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German Pages 296 [298] Year 2022
Prof. Dr. Michael G. Festl (Universität St. Gallen) beschäftigt sich insbesondere mit der politischen Philosophie. Er lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in der Nähe des Bodensees.
Wilhelm von Humboldts politische Philosophie Michael G. Festl (Hg.)
Humboldts zentraler Text zur praktischen Philosophie von 1792 – „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ – wird hier mit fünf zeitgenössischen Beiträgen zu seinem Denken zusammengebracht. Im Mittelpunkt stehen Humboldts Einlassungen zu Ehe, Bildung und Freiheit. Namhafte Kennerinnen und Kenner der Materie offenbaren, dass Humboldts Denken, angestoßen durch die Französische Revolution, auch in Zeiten von Facebook, Fake News und Fernunterricht erstaunlich aktuell ist.
Michael G. Festl (Hg.)
Wilhelm von Humboldts politische Philosophie Beiträge zu „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ (1792)
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40613-5
Michael G. Festl (Hg.)
Wilhelm von Humboldts politische Philosophie
Michael G. Festl (Hg.)
Wilhelm von Humboldts politische Philosophie „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ (1792) mit Beiträgen von Michael G. Festl, Michael N. Forster, Friederike Kuster, Roland Reichenbach und Dieter Thomä
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar
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Inhalt Einleitung ........................................................................................................................... 7 1
Michael N. Forster: „Gentle Revolutionaries“: Die Gebrüder Humboldt und die Ideale der Französischen Revolution�������������������������������������������������������������11
2 Friederike Kuster: Einheit des Differenten. Geschlecht, Ehe, Gesellschaft und Staat bei Humboldt����������������������������������������������������������������������������������������39 3 Roland Reichenbach: Passt Humboldt nicht immer? Zur persuasiven Kraft eines fragmentarischen Bildungsdenkens�����������������������������������������������������������59 4 Dieter Thomä: Humboldts Theorie der Freiheit���������������������������������������������������������������������������77 5 Michael G. Festl: Zwischen Perfektionismus und Libertarismus. Auf der Suche nach dem verlorenen Humboldt und einem neuen Liberalismus������������������������������������������������������������������������������������������������99
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Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792/1851)������������������������������������������������������������������������119 I Einleitung ..............................................................................................................119 II
Der Endzweck des Menschen..............................................................................127
III Der Staat und das Wohl der Bürger....................................................................132 IV Der Endzweck des Staats......................................................................................157 V
Sicherheit gegen auswärtige Feinde....................................................................161
VI Über öffentliche Staatserziehung.........................................................................166 VII Staat und Religion.................................................................................................173 VIII Über Sittenverbesserung durch den Staat..........................................................193 IX Der Begriff der Sicherheit.....................................................................................208 X Polizeigesetze.........................................................................................................213 XI Zivilgesetze.............................................................................................................222 XII Prozeßordnung......................................................................................................236 XIII Kriminalgesetze.....................................................................................................241 XIV Sicherheit der Unmündigen.................................................................................262 XV Die Bürger und das Staatsgebäude......................................................................270 XVI Theorie und Wirklichkeit.....................................................................................275 Ausführliches Inhaltsverzeichnis.................................................................................287
Einleitung Michael G. Festl (St. Gallen) Ein Klassiker ist ein Denker, dessen Texte jeder kennt und kaum jemand liest. Es steht zu befürchten, dass Wilhelm von Humboldt (1767–1835) ein Klassiker ist. Immerhin kennt ihn damit zwar schon ‚jeder‘, dass kaum einer ihn liest, wiegt jedoch schwerer, denn von Humboldt können wir heute, allem Anschein zum Trotz – etwa, dass er reich geerbt hat, ein Adliger war und Preuße noch dazu, wo Preußen doch angeblich für all das steht, was im Deutschland des 20. Jahrhunderts schiefgelaufen ist – einiges lernen. Dies ist die Grundannahme der fünf Beiträge dieses Bandes, welche sich alle mit Humboldts im weiteren Sinne politischem Denken beschäftigen. Michael N. Forster legt den roten Faden frei, der von Humboldts Eintreten für die Ideale der Aufklärung zu dessen Bildungsreform führt, und argumentiert auf dieser Basis, dass Humboldt als geistiger Wegbereiter des heutigen liberalen, demokratischen und weltoffenen Deutschlands anzusehen ist (1). Friederike Kuster zeigt, dass Humboldt der erste und in seiner Zeit konsequenteste Vertreter des modernen Ehemodells ist, ein Ehemodell, das auf der romantischen Konzeption von Ehe als Liebe basiert und darauf, im Unterschied zu den meisten anderen romantischen Ehekonzeptionen, ein liberal-emanzipatorisches Modell der Ehe als echte Gleichheit der Geschlechter baut (2). Roland Reichenbach wendet sich kritisch gegen alle Versuche, Humboldts Bildungsideal als Leitfaden für die Gestaltung des Alltags in Bildungsinstitutionen heute heranzuziehen und findet das Wertvolle an Humboldts Bildungsdenken vielmehr in der sprachphilosophischen Grundierung mit deren Erinnerung daran, dass Bildung auch einen Sinn für das Unsagbare auszubilden hat (3). Dieter Thomä lobt Humboldts Theorie der Freiheit als eine Theorie, die dank ihres Verständnisses von Freiheit als situiert ihrer Zeit weit voraus war und, trotz mancher Lücke, etwa in Hinsicht auf ökonomische Belange, auch den heutigen Freiheitsdiskurs zu bereichern vermag, z. B. indem sie die Trennung
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Michael G. Festl (St. Gallen)
von negativer und positiver Freiheit auf originelle Weise unterläuft (4).1 Ich untersuche schließlich, wie Humboldt in der zeitgenössischen politischen Philosophie reüssiert, um einerseits die Lesart von Humboldt als Libertärem zurückzuweisen und um andererseits die Lesart von Humboldt als Perfektionisten zu bestätigen und zu zeigen, dass Humboldts Perfektionismus angesichts der Bedrohung des liberaldemokratischen Verfassungsstaates heute wieder aktuell ist (5). Über Humboldt lesen ist gut, Humboldt lesen ist besser. Deshalb beinhaltet dieser Band neben den fünf beschriebenen zeitgenössischen Beiträgen zu Humboldts gegenwärtiger Relevanz auch vollständig den Text, auf den sich diese Beiträge primär beziehen, ja auf den sich ganz allgemein beziehen muss, wer Humboldts politischphilosophische Anliegen verstehen möchte: „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“, fertiggestellt 1792, veröffentlicht 1851.2 Verfasst wird diese Schrift als Reaktion auf die Französische Revolution des Jahres 1789, dem Ur-Ereignis der modernen Geschichte unseres Kontinents. Wie so viele gebildete junge Menschen der Zeit – Humboldt ist gerade 22 Jahre geworden als die Revolution ausbricht – begeistert er sich für die Aufklärung, insbesondere die Schriften Immanuel Kants. So ist er nur zwei Wochen nach der Erstürmung der Bastille in Paris, um dabei zu sein, wenn Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Ideale der Aufklärung verwirklicht werden. Doch schon früh muss er erkennen, dass dies nicht passieren wird, zumindest nicht jetzt gleich, nicht hier in Frankreich. Dafür sind diese Revolutionäre zu voreilig, zu machtbesessen und zu gewaltbereit (vgl. Geier 2009, 107). Aber vielleicht, so vermutet er alsbald, liegt das Scheitern der Französischen Revolution auch gar nicht in den Revolutionären begründet, sondern in der Revolution als solcher. Revolutionen sind wohl einfach nicht die richtige Art, zu sozialem Fortschritt zu gelangen. Ganz ähnlich wie Edmund Burke, ebenfalls ein neugieriger Beobachter der Ereignisse in Frankreich, vermutet Humboldt, dass sich neue Staatsformen nicht aus dem Nichts erschaffen lassen und sinniert: „Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schösslinge auf 1
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Den vier Beitragenden sei an dieser Stelle nicht nur für ihre wertvollen Aufsätze gedankt, sondern auch dafür, dass sie trotz widriger Corona-Bedingungen bereit waren, sich im Oktober 2020, manche vor Ort, andere per Video hinzugeschaltet, bei einem Workshop an der Universität St. Gallen zu Humboldt auszutauschen, um diesen Band vorzubereiten. Weiterer Dank in der Vorbereitung des Workshops und dieses Bandes gebührt Cedric Braun und Barbara Jungclaus. Zur Geschichte der Veröffentlichung vgl. Gall (2011, 65–67).
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Einleitung
Bäume pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ists, als bindet man Blüthen mit Fäden an. Die erste Morgensonne versengt sie“ (1968, 80). Weiter kommt man mit Reformen. So hatte es schon sein akademisches Vorbild Kant in dem berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ gesehen: „Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurteile werden, eben sowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen“ (1977, 55). Die Französische Revolution und ihre Unzulänglichkeiten bereiten Humboldt den Weg, um zu dem zu werden, als der er heute vor allem bekannt ist: ein Bildungsreformer. Die Revolution bringt ihn dazu, Sinn und Zweck der Aufklärung vorerst nicht so sehr im Politischen zu suchen, sondern in Grundrechten wie Rede-, Meinungs- und Religionsfreiheit – und allem voran in der Erziehung. Bevor daran zu denken ist, die Aufklärung politisch zu verwirklichen, müssen die Menschen zu Bürgerinnen und Bürgern erzogen und damit auf Freiheit vorbereitet werden. Bildung ist der Hebel, mit dem sich die politische Welt Zentimeter für Zentimeter aus ihren feudalen Angeln heben und aufgeklärt machen lässt. Diesem Ziel widmet sich Humboldt in seiner kurzen, aber nachhaltige Spuren hinterlassenden Karriere im preußischen Staatsdienst (ausführlich dazu Gall 2011), mit der von ihm wesentlich betriebenen Gründung der Berliner Universität, die heute seinen und seines Bruders Namen trägt, an der Spitze. Die Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ ist Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklung Humboldts. Es ist eine Schrift auf der Suche, eine explorative Schrift und mitunter auch eine Schrift voller Widersprüche. „Ideen zu einem Versuch“ konnte man das zu Humboldts Zeit offenbar nennen. Neudeutsch würden wir das als Brainstorming titulieren. Dieses Brainstorming ist einerseits getragen von der Enttäuschung, dass die Französische Revolution nicht den erhofften aufklärerischen Durchbruch bringt, und bisweilen wirkt Humboldt in ihm aus der Bahn geworfen wie der romantische Jüngling, der, nachdem er endlich seine Angebetete erobern konnte, nun feststellen muss, dass sie doch nicht in jeder Hinsicht perfekt ist, sondern auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut, oder in Humboldts Fall eine Ansammlung von Ideen, die erst mal in die Tat umgesetzt werden muss. Folglich bezeugt dieses Brainstorming eine Desillusionierung, welche Humboldt mitunter gar dazu bringt, die Monarchie zur besten Regierungsform zu erklären, wo die Schrift doch ansonsten vom Ideal freier und selbstbestimmter Bürgerinnen und Bürgern durchströmt wird. Andererseits treten in Humboldts 9
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Schrift aber auch schon deutlich die Konturen des Humboldt zu Tage, nach dem mittlerweile ein ganzes Bildungsideal – und bestimmt nicht das schlechteste – benannt ist. Man trifft den Humboldt, der den „wahre[n] Zwek des Menschen“ als den Versuch definiert, „die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen” zustande zu bringen (2010, 64/1253). In diesem Sinne stößt man in Humboldts Brainstorming über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates also bereits auf den Humboldt, dessen Ideen und Ideale einige Jahre später dazu beitragen werden, dass sich Preußen und in der Folge Deutschland, ja betrachtet man den Einfluss des humboldtschen Bildungsideals auf die Elite-Universitäten der USA, die ganze westliche Welt in Richtung moderne Hochschulbildung aufmachen werden. Aber ganz abgesehen davon, dass dieses Brainstorming bereits den ganzen politisch-philosophischen Humboldt beinhaltet, ist diese Schrift auch einfach nur eine gute Lektüre, insbesondere für Einsteigerinnen und Einsteiger in die politische Philosophie. Im Vergleich zu anderen Klassikern des Fachs ist sie einfach zu verstehen, frei von Jargon und so abwechslungsreich und mutig geschrieben, dass sie heute bestimmt in keiner philosophischen Fachzeitschrift erscheinen könnte. All das spricht für sie. So wird dieser Band hoffentlich einen Beitrag dazu leisten, dass Humboldt seinen Status als Klassiker verliert – und mehr gelesen wird.
Literatur Gall, Lothar: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt. Berlin 2011. Geier, Manfred: Die Brüder Humboldt. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2009. Humboldt, Wilhelm von: Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Konstitution veranlasst [1791]. In: Albert Leitzmann (Hg.): Gesammelte Schriften 1. Berlin 1968, 77–85. Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen [1792]. In: Werke I. Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Darmstadt 2010, 56–233. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [1784]. In: Wilhelm Weischedel (Hg.): Werkausgabe Band XI. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Frankfurt a. M. 1977, 51–61. 3
„Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ wird hier stets so zitiert, wie der jeweilige Autor, die jeweilige Autorin die Schrift in seinem/ ihren Aufsatz zitiert, gefolgt von der Seitenzahl der betreffenden Stelle in der vorliegenden Ausgabe dieses Werkes.
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1 „Gentle Revolutionaries“: Die Gebrüder Humboldt und die Ideale der Französischen Revolution Michael N. Forster (Bonn) Man liest manchmal in der Sekundärliteratur zu den Brüdern Humboldt, dass Alexander und Wilhelm von Humboldt ganz entgegengesetzte Typen gewesen seien. Wolfgang-Hagen Hein schreibt etwa, dass man merken sollte, „daß sie in Charakter und Temperament, Lebensstil und Arbeitsweise, Ausstrahlungskraft und Wirkung sich völlig voneinander unterschieden. Grillparzer schrieb darüber in seinem Tagebuch: ‚Es kann wohl keinen größeren Gegensatz geben als die Gebrüder Humboldt‘. Alexander war Weltbürger, Wilhelm durch und durch preußischer Patriot […]. Der Jüngere verstand sich in diplomatischen Schlichen, der Ältere war zwar als Diplomat tätig, konnte aber schwierigere politische Aufgaben nicht meistern. Alexander nahm Anteil an den Problemen aller Volksschichten, Wilhelm kannte eigentlich nur die eigenen“ (Hein 1985, 131). Ich glaube aber nicht, dass die beiden Brüder so gänzlich entgegengesetzte Typen waren. Das Folgende wird u. a. ein Beispiel des Gegenteils liefern. Die Hauptthese des Vortrags ist aber spezifischer und ganz einfach, obwohl nicht deswegen selbstverständlich oder anspruchslos: dass Alexander und Wilhelm von Humboldt beide zeitlebens „gentle“ – das heißt, im Anschluss an die schöne Zweideutigkeit dieses englischen Wortes, nicht nur adlige, sondern auch und zwar insbesondere gewaltscheuende –, Vertreter der Ideale der Französischen Revolution waren, die sie nach Möglichkeit friedlich umzusetzen versucht haben, übrigens langfristig nicht ohne Erfolg.
