen denkst, welches Werturteil du über ihn aussprichst, und ich sage dir, welche Gesetze und was für eine Gesellschaftsordnung du intendierst. Wer der Ansicht ist, daß der Mensch von Natur aus gut sei, der wird sich für eine eigenständige, in Selbstverantwortung auferlegte Lebensgestaltung 18 19 20 new 21
Ebd.22. Ebd. Bd. VI, Berlin 1914, 230. J. Locke, Two Treatises of Government. II, § 57. In: The Works of John Locke. A edition, corrected in 10 volumes, Vol. V. London 1823 (Reprint Aalen 1963), 370. Vgl. dazu: H. Marcuse, Versuch über die Befreiung. Frankfurt 21969, 115.
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2 Freiheit und Institution
einsetzen und den Einfluß von Gesetz und Ordnung auf jenes Minimum reduziert wünschen, das für ein menschenwürdiges Dasein unbedingt erforderlich ist. Wer hingegen im menschlichen Individuum ein von Machtgier, Habsucht, Brutalität und Selbstsucht beherrschtes Wesen sieht, der wird dem einzelnen nur wenige Rechte zugestehen und für rigorose Gesetze und eine übermächtige Herrschaftsgewalt, im Sinne eines Leviathan von Hobbes, plädieren. Ebenso wird derjenige, für den das Individuum nur ein unbedeutendes, jederzeit austauschbares und ersetzbares Wesen ist, Gesetz und Ordnung so konzipieren, daß der einzelne den geringsten und das Ganze (Staat, Gesellschaft) den höchsten Wert darstellen. Demnach ist das Individuum um des Ganzen willen da und hat sich, wenn es sein muß, auch für das Ganze zu opfern. Diesem extremen Kollektivismus steht ein ausgeprägter Individualismus gegenüber, der alle organischen Bindungen der Gesellschaft ablehnt und für den Gemeinschaft und Gesellschaft nichts anderes sind als reine Zweckgebilde, "die die einzelnen durch freie Vereinbarung schaffen, um einen bestimmten Zweck, den jeder für sich allein nicht verwirklichen kann, zu realisieren"22. Was letztlich zählt, ist die Verwirklichung des einzelnen. Nicht soziales Wohlergehen, sondern Zufriedenheit einer Vielzahl autonomer Individuen wird angestrebt. Gesetz und Ordnung haben sich an jenen Zwecken zu orientieren, welche die einzelnen aus eigener Kraft nicht zu verwirklichen imstande sind und das heißt vor allem Sicherung des Lebens und der Freiheit. Damit werden auch die staatlichen Befugnisse im Sinne von Humboldts: "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" auf ein Minimum eingeschränkt und es stellt sich um so mehr die Frage, welcher Zweck und welche Aufgabe dem Staat eigentlich noch zukommt. 2.3 Institutionen und Staat: Zweck und Aufgabe Mit der Einsicht in die Notwendigkeit von Gesetz und Ordnung ist formal deren Institutionalisierung mitbejaht. Der Mensch als instinktreduziertes und weltoffenes Wesen bedarf der Sinnorientierung und Stabilisierung des Verhaltens. Nach A. Gehlen besteht der Zweck von Institutionen darin, jene Lücken zu schließen, die durch die Instinktentbindung gegeben sind. "Sie [die Institutionen) haben angesichts der unwahrscheinlichen Plastizität, Formbarkeit und Versehrbarkeit eines Wesens, das jeder Impuls außerhalb der Bindungen sehr leicht deformiert, eine geradezu fundamentale Bedeutung. Alle Stabilität bis in das Herz der Antriebe hinein, jede Dauer und Kontinuität des Höheren im Menschen hängt zuletzt von ihnen ab. "23 22
E. Brunner, Gerechtigkeit. Zürich 31981,91.
2.3 Institutionen und Staat: Zweck und Aufgabe
27
In den Institutionen realisiert und entfaltet sich die Grundlage des Menschen als gesellschaftliches Wesen. Institutionen können als Ordnungen (Einrichtungen) von Dauer zur Erfüllung und Sicherung elementarer Lebensbedürfnisse angesehen werden. "Sie intendieren die dauerhafte und ständige Erreichung bestimmter Zwecke und die Erfüllung bestimmter für das menschliche Zusammenleben zunächst in kleinen und dann, von ihnen aufsteigend, in sich ausweitenden Verbänden, notwendiger Aufgaben. Mit der Differenzierung und dem Fortschreiten der sozialen wie der wirtschaftlichen Arbeitsteilung innerhalb eines Gesellschaftsganzen werden immer mehr Institutionen für das menschliche Zusammenleben nötig. "24 Es stellt sich allerdings die Frage, ob sich der Mensch denn wirklich im Sinne Gehlens von den Institutionen als "historisch gewachsene Wirklichkeit konsumieren lassen muß"25, weil diese Einrichtungen, obwohl sie aus menschlichem Denken und Handeln hervorgegangen sind, sich zu einer Macht verselbständigen, die ihre eigenen Gesetze geltend macht, oder ob nicht vielmehr der einzelne in kritischer Auseinandersetzung mit den Institutionen versuchen muß, diese mitzugestalten und weiterzuentwickeln. Denn es gibt keine Institution, die so vollkommen wäre, daß sie nicht einer Verbesserung bedürfte. Dies gilt erst recht vom Staat, wenngleich der Staat nicht eine Institution wie jede andere ist, sondern als Inbegriff von Institutionen angesehen werden muß, d. h. als eine "übergreifende organisierte Institution einer Gesellschaft, die sich allen vorpolitischen Ordnungen und Institutionen überlagert und diese in wirklich-maßgeblicher Weise koordiniert und letztlich stabilisiert. "26 Fragt man nun nach dem Sinn und dem Zweck dieser alle anderen Einrichtungen übergreifenden Institution, die wir Staat nennen, so sieht man sich mit einer Fülle von realen und utopischen Antworten konfrontiert, die hier unmöglich zur Sprache kommen können. In Anlehnung an Humboldt wollen wir uns nur auf jene Theorien beschränken, die für seine "Ideen" relevant sind. Humboldts Bedürfnis, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, entstammt einem individualistisch ausgeprägten Menschenbild, für dessen Verwirklichung er "Freiheit des HandeIns und Mannigfaltigkeit der Situationen"27 verlangt, damit die in der individuellen Natur des Menschen angelegten Kräfte sich 23 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Frankfurt 21964, 8. 24 C. Bauer, Institution. In: Staatslexikon. Hrsg. v. d. GÖrres-Gesellschaft. Bd. IV. Freiburg 61959, Sp. 328. 25 Gehlen (s. Anm. 23) 8. 26 H. Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie. Philosophische Anthropologie des Politischen. Berlin 1969, 168. 27 W. v. Humboldt, Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 1-17. Berlin 1903 -1936. I, 246. Die Zitate aus Humboldts Schriften (im folgenden zitiert als GS) werden in ihrer Schreibweise den heutigen Orthographie- und Interpunktionsregeln angepaßt.
28
2 Freiheit und Institution
voll entfalten können. Die wahre Vernunft kann dem Menschen keinen anderen Zustand als einen solchen wünschen, "in welchem nicht nur jeder einzelne der ungebundensten Freiheit genießt, sich aus sich selbst in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln, sondern in welchem auch die physische Natur keine andre Gestalt von Menschenhänden empfängt, als ihr jeder einzelne nach dem Maße seines Bedürfnisses und seiner Neigung, nur beschränkt durch die Grenzen seiner Kraft und seines Rechts, selbst und willkürlich gibt. Von diesem Grundsatz darf, meines Erachtens, die Vernunft nie mehr nachgeben, als zu seiner eignen Erhaltung selbst notwendig ist. Er mußte daher auch jeder Politik ... immer zum Grunde liegen. "28 Das heißt für Humboldt nichts anderes, als daß der Zweck des Staates darin liegt, jenen Freiheitsraum zu garantieren, der die größtmögliche individuelle Entfaltung zuläßt. Die Frage, "zu welchem Zweck die ganze Staatsordnung hin arbeitet"29 ist am einzelnen Menschen, an der "höchsten und proportionierlichsten Ausbildung seiner Kräfte in ihrer individuellen Eigentümlichkeit"30 zu prüfen. Der Staat hat sich nach Humboldt auch aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger zu enthalten, da diese Einförmigkeit hervorbringt und die Kraft der Individuen schwächt. Was nicht vom Menschen selbst gewählt wird, worin er nur geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über und bleibt ihm ewig fremd. Die Aufgabe des Staates liegt folglich allein darin, die Sicherstellung der Bürger gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde zu gewährleisten; "zu keinem andren Endzwecke beschränke er ihre Freiheit. "31 Daß diese Aussagen in dieser Form nicht stehenbleiben können, sondern einer Interpretation bedürfen, hat auch Humboldt eingesehen, vor allem später als Staatsmann, dessen politisches Handeln sich vom Geist seiner "Ideen" in seiner Jugendschrift doch etwas entfernte. Wollte man aber Humboldts "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" nur als Ausdruck eines Protestes gegen den damaligen preußischen Polizeistaat verstehen, so würde man dieser Schrift nicht gerecht werden, weil sie, erstens, wie sich noch zeigen wird, auf anderen Überlegungen beruht und zweitens auch insofern von allgemeiner Bedeutung ist, als sie Gedanken enthält, die unseren heutigen Erfahrungen, die wir mit dem Staate machen, nicht fremd sind. So sieht sich der einzelne im Staate mit einem übermächtigen Apparat von Behörden, Ämtern und Einrichtungen konfrontiert, die das Wissen darum, daß er als Staatsangehöriger selbst Träger dieser Institution ist, weitgehend verdeckt. Der Staat erscheint dem Individuum vorwiegend als Herrschaftsverband, der Recht schafft, 28
29
30 31
GS I, 11l. Ebd. I, 97. Ebd. I, 246. Ebd. I, 129.
2.3 Institutionen und Staat: Zweck und Aufgabe
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wahrt und aufgrund seines Gewaltmonopols auch durchsetzt. Wodurch aber dieses Recht legitimiert ist, kommt vordergründig nicht zutage. Wenngleich es an der Notwendigkeit des Staates keinen Zweifel gibt, diese hat auch Humboldt niemals in Abrede gestellt, kann man dennoch nicht sagen, daß jeder Staat immer noch besser sei als gar kein Staat. Es hängt wesentlich davon ab, welchen Staat man welchen Alternativen gegenüberstellt. Diese Überlegung gewinnt Bedeutung, wenn man bedenkt, daß der einzelne nur in den wenigsten Fällen aufgrund eigener Willensentscheidung dem Staat angehört, sondern in einen Staat hineingeboren wird, dessen Gesetze im starken Ausmaß seine Lebensgestaltung mitbestimmen. Um so mehr drängt sich deshalb die Frage auf, wodurch die rechtlich-staatliche Ordnung, in der der Mensch steht, legitimiert ist. Der Staat beruht auf Wertgesetzlichkeiten, die sich nicht durch ihn selbst begründen lassen. "Recht und Staat leben ganz und gar auf fremde Kosten. Ihre jeweiligen Ausgestaltungen sind das Ergebnis von Erwägungen an Hand sittlicher Direktiven. "32 Wer aber gibt diese Direktiven, die das allgemeine Interesse eines Gemeinwesens bestimmen und mit welchem Recht? Wer befindet darüber, wo die Reichweite und Grenzen individueller Freiheit liegen und damit implizit das Ausmaß der Chancen an Selbstverwirklichung? Angesichts dieser offenen Fragen und der auch in unserer Zeit zu beobachtenden Ausdehnung staatlicher Kompetenzen und einer immer größer werdenden Verfügbarkeit und Information über das Individuum aufgrund modernster Technologien ist das Anliegen, nach den Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu fragen, aktueller denn je. Freilich würde man den Sinn und die Aufgabe von Institutionen und auch die des Staates verkennen, sähe man in ihnen nur repressiv-unterdrückende Wirkungen, nicht aber auch deren entlastende Funktion. Als soziale Organisationsformen regeln, ordnen und sichern sie bedeutende Bereiche unseres Lebens, entlasten den Menschen von einer Fülle alltäglicher Sorgen und einem permanenten Entscheidungszwang und setzen ihn für neue Initiativen frei. Als relativ dauerhafter Komplex von Verhaltensmustern stehen die Institutionen im Dienste der geordneten Befriedigung allgemeiner Bedürfnisse. Allerdings darf das entscheidend wichtige Adjektiv "relativ" in der Definition von Institutionen nicht übersehen werden, sonst erstarren sie und werden ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht. 33 "Allen Institutionen, den staatlichen wie den nichtstaatlichen, ist ein Beharrungsstreben eigen, das keineswegs ein Gesetz der Institutionen als solcher, sondern eine natürliche Anlage aller Menschen ist, die in Institutionen Funktionen ausüben, nämlich der Drang, diese Position auch dann festzuhalten, wenn eine NotwenRyffel (s. Anm. 26) 235. Vgl. J. Morel, Enthüllung der Ordnung. Grundbegriffe und Funktion der Soziologie. Innsbruck 1977, 57. 32
33
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2 Freiheit und Institution
digkeit dazu nicht mehr besteht. "34 Ein solches Beharrungssystem widerspricht aber der Dynamik der menschlichen Natur wie der Gesellschaft. Es bedarf daher nicht nur der Einsicht in den Wert von Institutionen, der besonders durch den Charakter der Dauerhaftigkeit gegeben ist, sondern auch der Bereitschaft, sie zu ändern, wenn neue Lebensformen dies verlangen. "Das anthropologische Gesetz der Evolution, dem jeder Staat wie jeder menschliche Verband unterworfen ist, bringt es mit sich, daß ein ständiger Kampf zwischen den Kräften des Beharrens und denen der Fortentwicklung vor sich geht. "35 Zu einem vollkommenen Ausgleich dieser beiden Kräfte wird es niemals kommen, aber er ist annähernd dort gegeben, wo Einsicht und Bereitschaft in gleichem Maße vorhanden sind.
34 W. Füßlein, Mensch und Staat. Grundzüge einer anthropologischen Staatslehre (Beck'sche Schwarze Reihe 98). München 1973, 48. 35 Ebd.85.
3 Subjektive und objektive Freiheit Es ist "eine bemerkenswerte Tatsache, daß alle menschlichen Wesen - die Kinder der Mächtigen wie die der Machtlosen - die Erfahrung gemeinsam haben, daß sie einmal machtlos waren und um ihre Freiheit gekämpft haben." 1 Und was sich innerhalb kleiner Institutionen (Familien, Gruppen, Erziehungsanstalten usw.) ereignet hat und immer wieder ereignet, durchzieht auch auf politischer Ebene die Menschheitsgeschichte in Form von Revolutionen, Befreiungskriegen, nationalen Erhebungen, Aufständen, so daß man sich fragen kann, was bedeutet Freiheit denn wirklich für die Menschen, wenn sie ihretwegen bereit sind, diese enormen Anstrengungen und Opfer auf sich zu nehmen. Das Verlangen nach Freiheit ist weder ein widernatürliches noch irrationales Streben, sondern ist in jeder Art von Lebewesen konstitutiv mitgesetzt. Bereits Pflanzen bedürfen eines Freiheitsraumes, um ungehindert wachsen zu können; noch mehr verlangt das Tier nach Freiheit und leidet, wenn ihm diese verwehrt wird. Wenn aber bereits Pflanzen und Tiere auf ein Nichteingeschränktwerden in ihrem Entwicklungs- und Bewegungsablauf angelegt sind, so läßt sich daraus folgern, daß auch beim Menschen schon auf der vitalen biologischen Ebene ein "Interesse" an Freiheit vorhanden ist. Freiheit ist in allen Bereichen des menschlichen Organismus eine Vorbedingung für seine Entwicklung. Es ist daher notwendig, daß dem Kleinkind physische Bewegungsfreiheit gewährt wird, damit es sich psychisch entwickeln kann, und nur insofern es psychisch nicht gestört ist, kann es sich geistig entfalten und zu einer Persönlichkeit heranreifen. In all seinem Handeln verhält sich der Mensch zu den Voraussetzungen, die er von Natur aus mitbringt und die ihm von der Gesellschaft vorgegeben sind, und indem er sich dazu verhält, bestimmt er sich in seiner je individuellen Art. Die durch unsere !nstinktreduziertheit und Weltoffenheit erfahrene Grundfreiheit verlangt nach Verwirklichung von Verhaltensmöglichkeiten, die der menschlichen Natur entsprechen. In dem Maße, in dem gesollte Verhaltenspotentialitäten dem Menschen nicht aufoktroyiert, sondern seiner Entscheidungs- und Handlungsfreiheit überantwortet werden, 1 E. Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität. Stuttgart 21974, 178. Der Begriff "machtlos" ist in diesem Zusammenhang zwar nicht ganz glücklich gewählt, weil Freiheit und Macht nicht identisch sind. Der Ausdruck läßt sich aber so verstehen, daß ein Mensch, der keine Möglichkeit ("Macht") hat, über sich selbst zu bestimmen, unfrei ist und folglich um Freiheit kämpft.
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3 Subjektive und objektive Freiheit
erfährt er subjektive Freiheit im Sinne seiner Selbstbestimmung. Und die gesellschaftlichen Voraussetzungen, den rechtlich-politischen Raum, in dem sich subjektive Freiheit verwirklichen kann, wollen wir objektive Freiheit nennen; von ihr hängt es wesentlich ab, in welchem Ausmaß subjektive Freiheit zur Geltung kommt. Das heißt aber nicht, daß objektive Freiheit subjektive Freiheit begründet, sie ermöglicht sie nur, indem sie die dafür notwendigen, jedoch nicht hinreichenden Bedingungen schafft. Vielmehr setzt objektive Freiheit subjektive Freiheit voraus, denn objektive Freiheit als rechtspolitischer Raum ist keine überirdische Gegebenheit, sondern von freien Individuen geschaffen als deren objektivierter Ausdruck. Es ist ein Anliegen der vorliegenden Arbeit, dieses gegenseitige Bedingungsverhältnis von subjektiver und objektiver Freiheit an Hand von Humboldts "Ideen" und dem Subsidiaritätsprinzip sichtbar zu machen. In beiden Gesellschaftskonzeptionen geht es darum, ein möglichst großes Maß an subjektiver Freiheit des einzelnen zu seiner Selbstverwirklichung zu garantieren und zu fördern; aber wie diese Freiheit konkret verwirklicht werden soll, aufgrund welchen politischen Programms und worauf subjektive Freiheit letztlich hingeordnet ist, darin unterscheiden sich Humboldts "Ideen" von den Grundsätzen des Subsidiaritätsprinzips. So bedeutet für Humboldt die Bildung des Individuums im Sinne einer gleichmäßigen Ausbildung aller im menschlichen Wesen von Natur aus angelegten Möglichkeiten und Fähigkeiten die höchste Idee der Menschheit. Man wirkt auf die ganze Menschheit, wenn man auf sich selbst wirkt, wenn man vollkommen geltend macht, was man ist; darin gründet auch die Würde des einzelnen Menschen. Staat und Gesellschaft werden nicht als Eigenwert anerkannt, sondern stehen im Dienste der Selbstverwirklichung des einzelnen und das heißt für Humboldt: Bildung des Individuums. Dazu bedarf es "Freiheit des HandeIns und Mannigfaltigkeit der Si tua tionen ", letzteres deshalb, weil "auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, "2 sich nur minder ausbildet. Da es aber ohne Sicherheit keine Freiheit gibt, besteht die Aufgabe des Staates darin, den Bürgern diese für die""Freiheit des HandeIns notwendige Sicherheit zu gewährleisten, doch er "gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist. "3 Auch das Subsidiaritätsprinzip ist auf Hilfe und Hilfeleistungen angelegt, worauf bereits die Übersetzung des lateinischen Stammwortes "subsidium" hinweist. Nach dem Subsidiaritätsprinzip ist jede Gesellschaftstätigkeit ihrem Wesen und ihrer Bedeutung nach subsidiär, d. h. sie hat eine helfende (subsidiäre) Funktion gegenüber dem Menschen. Da aber das Wort "subsi2
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GS 1,106. Ebd.129.
3 Subjektive und objektive Freiheit
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diär" auch im Sinne von "aushilfsweise", "behelfsweise" oder "ersatzweise" verstanden werden kann, ergeben sich verschiedene Bedeutungen, "ob ich sage, die Gesellschaft habe durch ihre gesamte Tätigkeit ihren Gliedern hilfreich beizustehen, sie zu fördern und ihren Lebensraum zu erweitern, oder ob ich sage, die Gesellschaft dürfe mit ihrer Tätigkeit nur aushilfs-, behelfsoder ersatzweise eingreifen. "4 Mit der zweiten Version wäre die Aufgabe der Gesellschaft, des Staates, ebenfalls nur auf jenes Minimum reduziert, wie es bei Humboldt der Fall ist. Wie die weiteren Untersuchungen jedoch zeigen werden, ist das Subsidiaritätsprinzip in dem Sinne zu verstehen, daß die Gesellschaft (der Staat) die Wirkungsmöglichkeiten der Individuen und der kleineren Gemeinschaften anerkennen und nur dort helfend eingreifen soll, wo deren Leistungsfähigkeit überfordert ist. Bedeutet das nun abermals im Sinne Humboldts, daß sich der Staat für das positive Wohlergehen seiner Bürger nicht zu kümmern hat, diese bis zur äußersten Grenze ihrer Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit eigeninitiativ werden läßt oder wird von ihm gefordert, bereits in der Weise einzugreifen, daß er den Bürgern Aufgaben abnimmt, die sie zwar unter Aufbietung aller Kraft selbst zu leisten vermöchten, deren Befreiung für sie aber eine Erleichterung bedeutet? Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn man darauf reflektiert, welche Eigenwerte der Gesellschaft und dem Individuum je zukommen. Humboldt und das Subsidiaritätsprinzip geben darauf verschiedene Antworten, wenngleich sich zwischen ihnen auch Gemeinsamkeiten feststellen lassen. Nach dieser Einführung in die Thematik von Freiheit und Bindung (Kap. 1 - 3) sollen im folgenden Kapitel 4 die persönlichen Hintergründe der Humboldtschen Schrift aufgehellt werden. Eine Reflexion auf sein Menschenbild (Kap. 5) erweist sich insofern als notwendig, als sie die wichtigste Prämisse für Humboldts Staatstheorie (Kap. 6 - 10) darstellt; denn jeder Rechts- und Staatsphilosophie liegt eine ihr zugeordnete Theorie vom Menschen zugrunde. Ob jedoch diese Prämisse wirklich das enthält, was Humboldt aus ihr abzuleiten versucht, soll eine kritische Reflexion über die Bedeutung und den Wert des Individuums (Kap. 11 - 13) aufzeigen. Da Humboldts Gesellschaftskonzeption durchwegs subsidiäres Gedankengut enthält, ist eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Subsidiaritätsprinzip (Kap. 13) angebracht. Als Zuständigkeitsregulativ zeigt das Sub sidiaritätsprinzip Bedingungen auf, unter denen dem Individuum gegenüber der Gesellschaft (Staat) Priorität zukommt. Eine Klärung der Kompetenz, welche Aufgaben und Rechte dem Individuum und welche dem Staat zukommen, ist insofern wichtig, als die Forderungen, die der Staat an das 4 O. v. Nell-Breuning, Zur Sozialreform. In: Stimmen der Zeit 157 (1955/56) lf. Vgl. dazu auch seinen Artikel "Subsidiaritätsprinzip". In: Staatslexikon. Hrsg. v. d. GÖrres-Gesellschaft. Bd. V. Freiburg 61962, Sp. 826 - 833.
3 Battisti
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3 Subjektive und objektive Freiheit
Individuum stellt, vielfach mit Ideologien (Kap. 14) überdeckt sind. In welchem Ausmaß jedoch den Individuen Eigeninitiative und Selbstverantwortung zuerkannt werden können, hängt wesentlich von ihrer "Bildung" ab, ein Kriterium, das sowohl Humboldts "Ideen" als auch dem Subsidiaritätsprinzip zugrunde liegt (Kap. 15).
4 Zur Entstehung der Schrift: "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" 4.1 Der Einfluß der Berliner Aufklärung Ein Buch, von einem 25jährigen geschrieben und erst nach 59 Jahren veröffentlicht (Zensurschwierigkeiten u. a.), erweckt schon aufgrund dieses Umstandes beim Leser Neugierde, um so mehr, als es auch unmittelbar nach seiner Edition im eigenen Land wenig Beachtung fand, dafür aber mit Begeisterung im Ausland (England, Frankreich und Italien)! aufgenommen 1 Ins Englische wurde das Buch bereits 1854 (drei Jahre nach der ersten deutschen Veröffentlichung) von J. Coulthard jun. übersetzt: W. v. Humboldt, The Sphere and Duties of Government. London 1854. Dieser Übersetzung folgte noch im selben Jahr eine Besprechung in: The Westminster Review, New Series 12, Okt. 1854, wo J. Chapman, der Rezensent, Coulthard dankt, daß er die englische Literatur um so ein wertvolles Buch bereichert habe: "We have warmely to thank J. Coulthard for adding to English Literature, in so faithful a form, so valuable a me ans of extending the range and elevating the character of our political investigation." J. Chapman meint sogar, daß die europäische Geschichte einen anderen Verlauf genommen hätte, wenn Humboldts Grundsätze richtig verstanden und zur Anwendung gekommen wären: " ... what would have been the course of European history had its principles been understood and adopted, and the energies of men been employed on the limitation and direction of the activities of government, rather than on the comparatively barren question of its form and distribution? Is it too much to believe that the conflicts which enguHed Europe would have been avoided and that real advances in social progress would have been made far beyond any yet achieved or commonly hoped for?" Zitiert nach W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Eingeleitet von G. Weyland (Reclam 1991/92). Leipzig 1885, 8. 1870 erschien eine weitere Ausgabe in englischer Sprache: Sphere and Duties of Government, new. ed. post 8. Trübner London. Zitiert nach Weyland, 8. Von noch größerer Bedeutung im englischen Sprachraum ist aber der Einfluß, den Humboldts "Ideen" auf J. St. Mills Essay "On Liberty" (London 1859) ausgeübt haben. Vor allem im dritten Kapitel seines Buches setzt sich Mill eingehend mit Humboldt auseinander. Ins Französische übersetzt wurde Humboldts Schrift in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gleich zweimal: G. de Humboldt, Essais sur les limites de l'action d'Etat. Traduit de l'allemand par M. A. Marrast, avec un avertissement et des notes 1866. Und: G. de Humboldt, Essais sur les limites de l'action d'Etat. Traduit, anno te et precede d'une etude sur l'auteur par H. Chretien 1867. Zitiert nach Weyland, 9. Chretien sieht in Humboldt eine bedeutende Persönlichkeit, die sich in ihrem Buch einer wichtigen Sache angenommen hat, nämlich der Freiheit: "il [ce livre] a ete ecrit par un homme dont la personnalite magnifique attire aujourd'hui encore les regards enthousi astes de ses compatriotes; il traite d'une grande chose: la liberte." (Ebd. I). Die intensive Nachfrage nach Humboldts "Ideen" (zwei Übersetzungen innerhalb so kurzer Zeit) hat vor allem der französische Staatsrechtler E. Laboulaye mit seiner Untersuchung "L'Etat et ses limites" (1863) veranlaßt. Laboulaye bezeichnet Humboldts Schrift als eines der besten Bücher, das über die wahren Aufgaben des Staates geschrieben wurde und hebt den Verdienst Humboldts hervor, die Freiheit zu einem
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4 Zur Entstehung der Schrift von den Grenzen der Staatswirksamkeit
wurde. Nicht zu unrecht spricht daher G. Weyland in seiner Einleitung zur Herausgabe dieser Schrift im Reclam Verlag von einem merkwürdigen Buch, "merkwürdig durch seinen Inhalt und merkwürdig durch seine Schicksale"2. Man mag sich fragen, was den jungen Humboldt dazu bewogen hat, diese Schrift zu verfassen, deren Beurteilungen einander so diametral gegenüberstehen. War es eine nachträgliche "Abrechnung" mit dem preußischen Staat, in dessen Dienst er stand, aber bereits nach einem Jahr das Entlassungsgesuch einreichte - war es die Begeisterung für die Französische Revolution, die Humboldt im Sommer 1789 am Schauplatz Paris selbst miterlebte und die nun in seinen "Ideen" einen schriftlichen Niederschlag finden sollte - oder war es vorwiegend das Interesse am Menschen, das ihn dazu veranlaßte, über die Bestimmung und Grenzen seiner Entfaltungsmöglichkeiten zu reflektieren und damit notgedrungen auch über die Institution, die das Individuum in mannigfacher Weise bestimmt und eingrenzt, nämlich über den Staat und dessen Wirksamkeit? Die Antworten auf diese Fragen sind nicht eindeutig wie selbst das Humboldt-Bild in der Geschichtsforschung die verschiedensten Schattierungen aufweist: geschätzt und anerkannt als Begründer der Berliner Universität und als Sprachforscher, in Frage gestellt in seinen diplomatischen Tätigkeiten als Gesandter und oft abgestempelt zum Verneiner des Staates wegen der frühen Quittierung des Staatsdienstes und seiner Jugendschrift. Man mag sich in diesem Zusammenhang an ein Wort von E. Spranger erinnern: "Es gibt keine Geschichtsschreibung, die nicht durch irgend ein geheimes Band auf die Gegenwart bezogen wäre. So treu man bemüht sein mag, das vergangene Leben in seiner Reinheit und Wahrheit darzustellen: der Quell, aus dem diese Wiederbelebung erfolgt, ist doch irgend ein tiefmoralischen Prinzip zurückgeführt zu haben: "Un des meilleurs livres qu'on ait ecrit sur les veritables attributions de l'Etat est de G. de Humboldt ... Le merite de Humboldt c'est - d'avoir ramene la liberte a un principe moral, ... " Zitiert nach Weyland, 10. Als weitere Werke im französischen Sprachraum, auf die Humboldts "Ideen" noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Einfluß ausgeübt haben, sind vor allem zu erwähnen: P. Challemel-Lacour, La Philosophie individualiste. Etude sur Guillaume de Humboldt. Paris 1864. Ferner E. Villey, Du Röle de l'Etat dans l'Ordre economique. Paris 1882 und schließlich das Buch von J. Simon, La Liberte, das in mehreren Auflagen erschien. Zitiert nach Weyland, 11. In Italien ist vorwiegend auf M. Minghetti (Stato e Chiesa. Mailand 1878) hinzuweisen, der hinsichtlich der Abgrenzung von Religion und Staat Humboldts Schrift als eine der besten bewertet. Ebenso würdigt er aber auch Humboldts Einschränkung der staatlichen Wirksamkeit zugunsten der persönlichen Freiheit: "Uno dei libri migliori nei quali fu svolto questo principio ,tutto cio che si referisce alla religione e fuori dei limiti dell'azione dello Stato' parmi pur sempre quello di Gugl. Humboldt ,Ideen zu einem Versuch'. Coloro che mirano a restringere l'azione dello Stato e ad allargare la liberta individuale troveranno in questo libro l'idea loro maestrevolmente svolta." Zitiert nach Weyland, 13. 2 W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Eingeleitet von G. Weyland (Reclam 1991/92). Leipzig 1885, 3.
4.1 Der Einfluß der Berliner Aufklärung
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empfundenes Gegenwartsinteresse. "3 So brachten z. B. die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschenden Strömungen des Positivismus und Materialismus für Humboldt wenig Verständnis auf. Zu sehr bemächtigten sich die Fachwissenschaftler seiner und versuchten ihn auf den Buchstaben gen au festzulegen, damit ging aber die für Humboldts Person so wesenskonstitutive ganzheitliche Betrachtungsweise als Humanist und Freund der großen Klassiker verloren. 4 Wie sehr wissenschaftliche Forschung von Wertungen und politischem Tagesinteresse bestimmt sein kann, zeigt in noch krasserer Form die im Jahre 1935 verfaßte Habilitationsschrift: "Wilhelm von Humboldt und das Problem der Juden"5. Selbst wenn es uns niemals ganz gelingt, das historisch Gewordene unverfälscht darzustellen und stets die Versuchung besteht, Vergangenes mit den Kategorien der Gegenwart zu messen, muß es doch das redliche Anliegen eines jeden Forschers sein, die Quellen selbst zur Sprache kommen zu lassen und nicht mit festgelegten Meinungen an sie heranzutreten, gemäß dem hermeneutischen Grundsatz: "sensus non est inferendus, sed efferendus". Das geistige Milieu, in dem Humboldt aufwuchs (geboren 1767 in Potsdam) war durch die Berliner Aufklärung und den Liberalismus gekennzeichnet. Der Unterricht wurde ihm, gemäß dem Adelsstand der Familie, von Hauslehrern erteilt; einer der ersten war der aufklärerisch-philanthropische Pädagoge Campe, der Wilhelm von Humboldt im Lesen und Schreiben sowie auch in Geschichte und Geographie unterrichtete. In dessen Begleitung ist Humboldt 1789 auch nach Paris gereist, um die Französische Revolution persönlich mitzuerleben und als Zuhörer an den Sitzungen der Nationalversammlung teilzunehmen. Doch von entscheidenderer Bedeutung für seine Erziehung und Bildung waren die Lehrer Dohm (Geheimrat im Ministerium des Auswärtigen), Klein (bedeutender Jurist, Mitarbeiter am strafrechtlichen Teil des Allgemeinen Preußischen Landrechts) und Engel (Popularphilosoph und Erzieher des preußischen Kronprinzen, des späteren Friedrich Wilhelm IIL), die zu den hervorragendsten Persönlichkeiten des aufgeklärten Berlins zählten und bei denen Wilhelm von Humboldt gemeinsam mit seinem Bruder Alexan der nationalökonomisch-statistische Vorträge, Vorlesungen über Naturrecht und eine Einführung in die Philosophie und deren Geschichte vom Standpunkt der Aufklärung hörte. 6 Von ihnen gingen auch die nachhaltigsten Wirkungen auf Humboldts Schrift über die Grenzen der Staatswirksamkeit aus. E. Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee. Berlin 21928, 1. Vgl. dazu: C. Menze, Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen. Ratingen bei Düsseldorf 1965, 12. 5 W. Grau, Wilhelm von Humboldt und das Problem der Juden. Hamburg 1935. 6 Vgl. F. Schaffstein, Wilhelm von Humboldt. Ein Lebensbild. Frankfurt a. M. 1952, 15. 3
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4 Zur Entstehung der Schrift von den Grenzen der Staatswirksamkeit
Wilhelm von Humboldt sah sich also seit seiner frühen Jugend mit dem Rationalismus der Berliner Aufklärung konfrontiert, der gegen Vorurteil, Aberglaube und Schwärmerei in Literatur und Wissenschaft zu Felde zog. In religiösen Fragen wurde weitgehend eine tolerante Haltung eingenommen, wie sich auch in Humboldts "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" finden läßt. Doch wie sehr die Aufklärung auch Humboldts Denken beeinflußte, ganz befriedigen konnte sie ihn nicht; die gesellschaftlichen Zirkel, wo man sich abends traf und die neueste Literatur vortrug und kritisierte, erfüllten zwar Humboldts rationale Ansprüche, entsprachen aber nicht ganz der Seelen stimmung des 18jährigen und ließen somit manche Wünsche im Gefühlsbereich unbefriedigt. So suchte und fand er Kontakt mit anderen Kreisen mit romantischem Einschlag, mit den sogenannten "salons d'esprit", in denen unter der Leitung geistreicher Frauen der Dichtkunst gehuldigt wurde, aber auch Gefühle und weltschmerzliche Stimmungen offen zutage treten durften. "Von der Aufklärung aber übernahm man die Freude an der psychologischen Analyse und der Beobachtung des eigenen Ichs. So verstand man sich und beweinte sich, zergliederte seine Empfindungen und veredelte sich gegenseitig und gründete schließlich, um dem Spiel die damals modische Form zu geben, einen ,Tugendbund"'7, durch den Humboldt auch seine spätere Frau Caroline von Dacheröden kennenlernte. Im Herbst 1787 ging Humboldt nach Frankfurt an der Oder, um juristische Studien zu betreiben. Der Aufenthalt dort währte nicht lange, nur ein Semester; der Grund dafür dürfte wohl im niedrigen Niveau der damaligen Frankfurter Universität zu suchen sein, worüber sich Humboldt auch auf ironische Weise in einem Brief an einen Berliner Freund äußerte: "Wenn sie jemand wissen, der gerne Doktor werden will und nichts gelernt hat, schikken Sie ihn nur her. Hier braucht er nichts als eine Stunde lang zu stehen und zu tun, als wollte er disputieren. "8 So wechselte Humboldt im darauffolgenden Sommersemester an die Universität Göttingen, wo er sich nicht mehr so sehr um die Rechtswissenschaft kümmerte, als vielmehr Philosophie (intensive Beschäftigung mit den Schriften Kants, die damals zu erscheinen begannen), Geschichte und alte Sprachen, vor allem Griechisch, studierte. In Göttingen hat Humboldt auch Therese Forster, die Tochter seines Lehrers Heyne, und deren Mann Georg Forster kennengelernt, der schon im Kindesalter seinen Vater auf zahlreichen Forschungsreisen begleitete, seine Eindrücke und Beobachtungen publizierte und bereits mit 24 Jahren Professor wurde. "Ich hatte damals", schrieb Humboldt fast 40 Jahre später, "eine Art von Leidenschaft, interessanten Menschen nahe zu kommen, viele zu 7 B
Ebd.19f. Zitiert nach Schaffstein (s. Anm. 6) 24.
4.2 Humboldts Staatsdienst
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sehen und diese genau und mir in der Seele ein Bild ihrer Art und Weise zu machen"9. Die Bekanntschaft mit dem Ehepaar Forster, die einige Jahre dauerte und durch einen regen Briefwechsel gepflegt wurde, hatte auch Einfluß auf Humboldts Schrift über die Grenzen der Staatswirksamkeit. Denn Georg Forster wehrte sich gegen die Mechanisierung des Lebens und stellte dieser als Gegengewicht eine kraftvolle Entfaltung der Persönlichkeit und die Forderung nach Erstarkung der menschlichen Individualität entgegen. Gedanken, die uns auch in Humboldts Schrift begegnen werden. lO 4.2 Humboldts Staatsdienst (1790 - 1791)
4.2.1 Unbehagen an seinen Aufgaben Nach seiner eigenen Vorstellung, vor allem aber bedingt durch Erziehung, Privatunterricht und Universitätsstudium sah sich Humboldt selbst für eine Laufbahn im Staatsdienst vorbestimmt. Demnach trat er im April 1790 als Auskultator beim Berliner Stadtgericht ein, wurde im selben Jahr noch Referendar am Kammergericht, wo er vorwiegend mit Strafsachen zu tun hatte, aber auch im Departement für auswärtige Angelegenheiten, das ihm den Titel eines Legationsrates einbrachte. Wie man den Briefen an seine Braut entnehmen kann, befriedigte ihn die Tätigkeit nicht besonders: "Die Arbeit gibt mir auch an sich keine Freude. Äußere Vorteile strebe ich nicht dadurch zu erreichen, ich hätte nie ehrgeizig werden können, und in sich freut mich selbst die Güte der Arbeit nicht. Denn auf der einen Seite weiß ich doch zu gut, was auch das Ideal einer solchen Arbeit wäre, als daß ich mir je genügen sollte, und auf der anderen haben die Talente, die zu diesem Genügen erfordert würden, keinen inneren Wert in meinen Augen. "11 Die Kriminalfälle, mit denen sich Humboldt auseinandersetzt, erwecken zwar sein Interesse, doch sieht er sich in der Urteilsbildung und im Fällen des rechten Schuldspruchs manchmal überfordert. So schreibt er in demselben Brief: "Die interessantesten Sachen sind freilich Kriminalsachen, und ich arbeite fast nichts als die. Aber da muß man nun von dem Charakter so eines Unglücklichen reden und räsonieren, so war er, und so war er nicht, Wilhelm von Humboldts Briefe an eine Freundin. Bd. I. Leipzig 51853,218. Vgl. Schaffstein (s. Anm. 6) 30. - Ferner A. Dove, Die Forsters und die Humboldts. Zwei Paar bunter Lebensläufe. Aus der Allgemeinen Deutschen Biographie. Leipzig 1881. Mit der Freundschaft zwischen Forster und Humboldt beschäftigte sich auch: J. A. Rantzau, Wilhelm von Humboldt. Der Weg seiner geistigen Entwicklung. München 1939. Vgl. dazu auch Humboldts Briefe an Forster. In: W. v. Humboldts Gesammelte Werke. Hrsg. v. C. Brandes. Bd. I. Berlin 1841 (im folgenden zitiert als GW). 11 Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Hrsg. v. A. v. Sydow. Bd. I. Berlin 1906, 262. 9
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4 Zur Entstehung der Schrift von den Grenzen der Staatswirksamkeit
und darum ist er nun so und so schuldig. Da komm ich mir immer wie ein Kind vor, das über die Handlung eines Mannes urteilt. Aus so einem ungeschickten Stück Akten will ich wissen, wie der Mensch ist in seinen Ideen, Gefühlen, und dazu meistens ein Mensch, der in so verschiedener Lage mit mir lebt, daß es mich, auch wenn ich ihn um mich hätte, Studium kosten würde, in ihn hineinzugehen. Das Resultat dieser Beobachtungen, das oft so fein ist, muß ich dann einem steifen, positiven Gesetz anschmiegen, und diese Kluft zu überspringen, meine Zuflucht zu einem scharfsinnigen, oft spitzfindigen Räsonnement nehmen." 12 Ähnliche Gedanken, die noch mehr Einblick in Humboldts einfühlsamen Charakter geben, zeigen sich in einem früheren Brief: "Wären die meisten Verbrecher Menschen von großem Gehalt, so würd es mir nicht leid tun, auch streng zu sein. Der Leidende dächte dann: ich habe die Freude gehabt, nach meinen individuellen Gefühlen, in unabhängiger Freiheit zu handeln, es ist billig, daß ich dulde, was daraus natürlich entspringt. Aber so sind die Besseren unter den Verbrechern meist Menschen, die nicht anders handeln konnten, und daß sie nicht konnten, ist teils so menschlich, teils so gut. Da zerknickt man denn mit der Strafe jedes höhere schönere Gefühl und zwingt die Menschen zu Kälte und Fühllosigkeit. Sonst sah ich das anders an, ich wäre aus Grundsatz streng gewesen. Die Menschen müssen leiden, um stark zu werden, dacht ich. Jetzt denk ich, sie müssen Freude haben, um gut zu werden. Ich bin viel sanfter, viel menschlicher geworden." 13 Ebenso aufschlußreich für seine Gesinnung und sein Mitgefühl für den Nächsten, aber auch sein frühes Interesse an Justizangelegenheiten ist der Besuch des Gießen er Zuchthauses noch während seiner Studienzeit, worüber wir folgende Tagebucheintragung finden: "Als ich von Crome kam, hatte ich noch zu einem Gange Zeit. Ich wollte Koch [Professor der Rechte und Kanzler der Universität Gießen] besuchen. Allein indem ich so hinging, kam ich vor dem Zuchthaus vorbei und ich überlegte, daß es wohl nützlicher sein möchte, ein Zuchthaus als einen Kanzler zu sehen. Man führte mich zuerst dahin, wo diejenigen sitzen, deren Urteil noch nicht gesprochen ist. Es waren dumpfige, gewiß ungesunde dunkle Löcher, in die das Licht nur durch eine kleine mit eisernen Stäben verwahrte Öffnung fiel. Es war mir sehr auffallend, daß diese Löcher schlechter waren als die Wohnungen der schon wirklich Verurteilten. In diesen Löchern - sagte mir der Kerkermeister - sitzen sie manchmal ein Jahr. So lange dauert der Prozeß ... In einer Stube waren lauter Mädchen, die zu früh Mütter geworden waren, und eine Ehebrecherin. Wie ich hineintrat, sagte der Kerkermeister: dies sind Huren. Die Worte waren mir entsetzlich. Wenn nun vielleicht da ein Mädchen mit darunter, die ein leichtsinniger Mensch vielleicht durch allerlei Überredun12 13
Ebd. 262 f. Ebd.223.
4.2 Humboldts Staatsdienst
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gen und trügerische Hoffnungen verführt hatte, die nur schwach, nicht eigentlich liederlich gewesen war, was muß sie bei diesen Worten gefühlt haben? Muß nicht durch solche Strafe und solche Behandlung jeder Keim des Guten, der vielleicht noch in ihr ist, vollends erstickt werden?" 14 In all diesen persönlichen Aufzeichnungen und Briefen kundet sich Humboldts großes Interesse am Menschen an, das zum bestimmenden Gegenstand seiner Forschungen werden sollte. Über die Frage allerdings, was Humboldt bewogen hat, bereits nach einem Jahr Staatsdienst um Entlassung zu bitten, gehen die Meinungen auseinander.
4.2.2 Ursachen tür seinen Austritt Kaehler und andere Humboldtbiographen 15 machen subjektive, berufliche Bedingungen dafür verantwortlich oder zumindest mit entscheidend, daß Humboldt bald nach seinem Eintritt in den Staatsdienst, diesen wiederum verlassen hat: "Es lag am Tage, daß ein so feinfühlender und innerlich zaghafter Idealist den Beruf des Richters unmöglich aus freien Stücken wählen konnte, und daß in der gleichen Stunde, wo solche Skrupel sich in ihm regten, auch der Gedanke, diese Art des Staatsdienstes so bald wie möglich aufzugeben, sich aufdrängen mußte. "16 Der Entschluß, aus dem Staatsdienst auszuscheiden, erfolgte nicht, meint Kaehler weiter, weil das damalige Preußen etwa keinen Platz für einen Humboldt gehabt hätte. Außer den Berliner Gerichtsstuben kannte er keinen anderen Bereich im Staatsleben, weder die Verwaltung noch die Diplomatie. "Wenn Humboldt jetzt dem Staat den Rücken kehrte, so geschah es aus dem Gefühl heraus, daß der Justizdienst ihm nicht besonders zusagte, und aus der Erfahrung heraus, daß er zwar Gutes zu leisten vermochte, aber daß diese Tätigkeit ihn nicht befriedigen, daß er ihren Anforderungen in seelischer Hinsicht nicht völlig entsprechen konnte. "17 In anderen Humboldtdarstellungen hingegen werden äußere Gründe, so vor allem die Zeitverhältnisse und die Zustände im preußischen Staat für Humboldts frühzeitige Beendigung seines Dienstes angeführt. So schreibt Gebhardt in seiner zweibändigen Arbeit über Humboldt als Staatsmann: GS, XIV. Tagebuch I (1788 - 1789), 26. S. A. Kaehler, Wilhelm von Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Literaturgestaltung um 1800. Göttingen 21963. Vgl. dazu auch Schaffstein (s. Anm. 6) 46: "Aber wer so feinfühlig denkt und so schwer an der persönlichen Verantwortung trägt, kann unmöglich an der richterlichen Tätigkeit Gefallen finden, die nun einmal eines festen und verbindlichen Maßstabes für die Beurteilung menschlichen Verhaltens bedarf ... So erscheint es denn begreiflich, daß in ihm der Wunsch erwacht, dem Staatsdienst und seiner Verantwortung den Rücken zu kehren." 16 Kaehler (s. Anm. 15) 126. 17 Ebd. 14
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4 Zur Entstehung der Schrift von den Grenzen der Staatswirksamkeit
"Das WöHnersche Regiment mit seinem Gewissensdruck, seiner Heuchelei und seiner im innersten Kern unsittlichen Richtung mußte die auf das Ideale und Freie gerichtete Seele des jungen Mannes anwidern. "18 Auf ähnliche Weise äußert sich auch der bekannte Humboldtbiograph Haym: "Das Berlin des Jahres 1790 war nicht mehr ganz wie das Berlin um die Mitte der achtziger Jahre ... Den freisinnigen Anfängen der Regierung Friedrich Wilhelms 11. folgte die Enttäuschung auf dem Fuße. Die Aufklärung, welche unter dem großen König ihr goldenes Zeitalter gehabt hatte, sah sich nun auf einmal geächtet und verfolgt. Die ecclesia triumphans der Vernunft war nun auf einmal zur ecclesia pressa geworden. "19 Auch der Historiker Stolze spricht in den "Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte" von einer Starrheit des Rechts in jener Zeit und, daß die Vergewaltigung des einzelnen durch solches Recht, Humboldt geradezu persönlich belastet habe. 20 Was die Zeitverhältnisse betrifft, so darf nicht vergessen werden, daß sich diese in manchen Ländern Europas geändert haben. In England z. B. hat J. Locke bereits 1690 in seiner Schrift: "Two treatises of government" die Funktion des Staates darauf beschränkt, Person und Eigentum seiner Bürger zu sichern. In Frankreich waren es vor allem die Aufklärungsphilosophen, die sich für eine Befreiung des Individuums von Willkür und Zwang einsetzten; erst recht hat die Französische Revolution diese Idee vorangetrieben und auch diesseits des Rheins im Kreise der Gebildeten großen Anklang gefunden. Dennoch war man in Preußen von dem neuen Zeitgeist noch weit entfernt, man huldigte zwar einem aufgeklärten Absolutismus, aber eben doch einem Absolutismus, der die Staatsgewalt zu festigen und mit Zensur und Sittenpolizei seine Untertanen in bestimmte Bahnen zu lenken versuchte. Wie sehr das dem Geiste Humboldts widersprach, zeigt u. a. ein Brief an Forster, in dem Humboldt seine Freude über ein Urteil des Berliner Kammergerichts kundtut, durch das indirekt der Justizminister WöHner und sein Zensuredikt getroffen wurde. 21 Humboldt fungierte bei diesem Prozeß als Protokollführer. 18 B. Gebhardt, Wilhelm von Humboldt als Staatsmann. Bd. I (Stuttgart 1896). Neudruck Aalen 1965, 7. 19 R. Haym, Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik. Berlin 1856, 32. 20 Vgl. W. Stolze, Der junge Wilhelm von Humboldt und der preußische Staat. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 47 (1935) 164. 21 Brief an Forster. In: Humboldts Gesammelten Werken. Hrsg. v. C. Brandes. Bd. I. Berlin 1841, 291. Vgl. dazu Haym (s. Anm. 19) 33f.: "Es war zu Anfang des Jahres 1791, als einer von dem Buchhändler Unger angekündigten Schrift, welche gegen die beabsichtigte Einführung eines allgemeinen Landeskatechismus polemisierte, durch ein Reskript des Ministers, trotz des Imprimatur, welches dem Manuskript in Folge der Zensur des Oberkonsistorialrats Zöllner zuteil geworden war, der Debit versagt wurde. Der wegen Schadenersatz an Verfasser und Zensor gewiesene Buchhändler
4.2 Humboldts Staatsdienst
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Aber trotz allen Unbehagens, das Humboldt damals im preußischen Staat empfunden haben mag, wird man dennoch nicht behaupten können, daß allein äußere Umstände, nämlich die Struktur des preußischen Staates, für sein so frühes Ausscheiden aus dem Staatsdienst maßgebend waren. Auch die Behauptung Kaehlers, daß Humboldt außer den Berliner Gerichtsstuben nichts anderes kannte, läßt sich nicht aufrechterhalten, da Humboldt auch im Departement für auswärtige Angelegenheiten beschäftigt war. Interessanterweise bat Humboldt in seinem Gesuch vom 19. Mai 1791 wohl um Entlassung aus der juristischen Laufbahn, hingegen nur um eine Beurlaubung aus dem Departement für auswärtige Angelegenheiten. So weisen auch die Preußischen Staatshandbücher bis 1797 Humboldt als beurlaubt nach. 22 Und in einem späteren Brief an Jacobi schrieb Humboldt selbst: "Meine Anstellung bei der Justiz war es allein, die mir Arbeit machte. Ich habe daher auch nur sie aufgegeben, und bin bei dem Departement der auswärtigen Angelegenheiten geblieben, um mir nicht allen Rückweg zu einer anderen Laufbahn zu verschließen. Freilich möchte aber diese Tür wohl zu denen gehören, die nie gebraucht werden. "23 Als weiteren und entscheidenden Grund für Humboldts Quittierung des Staatsdienstes muß zweifelsohne der Wunsch, mit seiner Braut zusammenzusein, angesehen werden. Dies geht aus dem Briefwechsel mit seiner Braut, Caroline von Dacheröden, klar hervor 24, und darin sind sich auch alle Humboldtbiographen einig, daß ohne die begeisterte Zustimmung Carolines 25 , Humboldt den entscheidenden Schritt niemals gewagt hätte. So wurde er bestärkt in seinem Plan und trat im Juni 1791 aus dem Dienst aus. Nach der Verehelichung noch im selben Monat zog sich Humboldt mit seiner Vermählten ins Privatleben, auf ein Gut seines Schwiegervaters zurück, wo er sich humanistisch-philologischen und politischen Studien widmete. Zu erwähnen ist auch, daß die finanziell gutsituierte Position beider, sowohl Humboldts als auch die seiner Frau, ein Zurückziehen in das Privatleben wesentlich erleichterte, wenn nicht überhaupt ermöglichte. Denn aufgrund einer finanziell sorgenfreien Existenz konnte Humboldt die in seinen "Ideen" aufgestellte Forderung, daß das Individuum all seine Talente und Kräfte auszubilden habe, sicherlich leichter verwirklichen als andere.
wurde gegen den letzteren klagbar. Das Kammergericht hatte zu entscheiden. Indem es für Zöllner gegen Unger entschied, entschied es zugleich gegen den Minister." 22 Vgl. dazu Stolze (s. Anm. 20) 162. 23 Brief an Jacobi v. August 1791. In: Briefe v. W. v. Humboldt an F. H. Jacobi. Hrsg. v. A. Leitzmann. Jena 1891, 35. 24 Vgl. W. u. C. v. Humboldt in ihren Briefen (s. Anm. 11) I, 277 (Brief v. 11. Nov. 1790); I, 343 - 348 (Brief v. 24. Dez. 1790); I, 354 (Brief v. 5. Jänner 1791). 25 Vgl. ebd. I, 361 - 365 (Brief v. 14./15. Jänner 1791); I, 366 - 373 (Brief v. 21. Jänner 1791), I, 387 - 390 (Brief v. 6./8. Februar 1791).
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4.2.3 Beurteilung des Austritts Humboldts Ausscheiden aus dem Staatsdienst hat sowohl bei seinen Zeitgenossen als auch in der Nachwelt verschiedenes Echo erfahren. Daß man ihm nicht nur Verständnis entgegenbrachte, zeigt ein Brief an seine Braut: "Die Urteile der Menschen sind zwar zum Teil sehr komisch. Aber großenteils erfordert es auch viel Festigkeit, sie zu ertragen. Man hatte viel von mir gehofft ... "26. Auch die Nachwelt hat zum Teil über Humboldts ungewöhnlichen Schritt hart geurteilt; so spricht Haym, obwohl in seiner Darstellung Humboldt sonst wohlgesinnt, von einer Fahnenflucht gegenüber seiner dienstlich-politischen Aufgabe. Für einen "Mann von Talent und Charakter, von Geist und Fähigkeit" eines Humboldt wäre es Pflicht gewesen, auf seinem Posten zu bleiben. Denn "ohne Zweifel war unter einer Regierung, wie die damalige, die richterliche Stellung diejenige im Staate, die für einen liberal gesinnten Menschen den größten Reiz haben mußte. Sie allein gewährte Unabhängigkeit. Sie allein gewährte ... die Möglichkeit, der Willkür das Recht entgegen zu setzen und auf diese Weise in mannigfacher Hinsicht Nutzen zu stiften. Wer eine solche Stellung innehatte, auf dem ruhte die Pflicht, sie in diesem Sinne aufzufassen und zu behaupten. "27 In ähnlicher Weise argumentieren auch Kaehler, wenn er Humboldt eine "Abkehr vom Staate" vorwirft 28 oder Treitschke, der sogar den Grund für den Untergang des alten deutschen Staatswesens darin sieht, "daß alle freien Köpfe sich so krankhaft feindselig zum Staate stellten, daß sie den Staat flohen, wie der Jüngling Humboldt, statt ihm zu dienen"29. Positiver bewertet wurde Humboldts Entschluß von E. Spranger, der in Humboldts Abschied aus dem Amte "sein erstes entschiedenes, persönliches Bekenntnis zur Humanitätsidee" sieht. "Es bedeutet im Zusammenhang und in der Mission seines Geistes dasselbe, was für Luther der Austritt aus dem Kloster, für Rousseau der Rückzug in die Eremitage bedeutete. Wenige seiner Umgebung mögen diesen Schritt ganz gebilligt, noch wenigere verstanden haben. "30 Zwar mag der Vergleich mit Rousseau manchen Einwänden ausgesetzt sein, doch - so meint Schaffst ein - wurde mit Rousseaus Verkündigung des Bildungsideals, der Grundstein für eine neue Humanitätsidee gelegt, die den damaligen Zeitgeist prägte. Offen für diese Ideen waren in Deutschland unter anderem Herder, aber auch Kant, der in seiner "Metaphysik der Sitten" die eigene Vervollkommnung zur Pflicht der Menschen 26 27 28
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Ebd. I, 431 (Brief an Caroline v. 19. März 1791). Haym (s. Anm. 19) 34. Kaehler (s. Anm. 15) 124. H. v. Treitschke, Historische und politische Aufsätze, Bd. III. Leipzig 51886, 4. Spranger (s. Anm. 3) 46.
4.3 Staatsverfassung durch die neue französische Constitution
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erhob. Schaffstein sieht in diesem geistigen Zusammenhang auch Schillers "Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen" wie überhaupt die Reihe der großen Bildungsromane in der deutschen Literatur; die zu dieser Zeit ihren Anfang nahm. Mag also der Gedanke, aus dem Staatsdienst auszutreten, zum Teil auch aus dem Zeitgeist geboren sein, dennoch war sein Entschluß "ein ungewöhnlicher Schritt, ungewöhnlich im Urteil der Freunde und Vorgesetzten, ungewöhnlich auch im Sinne seines Standes und der durch Beamten- und Offiziersdienst geprägten Familientradition. "31 4.3 "Ideen über Staatsverfassung durch die neue französische Constitution veranlaßt"
In stiller Zurückgezogenheit auf dem thüringischen Landsitz pflegte Humboldt einen regen Briefwechsel mit Freunden und Bekannten. Unter dem Einfluß der Französischen Revolution, die im Kreise politisch Interessierter besondere Aufmerksamkeit auf sich zog, hatten auch die Briefe politische Themen zum Inhalt. In diesem Sinne schrieb Humboldt im August 1791 an seinen Freund Gentz 32 einen Brief, der unter dem Titel: "Ideen über Staatsverfassung durch die neue französische Constitution veranlaßt" in der "Berliner Monatsschrift"33 veröffentlicht wurde. Von Bedeutung ist dieser Brief deshalb, weil er als Vorstufe zu seiner späteren Schrift: "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" angesehen werden muß. Hauptthema der Briefabhandlung ist die französische Revolutionsverfassung vom Jahre 1791. Humboldt, der mit viel Sympathie der Französischen Revolution gegenüberstand, ja sogar, wie bereits erwähnt, einige Wochen in Paris verbrachte, um die Ereignisse selbst mitzuerleben, war später, als er sah, welche Auswirkungen die politischen Umwälzungen mit sich brachten, von der Revolution enttäuscht. So übt er in dem genannten Brief auch Kritik an der von der französischen Nationalversammlung beschlossenen Staatsverfassung, die allein nach den Grundsätzen der Vernunft - im Sinne eines radikalen aufklärerischen Geistes - erstellt wurde. Dagegen meint Humboldt: "Nun aber kann keine Staatsverfassung gelingen, welche die Vernunft - vorausgesetzt, daß sie ungehinderte Macht habe, ihren Entwürfen Schaffstein (s. Anm. 6) 50. F. Gentz (1764 - 1832) Publizist (als solcher vor allem bekannt durch die mit fünf selbständigen Abhandlungen kommentierte Übersetzung von E. Burke "Reflections on the Revolution in France" , 1790) und Politiker, seit 1785 im preußischen und seit 1802 im österreichischen Staatsdienst. Vgl. zur Freundschaft zwischen Humboldt und Gentz: P. Wittichen, Zur inneren Geschichte Preußens während der französischen Revolution. Gentz und Humboldt. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 19 (1906) 1 - 33. 33 Berliner Monatsschrift 19 (Januar 1792) 84 - 98. 31
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Wirklichkeit zu geben - nach einem angelegten Plane gleichsam von vornher gründet; nur eine solche kann gedeihen, welche aus dem Kampfe des mächtigeren Zufalls mit der entgegenstrebenden Vernunft hervorgeht. Dieser Satz ist mir so evident, daß ich ihn nicht auf Staatsverfassungen allein einschränken möchte, sondern ihn gern auf jedes praktische Unternehmen überhaupt ausdehne. "34 Konkret stellt sich Humboldt die Frage, ob die neue französische Staatsverfassung, deren Ziel es ist, Freiheit und Glück des einzelnen zu ermöglichen, so ohne weiteres auf ein politisches System folgen kann, das darauf aus war, möglichst viel aus der Nation herauszuholen, um den "Ehrgeiz und die Verschwendungssucht eines Einzigen"35 zu befriedigen. Humboldt vermißt die historische Kontinuität zwischen den beiden Verfassungen: "Wo ist nun das Band, das beide verknüpft" und "wer traut sich Erfindungskraft und Geschicklichkeit genug zu, es zu weben?"36 Wenn Humboldt deshalb auf den "Kampf des mächtigeren Zufalls mit der entgegenstrebenden Vernunft" anspielt, dann will er mit dem Begriff "Zufall" auf die in der "individuellen Beschaffenheit der Gegenwart" ruhenden Kräfte hinweisen, die es zu berücksichtigen gilt. Das heißt, die "individuelle Beschaffenheit der Gegenwart" ist eine eigene Komponente, die sich nicht gewaltsam von der Vernunft absorbieren läßt. Eine Verfassung, welche die geschichtliche Bedingtheit der Individuen wie die der ganzen Nation unberücksichtigt läßt, kann nicht gelingen. "Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schößlinge auf Bäume propfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ist's, als bindet man Blüten mit Fäden an. Die erste Mittagssonne versengt sie. "37 Bei jeder Gesetzgebung, bei jeglicher Konfrontation eines Volkes mit neuen Normen und Verhaltensanweisungen ist auf dessen innere Reife und historische Entwicklung b"edacht zu nehmen, denn "was im Menschen gedeihen soll, muß aus seinem Innren entspringen"38 und darf ihm nicht von außen aufgedrängt werden; das gilt erst recht für Staatsverfassungen, nur so besteht die Gewähr, daß sie gelingen. Die Vernunft hat zwar die Fähigkeit, "vorhandnen Stoff zu bilden, aber nicht Kraft, neuen zu erzeugen"39. Erhebt sie Anspruch auf Alleinherrschaft, wird sie an der Praxis scheitern. Jeder Staatsverfassung, die nicht an geschichtlich Vorgegebenem anknüpft, bleibt der Erfolg versagt. Fortbildung kann nur gelingen unter Berücksichtigung der gegebenen Verhältnisse. 34 GS I, 78. 35 Ebd. I, 79. 36 Ebd. 37
Ebd. I, 80. Hervorhebung vom Verfasser der Arbeit.
38 Ebd. I, 79f. 39 Ebd. I, 80.
4.4 Anregungen zur Schrift von den Grenzen der Staatswirksamkeit
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Mit diesen Überlegungen war Humboldt seiner Zeit voraus, denn die Theorie über die geschichtliche Bedingtheit des Menschen und seiner gesellschaftlichen Ordnungen erlangte erst später, in der Historischen Schule, ihre Bedeutung. Humboldt hat aber schon früher erkannt, daß das Gesetz der historischen Kontinuität nicht zu umgehen und folglich eine völlig neue Staatsverfassung ein Ding der Unmöglichkeit ist. Wie recht Humboldt im Hinblick auf die von der französischen Nationalversammlung erstellte Verfassung hatte, zeigt, daß diese bereits nach zwei Jahren ihre Geltung verlor. Da der Staat nach Humboldt nichts anderes "als eine Summe menschlicher wirkender und leidender Kräfte"40 ist, kann eine Staatsform nur dann von Dauer sein, wenn sie den natürlichen Wachstumsbedingungen ihres Volkes Rechnung trägt. Dieser wahren und realistischen Einsicht ist Humboldt bis an sein Lebensende treu geblieben. Auch wenn er in seinen "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" ein Idealbild des Staates entwirft, so weiß Humboldt nur zu genau, daß die Realisierung seines Entwurfs in dieser Form nicht möglich ist, denn auch für die "schönste, gereifteste Frucht des Geistes ist die Wirklichkeit nie, in keinem Zeitalter, reif genug; das Ideal muß der Seele des Bildners jeder Art nur immer als unerreichbares Muster vorschweben"41. Dennoch lohnt es, sich mit diesem Muster des näheren auseinanderzusetzen. 4.4 Anregungen zu den "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen"
Die in der "Berliner Monatsschrift" veröffentlichte Abhandlung "Ideen über Staatsverfassung durch die neue französische Constitution veranlaßt" hat vor allem in Erfurt einen interessierten Leser gefunden, den Koadjutor K. Th. von Dalberg, der dort als Statthalter des Kurfürsten von Mainz residierte. Humboldt kannte Dalberg schon von früher, da dieser zum vertrautesten Freundeskreis der Familie seiner Frau gehörte und im Haus Dacheröden regelmäßig zu Besuch war. Als Humboldt im Februar 1792 aus familiären Gründen mit seiner Familie für einige Zeit nach Erfurt übersiedelte, forderte Dalberg ihn auf, seine politisch-schriftstellerischen Ansätze fortzusetzen. 42 Humboldt kam dieser AufEbd. Ebd. I, 237. 42 Vgl. dazu: Brief an Forster vom 1. Juni 1792: "Aus diesem Aufsatz [in der BerÜner Monatsschrift] hatte Dalberg gesehen, daß ich mich mit Ideen dieser Art beschäftige, und wenig Tage nach meiner Ankunft hier bat er mich, meine Ideen über die eigentlichen Grenzen der Wirksamkeit des Staats aufzusetzen. Ich fühlte wohl, daß der Gegenstand zu wichtig war, um so schnell bearbeitet zu werden, als ein solcher Auftrag, wenn die Idee nicht wieder alt werden sollte, forderte. Indeß hatte ich einiges vorgearbeitet, noch mehr Materialien hatte ich im Kopfe, und so fing ich an. Unter den Händen wuchs des Werkchen, und es ist jetzt, da es seit mehreren Wochen fertig 40
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gabe sehr gerne nach, zumal er wußte, daß Dalberg der künftige Regent des Erzbistums Mainz werde, und so betrachtete er es als eine politische Mission, diesen vor möglichen Fehlern des Regierens zu warnen: "Ich habe nämlich ... der Sucht zu regieren entgegenzuarbeiten versucht und überall die Grenzen der Wirksamkeit enger geschlossen"43 beurteilt Humboldt selbst nachträglich seine Aufgabe. Haym bezeichnet Humboldts "Ideen" als "die Denkschrift eines philosophischen Politikers an einen philosophischen Regenten"44. Gleich nach der Vollendung wurde die Schrift Dalberg vorgelegt, der sie Abschnitt für Abschnitt mit Humboldt besprach. Allerdings teilte Dalberg nicht Humboldts Meinung bezüglich der so engen Eingrenzung staatlicher Wirksamkeit und verfaßte eine eher unbedeutende Gegenschrift mit dem Titel: "Von den wahren Grenzen der Wirksamkeit des Staats in Beziehung auf seine Mitglieder", die 1793 in Leipzig anonym erschien, aber bei weitem nicht das Niveau der Humboldtschen Schrift erreichte. "Im Ganzen kann man sagen, daß in dieser Schrift [der von Dalberg] das Raisonnement eines wohlmeinenden verständigen, leidlich aufgeklärten und toleranten den verschiedensten die Zeit bewegenden Richtungen zugänglichen Mannes dem selbständigen philosophisch geschulten Gedanken entgegentritt, und indem sie so gleichsam das Niveau der vulgären politischen Bildung jener Zeit bezeichnet, kann sie sehr passend dazu benutzt werden, von ihr aus die Höhe zu ermessen, zu der sich Humboldt erhoben hat. "45 4.4.1 Schwierigkeit mit der Veröffentlichung
Die sachliche Auseinandersetzung mit palberg beeinflußte keineswegs Humboldts Vorhaben, seine Schrift zu veröffentlichen; zu diesem Zweck schickte er auch das Manuskript nach Berlin. Aus einem Brief an Schiller erfahren wir jedoch von seinen Schwierigkeiten mit der Zensurbehörde: "Ich wollte meine Abhandlung, ... in Berlin drucken lassen und würde auch ohne Anstand einen Verleger unter annehmlichen Bedingungen gefunden haben. Allein mehr Schwierigkeit erregte mir die Zensur. Der eine Zensor verweigerte sein Imprimatur ganz, der andre hat es zwar erteilt, allein nicht ohne Besorgnis, daß er deshalb noch künftig in Anspruch genommen werden könne. Da ich nun alle Weitläufigkeiten dieser Art in den Tod hasse, so bin ich entschlossen, die Schrift außerhalb drucken zu lassen. "46 Humist, ein mäßiges Bändchen geworden." In: W. v. Humboldts Gesammelte Werke (s. Anm. 10) 295. 43 Ebd.296. 44 Haym (s. Anm. 19) 48. 45 W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Mit einer Einleitung von E. Cauer. Breslau 1851, V. Diese ist die erste Veröffentlichung von Humboldts " Ideen " in deutscher Sprache.
4.4 Anregungen zur Schrift von den Grenzen der Staatswirksamkeit
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boldt wendet sich diesbezüglich an Schiller und bittet ihn um Vermittlung beim Göschen-Verlag. In einem Brief an Göschen findet Schiller für Humboldts Schrift lobende Worte und empfiehlt sie zur Veröffentlichung. "Die Schrift enthält ... sehr fruchtbare politische Winke und ist auf ein gutes philosophisches Element gebaut. Sie ist mit Freiheit gedacht und geschrieben, aber da der Verfasser immer im allgemeinen bleibt, so ist von den Aristokraten nichts zu besorgen. Schriften dieses Inhalts und in diesem Geiste geschrieben sind ein Bedürfnis für unsere Zeit, und ich sollte denken auch ein Artikel für den Verleger. "47 Der Göschen-Verlag lehnte - zumindest vorläufig - ab, da er mit Wielands neuer Ausgabe beschäftigt war. Schiller bemühte sich weiterhin um einen Verleger, nahm aber einstweilen Teile der Humboldtschen Abhandlung in seine von ihm herausgegebene literarische Zeitschrift "Thalia" auf. 48 Zur selben Zeit wurden auch Bruchstücke von Humboldts "Ideen" in der "Berliner Monatsschrift" publiziert. 49 Humboldt hoffte, daß der Göschen-Verlag sein Werk in ein oder zwei Jahren für eine Drucklegung annehme· und wollte diese Zeit für eine Umarbeitung nützen. Von diesem Plan ließ er sich auch nicht abbringen, als Schiller doch einen Verleger (und zwar schon im Jänner 1793) gefunden hatte; im Gegenteil, er nahm nun von einer Veröffentlichung völligen Abstand und schob sie auf unbestimmte Zeit auf. 50 46 Brief an Schiller vom 12. Oktober 1792. In: Der Briefwechsel zwischen F. Schiller und W. v. Humboldt I. Hrsg. v. S. Seidel. Berlin 1962, 46f. 47 Brief an Göschen vom 16. November 1792. Zitiert nach Weyland (s. Anm. 2) 4. 48 Kapitel 2 und die erste Hälfte von Kapitel 3 aus Humboldts "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" wurden im Jahre 1792 in Schillers "Neuer Thalia" (Bd. 2, Heft 5, 131 - 168) unter dem Titel: "Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staats um das Wohl seiner Bürger erstrecken?" abgedruckt. 49 Das Kapitel 5 erschien in der Berliner Monatsschrift 20 (Oktober 1792) 346 - 354 mit der Überschrift: "Über die Sorgfalt des Staats für die Sicherheit gegen auswärtige Feinde". Kapitel 6 (ohne den ersten Absatz) wurde anonym im Dezemberheft 1792 der Berliner Monatsschrift (20,597 - 606) unter dem Titel: "Über öffentliche Staatserziehung. Bruchstück" zum ersten Mal veröffentlicht. Und Kapitel 8 schließlich erschien im Novemberheft 1792 der Berliner Monatsschrift (20, 419 - 444) mit dem Titel: "Über die Sittenverbesserung durch die Anstalten des Staats". 50 Vgl. Brief an Schiller vom 14. Jänner 1793 und vor allem den Brief vom 18. Jänner 1793 (s. Anm. 46) 56f.: "Sie werden aus meinem letzten Brief ersehn haben, daß ich jetzt vielmehr einen Aufschub des Drucks wünschte, und als ich neulich die Abhandlung noch einmal durchging, fand ich in der Tat nicht bloß viele Stellen, die einer Änderung, sondern auch einige, die einer gänzlichen Umarbeitung bedürfen ... Je mehr mich auch die vorgetragenen Ideen interessieren und je günstiger ich sogar von meiner Arbeit urteile, desto weniger könnte ich mir die Nachlässigkeit verzeihen, ihr nicht diese letzte Sorgfalt geweiht zu haben. Für jetzt aber und die nächsten Monate habe ich nicht allein ganz heterogene Beschäftigungen, sondern es fehlt mir auch teils an Stimmung, teils sogar an einigen Büchern, um an diese Revision zu gehen. Über einiges möchte ich sogar durch Gespräch meine Ideen erst klarer machen können. Alles dies hat mich nun zu dem festen Entschluß gebracht, die Herausgabe, wenn es noch möglich ist, aufzuschieben, und zwar auf unbestimmte Zeit, ... " Im vorhergehenden Brief an Schiller (v. 14. Jänner 1793) dachte Humboldt nur an einen Aufschub von ein bis zwei Jahren. Ebd. 55.
4 Battisti
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4 Zur Entstehung der Schrift von den Grenzen der Staatswirksamkeit
Ob Humboldts Argument, die Schrift gründlich zu überarbeiten, der wahre Grund für den Verzicht auf die Publizierung war, läßt sich nicht eindeutig feststellen, zumal es niemals zu der geplanten Umarbeitung kam. Weyland 51 z. B. vermutet, daß der stolzen und empfindlichen Natur Humboldts die Schwierigkeiten mit Zensur und Verleger unerträglich geworden sind. So entschuldigte sich Humboldt auch nachträglich bei Schiller wegen der allzuvielen Umstände, die er ihm im Hinblick auf die beabsichtigte Drucklegung seiner Schrift bereitet habe: "Werden Sie mir nicht böse, teurer Freund, über die vielen Bemühungen, die meine Angelegenheit Ihnen verursacht. Schon oft hat es mir leid getan, Sie überhaupt damit beschwert zu haben, und gewiß hätte ich es nicht getan, wenn ich geglaubt hätte, es koste Sie mehr als eine flüchtige Erwähnung in einem Briefe an Göschen. "52 Ein ganz anderes Motiv für Humboldts unerwarteten Gesinnungswechsel führt Cauer an, indem er eine Verbindung zu den politischen Ereignissen in Frankreich herstellt. Denn am selben Tag (18. Jänner 1793), an dem Humboldt Schiller seinen endgültigen Entschluß kundtut, vorläufig von einer Publikation abzusehen, wurde in Paris der Tod Ludwigs XVI. beschlossen. Und Cauer meint: "Es ist bekannt, wie diese Katastrophe einen totalen Umschwung in der Stimmung des gebildeten deutschen Publikums gegenüber der Revolution und allen irgendwie mit ihr verwandten Ideen bewirkte. Die vorliegende Schrift, eine so große Selbständigkeit des Gedankens sie auch zeigt, wurzelt doch sehr bestimmt in dem Gefühle warmer Bewunderung für die in Frankreich zum Durchbruche gekommenen Ideen. . . Es konnte daher die Veröffentlichung derselben schwerlich mehr angemessen erscheinen, nachdem die Gesinnung, auf der sie beruhte und die sie notwendig auch bei den Lesern voraussetzte, fast überall in das Gegenteil umgeschlagen war. "53 Mag auch die Begeisterung für die Französische Revolution wesentlich zur Entstehung von Humboldts "Ideen" beigetragen und die radikalen Auswirkungen der Revolution auch sein Denken beeinträchtigt haben, die Frage ist nur, wie Humboldt in einer Zeit, in der das Nachrichtenwesen noch sehr mangelhaft ausgebildet war, am selben Tag in Deutschland erfahren konnte, was in Paris beschlossen wurde. Noch ein weiteres Argument für Humboldts Rückzug im Hinblick auf die geplante Veröffentlichung führt Kaehler an, der die Ansicht vertritt, daß weder die Zensurbehörde noch die Schwierigkeiten mit den Verlegern dafür verantwortlich waren, sondern Humboldts innere Unsicherheit. Denn Humboldts Freund Gentz 54 legte ebenfalls im Jänner 1793 seine Übersetzung von 51 52
53 54
Vgl. Weyland (s. Anm. 2) 5. Brief an Schiller vom 18. Jänner 1793 (s. Anm. 46) 57. Cauer (s. Anm. 45) XIf. Vgl. Anm. 32.
4.4 Anregungen zur Schrift von den Grenzen der Staatswirksamkeit
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Burkes "Reflections on the Revolution in France" mit einer ausführlichen eigenständigen Abhandlung vor, an der Humboldt messen konnte, "was dazu gehörte, um über politische Fragen in diesem Augenblick maßgeblich das Wort zu ergreifen ... Darum ist es nur verständlich, wenn er nach dem Erscheinen des Burke-Gentz die Drucklegung seiner ,Ideen' hinausschob bis zu einem für die Ausgestaltung günstigeren Zeitpunkt ... "55. Da aber Kaehlers Humboldtdarstellung nicht frei von Vorurteilen ist, gilt es auch, dieses Argument mit äußerstem Vorbehalt zu betrachten. Um so mehr drängt sich nun die Aufgabe auf, sich mit Humboldts Schrift selbst auseinanderzusetzen.
55 Kaehler (s. Anm. 15) 148. Auch E. Spranger sieht in Gentz' Burkeübersetzung ein entscheidendes Motiv für Humboldts Bedenken hinsichtlich der Drucklegung seiner Schrift. Vgl. E. Spranger (s. Anm. 3) 5lf.
4'
5 Humboldts Menschenbild Wie immer man auch Humboldts "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" beurteilen mag: als "außerordentlich und unvergeßlich"l, als "eine der wertvollsten Abhandlungen im deutschen Schrifttum zur Humanität überhaupt"2 oder als "Programmschrift doktrinärer Linksliberaler"3 bzw. als "unreifer Versuch, das Prinzip hoher individueller Geisteskultur auf die komplizierte und anders geartete Materie des Staats zu übertragen"4, man verkennt ihre Bedeutung und ihren Sinn, wenn man in ihnen vorwiegend eine staatstheoretische Dokumentation oder gar das Idealbild einer Verfassung sieht. Humboldts Interesse gilt nicht dem Staat, sondern dem Menschen. Dieses Diktum scheint wichtig bereits am Beginn, vor allen· weiteren Ausführungen, um Humboldts "Ideen" nicht unter falschen Voraussetzungen zu präjudizieren. Genausowenig wie Humboldt bei seinem Besuch in Paris im Sommer 1789 wissen wollte, was die Franzosen in der großen Revolution aus dem Staate machten, sondern was die Revolution aus den Franzosen machte 5 , geht es ihm auch in seinen "Ideen" nicht um den Staat an sich in Korrelation zum Menschen als Bürger und Untertan, sondern er stellt umgekehrt die Frage nach dem wahren Zweck des Menschen und nach dessen Bedingungen der Verwirklichung. Insofern der Mensch in einem Staate lebt und von diesem in maßgebender Weise seine Entfaltungsmöglichkeiten zugewiesen bekommt, ist es notwendig, jene Elemente staatlicher Wirksamkeit aufzudecken, die für die Verwirklichung des Menschen als Individuum erforderlich sind. Allen Überlegungen, die Humboldt über den Staat und dessen Wirksamkeit anstellt, geht somit eine anthropologische Prämisse voraus. Humboldts "Ideen" sind nicht primär als eine Staatslehre zu betrachten, schon gar nicht als eine geschlossene 6 , sondern als eine Reflexion über das Verhältnis des einzelnen 1 W. v. Humboldt, Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates. Mit einer Einführung von R. Pannwitz. Nürnberg 1946, 7. 2 W. v. Humboldt, Grenzen des Staates. Mit einer Einführung von H. Schumann (Schriften zur Humanität V. Bd.). Frankfurt 1947, 5. 3 J. H. Knoll / H. Siebert, Wilhelm von Humboldt. Politik und Bildung. Heidelberg 1969, 12. 4 P. Wittichen, Zur inneren Geschichte Preußens während der Französischen Revolution. Gentz und Humboldt. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 19 (1906) 33. 5 Vgl. R. Haym, Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik. Berlin 1856,5l. 6 Die Kapitell bis 6, 8 und 15 der "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" entstammen, z. T. wörtlich, einem Brief an Gentz
5.1 Der politische Hintergrund
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zum Staat. Das Staatsproblem bedeutet für Humboldt ein menschliches Bildungsproblem. 5.1 Der politische Hintergrund
Das ausgehende 18. Jahrhundert, die Zeit, in der Humboldts Schrift entstand, war geprägt vom Geiste der Aufklärung mit ihrem unerschütterlichen Glauben an die Allmacht menschlicher Vernunft, vom Humanitätsideal deutscher klassischer Literaten, die den Wert und die Würde des menschlichen Individuums in besonderer Weise hervorstrichen und schließlich vom Freiheitspathos der Französischen Revolution, das in ganz Europa zu vernehmen war. Wer - wie Humboldt - für solche Ideen empfänglich war und gegenüber jeglicher Form absolutistischer Institutionen eine Abneigung verspürte, konnte sich mit dem preußischen Staatssystem nicht identifizieren; auch wenn sich Humboldt dagegen wehrt, daß seine "Ideen" als Kritik gegen den preußischen Staat verstanden werden 7, so passen die Schranken, die er der staatlichen Wirksamkeit entgegensetzt, nur zu gut auf den Absolutismus jenes Staates, in dem er lebte. Bereits während seiner Göttinger Studienjahre hat Humboldt seinen Jugendlehrer Campe8 dazu aufgefordert, gegen das preußische Religionsedikt (vom 9.7.1788) öffentlich Stellung zu nehmen, und da dieser es nicht tat, verfaßte Humboldt selbst eine Schrift "Über Religion", die allerdings nicht zur Veröffentlichung kam. 9 Dem Religionsedikt folgte noch im selben Jahr (am 19.12.1788) ein Zensuredikt. Es ist deshalb nicht zufällig, wenn Humboldt als Motto für seine Schrift ein Wort des französischen Staatsgelehrten Mirabeau wählt: "Le difficile est de ne promulguer que de lois necessaires, de rester a jamais fidele a ce principe vraiment constitutionnel de la societe, de se mettre en garde contre le fureur de gouverner, la plus funeste maladie des gouvernemens modernes." 10 vom 9. Januar 1792. Vgl. dazu: A. Leitzmann, Politische Jugendbriefe Wilhelm von Humboldts an Gentz. In: Historische Zeitschrift 152 (1935) 48 - 89. Auch der Hauptbestandteil des 7. Kapitels der "Ideen" entstammt einem früheren Aufsatz Humboldts "Über Religion", vermutlich aus dem Jahre 1790. 7 Vgl. GS I, 127: "Überhaupt sei mir die Bitte erlaubt, bei allem, was diese Blätter allgemeines enthalten, von Vergleichungen mit der Wirklichkeit gänzlich zu abstrahieren." 8 Vgl. W. v. Humboldts Brief an H. J. Campe vom 11. August 1788. In: J. Leyser, Joachim Heinrich Campe. Ein Lebensbild aus dem Zeitalter der Aufklärung. Bd. 2. Braunschweig 1896, 308. 9 Erstveröffentlichung der Schrift "Über Religion" durch A. Leitzmann in GS I (1903). Die Datierung der Schrift bereitet Schwierigkeiten. Wichtige Gründe sprechen dafür, daß der Aufsatz um 1790 entstanden ist, vermutlich unter Verwendung einer älteren Vorarbeit. Vgl. dazu: W. v. Humboldt, Werke in 5 Bänden. Hrsg. v. A. Flitner und K. Giel. Bd. V. Darmstadt 1981, 289 - 293. 10 GS I, 97.
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5 Humboldts Menschenbild
Zweifelsohne war die preußische Regierung von dieser Krankheit besessen, wenn sie glaubte, mit Edikten das Gewissen und die religiösen Überzeugungen ihres Volkes lenken zu können. l l Den Bürgern wurde jegliche Beteiligung an politischen Entscheidungen vorenthalten, das Regieren war Sache des Herrschers und seiner Beamten. Ein übermächtiger Bürokratismus engte die Aktivitäten der Untertanen ein; sie erfüllten ihre Pflichten, weil sie mußten und solange sie konnten. Doch früher oder später hat dieser Despotismus in allen Ländern Europas, wo er praktiziert wurde, zu Spannungen geführt; in Frankreich machten sie sich am frühesten bemerkbar. Aus dem nicht mehr zu überbrückenden Zwiespalt zwischen Despotismus und Aufklärung entstand die große Revolution, doch für Humboldt war dieser Weg nicht nachahmenswert. Auch wenn er die Ideen der Französischen Revolution als ewige Wahrheiten bezeichnet, die immer bestehen bleiben, selbst wenn sie 1200 Narren entweihen l2 , so erklärt er sich mit der radikalen Weise, mit der diesen Ideen in der Praxis Durchbruch verschafft wurde, nicht einverstanden. Zu sehr befürchtet Humboldt in einer Revolution neuerdings die Gefahr einer staatlichen Omnipotenz, in der Zwang und Gewalt vorherrschen und jegliche Subjektivität in bloße Objektivität aufgehoben wird. Der Weg, den Humboldt vorschlägt, ist ein anderer: Die Wirksamkeit des absolutistischen Staates, der sich ohne lebendigen Bezug zu seinem Volk zu einer abstrakten Macht ausgebildet hat, soll auf ein Minimum eingeschränkt werden. Damit steht Humboldt außerhalb der Gefolgschaft der französischen Revolutionäre, denen es darum ging, den bestehenden Staat aufzulösen und durch einen neuen, idealen zu ersetzen. Humboldt strebt keinen idealen Staat an, auch der beste Staat ist nur ein notwendiges Übel, das es einzuschränken gilt, damit sich der wahre Zweck des Menschen, "die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen" 13, verwirklichen läßt. Was die Renaissance und Reformation begonnen haben, die Loslösung des Menschen aus mittelalterlich-doktrinärer Weltanschauung, was die Aufklärung fortsetzte durch ihren Appell an die Denkfreiheit und den eigenen Gebrauch des Verstandes, das versuchte Humboldt in die politische Praxis umzusetzen mit der Forderung nach Selbständigkeit und Freiheit des Individuums von allzuenger staatlicher und gesellschaftlicher Gebundenheit. "Wann wird der Mann aufstehen", fragt Humboldt, "der für die Gesetzgebung ist, was Rousseau der Erziehung war"14? Und Humboldt versteht sich zweifelsohne selbst als dieser zweite Rousseau, nur mit dem einen UnterVgl. Haym (s. Anm. 5) 46f. Vgl. W. v. Humboldts Briefe an K. G. Brinkmann. Hrsg. v. A. Leitzmann, Leipzig 1939,41. 13 GS I, 106. 14 GS 1,162. 11
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5.2 Der geistesgeschichtliche Hintergrund
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schied, daß er nicht ein von allen Zwängen der Zivilisation befreiendes "Retournons a la nature" proklamiert, sondern umgekehrt ein Zukunftsziel entwirft: Die höchste und proportionierlichste Bildung des Menschen in seiner individuellen Eigentümlichkeit. 5.2 Der geistesgeschichtliche Hintergrund (Neuhumanismus) In Abhebung vom Renaissance-Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts, der die römische Antike zu seinem Vorbild wählte, orientiert sich der auf Deutschland beschränkte Neuhumanismus der folgenden zwei Jahrhunderte hauptsächlich am antiken Griechentum. Deutschland und Hellas heißt die Devise, die von Winckelmann ausgeht und über Herder, die Brüder Schlegel, Goethe und Schiller bis zu Humboldt führt. E. Spranger meint sogar, daß es für die deutsche Klassik keine anderen historischen Perioden gab als die Griechen und die Gegenwart. "Ihr Blick heftete sich allein an die lebensspendende Sonne Homers und seines Volkes. "15 Doch im Gegensatz zum romantischen Humanismus in Italien und Frankreich, dem es lediglich um eine Wiederaufnahme abgebrochener Beziehungen zur klassisch-römischen Kultur ging und somit keiner besonderen Begründung bedurfte, weil er sich auf eine natürliche Abstammung berufen konnte, verlangt der deutsche Humanismus aufgrund eines nur ideellen Zusammenhangs mit dem Griechentum eine spezielle Rechtfertigung. 16 Das heißt, "der Neu-Humanismus teilt mit dem Renaissance-Humanismus die Liebe zum klassischen Altertum, unterscheidet sich aber von ihm durch seine philosophische Tiefe, durch die aus dem Ungenügen an der eigenen Zeit entsprungene Griechensehnsucht sowie durch eine neue Konzeption literarisch-ästhetisch-historischer Bildung, die er anthropologisch fundiert"17. Humboldts Begeisterung für die Griechen rührt zweifelsohne von seiner Göttinger Studienzeit her, wo er von seinem Lehrer Heyne in die griechische Kultur eingeführt wurde und mit größter Sorgfalt altphilologische Studien betrieb. Dieses Interesse hat Humboldt zeit seines Lebens begleitet, vor allem aber während der Jahre der inneren Muße, unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst, als er seine Intention damit bekundete, "wenigstens die Hauptschriftsteller der Alten gelesen, und mehr als das, in succum et sanguinem vertiert zu haben"18, was schließlich auch zu einigen selbständigen Abhandlungen über das Griechentum führte. 15 E. Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee. Berlin 1928, 456. 16 Vgl. H. Rüdiger, Wesen und Wandlung des Humanismus. (Reprografischer Nach-
druck der Ausgabe Hamburg 1937). Hildesheim 21966,197. 17 C. Menze, Humanismus, Humanität. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. J. Ritter. Bd. III. Basel 1974, Sp. 1218. 18 W. v. Humboldts Brief an F. A. Wolf vom 22. Mai 1793. In: W. v. Humboldt, Gesammelte Werke. Hrsg. v. C. Brandes. Bd. V. Berlin 1846, 47. (Zitiert als GW).
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5 Humboldts Menschenbild
Für Humboldt sind die Griechen ein für alle Menschen und alle Zeiten gültiger Maßstab, weil bei ihnen das Streben nach reiner Menschlichkeit ihre höchste und reinste Konkretion erfahren hat. Im Griechischen Charakter zeigt sich "der ursprüngliche Charakter der Menschheit überhaupt", demnach muß das Studium eines solchen Charakters "in jeder Lage und jedem Zeitalter allgemein heilsam auf die menschliche Bildung wirken, da derselbe gleichsam die Grundlage des menschlichen Charakters überhaupt ausmacht. Vorzüglich aber muß es in einem Zeitalter, wo durch unzählige vereinte Umstände die Aufmerksamkeit mehr auf Sachen als auf Menschen und mehr auf Massen von Menschen als auf Individuen, mehr auf äußren Wert und Nutzen als auf innere Schönheit und Genuß gerichtet ist und wo hohe und mannigfaltige Kultur sehr weit von der ersten Einfachheit abgeführt hat, heilsam sein, auf Nationen zurückzublicken, bei welchen dies alles beinah gerade umgekehrt war. "19 In den Griechen zeigte sich die Menschheit reiner und einfacher als in irgendeiner anderen Nation. Sie waren offener für alle Eindrücke der Außenwelt, aber ebenso empfänglich für die "Sinnlichkeit und Einbildungskraft". "Auf diese Weise konnte der Griechische Charakter die sonst unbegreiflichsten Widersprüche in sich vereinigen: auf der einen Seite Geselligkeit und Trieb nach Mitteilung, wie ihn vielleicht keine Nation je gekannt hat, auf der andern Sucht nach Abgezogenheit und Einsamkeit; auf der einen beständiges Leben in Sinnlichkeit und Kunst, auf der andern in der tiefsinnigsten Spekulation. "20 Bereits nach diesen kurzen Ausführungen wird man sich als kritischer Leser fragen müssen, ob Humboldts Griechenbild der historischen Realität entspricht, und erst recht melden sich Bedenken gegen jene Argumente an, mit denen Humboldt die ideelle Zusammengehörigkeit von Deutschtum und Griechentum zu begründen versucht: " ... in Sprache, Vielseitigkeit der Bestrebungen, Einfachheit des Sinnes, in der föderalistischen Verfassung und seinen neuesten Schicksalen"21 zeigt Deutschland eine unleugbare Ähnlichkeit mit Griechenland. Deshalb besitzen die Deutschen auch "das unstreitige Verdienst, die Griechische Bildung zuerst treu aufgefaßt und tief gefühlt zu haben; ... Andre Nationen sind hierin nie gleich glücklich gewesen oder wenigstens haben ihre Vertraulichkeit mit den Griechen weder in Kommentaren noch Übersetzungen, noch Nachahmungen, nuch endlich (worauf es am meisten ankommt) in dem übergegangenen Geiste des Altertums auf ähnliche Art bewiesen. Deutsche knüpft daher seitdem ein ungleich festeres und engeres Band an die Griechen als an irgend eine andere, auch bei weitem näher liegende Zeit oder Nation. "22 19 20
21 22
GS 1,275. GS III, 161. 162. GS III, 185. GS III, 184.