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Michael N. Forster (Bonn)
Die Ideale der Revolution Die Ideale der Revolution wurden bekanntlich zum großen Teil von Denkern der französischen Aufklärung vorbereitet – Fénelon, Voltaire, Diderot, Rousseau und anderen. Worin bestanden sie genau? Eine detaillierte Darstellung davon würde ein langwieriges Unterfangen sein. Aber für unsere Zwecke reicht eine kurze Skizze, die sich hauptsächlich aus zwei Quellen speist: zum einen die bekannte, ursprünglich von Fénelon stammende revolutionäre Devise „Liberté, Égalité, Fraternité“ und zum anderen die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789. „Liberté“, Freiheit ist ein Kernideal der Revolution. Sie hat mehrere unterscheidbare Aspekte, die allesamt in der Déclaration gleichsam ausbuchstabiert werden. Zum einen impliziert sie republikanische Regierung (die Déclaration ernennt etwa explizit die von Diderot und Rousseau erfundene „volonté générale“ zur Basis der Gesetze). Zum anderen impliziert sie Liberalismus – eine Handlungsfreiheit für das Individuum, die nur durch diejenige von anderen Individuen eingeschränkt ist, sowie Meinungs-, Religions- und Redefreiheit. „Égalité“, Gleichheit ist ein zweites Kernideal der Revolution. Nach der Déclaration schließt sie sowohl politische Beteiligung als auch Gleichheit vor den Gesetzen mit ein. Eine gewisse Reduzierung von Chancen- und Vermögensungleichheiten schwingt auch noch mit. „Fraternité“, Brüderlichkeit schließlich, impliziert Solidarität, und zwar nicht nur innerhalb einer Gesellschaft, sondern auch zwischen allen Menschen. Dieses Ideal spiegelt sich etwa in einem zweiten bekannten Spruch Fénelons wider: „J’aime mieux ma famille que moi-même; j’aime mieux ma patrie que ma famille; mais j’aime encore mieux le genre humain que ma patrie“. Es spiegelt sich auch in dem Titel „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ sowie in dem expliziten Kosmopolitismus von vielen Vertretern der Revolution wider. Diese drei Ideale wurden i. W. auch von der (übrigens gleichfalls zum Teil von der französischen Aufklärung beeinflussten)1 Amerikanischen Revolution vertreten, wo sie in der Declaration of Independence (1776), Constitution (1787/9) und Bill of Rights (1791) zum Ausdruck kommen. Aber zwei weitere Ideale der Französischen
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Vgl. Israel 2012, Kapitel 16. Israels Musterbeispiel dieses Einflusses ist Tom Paine.
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1 „GentleRevolutionaries“:DieGebrüderHumboldtunddieIdealederFranzösischenRevolution
Revolution unterscheiden sich von denjenigen der Amerikaner (und zwar auf eine vorteilhafte Art und Weise). Zum einen vertritt die Französische Revolution auch einen starken Säkularismus, indem sie nicht nur wie die amerikanische eine Trennung zwischen Staat und Kirche vorsieht, sondern auch im Gegensatz zur Amerikanischen (die amerikanische Declaration of Independence enthält etwa die Formulierung „that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain inalienable Rights“) Gott aus den Gründungsdokumenten ausklammert. (Die außerordentliche Religiosität der Vereinigten Staaten bleibt nach wie vor ein großes Problem, besonders wegen ihrer ideologischen Funktion und der Unterdrückung, die sie dadurch unterstützt. Frankreich hat im Gegensatz seit der Revolution kaum mehr mit diesem Problem kämpfen müssen.) Zum anderen impliziert schon der Hintergrund der Französischen Revolution in der Aufklärung – Fénelon, Voltaire, Diderot, Rousseau, Les aventures de Télémaque, der Dictionnaire philosophique, die Encyclopédie, Émile usw. –, eine Erwartung, dass sich die Teilnehmer an einer Republik bilden sollten, damit sie aufrechterhalten bleiben und gut funktionieren kann.2 Diese Erwartung entwickelte sich dann in einer Hauptströmung der Revolution, etwa bei Condorcet, Lakanal und Mirabeau (vgl. Israel 2014, 112, 139–40, 365, 374–95, 618ff.). Sie erreichte dort ihre wohl reifste Ausformulierung in der erst posthum veröffentlichten Schrift von Mirabeau, dem Hauptverfasser der Déclaration und Anführer der Revolution, Travail sur l’éducation publique (1791). (Im Gegensatz dazu, fehlte diese Erwartung in den Gründungsdokumenten der Vereinigten Staaten – trotz des hohen Bildungsniveaus vieler der „Framers“ selbst –, und zwar mit fatalen Folgen, die noch heutzutage dort zu spüren sind.) Außerdem haben sich schon früh und dann in der Folge noch stärker gewisse wichtige Präzisierungen bzw. Erweiterungen der revolutionären Kernideale von Freiheit, Gleichheit und Kosmopolitismus herauskristallisiert: Erstens entstand eine Ablehnung von Rassismus, Sklaverei und Imperialismus. Wichtige frühe Beiträge zu dieser Entwicklung waren etwa Raynals und Diderots Histoire 2
Wie Peter Gay argumentiert, haben Voltaire und Diderot i. W. als Pessimisten im Hinblick auf die Blödigkeit der Massen und die Unmöglichkeit ihrer Verbesserung begonnen, sind aber späterhin optimistischer über die Möglichkeit ihrer Verbesserung durch Bildung geworden und haben deswegen dann angefangen, die Wichtigkeit ihres Zugangs zur Bildung zu betonen (Gay 1977, Bd. 2, 519–522).
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Michael N. Forster (Bonn)
des deux Indes (erste Ausgabe 1770, danach manche vermehrte Ausgaben) und das 1784 verfasste, 1789 an der Comédie Française uraufgeführte Theaterstück Zamore et Mirza ou l’Esclavage des Noirs von Olympe de Gouges, das gegen Rassismus, Sklaverei und Imperialismus plädierte. Diese Position wurde dann von einer Hauptströmung der Französischen Revolution fortgesetzt und im Anschluss daran von Toussaint Louvertures Haitianischer Revolution von 1789–1804 übernommen und umgesetzt (vgl. Israel 2014, Kap. 15). Zweitens wurde schon im September 1791 die Gleichberechtigung von Juden durch die französische assemblée nationale vorgenommen. Drittens entwickelte sich auch eine Berücksichtigung von Frauen, eine Art Feminismus. Auch hier war Olympe de Gouges eine wichtige Figur, und zwar vor allem wegen ihrer berühmten Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne (1791). Aber es gab auch andere wichtige revolutionäre Feministinnen und Feministen, etwa Etta Palm d’Aelders und Condorcet (vgl. Israel 2014, 122ff.). Kurzum: Freiheit, inklusive sowohl Republikanismus als auch Liberalismus im Sinne von Handlungs-, Meinungs-, Religions- und Redefreiheit; Gleichheit, insbesondere republikanische politische Beteiligung, Gleichheit vor den Gesetzen und eine gewisse Teilhabe an Chancen und Vermögen; Solidarität, einschließlich kosmopolitischer Solidarität; Säkularismus; Bildung; und die Präzisierungen einer Ablehnung von Rassismus, Sklaverei und Imperialismus, einer Gleichberechtigung für Juden sowie einer Gleichberechtigung für Frauen – das sind einige der Kernideale der Französischen Revolution. Übrigens (um ohne weiteres Farbe zu bekennen), halte ich die Gründung dieser Ideale für eine politische Leistung fast ohnegleichen.3 Wenn manche heutzutage die Größe dieser Ideale und ihrer Umsetzung durch die Französische (und teilweise auch die Amerikanische) Revolution bezweifeln oder verkennen, liegt das wohl entweder daran, dass sie die Misere von Absolutismus, Standesprivilegien, kirchlicher Verfolgung von Andersdenkenden, Religionskriegen, Zerstörung von außereuropäischen Völkern durch europäische Imperialisten, Sklaverei, Judenverfolgung und Frauenunterdrückung, die dem Gedeihen dieser Ideale voranging und die sie bekämpften, vergessen haben, oder etwa daran, dass sie selber zu kleinlich sind, um deren Größe zu erkennen. 3
Die einzige nennenswerte Konkurrenz ist wohl die Erfindung von Liberalismus und Demokratie zu Athen im 5. Jahrhundert vor Christus.
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1 „Gentle Revolutionaries“: Die Gebrüder Humboldt und die Ideale
Alexander von Humboldt Alexander von Humboldt (1769–1859) war bekanntlich begeistert von der Französischen Revolution und ihren Idealen. Er besuchte Frankreich schon während der Revolution, im Jahre 1790 in Begleitung seines Freundes, des Forschers und deutschen Jakobiners Georg Forster (Anführer der kurzlebigen Mainzer Republik von 1793). Ein Jahr später schwärmte er: „Der Anblick der Pariser, ihrer Nationalversammlung, ihres noch unvollendeten Freiheitstempels, zu dem ich selbst Sand gekarrt habe, schwebt mir wie ein Traumgesicht vor der Seele“ (Hein 1985, 110–11). Am anderen Ende seines langen Lebens nannte er sich noch in einem Brief von 1842 einen „alt[en] trikolor[en] Lappen“ (Humboldt A. 2009, 19), schrieb: „Seit 1789 bin ich gewiss über meine Richtung, und ich denke, das ist deutlich in allen meinen Schriften zu lesen“ (ebd.) und beklagte „Dem Grabe so nahe, muß ich den Entwicklungsprozeß der Menschheit seit 1789 etwas langsam finden, aber an lange kosmische Perioden gewöhnt, entwöhne ich mich, an dem Maßstabe unserer kurzen Lebensdauer zu haften“ (vgl. Biermann 1983, 10). Dementsprechend lassen sich alle die vorhin erwähnten Ideale der Revolution an Alexanders Aussagen und Handlungen feststellen. Gehen wir sie noch einmal der Reihe nach durch. Was zunächst „Liberté“, Freiheit betrifft, berichtet Alexander noch im Jahre 1843 in einem Brief an seinen alten französischen Freund Aimé Bonpland, mit dem er seine berühmte Entdeckungsreise nach Lateinamerika von 1799 bis 1804 unternommen hatte: „Ich habe den Mut zu meinen freiheitsliebenden Ansichten bewahrt! Das Leben an den Höfen wird mich nicht herabwürdigen können. Ebenso hat der Missbrauch, den man mit demokratischen Gesinnungen getrieben hat [sprich: la terreur von 1793], mich nicht von meinen alten Prinzipien ablenken können“ (Humboldt A. 2009, 78–9). Des Näheren war Alexander im Hinblick auf den Republikanismus im Besonderen nicht nur ein Bewunderer und Freund von den neuen Republiken in Frankreich und in den Vereinigten Staaten, sondern er empfahl auch in seiner Relation historique du voyage aux régions équinoxiales du nouveau continent fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 et 1804 (1814–25) ein ähnliches Modell von Republikanismus für Lateinamerika (Humboldt A. 1970, Bd. 3, 149–154). Im Hinblick auf Liberalismus im Sinne von Handlungs-, Meinungs-, Religions- und Redefreiheit im Besonderen, schreibt er etwa noch in Briefen aus den Jahren 1847–50 von dem „Liberalismus, den ich seit einem halben Jahrhundert 15
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bekenne“, indem er bemerkt „Ich erlaube mir nie das Recht, die individuelle Freiheit zu beschränken“ (Humboldt A. 2009, 79), und er kritisiert insbesondere „die drakonischen Presszwangsgesetze von denen leider Preußen das Beispiel gegeben [hat]“ (ebd.; vgl. Humboldt A. 1860, 7, 118; auch Biermann 1983, 105). Was „Égalité“, Gleichheit anbelangt, schreibt Alexander etwa in einem Brief von 1799 an Bollmann: „Die Abschaffung des Feudalsystems, das geheiligte Recht der Gleichheit, wird die Menschen glücklicher und besser machen“ (Humboldt A. 2009, 19). Seine diesbezügliche Unterstützung von Republikanismus im Besonderen ist schon angesprochen worden. Außerdem beklagt er sich oft über die ungleichmäßige Anwendung von Gesetzen (etwa den Gesetzen zur Milderung der Sklaverei in Lateinamerika). Und seine vorhin zitierte Befürwortung einer „Abschaffung des Feudalsystems“ impliziert darüber hinaus das nähere Ideal einer Reduzierung von Chancen- und Vermögensungleichheiten (vgl. seine Bemerkung in einem Brief aus 1797: „die Ausrottung des Feudalsystems und aller aristokratischen Vorurteile, unter denen die ärmeren und edleren Menschenklassen so lange geschmachtet, wird schon gegenwärtig genossen“ [Biermann 1983, 40]). Was „Fraternité“, Solidarität, inklusive kosmopolitischer Solidarität betrifft, zeugt Alexanders ganzes Leben – etwa seine langjährigen Aufenthalte im Ausland, sein wiederholter Einsatz für andere Länder und Völker, seine internationale wissenschaftliche Vernetzung, seine Einsatzbereitschaft für Wissenschaftler aus aller Herren Ländern usw. –, wohl noch beredter von seiner Verpflichtung zu diesem Ideal als die unzähligen expliziten Bekenntnisse dazu, die er im Laufe seines Lebens gemacht hat. Im Hinblick auf Säkularismus äußert sich Alexander in seiner Relation historique du voyage zwar z. T. positiv über die moralische Seite des Christentums, beklagt sich aber bitterlich über die Einmischung von christlichen Missionaren in die Gemeinden der Eingeborenen Lateinamerikas und deren verderbliche Folgen. Ähnlicherweise verteidigt er zwar später in seinen Briefen an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827–58 die Moral des Christentums, aber er verwirft (unter negativen Bemerkungen zu Schleiermacher aber positiven zu David Friedrich Strauss und Bruno Bauer) dessen theologische Seite (Humboldt A. 1860, 101, vgl. 111–12, 117, 170) und geht hart ins Gericht mit sowohl katholischen als auch protestantischen Geistlichen (ebd., 11, vgl. 275). Eine amüsante Geschichte über ein Gespräch Alexanders mit dem König, die Varnhagen von Ense erzählt, veranschaulicht vielleicht am klarsten seine kritische Haltung zur Religion: „Es war von einer russischen 16
1 „Gentle Revolutionaries“: Die Gebrüder Humboldt und die Ideale
Anordnung die Rede, und Humboldt nannte, indem er davon sprach, mehrmals den Minister des Kultus; ‚Sie irren, rief ihm der König zu, Sie verwechseln hier zwei verschiedene Minister, hier handelte nicht der Minister des Kultus, sondern der Minister der Aufklärung, der ist ein andrer, als der Minister des Kultus!‘ Humboldt, ohne sich stören zu lassen, nahm die Berichtigung an, indem er seiner Rede eiligst einschaltete – ‚also nicht der Minister des Kultus sondern des Gegentheils‘ –, und dann in gewohnter Weise weitersprach“ (ebd., 170). Was Bildung betrifft, zeugt Alexanders ganzes Leben als Wissenschaftler, inklusive seiner unermüdlichen Unterstützung von anderen Wissenschaftlern rund um die Welt von seiner tiefen Verpflichtung zur Bildung. Aber darüber hinaus vertrat er ein starkes Ideal von Volksbildung insbesondere. Er hat z. B. schon in den 1790er Jahren während seines preußischen Bergdienstes eine „Bergschule“ für die Kinder von Bergleuten gegründet, die er noch persönlich bezahlte, betrieb und sogar mit selbstverfassten Schulbüchern ausstattete (vgl. Biermann 1983, 26). Außerdem sind die berühmten Kosmos Vorlesungen, die er 1827/8 vor einer breiten Öffentlichkeit an der Universität und der Singakademie zu Berlin hielt, ein weiteres Beispiel seiner starken Verpflichtung zur Volksbildung. Schließlich hat Alexander auch die vorhin erwähnten Präzisierungen bzw. Erweiterungen der Ideale von Freiheit, Gleichheit und Kosmopolitismus durch die Französische Revolution stark vertreten. Er hat sich wiederholt und aufs stärkste gegen Rassismus, Sklaverei und Imperialismus eingesetzt, und zwar sowohl in seinen Schriften – etwa der Relation historique du voyage –4 als auch in vielen politischen Stellungnahmen – etwa seiner Anregung eines 1857 erlassenen preußischen Gesetzes zur Befreiung von Sklaven in Preußen. Er hat das Gleiche im Hinblick auf Zivilrechte für Juden getan – indem er z. B. 1842 gegen die fortgesetzte Gettoisierung 4
In diesem Zusammenhang sind die starken Ähnlichkeiten zwischen Raynals und Diderots Histoire des deux Indes und Alexanders Relation historique du voyage (sowie seinem Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne) und der daraus zu entnehmende kräftige Einfluss jenes Werkes auf dieses bemerkenswert. Beide Werke vertreten die betreffenden Ideale einer Ablehnung von Rassismus, Sklaverei und Imperialismus/Kolonialismus aufs eifrigste, beide konzentrieren sich in diesem Zusammenhang vor allem auf diese Phänomene in den verschiedenen Ländern von Amerika, beide beschreiben und verdammen diese Praktiken im Rahmen einer ausführlichen sachlichen Darstellung der betreffenden Länder, die deren Geographie, Geschichte, Politik, Wirtschaft und Landwirtschaft behandelt, beide benutzen ein breites Band an Techniken, das von Anekdoten bis hin zu Statistiken reicht usw.
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Michael N. Forster (Bonn)
der Juden durch die Präambel eines neuen „Judengesetzes“, wo von dem „Willen Gottes“, „die jüdische Nation abgesondert zu halten“, die Rede war, beim zuständigen preußischen Minister stark protestierte und sich wiederholt für jüdische Gelehrte im Bildungswesen einsetzte (vgl. Biermann 1983, 105). Außerdem hat er wenigstens einigermaßen die Interessen von Frauen vertreten – etwa indem er sich in seiner Relation historique du voyage über die „Sklaverei“ beklagte, die Frauen in gewissen eingeborenen Stämmen Lateinamerikas sowie „in den meisten barbarischen Nationen“ erleiden mussten (Humboldt A. 1970, Bd. 2, 563–564). Alexander von Humboldt war zwar kein gewaltbereiter Vertreter dieser Ideale der Französischen Revolution. Die terreur von 1793 hat ihn augenscheinlich von Gewalt als Mittel ihrer Umsetzung endgültig abgeschreckt (wie viele andere Sympathisanten der Revolution auch). Er schreibt etwa schon im Jahre 1798: „Die republikanischen Dragonaden [Gewaltmaßnahmen] sind ebenso empörend als die religiösen“ (Humboldt A. 2009, 18). Und über vier Jahrzehnte später schreibt er 1843 in einer vorhin zitierten Passage ganz ähnlich von dem „Missbrauch, den man mit demokratischen Gesinnungen getrieben hat“. Aber dafür hat er andere, friedlichere Mittel zur Umsetzung dieser Ideale gefunden und angewandt. Zu seinen bevorzugten gehörten aufgeklärte Publikationen (etwa seine eigenen) zwecks Beeinflussung der öffentlichen Meinung und eine persönlichere Einflussnahme auf Machthaber – beides in der Hoffnung, politische Reformen voranzutreiben (vgl. Biermann 1983, 107–8). Sowohl in seinen eigenen Publikationen als auch in seiner Einflussnahme auf Machthaber wendete er außerdem öfters eine bestimmte diplomatische Technik an, die man übrigens auch bei seinem Bruder Wilhelm feststellen kann (wie wir später sehen werden): die Technik, eine fortschrittliche Politik Lesern oder Machthabern dadurch zu empfehlen, dass er ihnen Gründe nennt, die für sie besonders anziehend sind, nicht (oder wenigstens nicht ausschließlich) die idealistischeren Gründe, die ihn selbst in erster Linie motivieren. So führt er etwa in seiner Relation historique du voyage zur Begründung der Abschaffung von Sklaverei in der Karibik nicht nur moralische Gründe an, sondern auch die Tatsache, dass bei der hohen Anzahl von schwarzen Sklaven und anderen dunkelfarbigen Unterdrückten im Verhältnis zur geringeren Anzahl von freien Weißen daselbst die Ressentiments jener sonst zu einer blutigen Überwältigung dieser zu führen drohen (was auf Haiti in der Tat passiert war) (Humboldt A. 1970, Bd. 3, 388–389). Und als ein erfahrener, insbesondere von dem verschmitzten preußischen Minister Hardenberg unterrichteter Diplomat benutzte er oft eine ähnliche Praxis von selektivem argumentum ad 18
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hominem in seiner Kommunikation mit Machthabern. Demgemäß berichtete sein Bekannter Herman Grimm nach einer ersten Beratung mit ihm, dass seine Devise in solchen Fällen so lautete: „Lasse dir durch niemand imponieren, welche Stellung er auch habe, aber lerne mit jedem seine Sprache reden. Verfolge deinen Weg!“ (vgl. Biermann 1983, 115). (Was alles übrigens nicht impliziert, dass Alexander nicht selbst an die ausgewählten Argumente geglaubt hätte, dass sie geradezu verlogen gewesen wären.5)
Wilhelm von Humboldt Alexander von Humboldts um zwei Jahre älterer Bruder Wilhelm von Humboldt (1767–1835) ist ein komplizierterer und in manchen Hinsichten noch interessanterer Fall. Ich möchte hier zwei Thesen vertreten, die beide kontrovers sein werden: Erstens teilte Wilhelm zeitlebens Alexanders Begeisterung für die Ideale der Französischen Revolution. Sein Eintreten für selbige ist zwar weniger explizit und eindeutig als Alexanders, aber das lässt sich m. E. – außer seinem weniger forschen Charakter – vor allem durch seine heiklere Lage erklären: Während Alexander vorwiegend ein Leben als Privatmann führte und sich von 1799 bis 1827 fast durchgängig in Lateinamerika und besonders Paris aufhielt, war Wilhelm in erster Linie zuerst Diplomat und dann Regierungsmitglied unter einem preußischen König, und zwar während einer Epoche von Spannung und Krieg mit, dann Niederlage und Besatzung durch Frankreich, so dass er sich explizite Bekenntnisse zu den Idealen der Französischen Revolution kaum leisten konnte, besonders wenn er sie durch seinen Beruf befördern wollte. Zweitens hat Wilhelm wie Alexander Gewalt als Mittel zur Umsetzung dieser Ideale abgelehnt und sich stattdessen mehrerer derselben friedlicheren Mittel wie sein Bruder bedient – insbesondere einer Beeinflussung von Machthabern und einer Anwendung dabei der vorhin erwähnten diplomatischen Technik von argumentum ad hominem (weniger des Mittels Publikationen). Aber Wilhelm hat außerdem ein zusätzliches, besonders wichtiges
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Man soll ihm aber in dieser Hinsicht wohl auch keinen Heiligenschein ausstellen; sein Verhalten konnte unter Umständen mindestens an Betrug grenzen. Wie Wolfgang-Hagen Hein erklärt, war z. B. seine Behandlung von Heinrich Heine ziemlich trügerisch (Hein 1985, 141–142).
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Mittel zu deren Umsetzung gefunden, und zwar seine Reformen des preußischen Bildungswesens im allgemeinen und der Universitäten im besonderen, wofür er 1809–10 als de facto Minister für Bildung und Kultus zuständig war. Insbesondere stellt sich das neue Modell der Universität, das er damals ausarbeitete und teilweise umsetzte, als u. a. eine Art heilsames trojanisches Pferd heraus, das die Ideale der Französischen Revolution in Preußen einschmuggeln und einbürgern sollte. So meine zwei Thesen. Fangen wir mit der ersten These an: Wilhelms Eintreten für die Ideale der Französischen Revolution. Ähnlich seinem Bruder Alexander hat Wilhelm Paris schon während der Revolution, im schicksalshaften Jahre 1789 besucht und sich sofort für die Ideale der Revolution begeistert, wie sein damaliges Tagebuch zeigt.6 Er schreibt dort z. B. im Jahr 1789 bezüglich des Sturms auf die Bastille: „So ist denn Linguets Weissagung erfüllt, die Bastille liegt in Trümmern und an ihre Stelle tritt ein Denkmal der endlich siegenden Freiheit […]. Es war das eigentliche Bollwerk des Despotismus, nicht bloß als ein grauenvolles Gefängnis, sondern auch als eine Festung, die ganz Paris beherrscht“ und er begrüßt „den herrlichen Ausgang, den ietzt der Muth der Bürger, zuerst von Verzweiflung angefacht, dann von allem Freiheitssinne genährt, fand“ (Humboldt W. 1982, Bd. 5, 39–41). Diese Begeisterung hat die Exzesse der 90er Jahre in Frankreich überstanden.7 Schrieb er doch schon im Jahre 1792 in einem Brief an Brinkmann (unter Ablehnung der antirevolutionären Einstellung von Burke und Gentz): „Die Wahrheiten der Französischen Revolution bleiben ewig Wahrheiten, wenn auch 1200 Narren sie entweihen“ (Humboldt W. 1939, 41). Wilhelms Begeisterung für den Liberalismus der Revolution – vorerst im engeren Sinne von Handlungs-, Meinungs-, Religions- und Redefreiheit – schlägt sich schon (außer den vorhin zitierten Passagen) in seinem radikalen Plädoyer für den Liberalismus in seiner hier abgedruckten Frühschrift Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1791/2) nieder. Diese Schrift öffnet mit einem Zitat aus dem vorhin erwähnten Werk des Anführers der Revolution und Hauptverfassers der Déclaration, Mirabeau, Travail sur l’éducation publique
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Er ist übrigens einige Jahre später nach Paris zurückgekehrt, um dort die Jahre 1797– 1801 als Privatgelehrter zu verbringen. Vgl. Beiser 1992, 114–121. Beiser unterschätzt aber m. E. Wilhelms Sympathie mit dem Republikanismus insbesondere (siehe unten).
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(1791), worin er „la fureur de gouverner“ anprangert, und sie fährt fort, Mirabeaus Werk auch bei weiteren Gelegenheiten mit Einverständnis zu zitieren. Die Schrift knüpft an Mirabeaus Ansatz in diesem Werk an, indem sie ihn aber auf eine gewisse Weise abwandelt und radikalisiert. Mirabeau hatte sich in seinem Werk stark gegen „la fureur de gouverner“ ausgesprochen, insbesondere um der dadurch entstehenden Hemmung der Selbstentwicklung von Individuen vorzubeugen, hatte sich aber trotzdem nach einiger Abwägung von Nach- und Vorteilen letzten Endes für eine starke Lenkung des Bildungswesens durch den revolutionären Staat entschieden. Wilhelm übernimmt jene Position, lehnt aber diese als damit unverträglich ab: „la fureur de gouverner“ soll nicht nur im Allgemeinen zugunsten individueller Selbstentwicklung abgelehnt werden, sondern auch insbesondere im Hinblick auf das Bildungswesen. So weit zu Wilhelms Liberalismus im engeren Sinne des Wortes. Seine Sympathie mit dem Liberalismus der Revolution in einem breiteren Sinne, der noch Republikanismus mit einschließt, ist zwar weniger offensichtlich und entsprechend umstrittener, aber m. E. auch nicht zu unterschätzen. Wilhelm unterstützt zwar in den Ideen zu einem Versuch eher Monarchie als eine passende Regierungsform für die Moderne. Aber es geht hier um eine gewählte Monarchie: man „wird von der Wahrheit überrascht, dass gerade die Wahl einer Monarchie ein Beweis der höchsten Freiheit der Wählenden ist“ (Humboldt W. 1982, Bd. 1, 97/160). Frederick Beiser hat als Beleg für Wilhelms Präferenz für Monarchie vor anderen Regierungsformen außerdem die folgende Passage aus einem Brief an Schiller von 1792 zitiert: „An sich scheinen mir freie Konstitutionen und ihre Vorteile ganz und gar nicht so wichtig und wohltätig. Eine gemäßigte Monarchie legt vielmehr der Ausbildung des einzelnen meist weniger einengende Fesseln an“ (vgl. Beiser 1992, 131, auch 111). Das klingt zwar auf den ersten Blick nach einem eindeutigen Beleg für die betreffende Präferenz, aber nur bis man Wilhelms unmittelbar darauffolgenden, von Beiser weggelassenen Satz im Brief hinzufügt, der vielmehr den Spieß umdreht und dem Republikanismus doch das Wort redet: „Aber sie [d. h. freie Konstitutionen] spannen die Kräfte zu einem so hohen Grade und erheben den ganzen Menschen und wirken doch so im eigentlichsten Verstande das einzige wahre Gute“ (Humboldt W. 1962, Bd. 1, 53).8 Darüber hinaus drückt Wilhelm seine starke Sympathie nicht nur 8
Es ist aber wahr, dass Wilhelm ziemlich eindeutig Demokratie ablehnt. Vgl. z. B. Humboldt W. 1962, Bd. 1, 205.