5.3 Humanität und Bildung
57
Es läßt sich nicht leugnen, daß Humboldt mit einem ganz bestimmten Interesse, mit einer subjektiv antizipativen Meinung an die Griechen herantritt, um das zu suchen, was er bei ihnen finden will, nämlich ein Spiegelbild seiner Erwartungen 23 oder wie er selbst in einem Brief schreibt: "Vorzüglich habe ich gerade fast bloß Dichter, einzelne Stücke aus Historikern und den Plato gelesen, also lauter Schriftsteller, die sehr zu einer idealischen Vorstellung führen. Die, welche davon das Gegenteil täten, z. B. Aristophanes, fehlen mir noch ganz. "24 Und an einer anderen Stelle heißt es: "Wir sehen offenbar das Altertum idealischer an als es war und wir sollen es, da wir ja durch seine Form und Stellung zu uns getrieben werden, darin Ideen und eine Wirkung suchen, die über das auch uns umgebende Leben hinausgeht. "25 Damit zeichnet sich schon ab, daß Humboldts Griechenbild historisch verzerrt ist; in der Wahl zwischen einer realen und einer idealen Darstellung entscheidet er sich für die letztere. So geht es Humboldt weniger darum zu erkunden, wer die Griechen eigentlich waren, was ihr je eigentümliches Denken motivierte und konstituierte, sondern er stilisiert das Griechische absichtlich ins Ideelle, was zur Folge hat, daß sein Griechentum zu einem deutsch gesehenen Griechentum wird. Aber das bekümmert Humboldt nicht, er weiß, daß er das Altertum idealer sieht, als es in Wirklichkeit ist; ihm geht es hauptsächlich um jenen Begriff, den die Griechen zur Lebensaufgabe des Menschen machten, nämlich um die "Paideia", die Bildung. Wie verschiedenartig und differenziert auch die Denkansätze jener sind, die sich als Humanisten bezeichnen, das Wissen darum, daß das Menschsein dem Menschen mit seinem Dasein nicht gegeben, sondern vielmehr aufgegeben ist, darf als Grundaxiom eines jeden Humanismus angesehen werden. 26 Um die Lösung dieses Problems ringt auch Humboldt, die Frage ist nur, woraufhin sich der Mensch transzendieren soll. 5.3 Humanität und Bildung
"Der wahre Zweck des Menschen - nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt - ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschVgl. Spranger (s. Anm. 15) 464. W. v. Humboldts Brief an Wolf vom 23. Jänner 1793. In: Humboldt, GW V, 18. 25 GS VI, 548. 26 Vgl. H. Weinstock, Die Tragödie des Humanismus. Wahrheit und Trug im abendländischen Menschenbild. Heidelberg 21954, 198. 23 24
5 Humboldts Menschenbild
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lichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannigfaltigkeit der Situationen. "27 Mit diesen wenigen Sätzen, die Humboldt - unmittelbar nach der Einleitung - seinen "Ideen" voranstellt, ist sein philosophisches Programm in prägnanter Form zum Ausdruck gebracht. So enthalten diese Aussagen nicht nur jene Begriffe wie Bildung, Kraft und Freiheit, auf die sich Humboldts Menschenbild grundlegend stützt, sie zeigen ebenso den Eigenwert des Individuums auf, dem gegenüber Gesellschaft und Staat nur einen funktionalen Wert haben und schließlich bekundet sich in diesen Sätzen erst recht der Schwerpunkt seines Denkens, nämlich das Interesse für den Menschen: "Nur der Mensch ist es eigentlich, auf den sich alles Wissens schrankenloser Kreis zurückzieht. "28 Seine Studien über den Menschen gelten aber nicht der Gattung Mensch, sondern dem individuellen und gebildeten Menschen, der - insofern er Individuum ist - das Charakteristische des Einmaligen und Besonderen in sich trägt und, insofern er gebildet ist, die Idee des Menschseins in sich verwirklicht. Nur die Bildung schützt den Menschen vor der Entfremdung (ein Begriff, den Humboldt 29 interessanterweise vor Hegel und Marx verwendet) und verhilft ihm zu seiner Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung. Jede Institution, die sich mit dem Menschen beschäftigt, hat in ihren Anordnungen und Gesetzen, die sie erläßt, dafür Sorge zu tragen, daß sie der menschlichen Bildung gerecht werden. Unter diesem Gesichtspunkt wird auch der Staat gesehen, er ist für Humboldt nichts anderes "als ein Mittel, diese Bildung zu befördern oder vielmehr die Hindernisse wegzuräumen, die ihr im außergesellschaftlichen Zustande im Wege stehn würden"30. Und Menze sieht in Humboldts "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" eine "erste weitläufige Ausführung dieses Programms, die Idee der Bildung als bestimmend für alle menschlichen Lebensbereiche darzustellen"31. Humboldt strebt menschliche Bildung nicht nur um ihrer selbst willen an, sondern er erwartet sich davon eine Neuorientierung des Menschen und der GS I, 106. W. und C. von Humboldt in ihren Briefen. Hrsg. v. Anna von Sydow. Bd. 1. Berlin 1906,446. 29 Vgl. dazu: GS I, 284: "Beschränken sich indeß auch alle diese Forderungen nur auf das innere Wesen des Menschen, so dringt ihn doch seine Natur beständig von sich aus zu den Gegenständen außer ihm überzugehen, und hier kommt es nun darauf an, daß er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er außer sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohltätige Wärme in sein Innres zurückstrahle." 30 GS I, 69. 31 C. Menze, Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen. Ratingen bei Düsseldorf 1965,36. Diese ausgezeichnete Habilitationsschrift über Humboldts Theorie vom Menschen erspart es dem Verfasser dieser Arbeit, jene anthropologische Prämisse neu zu erforschen, die für Humboldts "Ideen" relevant ist. 27 28
5.3 Humanität und Bildung
59
menschlichen Gesellschaft. Es ist die Sorge um den Menschen, die ihn veranlaßt, darüber nachzudenken, wie der Mensch in der Auseinandersetzung mit seiner Zeit, in einem vom Absolutismus geprägten Staat, seine Selbstbestimmung gewinnt und sich nicht in der anonymen Masse verliert. Dafür scheint der Weg über die Bildung unumgänglich zu sein, weil nur durch die Bildung der Mensch zu sich selbst kommt. Was heißt aber Bildung und wie kommt sie zustande? Als Grundthese für Humboldts Bildungstheorie gilt, daß sich Bildung nur durch Vervollkommnung der Individualität, d. h. durch Verwirklichung der in der Einzelpersönlichkeit angelegten "Kräfte zu einem Ganzen" erwerben läßt. Bildung erschöpft sich für Humboldt keineswegs in einem umfangreichen theoretischen Wissen, das sich eine Person aneignet; davon distanziert er sich sogar deutlich, wenn er schreibt: "Ich mache keine Ansprüche auf die meisten andren Vorzüge, nicht auf Talente, Wissen, Gelehrsamkeit, aber gern möcht' ich den Anspruch machen auf den Vorzug, Mensch und gebildeter Mensch zu sein. "32 Diese bei den Begriffe gehören zusammen, je gebildeter der Mensch ist, desto mehr verwirklicht er in sich die Idee des Menschseins. Jedes Individuum ist auf ein Ideal hin angelegt und nur insofern es sich diesem Ideal nähert, bildet es sich zum wahren Menschen, zur Humanität empor. Bildung bedeutet, die je eigene Wesensstruktur zu erkennen und diese auf proportionierlichste Weise in ihrer Totalität auszubilden. Das heißt, nicht das Ausmaß des Wirkens von außen und nach außen ist bildungs konstitutiv und -relevant, sondern die Hinordnung des Individuums auf seine Idealität und deren Verwirklichung. Man mag sich fragen, ob Humboldt nicht einen Bildungssolipsismus betreibt, wenn er in sein Tagebuch schreibt: "Jeder Mensch existiert doch eigentlich für sich; Ausbildung des Individuums für das Individuum und nach den dem Individuum eigenen Kräften und Fähigkeiten muß also der einzige Zweck alles Menschenbildens sein. "33 Diese Aussagen lassen zweifelsohne seinen extremen Individualismus erkennen; doch Humboldt selbst schränkt ein, wenn er seine Tagebucheintragung mit dem Gedanken fortsetzt, "daß man diesen Zweck ... nicht immer unmittelbar im Auge behalten kann, weil selbst die Ausbildung des Individuums ein Vergesellschaften und folglich Bindung fürs Ganze erfordert"34. Was damit gemeint sein soll, wird noch zu erörtern sein.
32 w. v. Humboldts Brief an Karoline von Beulwitz. In: Deutsche Rundschau 66 (1891) 243. 33 GS XIV, 154f. 34 Ebd.155.
5 Humboldts Menschenbild
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5.3.1 Bildung und Kultur Mag auch für Humboldt "der wahren Moral erstes Gesetz" heißen, "bilde dich selbst, und nur ihr zweites: wirke auf andere durch das, was du bist"35, so zeigen diese Überlegungen - abgesehen davon, daß man dem Mitmenschen nur das zu geben imstande ist, was man selber ist und sich angeeignet hat - im Hinblick auf die Kohärenz von Bildung und Kultur wichtige Aspekte auf. Es ist davon auszugehen, und dem würde auch Humboldt zustimmen, daß sich Bildung niemals in einem völlig kulturlosen Raum erfahren läßt. "Der Mensch bedarf eines gewissen, nicht geringen Grades der Kultur, um eine individuelle Form zu erlangen. "36 Jede Bildung, auch jene im Sinne Humboldts als Ausbildung der von Natur in den Menschen angelegten Fähigkeiten zu einem harmonischen Ganzen, setzt zumindest Sprache und Denkfähigkeit voraus, die aber ein Individuum, allein auf sich gestellt, niemals verwirklichen kann. Ebenso tragen auch alle weiteren kulturellen Objektivationen, die sich in Wissenschaft, Technik, Literatur und Kunst manifestieren, konstitutiv zum Bildungsprozeß bei. "Man kann sagen, daß der Prozeß der Bildung an der Auflösung solcher Objektivationen in subjektives Erleben als seiner Bedingung hängt. Ohne Kultur gibt es keine Bildung. "37 Es gilt aber auch umgekehrt, daß ohne Bildung kein Kulturbestand möglich ist. "Denn würde ein Kulturgut als solches nicht wenigstens erkannt, würde man etwa ein Gerät nicht mehr als Gerät oder als von Menschenhand zu einem bestimmten Gebrauchssinn geformtes Gebilde erkennen, so hörte es überhaupt auf, eine kulturelle Objektivation zu sein. Wüßte kein Mensch mehr den Sinn der Objektivationen zu erfüllen, so würden diese überhaupt untergehen und verloren gehen müssen. "38 Auch Humboldt weiß sehr wohl um das gegenseitige Bedingungsverhältnis von Bildung und Kultur; seine Orientierung am Idealbild der Griechen ist mehr als nur eine Anerkennung von kulturellen Voraussetzungen für den Bildungsprozeß, sondern wird zum Maßstab für menschliche Bildung schlechthin. Die Frage ist nur, ob menschliche Bildung allein in kulturellen Objektivationen und theoretischem Wissen ihren adäquaten Ausdruck findet oder ob ihr nicht insofern auch ein Eigenwert zukommt, als durch sie der einzelne sich in seinem Menschsein vervollkommnet. Mit anderen Worten: Muß man nicht auch danach fragen, was Tätigsein und Entäußerung für das Subjekt, das Individuum bedeuten? Humboldt wehrt sich dagegen, den Wert des Menschen und damit implizit auch den der Bildung nach der Fähigkeit für äußere Zwecke, d. h. nach den 35 36
37
38
GW 1,292. GS I, 393. K. Grube, Wilhelm von Humboldts Bildungsphilosophie. Halle 1935, 15. Ebd. 16.
5.3 Humanität und Bildung
61
Produkten seiner Tätigkeit zu beurteilen. Jedes Werk, das der Mensch schafft, jede Form seiner Entäußerung, trägt unverkennbar die je eigentümliche Charakteristik des schaffenden Subjekts; je weniger darauf reflektiert wird, desto mehr tritt das subjektive Charakteristikum in den Hintergrund, und es zählt nur noch die geschaffene Objektivation, die - sofern sie dem Zeitgeist entspricht - ihre Würdigung erfährt, doch mehr dem Objekt als dem Menschen gilt. Die Versachlichung läßt das Subjekt vergessen oder zu einem beliebig austauschbaren werden; ein Gedanke, der Marx' Entfremdungstheorie vorgreift. Aus dieser Überlegung heraus ist es zu verstehen, wenn Humboldt den Akzent verlagert und menschliche Bildung nicht so sehr in den Dienst der Kultur, als vielmehr diese in den Dienst des Menschen stellt. Oder wie Grube formuliert: "Viele Beispiele der Geschichte zeigen, daß Wissenschaftler, Künstler, religiöse und politische Führer ihrem ,Werke' Wohlstand, Ruhe, Gesundheit, Glück, persönliche Vervollkommnung, ja selbst das Leben unbedenklich opferten. Nicht ihre Person, sondern die Sache, die einen mehr als individuellen Sinn darstellt, entscheidet. Der Mensch unterstellt sich hier sachlichen Notwendigkeiten ... Stellt sich also der Mensch auf eine solche radikale, von sachlichen, kulturellen Gesetzen bestimmte Haltung ein, so wird der Gesichtspunkt der Bildung als ausdrückliche, absichtliche personale Formung vergessen. Bildung wird nicht thematisch. Nicht umsonst pflegt es für uns einen Sinn zu haben, wenn wir sagen: Jener Mann ist ein großer Wissenschaftler. Oder er hat diese und jene große Tat vollbracht, aber er hat keine Bildung. "39 Um dies zu vermeiden, setzt Humboldt den Bildungsprozeß im Inneren des Menschen an, in der Entwicklung seiner ihm von Natur aus angelegten Fähigkeiten, um wahrer Mensch zu werden. "Denn alle Bildung hat ihren Ursprung allein in dem Innren der Seele und kann durch äußre Veranstaltungen nur veranlaßt, nie hervorgebracht werden. "40 Insofern der Mensch aber handelt, und sei es auch - im Sinne Humboldts - nur um seiner Bildung willen, wirkt er auf die Mitwelt und Umwelt, d. h. durch den Bildungsprozeß verändert sich nicht nur das tätige Subjekt, sondern mit ihm auch seine Welt; allerdings hat die Weltgestaltung nur eine funktionale Bedeutung im Hinblick auf die Selbstbildung des Individuums. Dies kommt ganz deutlich zum Ausdruck, wenn Humboldt bekennt: "Den Weg zu suchen, der mich, nur mich zu höchsten Zielen führte, schien mir meine Bestimmung. "41 Damit vertritt Humboldt eine sehr eigenwillige Bildungstheorie, die zwar verhindert, daß sich das Individuum in der Entäußerung verliert und entfremdet, doch ebenso Gefahr läuft, in einer bildungsimmanenten Selbstbe39 40
41
Ebd. 14f. GS 1,70. W. und C. von Humboldt in ihren Briefen (s. Anm. 28) 344.
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5 Humboldts Menschenbild
fangenheit stecken zu bleiben. Wenn Humboldt unter Bildung die Ausbildung aller in der Natur des Menschen angelegten Fähigkeiten (Kräfte) versteht, so stellt sich erstens die Frage, ob dies überhaupt möglich ist, weil die Ausbildung bestimmter Kräfte und Talente notwendigerweise die Entfaltung anderer unberücksichtigt läßt, und zweitens ist zu überlegen, ob die für den Menschen und seine Bildung so wesenskonstitutiven geistigen Akte wie Erkennen, Wollen und sittliches Handeln jemals zur Verwirklichung kommen, wenn sie letztlich - in der Sorge um die eigene Bildung - nur immanent auf sich selbst bezogen bleiben. Bereits jeder Erkenntnisprozeß und jede Beurteilung von Sachverhalten setzt eine Distanz zu sich selbst, ein Abstandnehmen von persönlichen Interessen voraus, um mit größtmöglicher Objektivität erkennen und urteilen zu können. Erst recht verlangen im sittlichen Handeln Werthaltungen wie Verständnis, Güte, Toleranz - deren Verwirklichung für menschliche Bildung mindestens genauso relevant ist wie z. B. die Ausbildung von ästhetischem Empfinden - ein Hinausgehen über sich selbst; versteht man menschliches Handeln nur als ein ständiges Kreisen um sein Bildungsideal, so bleiben dem Individuum seine Selbstverwirklichung und damit auch seine Bildung versagt. Humboldts allzu einseitige Reflexion über die Individualität übersieht, daß sich individuelle Selbstvervollkommnung nicht in direkter Intention, sondern nur auf dem "Umweg" über die Erfüllung von Aufgaben, Anforderungen und Pflichten gegenüber den Mitmenschen erreichen läßt. 5.3.2 Individualität und Kraft
Bei aller Wertschätzung, die Humboldt dem antiken Griechentum entgegenbringt und bei aller Anerkennung dessen, was die Welt der Griechen für die Bildung des Individuums bedeutet, "die Richtung nach Individualität hat die Bildung erst in neueren Zeiten genommen, ... wonach wir individuen-weise streben, dahin suchten die Alten völkerweise zu gelangen"42. Mit dieser Feststellung und Hervorstreichung des Individuellen setzt Humboldt nicht nur einen Unterschied zwischen der Antike und der modernen Zeit, sondern distanziert sich auch von der Aufklärung, die den Menschen zum Verstandeswesen reduziert und alle individuellen Unterschiede als unbedeutend ignoriert. Ebenso wird aber auch zu Kant eine kritische Haltung eingenommen, der zwar in mannigfacher Weise Humboldts Denken beeinflußt, aber im Gegensatz zu diesem allem Individuellen und Empirischen lediglich den Charakter des Einzelnen und Zufälligen zuschreibt, während sich Wissenschaftlichkeit durch Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit auszuweisen hat. Humboldt hingegen sieht das den Menschen Bestimmende in seiner Individualität; insofern steht er Leibniz und Herder 42
GS III, 181.
5.3 Humanität und Bildung
63
und dem Geist der Romantik, die im besonderen die Unwiederholbarkeit und Einzigartigkeit der Individualität hervorheben, näher als Kant. Auch fordert Humboldts Moralität nicht eine Unterwerfung unter ein allgemeingültiges Gesetz, sondern das Herausgestalten der Persönlichkeit im Prozeß einer Individualentwicklung. Selbst wenn Humboldt den Menschen in seiner lebendigen und dynamischen Ganzheit erfassen will, so stellt er niemals die Frage nach den allgemeingültigen Prinzipien, die den Menschen als Menschen konstituieren, sondern ihn interessiert primär der Mensch als Individuum und das, was ein Individuum zu einem bestimmten Individuum prägt; auch der Begriff vom Ideal der Menschheit läßt sich für ihn nur vom Individuum her bestimmen, und zwar als deren Totalität in ihrer idealen Verwirklichung. Individualität bedeutet für Humboldt das dem Menschen ursprünglich Zukommende, sie ist eine originär gesetzte Gegebenheit, aus nichts ableitbar. Was aber Individualität als solche konstituiert - die Frage nach dem Prinzip der Individuation, die in der Geschichte der Philosophie die verschiedensten Antworten erfahren hat (z. B. in der Scholastik, auf Aristoteles zurückgreifend, durch die "materia quantitate signata") - bleibt für Humboldt unlösbar, weil "alles, worüber wir zu urteilen vermögen, immer nur Resultate der gemeinschaftlichen Wirksamkeit äußerer Umstände und der innern Kräfte sind"43, die wir voneinander niemals gen au zu unterscheiden vermögen. D. h. wir haben immer schon ausgeprägte Individuen mit bestimmten Charakteranlagen und Verhaltensweisen vor uns, und es läßt sich nachträglich nicht mehr feststellen, was das Individuum bezüglich seiner Individualität ursprünglich von seiner Seinsverfassung mitbekommen hat und in welchem Ausmaß es durch seine "individuelle Lage" (heute würde man sagen durch seine Erbanlagen und Umwelt) geformt worden ist. "Alles, was wir mit Sicherheit zu behaupten imstande sind, ist nur soviel, daß irgend eine Kraft, ... zuerst und unabhängig von allen sie umgebenden Umständen vorhanden ist, weil ja sonst nichts da wäre, worauf von außen eingewirkt werden könnte. "44 Kraft ist für Humboldt, ähnlich wie bei Leibniz, ein metaphysisches Prinzip, das Seiendes in den Wirkzustand versetzt. Das Leben des Menschen, die Geschichte der Menschheit, wie auch die ganze belebte Natur, ist zu verstehen als ein Wirken von Kräften. Kraft ist das eigentlich Reale, die - auch bei aller Unentschlossenheit, die Humboldt gegenüber dem Individuationsprinzip äußert - sich immer mehr zu jener Größe herauskristallisiert, die letztlich das Individuum bestimmt. So "sind es gerade diese ersten Triebfedern, diese innern Kräfte, die das eigentliche Wesen des Individuums ausmachen und ursprünglich alles in Bewegung setzen, in welchen das, was den Men43 44.
GS II, 91. Ebd.
64
5 Humboldts Menschenbild
schen am meisten adelt, Seelengröße, Tugend und Heroismus, seinen Sitz hat und aus welchen allein jede große Tat und jeder genievolle Gedanke hervorgeht "45. Zwar sind Humboldts Äußerungen bezüglich der Kraft als bestimmendes Prinzip für die Eigenart des Individuums nicht immer eindeutig, so spricht er auch davon, daß das ganze Menschengeschlecht mit der gleichen Kraft ausgestattet sei und erst aufgrund einer Einwirkung von äußeren Umständen auf sie die Individuation erfolge. Doch scheint diese Auffassung seiner Grundintention vom Menschen nicht ganz zu entsprechen. Auch Menze, der sich eingehend mit Humboldts Menschenbild auseinandergesetzt hat, vertritt die Meinung, daß Humboldt seinem ganzen Ansatz nach dazu neigen müsse, "die von ihm so hoch gestellte Individualität nicht aus einem Einwirken äußerer Umstände auf eine für alle Individuen gleiche Kraft zu erklären, sondern er will und er muß die Individualität als etwas Ursprüngliches, Letztes, in der Kraft selbst wesentlich Seiendes auffassen ... Kraft kann nur Kraft sein als bestimmte Kraft. Deshalb muß also auch in der Bestimmung der Kraft als Kraft schon der Ursprung der Individualität liegen"46. Mit dieser Feststellung deckt sich auch eine weitere Aussage Humboldts, in der es heißt: "Aller Unterschied unter dem Lebendigen, zwischen Pflanzen und Tieren, zwischen den mannigfaltigen Geschlechtern dieser letzteren und unter den Menschen zwischen Nationen und Individuen beruht also allein auf der Verschiedenheit des Lebenstriebes und seiner Möglichkeit, sich durch den Widerstand, den er findet, durchzuarbeiten. "47 Das heißt im Klartext doch wiederum nichts anderes, als daß der Lebenstrieb, die Kraft als solche, bereits individuiert ist. 48 Es wäre aber ein Mißverständnis, würde man Humboldts Begriff der Kraft mit Naturtrieb oder Instinkt gleichsetzen, sie ist eine geistige Kraft, verstanden als Sehnsucht nach Verwirklichung von Ideen.
5.3.3 Individuum, Charakter, Idee Die Konkretisierung des Individuums erfolgt erst im Charakter, er verhält sich zur Individualität - in der traditionellen Schul philosophie gesprochen - wie Akt zu Potenz. Individualität versteht sich nur als Möglichkeit, die erst im Charakter aktualisiert wird. Charakter ist für Humboldt das Resultat "der gemeinschaftlichen Wirksamkeit äußerer Umstände und der innern Kräfte"49, er konstituiert sich somit aus dem Zusammenwirken dieser Kom45 46 47
48 49
GS II, 88.
Menze (5. Anm. 31) 106. 107. GS III, 199. Vgl. Menze (5. Anm. 31) 106. GS II, 91.
5.3 Humanität und Bildung
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ponenten. Aus der Individualität allein läßt sich das Individuum noch nicht begreifen, erst im Charakter konkretisiert es sich zu einem bestimmten Individuum. Charakter aber bedeutet für Humboldt nichts Statisches (etwa als Inbegriff stabiler Gewohnheiten und Gesinnungen, nach denen der Mensch seine Verhaltensweisen setzt), sondern er resultiert aus der individuellen Lage des Menschen und seiner Natur, er ist die spezifische Struktur, in der die menschliche Energie (Kraft) organisiert ist und sich in ständiger Auseinandersetzung mit der Welt und den Ideen fortbildet. Der Zusammenhang zwischen Charakter und Individualität ist dadurch gegeben, daß Individualität nur in einem betimmten Charakter erscheint und faßbar ist. Jeder individuelle Mensch existiert bereits als Charakter, denn nur in ihrem Charaktersein kommt Individualität zur konkreten Wirklichkeit.5 0 Humboldts anthropologische Untersuchungen befassen sich aber nicht nur mit der Wirklichkeit des Menschen, mit den konkret vorhandenen Gegebenheiten seines Menschseins, sondern auch mit dem Entwurf seiner Möglichkeiten, d. h. mit dem, was der Mensch werden kann. Seine vergleichende Anthropologie versteht sich einerseits als Studium des Menschen in der Mannigfaltigkeit seiner natürlichen und kulturellen Ausprägungen, auch unter Berücksichtigung der geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen, und andererseits als Voraussetzung normativer Zielsetzungen im Hinblick auf menschliche Bildung. Demnach hat sie eine zweifache Aufgabe zu erfüllen: 51 Zunächst sollen die verschiedenen Charaktere der Individuen und Nationen innerhalb des Menschengeschlechts konstatiert und die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede aufgezeigt werden. Mit der Ausführung dieses Schrittes folgt aber schon der nächste, nämlich ein Ausgreifen auf jene Seinsmodalitäten und Kräfte, die das Individuum im Hinblick auf seine Bildung zu verwirklichen hat. "Nicht bloß die vorhandene Kraft will man geschätzt wissen; auch den Grad der Rüstigkeit und Stärke, mit der dieselbe weiter emporstrebt. "52 Heißt das nun, daß Humboldt auf unkritische Weise von der Seinsebene auf die Sollensebene übergeht und die seit D. Hume festgestellte Distinktion zwischen Sein und Sollen unberücksichtigt läßt, wenn er von der vorhandenen Kraft im Individuum auf dessen Idealisierung schließt? Woher weiß er denn, worin das je eigentümliche Bildungsziel des Individuums besteht? Dazu sei gesagt, daß Begriffe wie Kraft, Leben, Energie im Gegensatz zu den Begriffen Buch, Tisch, Schreibzeug ect. dynamische Begriffe sind, die bereits von sich aus auf Bewegung (Verwirklichung) angelegt sind. Eine Kraft, die niemals eine Wirkung zeigte, wäre keine Kraft mehr; mit ihrem 50 51 52
Vgl. Menze (s. Anm. 31) 10Bf. Vgl. ebd. 46. GS II, 2.
5 Battisti
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5 Humboldts Menschenbild
Begriff ist die Intention auf ihre Verwirklichung mitgegeben. Ebenso verhält es sich mit dem Begriff Leben. Bei aller Schwierigkeit, diesen Begriff zu definieren, wird keiner, der nicht unwissentlich (aus Mangel an Sprachkenntnissen) oder böswillig gegen den Sprachgebrauch verstößt, von Leben sprechen, wenn an einem Lebewesen keinerlei Reaktionen mehr festzustellen sind. Das heißt, daß Humboldt keineswegs gegen die Humesche Distinktion verfehlt, wenn er die Kraft des Individuums auf Verwirklichung hin angelegt sieht. Worin jedoch das Ziel der Verwirklichung (das Bildungsziel des Individuums) besteht, diese Frage ist allerdings noch unbeantwortet. Humboldt vertritt die Ansicht, daß im Menschen die Kräfte nicht richtungslos, sondern unter dem Antrieb und der Leitung von Ideen wirken. Die Bestimmung seines Ideenbegriffs ist zwar nicht immer klar; noch in seinen Tagebuchaufzeichnungen von 1789 scheint er Platon nahe zu stehen, wenn er schreibt, daß ihm die Sinnenwelt nur wie ein Ausdruck, Sprache oder Chiffre einer außersinnlichen Welt erscheine. 53 Doch bereits seiner Schrift über die Wirkamkeit des Staates liegt eine andere Konzeption zugrunde; eine platonische Auffassung der Ideen ließe dem Individuum niemals die Bedeutung zukommen, die ihm Humboldt beimißt. Demnach sind die Ideen für Humboldt nicht etwas apriorisch Vorgegebenes, an dem sich die Individuen zu orientieren haben, sondern die Individuen selbst sind Träger von Ideen. "Ein Individuum ist eine in der Wirklichkeit dargestellte Idee. "54 Es gibt "genauso viele Ideen, wie es Seiende gibt, und in jedem neu sich zeigenden Seienden offenbart sich eine neue Idee"55. In diesem Sinn besteht für Humboldt kein Dualismus zwischen Welt und Idee; die Ideen werden im Leben selbst gefunden, sie sind "gedankliche Antizipationen, die das Leben an sich selber gewinnt, aus sich selber gebiert ... Vom Individuum und für das Individuum stellen sie sich jedenfalls dar als Umformungen, Übersetzungen des faktischen Lebens ins Gedankliche, d. h. in gedanklich bewußt antizipierte, erhöhte künftige Lebensformen, die damit zu Leitlinien für die Welt- und l'ersonengestaltung werden" 56. Das menschliche Individuum begnügt sich nicht allein mit der Faktizität des Gegebenen, es will sich und der Welt neue Formen geben, insofern strebt es nach Ideen, die ihm Allgemeines, Objektives und Aufgebbares bedeuten. Das Streben danach und die Erfüllung dieses Strebens erfordert einerseits, daß der Mensch zu sich selbst Distanz gewinnt, um sich für die erhöhte, künftige Lebensform öffnen zu können, andererseits gilt es aber auch, diese Ideen zu konkretisieren, wobei die zuvor gesetzte Distanz 53 GS XIV, 157. Vgl. dazu auch: W. Schultz, Das Erlebnis der Individualität bei Wilhelm von Humboldt. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7 (1929) 665. 54 GS III, 198. 55 Menze (s. Anm. 31) 103. 56 Grube (s. Anm. 37) 45. 46.
5.4 Idealität und Selbstverwirklichung
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zu sich selbst überwunden wird. "In diesem fortlaufenden Prozeß des Abstandsetzens und Abstandüberwindens auf dem Wege über die Idee geschieht die Selbsttranszendierung des Individuums, seine Bildung zu einer geistigen, ideellen Existenz. "57 Doch dieser Prozeß ist niemals abgeschlossen. Während jedes andere Streben, das auf ein erreichbares Ziel ausgerichtet ist, zum Stillstand kommt, wenn das Ziel erreicht wird, kommt das Streben zur Idee, verstanden als innerste Sehnsucht des Menschen, nie zur Ruhe, weil die ideelle Existenz des Menschen keine quantitative Größe ist, sondern immer neue Entfaltungsmöglichkeiten und Verwirklichungen von Ideen offenläßt. D. h., in die Terminologie Humboldts übersetzt, daß auch der Bildungsprozeß des Menschen niemals abgeschlossen ist, sondern zeit seines Lebens fortdauert. Der Schwerpunkt und das Hauptverdienst in Humboldts Ideenlehre liegt aber zweifelsohne im Aufweis des inneren Zusammenhanges zwischen Individuum und Idee oder Idee und Wirklichkeit. Humboldt war sich dessen bewußt, daß die Überwindung des Dualismus zwischen Welt und Idee nur dann gelingen kann, wenn die Idee nicht jenseits der Welt angesetzt wird, für die sich das Individuum in einem Selbstaufhebungsprozeß zu opfern hat, sondern wenn die Idee bereits im Individuum zur Darstellung kommt. Nur so kann das Individuum seine Verwirklichung erfahren und eine Versöhnung zwischen Geist und Natur gelingen. 5.4 Idealität und Selbstverwirklichung
Es hat sich gezeigt, daß Humboldts Ideenlehre mit dem Individualitätsbegriff aufs engste verknüpft ist. Jedes Individuum ist Ausdruck, Träger einer Idee; gelingt es diesem nun, alle seine ihm je eigentümlichen Anlagen und Fähigkeiten voll zu entfalten, wird es zu einer idealen Individualität. Denn das "Ideal ist nichts anders, als die nach allen Richtungen hin erweiterte, von allen beschränkenden Hindernissen befreite Natur"58. Jedes Individuum hat demnach sein eigenes Ideal, das seiner Idee entspricht. Ideal bedeutet für Humboldt somit nicht eine transzendente, absolute Idee, die das Individuum anzustreben hat, sondern die möglichst reine Verwirklichung der eigenen Individualität. Selbst das Ideal der Menschheit ist keine vorgegebene, einheitliche Größe oder ein apriorischer Entwurf, sondern besteht aus dem Zusammenwirken der Individuen, aus der Summe aller zu allen Zeiten und allen Gegenden jemals existierenden Menschen. Ein Individuum allein, auch wenn es sich zu einer idealen Individualität ausprägt, vermag niemals das menschliche Ideal in seiner ganzen Dimension auszuschöpfen; seine Eingeschränktheit, seine ausschließenden und negativen Aspekte 57
58
5*
Ebd.46. GS I, 389.
68
5 Humboldts Menschenbild
lassen dies nicht zu. "Daher kann es nie anders, als in der Totalität der Individuen erscheinen. "59 Das Ideal der Menschheit stellt für Humboldt "soviele und mannigfaltige Formen dar, als nur immer miteinander verträglich sind"60; nur in ihrer Gesamtheit, in ihrer Totalität, sind sie imstande, die unbeschränkte Möglichkeit der menschlichen Natur aufzuweisen. Das Individuum ist zwar durch seine Individualität als bestimmtes und begrenztes Individuum gesetzt, doch insofern es danach trachtet, seine ihm je eigentümlichen Anlagen und Fähigkeiten auf proportionierlichste Weise zu verwirklichen, strebt es über seine Begrenzung hinaus dem Ideal der Menschheit zu. Dieses Ideal kann aber vom Menschen nie vollständig wahrgenommen werden, man kann sich ihm nur nähern, so wie es den Griechen gelungen ist, bei denen das Streben nach Menschlichkeit - wie Humboldt meint - seine höchste und reinste Konkretion erfahren hat. Deshalb sind sie uns wie keine andere Nation zum Vorbild geworden. Humboldt stellt sich die Annäherung an das Ideal konkret so vor: "Die individuellen Charaktere sollen so ausgebildet werden, daß sie eigentümlich bleiben, ohne einseitig zu werden, daß sie der Erfüllung der allgemeinen Forderungen an allgemeine idealische Vortrefflichkeit keine Hindernisse in den Weg legen, nicht bloß durch Fehler und Extreme eigentümlich sind, aber dagegen ihre wesentlichen Grenzen nicht überschreiten und in sich konsequent bleiben. In dieser innern Konsequenz und äußern Kongruenz mit dem Ideal sollen alsdann alle gemeinschaftlich zusammenwirken. Denn nur gesellschaftlich kann die Menschheit ihren höchsten Gipfel erreichen ... "61 Und an einer anderen Stelle schreibt er: "Was der einzelne Mensch für sich nicht vermag, das kann durch die Vereinigung aller gesellschaftlich bewirkt werden. Der einzelne kann das Ideal menschlicher Vollkommenheit nur von einer Seite, nur nach Maßgabe seiner Eigentümlichkeit darstellen, aber durch die vergleichende Betrachtung vieler dieser einseitigen und verschiedenen Darstellungen nähern wir uns einer anschaulichen Vorstellung von der Vollständigkeit desselben, als eines Ganzen. "62 Heißt das nun, daß Humboldt seine extrem individualistische Position aufgibt und in einer Vergesellschaftung das eigentliche Bildungsziel sieht, weil das Individuum als Individuum niemals das Ideal der Menschheit zu verwirklichen imstande ist? Eine voreilige Schlußfolgerung wäre hier falsch am Platz, denn Humboldt bewertet alle menschlichen Verbindungen im Hinblick auf die Bildung des Individuums; so werden auch der Freundschaft, der Ehe oder intimen, geistigen Freundeskreisen, wie z. B. dem damals in Berlin bestehenden Tugendbund, insofern große Bedeutung bei59 60
61 62
GS I, 379. Ebd. Ebd. GS II, 38.
5.4 Idealität und Selbstverwirklichung
69
gemessen, als sie eine einseitige Entwicklung der Individualität verhindern und dazu beitragen, Fehler auszugleichen. 63 Demnach bleibt als erster und letzter Zweck allen Wirkens in der Welt und der menschlichen Lebensgestaltung die Persönlichkeitsbildung. In seiner kurzen Abhandlung über die "Theorie der Bildung des Menschen", die ein Jahr nach seinen "Ideen" geschrieben wurde (1793), heißt es: "Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Tätigkeit nämlich steht der Mensch, der ohne alle auf irgend etwas einzelnes gerichtete Absicht nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Wert und Dauer verschaffen will. Da jedoch die bloße Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die bloße Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt außer sich. "64 Damit wird einerseits anerkannt, daß sich die Verwirklichung menschlichen Seins nur im Hinausgehen über sich selbst, in der Konfrontation mit der Welt, ereignen kann, andererseits wird aber die Welt nur als Mittel zum Zweck für die eigene Bildung betrachtet, wenn Humboldt fordert, der Mensch soll versuchen, "soviel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden" 65. Bereits die Formulierung "Welt ergreifen" deutet darauf hin, daß es Humboldt weniger darum geht, die Welt zu gestalten, zu prägen, auf positive Weise auf sie einzuwirken, sondern sie zum Zwecke der Bildung zu nutzen. Der Mensch befindet sich in ständiger Wechselwirkung mit der Welt; durch sein Tätigsein, durch seine apriorische Kraft 66 verändert er die Welt und diese wirkt als veränderte wieder auf das Individuum zurück. Aber nicht die Weltgestaltung ist der primäre Zweck menschlicher Tätigkeit und der Sinn des Lebens, sondern die Bildung. Eine Bewertung des Individuums nach seinen Wirkungen in der Welt oder nach seiner Brauchbarkeit für die Welt würde es in seiner Eigentümlichkeit verkennen. Auch eine begrifflich diskursive Analyse genügt Humboldt nicht, um zum innersten Kern des Individuums vorzustoßen, dazu bedarf es eines höheren Vermögens, der Vernunft als innere Einsicht und des Verstehens. Wenngleich Humboldt den Begriff des Verstehens in seiner expliziten Form noch nicht gebraucht, so kommt er diesem doch sehr nahe, wenn er verlangt, daß "der Auffassende ... sich immer dem auf gewisse Weise ähnlich" zu machen 63 64
Vgl. Menze (s. Anm. 31) 149.
GS 1,283.
Ebd. Vgl. W. v. Humboldts Brief an K. G. Brinkmann vom 22. Okt. 1803. Hrsg. v. Leitzmann. Leipzig 1939, 156, wo es heißt: "Das wahre apriori müßte, glaube ich, die Kraft im Menschen sein." Unter dem Begriff des Apriori versteht Humboldt jedoch keine transzendentale Bestimmung im Sinne Kants, sondern er will damit nur darauf hinweisen, daß der Mensch sich immer schon als tätiger versteht. 65
66
70
5 Humboldts Menschenbild
hat, "das er auffassen Will"67. Das heißt, nur durch ein Sichhineinversetzen in das zu verstehende Individuum ist es möglich, dessen innere Struktur zu erfahren. Es würde jedoch zu weit führen, die hermeneutisch relevanten Grundansätze Humboldts herauszuarbeiten und sie mit heutigen, aktuellen Theorien der Hermeneutik zu vergleichen. Dieser kurze Hinweis auf das Verstehen als ein der Individualität angemessenes Erkenntnismittel, welcher der Vollständigkeit wegen noch durch den Begriff der "Einbildungskraft" (ein Terminus, den Humboldt von Kant übernommen, aber für seine Anthropologie umgedeutet hat) ergänzt werden müßte, soll nur ein weiteres Indiz dafür sein, wie wichtig es für Humboldt ist, das Individuum in seiner innersten Struktur zu erkennen, und welche Priorität er diesem zuerkennt. Menschenkenntnis bedeutet für Humboldt eine zentrale Aufgabe innerhalb seiner Philosophie; erwartet er sich von ihr doch nicht nur eine Information über vorhandene Merkmale, Eigenschaften und Strukturen des Menschen, sondern auch Normatives, d. h. ein Wissen über den idealen Zustand des Menschen. In seiner Schrift "Das achtzehnte Jahrhundert" stellt Humboldt bezüglich der Menschenkenntnis einen Vergleich zwischen der Methode des Historikers und der des Philosophen an, findet aber beide für unbrauchbar, weil der Historiker lediglich die individuellen Unterschiede feststellt, ohne danach zu fragen, ob sie wesentlich oder nur zufällig sind, somit die Frage nach dem inneren Gesetz oder Strukturzusammenhang des Individuums außer acht läßt. Den Philosophen hingegen interessiert am "Individuellen nur das Allgemeine; auch in dem einzelnen Menschen forscht er nur nach der Form der Menschheit überhaupt, welche in demselben ausgeprägt ist"68. Dabei wird das Individuum zu einem gleichgültigen, austauschbaren Exemplar der Gattung gemacht. 69 Humboldt plädiert zwar für eine philosophische Menschenkenntnis, versteht diese aber als "eine gewisse mittlere Richtung zwischen jenen beiden Extremen. Sie begnügt sich nicht bloß an dem, was in der Gegenwart wirklich vorhanden ist, aber sie will dies doch ganz und vollkommen wahr sehn ... Ihr Zweck ist es, dem vorhandenen Charakter zu der Vollendung, die er erreichen kann, den Weg zu zeigen"7o. Damit reicht Menschenkenntnis über ein bloßes Faktenwissen hinaus und trägt wesentlich zur Bildung und Selbstverwirklichung des Individuums bei. Bildung besteht in der proportionierlichsten Ausbildung der in der Natur des Menschen angelegten Fähigkeiten und Kräfte zu einem harmonischen Ganzen. In der Vervollkommnung der Individualität gemäß seiner Idee oder noch schärfer formuliert, in der Entfaltung des Individuums auf seine Idealität hin, ist die menschliche Selbstverwirklichung begründet. 67
68 69 70
GS I, 262. GS II, 110. Vgl. Grube (s. Anm. 37) 36. GS II, 110.
5.4 Idealität und Selbstverwirklichung
71
Auf diesem Hintergrund eines nur um die eigene Vervollkommnung bemühten und sich von der Welt distanzierenden Bildungs- und Selbstverwirklichungsideals läßt sich nun Humboldts kritische Stellungnahme zum Staat besser verstehen. In der Sorge um die Entfaltung des Individuums wird die Wirksamkeit des Staates aufs äußerste eingeschränkt; er hat "sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger" zu enthalten "und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist, zu keinem anderen Endzweck beschränke er ihre Freiheit"7!. Das heißt, das politische Handeln ist nur bedeutungsvoll im Hinblick auf die Bildung des Menschen. Daß diese Äußerungen in Humboldts Folgezeit Kritik hervorgerufen haben, ist verständlich; fraglich bleibt aber, ob man deshalb gegen Humboldt den Vorwurf erheben kann, daß sein Einfluß und der des Neuhumanismus zu einer Entfremdung des deutschen Geistes von der politischen und sozialen Wirklichkeit führte, was schließlich die Katastrophe des Nationalsozialismus heraufbeschwor. 72 Diese Schlußfolgerung ist sicherlich übertrieben. Humboldts kritische Distanz dem Staat gegenüber muß auf dem damaligen politischen Hintergrund eines absolutistischen, durch die Person eines Despoten verselbständigten Staates gesehen werden. "Humboldts Individualismus ist ... keineswegs der unverbindlich abstrakte Individualismus des Anarchisten. "73 So unterscheidet er, wie die weiteren Ausführungen noch zeigen werden, zwischen Staat und Nation, die als "Trägerin des Geistes, der Sprache und damit der Bildung"74 im schärfsten Gegensatz zum absolutistischen Staat steht. Diese nun vorgenommene Reflexion auf Humboldts Menschenbild wollte jene anthropologische Prämisse aufzeigen, die für das Verständnis seiner "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" erforderlich ist. Es wurden vorwiegend nur jene Schriften berücksichtigt, die seinen "Ideen" zeitlich nahe liegen; aus diesem Grunde wurden Humboldts sprachphilosophische Studien, wenngleich sie für sein Menschenbild von Bedeutung sind, nicht in Erwägung gezogen.
GS I, 129. Vgl. E. Voegelin, Universität und Öffentlichkeit. In: Wort und Wahrheit 21 (1966) H. 8/9. Zitiert nach H. Zdarzil. In: Wissenschaft und Weltbild 21 (1968) 70. 73 Rüdiger (s. Anm. 16) 21l. 74 Vgl. ebd. 209. 71
72
6 Grundbedingungen staatlicher Wirksamkeit 6.1 Philosophie und Politik "Wenn man die merkwürdigsten Staatsverfassungen miteinander und mit ihnen die Meinungen der bewährtesten Philosophen und Politiker vergleicht, so wundert man sich vielleicht nicht mit Unrecht, eine Frage so wenig vollständig behandelt und so wenig genau beantwortet zu finden ... , die Frage nämlich: zu welchem Zweck die ganze Staatseinrichtung hinarbeiten und welche Schranke sie ihrer Wirksamkeit setzen SOll?,'1 Besteht nun dieser Ausdruck der Verwunderung, mit dem Humboldt die Einleitung zu seinen "Ideen" beginnt, zurecht oder verbirgt sich dahinter abermals ähnlich wie bei seiner Darstellung des antiken Griechentums - ein Mangel an historischen Kenntnissen oder ungenügender Sinn für die historische Realität,weil die Informationen darüber doch vorwiegend aus zweiter Hand (Neuhumanismus) bezogen wurden? Man muß den Kritikern zustimmen, wenn sie Humboldt vorwerfen, daß die Frage nach dem Zweck des Staates nicht nur im Zentrum der Reflexionen Platons und Aristoteles' sowie der angelsächsischen politischen Philosophen stand, sondern auch die Verfassungskämpfe in England während des 17. Jahrhunderts und die amerikanische Revolution des 18. Jahrhunderts bestimmte. 2 Es kann und soll jedoch nicht das Hauptanliegen dieser Arbeit sein, Humboldts historisches Wissen zu prüfen, sondern seiner Frage nach dem Zweck des Staates auf dem Hintergrund menschlicher Lebensgestaltung nachzugehen, die er aus dem damaligen Zeitgeist heraus gestellt und zu beantworten versucht hat. Und da diese Frage unausweichlich ist, drängt sie sich zu jeder Zeit von neuem auf, um ihre zeitgemäße und adäquate Antwort zu bekommen. Die Untersuchung über den Zweck des Staates und die Grenzen seiner Wirksamkeit erweist sich für Humboldt auch als "letzter Zweck aller Politik"3, womit er zum Ausdruck bringen will, daß dieses Problem den Philosophen wie den Politiker in gleicher Weise angeht. Heißt das nun, daß Humboldt deren Kompetenzen verwischt oder im Sinne Platons von den Politikern verlangt, Philosophen zu werden? Ist damit nicht schon von vornherein der Weg für ein utopisches Staatsmodell vorbereitet und Humboldt in die GS I, 99. Vgl. M. Henningsen, Wilhelm von Humboldt. In: Die Revolution des Geistes. Politisches Denken in Deutschland 1770 - 1830. Goethe - Kant - Fichte - Hegel- Humboldt. Hrsg. v. J. Gebhardt. (List Verlag 1503). München 1968, 136. 3 GS 1,100. 1
2
6.1 Philosophie und Politik
73
Gefolgschaft eines Thomas Morus, Tommaso Campanella oder Francis Bacon einzureihen? Besteht nicht gerade darin ein wesentlicher Unterschied zwischen den Philosophen und Politikern, daß jene Grundlagenforschung betreiben (nach dem Sinn und Zweck aller Gegebenheiten und deren Begründungen fragen), während diese zu regieren, die Ansprüche der verschiedensten Interessensgruppen zu koordinieren haben, d. h. vorwiegend, pragmatisch handeln müssen? Es ist nicht primäre Aufgabe des Politikers, nach &lern Sinn von Politik oder nach dem Zweck des Staates zu fragen, sondern Unternehmungen zu planen und Maßnahmen zu ergreifen, die den Bedürfnissen des Volkes gerecht werden. Doch mit jeder Entscheidung, die ein Politiker trifft, setzt er Präferenzen; auf die Begründung angesprochen, warum er diesem Projekt den Vorrang vor einem anderen gibt (z. B. dem Umweltschutz vor dem Straßenbau oder umgekehrt), wird er mit pragmatischen Argumenten allein nicht mehr das Auslangen finden. Jeder Ausgriff auf den Bereich der Lebensqualität impliziert bereits eine Wertfrage, die von philosophischer, speziell von ethischer Relevanz ist. Erst recht hat sich ein Politiker mit Wertungen auseinanderzusetzen, wenn Fragen über Schwangerschaftsabbruch, Einführung der Todesstrafe, Abrüstung u. dgl. zur Diskussion stehen. Das heißt, "wenn unter Politik eine allgemeine Theorie über das bestmögliche Zusammenleben menschlicher Gemeinschaften verstanden wird, dann ist die Ethik (wie Aristoteles schon meinte) ein Teil der Politik. Umgekehrt, wenn die Ethik als eine allgemeine Theorie über richtige und falsche Handlungswahlen und Handlungen, über gute und schlechte Dispositionen, zwischenmenschliche Beziehungen und Lebensformen gesehen wird, dann gehören auch politische Aktivitäten, Ziele und Entschlüsse zum Gegenstandsbereich der Ethik. Jedenfalls lassen sich beide nicht klar voneinander trennen. Es wäre sinnlos, wollte man moralische Überlegungen auf den Privatbereich beschränken und davon völlig unabhängige Prinzipien zur Beurteilung politischer Werte und Handlungsweisen entwickeln"4. Das heißt ferner, wenn die Prinzipien der Ethik allgemeingültig sein sollen, dann kann es keine Universalethik für das gewöhnliche Verhalten der Menschen und eine Spezialethik für den Politiker geben, genausowenig wie es neben oder außer wirtschaftlichen, politischen und anderen Handlungen noch eigens - allein der Moralität wegen - ein sittliches Handeln gibt. Die sittliche Dimension äußert sich vielmehr in jedem Handeln, sowohl in der Bestimmung des Handlungszwecks als auch in der Auswahl der Mittel, diesen Zweck zu erreichen. Das politische Handeln macht diesbezüglich keine Ausnahme, im Gegenteil, insofern es auf entscheidende Weise in die Lebensgestaltung der Menschen eingreift, kommt ihm im besonderen Ausmaß sittliche Relevanz zu. 4 J. L. Mackie, Ethik. Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen (Englisch: Ethics. Inventing Right and Wrong). Übers. v. R. Ginters, Stuttgart 1977, 300.
74
6 Grundbedingungen staatlicher Wirksamkeit
Ein in kritischer Reflexion auf die Begründung von politischen Entscheidungen sich ergebender innerer und letzter Zusammenhang von Politik und Philosophie zeigt sich für Humboldt vor allem in der Frage nach dem Zweck des Staates und den Grenzen seiner Wirksamkeit. Da jede Herrschaftsordnung einer Rechtfertigung bedarf, doch bezüglich der Legitimitätsfrage nicht mehr, wie in primitiven Gesellschaften, auf die Stammesreligion oder wie im Mittelalter auf Gottesgnadentum verwiesen werden kann, weil Religion selbst zu einer hinterfragbaren Institution geworden ist, die jeweils nur einen bestimmten Adressatenkreis anspricht, muß nach Argumenten gesucht werden, die für jedermann akzeptierbar sind. Und Argumente dieser Art lassen sich doch am ehesten in einer philosophisch-anthropologischen Interpretation menschlichen Daseins finden. Dies ist auch der Weg, den Humboldt geht, wenn er den Zweck des Staates und die Grenzen seiner Wirksamkeit an der Selbstbestimmung des Menschen orientiert.
6.2 Freiheit und Bildung Menschliche Selbstbestimmung oder Selbstverwirklichung wird auf verschiedene Weise definiert, im extremen Fall sogar so, daß man jegliches Bewußtsein für das Kollektiv aufhebt und den Staat ad absurdum führt. Doch was ist damit gewonnen? Führt sich das Individuum nicht vielmehr selbst ad absurdum, wenn es auf die gesellschaftliche Verankerung verzichtet und es keine Instanz mehr gibt, die ihm seine Rechte und Ansprüche garantiert? Von einer solchen radikalen Interpretation menschlicher Selbstbestimmung ist Humboldt weit entfernt, deshalb ist auch - vor allem unter diesem Aspekt - der Vorwurf der Utopie unzutreffend, weil er mit seinem Hinweis auf die Selbstbestimmung des Menschen nur Bedingungen aufzeigt, die allen Staatsformen zugrunde liegen sollen, d. h. auf sittliche Elemente aufmerksam macht, die auf die Dauer einen Staat garantieren. Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates werden nicht in individualistischer Willkür bestimmt, "sondern aus der immanenten Notwendigkeit des höchsten Zwecks, der dem Menschen selber gestellt ist"5, nämlich der höchsten und proportionierlichsten Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen, wofür nach Humboldt "Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung"6 ist. In Abhebung von extremen Strömungen des Liberalismus, die Freiheit als Selbstzweck fordern, bedeutet für Humboldt Freiheit ein Mittel zur Steigerung der menschlichen Kraft, eine Bedingung zur Entfaltung der in der 5 Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Mit einem Nachwort von R. Haerdter (Reclam 1991). Stuttgart 1978, 218. 6 GS I, 106.
6.2 Freiheit und Bildung
75
Natur des Menschen angelegten Fähigkeiten und Persönlichkeitswerte. Freiheit wird somit individual-sittlich definiert: Der Mensch soll frei sein, um ganz er selbst werden zu können. Und diese Freiheit als Bedingung möglicher Entfaltung von Individualität sieht Humboldt im Staat in mannigfacher Weise gefährdet, weil der Staat den Menschen nicht primär als Menschen, sondern als Bürger, d. h. nach seiner gesellschaftlichen Brauchbarkeit bewertet. Es zählt für ihn nicht der innere Reichtum des Menschen, seine individuellen Anlagen, Fähigkeiten und Kräfte, die es zu verwirklichen gilt und in deren Verwirklichung nach Humboldt die sittliche Bestimmung des Menschen liegt, sondern der Mensch wird lediglich nach dem beurteilt, was er für den Staat zu leisten vermag. Zwar weiß Humboldt sehr wohl, daß der Mensch nur als Bürger gedeihen kann, die Notwendigkeit des Staates ist unumgehbar, wogegen er sich aber wehrt, ist jene vom Staat verursachte Mechanisierung und Vermassung des Menschen, die alle individuellen Unterschiede zwischen den Individuen aufhebt und das freie, selbsttätige und entscheidungsfähige Subjekt zu einem Objekt degradiert, über das letztlich entschieden wird. Es ist also eine Gewissensfrage, die er an den Staat stellt, ob er Menschen oder Untertanen haben will. Die für die Entfaltung des Individuums erforderliche Freiheit wird jedoch nicht um jeden Preis gefordert, sondern sie kann und soll vom Staat nur in dem Ausmaß gewährt werden, als sie dem Bildungsstand des Volkes entspricht, denn "die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit" verlangt "immer einen gleich hohen Grad der Bildung" 7. Das ist ein klares Bekenntnis dafür, daß jedem Strukturwandel in der Politik ein innerer Reifungsprozeß vorauszugehen hat. Bereits in seiner ersten politischen Schrift "Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Constitution veranlaßt" warnt Humboldt davor, Staatsverfassungen "auf Menschen wie Schößlinge auf Bäume [zu] pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ist's, als bindet man Blüten mit Fäden an. Die erste Mittagssonne versengt sie. "8 Diesem Gedanken entspricht nun die Formulierung: "Die besten menschlichen Operationen sind diejenigen, welche die Operationen der Natur am getreuesten nachahmen. Nun aber bringt der Keim, welchen die Erde still und unbemerkt empfängt, einen reicheren und holderen Segen, als der gewiß notwendige, aber immer auch mit Verderben begleitete Ausbruch tobender Vulkane. "9 Also nicht Revolution, sondern Reformation. Wenn aber die Voraussetzungen und Bedingungen für einen höheren Freiheitsvollzug erfüllt sind, wie sie Humboldt zu seiner Zeit durch die Aufklärung gegeben sieht, dann wird es zur dringlichen Aufgabe eines jeden Staatsmannes, seinem Volk die der fortschreitenden Bildung angemessene 7
B
g
GS I, 101. GS 1,80. GS I, 101.
76
6 Grundbedingungen staatlicher Wirksamkeit
Freiheit auch zu gewähren. Mag es schon "ein schöner, seelenerhebender Anblick" sein, "ein Volk zu sehen, das im vollen Gefühl seiner Menschenund Bürgerrechte seine Fesseln zerbricht; so muß - weil, was Neigung oder Achtung für das Gesetz wirkt, schöner und erhebender ist, als was Not und Bedürfnis erpreßt - der Anblick eines Fürsten ungleich schöner und erhebender sein, welcher selbst die Fesseln löst und Freiheit gewährt und dies Geschäft nicht als Frucht seiner wohltätigen Güte, sondern als Erfüllung seiner ersten, unerläßlichen Pflicht betrachtet." 10 "Nur freilich heißt es nicht Freiheit geben, wenn man Fesseln löst, welche der noch nicht als solche fühlt, welcher sie trägt. "11 6.3 Vermittlung von Freiheit
Das vorhergehende Zitat zeigt besonders deutlich, wie vorsichtig und umsichtig Humboldt mit der Freiheit umzugehen versucht, weit entfernt von allen extremen Richtungen des Liberalismus, die Freiheit um ihrer selbst willen postulieren und nicht nach deren Sinn und Zweck für die Ganzheit der Person fragen. Es wäre aber ein Mißverständnis, wollte man daraus ableiten, daß der Staatsmann zur Untätigkeit verurteilt sei und passiv abwarten solle, bis sich das Volk selbst zu einem Freiheitsverständnis durchgerungen habe. Im Gegenteil, "die Reife zur Freiheit [ist] durch jegliches Mittel [zu] befördern ... Mangel an Reife zur Freiheit kann nur aus Mangel intellektueller und moralischer Kräfte entspringen; diesem Mangel wird allein durch Erhöhung derselben entgegengearbeitet; diese Erhöhung aber fordert Übung und die Übung Selbsttätigkeit erweckende Freiheit"12. "Denn durch nichts wird diese Reife zur Freiheit in gleichem Grade befördert als durch Freiheit selbst." 13 Das heißt, einerseits kann und muß der Mensch zur Freiheit erzogen werden, und das geschieht dadurch, daß man ihm Schritt für Schritt Freiheit gewährt. Andererseits aber darf Freiheit dem Individuum und dem Volk niemals von außen aufoktroyiert werden, sondern das Volk muß sie selbst in einem Prozeß der Selbstbefreiung erreichen. Es ist gleichsam ein dialektischer Prozeß, der - so könnte man in Hegels Terminologie sprechen - über die Begriffe "Unmittelbarkeit" und " Vermittlung " zur "vermittelnden Unmittelbarkeit" führt. Das im Menschen schon immer vorhandene Freiheitsbedürfnis, das sich auf allen Ebenen seines Organismus als notwendige Bedingung seiner Entwicklung äußert (Unmittelbarkeit), verlangt nach gesellschaftlichen Voraussetzungen, nach einem rechtlich politischen Raum, 10 11
12 13
GS I, 101 f. GS I, 24l. Ebd. Ebd.
6.3 Vermittlung von Freiheit
77
in dem es sich verwirklichen kann (Vermittlung), um die höchste Stufe an Freiheit und Selbstbestimmung zu erreichen (vermittelte Unmittelbarkeit). Oder wie Humboldt diesen Gedanken selbst auszudrücken versucht: "Ohne nun aber die gegenwärtige Gestalt der Dinge anzutasten [Unmittelbarkeit der Freiheit], ist es möglich, auf den Geist und den Charakter der Menschen zu wirken [Vermittlung von Freiheit durch Gewährung von Freiheit], ... diesem eine Richtung zu geben, welche jener Gestalt nicht mehr angemessen ist [vermittelte Unmittelbarkeit der Freiheit auf einer höheren Ebene]; und gerade das ist es, was der Weise zu tun versuchen wird. "14 Wenn man auf die Geschichte der Staatsverfassungen reflektiert, dann wird man feststellen, so Humboldt, daß die Freiheit der Bürger aus einem zweifachen Grund eingeengt wurde: entweder, um die Verfassung einzurichten oder zu sichern oder aus Sorge für den physischen oder moralischen Zustand der Nation. 15 Darin zeichnet sich für Humboldt bereits ein erster Unterschied zwischen den älteren und den neueren Staaten ab, der aber nur von sekundärer Bedeutung ist, weil die Abgrenzung voneinander nicht immer deutlich zu machen ist. Wesentlicher hingegen ist der Unterschied zwischen den älteren und neueren Staaten im Hinblick auf die Bestimmung des Individuums: "Die Alten sorgten für die Kraft und Bildung des Menschen als Menschen; die Neueren für seinen Wohlstand, seine Habe und Erwerbfähigkeit. Die Alten suchten Tugend, die Neueren Glückseligkeit. Daher waren die Einschränkungen der Freiheit in den älteren Staaten auf der einen Seite drückender und gefährlicher. Denn sie griffen geradezu an, was des Menschen eigentümliches Wesen ausmacht, sein inneres Dasein."16 Mit dieser Kritik an den " Alten " gerät Humboldts Griechenideal etwas ins Wanken, das er aber sofort wieder zu korrigieren versucht, wenn er schreibt, daß die drückenden Einschränkungen der Individuen, die sich vor allem in der gemeinschaftlichen Erziehung und im gemeinschaftlichen Leben der Bürger äußerten, auch ihre positiven Seiten hatten, insofern sie nämlich die tätige Kraft des Menschen stärkten. Und wenn man weiß, daß für Humboldt "Energie die erste und einzige Tugend des Menschen"17 ist, dann .bleibt trotz dieser kritischen Äußerung seine heile Griechenwelt beinahe unversehrt. In den neueren Staatseinrichtungen sieht Humboldt den Menschen bezüglich der von ihm selbst zu treffenden Entscheidungen zwar weniger eingeschränkt, dafür erweisen sich die Dinge um ihn und die Einrichtungen, mit 14
15 16 17
GS I, 239.
Vgl. GS I, 102.
GS I, 103. GS I, 166.
78
6 Grundbedingungen staatlicher Wirksamkeit
denen er konfrontiert ist, als einengend, so daß die Energie und Spontaneität des Individuums erst recht unterdrückt werden. Gelang es in den älteren Staatsverfassungen die Einseitigkeit der Erziehung durch Stärkung der Kraft zu kompensieren, so kommt in den neueren zur geringeren Kraft die Einseitigkeit noch dazu. Die Größe des Individuums, "die Blüte der Phantasie, die Tiefe des Geistes, die Stärke des Willens, die Einheit des ganzen Wesens, welche allein dem Menschen wahren Wert gibt"18, geraten immer mehr in Vergessenheit. Zu sehr haben Forschung und Erfindungen unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen und lenken von unserer eigentlichen sittlichen Bestimmung ab; während die Alten Glückseligkeit in der Tugend suchten, versuchen wir in einer künstlichen Maschinerie Glückseligkeit als Belohnung zu erhalten. Diese Kritik, die Humboldt an seiner Zeit äußert, läßt kaum erkennen, daß sie beinahe vor 200 Jahren geschrieben wurde, sie ist aktueller denn je, wenngleich die Darstellung des griechischen Altertums auch mancher Korrektur bedarf. So wird von Humboldt die sinnliche Kraft und Originalität der alten Zeit mit der Wertschätzung des Individuellen verwechselt, was ausschließlich ein Ausdruck der modernen Zeit ist. Seine Lehre vom Individualismus wäre weder in Sparta noch in Athen verstanden oder gebilligt worden. 19 Doch Humboldt weiß selbst darum, deshalb schenkt er weder der antiken Erziehungstheorie noch der modernen Wohlfahrtstheorie seine volle Zustimmung, sondern sucht nach einer anderen Möglichkeit, die dem wahren Zweck des Menschen, der höchsten und proportionierlichsten Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen, am ehesten entspricht; um dieses Ziel zu erreichen, ist außer der Freiheit jedoch noch eine weitere Bedingung erforderlich.
6.4 Mannigfaltigkeit der Situationen Um alle seine Kräfte zu entwickeln und seine Individualität zu entfalten, genügt Humboldt Freiheit allein nicht, denn "auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus"20. Die Mannigfaltigkeit der Situationen erweist sich als Bedingung für die Aktualisierung potentieller Freiheit. Was nützt es dem Menschen, wenn ihm Freiheit der Möglichkeit nach zugestanden wird, es ihm aber niemals gelingt, diese zu verwirklichen. Alle seine Wünsche und Hoffnungen bleiben unerfüllt, wenn sich seine Situation niemals ändert. Die Mannigfaltigkeit der Situationen gibt dem Menschen Gelegenheiten, seine jeweilige Lage zu 18 GS I, 104. 19 Vgl. R. Haym, Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik. Berlin
1856, 52f. 20 GS I, 106.
6.4 Mannigfaltigkeit der Situationen
79
verändern, aus seinem begrenzten Horizont herauszutreten in neue Lebenswelten. Mannigfaltigkeit der Situationen bedeutet demnach mehr als nur ein abwechslungsreiches Leben; Humboldt geht es vor allem darum, das Individuum vor Einseitigkeit und Isolierung zu bewahren. "Denn der isolierte Mensch vermag sich ebensowenig zu bilden, als der in seiner Freiheit gewaltsam gehemmte. "21 Bildung bedeutet für Humboldt auch, die Welt in ihrer Mannigfaltigkeit zu erleben und zu erfahren; und jede Situation, insofern sie die Eigentätigkeit des Individuums anregt, ist bildungskonstitutiv, unabhängig davon, wie sie vom einzelnen zunächst empfunden wird; wichtig ist nur, daß sie die Energie des Menschen anspannt und ihn zur Selbsttätigkeit aufruft. Da aber das Individuum aufgrund seiner Natur eher zur Einseitigkeit neigt, weil es niemals oder nur schwer mehrere Tätigkeiten zugleich verrichten kann, Bildung jedoch auf ein Erleben des Vielfältigen ausgerichtet ist, gilt es, diese Einseitigkeit durch möglichst viele Vereinigungen und Verbindungen mit den Mitmenschen zu überwinden. Humboldt denkt dabei aber weder an den Staat noch an die Gesellschaft, sondern an Verbindungen, "die aus dem Inneren der Wesen entspringen"22, in denen der eine den Reichtum des anderen sich zu eigen macht wie z. B. in der Ehe, Freundschaft oder Partnerschaft, aber auch in erweiterten Freundeskreisen, wie er sie während seiner Berliner Jugendzeit erfahren hat. "Der bildende Nutzen solcher Verbindungen beruht immer auf dem Grade, in welchem sich die Selbständigkeit der Verbundenen zugleich mit der Innigkeit der Verbindung erhält. "23 Dort, wo der eine den anderen aufgrund mangelnder Innigkeit nicht genug aufzufassen vermag, ist Selbständigkeit notwendig, "um das Aufgefaßte gleichsam in das eigne Wesen zu verwandeln. Beides aber erfordert Kraft der Individuen und eine Verschiedenheit, die nicht zu groß, damit einer der andren aufzufassen vermöge, auch nicht zu klein ist, um einige Bewundrung dessen, was der andre besitzt und den Wunsch rege zu machen, es auch in sich überzutragen" 24. Wer nun hinter dieser Äußerung Humboldts eine Überwindung seines Individualismus sieht, muß neuerdings enttäuscht werden, denn erstes und letztes Ziel all seines Strebens - und dazu gehört auch das Aufsuchen der Mannigfaltigkeit der Situationen - ist und bleibt die Bildung des Individuums. Der Prozeß der gegenseitigen Integration und alle Verbindungen mit den Mitmenschen dienen lediglich dazu, Mannigfaltigkeit der Situationen zu vermitteln, die zum Zwecke der eigenen Bildung nützlich sind. Es ist des21 22 23 24
GS I, 298. GS 1,107. Ebd. Ebd.
80
6 Grundbedingungen staatlicher Wirksamkeit
halb nur eine weitere logische Konsequenz, wenn Humboldt schreibt: "Das höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst und um seiner selbst willen sich entwickelte. "25 Die Frage ist nur, ob hier von einem Zusammenexistieren überhaupt noch die Rede sein kann oder ob dieser Begriff nicht vielmehr durch das Wort "Nebeneinanderexistieren" ersetzt werden müßte. Was die Mannigfaltigkeit der Situationen in der geschichtlichen Entwicklung betrifft, so sieht Humboldt die physische Mannigfaltigkeit im Schwinden, dafür "eine bei weitem reichere und befriedigendere intellektuelle und moralische an ihre Stelle"26 treten. "Es ist im ganzen Menschengeschlecht wie im einzelnen Menschen gegangen. Das Gröbere ist abgefallen, das Feinere ist geblieben. "27 Diese Auffassung widerspiegelt das optimistische Menschenbild Humboldts und speziell das der Aufklärung, für die analog dem Fortschritt in Wissenschaft und Technik auch der Mensch in ständiger Aufwärtsentwicklung begriffen ist. 6.5 Zwischenergebnis
Ehe wir Humboldts "Ideen" weiterverfolgen, wollen wir ein kurzes Fazit aus seinen bisherigen Überlegungen ziehen. Wie bereits die vorhergehenden Untersuchungen zeigten, ist sein Menschenbild durch eine mittels Freiheit und Vernunft zu verwirklichende Selbstbestimmung charakterisiert, deren Ziel in der Entfaltung und Bildung des Individuums liegt. Der Staat und alle Institutionen haben diesem Umstand Rechnung zu tragen, d. h. ihre Normen und Gesetze auf die freie Entfaltung des Individuums abzustimmen. Selbstbestimmung besagt, daß der einzelne selbst seine Lebensziele festlegt, sie dürfen ihm weder vom Staat noch von der Gesellschaft aufgedrängt werden. Um dem Prinzip der Pluralität zu entsprechen, das sich in der Verschiedenheit der Individuen hinsichtlich Anlage, Fähigkeit, Wissen, Charakter u. dgl. kundtut, und um jedem einzelnen eine größtmögliche Entfaltung seiner Individualität zu ermöglichen, bedarf es einer offenen Gesellschaft und eines Staates, dessen Wirksamkeit auf ein Minimum eingeschränkt wird. Ist diese Forderung aber wirklich für alle Individuen gültig? Gilt sie vielmehr nicht nur für jene, die bereits autonom, an Bildung interessiert und auch genügend sozial gefestigt sind, um vom Staat nicht mehr beanspruchen zu müssen als die Gewährung und Sicherstellung ihrer Rechte? Finden wirklich alle Menschen schon jene Bedingungen vor, die außer Freiheit und Mannigfaltigkeit der Situationen alle Voraussetzungen bieten, um sich in ihrer Eigentümlichkeit zu entfalten, oder sind diese Voraussetzungen nicht 25
26 27
GS I, 109. GS 1,110. Ebd.
6.5 Zwischenergebnis
81
vielmehr erst durch einen sozial und kulturell engagierten Staat gegeben? Wie vermögen Individuen, deren Sorge um die Erfüllung der elementaren Lebensbedürfnisse ihre ganze Kraft erfordert, jene Mannigfaltigkeit der Situationen erfahren, die nach Humboldt für die Bildung des Individuums erforderlich wäre? All diese Fragen finden in Humboldts Überlegungen kaum oder nur eine ungenügende Antwort. Hingegen positiv hervorzuheben ist, wenn er vom Staat verlangt, daß sich seine Wirksamkeit am Menschen, als einem individuellen Freiheitswesen, zu orientieren hat. Es kann als Verdienst des Liberalismus angesehen werden, den Anspruch auf Persönlichkeitsentfaltung, die dem Menschen aufgrund seiner Freiheit von Natur aus zukommt, politisch verankert zu haben. Was in unseren modernen Demokratien Hauptbestandteil der Rechtsordnung bildet, nämlich die Grundrechte und Grundfreiheiten, ist weitgehend dem von der Aufklärung beeinflußten Liberalismus zuzuschreiben, was aber noch keineswegs bedeutet, daß der Liberalismus auf allen Gebieten gutzuheißen ist. Ebensowenig ist es aber gerechtfertigt, Humboldt vorzuwerfen, daß er einen aristokratischen Individualismus und Humanismus vertritt 28 , denn es gibt für ihn in bezug auf Freiheit keine dazu berufenen elitären Schichten, die über die Masse erhaben sind, sondern jeder ist zur Freiheit fähig. 29 "Keiner steht auf einer so niedrigen Stufe der Kultur, daß er zu Erreichung einer höheren unfähig wäre. "30 Damit setzt sich Humboldt mit größtem Nachdruck für die völlige Gleichstellung aller Individuen ein, ohne jedoch ihre individuelle Eigenart unberücksichtigt zu lassen. Mit der Feststellung, daß jedem Menschen von Natur aus die Freiheit zusteht, seine Persönlichkeit zu entfalten, und dieser Freiheitsanspruch nur an der Verwirklichung der Freiheit der Mitmenschen seine Grenze findet, ist auch die Legitimitätsfrage der staatlichen Wirksamkeit und Macht bereits vorentschieden. Alle staatlichen Initiativen und Maßnahmen lassen sich nur dadurch rechtfertigen, daß sie dem Volk, der Gesamtheit aller Bürger (Individuen) unter der Wahrung ihrer Freiheitsrechte zugute kommen. Selbst eine Diktatur sichert ihre Überlebenschancen nur dadurch, daß sie zumindest vorgibt, in diesem Sinne zu wirken. Überall dort, wo die Rückkoppelung staatlicher Macht an die Entfaltung der Individuen fehlt, entfremdet sich der Staat dem Bürger. Vermassung und Unterdrückung des Individuums sind die logischen Folgen. 28 Vgl. Haym (s. Anm. 19) 62. Ebenso: E. Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee. Berlin 21928, 16. 29 Vgl. John Lekschas, Zur Staatslehre Wilhelm von Humboldts Reflexionen über seine Schrift: "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR Gesellschaftswissenschaften Nr. 8/G). Berlin 1980, 7. 30 GS I, 162. 6 Battisti
82
6 Grundbedingungen staatlicher Wirksamkeit
Humboldt anerkennt die Notwendigkeit des Staates, doch als Notwendigkeit untersteht der Staat selbst dem Gesetz der Notwendigkeit, d. h. seine Aktionen dürfen sich nur im Rahmen des Notwendigen bewegen, er darf und soll nur wirksam werden, insofern es für die Individuen notwendig ist. In der Bestimmung des für das Individuum Notwendigen zeigt sich jedoch eine der größten Schwierigkeiten in Humboldts Theorie, denn was für den einen Menschen eine notwendige Bedingung für seine Selbstverwirklichung bedeutet, mag für den anderen eine Belastung darstellen. Es wird noch zu prüfen sein, inwiefern es nicht doch wenigstens formale Bestimmungen des für den Menschen Notwendigen gibt, die für jedermann gültig und somit auch für die Praxis bedeutsam sind. Des weiteren übersieht Humboldt, daß sich als Konsequenz aus der Anerkennung der Notwendigkeit des Staates ein notwendiges Engagement der Bürger (Individuen) für den Staat ergibt. Der Staat kann aus sich selbst nicht existieren; er ist kein abstraktes Subjekt, wie Humboldt meint, sondern er existiert nur, sofern es Bürger gibt, die auf vielfältigste Weise im und für den Staat handeln. Aber auch jedes einzelne Individuum trägt mit seiner subjektiven Werthaltung, und sofern es sich engagiert, zum objektiven Wertbewußtsein im Staate bei, das als Inhalt von Normen und Gesetzen seinen Ausdruck findet. Der Staat schafft die sittlichen Grundhaltungen nicht, sondern er findet sie vielmehr in den einzelnen Individuen wie in der Gesellschaft vor und knüpft in seinem Handeln dort an. Doch je mehr sich das Individuum seiner politischen Aufgabe und Verantwortung entzieht, desto mehr tritt an seine Stelle eine Außenlenkung in Form von Zwang und Reglementierung. 31 Es gilt deshalb nicht Freiheit vom Staat, sondern Freiheit im Staat zu fordern. Die Notwendigkeit des Staates impliziert seine Anerkennung, damit ist er mehr l;lls nur ein Mittel zu beliebigen Zwecken, sondern Bedingung der Möglichkeit zur Entfaltung des Individuums. Da der Staat für die Erfüllung dieser Bedingung seinerseits wiederum auf die Aktivitäten der Bürger angewiesen ist, besteht ein Verhältnis gegenseitiger Rechte und Pflichten, das den Staat mit seinen Bürgern verbindet. Individuum und Staat sind aufeinander angewiesen, keiner kann aus diesem wechselseitigen Bedingungsverhältnis aussteigen, ohne dem anderen zu schaden. Damit ist aber eine ethische Dimension angesprochen, die auf Pflicht und Verantwortung beruht, und es hängt nicht zuletzt vom Gelingen dieser gegenseitigen Beziehung ab, wieweit sich das Individuum in Kommunikation mit seinen Mitmenschen sittlich zu bestimmen vermag. Wenn jedoch Humboldt in seiner Bildungstheorie nur die je eigene Bildung der Individuen anstrebt, ohne dadurch den Mitmenschen dienlich zu werden, so verkennt er nicht nur die Bedeutung 31 Vg. Helmut Schmidt, Ethos und Recht in Staat und Gesellschaft, in: Grundwerte in Staat und Gesellschaft. Hrsg. v. G. Gorschenek (Beck'sche Schwarze Reihe 156). München 1977, 16.
6.5 Zwischenergebnis
83
mitmenschlichen Zusammenlebens, das auf Solidarität und gegenseitiger Hilfe beruht, sondern auch den Sinn menschlichen Daseins schlechthin. Denn wozu bildet sich das menschliche Individuum letztlich - um als selbstherrliche Monade zu vereinsamen? Mit den Aussagen Humboldts läßt sich darauf keine zufriedenstellende Antwort geben.
6'
7 Kritik am Wohlfahrtsstaat 7.1 Wohlfahrt verursacht "Einförmigkeit" Es gibt kaum ein Gebiet, auf dem Humboldt binnen kurzer Zeit einen ähnlichen extremen Gesinnungswandel vollzog wie in seiner Einstellung gegenüber dem Wohlfahrtsstat. In Konfrontation mit dem Elend der Findelkinder im "Hotel des enfants trouves" anläßlich seines Parisaufenthaltes im Sommer 1789 schreibt er in sein Tagebuch: "Alle Laster entspringen beinah aus dem Mißverhältnis der Armut gegen den Reichtum. In einem Lande, worin durchaus ein allgemeiner Wohlstand herrschte, würde es wenig oder gar keine Verbrechen geben. Darum ist kein Teil der Staatsverwaltung so wichtig als der, welcher für die physischen Bedürfnisse der Untertanen sorgt." 1 Diese Auffassung entspricht noch ganz der Doktrin seines Jugendund Privatlehrers Klein, bei dem Humboldt Vorlesungen über das Naturrecht und speziell auch über den Staat hörte. Klein vertritt die Ansicht, daß die Frage nach der Sicherheit und dem Wohl der Bürger voneinander nicht zu trennen ist "und daß fast immer, wenn das eine befördert wird, auch zugleich das andre gewinnt"2. Wie weit sich Humboldt von dieser Anschauung entfernt hat, zeigt sich bereits zwei Jahre später in seiner ersten politischen Schrift: "Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Constitution veranlaßt" , wo er den Wohlfahrtsstaat als "ärgsten und drückendsten Despotismus" verurteilt, weil er die Mittel der Unterdrückung "so versteckt, so verwickelt" anwendet und den Menschen dabei das Gefühl der Freiheit vermittelt, obwohl sie "an ihren edelsten Kräften gelähmt"3 werden. Und diese ablehnende Haltung gegenüber dem Wohlfahrtsprinzip wird ein weiteres Jahr später in seinen "Ideen" zum folgenden Grundsatz formuliert: "Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist. "4 Wie kommt es nun zu diesem Gesinnungswandel im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen? Es besteht kein Zweifel, daß Humboldt den Wunsch des Menschen nach sozialem Wohlbefinden oder, wie er es nennt, "positiven Wohlstand der Bür1 2
3 4
GS GS GS GS
XIV, 129. VII, 479. I, 83. I, 129.
7.1 Wohlfahrt verursacht "Einförmigkeit"
85
ger", anerkennt; was er in Frage stellt, ist nur, ob der Staat dies auch bewirken kann, ohne dabei die Persönlichkeits entfaltung des einzelnen zu beeinträchtigen. Seine Überlegungen zielen darauf hin, daß sich der positive Wohlstand der Bürger von selbst einstellt, wenn der Staat nur für deren Sicherheit sorgt, d. h. jene Voraussetzungen schafft, die den Individuen ungestört von äußeren Einflüssen ihre Entfaltung ermöglichen. So schreibt er in einem Brief an Forster: "Wenn also die Staatskunst sich meistens dahin beschränkt, volkreiche, wohlhabende, wie man zu sagen pflegt, blühende Länder hervorzubringen, so muß ihr die reine Theorie laut zurufen, daß freilich diese Dinge sehr schön und wünschenswert sind, daß sie aber von selbst entstehen, wenn man die Kraft und Energie der Menschen, und zwar durch Freiheit erhöht, da hingegen, wenn man sie unmittelbar hervorbringen will, gerade das leiden kann, um dessen willen sie selbst nur wünschenswert sind, indem wenigstens in vielen Fällen ein Land freilich schneller bevölkert, wohlhabend, ja sogar in gewissem Grade aufgeklärt werden kann, wenn die Regierung alles selbst tut, den Bürgern das von ihr anerkannte Gute aufdringt, als wenn sie dieselben den freilich langsameren aber auch sicheren Weg der eigenen Ausbildung gehen läßt ... Ging ich einmal von diesem Gesichtspunkte aus, so konnte ich nicht leicht auf etwas anders als auf die Notwendigkeit der Begünstigung der höchsten Freiheit und der Entstehung der mannigfaltigsten Situationen für den Menschen kommen, und so schien mir die vorteilhafteste Lage für den Bürger im Staat die, in welcher er zwar durch so viele Bande als möglich mit seinen Mitbürgern verschlungen, aber durch so wenige als möglich von der Regierung gefesselt wäre. "5 Das heißt, einerseits kommt auch Humboldt - trotz aller Neigung zum Individualismus - an der Anerkennung der Tatsache nicht vorbei, daß der einzelne nur mit Hilfe der Mitmenschen seine Anlagen und Fähigkeiten zur Entfaltung bringen kann. Andererseits aber weist er dem Staat keineswegs diese subsidiäre Funktion zu, sondern sieht sie entweder in selbstgewählten, mitmenschlichen Verbindungen gegeben oder, wie sich noch zeigen wird, in den "Nationalanstalten". Sein Mißtrauen gegen den damals absolutistischen Staat, der durch Zensur und Edikte die Meinungsfreiheit seiner Untertanen einschränkte, war anscheinend zu groß, als daß er ihm außer der Sorge für die Sicherheit der Bürger noch andere Funktionen zugebilligt hätte. Es sind aber auch noch andere Argumente, die Humboldt gegen einen Staat, der sich um das positive Wohl seiner Bürger kümmert, anführt; zum Teil sind sie berechtigt und zeigen auch die Kritisierbarkeit des Wohlfahrtsstaates auf, zum Teil sind sie unberechtigt, weil ihnen ein falscher Ansatz zugrunde liegt. So beginnt Humboldt das dritte Kapitel seiner "Ideen" mit der Feststellung, daß der Zweck des Staates ein doppelter sein kann: "Er kann Glück 5
GW I, 297f.
7 Kritik am Wohlfahrtsstaat
86
befördern oder nur Übel verhindern wollen, und im letzteren Fall Übel der Natur oder Übel der Menschen. "6 Ist aber diese Gegenüberstellung von "Glück befördern" und "Übel verhindern" überhaupt sinnvoll und richtig? Abgesehen davon, daß sich inhaltlich Glück kaum zufrieden stellend definieren läßt, weil die Glückserwartungen zwischen den einzelnen Individuen zu sehr variieren und Glück sich im besten Fall nur formal als Verwirklichung der eigenen Wünsche und Interessen bestimmen läßt, stellt sich die Frage, ob sich mit dem Verhindern von Übeln nicht bereits die Erfahrung von Glück einstellen kann. Die vielleicht im letzten Augenblick verhinderte Entlassung eines Arbeiters, der für eine Familie zu sorgen hat und vor dem Existenzminimum steht, kann sehr wohl Erfahrung von Glück bedeuten. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, eine erfolgreich durchgeführte Operation, die das Leben des Patienten rettet, mag ebensosehr als Glück empfunden werden, und zwar nicht nur vom Betroffenen selbst, sondern auch von dessen Angehörigen. Ähnliche Beispiele ließen sich auch auf dem politischen Bereich anführen. Humboldt allerdings schränkt die Wirksamkeit des Staates nur auf das Verhindern jener Übel ein, die durch die Menschen verursacht werden: allein dadurch soll Sicherheit und damit die Möglichkeit zur Persönlichkeits entfaltung gewährleistet sein. Auch hier stellt sich kritisch die Frage, ob der Begriff Sicherheit für die Bürger nicht mehr bedeutet als nur ein Verhindern möglicher Angriffe auf ihre Person und ein legitimer Anspruch auf die Persönlichkeits entfaltung oder ob dazu nicht auch Präventivmaßnahmen vor sozialen und wirtschaftlichen Unglücksfällen gehören, die für die proportionierlichste Ausbildung der Kräfte des Individuums zu einem Ganzen genauso wichtig sind wie das Vermeiden von Übeln durch andere. Diesen Aspekt scheint Humboldt zu wenig bedacht zu haben oder aufgrund seiner gutsituierten Position auch nicht berücksichtigt haben zu müssen. So gilt seine Zustimmung allein der "Sorgfalt des Staats für das negative Wohl der Bürger, für ihre Sicherheit"7, die er gegen einen Wohlfahrtsstaat abzugrenzen versucht, den er folgend charakterisiert: "Ich rede ... von dem ganzen Bemühen des Staats, den positiven Wohlstand der Nation zu erhöhen, von aller Sorgfalt für die Bevölkerung des Landes, den Unterhalt der Einwohner, teils geradezu durch Armenanstalten, teils mittelbar durch Beförderung des Ackerbaues, der Industrie und des Handels, von allen Finanz- und Münzoperationen, Ein- und Ausfuhrverboten usf .... endlich allen Veranstaltungen zur Verhütung oder Herstellung von Beschädigungen durch die Natur, kurz von jeder Einrichtung des Staats, welche das physische Wohl der Nation zu erhalten oder zu befördern die Absicht hat. "8 6
7 B
GS I, 11l. GSI, 247. GS I, 112f.
7.2 Entfremdung und Passivität
87
All diese Einrichtungen haben nach Humboldt nachteilige Folgen, weil sie zu "Einförmigkeiten" im Denken und Handeln der Nation führen und somit einer individuellen Entfaltung des Menschen entgegenwirken. "Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen. Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte. "9 Das mag zwar in der Absicht der Staaten liegen, die Wohlstand und Ruhe wollen, kann aber nicht die Intention der Individuen sein, die auf "Mannigfaltigkeit und Tätigkeit" ausgerichtet ist. "Nur dies gibt vielseitige und kraftvolle Charaktere, und gewiß ist noch kein Mensch tief genug gesunken, um für sich selbst Wohlstand und Glück der Größe vorzuziehen. Wer aber für andre so räsoniert, den hat man, und nicht mit Unrecht, in Verdacht, daß er die Menschheit mißkennt und aus Menschen Maschinen machen will. "10 7.2 Entfremdung und Passivität
Als weiteres Argument gegen den Wohlfahrtsstaat führt Humboldt an, daß ein soziales Engagement des Staates für die Bürger deren Kraft schwächt, denn der Verstand des Menschen wie jede andere Fähigkeit werden nur durch eigene Tätigkeit gebildet. So hält der Mensch auch weniger das für sein, was er nur passiv besitzt, "als was er tut, und der Arbeiter, welcher einen Garten bestellt, ist vielleicht in einem wahreren Sinne Eigentümer als der müßige SchweIger, der ihn genießt"ll. Kommt der Staat seinen Bürgern in der Bewältigung ihrer Lebensaufgaben zu sehr entgegen, so gewöhnen sie sich daran und werden künftig nur noch auf "fremde Belehrung, fremde Leitung und fremde Hilfe"12 warten, als selbst einen Ausweg zu suchen. Das wirkt sich schließlich auch negativ auf den moralischen Charakter aus, denn "wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und genug zu tun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt"13. Damit gibt das Individuum nicht nur seine Selbstbestimmung auf, indem es andere über seine Lebensgestaltung verfügen läßt, sondern, was noch gravierender ist, es verliert auch jegliches Gefühl für Verdienst, Schuld und Verantwortung, da es sich ja einem anderen überantwortet. Sofern das Individuum aber erkennt, daß staatliche Wirksamkeit nicht nur in reinster Gesinnung für den Bürger geschieht, sondern der Staat damit auch eigennützige Zwecke verfolgt, fühlt es sich nicht nur von jeder Pflicht frei, die der GS 1,113. GS I, 113f. 11 GS 1,114. 12 Ebd. 13 GS I, 115.
9
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7 Kritik am Wohlfahrtsstaat
Staat nicht ausdrücklich auferlegt, sondern es versucht, den Gesetzen des Staates soviel es "vermag zu entgehen und hält jedes Entwischen für Gewinn" 14. Dieses träge und verantwortungslose Verhalten, zu dem nach Humboldt der Mensch in einem Wohlfahrtsstaat erzogen wird, zeigt seine negativen Auswirkungen auch in der Beziehung zum Mitmenschen. "Wie jeder sich selbst auf die sorgende Hilfe des Staats verläßt, so und noch weit mehr übergibt er ihr das Schicksal seines Mitbürgers. Dies aber schwächt die Teilnahme und macht zur gegenseitigen Hilfsleistung träger. "15 Hingegen, wo der Staat sich der Sorge für das positive Wohl der Bürger entzieht und die Verantwortung auf dem einzelnen beruht, da wächst auch die gemeinschaftliche Hilfe füreinander, "und die Erfahrung zeigt auch, daß gedrückte, gleichsam von der Regierung verlassene Teile eines Volks immer doppelt fest untereinander verbunden sind. Wo aber der Bürger kälter ist gegen den Bürger, da ist es auch der Gatte gegen den Gatten, der Hausvater gegen die Familie. "16 Mag sein, meint Humboldt, daß der Mensch ohne fremde Hilfe, derer er bedarf, die er aber nicht gewährt bekommt, oft in Unglück und Not gerät. Geschieht dies aber nicht auch in Staaten, in denen die Selbsttätigkeit der Individuen durch "spezielles Einwirken" verhindert wird? Es trifft die an fremde Hilfe gewohnten Menschen noch viel härter und überläßt sie einem weit trostloseren Schicksal. "Denn so wie Ringen und tätige Arbeit das Unglück erleichtern, so und in zehnfach höherem Grade erschwert es hoffnungslose, vielleicht getäuschte Erwartung. Selbst den besten Fall angenommen, gleichen die Staaten, von denen ich hier rede, nur zu oft den Ärzten, welche die Krankheit nähren und den Tod entfernen. Ehe es Ärzte gab, kannte man nur Gesundheit oder Tod."17 Mit dieser für den damaligen wie heutigen Leser äußerst befremdenden Aussage widerspricht sich Humboldt nicht nur selbst, wenn er zuvor "Teilnahme zur gegenseitigen Hilfeleistung" fordert und diese in einem sozial engagierten Staat gefährdet sieht, sondern er verkennt damit auch weitgehend die Struktur wie das Ziel individueller und gesellschaftlicher Lebensgestaltung. Sein ständig wiederholtes Postulat nach Erhöhung der Kraft und Energie im Menschen verliert immer mehr an Realitätsbezug, weil er sich weigert, jene Voraussetzungen mitzudenken, die individuelle Entfaltung erst ermöglichen. So hängt die Verwirklichung des Individuums doch zumeist von der Zusicherung eines Existenzminimums (wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Grundbedingungen) ab. Selbst in seiner radikalen 14
GS 1,116.