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mit dem Liberalismus im Allgemeinen, sondern auch mit dem Republikanismus im Besonderen noch unmittelbar vor seinen Bildungsreformen von 1809–10 in der Schrift Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten (1807–8) aus.9 Dort vertritt er etwa den Vorzug der Griechen vor „uns“ modernen Deutschen, der seines Erachtens offensichtlich wird, „wenn wir unsere beschränkte, engherzige, durch tausend Fesseln der Willkühr […] gedrückte […] Lage mit ihrer freien […] Tätigkeit, […] unser dumpfes Hinbrüten in klösterlicher Einsamkeit, oder gedankenloses Umtreiben in lose verknüpfter Geselligkeit mit dem heiteren Frohsinn ihrer durch jede heiligste Bande befestigten Bürgergemeinschaft vergleichen“ (Humboldt W. 1903, Bd. 3, 189). Schließlich berichtet Alexander noch kurz nach Wilhelms Tod in einem Brief an Varnhagen von Ense im Hinblick auf eine Gedenkschrift für Wilhelm, die Varnhagen von Ense damals verfasste, dass Wilhelm solche nicht nur liberalen, sondern auch republikanischen Ansichten bis zu seinem Tod vertreten hatte: „,Verfassungsgrundsätze.‘ Wenn Sie je von diesen Blättern [d. h. Alexanders Vorschlägen] Gebrauch machen, mein Theurer, so schalten Sie ja ein: ‚wenn er gleich später auf das bestimmteste auf die Notwendigkeit einer allgemeinen Repräsentativ-Verfassung gedrungen hatte‘. Die Einschränkung ist nöthig. Ich habe selbst seinen Plan zur Verfassung und zum Wahlmodus in Händen gehabt, und er ist in diesen Ideen gestorben“ (Humboldt A. 1860, 50).10 Wenn Wilhelms Sympathie mit dem Republikanismus eine gewisse Befürwortung von gemäßigter Monarchie nicht ausschließt, ist das übrigens nur im Einklang mit der Hauptströmung der Französischen Revolution selbst. Schon Rousseau hatte etwa in Du contrat social (1762) seine Verpflichtung zur volonté générale und zu regelmäßigen verfassungsbestimmenden assemblées mit einer Unentschiedenheit zwischen Monarchie, Aristokratie und lauter Republikanismus als passende Regierungsform verbunden.11 Und Mirabeau hatte Diese Schrift ist offensichtlich zum großen Teil ein Versuch, Lektionen aus der Niederlage der Griechen durch die Römer in der Antike für die Niederlage Preußens durch die Franzosen im Jahre 1806 zu entnehmen. 10 Der erwähnte Plan ist mir übrigens unbekannt. (Der einzige mir bekannte Kandidat wäre die Schrift Über die Einrichtung landständischer Verfassungen in den Preussischen Staaten (1819), die sich zwar mit Verfassungen und Wahlrecht befasst, aber nur in den verschiedenen Staaten Preußens, also gerade nicht mit einer „allgemeinen Räpresentativ-Verfassung“.) Ist er verschollen oder habe ich etwas übersehen? 11 Welche am passendsten ist hängt seines Erachtens von den Umständen ab – was in etwa auch Wilhelms Meinung ist, der insbesondere Republikanismus als die passendste Regie9
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in seinem vorhin zitierten Travail sur l’éducation publique von 1791 nicht nur eine fortgesetzte, wenn auch umgeformte Monarchie befürwortet, sondern auch eine entsprechende Erziehung des Königs entworfen. (Man erinnere sich in diesem Zusammenhang, dass Louis XVI erst 1793 hingerichtet wurde.) Was Gleichheit angeht, spricht sich Wilhelm zwar weniger oft und emphatisch als sein Bruder dafür aus, aber auch er vertritt eine gewisse Gleichheit (übrigens entgegen der eingangs zitierten Bemerkung von Wolfgang-Hagen Hein). Wilhelm besteht etwa schon in den Ideen zu einem Versuch darauf, dass nicht nur gehobene Stände, sondern alle Stände, inklusive etwa Handwerker und Bauern die Vorteile von Bildung genießen sollen: Bildung gehöre zu „Mensch[en] in allen Lagen und allen Geschäften“, „So ließen sich vielleicht aus allen Bauern und Handwerkern Künstler bilden, d. h. Menschen, die ihr Gewerbe um ihres Gewerbes willen liebten, durch eigengelenkte Kraft und eigene Erfindsamkeit verbesserten und dadurch ihre intellektuellen Kräfte kultivierten, ihren Charakter veredelten, ihre Genüsse erhöhten. So würde die Menschheit durch eben die Dinge geadelt, die jetzt, wie schön sie auch an sich sind, so oft dienen, sie zu entehren“ (Humboldt W. 1982, Bd. 1, 76, vgl. 127–128/139 vgl. 190–191). Außerdem und noch auffälliger befürwortet er kurz vor seinen Bildungsreformen von 1809–10 in seiner Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten (1807–8) die griechische „Liebe zur Unabhängigkeit“, denn sie „ebnete, bis zur Vernichtung, die Ungleichheiten der Stände“ (Humboldt W. 1903, Bd. 3, 200). Was kosmopolitische fraternité betrifft, war Wilhelm (übrigens nochmals entgegen der eingangs zitierten Bemerkung von Wolfgang-Hagen Hein) zeitlebens ein starker Vertreter von Kosmopolitismus. Demgemäß drückt er dieses Ideal oft explizit in seinen Schriften aus – von fragmentarischen Schriften aus den Jahren 1795–7 bis hin zu Schriften zur Linguistik aus den späten 1820er Jahren, etwa Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues (1827–9)12 und Über die Sprachen der Südsee-Inseln (1828). Er schreibt z. B. in Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues: „Wenn es eine Idee giebt, die durch die ganze Geschichte hindurch in immer mehr erweiterter Geltung sichtbar ist, wenn irgend eine die
rungsform für die Antike, aber gemäßigte Monarchie als die passendste für die Moderne betrachtet. 12 Diese Schrift ist nicht mit seiner gleichnamigen, berühmteren Schrift von 1836 zu verwechseln.
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vielfach bestrittene, aber noch vielfacher misverstandne Vervollkommnung des ganzen Geschlechtes beweist, so ist es die der Menschlichkeit, das Bestreben, die Gränzen, welche Vorurtheile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen den Menschen stellen, aufzuheben, und die gesammte Menschheit, ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe, als Einen grossen, nahe verbrüderten Stamm zu behandeln“ (Humboldt W. 1982, Bd. 3, 147–148). Was Säkularismus anbelangt, war Wilhelm auch ein starker Vertreter davon. Wie sein Bruder Alexander, gesteht der junge Wilhelm zwar dem Christentum einen gewissen vorteilhaften Einfluss auf die Moral zu (etwa in Passagen von Ideen zu einem Versuch) (vgl. Humboldt W. 1982, Bd. 1, 110, 113–114/173, 176–177). Aber er äußert sich durchaus skeptisch zu dessen religiöser bzw. theologischer Seite sowie zu dessen Anspruch, eine notwendige Stütze für die Moral zu sein. Er argumentiert zum Beispiel schon in seiner Frühschrift Über Religion (1789), dass die Lehrmeinungen der Religion nicht bewiesen werden können, sondern nur Glauben konstituieren und gänzlich subjektiv sind, sowie dass die Moral von der Religion vollkommen trennbar ist (Humboldt W. 1903, Bd. 1, 64–73). Und er erhärtet sogar im Jahre 1803 seine Skepsis in Bezug auf die religiöse bzw. theologische Seite des Christentums, indem er in einem Brief an Brinkmann sowohl die Existenz Gottes als auch die menschliche Unsterblichkeit geradezu leugnet (Humboldt W. 1939, 155–157). Später behält er diese Skepsis in Bezug auf das Christentum bei oder verstärkt sie gar noch, bekennt sich aber zu einer gewissen Sympathie mit dem Heidentum (wie sein Freund Goethe es auch tat). Er schreibt etwa in einem amüsanten Gedicht aus dem Jahre 1815: „Ich bin ein armer heidnischer Mann, / Der die Kirchen nicht leiden kann“ (Humboldt W. 1903, Bd. 9, 90). Demgemäß vertrat er ab spätestens 1789 auch eine scharfe Trennung zwischen Staat und Kirche: Schon in Über Religion und dann nochmals ein paar Jahre später in Ideen zu einem Versuch spricht er sich insbesondere gegen jede Form von Einmischung des Staates in die Religion der Bürger aus. Seine spätere Rolle 1809–1810 als de facto Minister für Kultus und öffentlichen Unterricht löste deswegen bei manchen Zeitgenossen, die seine Ansichten kannten, berechtigtes Schmunzeln aus. Was die Erziehung bzw. Bildung von Bürgern betrifft,13 vertrat Wilhelm auch dieses Ideal aufs stärkste. Schon in seiner Frühschrift Ideen zu einem Versuch 13
Der Begriff Bildung ist bekanntlich bei Wilhelm erheblich anspruchsvoller und komplizierter als derjenige von Erziehung, schließt aber diesen mit ein. Nach seiner Definition
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identifizierte er Bildung als gar den höchsten Zweck des Staates (Humboldt W. 1982, Bd. 1, 64–65, 106/127–128, 169),14 und (wie wir vorhin gesehen haben) bezog dabei die unteren Stände mit ein. Außerdem lieferte er einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung dieses Ideals mit seinen Reformen des Bildungswesens von 1809–10, einschließlich der Gründung einer neuen Universität zu Berlin. Schließlich war Wilhelm, wie sein Bruder, auch ein starker Vertreter der Präzisierungen bzw. Erweiterungen der Ideale von Freiheit, Gleichheit und Kosmopolitismus, die wichtige Strömungen der Französischen Revolution vorgenommen hatten: die Ablehnung von Rassismus, Sklaverei und Imperialismus; Gleichberechtigung für Juden; eine Art Feminismus. Dementsprechend kritisiert er in seinen Schriften, etwa Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues die Unterscheidung von Rassen als sachlich oberflächlich und lehnt deswegen Rassismus, z. B. in Form von Sklavenhandel, streng ab (Humboldt W. 1982, Bd. 3, 243–250). In einer Schrift an die preußische Regierung aus dem Jahr 1809, Über den Entwurf zu einer neuen Konstitution für die Juden wendet er dieselbe Position gegen den Antisemitismus an, indem er rassistische Vorurteile gegen Juden als empirisch grundlos und verwerflich verurteilt und demgemäß eine sofortige, uneingeschränkte Gleichberechtigung für Juden in Preußen verlangt (Humboldt W. 1982, Bd. 4, 95–112). Außerdem vertritt er eine Art Feminismus, etwa schon in zwei Aufsätzen aus dem Jahr 1795, Über den Geschlechtsunderschied und dessen Einfluss auf die organische Natur und Über die männliche und weibliche Form, wo er insbesondere die These einer gleich fundamentalen Rolle eines männlichen und eines weiblichen Prinzips in der ganzen Natur aufstellt und dafürhält, dass die höchsten ästhetischen und geistigen Vorteile von Menschen nur über eine Art Synthese des Männlichen mit dem Weiblichen erzielt werden können (Humboldt W. 1982, Bd. 1, 268–336), sowie auch später in Bemerkungen, wo er eine Gleichheit und Offenheit zwischen
von Bildung in den Ideen zu einem Versuch sowie in weiteren Schriften bedeutet sie in etwa: die freie, eigentümliche, auf Sprache basierende Selbstentwicklung des menschlichen Individuums in theoretischen, praktischen und ästhetischen Hinsichten zu einem harmonischen Ganzen – eine Leistung, die im Grunde genommen natürlich ist, aber erst durch Kultur und Erziehung verwirklicht wird, und die den höchsten Zweck der Erziehung sowie gar des Staates insgesamt ausmacht. Vgl. Forster (2012, 75–89 und 2013, 11–37). 14 Die einschlägigen Passagen werden später in diesem Artikel zitiert werden.
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Mann und Frau vertritt (wie er sie übrigens in seiner eigenen Ehe praktizierte) (Humboldt W. 1903, Bd. 3, 159–160).15 Kurzum, Wilhelm war, wie sein Bruder Alexander, zeitlebens ein Vertreter der Ideale der Französischen Revolution. Der einzige nennenswerte Unterschied an ihrer Haltung bezüglich dieser Ideale betrifft eine etwas stärkere Vorsicht in Wilhelms Aussagen darüber, die sich (außer seinem weniger forschen Charakter) vor allem aus seiner exponierteren Stellung als Diplomat und dann Regierungsmitglied unter dem preußischen König, besonders während einer Epoche von Spannung und Krieg mit, dann Niederlage und Besatzung durch Frankreich erklärt. Aber Wilhelms Verfechten dieser Ideale hat noch einen weiteren wichtigen Aspekt, und zwar im Hinblick auf deren Umsetzung. Wilhelm war in dieser Hinsicht genauso gewaltscheu wie sein Bruder. Demgemäß entwickelte er schon in dem letzten Kapitel seiner Ideen zu einem Versuch (Kapitel 16/275–286) ein längeres Plädoyer gegen eine unmittelbare Umsetzung des darin vertretenen Liberalismus, wie sie die Französische Revolution gerade vorgenommen hatte, zugunsten einer allmählicheren Vorbereitung der öffentlichen Meinung darauf und entsprechend langfristigerer politischer Reformen. Wie vorhin erwähnt, teilte er auch mehrere von Alexanders spezifischen friedlicheren Mitteln zur Umsetzung dieser Ideale: insbesondere eine Beeinflussung von Machthabern (die vorhin erwähnte Schrift von 1809 über die Juden ist ein gutes Beispiel) und eine Technik, seine Argumente dabei unter Umständen nicht mit Hervorhebung seiner eigenen idealistischen Hauptgründe, sondern vielmehr ad hominem im Hinblick auf die Beweggründe seines Rezipienten zu gestalten (als Diplomat von Beruf war er genauso geübt in dieser Technik wie sein Bruder Alexander, sowie übrigens im allgemeinen (nochmals entgegen Wolfgang-Hagen Heins eingangs zitierter Meinung)).16 Er verließ Man muss aber hier insofern einschränken, als Wilhelm (meines Wissens) nirgendwo das Frauenwahlrecht vertreten hat. 16 Was letzteres betrifft, d. h. Wilhelms allgemeine Kompetenz als Diplomat (bzw. Politiker), stimmt es zwar, dass er bei manchen Erfolgen auch mehrere Niederlagen erlebt hat, etwa 1810 (Universitäts-Finanzierung) und 1819 (Preußische Verfassungsänderung), teilweise auch 1814 (Reichsverfassungsänderung). Aber man soll in diesen Fällen immer die Würde und Schwierigkeit seiner politischen Ziele, die Stärke des Widerstandes, die sie provozierten, und die edle Aufrichtigkeit seiner Haltung, dass es bei solchen würdigen Zielen besser sei, seinen allerbesten Versuch zu machen sie durchzusetzen und dann, wenn das nicht gelingt, zurückzutreten, als nicht einmal zu versuchen oder fragwürdige Kompromisse zu schließen, in Betracht ziehen. Wilhelm hat öfters den Geist von den 15
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sich zwar weniger als Alexander auf den Einfluss seiner Publikationen (was sich teilweise aus Enttäuschungen darüber und teilweise aus seiner heikleren beruflichen Lage erklären lässt). Dafür hat er aber ein wichtiges zusätzliches Mittel erfunden und angewandt, und zwar die Reformen des Bildungswesens, die er als de facto Minister für Bildung und Kultus 1809–10 entwarf und vornahm, insbesondere das neue Modell der Universität, das er während dieser Jahre in zwei für die Regierung verfassten Schriften im Zusammenhang mit der Gründung einer neuen Universität zu Berlin (der heutigen Humboldt Universität) ausformulierte und umzusetzen begann. Denn er konzipierte die Universität, die ihm vorschwebte (und die dann zum beträchtlichen Teil zur Wirklichkeit gedieh), als (wie vorhin gesagt) u. a. eine Art friedliches, heilsames trojanisches Pferd, um die Ideale der Französischen Revolution in Preußen einzuführen und aufrechtzuerhalten – als eine Art harmlose, zuträgliche Freiheitsbombe mitten in dem Staat. So meine These. Wenden wir uns jetzt einigen der Details des Projekts zu, um diese These auszubuchstabieren und zu plausibilisieren. Was zunächst die Ideale von Liberalismus und Republikanismus angeht, hat Wilhelm m. E. die Universität als u. a. ein Vorbild von liberal-republikanischer Existenz verstanden, das eine solche Existenz auch in der breiteren Gesellschaft in Gang bringen und unterstützen sollte. Zwei Aspekte seines Modells der Universität sind in dieser Hinsicht besonders bemerkenswert. Erstens vertritt er ein Prinzip der Unabhängigkeit – einschließlich der finanziellen Unabhängigkeit – der Universität von dem Staat. Dieses Prinzip stellt m. E. unter anderem eine Art Analogon und Vorbild für die Autonomie einer liberalen Republik gegenüber anderen Staaten und Mächten dar. Wilhelm hatte schon für dieses Prinzip in den Ideen zu einem Versuch plädiert, und zwar im Hinblick auf das ganze Bildungswesen. Die Sekundärliteratur hat manchmal einen Widerspruch zwischen diesem frühen Prinzip und seiner späteren Gründung der Universität Berlin gewittert (etwa Sorkin 1983, 55–73). Aber in Wirklichkeit gibt es keinen Widerspruch (vgl. Meinecke 1906, 54; Menze 1975, 133–135). Auch der spätere Wilhelm strebt eine vom Staat möglichst unabhängige Universität an, besonders indem er sie durch eine einmalige Verleihung von königlichen Domänen-Gütern finanziell unabhängig vom Staat zu machen versucht. Demgemäß schreibt er in Thermopylen heraufbeschwört (etwa schon in Ideen zu einem Versuch), hat offensichtlich selbst in diesem Geiste gehandelt und sollte m. E. nicht weniger als die Spartaner dafür gewürdigt werden.