15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd.
7.2 Entfremdung und Passivität
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Gegenüberstellung von Gesundheit und Tod vergißt er, daß Gesundheit kein voraussetzungsloses, sondern von bestimmten Bedingungen abhängiges und jederzeit gefährdetes Gut ist, das - um ihm Beständigkeit zu verleihen mehr bedarf als nur der Eigeninitiative des Individuums oder der Hilfe eines Freundeskreises und auch nicht durch staatliche Initiative allein im Hinblick auf die Sicherheit der Bürger gewährleistet werden kann. So übersteigen z. B. Arbeitsplatzregelung, Maßnahmen für humane Arbeitsbedingungen, Anspruch auf Erholungsurlaub usw. bei weitem die Sorgfalt des Staates für die Sicherheit seiner Bürger, und doch erweisen sich all diese gesetzlichen Regelungen von großer Bedeutung für die Entfaltung des Individuums. Ferner ist darauf hinzuweisen, daß allein schon der Sicherheit wegen vieles überwacht und geplant werden muß, was unmittelbar mit Sicherheit nichts zu tun hat. "Zu umfangreich sind die Gebiete des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens geworden, als daß sie dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden könnten. "18 Sofern Humboldt jedem Menschen die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen zubilligt, muß er davon ausgehen, daß nicht jeder schon alle Voraussetzungen vorfindet, die außer Sicherheit und Mannigfaltigkeit der Situationen nichts mehr zu wünschen übriglassen. Würde und Freiheit des Menschen sind erst recht gefährdet, wo der Mensch in Notlagen gerät, die er aus eigenen Kräften nicht mehr zu bewältigen vermag. Und es liegt auf der Hand, daß in solchen Situationen das Individuum entweder zum Scheitern verurteilt oder Mächtigeren ausgeliefert ist und in Abhängigkeit gerät; in beiden Fällen jedoch bleibt Humboldts Ziel einer Verwirklichung und Aktualisierung der im Individuum angelegten Fähigkeiten und Energien schon vom Ansatz her unerreichbar. Die Struktur unserer Gesellschaft, geprägt von der Kleinfamilie, hat den Menschen aus vielen Bindungen gelöst, die er einerseits belastend und freiheitseinengend empfunden haben mag, die ihm andererseits aber auch Schutz gegen mancherlei Risiken gewährten, wenn er z. B. als kranker oder alter Mensch im Familienverband betreut wurde. Sich selbst überlassen, vermag das Individuum seine Emanzipation nur dann positiv zu erfahren, wenn es rechtliche und soziale Institutionen gibt, die ihm auch soziale Sicherheit gewähren und somit verhindern, daß die neuerworbene Freiheit zu einer Furcht vor der Freiheit wird. Humboldts Kritik betrifft - nach unserer Meinung - weniger den Wohlfahrtsstaat als den Versorgungsstaat, der als Preis für die Totalversorgung seiner Bürger den Anspruch auf eine Generalvormundschaft erhebt. Nur für einen solchen Staat könnte man seinen Vorwurf gelten lassen: "Wer ... für andre so räsoniert, den hat man, und nicht mit Unrecht, in Verdacht, daß 18 Freiheit und Gebundenheit. Eine Auswahl aus den philosophischen Schriften von Wilhelm von Humboldt. Klagenfurt 1947, 74.
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7 Kritik am Wohlfahrtsstaat
er ... aus Menschen Maschinen machen Will"19, die dann so funktionieren, wie sie programmiert sind. Diesbezüglich ist Humboldt zuzustimmen, wenn er für ein Minimum an Staatlichkeit eintritt und verlangt, all jene Aufgaben an die Bürger zu delegieren, die von diesen selbst in Eigenverantwortung übernommen werden können. Denn "was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit"20. 7.3 Gesinnung und Zweck
Ein Hauptanliegen Humboldts besteht darin, daß der äußere Zweck, den der Mensch in seinem Handeln verfolgt, seinem inneren Wesen (seinen Anlagen) zu entsprechen hat, daß ihm dieser also nicht von außen aufgezwungen werden darf, sondern seinen eigenen Vorstellungen, Wünschen und Empfindungen entspringen muß. "Der Gewinn, welchen der Mensch an Größe und Schönheit einerntet, wenn er unaufhörlich dahin strebt, daß sein inneres Dasein immer den ersten Platz behaupte, daß es immer der erste Quell und das letzte Ziel alles Wirkens und alles Körperliche und Äußere nur Hülle und Werkzeug desselben sei, ist unabsehlich. "21 Heißt das nun, daß Humboldt vom äußeren Erfolg (Resultat) einer Handlung absieht und sie nur nach der Gesinnung bewertet - in der Kontroverse zwischen Erfolgsethik und Gesinnungsethik sich also für die letztere entscheidet? Dies ist zu verneinen, vor allem, wenn man Gesinnungsethik im Sinne Kants versteht, der allein den guten Willen als Bestimmungsgrund einer sittlichen Handlung anerkennt. Humboldt hingegen verfolgt mit seiner Theorie einen bestimmten Zweck, nämlich die proportionierlichste Bildung der menschlichen Kräfte zu einem Ganzen. Und diese Theorie findet nur dann ihre Bestätigung, wenn der äußere Zweck des Handeins mit den natürlichen Anlagen und Fähigkeiten des Individuums harmoniert. Ist aber eine diesbezügliche Entsprechung gegeben, so vermag nach Humboldt "jede Beschäftigung ... den Menschen zu adeln. Nur auf die Art, wie sie betrieben wird, kommt es an"22. Der interessante Mensch ist in allen Lagen und allen Geschäften interessant. 23 In diesem Zusammenhang kritisiert Humboldt abermals die von ihm so hochgeschätzten Griechen, weil sie nicht jeder menschlichen Beschäftigung ihren je eigenen Wert zuerkannten, so vor allem nicht der körperlichen Arbeit, die sie z. B. von den Sklaven ausführen ließen. Seiner Ansicht nach könnten sich "vielleicht aus allen Bauern und Handwerkern 19 20
21 22 23
Vgl. Anm. 10. GS I, 118. GS 1,117. GS I, 118. Vgl. GS I, 11 7 .
7.4 "Nationalanstalten" statt Staatseinrichtungen
91
Künstler bilden, d. h. Menschen, die ihr Gewerbe um ihres Gewerbes willen liebten, durch eigengelenkte Kraft und eigne Empfindsamkeit verbesserten und dadurch ihre intellektuellen Kräfte kultivierten, ihren Charakter veredelten, ihre Genüsse erhöhten. So würde die Menschheit durch eben die Dinge geadelt, die jetzt, wie schön sie auch an sich sind, so oft dazu dienen, sie zu entehren. "24 Denn entehrende Handlungsweisen liegen nach Humboldt nur dort vor, wo die eigensten Interessen, Empfindungen und Ideen des Individuums unberücksichtigt bleiben oder diesen sogar widersprechen. Deshalb keine planmäßige Lenkung von außen, schon gar nicht, "wo der wahre Zweck des Menschen völlig moralisch oder intellektuell ist"25; und Humboldt führt als Beispiel dafür die Ehe an, deren Gestaltung ebenso mannigfaltig ist wie die Charaktere der Individuen. Es muß deshalb die nachteiligsten Folgen haben, "wenn der Staat eine mit der jedesmaligen Beschaffenheit der Individuen so eng verschwisterte Verbindung durch Gesetze zu bestimmen oder durch seine Einrichtungen von andren Dingen als von der bloßen Neigung abhängig zu machen versucht"26. Damit wendet sich Humboldt nicht gegen eine gesetzliche Institutionalisierung der Ehe, sondern gegen jene zahlreichen Maßnahmen seiner Zeit, in denen die Ehe zwangsmäßig geregelt wurde, sei es durch Einholung der Erlaubnis beim Gutsherrn oder durch Förderung der Eheschließung aus wirtschaftlichen Interessen. 7.4 "Nationalanstalten" statt Staatseinrichtungen
Zu all den aufgezählten Gründen, die Humboldt gegen das Wohlfahrtsprinzip anführt: Einförmigkeit im Denken und Handeln des Individuums, Mangel an Gefühl für gegenseitige Teilnahme und Hilfeleistung, Schwächung der Kraft der Nation, Entfremdung des Menschen durch Lenkung von außen usf. kommt noch hinzu, daß durch die Fülle von Aufgaben, die der Staat übernimmt, sein Verwaltungsapparat unnötig aufgebläht wird zum Nachteil des eigentlichen Zwecks, dem die Staatseinrichtung zu dienen hat, nämlich der Selbstverwirklichung des Individuums. Die Sorgfalt für das rein äußere, physische Wohl der Bürger erfordert eine Menge von Mitteln, die der Erreichung des eigentlichen Zwecks, der Entfaltung des Individuums, entzogen werden. So "nimmt in den meisten Staaten von Jahrzehnt zu Jahrzehnt das Personal der Staatsdiener und der Umfang der Registraturen zu und die Freiheit der Untertanen ab"27. Humboldt kritisiert in diesem Zusammenhang - sicher auch aus eigener Erfah24 25 26 27
GS GS GS GS
I, I, I, I,
117. 119. 121. 125.
7 Kritik am Wohlfahrtsstaat
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rung während seiner Dienstzeit am Berliner Kammergericht - sowohl die völlig mechanische Abwicklung der Bürokratie, welche die Menschen der Sache wegen und "die Kräfte um der Resultate willen vernachlässigt" 28, als auch deren geisttötende Arbeit. Damit scheint die Beurteilung des Beamtenstandes von seiner früheren Aussage, daß jede Beschäftigung den Menschen zu adeln vermag, ausgeklammert zu sein. Da aber Humboldt außer dem Beruf eines Beamten keinen anderen jemals zuvor ausübte und diesen auch nur ein Jahr, ist anzunehmen, daß seine Kritik nicht nur auf die Tätigkeit der Beamten eingeschränkt geblieben wäre, hätte er noch andere Berufe aus eigener Erfahrung gekannt. Wie fremd Humboldt oft der Wirklichkeit gegenübersteht, zeigt z. B. sein idyllisches Bild von der Landarbeit: "Die Arbeit, welche es [das Volk] dem Boden widmet, und die Ernte, womit derselbe es wieder belohnt, fesseln es süß an seinen Acker und seinen Herd; Teilnahme der segenvollen Mühe und gemeinschaftlicher Genuß des Gewonnenen schlingen ein liebevolles Band um jede Familie, von dem selbst der mitarbeitende Stier nicht ganz ausgeschlossen wird. Die Frucht, die gesät und geerntet werden muß, aber alljährlich wiederkehrt und nur selten die Hoffnung täuscht, macht geduldig, vertrauend und sparsam. "29 Es ist immer wieder dasselbe Grundanliegen Humboldts, das in all seinen Ausführungen durchschimmert, nämlich die Sorge um die Verwirklichung und Ausbildung der im Individuum innewohnenden Kraft und Energie. Sie allein vermag dem Menschen ein würdiges und glückliches Dasein zu verschaffen, denn "das Glück, zu welchem der Mensch bestimmt ist, ist auch kein andres, als welches seine Kraft ihm verschafft" 30. "Der Mensch genießt am meisten in den Momenten, in welchen er sich in dem höchsten Grade seiner Kraft und seiner Einheit fühlt. "31 Deshalb sind alle Maßnahmen abzuwehren, welche die eigene, innewohnende Kraft des Individuums an ihrer Aktualisierung hindern. Humboldt ist aber auch Realist genug, um zu erkennen, daß der einzelne nicht in allen Belangen auf sich allein gestellt bleiben kann. Mag auch sein oberster Grundsatz lauten, auf keine andere Hilfe zu vertrauen als auf die, welche ihm die eigene Kraft verschafft, so verlangt die Abwehr von Naturkatastrophen (Hungersnot, Überschwemmungen u. dgl.) doch ein gemeinsames Handeln und eine "Einheit der Anordnung"; allerdings sollen mit diesen Aufgaben nicht der Staat, sondern die "Nationalanstalten" betraut werden. Nationalanstalten oder Nationalvereine, wie sie Humboldt auch nennt, haben gegenüber Staatseinrichtungen den Vorteil, daß sie der Initiative der 28 29
30
31
GS 1,126. GS I, 11 7 f. GS I, 116. GS 1,126.
7.4 "Nationalanstalten" statt Staatseinrichtungen
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Individuen entspringen und somit den einzelnen im Sinne seiner Selbstverwirklichung tätig werden lassen. Auch vermag in den von den Individuen selbstgewählten und nur für bestimmte Zwecke gebildeten Nationalvereinen der einzelne eher seinen Willen zu bekunden und seine schöpferischen Fähigkeiten zu verwirklichen, als in den dem Individuum entfremdeten Staatseinrichtungen, wo nach dem Mehrheitsprinzip entschieden wird. Da die Kompetenz der Nationalvereine allein durch den Vertragszweck definiert ist, können sie auch niemals jene Macht ausüben wie der Staat; es gibt kein über den Vertragszweck hinausgreifendes Gewaltmonopol. Jeder hat die Möglichkeit, aus dem Nationalverein auszutreten und den Zweck der Handlung auf andere Weise zu erlangen. Und Humboldt meint, gerade "das freie Wirken der Nation untereinander ist es eigentlich, welches alle Güter bewahrt, deren Sehnsucht die Menschen in eine Gesellschaft führt. Die eigentliche Staatsverfassung ist diesem, als ihrem Zwecke, untergeordnet und wird immer nur als ein notwendiges Mittel und, da sie allemal mit Einschränkungen der Freiheit verbunden ist, als ein notwendiges Übel gewählt "32. Um dieses Übel aber in Grenzen zu halten, plädiert Humboldt - als Alternative zu festgefahrenen und den einzelnen bevormundenden staatlichen Einrichtungen - für Nationalvereine, in denen sich die Individuen zur Erreichung positiver Zwecke in Freiheit zusammenfinden. Das heißt, Humboldt anerkennt sehr wohl den Wert mitmenschlichen Zusammenwirkens, aber es geht ihm dabei nicht um die Verwirklichung des Mitmenschen, sondern um sich selbst als handelndes Wesen in der Totalität der eigenen Kraft zu erfahren; und gerade das werde dem Menschen im Wohlfahrtsstaat vorenthalten. Der BegriffJ'\ration in der Zusammensetzung von Nationalanstalt und Nationalverein wird von Humboldt wertneutral verwendet. Von nationaler Gesinnung oder nationalem Zusammengehörigkeitsgefühl kann in seinen Nationalanstalten noch nicht die Rede sein; sie sind als reine Zweckverbände zu verstehen, denen weder Festigkeit noch Dauer zukommt. Die Mitglieder besitzen jederzeit das Recht auszutreten. Auch hält Humboldt es für besser, "wenn bei einzelnen Veranlassungen einzelne Verbindungen eingegangen, als allgemeinere für unbestimmte künftige Fälle geschlossen werden"33, denn in einer großen Verbindung wird der Mensch leicht als Mittel mißbraucht. Da der Staat, um seinen Bürgern Sicherheit zu gewähren, absoluter Gewalt bedarf, besteht die Gefahr, daß er sein für die Sicherheit erforderliches Gewaltmonopol auch auf Bereiche ausdehnt, die mit Sicherheit nichts mehr zu tun haben. Deshalb soll die Wirksamkeit des Staates so weit wie möglich durch verstärkte und vervielfachte Privatinitiativen ersetzt werden. Der Staat begnüge sich, nur die Voraussetzungen zu schaffen, 32 33
GS I, 236. GS I, 132.
7 Kritik am Wohlfahrtsstaat
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durch die sich das Individuum selbsttätigend und in Selbstverantwortung zu bilden vermag. Das sind zweifelsohne - auch im Sinne des Subsidiaritätsprinzips - wertvolle Grundsätze, mit denen Humboldt die Eigenständigkeit des Individuums gegen eine staatliche Übermacht zu schützen und abzugrenzen versucht, z. B. "das Prinzip der Freiheit gegenüber der Praxis des Absolutismus, der Gedanke der Selbstregierung gegenüber dem System bürokratischer und polizeilicher Bevormundung, Volkstätigkeit statt Fürsten- und Beamtentätigkeit, Regierung von unten statt Regierung von oben, das Recht freier Assoziation statt der omnipotenten Einmischung und Alleintätigkeit des Staates"34. Lassen sich aber diese Forderungen nur dadurch erreichen, daß man den Staat in Defensive drängt, ihm jegliche Kompetenz außer in Fragen für die Sicherheit der Bürger abspricht? Mag sein, daß für Humboldt, aufgrund der damaligen Situation, in der er sich befand - einerseits in Konfrontation mit einem absolutistischen Staatssystem, das dem einzelnen nur sehr wenig Eigeninitiative gestattete, andererseits gewarnt durch die negativen Folgen eines revolutionären Umsturzes, der Französischen Revolution, die er selbst miterlebte -, kein anderer Ausweg übrigblieb, als die Wirksamkeit des Staates auf ein Minimum einzuschränken. Wer aber glaubt, nur auf diese Weise dem wahren Zweck des Menschen, der höchsten und proportionierlichsten Bildung seiner Kräfte, gerecht zu werden, irrt. Allein aus Sorge um die Sicherheit seiner Bürger hat der Staat mehr zu leisten, als Humboldt ihm zubilligt und erst recht, wenn die Entfaltung eines jeden Individuums gewährleistet werden soll.
34
56.
R. Haym, Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik. Berlin 1856,
8 Zweck der Staatseinrichtung 8.1 Naturrechtliche Bestimmung
Entgegen dem Prinzip des Machiavellismus, nach dem die Selbstbehauptung des Staates keiner Rechtfertigung bedarf, weil die Erhaltung des Staates selbst höchster Zweck allen politischen HandeIns ist, gehen die Vertreter der Aufklärung von einem vorstaatlichen Rechtsanspruch des Individuums aus, den der Staat zu respektieren und zu schützen hat. Mit dem Gesellschaftsvertrag (der Staatenbildung) endet zwar der vorstaatliche Naturzustand des Menschen, aber nicht sein Rechtsanspruch. Selbst Th. Hobbes' "Leviathan", an den der einzelne seine natürlichen Rechte abgetreten hat, um dafür Frieden und Sicherheit zu erhalten, bleibt seiner inhaltlichen Bestimmung nach an das Interesse der Bürger gebunden. Der Urheber des staatlichen Willens ist das Volk, das den Staat bevollmächtigt hat, an seiner Stelle zu handeln; die Verpflichtung der Bürger den staatlichen Gesetzen gegenüber dauert nur so lange, als der Staat imstande ist, die gegen den bedrohenden Kampf aller gegen alle erforderliche Sicherheit zu gewähren. Während aber Hobbes doch aufgrund seiner negativen Auffassung von der menschlichen Natur für eine absolute Staatsgewalt eintritt, versuchen die liberalen Staatstheoretiker J. Locke, J. J. Rousseau und in deren Gefolgschaft auch Humboldt, die Macht des Staates weitgehend einzuschränken. Für sie stellt sich nicht nur das Problem einer Verteidigung der vorstaatlichen Rechte gegenüber den Mitbürgern, sondern auch die Frage, wie sich der Bürger vor einem omnipotenten Staat schützen kann. Was den Staat überhaupt auf den Plan ruft, ist z. B. für Locke das Streben des Menschen nach verstärkter Sicherung des Eigentums. Das Individuum gewinnt als Eigentum das, was es durch seine Arbeit hervorbringt. Aus dem vor- und überstaatlichen naturrechtlichen Anspruch des Menschen auf freie Verfügung über sich selbst leitet Locke auch ein Verfügungsrecht über den Arbeitsertrag ab. Der Staat hat die Aufgabe, die Rechte und das Eigentum seiner Bürger zu schützen. Sobald der Staat aufhört, diese Rechte zu garantieren, verwirkt er seinen Gehorsamsanspruch. Die Staatsgewalt gründet im Willen des einzelnen, und der Zweck des Staates ist an deren gemeinsames Wohl gebunden. Auch für Rousseau ist der Souverän das Volk selbst; im "Contrat social" sollen alle bisher entstandenen Formen der Unfreiheit überwunden werden. Dies wird dadurch erreicht, daß alle Bürger am Zustandekommen der Gesetze beteiligt sind und diese nicht nur vom Willen einzelner (der Mächti-
8 Zweck der Staatseinrichtung
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gen) bestimmt werden. Es gilt jenen politischen Zustand zu finden, in dem die Freiheit des einzelnen mit der Freiheit aller anderen vereinbar ist; und Rousseau sieht dieses Ziel in einer "volonte generale" verwirklicht, die keine bloße Addition der partikularen Willens interessen der einzelnen ist, sondern "der einigende Wille einer mündig werdenden politischen Gemeinschaft, die ihre ,union' zum Ziel hat"!. Erst in diesem Gemeinwillen kommt die Idee des Gesellschaftsvertrages voll zur Geltung, weil er auf der freien Zustimmung des einzelnen beruht, der sich damit implizit bereit erklärt, als Teil des Ganzen im Sinne des Gemeinwohls zu handeln. Ähnlich wie Locke und Rousseau geht auch Humboldt von einem naturrechtlichen, aller positiven Gesetzgebung vorausliegenden Freiheitsanspruch des Menschen aus und macht diesen zum Bestimmungsgrund staatlicher Wirksamkeit. Der Zweck der Staatseinrichtungen wird dahingehend eingeschränkt, die Freiheit der Bürger zu sichern, d. h. sie vor der Willkür und Gewalt nach innen und außen zu schützen. Sicherheit gegen innere Zwistigkeiten und auswärtige Feinde ist eine notwendige Voraussetzung für die Selbstverwirklichung des Individuums, denn "ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden noch die Früchte derselben zu genießen"2. Da aber diese angestrebte Sicherheit "das einzige [ist], welches der einzelne Mensch mit seinen Kräften allein nicht zu erlangen vermag"3, bedarf es eines Staates. Humboldt sieht diese Forderung vor allem in der Geschichte des Altertums erfüllt, waren doch "in allen früheren Nationen die Könige nichts andres ... als Anführer im Kriege oder Richter im Frieden. Ich sage die Könige. Denn ... die Geschichte zeigt uns, wie sonderbar es auch scheint, gerade in der Epoche, wo dem Menschen ... das Gefühl seiner Freiheit das teuerste ist, nichts als Könige und Monarchien. So alle Staatsverfassungen Asiens, so die ältesten Griechenlands, Italiens und der freiheitsliebendsten Stämme, der Germanischen. "4 Es kann nur Humboldts euphorischer Begeisterung für das Altertum schlechthin zugeschrieben werden, wenn er sich dieses historische Fehlurteil leistet. Mag sich zwar bei den Griechen schon sehr früh ein rechtlichpolitisches Freiheitsbewußtsein entfaltet haben, so läßt sich dies ganz sicher nicht von den asiatischen Völkern behaupten. Eher ist diesbezüglich Hegel zuzustimmen, wenn er schreibt, die Orientalen wußten noch nicht, "daß der Geist oder der Mensch als solcher an sich frei ist", sie wußten nur, "daß Einer frei ist", der DespoP Auch in den politischen Verfassungen der ger1 2
K. Lenk, Staatsgewalt und Gesellschaftstheorie (UTB 978). München 1980, 60. W. v. Humboldt, GS I, 134. Mit der Frage, ob die Sicherheit der einzige Zweck des
Staates sei, setzte sich Humboldt, angeregt von seinem Lehrer Dohm, schon früher auseinander. Vgl. dazu die Tagebucheintragung vom 24. Juli 1789 (GS XIV, 90f.). 3 GS I, 134. 4 GS I, 134f.
8.2 "Sicherheit gegen auswärtige Feinde"
97
manischen Stämme (Gefolgschafts treue bis in den Tod) und ebenso in Italien, angefangen von den Verfassungen der Königszeit seit der Gründung Roms über die Gotenkönige bis zur Zeit der Nationalkönige im Mittelalter spielt das Gefühl der Freiheit nur eine untergeordnete Rolle. Es ist ein Vorurteil Humboldts, wenn er in der "Wahl einer Monarchie einen Beweis der höchsten Freiheit der Wählenden" 6 sieht. Mit dem Argument allein, daß "ein Führer oder Entscheider unstreitig das Zweckmäßigste"7 sei, ist die für die Freiheit erforderliche Sicherheit noch nicht gewährleistet, vielmehr ist das Argument selbst in Frage zu stellen. Wenn Humboldt einerseits befürchtet, daß in einer Demokratie die Einwilligung des Individuums zu politischen Entscheidungen nicht gegeben ist, weil der einzelne seinen Willen nur durch Repräsentation zu erklären vermag "und ein Repräsentant mehrerer . .. unmöglich ein so treues Organ der Meinung der einzelnen Repräsentierten sein"8 kann, so wird andererseits diesem Umstand noch viel weniger in einer Staatsverfassung Rechnung getragen, wo nur einer letztlich entscheidet. Zwar verlangt die Sicherheit gegen innere Zwistigkeiten und äußere Feinde eine letzte widerspruchslose Autorität (Macht), die sich aber nur dann positiv auf das Individuum auswirkt, wenn die zur Rechtssprechung und politischen Entscheidung Berufenen sie nicht mißbrauchen. Das heißt, die Staatsform allein, ob Monarchie oder Demokratie, verbürgt dem Individuum noch nicht Sicherheit und Freiheit, sondern das Wohl des einzelnen hängt wesentlich vom sittlichen Bewußtsein der Staatsmänner, aber auch von den in den verschiedensten Bereichen (Legislative, Exekutive und Judikation) tätigen und dafür verantwortlichen Menschen ab.
8.2 "Sicherheit gegen auswärtige Feinde" Zu allen bisherigen Intentionen, mit denen Humboldt den Freiheitsanspruch des Indi,:,iduums gegenüber staatlichen Eingriffen durchzusetzen versucht, nimmt er in der Frage nach der Sicherheit gegen auswärtige Feinde einen völlig konträren Standpunkt ein. Ehe er daran denkt, durch Bündnisse, Nichtangriffspakte u. dgl. die Bürger vor feindlichen Übergriffen anderer Völker zu schützen, verweist er auf den Krieg, der für ihn "eine der heilsamsten Erscheinungen zur Bildung des Menschengeschlechts" bedeutet und den er nur "ungern ... nach und nach immer mehr vom Schauplatz zurücktreten"9 sieht. Widerspricht diese Aussage aber nicht seiner Doktrin von den Grenzen der Staatswirksamkeit auf dem Hinter5 Vgl. G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte (Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte I). Hrsg. v. J. Hoffmeister (PhB 171 a). Hamburg 51955, 62. 6 GS 1,135. 7 Ebd. B GS I, 13l. 9 GS 1,136.
7 Battisti
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8 Zweck der Staatseinrichtung
grund einer humanitärliberalen Gesinnung und eines ausgeprägten Individualismus? Ist sich Humboldt dessen bewußt, daß der Kriegsdienst in einem nicht zu vergleichenden Ausmaß mit allen anderen Dienstleistungen und Pflichten, die der Staat dem Bürger auferlegt, in die Persönlichkeits gest altung des einzelnen eingreift, ihn Gefahren aussetzt, Schmerz, Kummer und Not, ja sogar dessen möglichen Tod herbeiführt? Was motiviert ihn eigentlich, den Krieg so positiv zu bewerten? In dem oben angeführten Zitat ist Humboldts Antwort bereits vorgegeben. Wie alles politische Geschehen betrachtet er auch den Krieg nur unter dem einen Gesichtspunkt der Bildung, d. h. in welchem Ausmaß er dem wahren Zweck des Menschen, der höchsten und gleichmäßigen Ausbildung seiner Kräfte zu einem Ganzen, dienlich ist. Und wenn man weiß, daß für Humboldt "Energie die erste und einzige Tugend des Menschen"lo bedeutet, dann läßt sich erahnen, was er sich vom Krieg erwartet, nämlich eine Steigerung und Intensivierung der in der menschlichen Natur angelegten Kräfte und Fähigkeiten. Alle anderen gefahrvollen Anstrengungen und verantwortlichen Tätigkeiten des Alltags werden als dem Krieg nicht ebenbürtig abgelehnt, weil ihnen "die Idee der Größe und des Ruhms, die mit dem Kriege so eng verbunden ist"ll, fehlt. Daß Humboldt zu dieser Aussage eher durch idealisierende Geschichtsquellen als durch eigene Erfahrung angeregt wurde, bedarf keines näheren Beweises; so drängt sich auch der Hinweis auf den heroischen Widerstand der Spartaner bei den Thermopylen in den folgenden Zeilen seiner Darstellung fast von selbst auf. Der Verfasser von den Grenzen der Staatswirksamkeit läßt sich in seinen Gedanken über den Krieg vom Ideal des antiken Kriegers leiten, das aber der Wirklichkeit genauso fremd wie der Zeit entrückt ist. Mag man Humboldt einerseits zugute halten, daß er Freiheit und Glück des Individuums nicht zum Selbstzweck erhebt, sondern der Persönlichkeitsentwicklung unterordnet, so stellt sich andererseits die Frage nach der sittlichen Bestimmung dieser Persönlichkeitsentwicklung, wenn ihr nicht jedes Mittel zur Erreichung des Zwecks heilig sein soll ähnlich Hegels "welthistorischen Individuen", die immer im Recht sind, auch wenn sie "manche unschuldige Blume" zertreten und "auf ihrem Wege manches zertrümmern" 12. Wie nahe Humboldt diesen Ideen steht, zeigt einerseits, daß ihm kein Einsatz und kein Preis zu hoch zu sein scheint, wenn es nur darum geht, dem Individuum die im Hinblick auf die Ausbildung seiner Kräfte erforderliche Mannigfaltigkeit der Situationen zu vermitteln, denn "alle Situationen, in welchen sich die Extreme gleichsam aneinanderknüpfen, sind die interessantesten und bildendsten. Wo ist dies aber mehr der Fall als 10
n 12
GS I, 166. GS 1,137. Vgl. Regel (s. Anm. 5) 105.
8.2 "Sicherheit gegen auswärtige Feinde"
99
im Kriege, wo Neigung und Pflicht, und Pflicht des Menschen und des Bürgers in unaufhörlichem Streite zu sein scheinen ... ?"13 Andererseits aber verurteilt Humboldt stehende Armeen, weil sie "den Krieg mitten in den Schoß des Friedens"14 bringen. Wie sind nun diese einander gegensätzlichen Aussagen zu verstehen? Ist sich Humboldt selbst nicht klar, welche Stellungnahme er zum Krieg beziehen soll? Es zeugt zweifelsohne von mangelndem Realitätsbewußtsein, wenn man sich vom Krieg eine Förderung der menschlichen Tugenden erwartet. Auch seine diesbezügliche Kritik am technischen Fortschritt der Kriegsführung, der "den edlen Charakter der Krieger"15 und "die Stärke, Tapferkeit und Geschicklichkeit des einzelnen" 16 immer seltener werden läßt, ist nur ein weiterer Beweis für seine unrealistische, am griechischen Altertum orientierte und ins Idealistische gesteigerte Vorstellung vom Krieg. "Kriegsrnut ... nur in Verbindung mit den schönsten friedlichen Tugenden" und "Kriegszucht nur in Verbindung mit dem höchsten Freiheitsgefühle ehrwürdig"17 zu sehen, bedeutet einen Widerspruch in sich selbst. Ebenso unlogisch ist es, wenn Humboldt stehende Armeen nur deshalb ablehnt, weil er in ihnen den Geist der Freiheit vermißt, hingegen diesen im tatsächlichen Krieg verwirklicht sieht. Das vermutliche Heldentum und Selbstwertgefühl, das einzelne im Krieg erfahren mögen, stehen in keinem Verhältnis zum Elend und Leid und zum Verlust von menschlicher Würde und Freiheit, die ein Krieg verursacht. Zwar räumt Humboldt ein, daß der Staat den Krieg auf keinerlei Weise fördern, aber ebensowenig verhindern soll, wenn die Notwendigkeit ihn fordert, d. h. wenn menschliche Leidenschaften ihn entstehen lassen. Nur "so ist man wenigstens gewiß", wenn es zu keinem Krieg kommt, "daß der Friede weder durch Gewalt erzwungen noch durch künstliche Lähmung hervorgebracht", sondern "aus den inneren Kräften der Wesen hervorgegangen"18 ist; "und dann wird der Friede der Nationen freilich ein ebenso wohltätigeres Geschenk sein, wie der friedliche Pflüger ein holderes Bild ist als der blutige Krieger"19. Dieses Dilemma, in das sich Humboldt mit seiner Reflexion über den Krieg hineinmanövriert, kommt dadurch zustande, daß er den wahren Zweck des Menschen, die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen, nicht in Korrelation zu den Mitmenschen sieht, sondern auf das je einzelne Individuum beschränkt. Somit bleiben die 13 GS 1,138. 14
15 16 17 18 19 7'
GS 1,139. Ebd. GS 1,138. GS I, 139. Ebd.139f. C:S I, 139 f.
8 Zweck der Staats einrichtung
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Bedürfnisse, Interessen und Ansprüche der Mitwelt weitgehend unberücksichtigt. Man könnte sagen, Humboldt vertritt einen partikularen Bildungsutilitarismus, für den letztlich das gut ist, was die Entfaltung der in der individuellen Natur des Menschen angelegten Kräfte und Fähigkeiten fördert. Es bleibt aber höchst fraglich, ob dafür der Krieg ein taugliches Mittel ist, und erst recht stellt sich das Problem der ethischen Begründung einer solchen Handlungsweise. Denn was legitimiert den einzelnen, sich auf Kosten anderer - auf welche Weise auch immer - zu entfalten? Wenn Humboldt staatliche Wirksamkeit auch dahingehend einzuschränken versucht, sich nicht einzumischen, wenn der Menschen leidenschaftlicher Drang nach Tätigkeit und Aktivierung von Energie einen Krieg heraufbeschwört, so ist er schlecht beraten. Vielmehr geht es darum, auf der Hut zu sein, wenn geschickt geführte Propaganda dem Menschen jedes Opfer abverlangt. Denn welcher Wert vermag menschliches Leben zu ersetzen? Ganz sicher nicht Humboldts Bildungsideal von der im höchsten Maße tätigen Energie des Individuums, sofern diesem zu seiner Verwirklichung jedes Mittel erlaubt sein soll. 8.3 Innere Sicherheit
8.3.1 Ablehnung einer öffentlichen Erziehung
Um der Pflicht für die innere Sicherheit seiner Bürger nachzukommen, kann sich der Staat verschiedener Mittel bedienen, doch nicht alle sind der Selbstverwirklichung des Individuums in gleicher Weise förderlich, deshalb bemüht sich Humboldt, die geeigneten von den ungeeigneten abzugrenzen. So stellt sich für ihn als erstes die Frage, ob sich der Staat allein damit begnügen soll, "begangene Unordnung wieder herzustellen und zu bestrafen"20 oder bereits präventiv durch öffentliche Erziehung auf den Geist und Charakter der Bürger Einfluß zu nehmen. Und selbst in der Frage der Wiederherstellung verletzter Ordnung gilt es zu prüfen, in welchem Sinne gegen Gesetz und Ordnung verstoßen wurde: "Es können bloß Beleidigungen der Rechte der Bürger und unmittelbarer Rechte des Staats untersucht und gerügt werden; oder man kann, indem man den Bürger als ein Wesen ansieht, das dem Staate die Anwendung seiner Kräfte schuldig ist und also durch Zerstörung oder Schwächung dieser Kräfte ihn gleichsam seines Eigentums beraubt, auch auf Handlungen ein wachsames Auge haben, deren Folgen sich nur auf den Handelnden selbst erstrecken. "21 Es ist bemerkenswert, wie Humboldt Staat und Individuum als unüberbrückbare Gegensätze polarisiert, die sich bei ihm, wie Haym treffend formuliert, "wie zwei feindliche Parteien in einem Rechtshandel" auseinan20
21
GS I, 14l. Ebd.
8.3 Innere Sicherheit
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dersetzen. "Sie begrenzen sich, sie schließen sich gegenseitig aus, sie stoßen sich ab. "22 So z. B. wenn Humboldt befürchtet, der Staat betrachte den Bürger nur als ein Wesen, das ihm seine Kräfte schulde und bei deren Verweigerung ihn seines Eigentums beraube. Wer die Kluft zwischen Staat und Individuum so weit aufreißt, wird sie kaum noch überbrücken können. Dieses radikale Vorurteil überschattet auch so manchen positiven Ansatz in seinem Denken; denn zu Recht hat Humboldt erkannt, daß es nicht Aufgabe des Staates sein kann, durch "Nationalerziehung, Religion und Sittengesetze"23 den Bürger zu beeinflussen, was auch ganz dem damaligen Zeitgeist der Aufklärung entsprach: "Endlich steht ... das Menschengeschlecht jetzt auf einer Stufe der Kultur, von welcher es sich nur durch Ausbildung der Individuen höher emporschwingen kann; und daher sind alle Einrichtungen, welche diese Ausbildung hindern und die Menschen mehr in Massen zusammendrängen, jetzt schädlicher als ehmals. "24 Eine "öffentliche, d. i. vom Staat angeordnete oder geleitete Erziehung"25, ist deshalb abzulehnen, weil sie nicht die der individuellen Eigenart des Menschen entsprechende Mannigfaltigkeit berücksichtigt, sondern immer nur eine bestimmte Form begünstigen kann, in der doch allzusehr der Geist der Regierung herrscht. Auf diese Weise wird aber "der Mensch dem Bürger geopfert. "26 Es ist zwar gewiß wohltätig, schreibt Humboldt, "wenn die Verhältnisse des Menschen und des Bürgers soviel als möglich zusammenfallen "27, aber der Mensch darf nicht schon von Kindheit an zum Bürger gebildet werden, vielmehr soll eine freie, so wenig als möglich auf bürgerliche Verhältnisse abgestimmte Erziehung der Bildung des Menschen zum Staatsbürger vorangehen. "Der so gebildete Mensch müßte dann in den Staat treten und die Verfassung des Staats sich gleichsam an ihm prüfen. "28 Diese Aussage erweckt den Anschein, als strebe Humboldt eine Erziehung außerhalb aller gesellschaftspolitischen Einflüsse an, und erst wenn der Mensch genügend Bildung und Ausbildung der in seiner Natur angelegten Fähigkeiten und Kräfte erfahren habe, dürfe er mit dem Staat konfrontiert werden. Als ließe sich eine Erziehung in völliger Unabhängigkeit von allen staatlichen Einflüssen durchführen. Selbst wenn Privatlehrer mit der Erziehung betraut werden, so läßt sich der gesellschaftspolitische Einfluß nicht vollkommen ausschalten, zumal auch diese in einem bestimmten Staat leben und auf mannigfache Weise mit öffentlichen Institutionen konfrontiert werden. 22
57.
23 24
25
26 27 28
R. Haym, Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik. Berlin 1856,
GS I, GS I, GS I, Ebd. Ebd. GS I,
142. 142f. 143. 144.
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8 Zweck der Staatseinrichtung
Es wäre aber ein Mißverständnis, Humboldt so zu interpretieren. Was er mit seiner Ablehnung einer öffentlichen, vom Staat angeordneten oder geleiteten Erziehung verhindern will, ist, daß es dem Staat allein obliegt, als einziger Wissens- und Informationsvermittler aufzutreten und damit von frühester Kindheit an das Wertbewußtsein seiner Bürger zu prägen, wie es in absolutistischen und totalitären Staaten der Fall ist. Und wenn Humboldt verlangt, daß sich die Verfassung des Staates am gebildeten Menschen zu prüfen habe, so heißt das, daß auch die obersten Rechtsnormen, welche die rechtliche Grundlegung eines Staates festlegen, nicht unabänderlich und überzeitlich sind, sondern nur einen funktionalen Wert im Hinblick auf eine würdige Daseinsgestaltung der Staatsbürger haben. Insofern die Verfassung die spezifische Form und Ausübung der politischen Macht regelt, kommt ihr eine besondere Bedeutung zu. Da sie sich aber bezüglich ihrer Geltung nicht wie jedes andere staatliche Recht auf die Gewährleistung der übergeordneten Staatsrnacht stützen kann 29 , bedarf sie einer Begründung, die sie sich selbst sichern muß. Eine solche Begründung scheint m. E. im ethischen Grundkonsens des betreffenden Staatsvolkes gegeben zu sein. Sowohl in der Grundlegung wie in der Auslegung orientiert sich die Verfassung weitgehend an den sittlichen und kulturellen Werten ihrer Bürger. "Die Rechtsordnung eines Volkes ist gewissermaßen das Abbild seines Kulturzustandes. "30 Überlegt man aber, wer die Kultur und das sittliche Wertbewußtsein in einer Gesellschaft artikuliert, so kommt man mit Humboldt doch wieder auf den gebildeten Menschen zurück. Mag auch ein Diktator seinem Volk eine Verfassung aufoktroyieren, er wird sie nur mit äußerster Mühe durchzusetzen vermögen, wenn sie sich gegen die sittlichen Grundanschauungen des Staatsvolkes richtet. Es ist deshalb wichtig, daß die Bildung des Menschen (seine Erziehung) nicht allein in den Händen des Staates liegt, da diesem dadurch zuviel Macht eingeräumt würde, das sittliche Bewußtsein seiner Bürger in seinem Sinne zu formen. Damit gäbe es auch keine Kontrollinstanz mehr, die aufzeigt, wann staatliche Gewalt die Rechte des Menschen verletzt. Humboldts ablehnende Haltung gegenüber einer öffentlichen Erziehung muß aber auch auf dem Hintergrund des damaligen preußischen Schulsystems gesehen werden, zu dessen großem Reformer er 17 Jahre später wurde. Zur Zeit, in der er seine Ideen über die Grenzen der Staatswirksamkeit niederschrieb, war die öffentliche Erziehung nur darauf angelegt, brave und tüchtige Bürger zu erziehen. In den sogenannten Bauernschulen wurden den Kindern nur die fundamentalsten Kenntnisse des Lesens und Schreibens beigebracht, die Bürgerschulen dienten lediglich der künftigen Berufsausbildung und vermittelten darüber hinaus weder Bildung noch AllgemeinVgl. U. Scheuner, Verfassung. In: Staatslexikon. Bd. 8. Freiburg 1963, Sp. 118. F. Böckle, Strafrecht und Sittlichkeit. In: Handbuch der christlichen Ethik. Bd. I Hrsg. v. A. Hertz, W. Korff u. a. Freiburg 1978, 312. 29
30
8.3 Innere Sicherheit
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wissen, und selbst die Universitäten waren nichts anderes als Spezialhochschulen, deren Absolventen auf den öffentlichen Dienst vorbereitet und zu tauglichen Staatsdienern erzogen werden sollten. Der Adel hingegen schickte seine Kinder zu Privatlehrern und auf Ritterakademien. 31 Da Humboldt sich vom öffentlichen Schulsystem nichts erwartete, setzte er seine Hoffnung auf sorgfältige Familienerziehung und Privatanstalten. Denn "bei freien Menschen entsteht Nacheiferung, und es bilden sich bessere Erzieher, wo ihr Schicksal von dem Erfolg ihrer Arbeiten, als wo es von der Beförderung abhängt, die sie vom Staat zu erwarten haben"32. Dem Staat wird somit jegliche Kompetenz in Fragen der Erziehung abgesprochen oder im besten Fall das Recht zugesprochen, "nachlässigen Eltern Vormünder zu setzen oder dürftige zu unterstützen"33. Aus diesen Aussagen spricht unverkennbar der Aristokrat Humboldt, dem Bildung eine Verpflichtung und die Möglichkeit dafür kein Problem ist. Was soll aber diese Forderung nach einer "sorgfältigen Familienerziehung" in einer einfachen Arbeiter- oder Bauernfamilie, wo die Eltern weder die dafür erforderlichen Voraussetzungen mitbringen noch über die finanziellen Mittel verfügen, ihre Kinder zu Privatlehrern zu schicken? Humboldts radikale Ablehnung des Wohlfahrtsstaates zeigt hier neuerdings ihre Konsequenzen; zudem übersieht er, daß sich die Sorge für die Wohlfahrt der Bürger, gemäß einem recht verstandenen Wohlfahrtsstaat, ja nicht nur auf die Befriedigung materieller Bedürfnisse, sondern auch auf die Vermittlung kultureller und geistiger Werte bezieht, unter denen die Bildung des Menschen eine vorrangige Stellung einnimmt. Wenn Humboldt hingegen verlangt, daß "öffentliche Erziehung ... ganz außerhalb der Schranken"34 staatlicher Wirksamkeit zu liegen habe, so muß er sich dessen bewußt sein, daß sich dadurch für viele Menschen die Möglichkeit zu Bildung verringert. Den Staat mit der öffentlichen Erziehung zu betrauen, heißt ja noch lange nicht, ihm eine MonopolsteIlung einzuräumen, sondern nur die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, die jedermann - entsprechend seiner Fähigkeiten und mit Rücksicht auf das Gemeinwohl - Bildung ermöglichen. Allein mit der Forderung nach Freiheit wird sich Bildung kaum realisieren lassen. Wohl aber gilt es zu erwähnen, daß die heutzutage in vielen Ländern auch verfassungsrechtlich garantierte Autonomie der Universitäten und Freiheit in Forschung und Lehre in ihrer Anregung auf Humboldt als preußischen Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht zurückgehen und bereits an dieser Stelle in seinen "Ideen" ihren Ansatz finden. Als einer der ersten hat Humboldt nämlich erkannt, daß die Wissenschaft ihre Aufgabe, objektive 31 Vgl. J. H. Knoll / H. Siebert, Wilhelm von Humboldt. Politik und Bildung. Heidelberg 1969, 29f. 32 GS 1,145. 33 Ebd. 34 GS I, 146.
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Erkenntnis zu erbringen, nur dann erfüllen kann, wenn die in ihrem Bereich tätigen Menschen in Freiheit - und das heißt, unabhängig von politischen Tagesinteressen und ideologischen Weisungen - forschen und lehren können. Die Forderung nach Selbstbestimmung ist aber nicht gleichzusetzen mit der Vorstellung, daß sich der Staat jeglicher Sorgfalt für eine öffentliche Erziehung enthalten solle, weil wissenschaftliche Institutionen wie auch allgemeinbildende Schulen auf Voraussetzungen z. B. auch materieller Art angewiesen sind, die sie nicht selbst erbringen können. Deshalb kann Humboldts Theorie, daß die öffentliche Erziehung außerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu liegen habe, nicht zugestimmt werden.
8.3.2 Staat und Sittlichkeit Aus den beiden Prämissen, erstens, daß der Staat für die Sicherheit innerhalb seiner Grenzen zu sorgen hat, und zweitens, daß "nichts ... eine so reiche und gewöhnliche Quelle unsittlicher, selbst gesetzwidriger Handlungen [ist] als das zu große Übergewicht der Sinnlichkeit in der Seele oder das Mißverhältnis der Neigungen und Begierden überhaupt gegen die Kräfte der Befriedigung, welche die äußre Lage darbietet"35, ließe sich der Schluß ziehen, der Staat solle, um Konflikte zwischen seinen Bürgern zu vermeiden, bereits auf deren Sinnlichkeit Einfluß nehmen. Es wäre aber nicht Humboldt, würde er die Zustimmung zu dieser Schlußfolgerung nicht vom Grundsatz abhängig machen, daß die Mittel, deren sich der Staat bedienen darf, stets an den wahren Interessen des Menschen zu prüfen sind. Ehe entschieden werden kann, wie abträglich oder nützlich eine Einschränkung der menschlichen Sinnlichkeit ist, muß die prinzipielle Frage erörtert werden, was darunter zu verstehen ist und welche Bedeutung sie für das menschliche Leben hat. Die Reflexion auf Humboldts Menschenbild (vgl. Kap. 5) zeigte bereits, daß Kraft (Energie) das lebenskonstitutive Prinzip menschlichen Daseins ist. Dieses Prinzip äußert sich beim Menschen "in sinnlichen Empfindungen, Neigungen und Leidenschaften", und wo diese schweigen, "da ist auch alle Kraft erstorben, und es kann nie etwas Gutes und Großes gedeihen"36. Sie sind es, die das Individuum zur eigenen Tätigkeit anspornen, Pläne entwerfen lassen und zu deren Ausübung ermutigen. So ist in erster Linie wichtig, daß Energie vorhanden ist, denn sie erweist sich als "erste und einzige Tugend des Menschen. Was seine Energie erhöht, ist mehr wert, als was ihm nur Stoff zur Energie an die Hand gibt. "37
35 36 37
GS I, 165. Ebd. GS I, 166.
8.3 Innere Sicherheit
105
Unverkennbar kommt der Ästhet Humboldt zu Wort, wenn er diese unbestimmte Kraft im Menschen am vollkommensten in der Kunst (Musik, Malerei, Plastik und Dichtkunst) verwirklicht sieht. Überall umgibt uns ein ästhetisches Gefühl, "mit dem uns die Sinnlichkeit Hülle des Geistigen und das Geistige belebendes Prinzip der Sinnenwelt ist"38. Und "nichts ist von so ausgebreiteter Wirkung auf den ganzen Charakter als der Ausdruck des Unsinnlichen im Sinnlichen, des Erhabnen, des Einfachen, des Schönen in allen Werken der Natur und Produkten der Kunst, die uns umgeben"39. Sinnlichkeit bedeutet demnach mehr als bloß sinnliche Empfindungen und Wahrnehmungen oder blinder Trieb. Sie vermittelt uns nach Humboldt einen Zugang zu den höchsten geistigen Werten. Denn "ohne das Schöne fehlte dem Menschen die Liebe der Dinge um ihrer selbst willen; ohne das Erhabne der Gehorsam, welcher jede Belohnung verschmäht und die niedrige Furcht nicht erkennt. "40 Die Idee des Erhabenen allein macht es möglich, dem unbedingt gebietenden Gesetze ohne Rücksicht auf Glückseligkeit oder Unglück auf uneigennützige Weise zu gehorchen. 41 Kein Zweifel, daß hinter diesen Aussagen der Einfluß Kants steht. Doch was Humboldt von Kant unterscheidet, ist sein ständiger Versuch, zwischen Ästhetik und Moral zu vermitteln, dem Kant niemals zustimmen würde, da es dem Prinzip der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit widerspräche, wenn ein empirischer Gehalt zum Inhalt des Sittengesetzes gemacht würde. Denn " alle praktischen Prinzipien, die ein Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktischen Gesetze abgeben"42. Mehr hingegen fühlt sich Humboldt von Kants pathetischen Worten über die Pflicht ("Pflicht! du erhabener großer Name ... "43) angesprochen, wenn er die Möglichkeit, dem unbedingt gebietenden Gesetz Gehorsam zu leisten, von der Idee des Erhabenen abhängig macht. Interessant ist auch Humboldts Formulierung: "Ohne das Schöne fehlte dem Menschen die Liebe der Dinge um ihrer selbst willen"44; deutet diese Aussage doch darauf hin, daß die Zweck-an-sich-Bestimmung nicht allein für den Menschen vorbehalten ist (Kant), sondern bereits in der Ästhetik zur Anwendung kommt. Und dieser Gedanke ist nicht völlig abzuweisen, denn der Gehalt eines Kunstwerkes läßt sich vielmehr dadurch erfahren, daß man ihm "wertbeantwortend " begegnet, d. h. es in seiner Unmittelbarkeit gelten und sich von ihm ansprechen läßt, als daß man" wertergreifend ", bereits mit eigennützigen Interes38 GS I, 169. 39 Ebd. 40
GS I, 170.
44
GS I, 170.
41 Vgl. GS I, 172. 42 1. Kant, Kritik der praktischen Vernunft 38. 43 Ebd. 154.
106
8 Zweck der Staats einrichtung
sen an das Kunstwerk herantritt. 45 Diese Überlegung widerspricht aber nicht der Aussage Kants, daß letztlich doch der Mensch als Zweck an sich anzuerkennen ist. Denn "was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde"46. Und diese kommt allein dem Menschen zu. Wie bereits am Beginn dieses Kapitels erwähnt, hat Sinnlichkeit nicht nur eine positive Bedeutung (durch die Ästhetik vermittelt), sondern sie kann auch leicht ins Negative umschlagen, wenn sie nicht im "richtigen Verhältnis mit der Übung der geistigen Kräfte steht"47. Dieses Mißverhältnis rührt vielfach daher, daß es dem Individuum aufgrund der zur Verfügung stehenden Mittel und der äußeren Lage, in der es sich befindet, nicht möglich ist, seine Kräfte und Fähigkeiten auf seine ihm angemessene Art auszubilden. Dadurch gerät der Mensch in Widerspruch mit seinem Endzweck, sein Wesen immer zu höherer Vollkommenheit zu bilden. Dem Staat bleibt es aber - aufgrund der gegen den Wohlfahrtsstaat (vgl. Kap. 7) bereits angeführten Gründe -verwehrt, positiv auf die Lage der Bürger zu wirken. Doch ebensowenig ist es ihm gestattet, durch Gesetze und Verordnungen gegen ein sittenverderbendes Verhalten seiner Bürger einzuschreiten. "Ein Staat, in welchem die Bürger durch solche Mittel genötigt oder bewogen würden, auch den besten Gesetzen zu folgen, könnte ein ruhiger, friedliebender, wohlhabender Staat sein; allein er würde mir immer einen Haufen ernährter Sklaven, nicht eine Vereinigung freier, nur wo sie die Grenze des Rechts übertreten, gebundener Menschen scheinen ... Wer also Menschen bilden, nicht zu äußren Zwecken ziehn will, wird sich dieser Mittel nie bedienen."48 Abgesehen davon, daß jeder Zwang dem für die Entfaltung des Individuums und dessen moralischer Stärke so entscheidenden Prinzip der Kraft abträglich ist, besteht nach Humboldt die Gefahr der Sittenverderbnis gar nicht so akut, neigt seiner Meinung nach der Mensch doch eher zu wohltätigen als zu eigennützigen Handlungen: "Dies zeigt sogar die Geschichte der Wilden. Die häuslichen Tugenden haben so etwas Freundliches, die öffentlichen des Bürgers so etwas Großes und Hinreißendes, daß auch der bloß unverdorbene Mensch ihrem Reiz selten widersteht. "49 Um so mehr hält Humboldt jedes Bemühen des Staates, einer Ausschweifung der Sitten entgegenzuwirken oder gar zuvorzukommen, für bedenklich, sofern sie nicht 45 Vgl. E. Coreth, Was ist der Mensch? Grundzüge einer philosophischen Anthropologie. Innsbruck 31980, 120. 46 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hrsg. v. K. Vorländer (PhB 41) Leipzig 61925, 60. 47 GSI,174. 48 GSI,175. 49 GSI,176.
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unmittelbar fremdes Recht kränkt. "Und wie groß auch das Übel des Sittenverderbnisses sein mag, es ermangelt selbst der heilsamen Folgen nicht. Durch die Extreme müssen die Menschen zur Weisheit und Tugend mittlerem Pfad gelangen ... Hier die Ordnung der Natur stören wollen, heißt moralisches Übel anrichten, um physisches zu verhüten. "50 Demnach steht dem Staat weder die Aufgabe noch das Recht zu, direkt oder indirekt auf die Sitten und den Charakter der Nation zu wirken. Wenngleich das Thema Staat und Sittlichkeit im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips noch ausführlicher zur Sprache kommen wird, wollen wir dennoch bereits hier - unmittelbar nach Humboldts Ausführungen - kurz dazu Stellung nehmen. Sein optimistisches Menschenbild ("Der Mensch neigt eher zu wohltätigen als zu eigennützigen Handlungen"), das der Aufklärung, speziell den Ideen Rousseaus, entstammt, für den der Mensch von Natur aus gut ist und nur durch die Umwelt verdorben wird, macht jede Förderung sittlichen Verhaltens von außen überflüssig; ist das Individuum doch von seiner natürlichen Anlage her auf die Verwirklichung des sittlich Guten angelegt. Die Frage ist nur, ob dieses optimistische Menschenbild auch der Wirklichkeit entspricht. Ohne in das andere Extrem verfallen und dem Menschen alle positiven Qualitäten absprechen zu wollen, scheint doch eher die Auffassung der Realität zu entsprechen, daß der Mensch mehr zu eigennützigen als zu wohltätigen oder im besten Fall zu beiden Handlungen im gleichen Ausmaß neigt. Da aber durch die Verwirklichung eigennütziger Interessen elementare Rechte (Grundrechte) der Mitmenschen verletzt werden können, stellt sich erstens die Frage nach einem sittlichen Grundkonsens der Gesellschaft und zweitens, von wem und in welchem Ausmaß menschliche Grundwerte und -rechte zu schützen sind. Das heißt, es ist davon auszugehen, daß es ohne Übereinstimmung in elementaren Werten und Normen sittlichen Verhaltens kein menschenwürdiges Zusammenleben gibt. Wer versuchen möchte, diesen Konsens über sittliche Grundauffassungen und -haltungen durch eine positive Gesetzgebung zu reglementieren, vergißt, daß die Anerkennung jeglicher Ordnung und somit auch die des Staates selbst bereits sittliches Bewußtsein und Engagement voraussetzt. Zumindest muß das Eingeständnis vorhanden sein, daß Ordnung besser als Anarchie ist. Erst recht ist ein Staat, der auf die freie Zustimmung seiner Bürger gründet, auf ein Mindestmaß an ethischer Homogenität angewiesen, wenn er nicht zerfallen oder der einzelne sich einem totalitären Staat mit einem totalitären Ethos überantworten will. Die Alternative widerspricht auch Humboldts Intention, denn einerseits, beim Zerfall des Staates, ginge auch die für das Individuum erforderliche Sicherheit gegen innere und äußere Feinde verloren und andererseits, in einem totalitären Staat, könnte der Bürger niemals seine individuellen Anlagen 50
GSI, 175f.
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8 Zweck der Staatseinrichtung
und Fähigkeiten zur Entfaltung bringen. Wo liegt aber nun die Grenze zwischen dem für das menschliche Zusammenleben erforderlichen Minimalkonsens sittlichen Verhaltens und einer auch auf die letzten sittlichen Entscheidungen des Individuums übergreifenden Macht des Staates? Wer garantiert, daß der Staat zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Ordnung nicht eine Totalreglementierung sittlichen Verhaltens anstrebt, welche die ganze Person zu umfassen versucht? Ist es nicht vernünftiger, mit Humboldt dem Staat von vornherein jegliche Kompetenz auf sittlichem Gebiet abzusprechen? Dem ist entgegenzuhalten, daß der Staat, wenn er sich nicht als Selbstzweck verstehen, sondern für den Menschen da sein will, sittliche Grundhaltungen und -auffassungen zu schützen und zu fördern hat. Auch wenn es niemals seine Aufgabe sein kann, sittliche Werte zu schaffen oder ganz bestimmten zur Anerkennung zu verhelfen, so gibt es doch eine gegenseitige Beeinflussung von Recht und Moral, denn einerseits geht das Wertbewußtsein der Gesellschaft über Mehrheitsentscheidungen in den politischen Willensprozeß ein, und andererseits lassen sich sittliche Werthaltungen durch positive Gesetze fördern oder untergraben. Der Erlaß von Gesetzen ist ja kein abstraktes Geschehen, sondern wird von Menschen durchgeführt (welche Regierungsform man auch immer vor Augen hat), deren individuelles Wertbewußtsein sich weitgehend an den Wertvorstellungen der Gesellschaft orientiert. Wer sich als Politiker zu weit von den in der Gesellschaft herrschenden Ideen, und das heißt auch von deren Wertvorstellungen entfernt, dem bleibt der Erfolg versagt, oder der wird sich nur mit größter Anstrengung durchzusetzen vermögen. Ebenso kann auch das positive Recht nur in einem begrenzten Ausmaß in ein Spannungsverhältnis mit dem in der Gesellschaft vorhandenen Ethos treten, andernfalls würde jenes das Rechtsbewußtsein nicht mehr treffen und auch nicht mehr akzeptiert werden. 51 Daraus ergibt sich, daß die positive Rechtsordnung unter größtmöglicher Wahrung der Rechtssicherheit den Wandel des Ethos in der Gesellschaft zu berücksichtigen hat, will sie ihre Legitimität nicht verlieren. "Der Staat kann ein nicht mehr vorhandenes Ethos nicht zurückholen, und er kann ein nicht mehr vom Konsens der Gesellschaft getragenes Ethos nicht durch Rechtsnorm für verbindlich erklären. Hier ist der Staat an die Grenzen seiner Möglichkeiten gekommen. "52 Steht also einerseits fest, daß das gesellschaftliche Ethos die Politik mitbestimmt, so darf andererseits der Einfluß des positiven Gesetzes auf die sittliche Wertvorstellung auch nicht übersehen werden. Denn wo die Verletzung sittlicher Normen gesellschaftlich oder gar strafrechtlich geahndet 51 Vgl. H. Schmidt, Ethos und Recht in Staat und Gesellschaft. In: Grundwerte in Staat und Gesellschaft. Hrsg. v. G. Gorschenek. München 1977, 2l. 52 Ebd.22.
8 3 Innere Sicherheit
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wird, bleibt das Bewußtsein der Gültigkeit von Normen zumindest unterschwellig erhalten. Hingegen, "wo es möglich ist, Normen tatsächlich und ohne Schaden über breite Strecken nicht einzuhalten, da zerfällt allmählich auch die Idee jener sittlichen Zielvorstellungen, die vordem die Norm getragen haben"53. Umgekehrt kann der Staat durch Gesetze z. B. des Umweltschutzes, worüber man sich vor wenigen Jahren noch kaum Gedanken gemacht hat, neue sittliche Werthaltungen bei Sf)nen Bürgern fördern. Es wäre aber falsch, daraus nun den Schluß zu ziehen, daß sich das gesellschaftliche Ethos durch staatliche Gesetze (Gebote und Verbote) sichern läßt. Es wurde schon oben deutlich ausgesprochen, daß es nicht Aufgabe des Staates sein kann, in der Gesellschaft sittliche Werthaltungen zu schaffen, er kann sie nur schützen und fördern. Wohl muß man sich dabei aber des soziologischen Zusammenhangs von Sanktion und Norm bewußt sein, neigt man in der Gesellschaft doch allzu leicht zur Vorstellung, daß das, was strafrechtlich nicht (oder nicht mehr) geahndet wird, auch sittlich erlaubt ist. Um die Interessen aller seiner Bürger zu berücksichtigen, hat der Staat ein weltanschaulich pluralistisches Prinzip zu vertreten, d. h. er darf sich nicht zum Anwalt von spezifisch sittlichen Wertvorstellungen einer bestimmten Gruppe oder religiösen Gemeinschaft machen, sondern hat jedem Individuum das Recht zuzuerkennen, seine je eigenen Wertvorstellungen zu verwirklichen, sofern sie nicht die Würde der Mitmenschen verletzen. Diesem obersten Wert (der Würde der Person) gegenüber ist der Staat verpflichtet, will er seine Aufgabe, nicht Selbstzweck zu sein, sondern für den Menschen da zu sein, wahrnehmen. Menschliche Würde impliziert aber Freiheit, denn wo der Mensch nicht als Zweck an sich, in seiner Selbstbestimmung, sondern nur als Mittel für beliebige Zwecke angesehen wird, verliert er Würde und Freiheit zugleich. Was sich aus der Anerkennung des Menschen als Zweck an sich für die konkrete Situation ableiten läßt, ist zum Teil zeit- und umweltbedingt, es ist aber nicht Beliebiges, wenn man sich stets an diesem obersten Grundwert orientiert. Nur an bisherigen Wertvorstellungen festzuhalten, ist zuwenig, denn man schützt die Würde des Menschen nicht unbedingt dadurch, daß man eine vermeintlich richtige augenblickliche Lage zementiert. 54 8.3.3 Staat und Religion
Das preußische Religionsedikt von 1788 hat Humboldt bereits vor der Abfassung seiner "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit 53 F Furger, Was Ethik begründet. Deontologie oder Teleologie - Hintergrund und Tragweite einer moraltheologischen Auseinandersetzung. Zürich 1984, 76 54 Vgl A v Campenhausen In Grundwerte in Staat und Gesellschaft (s. Anm. 51) 192
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des Staats zu bestimmen" veranlaßt, sich mit dem Thema Staat und Religion auseinanderzusetzen. Die daraus entstandene Abhandlung mit dem Titel "Über Religion "55 wurde dann weitgehend, teilweise sogar wörtlich, als VII. Kapitel in seine "Ideen" aufgenommen. Grundthema dieser Untersuchung ist die Frage, ob sich der Staat der Religion bedienen darf, um auf den Charakter und das Verhalten der Nation zu wirken und damit Sicherheit innerhalb seiner Grenzen zu gewährleisten. Denn in allen früheren "Staaten, deren Andenken uns die Geschichte aufbewahrt" hat, sieht Humboldt "religiöse und bürgerliche Einrichtungen aufs innigste miteinander verbunden "56. Die Ehrfurcht vor der Macht überirdischer Wesen vermag die Menschen dazu veranlaßt haben, die Gottheit in ihre Verfassung zu integrieren; bald waren es aber auch "menschenfreundliche Absicht" oder "schlauer Betrug" der Gesetzgeber, um den Gehorsam ihrer Untertanen zu erzwingen. "So ließ Moses den Gott seiner Väter, Numa die Egeria, Mahomet den heiligen Geist, so die Inkas den Sonnengott reden. Nur jeder auf verschiedne Art nach den Einsichten und Bedürfnissen seines Zeitalters. "57 Dem Christentum allerdings spricht Humboldt das Verdienst zu, "den wahren Grund aller wahren Menschentugend, Menschenentwicklung und Menschenvereinigung"58 gelegt und mit der Verkündigung des einen Gottes für alle Menschen, das durch Partikulargottheiten bedingte völkertrennende Element überwunden zu haben, ohne das selbst die Aufklärung fruchtlos geblieben wäre oder nur wenige Menschen mit ihren Ideen erreicht hätte. "Und wieviel Schauderhaftes muß selbst die Idee des Fremdlings verloren haben, seitdem die Vorstellung eines allgemeinen Vaters und Sorgers das ganze Menschengeschlecht vereint?"59 War es bei den alten Völkern mit ihren Partikulargottheiten doch so, daß ein in die Ferne Verbannter mit dem Verlassen des heimischen Bodens nicht nur Haus und Hof, Frau und Kinder, sondern auch den spezifischen göttlichen Schutz verlor, so bleibt ihm nach der Lehre des Christentums immer noch ein Band übrig, "das Band, das ihn an seinen Gott knüpft"60. Wenngleich diese Überlegungen über die historische Bedeutung des Christentums einerseits zu würdigen sind, so muß man andererseits mit der Aussage, daß in vorchristlicher Zeit Staat und Religionsgemeinschaft weitgehend identisch waren, vorsichtig sein. Wußten doch schon die primitiven Völker zwischen religiösen und profanen Geboten und Gesetzen zu unterscheiden. Denn der primitive Mensch glaubte, daß, wer ein religiöses Gebot oder Tabu verletze, auf der Stelle sterbe oder seine Strafe von den Göttern 55
56
57 58 59 60
Vgl. dazu Anm. 9 in Kap. 5 GS 1,45 Ebd. GS 1,147 GS I, 49 Ebd.
8.3 Innere Sicherheit
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auferlegt bekomme. 61 Demnach hätte es keine gesellschaftlichen Interventionen (Sanktionen) gebraucht, wie sie in den verschiedensten Formen, z. B. der Blutfehde, zum Ausdruck kamen. So gab es also bereits für die primitiven Völker außer religiösen Geboten und Tabus noch andere soziale Verhaltensanweisungen, deren Nichtbeachtung von der Gesellschaft geahndet wurde. Es soll zwar nicht in Abrede gestellt werden, daß weltliche Gesetze und religiöse Gebote des öfteren miteinander verbunden wurden, doch allein daraus läßt sich noch auf kei'ne ursprüngliche Verknüpfung von Recht und Religion schließen; gehörte doch die Priesterschaft, der Klerus, in den meisten Kulturbereichen zum gebildeten Stand, der zur Rechtsberatung herangezogen wurde, und da er vielfach nur allein des Schreibens kundig war, ist es durchaus denkbar, daß bei der Niederschrift oder Revidierung von Kodizes auch religiöse Gehalte zum Inhalt der Gesetze wurden. Es bedürfte einer eigenen umfangreichen historischen Studie, um in den verschiedensten Kulturkreisen den inneren Zusammenhang von Recht und Religion, Staat und Religionsgemeinschaft, aufzuzeigen. Auf jeden Fall läßt sich der Sachverhalt nicht so einfach formulieren, wie Humboldt es tat, daß in allen Staaten, deren Andenken uns die Geschichte aufbewahrt hat, religiöse und bürgerliche Einrichtungen aufs innigste miteinander verbunden sind. Doch von größerer Bedeutung als dieser historische Rückblick ist für Humboldt die Differenzierung von Moralität und Religiosität und die Berücksichtigung jener Folgen, die sich ergeben, wenn der Staat versucht, eine bestimmte Religion zu fördern. Dies führt notwendigerweise zur Unterdrückung der Individuen, vor allem jener, die sich von der betreffenden Religion nicht angesprochen fühlen. Damit soll Religion nicht schlechterdings abgeurteilt, sondern nur der ihr angemessene Platz zugewiesen werden, beruht sie doch "auf einem Bedürfnis der Seele", die sich "nach dem Anschauen einer Vollkommenheit" sehnt, "von der ein Funke in ihr glimmt, von der sie aber ein weit höheres Maß außer sich ahndet. Dies Anschauen geht in Bewunderung, und wenn der Mensch sich ein Verhältnis zu jenem Wesen hinzudenkt, in Liebe über, aus welcher Begierde des Ähnlichwerdens, der Vereinigung, entspringt. "62 Waren für die Griechen und Römer die Götter lediglich ein Ideal körperlicher Macht und Stärke, so öffnet die Vorstellung von Gott, wenn sie die Frucht wahrer geistiger Bildung ist, ganz neue Dimensionen: "Alle Dinge erscheinen uns in veränderter Gestalt, wenn sie Geschöpfe planvoller Absicht, als wenn sie das Werk eines vernunftlosen Zufalls sind. Die Ideen von Weisheit, Ordnung, Absicht, die uns zu unsrem Handeln und selbst zur 61 Vgl. W. Seagle, Weltgeschichte des Rechts. Eine Einführung i!,l die Probleme und Erscheinungsformen des Rechts (Englisch: The Quest for Law). Ubers. v. H. ThieleFredersdorf. München 31969,167. 62 GS I, 149.
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Erhöhung unsrer intellektuellen Kräfte so notwendig sind, fassen festere Wurzel in unserer Seele, wenn wir sie überall entdecken. Das Endliche wird gleichsam unendlich, das Hinfällige bleibend, das Wandelbare stet, das Verschlungene einfach, wenn wir uns eine ordnende Ursache an der Spitze der Dinge und eine endlose Dauer der geistigen Substanzen denken. Unser Forschen nach Wahrheit, unser Streben nach Vollkommenheit gewinnt mehr Festigkeit und Sicherheit, wenn es ein Wesen für uns gibt, das der Quell aller Wahrheit, der Inbegriff aller Vollkommenheit ist. "63 Und doch - wie positiv sich Religiosität auch auf die Qualität des sittlichen HandeIns auswirken mag, Moralität kann nach Humboldt auch für den Menschen zum Lebensinhalt werden, der sich in keiner Beziehung zu einer Gottheit weiß. Es ist nicht notwendig, "die Summe alles moralisch Guten in ein Ideal (der Gottheit) zusammenzufassen" 64. Die nachfolgende Zitation aus Goethes Prometheus-Gedicht: "Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?" läßt erkennen, worauf Humboldt hinaus will, nämlich auf ein Individuum, das auch in seinem Alleinsein und seiner Hilflosigkeit, ohne göttlichen Schutz und Trost, davon überzeugt ist, daß ein "Fortschreiten in höherer moralischer Stärke möglich ist"65. Dieses Selbstgefühl macht es aber nicht unempfindlich gegen andere Wesen, im Gegenteil, "vielleicht ist seine Vereinigung mit den übrigen, ihm gleichartigen Wesen noch inniger, seine Teilnahme an ihrem Schicksale noch wärmer, je mehr sein und ihr Schicksal, seiner Vorstellung nach, allein von ihm und ihnen abhängt"66. Damit soll alles Positive, was Humboldt zuvor über den religiösen Menschen geschrieben hat, nicht widerlegt sein; es ist seine Achtung vor dem ewig Menschlichen in der unendlichen Mannigfaltigkeit der menschlichen Eigentümlichkeiten, die dem Gläubigen wie dem Ungläubigen in gleicher Weise gerecht werden will. 67 Jedem von beiden wird im gleichen Ausmaß die Fähigkeit zuerkannt, sittlich zu handeln, d. h. "der kalte, bloß nachdenkende Mensch, in dem die Erkenntnis nie in Empfindung übergeht, dem es genug ist, das Verhältnis der Dinge und Handlungen einzusehen, um seinen Willen danach zu bestimmen"6B, vermag ebenso tugendhaft zu leben wie der religiöse Mensch, bei dem die Fähigkeit zu empfinden sehr stark ist. So schließt sich Humboldt einerseits Kant an, wenn er schreibt, "weder das, was die Moral zur Pflicht macht, noch das, was ihren Gesetzen gleichsam die Sanktion gibt, ... ist von Religionsideen abhängig"69, andererseits sieht er aber auch keine Schwie63 64 65 66 67 68
GS 1,150. GS I, 15l. Ebd. GS I, 152. Vgl. dazu: Haym (s. Anm. 22) 60f. GS 1,68.
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rigkeit, auch dann von Moralität zu sprechen, wenn der sittliche Wille sich in Gefühl und Begeisterung umsetzt. Bezugnehmend auf die Frage, ob der Staat mittels der Religion auf das Verhalten seiner Bürger wirken darf, ist für Humboldt die Einsicht entscheidend, daß Religion auf innerer Überzeugung beruht; demnach kann der Gesetzgeber von außen nicht unmittelbar auf sie Einfluß nehmen. Würde er es dennoch versuchen, so erreichte er im besten Fall Autoritätsglauben, der aber nicht nur dem Wesen der Religion, sondern auch der Bildung des Menschen (der Entfaltung seines Geistes wie der Entwicklung seiner Seelenkräfte) widerstrebt. Alles, was der Staat für die Religiosität seiner Bürger tun kann, besteht darin, die Hindernisse zu beseitigen, welche religiöse Betätigung erschweren. Es bleibt ihm versagt, über die Religion auf das Verhalten seiner Bürger Einfluß zu nehmen. Seine Aufgabe ist erfüllt, wenn er weise Gesetze gibt und ihre Befolgung bei seinen Bürgern durchzusetzen vermag. Heißt das nun, daß sich Humboldt von seiner bisherigen Auffassung über den Staat, in der er diesen vorwiegend als Mittel zur Bildung des Menschen betrachtete, distanziert? Sieht er dessen Funktion nunmehr allein in seiner Autorität? Dem ist zu entgegnen, daß der Verfasser von den Grenzen der Wirksamkeit des Staates sehr wohl um den rechtsfreien Raum im Staat weiß, daß also nicht alles, schon gar nicht die Gesinnung der Bürger, durch Gesetze reglementiert werden kann. Im Gegenteil: "Das meiste bleibt immer den freiwilligen einstimmigen Bemühungen der Bürger zu tun übrig. "70 Humboldts Intention bleibt also nach wie vor dieselbe; er versucht, das Wohl des Staates am Interesse der Bürger zu orientieren. Es erübrigt sich auch eine ständige Intervention von außen, wenn der Staat von innen her, durch die innere Kraft seiner Bürger, getragen und geformt wird; allerdings ist dafür - so Humboldt - "Aufklärung und hohe Geistesbildung"71 notwendig. Mittels des Einflusses der Religion hingegen läßt sich innere Sicherheit (Ruhe und Ordnung im Staate) nicht erreichen. Sieht man Religion nur unter dem Aspekt künftiger Belohnung und Bestrafung, so stellt sich überhaupt die Frage, warum die Vorstellung bürgerlicher Strafen weniger wirksam sein soll als die der Religion. Dem Staat fehlt es nicht an Mitteln, "die Gesetze aufrechtzuerhalten und Verbrechen zu verhüten. Man verstopfe, so viel es möglich ist, diejenigen Quellen unsittlicher Handlungen, welche sich in der Staatseinrichtung selbst finden, man schärfe die Aufsicht der Polizei auf begangene Verbrechen, man strafe auf eine zweckmäßige Weise, und man wird seines Zwecks nicht verfehlen. "72 Und selbst, wenn man eine edlere 69 70 71 72
Ebd. GS I, 71. GS I, 158. GS I, 161.
8 Baltisti
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Auffassung von Religion hat, weil man sich nicht nur mit einem strafenden und belohnenden Gott konfrontiert weiß, sondern sich von einem allweisen und vollkommenen Wesen verstanden fühlt, dessen Fürsorge sich auch positiv auf unser alltägliches Handeln auswirkt, weil es einem Sinn und Gehalt gibt, bedarf es nach Humboldt erst recht keiner staatlichen Intervention in bezug auf die Religion, weil eine solche Auffassung von .Religion bereits einen "Sinn für bessere Gefühle"73 voraussetzt, der in der Natur des Menschen angelegt ist, d. h. aller Religiosität bereits vorausliegt. "Die Tugend stimmt so sehr mit den ursprünglichen Neigungen des Menschen überein, ... daß es weit weniger notwendig ist, neue Triebfedern zu tugendhaften Handlungen hervorzusuchen, als nur denen, welche schon von selbst in der Seele liegen, freiere und ungehindertere Wirksamkeit zu verschaffen. "74 Dies kann aber nur gelingen, wenn man dem Individuum die Möglichkeit gibt, sich frei zu entfalten, seine "Geistesfreiheit" fördert, die sich schließ-· lich auch auf die menschliche Gesinnung auswirkt und somit von entscheidender Bedeutung für die innere Sicherheit des Staates ist. "Wann wird man ... endlich aufhören", fragt Humboldt, "die äußeren Folgen der Handlungen höher zu achten als die innere geistige Stimmung, aus welcher sie fließen? Wann wird der Mensch aufstehen, der für die Gesetzgebung ist, was Rousseau der Erziehung war, der den Gesichtspunkt von den äußren physischen Erfolgen hinweg auf die innere Bildung des Menschen zurückzieht?" 75 Die von Humboldt geforderte "Geistesfreiheit" erweist sich schließlich auch als Grundvoraussetzung für jede Religion. Je freier der Mensch ist, desto selbständiger wird er und desto wohlwollender gegen andere. Es gibt nichts, was der Religion einen fruchtbareren Boden bereiten könnte als die Freiheit des menschlichen Geistes. "Je höher endlich das Gefühl der Kraft in dem Menschen, je ungehemmter jede Äußerung derselben, desto williger sucht er ein inneres Band, das ihn leite und führe, und so bleibt er der Sittlichkeit hold, es mag nun dies Band ihm Ehrfurcht und Liebe der Gottheit oder Belohnung des eignen Selbstgefühls sein. "76 Es kann also nicht Aufgabe des Staates sein, Religion direkt zu fördern oder gar mittels der Religion auf das Verhalten der Bürger Einfluß zu nehmen, sondern nur die Bedingungen (Freiheit) zu gewähren, die Religion ermöglichen. Alles, was die Religion sonst betrifft, liegt nach Humboldt außerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staates.
8.3.4 Zwischenresümee Es steht für Humboldt außer Zweifel, daß die Existenz des Staates allein durch den menschlichen Willen legitimiert ist. Nur sofern es Menschen gibt, 73 74
75 76
GS 1,159. GS I, 159f. GS I, 162. GS I, 163f.
8.3 Innere Sicherheit
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die den Staat bejahen, ist er gerechtfertigt. In Abhebung von anderen Staatstheorien, begründet auf göttlicher Autorität, Macht- oder Nützlichkeitsprinzipien, vertritt Humboldt eine anthropologisch-teleologische Lehre vom Staate. Der Staatszweck ist nicht Selbstzweck, sondern läßt sich nur vom Lebenszweck des Menschen her eruieren und begründen. Dieser gibt die Norm für die Aufgaben und Grenzen der Wirksamkeit des Staates. Es ist deshalb zuwenig, bloß einen Staat zu bilden, in dem gerechte Gesetze bestehen und Fürsorge für die Bedürfnisse und Bequemlichkeiten der Bürger getroffen wird, sondern dem Bürger muß es möglich bleiben, auch Mensch zu sein, d. h. sich in seiner ganzen Bestimmung als Mensch verwirklichen zu können. 77 Wäre der Mensch ein rein geistiges, von allen sinnlichen Eindrücken und Begierden freies Wesen, dann bestünde sein Leben - so Humboldt - allein im Hervorbringen von Ideen. Wäre er hingegen nur sinnliches Geschöpf, so läge die Vervollkommnung seiner Wesensart im vollendeten Genuß. Da der Mensch aber vermittelt durch die "Einbildungskraft"78 bei des in einem ist, sowohl sinnliches Geschöpf als auch denkendes Wesen, gilt es beide Aspekte menschlichen Seins auf harmonische Weise zu verwirklichen. Das heißt, das sinnliche Streben des Menschen ist insofern zu fördern, als es jene notwendigen Impulse hervorbringt, die der höchsten und proportionierlichsten Bildung der menschlichen Kräfte zu einer Ganzheit dienlich sind. Allerdings darf sinnliches Streben niemals vom Mittel, das es immer bleiben sollte, zum Zweck werden; damit "vernichtet [es] jede bessere Kraft der Seele"79 und stumpft jedes Gefühl, selbst das sinnlich Schöne ab. Menschliches Sein erschöpft sich iliemals bloß im Sinnlichen; was den Menschen zum Menschen macht, ist auch für Humboldt die geistige Natur. "Durch sie allein erlangt der Mensch wahre Würde. Denn sie ist mit keinem andren Gute vergleichbar, da jedes andre Gut durch sie erst hervorgebracht oder doch durch sie erst des Wunsches wert gemacht wird ... Denn durch sie wird die Idee der Vollkommenheit, die an sich so reich und groß, so füllend und erhebend ist, auf das innigste mit seiner Individualität verbunden. "80 Gleichzeitig bewirkt aber dieses Streben nach Vollkommenheit auch ein Hinausgehen über die eigene Individualität, denn man "fühlt seine eigne Vollkommenheit höher, voller, inniger, wenn [man] sie im andren erblickt"81. Das heißt, jede Verbundenheit mit den Mitmenschen, jede Freundschaft und Liebe, findet Vgl. dazu: GS I, 54. Mit dem Begriff "Einbildungskraft" als Fähigkeit, "sinnliche Vorstellungen mit außersinnlichen Ideen zu verknüpfen" (GS I, 56), greift Humboldt auf Kant zurück, der ebenfalls vor dem Problem steht, zwischen den reinen Verstandesbegriffen und den Inhalten der Erfahrung zu vermitteln und dieses durch die transzendentale Einbildungskraft zu lösen versucht. 79 GS I, 58. 80 GS I, 59. 81 GS I, 60. 77
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in diesem Streben nach Vollkommenheit, bedingt durch die geistige Natur des Menschen, ihren tragenden Grund. Zum vollendeten Menschen gehören "Lebhaftigkeit der Sinnlichkeit, Feuer der Einbildungskraft, Wärme des moralischen Gefühls, Stärke des Willens"82 - doch alles in ausgewogener Harmonie und geleitet durch die Vernunft. Aufgabe des Staates und vor allem des Gesetzgebers ist es, nach einem eingehenden Studium des Menschen dessen Anlagen und Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen. Demnach sind der Wirksamkeit des Staates einerseits Grenzen zu setzen, damit sich das Recht des Individuums auf freie Selbstverwirklichung gegen den Zwang des Staates durchzusetzen vermag, andererseits darf der Staat aber auch nicht völlig unwirksam sein, weil es Bereiche gibt, in denen das Individuum subsidiär auf das Mitwirken des Staates angewiesen ist, so vor allem in Fragen der Sicherheit vor auswärtigen Feinden und Beeinträchtigungen seitens der Mitbürger. Dies veranlaßt Humboldt, den Begriff Sicherheit noch näher zu bestimmen, weil es eine Fülle von Möglichkeiten gibt, unter dem Deckmantel der Sicherheit der freien Selbstverwirklichung des Individuums entgegenzuwirken. Demnach lautet seine Definition: "Sicher nenne ich die Bürger in einem Staat, wenn sie in der Ausübung der ihnen zustehenden Rechte, dieselben mögen nun ihre Person oder ihr Eigentum betreffen, nicht durch fremde Eingriffe gestört werden; Sicherheit folglich - wenn der Ausdruck nicht zu kurz und vielleicht dadurch undeutlich scheint - Gewißheit der gesetzmäßigen Freiheit. "83 Damit ist das Problem aber noch nicht gelöst, denn der Begriff Sicherheit korreliert nun mit dem dem Individuum zustehenden Recht, und so stellt sich erneut die Frage, wie und wodurch dieses Recht bestimmt wird. Interessanterweise fordert Humboldt aber nicht nur für die Bürger Sicherheit, sondern auch für den Staat, konkret für dessen Gewaltmonopol. Allerdings ist und bleibt die Staatsvereinigung "bloß ein untergeordnetes Mittel, welchem der wahre Zweck, der Mensch, nicht aufgeopfert werden darf"84. Aufgrund der zu erfüllenden Aufgabe bezüglich der Sicherheit seiner Bürger hat der Staat durch Gesetze dafür zu sorgen, daß Handlungen verhindert werden, die direkt in fremdes Recht eingreifen oder aus deren Folgen sich derartige Eingriffe ergeben. Und wenn immer sie geschehen, so ist der angerichtete Schaden, der sich daraus ergibt, soweit es möglich ist, wiedergutzumachen und dafür Vorsorge zu treffen, daß durch angemessene Bestrafung künftige Interventionen unterbleiben. Aus der Notwendigkeit staatlicher Wirksamkeit ergibt sich die Notwendigkeit von Gesetzen: "Polizei-, Zivil- und Kriminalgesetze"85, deren Funktionen jedoch an die Selbstverwirklichung des 82
83 84
GS I, 6I. GS 1,179. GS 1,180.
8.3 Innere Sicherheit
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Individuums rückgekoppelt sein müssen. So bemüht sich Humboldt im zweiten Teil seiner Schrift jene konkreten Implikationen aufzuzeigen, die sich aus seinen bisher dargelegten "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" ergeben.
85
GS I, 181.
9 Staatliche Wirksamkeit und Gesetze 9.1 Polizeigesetze
Wenn nun - aufgrund der vorausgehenden Überlegungen - das höchste Gut menschlichen Daseins in der Entfaltung der dem Individuum je eigentümlichen Fähigkeiten liegt, staatliche Intervention hingegen solche Verwirklichung notwendigerweise vereitelt, insofern sie mehr das Gemeinsame als das Individuelle berücksichtigt, so stellt sich für Humboldt erst recht die Frage nach jenem Bereich, auf den sich staatliche Wirksamkeit auf legitime Weise erstrecken kann. Zu unterscheiden sind beim menschlichen Verhalten zwei Aspekte, einer, der nur die eigenen Interessen betrifft, und ein anderer, der in Relation zu den Interessen der Mitmenschen steht. Unterscheidungskriterium dafür ist das Recht, d. h. der Staat darf "nichts weiter verbieten, als was mit Grunde Beeinträchtigung seiner eignen Rechte oder der Rechte der Bürger besorgen läßt ... Nirgends also, wo der Vorteil oder der Schaden nur den Eigentümer allein trifft, darf der Staat sich Einschränkungen durch Prohibitivgesetze erlauben"l. Demnach steht es dem Staat nicht zu, ärgerniserregende Handlungen in bezug auf Religion und Sitten zu verbieten. "Wer Dinge äußert oder Handlungen vornimmt, welche das Gewissen und die Sittlichkeit des andren beleidigen, mag allerdings unmoralisch handeln, allein sofern er sich keine Zudringlichkeit zuschulden kommen läßt, kränkt er kein Recht. "2 Wer auch immer an solchem Verhalten Anstoß nimmt, möge den Umgang mit der betreffenden Person meiden oder ihr mit Willensstärke und Vernunftgründen entgegentreten. Außerdem muß man sich immer dessen bewußt sein, daß auch das eigene, vermeintlich richtige Verhalten für andere anstößig sein kann. Daß eine Handlung einem anderen "Abbruch" tut, berechtigt den Staat noch nicht einzugreifen; erst wenn dessen Recht "geschmälert" wird, und das heißt, wenn diesem "ohne seine Einwilligung oder gegen dieselbe ein Teil seines Eigentums oder seiner persönlichen Freiheit entzogen wird"3, darf der Staat diesbezüglich wirksam werden. Nicht zu übersehen sind aber in all den Fällen, in denen gegen die guten Sitten gehandelt wird, die positiven Aspekte, die sich aus solcher Konfrontation ergeben können, nämlich Charakterstärke, Toleranz und die Vielseitigkeit der Ansicht, die dabei geprüft wird. 1 2
3
GS 1,182. GS 1,183. GS 1,182.
9.1 Polizeigesetze
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Und wie wenig Humboldt bei ärgernis erregendem und sittenwidrigem Verhalten die Sicherheit der Bürger gefährdet sieht, so besteht für ihn auch keine Besorgnis, wenn Menschen ungeprüft einen Beruf ausüben. Nur wer sich freiwillig einer staatlichen Prüfung unterziehen will, soll - sofern die Prüfung gut bestanden wurde - vom Staat mit einem Prädikat versehen werden, um den Bürgern kundzutun, wem sie ihr Vertrauen schenken können; allen anderen jedoch, die sich keiner Prüfung unterziehen, darf der Staat die Ausübung des Berufes nicht versagen. Andernfalls gerät er in Gefahr, "die Nation träge, untätig, immer vertrauend auf fremde Kenntnis und fremden Willen zu machen, da gerade der Mangel sicherer, bestimmter Hilfe sowohl zu Bereicherung der eigenen Erfahrung und Kenntnis mehr anspornt, als auch die Bürger untereinander enger und mannigfaltiger verbindet, indem sie mehr einer von dem Rate des andren abhängig sind"4. Es finden sich hier dieselben Argumente wieder, die Humboldt bereits gegen den Wohlfahrtsstaat (vgl. Kap. 7) angeführt hat. Der Staat soll in keiner Weise für das positive Wohl der Bürger sorgen, weder für ihr Leben, noch für ihre Gesundheit, allein für die Sicherheit. "Und nur insofern die Sicherheit selbst leiden kann, indem Betrügerei die Unwissenheit benutzt, könnte eine solche Aufsicht innerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staats liegen. "5 Aber auch hier gilt, daß der Bürger sich möglichst selbst helfen soll; es ist kein Schaden zu groß, als daß er den einzelnen nicht zu größerer Vorsicht und Klugheit anleite. Somit bleibt als Aufgabe für den Staat im Hinblick auf die Sicherheit seiner Bürger, nur jene Handlungen zu verbieten oder einzuschränken, "deren Folgen die Rechte andrer kränken, d. i. ohne oder gegen die Einwilligung derselben ihre Freiheit oder ihren Besitz schmälern, oder von denen dies wahrscheinlich zu besorgen ist, eine Wahrscheinlichkeit, bei welcher allemal auf die Größe des zu besorgenden Schadens und die Wichtigkeit der durch ein Prohibitivgesetz entstehenden Freiheitseinschränkung zugleich Rücksicht genommen werden muß"s. Das heißt, zwischen Freiheitseinschränkung und Gefährdung der Sicherheit ist ein Mittelweg zu wählen, der allerdings nicht ein für allemal durch eine allgemeine Theorie festgelegt werden kann, sondern jeweils in der konkreten Situation eruiert werden muß. Da Gefährdung der Sicherheit den einzigen Grund für Prohibitivgesetze darstellt, ist es für Humboldt einerseits selbstverständlich, daß diese aufzuheben sind, wenn der betreffende Grund nicht mehr vorliegt, andererseits aber darf der Staat bei vorauszusehenden gefährlichen Handlungen nicht untätig bleiben und hoffen, daß die Bürger von sich aus die erforderlichen Sicherheitsrnaßnahmen treffen werden, sondern "er muß vielmehr 4
5 6
GS 1,184. GS 1,185. GS 1,187.
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9 Staatliche Wirksamkeit und Gesetze
wo wirklich die Lage die Besorgnis dringend macht - die an sich unschädliche Handlung selbst einschränken"7. Solche Interventionen mögen aber so wenig wie möglich in Anspruch genommen und stattdessen die Bürger dazu angehalten werden, miteinander auf freiwilliger Basis auf ihre Sicherheit bedachte Verträge zu schließen, z. B. daß gefährliche Unternehmen nur zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten durchgeführt werden oder ganz unterbleiben sollen. Verträge dieser Art sind nach Humboldt den Verordnungen des Staates vorzuziehen, da sie erstens von den unmittelbar Betroffenen selbst geschlossen werden und somit keine unnötigen Freiheitseinschränkungen für Unbeteiligte mit sich brächten und zweitens, weil freiwillig eingegangene Verträge, bedingt durch das eigene Interesse, besser und strenger befolgt würden und den Bürger auch eher zur Mündigkeit und Selbstverantwortung erzögen. Und wie bereits beim Erlaß von Prohibitivgesetzen der Selbstverwirklichung des Individuums wegen der Staat nur mit äußerster Zurückhaltung agieren soll, so noch mehr bei der Auferlegung von Pflichten der Bürger füreinander und für den Staat. Humboldt findet es nicht angebracht, "wenn der Staat einen Bürger zwingt, zum Besten des andren irgend etwas gegen seinen Willen zu tun"8. Bringen solche Entscheidungen neben der Gefahr des Mißbrauchs von Gesetzen doch "immer etwas Hartes, über die Empfindung und Individualität des andren Absprechendes mit sich"9. Abgesehen davon sind die Menschen zur gegenseitigen Hilfeleistung bereitwilliger, je weniger diese unter Zwang geschieht. Und wer immer sich dagegen sträuben mag, Positives zu bewirken, sei es aus Laune, Eigensinn oder Egoismus, so ist zu bedenken, daß Hindernisse die Energie beleben und die Klugheit schärfen - "nur diejenigen, welche die Ungerechtigkeiten der Menschen hervorbringen, hemmen, ohne zu nützen"10. Verletzung des Rechts ist nach Humboldt somit der einzige Grund, der die Sicherheit des Bürgers gefährdet und den Staat berechtigt, den Freiheitsanspruch des einen Individuums zugunsten der Selbstverwirklichung des anderen einzuschränken. Bereits oben (vgl. Kap. 8.3.4), wo Humboldt den Begriff der Sicherheit eingehender zu bestimmen versuchte und ihn in Korrelation zum Recht setzte ("Sicher nenne ich Bürger in einem Staat, wenn sie in der Ausübung der ihnen zustehenden Rechte, dieselben mögen nun ihre Person oder ihr Eigentum betreffen, nicht durch fremde Eingriffe gestört werden"), stellte sich die Frage, wer denn dieses Recht bestimme. Selbst wenn man unter Recht das positive Gesetz versteht, ist - wie die Erfahrung zeigt - nicht immer eindeutig feststellbar, wann eine Verletzung Ebd. GS 1,188. 9 Ebd. 10 GS 1,189. 7
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9.1 Polizeigesetze
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des Rechts vorliegt, lassen sich die Gesetze doch verschieden interpretieren. Um so weniger bietet das Naturrecht, auf das sich Humboldt im folgenden bezieht, ein eindeutiges Kriterium dafür. "Das Naturrecht, wenn man es auf das Zusammenleben mehrerer Menschen anwendet, scheidet die Grenzlinie scharf ab. Es mißbilligt alle Handlungen, bei welchen der eine mit seiner Schuld in den Kreis des andren eingreift, alle folglich, wo der Schaden entweder aus einem eigentlichen Versehen entsteht oder, wo derselbe immer oder doch in einem solchen Grade der Wahrscheinlichkeit mit der Handlung verbunden ist, daß der Handelnde ihn entweder einsieht oder wenigstens nicht, ohne daß es ihm zugerechnet werden müßte, übersehn kann. "11 Diese Definition ist jedoch viel zu vage, um dem Staat genau anzuzeigen, wann und in welchem Ausmaß er durch Prohibitivgesetze wirksam werden soll. Wenn Humboldt nun ärgerniserregendes und gegen das sittliche und religiöse Empfinden von Mitmenschen gerichtete Verhalten aus der Rechtsverletzung ausklammert und von einem solchen nur dann spricht, wenn das Recht Dritter "geschmälert" wird, so fragt sich, wie und aufgrund welcher Kriterien das eine Verhalten vom anderen abzugrenzen ist. Verlangt nicht gerade das Naturrecht, auf das sich der Verfasser von den Grenzen staatlicher Wirksamkeit beruft, ein fürjeden Menschen im gleichen Maße zugestandenes Recht (Anspruch) auf Persönlichkeitsentfaltung, und müßte man - konsequenterweise - von einer "Schmälerung des Rechts" nicht bereits dort sprechen, wo der einzelne sich in seinem sittlichen Empfinden durch andersdenkende und andershandelnde Menschen verletzt fühlt? Gehört doch die Verwirklichung der sittlichen Natur zum Wesensbestand der Persönlichkeit. Es gilt aber auch umgekehrt, daß ein übertriebenes religiöses und sittliches Empfinden (Bigotterie) die individuelle Lebensgestaltung der Mitmenschen einschränken kann. Lassen sich hier überhaupt noch scharfe Grenzen ziehen zwischen Handlungen, deren Folgen den Handelnden nur selbst betreffen und solchen, die auch die Interessen der anderen berühren? Gibt es nicht auch indifferente Handlungen in bezug auf die Mitwelt und Umwelt? Z. B. mag es für die Mitmenschen doch irrelevant sein, ob man am Abend ins Theater oder ins Kino geht oder zu Hause bleibt und ein Buch liest. Dem ist sicher zuzustimmen, wenn man den Sachverhalt nicht nochmals spitzfindig analysiert und die Überlegung anstellt, ob z. B. das Lesen eines Fachbuches und die daraus gewonnene Information bzw. die Vermittlung dieser Information an die Mitwelt nicht wertvoller ist als der Besuch eines Unterhaltungsfilms. Anders wiederum könnte man sagen, daß die Entspannung nach einem mühevollen Arbeitstag, die sich auch indirekt auf die Angehörigen (Familie) auswirkt, doch von größerem Vorteil ist als eine neuerliche Belastung durch das Lesen von Fachliteratur. So ließe sich immer weiter argumentieren, die Frage ist nur, ob sich eine solche Argumenta11
GS 1,186.
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9 Staatliche Wirksamkeit und Gesetze
tionskette nicht selbst ad absurdum führt, weil nicht mehr ad hominem (die Interessen des Menschen betreffend), sondern nur noch des Argumentierens willen argumentiert wird. Die Schwierigkeit der Abgrenzung von Handlungen, deren Folgen nur den Handelnden selbst betreffen, gegen andere, die sich auch auf Dritte auswirken, bleibt dennoch aufrecht. Humboldt macht es sich zu leicht, wenn er nur auf das Recht als Unterscheidungskriterium hinweist und vom Staat verlangt, nichts weiter zu verbieten, "als was mit Grunde Beeinträchtigung seiner eignen Rechte oder der Rechte der Bürger besorgen läßt"12. Es wird auf dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips noch zu prüfen sein, erstens, was indifferente Handlungen sind, und zweitens, in welchem Ausmaß der Staat bei Interessenskollisionen durch Sanktionen initiativ werden darf. Zu kritisieren sind auch Humboldts Ausführungen bezüglich einer vom Staat nicht zu kontrollierenden und zu prüfenden Berufsausübung. Wie soll der des Fachwissens unkundige Bürger ahnen, wem er das Vertrauen schenken darf? Ist die Sicherheit der Bürger (Humboldts einziges Argument, das den Staat wirksam werden läßt) nicht erst recht gefährdet, wenn der einzelne - auf welchem Gebiet auch immer - unqualifizierten Menschen ausgeliefert ist? Den Bürger durch Schaden klug und eigeninitiativ werden zu lassen, ist ein zu hoher Preis, den Humboldt fordert; gibt es doch Schäden, die nicht wieder gut zu machen sind. Z. B. abzuwarten, bis sich herumgesprochen hat, wer ein guter oder schlechter Chirurg oder Brückenbauer ist, kann in vielen Fällen zu spät sein. Zwar räumt Humboldt ein, daß der Staat dort, wo Besorgnis besteht, bereits eine an sich unschädliche Handlung einzuschränken habe. Das setzt aber doch wiederum ein wachsames Auge (Kontrolle) des Staates voraus. Wie ließe sich denn sonst feststellen, welche Handlungen besorgniserregend sind oder nicht? Eine gediegene Berufsausbildung und Prüfung der Kenntnisse vermag am ehesten gefährlichen, von Menschen verursachten Handlungen vorzubeugen. Es muß ferner auch eine ideale Gesellschaft sein, die Humboldt vor Augen hat, wenn der Staat den Bürger weder zu zwingen braucht noch zwingen soll, gegen seinen Willen etwas zum Besten seiner Mitbürger zu tun. Die Frage nach dem Gemeinwohl steht für ihn wohl nicht zur Diskussion. Diesbezüglich war sogar der liberale Denker J. St. Mill, auf dessen Freiheitsschrift Humboldts "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" einen bedeutenden Einfluß ausübten 13 , realistischer, wenn er schrieb: "Es gibt auch viele positive Handlungen zum Besten anderer, zu denen jemand mit Fug und Recht angehalten werden kann, daß man z. B. Zeugnis vor einem Gerichtshof ablege, oder daß man seinen gebührenden Anteil leiste an der Landesverteidigung oder an anderen Wer12
GS 1,182.
13 Vgl. dazu: Anm. 1 in Kap. 4.
9.2 Zivilgesetze
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ten im Interesse des Gemeinwesens, unter dessen Schutz wir stehen. Man ist aber auch zu bestimmten Akten persönlichen Wohlwollens verpflichtet, z. B. das Leben eines anderen zu retten oder den Schutzlosen gegen üble Behandlung zu schützen. In all den Fällen, wo es deutlich die Pflicht eines Menschen ist, Bestimmtes zu leisten, kann er bei Unterlassung mit Recht von der Gesellschaft zur Verantwortung gezogen werden. "14 Selbst wenn man mit Humboldt die Aktivitäten des Staates nur auf die Sicherheit der Bürger vor inneren und äußeren Feinden einzuschränken versuchte, so müßte man sich dessen bewußt sein, daß auch dieses äußerste Mindestmaß staatlicher Wirksamkeit sich ohne "Zwang" nicht erreichen ließe. Oder wer wäre z. B. bereit, statt der vorgeschriebenen Steuer, die er zu leisten hat, einen Teil seines Einkommens freiwillig an die Öffentlichkeit abzutreten? Wenn dies nicht einmal für Einrichtungen (Straßen, Krankenhäuser etc.), die ihm selbst wieder zugute kommen, der Fall ist, dann noch um vieles weniger für Ausgaben, von denen er sich keinen offensichtlichen Nutzen erwarten kann. Ein Feilschen ohne Ende wäre die Folge und jeder würde dem anderen den Großteil der Aufgaben und Pflichten aufbürden. Damit soll aber nicht in Abrede gestellt werden, daß die Bürger nicht auch selbst eigeninitiativ werden können und sollen. In vielen Fällen zeigen spontane Aktionen der Bürger effizientere Erfolge als die durch den schleppenden Bürokratismus des Staates erfolgten Maßnahmen. Das macht aber den Staat im Hinblick auf Initiativen für das Wohl der Bürger nicht überflüssig, im Gegenteil, seine Hilfeleistung ist als letzter Garant notwendig, weil den Bürgerinitiativen doch - bei aller Spontaneität und Bereitwilligkeit - die Kontinuität und Verläßlichkeit fehlt. Wer garantiert einem in Not geratenen oder von einer schweren Krankheit betroffenen Individuum denn wirklich verläßliche Hilfe, wenn nicht ein durch das Gesetz festgelegter Anspruch? Damit soll dem Staat zwar nicht eine über alles zu verfügende Kompetenz eingeräumt werden, sondern nur über das, was der Bürger aus Eigeninitiative nicht zu leisten vermag. Diesbezüglich kommt Humboldt dem Sub si diaritätsprinzip sehr nahe, wenn er schreibt, daß Verträge, die die Bürger unter sich freiwillig eingehen, den Verordnungen des Staates vorzuziehen sind.1 5 Denn niemand ist geeigneter, eine Sache gut durchzuführen, als der, der ein persönliches Interesse daran hat, vorausgesetzt, daß er auch genügend Reife zur Unparteilichkeit und Objektivität besitzt. 9.2 Zivilgesetze
Sind die Polizeigesetze für Handlungen gedacht, die sich unmittelbar auf den Handelnden selbst beziehen, deren Folgen aber die Rechte anderer 14 15
J. St. Mill, Die Freiheit. Übers. v. E. Wentscher (PhB 202). Leipzig 1928, 16.
Vgl. GS I, 188.
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9 Staatliche Wirksamkeit und Gesetze
kränken und verletzen, so betreffen die Zivilgesetze Tätigkeiten, die sich unmittelbar gegen die Mitmenschen richten. Einem solchen Verhalten ist zweifelsohne seitens des Staates durch Gesetze vorzubeugen, und es muß im gegebenen Falle auch bestraft werden. Sanktionen durchzuführen steht allein dem Staat zu, da nach Humboldt der einzelne seine Privatrechte dem Staat übertragen hat. Der Staat hat einerseits dafür zu sorgen, daß dem Geschädigten kein rechtmäßiges Mittel zur Wiedergutmachung des erlittenen Schadens versagt bleibt, andererseits hat er auch darauf zu achten, daß die Rachsucht nicht überhand nimmt. In Handlungen mit gegenseitiger Einwilligung darf sich der Staat nicht einmischen, diese sind so zu kategorisieren wie Tätigkeiten, die ein Mensch für sich allein, ohne unmittelbaren Bezug auf andere, ausübt. Besonderes Augenmerk ist aber auf jene Handlungen zu richten, die nicht sofort ausgeführt und vollendet werden, sondern Folgerungen nach sich ziehen. "Von dieser Art sind alle Willenserklärungen, aus welchen vollkommene Pflichten der Erklärenden entspringen, sie mögen einseitig oder gegenseitig geschehen. Sie übertragen einen Teil des Eigentums von dem einen auf den andren, und die Sicherheit wird gestört, wenn der Übertragende durch Nichterfüllung des Versprechens das Übertragene wiederum zurückzunehmen sucht. Es ist daher eine der wichtigsten Pflichten des Staats, Willenserklärungen aufrechtzuerhalten. "16 Der Zwang, der dabei notfalls ausgeübt werden muß, darf jedoch nur den treffen, der die Willenserklärung abgibt; allein diesem gegenüber ist er gerechtfertigt, weil vom Einhalten oder Nichteinhalten seiner Willenserklärung ja weitgehend die Lebensgestaltung dessen abhängt, der von der Willenserklärung betroffen ist. Ferner ist auch zu prüfen, ob der Erklärende überhaupt berechtigt ist, Willenserklärungen abzugeben, und wenn ja, ob sie auch seinem freien Willen entsprungen sind. Für beide Parteien, sowohl für diese, welche die Willenserklärung abgibt, wie für jene, auf die sie sich bezieht, gilt als oberstes Prinzip, daß durch Verbindlichkeiten, welcher Art auch immer, die Freiheit des Individuums und d. h. vorwiegend seine Persönlichkeitsentfaltung nicht eingeschränkt werden darf. Andernfalls wäre die Willenserklärung rechtswidrig. Und das bedeutet für Humboldt nicht nur gegen das positive Gesetz zu verstoßen, sondern auch gegen das Naturrecht; dieses verstanden als ein - aufgrund menschlicher Existenz - bestehendes Recht (Anspruch) auf Entfaltung (Bildung, Ausbildung) der in der individuellen Natur angelegten Fähigkeiten und Anlagen zu einer harmonischen Ganzheit. Somit ergibt sich für den Staat im Hinblick auf Willenserklärungen eine doppelte Aufgabe: einerseits sind die rechtsgültigen aufrechtzuerhalten, andererseits ist den rechtswidrigen, aus Gründen der Sicherheit für das Individuum, der Schutz des Gesetzes zu versagen. So z. B. in Fällen, ,,1., wo 16
GS I, 191.
9.2 Zivilgesetze
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der Versprechende kein Zwangsrecht übertragen kann, ohne sich selbst bloß zu einem Mittel [Sklaven] der Absichten des andren herabzuwürdigen, ... 2., wo der Versprechende selbst über die Leistung des Versprochenen, der Natur desselben nach, keine Gewalt hat, wie z. B. bei Gegenständen der Empfindung und des Glaubens der Fall ist; 3., wo das Versprechen entweder an sich oder in seinen Folgen den Rechten andrer entweder wirklich entgegen oder doch gefährlich ist, ... "17. Und selbst dort, wo gegen die Rechtmäßigkeit eines Vertrages oder einer Willenserklärung nichts einzuwenden ist, kann der Staat dennoch, um den Zwang zu erleichtern, den sich die Menschen zwar freiwillig, aber vielleicht in Unkenntnis der Folgen auferlegt haben, verhindern, daß die durch den Vertrag eingegangene Verpflichtung für das restliche Leben nur noch zur Last wird. Eine Dispens dieser Art ist aber nach Humboldt nicht bei jedem Vertrag angebracht, würde er doch den verbindlichen Charakter von Verträgen selbst aufheben. Verträge, die sich "bloß auf Übertragung von Sachen ohne weiteres persönliches Verhältnis"18 beziehen, sind unbedingt einzuhalten. Abgesehen von der Sicherheit der Rechtsgeschäfte, die bei einer jederzeit möglichen Vertrags auflösung in Frage gestellt würde, wirkte sich ein solches Vorgehen auch negativ auf die Charakterbildung aus; zeigt sich die Festigkeit des Charakters doch vorwiegend darin, daß das einmal gegebene Wort unwiderruflich bindet. Anders hingegen verhält es sich bei Verträgen, "welche persönliche Leistungen zur Pflicht machen oder gar eigentliche persönliche Verhältnisse hervorbringen"19. In diesen Fällen wirkt sich ein Zwang auf die edelsten Kräfte des Menschen nachteilig aus. Und da eine Erfüllung des Vertrags (ein Gelingen der Verbindung) vom fortdauernden Engagement der in diesen Vertrag Einwilligenden abhängt, können Verträge dieser Art, allein durch äußeren Zwang, kaum aufrechterhalten werden. Deshalb fordert Humboldt: "Wo daher durch den Vertrag ein solches persönliches Verhältnis entsteht, das nicht bloß einzelne Handlungen fordert, sondern im eigentlichsten Sinn die Person und die ganze Lebensweise betrifft, wo dasjenige, was geleistet, oder dasjenige, dem entsagt wird, in dem genauesten Zusammenhange mit inneren Empfindungen steht, da muß die Trennung zu jeder Zeit und ohne Anführung aller Gründe erlaubt sein. So bei der Ehe. "20 Wo aber die Beziehung nicht so eng ist, meint Humboldt, sei seitens des Staates - abhängig von der Bedeutung und Wichtigkeit der Beziehung oder des Vertrages - ein Termin festzusetzen, innerhalb dessen keine der Parteien vertragsbrüchig werden darf, nach dessen Ablauf es aber einer Erneuerung des Vertrages bedarf, um seiner Rechtswirksamkeit weiterhin Gültigkeit zu verleihen. Wo der freie Wille nicht mehr die Verbindung bestimmt, unterscheidet sie sich 17 18 19 20
GS I, 19lf. GS 1,192. Ebd. GS 1,193.
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9 Staatliche Wirksamkeit und Gesetze
nur noch graduell von denjenigen, "worin der eine sich zu einem bloßen Mittel der Absicht des andren macht oder vielmehr von dem andren dazu gemacht wird"21. Es steht nach dem bisher Dargelegten für Humboldt außer Zweifel, daß niemand gültigerweise über etwas einen Vertrag schließen kann, das nicht wirklich sein Eigentum ist. Auch kann sich das Recht unmittelbar immer nur auf Personen beziehen und auf Sachen nur insofern, als sie durch Handlungen mit Personen verknüpft sind. "Der Mensch darf daher zwar bei seinem Leben mit seinen Sachen nach Gefallen schalten, sie ganz oder zum Teil, ihre Substanz oder ihre Benutzung oder ihren Besitz veräußern, auch seine Handlungen, seine Disposition über sein Vermögen, wie er es gut findet, im voraus beschränken. Keineswegs steht ihm aber die Befugnis zu, auf eine für andre verbindliche Weise zu bestimmen, wie es mit seinem Vermögen nach seinem Tode gehalten werden oder wie der künftige Besitzer desselben handeln oder nicht handeln solle. "22 Man mag sich zwar wundern, daß Humboldt die Freiheit des Menschen, verstanden als Möglichkeit, seine natürlichen Anlagen und Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen, durch letztwillige Verordnungen gefährdet sieht. Eine genauere Analyse wird aber zeigen, daß seine Befürchtungen nicht ganz unbegründet sind. Gesetzt den Fall, jeder Erblasser hätte die Möglichkeit, die Übergabe seiner Hinterlassenschaft mit allen möglichen Auflagen zu verknüpfen, so wäre das wirklich "das vorzüglichste Mittel, wodurch eine Generation der andren Gesetze vorschreibt, wodurch Mißbräuche und Vorurteile, die sonst nicht leicht die Gründe überleben würden, welche ihr Entstehen unvermeidlich oder ihr Dasein unentbehrlich machen, von Jahrhunderten zu Jahrhunderten forterben, wodurch endlich, statt daß die Menschen den Dingen die Gestalt geben sollten, diese die Menschen selbst ihrem Joche unterwerfen. "23 Kein Zweifel, daß die Möglichkeit solcher letztwilligen Verordnungen auch tatsächlich von herrschsüchtigen und eitlen Menschen wahrgenommen würde und sich damit Herrschsucht und Eitelkeit durch Jahrhunderte fortwirkten, denn kein weiser Mensch würde sich anmaßen, etwas für eine Zeit zu verordnen, die seinen Kenntnissen und seinem Wissen weit vorausliegt und somit auch seine Urteilsfähigkeit übersteigt. Was ist aber die Alternative dazu - daß allein der Staat die Erbfolge festsetzt, daß also nur die Intestaterbfolge Gültigkeit hat? Dagegen wehrt sich Humboldt ebenfalls, würde damit dem Staat doch ein zu mächtiger Einfluß verschafft werden. Und "überhaupt ist im ganzen der mannigfaltige und wechselnde Wille der einzelnen Menschen dem einförmigen und unveränderlichen des Staats vorzuziehen. Auch scheint es, welcher Nachteile man immer mit Recht die Testamente beschuldigen mag, dennoch hart, dem Menschen die unschuldige Freude des Gedan21 Ebd. 22 GS I, 194. 23 GS I, 195.
9.2 Zivilgesetze
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kens zu rauben, diesem oder jenem mit seinem Vermögen nach dem Tode wohltätig zu werden"24. Läßt sich doch auch durch die Freiheit der Menschen, ihr Vermögen nach eigenem Gutdünken zu hinterlassen, ein persönliches Band zu den mit der Erbschaft bedachten Personen knüpfen - ein Gedanke, welcher der ganzen Schrift von den Grenzen der Staatswirksamkeit zugrunde liegt, nämlich möglichst alle Fesseln der Gesellschaft zu zerbrechen und diese durch persönliche, frei gewählte Verbindungen zu ersetzen. Denn "der Isolierte vermag sich ebensowenig zu bilden, als der Gefesselte"25. Der Widerspruch, der sich aus den Vor- und Nachteilen einer dem Gutdünken des Erblassers selbst überlassenen letztwilligen Verordnung ergibt, kann nach Humboldt dadurch gelöst werden, daß man die beiden Bestimmungen, die Testamente enthalten können, voneinander trennt. Räumt man dem Erblasser nur das Recht ein, zu bestimmen, wer unmittelbar der nächste Besitzer seines Nachlasses sein wird, so wird der Freiheitsverwirklichung des Erben kein Abbruch getan; wird hingegen das Antreten der Erbschaft mit allen möglichen Auflagen verbunden, z. B. wie der Erbe den Nachlaß verwalten, "wem er ihn wiederum hinterlassen und wie es überhaupt in der Folge damit gehalten werden soll"26, so entstehen daraus alle vorhin erwähnten Nachteile. Humboldt ist sich aber dessen bewußt, daß seine Theorie nur einen ganz allgemeinen Rahmen für eine Erbschaftsregelung darstellt und daß es noch detaillierterer Bestimmungen bedarf, um Mißbräuchen bei letztwilligen Verordnungen vorzubeugen. Und was schließlich die Frage angeht, "inwiefern Verträge unter Lebendigen auf die Erben übergehen müssen"27, gilt ebenso als oberstes Prinzip, daß die Freiheit der davon betroffenen Individuen durch keinerlei Maßnahmen eingeschränkt werden darf. Es steht außer Zweifel, daß auch hier, in Humboldts philosophischer Reflexion über die Zivilgesetzgebung, manche Unzulänglichkeiten und Widersprüche zutage treten. So gilt es als erstes zu kritisieren, daß in seiner Theorie nicht jedermanns Bedürfnisse (Rechte auf Entfaltung der Persönlichkeit) berücksichtigt werden. Eine - "ohne Anführung aller Gründe" jederzeit mögliche Trennung von zutiefst menschlichen Verbindungen wie z. B. der Ehe kann doch nicht allein damit gerechtfertigt werden, daß sich der Zwang auf die edelsten Kräfte des Menschen nachteilig auswirken könnte. Zudem gibt es kein allgemeingültiges Prinzip, von dem sich ableiten ließe, daß die "edlen Kräfte" einzelner Individuen mehr zu berücksichtigen sind als die anderer Individuen. Wer nach allgemeinen, für jedermann gültigen Prinzipien sucht, widerspricht sich selbst, wenn er sich davon aus24 25 26 27
GS 1,196. Ebd. Ebd. GS 1,198.
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9 Staatliche Wirksamkeit und Gesetze
nimmt. Konkret, wer glaubt, die eheliche Verbindung auflösen zu müssen, weil er darin nicht mehr genügend Raum und Gelegenheit ("Mannigfaltigkeit der Situationen") für seine Selbstverwirklichung (Ausbildung seiner je eigentümlichen Anlagen und Fähigkeiten) sieht, muß fairerweise jedem anderen in dieser Verbindung Stehenden dasselbe Recht einräumen. Und es ist sehr fraglich, ob alle an der Verbindung (Ehe) Beteiligten (Gatte, Kinder) zum selben Zeitpunkt denselben Wunsch haben, sich aus der Verbindung zu lösen. Daß man auch als liberal gesinnter Denker diesbezüglich eine humanere Ansicht vertreten kann, d. h. nicht nur auf seine je eigene Selbstverwirklichung rekurrieren darf, sondern auch sittliche Verantwortung für den Mitmenschen, im Falle der Ehe im besonderen Maße für die Familienangehörigen zu tragen hat, zeigt uns abermals J. St. Mill in seiner Freiheitsschrift: "Wenn jemand entweder durch ausdrückliches Versprechen oder durch seine Handlungsweise einen andern Menschen ermutigt hat, auf seine Zuverlässigkeit zu vertrauen, auf diese Voraussetzung Erwartungen und Berechnungen zu gründen und seinen Lebensplan darauf zu bauen, so ergeben sich daraus für den Versprechenden eine Reihe moralischer Verpflichtungen. Diese können zwar zeitweise durch andere zurückgedrängt, aber niemals ignoriert werden. Und ferner, wenn aus der Beziehung von zwei Menschen Konsequenzen für andere hervorgehen, wenn sie diese in eine besondere Lage gebracht hat, oder wenn sie, wie im Fall der Ehe, sogar Menschen ins Leben gerufen hat, so entstehen daraus für die Beteiligten Verpflichtungen gegen diese Dritten, also in unserem Fall gegen die Kinder, und die Art der Erfüllung jener Pflichten hängt in hohem Maße davon ab, ob die Beziehung zwischen den Eltern fortdauert oder zerstört ist. Es folgt daraus nicht, und ich kann dies keineswegs zugeben, daß die Erfüllung des Vertrages ohne jede Rücksicht auf das Glück des widerstrebenden Teiles durchgesetzt werden müsse, aber diese Bedenken sind immerhin ein notwendiges Glied in der betreffenden Frage. Humboldt mag zwar recht haben, daß diese Bedenken keinen Unterschied machen in der gesetzlichen Freiheit beider Parteien, den eingegangenen Vertrag zu lösen (ich stimme dem völlig zu), aber sie begründen doch einen großen Unterschied in der moralischen Freiheit. Man muß alle diese Umstände in Betracht ziehen, ehe man sich zu einem Schritt entschließt, der die Interessen anderer in so hohem Grade berührt. Wer sie nicht genügend beachtet, ist für das dadurch entstehende Unrecht moralisch verantwortlich. "28 Damit soll aber nicht gesagt sein, wie auch aus den Ausführungen Mills zu entnehmen ist, daß unter allen Bedingungen eine Ehe aufrechtzuerhalten ist. Im gegebenen Fall kann es für alle Beteiligten, für die Gatten wie für die Kinder besser sein, wenn eine Trennung vorgenommen wird. Das bedarf aber doch einer reifen Überlegung und 28
Mill (s. Anm. 14) 142 f.
9.3 Kriminalgesetze
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gewichtigerer Gründe, als Humboldt sie anführt, wenn er fordert, daß "die Trennung zu jeder Zeit und ohne Anführung aller Gründe erlaubt sein"29 muß. Wie Mill richtig kommentiert, ist "diese Frage ... zu wichtig und zu kompliziert, als daß man sie so im Vorübergehen entscheiden könnte"3o. Ebenso, ganz im Sinne des Eigeninteresses des Individuums in Abgrenzung aller nur möglichen Verpflichtungen einem Gemeinwohl gegenüber, steht auch der Gedanke, mit dem Humboldt bei Lebzeiten dem einzelnen das Recht einräumt, mit seinem Eigentum nach Belieben schalten und walten zu können. Gibt es nicht auch Kulturgüter, die vielleicht zufällig in den Besitz eines Individuums (oder einer Familie) gelangt sind, von deren willkürlichen Vernichtung oder sorgfältigen Pflege jedoch die Interessen vieler Menschen betroffen sind? Ohne nun einer Enteignung von Privateigentum zugunsten des Gemeinwohls Vorschub leisten zu wollen, ist es dennoch angebracht, darauf hinzuweisen, daß sich auch Humboldts Vorstellung von der Selbstverwirklichung des Individuums ohne Korrelation zur Gemeinschaft und damit implizit zum Gemeinwohl nicht realisieren läßt. Wer glaubt, von der Gesellschaft (Staat) nur fordern zu können, ohne etwas leisten zu müssen, wird früher oder später die Folgen dieses Fehlschlusses an den Grenzen seiner eigenen Verwirklichung erfahren. Und was schließlich die Befürchtung betrifft, daß die Auflagen des Erblassers die Möglichkeit der Freiheitsverwirklichung des Erben beeinträchtigen könnten, so ist Humboldt insofern recht zu geben, als in Unkenntnis der Rechtslage sich Belastungen für die den Nachlaß übernehmenden Personen ergeben können. Es ist aber auch darauf hinzuweisen, daß keiner verpflichtet ist, eine Erbschaft anzutreten, wenn die Nachteile, die daraus entstehen, die Vorteile überwiegen. Daß ferner kein Mensch das Recht hat, über seinen Tod hinaus dem Mitmenschen Pflichten aufzuerlegen, welche die Betreffenden nicht willens sind zu akzeptieren, steht wohl außer Zweifel. 9.3 Kriminalgesetze
9.3.1 Strafe als Vergeltung Eine der wirksamsten Maßnahmen für die Sicherheit der Bürger sieht Humboldt in der Strafe. Da aber die Strafe auf entscheidende Weise in die Persönlichkeitsrechte des Individuums eingreift - bereits als Geldstrafe, noch mehr als Freiheitsstrafe, und im besonderen und irreparabel als Todesstrafe -, ist ihre Rechtfertigung um so dringlicher. Für Humboldt ergibt sie sich aus dem Endzweck des Staates, nämlich für die Sicherheit der Bürger 29
30
Vgl. Anm. 20. Mill (s. Anm. 14) 142.
9 Battisti
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9 Staatliche Wirksamkeit und Gesetze
Sorge zu tragen; demnach sind Androhungen von Sanktionen und Bestrafungen nur für solche Handlungen gerechtfertigt, die diesem Endzweck widersprechen. Doch wenn immer staatliche Gesetze übertreten werden, d. h. durch gesetzwidrige Handlungen die persönliche Rechtssphäre eines Individuums verletzt wird, so muß sich der Übeltäter ebenso gefallen lassen, daß durch die Strafe seine eigenen Rechte verletzt werden. Strafe ist demnach, wie Hegel formuliert, die Negation der Negation des Rechts. 31 Und um die erste Negation aufzuheben, bedarf es der zweiten als Vergeltung. Damit wird ein alter Grundsatz der Strafrechtstheorie aufgegriffen, der bereits vor Humboldt und Hegel massiv von Kant vertreten wurde; es geht dabei darum, die verletzte rechtliche Gleichheit wiederherzustellen: "Kein anderes, als das Prinzip der Gleichheit, (im Stande des Züngleins an der Waage der Gerechtigkeit) sich nicht mehr auf die eine, als auf die andere Seite hinzuneigen"32, ist es, welches die öffentliche Gerechtigkeit sich zum Prinzip und Richtmaß macht. Auch Humboldt spricht sich weitgehend für die Vergeltungs theorie der Strafe aus, sieht aber auch deren Unzulänglichkeit und Problematik. So ergibt sich für ihn die Verbindlichkeit der Erduldung der Strafe aus der Verletzung fremden Rechts. "Dem fremden Rechte Achtung zu verschaffen, ist das einzige sichre und unfehlbare Mittel, Verbrechen zu verhüten; und diese Absicht erreicht man nie, sobald nicht jeder, welcher fremdes Recht angreift, gerade in eben dem Maße in der Ausübung des seinigen gehemmt wird, die Ungleichheit möge nun im Mehr oder Weniger bestehen. Denn nur eine solche Gleichheit bewahrt die Harmonie zwischen der inneren moralischen Ausbildung des Menschen und dem Gedeihen der Veranstaltungen des Staats. "33 Mag der Zweck des Strafens auch darin bestehen, künftig "Beleidigungen" (Eingriffe in fremdes Recht) zu verhindern, so hat der Übeltäter selbst dann, wenn auch keine weiteren Rechtsverletzungen von ihm zu erwarten sind, die Strafe anzuerkennen und auf sich zu nehmen. Allerdings folgt aus dem Grundsatz der Strafe als Vergeltungstheorie auch, daß sich der Delinquent "jeder, die Quantität seines Verbrechens überschreitenden Strafe rechtmäßig widersetzen kann"34. Es stellt sich aber die Frage, wer diese Quantität festsetzt und wie genau sie sich überhaupt bestimmen läßt. Ist die Rechtsordnung dadurch wiederhergestellt, daß der Täter den gleichen oder einen adäquaten Schaden erleidet wie das Opfer? Kann man Körperverletzung mit Körperverletzung, Meineid mit Meineid und Totschlag mit Hinrichtung bestrafen?35 Die Vergeltungstheorie mag zwar das ur31 Vgl. G. W. F. Regel, Sämtliche Werke. Hrsg. v. H. Glockner. Bd. VII (Grundlinien der Philosophie des Rechts). Stuttgart 1928, 152. . 32 I. Kant, Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. VI (Die Metaphysik der Sitten). Berlin 1914, 332. 33 GS I, 212. 34 Ebd.
9.3 Kriminalgesetze
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menschliche Bedürfnis nach Rache einigermaßen befriedigen, als Straftheorie erweist sie sich jedoch als äußerst problematisch, weil es keine vollkommene Vergeltung gibt. Dieses Problem hat auch Humboldt erkannt, wenn er schreibt, daß sich die "Gleichheit zwischen Verbrechen und Strafe" nicht absolut bestimmen läßt. "Nur bei einer Reihe dem Grade nach verschiedener Verbrechen kann die Beobachtung dieser Gleichheit vorgeschrieben werden, indem nun die für diese Verbrechen bestimmten Strafen in gleichen Graden abgestuft werden müssen. "36 Weiters ist zu sagen, da Sanktionen zum Schutz eines Rechtsgutes angedroht werden, daß das erlaubte Strafausmaß vom Rang dieses Rechtsgutes abhängen muß. Die Strafe hat der Schwere des Vergehens zu entsprechen. Die Verletzung eines Rechtsgutes darf nicht durch die Verletzung eines qualitativ viel höheren Rechts des Täters geahndet werden. Es ist demnach nicht erlaubt, dem anderen mehr Übel als Strafe zuzufügen, als man durch das Verbrechen selbst erlitten hat. "Ohne gesetzliche Bestimmung müßte also der Verbrecher so viel erwarten, als er ungefähr seinem Verbrechen gleich achtete; und da nun diese Schätzung bei mehreren Menschen zu verschieden ausfallen würde, so ist sehr natürlich, daß man ein festes Maß durch das Gesetz bestimme. "37 Das heißt, nicht die Verbindlichkeit selbst, Strafe zu erdulden, kann durch das Gesetz festgelegt werden, sondern lediglich das Ausmaß der Strafe. Die Verbindlichkeit zur Erduldung von Strafe ergibt sich aus der moralischen Schuld, in fremdes Recht eingegriffen zu haben. Würde man sie aus einem Vertrag (Gesellschaftsvertrag) ableiten, so könnte sich der Delinquent der Strafe entziehen, indem er sich rechtzeitig, bevor die Strafe ausgesprochen wird, vom gesellschaftlichen Vertrag lossagt.3 6 Es ist also Aufgabe des Gesetzgebers, das Strafausmaß entsprechend der begangenen Schuld zu bestimmen. Doch hier ergibt sich bereits die nächste Schwierigkeit, wenn man nach den Bedingungen fragt, von denen das Strafausmaß abhängt. Die Beantwortung dieser Frage.ist wesentlich durch die Intention bestimmt, die man der Strafe zugrunde legt, d. h. der Strafe als Vergeltung liegen andere Kriterien zugrunde als der Strafe im Sinne einer Abschreckung (Generalprävention). Im Rahmen der Vergeltungstheorie, wobei es zwischen Vergeltung als Rache und Vergeltung als Wiedergutmachung zu unterscheiden gilt, hat Strafe als Freiheitsentzug wenig Sinn, es sei denn, der Gefängnisaufenthalt gibt dem Delinquenten die Möglichkeit zu arbeiten, um damit die Schuld an der Gesellschaft oder am betroffenen Opfer abzuzahlen. Aber auch hier stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoller ist, den zur Strafe (Wiedergutmachung) 35 36 37 38
9'
Vgl. F. v. Kutschera, Grundlagen der Ethik. Berlin 1982, 34lf. GS I, 213. GS 1,223. Vgl. GS I, 212.
9 Staatliche Wirksamkeit und Gesetze
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Verurteilten in seinem bisherigen Berufsleben zu lassen, als ihn im Gefängnis mit einer unqualifizierten Arbeit zu betrauen, die ihm viel weniger ermöglicht, eine adäquate Leistung zu erbringen und damit seine "Schuld" zu begleichen. Demnach kann Strafe als Freiheitsentzug, wie sich noch zeigen wird, nur als "abschreckende Wirkung" und/oder als Schutz der Gesellschaft vor einer Wiederholung der Straftat ihren Sinn haben. Humboldts Straftheorie umspannt ein weites Feld, es reicht von der Bejahung der Todesstrafe, die "manchmal und unter gewissen Lokalumständen offenbar [für] notwendig"39 zu erachten ist, über die Forderung, Verbrechen gegen den Staat besonders hart zu bestrafen, bis zu einem Plädoyer für milde Strafen, weil diese der menschlichen Würde am ehesten entsprechen. Man mag sich fragen, wie ein Vertreter eines extremen Individualismus, der in jedem Individuum die Idee der Menschheit partiell verwirklicht sieht und für den demnach das Recht auf Erhaltung des Lebens unter allen Bedingungen und in allen Situationen unantastbar sein müßte, sich für die Todesstrafe aussprechen kann. Denn wer die Todesstrafe unter dem Aspekt der Vergeltung sieht, muß sich dessen bewußt sein, daß durch sie gar nichts "wiedergutgemacht" werden kann, weder wird der Ermordete (falls für Mord die Todesstrafe ausgesprochen wurde) dadurch wieder zum Leben erweckt, noch läßt sich beim Täter ein Gesinnungswandel erwarten oder bewirken, weil er durch die Hinrichtung selbst für immer ausgelöscht wird. Und was die Todesstrafe als "abschreckende Wirkung" betrifft, darauf wird im nächsten Kapitel unter dem Titel "Strafe als Abschreckung" noch des näheren einzugehen sein. Wer ferner die Ansicht vertritt, daß die "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" eine vollkommene Absage an den Staat beinhalten, muß spätestens beim Lesen des Kapitels XIII über "Kriminalgesetze" seine Meinung revidieren, wenn Humboldt besonders harte Strafen für die verlangt, die "geradezu die Rechte des Staats selbst angreifen"40. Denn - so argumentiert Humboldt - wer die Rechte des Staates nicht achtet, respektiert auch die seiner Mitbürger nicht und gefährdet damit die Sicherheit aller. Dem ist sicher zuzustimmen, sofern die Gesetze des Staates wirklich auf das Wohl aller Bürger abgestimmt sind. Wo aber damit lediglich die Macht weniger Privilegierter gefestigt wird zum Nachteil und unter Ausbeutung des Volkes, stellt sich die Loyalität dem Staate gegenüber selbst in Frage. Allerdings sind beim Versuch, bestehende gesellschaftspolitische Ungerechtigkeiten zu beseitigen, stets auch die Folgen mitzuberücksichtigen, z. B. ob dadurch nicht neues und noch größeres Unrecht entsteht, was sich bei Revolutionen allzuoft bewahrheitet hat. 39 40
GS I, 211. GS I, 213.
9.3 Kriminalgesetze
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Besonders hervorzuheben in Humboldts Straftheorie ist jedoch, wie bereits oben angekündigt, sein Plädoyer für milde Strafen: "Nur so viel ist gewiß, daß die Vollkommenheit der Strafen immer - versteht sich jedoch bei gleicher Wirksamkeit - mit dem Grade ihrer Gelindigkeit wächst. Denn nicht bloß, daß gelinde Strafen schon an sich geringere Übel sind; so leiten sie auch den Menschen auf die seiner am meisten würdige Weise von Verbrechen ab ... Überhaupt hängt die Wirksamkeit der Strafen ganz und gar von dem Eindruck ab, welchen dieselben auf das Gemüt der Verbrecher machen. "41 Vor allem der letzte Satz ist von größter Bedeutung für jede Strafrechtstheorie. So wird damit einerseits der Absolutheitscharakter der Strafe und des Straf ausmaßes relativiert, weil- wie auch Humboldt richtig erkannt hat - das Strafausmaß nach der Verschiedenheit der Erdstriche und Zeitalter variiert42 , andererseits kommt darin auch deutlich der notwendige Zusammenhang von Schuld und Strafe zum Ausdruck. Denn erstens läßt sich ohne Schuld keine Strafe rechtfertigen und zweitens erfüllt eine Strafe vorwiegend dann ihren Sinn, wenn sie als "gerecht" empfunden wird. Dies setzt vom Übeltäter Einsicht in sein begangenes Unrecht voraus, vom Gesetzgeber die Pflicht, das Strafausmaß dem in der betreffenden Gesellschaft vorhandenen sittlichen Empfinden angemessen zu bestimmen, und schließlich vom Richter die Fähigkeit, das Strafausmaß sowohl gemäß dem Gesetz als auch nach der Schwere der dem Täter zurechenbaren Schuld anzuwenden; d. h. es sind Absicht und Vorsatz des Verbrechers genau zu eruieren, wie überhaupt die Wirksamkeit der Strafe individuell an den Verbrecher angepaßt werden sol1. 43 Ferner verlangt Humboldt vom Richter, vor allem vom Untersuchungsrichter, alle rechtmäßigen Mittel anzuwenden, um die Wahrheit zu erforschen, doch keines Mittels sich zu erlauben, das außerhalb der Schranken des Rechts liegt wie z. B. der Folter; sie widerspricht der Würde des Staates, auch wenn das schwere Übel, das der Täter begangen hat, manchmal dazu berechtigen könnte. Auch gilt es, den bloß verdächtigen Bürger von dem überführten Verbrecher sorgfältig zu unterscheiden, und selbst dem überführten Verbrecher dürfen seine "Menschen- und Bürgerrechte" nicht abgesprochen werden, "da er die ersteren erst mit dem Leben, die letzteren erst durch eine gesetzmäßige richterliche Ausschließung aus der Staatsverbindung verlieren kann"44. Und was den Strafvollzug betrifft, so gibt es nach Humboldt Grenzen, die der Staat unbedingt zu respektieren hat. So muß z. B. die "Ehrlosigkeit, Infamie" von der Strafe ausgeschlossen werden. "Denn die Ehre eines Menschen, die gute Meinung seiner Mitbürger von ihm, ist keineswegs etwas, das der Staat in seiner Gewalt hat. "45 Zwar kann 41 GS I, 208. 42 Ebd. 43 Vgl. GS I, 214. 44
Ebd.
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der Staat dem Verbrecher seine Achtung und sein Vertrauen entziehen, aber es ist nicht ratsam, dies auf konsequente Weise zu tun. "Denn die Gattungen des Vertrauens, welches man zu einem Menschen fassen kann, sind der Verschiedenheit der Fälle nach so unendlich mannigfaltig, daß ich kaum unter allen Verbrechen ein einziges weiß, welches den Verbrecher zu allen auf einmal unfähig machte. "46 Mit dieser Aussage greift Humboldt auf seine Berufserfahrungen am Berliner Kammergericht zurück. Dahinter steht zweifelsohne eine wahrhaft menschliche Einsicht, daß nämlich ohne jegliches mitmenschliche Vertrauen für jeden Menschen, auch für den Verbrecher, das Leben seinen Sinn verliert. Es genügt deshalb, so Humboldt, wenn der Staat dem Verbrecher insofern das Vertrauen entzieht, als er "z. B. bei Besetzung von Stellen, Gültigkeit der Zeugen, Fähigkeit der Vormünder usf. durch ausdrückliche Gesetze verordnete, daß, wer dies oder jenes Verbrechen begangen, diese oder jene Strafe erlitten hätte, davon ausgeschlossen sein solle"47; doch auch dies nicht für das ganze Leben, sondern für eine der Schwere der Strafe entsprechende Zeit. Daß sich ferner die Strafe nur auf den Täter beschränken und nicht auch auf dessen Kinder oder Verwandte erstrecken darf, ist für Humboldt indiskutabel. Als Konklusion läßt sich zur Vergeltungstheorie folgendes feststellen: Strafe als Vergeltung ist insofern zu bejahen, als der Täter damit zur Wiedergutmachung angehalten und das Opfer entschädigt wird. Da es kein Kriterium gibt, das dem einen Menschen mehr Menschenrechte zuspricht als dem anderen, ist niemand dazu berechtigt, fremdes Recht zu verletzen. Und wo immer das geschieht, ist dem Opfer zur Wiederherstellung seines verletzten Rechts zu verhelfen. Außer der Verpflichtung zur Wiedergutmachung (zumindest in einer adäquaten Form, wenn sie sich nicht vollkommen durchführen läßt) hat der Täter als Unrechtsfolge auch eine der Rechtsverletzung entsprechende Strafe zu verbüßen. Dies ist erforderlich, weil Wiedergutmachung allein ein zu geringes Risiko für den Verbrecher darstellen würde und den Sinn von Strafe als Sühne für das begangene Unrecht weitgehend außer acht ließe. So hätte z. B. ein Bankräuber, der von der Polizei gestellt wird und nichts weiteres "erdulden" müßte, als das von ihm erbeutete Geld zurückzugeben, allen Grund, sein gescheitertes Unternehmen zu wiederholen. Hier hat Strafe als Abschreckung ihren berechtigten Grund; doch ist die für eine Rechtsverletzung verhängte Strafe nur dann gerecht, wenn sie im Rahmen der Güterabwägung vertretbar ist. Z. B. darf in die Grundrechte des Täters nur dann eingegriffen werden, wenn er gleich- oder höherrangige Grundrechte anderer verletzt hat. 48 Dieses Kriterium ist sicher nicht scharf, aber zumindest als Orientierung brauchbar. Auf jeden 45 46
47 48
GS I, 209. Ebd. GS I, 210. Vgl. Kutschera (s. Anm. 35) 344.
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Fall ist es nicht gerechtfertigt, eine mangelnde Aufklärungsquote von Straftaten (Unfähigkeit der Polizei) durch höhere Sanktionen auszugleichen. Und wer die Vergeltungstheorie so interpretiert, daß er glaubt, erlittenes Unrecht mit Gleichem vergelten zu müssen, stellt kein Gleichgewicht her, sondern schafft neues Unrecht. 9.3.2 Strafe als Abschreckung "Die Strafen müssen Übel sein, welche die Verbrecher zurückschrekken"49. In dieser Forderung sieht Humboldt ein Mittel, das maßgebend zur Sicherheit der Bürger vor Rechtsverletzungen beiträgt. Und selbst - so könnte man weiter folgern - wenn durch Androhung von Sanktionen niemals erreicht werden kann, daß die Gesetze von allen befolgt werden, so stellt sich im Wissen um die zu erwartenden Folgen bei vielen Menschen doch die Überlegung ein, daß eine Übertretung von Gesetzen unvorteilhaft ist. Im Widerstreit von Pflicht und Neigung bedarf der Mensch außer seinem Gewissen noch zusätzlicher Normen (auch im Sinne der Abschreckung), um richtig zu handeln. Wie sehr diesem Gedanken einerseits auch zuzustimmen ist, so stellt sich andererseits doch die Frage, ob die Strafe als Abschreckung (Generalprävention), ohne weitere Differenzierung und Konkretisierung, den Sinn von Strafe erfüllen kann. Und erst recht, wenn vollzogene Strafe als Exempel statuiert wird, ist zu überlegen, ob ein solches Vorgehen nicht der menschlichen Würde widerspricht. Mag zwar die abschreckende Wirkung der Strafe für die Sicherheit der Gesellschaft von Nutzen sein, dennoch heiligt auch in diesem Fall der Zweck nicht das Mittel, indem man z. B. den Verbrecher als Strafobjekt zu einem Warnsignal (Abschreckung) degradiert. Die erwünschte Wirkung der Strafe darf nicht mit ihrem Sinn verwechselt werden; dies gilt im besonderen für die Todesstrafe. Insofern sie nur als Abschreckung im Hinblick auf die Wirkung auf andere (potentielle Täter) vollstreckt wird, opfert man den Menschen rein staatlichen Zwecken. Abgesehen davon, daß die abschreckende Wirkung der Todesstrafe durch die Erfahrung keineswegs bestätigt ist, folglich bereits unter dem Gesichtspunkt des damit verfolgten Zwecks in Frage gestellt werden muß, ist es eine ungeheure Anmaßung des Staates, aus einer relativen Ordnung heraus einen "absoluten", irreparablen Akt zu setzen. Welche Idee dem Staat auch immer zugrunde liegen und welchen Zweck die Staatseinrichtung mit ihren Gesetzen auch verfolgen mag, es sind menschliche Vorstellungen und menschliche Satzungen, die oft sehr rasch dem Wandel des Zeitgeistes unterliegen und somit auf keinen Fall Absolutheitscharakter beanspruchen können, während mit der Tötung des Menschen ein menschliches Wesen für immer und unwiderruf49
GS I, 207.
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lich, insofern "absolut", ausgelöscht wird. Allerdings müßte sich auch jeder Mörder und auch jeder Revolutionär bewußt sein, daß ihn nichts auf der Welt berechtigt, "Endgültiges" (den Tod von Mitmenschen) zu verursachen. Humboldt fordert vom Staat, wann immer Unrecht geschieht, strenge und unnachläßliche Strafen. Kein begangenes Verbrechen soll unentdeckt, kein entdecktes unbestraft oder gar milder, als das Gesetz es verlangt, bestraft werden. "Denn die durch eine ununterbrochene Erfahrung bestätigte Überzeugung der Bürger, daß es ihnen nicht möglich ist, in fremdes Recht einzugreifen, ohne eine gerade verhältnismäßige Schmälerung des eignen zu erdulden, scheint mir zugleich die einzige Schutzmauer der Sicherheit der Bürger und das einzige unertrügliche Mittel, unverletzliche Achtung des fremden Rechts zu begründen. Zugleich ist dieses Mittel die einzige Art, auf eine des Menschen würdige Weise auf den Charakter desselben zu wirken. "50 Bedeutet das nun, daß der Staat bei der Bekämpfung von Kriminalität nur durch Androhung von Sanktionen und vollziehende Strafen wirksam werden soll und nicht auch durch andere, z. B. erzieherische Maßnahmen, die dazu beitragen, Verbrechen von vornherein zu vermeiden? Auch Humboldt spricht sich dafür aus, daß die Verhütung von Verbrechen von deren Ursachen ausgehen muß, und für ihn liegen diese - auf eine "allgemeine Formel" gebracht - in jenem Mißverhältnis, das sich ergibt, wenn ein Übermaß an Neigungen und Begierden einem zu geringen Vorrat an rechtmäßigen Mitteln gegenübersteht. "Jedes Bemühen des Staats, Verbrechen durch Unterdrückung ihrer Ursachen in dem Verbrecher verhüten zu wollen, wird daher ... entweder dahin gerichtet sein müssen, solche Lagen der Bürger, welche leicht zu Verbrechen nötigen können, zu verändern und zu verbessern, oder solche Neigungen, welche zu Übertretungen der Gesetze zu führen pflegen, zu beschränken, oder endlich den Gründen der Vernunft und dem moralischen Gefühl eine wirksamere Stärke zu verschaffen. Einen anderen Weg, Verbrechen zu verhüten, gibt es endlich noch außerdem durch gesetzliche Verminderung der Gelegenheiten, welche die wirkliche Ausübung derselben erleichtern oder gar den Ausbruch gesetzwidriger Neigungen begünstigen. Keine dieser verschiedenen Arten darf von der gegenwärtigen Prüfung ausgeschlossen werden. "51 Was die Verbesserung der Lagen (Situationen) betrifft, so meint Humboldt, daß eine solche Intervention seitens des Staates von geringstem Nachteil für die Bürger sei, zumal nur wenige Personen davon betroffen seien, eben nur diejenigen, welche aufgrund schlechter äußerer Umstände, in denen sie sich befinden, gefährdet sind, Verbrechen zu begehen. Humboldt ist sich aber auch bewußt, daß er mit diesem Zugeständnis an den Staat sich im Widerspruch zu seinen früheren Aussagen befindet, als er nämlich vom 50
51
GS I, 22lf. GS I, 216.
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Staat verlangte, sich aller Sorgfalt für das physische Wohl seiner Bürger zu enthalten (vgl. Kap. 7). Deshalb schränkt er sofort wieder ein und verweist auch auf die negativen Folgen, die sich ergeben, wenn der Staat diesbezüglich wirksam wird, z. B. daß "der Kampf der inneren Moralität mit der äußeren Lage ... aufgehoben [werde) und mit ihm seine heilsame Wirkung auf die Festigkeit des Charakters des Handelnden und auf das gegenseitig sich unterstützende Wohlwollen der Bürger überhaupt. "52 Zudem glaubt Humboldt, daß in einem Staat, dessen Verfassung den Bürger nicht selbst in "dringende Lagen" versetze, es gar nicht dazu komme, daß er einzelne mit Hilfe seiner Mitbürger nicht das Auslangen finde und statt dessen der staatlichen Hilfe bedürfe. Je weniger der Staat in den "natürlichen Lauf der Dinge" eingreift, desto besser für die Individuen. Die sozialen Verhältnisse ändern sich selbst, wenn an Stelle der staatlichen Bevormundung die freie schöpferische Initiative des mündigen Menschen tritt. Hier kommt wiederum das optimistische Menschenbild der Aufklärung zutage, speziell das von Rousseau, für den die Menschen von Natur aus gut sind und nur durch die Gesellschaft (Humboldt würde statt dessen vom Staat sprechen) verdorben werden. Der Begriff der Natur impliziert aber nicht nur alle positiven Eigenschaften wie Vollkommenheit, Harmonie, Gesundheit, Friedfertigkeit u. dgl., sondern auch Unzulänglichkeiten (Krankheit, Aggression etc.). Wer das übersieht, verkennt die Realität; und erst recht, wer glaubt, sich dem "natürlichen Lauf der Dinge" anvertrauen zu können, wird bald erfahren, daß mit der gleichen Intensität, mit der er sich dieser Illusion hingibt, auch die Chance seiner Selbstverwirklichung schwindet. Auf das Thema Kriminalität angewandt, bedeutet dies, daß zur Verhütung von Verbrechen außer der Eigeninitiative der Bürger auch institutionelle Maßnahmen durch den Staat erforderlich sind. Der einzelne vermag nur im beschränkten Ausmaß die dafür notwendigen Bedingungen zu schaffen. Z. B. lassen sich soziales Elend, Arbeitslosigkeit usw., die vielfach als Ursache von Kriminalität angesehen werden müssen, nicht allein durch eine "freiwillige Hilfeleistung der Bürger" beseitigen. Im Hinblick auf die zweite Möglichkeit, Verbrechen zu verhüten, indem man bereits auf die Neigungen und Leidenschaften der Individuen Einfluß nimmt, lehnt Humboldt jegliche Einschränkung seitens des Staates strikt ab. Mag es auch den Anschein erwecken, daß dort, wo der Staat dem Bürger keine Fesseln auferlegt, die Begierden und Leidenschaften eher zum Durchbruch kommen, so überwiegen dennoch, wenn sich der Staat einer diesbezüglichen Beeinflussung und Kontrolle enthält, die Vorteile die Nachteile. Andernfalls, wollte der Staat sich bereits um die Privatangelegenheiten kümmern, die zu Gesetzesübertretungen führen könnten, so käme es unaufhaltsam zu einer drückenden Herrschaft von Intoleranz und Heuchelei. Die 52
Ebd.
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Wirksamkeit des Staates soll deshalb darauf beschränkt bleiben, zu achten, daß die Gesetze befolgt werden. Es gelten hier dieselben Argumente, die Humboldt bereits im Kapitel VIII seiner "Ideen" anführte: Dem Staat ist es verwehrt, "auf die Sitten und den Charakter der Nation . .. zu wirken"53. "Jeder Bürger muß ungestört handeln können, wie er will, solange er nicht das Gesetz überschreitet ... Wird er in dieser Freiheit gekränkt, so verletzt man sein Recht und schadet der Ausbildung seiner Fähigkeiten, der Entwicklung seiner Individualität. "54 Außerdem ist nach Humboldt eine Gesetzesübertretung und die dafür zu verbüßende Strafe für die Persönlichkeitsentfaltung immer noch besser als eine ständige Bevormundung, die dem einzelnen keine Möglichkeit für ein eigenständiges legales und sittliches Handeln läßt, sondern ihn zur Passivität verurteilt. Ja selbst für die Gesellschaft als Ganzes ist es von Vorteil, wenn "eine Gesetzesübertretung mehr ... die Ruhe [störe], aber die nachfolgende Strafe ... zur Belehrung und Warnung [diene], als daß zwar die Ruhe diesmal nicht leide, aber darum das, worauf alle Ruhe und Sicherheit der Bürger sich gründet, die Achtung des fremden Rechts"55. Das würde bedeuten, daß allein schon die verhängte Strafe beim Täter zu einem Gesinnungswandel ("Belehrung") führt, was in den meisten Fällen bezweifelt werden muß. Strafe allein, sofern sie nicht mit Einsicht und einer Resozialisierung verbunden ist, vermag den Verbrecher kaum zu ändern. Humboldt geht es in diesem Zusammenhang jedoch hauptsächlich darum, zu zeigen, daß es von größtem Nachteil für die Entfaltung des Individuums ist, wenn der Staat zur Verhütung von Verbrechen auf dessen Neigungen Einfluß nimmt. Damit sollen erzieherische Maßnahmen nicht ausgeschlossen werden, doch sieht er diese lieber der Eigeninitiative der Bürger überantwortet als einem omnipotenten Staat. "Gesetze [sind] nicht der Ort, Tugenden zu empfehlen. "56 Als dritten Weg, Verbrechen zu verhüten, verweist Humboldt auf die Möglichkeit, "den Gründen der Vernunft und dem moralischen Gefühl eine wirksamere Stärke zu verschaffen" (vgl. Anm. 51). Hier kommt das Thema der Spezialprävention zur Sprache, indem man versucht, die Strafe zugleich zum Besserungsmittel zu machen. Humboldt bejaht zwar diese Methode, gibt aber gleichzeitig zu bedenken, daß "auch dem Verbrecher ... die Belehrung nicht aufgedrungen werden"57 darf. Alles, wozu er gezwungen werden kann, ist, die gesetzmäßige Strafe zu erleiden. Abgesehen davon, daß bei einem mündigen Menschen eine Erziehung niemals wirksam sein kann, wenn der Betreffende dazu nicht einwilligt, bedeutet eine Zwangserziehung für den Täter ein zusätzliches Übel, das seine ihm zugesprochene Strafe 53 54 55 56 57
GS 1,177. GS 1,218. GS 1,219. Ebd. GS I, 220.
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übersteigt. Außerdem mißachtet jede Zwangserziehung den Persönlichkeitswert des Individuums (auch den des Verbrechers), insofern sie seine sittliche Entscheidungsfähigkeit zum Guten wie zum Bösen gewaltsam aufhebt. Was schließlich die letzte Art betrifft, Verbrechen zu verhüten, indem man seitens des Gesetzes durch Verminderung der Gelegenheiten deren Ausübung zu verhindern versucht, so stehen diesbezüglich dem Staat zwei Möglichkeiten offen. Er kann sich entweder damit begnügen, "strengste Wachsamkeit auf jedes gesetzwidrige Vorhaben auszuüben, um dasselbe vor seiner Ausführung zu verhindern; oder er kann weiter gehen und solche an sich unschädliche Handlungen untersagen, bei welchen leicht Verbrechen entweder nur ausgeführt oder auch beschlossen zu werden pflegen"58. Da die zweite Art zu sehr in die Freiheit der Bürger eingreift, bleibt die staatliche Kompetenz darauf beschränkt, gesetzwidrige Handlungen zu überwachen. Hier aber verlangt Humboldt vom Staat "strengste Aufsicht auf jede entweder wirklich schon begangene oder erst beschlossene Übertretung der Gesetze"59. Das heißt, dem Staat wird nicht das Recht abgesprochen, Verbrechen zuvorzukommen, nur ist dies mit Wachsamkeit zu bewirken und nicht durch ein Verbot von Handlungen, die an sich unschädlich sind und nur potentiell zu Verbrechen führen könnten. Seiner Meinung nach soll der Staat, anstelle der vielen künstlichen Mittel, die man anwendet, um Verbrechen zu verhüten, gute und durchdachte Gesetze erlassen, den Lokalumständen entsprechend angemessene Strafen bestimmen und bei Gesetzesübertretungen eine möglichst hohe Aufklärungsquote anstreben. Begnadigungen seitens des Landesherrn lehnt Humboldt ab, da sie den Erfolg von Strafe vereiteln. An Orten, wo leicht Verbrechen verübt werden, soll der Staat eigene Aufseher bestellen. Auch die Bürger sind dazu aufgerufen, bei der Aufklärung von Verbrechen mitzuwirken, sie dürfen dafür aber nicht belohnt werden, da sich dies schädlich auf ihren Charakter auswirken könnte, sondern es soll ihnen bewußt sein, daß es ihre Pflicht ist, sich für die Sicherheit aller, unter Wahrung größtmöglicher Freiheit des einzelnen, einzusetzen. Zum Thema Strafe als Abschreckung lassen sich aus dem bisher Dargelegten folgende Schlüsse ziehen: Wer Strafe nur als Abschreckung sieht, verkennt genauso ihren Sinn wie der Anhänger einer einseitigen Vergeltungstheorie. Außer der Vergeltung im Sinne der Wiedergutmachung und der Abschreckung, als zusätzlicher Motivation neben dem Gewissen zur Befolgung von Normen, gehört zum Wesen der Strafe auch die Resozialisierung. Sie soll dem Täter die Einsicht in sein begangenes Unrecht wecken, seine Besserung einleiten und ihn, nach verbüßter Strafe, wiederum in die 58 59
GS I, 22l.
Ebd.
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menschliche Gesellschaft eingliedern. Wer jedoch die Resozialisierung als den einzigen Sinn der Strafe betrachtet, wird der Aufgabe der Strafe ebensowenig gerecht wie die Vertreter einer reinen Vergeltungs- oder Abschrekkungstheorie, da vor allem das Opfer des Verbrechens und sein Anspruch auf Wiedergutmachung unberücksichtigt bleiben. Außerdem gibt es Menschen, die weder resozialisierungsfähig noch resozialisierungswillig sind. Würde Strafe allein in der Resozialisierung bestehen, blieben diese Personen bei begangenem Unrecht straflos. Wie schwierig es im konkreten Fall auch sein mag, die Schuld des Verbrechers in ihrem vollen Umfang festzustellen, man befreit den Menschen nicht, wenn man Schuld und Verantwortung leugnet, sondern bringt ihn um eine seiner wesentlichen Fähigkeiten, die sein Mensch-sein ausmachen 60 , nämlich aus freier sittlicher Entscheidung handeln zu können und dafür Verantwortung zu übernehmen. Wer sich diese Fähigkeit abspricht, degradiert sich selbst zu einem Wesen, das dem Rang eines Tieres sogar nachsteht, weil diesem zumindest seine Instinkte zeigen, wie es sich zu verhalten hat. Empfände der Mensch für sein Handeln keine Verantwortung, würde er sich sehr bald selbst zerstören. Gehört also die Anerkennung von Schuld zum sittlichen Charakter und zur Würde des Menschen, so ist die Fähigkeit, Schuld zu sühnen, dennoch begrenzt. Das heißt, wo für den Verbrecher keine Hoffnung mehr besteht, nach verbüßter Strafe in die Gesellschaft zurückzukehren und ein anderes Leben zu führen, ist Strafe nicht nur unmenschlich, sondern verliert auch ihren Sinn. Ohne Hoffnung kann der Mensch nichts Sinnvolles tun, auch nicht Strafe verbüßen. Dieses Thema der Resozialisierung wird auch von Humboldt aufgegriffen, wenn er schreibt: "Nicht minder groß ist die Schwierigkeit bei der Frage, wie lange die Strafe dauern solle. Unstreitig wird jeder Billigdenkende sie nur auf eine gewisse Zeit hin erstrecken wollen. Aber wird der Richter bewirken können, daß der so lange mit dem Mißtrauen seiner Mitbürger Beladene nach Verlauf eines bestimmten Tages auf einmal ihr Vertrauen wiedergewinne?"61 Strafe darf nicht zum Selbstzweck werden. "Eine Strafe, die den Bestraften vernichtet, ist keine Strafe. "62 Dies gilt nicht nur für die Todesstrafe, sondern für jede Strafe, die den Willen des Bestraften völlig bricht. 9.4 Der Staat als Entscheidungsinstanz
Die Schaffung von Autorität zur Regelung von Macht und als Entscheidungsinstanz bei Streitigkeiten muß als eine der wichtigsten Funktionen 60 Vgl. K. Larenz, Richtiges Recht. Grundzüge einer Rechtsethik (Beck'sche Schwarze Reihe 185). München 1979, 93. 61 GS I, 209f. 62 M. Seheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Bem 41954,327.
9.4 Der Staat als Entscheidungsinstanz
141
von Staatlichkeit schlechthin angesehen werden. Auch wenn man den im 17. und 18. Jahrhundert entstandenen Gesellschafts- und Staatstheorien (Hobbes, Rousseau) nicht zustimmt - weil sich Verträge, in denen die Menschen freiwillig ihre natürlichen Rechte an den Staat abgetreten haben, um dafür Schutz zu erhalten, als historisches Faktum nicht nachweisen lassen und auch kaum anzunehmen ist, daß solche Verträge jemals geschlossen wurden -, kann man dennoch, zumindest als Denkmodell zur Rechtfertigung des staatlichen Gewaltmonopols an der Vertragstheorie festhalten. Dies macht auch Humboldt, wenn er die Sicherheit der Bürger in der Gesellschaft dadurch gewährleistet sieht, daß die Individuen die eigenmächtige Verfolgung ihrer Rechte an den Staat übertragen. "Aus dieser Übertragung entspringt aber auch für diesen die Pflicht, den Bürgern nunmehr zu leisten, was sie selbst sich nicht mehr verschaffen dürfen, und folglich das Recht, wenn es unter ihnen streitig ist, zu entscheiden. "63 Die Existenzberechtigung des Staates und dessen Gewaltmonopol wird somit nicht mehr mythisch oder religiös begründet, sondern aus zweckrationalen Prinzipien abgeleitet, nämlich aus der Gewährung von Ruhe und Sicherheit für die Bürger. In der Tat, nicht Anarchie, sondern Gesetz und Ordnung, die allerdings nicht willkürlich festgelegt werden dürfen, sondern sich an der Selbstverwirklichung des Individuums im Wechselbezug zur Gesellschaft zu orientieren haben, vermitteln Freiheit und Sicherheit. Die staatlichen Gesetze sind notwendigerweise Zwangsgesetze, ohne Sanktionen könnte der Staat nicht seine Aufgabe erfüllen, den Bürgern ihre Rechte zu garantieren. Die Frage aber, die sich auch Humboldt in diesem Zusammenhang stellt, ist die: Wie weit darf sich staatliche Wirksamkeit bei der Ahndung von Gesetzesübertretungen erstrecken? Da nach Humboldt die Sicherheit des Bürgers nur dann verletzt wird, "wenn derjenige, welcher Unrecht leidet oder zu leiden vermeint, dies nicht geduldig ertragen will, nicht aber dann, wenn er entweder einwilligt oder doch Gründe hat, sein Recht nicht verfolgen zu wollen"64, hat der Staat diesem Umstand Rechnung zu tragen und darf sich nur dann einmischen, wenn er von dem, dessen Recht verletzt wurde, zu Hilfe gerufen wird. Wenn dies aber, aus welchen Gründen auch immer, sei es aus Unwissenheit oder Trägheit, unterbleibt, so ist es dem Staat verwehrt, von sich aus eine Strafverfolgung einzuleiten. Er hat seine Pflicht getan, wenn er klare Gesetze gibt und für deren bestmögliche Proklamation sorgt; dies trägt am ehesten dazu bei, Irrtümer und Rechtsunsicherheit zu vermeiden. Aus dem Dargelegten ergibt sich für Humboldt ein erster Grundsatz für die Prozeßordnung, nämlich "niemals die Wahrheit an sich und schlechterdings, sondern nur immer insofern aufzusuchen, als diejenige Partei es for63
64
GS I, 202 f. GS 1,203.
9 Staatliche Wirksamkeit und Gesetze
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dert, welche deren Aufsuchung überhaupt zu verlangen berechtigt ist"65. Dieser Gedanke erinnert sehr an Humboldts Ausführungen in den Kapiteln über Zivil- und Kriminalgesetzgebung, wo er dem Staat ebenfalls verwehrt, Handlungen zu verbieten, die mit Einwilligung dessen geschehen, den sie treffen. Demnach müßte die Tötung eines Mitmenschen, sofern dieser dazu einwilligt, straflos bleiben. Aber selbst die Formulierung des genannten ersten Grundsatzes der Prozeßordnung ist für Humboldt im Hinblick auf die Grenzen der Wirksamkeit des Staates noch zu weit gefaßt, d. h. es sind nochmals Einschränkungen vorzunehmen: "Der Staat darf nämlich nicht jedem Verlangen der Parteien willfahren, sondern nur demjenigen, welches zur Aufklärung des streitigen Rechts dienen kann. "66 Der zweite Grundsatz der Prozeßordnung ergibt sich daraus, daß der Richter zwischen zwei Forderungen zu vermitteln hat. Einerseits ist dem Geschädigten zu seinem Recht zu verhelfen, andererseits muß der Angeklagte gegen ungerechte Forderungen seitens des Geschädigten geschützt werden. Es bedarf deshalb einer speziellen Aufsicht über das Verfahren der Parteien während des Prozesses, damit dieser nicht zu langwierig, kostspielig und unangemessen ausartet. 67 Dies geschieht, wenn man den zweiten Grundsatz zu wenig berücksichtigt. Nimmt man hingegen den ersten Grundsatz zu wenig ernst, "so wird das Verfahren inquisitorisch, der Richter erhält eine zu große Gewalt und mischt sich in die geringsten Privatangelegenheiten der Bürger" 68. Unverkennbar kommt hier der Jurist Humboldt zu Wort, der während seiner Zeit als Referendar am Berliner Kammergericht vorwiegend mit Strafsachen zu tun hatte und dabei auch mit Unzulänglichkeiten des Justizwesens konfrontiert wurde. Seine einschlägigen Erfahrungen haben ihm gezeigt, daß sich die Notwendigkeit von Gesetzen und die Vollkommenheit der Gerichtsverfassung reziprok zueinander verhalten. Je vollkommener diese ist, desto weniger Gesetze und Formalitäten bedarf es. Der Gesetzgeber möge berücksichtigen, daß Formalitäten nicht zum Selbstzweck, sondern allein dafür angeordnet werden sollten, "um die Gültigkeit der Geschäfte zu sichern und Betrügereien zu verhindern oder den Beweis zu erleichtern" 69. Es ist zweifellos ein berechtigtes Anliegen, wenn Humboldt die Unterwerfung des einzelnen Bürgers unter die Staatsgewalt begründet wissen will. Denn eine Rechtfertigung des Gewaltmonopols ist um so bedeutender, als der einzelne in den meisten Fällen dem Staat nicht kraft eigener Willens65 66 67
68 69
Ebd. Ebd. Vgl. GS I, 204. Ebd. GS I, 205.
9.4 Der Staat als Entscheidungsinstanz
143
oder Beitrittserklärung angehört, sondern aufgrund eines staatlichen Gesetzes (Abstammung, Geburtsort etc.), das seiner Zustimmung vorausliegt. 70 Gesetzt den Fall, der Staat wäre wirklich durch einen Gesellschaftsvertrag entstanden, so stellt sich erst recht die Frage, ob man denn alle Nachkommen bis in die ferne Zukunft hinein an diesen Vertrag binden kann. Mag der Staat auch naturnotwendig sein, menschenwürdig wird er erst durch die freie Zustimmung derer, die ihn bilden. Das staatliche Gewaltmonopolläßt sich nur dadurch rechtfertigen, daß es bei Streitigkeiten einer letzten Entscheidungsinstanz und bei Anwendung von Gewalt der Bürger untereinander abermals einer Gewalt, und zwar einer höchsten bedarf, um den Menschen Ruhe und Sicherheit zu garantieren. Nur im Austausch für dieses für die Menschen unentbehrliche Gut mitmenschlichen Zusammenlebens und eigener Wertverwirklichung ist staatlicher Zwang erlaubt. Fehlt diese Begründung, so ist die Anwendung staatlicher Gewalt von der Gewaltanwendung dessen, der mitmenschliches Recht willkürlich verletzt, nicht zu unterscheiden. Da der Staat der Gewalttätigkeit eines Verbrechers ebenfalls mit Gewalt gegenübertritt, für sich also in Anspruch nimmt, was er anderen verwehrt, bedarf seine Gewaltanwendung unbedingt einer Rechtfertigung, um nicht selbst zu einem organisierten Verbrechertum zu werden. Staatliche Gewalt (zweiter Zwang) ist nur dann erlaubt, wenn diesem ein erster Zwang im Sinne einer Gesetzesverletzung vorausgeht. Fraglich allerdings bleibt, ob das staatliche Monopol der Gewalt auch eine durch den Staat unter allen Umständen vorzunehmende Strafverfolgung impliziert. Humboldt verneint dies, da er die Sicherheit der Bürger nur dann verletzt sieht, "wenn derjenige, welcher Unrecht leidet oder zu leiden vermeint, dies nicht geduldig ertragen will" (s. oben Anm. 64) und somit Genugtuung für sein verletztes Recht fordert; nur in diesen Fällen hat sich der Staat einzumischen. Es bleibt also dem Individuum überlassen, ob es sein Recht auf Wiedergutmachung in Anspruch nimmt oder nicht. Dies mag - insofern kann man Humboldt zustimmen - für kleine Delikte ein vernünftiger Modus sein, um z. B. bei einem unbedeutenden Ladendiebstahl den Delinquenten nicht gleich mit einer Vorbestrafung zu belasten. Gefährlich scheint dieser Weg jedoch zu sein, wenn bei schweren Verbrechen, wie z. B. bei Mord, Totschlag, aber auch schon bei fahrlässiger Tötung, die Angehörigen des Opfers mit dem Täter eine private Vereinbarung treffen könnten, das begangene Verbrechen durch Geldbuße oder andere geheime Abmachungen abzugelten. Abgesehen davon, daß der Delinquent einer ständigen Erpressung ausgesetzt wäre, würde ein solches Vorgehen auch die allgemeine Rechtssicherheit in Frage stellen. "Eine Voraussetzung dafür, daß der Staatsfrieden zu einer alles umfassenden Atmosphäre wird, ist nicht nur, daß die Verletzungen individueller Rechte von Staats wegen verboten 70
Vgl. LaTenz
(5.
Anm. 60) 120f.
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9 Staatliche Wirksamkeit und Gesetze
werden, sondern daß auch ein System öffentlicher Strafverfolgung entwikkelt wird, welches diese Atmosphäre ständig erhält und sie jedem Mitglied der Gemeinschaft bewußt werden läßt. "71 9.5 Pflichten des Staates gegenüber Unmündigen Alle bisher aufgestellten Grundsätze zur Einschränkung staatlicher Wirksamkeit, um den Bürgern ein Höchstmaß an individueller Entfaltung zu ermöglichen, beziehen sich auf den im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte mündigen Menschen. Nur unter diesen Voraussetzungen gilt, daß sich der Staat "aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger"72 zu enthalten habe. Wo hingegen der volle Gebrauch der Verstandes kräfte noch nicht oder überhaupt niemals zu erwarten ist, wie z. B. bei Kindern oder Schwachsinnigen, hat sich der Staat auch um deren physisches und moralisches Wohl zu kümmern. Das schließt jedoch nicht aus, daß in erster Linie die Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder betraut werden. "Ihre Pflicht ist es, die Kinder, welche sie erzeugt haben, bis zur vollkommenen Reife zu erziehen, und aus dieser Pflicht allein entspringen alle Rechte derselben als notwendige Bedingungen der Ausübung von jener. Die Kinder behalten daher alle ihre ursprünglichen Rechte auf ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Vermögen, wenn sie schon dergleichen besitzen, und selbst ihre Freiheit darf nicht weiter beschränkt werden, als die Eltern dies teils zu ihrer eignen Bildung, teils zur Erhaltung des nun neu entstehenden Familienverhältnisses für notwendig erachten und als sich diese Einschränkung nur auf die Zeit bezieht, welche zu ihrer Ausbildung erfordert wird. "73 Es darf von den Eltern kein Zwang zu Handlungen gesetzt werden, deren Folgen sich auf das ganze Leben des Kindes auswirken, z. B. Zwang zur Heirat einer bestimmten Person oder die Wahl einer bestimmten Lebensart. "Allgemein bestehen daher die Pflichten der Eltern darin, die Kinder teils durch persönliche Sorgfalt für ihr physisches und moralisches Wohl, teils durch Versorgung mit den notwendigen Mitteln in den Stand zu setzen, eine eigne Lebensweise nach ihrer jedoch durch ihre individuelle Lage beschränkten Wahl anzufangen; und die Pflichten der Kinder dagegen darin, alles dasjenige zu tun, was notwendig ist, damit die Eltern jener Pflicht ein Genüge zu leisten vermögen. "74 Von einer weiteren Konkretisierung dieser Prinzipien sieht Humboldt ab, da diese von der spezifischen Situation und den lokalen und zeitlichen Umständen abhängig sei. Es stellt sich aber die Frage, ob nicht bereits seine 71 W. Seagle, Weltgeschichte des Rechts. Eine Einführung in,die Probleme und Erscheinungsformen des Rechts (Englisch: The Quest for Law). Ubers. v. H. ThieleFredersdorf. München 31969, 320. 72 GS 1,129. 73 GS I, 225f. 74 GS 1,226.
9.5 Pflichten des Staates gegenüber Unmündigen
145
bisher aufgestellten Grundsätze zur Einschränkung staatlicher Wirksamkeit, vorweg seine dezidierte Ablehnung aller staatlichen Unterstützung für das positive Wohl seiner Bürger, für die Erfüllung der Sorgepflicht der Eltern gegenüber ihren Kindern hinderlich sind. Es ist zwar eine berechtigte und sinnvolle Forderung, wenn Humboldt den Eltern verwehrt, Entscheidungen zu treffen, deren Folgen sich belastend auf das Leben der Kinder auswirken können. Doch lassen sich solche Handlungen und Entscheidungen eher dort vermeiden, wo - bedingt durch staatliche Hilfe - auch sozial schwächer Gestellte ihren Kindern eine gediegene Bildung (Berufsausbildung) zukommen lassen können, anstatt sie zum Betteln auf die Straße oder zu unglücklichen Verehelichungen zwingen zu müssen. Humboldts gutsituierte Position ließ anscheinend diese Reflexion nicht zu. Was die Aufgabe des Staates im Hinblick auf das Wohl und den Schutz der Kinder betrifft, so obliegt ihm nach Humboldt, ein gesetzmäßiges Alter der Reife zu bestimmen, das sich nach der Verschiedenheit der geographischen Lage und des damit bedingten körperlichen Reifeprozesses richten muß. Ferner hat er auch zu prüfen, ob die Eltern ihrer Sorgepflicht für ihre Kinder nachkommen; doch nicht auf die Weise, daß sie über ihre Erziehungsart ständig Rechenschaft ablegen müßten, sondern um gravierende Pflichtversäumnisse zu vermeiden. Im Falle des Todes der Eltern sind Vormünder notwendig, wobei wiederum der Staat zu bestimmen hat, wie diese bestellt werden sollen und welche Eigenschaften sie besitzen müssen. "Da die Vormünder die Pflichten der Eltern übernehmen, so treten sie auch in alle Rechte derselben; da sie aber auf jeden Fall in einem minder engen Verhältnis zu ihren Pflegebefohlenen stehen, so können sie nicht auf ein gleiches Vertrauen Anspruch machen, und der Staat muß daher seine Aufsicht auf sie verdoppeln. Bei ihnen dürfte daher auch ununterbrochene Rechenschaftsablegung eintreten müssen. "75 Bei der Wahl des Vormundes ist der Wunsch der sterbenden Eltern oder der zurückbleibenden Verwandten zu berücksichtigen, sofern sich dieser für das Wohl des Kindes nicht nachteilig auswirkt. Überhaupt scheint es ratsam, meint Humboldt, wenn der Staat in Vormundschaftsangelegenheiten nur die Oberaufsicht übernimmt, die Vormundschaft selbst aber Personen oder Gremien überträgt, die der individuellen Lage des Pflegebefohlenen am ehesten entsprechen. So besteht weniger die Gefahr einer vom Staat gelenkten, einförmigen Erziehung. In diesen Überlegungen zeigt sich neuerdings ein Ansatz zum Subsidiaritätsprinzip, d. h. daß sich der Staat als übergeordnete Institution nur insofern einschalten soll, als Individuen, Gruppen oder kleinere Verbände zur Bewältigung ihrer Aufgaben auf seine Unterstützung angewiesen sind. 75
GSI,227.
10 Battis!i
9 Staatliche Wirksamkeit und Gesetze
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Zur Pflicht des Staates in bezug auf die Sicherheit und das Wohl der Unmündigen gehört auch, daß er Handlungen (Rechtsgeschäfte) der Eltern oder Vormünder, deren Folgen für die Kinder schädlich sind, für ungültig erklärt. Es ist ferner auch zu verhindern, daß die mangelnde Reife der Unmündigen ausgenützt wird, indem sie z. B. durch eigennützige Absichten anderer getäuscht werden. "Wo dies geschieht, muß er [der Staat] nicht nur zur Ersetzung des Schadens anhalten, sondern auch die Täter bestrafen; und so können aus diesem Gesichtspunkt Handlungen strafbar werden, welche sonst außerhalb des Wirkungskreises der Gesetze liegen würden. "76 All diese Grundsätze gelten nicht nur für die Unmündigen, sofern sie ihre körperliche und geistige Reife noch nicht erlangt haben, sondern auch für die Schwachsinnigen, die vermutlich niemals in den vollen Besitz ihrer Verstandeskräfte kommen. Da aufgrund ihrer mangelnden Zurechnungsfähigkeit sogar die Gefahr besteht, daß sie anderen Schaden zufügen, bedürfen sie um so mehr einer Aufsicht und Betreuung. Es ist aber auch an die Möglichkeit zu denken, daß sie eines Tages gesunden, deshalb darf "ihnen nur die temporelle Ausübung ihrer Rechte, nicht aber diese Rechte selbst genommen werden" 77. Mit der Einbeziehung auch der Unmündigen in die dem Staat zukommenden Aufgaben sind nach Humboldt die wichtigsten Themenkreise im Hinblick auf die Beziehung Staat und Individuum genannt. Doch wie jeder Staat bedarf auch Humboldts Minimalstaat finanzieller Mittel zu seiner Existenzsicherung; in der Beschaffung dieser könnte er aber wiederum sehr einschränkend auf das Individuum wirken. Um dies zu vermeiden, versucht Humboldt dem Staat auch diesbezüglich seine Grenzen aufzuzeigen.
9.6 Mittel zur Erhaltung des Staates Es sei nicht seine Absicht, eine Theorie der Gesetzgebung aufzustellen, schreibt Humboldt, sondern einzig und allein, jenes Kriterium herauszuarbeiten, aufgrund dessen "die Gesetzgebung in ihren verschiedenen Zweigen die Wirksamkeit des Staats ausdehnen dürfe oder einschränken müsse"78. Nach Humboldt gibt es für die Notwendigkeit von Gesetzen drei Gesichtspunkte: Der erste ergibt sich aus der Rechtswahrung, der zweite aus dem Zweck des Staates, d. h. aus jenen Aufgaben, die weder vom einzelnen Bürger noch von den Nationalanstalten gelöst werden können, und der dritte "entspringt aus den Mitteln, welcher er [der Staat] notwendig bedarf, um das ganze Staatsgebäude selbst zu erhalten"79. Jedes nur denkbare Gesetz muß einen dieser drei Aspekte berücksichtigen. Doch ehe man zu einer kon76 77
78 79
GS 1,228. Ebd. GS I, 230. Ebd.
9.6 Mittel zur Erhaltung des Staates
147
kreten Gesetzgebung übergehen kann, bedarf es einer weiteren Vorarbeit, nämlich der Erstellung von Theorien, die den drei genannten Gesichtspunkten entsprechen, d. h.: erstens eine allgemeine Theorie des Rechts, zweitens eine Theorie über den Zweck des Staates, "oder, welches im Grunde dasselbe ist, eine genaue Bestimmung der Grenzen, in welchen er seine Wirksamkeit halten muß"BO, und drittens eine Theorie zur Erhaltung der Existenz des Staates. Denn es ist unumgänglich, daß jeder Staat, selbst wenn er nur einen minimalen Zweck erfüllen sollte, auf Einkünfte angewiesen ist. Doch auch bei der Beschaffung der Mittel zu seiner Existenzsicherung darf der Staat den eigentlichen Zweck seines Daseins, nämlich dem Individuum seine Selbstverwirklichung, die proportionierlichste Ausbildung seiner Kräfte, zu ermöglichen, nicht aus dem Auge verlieren. Es gilt auch hier, daß die Mittel sich nach dem Zweck zu richten haben. Für den Staat gibt es nach Humboldt dreierlei Arten von Einkünften: Einkünfte aus seinem Eigentum und aus direkten oder indirekten Abgaben. Die erste und dritte Möglichkeit der finanziellen Einnahmen lehnt Humboldt ab; die erste deshalb, weil der Staat, falls er Eigentum besitzt, private Rechtsverhältnisse eingehen müßte, doch aufgrund seiner Macht bei Rechtsstreitigkeiten Vorteile hätte. "Gleichfalls mit Nachteilen verknüpft sind die indirekten Abgaben. Die Erfahrung lehrt, wie vielfache Einrichtungen ihre Anordnung und ihre Hebung voraussetzt, welche das vorige Räsonnement unstreitig nicht billigen kann. "BI Der dafür aufzuwendende Verwaltungsapparat ist zu kompliziert, um Einkünfte dieser Art rentabel erscheinen zu lassen, zudem besteht die Gefahr, daß der Bürger dann einem übermächtigen Bürokratismus ausgesetzt wird. Demnach bleiben nur Einkünfte aus direkten Abgaben übrig, und von allen möglichen Systemen direkter Abgaben spricht sich Humboldt für das im 18. Jahrhundert verbreitete und seinem Denken am meisten entsprechende physiokratische System aus. Die Vorstellung einer allseitigen Harmonie, die von den Gesetzen der natürlichen Ordnung bestimmt wird, macht jede staatliche Lenkung überflüssig. Die Wirtschaft reguliert sich selbst. Der "ordre naturei" wird nach der Lehre der Physiokratie verwirklicht, wenn jedes Individuum seinem eigenen Vorteil nachgeht; denn das Streben nach Eigennutz bewirkt ein Maximum an gesellschaftlichem Nutzen. Die natürliche Ordnung soll durch gesetz geberische Eingriffe nicht gestört werden. Wie auf allen anderen Gebieten, so ist dem Staat auch auf dem Gebiet der Wirtschaft Zurückhaltung geboten. Wenn Humboldt nun für direkte Abgaben plädiert, wobei seiner Ansicht nach auch die bei der Arbeit verwendete Kraft des Menschen zu besteuern ist, "da sie in ihren Wirkungen ... bei unsren Einrichtungen mit zur Ware BO B1
10'
GS I, 23l. GS I, 233.