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der Schrift Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810) im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Universität vom Staat im allgemeinen, dass der Staat „immer hinderlich ist, sobald er sich einmischt“, und dass er deshalb, wenn er vernünftig ist, „immer bescheidener eingreifen wird“ (Humboldt W. 1982, Bd. 4, 257). Und er ergänzt in dem Antrag auf Errichtung der Universität Berlin (1809) in Bezug auf die finanzielle Unabhängigkeit der Universität von dem Staat im Besonderen, dass er bemüht ist, „dass das gesamte Schul- und Erziehungswesen nicht mehr Ew. Königlichen Majestät [d. h. des Königs] Cassen zur Last fallen, sondern sich durch eigenes Vermögen und durch die Beyträge der Nation erhalte […] Es würde deshalb am zweckmässigsten seyn, wenn die neue Universität ihr jährliches Einkommen durch Verleihung von Domänen-Gütern erhielte“, wobei er hinzufügt, dass „diese Güter auf ewige Zeiten hinaus, Eigentum der Universität […] bleiben sollen“ (Humboldt W. 1982, Bd. 4, 33–34).17 Wie Wilhelms geschmeidige Wortauswahl in dieser Passage „Ew. Königlichen Majestät Cassen zur Last fallen“ vielleicht besonders klar verrät, spricht er hier als erfahrener Diplomat, der seine Argumente im Hinblick auf die Interessen und Empfindlichkeiten seines Adressaten, hier insbesondere des Königs auswählt. Und die weiteren Gründe, die er zur Unterstützung seiner Empfehlung unmittelbar fortfährt anzuführen, z. B. die Befreiung des Erziehungswesens von finanziellen Engpässen in unruhigen Zeiten und die besseren Chancen, dass eine Besatzungsmacht eine vom Staat unabhängige als eine davon abhängige Institution respektieren wird (ebd., 33), verfolgen denselben diplomatischen Ansatz (was übrigens nicht impliziert, dass er die angeführten Gründe nicht geglaubt hätte, dass sie geradezu verlogen gewesen wären). Aber Wilhelms eigener, taktvoll verschwiegener Hauptgrund bleibt hier sicherlich derselbe wie früher: sein Wunsch, die Unabhängigkeit der Universität vom Staat zu gewährleisten (und dadurch, so meine Interpretation, u. a. ein Vorbild von republikanischer Unabhängigkeit zu etablieren). Zweitens konzipiert Wilhelm das interne Funktionieren der Universität als eine Art liberal-republikanischen Umgang. Insbesondere vertritt er hier zwei auf den ersten Blick einander ausschließende aber in Wirklichkeit vielmehr komplementäre Prinzipien: Das erste, das er besonders in der Organisationsschrift von 1810
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In demselben Geist versuchte Wilhelm in seiner Bildungsreform auch die Elementarschulen und Gymnasien möglichst unabhängig von dem Staat zu machen, besonders hinsichtlich ihrer Finanzierung.
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betont, ist ein Prinzip von „Einsamkeit und Freiheit“ (Humboldt W. 1982, Bd. 4, 255, vgl. 191). Das zweite ist ein Prinzip von freier geselliger Zusammenarbeit unter Professoren und Studenten. Demgemäß schränkt er in der Organisationsschrift sein Prinzip von „Einsamkeit und Freiheit“ sofort folgendermaßen ein: „Da aber das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, und zwar nicht bloss, damit Einer ersetze, was dem Anderen mangelt, sondern damit die gelingende Thätigkeit des Einen den Anderen begeistere und Allen die allgemeine, ursprüngliche, in den Einzelnen nur einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so muss die innere Organisation dieser Anstalten [d. h. der Universitäten] ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten“ (ebd. 255–256, vgl. 191).18 Diese Synthese von „Einsamkeit und Freiheit“ mit freier geselliger Zusammenarbeit liefert auf universitärer Ebene eine Art Vorbild von liberal-republikanischem Umgang. Zur bescheidenen Bestätigung dieser ganzen Interpretation von Wilhelms impliziten liberal-republikanischen Absichten in seinem Universitätsmodell aus den Jahren 1809–10 lässt sich übrigens hinzufügen, dass Friedrich Schleiermacher in einer kurz zuvor veröffentlichten Schrift über die Universität im allgemeinen und die Gründung einer neuen Universität zu Berlin im Besonderen, Gelegentliche Gedanken über die Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende (1808), die Humboldts eigene Schriften von 1809–10 offensichtlich stark inspirierte und mit ihnen als ein weiteres Gründungsdokument der Universität Berlin angesehen werden soll, sowohl die Freiheit als auch das gar demokratische Wesen der Universität stark vertreten hatte (Schleiermacher 1808, bes. 104–131).19 Was als Nächstes Gleichheit betrifft, ist Wilhelms Abneigung gegen starke Standesunterschiede und gegen die Beschränkung von Bildung auf privilegierte Stände in seinen Schriften aus 1791/2 und 1807/8 schon zitiert worden. Das Wort „absichtsloses“ sieht hier natürlich auf den ersten Blick komisch oder gar befremdend aus, besonders für Leser, die an neuere Vorstellungen der Wichtigkeit von „Impakt“ an der Universität gewohnt sind, aber es ist durchaus ernst gemeint, da nach Humboldts Vorstellung die Abwesenheit eines vorgefassten Zieles ein wichtiges Merkmal der Bildung ausmacht, die die Universität zustande bringen soll. 19 Indem Schleiermacher nicht nur Republikanismus sondern gar Demokratismus vertritt, ist er noch ein Stück radikaler als Humboldt. 18
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Dementsprechend sehen seine 1809–10 entwickelten Reformen des Bildungswesens im allgemeinen und sein Modell der Universität im besonderen – entgegen der damals noch vorherrschenden standesgebundenen Verzweigung des Bildungswesens – ein einheitliches, gradliniges System vor, das allen Ständen ein Minimum an gemeinsamer Erziehung zusichert und im Prinzip alle Bildungsebenen, einschließlich der Universitäten, allen Ständen eröffnet. Wilhelm vertritt zwar in diesem Zusammenhang vielmehr den Abbau von strukturellen Hindernissen an einer egalitären Teilnahme als eine positive finanzielle Ermöglichung der Teilnahme von ärmeren Schülern und Studenten an Gymnasien und Universitäten. Aber auch das war damals ein wichtiger Fortschritt. Und er wurde von dem weiteren, positiveren Schritt wohl nicht durch Gleichgültigkeit über die Chancen der Armen abgehalten, sondern teils durch die Kenntnis, dass ärmere Schüler und Studenten in Preußen schon bis zu einem gewissen Grad aus privaten Mitteln finanziell unterstützt wurden (z. B. Studenten seit der Reformation mit protestantischen convictoria und pedagogica), teils durch die Hoffnung, dass sich solche private Finanzierung weiter entwickeln würde, und (last but not least) teils durch den Wunsch, den Staat zugunsten der Unabhängigkeit des Bildungswesens möglichst aus der Finanzierung von Bildung herauszuhalten.20 Was Kosmopolitismus angeht, fanden, wie schon angedeutet, Wilhelms Bildungsreformen der Jahre 1809–10 unter außerordentlich schwierigen und peinlichen politischen Umständen statt, nämlich der Niederlage Preußens und der Besatzung großer Teile des Landes durch Napoleon und die Franzosen, nebst Territorialverlusten und Armeekürzungen. Wilhelms Schriften zur Gründung der neuen Universität, die den König und seine Minister dafür begeistern sollten, betonen demgemäß in einem patriotischen Geist den Einfluss und den Stolz, den die Gründung einer neuen Universität in der Hauptstadt Berlin dem Land im Ausland zu erwerben verspricht. Wilhelm schreibt beispielsweise, „Nur Universitäten können [dem Land] Einfluss auch über die Gränzen hinaus zusichern“; er impliziert, dass sie „einen bedeutenden Einfluss auf das Ausland gewinnen“ sollen; und er strebt „eine glänzende, auch Ausländer anziehende Universität“ an (Humboldt
Übrigens war Schleiermacher hier nochmals (vgl. die vorige Fußnote) ein Stück radikaler als Wilhelm, indem er in Gelegentliche Gedanken jenseits der strukturellen Reform der Universität auch noch eine finanzielle Unterstützung für ärmere Studenten durch den Staat befürwortete.
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W. 1982, Bd. 4, 30–31). Wilhelms Eintreten für diese patriotische Motivation war ohne Zweifel aufrichtig.21 Aber man soll nicht übersehen, dass seine zitierte Bezugnahme auf das Ausland auch eine andere, implizitere Seite hat. Denn, wie schon bemerkt, war Wilhelm zeitlebens ein überzeugter Kosmopolit.22 Seine explizite Hervorhebung in den Schriften von 1809–10 des von der neuen Universität zu erwartenden nationalen Einflusses und Stolzes statt einer kosmopolitischen Leistung der Universität für die ganze Welt ist deshalb mit ziemlicher Sicherheit nur eine oberflächliche, unter den damals bestehenden Umständen nationaler Demütigung diplomatisch kluge Einseitigkeit seiner Darstellung (während patriotische Argumente unter solchen Umständen dem König und seinen Ministern einleuchten und deshalb die Gründung der neuen Universität voranbringen würden, würden kosmopolitische Argumente für sie eher unerwünscht und abstoßend sein, besonders da Kosmopolitismus bekanntlich von dem französischen Feind selbst vertreten wurde, und würden deswegen die Gründung der neuen Universität gefährden). Eine kosmopolitische Leistung der Universität für die ganze Welt gehört durchaus zum Subtext von Wilhelms Schriften.23 Was Säkularismus betrifft, waren die allermeisten Universitäten in Deutschland bis etwa 1800 religiöse Anstalten, in denen die theologische Fakultät seit dem Mittelalter die anderen Fakultäten dominiert hatte. Eine Reihe von Philosophen – Kant, Fichte, Schelling und Schleiermacher – hatte schon kurz vor Wilhelms Bildungsreformen von 1809–10 entgegen diesem vorherrschenden Modell das neue Modell einer Universität aufgestellt, die die anderen Fakultäten (Theologie, Jura und Medizin) der philosophischen Fakultät im Allgemeinen und der Philosophie als Fach im Besonderen unterordnen und dadurch eine Einheit von Wissen unter der Philosophie anstreben sollte. Wilhelm schloss sich diesem neuen Modell an – mit Man vergleiche z. B. seine kurz davor geäußerte positive Einstellung zum Patriotismus im Allgemeinen in Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten (1807–8). 22 Man bemerke in diesem Zusammenhang, dass Kosmopolitismus sehr wohl mit einem gewissen Patriotismus verbunden werden kann (vgl. etwa die eingangs zitierte zweite Devise von Fénelon zu Selbst, Familie, Vaterland und Menschheit) und dass besonders unter den damals bestehenden Umständen nationaler Demütigung ein gewisser defensiver Patriotismus auch für einen Kosmopolit wie Wilhelm wohl natürlich und angemessen war. 23 Pace Spranger (1960, bes. 6, 68, 206), der naiverweise Humboldts oberflächlichen Nationalismus allzu wörtlich interpretiert. Wolfgang-Hagen Heins eingangs zitierte Bemerkungen begehen denselben Fehler. 21
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der einzigen, bescheidenen Abwandlung, dass er nebst der Philosophie auch der Kunst eine führende Rolle zuschrieb (Humboldt W. 1982, Bd. 4, 114–115, 258–259). Nun, eine Motivation dieses neuen Modells bestand offensichtlich in einem damals weitverbreiteten Optimismus über eine gerade erzielte oder unmittelbar bevorstehende endgültige Form der Philosophie und über deren darauf zu gründende Kompetenz, die anderen Disziplinen zu leiten – ein Optimismus, der heutzutage ziemlich unplausibel und überholt erscheint. Aber eine andere, wohl noch wichtigere Motivation war das Ziel einer Herabsetzung der Religion im allgemeinen und der Theologie im besonderen an der Universität zugunsten eines Säkularismus – eine Motivation, die Wilhelm mit manchen der vorhin genannten Philosophen stark teilte, und die heute noch durchaus vertretbar ist. Aus leicht verständlichen diplomatischen Gründen trug er diese Motivation in seinen Schriften von 1809–10 nicht zur Schau. Aber sie bildet nichtsdestoweniger einen wesentlichen impliziten Bestandteil seines darin entworfenen Universitätsmodells. Es ist übrigens ein kleines aber (wenigstens für einen säkularen Geschmack) köstliches Symptom dieser Einstellung, dass Wilhelm die für die Universität Berlin vorgesehene Verleihung von königlichen Domänen-Gütern letzten Endes auf Kosten der katholischen Kirche vornehmen wollte, die dem König einen entsprechenden Schadenersatz opfern sollte (Humboldt W. 1982, Bd. 4, 118, vgl. 120).24 Schließlich Bildung. Bildung ist geradezu der Kern von Wilhelms Modell der Universität in den Schriften von 1809–10. Sie fungiert dort zum großen Teil als Selbstzweck. Demgemäß hatte Wilhelm sie schon in den Ideen zu einem Versuch (1791/2) als den Hauptzweck nicht nur des Bildungswesens, sondern auch gar des Staats überhaupt identifiziert: „Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung […]. Diese Kraft [der Individuen] und die[.] mannigfaltige Verschiedenheit vereinen sich in der Originalität, und das also, worauf die ganze Grösse des Menschen zuletzt beruht, wonach der einzelne Mensch ewig ringen muss, und was der, welcher auf Menschen wirken will, nie aus den Augen verlieren darf, ist Eigenthümlichkeit der Kraft und der Bildung
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Ein funktionales Äquivalent für die Herabsetzung der Theologie zugunsten der Philosophie und Kunst auf universitärer Ebene war Wilhelms gleichzeitige Herabsetzung der Religion und des Pfarrers zugunsten der klassischen Philologie und des Philologen auf gymnasialer Ebene.