148
9 Staatliche Wirksamkeit und Gesetze
wird"82, so weiß er sehr wohl, daß dies ein notwendiges Übel ist. Was das Übel jedoch verringert, ist das Wissen darum, daß ein Staat, welchem so enge Grenzen in seiner Wirksamkeit gesetzt sind, keiner aufwendigen finanziellen Mittel bedarf. Die Frage ist nur, ob die Sicherheit für die Bürger nicht mehr impliziert, als Humboldt vermutet, d. h. auch wenn der Staat nur Sicherheits- und Schutzfunktionen übernimmt, so lassen sich diese kaum ohne positive Maßnahmen und finanziellen Aufwand leisten. Das zweite entscheidende Mittel zur Erhaltung des Staates sieht Humboldt in dessen innerer politischen Verfassung. "Es muß nämlich ein Mittel vorhanden sein, welches den beherrschenden und den beherrschten Teil der Nation miteinander verbindet, welches dem ersteren den Besitz der ihm anvertrauten Macht und dem letzteren den Genuß der ihm übriggelassenen Freiheit sichert. "83 Um dies zu erreichen, hat man im Laufe der Geschichte in den verschiedenen Staaten verschiedene Möglichkeiten praktiziert, z. B. der Regierung umfangreiche Macht eingeräumt, was aber nach Humboldt entschieden abzulehnen ist, weil dadurch die Freiheit des Individuums gefährdet ist. Doch ebenso abzulehnen ist, wenn der Staat auf die Weise seine Existenz zu sichern versucht, indem er unter der Nation einen der "Konstitution günstigen Geist"84 verbreitet, wie es vorzüglich im Altertum der Fall war. Darin sieht Humboldt den Bürger zu einer einseitigen geistigen Entwicklung verurteilt, was jedoch für die Entfaltung seiner Individualität von Nachteil ist. "Vielmehr müßte diesem zufolge eine politische Verfassung gewählt werden, welche sowenig als möglich einen positiven speziellen Einfluß auf den Charakter der Bürger hätte und nichts anders als die höchste Achtung des fremden Rechts, verbunden mit der enthusiastischen Liebe der eignen Freiheit, in ihnen hervorbrächte. "85 Welche Verfassung das nun konkret ist, darauf will Humboldt nicht näher eingehen, weil die Beantwortung dieser Frage in eine Theorie der Politik gehöre. Sie läßt sich nicht allgemein beantworten, da sie auch von nationalen und geschichtlichen Gegebenheiten abhängt. Humboldt ist sich dessen bewußt, daß er in seinen "Ideen" mehr für das Privatinteresse als für das öffentliche argumentiert, doch die beiden Interessen schließen sich deswegen nicht gegenseitig aus, im Gegenteil, insofern dieses auf jenem gründet, weil jeder Bürger in erster Linie sicher und frei sein will, werden sie miteinander verbunden. Das heißt, Humboldt anerkennt auch die Bedeutung und den Wert des Sozialen, doch soll diese Dimension eher durch Nationalvereine als durch den Staat verwirklicht werden. "Denn die Staatsverfassung und der Nationalverein sollten, wie eng sie auch ineinander verwebt sein mögen, nie miteinander verwechselt werden. Wenn die Staatsverfassung den Bürgern, sei's durch Über82
83 84 85
Ebd. GS I, 234. Vgl. ebd. Ebd.
9.6 Mittel zur Erhaltung des Staates
149
macht und Gewalt oder Gewohnheit und Gesetz, ein bestimmtes Verhältnis anweist, so gibt es außerdem noch ein andres, freiwillig von ihnen gewähltes, unendlich mannigfaltiges und oft wechselndes. Und dies letztere, das freie Wirken der Nation untereinander, ist es eigentlich, welches alle Güter bewahrt, deren Sehnsucht die Menschen in eine Gesellschaft führt. "86. Staatsverfassungen nehmen gegenüber dem freien Wirken der Nation nur eine untergeordnete Rolle ein, sie erweisen sich lediglich als Mittel für die Erfüllung des eigentlichen Zwecks menschlicher Selbstverwirklichung und, insofern sie Freiheit einschränken, sind sie nicht mehr als ein "notwendiges Übel".87 Es wurde bereits' an wiederholter Stelle die Frage gestellt, ob Humboldts Staats auffassung der menschlichen Selbstbestimmung gerecht werden kann. Seine Einschränkung der staatlichen Wirksamkeit allein auf die Schutzfunktion, in der Erwartung, daß in allen anderen Belangen die Individuen selbst Wege und Mittel zu deren Erfüllung finden, setzt nicht nur autarke, sondern in allen Lebensbereichen erfahrene und gebildete Menschen voraus.
86 87
GS 1,236. Ebd.
10 Theorie und Praxis 10.1 Bezug zur Wirklichkeit Ist es auch der Wunsch der Menschen, Theorien (Ideen) in der Wirklichkeit ausgeführt zu sehen, so muß dennoch vor einer übereilten Anwendung gewarnt werden, meint Humboldt; die spontane Begeisterung für die Idee darf nicht über alle möglichen schädlichen Folgen hinwegsehen, besteht doch die Gefahr, daß man "sich nur an der reinen Schönheit der Ideen ergötzt"l. Um eine Veränderung herbeizuführen, bedarf es einer gründlichen Vorbereitung, und die Veränderung selbst soll sich nur in einem langsamen Prozeß vollziehen; dies gewährleistet am ehesten ihren Erfolg. Denn "für die schönste, gereifteste Frucht des Geistes ist die Wirklichkeit nie, in keinem Zeitalter reif genug; das Ideal muß der Seele des Bildners jeder Art nur immer als unerreichbares Muster vorschweben"2. Ja, es gibt sogar Ideen, die der weise Mensch nie auszuführen versuchen würde. Will man vorhandene Zustände ändern, so ist zu bedenken, daß jeder Lage, in der sich die Menschen befinden, eine bestimmte Form zu eigen ist und nicht jede Form in eine andere überzugehen vermag; erst dann, wenn sie von sich aus nach einer Änderung verlangt, ist unter Wahrung der historischen Kontinuität der Zeitpunkt für eine Reform gegeben. Dafür sind zwei Prinzipien maßgebend: .
,,1. Man trage Grundsätze der reinen Theorie allemal alsdann, aber nie eher in die Wirklichkeit über, als bis diese in ihrem ganzen Umfang dieselben nicht mehr hindert, diejenigen Folgen zu äußern, welche sie, ohne alle fremde Beimischung, immer hervorbringen würden. 2. Um den Übergang von dem gegenwärtigen Zustande zum neu beschlossenen zu bewirken, lasse man, so viel möglich, jede Reform von den Ideen und den Köpfen der Menschen ausgehen. "3 Ähnlich wie bei Hegel, der die Wirklichkeit für gut befindet, weil sie aufgrund ihrer Vernünftigkeit so ist, wie sie sein soll ("Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig"4), dringt auch bei Humboldt eine optimistische Tendenz durch, nur mit dem einen UnterGS 1,236. GSI,237. 3 GS 1,239. 4 G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke. Hrsg. v. H. Glockner. Bd. VII (Grundlinien der Philosophie des Rechts). Stuttgart 1928, 33. 1
2
10.1 Bezug zur Wirklichkeit
151
schied, daß nicht die Vernünftigkeit der entscheidende Grund dafür ist, sondern die aller Entwicklung zugrunde liegende menschliche Kraft, sofern sie zur Entfaltung kommt. "Daher rührt es, daß alles, was auf der Erde geschieht, gut und heilsam genannt werden kann, weil die innere Kraft des Menschen es ist, welche sich alles, wie seine Natur auch sein möge, bemeistert, und diese innere Kraft in keiner ihrer Äußerungen, da doch jede ihr von irgendeiner Seite mehr Stärke oder mehr Bildung verschafft, je anders als - nur in verschiedenen Graden - wohltätig wirken kann ... Wer demnach die schwere Aufgabe versuchen will, einen neuen Zustand der Dinge in den bisherigen kunstvoll zu verweben, der wird vor allem sie nie aus den Augen verlieren dürfen. "5 Mag sich auch die menschliche Kraft in einer Periode nur auf eine Weise äußern, so ist sie doch imstande, diese eine Weise mannigfaltig zu modifizieren. Und erst recht entsteht in einer Folge von Perioden ein Bild wunderbarer Vielseitigkeit. 6 Ferner ist zu bedenken, daß der Mensch nirgendwo unmittelbar, ohne Einfluß von äußeren Umständen, existiert. Darauf hat der Staat in der Bestimmung seiner Wirksamkeit Rücksicht zu nehmen, besteht doch das Mißverhältnis zwischen Theorie und Wirklichkeit nach Humboldt hauptsächlich in einem Mangel an Freiheit. Wer aber glaubt, das Mißverhältnis dadurch beseitigen zu können, daß er den Menschen mit einem Schlag von allen Fesseln befreit, irrt. Man gewährt nicht Freiheit, wenn man versucht, einem Menschen Fesseln zu lösen, die er als solche gar nicht empfindet - im Gegenteil, man tötet dabei seine innerste Kraft, die er um die Aufhebung seiner Freiheitsbeschränkung selbst zu aktivieren hat. Humboldts Vorschlag lautet deshalb so: "Man löse also nach und nach gerade in eben der Folge, wie das Gefühl der Freiheit erwacht, und mit jedem neuen Schritt wird man den Fortschritt beschleunigen. "7 Auf den Staat übertragen bedeutet das, daß er sich nicht eher zu ändern braucht, als "bis sich ihm gleichsam die Anzeigen dazu in den Bürgern selbst darbieten"B. Nun besteht aber die Gefahr, daß man die Zeichen, die das Erwachen zur Freiheit ankündigen, nicht rechtzeitig wahrnimmt; deshalb fordert Humboldt vom Gesetzgeber, daß er jederzeit zweierlei Dinge beachte: ,,1. Die reine Theorie, bis in das genaueste Detail ausgesponnen. 2. Den Zustand der individuellen Wirklichkeit"9, dessen Veränderung, falls erforderlich, ihm aufgetragen ist. Das heißt, einerseits ist die Theorie mit allen ihren Folgen und mannigfaltigen Verflechtungen genau zu überprüfen, andererseits verlangt das Wissen über den Zustand der individuellen Wirklichkeit eine eingehende Information über die Verpflichtungen, die der Staat den Bürgern und die Bürger unter5 6 7
8
9
GS 1,238. Vgl. GS I, 237f. GS 1,241. GS 1,243. GS I, 242.
10 Theorie und Praxis
152
einander sich gegen die Grundsätze der reinen Theorie auferlegen. Ist die Information eingeholt, so gilt es nun, die Theorie mit der Wirklichkeit zu vergleichen und auf den geeigneten Zeitpunkt zu warten, um jene auf diese zu übertragen. Für Humboldt ist die Zeit für die Vermittlung von Theorie und Praxis (Wirklichkeit) dann reif, wenn der auf die Wirklichkeit übertragene theoretische Grundsatz auch nach seiner Anwendung unverändert bleibt, d. h. in seiner vollen Bedeutung zur Ausführung kommt. Man mag sich fragen, ob eine adäquate Anwendung der Theorie auf die Wirklichkeit überhaupt möglich ist oder ob nicht vielmehr der Prüfstein der Wirklichkeit jede Theorie abrundet, auch wenn sie noch so behutsam ausgedacht wurde und man auf alle möglichen Folgen Rücksicht zu nehmen versucht hat. Dennoch muß man Humboldt zugute halten, daß er trotz seiner revolutionär anmutenden "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" in deren Anwendung auf die Wirklichkeit äußerst vorsichtig vorgeht, insofern er stets den natürlichen Entwicklungsprozeß, die historische Kontinuität, zu wahren weiß, getreu einer schon früher gemachten Forderung: "Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen wie Schößlinge auf Bäume pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ist's, als bindet man Blüten mit Fäden an. Die erste Mittagssonne versengt sie. "10 Wenn die Theorie - so Humboldt - immer nur Freiheit verlangt, die Wirklichkeit aber immer nur Zwang zeigt und es sich als unmöglich erweist, Freiheit gegen Zwang einzutauschen, so kann der Grund für diese Unmöglichkeit nur darin liegen, daß entweder die Menschen oder die äußeren Umstände für die Freiheit noch nicht empfänglich genug sind. Der Staat darf seine Wirksamkeit aber nur durch Notwendigkeit bestimmen lassen. "Denn die Theorie erlaubte ihm allein Sorgfalt für die Sicherheit, weil die Erreichung dieses Zwecks allein dem einzelnen Menschen unmöglich und daher diese Sorgfalt allein notwendig ist ... So ist es also das Prinzip der Notwendigkeit, zu welchem alle in diesem ganzen Aufsatz vorgetragene Ideen wie zu ihrem letzten Ziele hinstreben ... Dieses Prinzip der Notwendigkeit müßte, wie es mir scheint, jedem praktischen, auf den Menschen gerichteten Bemühen die höchste Regel vorschreiben. Denn es ist das einzige, welches auf sich're, zweifellose Resultate führt. Das Nützliche, was ihm entgegengesetzt werden kann, erlaubt keine reine und gewisse Beurteilung."ll Mit dem Versuch, das Prinzip der Notwendigkeit zum letzten Bestimmungsgrund staatlicher Wirksamkeit werden zu lassen und sie dadurch ~is senschaftlich zu fundieren, scheint Humboldt abermals auf Kant zurückzugreifen, für den sich Wissenschaftlichkeit nur durch Allgemeingültigkeit 10 11
GS 1,80. GS 1,244.
10.2 Kontinuität in Humboldts Denken
153
und Notwendigkeit auszuweisen vermag, während die Empirie nur über Einzelnes und Zufälliges Aussagen zu machen imstande ist. Da aber für Kant strenge Notwendigkeit ein Kennzeichen apriorischer Urteile ist, für Humboldt hingegen die Notwendigkeit staatlicher Wirksamkeit sich aus der Unzulänglichkeit des Individuums im Hinblick auf seine Sicherheit (also aus der Erfahrung) ergibt, unterscheidet sich Humboldts Begriff der Notwendigkeit wesentlich von dem Kants. Mag für Humboldt Notwendigkeit auch "das einzige unertrügliche Mittel [sein], den Gesetzen Macht und Ansehen zu verschaffen"12, im Reich der Erscheinungen läßt sie sich nach Kant nicht antreffen. 10.2 Kontinuität in Humboldts Denken Auch im Wissen darum, daß es sich bei den "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" um eine Jugendschrift handelt, die keineswegs das Denken Humboldts in allen Phasen seines Lebens widerspiegelt, wird man sich dennoch fragen müssen, erstens, was Humboldt bewogen hat, nach zehnjähriger Unterbrechung wieder in den Staatsdienst einzutreten, und zweitens, was ihn als Staatsmann, zunächst als preußischer Resident bei der römischen Kurie (1802 - 1808), dann als Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht (1809/10), ferner im auswärtigen Departement als Gesandter in Wien und London (1810 - 1818) und schließlich in der Innenpolitik als Mitglied des Staatsministeriums (1819) noch mit seinen "Ideen" verbindet. Vor allem die Beantwortung der zweiten Frage ist von Interesse, gibt sie doch darüber Auskunft, wieweit Ideen solcher Art überhaupt praxisrelevant sein können. Die Zeit zwischen seinem Austritt (1791) und Wiedereintritt in den Staatsdienst (1801) verbringt Humboldt, wie die vorliegende Arbeit zeigt, mit staatsphilosophischen und anthropologischen Überlegungen, des weiteren mit Studien über das griechische Altertum, aus denen eine Reihe kleinerer Publikationen entsteht, und zuletzt mit einem fast vierjährigen Auslandsaufenthalt in Paris und Spanien, wo er sich vor allem Sprachstudien widmet. Wiederum nach Preußen zurückgekehrt, erfährt er aufgrund seiner Beziehungen zum Berliner Hof von einem freigewordenen Posten eines Gesandten in Rom, der die preußischen Interessen am päpstlichen Stuhl zu vertreten hat. Humboldt bewirbt sich um die Stelle und erhält sie. Als Motivation für seine Bewerbung muß zweifelsohne sein leidenschaftliches Interesse an der Antike, seine Sehnsucht nach Rom, höher eingeschätzt werden als der Wunsch, sich als Gesandter in den Dienst des Staates zu stellen. Der bekannte Humboldt-Biograph Kaehler meint sogar, daß der Wiedereintritt Humboldts in den Staatsdienst ausschließlich dem Zweck der wünschenswerten Gestaltung seines eigenen Lebens diente. 13 Eine ähnliche Meinung 12
GS I, 245.
154
10 Theorie und Praxis
vertritt auch Haym, der schreibt: "Humboldt wünschte dem Staat zu dienen, um den Staatsdienst selbst zum Mittel seiner eigenen Ausbildung zu machen."14 Demnach wäre Humboldt seinen "Ideen" treu geblieben, in denen er als vordergründige Aufgabe des Staates - wenn auch auf eigennützige Weise - die Bildung des Individuums sieht. Doch man wird Humboldt nicht gerecht, wenn man ihn nur so einseitig charakterisiert. Auch wenn er zeit seines Lebens gerne auf dem Gesandtenposten in Rom geblieben wäre, so darf auch nicht übersehen werden, daß er, als er vom unglücklichen Verlauf des preußisch-französischen Krieges (1806) hört, sich seiner Regierung für eine Stelle anbietet, auf der er nützlicher sein könnte als in Rom. In diesem Sinne schreibt er an seinen damaligen Chef des auswärtigen Amtes nach Berlin: "Ich war niemals ehrgeizig oder interessiert und zufrieden mit dem Posten in dem Lande, das ich bewohne und liebe, und habe weder gesucht noch gewünscht, in eine andere Lage zu kommen; aber jetzt ist es mir peinlich, hier müßig zu sein und nichts für das bedrängte Vaterland tun zu können."15 Humboldt bleibt zwar noch bis 1808 in Rom, ehe ihn eine neue Aufgabe erwartet. Seine diesbezügliche "Wendung zum Staat" läßt sich nach Schaffstein so erklären, daß das Preußen, dem Humboldt fortan sein Interesse und seine Kraft schenkte, nicht mehr der Staat war, dem er 1791 den Rücken kehrte. "Nicht nur Humboldt, sondern auch der preußische Staat hatte sich in den jüngstvergangenen Jahren gewandelt. Indem sie es taten, sind sie sich auf halbem Weg entgegengekommen."16 Weitere Anzeichen für seine neue Einstellung dem Staat gegenüber und damit implizit eine Absage an seinen früheren radikalen Individualismus finden sich auch in seiner Schrift: "Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten" (1807), wo er einen entscheidenden Grund für den Verfall Griechenlands in der "zu edlen, zarten, freien und humanen Natur"17 des Griechen sieht, dem es nicht gelang, "in seiner Zeit eine, damals die Individualität notwendig beschränkende politische Verfassung zu gründen"18. Auch entgegen seiner Auffassung in den "Ideen", in denen er Mensch und Bürger streng voneinander abgrenzte, steht nun proklamatisch der Satz: "Niemand versuche es daher, den Menschen vom Bürger zu trennen. "19 Im Herbst 1808 kehrt Humboldt zu einem mehrmonatigen Urlaub nach Deutschland zurück, wo er von einer neuen Aufgabe überrascht wird, der er 13 Vgl. S. A. Kaehler, Wilhelm von Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800. Göttingen 21963, 186. 14 R. Haym, Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik. Berlin 1856, 201. 15 Brief an Hardenberg vom 27. Mai 1807. In: GS XVI, 60f. 16 F. Schaffstein, Wilhelm von Humboldt. Ein Lebensbild. Frankfurt a. Main 1952, 179. 17 GS III, 171. 18 Ebd. 19 GSIII, 175.
10.2 Kontinuität in Humboldts Denken
155
sich vorerst nicht gewachsen fühlt, aber auf Drängen prominenter Persönlichkeiten sich doch entschließt, sich zum Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht ernennen zu lassen. Damit scheint sich ein weiterer Bruch mit seinen "Ideen" vollzogen zu haben, in denen er sich noch vehement dafür einsetzte, daß die öffentliche Erziehung außerhalb der Schranken der Wirksamkeit des Staates zu liegen habe (vgl. Kap. 8.3.1). Und man kann es fast als Ironie des Schicksals ansehen, daß Humboldt, der bei der Veröffentlichung seiner Jugendschrift Zensurschwierigkeiten hatte, nun selbst zum Leiter dieses Amtes wird, das er jedoch - und damit nähert er sich wiederum seinen "Ideen" - mit äußerster Großzügigkeit und Milde verwaltet. Entgegen seinem Willen läßt sich die Zensur zur damaligen Zeit noch nicht abschaffen. Seine tolerante und aufgeschlossene Gesinnung zeigt sich auch in einem Gutachten zum Gesetzesentwurf zur Judenemanzipation, in dem er verlangt, daß der Staat "die inhumane und vorurteilsvolle Denkungsart ... aufheben [soll], die einen Menschen nicht nach seinen eigentümlichen Eigenschaften, sondern nach seiner Abstammung und Religion beurteilt und ihn, gegen allen wahren Begriff von Menschenwürde, nicht wie ein Individuum, sondern wie einer Rasse gehörig und gewisse Eigenschaften gleichsam notwendig mit ihr teilend ansieht. Dies aber kann der Staat nur, indem er laut und deutlich erklärt, daß er keinen Unterschied zwischen Juden und Christen mehr anerkennt. "20 Eine weitere Bestätigung seiner Jugendideen im Hinblick auf die Einschränkung staatlicher Wirksamkeit zeigt sich auch in seinen Vorschlägen zur Pressefreiheit. Doch eine seiner bedeutendsten Tätigkeiten, die in diese Periode fällt, ist zweifelsohne die Neuordnung des preußischen Schulwesens. Mag er damit auch seinem Grundsatz, daß der Staat sich nicht um die Erziehung zu kümmern habe, untreu geworden sein, indem er aber an der Allseitigkeit der Bildung des Individuums festhält, bleibt er seinen "Ideen" doch treu. Sein großes Anliegen ist nun, die nach Ständen gegliederten und nur an der Berufsausbildung orientierten Schulen zu allgemeinbildenden Schulen umzufunktionieren. Fachkenntnisse und Berufsausbildung sollen erst nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden. "Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige Menschen noch vollständige Bürger einzelner Klassen. "21 Dieser Theorie folgend beabsichtigt Humboldt sogar, die Kadettenhäuser, das Musterbeispiel spezifisch soldatisch-preußischer Erziehung, abzuschaffen, weil die Kadettenhäuser für ihn Spezialschulen sind, "die das frühe Alter schon für den Militärdienst in Anspruch nehmen, lange zuvor, ehe es den Weg allgemein-notwendiger Bildung zurückgelegt hat und auf ihm so weit geführt ist, daß es über seine Anlage und Neigung zu einem bestimmten Fache sich nicht mehr zweifeln läßt. Sie tun daher der mensch20
21
GS X, 99f. GS XIII, 276f.
156
10 Theorie und Praxis
lichen Natur eine Gewalt an. "22 Allerdings kann sich Humboldt in diesem Fall gegen den preußischen Geist nicht durchsetzen. Mehr Erfolg hat er in anderen Bereichen. So wird der Volksschulunterricht an Pestalozzis Lehrmethoden ausgerichtet, und zu diesem Zweck werden junge Lehrer auf Staatskosten in die Schweiz geschickt, um diese neue Unterrichtsmethode an ihrer Quelle zu studieren. Diese Methode entspricht ganz dem Bildungsideal, das Humboldt bereits in seinen "Ideen" vertreten hat, nämlich von innen heraus den Menschen zu bilden (durch die Erwekkung der Grundkräfte des menschlichen Wesens) und nicht durch äußeren Drill und mechanisches Einpauken von Fachkenntnissen. Wichtiger als jede Kenntnisvermittlung ist die allgemeine Menschenbildung, analog dem in seinen "Ideen" aufgestellten Prinzip der proportionierlichsten Bildung der menschlichen Kräfte in ihrer individuellen Eigentümlichkeit. Humboldt lehnt auch die ständische Struktur des Schulwesens ab. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist - auch wenn entgegen seiner früheren Auffassung - die Einführung des obligatorischen Examens für das höhere Lehramt, um das preußische Schulwesen dem Mißbrauch der Patronatsrechte von Grundbesitzern, städtischen Magistraten und kirchlichen Stellen, an deren Schulen oft unqualifizierte Lehrer wirkten, zu entziehen. Zwar soll dadurch das Schulwesen auch nicht gänzlich unter die Obhut des Staates geraten; so spricht sich Humboldt neuerdings dafür aus, daß der Staat "immer hinderlich ist, sobald er sich hineinmischt" , d. h., "daß die Sache an sich ohne ihn unendlich besser gehen würde"23. Stärker gegenüber seinen "Ideen" wird nun der Gedanke hervorgehoben, daß das Erziehungswesen, wenn schon nicht eine staatliche, so zumindest eine nationale Angelegenheit sein soll; davon erwartet sich Humboldt, daß die Nation selbst aufgeklärter und gesitteter wird, wenn sie an der Erziehung der heranwachsenden Generation mitwirkt. In den Gymnasien wird der Sprachunterricht zum vorherrschenden Bildungsvermittler, vor allem nehmen die antiken Sprachen im Lehrplan einen breiten Raum ein. Dahinter steckt unverkennbar Humboldts Griechenideal. Seine bedeutendste Leistung auf dem Sektor des Schulwesens, wenn nicht in seinem Leben überhaupt, liegt jedoch in der Gründung der Berliner Universität, die entgegen aller bisherigen Gepflogenheiten an den deutschen Universitäten sich nicht mehr primär die Aufgabe stellt, der Berufsausbildung zu dienen, sondern der einheitlichen Verwirklichung von Forschung und Lehre. Vornehmlich der Forschungscharakter, stets für die Lösung neuer Probleme offen zu sein und nicht nur "fertiges" Wissen und Kenntnisse zu vermitteln, soll die Universität gegenüber allen anderen Schultypen 22 23
GS X, 93. GS X, 252.
10.2 Kontinuität in Humboldts Denken
157
auszeichnen. "Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler wird daher durchaus ein anderes als vorher. Der erstere ist nicht für die letzteren, beide sind für die Wissenschaft da. "24 Professoren wie Studenten sind dem Aufsuchen der wissenschaftlichen Wahrheit verpflichtet, und um dieser Aufgabe entsprechen zu können, fordert Humboldt Freiheit für die Wissenschaften, d. h. sie dürfen weder an Autoritäten noch an bestimmte Zwecke gebunden sein. Humboldt verleiht mit seiner Universitätsreform, speziell mit der Gründung der Berliner Universität, den Universitäten ein neues Image, indem er einerseits die Forschung, die zur damaligen Zeit ausschließlich von den Akademien wahrgenommen wurde, wieder für die Universität zurückgewinnt und indem er sich andererseits für die Freiheit der Wissenschaft einsetzt, die heutzutage als Autonomie der Hochschulen in den meisten Ländern Europas und den Vereinigten Staaten verfassungsrechtlich garantiert ist. Wenngleich sich Humboldt zu seiner Zeit als Repräsentant des Staates, als Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht, das Recht vorbehält, die Universitätslehrer zu ernennen, so geschieht dies vordergründig aus der Notwendigkeit, um die Reorganisation der Universitäten überhaupt durchführen zu können; damit soll die Autonomie der Universitäten nicht geschmälert werden. Mit seinem Eintreten für die Freiheit der Wissenschaft läßt sich auch unter diesem Aspekt ein Vergleich mit seiner Schrift über die Grenzen der Staatswirksamkeit herstellen. Wie er damals den Staat darauf beschränkt hat, "Existenz und Freiheit seiner Bürger zu sichern, so ist es auch jetzt die Schutzgewalt des Staates, die dessen Verhältnis gegenüber der wissenschaftlichen Sphäre bestimmt"25. Kein Zweifel aber, daß auch ein neuer Gesichtspunkt dazukommt, der den Interessen des Staates mehr als früher gerecht wird. Denn insofern die Wissenschaft die Kultur eines Volkes prägt, wirkt die Universität auch indirekt zum Wohle des Staates. "Der konfessionell und weltanschaulich neutrale Staat garantiert die Freiheit der Bildung und Wissenschaft, die Universität wiederum dient dem Staat durch die Pflege der Kultur als der staatsfördernden Grundkraft. "26 Freiheit und Bildung hat Humboldt bereits in seinen "Ideen" in Korrelation gesetzt, wenn er schreibt: "Nun aber erfordert die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen gleich hohen Grad der Bildung. "27 Obwohl Humboldt seine leitende Funktion im preußischen Unterrichtswesen nur eineinhalb Jahre ausübt und selbst um Entlassung bittet, da ihm auf diesem Posten, dem Innenministerium unterstellt, zuwenig eigenständige Kompetenz zugestanden wird, bleibt seine Tätigkeit auf diesem Bereich 24 25
26
GS X, 251 f.
Schaffstein (s. Anm. 16) 224. J. H. Knall / H. Siebert, Wilhelm von Humboldt. Politik und Bildung. Heidelberg
1969,42. 27 GS I, 101.
158
10 Theorie und Praxis
doch von nachhaltiger Wirkung. In der nachfolgenden Zeit als Gesandter und preußischer Bevollmächtigter bei den Friedenskongressen in Prag, Chatillon und Wien steht er vorbehaltlos im Dienste des Staates und vertritt eine nationale deutsche bzw. preußische Politik. Insofern hat seine Einstellung dem Staat gegenüber im Vergleich zu jener Zeit, in der er die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen versuchte, doch einen Wandel erfahren. Wie sehr sich Humboldt sowohl um eine innere Erneuerung und Festigung des preußischen Staates als auch um eine politische Einheit Deutschlands in Form eines "Staatenvereins" bemüht, zeigen seine verschiedensten " Denkschriften " , so vor allem jene von 1813, in der es heißt: "Deutschland muß frei und stark sein, nicht bloß, damit es sich gegen diesen oder jenen Nachbar, oder überhaupt gegen jeden Feind verteidigen könne, sondern deswegen, weil nur eine, auch nach außen hin starke Nation den Geist in sich bewahret, aus dem auch alle Segnungen im Inneren strömen. "28 Aber trotz aller Bejahung der Souveränität vernachlässigt Humboldt auch nicht die Absicherung der Freiheit der Untertanen, indem er sich z. B. für eine Stärkung der Stände ausspricht: "Gut eingerichtete Stände sind nicht bloß eine nötige Schutzwehr gegen die Eingriffe der Regierung in die Privatrechte, sondern sie erhöhen auch das Gefühl der Selbständigkeit der Nation. "29 Gedanken, die sehr an seine Jugendschrift erinnern. Auf ähnliche Weise greift Humboldt auch auf seine " Ideen " zurück, wenn er in der "Denkschrift über den Deutschen Bund" (1816) schreibt: Der Bundestag müsse danach streben, "daß er für eine mehr abwehrende, negativ einwirkende, Unrecht verhindernde, als für eine zu vielem positiven Einwirken und aus ihm selbst hervorgehender Tätigkeit bestimmte Behörde gelte"30. Das heißt, wie sich der Staat seiner "Ideen" zu den Individuen und Gemeinschaften verhalten soll, so soll auch das Verhältnis des Deutschen Bundes zu den Einzelstaaten bestimmt sein. Ganz im Sinne der preußischen Staatserneuerung arbeitet Humboldt, kurz bevor er ins Innenministerium berufen wird (1819), eine neue Verfassung ("Denkschrift über Preußens ständische Verfassung") aus, die - trotz des zeitlichen Abstandes von 17 Jahren und der politischen Erfahrung, die er inzwischen gemacht hat - manches Gedankengut seiner früheren "Ideen" enthält. Bereits zu Beginn der Denkschrift entwirft er einen Katalog von Grundrechten über: ,,1. Die individuelle, persönliche Sicherheit, ... 2. die des Eigentums, 3. die Freiheit des Gewissens, 4. der Presse. "31 Und wie schon in seiner Schrift über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates plädiert Humboldt auch in seinem Verfassungsentwurf für eine möglichst überschaub are Form des Regierens. "Die Vereinfachung des Regierens ist ein 28
29 30
31
GS GS GS GS
XI, 97. XI, 108. XII, 77. XII, 228 f. (§ 8).
10.2 Kontinuität in Humboldts Denken
159
Hauptzweck"32 heißt es nun in Paragraph 10 seiner Denkschrift. Ebenso bleibt er dem Prinzip treu, daß jede Reform nur unter der Wahrung der historischen Kontinuität geschehen darf: "Es ist eine alte und weise Maxime, daß neue Maßregeln und Einrichtungen im Staate an schon vorhandene geknüpft werden müssen, damit sie, als heimisch und vaterländisch, im Boden Wurzeln fassen können. "33 Deshalb werden auch alle ausländischen Verfassungen als mögliches Vorbild für eine neue preußische Verfassung abgelehnt. Die Persönlichkeitsbildung bleibt nach wie vor das Ziel aller staatlichen Wirksamkeit, nun allerdings unter anderen Vorzeichen, nämlich nicht mehr in Abgrenzung gegen den Staat, sondern durch Einfügung des Bürgers in den Staat. War es bisher - nach den "Ideen" Aufgabe der Individuen, Gemeinschaften, Nationalanstalten, für das religiöse, sittliche und kulturelle Leben zu sorgen, weil diese Bereiche außerhalb der Wirksamkeit des Staates lagen, so sollen die Bürger nun auch zur Teilnahme an der Gesetzgebung und Beaufsichtigung der Verwaltung herangezogen werden, um sich in bereicherndem Maße zu Persönlichkeiten zu bilden. "Die Teilnahme an der Gründung und Erhaltung der Ordnung" gehört zum "eigentlichen Geschäft des Staatsbürgers"34 heißt es nun in seiner Denkschrift. Den Ständen wird insofern ein Entscheidungsrecht über die Gesetze eingeräumt, als sie diese durch die Verweigerung ihrer Zustimmung wirkungslos machen können. 35 Humboldt begründet dieses Zugeständnis an die Stände damit, daß es deren Würde widerspreche, sie bloß zu einer beratenden Behörde zu machen. 36 Außerdem sei es höchst unpolitisch, Stände zu berufen, ihnen aber keine Rechte zu geben. 37 Auch sollen den Ständen alle jene Aufgaben übertragen werden, die nicht unmittelbar zum Ressort der Regierung gehören, also Angelegenheiten der Gemeinden, der Stadt oder Provinz, über die der Staat nur eine Oberaufsicht ausübt. 3B Hier zeigen sich weitgehend subsidiäre Gedanken, d. h., daß der Staat alle Eingriffe in Tätigkeitsbereiche zu unterlassen hat, die von kleineren Gemeinschaften, Institutionen oder Individuen selbst ausgeführt werden können. Es war eine große Enttäuschung für Humboldt, daß sein Verfassungsentwurf nicht Wirklichkeit wurde. Er scheiterte aber nicht an einem mangelnden Bezug zur Realität, sondern einerseits an seinem ehrgeizigen Widersacher und damaligen Kanzler Hardenberg, der ebenfalls an einem Verfassungsentwurf arbeitete und darin den krönenden Abschluß seiner politi32 33 34 35
36 37
38
GS XII, 229. GS XII, 234f. (§ 18). GS XII, 231 (§ 12). Vgl. GS XII, 239 (§ 33). Vgl. GS XII, 238 (§ 31). Vgl. ebd. § 29. Vgl. GS XII, 246f. (§ 49).
160
10 Theorie und Praxis
schen Laufbahn sah39 und andererseits an dem noch zu konservativen Zeitgeist in Preußen. Ausgelöst durch die Ermordung des russischen Kulturattaches und politischen Beobachters Katzebues in Deutschland durch einen fanatischen Studenten, kam es zu einer antiliberalen Richtung in Preußen, der verschärfte Maßnahmen folgten. Dies alles ließ die Aussichten auf die Verwirklichung des Humboldtschen Verfassungs entwurfs schwinden. Humboldt kritisierte die Unterdrückungsmethoden der Polizei, die Beseitigung der Pressefreiheit und Freiheit der Universitäten (das Vorgehen gegen die des Liberalismus verdächtigten Universitätsprofessoren und Unterdrükkung der Burschenschaften)40; er versuchte das Ministerium zu einem gemeinsamen Protest dagegen zu bewegen, fand dabei aber nicht die Unterstützung seiner Ministerkollegen. Im Gegenteil, die Intervention Hardenbergs beim König bewirkte sogar die für Humboldt unerwartete Entlassung als Minister und als Mitglied des Staatsrates. Demnach läßt sich folgern, daß Humboldts Denken und Wirken als Staatsmann, trotz mancher Abweichung, doch sehr von seiner Jugendschrift geprägt ist, sein politisches Denken somit eine Kontinuität aufweist. Dem widerspricht auch nicht der Umstand, daß Humboldt als 63jähriger rehabilitiert und neuerdings in den Staatsrat berufen wurde; er nahm zwar an dessen Sitzungen regelmäßig teil, trat jedoch politisch kaum mehr in Erscheinung. 10.3 Beurteilung der Schrift
Wenn Humboldt im vorletzten Kapitel seiner "Ideen" schreibt: "Überhaupt habe ich versucht, die vorteilhafteste Lage für den Menschen im Staat aufzusuchen", und "ich bin zufrieden, wenn ich bewiesen habe, daß dieser Grundsatz wenigstens bei allen Staatseinrichtungen dem Gesetzgeber als Ideal vorschweben sollte"41, so entkräftet er selbst zum Teil damit jene Vorwürfe, die seine Schrift als wirklichkeitsfremd bezeichnen. Denn ein Ideal ist einerseits in der Realisierung seiner selbst unerreichbar, andererseits nimmt es aber als Ziel und Leitbild werthaften Strebens doch Einfluß auf die Gestaltung der Wirklichkeit. Leitbild in diesem Sinne ist für Humboldt die Bildung des Menschen in seiner individuellen Eigentümlichkeit. Nicht die Interessen des Staates stehen zur Diskussion, sondern die des Individuums. Die Schrift wendet sich vor allem gegen den totalen Staat, übersieht aber in dessen radikalen Einschränkung doch weitgehend den Aspekt der sozialen und wirtschaftlichen Verantwortung für den Bürger. Auch der überzeugteste liberale Denker wird nicht bestreiten können, "daß die strenge Beschränkung des Staats auf den Schutz der bürgerlichen Individualsphäre nicht die erträumte Freiheit, sondern Unterdrückung der Schwa39 40 41
Vgl. Schaffstein (s. Anm. 16) 300. Vgl. ebd. 303. GS 1,235.
10.3 Beurteilung der Schrift
161
chen durch die Starken zur Folge haben würde"42. Dessen muß sich auch ein Humboldt bewußt sein, wenn er schreibt, daß sich "die mannigfaltigste Individualität" und "die originellste Selbständigkeit" nur durch die "höchste Freiheit" verwirklichen läßt. 43 Es hat sich gezeigt, daß diese höchste Freiheit von ihm sehr eigenwillig interpretiert wird, indem er dem Staat sogar jegliches Recht abspricht, sich für das geistige und physische Wohl seiner Bürger zu sorgen. Die Eigenständigkeit des Individuums muß nach ihm unter allen Umständen und in allen Situationen gewahrt bleiben; ein Wohlfahrtsstaat würde seine Kräfte lähmen. Je tätiger der Mensch ist, desto mehr bildet er sich. Daß es dazu aber Voraussetzungen bedarf, die zu erbringen die Fähigkeiten des einzelnen übersteigen, übersieht Humboldt. Es ist auch zu wenig, die Kompetenz dafür freiwilligen Organisationen, Gemeinschaften, Nationalanstalten etc. zu übertragen. In der Spannung zwischen dem " Geist von Weimar", der sich die Entfaltung der freien Individualität zum Ziele setzte, und dem "Geist von Potsdam", der das Individuum den Staatszwecken unterordnete, stellt sich Humboldt gegen den Staat, anstatt den Versuch zu unternehmen, die scharfe Polarität zu überwinden und zu einer inneren Einheit von Staat und Kultur zu kommen. 44 Trotz dieses Vorwurfs wird man Humboldt aber doch zugute halten müssen, daß er der Wirksamkeit des Staates nicht aus individualistischer Willkür Grenzen setzt, sondern aus einer vermeintlichen Notwendigkeit, nämlich die Eigenständigkeit des Menschen gegenüber staatlicher Bevormundung zu schützen, um ihm damit Bildung (die Ausbildung seiner Kräfte und Fähigkeiten) zu ermöglichen. Ob sich dies jedoch nur auf die von ihm vorgeschlagene Weise verwirklichen läßt, ist allerdings eine andere Frage. Daß Humboldt den Staat für notwendig erachtet, steht außer Zweifel. Dieser Notwendigkeit geht aber eine andere voraus, nämlich die notwendige Entfaltung der Individuen; somit ist die Notwendigkeit des Staates nur eine abgeleitete im Hinblick auf die Erfüllung der notwendigen Bedingungen für die Verwirklichung des einzelnen. Es ist sicherlich das große Manko seiner Schrift, daß er im Aufweis dieser notwendigen Bedingungen sich allein auf die Sicherheitsfragen beschränkt, wenngleich er dem Staat auf diesem Bereich sogar absolute Gewalt zuspricht. Damit fällt Humboldt ins andere Extrem zu seiner Position, die Wirksamkeit des Staates einzuschränken. Dazu kommt, daß niemals die Frage danach gestellt wird, was der einzelne für den Staat zu leisten hat, sondern nur, welche Aufgaben dem Staat im Hinblick auf die Verwirklichung der Individuen zukommen. Schaffstein (s. Anm. 16) 85. GS I, 235. 44 Vgl. F. Meinecke, Wilhelm von Humboldt und der deutsche Staat. In: Die neue Rundschau 31 (1920) 892. 42
43
11 Battisti
162
10 Theorie und Praxis
Es ist zwar richtig, den Staat als ein untergeordnetes Mittel zu sehen, "welchem der wahre Zweck, der Mensch, nicht aufgeopfert werden darf"45, aber wer soll auch nur die Minimalbedingungen des Staates erfüllen, wenn nicht doch Individuen, die sich für die Aufgaben des Staates verantwortlich fühlen. Daß sich selbst Humboldt in den Staatsdienst gestellt hat und auf verschiedene Weise politisch wirksam wurde, expliziert ganz deutlich die Unzulänglichkeit seines damaligen Denkens. Es sind zweifellos unreife Gedanken, Träume eines Jugendlichen, wenn man die Kompetenz des Staates für das körperliche und geistige Wohl der Bürger und auch die diesbezüglichen Pflichten der Staatsbürger allein der freien Neigung seiner Mitbürger anvertraut. Als bestünde die ganze Nation nur aus Mitgliedern des Weimarer Freundeskreises. 46 In dieser extremen Position ist Humboldts Theorie sicher nicht haltbar. Hingegen positiv hervorzuheben ist, daß durch die Einschränkung der staatlichen Wirksamkeit die Individuen, aber auch die Gemeinschaften und Institutionen, zur Selbsttätigkeit und Eigenverantwortung aufgerufen werden, sofern das für sie zuträgliche Maß dabei nicht überschritten wird. Humboldt sieht die Gesellschaft und den Staat als eine Vereinigung freier, schöpferisch tätiger Menschen und nicht von passiven Untertanen, die sich in allen Belangen von einer Obrigkeit lenken und bevormunden lassen. Um der Würde des Menschen willen wird der Staat in Grenzen gewiesen. Allzu rege staatliche Wirksamkeit erstickt die Selbsttätigkeit der Individuen und wird auch der Persönlichkeitsbildung nicht gerecht. Staat und Recht sind nicht Zweck an sich, sondern Mittel für die Entfaltung des Menschen. Wird diese Mittel-Zweck-Relation verkannt oder gar umgekehrt, so besteht die Gefahr, daß zur Erreichung gesellschaftlicher Zwecke die individuelle Freiheit über das notwendige Maß eingeschränkt wird. Die Folge davon sind entmündigte und unfreie Menschen gegenüber einem omnipotenten Staat. Humboldt will im Staat nicht Marionetten, sondern Individuen, die, vorausgesetzt, daß ihnen genügend Freiheit gewährt wird, auf mannigfaltigste Weise nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gesellschaft und den Staat wirksam werden können. Was die Kehrseite dieser Theorie bewirkt, hat Jahre später Hegel als Vertreter eines absolutistischen Staatsdenkens exemplarisch vorgeführt, wenn er vom Individuum verlangt, daß es sich kritiklos in sein Volk, in den Staat, zu integrieren hat. "Es hat sich dieses substanzielle Sein anzueignen, daß dieses seine Sinnesart und Geschicklichkeit werde, auf daß es selbst etwas sei. Das Werk ist vorhanden, und die Individuen haben sich ihm anzubilden, ihm gemäß zu machen. "47 Die Folgen eines 45
GS 1,180.
Vgl. Meinecke (s. Anm. 44) 898. 47 G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte I. Hrsg. v. J. Hoffmeister (PhB 171 a). Hamburg 51955, 67. 46
10.3 Beurteilung der Schrift
163
solchen Verhaltens können dann aber auch keine anderen sein als: "der natürliche Tod des Volks geistes ... als politische Nullität"48. Humboldts Schrift hat ein Problem von immerwährender Aktualität aufgegriffen, nämlich die Frage nach der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem einzelnen zur Gesellschaft, zum Staat, zur Obrigkeit. "Was er über die Gefahren, die dem Individuum vom Staate drohen, sagte, ist von ewiger Wahrheit und wird im modernen Leben von jeder tieferen Natur einmal empfunden werden. Immer wieder wird es stille Stunden geben, in denen das Innerste des Menschen leidenschaftlich sich auflehnt und wund und wehe sich reibt an dem mechanisierten und mechanisierenden Willen des Staates, mag dieser nun die Züge des Obrigkeits- oder des Volks staates tragen. Und immer wieder wird auch der höchste politische Idealismus sich eingestehen müssen, daß in jedem Staat ein Stück von Leviathan steckt. "49 Nach dieser ausführlichen Darlegung und Interpretation der Humboldtschen Schrift soll nun sein Denkansatz im Hinblick auf die Bedeutung des Individuums für die Gesellschaft (Staat) unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips weitergeführt werden.
48 49
11'
Ebd.68. Meinecke (s. Anm. 44) 895.
11 Bedeutung und Wert des Individuums Rückblickend auf die "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" wird man einem der größten Bewunderer, aber auch Kritiker dieser Schrift, nämlich J. St. Mill, zustimmen müssen, wenn er schreibt: "Den meisten wird wohl diese Humboldtsche Lehre sehr fremdartig vorkommen, es wird sie überraschen, daß hier die Individualität so hoch eingeschätzt wird."l Dies ist um so beachtenswerter, als in der Geschichte der abendländischen Philosophie das menschliche Individuum in seiner unwiederholbaren und unauswechselbaren Bedeutung - mit wenigen Ausnahmen (z. B. Stoa, Renaissance) - kaum Gegenstand der Reflexion war, so weder im Altertum noch im Mittelalter, den Nominalismus miteinbezogen. Selbst die von Descartes am Beginn der Neuzeit vollzogene "Wende zum Subjekt" galt ausschließlich dem reflektierenden Subjekt als kritischem Ansatz eines methodischen Denkens und nicht dem menschlichen Individuum in seiner geschichtlichen Einmaligkeit. Ähnliches läßt sich auch von Kant sagen, der zwar mit seiner Philosopie eine "Kopernikanische Tat" setzt - insofern er zur Überzeugung kommt, daß sich unsere Erkenntnis nicht nach den Gegenständen, sondern diese vielmehr nach "unserem Erkenntnis" zu richten haben 2 -, aber ebensowenig wie Descartes der Einmaligkeit des Individuums gerecht wird. Ihn interessiert das Subjekt, zumindest in seiner theoretischen Philosophie ("Kritik der reinen Vernunft") nur, insofern es relevant ist für die Erkenntnis, d. h. Erkenntnis konstitutiert. Mag zwar in seiner praktischen Philosophie ("Kritik der praktischen Vernunft", "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten") vom Mensch als Zweck an sich, der niemals bloß als Mittel gebraucht werden darf 3 , die Rede sein, so darf doch nicht übersehen werden, daß Kant dem Menschen nur in dem Ausmaß Würde zuspricht, als er Autonomie besitzt. "Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur. "4 Demnach hat sich der Mensch am Allgemeingültigen, an der allgemeingültigen Gesetzmäßigkeit der Vernunft zu orientieren, wie es z. B. der kategorische Imperativ verlangt, um sittlich zu handeln und in seiner Würde anerkannt zu werden; ein zweifellos richtiger Gedanke, der aber der Einma1
J. St. Mill, Die Freiheit. Übers. von E. Wentscher (PhB 202). Leipzig 1928, 79.
Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft B XVI. Vgl. I. Kant, Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. IV (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). Berlin 1911, 429. Ebenso auch Bd. V (Kritik der praktischen Vernunft). Berlin 1913, 87. 4 Ebd. Bd. IV, 436. 2
3
11.1 Die ontische Bestimmung des Individuums
165
ligkeit des Individuums doch nicht ganz entspricht, zumal für Kant mehr die Menschheit als der Mensch verehrungswürdig ist. "Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein. "5 Diesbezüglich ist eher bei Leibniz anzusetzen, speziell bei seiner "Monadenlehre", wonach trotz einer unendlichen Vielzahl von Monaden die Eigenständigkeit und der eigentümliche Wert jeder einzelnen Monade gewahrt bleibt. Jede Monade spiegelt unter einem begrenzten Aspekt die Ganzheit des Universums wider. Obwohl die Monaden voneinander abgesondert sind (denn "Monaden haben keine Fens!er"6) und folglich jede Veränderung, die stattfindet, sich nur innerhalb der Monade vollzieht, wirkt sie doch auch im Sinne des Ganzen, da sie in eine "prästabilierte Harmonie" einbezogen ist; insofern ist das Wirken der Monade notwendigerweise sinn- und zweckhaft für das Ganze. Eine Theorie, die großen Einfluß auf Humboldts Auffassung vom Individuum hatte, wie überhaupt die Philosophie von Leibniz. 7 Denn ähnlich wie bei Leibniz die Monade eine perspektivische Ansicht des Universums ist8 , tritt auch für Humboldt in jedem Einzelwesen jeweils ein Aspekt der Menschheit in Erscheinung. Mag zwar nach Humboldt die vordergründige Aufgabe des Individuums darin bestehen, seine ihm innewohnende Idee zu verwirklichen (das gilt auch für die Monade bei Leibniz), so wird der Mensch letztlich danach beurteilt, "welchen Inhalt er der Form der Menschheit zu geben gewußt hat. Welchen Begriff man sich von der Menschheit überhaupt zu bilden hätte, wenn er das einzige Muster wäre, aus welchem man denselben abnehmen könnte. "9 Das heißt, auch Humboldt bemüht sich um eine Vermittlung von Individualität und Universalität, wobei aber - wie sich noch zeigen wird - die Eigenständigkeit des Individuums stets gewahrt bleibt. 11.1 Die ontische Bestimmung des Individuums Individuation ist in allen Seins bereichen anzutreffen; d. h. alles, was existiert, ist letzt bestimmt, eben individuell. Diese Letztbestimmung ist der Grund dafür, daß sich einzelnes gegen anderes abgrenzen läßt und seine Identität gewahrt bleibt. Es gibt, wie Leibniz richtig erkannt hat, in der Natur niemals zwei Wesen, von welchen das eine vollkomm~n so ist wie das andere 1o , denn damit würde ihre je eigene Identität aufgehoben werden und 5 6
§ 7.
Ebd. Bd. V, 87. G. W. Leibniz, Monadologie. Übers. von A. Buchenau (PhB 253). Hamburg 1956,
7 Vgl. Kapitel 5.3.2 in dieser Arbeit "Individualität und Kraft"; ebenso den Briefwechsel zwischen Humboldt und seiner Braut, in dem sich Humboldt von der Philosophie Leibniz' sehr angetan zeigte. In: W. u. C. v. Humboldt in ihren Briefen. Hrsg. v. A. von Sydow. Bd. 1. Berlin 1906, 280f. B Vgl. Leibniz, Monadologie § 57. 9 GS H, 332.
166
11 Bedeutung und Wert des Individuums
die beiden Wesen würden in ein Wesen zusammenfallen. Wenn sie sich aber voneinander unterscheiden, dann aufgrund einer quantitativen und/oder qualitativen Bestimmung; nur unter dieser Bedingung ist einzelnes (Individuelles) möglich. Es stellt sich jedoch hier und auch für Humboldt nicht primär die Frage, warum es überhaupt eine Vielheit von Seienden gibt (ein Thema, das in der Geschichte der abendländischen Philosophie immer wieder aufgegriffen wurde, aber bisher noch keine zufriedenstellende Antwort gefunden hat), sondern ausgehend von dem anzuerkennenden Faktum der Vielheit, das nicht zu leugnen ist, sollen die Bedeutung und der Wert des einzelnen erörtert werden. Und es wird sich zeigen, daß - je nachdem, auf welcher Seinsstufe man einzelnes beurteilt - seine Bedeutung und sein Wert ein anderer sein wird. Z. B. ist es im anorganischen Bereich nicht angebracht, vom einzelnen als Individuum zu sprechen. Es widerspricht zweifelsohne auch dem herkömmlichen Sprachgebrauch, einen Stein als Individuum zu bezeichnen. Remplein z. B. sieht einen Unterschied zwischen Lebendigem und Leblosem u. a. darin, daß nur das Lebendige in individueller Form auftreten kann. "Ein Stein oder ein Leichnam ist kein Individuum, wohl aber eine Pflanze, ein Tier, ein Mensch, solange sie leben. Das Wort ,Individuum' leitet sich bekanntlich vom lateinischen individuus = unteilbar her und besagt, daß das Lebewesen eine unzerstückbare Ganzheit darstellt: man kann es nicht beliebig in Teile aufspalten, ohne es zu töten. Das trifft allerdings für die untersten Lebewesen nicht in vollem Umfang zu; denn ein Strudelwurm oder eine Hydra läßt sich in beliebig viele Teile zerschneiden, deren jeder sich wieder zu einem ganzen Tier umbildet. "11 Diese Beispiele zeigen, daß sogar auf der Stufe des Organischen der Begriff Individuum als unteilbares Ganzes nicht auf alle Fälle zutrifft, dennoch kann man von einzelnem (Singulärem) sprechen, das es auch im anorganischen Bereich gibt. Einem materiellen Gegenstand kommt ebenso Singularität zu wie einem hochentwickelten Lebewesen, doch sind es im anorganischen Bereich vor allem quantitative Bestimmungen, wodurch sich das eine vom anderen unterscheidet. Z. B. kann kein Gegenstand aus denselben Molekülen zusammengesetzt sein wie ein anderer; dies ergibt sich aus dem Satz vom Widerspruch, demnach es unmöglich ist, daß dasselbe demselben in derselben Beziehung zukommt und nicht zukommt. Oder positiv formuliert - nach dem Gesetz der Identität - gilt: Wenn Seiendes existiert, dann ist es notwendig es selbst; es kann nicht es selbst und zugleich etwas anderes sein. Eine weitere quantitative Bestimmung des einzelnen ist durch seine Gebundenheit an Raum und Zeit, an das Hic et Nunc, gegeben. Dadurch, daß etwas (ein Gegenstand, ein Geschehen) räumlich und zeitlich fixiert ist, 10 11
Vgl. Leibniz, Monadologie § 9. H. Remplein, Psychologie der Persönlichkeit. München 31959, 29.
11.1 Die ontische Bestimmung des Individuums
167
kommt ihm Einmaligkeit zu. Allerdings ist dafür die Bestimmung durch beide, durch Raum und Zeit, erforderlich; eine Bestimmung allein, entweder durch Raum oder Zeit, würde nicht genügen. Denn allein die Gebundenheit an einen bestimmten Zeitpunkt, d. h. daß etwas ab einem bestimmten Augenblick zu existieren beginnt und keine Sekunde früher oder später, besagt notwendigerweise noch nicht, daß dieses "Etwas" als Einmaliges existiert. Nur aufgrund des Widerspruchsprinzips, bzw. des Satzes der Identität ist dies gegeben. Es könnten ja zum selben Augenblick mehrere Singularitäten derselben Art und Weise auf verschiedenen Punkten im Raum verteilt sein. Ebensowenig genügt allein die Fixiertheit im Raum, um einem Gegenstand oder Geschehen den Charakter des Einmaligen zu verleihen, denn der Gegenstand oder das Geschehen kann sich beliebig oft in der Zeit an demselben Raumpunkt wiederholen.1 2 Demnach bedarf es der Bestimmung von Raum und Zeit zugleich, um einzelnes in seiner Einmaligkeit festzulegen. Damit ist aber noch kein Werturteil zum Ausdruck gebracht, was auch nicht möglich ist, da sich aus Tatsachen kein Sollen ableiten läßt; es sollte nur darauf hingewiesen werden, daß "Individuation" auch für die untersten Seins stufen, für den Bereich des Anorganischen, zutrifft. Doch im Vergleich zum organischen und geistigen Seinsbereich ist im Anorganischen die Individualität noch sehr wenig ausgeprägt. Wir haben es deshalb auch vermieden, in diesem Bereich einzelnes als Individuum zu bezeichnen. Was den Aspekt des Individuums als unteilbares Ganzes betrifft, so tritt dieser im organischen Bereich bedeutend stärker hervor als im anorganischen, abgesehen von einzelnen Fällen, wie Remplein sie anführt (vgl. oben). Denn jede Pflanze geht zugrunde, wenn man sie beliebig teilt; noch mehr gilt dies für jedes Tier höherer Seins art und erst recht für den Menschen. Dennoch bleibt fraglich, ob man deshalb Pflanzen und Tiere als Individuen bezeichnen kann. Demnach würde man, wenn man nur unter diesem Aspekt des unteilbaren Ganzen vom Menschen als Individuum spricht, nicht mehr zum Ausdruck bringen wollen, als daß er eben ein unteilbares Ganzes ist, und dies scheint doch zuwenig zu sein. Denn während auf den unteren Seins stufen quantitative Bestimmung genügt, um das eine vom anderen abzugrenzen, kommt in den höheren Seinsbereichen zur quantitativen Bestimmung noch eine qualitative dazu, die beim Menschen aufgrund seiner Geistigkeit gegenüber Pflanzen und Tieren nochmals überstiegen wird. Das heißt, die Verwendung des Begriffs Individuum für Pflanzen und Tiere - wenn man schon an diesem Begriff festhalten will- muß deutlich unterschieden werden vom menschlichen Individuum. Das Einzelsein der Pflanze und des Tieres beschränkt sich nämlich darauf, Exemplar ihrer Gattung zu sein.1 3 Das Leben der Gattung hat gegenüber dem "individuellen" 12
Vgl. J. Valkelt, Das Problem der Individualität. München 1928, 15.
168
11 Bedeutung und Wert des Individuums
Wesen den Vorrang. Dies tritt besonders deutlich bei den niederen Stufen des Tierreiches hervor, deren Einzelwesen hauptsächlich dafür existieren, um Nachkommenschaft hervorzubringen. In manchen Fällen überleben sie den Fortpflanzungsakt nicht, sie sterben entweder sofort oder kurze Zeit danach. Auch ist das Verhalten der Tiere weitgehend durch die in der Gattung verankerten Instinkte festgelegt, d. h. auch, daß sie an einen spezifischen Lebensraum gebunden sind und zugrunde gehen, wenn dieser eine Veränderung erfährt. In ihrer "Individualität" im Sinne einer qualitativen Besonderheit weichen sie viel weniger als Menschen voneinander ab, und "sehr oft beruht ihr Eigensein nur auf einem Mangel, nur darauf, daß sie hinter dem in ihnen Angelegten zurückbleiben, weil widriges äußeres Schicksal der vollen Verwirklichung entgegenstand" 14. Die Einzigartigkeit, die Pflanzen und Tieren zukommt, beruht vorwiegend auf ihrer quantitativen Bestimmung, wenngleich der qualitative Unterschied zwischen vegetativem und sensitivem Leben nicht zu übersehen ist. Beim Menschen hingegen tritt auf entscheidende Weise zur quantitativen Bestimmung der Individualität noch eine qualitative hinzu. Zunächst sei aber darauf hingewiesen, daß auch der Mensch als organisches Wesen quantitativ bestimmt ist. Dies zeigt sich in seinem körperlichen Erscheinungsbild, das sich auf sehr individuelle Weise äußert, am deutlichsten in der dem Individuum je eigentümlichen Ausbildung der Papillaren (der Tastlinien auf Händen, Füßen und speziell auf den Fingerspitzen), die - wie bekannt - der Kriminalistik als entscheidendes Indiz für die Identifizierung eines Individuums dient. Wenn aber der Begriff Individuum im eigentlichen Sinne nur dem Menschen vorbehalten sein soll, dann bedarf es dafür eines weiteren Kriteriums, wodurch sich der Mensch als Individuum von der bloßen Singularität des Exemplars unterscheidet. Und dieses Kriterium besteht zweifelsohne in der Geistigkeit des Menschen. Damit tritt zur quantitativen Bestimmung des Menschen als körperliches Wesen noch eine qualitative hinzu, die mehr besagt als nur unteilbare Ganzheit und Einmaligkeit. Während dem Tier, auch dem höherentwickelten, sein Verhalten durch die in der Gattung verankerten Instinkte festgelegt ist, findet der Mensch diesbezüglich kaum Präformationen in sich vor: "Mit Hilfe welcher Wirtschaftsform er sich ernähren, durch welche Familienform er sich fortpflanzen, in welchen Sozialformen er sich mit seinesgleichen gesellen, wie er wohnen und sich kleiden, die Götter ehren und sittlich handeln, wie er sprechen, ja unter welchen Kategorien er die Welt apperzipieren SOll"15, - auf all das die richtige Antwort zu finden, bleibt ihm selbst überlassen. Man könnte hier, 13 Vgl. auch zum folgenden: M. Landmann, Anthropologie des Individuums. Originarität und Modellierbarkeit des Menschen. In: Integritas. Geistige Wandlung und menschliche Wirklichkeit. Hrsg. v. D. Stolte und R. Wisser. Tübingen 1966, 160. 14 Ebd. 15 Ebd. 161.
11.1 Die ontische Bestimmung des Individuums
169
ähnlich wie Gehlen es tut, von "Mängeln"16 sprechen, welche die Menschheit gegenüber der Tierwelt bestimmen, sähe man hinter diesen "Mängeln" oder vielmehr hinter dem, was diese Mängel kompensiert und wesentlich übersteigt, nicht etwas Positives, nämlich die Geistigkeit des Menschen, die ihn als einziges Wesen der Schöpfung befähigt, sein Verhalten von sich aus zu ersinnen und zu bestimmen)7 Demnach sind die geistigen Fähigkeiten des Menschen mehr als nur Kompensationen seiner Instinktarmut. Treffend bemerkt dazu Landmann: "Nicht war er [der Mensch] erst unfertig und dann brachte sein Schöpfertum hilfreich den Ausgleich, sondern weil er von vornherein schöpferisch war, bedurfte er des Fertigseins der anderen Wesen gar nicht erst." 18 Diese Geistigkeit aber, wodurch sich der Mensch von anderen Lebewesen auszeichnet, ist wesentlich individuell geprägt. Das ergibt sich schon daraus, daß das Geistige im Menschen nur durch seinen Leib wirksam werden kann. Jeder Mensch empfindet und erlebt nicht nur auf seine ihm eigentümliche Art und Weise, sondern er denkt auch je individuell; besonders in der Bewertung der Mitwelt und Umwelt und vor allem auf dem sittlichen Bereich kommt dieser individuelle Aspekt stark zum Vorschein. In der Geistigkeit des Menschen zeigt sich die qualitative Besonderheit am deutlichsten; darin unterscheiden sich die Menschen als Individuen nicht nur voneinander, sondern auch von allem anderen Seienden. Demnach läßt sich folgern: je höher die Seinsstufe, desto ausgeprägter die Individualität. "Der Primitive, Undifferenzierte hebt sich weniger von seinesgleichen ab als der Hochentwickelte, Differenzierte. Das gilt sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch: Bei Naturvölkern sind die individuellen Unterschiede in Aussehen und Lebensgewohnheiten weit geringer als bei Kulturvölkern; Kinder unterscheiden sich voneinander in jeder Hinsicht weniger als Erwachsene." 19 Das heißt, je mehr Geistigkeit ein Individuum hat, desto ausgeprägter ist seine Individualität. "Da jeder Mensch nicht nur als fertiger, sondern auch als geistig werdender differiert, gelangt er zu einer unvertauschbaren, einmaligen Eigenart und Individualität. Und je mehr der Mensch an der Geistigkeit teilnimmt, je geistesgeprägter er im Laufe seiner Entwicklung wird, um so mehr nähert er sich der letzten Verfeinerung seiner Individualität. "20 Es ist deshalb angebracht, den Begriff Individuum nur für den Menschen zu verwenden, und zwar als körperlich-geistige Einheit. In dieser Einheit zeigt sich unverkennbar mehr Selbständigkeit (eine weitere inhaltliche Bestimmung des Begriffs Individuum) als in allen ande16
33.
A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt. Frankfurt 81966,
Vgl. Landmann (s. Anm. 13) 16lf. Ebd. 162. 19 Remplein (s. Anm. 11) 30. 20 H. Bergmann, Auf dem Wege zur Persönlichkeit. Wesen, Wert und Recht der Individualität. Limburg an der Lahn 1964, 18. 17
18
170
11 Bedeutung und Wert des Individuums
ren Singularitäten auf den verschiedensten Seinsebenen. Und auch was die bereits genannten Bestimmungen des Individuums betrifft, unteilbare Ganzheit und Einmaligkeit, so entspricht kein Singuläres - weder im anorganischen noch ini organischen Bereich - mehr diesen Kriterien als das menschliche Individuum als körperlich-geistige Einheit. In dieser Einheit besitzt der Mensch nicht nur einen Wert für sich selbst, sondern auch für die Gesellschaft und den Staat, allerdings nur unter der Voraussetzung noch weiterer zu erfüllender Bedingungen. 11.2 Eigenwert und kollektiver Wert des Individuums
Philosophisch vorbereitet durch die Stoa, aber erst durch das Christentum konkretisiert, insofern sich nach seiner Lehre jeder einzelne Mensch von Gott erschaffen weiß, kommt dem menschlichen Individuum ein ganz besonderer Eigenwert zu. Dieser hebt sich entscheidend von allen kollektivistischen Konzeptionen ab, wonach das einzelne und auch der Mensch in ein übergeordnetes Ganzes eingeordnet ist und nur innerhalb des Ganzen seinen Wert erfährt. Bereits einer der ersten Philosophen in der Geschichte abendländischen Denkens, Anaximander, sieht in jeder Vereinzelung eine Schuld, die gesühnt werden muß: "Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron (das grenzenlos-Unbestimmbare). Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung. "21 Auch zeigt sich in der Natur, daß sie mehr auf die Erhaltung der Art als auf die des Individuums angelegt ist. Im steten Prozeß des Wachstums und der Fortpflanzung scheint das einzelne leicht ersetzbar zu sein; doch diese Anschauung ist falsch, sie gilt nicht einmal für den Bereich des Anorganischen. Denn aufgrund des Widerspruchsprinzips kann es von einem Gegenstand, oder was immer es sei, niemals ein zweites Identisches geben. Das heißt, alles, was ist, ist letztbestimmt, einmalig, dessen Einmaligkeit unaufhebbar und durch nichts ersetzbar ist. Damit ist zwar noch keine Wertung, sondern nur eine Feststellung ausgesprochen, denn Einmaligkeit als Tatsache besagt noch nichts über ihre Werthaftigkeit, sonst müßte alles, z. B. auch jede Naturkatastrophe oder das gemeinste Verbrechen, insofern es einmalig ist, bereits wertvoll sein. Einzelnes (Einmaliges) kann wertvoll sein, insofern es einmalig (unwiederholbar) ist, aber es wird erst dadurch wertvoll, daß es sich als Ziel eines Strebens erweist. Was jedoch Ziel eines Strebens ist, hängt einerseits von der Intention des wertenden Subjekts ab und andererseits vom sachlichen 21 H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Anaximandros, Fragment 1. Berlin 71954, 89.
11.2 Eigenwert und kollektiver Wert des Individuums
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Gehalt (Seins qualität) des zu bewertenden Objekts. Nicht alles, was angestrebt wird, erfüllt in gleicher Weise die Intention des wertenden Subjekts (darüber entscheidet die Seinsqualität des Angestrebten), wie auch nicht alles in gleicher Weise von allen Subjekten angestrebt wird (darüber entscheidet das Interesse der einzelnen). Demnach lassen sich individuelle, überindividuelle und allgemeingültige Werte unterscheiden. Von einem rein individuellen Wert mag man sprechen, wenn das bewertete Objekt nur für ein bestimmtes Subjekt von Bedeutung ist, z. B. das Tagebuch eines verstorbenen Freundes. Aufgrund der besonderen Beziehung, die Menschen miteinander verbindet, kann ein solches Dokument für ein Subjekt einen ganz spezifischen Wert bedeuten, unvergleichbar mit allen anderen Menschen, die dem Verstorbenen nur in neutraler Distanz gegenüberstanden. Zu einem überindividuellen Wert wird ein Objekt dann, wenn es von mehreren Individuen angestrebt wird, wie z. B. ein Medikament, das sich im Bedarfsfall für viele Menschen als erstrebenswert (wertvoll) erweist. Was jedoch einen überindividuellen Wert von einem allgemeingültigen unterscheidet, ist, daß sich jener erstens nur unter einem bestimmten Aspekt (z. B. im Krankheitsfall) als erstrebenswert erweist und zweitens nicht für alle Menschen wertvoll ist, nicht einmal für alle Kranken, zumal es ja außer Medikamenten noch andere Mittel und Praktiken für eine Heilung gibt. Allgemeingültige Werte hingegen sind Werte, die für jedermann Gültigkeit haben, deren Erstrebbarkeit jedem aufgegeben ist, sofern er sich als Mensch verwirklichen will. Um jedoch den geschichtlichen und kulturellen Implikationen gerecht zu werden, die menschliche Selbstverwirklichung mitbestimmen, wird man mit inhaltlichen Aussagen über allgemeingültige Werte sehr vorsichtig sein müssen und sich zunächst nur auf formale Bedingungen beziehen dürfen, die Menschsein ermöglichen; welche Bedingungen das sind und was sich daraus konkret ableiten läßt, soll im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip erörtert werden. Die bisherigen Überlegungen haben jedoch gezeigt, daß das Werthafte entgegen der Meinung der Wertphänomenologie 22 - wesentlich durch das wertende Subjekt mitbestimmt wird. Das gilt im besonderen Maße für die individuellen Werte, doch ebenso für die überindividuellen und allgemein22 Wenn die Vertreter der Wertphänomenologie, vor allem M. Seheler, D. von Hildebrand und N. Hartmann, beeinflußt von H. Lotz, H. Riekert und A. Meinong, von Werten als ideale Wesenheiten (im Sinne platonischer Ideen) - unabhängig vom wertenden Subjekt - sprechen, so stellt sich die Frage, wie solche ideale Wesenheiten in die Wirklichkeit übergehen können, "ohne damit den Charakter idealer Wesenheiten zu verlieren ... Und wenn empirische Gegenstände Wert qualitäten annehmen oder aufweisen können, dann sind diese eben auch in der empirischen Wirklichkeit anzutreffen. Selbständige absolute Werte und empirische Wirklichkeit können nur über das wertende Subjekt miteinander in Verbindung kommen, sonst stehen sie zusammenhangslos nebeneinander." (V. Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre. Wien 21951, 7). Demnach bedeutet Wert immer Wert für etwas, für ein wertendes Subjekt. Werte jenseits des Seins anzunehmen, führt zu einer Hypostasierung von Allgemeinbegriffen.
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11 Bedeutung und Wert des Individuums
gültigen, denn auch sie stehen in bezug zum wertenden Subjekt. Wichtig ist aber auch, darauf hinzuweisen, daß bei der Anerkennung von Werthaftem jedermanns Urteil als gleichberechtigt meinem eigenen anzuerkennen ist. Kein Mensch kann für sich das Privileg beanspruchen, für andere zu entscheiden, was Gegenstand ihres Strebens sein soll oder nicht. Fairerweise gilt dieses Argument aber auch gegenüber unserer Nachwelt, vor allem, wenn wir sie mit Entscheidungen belasten, die ihre Existenz bedrohen. Das heißt, alles, was existiert, ist - vorausgesetzt, es ist nicht schon von sich aus auf eine Vernichtung oder Verletzung von anderem angelegt - so zu betrachten, als wäre es Ziel eines möglichen Strebens. Ohne nun ins Detail zu gehen, läßt sich leicht eruieren, was sich daraus als Folgerung für den Umgang mit der Umwelt ergibt. Es geht in diesem Zusammenhang nicht nur um ein vernünftiges Haushalten mit den lebenswichtigen Rohstoffen oder um eine Wertschätzung der Natur, die auf mannigfaltige Weise durch den Menschen bedroht ist, sondern um eine dem sachlichen Gehalt angemessene Respektierung jedes einzelnen Gegenstandes, insofern er zu einem möglichen Inhalt eines Strebens - und sei es nur für ein einziges Individuum - werden kann. Es ist eine Anmaßung des Menschen, zu glauben, alles, was existiere, sei zu seiner beliebigen Verfügung. Verlangt also bereits Anorganisches und Organisches (Pflanzen und Tiere) eine ihrer Bedeutung angemessene Respektierung, so um vieles mehr der Mensch, dem unvergleichbar mit. allen anderen Lebewesen ein Eigenwert zukommt. Eigenwert heißt zunächst - im Sinne Kants -, daß der Mensch "niemals bloß als Mittel", sondern "jederzeit zugleich als Zweck an sich"23 zu betrachten sei. Ist er bloß Mittel (Dienst- oder Nutzwert) für anderes, so wird der ihm übergeordnete Zweck zum eigentlichen Wert. Was immer das sein mag, der Mensch verliert auch seine Würde, wenn er sich zum bloßen Mittel für beliebige Zwecke mißbrauchen läßt; er handelt dann auch nicht mehr autonom (nach Kant der Grund für die menschliche Würde), sondern heteronom, von Einzelnem und Zufälligem bestimmt. So schließt sich der Kreis, daß mit dem Verzicht auf Autonomie der Mensch auch seiner Würde verlustig geht und somit auch seine Bestimmung, Zweck an sich (Eigenwert) zu sein, aufgibt. In einer zweiten Bedeutung könnte man dem Menschen Eigenwert zuschreiben, insofern er aufgrund seiner Fähigkeit zur Selbstreflexion sich selbst zum Ziel seines Strebens machen kann. Das heißt, wenn Wert als Ziel eines Strebens bezeichnet wird, so liegt die Bedeutung von Eigenwert in mir selbst als Ziel meines eigenen Strebens. Darin, im Aufsuchen seines eigenen Wertes, in der Entfaltung seiner selbst, seiner Individualität, hebt sich der Mensch auch wesentlich von der Pflanzen- und Tierwelt ab, deren individuelles Sein vorwiegend im Dienste der Arterhaltung steht; wird diese Bedeu23 Kant (s. Anm.
3) Bd. IV, 429.
11.2 Eigenwert und kollektiver Wert des Individuums
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tung von Eigenwert aber zum alleinigen Bestimmungsgrund menschlichen Verhaltens, so kommt es zu einem extremen Individualismus, der durch ein kollektives Wertbewußtsein ausgeglichen werden muß. Denn der Wert des menschlichen Individuums besteht nicht allein darin, Individuum zu sein, sondern inwiefern es sich außer seiner Bestimmung als Zweck an sich auch als lebensbereichernd (sinnerfüllend) für andere Individuen erweist. Eine dritte Bedeutung von Eigenwert läßt sich so formulieren, daß dem menschlichen Individuum aufgrund seiner ihm je eigentümlichen Seinsqualität im Vergleich zu allen anderen Individuen ein je "eigener" (besonderer) Wert zukommt. Doch auch dieser besondere Wert als Eigenwert erweist sich nur insofern als wertvoll, als er in Beziehung zum Wertstreben der Mitmenschen steht. Was ein Individuum in seiner Eigentümlichkeit wertvoll macht, erfährt es ja nicht durch sich selbst, sondern durch die Anerkennung und Beurteilung anderer. Eine Vermittlung von Eigenwert und Kollektivwert ist unumgänglich; das Individuum weiß um seinen Eigenwert nur, insofern er zum Kollektivwert wird, und jede Verneinung des anderen bedeutet auch eine Verminderung des Wissens um seine eigene Individualität. Der Bezug zum anderen ist wesentlich mit dem Begriff Individuum mitgesetzt, somit auch das, was es in seiner Individualität wertvoll macht. Doch wie sehr auch die Beziehung zwischen dem wertenden Subjekt und dem zu bewertenden Objekt hervorzustreichen ist, es zeigen sich doch Akzentverschiebungen, je nachdem, ob es sich um einen Nutzwert oder um einen Eigenwert handelt. Im Falle des Nutzwertes ergreift das wertende Subjekt selbst die Initiative und sucht nach dem, was ihm wertvoll ist. Was hingegen Eigenwert hat, bietet sich den wertenden Subjekten von sich aus an und verlangt deren wertende Stellungnahmen; es läßt sich nicht allein durch "Wertergreifung" erfassen, sondern fordert zur "Wertbeantwortung" heraus, "die von der Wertqualität selbst gefordert wird"24. Dies gilt in besonderer Weise für den Eigenwert des Menschen in der Bedeutung des Zwecks an sich, aber auch für die Art von Eigenwert, die dem Menschen aufgrund seiner je spezifischen Seinsqualität zukommt und worin er sich von anderen Individuen unterscheidet. Die menschliche Gesellschaft hängt in ihrer Entwicklung und Entfaltung wesentlich von Individuen ab, die sich durch besondere Seinsqualitäten auszeichnen. "Auf dem Gebiete der Kunst, der Wissenschaft, der Technik, der Erziehung, der Sittenlehre, der Religion, ist es stets das begabte Einzelwesen gewesen"25, das einen neuen Weg beschritt. "Ein Volk, so scheint es, 24 Vgl. dazu die Darstellung "Streben als Wertergreifung" und "Streben als Wertbeantwortung" und die Stellungnahme zur Wertphänomenologie. In: E. Coreth, Metaphysik. Innsbruck 31980, 387f. und E. Coreth, Was ist der Mensch? Grundzüge einer philosophischen Anthropologie. Innsbruck 31980, 120. 25 F. Köhler, Wesen und Bedeutung des Individualismus (Philosophische Reihe 59). München 1922, 12.
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kann eine gewisse Zeit lang im Fortschritt begriffen sein, dann aber steht es still. Wann tritt das ein? Wenn es aufhört, Individualität zu besitzen. "26 Man könnte zwar auch auf die Kehrseite der Bedeutung des Individuums für die Gesellschaft hinweisen, insofern es nämlich ebenfalls "besondere" Individuen sind, im Sinne Hegels sogar" welthistorische Individuen", die Unglück und Leid in der Welt verursachen, weil sie sich immer im Recht fühlen, auch wenn sie "manche unschuldige Blume" zertreten und "auf ihrem Wege manches zertrümmern"27. Es zeigt sich auch hier, daß ein Eigenwert nur dann seine Qualität als Eigenwert erhält und nicht in einen Unwert umschlägt, wenn er sich zu einem Kollektivwert vermittelt. Oder wie J. St. Mill meint: "Die Menschen handeln nicht schlecht, weil ihre Leidenschaften stark sind, sondern weil ihr Gewissen schwach ist. "28 Es steht zwar außer Zweifel, daß die Kultur eines Volkes auf besondere Begabungen angewiesen ist. "Armut an Genies in einem Volk ist geradezu gleichbedeutend mit Armut an Kultur. "29 Damit sich aber in einer Gesellschaft schöpferische Individuen herausbilden können, bedarf es einer Atmosphäre der Freiheit, wenn auch in eingeschränkterer Form, als Humboldt sie fordert. Doch in dem Maße, wie der Mensch innerhalb der Grenzen, die ihm durch die Rechte und Interessen anderer gezogen sind, seine Individualität entfaltet, wird er nicht nur für sich selbst wertvoll, sondern auch für die anderen. Auch diejenigen, die den Sinn von Individualität nicht begreifen und es den anderen verwehren, sich in ihrer Eigentümlichkeit zu entfalten, profitieren letztlich von deren Existenz und Wirken, denn selbst ein "Despotismus bringt seine schlimmsten Wirkungen nicht hervor, solange unter ihm Individualitäten existieren"3o, die sich wehren. 11.3 Vermittlung von Individualität und Universalität bei Humboldt Wie sehr das menschliche Individuum Bestimmungsgrund in Humboldts Denken ist, zeigt sich auch in den seinen "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" zeitlich naheliegenden Schriften 31, so vor allem in seinem "Plan einer vergleichenden Anthropolo26
Mill (s. Anm. 1) 98.
27 G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Vorlesungen über die Philoso-
phie der Weltgeschichte 1. Hrsg. v. J. Hoffmeister (PhB 171 a). Hamburg 51966, 105. 28 Mill (s. Anm. 1) 82. 29 Köhler (s. Anm. 25) 1l. 30 Vgl. Mill (s. Anm. 1) 88. 31 Vgl. dazu: "Theorie der Bildung des Menschen" (1793); "Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß; auf die organische Natur" (1794); "Plan einer vergleichenden Anthropologie" (1795); "Über die männliche und weibliche Form" (1795); "Das achtzehnte Jahrhundert" (1796 - 1797); "Über den Geist der Menschheit" (1797).
11.3 Vermittlung von Individualität und'Universalität bei Humboldt
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gie", der sich von jeder anderen philosophischen Anthropologie dadurch unterscheidet, daß er sich nicht mit dem beschäftigt, was den Menschen als Menschen auszeichnet, sondern mit dessen "individuellen Verschiedenheiten"32. Damit verfolgt Humboldt auch gleichzeitig ein pragmatisches Ziel, nämlich jenes Wissen zu erreichen, das jeglichem Umgang mit Menschen zugrunde liegen soll. Denn "es gibt kein praktisches Geschäft im menschlichen Leben, das nicht der Kenntnis des Menschen bedürfte, und zwar nicht bloß des allgemeinen, philosophisch gedachten, sondern des individuellen, wie er vor uns ern Augen erscheint" 33. Durch den Vergleich mit anderen Individuen sollen die spezifischen Merkmale der Individualität eruiert werden; daß sich dabei auch Gemeinsames zeigt, das Menschen mit anderen Menschen verbindet, steht außer Zweifel, folglich kann - nach der Methode der vergleichenden Anthropologie - die Eigentümlichkeit des Individuums nur in einem "unvergleichbaren Rest"34 bestehen. Allerdings stellt sich nun die Frage, wodurch dieser Rest (die Eigentümlichkeit des Individuums) bestimmt ist. Humboldt würde darauf antworten, durch das Ausmaß an Kraft, welches das Individuum imstande ist zu verwirklichen. Denn die individuellen Differenzen liegen "nicht in den Kräften selbst, da das ganze Menschengeschlecht durchaus mit denselben ausgestattet ist, wohl aber in ihrem Grade, da sie bei dem einen eine Höhe erlangen, zu der sich der andre nie emporschwingt; in ihrem Verhältnis, wenn bei dem einen die Phantasie, bei dem andern der Verstand usf. herrschend ist, oder in ihrer Bewegung, da der eine rastlos und tätig, der andre träg und untätig ist. "35 Es hat sich aber schon früher gezeigt (vgl. Kap. 5.3.2), daß bei Humboldt eine genaue Bezeichnung dessen, was er unter Kraft versteht, fehlt; er setzt sie als unbewiesen voraus, wenn er schreibt: "Die echte Wissenschaft muß von der Ahndung einer Grundkraft, deren Wesen sich wie in einem Spiegel, in einer Uridee darstellt, durchdrungen und belebt werden und muß die Gesamtheit der Erscheinungen an sie anknüpfen. "36 Demnach existiert alles Lebendige nur aufgrund des metaphysischen Urprinzips der Kraft; dieses Urprinzip modifiziert und verteilt sich zu bestimmten Kräften, sobald es in Erscheinung tritt. 37 Somit ist jedes Individuum Ausdruck einer bestimmten Kraft, die auf Entfaltung (Verwirklichung) drängt. Hier zeigt sich eine frappante Ähnlichkeit mit Leibniz' Monadenlehre, doch mit dem Unterschied, daß nach Leibniz jede einzelne Monade von Gott geschaffen wird, was auch erklärt, warum diese Monade gerade diese Monade und keine andere ist, GS I, 377. GS I, 378. 34 Vgl. C. Menze, Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen. Ratingen bei Düsseldorf 1965, 69. 35 GS I, 399f. 36 GS III, 346. 37 Vgl. Menze (s. Anm. 34) 101. 32 33
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während bei Humboldt sowohl die Frage offen bleibt, warum sich die Grundkraft überhaupt individuiert, als auch warum ein Individuum so ist, wie es ist und nicht anders. Selbst die Annahme, daß in jedem Individuum sich die Kraft auf verschiedene Weise äußert und es somit in seiner Individualität bestimmt, erklärt den Sachverhalt noch nicht, sondern verschiebt das Problem nur um eine weitere Stufe, auf der sich neuerdings fragen ließe, was der Grund ist, daß sich die Kraft im Individuum auf diese bestimmte Weise äußert und nicht anders. Humboldt bleibt die Antwort darauf schuldig. Doch wirkt nach seiner Ansicht die Kraft im Individuum nicht richtungslos, sondern auf ein Ziel (Idee) hin, das in ihr bereits immanent enthalten ist. In diesem Sinne kann Humboldt auch sagen: "Ein Individuum ist eine in der Wirklichkeit dargestellte Idee"38; die Ideen treten in den Individuen in Erscheinung, diese erweisen sich als Träger von Ideen, und die Ideen sind so zahlreich, wie es Individuen gibt. Aufgabe des Individuums ist es nun, seine ihm innewohnende Idee zu erkennen und zu verwirklichen. Grundsätzlich sind alle Individuen gleichwertig; gemäß dem an der Aufklärung (besonders an Rousseau) orientierten Menschenbild ist der Mensch von Natur aus gut, die verschiedenen Wertbeurteilungen betreffen die Individuen nur insofern, als es nicht jedem Individuum in gleichem Maße gelingt, seine ihm innewohnende Idee zu verwirklichen. Je mehr es jedoch imstande ist, dies zu erreichen, desto mehr entwickelt es sich zu einer idealen Individualität, die in der Ausprägung aller ihm angeborenen Veranlagungen besteht; dabei sind auch die physischen zu berücksichtigen, meint Humboldt: "Vorzüglich aber bedarf der Mensch zur Ergründung und Veredlung auch seiner moralischen Natur einer anhaltenden und ernsten Betrachtung der physischen um ihn her, und ihre Vorsorge hat ihm sogar dies Studium erleichtert. Schon in dem bloß körperlichen Teil seines Wesens findet er mit unverkennbarer Schrift dasjenige ausgedrückt, was er in seinem moralischen zum Dasein zu bringen streben soll. "39 Daran ist richtig, daß die Verwirklichung von Idealen, die seitens der Erzieher einem Individuum aufgedrängt oder vom einzelnen selbst, in Unkenntnis seiner eigenen Veranlagung, Talente usw., angestrebt wird, zu einer Selbstentfremdung führt, wenn die originäre, naturgegebene Anlage des Individuums unberücksichtigt bleibt. Individualität läßt sich nur dort erfahren, wo die naturgegebene Veranlagung ihrem dieser Veranlagung gemäßen Ideal zur Entfaltung kommt. Wo hingegen im Individuum keine Resonanz für das zu verwirklichende Ideal vorhanden ist, wird das von einem selbst angestrebte oder von außen aufgedrängte Ideal zu einem individualitätsfremden, das der Selbstverwirklichung des Individuums entgegensteht. Somit hat Humboldt zurecht erkannt, daß die Entfaltung des 38 39
GS III, 198. GS I, 314.
11.3 Vermittlung von Individualität und Universalität bei Humboldt
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Individuums an seinen ihm naturgegebenen (körperlichen wie geistigen) Anlagen anzusetzen hat, fraglich bleibt allerdings, ob alle Anlagen in gleicher Weise entfaltet werden können und sollen. Was das "Können" betrifft, so ist darauf hinzuweisen, daß mit der besonderen Ausbildung bestimmter Fähigkeiten andere notwendigerweise vernachlässigt werden müssen, und im Hinblick auf das "Sollen" läßt sich die Forderung nach Entfaltung aller naturgegebenen Veranlagungen nur dann rechtfertigen, wenn man Humboldts Anschauung teilt, daß der Mensch ein von Natur aus gutes Wesen ist; dem scheint aber die Realität zu widersprechen, zumal es bei manchen Menschen auch von Natur aus abartige Veranlagungen gibt, deren weitere Entwicklung sicher nicht sinnvoll ist. Humboldt legt großen Wert darauf, daß der angeborene und ursprüngliche Charakter des Menschen - Charakter verstanden als die zur Wirklichkeit gewordene Individualität - zur Entfaltung kommt. Statt sich gegen seinen eigenen Charakter zu wehren, gilt es, an ihm festzuhalten und ihn auszubilden. Wenngleich die Charaktere von verschiedener Qualität sind, ist es doch ein großer Fehler, den "einen gegen den andern zu verwerfen oder mit ihm zu vertauschen, anstatt vielmehr den vorhandnen nur durch die gehörigen Mittel zu reinigen und zu stärken, wodurch wir den doppelten Vorteil einer natürlichen Wahrheit für das Individuum und seiner größeren Mannigfaltigkeit für die Gesellschaft gewinnen würden"40. Durch ein gen au es Studium seiner selbst und einer scharfen Beobachtung jeder Art von Eigentümlichkeit läßt sich verhindern, daß sich der Charakter disharmonisch entwickelt. 41 Selbstverwirklichung bedeutet für Humboldt, daß sich das Individuum in seiner Eigentümlichkeit immer reiner entwickelt und ausbildet, gemäß seiner ihm innewohnenden Idee. Doch wie sehr Humboldt auch den Wert des Individuums hervorhebt, so weiß er auch um dessen Unzulänglichkeit, insofern in jedem Individuum nur ein Aspekt der Menschheit in Erscheinung treten kann. Selbst wenn sich das Individuum zu einem idealen Individuum entfaltete, indem es alle ihm eigentümlichen Anlagen und Fähigkeiten zur Entfaltung brächte, könnte es das Ideal der Menschheit nicht einholen, weil ein Mensch immer nur "für eine Form, für einen Charakter geschaffen [ist], ebenso eine Klasse der Menschen. Das Ideal der Menschheit aber stellt so viele und mannigfaltige Formen dar, als nur immer miteinander verträglich sind. Daher kann es nie anders als in der Totalität der Individuen erscheinen. "42 Jedes Individuum trägt jedoch zu dieser Totalität bei, und je idealer es sich selbst ausbildet, desto mehr verwirklicht es das Ideal der Menschheit. Das heißt, das Ideal der Menschheit stellt sich dem Individuum nicht als eine vorgegebene Idee 40 GS II, 37. 41 Vgl. ebd. 42 GS I, 379. 12
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dar, für deren Verwirklichung es seine individuelle Eigentümlichkeit einzuschränken hat, sondern es verhält sich gerade umgekehrt, je mehr es sich selbst verwirklicht, desto mehr nähert es sich dem Ideal. "Denn wenn die idealische Ausbildung des einzelnen Menschen einzig und allein auf der reinen und strengen Entwicklung der innern Eigentümlichkeit beruht, so hängt die idealische Vollkommenheit des Ganzen nur von dem stärksten und tätigsten Zusammenwirken der größten Menge solcher Individuen ab. "43 Erst in der Vereinigung aller Menschen zeigt sich die Mannigfaltigkeit der natürlichen Anlagen in ihrem ganzen Reichtum. Oder wie Humboldt sagt: " ... nur gesellschaftlich kann die Menschheit ihren höchsten Gipfel erreichen. "44 Diese Aussage bedeutet jedoch für Humboldt kein Bekenntnis zu einem Kollektivismus, sondern es soll damit lediglich zum Ausdruck gebracht werden, daß ein einzelnes Individuum nicht imstande ist, die Idealität menschlichen Seins in ihrer Mannigfaltigkeit darzustellen, weil diese eben in der Totalität aller zur Idealität ausgeprägten individuellen Formen besteht. "Damit das Individuum aber überhaupt zum Bewußtsein und zur Entfaltung der ihm gemäßen Eigentümlichkeit kommt und so eine Seite des Ideals sichtbar werden läßt, muß sein Streben auf dieses allumfassende Ideal hin ausgerichtet sein. "45 Das Ideal der Menschheit symbolisiert die unbeschränkten Möglichkeiten menschlichen Seins und das einzelne Individuum partizipiert in dem Maße an diesem Ideal, als es ihm gelingt, alle in seiner Natur angelegten Möglichkeiten zu verwirklichen. In diesem Sinne kann Humboldt auch sagen: "Einen Menschen beurteilen heißt nichts andres, als fragen, welchen Inhalt er der Form der Menschheit zu geben gewußt hat. Welchen Begriff man sich von der Menschheit überhaupt zu bilden hätte, wenn er das einzige Muster wäre, aus welchem man denselben abnehmen könnte. "46 Es ist also Aufgabe des Individuums, seine Persönlichkeit, die Eigentümlichkeit und Eigenart seines Wesens, voll zu entfalten. Zwar weiß Humboldt, daß dadurch die Kraft des Individuums notwendigerweise geschwächt wird, denn wer nach vielen Seiten wirkt, verliert an Kraft und ist schwächer als der, der seine Kraft in eine Richtung konzentriert. "So stehen Kraft und Bildung ewig in umgekehrtem Verhältnis. Der Weise verfolgt keine ganz, jede ist ihm zu lieb, sie ganz der anderen zu opfern. "47 Demnach wirkt sich bei Humboldt die Vermittlung von Individualität und Universalität weder zugunsten der einen noch der anderen aus, sondern er intendiert eine universale Individualität, die sich aber nur durch Bildung erreichen läßt. Wel43 44 45 46 47
GS II, 40. GS I, 379. Menze (s. Anm. 34) 47. GS II, 332. GS 1,80.
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che Bedeutung er der Bildung beimißt, zeigt sich schon daran, daß er sie über die Moral stellt: "Denn obgleich der moralische Wert allein alle menschliche Würde bestimmt, so ist er doch nur auf einen Teil unseres Wesens, nur auf die Gesinnung, eingeschränkt. Hier wird auch Bildung, hier überhaupt etwas so Allgemeines verlangt, daß es den ganzen Menschen in allen seinen Kräften und allen seinen Äußerungen umfaßt. "48 Das heißt, der Humboldtsche Begriff der Bildung will den Menschen in seiner Ganzheit, in allen seinen Anlagen und Fähigkeiten zur Entfaltung bringen; nicht nur Sittlichkeit und Intellekt, sondern auch Gefühl und Wille sollen teilhaben an der universalen Bildung. Nach allen Seiten soll sich das endliche Individuum erweitern und alles Menschliche in seiner Idealität anstreben, dies verlangt der Begriff des universalen Individuums. Auch "alle Wirkfaktoren zur Formung der menschlichen Persönlichkeit gehen in seinen Bildungsbegriff ein: Familie und Schule, Freundschaft und Liebe, Natur und Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst, Religion und Philosophie, Umwelt und eigenes Selbst"49. Und der Staat ist für Humboldt, wie sich bereits gezeigt hat, nichts anderes "als ein Mittel, diese Bildung zu befördern"50. Aber trotz aller Wertschätzung, die Humboldt dem Individuum in seiner Einzigartigkeit und geschichtlichen Einmaligkeit entgegenbringt, bleibt doch etwas Befremdendes in seiner Bildungstheorie, insofern nämlich die Vervollkommnung des Individuums nur um seiner selbst willen angestrebt wird. Dieses Faktum wird auch nicht dann aufgehoben, wenn er in seinem "Plan einer vergleichenden Anthropologie" schreibt, daß der Mensch die Pflicht hat, "neben allen Geschäften, die er sonst immer betreiben mag, zugleich auf die intellektuelle und moralische Bildung seiner und andrer praktische Rücksicht zu nehmen"51. Umwelt und Mitwelt sind für Humboldt nur der eigenen Bildung wegen da. Deutlich kommt dies in einem Brief an seine Braut zum Ausdruck: " ... in den früheren Jahren dacht ich mir immer, man müßte doch etwas für andre tun, etwas unternehmen, das ihnen nützlich wäre ... Aber wie ich nach Göttingen kam, ... da dämmerte es erst so in mir, daß doch eigentlich nur das Wert habe, was der Mensch in sich ist ... Den Weg zu suchen, der mich, nur mich zum höchsten Ziele führte, schien mir meine Bestimmung. "52 Demnach lebt und bildet sich der Mensch nur für sich selbst. Auch wenn er dadurch, wie sich gezeigt hat, an der VerGS II, 326. W. Girnus, Wilhelm von Humboldts Philosophie des Menschen. In: Wilhelm von Humboldt. 1767 - 1967. Erbe - Gegenwart - Zukunft. Beiträge, vorgelegt von der Humboldt-Universität zu Berlin anläßlich der Feier des zweihundertsten Geburtstages ihres Gründers. Halle (Saale) 1967,72. 50 GS I, 69. 51 GS I, 380. 52 W. u. C. v. Humboldt in ihren Briefen. Hrsg. v. A. v. Sydow. Bd. I. Berlin 1906, 343f. 48 49
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wirklichung des Ideals der Menschheit mitwirkt, so braucht er doch aus seiner Selbstbezogenheit nicht herauszutreten. 53 Treffend bemerkt dazu Girnus, wenn er schreibt: "Im Mittelpunkt des gesamten Denkgebäudes steht bei Humboldt ein subjektiver Veredlungs trieb des Menschen, der, obgleich vom Selbsterhaltungstrieb des Menschen abgeleitet, als der eigentliche Kern des Selbstverwirklichungstriebes aufgefaßt wird, da Selbsterhaltung des Menschen für Humboldt identisch ist mit Selbstverwirklichung des Menschen an der Objektwelt. Der Objektwelt bedürfe der Mensch zur Objektivierung seiner Menschlichkeit. In dieser Einseitigkeit ein fragwürdiger circulus vitiosus, in dem Welt lediglich als das äußere und äußerliche Medium der Selbstverwirklichung des Menschen erscheint. "54 11.4 Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit der Individualität Jenes Prinzip, das in der klassischen Philosophie als Grund für die Individuation und auch für die Unerkennbarkeit der Eigentümlichkeit des Individuums angesehen wird, nämlich die Materie ("materia quantitate signata" in der Scholastik), bleibt bei Humboldt unberücksichtigt. Wohl weiß er um die Schwierigkeit der Erkennbarkeit der Individualnatur des Menschen, zumal nach seiner Ansicht "ein lebendiges und unaufhörlich tätiges Wesen durch abgezogene Begriffe und tote Worte"55 nicht zu erfassen ist. Da also rational-diskursive Verstandeserkenntnis versagt, um das Eigentümliche des Individuums zu erkennen, sucht Humboldt nach einem anderen Erkenntnismittel dafür und findet es in der "Einbildungskraft", einem Begriff, den er von Kant übernimmt, aber in seinem Sinne uminterpretiert. Denn während für Kant Einbildungskraft jenes Erkenntnisvermögen ist, das zwischen Verstand und Sinnlichkeit vermittelt und somit ermöglicht, daß sich die reinen Verstandesbegriffe auf die Inhalte der Erfahrung beziehen können, sieht Humboldt in ihr die "geheimnisvollste unter allen menschlichen Kräften"56, mittels derer es gelingt, sich ein Bild vom Individuum zu machen, das die Summe aller seiner Wesensbestimmungen enthält. "Sie ist Ahndungsvermögen und Verknüpfungsgabe zugleich ... Doch bildet die Einbildungskraft nicht einfach das Bild der Natur ab ... Vielmehr wie der Künstler, der seinen Gegenstand der Natur entlehnt und bei der Gestaltung die Natur trotzdem nicht kopiert, so ist auch das Bild, das der philosophische Menschenkenner sich von einem Individuum erstellt, ... eine völlig neue Schöpfung; denn die Einbildungskraft hält zwar die Erscheinungsart des Gegenstandes fest; aber ihr kommt die Freiheit zu und dadurch unterscheidet sie sich von den Sinnen, die von dem von ihnen 53 Vgl. H. Zdarzil, Individualität und Humanität. Zur 200. Wiederkehr des Geburtstages W. v. Humboldts. In: Wissenschaft und Weltbild 21 (1968) 72. 54 Girnus (s. Anm. 49) 71. 55 GS 11,94. 56 GS 11, 116.
11.4 Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit der Individualität
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Wahrgenommenen beherrscht werden - das Angeschaute als solches in einem Bilde hervorzubringen. "57 Das Bild enthält demnach mehr als die konkrete individuelle Existenz, denn es ist auch ein Entwurf auf die Zukunft hin und hat auch das zum Inhalt, was das Individuum werden kann und soll. Es ist "Seinsbild" und "Idealbild" zugleich. 58 Als kritischer Leser wird man sich aber fragen müssen, ob das Vermögen der Einbildungskraft ein solches Bild vom Individuum in der Totalität seiner Bestimmungen und in den Dimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auch wirklich zu geben vermag. Müßte man dafür nicht, im Sinne Leibniz', vom Individuum eine adäquate Idee haben, die es ermöglicht, dem analytischen Prinzip gemäß, aus dem Subjekt alle Prädikate herauszulesen? Es steht jedoch außer Zweifel, daß es jemals einem Menschen gelingen wird, ein so vollständiges Wissen über ein Individuum zu erlangen. Auch Humboldt weiß darum, daß die Individualität, selbst mittels des Vermögens der Einbildungskraft, letztlich unergründbar bleibt. Dennoch scheint er dem Vermögen der Einbildungskraft im Hinblick auf die Erkennbarkeit des Individuellen eine zu große Bedeutung beizumessen. Dem intuitiven Erkennen, dem ahnenden Empfinden - und als solches versteht Humboldt das Vermögen der Einbildungskraft -, mag zwar im Erkenntnisprozeß eine heuristische Funktion zukommen; wodurch ist aber garantiert, daß das, was intuitiverfaßt wird, auch wahr ist, wenn es keine Kriterien der Überprüfbarkeit gibt? Realistischer hingegen sind Humboldts Ausführungen über die Unerkennbarkeit der Eigentümlichkeit des Individuums in seiner Schrift: "Das achtzehnte Jahrhundert", wo er schreibt: "Die Freiheit läßt sich nicht, gleich der Natur, berechnen, und außer der allgemeinen Beschaffenheit des Menschen überhaupt muß noch die besondre Eigentümlichkeit des Individuums in Anschlag kommen. Denn auch das Individuum trägt einen ursprünglichen Charakter an sich und wollten wir auch selbst mit der Sorgfalt unsrer Erziehung bis zu dem Augenblick der Geburt zurückgehn, so würden wir auch da schon vorhandnen Eigentümlichkeiten begegnen. Es ist daher ein schlechterdings vergebliches Bemühen, das Wesen eines Menschen vollständig aus den Umständen, die auf ihn eingewirkt haben, herleiten und durchaus begreifen und darstellen zu wollen. Wie tief man eindringt, wie nah man zur Wahrheit gelangen möchte, so bleibt immer doch eine unbekannte Größe zurück: die primitive Kraf~, das ursprüngliche Ich, die mit dem Leben zugleich gegebne Persönlichkeit. Auf ihr beruht die Freiheit des Menschen und sie ist daher sein eigentlicher Charakter. "59 Es gibt zwar, wie Humboldt in seiner vergleichenden Anthropologie ausführt, drei verschiedene Gruppen von signifikanten Merkmalen, in denen 57 56
59
Menze (s. Anm. 34) 75. 76. Vgl. ebd. GS II, 90.
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11 Bedeutung und Wert des Individuums
sich die Eigentümlichkeit der Individuen äußert und worin sie sich auch voneinander unterscheiden. So zeigt sich schon ein erster Unterschied zwischen den Menschen (aber auch zwischen ganzen Nationen) in der "Verschiedenheit der Gegenstände ihrer Beschäftigung, der Produkte ihres Fleißes, der Art, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und das Leben zu genießen"6o. Mit der zweiten Gruppe von Merkmalen glaubt Humboldt die Persönlichkeit (Individualität) der einzelnen Menschen noch besser erfassen zu können und dazu zählt er: "alles Äußre in dem Körperbau und dem Betragen ... , Gestalt, Farbe des Gesichts und des Haars, Physiognomie, Sprache, Gang und Gebärden überhaupt. Diese Gattung von Kennzeichen ist hauptsächlich wichtig, da sie auf der einen Seite dem Menschen selbst näher führt, als die vorige, und auf der andern ein wahreres und treueres Bild gibt, als dasjenige ist, was man unmittelbar von dem Innern doch immer mehr schließt, als geradezu sieht. "61 Diese bei den Gattungen von Merkmalen erlauben nun, so Humboldt, auf die inneren Verschiedenheiten (Eigentümlichkeiten) der Individuen zu schließen. Demnach ließe sich aus den genannten Gruppen von Merkmalen eruieren, was in einem Individuum mehr vorherrsche, Phantasie oder Verstandesdenken, aktives oder passives Verhalten; ja selbst auch die Intensität an Empfindungen, Neigungen und Leidenschaften ließe sich dadurch feststellen. Um der Kritik zuvorzukommen, gibt Humboldt aber selber zu, daß die aufgezeigten Merkmale im Hinblick auf die Verschiedenheiten der Individuen sich mehr auf deren Äußerungen als auf ihren Charakter beziehen, d. h. es bleibt ungewiß, ob sie äußeren Einflüssen (Situation, Umwelt u. dgl.) entspringen oder der inneren Charakterform. "Nur in diesem letzteren Falle aber ist doch eine eigentliche Charakterverschiedenheit vorhanden und um daher auf diese zu kommen, bedarf es noch andrer und tiefer eingreifender Beobachtungen. "62 Humboldts weitere Überlegungen im Hinblick auf die Erkennbarkeit der Individualität bleiben aber genauso unbefriedigend wie seine bisherigen Aussagen. Abgesehen von diesen Denkansätzen wird man bei der Reflexion über die Erkennbarkeit der Individualität letztlich selbst zur Feststellung kommen, daß das individuelle Wesen des Menschen unerkennbar bleibt. Das ist zwar keine apriorische Erkenntnis im Sinne eines analytischen Urteils, weil Individualität begrifflich noch nichts über seine Unerkennbarkeit aussagt, sondern eine Erkenntnis, die aus der Erfahrung stammt, da uns bisher noch nicht gelungen ist, die Individualität eines Menschen restlos zu erfassen. Wir mögen wohl Eigenschaften (körperliche, seelische, geistige) an einem Individuum wahrnehmen und sie isoliert betrachten, doch Individualität besagt 60
61 62
GS I, 399. Ebd. Ebd.400.
11.5 Individuum, Mitwelt und Umwelt
183
mehr als nur ein Konglomerat von einzelnen Eigenschaften. Individualität besteht nicht in gewissen einzelnen Teilen der menschlichen Konstitution, "sondern [ist] eine wesentliche Qualität des ganzen Menschen. Individualität ist und wirkt im ganzen des lebendigen menschlichen Organismus. "63 Um diese Ganzheit der Individualität wahrzunehmen, wäre es notwendig, sie mit einem einzigen Begriff zu erfassen, denn "durch die Aufzählung von mehreren Begriffen gelangt man nur zur Aufzählung und Aneinanderreihung von mehreren Eigenschaften. In einer solchen Summierung läßt sich aber nicht das ganzheitliche Eine der Individualität ausdrücken. Die Erfassung und Repräsentierung der Individualität durch einen einzigen Begriff ist aber deswegen nicht möglich, weil Begriffe ihrem Wesen nach Universalien sind und immer nur etwas Allgemeines erfassen, das, was mehreren gemeinsam ist ... Individualität erweist sich so als rational unerfaßbar. "64 In der auf Aristoteles zurückgehenden philosophischen Tradition spricht man deshalb vom "individuum est ineffabile", weil das Individuum in seiner undifferenzierten Ganzheit nicht mittelbar, d. h. unsagbar (ineffabile) ist. Es lassen sich nur Aussagen über das Individuum machen, doch diese Aussagen werden dann der Ganzheit nicht mehr gerecht, sondern zerlegen sie in eine Vielheit von Aspekten. Doch wenn auch die Individualität in ihrer Ganzheit unserem Erkennen letztlich nicht zugänglich ist, so erweist sie sich - wie die Ausführungen in Kap. 11.2 gezeigt haben - dennoch zumindest in den Dimensionen als wertvoll für die Gesellschaft, in denen sich ihre Eigentümlichkeit als Eigenwert zu einem Kollektivwert vermittelt.
11.5 Individuum, Mitwelt und Umwelt Unteilbare Ganzheit als Bestimmung des Individuums bedeutet nicht eine von der Mitwelt und Umwelt völlig isolierte und atomistische Seinsweise im Gegenteil, der Mensch ist auf mannigfaltige Weise in seine Mitwelt und Umwelt integriert und wird auch in einem sehr bedeutenden Ausmaß von ihr bestimmt. So unterliegt er als körperliches Wesen wie jeder andere materielle Körper den physikalischen Gesetzmäßigkeiten und darüber hinaus als lebendiges Wesen den biologischen Prozessen des Wachstums und der Entfaltung, aber auch der Krankheit und dem Tode. Und weil der Geist des Menschen an einen Körper (Leib) gebunden. ist und nur durch seinen Leib zu wirken vermag, hängt es auch wesentlich von der allgemeinen Beschaffenheit und momentanen Befindlichkeit des Körpers ab, wieweit sich darin der Geist zu äußern vermag. Damit soll kein Dualismus im Sinne Platons aufgegriffen werden, der zwischen Geist und Körper eine scharfe Trennungslinie 63
64
H. Bergmann (s. Anm. 20) 37f.
Ebd.38.
184
11 Bedeutung und Wert des Individuums
zieht und den Körper sogar als Fessel und Kerker des Geistes betrachtet, sondern es soll nur auf jene Phänomene hingewiesen werden wie Erbsubstanz, aber auch zeitlich bedingte körperliche Schwäche, Müdigkeit oder Krankheit, die dem geistigen Wirken Hindernisse entgegensetzen. Das heißt, der Leib ist nicht nur "Wirkmedium" und "Ausdrucksmedium"65 des Geistes, wodurch das Geistige des Menschen in der Welt wirkt und zur Darstellung kommt, sondern er erweist sich auch als Widerstand dem Geiste gegenüber. Dies scheint auf eine relative Eigenständigkeit des Leibes gegenüber dem Geiste hinzudeuten, aber nur auf eine relative, weil sich das menschliche Individuum nur als strukturierte Ganzheit von Leib und Geist konstituiert. Es gibt kein leibliches Leben ohne Geist, wie es auch keinen menschlichen Geist ohne Leib gibt. Die Eigenart des Leibes besteht darin, daß man einerseits im Bewußtsein den eigenen Leib wie die übrige Außenwelt wahrnimmt, andererseits aber die übrige Außenwelt sich nur vermittels des Leibes wahrnehmen läßt. Somit steht der Leib "zwischen mir und der Welt, zwischen dem ,Selbst' und dem ,anderen', er ist im Ich schon als Nicht-Ich gesetzt - gerade dies ist seine Wesensfunktion, Vermittlung des Geistes in der Materie, in der äußeren Welt zu sein"66. Dies zeigt, daß das Individuum bereits aufgrund seiner physischen Erscheinungsweise des Leibes auf vielfältigste Weise mit der übrigen Körperwelt verbunden ist. Stimmungen und Gefühle fallen uns an, ohne daß im vorausgegangenen Bewußtseinszustand irgendeine Veranlassung dazu wäre. 67 Wir können uns von der Mitwelt und Umwelt nicht total abgrenzen, selbst wenn wir es wollten; mit unserem Leib sind wir immer schon darauf hingeordnet. Aber nicht nur unter dem Aspekt des vegetativen und sensitiven Lebens, das wir mit Pflanzen und Tieren gemeinsam haben, sind wir in unsere Mitwelt und Umwelt einbezogen, sondern ebensosehr als geistige Wesen, d. h. auch über den vitalen Lebenbereich hinaus, sind wir Menschen bedürftig und aufeinander angewiesen. "Wir bedürfen nicht nur der Güter, sondern auch der Mitmenschen ... Wir sind auf andere angewiesen nicht allein, um mit ihrer Hilfe zu den Gütern zu gelangen, derer wir bedürfen, sondern wir sind auch aufeinander angewiesen, um z. B. miteinander zu reden, unsere Situation zu besprechen, einander Geborgenheit zu gewähren, um in wechselseitigem Vertrauen unser menschliches Leben zu bestehen. "68 Der Angewiesenheit des Individuums auf seine Mitwelt und Umwelt ist sich auch Humboldt bewußt, wenn er schreibt, der Mensch "kann die Bande 65 Vgl. E. Coreth, Was ist der Mensch? Grundzüge einer philosophischen Anthropologie. Innsbruck 31980, 159f. 66 Ebd. 162. 67 Vgl. Volkelt (s. Anm. 12) 56. 68 W. Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik. Mannheim 1972, 95.
11.5 Individuum, Mitwelt und Umwelt
185
nicht lösen, die ihn mit allen übrigen seiner Mitgeschöpfe verbinden"69. Die Bewertung allerdings, die er seinen Mitgeschöpfen beimißt, wird nur aus subjektiver Sicht vollzogen, insofern sie ihm dienlich sind für seine eigene Bildung. Um das Individuum vor einseitiger Entwicklung zu schützen, bedarf es des Zusammenseins mit anderen Menschen. Soll sich der Charakter zur "Reinheit und Bestimmtheit" ausbilden, so ist es notwendig, daß "er mit reinen und bestimmten Charakteren in Verbindung kommt"7o. Daß Gesellschaft und Staat für Humboldt keinen Selbstwert haben, sondern nur Mittel für die Bildung des Individuums sind, ist uns aus seiner Schrift über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates hinlänglich bekannt. Die Frage ist nun, ob auch der Mitmensch nur als Mittel zum Zweck der eigenen Bildung angesehen wird; die Aussagen aus Humboldts Schriften tendieren als Antwort eher zu einem "Ja" auf diese Frage. Zu dieser Schlußfolgerung kommt auch Menze in seinen Untersuchungen über Humboldts Menschenbild, wenn er darin jegliches sozialethisches Engagement vermißt: "Humboldt genießt das Leben des Selbstgewinns und seiner Bildung wegen, ohne die dienende Funktion des Menschen für das Glück eines anderen zu bedenken. Die Wendung zum Sittlichen durch direkte Förderung des Menschen bleibt ihm fremd. Der sich nebenher einstellenden Einwirkung ist keine sittliche Qualität mehr beizumessen, weil, um sie zu befördern, nichts Entscheidendes getan und von der Individualität für das Wohl der anderen keine Anstrengung, geschweige denn ein Opfer gebracht zu werden braucht. Erst aus dem Wohle des Selbst resultiert die beiherspielende positive Einwirkung auf den anderen. "71 Diese Beurteilung Humboldts wird auch bestätigt durch den Inhalt eines Briefes an seine Braut, wo es heißt: "Wenn ich auch viel Kenntnis hätte, ich würde sie nie so zeigen, mir würde immer mehr daran liegen, sie mich selbst ausbilden zu lassen, als sie unmittelbar auf andre anzuwenden. "72 Allerdings ist Menze der Meinung, daß für Humboldt die fremde Individualität in ihrer Eigentümlichkeit nicht beeinträchtigt wird, wenn sie lediglich als Mittel zur eigenen Bildung betrachtet wird, da sie dies "durch ihr bloßes Sein"73 wird. Das heißt, bereits aufgrund ihres Daseins hat eine fremde Individualität bildende Bedeutung für die eigene Individualität, sofern sie als fremde Individualität der zu verwirklichenden innewohnenden Idee der eigenen entspricht. "Die Individualität wird durch die Einwirkung einer anderen nicht aus ihrem Eigensein herausgedrängt, sondern in ihrer Eigentümlichkeit bestätigt und gefestigt. Die Einwirkung erfolgt
69 70
71 72
73
GS 11,7. GS 1,387. Menze (s. Anm. 34) 151. w. u. C. v. Humboldt in ihren Briefen. (s. Anm. 52) 271. Menze (s. Anm. 34) 150.
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11 Bedeutung und Wert des Individuums
durch das bloße Sein der Individualität, die durch ihr Dasein die andere veranlaßt, aus sich selbst herauszutreten und sich zu bestimmen. "74 Selbst bei dieser für Humboldt positiven Interpretation bleibt im Hinblick auf die Bewertung des Mitmenschen doch ein Unbehagen zurück, denn es ist letztlich nur die eigene Bildung, die zum besti mmenden Maßstab für die Beurteilung der Mitwelt und Umwelt wird. Und wie die Umwelt, so ist für Humboldt auch die Mitwelt nur Stoff für die eigene Bildung. Das widerspricht jedoch dem Eigenwert der Person als Zweck an sich. Eine Negierung des Eigenwerts der Person führt aber dazu, daß jeder Mensch zu jeder Zeit als Mittel für beliebige Zwecke mißbraucht werden kann, denn auch Bildung ist kein absoluter Wert und läßt sich außerdem in jedem politischen System anders interpretieren. Nicht zuletzt bedeutet Humboldts Einstellung, die Umwelt und die Mitwelt nur als Stoff für die eigene Bildung zu betrachten, eine Verkennung der Realität und die Vernachlässigung der Forderung einer expliziten gegenseitigen Hilfeleistung auf materiellem und geistigem Gebiet - eine Bedingung, deren Erfüllung, wie sich noch zeigen wird, für die Selbstverwirklichung des Individuums unerläßlich ist.
74
Ebd.
12 Bedingungen menschlicher Selbstverwirklichung Wenn Humboldt "den wahren Zweck des Menschen in der höchsten und proportionierlichsten Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen sieht"!, so stellt sich die Frage, worauf denn diese Bestimmung vom wahren Zweck des Menschen gründet. Liegen ihr notwendige - für jedermann gültige - Bedingungen menschlicher Selbstverwirklichung zugrunde oder nur spezifische für ein bereits aus einem bestimmten Zeitgeist (Neuhumanismus) heraus entstandenes Menschenbild? Es scheint, daß für Humboldt eher das zweite zutrifft. Denn Menschsein impliziert noch nicht notwendigerweise, daß man seine Kräfte auf proportionierlichste Weise zu einem Ganzen auszubilden hat. Wenn aber die Prämissen nicht notwendigerweise gegeben sind, dann auch nicht die Folgerungen, die sich daraus ergeben. Das heißt, daß - wie sich bereits gezeigt hat - Humboldts Theorie von den Grenzen der Wirksamkeit des Staates nicht in allen Belangen Gültigkeit hat, sondern nur in jenen, in denen sich seine Überlegungen als berechtigte Forderungen ausgewiesen haben. Und berechtigte Forderungen sind solche, die für die Selbstverwirklichung eines jeden Menschen konstitutiv sind. Humboldts Theorie antizipiert aber bereits ein bestimmtes Menschenbild, das nochmals auf die Bedingungen seiner Möglichkeit hinterfragt werden müßte, um eine tragfähige Basis für eine anthropologisch fundierte Staatstheorie zu sein. Das heißt, wenn der Staat in seinem Zweck und seinen Aufgaben sich nicht selbst begründen kann, sondern vom Menschen her begründet werden muß (in welcher Konzeption auch immer, sei es in einer individualistischen oder kollektivistischen), so ist es unumgänglich, auf jene Bedingungen zu reflektieren, die menschlicher Selbstverwirklichung in ihrer allgemeinsten Form zugrunde liegen; erst daraus lassen sich dann weitere Bestimmungen für die Selbstverwirklichung des Individuums ableiten. 12.1 Der Mensch - das Wesen mit Bedürfnis nach Sinn
Verschiedenste Denker aus den verschiedensten Fachbereichen haben im Laufe der Geschichte den Versuch unternommen, das Wesen des Menschen zu bestimmen und das heißt, das aufzuzeigen, worin sich der Mensch von allen anderen Lebewesen, vor allem vom Tier, unterscheidet; dabei zeigt sich die klassische Definition vom Menschen als vernunftbegabtem Lebewesen wohl als eine der bedeutendsten. Man mag zwar darüber diskutieren, 1
GS I, 106.
188
12 Bedingungen menschlicher Selbstverwirklichung
was Vernunft bedeutet und ob nicht auch höherentwickelte Tiere zumindest über eine Art "instrumentale Intelligenz" verfügen, die sie ähnlich dem Menschen (nicht wesentlich, sondern nur graduell von ihm unterschieden) befähigt, ihre Triebbedürfnisse zu befriedigen. Was jedoch den Menschen vom Tier wesentlich (nicht nur graduell) unterscheidet, ist das Bewußtsein seiner selbst. "Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das nicht nur Objekte kennt, sondern das auch weiß, daß es sie kennt. "2 Er besitzt dem Tier gegenüber die Fähigkeit der Abstraktion, d. h. Gegenstände objektiv zu erkennen und nicht nur im Hinblick auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Doch wie richtig diese Definition vom Menschen als "animal rationale" auch ist, sie überbewertet die Vernünftigkeit des Menschen und übersieht dabei seine Bedürftigkeit. Eine Bedürftigkeit, die der Mensch zum Teil mit anderen Lebewesen, vor allem mit den höherentwickelten, gemeinsam hat, ihn aber doch wiederum, insofern er ein Bedürfnis nach Sinn hat, von diesen abhebt. Das Bedürfnis nach Sinn setzt zwar Vernünftigkeit voraus, wird aber auch den Aspekten menschlichen Strebens gerecht, die ihn nicht nur als "vernünftig" erscheinen lassen, denn nicht alles, worin der Mensch Sinn sucht und erfährt, ist vernünftig. Eine nähere Bestimmung der Begriffe Bedürfnis und Sinn soll dies verdeutlichen. Da im allgemeinen Sprachgebrauch das Wort "Bedürfnis" kaum als definitionsbezogener Terminus benutzt wird und auch keinem Postulat korrekter Verwendung unterliegt3, wollen wir unter Bedürfnis ein Verlangen nach dem verstehen, was der Mensch zur Verwirklichung seines Lebens braucht oder zu brauchen meint, mit der Absicht, dieses Verlangen auch zu stillen. Diese Definition scheint auf eine Unterscheidung zwischen wahren und falschen Bedürfnissen hinzudeuten, die aber, wie sich noch zeigen wird, nur schwer durchzuführen ist, ebenso wie die Unterscheidung zwischen natürlichen und kulturellen Bedürfnissen. Wohl gibt es elementare (primäre) Bedürfnisse, deren Befriedigung für die Erhaltung des Lebens unentbehrlich sind, wie z. B. das Bedürfnis nach Nahrung, nach Schutz vor dem Einwirken der äußeren Natur (Kälte, Hitze), nach Entspannung (Ruhe, Schlaf), nach Kommunikation, nach Sicherheit des Lebens vor bedrohenden Gefahren der Umwelt und Mitwelt u. ä. Die Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse ermöglicht erst alle weiteren Bedürfnisse, die von den verschiedensten Komponenten (Geschlecht, Alter, Tradition, Bildung, soziale Verhältnisse usw.) abhängig und zum Teil sehr spezifisch und subjektiv sind. Nach H. Schaefer sind die Bedürfnisse des Menschen "das Ergebnis einer Interferenz der jeweiligen gesellschaftlichen Verhaltensmuster und offenbar angeborener Eigenschaften, welche sich in komplizierten Rückkoppelungs2 E. Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität. Stuttgart 21974,202. Vgl. J. B. Müller, Bedürfnis. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. o. Brunner, W. Conze und R. Koselleck. Bd. 1. Stuttgart 1972, 440. 3
12.1 Der Mensch - das Wesen mit Bedürfnis nach Sinn
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kreisen herausbilden"4. Das heißt, einerseits richten sich die Bedürfnisse nach den von der Gesellschaft angebotenen Möglichkeiten, andererseits nach den angeborenen Eigenschaften und drittens "nach solchen Eigenschaften, welche sich durch die Interferenz von Angebot und angeborenen Eigenschaften sekundär entwickeln"5. Mit der fortschreitenden Veränderung der Gesellschaft entstehen neue Bedürfnisse. Von " wahren " Bedürfnissen zu sprechen, ist deshalb schwierig, weil der Mensch, wenn immer er Bedürfnisse anmeldet, bereits in einem bestimmten Gesellschaftssystem lebt, das auch seine Bedürfnisse mitbestimmt und beurteilt. Interessanterweise ist aber nicht einmal das Bedürfnis nach Lebenserhaltung das primärste ("wahrste") Bedürfnis für den Menschen, sondern das nach Wohlbefinden und damit implizit das Bedürfnis nach Sinn, weil sich Wohlbefinden auf die Dauer nur einstellt, wenn dabei auch Sinn empfunden wird. Der Begriff Sinn ist allerdings ebenso vieldeutig wie der Begriff Bedürfnis, und es bedarf auch hier einer näheren Begriffsbestimmung, um das Reden von Bedürfnis nach Sinn verständlich zu machen. So kann Sinn in einer ersten Bedeutung als "Zweckdienlichkeit"6 in einem Handlungszusammenhang verstanden werden. Demnach hat Sinn, was sich als Mittel zur Erreichung eines Zweckes eignet, und sinnlos ist im Gegensatz dazu das, was zur Erreichung des Zweckes nichts beiträgt. In einer zweiten Bedeutung kann Sinn als Bedeutung von Zeichen aufgefaßt werden. Hier handelt es sich dann nicht "um die Funktionstüchtigkeit eines Mittels im Dienst von Zwecken, sondern um die Funktionstüchtigkeit eines ,Bedeutungsträgers' , Auslegung zu veranlassen und zu steuern. ,Sinn' hat, was ,etwas bedeutet'. Sinnlos ist im Gegensatz dazu ein Phänomen, das keine Auslegung gestattet (z. B. eine Abfolge von Lauten, aus denen kein Aufschluß über irgend etwas zu gewinnen ist); sinnwidrig ist ein Zeichen, das notwendig oder mit Wahrscheinlichkeit Fehldeutungen erzeugt. "7 In einer anderen Bedeutung verwendet der logische Positivismus den Begriff Sinn, wenn er den Sinn eines Satzes durch die Methode seiner Verifikation bestimmt, d. h. ein Satz ist für ihn nur dann sinnvoll, wenn angegeben werden kann, wie er sich verifizieren läßt. Entscheidend für unsere Überlegungen ist jedoch Sinn als Antwort auf die Frage, was das Leben wertvoll, erstrebenswert, sinnvoll macht. Darin unterscheidet sich der Mensch auch wesentlich vom Tier, daß er nicht bedingungslos, um jeden Preis und unter allen Umständen leben will, sondern nur insofern das Leben für ihn eine Bedeutung, eine Anziehungskraft, einen Sinn hat und sei dieser in den Augen der Mitmenschen noch so unbe4 H. Schaefer, Bedürfnis und Bedarf des Menschen in medizinischer Sicht. In: Die ,wahren' Bedürfnisse oder: wissen wir, was wir brauchen? Hrsg. v. S. Moser u. a. (Philosophie aktuell 11). Stuttgart 1978, 29. 5 Ebd. 6 R. Schaeffler, Sinn. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hrsg. v. H. Krings, H. M. Baumgartner und eh. Wild. Bd. III. München 1974, 1325. 7 Ebd.1330.
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12 Bedingungen menschlicher Selbstverwirklichung
deutend und nichtssagend. Selbst, wer nichts anderes will, als nur seine elementarsten Lebensbedürfnisse befriedigen, muß darin einen Sinn sehen, um leben zu können. Wo nicht mehr die geringste Resonanz auf das Bedürfnis nach Sinn vorhanden ist, ist der Lebenswille erloschen und Suizid die logische Konsequenz. Findet der Mensch hingegen im Leben einen Sinn, dann ist er auch bereit, Leiden und Opfer auf sich zu nehmen, wenn es notwendig ist. Zeigt sich also - formal gesehen - bei allen Menschen ein Bedürfnis nach Sinn, so ist inhaltlich das, worin die Menschen Sinn suchen und finden, doch sehr verschieden. Diesbezüglich ist es schwierig, von wahren und falschen Bedürfnissen zu sprechen, sofern das Bedürfnis nach Sinn nicht auf die Vernichtung der eigenen Existenz oder auf die der Mitmenschen ausgerichtet ist. Denn wer den einzigen Sinn seines Menschseins nur darin sieht, sich selbst auszulöschen (und dies auch nicht um eines höheren Ideals wegen, wie zweifelhaft dies auch sein mag), negiert sich schon von vornherein als Lebewesen. Mit der absoluten Verneinung von Sinnhaftigkeit hebt sich das menschliche Leben selbst auf, und hier kann sicher nicht mehr von einem wahren menschlichen Bedürfnis die Rede sein. Ebensowenig kann man aber von wahren menschlichen Bedürfnissen sprechen, welche die Schädigung oder die Vernichtung der Mitmenschen zum Ziele haben. Abgesehen davon, daß eine totale Vernichtung der Mitmenschen den einzelnen selbst um seine Lebensbedingungen bringt, läßt schon das Bedürfnis nach einer partiellen Schädigung oder Vernichtung der Mitmenschen die Frage aufkommen, wodurch solche Bedürfnisse legitimiert sind, um von wahren Bedürfnissen sprechen zu können. Denn es gibt kein legitimes Kriterium, das dem einen Menschen erlaubt, zum Schaden und zum Nachteil des anderen seine Bedürfnisse zu befriedigen, und erst recht nicht lassen sich dann solche Bedürfnisse als wahre Bedürfnisse ausweisen. Auch nicht mittels einer Unterscheidung zwischen Natur- und Kulturbedürfnissen können wahre Bedürfnisse von falschen abgegrenzt werden. Denn die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, so berechtigt sie ist 8 , übersieht meistens zweierlei: Erstens, daß der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen ist und ohne Befriedigung der kulturellen Bedürfnisse genausowenig leben kann wie ohne Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse. Selbst wenn man die elementaren Lebensbedürfnisse des Menschen wie Nahrungsbedürfnis? Ruhebedürfnis usw. als natürliche ("wahre") Bedürfnisse bezeichnen würde, so gelänge dies schon nicht mehr, wenn man "irgendein Maß, ein Quantum von Nahrung oder Ruhe als ,natürliches' 8 Unter Natur wollen wir verstehen: " ... alles, was ohne fremdes Zutun wird und sich nach den ihm innewohnenden Kräften und Gesetzen entwickelt ... im Gegensatz zum Menschenwerk, zu den Schöpfungen des menschlichen Geistes, der Kultur ... " (Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 21955, 42lf.).
12.1 Der Mensch - das Wesen mit Bedürfnis nach Sinn
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Quantum"9 bestimmen möchte. "Unsere natürlichen Begehrungen sind stets eingebettet in einen größeren Komplex von Begehrungen, der auch kulturelle Begehrungen enthält." 10 Und zweitens übersieht die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, daß die Unterscheidung selbst ein kultureller Akt ist, denn nur im Rahmen einer Kultur läßt sich Natur abgrenzen. Wenngleich eine scharfe Trennung zwischen wahren und falschen Bedürfnissen nicht möglich ist, vorausgesetzt, sie richten sich nicht gegen die eigene Existenz oder die der Mitmenschen, so wird der Mensch auf dem Hintergrund des ihn bestimmenden Bedürfnisses nach Sinn doch ständig mit der Frage nach den wahren Bedürfnissen konfrontiert. Denn die Frage nach den wahren Bedürfnissen erweist sich auch als Frage nach dem menschlichen Glück. "Wo immer es nicht nur um die Frage geht, welche Mittel zur besten Erreichung des als bekannt vorausgesetzten Glücks führen, sondern worin eigentlich dieses Glück besteht, da sind ,Glück' und ,wahre Bedürfnisse' vertauschbare Ausdrücke. "11 Außerdem könnte der Mensch als instinktarmes Wesen gar nicht überleben, wenn er allen momentanen Außen- und Innenreizen, die in Fülle ständig auf ihn eindringen, ausgeliefert wäre.l 2 Das heißt, er muß Präferenzen in der Befriedigung seiner Bedürfnisse setzen, die ihn trotz aller Unsicherheit und Ungewißheit aus der Zufälligkeit seines Handelns herausheben. 13 Mag also das Bedürfnis nach Sinn, den die einen in Wissen, Macht, Reichtum, die anderen in einem politischen Ideal, in der Kunst, im Lebensgenuß usw. sehen, noch so vielschichtig sein und mag eswie oben gezeigt - auch schwierig sein, wahre Bedürfnisse von falschen abzugrenzen, so sind doch nicht alle Bedürfnisse des Menschen von gleichem Rang und gleichem Wert. Eine erste Abgrenzung wurde bereits getroffen, indem wir das Bedürfnis nach Vernichtung der eigenen Existenz wie die der Mitmenschen als ein nicht "wahres" menschliches Bedürfnis ausgewiesen haben. Darüber hinaus gibt es aber noch eine Fülle von möglichen Bedürfnissen nach Sinn. So sei es, um ein triviales Beispiel zu nennen, keinem Menschen verwehrt, den Sinn seines Lebens darin zu sehen, möglichst viele Rosen in seinem Garten zu pflanzen. Doch wird niemand daran zweifeln, daß ein höherer Wert verwirklicht wird, wenn man den Sinn seines Daseins auch darin sieht, sich für die Mitwelt und Umwelt nutzbar zu machen (und das gilt nicht nur für eine bestimmte Gesellschaftsform und für einen bestimmten Kulturbereich, sondern für jede Gesellschaftsform und jeden Kulturbereich). Denn die Erfüllung des Bedürfnisses nach gegen9 P. Lorenzen, Szientismus versus Dialektik. In: Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie. Hrsg. v. F. Kambartel. Frankfurt 1974, 5l. 10 Ebd. 11 F. H. Tenbruck, Die ,wahren' Bedürfnisse des Menschen und die Entwicklung der Sozialwissenschaften. In: Die ,wahren' Bedürfnisse oder: wissen wir, was wir brauchen? (s. Anm. 4) 69f. 12 Vgl. ebd. 75. 13 Vgl. ebd. 78.
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12 Bedingungen menschlicher Selbstverwirklichung
sei tiger Hilfe gehört zu den Grundbedingungen menschlicher Selbstverwirklichung. Es ist aber auch wichtig, darauf hinzuweisen, daß jedes menschliche Streben nach Sinn unter einem Richtigkeitsanspruch steht. Das heißt, an der Richtigkeit hält nicht nur der fest, der nach einem absoluten Sinn Ausschau hält, sondern auch derjenige, der um die Relativität seines Lebenssinnes weiß, denn insofern er einen bestimmten Lebensinhalt zu dem seinen wählt, den einen dem anderen vorzieht, läßt er sich von Richtigkeitsvorstellungen leiten, zumindest hält er seinen Sinn für "richtiger" als jeden anderen. Von "richtiger" und "weniger richtig" läßt sich aber nur auf dem Hintergrund eines unbedingten Richtigkeitsanspruchs sprechen, der, wenn auch nicht inhaltlich ausformuliert, so formal immer schon mitgesetzt ist. Das schließt aber nicht aus, daß man in der Praxis bei der Bewertung von Lebensinhalten Fehler macht, indem man z. B. einen beliebigen Wert absolut setzt; ob man jedoch damit auf die Dauer einen Sinn in seinem Leben finden kann, ist allerdings eine andere Frage. Es bleibt aber dem einzelnen überlassen, zu bestimmen, worin er seinen Sinn findet. Demnach kann und darf es nicht Aufgabe des Staates sein, sinnstiftend zu wirken, das käme einer Manipulation der Bürger gleich, sondern er möge jene Bedingungen schaffen, die jedes einzelne Individuum innerhalb und auch außerhalb seines Territoriums (Freiheit zur Ausreise) Sinn finden lassen. Und dazu gehören, wie Humboldt richtig erkannt hat, Freiheit und Sicherheit, aber auch was Humboldt zuwenig berücksichtigt hat, nämlich ein Engagement des Staates auch für das physische und psychische Wohl der Bürger.
12.2 Primäre Ziele menschlicher Selbstverwirklichung Vieles, was der Mensch erstrebt, ist rein individuell oder gesellschafts bedingt. Es gibt aber auch Bedürfnisse, die allgemein sind, die sich bei jedem Menschen von Natur aus einstellen. Das Bedürfnis nach Sinn hat sich als ein solches allgemeines Bedürfnis erwiesen, denn ohne die minimalste Sinnhaftigkeit läßt sich auf die Dauer nicht leben. Mag V. E. Frankl einerseits recht haben, wenn er schreibt: "Sinn läßt sich ... nicht geben, ... sondern Sinn muß gefunden werden, und er kann jeweils nur von einem selbst gefunden werden"l4, so scheint es andererseits doch, daß bestimmte äußere Lebensbedingungen eine Sinnfindung erleichtern oder erschweren. Es ist auch richtig, um nochmals Frankl zu zitieren, daß "die Befriedigung der niedrigeren Bedürfnisse ... keineswegs eine notwendige Bedingung für das Ringen um Sinn [ist] ... Geschweige denn, daß die Befriedigung der niedrigeren 14 V. E. Frankl, Die Sinnfrage in der Psychotherapie. In: Suche nach Sinn - Suche nach Gott. Im Auftrag des Direktoriums der Salzburger Hochschulwochen. Hrsg. v. A. Paus. Graz 1978, 333.
12.2 Primäre Ziele menschlicher Selbstverwirklichung
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Bedürfnisse eine hinreichende Bedingung dafür wäre, daß auch ein höheres Bedürfnis wie das Sinnbedürfnis befriedigt wird." 15 Es zeigt sich sogar, daß das Bedürfnis nach Sinn mehr als in allen anderen Gesellschaften und Kulturbereichen in einer Wohlstands- und Überflußgesellschaft aufbricht. Oder wie eine Logotherapeutin nach langjähriger Praxis schreibt: "Sie werden staunen, wenn Sie einen Blick in die Praxis des Psychotherapeuten von heute werfen. Die wenigsten Patienten, die Sie da antreffen werden, befinden sich in einer echten äußeren Notlage. Sie verhungern nicht und sie erfrieren nicht, sie haben keine außergewöhnlichen Strapazen zu erdulden, sie müssen sich im allgemeinen nicht einmal mit Arbeit überanstrengen. Die Mehrzahl der Patienten ist im Gegenteil gesund, ohne sich an ihrer Gesundheit zu erfreuen, mit Gütern ausreichend ausgestattet, ohne dafür dankbar zu sein, von den Mitmenschen mit Fürsorge und Nachsicht behandelt, ohne es zu merken, und von allen möglichen Aufgaben entlastet, ohne sich darüber die geringsten Gedanken zu machen." 16 Dies zeigt nochmals, daß die für den Menschen so bedeutende Frage nach dem Sinn seines Lebens nicht allein mit der Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse oder einem übermäßigen Konsum beantwortet werden kann. Im Gegenteil - durch eine Übersättigung verlieren Ziele ihre Anziehungskraft und werden schal. Es ist aber auch davon auszugehen - und dies betrifft vor allem den Staat mit seinen Verpflichtungen gegenüber seinen Bürgern -, daß "die Erreichung unserer alltäglichen aus unseren Bedürfnissen erwachsenden Strebensziele ... dem Menschen manchmal in so weitgehendem Umfang und so endgültig mißlingen [kann], daß ihm weiteres Bemühen darum als aussichtslos erscheint, so daß er in Schmerz und Leid versinkend keinen Sinn mehr in seinem Dasein zu sehen vermag"17. So heißt es schon bei Aristoteles: "Der Glückselige wird aber als Mensch auch in äußeren guten Verhältnissen leben müssen. Denn die Natur genügt sich selbst zum Denken nicht; dazu bedarf es auch der leiblichen Gesundheit, der Nahrung und alles andern, was zur Notdurft des Lebens gehört. "18 Die Formulierung "was zur Notdurft des Lebens gehört" deutet darauf hin, daß es sich bei dem, was Aristoteles für ein glückseliges Leben fordert, nicht um spezielle Güter handelt, sondern - in unsere Sprache übersetzt um Grundbedingungen menschlicher Selbstverwirklichung. V. Kraft spricht von "primären Strebenszielen" , deren Verwirklichung der Verwirklichung aller anderen Strebensziele vorangehen muß, weil von ihrer Verwirklichung die Verwirklichung aller anderen abhängt, und nennt als solche: "Sicherheit des Lebens, Nicht-geschädigt-werden, Handlungsfreiheit 15 Ebd.326. 16 Zitiert nach Frankl (s. Anm. 14) 319. 17 H. Reiner, Der Sinn unseres Daseins. Tübingen 21964, 18f.
18 Aristoteles, Nikomachische Ethik X, 9 (1178 b 33 - 35). Übers. E. Rolfes (PhB 5). Leipzig 21911,227.
13 Battisti
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12 Bedingungen menschlicher Selbstverwirklichung
und gegenseitige Hilfe"19. Da aber die Sicherheit des Lebens ein Nichtgeschädigt-werden impliziert, können die beiden erstgenannten primären Strebensziele zu einem Ziel, nämlich zum Streben nach Sicherheit und Schutz des Lebens, zusammengefaßt werden. Das heißt, wenn immer der Mensch leben will, was gleichbedeutend ist mit sinnvoll leben, so erweist sich das Streben nach Sicherheit und Schutz des eigenen Lebens als ein primäres Ziel. Ein Verzicht darauf würde bedeuten, sich selbst zu verneinen. Denn nur unter der Bedingung, daß der Mensch nicht ständigen Angriffen (Schädigungen) auf seinen Leib und seine Psyche (Geist) ausgesetzt ist, kann er sich entfalten. Alles, was der Mensch in seinem Leben sonst noch anstrebt, Bildung, Reichtum, berufliche Karriere, öffentliches Ansehen usw., setzt als primäres Ziel Schutz (Sicherheit) vor schädlichen Einwirkungen voraus. Sicherheit des menschlichen Lebens in seiner leib geistigen Ganzheit gehört deshalb zu den Grundbedingungen menschlicher Selbstverwirklichung, weil Schädigung die Möglichkeit der Lebensgestaltung beeinträchtigt, wenn nicht sogar aufhebt. Handlungsfreiheit als zweites primäres Strebensziel ist ebenfalls eine Grundbedingung menschlicher Selbstverwirklichung; daß es sich dabei aber nicht um eine absolute Freiheit handeln kann, wurde in dieser Arbeit wiederholt aufgezeigt (vgl. vor allem Kap. 1). Auch Humboldts Plädoyer für die Freiheit unterstreicht ihre Wichtigkeit und Bedeutung für die menschliche Selbstverwirklichung. Handlungsfreiheit erweist sich insofern als Bedingung menschlicher Selbstverwirklichung, als es notwendig ist, daß der Mensch bei der Ausführung von Handlungen, die zur Erfüllung seiner Bedürfnisse führen, vor allem des für ihn so wesentlichen Bedürfnisses nach Sinn, nicht gehindert wird. Denn wer unter Zwang steht, abhängig ist oder an der Ausführung seiner Absichten gehindert wird, dessen Bedürfnisse müssen vielfach unbefriedigt bleiben. Das schließt zwar nicht aus, daß viele Menschen nicht imstande sind, "von einer Freiheit des HandeIns vollen Gebrauch zu machen, nicht nur die Kinder, sondern auch die, welche sich nicht stark genug fühlen, um allein die Aufgaben, die ihnen das Leben stellt, zu bewältigen. Sie wollen geführt werden, aber nicht gezwungen werden. Sie ordnen sich freiwillig denen unter, die sie als überlegen empfinden. Die Freiheit der Selbstbestimmung geben sie damit nicht auf. "20 Kein Mensch kann zu seinem Glück gezwungen werden, weil er sich dann nur noch als selbstentfremdetes Objekt eines fremden Willens erfahren würde. Zudem sind die Vorstellungen von Glück des einen nicht immer identisch mit denen des anderen. Handlungsfreiheit (Selbstbestimmung) ist notwendig, um sich in seiner Identität zu erfahren. 19 V. Kraft, Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral. Erfahrung und Denken (Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften. Bd. 28). Berlin 1968, 116 . . 20 Ebd.
12.2 Primäre Ziele menschlicher Selbstverwirklichung
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Außer Sicherheit und Freiheit erweist sich schließlich auch das Bedürfnis nach gegenseitiger Hilfe als ein primäres Strebensziel. Humboldt allerdings hat diesem Strebensziel im Vergleich zu den beiden erstgenannten, nämlich Sicherheit (vor inneren und äußeren Feinden) und Handlungsfreiheit (verbunden mit Mannigfaltigkeit der Situationen), zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt. Er verwehrt es dem Staat sogar, diesbezüglich wirksam zu werden; vielmehr soll die Aufgabe der gegenseitigen Hilfeleistung im Hinblick auf das physische und psychische Wohl der Bürger privater Initiative (vgl. Kap. 7) überlassen werden. Nur in bezug auf Sicherheit wird vom Staat Hilfe beansprucht. Zweifelsohne gehört aber das Bedürfnis nach gegenseitiger Hilfe zu den primären Strebenszielen menschlicher Selbstverwirklichung. Man könnte sogar sagen, es ist das primärste Ziel, weil selbst Sicherheit und Schutz des Lebens, ohne Hilfe anderer, letztendlich des Staates aufgrund seines Gewaltmonopols, nicht gewährleistet ist. Aber auch Handlungsfreiheit, als Freisein vom Zwang anderer, bedarf, wenn Menschen einander dieses Recht streitig machen, des Staates als oberster Entscheidungsinstanz. Doch nicht nur bezüglich Sicherheit und Freiheit ist der Mensch auf fremde Hilfe angewiesen, sondern in jedem Lebensstadium und auf jeder nur vorstellbaren Kulturstufe wird die Hilfe des anderen zur Bedingung menschlicher Selbstverwirklichung. Ganz ausgeprägt zeigt sich dieses Hilfebedürfnis beim Kind. Da es sich allein nicht zu helfen weiß und auch nicht kann (vor allem das Kleinkind), ist es in besonderer Weise auf die Hilfe anderer angewiesen. Eine Verneinung dieser Hilfe würde seinen Tod bedeuten. Aber auch der Erwachsene bedarf des Mitmenschen, um zu leben und zu überleben. "Man übersieht leicht, daß ein Robinson oder ein Eremit nur mit Hilfe der Kenntnisse, die er durch die Tradition von seinen Vorfahren mitbekommen hat, sein Leben zu fristen imstande ist. Je mehr der Mensch mit steigender Kultur die Abhängigkeit von der Natur überwindet und die Naturkräfte beherrschen lernt, desto mehr wird er wieder von seinen Mitmenschen abhängig. Denn die Kultur basiert auf Kooperation. Seine Lebensbedürfnisse befriedigt er durch gemeinschaftliche Arbeit, seine Kenntnisse erwirbt er zum größten Teil von anderen und verwertet sie technisch zusammen mit anderen, und auch für seine Vergnügungen, für Feste und Tänze, für Schauspiel und Musik, für Kunst und Literatur braucht er die anderen. "21 Sicherheit und Schutz des Lebens, Handlungsfreiheit und gegenseitige Hilfe erweisen sich deshalb als primäre Ziele menschlicher Selbstverwirklichung, weil, je weniger diese Ziele verwirklicht werden, desto weniger sich ein Individuum entfalten kann. "Es ist ja tautologisch, daß man, je weniger Freiheit man hat, desto weniger ausführen kann, was man will; und daß bei 21
13*
Ebd.
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12 Bedingungen menschlicher Selbstverwirklichung
ungesichertem Leben die Erreichung der Absichten unsicherer ist als bei gesichertem. Nicht minder ist es klar, daß man um so weniger durchführen kann, je weniger Hilfe man findet. "22 Die drei genannten primären Strebensziele sind aber nur formale Bedingungen menschlicher Selbstverwirklichung, über ihre Konkretisierung ist noch nichts ausgesagt. Es jedoch nur bei diesen formalen Bedingungen zu belassen, wäre gleichbedeutend, wie einem Schwerverletzten zu sagen, du hast ein Recht auf Leben, ohne konkrete Maßnahmen für die Rettung seines Lebens zu ergreifen. Das heißt, es sind auch Überlegungen anzustellen, wie formale Bedingungen im Hic et Nunc erfüllt werden können. 12.3 Primäre und sekundäre Normen Der Begriff Norm wird im allgemeinen Sprachgebrauch in einem vielfachen Sinn verwendet: als "Winkelmaß", "Richtschnur", als Maßstab der Beurteilung und Bewertung oder als Regel, die angibt, was geschehen sol1. 23 In diesem Kontext soll Norm in der letztgenannten Bedeutung als Regel, d. h. als Handlungsanweisung zur Verwirklichung von Zielen verwendet werden. Wer sich ein Ziel setzt und es erreichen will, wird notwendigerweise auch die Bedingungen erfüllen müssen, unter denen das Ziel erreichbar ist. Z. B. wer einen akademischen Grad anstrebt, wird nicht umhin können, die dafür erforderlichen Studien zu absolvieren, sich Prüfungen zu unterziehen, eine wissenschaftliche Arbeit zu schreiben usw. Dies alles sind Normen im Sinne von Handlungsanweisungen (Regeln, Vorschriften), die befolgt werden müssen, wenn das Ziel erreicht werden soll. Auch für die primären Ziele menschlicher Selbstverwirklichung gilt, daß ihre Verwirklichung nur dann garantiert ist, wenn die für die Erreichung der Ziele notwendigen Normen befolgt werden. Es ist aber darauf hinzuweisen, daß es sich bei den primären Zielen menschlicher Selbstverwirklichung um Ziele handelt, die für jedermann Gültigkeit haben, während alle anderen Ziele nur für bestimmte Menschen bedeutsam sind; demnach kommt auch den von beliebigen Zielen abgeleiteten Normen ein anderer Stellenwert zu als den von primären Zielen; denn aus dem Streben nach einem individuellen Ziel (Wert) ergeben sich nur individuelle Normen (sie sind nur gültig für den, der nach diesem Ziel strebt). Hingegen lassen sich von einem Streben nach allgemeingültigen Zielen (Werten) auch allgemeingültige Normen ableiten, wobei allerdings zwischen primären und sekundären Normen zu unterscheiden ist. Die primären Normen zeigen nur formale Bedingungen auf, die zur Verwirklichung der Ziele führen, während die sekundären Normen konkrete Handlungsanweisungen enthalten, die zwar von Kulturkreis zu Kulturkreis variieren und auch innerhalb ein und desselben Kulturkreises sich immer wieder ändern, 22 23
Ebd. 116 f. Vgl. Wörterbuch der philosophischen Begriffe (s. Anm. 8) 435.
12.3 Primäre und sekundäre Normen
197
weil neue Situationen entstehen, die im Hinblick auf das mitmenschliche Zusammenleben neuer Regeln (Normen, Gesetze) bedürfen. So ergibt sich z. B. aus dem Streben nach der Verwirklichung des ersten primären Ziels, der Sicherheit des Lebens, zunächst als formale Bedingung (primäre Norm): alles zu unterlassen, was die Sicherheit des Lebens gefährdet, und alles zu tun, was dessen Schutz fördert. Da diese Forderung aber noch zu allgemein ist, vor allem nichts darüber aussagt, was in der konkreten Situation zu tun ist, um die Sicherheit des Lebens zu gewährleisten, bedarf es noch weiterer, und zwar konkreter Handlungsanweisungen (sekundärer Normen), die letztlich zur Verwirklichung des Zieles führen. In diesem Sinne fordert auch Humboldt vom Staat, konkrete Maßnahmen zu treffen, welche die Sicherheit der Bürger vor inneren und äußeren Feinden gewährleisten. Dies scheint aber noch zuwenig zu sein, zumal die Sicherheit menschlichen Lebens noch durch vieles andere gefährdet ist, z. B. durch Umweltkatastrophen, deren Folgen durch eine rechtzeitige Warnung in vielen Fällen vermieden werden könnten, oder durch Gefahrenmomente am Arbeitsplatz, ferner durch ein unkontrolliertes in bezug auf Genußfähigkeit (bei Lebensmitteln) und technische Sicherheit (bei Geräten und Maschinen) nicht überprüftes Warenangebot, nicht zuletzt durch Seuchen und Krankheiten aufgrund mangelnder Hygiene usw. Humboldt weiß zwar um diese Gefahrenmomente, will aber - wie sich gezeigt hat - die dafür erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen lieber der Privatinitiative der Bürger in Form von Verbänden ("Nationalvereinen überlassen als der Kompetenz des Staates. Mittels des Subsidiaritätsprinzips wird noch zu klären sein, wieweit der Staat diesbezüglich wirksam werden soll und darf. Sicherheit des menschlichen Lebens bedeutet aber nicht nur ein Fernhalten aller möglichen schädlichen Einwirkungen auf den menschlichen Körper, sondern als geistiges Wesen bedarf der Mensch, vor allem das Kind und der heranwachsende Jugendliche, auch des Schutzes vor schädlichen Einflüssen auf seine Psyche, z. B. durch sittenwidriges Verhalten der Mitmenschen oder durch gefährliche Ideologien (Pseudotheorien aller Art), die sich gegen die Würde des Menschen richten und sein sittliches Wertempfinden zerstören. Schutzfunktionen im Hinblick auf die Sicherheit des menschlichen Lebens allein dem Staat zu übertragen, ist nicht angebracht, zum al der Staat sie in seinem Sinn mißbrauchen könnte, was sich in totalitären Staaten immer wieder zeigt. Ohne subsidiäres Mitwirken des Staates jedoch ist der einzelne ebenfalls schutzlos, was sich vor allem dort zeigt, wo Anarchie herrscht. Es ist deshalb notwendig, die Kompetenzen des Staates wie die des Individuums möglichst genau voneinander abzugrenzen, wofür - wie sich noch zeigen wird - das Subsidiaritätsprinzip eine wertvolle Hilfe bietet. U
)
Für die Verwirklichung des zweiten primären Strebensziels, der Handlungsfreiheit, ergibt sich als formale Bedingung (primäre Norm): alles zu
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12 Bedingungen menschlicher Selbstverwirklichung
unterlassen, was die Freiheit des anderen einschränkt oder aufhebt. 24 Die Konkretisierung dieser Forderung in Form von sekundären Normen stößt allerdings auf Schwierigkeiten, weil es zum Teil sogar notwendig ist, die Handlungsfreiheit der Individuen um der Verwirklichung anderer (höherer) Ziele wegen einzuschränken. Wer aber bestimmt diese Ziele, und wer setzt fest, was "höher" oder wertvoller ist als das Ziel, das der einzelne aufgrund seiner Handlungsfreiheit zu verwirklichen sucht? Daß es für niemanden einen Anspruch auf uneingeschränkte Handlungsfreiheit geben kann, weil dies zu ständigen Konflikten führen würde, dürfte jeder vernünftige Mensch einsehen. In welchem Ausmaß und zu welchem Zweck eine Einschränkung der Handlungsfreiheit aber erfolgen darf, ist schon schwieriger zu beurteilen, weil es dafür keine eindeutigen Kriterien gibt. Am ehesten finden die freiheitseinschränkenden Maßnahmen seitens der Obrigkeit (Behörde) Zustimmung bei den Bürgern, die ihrer Sicherheit wegen getroffen werden, z. B. Inhaftierung bei Gemeingefährlichkeit, Berufsverbot bei Unqualifiziertheit, Sicherheitsbestimmungen bei Transportunternehmen oder zeitlich befristete Straßensperren bei drohenden Gefahren der Natur (Lawinen, Hochwasser) usw. In diesen Fällen erweist sich die Verwirklichung eines anderen primären Strebenszieles, nämlich der Sicherheit und des Schutzes des Lebens, als Kriterium. Schwieriger zu begründen sind jedoch die Handlungsanweisungen (sekundäre Normen), bei denen der Bezug zur Verwirklichung eines primären Strebenszieles nicht eindeutig feststellbar ist, die aber dennoch die Handlungsfreiheit des einzelnen einschränken. Dazu zählen die Pflichten, die der Staat dem Bürger auferlegt, z. B. die Wehrpflicht oder die Pflicht zum Zivildienst, aber auch die zahlreichen Bestimmungen und Verordnungen, die das alltägliche Leben betreffen, angefangen von der Meldepflicht bis zur Pflicht der Steuererklärung. Doch nicht nur der Staat setzt einschränkende Maßnahmen in bezug auf die Handlungsfähigkeit seiner Bürger, sondern auch die Individuen gegenseitig. Es stellt sich deshalb die Frage, wieweit der einzelne für die Erfüllung seiner Bedürfnisse, und sei es auch für die Erfüllung des für ihn so wesentlichen Bedürfnisses nach Sinn, die Handlungsfreiheit anderer Menschen einschränken darf. Die Beantwortung dieser Frage wird noch durch die Tatsache erschwert, daß es letztlich - so könnte man sagen - keine indifferenten Handlungen gibt, d. h. Handlungen, die sich nicht direkt oder indirekt auf die Mitmenschen auswirken. Selbst, wer sich als gutsituierter Junggeselle dem Müßiggang verschreibt, niemandem zur Last fällt, nichts Feindliches gegen seine Mitmenschen unternimmt, handelt nicht wertneutral. So könnte z. B. sein Talent, würde er ein anderes Leben wählen, auf vielfache Weise der Mitwelt zugute kommen; ferner kann seine gewählte Lebensform mehr als jede andere sich gesundheitsschädlich auswirken und auf die Dauer 24
Vgl. Kraft (s. Anm. 19) 117.
12.3 Primäre und sekundäre Normen
199
sogar belastend für seine Mitwelt werden. Beispiele dieser Art lassen sich beliebig aufzählen, und es wird sich immer wieder zeigen, daß es letztlich in bezug auf die Mitwelt keine indifferenten Handlungen gibt. Denn jede Handlung, die man setzt, greift direkt oder indirekt in das Handlungsgeschehen der Mitmenschen ein und bestimmt somit auch ihre Handlungsfreiheit. Wer sich z. B. entschließt, ein Musikinstrument zu erlernen und folglich darauf auch üben wird (eine an sich indifferente Handlung), wird damit zweifelsohne auch seine Nachbarn belasten. Heißt das nun, daß sich die Handlungsfreiheit selbst aufhebt, weil die Folgen jeder Handlung mehr oder weniger in die Lebensgestaltung der Mitmenschen eingreifen und auf diese Weise sich auch auf ihre Handlungsfreiheit auswirken? Die Antwort ist bereits durch das "mehr oder weniger" vorgegeben; selbst wenn dies kein scharfes Kriterium der Abgrenzung ist, so läßt sich daraus doch ableiten, daß, je weniger man durch seine Handlungen die Freiheit des anderen einschränkt, desto mehr Chancen für den anderen bestehen, sich zu verwirklichen. Dies gilt aber auch umgekehrt und ebenso für den Staat in Beziehung zu seinen Bürgern, wenn er durch Gesetze und Normen die Handlungsfreiheit der Individuen einschränkt. Eine Reflexion auf das Subsidiaritätsprinzip wird sich auch hier als nützlich erweisen. Die Notwendigkeit der Verwirklichung des dritten Strebenszieles, der gegenseitigen Hilfe, ergibt sich daraus, daß der einzelne nicht imstande ist, aus eigener Kraft seine Bedürfnisse, implizit auch sein Bedürfnis nach Sinn, zu erfüllen. Die formale Bedingung (die primäre Norm) zur Verwirklichung dieses Zieles lautet deshalb: den anderen bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse zu helfen, soweit dies möglich ist. 25 Diese Forderung läßt für ihre Konkretisierung als sekundäre Normen eine Fülle von Möglichkeiten offen, verlangt aber weder eine totale Selbstaufopferung für den anderen, noch hebt sie dessen Eigeninitiative auf. Auch im Sinne Humboldts und des Subsidiaritätsprinzips soll, trotz gegenseitiger Hilfe, die Eigentätigkeit des Individuums gewahrt bleiben. Nach Humboldt liegt sogar soziale Hilfe für das Wohl der Bürger außerhalb der Wirksamkeit des Staates, weil zu befürchten ist, daß ein Wohlfahrtsstaat die Bürger unmündig und träge macht (vgl. Kap. 7). Die Kritik an Humboldt hat jedoch gezeigt, daß ein recht verstandener Wohlfahrtsstaat keineswegs zu einem Versorgungsstaat werden muß, der eine Totalreglementierung über seine Bürger ausübt. Auch diesbezüglich, in der Frage nach dem rechten Verhältnis zwischen Eigeninitiative und Hilfe von außen, wird das Subsidiaritätsprinzip entscheidende Anregungen zu geben vermögen. Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich, daß menschliche Selbstverwirklichung zunächst durch die Verwirklichung der primären Strebensziele bedingt ist, diese wiederum sind in ihrer Verwirklichung durch die Erfül25
Ebd.118.
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12 Bedingungen menschlicher Selbstverwirklichung
lung der primären und sekundären Normen bedingt. Das heißt, die sekundären Normen als konkrete Handlungsanweisungen sind Bedingung für die Erfüllung der primären Normen; die Erfüllung der primären Normen erweist sich als formale Bedingung für die Verwirklichung der primären Strebensziele; und die Verwirklichung der primären Strebensziele ist schließlich Bedingung für die menschliche Selbstverwirklichung. Was aber letztlich die ganze Bedingungskette bedingt, d. h. was menschliche Selbstverwirklichung letztendlich notwendig macht, ist der Urbesitz der Person als körperlich-geistige Einheit. Diese Einheit ist aber wesentlich eine lebendige, d. h. eine dynamische Einheit, die auf die Verwirklichung ihrer Dynamik hingeordnet ist und sofort aufhörte zu existieren, würde man sie auch nur für kurze Zeit stillegen. Der Anspruch auf Verwirklichung dieser Dynamik ist mit ihrer Existenz mitgesetzt. Hier läßt sich nicht mehr weiterfragen, ob der Mensch zu Recht diesen Anspruch besitzt oder nicht, das wäre gleichbedeutend, wie zu fragen, ob der Mensch zu Recht Mensch ist. Bereits im Augenblick seiner Existenz ist der Mensch als körperlich-geistige Einheit auf die Verwirklichung seiner Dynamik angelegt. Kein anderer Mensch hat das Recht, ihm diesen Anspruch auf Verwirklichung zu- oder abzusprechen. Bei allem, was der Mensch sonst noch hat (Besitz, gesellschaftliche Position, Ehre u. dgl.), könnte man sich fragen, ob ihm dies zu Recht zukommt; doch beim Urbesitz der Person läßt sich diese Frage nicht mehr stellen, weil der Mensch nur als diese Einheit Mensch ist. Insofern er diese Einheit selbst ist, ist sie sein ursprünglichster Besitz. Da aber diese Einheit nur als dynamische Einheit existiert, ist auch der Anspruch auf deren Verwirklichung mit dem Urbesitz der Person mitgesetzt. Über die Berechtigung des Anspruchs ist nicht zu reflektieren, wohl aber, wie man diesem Anspruch am ehesten gerecht werden kann. Und auch hier scheint sich das Subsidiaritätsprinzip als eine mögliche Hilfe anzubieten.
13 Das Subsidiaritätsprinzip Ein Vergleich zwischen Humboldts Schrift von den Grenzen der Wirksamkeit des Staates und dem Subsidiaritätsprinzip, wie es uns seit der Veröffentlichung der Enzyklika "Quadragesimo anno" von Papst Pius XI. bekannt ist, mag auf den ersten Blick allein schon wegen des Zeitunterschiedes von beinahe 140 Jahren und des verschiedenen geistigen Hintergrundes (Aufklärung, Liberalismus auf der einen und scholastisches Naturrechtsdenken auf der anderen Seite) befremdend wirken; eine nähere Betrachtung läßt aber Gemeinsamkeiten erkennen, denn das Hauptanliegen beider Schriften besteht darin, die Interessen und die Eigenständigkeit des Individuums, kleinerer Gruppen und Gemeinschaften vor übermächtigen Institutionen zu wahren und zu schützen. War es zur Zeit Humboldts (1792) ein despotischer Staat, der alle Macht auf sich vereinigte und dem Individuum so gut wie kein Recht zugestand, so drohte zur Zeit der Abfassung der Enzyklika (1931) dem einzelnen Gefahr von den damals in Europa immer stärker aufkommenden politischen Strömungen wie der des Faschismus, des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Das heißt, auch wenn die beiden Schriften aus verschiedenen Zeitumständen entstanden sind und sich auch in manchen Belangen voneinander unterscheiden, so verbindet sie doch ein gemeinsames Anliegen, nämlich die Freiheit und Würde des Individuums zu schützen. Dabei ist aber nicht zu übersehen, daß sich mit der Veröffentlichung von "Quadragesimo anno" auch innerhalb der katholischen Gesellschaftslehre eine Wende vollzog, die fortan den "untergeordneten Gemeinwesen" im Hinblick auf die Legitimität von Handlungen mehr Rechte einräumte. Den übergeordneten Instanzen sollte es künftig - gemäß dem Grundsatz: "Omne agens agendo perficitur" - verwehrt sein, Aufgaben zu übernehmen, die der einzelne oder kleinere Gruppen (Gemeinden, Verbände) selbst erfüllen können.
13.1 Inhalt und Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips Wie die verschiedensten Untersuchungen zeigen, läßt sich das Subsidiaritätsprinzip seinem Inhalt und seiner Bedeutung nach schon in früheren Dokumenten nachweisen, selbst wenn es erst im Jahre 1931 explizit formuliert wurde. Als eine der ältesten Quellen dafür darf wohl jene Stelle im Alten Testament angesehen werden, in der Jetro, der Schwiegervater Moses, diesem folgenden Rat gibt: "Das ist nicht gut, wie du es machst. Du reibst dich und die Leute da bei dir auf. Die Sache ist zu schwer für dich, du
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13 Das Subsidiaritätsprinzip
kannst sie nicht allein bewältigen. Nun höre auf meine Stimme, ich will dir einen guten Rat geben, und Gott wird mit dir sein. Vertritt du das Volk vor Gott und bringe du ihre Angelegenheiten vor Gott. Belehre sie ferner über die Gebote und Weisungen und zeige ihnen den Weg, den sie gehen, und die Werke, die sie tun sollen. Suche dir aber aus dem ganzen Volk tüchtige, gottesfürchtige und vertrauenswürdige Männer aus, die Gewinn (aus Bestechung) verabscheuen, und bestelle sie zu Vorstehern über tausend, über hundert, über fünfzig und zehn. Sie sollen dem Volk jederzeit Recht sprechen. Nur die wichtigen Fälle aber sollen dir vorgelegt werden; alle minder wichtigen Fälle aber sollen sie selbst entscheiden. Entlaste dich auf diese Weise! Laß sie mit dir die Last tragen! Wenn du es so tust und wenn Gott es dir gebietet, so kannst du dabei bestehen, und auch alle diese Leute werden in Frieden heimkehren können." 1 Daß das Subsidiaritätsprinzip aber nicht nur im religiösen Bereich beheimatet ist, beweisen auch noch andere Dokumente im europäischen und außereuropäischen Raum, so z. B. die Schrift "Monarchia" von Dante, wo es heißt, daß nicht jede kleine Angelegenheit einer jeden Stadt durch den Kaiser entschieden werden darf, da Nationen, Königreiche und Städte ihre je unterschiedlichen Eigentümlichkeiten haben, die in besonderen Gesetzen zu berücksichtigen sind. 2 Außerhalb Europas ist vor allem Abraham Lincoln, der Präsident der USA (1861 - 1865), als ein Vertreter des Subsidiaritätsprinzips zu nennen, der schon Jahre vor seinem Regierungsantritt (1854) folgende Gedanken äußerte: "Die Regierung hat für die Bevölkerung das zu besorgen, wonach die Menschen ein Bedürfnis haben, was sie aber selbst nicht tun können oder doch, auf sich selbst gestellt, nicht ebenso gut tun können. In all das, was die Menschen ebenso gut tun können, hat die Regierung sich nicht einzumischen. "3 Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sind es in Deutschland vorwiegend die Namen A. Müller, F. v. Baader und F. Schlegel, die insofern mit dem Subsidiaritätsprinzip in Verbindung gebracht werden können, als für sie der Aufbau der sozialen Lebensordnung 1 Ex. 18, 18 - 23. Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel. Hrsg. v. D. Arenhoevel, A. Deissler und A. Vögtle. Freiburg 1972. - Vgl. dazu auch: L. Schneider, Subsidiäre Gesellschaft. Implikative und analoge Aspekte eines Sozial prinzips (Abhandlungen zur Sozialethik Bd. 24). Paderborn 1983, 18. 2 Vgl. Dante Alighieri, De Monarchia I, Cap. 14, 20 - 30: "Propter quod advertendum sane, quod, quum dicitur, humanum genus potest regi per unum supremum Principem, non sic intelligendum est, ut minima iudicia cuiuscumque municipii ab illo uno immediate prodire possint; quum etiam leges municipales quandoque deficiant, et opus habeant directivo, ut patet per Philosophum in quinta ad Nicomachum, EJtLELKELUV commendantem. Habent namque nationes, regna, et civitates, inter se proprietates, quas legibus differentibus regulari oportet." 3 "The legitimate object of government is to do for a community of people whatever they need to have done but cannot do at all, or cannot so well do for themselves in their separate and individual capacities. In all that the people can individually do as well for themselves, government ought not to interfere. " Zitiert nach O. v. Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft (Herder 315). Freiburg 1968, 88.
13.1 Inhalt und Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips
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nicht vordergründig in der Organisation äußerer Zweckmäßigkeiten besteht, sondern in der Sicherung der Freiheit und Würde der Person sowie in der Entfaltung aller menschlichen Werte. 4 Doch als unmittelbare Vorläufer des Subsidiaritätsprinzips in "Quadragesimo anno" müssen Bischof Ketteler (1811 - 1877), Heinrich Pesch (1854 - 1926) und der in Sozialfragen einflußreiche Berater Papst Pius XI., nämlich Gustav Gundlach (18921963), genannt werden, von dem auch der Name und die heute gebräuchliche Formulierung des Subsidiaritätsprinzips stammen. 5 Nicht zu übersehen im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip sind aber auch die vorbereitenden Gedanken von Papst Leo XIII. in seiner Enzyklika "Rerum novarum" (1891), wo es in Abs. 11 heißt: "Mithin ist es ein gewaltiger und verderblicher Irrtum, zu fordern, daß das Gutdünken der staatlichen Gewalt bis ins Innerste von Haus und Heim regiert. Allerdings, wenn eine Familie sich in schwerster Bedrängnis und Ratlosigkeit befände, aus der sie sich in keiner Weise mit eigener Kraft befreien kann, dann ist es gewiß am Platze, daß das Gemeinwesen diesem äußersten Notstand abhilft; denn die Familie ist ein Teil des Staates. Ebenso soll der Staat eingreifen und jedem sein Recht sichern, wenn etwa innerhalb der häuslichen Gemeinschaft eine heillose Verwirrung der gegenseitigen Rechte eingetreten wäre. Aber dies geschieht dann vom Staate aus nicht, um sich Rechte seiner Bürger anzueignen, sondern um diese Rechte durch berechtigte und pflichtschuldige Schutzmaßnahmen sicherzustellen. So weit und nicht weiter können die Träger der Staatsgewalt gehen; es ist die Natur, die ihnen diese Grenzen setzt. "6 Von profaner Seite hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem der Staatstheoretiker Georg Jellinek für das Subsidiaritätsprinzip eingesetzt, wenn er schreibt, daß es im Interesse der Staaten liegen müsse, "die Selbstbetätigung der Individuen und der Verbände in erster Linie wirken zu lassen und nur dort mit ihrer Herrschaft und ihren Machtmitteln verwaltend einzugreifen, wo Individuum und Verband mit ihren Mitteln nicht ausreichen"7. Wie die angeführten Quellen zeigen, war ein Wissen um das Subsidiaritätsprinzip bereits vorhanden, ehe es Papst Pius XI. in seiner Enzyklika "Quadragesimo anno" ausdrücklich formulierte: "Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, daß unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muß 4 Vgl. F. A. Westphalen, Die Renaissance der konservativen Idee. In: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft. Hrsg. v. J. Höffner u. a. (Festschrift Johannes Messner zur Vollendung seines 70. Lebensjahres). Innsbruck 1961, 86f. 5 Vgl. O. v. Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit, Grundzüge katholischer Soziallehre. Hrsg. v. d. katholischen Sozialakademie Österreichs. Wien 1980, 49. Ebenso: O. v. Nell-Breuning, Subsidiaritätsprinzip. In: Staatslexikon. Bd. VII. Freiburg 61962, 826. 6 Zitiert nach: Die sozialen Rundschreiben Leo XIII. und Pius XI. Hrsg. v. G. Gundlach. Paderborn 31960, 13f. (Abs. 11). 7 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte. Tübingen 21919, 294.
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13 Das Subsidiaritätsprinzip
doch allzeit unverrückbar jener oberste sozial philosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen. "8 Da aber die deutsche Übersetzung der lateinischen Fassung nicht gleichkommt, ist es ratsam, auch den lateinischen Text anzuführen: "Nam etsi verum est, idque historia luculenter ostendit, ob mutatas rerum condiciones multa nunc non ni si a magnis consociationibus posse praestari, quae superiore aetate a parvis etiam praebebantur, fixum tamen immotumque manet in philosophia sociali gravissimum illud principium quod neque moveri neque mutari potest: sicut quae a singularibus hominibus proprio marte et propria industria possunt perfici, nefas est eis dem eripere et communitati dem andare, ita quae a minoribus et inferioribus communitatibus effici praestarique possunt, ea ad maiorem et altiorem societatem avocare iniuria est simulque grave damnum' ac recti ordinis perturbatio; cum socialis quaevis opera vi naturaque sua subsidium afferre membris corporis socialis debeat, numquam vero eadem destruere et absorbere."9 Ein Zurückgreifen auf den lateinischen Text ist schon deshalb erforderlich, weil sich das in unserer Sprache gebräuchliche Fremdwort "subsidiär" vom lateinischen Wort "subsidium" ableitet, dessen ursprüngliche Bedeutung im militärischen Bereich liegt und die im Rücken zurückbleibende Hilfe (Rückhalt, Reservetruppe) meint: Als weitere Übersetzungsmöglichkeit für das lateinische Wort "subsidium" stehen dann in den Wörterbüchern ganz allgemein die Begriffe "Beistand" und "Hilfe". O. v. NellBreuning ist der Ansicht, daß mit unserem Fremdwort "subsidiär" ein Mißbrauch getrieben wird, mit dem es gelingt, den Sinn des Subsidiaritätsprinzips geradezu auf den Kopf zu stellen. Denn wenn man heute von "subsidiär" oder "Subsidien" spricht, dann denkt man an "hilfsweise" im Sinne von "ersatzweise" oder an Hilfsgelder, Beihilfezahlungen u. dgl., während die ursprüngliche Bedeutung von "subsidium" als Hilfe immer mehr in Vergessenheit gerät. "So nimmt ,hilfsweise' den Sinn an von ,ersatzweise'. Ersatz ist [aber] weniger gut als das, was er ersetzen soll. "10 Zum Ersatz, zur Zitiert nach: Die sozialen Rundschreiben (s. Anm. 6) 113 (Abs. 79). Ebd.112. 10 O. v. Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft (s. Anm. 3) 91.
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13.1 Inhalt und Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips
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Aushilfe oder Notbehelf greift man nur dann, wenn "die richtige Hilfe, das an sich geeignete oder passende Hilfsmittel nicht zu Gebote steht" 11. Aber noch ein zweiter Grund läßt eine Gegenüberstellung der beiden Texte, des lateinischen und des deutschen, für notwendig erscheinen. So stellt sich nämlich die Frage, ob die lateinische Formulierung "gravissimum illud principium" im Deutschen mit "jenem obersten Grundsatz" wiedergegeben werden darf, wie es in zahlreichen Übersetzungen der Fall ist, oder nur mit "jenem höchst gewichtigen Grundsatz". Eine Klärung dieser Frage ist nicht unbedeutend, zumal bei der ersten Übersetzungsweise das Sub sidiaritätsprinzip über jedem anderen Sozial prinzip stünde, z. B. auch über dem der Solidarität, während die Übersetzung mit "höchst gewichtig" zwar an der Wichtigkeit und Bedeutsamkeit des Subsidiaritätsprinzips festhält, aber noch nichts über die Rangordnung anderer Sozialprinzipien aussagt. Als eine klärende Stellungnahme dazu kann die von J. David angesehen werden, in der es heißt: "Wer den kurialen Stil [der Enzyklika] kennt und weiß, daß hier erregt gegen den drohenden Faschismus polemisiert wird, wer sich überdies vor Augen hält, daß der lateinische Superlativ nicht nur das Maximum, sondern einfach einen hohen Grad bedeutet, der wird nicht gleich den obersten, auch nicht den schwerstwiegenden, sondern nur einen sehr gewichtigen - unter den gegebenen Umständen -, ,äußerst bedeutsamen und ernsten' Grundsatz der Sozialphilosophie darin sehen. Ferner: während der deutsche Text behauptet, jedwede Gesellschaftstätigkeit sei ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär, drückt sich der lateinische nicht minder kräftig, aber viel bescheidener und viel genauer dahin aus: 'Socialis quaevis opera vi naturaque sua subsidium afferre membris corporis socialis debeat', das heißt: ,Jedwede Gesellschaftstätigkeit hat aus ihrer Natur heraus die Bestimmung, den Gliedern des Gesellschaftskörpers Hilfe zu bringen.' Das tönt nur freilich anders, als so viele eifrige Benützer (nicht Verfechter) des Subsidiaritätsprinzips es interpretieren. "12 Damit ist auch schon angedeutet, daß das Subsidiaritätsprinzip nicht nur in einem negativ-abgrenzenden Sinne als Nichteinmischung der größeren Gemeinschaft (Gesellschaft, des Staates) in die Belange der kleineren Gemeinschaften und Individuen angesehen werden darf, sondern auch in einem positiv-auffordernden Sinne zu interpretieren ist, nämlich - der ursprünglichen Bedeutung von subsidium entsprechend - als Hilfe zur Bewältigung jener Aufgaben, die vom einzelnen und von den "kleineren Gemeinwesen", auf sich allein gestellt, nicht oder nur mangelhaft erfüllt werden können. Was dies heißt, soll im folgenden verdeutlicht werden.
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Ebd.
J. David, Streit um das Subsidiaritätsprinzip. In: Orientierung 21 (1957) 15.
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13 Das Subsidiaritätsprinzip
13.2 Der dreifache Aspekt des Subsidiaritätsprinzips Der Hauptteil des Textes (Abs. 79) von "Quadragesimo anno" bezieht sich auf eine Nichteinmischung der "übergeordneten Gemeinschaft" (Gesellschaft, Staat) in die Belange der "untergeordneten Gemeinwesen" und Individuen. Damit rückt die Enzyklika unverkennbar in die Nähe der Humboldtschen "Ideen", wonach es dem Staat ebenfalls verwehrt bleibt, in jenen Bereichen wirksam zu werden, in denen Individuen und freiwillig geschaffene Verbände ("Nationalanstalten") zur Wahrung ihrer Interessen eigentätig sein können. Daß auch der Verfasser der Enzyklika vordergründig an den Staat denkt, wenn er von "übergeordneter Gemeinschaft" spricht, kommt im folgenden Absatz (80) deutlich zum Ausdruck, wo es heißt: "Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung von wichtigeren Aufgaben führen müßten, soll die Staatsgewalt also den kleineren Gemeinwesen überlassen. Sie selbst steht dadurch nur um so freier, stärker und schlagfertiger da für diejenigen Aufgaben, die in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, weil sie allein ihnen gewachsen ist: durch Leitung, Überwachung, Nachdruck und Zügelung, je nach Umständen und Erfordernis. Darum mögen die staatlichen Machthaber sich überzeugt halten: je besser durch strenge Beobachtung des Prinzips der Subsidiarität die Stufenordnung der verschiedenen Vergesellschaftungen innegehalten wird, um so stärker stehen gesellschaftliche Autorität und gesellschaftliche Wirkkraft da, um so besser und glücklicher ist es auch um den Staat bestellt." Neu in diesem Passus gegenüber dem vorhergehenden ist, daß nicht nur die Interessen der "kleineren Gemeinwesen" und Individuen wahrgenommen werden, sondern ebenso die des Staates, ja diesem sogar Freiheit, Stärke und Schlagfertigkeit in Aussicht gestellt werden, sofern er sich nur auf die eigenen, ihm zugedachten Aufgaben beschränkt. Auch diese Überlegung deckt sich weitgehend mit der Humboldts, der sich ebenfalls, zumindest was die innere und äußere Sicherheit seiner Bürger betrifft, für einen starken Staat ausspricht und ihm diesbezüglich sogar absolute Macht zuerkennt. Damit sind zwei Aspekte des Subsidiaritätsprinzips genannt, die zum einen die Interessen der Individuen und "untergeordneten Gemeinwesen" berücksichtigen und zum anderen die des Staates. Gegenüber der Humboldtschen Schrift weist das Subsidiaritätsprinzip jedoch noch einen dritten Aspekt auf, der sich zwar ebenfalls auf die Interessen der Individuen und "untergeordneten Gemeinwesen" bezieht, aber nun nicht mehr in Abgrenzung gegen den Staat, sondern unter Inanspruchnahme seiner Hilfe für die Erfüllung jener Aufgaben, die ihre Kräfte übersteigen. Dieser Gedanke kommt im Text der Enzyklika vor allem in den Schlußsätzen von Abs. 79 zum Ausdruck: "Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie &Oll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen." Zwar vertritt auch
13.2 Der dreifache Aspekt des Subsidiaritätsprinzips
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Humboldt die Ansicht, daß die Gesellschaft (der Staat) für den Menschen da ist und nicht umgekehrt, doch werden von ihm - wie sich bereits gezeigt hat - alle Hilfeleistungen des Staates an den Bürger, außer in Fragen der inneren und äußeren Sicherheit, entschieden zurückgewiesen. Daß Humboldt diesbezüglich dem Individuum und auch den Gemeinschaften und Interessenverbänden zuviel zumutet, ist offensichtlich und wurde auch in dieser Arbeit wiederholt kritisiert. Auch fehlt in seiner Schrift weitgehend eine philosophische Begründung für sein Menschenbild, aus der sich Bedingungen menschlicher Selbstverwirklichung (vgl. Kap. 12) ableiten ließen. Der Vorwurf einer mangelhaften philosophischen Begründung trifft aber auch den Verfasser der Enzyklika, denn es wird zur Begründung des Subsidiaritätsprinzips lediglich von einem Verstoß gegen die Gerechtigkeit gesprochen, wenn "das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können", von der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft in Anspruch"13 genommen wird. Was aber Gerechtigkeit bedeutet, bleibt offen, ebenso die Antwort auf die Frage, warum "jedwede Gesellschaftstätigkeit ... ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär" 14 ist. Zweifellos steht aber hinter diesen Aussagen - wenn auch nicht ausdrücklich formuliert - eine Begründung aus dem Begriff der Person, der in der Tradition christlichen Denkens mehr besagt als der des Individuums. So denkt man, wenn man von Person spricht, vor allem an ein Wesen, das mit Selbstbewußtsein und Selbstverfügung ausgestattet ist. "Person bedeutet, daß ich in meinem Selbstsein letztlich von keiner anderen Instanz besessen werden kann, sondern mir gehöre. Ich kann zu einer Zeit leben, in der es die Sklaverei gibt, also ein Mensch einen anderen kauft und über ihn verfügt. Diese Macht übt der Kaufende aber nicht über die Person, sondern über das psychophysische Wesen - und auch das unter einer falschen Kategorie, nämlich so, daß er es dem Tier angleicht. Die Person selbst entzieht sich dem Eigentumsverhältnis. Person bedeutet, daß ich von keinem anderen gebraucht werden kann, sondern Selbstzweck bin. "15 Oder wie Klüber formuliert: "Person als Existenz einer geistigen Natur meint den Selbstand eines Wesens, das den Sinn seines Daseins in sich trägt und ihn nicht etwa von außen her empfängt ... [Dem Menschen] ist das Dasein als Person gegeben, damit er frei über sich selbst verfüge, selbst seinen Weg bestimme und nicht, wie die untermenschliche Schöpfung, mit naturgesetzlicher Notwendigkeit, sondern in Freiheit seinen Daseinssinn erfülle. "16 13 "Quadragesimo anno", Abs. 79. 14 Ebd. 15 R. Guardini, Welt und Person. Versuche zur christlichen Lehre vom Menschen. Würzburg 31950, 93f. 16 F. Klüber, Naturrecht als Ordnungsnorm der Gesellschaft. Köln 1966, 55 f.
208
13 Das Subsidiaritätsprinzip
Es ist offensichtlich, daß im Begriff Person - vor allem nach der klassischen Definition von Boethius ("Persona est naturae rationalis individua substantia"17) - das den Menschen von allen anderen Lebewesen Unterscheidende, nämlich seine Geistnatur ("rationalis natura") und sein Selbstand als Einzelsubstanz ("individua substantia"), stärker zum Ausdruck kommt als im Begriff Individuum. Wenn jedoch im Kapitel 11 dennoch der Begriff Individuum anstelle des Begriffs Person verwendet wurde, dann erstens in Anlehnung an Humboldt, der in seinen " Ideen " niemals von Person, sondern nur von Individuum oder Persönlichkeit sprichtl B, und zweitens, weil auch der Begriff der Person, weder in seiner Intension noch in seiner Extension, eindeutig festgelegt ist, d.h. sich nicht allein auf den Menschen bezieht, sondern auch auf Gott und andere Lebewesen. So definiert z. B. W. Stern, der Begründer des psychologischen Personalismus, Person als "eine individuelle, eigenartige Ganzheit, welche zielstrebig wirkt, selbstbezogen und weltoffen ist, lebt und erlebt"19. Diesen Personbegriff läßt Stern auch für die Tierwelt gelten, allerdings in der eingeschränkten Form als "Vitalperson".2o Man mag zwar Stern den Vorwurf machen, daß er sich damit gegen den herkömmlichen Sprachgebrauch richtet, man kann ihm aber nicht verbieten, einen Begriff in einer ganz spezifischen Bedeutung in einen sprachlichen Kontext einzuführen. Das gibt auch Humboldt und dem Verfasser dieser Arbeit das Recht, den Begriff Individuum nur für den Menschen gelten zu lassen, und zwar in derselben Bedeutung wie Person, nämlich als Selbstzweck ("Zweck an sich"), dem unantastbare Würde und Eigenwert zukommen, die von jedem einzelnen und auch von jeder übergeordneten Institution (Gesellschaft, Staat) zu respektieren sind. Das heißt, es lassen sich aus beiden Begriffen, sowohl aus dem der Person als auch dem des Individuums, Grenzen der staatlichen Wirksamkeit ableiten. Es bedurfte jedoch auch in unserem abendländischen Kulturkreis eines langen Entwicklungsprozesses, ehe das Individuum nicht nur als Individuum, sondern auch jedes Individuum (Person) in seinem Eigenwert und mit seinem Rechtsanspruch (aufgrund seiner Menschenrechte) anerkannt wurde. So begegnet uns in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters und auch der frühen Neuzeit der Einzelmensch noch nicht als Individuum mit einem eigenen Rechtsanspruch, sondern nur als Glied innerhalb eines Standes, dem mehr oder weniger oder gar keine Rechte zugestanden wurden. Erst durch die Revolutionen im 18. Jahrhundert, auf dem Hintergrund der Ideen der Aufklärung, kam es zur großen Wende, die den Menschen als Men17 Boethius, De persona et duabus naturis, C 3.