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[…]. Ganz und gar […] hört es auf, heilsam zu sein, wenn der Mensch dem Bürger geopfert wird. Denn […] so verliert auch der Mensch dasjenige, welches er gerade durch die Vereinigung in einen Staat zu sichern bemüht war. Daher müßte, meiner Meinung zufolge, die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen überall vorangehen. Der so gebildete Mensch müßte dann in den Staat treten und die Verfassung des Staats sich gleichsam an ihm prüfen. Nur bei einem solchen Kampfe würde ich wahre Verbesserung der Verfassung durch die Nation mit Gewißheit hoffen“ (Humboldt W. 1982, Bd. 1, 64–65, 106/127–128, 169). Wilhelm betont in dieser Passage, dass Freiheit eine unerlässliche Bedingung für Bildung ist. Aber es ist für unsere Zwecke in diesem Artikel wichtig zu bemerken, dass er in derselben Frühschrift auch die umgekehrte Abhängigkeit vertritt, die Abhängigkeit der Freiheit von Bildung: „Nun […] erfordert die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen gleich hohen Grad der Bildung, und das geringere Bedürfnis, gleichsam in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln, eine größere Stärke und einen mannigfaltigeren Reichtum der handelnden Individuen. Besitzt daher das gegenwärtige Zeitalter einen Vorzug an dieser Bildung, dieser Stärke und diesem Reichtum, so muß man ihm auch die Freiheit gewähren, auf welche derselbe mit Recht Anspruch macht“ (ebd., 58/121). Kurzum, Freiheit ist nach Wilhelms Meinung nicht nur ein unabdingbares Mittel zu individueller Bildung, sondern auch umgekehrt. Man kann diesen frühen Passagen deshalb mit einiger Sicherheit entnehmen, dass nach Wilhelms damaliger Meinung die Universität beides – nicht nur Bildung, sondern auch Freiheit –, und zwar auf eine wechselbedingte Weise für den Staat befördern soll. In den Schriften von 1809–10 ist seine Darstellung dieser Doppelleistung für den Staat zwar klar genug in Bezug auf Bildung, aber erheblich verschwommener in Bezug auf Freiheit. Er schreibt dort diesbezüglich nur recht vage von einer „moralischen“, „sittlichen“ oder „praktischen“ Leistung für den Staat. Was er damit meint ist aber m. E. vor allem liberal-republikanische Freiheit (wie Schleiermacher kurz zuvor in Gelegentliche Gedanken die Universität als eine Quelle von Freiheit und gar Demokratie dargestellt hatte). Wilhelms Vagheit in dieser Hinsicht lässt sich noch einmal leicht aus seiner damaligen Rolle als Vertreter und Berater des Königs, und zwar besonders unter den damals vorherrschenden misslichen politischen Umständen erklären: explizit gemachte liberal-republikanische Absichten wären von dem König und seinen Ministern nicht gerade begrüßt worden, umso weniger 33
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da sie ursprünglich aus dem Lager des siegreichen französischen Feindes stammten, und hätten deswegen Wilhelms ganze Reform zum Scheitern verdammt. Er ließ sie deswegen eher implizit bleiben. Wenn diese Interpretation von Wilhelms impliziten Absichten richtig ist, so kann man wohl seine Vorstellung des Beitrags an Freiheit für den Staat, den die Universität durch Bildung leisten soll, in etwa folgendermaßen näher explizieren: Die Universität liefert nicht nur selbst ein Vorbild von Freiheit, d. h. von liberal-republikanischer Unabhängigkeit und liberal-republikanischem Umgang, sondern sie entwickelt darüber hinaus durch die individuelle Bildung, die sie zustande bringt, die Selbständigkeit, Erkenntnisse und Urteilskraft von individuellen Bürgern, die erst politischer Unterdrückung zu widerstehen und erfolgreiche liberal-republikanische Politik zu ermöglichen imstande sind.25 Das war wohl schon in etwa seine Vorstellung, als er 1791/2 in einer vorhin zitierten Passage von Ideen zu einem Versuch schrieb, dass die „Bildung des Menschen überall vorangehen [müßte]. Der so gebildete Mensch müßte dann in den Staat treten und die Verfassung des Staats sich gleichsam an ihm prüfen. Nur bei einem solchen Kampfe würde ich wahre Verbesserung der Verfassung durch die Nation mit Gewißheit hoffen“. Es bleibt noch m. E. seine implizite Vorstellung in den Schriften von 1809–10. Kurzum, Wilhelm teilte nicht nur Alexanders Begeisterung für die Ideale der Französischen Revolution, seine Abneigung gegen Gewalt als Mittel zu deren Umsetzung und manche der friedlicheren Mittel, die er vorzog, sondern fügte darüber hinaus ein weiteres wichtiges friedliches Mittel hinzu: seine Bildungsreformen, insbesondere sein neues Modell der Universität.
Schlussbemerkung Wie steht es um das spätere Schicksal dieser politischen Ideale, die die Gebrüder Humboldt gemeinsam vertraten?
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Man vergleiche diesbezüglich Moses Finleys an das positive Beispiel von Athen angelehnte These, dass ein hohes Niveau an Bildung für eine gut funktionierende liberal-demokratische Verfassung unabdingbar ist (Finley 1973). Die Vereinigten Staaten haben übrigens seit 2000 ein ziemlich schauderhaftes Beispiel davon gegeben, wie schief liberaldemokratische Systeme gehen können, wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist.
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Weltweit haben sie seitdem bei allen Mängeln und Rückschlägen wichtige Fortschritte erzielt, und zwar z. T. dank des Einflusses der beiden Brüder, z. B. in Lateinamerika (wo Alexanders Einfluss auf die Politik beträchtlich gewesen ist) und in den USA (wo Wilhelm einen starken Einfluss auf das Bildungswesen ausgeübt hat). Und in Deutschland? Ihr Schicksal in Deutschland ist eine Achterbahn gewesen – mit fast ununterbrochenen Tiefen bis 1918/9 und wieder von 1933 bis 1945 aber Höhen während der versuchten Revolution von 1848/9, der Weimarer Republik von 1918 bis 1933 und der Bundesrepublik seit 1949, inklusive des wiedervereinigten Deutschlands seit 1990. Bei allen Abweichungen (z. B. die Abwesenheit einer klaren Trennung von Staat und Kirche, wie etwa in Frankreich oder sogar den USA, und eine erheblich stärkere Gleichheit für Frauen) entspricht die Bundesrepublik seit 1949 sogar erstaunlich genau dem politischen Modell, das den Brüdern damals vorschwebte: Liberalismus, Republikanismus, ein beträchtliches Maß an Gleichheit, Kosmopolitismus, ein gewisser Säkularismus, Bildung, Ablehnung von Rassismus, Sklaverei und Imperialismus, Gleichberechtigung für Juden sowie für Frauen. Das Gleiche gilt übrigens auf dem Niveau des Bildungswesens im Besonderen: bei allen Abweichungen (z. B. keine finanzielle Unabhängigkeit der Universitäten vom Staat) entsprechen die aktuellen Universitäten in Deutschland ziemlich genau dem Modell der Universität, das Wilhelm von Humboldt damals entwickelte.26 Die Frage, inwiefern diese erfreuliche Situation den beiden Brüdern eigentlich zu verdanken ist, ist freilich eine andere. Schon zu ihren Lebzeiten gab es auch andere (übrigens gleichfalls von Frankreich beeinflusste) einflussreiche Vertreter derselben oder ähnlicher politischen Ideale, etwa Herder und Georg Forster sowie dann auf Regierungsebene Hardenberg und Stein, deren von Frankreich angeregte und inspirierte Reformen in Preußen nach der militärischen Niederlage von 1806 den breiteren Rahmen für Wilhelm von Humboldts Reformen des Bildungswesens im Besonderen bildeten. Außerdem ist der Weg von der Epoche der beiden Brüder bis hin zu der erfreulichen Lage in Deutschland seit 1949, wie vorhin angedeutet, nichts weniger als direkt und einfach, und zwar weder auf politischer noch 26
Ich lasse hier i. W. die wichtige Frage beiseite, inwiefern die erwähnten Abweichungen der Bundesrepublik oder aber den Brüdern Humboldt zum Vorteil gereichen. Ich würde aber dafür plädieren, dass in Bezug auf Säkularismus die Brüder Humboldt den Vorteil haben, in Bezug auf Gleichberechtigung für Frauen vielmehr die Bundesrepublik, während in Bezug auf die Finanzierung von Universitäten der Vergleich zweideutig ausfällt.
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auf universitärer Ebene, sondern vielmehr eine Achterbahn gewesen – was eine schlichte Schlussfolgerung auf Einfluss, d. h. auf Ursache und Wirkung noch weiter erschwert. Nichtsdestoweniger scheint mir die Vermutung, dass die erfreuliche aktuelle Lage in Deutschland wenigstens zum beträchtlichen Teil den beiden Brüdern zu verdanken ist, durchaus plausibel.
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2 Einheit des Differenten. Geschlecht, Ehe, Gesellschaft und Staat bei Humboldt Friederike Kuster (Wuppertal)
Einleitung Um den Paradigmenwechsel in den Konzeptionen von Geschlecht und Ehe um 1800 angemessen einschätzen zu können, muss das Hergebrachte und Überkommene mit dem Neuen, dem Ungewöhnlichen, wenn nicht gar Unerhörten, das sich in diesen Jahren Bahn bricht, kontrastiert werden. Der historische Umbruch, der sich im Geschlechter- und Eheverständnis bei Humboldt manifestiert, wird erst dann prägnant sichtbar, wenn das Humboldt’sche Ehemodell aus dem Jahr 1792 dem der kantischen Rechtslehre von 1797 entgegengesetzt wird. Kant behandelt in der Metaphysik der Sitten die Ehe als eines der sogenannten Hausregimenter, wie das seit Aristoteles‘ Politik in der politischen oder in der Rechtsphilosophie üblich ist. In kanonischer Weise wird hier zunächst die Verfassung des Hauses und seiner Mitglieder, dann diejenige des Staates erörtert. Kant muss, um auf der Basis seiner rechtsphilosophischen Prämissen den Verhältnissen zwischen den Hausgenossen, also den Beziehungen von Mann, Weib, Kindern und Gesinde, eine passende Rechtsform anzumessen, das dinglich-persönliche Recht als eine Sonderform des Privatrechts konstruieren. Diese ergibt sich daraus, dass das kantische Rechtsuniversum nur Dinge oder Personen kennt. Mit dem dinglich-persönlichen Recht ist in aller Kürze angezeigt, dass Hausmitglieder etwas sind, das vertraglich erworben wird, und das im Weiteren als Sache besessen, dabei aber gleichwohl als Person behandelt wird. Berühmt geworden ist die kantische Definition der Ehe als ein wechselseitiger lebenswieriger Erwerb der Geschlechtseigenschaften, eine Bestimmung, der freilich nur dann etwas Lächerliches anhaftet, wenn der 39
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systematische Kontext abgeblendet wird. Denn da Kant Rechtsbeziehungen ausschließlich vertragsförmig denkt, erwerben sich mithin Mann und Frau als ganze Personen wechselseitig zum geschlechtlichen Gebrauch. Da dieser Gebrauch genau besehen allerdings einen unmittelbaren Genuss der anderen Person und da diese Verdinglichung eine Verletzung des Menschenrechts darstellt, kann eben nur die lebenslange eheliche Gemeinschaft diese laesio enormis – wie Kant sagt – aufheben. Die strikte Wechselseitigkeit von Mann und Frau im geschlechtlichen Gebrauch lässt allerdings die Frage des häuslichen Regiments unberührt. Die Gatten können menschenrechtlich geregelt zwar gegenseitig voneinander Gebrauch machen, aber nicht auch wechselseitig übereinander herrschen. Bezüglich der weitergehenden Frage der Hausherrschaft führt also auch Kant das etablierte Argument der unteilbaren Souveränität an, womit die alleinige Hausvorstandsschaft begründet ist. Dass sie dem Mann zufällt, ist schließlich durch die Geschlechteranthropologie vorbereitet: Er ist in jeder Hinsicht vermögender: physisch, psychisch und intellektuell. Der Rückgriff auf eine Geschlechtsnatur, dort, wo es um reine Rechtsverhältnisse geht, die erklärtermaßen von natürlichen Dispositionen absehen, ist ein Lapsus in der kantischen Systematik, der aber an der Stelle, wo das Verhältnis von Mann und Frau in der Ehe in Frage steht, in allen Rechtsphilosophien zu konstatieren ist. So lautet also das Lehrstück über die Ehe bei Kant, der hier die meisten einschlägigen Bestimmungen der Naturrechtslehren des 18. Jahrhunderts in seine Rechtssystematik einpflegt. Aber was zeigt dieser Rückblick auf das kantische Eheverständnis? Allem voran wohl das, dass heutzutage das persönliche Verhältnis der Ehegatten in den Begriffen von Erwerb, Besitz, Gebrauch und Herrschaft auszubuchstabieren als unpassend oder – wie just mit Blick auf Kant so oft bemängelt – als philosophisch verschroben anmutet. Dieser Umstand hat ohne Zweifel mit der Erfindung der romantischen Ehe zu tun, ein Verdienst, das mancher Fichte zusprechen mag (Schwab 2005), worauf aber Humboldt gleichfalls den Anspruch erheben kann, und dies nicht allein aus dem Grund, dass seine Staatsschrift noch vor Fichtes Grundlage des Naturrechts verfasst wurde. Freilich stellen die Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (im Weiteren: Ideen) gegenüber der Reihe der philosophischen Rechtslehren oder Naturrechtskonzeptionen der Epoche gewissermaßen einen Ausreißer dar, sofern diese Schrift einen grundlegend anderen Zuschnitt aufweist. Verkürzt gesagt, ist ihr zentral organisierender Begriff nicht der juridische des Rechts, sondern der anthropologisch-ästhetische der Bildung, der Staat wird nicht unter dem Gesichtspunkt 40
2 Einheit des Differenten. Geschlecht, Ehe, Gesellschaft und Staat bei Humboldt
seiner Legitimität betrachtet, sondern hinsichtlich seiner Zweckmäßigkeit. Ferner entwickelt Humboldt kein System, in dessen Rahmen er eine Deduktion des Staates und im Weiteren der Ehe aus übergeordneten letzten Grundsätzen unternimmt. Dessen unerachtet jedoch formuliert Humboldt als Erster die maßgeblichen Bestimmungen des romantischen Ehemodells, wie sie dann bei Fichte 1796/97 in ein System gebracht werden und bei Hegel 1820 in den Grundlinien der Philosophie des Rechts in einer ‚verbürgerlichten‘ Weise im Kontext der Familie als einer der Sphären der Sittlichkeit aufgegriffen werden. Worin besteht nun dieser Neueinsatz, das genuin Romantische, das im Weiteren das moderne bürgerliche Ehe- und Geschlechterverständnis bis in die Gegenwart maßgeblich prägen wird? Kurz und plakativ auf den Begriff gebracht: Ehe ist Liebe (vgl. Schwab 2005, 179). Die Ehe ist ihrem Wesen nach keine Rechtseinrichtung, sondern eine auf die Geschlechtsverschiedenheit gegründete Verbindung zweier Menschen, die ihre Bestandsgarantie nicht im äußerlichen Rechtsband, sondern primär in der innerlichen Empfindung hat. Gesetze und jede Art von Rechtszwang sind weder dazu geeignet, das eheliche Verhältnis selbst, noch das Verhältnis der Ehegatten gegen Dritte zu ordnen, also Angelegenheiten wie Scheidung oder auch Ehebruch in allgemeiner Weise zu regeln oder gar zu sanktionieren. Auch resultiert die eheliche Liebe nicht als eine häusliche Verhaltenspflicht aus der Eheschließung, sondern eine zuhöchst individuelle Liebe, welche sich in ihrer Spontaneität und Unverfügbarkeit dem „Startmechanismus Zufall“ (Luhmann 1982, 166) verdankt, bildet allererst ihre Voraussetzung. Die Eheleute formen ferner nicht länger den Kern der ständischen Einheit des ‚ganzen Hauses‘, bestehend aus Gatten, Kindern und Gesinde, sondern bilden das Zentrum der bürgerlichen Kleinfamilie, wobei diese Vereinigung von Mann und Frau ihren Zweck in sich selbst trägt. Damit verlieren die auf Augustinus zurückgehenden kirchlichen Ehezwecke proles, fides, sacramentum, die bereits in den Naturrechtslehren auf das säkulare Ziel der Zeugung von Nachkommenschaft verkürzt worden waren, das schließlich bei Kant ganz entfällt, endgültig ihre Deutungshoheit. Und nicht zuletzt stellt sich das Gattenverhältnis bei Humboldt auf keinen Fall als ein Regiment, als ein eheliches Herrschaftsverhältnis dar! Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie Humboldt im Rahmen der Staatskonzeption der Ideen für diese gefühlsbasierte, sentimentale und gleichermaßen liberale und emanzipatorische Konzeption der Ehe argumentiert. Deutlich wird dabei, dass die Definition des Staatszwecks in den Ideen eben diese Ehekonzeption gewissermaßen 41