18 Auch C. Menze stellt in seiner Arbeit: "Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen" fest, daß der Begriff Person in Humboldts Werk in zentralen Zusammenhängen nicht vorkommt. Ratingen bei Düsseldorf 1965, 118. 19 W. Stern, Allgemeine Psychologie. Haag 21950,98. 20 Ebd.116.
13.2 Der dreifache Aspekt des Subsidiaritätsprinzips
209
sehen, ganz gleich welchen Geschlechts und welcher Rasse, als Träger von Rechten anerkannte. Diese Wende zu einem individualistischen Recht des Menschen, unabhängig von Geburt, Stand und Nation, ist ohne den Einfluß des Christentums, speziell der Lehre von der Gleichheit aller Menschen vor Gott, kaum denkbar, wenngleich "der Gleichheitsgedanke des modernen Naturrechts, der bis heute in den Grundrechten wirkt, nicht mehr auf der Gleichheit der Menschen vor Gott, sondern wesentlich auf seiner biologischen, seiner kreatürlichen Artgleichheit"21 beruht. Man geht aber in der Annahme nicht fehl, daß beide Lehren, sowohl die der Aufklärung (und in deren Gefolgschaft auch die von Humboldt) als auch die des Christentums (wobei von großer Bedeutung die Lehren der Sozialenzykliken sind), das Wissen von einem angeborenen, vorstaatlichen Recht des Individuums vermittelten, aus dem sich ein Anspruchsrecht gegenüber dem Staat ableiten läßt, wie es z. B. im Subsidiaritätsprinzip der Fall ist. Aus dem Recht auf Selbstbestimmung des Individuums (Person) als "Zweck an sich" ergibt sich als erster Aspekt des Subsidiaritätsprinzips, daß der Staat nicht beliebig in dessen Bereiche eingreifen darf. Da die Menschenrechte dem Menschen als Menschen zukommen, d. h. als Bedingung seines Menschseins mitgesetzt sind 22 , kann der Staat über sie nicht verfügen, sondern sie nur anerkennen oder mißachten. Welche Stellung der Staat aber zu den Menschenrechten einnimmt, ist für das Individuum nicht unbedeutend, denn ohne staatliche Anerkennung sind auch die elementaren Rechte des Menschen nur sittliche Forderungen. "Sie sind nur (natur- oder vernunftrechtlich) legitimierte Ansprüche des Menschen, die - in Ermangelung staatlicher Gewährleistung - den politisch ohnmächtigen Status von Ideen und Hoffnungen, von Appellen und Postulaten, von Proklamationen und Deklamationen haben, einen Status also, dem die geschichtlich-politische Realität noch fehlt. Werden die Menschenrechte dagegen von einer positiven Rechtsordnung, von einem Staat, gewährleistet und geschützt, werden sie zum festen Bestandteil des politischen Gemeinwesens, werden sie nicht bloß in Form von ,Toleranzen' anerkannt, sondern institutionell garantiert: dann erhalten sie den positivrechtlichen Status von Grundrechten oder von fundamentalen rechtsverbindlichen Organisationsprinzipien bzw. Staatszielbestimmungen. "23 Dem menschlichen Individuum seine Grundrechte zu garantieren als Voraussetzung zur Entfaltung seiner Persönlichkeit in Freiheit und Selbstverantwortung, ist ein erstes Anliegen des Subsidiaritätsprinzips; die philosophische 21 H. Maier, Grundwerte und Grundrechte. In: Werte, Rechte, Normen. Hrsg. v. A. Paus. Graz 1979, 106. 22 Vgl. dazu die Ableitung der primären und sekundären Normen in Kap. 12.3. Mit der Bejahung des menschlichen Seins muß auch das Recht des Menschen mitbejaht werden, die für die Verwirklichung seines Seins notwendigen Bedürfnisse zu erfüllen. Es wäre ein Widerspruch, menschliche Existenz zu bejahen, aber nicht das, was der Mensch braucht, um existieren zu können. 23 O. Höffe, Die Menschenrechte als Legitimation demokratischer Politik. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 26 (1979) 8.
14 Battisti
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13 Das Subsidiaritätsprinzip
Begründung dafür leistet der Begriff der Person mit seinen wesentlichen Merkmalen der Selbstbestimmung und Selbstverfügbarkeit als "Zweck an sich". Der zweite Aspekt des Subsidiaritätsprinzips, der von den meisten Autoren übersehen oder zuwenig berücksichtigt wird, auch wenn sie von einem "doppelten inhaltlichen Gehalt"24 oder von "zwei Seiten "25 dieses Prinzips sprechen, nimmt die Interessen des Staates wahr. So ist es ein großes Mißverständnis zu meinen, daß sich das Subsidiaritätsprinzip gegen den Staat richtet oder auf seine Schwächung abzielt, insofern es die Rechte der Individuen und der "kleineren Gemeinwesen" vertritt. Im Gegenteil, indem es den Staat auf seinen Aufgabenbereich einschränkt, d. h. auf jene Aufgaben verweist, die nur von ihm durchgeführt werden können, wie z. B. "Leitung, Überwachung, Nachdruck und [sogar) Zügelung"26 und des weiteren verlangt, "Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung von wichtigeren Aufgaben führen müßten"27, den Individuen und "kleineren Gemeinwesen" zu überlassen, anerkennt es voll und ganz den Staat in seiner Wirksamkeit und Notwendigkeit. Eine Schwächung des Staates käme vielmehr dadurch zustande, wenn er mit Aufgaben belastet würde, denen er nicht mehr gewachsen wäre. Das Subsidiaritätsprinzip bewahrt den Staat davor, sich in Angelegenheiten zu verlieren, die eine Vernachlässigung wichtiger Aufgaben mit sich bringen. Eine dem Staat durch das Subsidiaritätsprinzip auferlegte Beschränkung seiner Wirksamkeit bedeutet kein "Absterben des Staates", sondern ist Bedingung der Möglichkeit, daß der Staat seinen eigentlichen Zweck, nämlich im Dienste der Menschen zu stehen, erfüllen kann. Andernfalls verliert der Staat seine sittliche Legitimität, wenn er sich zum Selbstzweck erhebt. Denn Staatlichkeit ist nach dem Subsidiaritätsprinzip nur insofern legitim, als sie subsidiär ist. Das ist eine deutliche Absage an alle Theorien, die den Staat um seiner selbst willen bejahen. Ein dritter Aspekt des Subsidiaritätsprinzips ergibt sich daraus, daß das aus den Grundrechten (Menschenrechten) abgeleitete Anspruchsrecht des Individuums gegenüber dem Staat nicht nur eine Respektierung von Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Berufswahlfreiheit, freie Meinungsäußerung usw. bedeutet, sondern auch Unterstützung ("Hilfe") für die Erfüllung jener Aufgaben, die die Kräfte des Individuums und der "kleineren Gemeinwesen" übersteigen. In seinem ganzen Habitus ist der Mensch ein soziales Wesen, d. h. auf die Gemeinschaft, Gesellschaft (den Staat) hingeordnet. Aus der Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen leitet sich die Existenz24 K. Glaser, Das Subsidiaritätsprinzip und die Frage seiner Verbindlichkeit nach Verfassungs- und Naturrecht. Jur. Diss. Berlin 1965, 19. 25 Nell-Breuning (s. Anm. 3) 93. 26 "Quadragesimo anno", Abs. 80. 27 Ebd.
13.2 Der dreifache Aspekt des Subsidiaritätsprinzips
211
berechtigung des Staates ab. Das Subsidiaritätsprinzip versteht sich als ein Grundsatz, "der allgemein die Hinordnung der Gemeinschaft auf ihre Glieder als Personen ausspricht"28. Dies kommt deutlich in jenem Satz der Enzyklika zum Ausdruck, wo es heißt: "Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär. "29 Auch hier, in der Begründung dieser Aussage, wird wiederum, wenn auch unthematisch, auf den Begriff der Person zurückgegriffen, d. h. das Subsidiaritätsprinzip baut in seinem negativen (als Abgrenzung des Individuums gegenüber staatlicher Einmischung) wie in seinem positiven Aspekt (unter Inanspruchnahme staatlicher Hilfeleistung) auf der Menschenwürde der Einzelperson auf. Alle gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen müssen so strukturiert sein, daß sie dem Menschen die volle Entfaltung seines Wesens ermöglichen. Einen ähnlichen Gedanken äußert auch Humboldt, wenn er schreibt, daß der Staat so beschaffen sein müsse, "daß die mannigfaltigste Individualität, die originellste Selbständigkeit mit der gleichfalls mannigfaltigsten und innigsten Vereinigung mehrerer Menschen nebeneinander aufgestellt würde - ein Problem, welches nur die höchste Freiheit zu lösen vermag"30. Der Staat, die Gesellschaft werden in den Dienst der freien Entfaltung des Menschen gestellt. Demnach ist nicht der Staat (die Gesellschaft), sondern der Mensch letzter Zweck. Alle drei Aspekte des Subsidiaritätsprinzips lassen aber eine Fülle von Fragen offen, die vor allem die konkreten Implikationen betreffen, die sich aus diesem Prinzip ergeben. Was sind z. B. "Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung", deren Erledigung der Staat den Individuen und "kleineren Gemeinwesen" selbst überlassen soll? Oder an wen und unter welchen Voraussetzungen hat der Staat Hilfe zu leisten? Auch ist der Begriff Hilfe ("subsidium") selbst noch zu klären. Ferner stellt sich die Frage, ob dem einzelnen und den "kleineren Gemeinwesen" nur dann zu helfen ist, wenn ihre Handlungen auch das Gemeinwohl integrieren, oder auch dann, wenn sie nur auf das Eigenwohl abgestimmt sind. Vor allem ist auch die Frage zu klären, wann die Kräfte der Individuen und der "kleineren Gemeinwesen" unzureichend sind, so daß eine staatliche Hilfe für notwendig erscheint. Bereits diese wenigen Fragen deuten darauf hin, daß das Subsidiaritätsprinzip für die menschliche Sozialordnung nur dann ein brauchbares Prinzip sein kann, wenn es sich zumindest als Orientierungsrahmen für die Zuständigkeit der zu erfüllenden Pflichten und Aufgaben erweist.
28
29
30
14'
W. Bertrams, Vom Sinn des Subsidiaritätsgesetzes. In: Orientierung 21 (1957) 77. "Quadragesimo anno", Abs. 79. GS I, 235.
212
13 Das Subsidiaritätsprinzip
13.3 Das Subsidiaritätspriuzip als Zuständigkeitsregulativ Wie sich bisher gezeigt hat, besteht der spezifische Sinn des Subsidiaritätsprinzips darin, die Rechte der Individuen und der "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" gegenüber der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" (Gesellschaft, Staat) zu schützen und zu wahren. Dies geschieht zum einen in der Forderung nach größtmöglicher Freiheit für die Individuen und für die "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" bei der Ausübung ihrer Handlungen und zum anderen im Anspruch auf Hilfe seitens der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" bei Nichtbewältigung der zu erfüllenden Aufgaben. Offen bleibt bei diesen Forderungen zunächst das Kriterium der Kompetenzzuweisung, d. h. die Klärung der Frage, unter welchen Bedingungen und zu welchem Zweck einerseits die Individuen und die "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" eigentätig sein dürfen und sollen und wann und in welchem Ausmaß andererseits die "weitere und übergeordnete Gemeinschaft" diesen Hilfe zu leisten hat. Nell-Breuning versucht das im Subsidiaritätsprinzip enthaltene Zuständigkeitsregulativ in Form von Bedingungssätzen auszudrücken: "Wenn der Einzelmensch (die Gliedgemeinschaft) sich selbst helfen kann, darf die Gemeinschaft ihn (sie) nicht der Selbsthilfe entheben, indem sie ihre (Fremd-)Hilfe aufdrängt, denn in diesem Fall wäre das kein wirklich hilfreicher Beistand, sondern im Gegenteil eine Beeinträchtigung der Selbsttätigkeit; wenn dagegen der Einzelmensch (die Gliedgemeinschaft), auf sich allein gestellt, nicht imstande ist, sich selbst zu helfen, vielmehr damit überfordert wäre und daher auf die Hilfe der (übergeordneten) Gemeinschaft angewiesen ist, dann hat diese hilfreich einzuspringen, denn in diesem Fall ist dieses ihr Einspringen wirklich hilfreicher Beistand. "31 Aber auch diese in hypothetische Form gebrachte Aussage des Subsidiaritätsprinzips läßt noch Fragen offen; dessen ist sich auch Nell-Breuning bewußt, wenn er schreibt: "Ob das erste oder das zweite der beiden ,Wenn' erfüllt ist, das muß in jedem Fall, bevor die Gemeinschaftshilfe beansprucht oder geleistet wird, gewissenhaft geprüft werden. Hat diese Prüfung stattgefunden und steht ihr Ergebnis fest, dann ergibt sich aus dem Subsidiaritätsprinzip unmittelbar, ob die Gemeinschaftshilfe zu Recht beansprucht und zu Recht geleistet wird oder nicht. "32 Die Gewissensprüfung ist demnach von beiden Parteien, sowohl von den "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" als auch von der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" vorzunehmen, und zwar von jenen im Hinblick darauf, ob ihr Anspruch auf Hilfe gerechtfertigt ist, und von dieser bezüglich der Entscheidung, ob die zu leistende Hilfe auch wirklich notwendig ist. 31 32
Nell-Breuning (s. Anm. 3) 86.
Ebd.
13.3 Das Subsidiaritätsprinzip als Zuständigkeitsregulativ
213
Unbeantwortet bleibt in der Formulierung des Subsidiaritätsprinzips aber auch die Frage, wer zU entscheiden hat, ob einerseits der Anspruch auf Hilfe seitens der Individuen und der "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" und andererseits die zU leistende Hilfe seitens der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" berechtigt und notwendig ist oder nicht. Entscheidet nämlich die "weitere und übergeordnete Gemeinschaft" (Staat), "wann das Subsidiaritätsprinzip sein Tätigwerden erfordert und deckt, so bleibt seine Souveränität in dem hier zugrunde gelegten Sinne unangetastet; das Subsidiaritätsprinzip hat dann aber auch seinen Zweck verfehlt, die Souveränität zu überwinden. Entscheiden die einzelnen sozialen Einheiten selbst über ihre Zuständigkeit, so ist zwar dieser Zweck erreicht, bei der Unklarheit und Manipulierbarkeit des Subsidiaritätsprinzips dafür aber auch die Staatlichkeit aufgegeben, ,die Existenz und das Gedeihen von Gesamtheit und Einzelnen' zU sichern - und zwar unter allen Umständen zU sichern. Entscheidet eine andere Zentralgewalt als die des Staates, etwa eine kirchliche Lehrinstanz, so wird zwar das eine Ziel erreicht und das andere nicht verfehlt. Aber die Instanz, die nunmehr entscheidet, wird selbst souverän ... Die Souveränität bleibt in diesem Fall bestehen, nur ihr Träger ändert sich. "33 Es ist zweifelsohne das Hauptanliegen aller Befürworter des Subsidiaritätsprinzips, willkürliche Entscheidungen in Fragen der Kompetenzzuweisung zU vermeiden. Nell-Breuning ruft deshalb beide Parteien, das Individuum wie den Staat, zur Gewissensprüfung auf, nur sind aber auch Gewissensentscheidungen nicht unfehlbar, sondern lassen viele Handlungsmöglichkeiten offen. Als Orientierungsrahmen für ein im Sinne des Subsidiaritätsprinzips richtiges Handeln könnte der Begriff Hilfe dienen. Doch zuvor ist eine Begriffsbestimmung erforderlich, weil sich unter Hilfe Verschiedenes verstehen läßt: zum einen eine Unterstützung seitens Dritter, die erst dann gewährt wird, wenn der Hilfe-Bedürftige selbst unter Aufbietung aller seiner Kräfte und Ausschöpfung all seiner Möglichkeiten versucht hat, das erstrebte Ziel zU erreichen. Hilfe kann zum anderen aber auch bedeuten, schon früher initiativ zU werden, ohne dem Hilfe-Bedürftigen das äußerste seiner Kräfte abzuverlangen, z. B. in Form von Erleichterungen und Entlastungen, die den einzelnen sein angestrebtes Ziel schneller und sicherer erreichen lassen. Und schließlich läßt sich unter Hilfe auch die völlige Übernahme von Aufgaben durch andere verstehen, die vom Betroffenen bei mehr oder weniger Anstrengung selbst gelöst werden könnten. Unter diesem Vorwand von Hilfe kann es sogar so weit kommen, daß der einzelne selbst nicht mehr zum Handeln kommt und auch nicht mehr zU handeln braucht. Wer dies aber immer noch als Hilfe empfindet, übersieht, daß die Grenze zwischen totaler Entlastung (Versorgung) und Entmündigung des Individuums 33
422.
R. Herzog, Subsidiaritätsprinzip und Staatsverfassung. In: Der Staat 2 (1963)
214
13 Das Subsidiaritätsprinzip
fließend ist, d. h. daß bei Inanspruchnahme solcher Hilfe sich das menschliche Individuum in seinen es vor allen anderen Lebewesen auszeichnenden Charakteristika, wie Selbstbestimmung und Selbstverfügung, selbst aufgibt. Demnach kann Hilfe im eigenen Interesse des Individuums, nämlich seinen Selbstand zu wahren ("Zweck an sich zu sein"), nur Hilfe in den beiden erstgenannten Fällen bedeuten. Eine andere Vorstellung von Hilfe ist nicht zu rechtfertigen. Nell-Breuning meint dazu: "Die heute weitverbreitete Haltung, in jeder Schwierigkeit oder Verlegenheit nach Fremdhilfe, insbesondere nach Staatshilfe, zu schreien, verstößt gegen das Subsidiaritätsprinzip. Der Staat, der sich dazu hergibt, solchen Anforderungen nachzukommen, ja - namentlich in Wahljahren - sogar ungebeten Milliardenbeträge an Hilfeleistungen dieser Art ausstellt oder doch verspricht, verfehlt sich noch viel schwerer. "34 Das Individuum wie der Staat verletzen die Grundbestimmung menschlichen Seins, wenn sie in diesem Sinne Hilfe fordern bzw.leisten; das Individuum insofern, als es sich bei einer Totalversorgung in Abhängigkeit setzt und somit seine Selbstbestimmung aufgibt, und der Staat, indem er die Individuen unfähig macht, selbst zu entscheiden und somit ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung und ihren Eigenwert mißachtet. Dadurch wird das Individuum zu einem beliebigen, auswechselbaren Wesen gemacht. Hilfe kann demnach nur Hilfe zur Selbsthilfe bedeuten; so bleibt die Eigenständigkeit der Individuen gewahrt, und auch der Staat anerkennt sich in seiner ihm zugewiesenen Funktion, für die Menschen da zu sein. Hilfe zur Selbsthilfe setzt Eigeninitiative der Individuen voraus und bestätigt sie in ihrer Selbstbestimmung. Das heißt, Hilfe zur Selbsthilfe impliziert, daß sich die Individuen zum Teil auch selbst helfen können und wollen und nur für jene Aufgaben Hilfe fordern und bekommen, die sie nicht oder nicht ebenso gut erfüllen können wie die "weitere und übergeordnete Gemeinschaft". Mit der Bestimmung des Begriffs Hilfe als Hilfe zur Selbsthilfe ist auch ein Abgrenzungskriterium für die Wirksamkeit des Staates gesetzt, denn je mehr Aufgaben er übernimmt, die von den Individuen und "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" erfüllt werden können, desto mehr schränkt er die Selbsthilfe und damit auch ihre Selbstbestimmung ein. Eine völlige Übernahme aller vom einzelnen zu erfüllenden Aufgaben durch den Staat zerstört die Selbsthilfe vollends. Dagegen richtet sich vor allem der Schlußsatz von Abs. 79 der Enzyklika "Quadragesimo anno", wo es heißt: "Jedwede Gesellschaftstätigkeit ... soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen." Dies wäre der Fall, wenn Hilfe die eigenen Fähigkeiten verkümmern ließe und zur vollkommenen Abhängigkeit führte. Hilfe zur Selbsthilfe bedeutet in erster Linie, daß die Hindernisse beseitigt werden, welche den Individuen 34
Nell-Breuning (s. Anm. 3) 104.
13.3 Das Subsidiaritätsprinzip als Zuständigkeits regulativ
215
unO. den "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" bei ihrem Tätigsein im Wege stehen. Dies ist der Fall, wenn sie, auf sich allein gestellt, ihre Aufgaben nicht oder nur schlecht erfüllen können. Fehlt es jedoch nur am Willen zur Erfüllung, so ist die "weitere und übergeordnete Gemeinschaft" berechtigt, die unerledigten Aufgaben an sich zu ziehen. "Sie darf es dabei" - so Herzog - "aber nicht bewenden lassen, sondern sie muß darüber hinaus 1. die untergeordnete Gemeinschaft so lange zur Pflichterfüllung auffordern, bis sie ihre Aufgaben wieder selbst übernimmt, und sie muß 2. die untergeordnete Gemeinschaft dazu nötigenfalls durch Hilfeleistung instandsetzen, ja, sie darf der untergeordneten Gemeinschaft, solange sie zur Erfüllung einer Aufgabe willens ist, diese überhaupt erst dann entziehen, wenn sie dazu trotz aller Hilfe nicht imstande ist. "35 Das heißt, prinzipiell hat die Selbsthilfe vor der Fremdhilfe den Vorrang. Schwieriger jedoch ist die Frage zu beantworten, wieweit die Selbsthilfe der Individuen und der "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" strapaziert werden darf. Bedeutet Hilfe zur Selbsthilfe, den einzelnen bis zur äußersten Grenze seiner Belastbarkeit eigeninitiativ werden zu lassen oder soll und darf Hilfe schon früher einsetzen? Aus der Bestimmung der Hilfe als Hilfe zur Selbsthilfe läßt sich dafür kein eindeutiges Kriterium ableiten; sie besagt nur, daß Selbsthilfe (Eigeninitiative) nicht aufgehoben werden darf, weil damit das Individuum in seiner ihm eigentümlichen Seinsweise, d. h. in seiner Selbstbestimmung und Selbstverfügbarkeit selbst aufgehoben würde. A. Lincoln hat diesbezüglich ein Kriterium formuliert, das besagt, daß die Regierung für die Bevölkerung das zu besorgen habe, "wonach die Menschen ein Bedürfnis haben, was sie aber selbst nicht tun können oder doch, auf sich selbst gestellt, nicht ebenso gut tun können. In all das, was die Menschen ebenso gut tun können, hat die Regierung sich nicht einzumischen. "36 Es bleibt aber dennoch zu prüfen, wann dies der Fall ist. Und die Prüfung ist auch nicht nur seitens der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" (des Staates) vorzunehmen, weil dadurch der Zweck des Subsidiaritätsprinzips, die Wirksamkeit des Staates einzuschränken, verfehlt würde. Zuerkannte man nämlich dem Staat allein die "Kompetenz-Kompetenz"37, d. h. die Zuständigkeit, selbst zu bestimmen, wofür man zuständig ist oder sein will, dann bestünde neuerdings die Gefahr, daß der Staat Aufgaben an sich zöge, die von den Individuen und den "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" ebenso gut erfüllt werden könnten. Die aus der Ergänzungsbedürftigkeit des Individuums abgeleitete Existenzberechtigung des Staates impliziert, daß der Staat - unter ständiger Berücksichtigung dessen, daß Hilfe letztlich Hilfe zur Selbsthilfe bedeutet - seinen Bürgern auch in der Weise entgegenkommen kann, daß er ihnen Aufgaben abnimmt und Pro35 36
37
Herzog (s. Anm. 33) 408.
Vgl. Anm. 3.
Nell-Breuning (s. Anm. 3) 111.
13 Das Subsidiaritätsprinzip
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bleme lösen hilft, deren Bewältigung sie auf die Dauer überfordern würde, weil sie sich dann nur noch ganz bestimmten Aufgaben, z. B. der Existenzsicherung, widmen müßten. Solche Hilfsmaßnahmen, die für die Individuen (bei Wahrung ihrer Eigenverantwortung) Erleichterung bedeuten, heben deren Eigeninitiative nicht auf, sondern setzen sie für andere Aufgaben frei. Darin liegt auch der Unterschied zwischen Wohlfahrtsstaat und Versorgungsstaat, wie Nell-Breuning kommentiert: "Diesen Staat, der nach besten Kräften dahin wirkt, daß alle seine Bürger ihre Anlagen entwickeln, ihre Kräfte betätigen können und so in der Lage sind, an allen wirklich wertvollen Gütern und Errungenschaften teilzuhaben, diesen Staat nennen wir Wohlfahrtsstaat; er leistet jenen ,hilfreichen Beistand', den das Sub sidiaritätsprinzip fordert. Wiederum, wenn wir den Worten ihren natürlichen Sinn lassen, dann bedeutet Versorgungsstaat einen Staat, der es darauf ablegt, seine Staatsbürger zu ,versorgen', d. h. ihnen die Sorge für sich selbst nicht etwa zu ermöglichen oder zu erleichtern, sondern sie ihnen abzunehmen. Der Versorgungsstaat drängt seine Fremdhilfe oder diejenige irgendwelcher öffentlicher Einrichtungen und Anstalten auf, wo Selbsthilfe des einzelnen oder Selbsthilfe in Gemeinschaft alles Erforderliche leisten könnte. Auf diese Weise drängt er die eigene Tätigkeit zurück, hindert die Menschen daran, ihre eigenen Kräfte zu regen und in der verantwortungsbewußten Betätigung ihrer Kräfte zu wachsen und zu reifen. Darum ist die Hilfe, die der Versorgungsstaat gewährt, keine echte Hilfe, sondern das Trugbild einer Hilfe, dies um so mehr, als der Staat ja doch alles, was er austeilt, zuvor seinen Bürgern abnehmen muß - sehr oft sogar genau den gleichen, an die er es mit der Gebärde des großzügigen und edelmütigen Wohltäters wieder austeilt. "38 Gegen diesen Staat polemisiert auch Humboldt hauptsächlich, weil er in ihm keine Möglichkeit sieht, daß das Individuum seine Kräfte auf höchste und proportionierlichste Weise ausbilden kann. Soll Hilfe ihr Ziel nicht verfehlen, müssen vor allem die Interessen und Wünsche der Hilfe-Bedürftigen berücksichtigt werden und weniger derer, die Hilfe leisten. Nun können aber die Interessen der Hilfe-Bedürftigen, in unserem Fall die der Individuen und der "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen", auch falsch sein oder in einer solchen Fülle bestehen, daß sie nicht alle berücksichtigt werden können. Es ist dann zu entscheiden, welchen Interessen in Form von Hilfeleistungen zu entsprechen ist. Soll die Entscheidung aber nicht willkürlich sein, so bedarf es Kriterien, aufgrund derer Präferenzen gesetzt werden. Mögliche Kriterien dafür sollen im folgenden aufgezeigt werden.
38
Ebd. 129.
13.4 Kriterien des "Subsidiums"
217
13.4 Kriterien des "Subsidiums" Das Subsidiaritätsprinzip als Ordnungsprinzip (Zuständigkeitsregulativ) räumt dem Handeln des einzelnen und der "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" den Primat vor dem Handeln der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" ein. Die Gesellschaft, der Staat haben keinen Eigenwert, sondern sie sind nur in dem Maße wertvoll, als sie gemäß der positiven und negativen Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips, sei es durch Hilfeleistung oder Gewährung von Handlungsfreiheit, dazu beitragen, die körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Individuen zu entfalten. Es wäre aber eine Anmaßung der Individuen zu glauben, der Staat habe ihre je eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen. Zu heterogen sind die Wertvorstellungen der Individuen, als daß der Staat, selbst wenn er wollte, ihnen allen und gleichzeitig entsprechen könnte. Der Anspruch der Individuen an den Staat kann nicht darin bestehen, für ihre privaten Interessen Unterstützung zu finden, sondern nur für jene Interessen, die auch für andere Individuen (für das Gemeinwohl) relevant sind. Das schließt jedoch nicht aus, daß die Individuen auch private Interessen haben und haben können, sofern sie nicht elementare Interessen der Mitmenschen, ableitbar aus den primären Strebenszielen menschlicher Selbstverwirklichung (vgl. Kap. 12.2), verletzen. Für die Befürworter des Subsidiaritätsprinzips besteht kein Zweifel, daß jene Sphäre im Menschen, die nur privater Natur ist und keinerlei Bezug zum Gemeinwohl hat, für die Gesellschaft belanglos ist. Demnach kann man auf sie auch nicht das Subsidiaritätsprinzip anwenden. So schreibt z. B. Utz: "Es wird doch niemand von der Gesellschaft eine positive Leistung verlangen für Zwecke, die ausschließlich privat und als solche außerhalb der Gemeinschaft bleiben wollen. "39 Ähnlich meint auch Ermecke: " ... nur soweit das Privatwohl vom Gemeinwohl abhängt und umgekehrt, muß das Ganze helfen und kann der einzelne die Hilfe kraft des Subsidiaritätsprinzips verlangen. Für alle ,rein privaten' Anliegen, Bedürfnisse, Interessensbefriedigungen, soweit sie nicht Gemeinschafts- und Gemeinwohlbezug haben - ganz liegen jene natürlich nie außerhalb eines solchen Bezuges, so daß gerade der Wohlfahrtsstaat seine Sorgen auch auf diese privaten Anliegen ausweitet und vom totalen Versorgungsstaat das auch gefordert wird -, für alle ,rein privaten' Anliegen ist der Staat jedoch nicht subsidiär verpflichtet und der einzelne nicht subsidiär berechtigt. "40 Diesen Aussagen liegt zweifelsohne eine richtige Vorstellung von den zu erfüllenden Aufgaben des Staates gemäß dem Subsidiaritätsprinzip zugrunde. Denn es ist in keiner Weise vertretbar, daß öffentliche Hilfe für alle nur möglichen Bedürfnisse der Individuen beansprucht und geleistet 39 A. F. Utz, Formen und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips (Sammlung Politeia IX). Heidelberg 1956, 53f. 40 G. Ermecke, Das Subsidiaritätsprinzip. In: Die Neue Ordnung 26 (1972) 215.
218
13 Das Subsidiaritätsprinzip
wird, sowohl aus der Sicht des Individuums, weil dadurch seine aus der Selbstbestimmung resultierende Eigenverantwortung aufgehoben würde, als auch aus der Sicht des Staates, weil dadurch andere Aufgaben notwendigerweise vernachlässigt werden müßten. Fehlende Verantwortung der Staatsbürger im Hinblick auf maßlose Forderungen bedroht nicht nur die Individuen, sondern zerstört auch den Staat. "Nicht jeder, der einen Fußballklub gründet, kann für sein Hobby als Gerechtigkeitsforderung gemeindliche oder staatliche Unterstützung verlangen, es sei denn, er erfülle dadurch eine Gemeinwohlaufgabe; gleiches gilt für die private Eröffnung eines Kindergartens, obwohl hier die Nähe zum Gemeinwohl eher gegeben sein kann, aber nicht sein muß; gleiches gilt für den, der einen Beruf ergreifen will und sich darauf vorbereitet, da auch er nicht mehr Schutz und Hilfe verlangen kann als sie allen anderen Gliedern auch gewährt wird. Es hängt also bei allen eben genannten privaten Angelegenheiten hinsichtlich ihrer aus dem Subsidiaritätsprinzip abgeleiteten subsidiären Unterstützungen immer davon ab, ob und wie weit Gemeinwohlaufgaben berührt werden. Es könnte aber auch der Fall eintreten, daß der Ausfall der Erfüllung ,rein privater Interessen' nicht bloß den Interessenten trifft, sondern indirekt auch das soziale Ganze. Dann wäre das Gemeinwohl engagiert, und subsidiäre Hilfe käme in Frage, wenn z. B. ein Privatkindergarten versagte und ein kommunaler möglich wäre. "41 Diese Ausführungen zeigen jedoch, daß sich die Grenze zwischen Privatwohl und Gemeinwohl nicht klar abstecken läßt, ähnlich der Feststellung, daß es letztlich in bezug auf die Mitwelt und Umwelt keine indifferenten Handlungen gibt. Dies übersieht auch der Autor der oben angeführten Zitate nicht, wenn er schreibt, daß die ,rein privaten' Anliegen, Bedürfnisse und Interessensbefriedigungen nie ganz außerhalb eines Gemeinschaftsund Gemeinwohlbezugs liegen. 42 Wenn aber einerseits eine klare Unterscheidung zwischen Privatwohl und Gemeinwohl fehlt, andererseits das Gemeinwohl Kriterium dafür sein soll, ob der einzelne subsidiär berechtigt und der Staat subsidiär verpflichtet ist, so scheint es, daß eine diesbezügliche Beurteilung nicht möglich ist, sofern nicht doch eine nähere Bestimmung des Begriffs Gemeinwohl gelingt. Wenngleich Privatwohl und Gemeinwohl auch insofern miteinander verknüpft sind, als das Gemeinwohl für das Wohl jedes einzelnen und das Privatwohl für das Gemeinwohl relevant sind, so liegt der Schwerpunkt der Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks Gemeinwohl doch im Begriff "gemein", d. h. im gemeinsamen Wohlergehen aller Mitglieder einer Gemeinschaft und nicht im spezifischen Wohl des einzelnen in seiner Isoliertheit. Damit ist z. B. eindeutig eine Grenze nach "unten" gegenüber dem Privatwohl des Egoisten gezogen. Nach 41 42
Ebd. Vgl. ebd.
13.4 Kriterien des "Subsidiums"
219
"oben" läßt sich nach Glaser der Begriff Gemeinwohl insofern abgrenzen, als das Gemeinwohl nicht gleich Staatswohl ist "sondern das Wohl der Gemeinschaft unter der Voraussetzung, daß alle Glieder sich ihren individuellen Fähigkeiten und Anlagen gemäß entfalten können. "43 Der Staat steht wie jede andere Institution im Dienste der Verwirklichung des Gemeinwohls. Deshalb müssen auch alle Aktionen, die der Staat setzt, selbst die subsidiären Leistungen an die Individuen und an die "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" am Gemeinwohl orientiert sein. Das heißt, der Staat, die Gesellschaft sind nicht für den je einzelnen da, auch nicht für alle einzelnen als einzelne betrachtet, von denen jeder einzelne sich erwartet, daß die "weitere und übergeordnete Gemeinschaft" ihm zu dienen hätte, sondern für alle einzelnen nur insofern, als sie im Rahmen eines Ganzen stehen und gemeinsames Wohl (Gemeinwohl) anstreben. Zum einen besteht das Gemeinwohl darin, Bedingungen zu schaffen, welche den Menschen die Verwirklichung ihrer Werte ermöglichen und erleichtern, weil sie als einzelne und auch als "kleinere und untergeordnete Gemeinwesen" die zu erfüllenden Aufgaben nicht oder nicht ebenso gut erfüllen können wie die "weitere und übergeordnete Gemeinschaft" (die Gesellschaft, der Staat). Zum anderen versteht man unter Gemeinwohl den "Inbegriff der in einer Gesellschaft vereinigten Werte"44, d. h. alles, was den Menschen in seinem Menschsein bereichert, insofern es dazu beiträgt, seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten zu entfalten. Nell-Breuning sieht beide Aspekte als zusammengehörend, wenn er schreibt, daß das Gemeinwohl nicht nur als "organisatorischer und organisierender Wert" verstanden werden darf, nämlich als "Inbegriff aller derjenigen Vorbedingungen, die gegeben sein müssen, damit der einzelne als Glied im ganzen seine Kräfte regen und durch dieses Regen seiner Kräfte sein wahres Wohl wirken könne", sondern es "muß notwendig auch jenes besondere Gut oder jene Fülle von Gütern einbezogen werden, auf deren Verwirklichung die Gemeinschaft angelegt ist und deren die Glieder der Gemeinschaft teilhaftig werden sollen. "45 Demnach unterscheidet er zwischen "Gemeinwohl" (als Voraussetzung zur Vervollkommnung des Individuums) und "Gemeingut" (durch dessen Verwirklichung sich das Individuum als Glied der Gemeinschaft selbst vervollkommnet). Das heißt, das Gemeinwohl im herkömmlichen Sinne ist noch nicht verwirklicht, wenn entsprechende Institutionen vorhanden sind, z. B. Krankenhäuser, Sportplätze usw., sondern es liegt in der Verwirklichung der damit verbundenen Zwecke, z. B. in der Genesung, körperlichen Ertüchtigung u. dgl. Glaser (s. Anm. 24) 14. Zitiert nach: J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht (Schriften zum öffentlichen Recht Bd. 80). Berlin 1968, 31. - Vgl. dazu auch: E. Welty, Gemeinschaft und Einzelmensch. Eine sozialmetaphysische Untersuchung bearbeitet nach den Grundsätzen des hl. Thomas von Aquin. Salzburg 1935, 216. 45 O. v. Nell-Breuning, Subsidiaritätsprinzip. In: Staatslexikon Bd. VII. Freiburg 61966, Sp. 828f. 43 44
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13 Das Subsidiaritätsprinzip
Gegen die These, daß das Gemeinwohl Kriterium des "Subsidiums" ist, und zwar sowohl für die "weitere und übergeordnete Gemeinschaft", die Hilfe leistet, als auch für das Individuum, das Hilfe fordert, ließe sich einwenden, daß die Eigenständigkeit und Eigentätigkeit des einzelnen zuwenig Anerkennung findet, wenn ihm nicht um seiner selbst willen, sondern nur des Gemeinwohls wegen geholfen wird. Ermecke z. B. vertritt die Ansicht, daß noch nicht von Subsidiarität die Rede sein kann, wenn der Staat seinen Gliedern "wegen ihrer Gliedhaftigkeit und Gliedständigkeit in Recht, Wirtschaft und Kultur Anerkennung und Unterstützung in Beziehung zum sozialen Ganzen verleiht ... Es geht ja dabei gar nicht direkt um den ,privaten' Einzelnen selbst, sondern es geht dem Staat um sich selbst als das Ganze in den Gliedern und die Glieder im ganzen. Es geht hier direkt nicht um das Privat-, sondern um das staatlich zu leitende Gesamt- oder Gemeinwohlinteresse. Man denke hier z. B. an das Strafrecht, das Prozeßrecht, das Verkehrsrecht usw. Hier geht es immer zunächst (wenn auch nicht allein!) um den Schutz des Ganzen in seinen Gliedern und umgekehrt. Dort aber, wo es um den einzelnen geht, der mehr ist als Nur-Glied, wo er sich selbst in seiner personalen Eigenständigkeit und Eigentätigkeit darstellt und entfaltet, dort setzt das Subsidiaritätsprinzip an. "46 In diesem Zusammenhang verweist Ermecke auf den Bau von Krankenhäusern und Schulen, durch die der Staat einerseits den Bürgern als Gliedern im Ganzen Hilfe leistet, andererseits aber nicht ausschließlich deswegen - hinsichtlich ihrer Gliedhaftigkeit -, sondern aus "Sorge um ihr personales Wohl als Menschen. Diesen wird Schutz und Heilung in Krankheit, die Hilfe und Unterstützung im Bildungs streben usw. vom Staat darum geleistet, weil anders diese seine Bürger ihr persönliches Wohl nicht erstreben können. Daß der Staat aus dem Wohlbefinden der Bürger als Einzelpersonen ,profitiert', da diese Bürger ja auch seine Glieder sind, ist selbstverständlich und notwendig. "47 Ermeckes Ausführungen zeigen zwei wichtige Aspekte auf: erstens die bereits oben angedeutete Verknüpfung von Privatwohl und Gemeinwohl; denn von Gemeinwohl läßt sich nur insofern sprechen, als das gemeinsame Wohl das Wohl jedes einzelnen miteinschließt. Demnach kann der Begriff Gemeinwohl niemals bloß das Wohl einzelner oder weniger Privilegierter bedeuten, das würde dem Begriff des Gemeinwohls widersprechen. Es läßt sich auch kein Kriterium finden, aufgrund dessen Bedürfnisse und Interessen einzelner zum Nachteil anderer legitim erfüllt werden könnten, es sei denn, daß dieses "Mehr" an Bedürfnisbefriedigung und Interessenerfüllung, das einzelne erfahren, sich nicht doch wiederum zugunsten des Gemeinwohls auswirkt, z. B. wenn Forschungsprojekte im Interesse und zum Wohle der Mitmenschen durch den Staat unterstützt werden, um verwirklicht wer46 G. Ermecke, Subsidiarität und Auxiliarität in Staat und Kirche. In: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 17 (1976) 85. 47 Ebd.85f.
13.4 Kriterien des "Subsidiums"
221
den zu können. Subsidiäre Unterstützung ist zwar wie jede andere Hilfe einerseits an die Interessen der Hilfe-Bedürftigen gebunden, doch nicht auf die Weise, daß sie andererseits den Interessen des Helfenden widersprechen; dies ist der Fall, wenn die von den Individuen und "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" geforderte Hilfe sich gegen die Interessen des Gemeinwohls richten, aber auch umgekehrt, wenn der Staat lediglich vorgibt, im Interesse des Gemeinwohls keine Hilfe leisten zu können, denn damit verletzt er die Interessen der Hilfe-Bedürftigen und widerspricht sich zudem selbst in seiner Funktion, Garant des Gemeinwohls zu sein. Der zweite Aspekt in Ermeckes Überlegungen läßt deutlich erkennen, daß der einzelne mehr ist als "Nur-Glied" innerhalb einer sozialen Ganzheit, das nur wegen seiner "Gliedhaftigkeit" Anerkennung finden soll und nicht in seiner Eigenständigkeit und Eigentätigkeit als Person. Dies erinnert an Kants Formulierung des kategorischen Imperativs in der Formel des Zwekkes an sich selbst: "Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. "48 Damit soll nicht ausgeschlossen sein, daß der Mensch auf vielfache Weise auch als Mittel gebraucht werden kann und darf, z. B. als Arzt, um Patienten zu heilen, oder als Lehrer, um Wissen zu vermitteln usw. Kant wehrt sich aber dagegen und sieht die Würde der Person verletzt, wenn der Mensch "bloß" als Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke betrachtet wird. Ähnlich sieht auch Ermecke die Würde der menschlichen Person gefährdet und den Sinn des Subsidiaritätsprinzips in Frage gestellt, wenn der Staat nur um des Gemeinwohls willen bereit ist, dem einzelnen zu helfen. Schließlich war dies auch das Anliegen Humboldts, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, weil er befürchtete, daß der Staat im Menschen zu sehr den Bürger sieht, der sich den staatlichen Interessen unterzuordnen hat, als ein Individuum in seiner unwiederholbaren Einzigartigkeit, dessen Fähigkeiten und Kräfte auf mannigfache Weise zu entfalten sind. Der berechtigten Forderung, den Menschen nicht nur als Glied einer Ganzheit zu sehen (in Anlehnung an Kant, die Person "niemals bloß als Mittel" zu gebrauchen), um Subsidiarität wirksam werden zu lassen, kann seitens des Staates nur dann entsprochen werden, wenn auch das Individuum die Einsicht hat, daß Hilfe nur dann beansprucht werden darf, wenn nicht nur die Interessen des Privatwohls, sondern auch die des Gemeinwohls berücksichtigt werden. Hier zeigt sich abermals die notwendige Vermittlung von Eigenwert und Kollektivwert (vgl. Kap.l1.2), weil ein nur eigenbedürfniserfüllendes Wertstreben notwendigerweise zu einem radikalen Egoismus führt, der das Individuum wie den Staat in gleicher Weise bedroht. Offen bleibt allerdings die Frage, was unter Gemeinwohl in der jeweiligen Situation zu verstehen und wie es zu verwirklichen ist. Dar48 1. Kant, Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. IV (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). Berlin 1911, 429.
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13 Das Subsidiaritätsprinzip
auf läßt sich aber keine konkrete Antwort geben, weil sich sowohl die Individual- und Gemeinschaftsbelange als auch die Mittel, durch die das Gemeinwohl verwirklicht wird, ständig ändern. Da eine logische Ableitung spezieller Normen aus allgemeinen Prinzipien nicht möglich ist, hat auch das Gemeinwohl nur eine regulative Funktion, d. h. es bildet ein Orientierungssystem, an dem man spezielle Normen auf ihre Richtigkeit hin beurteilen kann. Das bedeutet aber nicht, daß der Begriff des Gemeinwohls als Kriterium des "Subsidiums" völlig inhaltslos wäre, sondern er weist sehr wohl praktischen Gehalt auf, der mit Hilfe von Erfahrung und Wissen in der jeweiligen geschichtlichen Situation konkretisiert werden kann. 13.5 Die Bedeutuug der "kleineren Gemeinwesen"
Das Kapitel V der Enzyklika "Quadragesimo anno", aus dem die Zitate über die subsidiäre Funktion der Gesellschaft stammen (vgl. Abs. 79), trägt den Titel: "Societatis ordo instaurandus", in der deutschen Übersetzung wiedergegeben mit: "Die neue Gesellschaftsordnung"49. Darin zeigt sich ein deutliches Bemühen des Papstes um die Neugliederung der Gesellschaft, nachdem es "in Auswirkung des individualistischen Geistes... so weit gekommen [ist], daß das einst blühend und reichgegliedert in einer Fülle verschiedenartiger Vergemeinschaftungen entfaltete menschliche Gesellschaftsleben derart zerschlagen und nahezu ertötet wurde, bis schließlich fast nur noch die Einzelmenschen und der Staat übrigblieben, - zum nicht geringen Schaden für den Staat selber. Das Gesellschaftsleben wurde ganz und gar unförmlich; der Staat aber, der sich mit all den Aufgaben belud, welche die von ihm verdrängten Vergemeinschaftungen nun nicht mehr zu leisten vermochten, wurde unter einem Übermaß von Obliegenheiten und Verpflichtungen zugedeckt und erdrückt. "50 Seltsamerweise stützt sich aber Pius XI. selbst auf das Individuum (auf den "individualistischen Geist" als Person), wenn er auf das Recht auf Hilfeleistung des einzelnen gegenüber der Gesellschaft bzw. auf eine Nichteinmischung seitens der Gesellschaft gegenüber dem einzelnen verweist, um für die "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" gegenüber der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" die gleichen Rechte geltend zu machen. So heißt es im Text der Enzyklika: "Wie dasjenige, was der Einzelmensch 51 aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen. "52 49 50 51
Übers. von Gundlach (s. Anm. 6) 11l. Ebd. 11lf. ("Quadragesimo anno", Abs. 78). Hervorhebung im Zitat vom Verfasser der vorliegenden Arbeit.
13.5 Die Bedeutung der "kleineren Gemeinwesen"
223
Fraglich ist auch, ob der Analogieschluß, d. h. vom Recht des einzelnen auf das Recht der "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" zu schließen, richtig ist, denn es besteht kein Grund zur Annahme, daß das, was dem einzelnen (der Person) als Recht zusteht, auch den "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" als Recht zustehen muß. Selbst wenn das positive Recht "kleinere und untergeordnete Gemeinwesen" vielfach auch als "juristische Personen" anerkennt, so gibt es bezüglich ihres Rechtsstatus doch einen Unterschied, da der menschlichen Personen unabhängig von jeder Rechtssatzung Recht als Menschenrecht zukommt, während dies bei der "juristischen Person" nicht der Fall ist; ihr Rechtsstatus ist nur Kraft des Gesetzes gegeben. Damit soll die Bedeutung der "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" keineswegs geschmälert werden. Um ihren Rechtsanspruch gegenüber der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" geltend zu machen, ist es zwar erforderlich, auf das Recht des einzelnen als Person zurückzugreifen, aber nicht nur in einem analogen Vergleich, sondern als Ausgangspunkt der Begründung. Denn das Individuum in seinem vor-staatlichen Recht anzuerkennen, bedeutet, ihm auch ein Recht auf Gemeinschaftsbildung zuzuerkennen. Der Mensch ist seiner ganzen Natur nach auf die Gemeinschaft angelegt, und zwar nicht erst dann, wenn er als ens individuale bei der Erfüllung seiner Interessen und Bedürfnisse auf Grenzen stößt, sondern er ist immer schon ens sociale, d. h. auf das Miteinander in den verschiedensten Formen des gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens angewiesen, um sich als Mensch verwirklichen zu können. Schwierigkeiten hinsichtlich der Feststellung, was in die Kompetenz der "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" fällt oder nicht und wann diese subsidiär berechtigt oder verpflichtet sind, bereiten schließlich auch die Begriffe in der Enzyklika wie: "kleinere und untergeordnete Gemeinwesen" ("minores et inferiores communitates'(53) und "weitere und übergeordnete Gemeinschaft" ("maior et altior societas"54). So meint z. B. Herzog, daß die Verwendung des Begriffspaares größer-kleiner dort problematisch wird, "wo sich zwei dem Mitgliederkreis und/oder dem Aufgabenkreis nach nicht homogene, d. h. also heterogene Gemeinschaften gegenüberstehen, etwa eine Handwerkskammer und eine Gemeinde beim Bau eines Lehrlingsheimes, ... Bei diesen heterogenen Gemeinschaften versagen die Kategorien größer-kleiner, höher-niedriger usw. Wo aber diese Unterscheidungen nicht mehr möglich sind, kann auch das Subsidiaritätsprinzip, das ausschließlich an sie anknüpft, nicht mehr wirksam sein. "55 Diese Kritik von Herzog richtet sich vor allem an diejenigen, die der Meinung sind, mittels des Subsidia52
53 54
55
Ebd. 113 ("Quadragesimo anno", Abs. 79). Ebd. Abs. 79. Ebd. Herzog (s. Anm. 33) 403 f.
224
13 Das Subsidiaritätsprinzip
ritätsprinzips ließen sich die Kompetenzen der verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen bestimmen und abgrenzen. Die Gemeinwesen bauen sich nicht nur in der Stufenfolge auf wie Gemeinde, Bezirk, Land, Bund, sondern es bestehen auch vielerlei Gemeinwesen nebeneinander, zwischen denen es kein Verhältnis von Über- und Unterordnung gibt. 56 Demnach können für diese die Bestimmungen "größer und kleiner", "über- und untergeordnet" nicht als naturrechtliche Zuständigkeitsregulative angesehen werden. Nur eine positive Gesetzgebung kann diesbezüglich regeln, welche Kompetenzen den einzelnen gesellschaftlichen Institutionen zukommen sollen. Naturrechtlich läßt sich hier nichts begründen. Anders ist es beim Individuum, dessen Anspruch auf Hilfe zur Selbsthilfe und Abwehr jeglicher Initiative von außen für Probleme, die es selbst zu lösen imstande ist, sich aus dem Eigenwert der Person, d. h. aus seiner Selbstbestimmung und Selbstverfügung, ableiten läßt. Hingegen kommt den "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" (Gruppen, Verbänden usw.) kein Eigenwert zu, genausowenig wie der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" (Gesellschaft, Staat); sie finden an der Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen ihre Berechtigung, aber auch ihre Grenze. Da aber die "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" in vielfacher Hinsicht die Interessen und Bedürfnisse der Individuen besser erfüllen können als der Staat, übernehmen sie im Hinblick auf die Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen doch eine wichtige Funktion. Die Aufgabe des Staates, Garant für das Gemeinwohl zu sein, schließt nicht aus, diesbezüglich auch andere Institutionen wirksam werden zu lassen, vor allem, wenn sich zeigt, daß sie die zu erfüllenden Aufgaben besser erfüllen können als der Staat. In diesem Sinne spricht sich auch der Verfasser der Enzyklika für eine "Erneuerung einer ständischen Ordnung"57 aus, um durch entsprechende Gliederung der Gesellschaft die entstandene Kluft zwischen den Individuen und dem Staat zu überwinden. "Der Mensch steht dann nicht mehr unmittelbar in der Masse dem Staat gegenüber, sondern in seiner jeweiligen Gliederung territorialer oder funktionaler Art. Diesen Gliederungen werden die Aufgaben übertragen, die sie ihrer Natur nach mit eigenen Kräften leisten können. Damit aber werden dem Staat diejenigen Aufgaben wieder genommen, die ihm wesensfremd sind. "58 Und er kann sich, wie es auch im Text der Enzyklika heißt, wiederum den Aufgaben zuwenden, für die er allein kompetent ist: "Leitung, Überwachung, Nachdruck und Zügelung, je nach Umständen und Erfordernis"59. Ein gesundes Staatsleben fordert eine Vielzahl von Vergesellschaftungen;60 es liegt im eigenen Interesse des Staates, 56
Vgl. Nell-Breuning (s. Anm. 3) 111.
57 Übers. von Gundlach (s. Anm. 6) 113.
58 E. Link, Das Subsidiaritätsprinzip. Sein Wesen und seine Bedeutung für die Sozialethik. Freiburg 1955, 14. 59 "Quadragesimo anno", Abs. 80.
13.5 Die Bedeutung der "kleineren Gemeinwesen"
225
wenn er Vergesellschaftungen, sofern sie sich nicht gegen den Staat selbst richten, anerkennt und unterstützt. Das heißt, daß er - gemäß der positiven und negativen Form des Subsidiaritätsprinzips - einerseits den "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" Hilfe zukommen läßt (auch hier Hilfe als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden) und andererseits sich in deren Angelegenheiten nicht einmischt, sofern sie selbst imstande sind, diese zu lösen. Nun stellt sich jedoch ähnlich wie beim Verhältnis zwischen der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" und dem Individuum abermals die Frage, wann und in welchem Ausmaß Hilfe einzusetzen hat. Beim Verhältnis der Gemeinwesen untereinander ist diese Frage ungleich schwerer zu beantworten, weil bei ihnen nicht wie beim Individuum auf einen Eigenwert ("Zweck an sich"), der durch nichts aufhebbar ist, zurückgegriffen werden kann. Doch wird sich auch hier die Verwirklichung des Individuums mit Rücksicht auf das Gemeinwohl am ehesten als Orientierungsrahmen anbieten; d. h. solange "kleinere und untergeordnete Gemeinwesen" unter Berücksichtigung des Gemeinwohls Bedürfnisse und Interessen der Individuen ebenso gut oder sogar besser erfüllen als die "weitere und übergeordnete Gemeinschaft", ist ihre Existenz berechtigt. Die Auffassung, "daß eine soziale Einheit jedenfalls dann zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht imstande ist, wenn sie dazu dauernder Subventionierung bedürfte" 61 , ist sicher zu eng. Sie ist dahingehend zu modifizieren, daß eine soziale Einheit dann ihren Anspruch auf Hilfe verwirkt und zumindest vorübergehend eine stellvertretende Ersatzhilfe erforderlich macht, wenn sie trotz dauernder Subventionierung nicht imstande ist, ihre Aufgabe zu erfüllen. Allerdings darf der Anspruch auf dauernde Subventionierung nicht solche Ausmaße annehmen, daß sich die "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" fast zur Gänze von der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" erhalten lassen und sich nur die Entscheidungsbefugnis einbehalten. Das ist dann keine Hilfe zur Selbsthilfe mehr, sondern totale Versorgung. Damit heben sich die "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" aber selbst auf, denn mit dem Verzicht auf Eigenständigkeit geben sie nicht nur die Eigenverantwortung auf, sondern verlieren dadurch auch das Recht auf eigene Entscheidung. Die "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" sind jedoch für die Verwirklichung der Individuen von größter Wichtigkeit; dies hat sich mehr denn je in der Geschichte bewiesen und zeigt sich auch heute noch. So war z. B. bis zum 19. Jahrhundert, mit wenigen Ausnahmen, das Erbringen von Sozialleistungen Aufgabe der Großfamilie und Sippe, die letztlich für das physische und psychische Wohl des einzelnen verantwortlich waren. 62 Aber VgL dazu auch Utz (s. Anm. 39) 82. VgL Herzog (s. Anm. 33) 411. 62 VgL zum folgenden auch die Ausführungen von V. Desch, Subsidiaritätsprinzip und Sozialhilferecht. Jur. Diss. Würzburg 1965, 93f. 60
61
15 Battisti
13 Das Subsidiaritätsprinzip
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auch die Kirche und private Initiativen (Laienvereinigungen, Stiftungen u. dgl.) übernahmen in zunehmendem Maße diese Funktion. So entstanden Armenhäuser, Hospitäler und ähnliche soziale Einrichtungen. Bescheidene Ansätze zu einer öffentlichen Fürsorge in der Reformationszeit hielten den Stürmen des Dreißigjährigen Krieges nicht stand und brachen zusammen. Erst recht nicht war das staatliche Hilfesystem zur Zeit der Industrialisierung den sozialen Mißständen gewachsen. Teilweise verzichtete man sogar bewußt auf die Unterstützung des Industrieproletariats, um durch dessen zahlenmäßige Vermehrung das soziale Problem nicht noch zu vergrößern. Aber nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch heute, trotz Sozialund Wohlfahrtsstaates, bleibt die Bedeutung der "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" für das Individuum aufrecht. Auch wenn der Staat nicht nur institutionelle Hilfe ("Schaffung von allgemeinen äußeren Bedingungen und Einrichtungen, auf Grund derer jeder einzelne sich selbst weiterhelfen kann"63), sondern auch individuelle Hilfe leistet in Form von finanziellen Zuschüssen, Beihilfen, Stipendien, Aushilfen für besondere Härtefälle usw. und somit auch Fürsorgefunktionen übernimmt (Dienst am einzelnen), vermag er den Wert der "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" doch nicht zu ersetzen. Denn außer sozialen Bedürfnissen erfüllen sie den Individuen noch eine Vielzahl anderer Interessen, die für die Lebensgestaltung des Menschen, speziell für die Frage nach dem Sinn des Lebens, von größter Bedeutung sind. Dazu meint Desch: "Da der Rechtsstaat weltanschaulich neutral bleiben muß, ist er naturnotwendig unfähig, bis in die letzten Bereiche personaler, d. h. auch seelischer Nöte vorzudringen. Seine organisatorischen Maßnahmen können nur teilweise helfen ... Hier erhalten die freien Wohlfahrtsverbände ihre überragende Bedeutung. Sie sind als Verkörperungen der weltanschaulichen Grundrichtungen innerhalb des Staates in der Lage, unter Rücksichtnahme auf den ganzen Menschen zu helfen" 64. Ein weiterer Vorteil der "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" gegenüber der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" (Gesellschaft, Staat) besteht darin, daß sie in einem näheren Kontakt zum Individuum stehen. Dadurch können sie auch spontaner und wirksamer eingreifen, wenn Hilfe erforderlich ist, weil sie um das persönliche Schicksal des einzelnen wissen. Auch besteht bei einem persönlichen Kontakt viel eher die Möglichkeit, die Eigeninitiative des Individuums wieder anzuregen und somit Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, anstatt es in ständige Abhängigkeit zu bringen. Aus diesem Grund hat auch Humboldt es dem Staat verwehrt, seinen Bürgern bei der Bewältigung ihrer Lebensaufgaben zu sehr entgegenzukommen, denn dann gewöhnen sie sich daran und werden künftig nur noch auf 63 64
Utz (s. Anm. 39) 42. Desch (s. Anm. 62) 97.
13.6 Subsidiarität ersetzt Solidarität
227
"fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hilfe"65 warten, an statt selbst einen Ausweg zu suchen. Doch trotz der Bedeutung, welche die "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" für die Individuen haben, sind ihnen in ihrer Wirksamkeit auch Grenzen gesetzt, die eine Unterstützung seitens der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" notwendig machen. So gilt als erstes Prinzip, daß staatliche Hilfe dort einzusetzen hat, wo die freien Hilfsverbände freiwillig oder unfreiwillig versagen. Das Individuum darf in Notfällen nicht allein von der freiwilligen Unterstützung der freien Wohlfahrtsverbände abhängig sein, sondern hat einen Rechtsanspruch auf öffentliche Hilfe. Dieser Anspruch ist gesetzlich geregelt und garantiert, daß jedem Bürger, der in Not ist, d. h. für den die gesetzliche Regelung zutrifft, geholfen wird, während dies bei den freien Wohlfahrtsorganisationen nicht der Fall ist; sie können sich diejenigen, denen sie Hilfe zukommen lassen wollen, nach bestimmten, von ihnen selbst festgesetzten Kriterien selbst aussuchen. Auch ist im Staat die materielle Basis für die zu leistende Hilfe eher gesichert als in den staatlich nicht organisierten Vereinen und Verbänden. Denn während der Staat seine Einkünfte durch Steuern bezieht, sind diese weitgehend auf freiwillige Spenden angewiesen. Auch kann es im Rahmen eines Hilfsprogramms erforderlich sein, Zwangsmaßnahmen zu setzen (z. B. Entziehung des Fürsorgerechts der Eltern, wenn sie der Fürsorgepflicht ihren Kindern gegenüber nicht nachkommen), was den "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" nicht möglich ist, da ihnen die rechtliche Kompetenz dafür fehlt. Und schließlich sind öffentliche Fürsorge und Hilfeleistung auch deshalb notwendig, "daß der weltanschaulich neutrale Bürger [auch] neutrale Hilfe finden kann"66. Doch so wichtig eine öffentliche Wohlfahrtspflege ist, so wichtig ist auch deren sinnvolle Durchführung; das setzt jedoch neben einer dem Gemeinwohl gegenüber verantwortungsvollen Regierung auch verantwortungsvolle Staatsbürger voraus, die gemäß dem Subsidiaritätsprinzip sowohl als Individuum als auch organisiert in Verbänden, Gruppen, Vereinen usw. ihr Recht auf eigenes Handeln und die sich daraus ergebende Selbstverantwortung wahrnehmen, was schließlich auch Subsidiarität mit Solidarität verbindet. 13.6 Subsidiarität ersetzt Solidarität
Diese These mag nicht nur auf die Befürworter des Solidaritätsprinzips, sondern auch auf manchen Vertreter des Subsidiaritätsprinzips befremdend wirken, zum al damit - zumindest dem Anschein nach - das Subsidiaritätsprinzip doch wiederum zum höchsten Sozialprinzip ("in philosophia sociali gravissimum illud principium"67) erhoben wird. Dagegen meint David: 65 66
67
15'
GS 1,114.
Desch (s. Anm. 62) 100. "Quadragesimo anno", Abs. 79.
228
13 Das Subsidiaritätsprinzip
"Über dem Subsidiaritätsprinzip stehen Prinzip und Realität der Solidarität, der Gemeinschaft. Bevor überhaupt von Ordnung der Gemeinschaft die Rede sein kann, muß Gemeinschaft selber sein. "68 Eine ähnliche Ansicht vertritt Desch, wenn er schreibt: "Das Subsidiaritätsprinzip gibt Richtlinien für die formale Zuständigkeits ordnung, das Solidaritätsprinzip fordert das wechselseitige Einstehen von Gemeinschaft und Gemeinschaftsmitglied. Vorrangiger erscheint das Solidaritätsprinzip. Denn bevor überhaupt Beziehungen innerhalb einer Gemeinschaft geordnet werden können, muß sie selber sein. Oder umgekehrt: Solange noch keine Gemeinschaft besteht, fallen auch keine Gemeinschaftsaufgaben an. "69 Auch Ermecke distanziert sich davon, das Subsidiaritätsprinzip als höchstes Sozialprinzip anzuerkennen: "Es ist also wohl nicht richtig, ... zu meinen, das Subsidiaritätsprinzip sei das höchste oder grundlegendste Sozialprinzip. Zuerst muß doch feststehen, wer warum in welcher Weise subsidium (ergänzende Hilfeleistung) als Forderung der Gerechtigkeit (!), also als Pflicht zu leisten hat, und wer hier als Leistungsempfänger berechtigt ist. Und darüber sagt das Subsidiaritätsprinzip selbst noch wenig. Vielmehr setzt es voraus, daß es umfassende soziale Ganzheiten gibt, welche ihren Gliedern Hilfeleistung schulden. "70 Diese Einwände gegen die Behauptung, daß das Subsidiaritätsprinzip das höchste Sozialprinzip sei, ließen sich noch um weitere ergänzen, bringen aber inhaltlich nichts Neues mehr. Ihr Hauptargument, daß die Gemeinschaft schon vorher bestehen müsse, ehe man von Ordnung (Zuständigkeit) sprechen könne, übersieht, daß Gemeinschaft und Gesellschaft zum vorwiegenden Teil schon vorhanden sind und nicht erst künstlich konstruiert werden müssen. Das heißt, das Individuum wird bereits in gemeinschaft- und gesellschaftliche Bezüge hineingeboren, in denen es auch immer schon eine Zuständigkeitsordnung gibt, sonst könnten die Gemeinwesen gar nicht bestehen. Dies bejaht auch Desch, wenn er schreibt: "Andererseits darf der Wert des Subsidiaritätsprinzips nicht verkannt werden, denn ohne Organisation, ohne Ordnung der Einzel- und Gemeinschaftsaufgaben fällt jeder Sozialkörper auseinander. "71 Die Frage ist nur, ob die bestehende Zuständigkeitsordnung auch richtig ist, d. h. ob sie sowohl den Interessen der Individuen als auch denen der Gemeinwesen entspricht. Auch Ermecke unterschätzt die Funktion des Subsidiaritätsprinzips, wenn er meint, daß zuerst noch feststehen müsse, "wer warum in welcher Weise subsidium" zu leisten habe. Es ist aber gerade Aufgabe des Subsidiaritätsprinzips, diesbezüglich eine Orientierung zu bieten, auf deren Hintergrund die bestehende Zuständigkeitsordnung kritisiert und korrigiert werden kann. Die Individuen haben sich nicht darum zu kümmern, daß es "umfassende soziale Ganzhei68 69 70
71
David (s. Anm. 12) 16. Desch (s. Anm. 62) 51. Ermecke (s. Anm. 40) 214. Desch (s. Anm. 62) 51.
13.6 Subsidiarität ersetzt Solidarität
229
ten" gibt, sie sind als Staat und Gesellschaft bereits vorhanden; die Sorge gilt der rechten Ordnung dieser sozialen Ganzheiten. In diesem Zusammenhang ist es auch sinnvoll, zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft zu unterscheiden, was in den oben angeführten Texten von David, Desch und Ermecke nicht geschehen ist und auch in der deutschen Übersetzung der Enzyklika zuwenig klar zum Ausdruck kommt, wenn dort von "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" und von "weiterer und übergeordneter Gemeinschaft" die Rede ist; im lateinischen Text ist diese Unterscheidung präziser formuliert durch die Bezeichnungen: "minores et inferiores communitates" und "maior et altior societas"72. Sinngemäß ist demnach mit "weiterer und übergeordneter Gemeinschaft" ("maior et altior societas") der Staat und die Gesellschaft gemeint, wenngleich auch diese beiden Begriffe nicht identisch zu setzen sind. "Ein und dieselbe Bevölkerung in all ihren wechselseitigen Betätigungen und Beziehungen ist auf der einen Seite ,freie Gesellschaft', zugleich aber auf der anderen Seite in ihrer recht- und machtmäßigen Verbundenheit ,Staat'. Das kann man auch so ausdrücken: der Staat ist nichts anderes als die Gesellschaft im Aggregatzustand ihrer staatlichen Einheit; die gleichen Menschen in der Vielfalt ihrer wechselseitigen Verbundenheit sind ,Gesellschaft', in ihrer rechtund machtmäßigen Einheit sind sie ,Staat'. "73 Und Gemeinschaft und Gesellschaft unterscheiden sich nach dem herkömmlichen Sprachgebrauch darin voneinander, daß Gemeinschaft auf Vertrautheit, Zuneigung, gleicher Gesinnung (Gesinnungsgemeinschaft) beruht, während Gesellschaft lediglich auf einer Verbundenheit basiert, die bedingt ist durch gemeinsame Ziele und Aufgaben; man braucht sich dabei persönlich gar nicht zu kennen. 74 Oder die Unterscheidung die F. Tönnies trifft: "Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde. Der Jüngling wird gewarnt vor schlechter Gesellschaft; aber schlechte Gemeinschaft ist dem Sprachsinne zuwider. "75 Stehen also bei der Gemeinschaft persönliche Beziehungen im Vordergrund wie gemeinsame Herkunft, gemeinsame Erlebnisse, geistig-personale Verbundenheit, Freundschaft und Zuneigung, so ist die Gesellschaft hauptsächlich durch das Recht konstituiert. 76 Das schließt zwar nicht aus, daß auch in der Gemeinschaft der einzelne Rechte besitzt und auch die Rechte des anderen anzuerkennen hat, doch das Rechtselement ist nicht charakteristisch dafür. "Wie in der Gemeinschaft "Quadragesimo anno", Abs. 79. O. v. Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge einer katholischen Soziallehre. Hrsg. von der katholischen Sozialakademie Österreichs. Wien 1980, 77f. 74 Vgl. ebd. 84f. 75 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. 2. durchgesehener und berichtigter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Darmstadt 1963. Darmstadt 1970, 3f. 76 Vgl. E. Coreth, Was ist der Mensch? Grundzüge einer philosophischen Anthropologie. Innsbruck 31980, 178. 72
73
13 Das Subsidiaritätsprinzip
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das Rechtselement nicht ausgeschlossen ist, aber nicht ihr Wesen konstituiert, so ist in der Gesellschaft eine personale Lebens- und Liebesgemeinschaft nicht ausgeschlossen; aber sie gehört nicht zu ihrem Wesen, kann daher - in einem unpersönlichen Zweckverband - auch fehlen. So bildet die Gemeinschaft gewissermaßen den ,Innenaspekt' , die Gesellschaft hingegen den ,Außenaspekt' eines Gemeinwesens. "77 Aufgrund der Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft versteht es sich von selbst, daß die oben angeführte These: "Subsidiarität ersetzt Solidarität" nur für das Verhältnis zwischen Individuum (und/oder "kleinere und untergeordnete Gemeinwesen") und der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" (Gesellschaft, Staat) Geltung haben kann, nicht aber für die Beziehung, die zwischen den Individuen und den " kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" (Gemeinschaften) besteht. In der letztgenannten Beziehung ist zweifelsohne das Solidaritätsprinzip vorrangig; denn daß es überhaupt zur Bildung von Gemeinschaften kommt, ist ein Akt der Solidarität, d. h. ein freiwilliges Einstehen des einzelnen für die Gemeinschaft und der Gemeinschaft für ihre Glieder, während die "weitere und übergeordnete Gemeinschaft" (Gesellschaft, Staat) - wie sich gezeigt hatvorwiegend auf einem Rechtsverhältnis gründet, in dem die gegenseitig anzuerkennenden Rechte und zu leistenden Pflichten durch Gesetze geregelt sind und im Zweifels-(Streit-)fall von den Gerichten entschieden werden. Hingegen kann kein Gesetz vorschreiben und kein Gericht erwirken, in welchem Ausmaß z. B. die Mitglieder einer Gesinnungsgemeinschaft zueinander Zuneigung und Sympathie zu empfinden oder sich gegenseitig - auf freiwilliger Basis - Hilfe zu leisten und füreinander einzustehen haben. Da aber auch die "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" (die Gemeinschaften) an der Ergänzungsbedürftigkeit des Individuums ihre Berechtigung und somit auch ihre Grenze finden, ist auch von diesen das Subsidiaritätsprinzip zu respektieren, d. h. daß sie nur Hilfe zur Selbsthilfe leisten dürfen. Denn jede weitere Initiative würde sich gegen die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung des Individuums richten und seinen Status, Zweck an sich zu sein, gefährden. Auf die Gemeinschaft (nicht auf die Gesellschaft und auf den Staat) bezogen ist es deshalb richtig, wenn Link bezüglich des Subsidiaritäts-und Solidaritäts prinzips von zwei Prinzipien spricht, die sich gegenseitig ergänzen: "Die subsidiäre Gesellschaft ist die Hülle, der Rahmen, in dem sich die solidarische Verbundenheit, die Gemeinhaftung, entfalten und auswirken kann. Auf der anderen Seite aber kann die Gesellschaft nur dann im wahren Sinne subsidiär, ergänzende Hilfeleistung sein, wenn ihre Glieder unter sich und mit dem Ganzen solidarisch verbunden sind, sich dem Ganzen und den Gliedern gegenüber in Gemeinhaftung wissen und betätigen. "78 77 78
Ebd. Link (s. Anm. 58) 92.
13.6 Subsidiarität ersetzt Solidarität
231
In der Beziehung zwischen den Individuen (und/oder "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen") und der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" (Gesellschaft, Staat) hingegen besitzt das Subsidiaritätsprinzip vor dem Solidaritäts prinzip den Primat. Der Aspekt der Solidarität ist in dieser Beziehung insofern zweitrangig, als sich der Staat selbst als Rechtsinstitution versteht. Das impliziert einerseits, daß der Staat kraft des Rechts zum Bürger ein anderes Verhältnis hat als die Gemeinschaft zu ihren Mitgliedern, und andererseits, daß auch der Anspruch der Individuen und "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" an den Staat durch das Recht konstituiert ist. Das heißt, selbst wenn der Begriff Hilfe als zwischenmenschliche Interaktion Solidarität voraussetzt, weil ihm die Einstellung des Wohlwollens zugrunde liegt, so beruht dieser Anspruch auf Hilfe im Staat, anders als in der Gemeinschaft, nicht auf einem Freundschafts-, sondern auf einem Rechtsverhältnis. Subsidiarität ersetzt in einem Rechtsverband insofern Solidarität, als die im Subsidiaritätsprinzip enthaltenen Forderungen durchwegs den Ansprüchen des Solidaritätsprinzips entsprechen. Als Zuständigkeitsregulativ wird das Subsidiaritätsprinzip beiden Aspekten des Solidaritätsprinzips gerecht, sowohl dem einen, daß der einzelne der Gesamtheit gegenüber verpflichtet ist, als auch dem anderen, daß die Gesamtheit für den einzelnen einzustehen hat. Denn aufgrund des Subsidiaritätsprinzips ist es einerseits der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" versagt, sich in Bereiche einzumischen, die von den Individuen und den "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" ebenso gut erfüllt werden können wie von der Gesellschaft oder dem Staat. Daraus ergibt sich aber für die Individuen und die "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen", daß sie in ihren Bereichen auch wirklich eigentätig sein sollen, d. h. ihre Probleme selbst zu lösen haben, wenn sie dazu imstande sind. Je eigeninitiativer und selbstverantwortlicher die Individuen und die "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" handeln, desto mehr wird die "weitere und übergeordnete Gemeinschaft" (der Staat) entlastet und kann sich anderen und wichtigeren Aufgaben widmen. Eigeninitiativ und selbstverantwortlich zu handeln, impliziert demnach bereits Solidarität, und zwar in dem Sinne, daß man durch die Entlastung der Gesamtheit für das Wohl der Gesamtheit wirkt. Andererseits beinhaltet das Subsidiaritätsprinzip, daß die "weitere und übergeordnete Gemeinschaft" den Individuen und den "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" Hilfe zu leisten hat, wenn diese ihre Aufgaben nicht oder nicht ebenso gut erfüllen können wie die Öffentlichkeit. Das verweist auf den zweiten Aspekt des Solidaritätsprinzips, nämlich - daß die Gesamtheit für die einzelnen Glieder einzustehen hat. Wie aber das Individuum - ableitbar aus seiner Bestimmung als Zweck an sich - ein Recht auf Unterstützung seitens der "weiteren und übergeordneten Gemeinschaft" hat, so hat auch der Staat - ableitbar aus seiner Funk-
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13 Das Subsidiaritätsprinzip
tion, das Gemeinwohl zu verwirklichen - ein Recht auf Unterstützung seitens des Individuums und der "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen"; dies ist unumgehbar, weil sonst der Staat gar nicht existieren könnte. Die Frage ist nur, in welcher Form und in welchem Ausmaß das Individuum und die "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" für den Staat Leistungen zu erbringen haben. In der Beantwortung dieser Frage unterscheiden sich ideologisch zwei Grundhaltungen: Individualismus und Kollektivismus. Wird im Individualismus die Gesellschaft, der Staat als reiner Zweckverband angesehen, der nicht dem Gesamtwohl der Individuen als gemeinsamem Wohl, sondern den Individuen als einzelnen Individuen zu dienen hat, so bestimmt im Kollektivismus den Wert des Individuums allein die Funktion, die es in der Ganzheit (Gesellschaft, Staat) erfüllt. Damit wird das Individuum seines Eigenwertes beraubt und zu einer Mittel-ZweckBeziehung degradiert. Den Preis, den das Individuum dafür zu bezahlen hat, ist bekannt: Verlust der Autonomie und des Selbstandes und als Folge einer reinen Funktionalisierung auch Verlust der menschlichen Würde. Aber auch im Individualismus wird das Individuum verkannt (nicht nur die Funktion der Gesellschaft). Mögen zwar Würde und Freiheit des Individuums einerseits gewahrt bleiben, so wird andererseits der einzelne doch zu atomistisch betrachtet mit zuwenig Bezug zum Kollektiv und auch mit zuwenig Verantwortung dafür. Es stellt sich deshalb die Frage, ob der Staat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, den Bürger - aus Rücksicht auf das Wohl der Gesamtheit - zu mehr Eigeninitiative und Selbstverantwortung anzuleiten. Wie im Kap. 13.4 gezeigt wurde, ist das Gemeinwohl Kriterium dafür, ob der einzelne subsidiär berechtigt und der Staat subsidiär verpflichtet ist, was zutrifft, wenn die von den Individuen und den "kleineren und untergeordneten Gemeinwesen" angestrebte Hilfe nicht nur eigenbedürfniserfüllend, sondern auch für das Gemeinwohl relevant ist. Aus dieser Überlegung scheinen sich aber doch auch für die Praxis Konsequenzen zu ergeben, denn es ist z. B. nicht einzusehen, daß die Öffentlichkeit in Form von Sozialleistungen für Schäden aufzukommen hat, die sich aus rein eigeninteressensbedingten und eigenbedürfniserfüllenden Handlungen ergeben (z. B. durch Praktizierung gefährlicher Sportarten u. a. m.). Für solche Risiken müßten vielmehr Privatversicherungen abgeschlossen werden. Der mögliche Einwand, daß dies zu einer Diskriminierung der Mehrheit der Bevölkerung führe, weil dadurch den Reichen mehr Möglichkeiten zur Lebensgestaltung eingeräumt würden, ist nicht stichhaltig, da dieser Zustand aufgrund der sozialen Ungleichheit zwischen den Individuen auch jetzt schon gegeben ist, nur mit dem Unterschied, daß zur Zeit alle Steuerzahler für die Schäden aufzukommen haben, die sich aus risikoreichen und unverantwortlichen Handlungen einzelner ergeben. Ferner wäre auch zu überlegen, ob Individuen, die bewußt und freiwillig gesundheits-
13.6 Subsidiarität ersetzt Solidarität
233
schädlich leben - und dies nicht im Dienste der Allgemeinheit, z. B. durch die Ausübung eines gefährlichen Berufes, sondern aus eigenem Verlangen und Bedürfnis -, nicht auch höhere Krankenversicherungsbeiträge leisten müßten, weil sie aufgrund ihrer Lebensweise auf medizinische Betreuung eher angewiesen sind als andere. Durch solche Maßnahmen erzöge man den Bürger mehr zur Eigenverantwortung und auch zu einem solidarischen Verhalten der Gesellschaft gegenüber. Zur Zeit besteht die Tendenz, zu Lasten des Gemeinwohls Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, auch wenn dafür objektiv gar kein Bedarf vorhanden ist. Doch Flucht in den Wohlfahrtsstaat ist - entgegen dem Prinzip der Subsidiarität - Flucht vor sich selbst. Indem man meint, den Staat ausnützen zu müssen, handelt man nicht nur sittenwidrig gegen das Gemeinwohl, sondern auch gegen sich selbst, weil man dadurch seine Selbstbestimmung und Eigenverantwortung preisgibt. Außerdem widerspricht solches Handeln auch dem Prinzip der Utilität, da der Staat doch wiederum dem Bürger die Rechnung dafür präsentiert; denn ein "Mehr" an Sozialleistungen erfordert ein "Mehr" an Steuereinnahmen. Es kann zwar nicht Aufgabe einer philosophischen Reflexion sein, diesbezüglich konkrete Vorschläge auszuarbeiten, dies bleibt den Fachleuten vorbehalten, wohl aber ist es Aufgabe der Philosophie, zu ergründen, ob das Recht auch "richtig", d. h. gerechtfertigt ist und nicht auf Ideologie oder anderen nicht zu rechtfertigenden Prinzipien beruht.
14 Ideologie, Recht und Staat Wenngleich das Subsidiaritätsprinzip, wie sich gezeigt hat, als ein allgemeingültiger sozial philosophischer Grundsatz anzusehen ist, der die freie Entfaltung des Individuums mit Rücksicht auf das Gemeinwohl zum Ziele hat, fehlt es nicht an kritischen Stimmen, die in ihm nur ein katholisches Sozialprinzip sehen wollen oder es gar der Ideologie bezichtigen. So wird einerseits behauptet, "beim Subsidiaritätsprinzip handle es sich um eine weltanschaulich gebundene ,Glaubensmaxime', die nicht gültige Ordnung für die abseits dieser Weltanschauung stehenden Staatsbürger sein dürfe"!, andererseits wiederum vermutet man hinter dem Subsidiaritätsprinzip liberales Gedankengut, da es - zumindest äußerlich - vom Liberalismus seinen Denkanstoß erhalten habe. 2 So stellt sich die Frage: Ist das Subsidiaritätsprinzip, das sich sowohl als ethisches Prinzip als auch als Rechtsprinzip versteht (als ethisches insofern, als es besagt, was geschehen soll und was nicht geschehen darf - und als Rechtsprinzip, insofern es dazu beiträgt, die Ansprüche zwischen dem einzelnen und dem Gemeinwesen zu regeln 3 ) mehr als jedes andere Prinzip gefährdet, ideologisch mißbraucht zu werden? Zweifellos wird das Subsidiaritätsprinzip von denjenigen bevorzugt, denen der Schutz der menschlichen Freiheit und Würde ein besonderes Anliegen ist. Freiheit und Würde gehören jedoch zu den Grundrechten des Menschen. Wird nun das Subsidiaritätsprinzip, das diese Grundrechte zu schützen und zu unterstützen versucht, der Ideologie bezichtigt, dann muß auch gegen alle jene Staatsverfassungen, in denen die Grundrechte des Menschen verankert sind, derselbe Vorwurf erhoben werden. Es stellt sich dann aber sofort die Gegenfrage: Wie läßt sich eine Verfassung legitimieren, die sich nicht auf die Grundrechte des Menschen stützt? 1 So hat z. B. in der Bundesrepublik Deutschland die Stadt Dortmund eine Verfassungsbeschwerde gegen das Bundessozialhilfegesetz eingebracht mit der Begründung, daß es dem Grundsatz der Glaubens- und Gewissensfreiheit des Art. 4 GG widerspreche, wenn man das Subsidiaritätsprinzip für jedermann als staatliches Gesetz verbindlich mache. Die Verfassungsbeschwerde ist abgedruckt in NDV 1962, S. 120ff. Zitiert nach V. Desch, Subsidiaritätsprinzip und Sozialhilferecht. Jur. Diss. Würzburg 1965, 9f. 2 Vgl. A. F. Utz, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des Subsidiaritätsprinzips. In: Das Subsidiaritätsprinzip. Hrsg. v. A. F. Utz (Sammlung Politeia Bd. II). Heidelberg 1953, 7. Und ders., Formen und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips (Sammlung Politeia Bd. 9). Heidelberg 1956, 47. Ebenso: W. Kerb er, Subsidiarität und Demokratie. In: Subsidiarität und Demokratie. Hrsg. v. O. Kimminich. Düsseldorf 1981, 8I. 3 Vgl. O. v. Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft (Herder 315). Freiburg 1968, 116.
14.1 Ideologie und Verfassung
235
14.1 Ideologie und Verfassung Jeder Staat hat eine geschriebene oder ungeschriebene Verfassung als oberste Stufe staatlichen Rechts. Ihr Mindestinhalt ist die Regelung, wer Recht zu setzen und durchzusetzen befugt ist. Darüber hinaus enthält sie auch maßgebende Regeln, die das Verhältnis von Staat und einzelnem, aber auch das von Staat und nichtstaatlichen Gemeinwesen bestimmen. Die Verfassung selbst läßt sich aber nicht mehr durch einen positiven Rechtsakt legitimieren (sonst wäre sie ja nicht mehr oberste Stufe des Rechts), sondern sie beruht auf Wertentscheidungen oder, wie die Vertreter der reinen Rechtslehre (Kelsen) behaupten, auf einer Grundnorm. Das heißt, da sich weder das Sein vom Sollen noch das Sollen vom Sein ableiten läßt, kann der Geltungsgrund einer Norm nur eine andere, nämlich eine höhere Norm sein. Diese bedarf zu ihrer Begründung abermals einer Norm, und zwar einer ihr nochmals übergeordneten. Um aber bei der Suche nach dem Geltungsgrund einer Norm nicht ins Endlose fortzuschreiten, muß die Begründung bei einer Norm enden, die als letzte und höchste vorausgesetzt ist, nämlich bei einer Grundnorm. "Die Grundnorm ist die gemeinsame Quelle für die Geltung aller zu einer und derselben Ordnung gehörigen Normen, ihr gemeinsamer Geltungsgrund. Daß eine bestimmte Norm zu einer bestimmten Ordnung gehört, beruht darauf, daß ihr letzter Geltungsgrund die Grundnorm dieser Ordnung ist. Diese Grundnorm ist es, die die Einheit einer Vielzahl von Normen konstitutiert, indem sie den Grund für die Geltung aller zu dieser Ordnung gehörigen Normen darstellt. "4 Allerdings ist die Grundnorm nach Kelsen keine materielle Norm, deren Inhalt als unmittelbar einleuchtend angesehen werden könnte und aus der sich durch logische Operationen spezifische Normen menschlichen Verhaltens ableiten ließen, sondern sie ist lediglich der formale Geltungsgrund von Rechtsnormen; d. h. Normen gelten, insofern aufgezeigt werden kann, daß sie gemäß der Grundnorm erzeugt worden sind; die Grundnorm selbst ist aber nur hypothetisch gesetzt. Demnach kann jeder beliebige Inhalt zur Rechtsnorm werden, entscheidend ist nur, daß sie nach der von der Grundnorm bestimmten Weise entstanden ist, und das heißt zunächst, nach einer tatsächlich gesetzten und wirksam gewordenen Verfassung. Diese wiederum leitet ihre Geltung von der historisch vorausgegangenen Verfassung ab. Da man früher oder später jedoch auf eine Verfassung stößt, die sich nicht mehr aus der vorausgegangenen ableiten läßt, führt Kelsen den Begriff der Grundnorm ein. Da aber nach der Auffassung der reinen Rechtslehre Normen nicht kraft ihres Inhalts gelten, sondern nur, sofern sie gemäß einer Grundnorm erzeugt worden sind, bleibt das Legitimationsproblem des Rechts unbewältigt. Die Grundnorm schließt zwar formal die wissenschaft4 H. Kelsen, Reine Rechtslehre. Unveränderter Nachdruck der zweiten Auflage (1960). Wien 1976,197.
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14 Ideologie, Recht und Staat
liche Begründung ab, läßt jedoch die Frage nach der Verbindlichkeit des Rechts noch völlig offen. Auch ein Ausgriff auf das Völkerrecht hilft hier nicht weiter, denn dies würde voraussetzen, daß staatliches Recht und Völkerrecht eine Einheit bildeten, und selbst dann, wenn dies der Fall wäre, verschöbe man die Begründung nur um eine Stufe. Denn sofern man eine inhaltliche Begründung des Rechts ablehnt und nur an einer formalen festhält, kommt man wiederum nur zu einer rein formalen Grundnorm. In Wahrheit kann das positive Recht und auch die Verfassung als oberste Stufe des Rechts nur vom Inhalt der Normen her legitimiert werden. Damit sei auf eine weitere Möglichkeit der Normenbegründung hingewiesen, nämlich auf eine teleologische, durch den Aufweis eines Zieles oder eines Wertes. Das heißt, wenn ein Ziel oder ein Wert erstrebt wird, dann müssen auch die Bedingungen (Normen) erfüllt werden, unter denen das angestrebte Ziel erreichbar ist. Nun ist es aber gerade Aufgabe der Verfassung, "die politische Existenz eines Gemeinwesens zu legitimieren und zu normieren"5, und zwar nicht nur formal, sondern auch inhaltlich. Das Gesetz ist nicht in der Lage, aus eigener Kraft seine Geltung zu begründen, denn die ihm zugrunde liegende Intention, Ordnung im zwischenmenschlichen Zusammenleben zu schaffen, enthält bereits eine Wertentscheidung und übersteigt die Grenzen des reinen Positivismus. Ebensowenig läßt sich durch Macht Recht begründen. Dies hat auch der bekannte deutsche Rechtsphilosoph Radbruch eingesehen, nachdem er zuvor die These vertreten hatte: "Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, daß er Recht zu setzen berufen ist. "6 Im Gegensatz dazu schreibt er in seiner Rechtsphilosophie vierzehn Jahre später angesichts der geschehenen Greueltaten des Nationalsozialismus: "Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung ,Gesetz ist Gesetz' den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts. Dabei ist der Positivismus gar nicht in der Lage, aus eigener Kraft die Geltung von Gesetzen zu begründen. Er glaubt, die Geltung eines Gesetzes schon damit erwiesen zu haben, daß es die Macht besessen hat, sich durchzusetzen. Aber auf Macht läßt sich vielleicht ein Müssen, aber niemals ein Sollen und Gelten gründen. Dieses läßt sich vielmehr nur gründen auf einen Wert, der dem Gesetz innewohnt. "7 Insofern nun alles staatliche Recht in einem Rechtserzeugungszusammenhang steht und auf die Verfassung zurückweist, kommt schließlich dieser die Aufgabe zu, eine Rechtsbegründung zu leisten, und zwar nicht nur formal, indem sie das Verfahren aufzeigt, auf welche Weise Recht zu erzeugen ist, sondern auch inhaltlich, indem sie durch die Anerkennung von Grundwerten den Rechtsnormen einen letzten und verbind5
A. Hollerbach, Ideologie und Verfassung. In: Ideologie und Recht. Hrsg. v.
w. Maihofer. Frankfurt 1969, 43. 6
7
G. Radbruch, Rechtsphilosophie. Stuttgart 51956, 179 (Leipzig 31932). Ebd. 352 (Anhang: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, 1946).