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fordert. Die Eigenart der Humboldt’schen Ehevorstellung erklärt sich zudem aus der ihr zugrundeliegenden Geschlechtertheorie, welche ins Zentrum von Humboldts Naturphilosophie führt, da für Humboldt die Kategorie des Geschlechts mit ihrer implizierten Differenz das essentielle Prinzip von Sein und Werden in der Natur überhaupt abgibt. Differenz, die prozessierend in Wechselwirkung steht, bildet aber nicht nur das zentrale Prinzip der Natursphäre, sondern umspannt gleichermaßen die Dimension des Geistigen und führt schließlich zu einer völlig neuen Konzeption des sozialen Raumes bei Humboldt, innerhalb dessen auch der Ehe neue Bedeutsamkeit zuwächst. Die angestammten sozialphilosophischen Parameter von Individuum, Haus und Staat wandeln sich in die von Individuum, Paar und Gesellschaft. Hier nun fungieren Ehe bzw. Familie nicht länger als Keimzelle des Staates, als die „Pflanzstätte des gemeinen Wesens“ wie in den Naturrechtslehren, oder bilden, wie später bei Hegel, als natürliche Sittlichkeit die Vorstufe zur staatlichen, sondern das geschlechtliche Paar in seiner dynamischen Verbindung ist nucleus der Gesellschaft. Die Auflösung der ständischen Einheit des ganzen Hauses und die Herabstufung des Staates zum Minimalstaat setzen die einzelnen Individuen für ein unbegrenztes commercium von ungezwungener wechselseitiger Einflussnahme frei. In diesem weitestgehend unregulierten Sozialraum verkörpert das eheliche Paar sinnfällig die gelebte Wirklichkeit des Prinzips der Wechselwirkung, die Natürliches und Geistiges verwebt und polare Gegensätze zu einer dynamischen höheren Einheit fügt.
Eine individualistische Ehekonzeption Die Behandlung des Geschlechterverhältnisses und der Ehe folgt in den Ideen, wie oben bereits erwähnt, nicht der für Rechts- und Staatsphilosophien üblichen Systematik. Humboldt handelt vom ehelichen Verhältnis im dritten Abschnitt der Schrift, wo er nach der Definition des Staatszwecks die negative Bestimmung des Staates herausstellt und das Modell des obrigkeitlichen Wohlfahrtsstaats kritisiert. In der Diskussion der Schädlichkeit der Besorgung des positiven Wohls der Bürger*innen wird dies nach physischer, moralischer und intellektueller Rücksicht unterschieden. Die Behandlung der staatlichen Einflussnahme auf das Eheverhältnis liegt dem Gegenstande entsprechend zwischen der Diskussion des physischen und des moralischen Wohls. Nachdem Humboldt bereits in den vorangehenden 42
2 Einheit des Differenten. Geschlecht, Ehe, Gesellschaft und Staat bei Humboldt
Passagen die Tätigkeiten des Arbeitens und Herstellens, welche das materielle Wohlergehen befördern, in ihren expressiv-praxishaften Aspekten gegenüber ihrem instrumentellen Charakter aufgewertet hat, stellt er nun die Selbstzwecklichkeit der Sphäre des Sozialen als Dimension reiner Interaktion und Kommunikation heraus und beginnt die Erörterungen mit der ersten, weil im Natürlichen wurzelnden menschlichen Verbindung, der von Mann und Frau. Allem voran bemerkenswert ist, dass der Humboldt’sche individualistisch-liberale Staat kein Familienrecht kennt. Die Ehe als „(e)ine Verbindung von Personen beiderlei Geschlechts, welche sich […] auf die Geschlechtsverschiedenheit gründet“ (Humboldt 2002, 78/141), ist – neben der Freundschaft – die innigste und umfänglichste, die ganze Person betreffende Verbindung zwischen zwei Menschen. Da Menschen aber unendlich verschieden und ihre Verbindungen gleichfalls unabsehbar variantenreich sind und damit die „Wirkungen der Ehe ebenso mannigfaltig sind, als der Charakter der Individuen“, muss es die „nachtheiligsten Folgen haben […], wenn der Staat eine, mit der jedesmaligen Beschaffenheit der Individuen so eng verschwisterte Verbindung durch Geseze zu bestimmen, oder durch seine Einrichtungen von andren Dingen, als von der blossen Neigung abhängig zu machen versucht“ (ebd., 80f./143f.). In Kürze: keinerlei gesetzliche Regelungen für die Ehe! Hegel wird in seiner Rechtsphilosophie gegen die romantischen Ehevorstellungen polemisieren, die jede Institutionalisierung des Verhältnisses zwischen Mann und Frau ablehnen, wobei er sich allerdings weniger auf Humboldt als auf Schlegel und Schleiermacher bezieht, da Humboldts Schrift – abgesehen von Teilveröffentlichungen in Schillers Neue Thalia – erst 1851 publiziert wurde. Humboldt spricht sich freilich nicht gegen jegliche vertragliche Verabredung zwischen Eheleuten aus, aber ein solcher Ehevertrag ist ein privatrechtlicher Vertrag, den die Beteiligten nur mit sich selbst aushandeln und eben nicht das traditionelle „pactum supra partes“, das als eine überindividuelle Institution für die Vertragspartner*innen in seinem Inhalt unverfügbar ist. Eine rein privatrechtliche Regelung hingegen ermöglicht es, dass sich diverse Eheverträge „auf ebenso mannigfaltige Weise“ (ebd., 78/141) denken lassen, wie es der Eigenart der Gefühlsverbindung und den gemeinsam und/oder individuell verfolgten Zwecken der Gatten entspricht. Diese Vorstellung der Ehe als eines liberalen Arrangements resultiert unmittelbar aus der strikten Verpflichtung des Staates auf die Möglichkeiten der Selbstbildung des Individuums unter den Bedingungen größtmöglicher individueller Freiheitsräume 43
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und der Gewährleistung einer maximalen Varietät von Anlässen. Selbstbildung erwächst aus der Auseinandersetzung mit der Welt und den Dingen, die alle menschlichen Vermögen – Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Vernunft – engagiert. Aber noch nachhaltiger und tiefergehender wird jede individuelle Borniertheit aufgesprengt und der Charakter ausgebildet in der Vereinigung mit anderen, allen voran und in umfassender Weise in den Verbindungen von Liebe und Freundschaft. Diese Formen von Intimbeziehung entfalten sich zwischen den Polen des Für-sichseins, der Selbstständigkeit, und des Vereintseins-mit-dem-Anderen, der Innigkeit der Verbindung, Pole, die von Humboldt nicht – wie die Liebe bei Hegel – dialektisch zum Bei-sich-sein-im-Anderen gefügt sind, die sich gleichwohl wechselseitig bedingen: „Denn wenn ohne diese Innigkeit der eine den andren nicht genug aufzufassen vermag; so ist die Selbständigkeit nothwendig, um das Aufgefasste gleichsam in das eigne Wesen zu verwandeln“ (ebd., 65/128), und die sich in ihrem Intensitätsgrad aneinander zu steigern vermögen. Damit nun diese auf Liebe gegründeten, individuell einmaligen Verbindungen allein in Kreativität und Spontaneität wurzeln können, muss der Staat sich auf die Funktion einer rudimentären Rechtssicherung zurückziehen und sich aller weiteren regulierenden Maßnahmen enthalten. Humboldt folgt auch hier seinem theoretischen Impuls, jegliche Art von rechtlicher oder moralischer Verpflichtung zu vermeiden, die der individuellen Selbstrealisierung Grenzen auferlegen könnte. Da Staatshandeln unter der Maßgabe weitestgehender Gleichbehandlung gemäß allgemeinen Gesetzen erfolgt, sieht es von jeder Form von Unvergleichbarkeit und Inkommensurabilität ab. Ein Eherecht schnürte mithin die Individuen in ihren singulären Beziehungen in die Zwangsjacke allgemeiner Gesetzesförmigkeit und Uniformität (vgl. Vogel 1982, 85ff.). Der Staat sieht ausschließlich auf Zwecke und Resultate: Bevölkerungswachstum, militärische Stärke, Erziehung der Kinder – für heute ließe sich von Biopolitik oder von der Aufrechterhaltung eines bestimmten Geschlechterregimes sprechen – während die intime Beziehung zwischen zwei Personen ihren Sinn und Zweck ausschließlich in sich selbst trägt und von den Partner*innen in einer einzigartigen und kreativen Form gelebt wird, mithin gleichsam wie ein Kunstwerk von ihnen gestaltet werden kann. Das Eheverhältnis auf der einen Seite und eine staatliche Regulation auf der anderen sind im höchsten Maß inkompatibel, geradezu entgegengesetzt. Diese grundsätzliche staatliche Zurückhaltung mit Bezug auf das Intim-Private mag vorderhand sympathisch anmuten. Aber was bedeutet es im Konkreten, wenn 44
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der Staat sich um willen der maximalen individuellen Freiheit aus der Sicherung der individuellen Freiheitssphären weitestgehend zurückzieht? Wie steht es z. B. mit der Durchsetzung von Verträgen? Es überrascht nicht, dass Humboldt sich besonders für die Art der Übereinkünfte interessiert, deren bindende Kraft sich in die Zukunft erstreckt. Denn die Entscheidung eines Augenblicks vermag der Freiheit, weil ein Vorblick in die Zukunft „nur immer auf eine sehr unvollkommene Weise möglich [ist]“, unter Umständen „Fesseln an(zu)lege(n)“ (Humboldt 2002, 161/224). Hier gilt es, zwischen den Ansprüchen auf Vertragssicherheit und der Forderung nach einer maximalen Offenhaltung von Freiheitsräumen abzuwägen. Humboldt löst dies in der Weise, dass Versprechen, welche die Übertragung äußerer Dinge, also Eigentum, betreffen, von Versprechen unterschieden werden, „welche persönliche Leistungen zur Pflicht machen, oder gar eigentliche persönliche Verhältnisse hervorbringen“ (ebd., 162/225). Um der Schulung der Urteilskraft, der Festigung des Charakters willen und um die allgemeine „Geschäftssicherheit“ nicht zu erschüttern, gilt im Fall von Sachen eine Unwiderruflichkeit des gegebenen Worts. Anders verhält es sich allerdings dort, wo das Versprechen die Person und die Lebensweise als ganze betrifft, wie eben bei der Ehe: „da muss die Trennung zu jeder Zeit, und ohne Anführung aller Gründe erlaubt sein“ (ebd., 163/226), weil der Inhalt des Versprechens in allerengstem Verhältnis mit „inneren Empfindungen“ (ebd.) steht. Ist also bei einem oder einer der beiden der Wille erloschen, weiterhin in einer solchen Verbindung zu leben, verkommt das Verhältnis zu einer instrumentalisierenden oder funktionalisierenden Beziehung „worin der eine sich zu einem blossen Mittel der Absicht des andren macht, oder vielmehr von dem andren dazu gemacht wird“ (ebd.). Es drängt sich der Eindruck auf, als würde das umfänglichste Verhältnis zwischen zwei Personen seine maximale Ungesichertheit geradezu fordern. Humboldt scheint in sehr grundsätzlicher Weise davon überzeugt zu sein, dass eine inverse Relation besteht zwischen staatlicher Regulierung und dem Vermögen der Menschen, ihr Leben aktiv, spontan und kreativ zu gestalten (vgl. Vogel 1982, 91). Das geht an dieser Stelle sogar dem großen Bewunderer Humboldts, John Stuart Mill, zu weit, und er gibt ausdrücklich zu bedenken, dass bei auch derart gelockertem Rechtszwang gleichwohl unaufkündbare moralische Verpflichtungen bestehen: „Wenn ein Mensch entweder durch ein ausdrückliches Versprechen oder durch sein Verhalten einen anderen ermutigt hat, sich darauf zu verlassen, daß er auch weiterhin in einer bestimmten Weise handeln wird; wenn er ihm Anlass gegeben hat, diese 45
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Annahme zur Basis von Erwartungen und Kalkulationen zu machen und einen Teil seines Lebensplanes auf sie zu gründen, dann erwächst für ihn daraus eine Reihe neuer moralischer Verpflichtungen […]“ (Mill 1969, 124). Dass darüber hinaus in einer Gesellschaft, wo den Geschlechtern Domänen des Wirkens zugewiesen sind und eine Arbeitsteilung von der Art herrscht, dass der äußere Erwerb dem Mann obliegt und der sogenannte innere, das sparsame Wirtschaften, der Frau, ein jederzeit einseitig aufkündbarer Ehevertrag oder sogar keinerlei eheliche Übereinkunft den ökonomisch abhängigen Frauen zum Nachteil gereicht, hat wiederum Hegel mit seiner Kritik an der romantischen Feier der freien Liebe richtig gesehen (Hegel 1986, § 164 Zusatz). Emanzipatorisch ist freilich, dass dieses Ehemodell herrschaftsfrei gedacht ist, sofern man von der ökonomischen Überlegenheit des Familienernährers absieht. Die patriarchale Hausherrschaft und das klassische Eheregiment waren zusammen mit dem politischen Patriarchalismus spätestens im 18. Jahrhundert in eine Legitimationskrise geraten und grundlegend erschüttert worden. Die nachfolgenden bürgerlichen Geschlechterkonzepte restituieren jedoch die eheliche Herrschaft im neuartigen Zuschnitt der Polarisierung der Geschlechtscharaktere (hierzu Hausen 1978). Nicht länger herrscht der Mann als eminent vernünftig über die in ihrem Vernunftvermögen verminderte Frau, sondern Mann und Frau vereinigen sich zu einer ehelichen Person, in welcher die komplementär ausgebildeten moralisch-intellektuellen Vermögensprofile sich in der Weise ergänzen, dass erst ihr Zusammenspiel menschliche Vollkommenheit hervorbringt. Dieses bürgerliche Geschlechtermodell war anschlussfähig für die überkommenen geschlechtskonnotierten Hierarchien von Vernunft und Sinnlichkeit, Verstand und Gefühl, von Prinzipienfähigkeit und situativer Klugheit, von Orientierung am Allgemeinen und Hinblick auf das Partikulare und es weist erneut den männlich konnotierten Vermögen und damit in concreto den Männern die eheliche Richtlinienkompetenz und die Befugnis zum sog. „Stichentscheid“ in Familiendingen zu. In diesem bürgerlichen Ehemodell – in der BRD noch bis in die späten 1970er Jahre gesetzlich festgeschrieben – wird die rechtliche Selbstständigkeit der Frau in der vom Mann repräsentierten Eheperson fast vollständig konsumiert, die Ehefrau stirbt eine Art von „zivilem Tod“ (Studer 2000, 96). Ohne einen solchen gesetzlichen Ehevertrag entfällt die Hausherrschaft des Mannes. Mann und Frau können gleichberechtigt regeln, dass sie in ihrer Ehe alles gleichberechtigt regeln möchten. Bei Humboldt bleibt die Frau ihrem Mann 46
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gleich an Befugnissen und es entsteht mit Ehe und Familie keine „Enklave ungleichen Rechts“ (Grimm 1987, 33) innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Der individualisierte Ehevertrag Humboldts ist weit entfernt von der Rechtsfigur eines sentimental camouflierten gesetzlichen Unterwerfungsvertrags, er stellt vielmehr eine frei verabredete Verbindung zweier wesensmäßig verschiedenen Individuen zur wechselseitigen Selbstvervollkommnung im Zusammenspiel ihrer geschlechtsbedingt nur einseitig ausgebildeten Persönlichkeiten dar. Es erhellt unmittelbar, dass Humboldts übergeordnetes Staatsziel der größtmöglichen freien Entfaltung eines jeden Individuums den Zwang persönlicher Herrschaft a limine ausschließt. Dass aber das Verhältnis der Geschlechter auch nicht länger herrschaftsförmig geordnet sein muss, erschließt sich indes erst auf der Folie der Humboldt’schen Geschlechtertheorie, die in der Naturphilosophie wurzelt.