14.1 Ideologie und Verfassung
237
lichen Inhalt gibt. Doch dieser Inhalt der in der Verfassung enthaltenen Grundwerte deckt sich weitgehend mit dem in der jeweiligen Gesellschaft vorhandenen sittlichen Bewußtsein. Oder wie Rendtorff formuliert: "Die Grundlegung der Verfassung wie ihre Auslegung nehmen fundamentale sittliche und religiöse Orientierungen in Anspruch. "8 Wenn also die der Verfassung zugrunde liegenden Werte weitgehend Spiegelbild des gesellschaftlichen sittlichen Bewußtseins sind, die als normative Sinnprinzipien begründend, weisend und begrenzend die rechtliche GrundOrdnung des politischen Gemeinwesens konstituieren 9 , dann stellt sich im Sinne des Ideologiebegriffs von K. Mannheim die Frage, ob und in welchem Ausmaß das die Verfassung bestimmende gesellschaftliche Bewußtsein nicht doch ideologisch geprägt ist. Mannheim unterscheidet zwischen einem partikularen und totalen Ideologiebegriff. Der partikulare Ideologiebegriff will besagen, "daß man bestimmten ,Ideen' und ,Vorstellungen' des Gegners nicht glauben will. Denn man hält sie für mehr oder minder bewußte Verhüllungen eines Tatbestandes, dessen wahre Erkenntnis nicht im Interesse des Gegners liegt. Es kann sich hierbei um eine ganze Skala von der bewußten Lüge bis zur halbbewußt instinktiven Verhüllung, von der Fremdtäuschung bis zur Selbsttäuschung handeln. "10 Von einem totalen Ideologiebegriff hingegen spricht man, wenn man die "Ideologie eines Zeitalters oder einer historisch-sozial konkret bestimmten Gruppe" meint, und zwar als die "Eigenart und die Beschaffenheit der totalen Bewußtseinsstruktur dieses Zeitalters bzw. dieser Gruppe" 11. Das heißt, während beim partikularen Ideologiebegriff nur ein Teil der Behauptungen des Gegners der Ideologie bezichtigt wird, wird beim totalen Ideologiebegriff die gesamte Weltanschauung des Gegners in Frage gestellt. Als ein weiteres Unterscheidungskriterium führt Mannheim an, daß sich beim partikularen Ideologiebegriff die Funktionalisierung nur auf der psychologischen Ebene bewegt. "Die Lügen können hier noch enthüllt werden, die Täuschungsquellen können noch geläutert werden, der Ideologieverdacht ist letzten Endes noch nicht radikal. Nicht so bei dem totalen Ideologiebegriff. Wenn man etwa sagt, jenes Zeitalter lebt in jener Ideenwelt, wir in einer anderen, oder jene historisch konkrete Schicht denkt in anderen Kategorien als wir, so meint man nicht nur einzelne Gedankengehalte, sondern ein ganz bestimmtes Gedankensystem, eine bestimmte Art der Erlebnis- und Auslegungsform. Es wird eben die noologische Ebene funktionalisiert, so oft man mit den Inhalten und Aspekten auch die Form, letzten Endes die kategoriale Apparatur auf eine Seinslage bezieht. "12 8 T. Rendtorff, Verfassung. In: Handbuch der christlichen Ethik. Hrsg. v. A. Hertz u. a. Bd. 11. Freiburg 1978, 215. 9 Vgl. Hollerbach (5. Anm. 5) 46. 10 K. Mannheim, Ideologie und Utopie. Frankfurt 31952, 53. 11 Ebd.54.
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14 Ideologie, Recht und Staat
Beiden Ideologiebegriffen ist jedoch gemeinsam, daß dem Gegner ein irreales Denken vorgeworfen wird. Diese abwertende Bedeutung liegt seit Napoleon dem Begriff Ideologie zugrunde, der die Anhänger einer philosophischen Schule in der Nachfolge von Condillac verächtlich als Ideologen bezeichnete, weil sie seiner Ansicht nach wirklichkeitsfremd dachten und somit der politischen und gesellschaftlichen Praxis nicht gerecht wurden. Auch Mannheim spricht von einem" wertenden Ideologiebegriff" , von einem "falschen Bewußtsein", insofern es die Wirklichkeit verdeckt. "Falsch ist demnach im Ethischen ein Bewußtsein, wenn es sich an Normen orientiert, denen entsprechend es auch beim besten Willen auf einer gegebenen Seinsstufe nicht handeln könnte, wenn also das Versagen des Individuums gar nicht als individuelles Vergehen aufgefaßt werden kann, sondern das Fehlhandeln durch eine falsch angelegte moralische Axiomatik begründet und erzwungen ist. Falsch ist in der seelischen Selbstauslegung ein Bewußtsein, wenn es durch die eingelebten Sinngebungen (Lebensformen, Erlebnisformen, Auffassung von Welt und Menschtum) neuartiges seelisches Reagieren und neues Menschwerden überhaupt verdeckt und verhindert. Falsch ist ein theoretisches Bewußtsein, wenn es in der ,weltlichen' Lebensorientierung in Kategorien denkt, denen entsprechend man sich auf der gegebenen Seinsstufe konsequent gar nicht zurechtfinden könnte. Es sind also in erster Linie überholte und überlebte Normen und Denkformen, aber auch Weltauslegungsarten, die in diese ,ideologische' Funktion geraten können und vollzogenes Handeln, vorliegendes inneres und äußeres Sein nicht klären, sondern vielmehr verdecken. "13 Nun zeigt sich aber gerade in den Verfassungen der einzelnen Staaten eine Fülle von Begriffen wie Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, Freiheit der Person, Sittlichkeit, Menschenwürde usw., die in ihrer Vieldeutigkeit ideologisch mißbraucht werden können. Man kann Isensee zustimmen, wenn er schreibt, daß die Normen der Verfassung weitgehend Produkt der politischen Rhetorik sind: "Sie sind lapidar, mithin volkstümlich. Sie sind pathetisch, also faszinierend. Sie sind unbestimmt, darin anpassungsfähig. Das Sinnvariable wirkt integrierend, weil es eine Vielzahl von Erwartungen auf sich zu ziehen vermag. "14 Die Sicherheit, mit welcher der Christ seine Wertvorstellungen in der Verfassung wiederzufinden meint, gerät ins Wanken, wenn er merkt, daß der andersdenkende Bürger entgegengesetzte Vorstellungen aus ihr herausliest. Im politischen Streit beruft sich jeder auf die der Verfassung zugrunde liegenden Werte, z. B. "wer Leistungsansprüche an den Staat zu begründen und wer Leistungsforderungen des Staates abzuwehren versucht; wer die soziale Marktwirtschaft bestätigen oder wer sie Ebd. 55. Ebd.83f. 14 J. Isensee, Ethische Grundwerte im freiheitlichen Staat. In: Werte, Rechte, Normen. Hrsg. v. A. Paus. Graz 1979, 142. 12
13
14.1 Ideologie und Verfassung
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abschaffen; wer die Abtreibung verbieten oder freigeben will... Die Sicherheit, die der Verfassungs-Positivismus ... dem einzelnen gibt, ist die Sicherheit des Reiters über dem Bodensee. "15 Zweifelsohne stehen Werturteile und Normen als Verhaltensanweisungen mehr als Sachverhaltsurteile unter dem Einfluß der jeweiligen Wert ordnung des Urteilenden. Das bedeutet aber nicht, daß alle Wertentscheidungen rein willkürlich sind. Man entzieht sich dieser Willkür weitgehend, indem man überprüft, worauf die Wertentscheidungen beruhen. Eine Berufung auf Autorität allein z. B. genügt nicht, um sie zu begründen. Dies setzte zumindest eine allseitige Anerkennung der Autorität voraus, aber selbst, wenn dies der Fall wäre, müßte man sich fragen, worauf denn die Anerkennung der Autorität beruht. Doch im Hinblick auf die der Verfassung zugrunde liegenden Grundwerte und Normen gibt es keine Autorität, die diese begründen könnte, sie können nur aus einer immer neu zu vollziehenden Einsicht in die Grundbedingungen menschlicher Selbstverwirklichung als autonome und gleichberechtigte Subjekte eruiert werden. Einsicht wird aber nicht durch Emotionalität, sondern durch Rationalität vermittelt; und Rationalität bedeutet einerseits Universalisierbarkeit. Das heißt, wenn immer man in einem konkreten Fall ein Werturteil abgibt, dann ist man in allen anderen Fällen, die diesem einen Fall in relevanter Weise gleichen, gezwungen, das gleiche Werturteil abzugeben, will man sich nicht selbst widersprechen bzw. gegen das Prinzip der Rationalitität verstoßen. Daraus ergibt sich, daß die der Verfassung zugrunde liegenden Grundwerte nicht nur einigen Privilegierten zukommen, sondern jedem Individuum (Person) zugesprochen werden müssen. Und Rationalität bedeutet andererseits, unparteiisch und in Kenntnis der Sache zu urteilen, ferner, das Urteil einer Kritik auszusetzen, die aber ebenfalls sachkompetent und unparteiisch sein muß, wenn sie fruchtbar sein soll. Das heißt, sowohl derjenige, der ein Urteil bildet, als auch derjenige, der es kritisiert und damit selbst urteilt, muß sich dessen bewußt sein, daß sein Denken fehlerhaft sein kann. Es ist vor allem das Eingeständnis des kritischen Rationalismus, daß ir. jeder Theorie, auch in der am besten bewährten, Fehler verborgen sein können. So schreibt z. B. Popper in seinen "Zwölf Thesen über eine neue Berufsethik für Intellektuelle"16 in These neun: "Da wir von unseren Fehlern lernen müssen, so müssen wir es auch lernen, es anzunehmen, ja dankbar anzunehmen, wenn andere uns auf unsere Fehler aufmerksam machen. Wenn wir andere auf ihre Fehler aufmerksam machen, so sollen wir uns immer daran erinnern, daß wir selbst ähnliche Fehler gemacht haben wie sie. Und wir sollen uns daran erinnern, daß die größten Wissenschafter Fehler gemacht haben. Ich will sicher nicht sagen, daß unsere Fehler gewöhnlich entschuld15 Ebd.138. 16 P. Kampits, Aus den Fehlern lernen. Zwölf Thesen Karl Raimund Poppers über
eine neue Berufsethik für Intellektuelle. In: Die Furche Nr. 30 (28. Juli 1982), 3.
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14 Ideologie, Recht und Staat
bar sind: Wir dürfen in unserer Wachsamkeit nicht nachlassen, aber es ist menschlich unvermeidbar, immer wieder Fehler zu machen." Und in These zehn heißt es: "Wir müssen uns klarwerden, daß wir andere Menschen zur Entdeckung und Korrektur von Fehlern brauchen (und sie uns); insbesondere auch Menschen, die mit anderen Ideen in einer anderen Atmosphäre aufgewachsen sind. Auch das führt zur Toleranz." Noch deutlicher wird in These elf auf die Notwendigkeit von Kritik hingewiesen: "Wir müssen lernen, daß Selbstkritik die beste Kritik ist; daß aber die Kritik durch andere eine Notwendigkeit ist. Sie ist fast ebenso gut wie die Selbstkritik." Mit diesen Aussagen ruft Popper implizit zu einer Ideologiekritik auf, die verhindern soll, daß wir uns von ideologischen Denksystemen gefangennehmen lassen, insofern wir nämlich glauben, daß unser Denken fehlerfrei sei. Denn es ist gerade das Eigentümliche der Ideologien, vor allem der totalen, daß es sich um geschlossene Systeme handelt, die sich gegenüber jeglicher Kritik und weiterführenden Denkmöglichkeiten verschließen und damit notwendigerweise wirklichkeitsfremd werden. In bezug auf die der Verfassung zugrunde liegenden Werte bedeutet dies, daß dann erstarrte Inhalte als unabänderliche Ziele der menschlichen Selbstverwirklichung vorgegeben werden. Dadurch wird aber, wie Mannheim zu Recht kritisiert, "neuartiges seelisches Reagieren und neues Menschwerden überhaupt verdeckt und verhindert"17 und schließlich auch die der Verfassung zugrunde liegende Aufgabe eines ständigen Suchens nach einer menschenwürdigen und gerechten Gemeinwohlverwirklichung im politischen Raum vernachlässigt. Aber auch die partikulare Ideologie verdeckt - wenn auch nur in eingeschränktem Maße - die Wirklichkeit, insofern sie nämlich bei Werturteilen und Rechtfertigungen von Verhaltensweisen bewußt oder unbewußt den wahren Sachverhalt verhüllt und somit von den eigenen Interessen ablenkt. Wiederum auf die Verfassung bezogen, bedeutet dies zum einen, daß aus einer persönlichen Voreingenommenheit heraus die der Verfassung zugrunde liegenden Werte interpretiert werden, ohne zu bedenken, daß diese Interpretation auch fehlerhaft sein könnte. Zum anderen wird aber ein Bezug auf "höhere Werte" bewußt oft nur zum Vorwand genommen, um von der eigenen Interessenbedingtheit abzulenken, z. B. wenn die Berufung auf die Rechtssicherheit im Sinne des Gemeinwohls dazu benutzt wird, um einen ungerechten status quo zu zementieren. Ideologisch gefährdet sind aber nicht nur die Verfassungsnormen selbst und die ihr zugrunde liegenden Werte, sondern auch deren Auslegung in den einzelnen Rechtsnormen (Gesetzen). 14.2 Ideologie und Recht Ist bereits die Verfassung als höchste, aber gleichzeitig inhaltsärmste Norm der staatlichen Rechtsordnung ideologieverdächtig, dann besteht 17 Vgl. oben Anm. 13.
14.2 Ideologie und Recht
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diese Gefahr um so mehr bei deren Auslegung in den einzelnen Rechtssätzen durch die legislativen Körperschaften, aber ebenso bei deren Anwendung und Überwachung durch die judikativen bzw. exekutiven Organe. Die verschiedensten Auffassungen über die Bedeutung und den Zweck von Rechtsnormen lassen sich vorwiegend in zwei Gruppen zusammenfassen. Zum einen wird behauptet, das Recht diene dazu, die Machtansprüche der Stärkeren zu legitimieren. So wird z. B. bei den Sophisten und bei Machiavelli das zum Recht erklärt, was den Stärkeren (den Herrschern) nützt. Ähnlich sieht auch der Marxismus-Leninismus im Recht ein Instrument der Klassenherrschaft. Zum anderen wird die Auffassung vertreten, daß die Vermittlung von Freiheit und Sicherheit zwischen den einzelnen Individuen primär dem Recht zu verdanken sei, z. B. in der kantischen Formulierung als "Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann"18. Zu dieser gegensätzlichen Auffassung über das Recht kommt es hauptsächlich dadurch, daß nicht scharf genug oder überhaupt nicht zwischen Recht und Gesetz unterschieden wird. Doch der Begriff Recht besagt mehr als der Inbegriff von Rechtssätzen (Gesetzen), die vom Gesetzgeber erlassen wurden, selbst wenn in den modernen Staaten die gesetzgebende Funktion einen sehr wichtigen Faktor im Rechtssystem bildet. Daß Gesetz und Recht nicht identisch sind, zeigt sich auch darin, daß die meisten Sprachen dafür verschiedene Begriffe haben, z. B. n6mos und dike in der griechischen, lex und ius in der lateinischen, loi und droit in der französischen, law und right in der englischen, legge und diritto in der italienischen und ley und derecho in der spanischen Sprache. Auch ist das Recht im Sinne der Rechtstradition älter als die Gesetzgebung als bewußtes Schaffen von Recht. Die meisten Rechtshistoriker sind sich darüber einig, daß es bereits den frühesten "Gesetzgebern" (z. B. Harnrnurabi, Solon, Lykurgus oder den Verfassern der römischen Zwölf Tafeln) nicht so sehr darum ging, neues Recht zu schaffen, als vielmehr das bestehende aufzuzeichnen.1 9 Es bestand für sie kein Zweifel, daß es sich beim Recht um unabänderliche Satzungen handelt, die im Willen der Götter oder in der natürlichen Ordnung der Dinge gründen. Sogar noch im Mittelalter wurde jede Rechtserneuerung und Reform als Wiederherstellung des "gekränkten und guten alten Rechts"20 aufgefaßt. Selbst wenn heute niemand mehr daran zweifelt, daß das in der Tradition gewachsene Recht durch das Gesetz interpretiert und korrigiert werden muß, bleibt der Unterschied zwischen Recht und Gesetz dennoch aufrecht, 18 I. Kant, Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. VI (Die Metaphysik der Sitten). Berlin 1914, 230. 19 Vgl. F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Bd. I: Regeln und Ordnung. München 1980, 115f. 20 Ebd.118.
16 Battisti
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14 Ideologie, Recht und Staat
denn es wäre ein Pleonasmus, von einem gerechten Recht zu sprechen, während die Forderung nach einem gerechten Gesetz durchaus sinnvoll ist. Das heißt, Recht impliziert Gerechtigkeit; wer Recht setzt oder spricht, erhebt den Anspruch, Gerechtigkeit zu verwirklichen. Auch wenn dies vollends niemals gelingt, so gehört das Bemühen, sie zu verwirklichen, doch zum Wesensbestand des Rechts. A. Kaufmann sieht das Verhältnis zwischen Gesetz und Recht wie das zwischen Potenz und Akt. "Das Gesetz ist noch nicht die volle Wirklichkeit des Rechts, es ist nur eine, freilich notwendige, Stufe auf dem Wege zur Verwirklichung des Rechts. Das Gesetz ist eine allgemeine Norm für eine Vielheit möglicher Fälle, das Recht dagegen entscheidet eine wirkliche Situation im Hier und Jetzt. "21 Entstammt das Gesetz dem normgebenden Willen eines Subjekts, einer Autorität, so wurzelt das Recht in der natürlichen Ordnung der Dinge. 22 Wer aber entscheidet darüber, was die natürliche Ordnung der Dinge ist, und mit welcher Sicherheit läßt sie sich erkennen? Besteht nicht vielmehr die Gefahr, daß man das zur natürlichen Ordnung der Dinge erklärt, was man nur allzugerne als Folgerung aus ihr ableiten möchte? Diese kritischen Überlegungen haben auch die nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte Renaissance des Naturrechtsdenkens als Besinnung auf ein "natürliches", unabhängig von menschlicher Satzung geltendes Recht bald wiederum zum Erliegen gebracht. Denn die natürliche Ordnung der Dinge offenbart sich nicht von selbst; sie ist auf menschliche Erkenntnis und Interpretation angewiesen und damit auch geprägt durch die jeweiligen Wertvorstellungen der sie zu beurteilenden Subjekte. Demnach schließt eine Orientierung des Rechts an der natürlichen Ordnung der Dinge die Gefahr eines falschen Verständnisses der Wirklichkeit und somit - im Sinne Mannheims - eine Ideologie, sei es eine partikulare oder eine totale, nicht aus. Es ist sogar ein Charakteristikum der Ideologie, daß sie nicht offen dargelegte Interessen oder Zwecke durch Berufung auf höhere Ordnungen zu rechtfertigen versucht. Die Geschichte kennt genügend Beispiele, bei denen durch Berufung auf "wahre" Gerechtigkeit oder auf einen göttlichen Willen vorwiegend eigennützige Interessen verfolgt wurden. Damit soll die zu Beginn dieses Kapitels geforderte Unterscheidung zwischen Recht und Gesetz nicht aufgehoben werden, auch nicht die Berufung auf ein Naturrecht, sofern man sich eingesteht, daß sowohl die Natur als auch die natürliche Ordnung der Wirklichkeit vom Menschen interpretiert werden und in ihrer Interpretation auch fehlerhaft sein können. Diese kritischen Bemerkungen heben auch nicht die Forderung auf, daß es oberstes Ziel des Rechts ist, der Gerechtigkeit zu dienen, was bei aller Unklarheit und Vieldeutigkeit des Begriffs Gerechtigkeit zumindest bedeutet, jedermanns Bedürfnisse nach einer sinnvollen Lebens21
22
A. Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel. Frankfurt 1972,130. Vgl. ebd. 131.
14.2 Ideologie und Recht
243
gestaltung gleich seinen eigenen anzuerkennen, da nach dem Prinzip der Universalisierbarkeit (sofern sich die Individuen in relevanter Hinsicht gleichen, was im Hinblick auf ihre Grundbedürftigkeit der Fall ist) kein Individuum berechtigt ist, auf Kosten anderer seine Bedürfnisse zu erfüllen. Danach zu handeln, besagt aber mehr, als nur einem Vernunftprinzip zu folgen; dies ist bereits ein sittlicher Akt, wie auch die Befolgung von Normen selbst als ein sittlicher Akt zu werten ist, der auf Freiwilligkeit beruht, denn Zwang hält weder den Verbrecher noch den Widerstandskämpfer zurück. Auch kann der Zwang nicht bis zur obersten Instanz hin überwacht werden. "Wenn diejenigen, die den Zwang ausüben sollen, es unterlassen, müssen sie selbst dazu gezwungen werden und so immer wieder bis zu einer obersten Instanz. Für diese gibt es aber ex definitione niemanden mehr, der ihr normgemäßes Funktionieren erzwingen kann. ,Quis custodiat custodes?' Mindestens die oberste Instanz muß freiwillig die Normen befolgen. Wenn den Organen des Rechts ein Gelöbnis treuer Pflichterfüllung abgenommen wird, appelliert das Recht an die Moral. Es verankert sich in der moralischen Verpflichtung. "23 Wie aber das Recht der Sittlichkeit bedarf, um Gerechtigkeit zu verwirklichen, so ist es auch auf die Gesetze angewiesen, weil es keine Rechtsentscheidungen ohne Norm geben kann. So sind die Gesetze als Norm der Maßstab für das rechte Handeln. Ohne diesen Maßstab ist das menschliche Handeln orientierungslos. Allein eine Berufung auf das Recht als Verwirklichung von Gerechtigkeit wäre zu vage, gäbe es keine Richtlinien dafür, wie Gerechtigkeit konkret zu verwirklichen ist. Dies setzt aber voraus, daß sich der Gesetzgeber beim Erlassen von Gesetzen am Recht (im Sinne der Verwirklichung von Gerechtigkeit) orientiert und nicht an seinen eigenen Interessen, die er dann durch Gesetze zu legitimieren versucht. Darin sehen vor allem Topitsch und Salamun das Spezifische der Ideologie, nämlich in Gedankengebilden, "welche die Macht- und Lebensansprüche bestimmter gesellschaftlicher Gruppen legitimieren und deren Unwahrheit oder Halbwahrheit auf eine interessen- und sozialbedingte Befangenheit ihrer Vertreter zurückzuführen ist"24. Auch diesbezüglich lassen sich aus der Geschichte und Gegenwart - vor allem in Diktaturen - genügend Beispiele anführen, bei denen die Gesetzgeber durch die von ihnen geschaffenen Gesetze ihre eigenen Herrschaftsansprüche zu legitimieren versuchen, ganz einerlei, ob dahinter eine totale oder partikulare Ideologie steht. Die Angewiesenheit des Rechts auf das Gesetz als Maßstab für das rechte Handeln darf nicht dazu verleiten, jeden beliebigen Inhalt zum Gesetz zu machen und dadurch die ursprüngliche Intention, der Gerechtigkeit zu dienen, zu vernachlässi23 V. Kraft, Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral (Erfahrung und Denken Bd. 28). Berlin 1968, 13lf. 24 E. Topitsch / K. Salamun, Ideologie. Herrschaft des Vorurteils (Langen-Müller Stichworte Bd. 5). München 1972, 16.
16'
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14 Ideologie, Recht und Staat
gen. Auch eine Berufung auf die Rechtssicherheit in dem Sinne, daß schlechte Gesetze immer noch besser seien als keine, läßt sich als Begründung nicht rechtfertigen. So wichtig Ordnung und Gesetz für das menschliche Zusammenleben sind, sie schlagen in ihr Gegenteil um, wenn sie um ihrer selbst willen aufrechterhalten werden. Auch Terrorregimes kennen "Ordnung" und "Sicherheit", allerdings Ordnung ohne Gerechtigkeit und eine Sicherheit, die nicht mehr das Recht, sondern nur noch die Gewalt sichert. Dazu meint Radbruch, der selbst ein Terrorregime, nämlich das des Nationalsozialismus, miterlebt hat, folgendes: "Wenn Gesetze den Willen der Gerechtigkeit bewußt verleugnen, z. B. Menschenrechte Menschen nach Willkür gewähren und versagen, dann fehlt diesen Gesetzen die Geltung, dann schuldet das Volk ihnen keinen Gehorsam, dann müssen auch die Juristen den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen. "25 Aber nicht nur die Gesetzgebung läuft Gefahr, ideologisch mißbraucht zu werden, sondern auch die Rechtssprechung. Sie besagt wesentlich mehr als bloße Gesetzesanwendung. Zwar ist der Richter in der Rechtssprechung an das Gesetz gebunden, da aber die Gesetze notwendigerweise allgemein und abstrakt sind, der zu beurteilende Sachverhalt hingegen konkret ist, so reicht das Urteil bereits unter diesem Aspekt über eine bloße Wiedergabe des Gesetzes hinaus. Das Recht steckt ja nicht schon fertig im Gesetz, sondern erst in der Rechtssprechung wird aus dem Gesetz das Recht. 26 Das bedeutet aber mehr als nur eine logische Subsumtion eines Sachverhaltes unter ein allgemeines Gesetz. Die schöpferische Leistung des Richters besteht vor allem darin, den Sachverhalt in allen seinen Dimensionen auszuloten - wobei er bereits über einen Beurteilungsspielraum verfügt -, und erst dann, wenn diesbezüglich die Prämissen gefunden wurden, kann der Subsumtionsvorgang durchgeführt werden. Die in der Rechtssprechung erfolgte Anwendung des Gesetzes auf den konkreten Fall ist demnach mehr als nur ein Akt der Logik. Dies wird auch dadurch deutlich, "daß die Gesetze nicht nur deskriptive, also rein kognitiv feststellbare Merkmale enthalten, sondern in großer Zahl auch normative oder wertausfüllungsbedürftige Elemente, die, wie beispielsweise der Begriff der ,Gefährlichkeit', der ,Unzüchtigkeit' oder der ,Unwahrheit', nicht durch eine sinnliche Wahrnehmung sicher erfaßt, sondern nur durch eine wertende Beurteilung mehr oder weniger intuitiv ,ertastet' werden können. Angesichts solcher normativer Merkmale wird deutlich, daß der Richter keineswegs ein bloßer Subsumtionsapparat, eine Urteilsmaschine, ein Rechtsautomat ist, der nur die Worte des Gesetzes widerkäut"27. Dies übersieht der Gesetzespositivismus, wenn er den Richter streng an den Buchstaben des Gesetzes gebunden glaubt. Auch insofern die Gesetze nicht lückenlos sind, wird der Richter 25
26 27
Radbruch (s. Anm. 6) 336. Vgl. Kaufmann (s. Anm. 21) 162 f. Ebd.155.
14.2 Ideologie und Recht
245
notwendigerweise zum Rechtsschöpfer. Damit ist aber zweifellos auch die Gefahr einer Ideologisierung in der Rechtssprechung gegeben, weil auch die Welt- und Wertanschauung des Richters sich im Urteil niederschlägt. Da mag auch Radbruchs pathetische Äußerung nicht darüber hinwegtäuschen: "Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren läßt. "28 Daß eine Rechtsentscheidung mehr ist als nur ein Syllogismus aus den Prämissen Gesetz und Sachverhalt, bezeugen auch die sehr unterschiedlichen Urteile von Gericht zu Gericht, trotz Vorliegen annähernd gleicher Delikte und Anwendung desselben Gesetzes. Die Gefahr der Ideologie im Sinne Mannheims - als falsches Bewußtsein infolge einer Widerspiegelung einer bereits vergangenen Wirklichkeit besteht für das Rechtswesen auch insofern, als es sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Rechtssprechung dem zeitlichen Wandel nur mit Abstand folgt. Dies ist einerseits nicht zu vermeiden, denn der Gesetzgeber braucht Zeit, um auch künftige relevante Umstände in die Gesetzgebung miteinzubeziehen; denn Gesetze sollen ja nicht nur für einen Tag gelten. Ähnliches gilt auch für die Rechtssprechung, die in Konfrontation mit neuen Fällen unter Bedachtnahme der bisherigen Rechtstradition, um die Rechtssicherheit zu wahren, sich nur vorsichtig zu einem neuen Urteil durchtasten kann. Andererseits hemmt aber ein zu starres Festhalten am Herkömmlichen, sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Rechtssprechung, die Entwicklung neuer Lebensformen und entfremdet sich dadurch auch dem Rechtsempfinden der Gesellschaft. Will man dem Vorwurf der Ideologie entgehen, sei es einer totalen, insofern man in zeitlich überholten Kategorien denkt, sei es einer partikularen, indem man einzelne Aspekte der Wirklichkeit bewußt oder unbewußt verzerrt, so bedarf es einer ständig offenen, wenn auch kritischen Einstellung der Wirklichkeit gegenüber, um der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Entwicklung gerecht zu werden. Nur ein derartiges Offenhalten für das Neue bewahrt vor dem Erstarren der Denkinhalte und Wertanschauungen. Gemäß der Erfahrung der Geschichtlichkeit des Daseins sollten wir "keine Scheu haben vor der Einsicht, daß Rechtssätze und Rechtssprüche, die in der Auslegung konkreter Wirklichkeit des Miteinanders gewonnen wurden, für sich allein diese Wirklichkeit nicht verbürgen, daß sie wirklichkeitslos werden können, wenn die Wirklichkeit selbst sich wandelt, ... Wer dann dennoch an diesen Normen festhält, wird schuldig am Recht, das nicht ist, was es sein soll, d. h. dann fällt die bestehende Ungerechtigkeit auf den zurück, der um des Bestands des Rechts willen das Recht zum Unrecht werden läßt. "29 28
Radbruch (5. Anm. 6) 182.
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14 Ideologie, Recht und Staat
Ideologiegefährdet ist schließlich auch die Auslegung der Gesetze durch den Verwaltungsbeamten und die Überwachung der Gesetze durch den Exekutivbeamten, insofern nämlich die Auslegung und Überwachung der Gesetze aufgrund möglicher fanatischer Einstellungen der Beamten zur Schikane ausarten können. Davor und weniger vor dem Gesetz selbst beruht die Angst der Bürger, wenn sie von den Behörden vorgeladen oder mit Exekutivorganen konfrontiert werden. Ähnlich wie der Richter verfügt auch der Verwaltungsbeamte in der Auslegung der Gesetze über einen Beurteilungsspielraum, den er günstig oder weniger günstig für den Betroffenen handhaben kann, ohne deswegen gleich einer Rechtsbeugung bezichtigt zu werden. Das gleiche gilt auch für die Exekutivbeamten; in welchem Ausmaß diesen ein Handlungsspielraum bei der Überwachung der Gesetze zur Verfügung steht, zeigt sich u. a. darin, daß sie ihren Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen dadurch Nachdruck verleihen können, indem sie paradoxerweise drohen, "Dienst nach Vorschrift" zu leisten, z. B. Zollbeamte an der Grenze zur Zeit des Hauptreiseverkehrs. Damit soll die Bedeutung der Gesetze nicht geschmälert werden, sie sind als Richtschnur für ein rechtes Handeln unbedingt erforderlich. Sie sind aber kein Garant gegen den Mißbrauch der Staatsgewalt, ja sie können sogar eines der wirksamsten und gefährlichsten Mittel dazu sein, vor allem wenn - wie Kaufmann formuliert - das "Gesetz-vor-Recht-Denken" den Primat vor dem "Recht-vor-demGesetz-Denken"3o hat. Die Forderung nach Positivität des Rechts in Form des Gesetzes bedeutet noch nicht, daß es jeden beliebigen Inhalt haben kann. Erst der ihm zugrunde liegende sittliche Wert legitimiert es als Recht.
14.3 Ideologie und Staat Die Theorien über den Zweck des Staates sind vielfältig; sie reichen vom reinen Rechtszweck (als Identität von Staat und Recht) über den Sittlichkeitszweck (als Mittel zur Verwirklichung sittlicher und kultureller Werte), den Schutzzweck (als Schutz für das Leben und die Rechte seiner Bürger) bis zum Wohlfahrtszweck (als Wohlfahrtsstaat). Auch im Hinblick auf die Anerkennung der staatlichen Macht scheiden sich die Geister; so stehen sich als Extreme eine vorbehaltslose Bejahung des Staates und eine totale Verneinung gegenüber. Doch ehe man von Anerkennung und Ablehnung des Staates sprechen kann, ist zu klären, was unter dem Begriff des Staates zu verstehen ist. Betrachtet man nämlich den Staat rein formal als höchste ordnungsstiftende Institution, die durch die Gewährung von Rechten und Auferlegung von Pflichten die Mannigfaltigkeit der menschlichen Beziehungen regelt, so ist eine totale Ablehnung des Staates nicht möglich, will man nicht 29 U. Hommes, Recht und Ideologie. In: Mensch und Recht. Festschrift für E. Wolf zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. A. Hollerbach u. a. Frankfurt 1972, 97. 30 Kaufmann (s. Anm. 21) 46.
14.3 Ideologie und Staat
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ein Chaos heraufbeschwören. Denn menschliches Zusammenleben erfordert zumindest ein Minimum an Ordnungssystem mit der Gewährleistung seiner Durchsetzung aufgrund eines Gewaltmonopols. Insofern kann keine Gesellschaft in einem völlig staats losen Zustand leben. Es stellt sich deshalb nicht so sehr die Frage nach der Notwendigkeit des Staates an sich, sondern unter welchen Voraussetzungen und in welchem Ausmaß er seinen Herrschaftsanspruch legitimieren kann. Und die Antworten darauf werden verschieden ausfallen, je nachdem, ob man den Staat als "reine Menschensache"31 auffaßt oder als eine überzeitliche Gegebenheit, von höchster Autorität legitimiert, z. B. gemäß Röm. 13: "Jedermann ordne sich der staatlichen Gewalt unter; denn es gibt keine Gewalt, die nicht von Gott ist. Die bestehenden (Gewalten) sind von Gott angeordnet. Wer sich daher der Gewalt widersetzt, widersetzt sich der Anordnung Gottes. "32 Demgegenüber ist einzuwenden, daß eine metaphysische Begründung des Staates - durch göttliche Autorität - heute kaum mehr akzeptierbar ist. Ebensowenig kann dem Rechtspositivismus zugestimmt werden, wenn er Recht und Staat identisch setzt. Das Recht ist zwar auf eine Rechtshoheit (Staat) angewiesen, um Gültigkeit zu erlangen, dennoch ist der Staat nicht die Quelle des Rechts, sondern vielmehr selbst an das Recht gebunden, das in sittlichen Werten gründet. Recht und Staat sind nicht gleichwertige Begriffe; das Recht, das letztlich in der unbedingten Achtung vor der Unbedingtheit der menschlichen Person gründet, ist dem Staat übergeordnet. Alles staatliche Geschehen geht auf menschliches Wirken zurück, jede Normsetzung beruht auf einer menschlichen Entscheidung. Die Vorstellung von einer überzeitlichen Gegebenheit des Staates rührt daher, daß seine Existenz nicht an bestimmte Individuen gebunden ist. Der Staat bleibt auch dann bestehen, wenn diese sterben. Doch der Staat überlebt nur deshalb und erweckt den Eindruck von einer Überzeitlichkeit, weil immer andere (neue) Individuen an ihre Stelle treten, die Geschäfte des Staates führen, ihn repräsentieren, leiten und lenken. Würden alle Bürger mit einem Schlage ausgelöscht werden, was bliebe vom Staate übrig - nicht einmal sein Hoheitsgebiet, wenn niemand mehr dessen Anspruch geltend machte. So ist und bleibt der Staat doch reine Menschensache, was aber nicht besagt, daß der Staat nur für den Menschen da ist. "Der Staat ist nicht nur Instrument, nicht ausschließlich Mittel zur Realisierung von Zwecken. Das ist er zwar auch. Doch lebt er aus dem Ursprung des nur ihm eigenen Zwecks, sich selbst in seinem Tun zu verwirklichen. Jeder Staat führt in seiner dienenden Funktion ein zugleich ,selbstzweckliches Leben'. Darum ist der Staat nicht nur für den Menschen da, sondern, bei aller Distanz, der Mensch auch für den Staat. Mit Recht erhebt jeder Staat - nicht nur der totale - Anspruch, 31 32
Vgl. K. Krüger, Der Staat ist reine Menschensache. Stuttgart 1975. Zitiert nach der Jerusalemer Bibel. Hrsg. v. D. Arenhoevel u. a. Freiburg 1972.
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relativen Anspruch auf den Menschen. So bleiben Spannungen nicht aus. Doch geben und dienen müssen beide - nicht nur der Staat. "33 In welchem Ausmaß jedoch dies zu geschehen hat, ist immer wieder von neuem festzulegen und zu begründen. Eine für allemal gültige Begründung gibt es nicht, sie würde zur Ideologie werden. Da eine auf göttliche Autorität rückführbare Begründung des Staates nicht möglich, weil nicht nachweisbar ist und auch eine rechtspositivistische Legitimierung des Staates nicht akzeptierbar ist, weil Staat und Recht nicht identisch sind, muß nach weiteren Staatsrechtfertigungstheorien Ausschau gehalten werden. Wie die Geschichte zeigt, sind die Staaten entweder dadurch entstanden, daß die Stärkeren die Schwächeren gewaltsam unterworfen haben oder daß sich die Schwächeren den Stärkeren im Austausch für Sicherheit, Wohlfahrt u. dgl. freiwillig gefügt haben. "Wo immer in einem zusammenhängenden Gebiet der Wille der einzelnen Menschen durch einen über ihnen stehenden, gebietenden einheitlichen Willen so gebunden ist, daß dieser sich ihnen gegenüber unbedingt durchsetzen kann, da ist Staat, ... Staat ist die allen einzelnen überlegene Einheit der Willensmacht, der Herrschaftsgewalt. "34 Da aber eine gewaltsame Unterwerfung nicht legitimierbar ist, denn es gibt kein allgemeingültiges Kriterium, das den einen Individuen, Sippen und Völkern mehr Macht einräumt als den anderen - alle diesbezüglich in der Geschichte angeführten Kriterien sind rein willkürlich, interessenbedingt und ideologisch -, so kann der Machtanspruch, auch der staatliche, legitimerweise nur auf einer freiwilligen Zustimmung beruhen. Das heißt, Macht ist allein durch Zustimmung legitimierbar. Jeder andere Versuch einer Rechtfertigung muß als Ideologie verurteilt werden. Die Zustimmungs theorie verlangt, daß der Wille der Bevölkerung durch Wahlentscheidungen, Volksbegehren u. dgl. eruiert wird, was jedoch noch nicht besagt, daß der staatliche Machtanspruch nur dann gerechtfertigt ist, wenn jedes einzelne Individuum dafür die Zustimmung gegeben hat; es genügt, wenn die Mehrheit der Bevölkerung damit einverstanden ist. Allerdings besteht die Gefahr, daß die Mehrheit der Bevölkerung in Unwissenheit oder durch geschickt gelenkte Propaganda dem Staat auch für sittlich ungerechtfertigte Aktionen (z. B. Rassendiskriminierung, Aggressionskriege, Todesstrafe usw.) ihre Zustimmung gibt. Deshalb muß auch der andersdenkenden Minderheit unter den Bürgern die Gelegenheit gegeben werden, ihre Meinungen und kritische Stellungnahmen diesbezüglich zu äußern, was vielleicht ein Umdenken bewirken kann. Nur eine rege politische Opposition kann verhindern, daß der Staat seine Macht mißbraucht und sich zum Selbstzweck erhebt.
33 Krüger (5. Anm. 31) 49f. 34 E. Brunner, Gerechtigkeit. Zürich 31981, 23lf.
14.3 Ideologie und Staat
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Ein Staat, dem die Zustimmung zu seinem Machtanspruch fehlt, ist zwar auch Staat, aber nicht gerechtfertigt und in seiner Existenz bedroht. Jeder Staat erhebt den Anspruch auf sittlichen Charakter, zumindest gibt er vor, zum Wohle der Bevölkerung zu wirken, denn der Staat lebt "aus der sittlichen Anerkennung seiner Bürger. So lückenlos schließt kein Gesetzesnetz, so perfekt funktioniert kein Gewaltmechanismus, daß Zustimmung Ausführender ganz überflüssig würde. "35 Die Angewiesenheit des staatlichen Machtanspruchs auf Zustimmung - auch in kritischer Auseinandersetzung mit der Opposition - zwingt den Staat, seine Forderungen zu begründen. Sie können nicht nur ein willkürliches Willensdiktat sein. Die Reflexion auf das Subsidiaritätsprinzip hat gezeigt, daß der Staat nicht immer und überall gebraucht wird, demnach ist auch sein Herrschaftsanspruch nicht immer und überalliegitimierbar. So meint z. B. R. Nozick, ein in der gegenwärtigen Literatur zum Thema Staatsrechtfertigung häufig zitierter Autor, daß letztlich nur ein Minimalstaat gerechtfertigt sei. Nozick wählt zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen Lockes Gedankenexperiment vom Naturzustand, in dem jedes Individuum natürliche Rechte und Pflichten hat. Kommt der einzelne diesen Pflichten nicht nach oder verletzt er die Rechte eines anderen, so hat der Geschädigte das Recht, Schadensgutmachung zu fordern. Dies kann aber zu Schwierigkeiten führen, weil der einzelne vielleicht außerstande ist, seine Rechte geltend zu machen. Da dies vielen Individuen so ergehen wird, werden sie bald auf die Idee kommen, sich zu Schutzorganisationen zusammenzuschließen. Da es aber im Naturzustand den Individuen nach Belieben freisteht, Verträge zu schließen, wird es zu mehreren einander konkurrierenden Schutzorganisationen kommen, von denen früher oder später eine zu dominieren beginnt. Das heißt, aus dem Naturzustand, in dem zunächst nur jeder einzelne seine Rechte geltend zu machen versucht, entsteht allmählich durch Vereinigung zum gegenseitigen Schutz ein staatsähnliches Gebilde, das Nozick zunächst noch "Ultraminimalstaat" nennt. Im "Ultraminimalstaat" wird nur denjenigen Schutz gewährt, die dafür bezahlen; allerdings wird Selbstjustiz generell untersagt. Der Übergang vom "Ultraminimalstaat" zum Minimalstaat erfolgt durch einen weiteren Schritt, in dem nämlich allen, auch den Außenseitern, Schutz gewährt wird. Nozick sieht im Minimalstaat am ehesten die Wiederherstellung jenes Zustandes, wie er ohne Rechtsverletzung, d. h. im Naturzustand, bestünde. Demnach läßt sich für ihn nur ein Minimalstaat rechtfertigen. Jede weitergehende staatliche Funktion führt zur Verletzung elementarer Rechte und der Freiheit des einzelnen. "Der Minimalstaat behandelt uns als unverletzliche Einzelmenschen, die von anderen nicht in bestimmter Weise als Mittel oder Werkzeuge oder Instrumente oder Hilfsquellen benutzt werden dürfen; er behandelt uns als Personen mit ihren Rechten und der daraus fließenden 35
F. Hammer, Autorität und Gehorsam. Düsseldorf 1977, 130.
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14 Ideologie, Recht und Staat
Würde. Er behandelt uns mit Respekt, indem er unsere Rechte respektiert, und gestattet uns, einzeln oder gemeinsam mit wem wir wollen über unser Leben zu entscheiden und unsere Ziele und unser Selbstverständnis zu verwirklichen, so gut wir können, wobei uns andere Menschen, denen die gleiche Würde eigen ist, freiwillig helfen. Wie könnte es ein Staat oder eine Gruppe von Menschen wagen, mehr zu tun. Oder weniger. "36 Allerdings räumt Nozick ein, daß dieser Minimalstaat eine Utopie ist, die Utopie einer freien Gesellschaft. Aber sie ist für ihn die einzige Staatsform, die sich rechtfertigen läßt. "Dieser moralisch bevorzugte Staat, der einzige moralisch berechtigte Staat, der einzige moralisch tragbare Staat ist, wie wir jetzt sehen, derjenige, der am besten die utopischen Sehnsüchte unzähliger Träumer und Visionäre verwirklicht. Er bewahrt, was wir alle von der utopischen Tradition bewahren können, und stellt das übrige an dieser Tradition unseren individuellen Bestrebungen anheim. "37 Nozicks Minimalstaat weist eine frappante Ähnlichkeit mit Humboldts Staats auffassung auf und ist deshalb unter einem ähnlichen Gesichtspunkt zu kritisieren wie dessen "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen". Das heißt, sowohl für Nozick wie für Humboldt ist die Gewährung von Recht und Sicherheit für seine Bürger die einzige zu rechtfertigende Funktion, die der Staat zu erfüllen hat. Demgegenüber ist wiederholt einzuwenden, daß allein schon der Sicherheit wegen der Staat auch noch andere Funktionen und Aufgaben zu erfüllen hat, z. B. Wohlfahrts- und Bildungsaufgaben, weil die Sicherheit der Bürger auch weitgehend von ihrer sozialen Wohlfahrt und ihrem Bildungsniveau abhängt, um nicht hilflos den wirtschaftlich Mächtigeren und den an Wissen Überlegenen ausgeliefert zu sein. Das Subsidiaritätsprinzip hat gezeigt, daß die "weitere und übergeordnete Gemeinschaft" das Individuum auf allen Gebieten zu unterstützen hat, wo es nicht oder nicht ebenso gut ohne deren Hilfe zurechtkommt. Das erfordert aber mehr als einen Minimalstaat. Es kann demnach nicht nur zuviel, sondern auch zuwenig Staat geben. Der Staat hinterläßt ein Machtvakuum 38 , wenn er sich nur auf das äußerste Minimum an Aufgaben zurückzieht. Damit besteht die Gefahr, daß andere sich dieses Machtvakuums bemächtigen, z. B. radikale politische Gruppierungen, fanatische Religionsgemeinschaften mit ganz bestimmten Ideen (Ideologien). Dies führt dann meistens zum nächsten Schritt, nämlich zur Aufhebung des Dualismus von Staat und Gesellschaft, wie es z. B. in totalitären Staaten der Fall ist, wo der Staat nicht mehr als neutrale Instanz zwischen der Pluralität von Meinungen und Interessen vermittelt, sondern selbst zum Vollstrecker ganz bestimmter Meinungen, Interessen und IdeoloR. Nozick, Anarchie, Staat, Utopia. München 1976, 303. Ebd.302. 38 Vgl. dazu auch M. Abelein, Der absterbende Staat. In: Auf dem Wege zur hörigen Gesellschaft. Hrsg. v. O. Schatz. Graz 1973,47 f. 36
37
14.3 Ideologie und Staat
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gien wird. Ferner büßt er aber selbst an Macht ein, wenn z. B. Betriebe die Staatsbürgerrechte jederzeit einschränken können, "Reiseerlaubnisse verweigern, religiöse Praxis durch Nachteile am Arbeitsplatz bestrafen, ohne daß hier an den Staat appelliert werden könnte. Der Staat hat einen Teil seiner hoheitlichen Befugnisse an eine ihrerseits total politisierte und gleichgeschaltete Gesellschaft abgetreten. "39 Unter dem Dualismus von Staat und Gesellschaft hat sich das entfaltet - schreibt Spaemann - "was wir heute an individueller Freiheit besitzen und nicht wieder verlieren möchten: Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit, Freiheit der Berufswahl, der Eheschließung, Vereinigungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit usw. "40 Wird die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft übertüncht, dann gibt es keine neutrale Instanz mehr, die diese Rechte und Freiheiten schützt. So schützt der Staat "nicht nur die Zusammenschlüsse der Menschen, Kirchen, Gewerkschaften usf., sondern er hindert die gesellschaftlichen Gruppen auch daran, ihren Mitgliedern gegenüber mit quasi politischen Vollmachten aufzutreten. Er schützt die Kirche, aber er garantiert auch die Freiheit des Kirchenaustritts, er schützt die Gewerkschaft, aber er schützt auch die Freiheit, ihr nicht anzugehören. Vor allem, er schützt als Rechtsstaat die Minderheiten, die in der Gesellschaft der Macht schutzlos ausgeliefert wären. "41 Das heißt, Freiheit als Selbstbestimmung ist nur gegeben, wenn sie auch gewährleistet ist. Keine andere Institution als der Staat kann aufgrund seines Gewaltmonopols, zumindest auf seinem Hoheitsgebiet, diese Gewährleistung geben, sofern nicht übermächtige Feinde ihn daran hindern. Es hängt also wesentlich vom Staat ab, inwiefern er Freiheit (als Freisein von Fremdbestimmung) vermittelt oder unterbindet. Das Subsidiaritätsprinzip bietet dafür, wie sich gezeigt hat, eine legitime Orientierung, inwieweit der Staat in die Bereiche des Individuums eingreifen darf. Das Individuum muß sich aber dessen bewußt sein, daß, je mehr Leistungen es vom Staat erwartet, desto mehr Einschränkung der Freiheit dies zur Folge haben wird. Denn zum einen können staatliche Leistungen nur erbracht werden, wenn zuvor Leistungen von den Bürgern erbracht worden sind, und zum anderen gewinnt derjenige, der Leistungen gewährt, auch immer mehr Befugnisse über den Leistungsempfänger. 42 Es hängt also wesentlich von der Reife der Bürger ab, ob und in welchem Ausmaß sie kurzfristige Vorteile für längerfristige Nachteile eintauschen. Auch kann eine Nichtbeachtung der Konsequenzen, die sich aus einem Zustimmungs akt zu mehr staatlicher 39 R. Spaemann, Staat und Gesellschaft. In: Staatsethik. Hrsg. v. W. Leisner (Internationale Stiftung Humanum Bd. 9). Köln 1977, 43. 40 Ebd.4lf. 41 Ebd.43f. 42 Vgl. H. Lau/er, Freiheit und Gleichheit. In: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung. Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. G. Leibholz u. a. Tübingen 1974, 345.
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14 Ideologie, Recht und Staat
Herrschaftsgewalt ergeben (z. B. Einführung der Todesstrafe, Recht zu Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Befehl, längerfristige Festnahmen von verdächtigen Personen allein aufgrund von Verdachtsmomenten ohne stichhältige Beweise usw.), zu Folgen führen, die sich - sind sie einmal gesetzlich verankert - nicht mehr so schnell beseitigen lassen. Es ist deshalb notwendig, Entscheidungen richtig zu beurteilen, was aber in der Bevölkerung ein bestimmtes Maß an Bildung voraussetzt, eine Forderung, die uns nochmals auf Humboldts "Ideen" zurückkommen läßt.
15 Humboldt und das Subsidiaritätsprinzip 15.1 Bildung und Subsidiarität
Jeder Rechts- und Staatsphilosophie liegt eine ihr zugeordnete Lehre vom Menschen zugrunde. So läßt sich auch Humboldts Theorie von den Grenzen der Wirksamkeit des Staates nur auf dem Hintergrund seines Menschenbildes verstehen. Das menschliche Individuum ist für ihn eine in der Erscheinung wurzelnde Idee, die der Bildung, d. h. der proportionierlichsten Ausbildung der in ihr innewohnenden Kräfte, bedarf, um sich zu einer "idealischen Individualität"l zu entfalten. Als solche wird sie zu einem konstituierenden Teil des Menschheitsideals, das sich als Totalität idealischer Individualitäten versteht. Demnach bedeutet jede Beeinträchtigung der Entfaltung des Individuums "nicht nur eine Unterdrückung dieses Individuums, sondern eine nicht wiedergutzumachende Verarmung des Menschheitsideals ... Bildung wird daher nicht nur zu einem Menschenrecht, sondern zu einer Menschheitspflicht, da der Mensch über sein bloßes Symbol seiner Gattung hinaus sich in seiner Menschheit darstellen soll. "2 Um dies zu erreichen, bedarf es nach Humboldt Freiheit und Mannigfaltigkeit der Situationen. Staat und Gesellschaft müssen so organisiert werden, daß die Entfaltung des Individuums gewährleistet ist, und zwar nicht nur in einer bestimmten Richtung oder zu einem spezifischen Zweck, sondern zu seiner reinen Verwirklichung als Mensch. Mit diesem Bildungsideal steht Humboldt in der Tradition des deutschen Humanismus, für den der Begriff Bildung zum Symbol für Geist, Kultur und Humanität wird. Die auf vielfache Weise verlorengegangene Individualität und Würde des Menschen, bedingt durch gesellschaftliche, politische und naturwissenschaftliche Entwicklungen, sollte durch Bildung wiederum zurückgewonnen werden. Entgegen der Auffassung des aufgeklärten Absolutismus, nach der jeder Bürger gemäß seinem Stand durch öffentliche Erziehung gebildet werden soll, um für den Staat das Beste leisten zu können, wird in der klassisch-humanistischen Bildungskonzeption der Begriff Bildung der Selbstvervollkommnung des Individuums zugedacht. Vor allem Humboldt wehrt sich dagegen, Bildung in den Dienst äußerer Zwecke zu stellen. Daraus erklärt sich auch seine ablehnende Haltung gegenüber Vgl. oben Kap. 5.4: Idealität und Selbstverwirklichung. C. Menze, Bildung. In: Staats lexikon. Hrsg. v. d. GÖrres-Gesellschaft. Freiburg 71985, Sp. 786. 1
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15 Humboldt und das Subsidiaritätsprinzip
berufsbildenden Schulen, in denen schon von Anfang an die ganzheitliche Bildung des Menschen einer Spezialisierung zum Opfer fällt. In einem solchen einseitigen Ausbildungsprogramm wird der wahre Zweck des Menschen verfehlt, nämlich "die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen"3 zu erlangen. Auch im Staat darf der Mensch nicht dem Bürger geopfert werden; die Vervollkommnung des Individuums ist nicht an seiner Brauchbarkeit für die Gesellschaft zu messen. Bildung als möglichst vollkommene Entfaltung der im Individuum angelegten Fähigkeiten, als Prozeß der Verwirklichung seiner Idee auf seine Idealität hin, ist nur als Selbstbildung denkbar und darf in keiner Weise vom Staat beeinflußt werden. Nur so läßt sich das Ideal der Menschheit zu immer höherer und fortschreitender Vollkommenheit, vermittelt durch ideale Individualitäten, verwirklichen. Doch bei aller Anerkennung der geistigen Werte, die im Hinblick auf die Verwirklichung eines idealen Menschentums der klassisch-humanistischen Bildungskonzeption zugrunde liegen, wird man sich dennoch fragen müssen, ob dieser Bildungsbegriff nicht in einer zu großen Distanz zur Wirklichkeit steht. Dieser Vorwurf trifft in besonderer Weise Humboldt, wenn er lediglich von Freiheit und Mannigfaltigkeit der Situationen als unerläßliche Bedingungen für die Verwirklichung von Bildung spricht. Diese Bedingungen sind zwar notwendig, aber nicht hinreichend für die Bildung des Individuums, selbst in Humboldts spezifischer Interpretation von Bildung als Entfaltung der im Individuum angelegten Fähigkeiten und Kräfte. Daß auch äußere, soziale Bedingungen für die Bildung relevant sind, hat als ein Vertreter des klassisch-humanistischen Bildungsideals bereits Goethe erkannt, wenn er in seinem Entwicklungsroman "Wilhelm Meister" seine Romanfigur Wilhelm zur Erkenntnis gelangen läßt: "Indem es dem Edelmann, der mit den Vornehmsten umgeht, zur Pflicht wird, sich selbst einen vornehmen Anstand zu geben, ... so hat er Ursache, etwas auf sie zu halten und zu zeigen, daß er etwas auf sie hält ... Nun denke dir irgend einen Bürger, der an jene Vorzüge nur einigen Anspruch zu machen gedächte; durchaus muß es ihm mißlingen, und er müßte desto unglücklicher werden, je mehr sein Naturell ihm zu jener Art zu sein Fähigkeit und Trieb gegeben hätte. Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Grenzen kennt, wenn man aus ihm Könige oder königähnliche Figuren erschaffen kann, so darf er überall mit einem stillen Bewußtsein vor seinesgleichen treten; er darf überall vorwärts dringen, anstatt daß dem Bürger nichts besser ansteht als das reine, stille Gefühl der Grenzlinie, die ihm gezogen ist. "4 Das heißt, soll Bildung nicht nur einer elitären Schicht vorbehalten bleiben, sondern allen Bürgern zugänglich werden, bedarf sie der staatlichen Unterstützung, was aber noch 3 4
GS 1,106. Goethes Werke. Festausgabe. 11. Bd. Leipzig 1826 - 1926, 288f.
15.1 Bildung und Subsidiarität
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nicht besagt, daß der Staat allein darüber zu befinden hat, wem und in welchem Ausmaß Bildung vermittelt werden soll. Doch zunächst stellt sich die Frage, was unter Bildung überhaupt zu verstehen ist. Daß Bildung mehr ist als nur Wissen, dem würde auch Humboldt zustimmen. 5 Ebenso distanziert er sich von einem nur kontemplativen Bildungsbegriff, wie ihn die Griechen pflegten: "Die Alten, vorzüglich die Griechen, hielten jede Beschäftigung, welche zunächst die körperliche Kraft angeht, oder Erwerbung äußerer Güter, nicht innere Bildung zur Absicht hat, für schädlich und entehrend. Ihre menschenfreundlichsten Philosophen billigten daher die Sklaverei, gleichsam durch ein ungerechtes und barbarisches Mittel einem Teile der Menschheit durch Aufopferung eines andren die höchste Kraft und Schönheit zu sichern. Allein den Irrtum, welcher diesem ganzen Räsonnement zum Grunde liegt, zeigen Vernunft und Erfahrung leicht. jede Beschäftigung vermag den Menschen zu adeln, ihm eine bestimmte, seiner würdige Gestalt zu geben. Nur auf die Art, wie sie betrieben wird, kommt es an; und hier läßt sich wohl als allgemeine Regel annehmen, daß sie heilsame Wirkung äußert, solange sie selbst und die darauf verwandte Energie vorzüglich die Seele füllt, minder wohltätige, oft nachteilige hingegen, wenn man mehr auf das Resultat sieht, zu dem sie führt, und sie selbst nur als Mittel betrachtet. "6 In seiner ursprünglichsten Bedeutung, abgeleitet von Bild, Abbild, Ebenbild, ist unter Bildung eine Formgebung durch äußere Einwirkung zu verstehen. Beim Menschen bezieht sich diese Formgebung weniger auf seine äußere Gestalt, sondern vielmehr auf seine inneren Anlagen (Verstand, Vernunft, Gefühl, Charakter usw.). In der heutigen Sprache bedeutet Bildung "vor allem die Entwicklung und Förderung der Anlagen des heranwachsenden Menschen nach einem Vorbild, ... das durch die jeweiligen Kulturtendenzen wesentlich mitbestimmt ist ... Eine Verkennung des Bildungsbegriffs ist einerseits die Verwechslung mit bloßem Vielwissen oder bloßer Schulbildung, die nur eine Erleichterung des Weges zur Bildung bedeuten kann, andererseits die Überschätzung an sich wertvoller gesellschaftlicher Formen. "7 Gebildet ist demnach nicht nur, wer Wissen besitzt (Bildungsphilister), sondern wer auch mittels seines Wissens und Könnens teilnimmt am geistigen Leben seiner Zeit, an der Gestaltung und Formgebung ("Bildung") seiner Mitwelt und Umwelt. Das setzt zwar ein Wissen und Können voraus, aber auch ein Bewußtsein um die Grenzen seiner Sachkenntnisse und seines Urteils- und Leistungsvermögens. Denn nicht wer auf irgendeine Weise handelt oder urteilt, kann sich gebildet nennen, sondern nur wer dies auf Vgl. oben Kap. 5.3: Humanität und Bildung. GS 1,118. 7 Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1955, 124. 5 6
256
15 Humboldt und das Subsidiaritätsprinzip
umsichtige Weise und in Kenntnis der Sache tut. Das heißt, Bildung impliziert Verantwortung als Reflexion darauf, wozu man fähig und berechtigt ist, bestimmte Handlungen zu setzen, Urteile zu fällen, Forderungen an die Mitmenschen zu stellen usw. Verantwortung als dreistellige Relation - jemand ist verantwortlich vor anderen und für etwas - hat ihren Ort im sozialen Gefüge der wechselseitigen Anerkennung und Beanspruchung. Das Subsidiaritätsprinzip als Zuständigkeitsregulativ zeigt, nach welchen Kriterien die wechselseitige Anerkennung und Beanspruchung von Individuum und Gesellschaft geregelt werden soll. Doch als formales Prinzip besagt es in seiner konditionalen Formulierung nach Nell-Breuning nur: " Wenn der Einzelmensch (die Gliedgemeinschaft) sich selbst helfen kann, darf die Gemeinschaft ihn (sie) nicht der Selbsthilfe entheben, indem sie ihre (Fremd-)Hilfe aufdrängt, ... wenn dagegen der Einzelmensch (die Gliedgemeinschaft), auf sich allein gestellt, nicht imstande ist, sich selbst zu helfen, vielmehr damit überfordert wäre und daher auf Hilfe der (übergeordneten) Gemeinschaft angewiesen ist, denn hat diese hilfreich einzuspringen, ... "8 Doch Nell-Breuning fügt dazu: "Ob das erste oder das zweite der beiden ,Wenn' erfüllt ist, das muß in jedem Fall, bevor die Gemeinschaftshilfe beansprucht oder geleistet werden kann, gewissenhaft geprüft werden. "9 Daraus ergibt sich, daß das Subsidiaritätsprinzip sich nicht selbst genügt, sondern auf weiteren Voraussetzungen beruht, nämlich auf einer gewissenhaften Überprüfung, was aber zumindest zweierlei verlangt: erstens ein Wissen (Kenntnis der Sache) und zweitens die Berücksichtigung des sittlichen Aspekts (Verantwortung). Damit sind zwei Bestimmungen genannt, die doch wesentlich zum Begriff der Bildung gehören, da Bildung eben nicht nur Wissen ist, sondern auch ein "Wissen" um das eigene Leistungsvermögen und dessen Grenzen. Auf das Subsidiaritätsprinzip angewandt, bedeutet dies, daß einerseits nur gebildete Individuen, d. h. Individuen, die über die notwendigen Sachkenntnisse verfügen und auch Verantwortungsbewußtsein haben, darüber entscheiden können, ob und in welchem Ausmaß sie ihre Aufgaben selbst erfüllen können oder der Gemeinschaftshilfe bedürfen. Andererseits hängt es ebenso von der Bildung der Politiker und Staatsmänner ab, d. h. von ihrem Wissen über die Leistungsfähigkeit ihres Volkes und ihrer Verantwortung gegenüber ihrem Volke, ob und in welchem Ausmaß sie das Volk eigeninitiativ sein lassen können oder intervenieren müssen. Bildung und Subsidiarität stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. So ist zum einen - wie sich gezeigt hat - die Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips auf Bildung angewiesen, zum anderen bedarf aber Bildung selbst der Vermittlung; der Mensch braucht zur Bildung auf vielfälB
9
O. v. Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft (Herder 315). Freiburg 1968, 86. Ebd.
15.2 Bildung und Demokratie
257
tigste Weise die Hilfe der Mitmenschen, entgegen der Ansicht Humboldts, sogar des Staates. Nun gilt aber auch auf dem Bereich der Bildung, daß den Individuen in ihrer personalen Wesens entfaltung nur so weit Hilfe angeboten werden darf, als sie diese Hilfe brauchen, andernfalls würde man ihrer freien Entfaltung entgegenwirken und sie manipulieren. Hilfe aber nur in dem Ausmaß zu gewähren, als erforderlich ist - als Hilfe zur Selbsthilfe -, entspricht genau dem Grundgedanken des Subsidiaritätsprinzips. Auch Humboldt ist ähnlicher Ansicht, wenn er einerseits vom Staat für die Verwirklichung des Individuums Freiheit fordert, andererseits sich aber auch dessen bewußt ist, daß "die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen gleich hohen Grad der Bildung"IO verlangt. Allerdings war er davon überzeugt, daß zu seiner Zeit die Voraussetzungen für die Gewährung eines hohen Maßes an Freiheit gegeben waren, und zwar nicht nur für bestimmte Individuen, sondern für jedes Individuum. "Keiner steht auf einer so niedrigen Stufe der Kultur, daß er zur Erreichung einer höheren unfähig wäre. "11 Und durch nichts wird "Reife zur Freiheit in gleichem Grade befördert, als durch Freiheit selbst." 12 Um so verwunderlicher ist es, daß Humboldt nach allen Prämissen, die er im Hinblick auf die Entfaltung des Individuums setzt, sich nicht für die Staatsform ausspricht, die dem Individuum am meisten Selbstbestimmung und Mitbestimmung einräumt, nämlich für die Demokratie. 15.2 Bildung und Demokratie
Während heutzutage die Staatsform der Demokratie zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist und kaum mehr legitimations bedürftig erscheint, weil keine Regierung als undemokratisch gelten möchte - selbst Diktaturen versprechen, sobald die Zeit reif dafür ist, eine Verfassungsänderung im Sinne der Demokratie vorzunehmen -, hatte zu Humboldts Zeit der Begriff Demokratie noch keineswegs diese positive Bedeutung. So stehen z. B. Montesquieu, Rousseau, Wieland und Kant der Staatsform der Demokratie eher mit Skepsis gegenüber und zweifeln an ihrer Realisierbarkeit außerhalb kleinster Gemeinwesen. Auch die Auswirkungen der Französischen Revolution waren keine besondere Empfehlung für die Demokratie, sondern bestätigten vielmehr Kants Auffassung, daß in einer Demokratie "alles da Herr sein will" 13. Selbst Rousseau, der einerseits mit seinem Werk "Contract Social" als Erneuerer des klassischen Demokratiebegriffs gelten darf, sieht andererseits auch die Unzulänglichkeit dieser Staatsform, wenn er schreibt: "Das Wort in strenger Bedeutung genommen, so hat es nie eine GS I, 10I. GS I, 162. 12 GS I, 24I. 13 I. Kant, Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. VIII. Berlin 1923. 353. 10 11
17 Battisti
258
15 Humboldt und das Subsidiaritätsprinzip
wahrhafte Demokratie gegeben, und es wird auch nie eine geben. Es ist gegen die Ordnung der Natur, daß die große Anzahl regiere, und daß die kleine regiert werde. Man kann sich gar nicht vorstellen, das Volk werde immer beisammen bleiben, um die öffentlichen Angelegenheiten zu besorgen, ... Gäbe es ein Volk, das aus Göttern bestände, so würde dieses sich demokratisch regieren. Für Menschen aber paßt eine so vollkommne Regierungsart nicht. "14 Dennoch - auch wenn sich die Demokratie niemals in vollendeter Form praktizieren läßt - kann sie als die Staatsform angesehen werden, die der Selbstbestimmung und dem Selbstzweck des Menschen am meisten entspricht. Denn Demokratie beruht auf Gleichheit und Freiheit - auf Gleichheit als Garant dafür, daß es bei der Anerkennung von Rechten zwischen den Individuen keinen Unterschied gibt, und auf Freiheit als Garant für die Selbstbestimmung der Individuen. Gleichheit garantiert aber auch den Selbstzweck des Menschen, denn wo Gleichheit in der Anerkennung von Ansprüchen gewährleistet ist, da gibt es keine Über- und Unterordnung und auch keine Mittel-Zweckbeziehung. Jedes Individuum wird in seinem Eigenwert als Selbstzweck anerkannt. Allerdings stehen Gleichheit und Freiheit als Prinzipien der Demokratie in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis zueinander, denn je mehr Gleichheit zwischen den Individuen angestrebt und verwirklicht wird, desto fragwürdiger wird die Freiheit, und je mehr Freiheit entfaltet werden kann, desto schwieriger wird es mit der Gleichheit,15 "Freiheit ohne Gleichheit ist Privileg, ist institutionelle Übermacht, und die Kehrseite heißt dann Benachteiligung, ja Unterdrückungnämlich der Ungleichen. Andererseits verstümmelt Gleichheit ohne Freiheit den Menschen. Gleichheit ohne Freiheit widerspricht der menschlichen Individualität, erstickt den Fortschritt, und letztlich ist Gleichheit ohne Freiheit notwendig politische Ungleichheit." 16 Es ist deshalb wesentlich Aufgabe der Politiker, dieses Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Freiheit immer neu zu überdenken und zu vermitteln. Der Kampf um Demokratie in der politischen Geschichte kann weitgehend als ein Kampf um Gleichheit und Freiheit angesehen werden. Gleichheit ist einerseits eine Voraussetzung dafür, daß allen Individuen Freiheit zuerkannt wird, andererseits wird Gleichheit durch Freiheit vermittelt, denn Gleichheit vor dem Gesetz ist nur dann gegeben, wenn alle Individuen auch gleich frei sind, d. h. als freie Personen in ihrem Eigenwert anerkannt werden. 14 J. J. Rousseau, Abhandlung über den Bürgervertrag, oder: Grundlage des bürgerlichen Rechts. Übers. v. J. H. G. Heusinger. Leipzig 1829, 90. 92. 15 Vgl. H. Lauter, Freiheit und Gleichheit. In: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung. Festschrift für W. Geiger zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. G. Leibholz u. a. Tübingen 1974, 340f. 16 Ebd. 341.
15.2 Bildung und Demokratie
259
Im Gegensatz zu allen anderen Staatsformen wie Monarchie, Aristokratie, Plutokratie usw. ist in der Demokratie nicht präjudiziert, wer mit welchen Aufgaben betraut wird. Grundsätzlich garantieren Freiheit und Gleichheit jedem Individuum den gleichen Anspruch darauf. Da aber bestimmte Aufgaben bestimmte Qualifikationen voraussetzen, ist es sinnvoll und zweckmäßig, wenn dafür die geeignetsten Personen (Gruppen, Parteien) ausgewählt werden. Das setzt aber ein in der Mehrheit gebildetes Volk voraus, das sowohl über hinreichende Sachkenntnisse verfügt, als auoh genügend Urteilsvermögen und Verantwortungsbewußtsein besitzt, um bei der Wahl die richtige Entscheidung zu treffen. Dies wiederum verlangt einerseits von den sich zur Wahl stellenden Personen (Gruppen, Parteien) eine hinreichende Information über ihr politisches Programm und andererseits vom Wähler ein engagiertes Interesse am politischen Geschehen, das er ja durch seine Wahlentscheidung mitgestaltet. Es hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt, daß ein mehrheitlich ungebildetes oder halbgebildetes Volk, das dem politischen Geschehen zuwenig Aufmerksamkeit schenkt, den Politikern blindlings vertraut oder sich von kurzfristigen Interessen blenden läßt, früher oder später der Diktatur verfällt. Diese Erfahrung wird auch auf umgekehrte Weise bestätigt, daß nämlich in Diktaturen die gebildete Schicht des Volkes als erste mundtot gemacht wird, um die Macht kritiklos aufrechterhalten zu können. Bildung ist deshalb mehr als nur die Befriedigung eines individuellen Bedürfnisses in Form von Lexikonwissen, das sich der Beliebtheit der Bevölkerung bei Fernsehquizsendungen oder beim Lösen von Kreuzworträtseln erfreut, sondern Bildung umfaßt eine durch theoretisches und praktisches Wissen vermittelte und durch ein Wertbewußtsein geprägte Grundorientierung des Menschen, die ihn nicht nur passiv abwarten läßt, was mit seiner Mitwelt und Umwelt geschieht, sondern ihn je nach Talent und Fähigkeit zur Mitgestaltung aufruft. Bildung ist demnach eine Verpflichtung sowohl für den Staat, sie den Individuen gemäß dem Subsidiaritätsprinzip zu ermöglichen, als auch für die Individuen, sie sich anzueignen, weil nur gebildete Individuen ihre der menschlichen Würde entsprechende Selbstbestimmung und Selbstverfügung als Zweck an sich wahren können. Und insofern Demokratie von allen anderen Staatsformen die Selbstbestimmung der Individuen am meisten berücksichtigt, kann sie auch als die der menschlichen Würde am meisten entsprechende Staatsform bezeichnet werden, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß das Volk auch um die Verantwortung seiner Selbstbestimmung weiß. Denn die Demokratie kann auch "unter Umständen die schlechteste aller staatlichen Ordnungen sein - dann nämlich, wenn das Volk für sie nicht reif ist, dann, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse so zerrüttet sind, daß nur ein starker zentraler Wille ... imstande ist, die offene oder latente gesellschaftliche Anarchie zu bändigen" 17 . 17 17'
E. Brunner, Gerechtigkeit. Zürich 31981,237.
260
15 Humboldt und das Subsidiaritätsprinzip
Die Schwächen der Demokratie liegen u. a. auch darin, daß Wahlentscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip erfolgen und somit - wie bereits Rousseau kritisch bemerkte - die kleine Anzahl von der großen regiert wird.1 8 . Dadurch wird aber das Prinzip der Gleichheit verletzt, weil fortan die Mehrheit ihre Interessen der Minderheit aufzwingt, und - so könnte man weiter folgern - die Demokratie zum Recht des Stärkeren (der Mehrheit) wird. Dies läßt sich allerdings in der Praxis nicht vermeiden, weil erstens Entscheidungen gefällt werden müssen (ihnen auszuweichen, wäre selbst eine Entscheidung) und zweitens nicht zu erwarten ist, daß bei allen zur Entscheidung stehenden Fragen ein Konsens erreicht wird, was nicht einmal in den kleinsten demokratischen Gemeinwesen der Fall ist. Abgesehen davon, daß allein schon aus utilitaristischen Erwägungen eine Entscheidung durch Mehrheitsprinzip einer Entscheidung durch Kampf vorzuziehen ist, weil sich die Verlierer dann endgültig um die Chance der Verwirklichung ihrer Ideen bringen, hat die Demokratie hinsichtlich der Kontroverse Mehrheit - Minderheit gegenüber anderen Staatsformen auch den Vorteil, daß bei der nächsten Wahl die Minderheit zur Mehrheit werden kann. Nicht zu übersehen ist aber auch, daß formale Mehrheitsbeschlüsse oft die Interessen von Minderheiten enthalten, z. B. wenn keine Partei im Parlament über die absolute Mehrheit verfügt und auf die Koalition von Minderheitsparteien angewiesen ist, diese sich aber nur dann bereit erklären, Regierungsverantwortung zu übernehmen, wenn ihre Interessen wahrgenommen werden. Es zeigt sich aber auch in der Demokratie, daß sich Führungskräfte herauskristallisieren, die das politische Geschehen bestimmen, was die Auffassung von der Demokratie als Volkssouveränität in Zweifel geraten läßt. So stellt sich dann die Frage, ob man überhaupt noch von einer Selbstbestimmung der Bürger im Hinblick auf Verfassung, Gesetzgebung und Regierung sprechen kann. Ist es nicht vielmehr so, daß der Bürger mit seiner Stimmabgabe auch sein Mitspracherecht am weiteren politischen Geschehen "abgibt", zumal er kaum noch Einfluß auf die Interpretation der Wahlergebnisse hat? Auch ist das politische Programm, das die wahlwerbenden Parteien vor der Wahl präsentieren, keine Gewähr, daß sich die gewählten Vertreter in der anstehenden Legislaturperiode auch daran halten werden. Zudem müßten die Politiker, wollten sie wirklich dem Willen des Wählers ganz entsprechen, bei jeder zu treffenden Entscheidung nochmals die Zustimmung ihrer Wähler einholen. Daß dies nicht bei jeder Entscheidung möglich ist, ist einzusehen, weil dann die politische Praxis einem ständigen Urnengang zum Opfer fiele, wohl aber müßte es bei wichtigen politischen Entscheidungen mehr Plebiszite geben, die dem Volk das Bewußtsein vermitteln, aktiv am politischen Geschehen mitwirken zu können. Dies setzt allerdings wiederum ein gebildetes Volk voraus, das sich der Wichtigkeit der 18
Vgl. oben Anm. 14.
15.2 Bildung und Demokratie
261
Entscheidung bewußt ist, sich darüber auch informiert und nicht nur seinen Unmut über "schon wieder einen Urnengang" kundtut. Die Selbstbestimmung des Volkes hinsichtlich Verfassung, Gesetzgebung und Regierung garantiert zwar noch nicht, daß seine Entscheidungen auch immer richtig sind; bei mangelnder Aufklärung und Bildung wird eher das Gegenteil der Fall sein. Doch das berechtigt den Staat noch keineswegs, seine Bürger ständig zu bevormunden, dies wäre reinster Despotismus, wie außer Humboldt auch Kant dazu kritisch bemerkt: "Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, ... wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt)." 19 Aber auch die Demokratie ist nicht Selbstzweck, das mag auch der Grund sein, warum sich Humboldt nicht uneingeschränkt zu ihr bekennt. Es genügt ihm nicht, daß nur die Mehrheit bestimmt, was Gesetz sein soll, sondern die Gesetze haben sich am wahren Zweck des Menschen, nämlich an der "höchsten und proportionierlichsten Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen"20 zu orientieren. Zweifellos betrachtet auch Humboldt es als wünschenswert, daß nur das Gesetz sein soll, was die Mehrheit anerkennt, daß also den Bürgern von der Obrigkeit so wenige Gesetze wie möglich (nur was ihre innere und äußere Sicherheit betrifft) aufgezwungen werden. Doch daß die Gesetze auch ihren Zweck erfüllen, nämlich die freie Entfaltung der Individuen gewährleisten, dafür ist ihm eine Entscheidung nach dem Mehrheitsprinzip noch keine Garantie. In der Tat, Demokratie als Staatsform vermittelt zwar ihren Bürgern Freiheit als Selbstbestimmung, aber sie lebt selbst auch aus der Freiheit als Selbstbestimmung. Denn ohne persönliche Freiheitsrechte, z. B. Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, und ohne das Recht, unbehindert von äußerem Zwang seine Stimme in den Wahllokalen abgeben zu dürfen 21, läßt sich Demokratie nicht verwirklichen. Dies setzt aber doch ein hohes Maß an Bildung, nämlich auch als ein Wissen um die Würde des Menschen, voraus, ein Wertgehalt, der - wie sich gezeigt hat - sowohl Humboldts "Ideen" als auch dem Subsidiaritätsprinzip zugrunde liegt.
19
Kant (s. Anm. 13) 290f.
GS 1,106. Vgl. O. Höffe, Die Menschenrechte als Legitimation demokratischer Politik. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 26 (1979) 14. 20
21
262
15 Humboldt und das Subsidiaritätsprinzip
15.3 Der subsidiäre Gehalt in Humboldts "Ideen" eine Gegenüberstellung
Auch wenn das Subsidiaritätsprinzip auf eine lange Tradition verweisen kann, so wurde es inhaltlich in der Konzeption von "Quadragesimo anno" doch entscheidend vom Gedankengut des Liberalismus mitgeprägt. Diesbezüglich ist A. F. Utz zuzustimmen, wenn er schreibt: "Auf jeden Fall bedurfte es - wenigstens rein äußerlich - des Anstoßes durch den Liberalismus mit seiner überbetonten Auffassung vom Rechtsstaat, um überhaupt zu einem solchen Sozi al prinzip vorzustoßen. Damit sei durchaus nicht behauptet, daß das Subsidiaritätsprinzip im Liberalismus beheimatet sei. Wohl aber ist damit gesagt, daß das christliche Denken allein mit seiner betont ethischen Sicht der Gesellschaft dieses ,Riegelprinzip' nicht erfunden hätte. "22 Allerdings sieht Utz zwischen der Theorie des Subsidiaritätsprinzips und der des Liberalismus auch einen wesentlichen Unterschied, insofern es nämlich für den Liberalismus nur Privatsphären gibt. 23 Dieser Vorwurf trifft in abgeschwächter Form auch Humboldt, der in seiner Schrift von den Grenzen der Wirksamkeit des Staates die Privatsphäre des Individuums sehr deutlich gegenüber staatlichen Ansprüchen abzugrenzen versucht. Wie vor allem die Abhandlungen über "Staat und Sittlichkeit", "Polizeigesetze" und "Zivilgesetze" zeigen 24, dehnt Humboldt den Begriff von indifferenten Handlungen, d. h. von Handlungen, welche auf die Interessen der Mitmenschen kaum Einfluß nehmen und folglich auch keiner staatlichen Einschränkung bedürfen, sehr weit aus, und zwar weiter, als dies der Begriff Gemeinwohl nach dem Subsidiaritätsprinzip zuläßt. Doch wie jeder Rechts- und Staatsphilosophie eine ihr zugeordnete Theorie vom Menschen zugrunde liegt, so gründet Humboldts frühliberales Staatsmodell auf dem Menschenbild der Aufklärung und des klassischen Humanismus, wenn auch in einer von ihm vorgenommenen modifizierten Form. So übernimmt er von der Aufklärung, speziell von Rousseau, die Theorie, daß der Mensch von Natur aus gut sei und demnach eher zu wohltätigen als zu eigennützigen Handlungen neige. 25 Auch daß alle Menschen aufgrund ihrer Verstandeskraft (bei Humboldt kommt allerdings noch die "Einbildungskraft" als ein gleichsam intuitives Erkenntnisvermögen hinzu) nun einen Bildungsstand erreicht haben, der ihnen ein hohes Maß an Freiheit (Selbstbestimmung, Autonomie) zuerkennt, findet ebenso Humboldts Zustimmung. Befremdend hingegen erscheint ihm, daß im Gedankengut der 22 A. F. Utz, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des Subsidiaritätsprinzips. In: Das Subsidiaritätsprinzip. Hrsg. v. A. F. Utz (Sammlung Politeia Bd. 11). Heidelberg 1953,7. 23 Ebd.9. 24 Vgl. oben die Kap. 8.3.2; 9.1 und 9.2. 25 Vgl. GS I, 176.
15.3 Gegenüberstellung: Humboldts "Ideen" - Subsidiaritätsprinzip
263
Aufklärung das Allgemeine gegenüber dem Besonderen (Individuellen) den Vorrang hat; bedeutet für ihn die Individualität doch das entscheidende Element am Menschen. Diesbezüglich findet er im klassischen Humanismus mehr Resonanz, vor allem bei Goethe und Schiller, bei denen auch der individuelle Anspruch auf Selbstverwirklichung, z. B. das Streben des Individuums nach reiner Menschlichkeit, in die Humanitätsidee aufgenommen wird. Humboldt, der selbst zur Gefolgschaft des klassischen Humanismus gehört und zu einem bedeutenden Repräsentant dieser Kulturepoche wird, sieht jedoch das für das Individuum Wertvolle vor allem in der Ausbildung der ihm zugrunde liegenden Fähigkeiten und Kräfte zu einem harmonischen Ganzen, also eher neutral - ohne besonderen Bezug zu sittlichen Werten. Demgegenüber stellen sich bei anderen Vertretern des klassischen Humanismus auch altruistische Motive zur Verwirklichung des Menschheitsideals in den Vordergrund, z. B. in vollkommenster Form ausgeprägt bei Goethe in der Gestalt der Iphigenie als Symbol reinster Menschlichkeit. Hingegen bleiben bei Humboldt altruistische Motive eher im Hintergrund, und sie haben auch für die Verwirklichung des Menschheitsideals kaum Bedeutung. Der sittliche Wert des Individuums besteht für ihn hauptsächlich darin, sich selbst zu entfalten und dadurch das Menschheitsideal zu vervollkommnen. Damit anerkennt Humboldt zwar, daß die Vervollkommnung des Individuums nur durch ein ständiges Tätigsein erreicht werden kann, analog dem Axiom: "Omne agens agendo perficitur", das auch dem Subsidiaritätsprinzip zugrunde liegt. Doch im Gegensatz zu Humboldts Theorie über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates ist das Subsidiaritätsprinzip vielmehr auf das Gemeinwohl angelegt, das sich auch als Kriterium des Subsidiums ausgewiesen hat. Das heißt, für die Befürworter des Subsidiaritätsprinzips läßt sich der Begriff Privatwohl ohne Bezug zum Gemeinwohl genausowenig denken wie der Begriff Gemeinwohl ohne Bezug zum Privatwohl. Diesbezüglich zeigt sich ein erster Unterschied zwischen Humboldts "Ideen" und dem Subsidiaritätsprinzip, wenngleich in beiden Gesellschaftskonzeptionen dem Recht des einzelnen vor dem Recht des Staates Priorität zuerkannt wird. Humboldt sowie die Vertreter des Subsidiaritätsprinzips stimmen ferner auch darin überein, daß sich Freiheit und Tätigkeit gegenseitig bedingen. Jedoch in den Folgen, die sich daraus ableiten lassen, bahnt sich ein zweiter Unterschied an. Denn Humboldts Devise lautet: Keine Maßnahmen von außen, es sei denn für die innere oder äußere Sicherheit der Bürger. Nur so ist die Eigentätigkeit der Individuen im Sinne ihrer Selbstverwirklichung gewährleistet. Das Subsidiaritätsprinzip hingegen besagt, keine Intervention und keine Hilfe von außen, solange die Individuen ihre Aufgaben ebenso gut erfüllen können wie die "weitere und übergeordnete Gemeinschaft"; sind die Individuen dazu nicht imstande, dann sind Hilfe und Intervention
264
15 Humboldt und das Subsidiaritätsprinzip
von außen· angebracht. Damit stehen einander ein statischer und dynamischer Subsidiaritätsbegriff gegenüber. Von einem statischen Subsidiaritätsbegriff kann man bei Humboldt insofern sprechen, als er in seinen "Ideen" die Grenzen der Wirksamkeit des Staates ein für allemal festlegt: "Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzwecke beschränke er ihre Freiheit. "26 Das heißt, in allen anderen Angelegenheiten außer in Fragen der Sicherheit sind die Bürger nicht nur aufgerufen, sondern sogar gezwungen, sich selbst zu helfen, sei es, daß sie versuchen, auf sich allein gestellt, zurechtzukommen, oder sei es, daß sie sich zu Gemeinschaften, "Nationalvereinen" u. dgl. zusammentun, um ihre Bedürfnisse und Aufgaben leichter, besser oder überhaupt erfüllen zu können. Der subsidiäre Charakter bleibt zwar in Humboldts Staatstheorie erhalten, wird aber doch sehr radikal ausgelegt, insofern nämlich die Individuen alle Last zu tragen haben und der Staat sich auf ein äußerstes Minimum an Initiativen zurückzieht. Liegt der Sinn des Subsidiaritätsprinzips jedoch darin, die Eigeninitiative der Individuen nicht zu unterbinden, um die Selbstverwirklichung zu ermöglichen, so stellt sich die Frage, ob bei einem totalen Ausfall der staatlichen Hilfe in so wichtigen Gebieten wie der sozialen Wohlfahrt, des Erziehungswesens u. ä. noch zu erwarten ist, daß sich die Individuen im Sinne Humboldts zu "idealen Individualitäten" entfalten können. Anders hingegen ist es beim Subsidiaritätsprinzip, wenn es sich als ein dynamisches Prinzip versteht und nur formale Richtlinien bezüglich der Inanspruchnahme oder Abwehr staatlicher Hilfe und Intervention aufzeigt. Denn dadurch bleibt einerseits den Individuen die Freiheit zur Eigentätigkeit und Selbst entfaltung gewahrt, andererseits jedoch hält es die Möglichkeit für staatliche Hilfe und Intervention offen, d. h. die Individuen selbst können darüber befinden, ob sie der staatlichen Hilfe und Intervention bedürfen oder nicht, indem sie nämlich den Beweis erbringen, daß sie ihre Aufgaben ebenso gut erfüllen können wie der Staat. Zudem ist bei einer dynamischen Interpretation des Subsidiaritätsprinzips von vornherein kein Bereich aus der staatlichen Verantwortung ausgeklammert, was bei Humboldt der Fall ist, wenn er den Staat nur auf Sicherheits aufgaben beschränkt. Es dürfte heute kaum noch jemandem schwerfallen einzusehen, daß der Staat auch Wohlfahrtsaufgaben zu erfüllen hat und daß diese auch ohne Schaden für die individuelle Freiheit verwirklicht werden können. Selbst ein so bedeutender Vertreter des Liberalismus wie F. A. von Hayek schreibt: "Es gibt gemeinsame Bedürfnisse, die nur durch kollektive Tätigkeit befriedigt werden können und für die auf diese Weise gesorgt werden kann, ohne 26
GS 1,129.
15.3 Gegenüberstellung: Humboldts "Ideen" - Subsidiaritätsprinzip
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die individuelle Freiheit zu beschränken... Es gibt auch kaum einen Grund, warum die Regierung nicht auf Gebieten wie der Sozialversicherung oder dem Erziehungswesen eine Rolle spielen oder sogar die Initiative ergreifen oder nicht vorübergehend experimentelle Entwicklungen subventionieren sollte. Unser Problem sind da nicht so sehr die Ziele als die Methoden der staatlichen Tätigkeit. "27 So besteht die große Gefahr, daß man meint, wenn das Ziel legitim ist, auch jedes Mittel, dieses Ziel zu erreichen, legitim sein müßte. Auch muß der schnellste und kürzeste Weg nicht immer zielführend sein, verhindert er doch sehr oft das Auffinden besserer alternativer Lösungen, die vielleicht der Eigeninitiative der Individuen im Sinne des Subsidiaritätsprinzips eher gerecht werden. Es wäre aber ein Anachronismus, diese vorgebrachte Kritik bezüglich der zu leistenden Wohlfahrtsaufgaben des Staates ohne Einschränkung auf Humboldt anzuwenden; denn wenn Humboldt den Staat auf die äußersten Grenzen seiner Wirksamkeit zurückdrängt, so richtet er sich damit - zur damaligen Zeit - gegen einen zentralen, autoritäten Staat, der mit Machtmitteln ausgestattet ist, die vom Bürger nicht mehr kontrollierbar sind. Das heißt, Humboldt will mit seiner Theorie über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates vor allem die Macht des absoluten Staates begrenzen und alle gesellschaftlichen Aufgaben so weit wie möglich der freien Initiative der Bürger überlassen. Dafür scheint ihm aber der Weg über die Bildung des Individuums unumgänglich zu sein. Je mehr Bildung, desto mehr Freiheit kann das Individuum für sich beanspruchen. "Mangel an Reife zur Freiheit kann nur aus Mangel intellektueller und moralischer Kräfte entspringen; diesem Mangel wird allein durch Erhöhung derselben entgegengearbeitet; diese Erhöhung aber fordert Übung und die Übung Selbst tätigkeit erwekkende Freiheit. "28 Bei aller Kritik, die Humboldts "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" hervorrufen und deshalb schon zur Zeit der Niederschrift den Weg zur Veröffentlichung erschwerten, liegt ihnen doch die reife Einsicht eines erst 25jährigen zugrunde, die auch für das Subsidiaritätsprinzip relevant ist, nämlich daß Bildungs- und Gesellschaftspolitik zueinander in enger Wechselbeziehung stehen. So wie Bildung nur in einer freien Gesellschaft möglich ist, so kann eine freie Gesellschaft nur durch gebildete Individuen verwirklicht werden. Diesbezüglich trifft das Wort des englischen Historikers G. P. Gooch auf Humboldts Staatstheorie nicht zu: "His State is only possible in a community of Humboldts. "29 Vielmehr ist jedes politische Gemeinwesen zur Verwirklichung eines menschenwürdigen Daseins auf gebildete Menschen angewiesen. 27
28 29
F. A. v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit. Tübingen 1971, 328f. GS I, 24l. G. P. Gooch, Germany and the French Revolution. London 1920,112.
Litera turverzeichnis 1. Werke Humboldts von Humboldt, Wilhelm: Gesammelte Werke. Hrsg. v. C. Brandes. Bd. 1 - 7. Berlin 1841 - 1852. Zitiert als GW. -
Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 1 - 17. Berlin 1903 - 1936. Zitiert als GS.
-
Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. A. Flitner u. K. Giel. Darmstadt 1960 - 1981.
2. Benutzte Briefe Humboldts von Humboldt, Wilhelm: Briefe an G. Forster. In: Gesammelte Werke. Bd. I. Berlin 1841,271 - 300. -
Briefe an F. A. Wolf. In: Gesammelte Werke. Bd. V. Berlin 1846, 1 - 316.
-
Briefe an eine Freundin. 2 Bde. Leipzig 51853.
-
Briefe an K. v. Beulwitz. In: Deutsche Rundschau 66 (1891) 228 - 251.
-
Briefe an F. H. Jacobi. Hrsg. v. A. Leitzmann. Halle a. S. 1892.
-
Briefe an J. H. Campe. In: J. Leyser, Joachim Heinrich Campe. Ein Lebensbild aus dem Zeitalter der Aufklärung. Bd. 2. Braunschweig 1896.
-
Briefe an Hardenberg. In: Gesammelte Schriften. Bd. XVI. Berlin 1935.
-
Briefe an K. G. v. Brinkmann. Hrsg. v. A. Leitzmann. Leipzig 1939.
von Humboldt, Wilhelm und Caroline in ihren Briefen. Hrsg. v. A. v. Sydow. Bd. 1 - 7. Berlin 1906 - 1916. Leitzmann, Albert: Politische Jugendbriefe Wilhelm von Humboldts an Gentz. In: Historische Zeitschrift 152 (1935) 48 - 89. Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt. 2 Bde. Hrsg. v. S. Seidel. Berlin 1962.
3. Die bedeutendsten Ausgaben und Übersetzungen der "Ideen" von Humboldt, Wilhelm: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Mit einer Einleitung von E. Cauer. Breslau 1851. -
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Eingeleitet v. G. Weyland (Reclam 1991/92). Leipzig 1885.
-
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Hrsg. v. A. v. Gleichen-Rußwurm. Berlin 1917.
Literaturverzeichnis
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