Naturphilosophische Begründungen 1795 veröffentlicht Humboldt in Schillers Horen zwei naturphilosophisch-geschlechtertheoretische Aufsätze: „Ueber den Geschlechtsunterscheid und dessen Einfluß auf die organische Natur“ sowie „Ueber die männliche und die weibliche Form“. Der Gedanke der Geschlechterpolarität und -komplementarität, der in diesen Texten breit entfaltet wird, hat das alte Modell der Nachrangigkeit der Frau als sexus sequior abgelöst und die traditionelle Hierarchie der Geschlechter zugunsten einer zumindest rhetorischen Ebenbürtigkeit und einer Gleichwürdigkeit in der Verschiedenheit aufgegeben. Das Geschlechterverhältnis als eine solche natürlich-geistige Polarität erhält nun gerade im romantischen und idealistischen Denken, das die kantischen Dualismen zu überwinden versucht und eine integrative Betrachtungsweise von physischer und moralischer Natur anstrengt, eine besondere Bedeutung, die zudem bei Humboldt eine besonders eigenwillige Ausgestaltung erfährt. Zweigeschlechtlichkeit ist Bedingung der Natur und dies nicht allein zum Zweck der Fortpflanzung, sondern in dem umfassenden Sinn, dass die Einheit der Natur durch die gegensätzlichen Wirkungsarten des Trennens und Verbindens, der vereinzelnden Differenzierung und der innigsten Verknüpfung zu einem Ganzen bestimmt ist (Humboldt 2002, 287). Der Begriff des Geschlechts „in seiner völligen Allgemeinheit“ bezeichnet nichts anderes „als eine so eigenthümliche Ungleichartigkeit verschiedener Kräfte, dass sie nur verbunden ein Ganzes ausmachen, und ein gegenseitiges 47
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Bedürfniss, diess Ganze durch Wechselwirkung in der That herzustellen“ (ebd., 269). Trennend-vereinzelnde Kräfte bilden das männliche Prinzip, vereinheitlichend-synthetisierende das weibliche. Jede Kraft für sich würde durch ihre Einseitigkeit das Prozessieren der Natur zunichte machen; erst die durch Wechselwirkung erreichte Beschränkung der Kräfte erzeugt die Totalität der Natur. Die Natur als Ganze ist mithin durchherrscht von der Urpolarität des Männlichen und des Weiblichen. Wie Humboldt die männliche und weibliche Kraft im Weiteren konkretisiert, wird am Akt der Zeugung deutlich. Dort sind „zwei ungleichartige Kräfte erforderlich“ (ebd., 277)1, nämlich die zeugend einwirkende und die empfangend rückwirkende Kraft: „Was von der erstern belebt wird, nennen wir männlich, was die letztere beseelt, weiblich“ (ebd., 278), es sind mithin „zwei selbstthätige lebendige Kräfte“ (ebd., 277), die sich wechselseitig aufeinander beziehen. Der klassischen Zeugungslehre, die männliche Aktivität auf weibliche Passivität, Form auf Materie treffen lässt, gibt Humboldt damit eine originelle neue Wendung. Er begreift auch die Passivität als eine wirkende Kraft, sofern eine reine Passivität im lebendigen Wesen gar nicht denkbar ist. Empfänglichkeit stellt ihrerseits gleichfalls eine Potenz dar, welche die wirkende Kraft rückwirkend erwidert. Nun sind in jedem lebendigen Wesen diese wechselwirkenden Kräfte angelegt, freilich in unterschiedlich gewichteter Weise. So ist beim Männlichen die wirkende Kraft vorherrschend, beim Weiblichen die rückwirkende. „Die erstere beginnt, vermöge ihrer Selbstthätigkeit, mit der Einwirkung; nimmt aber, vermöge ihrer Empfänglichkeit, die Rückwirkung gegenseitig auf. Die letztere geht gerade den entgegengesetzten Weg. Mit ihrer Empfänglichkeit nimmt sie die Einwirkung auf, und erwiedert sie mit Selbstthätigkeit“ (ebd., 278). Die angestammte duale Hierarchie von weiblicher materieller Passivität und männlicher formierender Aktivität ist damit im Modell von Wirkung und Rückwirkung auf ein Nacheinander in der Zeit eingeebnet, oder, räumlich ausgedrückt: „Nur also die verschiedene Richtung unterscheidet hier die männliche Kraft von der weiblichen“ (ebd.). Da nun „die physische Natur nur Ein grosses Ganze mit der moralischen ausmacht“ (ebd., 271), entfalten sich aus den natürlichen Grundlagen die Qualitäten der Geschlechtscharaktere dergestalt, dass der vorherrschenden Tendenz nach „alles Männliche angestrengte Energie, alles Weibliche beharrliches Ausdauern besitzt“ (ebd., 285). Jedes Geschlecht ist in sich vollendet, gleichwohl nach einer Seite hin 1
Zur Begründung der Ungleichartigkeit der Kräfte siehe Heinz (2004, 71ff.).
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ausgeprägt. In ihrer jeweiligen – freilich nur tendenziellen – Vereinseitigung, die ein Charakteristikum alles Endlichen ist, wurzelt denn auch das Vereinigungsstreben der Geschlechter, die geschlechtliche Sehnsucht, die auf die Verwirklichung einer Ganzheit zielt. Auch bei Humboldt bildet die Verbindung der polarisierten Geschlechtscharaktere eine harmonische Totalität. Zugrunde liegt hier der romantisch-spekulative Gedanke der Vereinigung der Gegensätze als durch Begrenzung bewirkte höhere Einheit: Der Geschlechtscharakter markiert gewissermaßen eine Schranke, die das Individuum von seiner Vervollkommnung trennt. Da Mann und Frau, jede und jeder für sich, bestimmte Anlagen realisieren, die perfektibel, aber gleichwohl begrenzt sind, kann das Ideal vollkommenen Menschseins nur in der Annäherung an den allgemeinen Gattungscharakter liegen, in dem die Vereinseitigung des Männlichen und des Weiblichen in einer höheren Einheit aufgehoben sind (vgl. Dippel 1990, 102). Das Humboldt’sche Geschlechterverhältnis stellt sich also folgendermaßen dar: Aus der Nachordnung der geschlechtlich Anderen wird ihre Nebenordnung; aus der Hierarchie wird ein Verhältnis von Gleichrangigkeit. Das graduell Verminderte wird zu einem wesensmäßig Anderen. Passivität, Empfänglichkeit und Beharrung auf der einen Seite und Aktivität, Selbsttätigkeit und Veränderung auf der anderen bilden die gleichwürdigen Prinzipien der lebendigen Natur, die auf der Ebene des Humanen ihre Verkörperung in den Genus-Gruppen finden. Dort weckt die je einseitige Gewichtung der Kräfte die Sehnsucht nach dem komplementären Gegengeschlecht als dem nicht realisierten Eigenen. Mit diesem Modell ist der traditionellen Strukturanalogie, welche über viele Jahrhunderte die Geschlechterherrschaft legitimiert hatte, indem sie eine Entsprechung zwischen der intrapersonalen Herrschaft der Vernunft über die Sinnlichkeit und des interpersonalen Regiments des Mannes über die Frau konstruiert hatte, der Boden entzogen. Humboldt lässt die Idee menschheitlicher Gleichheit sich nicht am Verhältnis von Mann und Frau brechen und entwirft eine Form von Gleichheit, die nicht Selbigkeit ist.
Weiblichkeit, Geselligkeit und Gesellschaft Aus dieser Urpolarität natürlicher Kräfte, die einerseits durch Trennung erzeugen und andererseits durch Verbindung erhalten, wächst auch das Verhältnis von Mann und Frau heraus, das sich bei Humboldt in den Ideen auf eine traditionelle 49
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Weise in den sozialen Wirkungsbereichen von Hauswesen und Berufswelt kulturell Gestalt verleiht: „Anordnung der äussren Geschäfte durch den Mann, Verwaltung des Hauswesens durch die Frau“ (Humboldt 2002, 81/144), so sieht es Humboldt vor. Im Plan einer vergleichenden Anthropologie (im Weiteren: Plan) von 1797 tendiert er weit offensichtlicher zu einer stereotypen Geschlechterpolarität als in den Horen-Aufsätzen, welche durch die eher formale Betrachtungsweise grundsätzlich Raum lassen könnten für eine größere Gender-Fluidität. Der Plan jedenfalls zeigt Humboldt als einen tendenziell konservativen und stark in die Bremsspuren der herkömmlichen Geschlechterduale geratenen Theoretiker, was auch die Begeisterung Schillers für diese Geschlechterreflexionen erklären mag. Dessen „Würde der Frauen“, das bekanntlich den Spott der Jenaer Romantiker auf sich gezogen hatte, war neben dem „Lied von der Glocke“ in Schillers eigenem Musenalmanach erschienen, den Caroline Schlegel denn auch spitzzüngig charakterisierte als: „gereimte […] Metaphysiken und Moralen […] und versifizierte […] Humboldtsche Weiblichkeiten“ (zit. n. Honegger 1996, 185). Humboldts auf den ersten Blick nicht weiter originelle sozio-kulturelle Anordnung der Geschlechter stellt aber nur die eine Seite dar. Auf der anderen findet sich nämlich eine spezifisch frühromantische Idealisierung des Weiblichen (vgl. Heinz 2002), die den Frauen jenseits der Haus- und Familiensphäre und diesseits der für sie verschlossenen beruflichen und politischen Wirkungsfelder im Kontext der freien Geselligkeit eine neuartige Rolle eröffnet – und zwar ‚weder als Hausfrau noch als Citoyenne‘ (vgl. Vogel 1987). Die Besonderheit der Humboldt’schen Geschlechtertheorie liegt nicht zuletzt in der kulturkritisch grundierten Idealisierung des weiblichen Geschlechtscharakters, dessen vorrangiger Existenzmodus in der Rückwirkung, in seiner Responsivität besteht, im Vermögen „zu empfangen, das Empfangne in sich zu bilden, und gebildet zurükzugeben“ (Humboldt 2002, 79/142). Dieser als weiblich apostrophierte Prozess des Aufnehmens, des Um- und Weiterbildens und des Zurück- und Weitergebens ist gleichwohl paradigmatisch für den Prozess menschlicher Bildung überhaupt. Denn Bildung erfordert eine weitreichende und tiefgehende Empfänglichkeit für die größtmögliche Vielfalt von Eindrücken und Anregungen, von Auf- und Herausforderungen und bedarf der Kraft der Anverwandlung und des freigebenden Entbindens. Bildung fordert aber gleichfalls – und auch dies ist eine natürliche Disposition des Weiblichen – alle Kräfte und Vermögen in eine harmonische Einheit zu bringen. „[S]o reizbar, so in sich eins“, wo „nichts ohne Wirkung bleibt, 50
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und jede Wirkung […] das Ganze ergreift“ (ebd., 80/143)2, vermögen die Frauen dem Zweck des Menschen, nämlich „die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ (ebd., 64/127) besser zu entsprechen und sind darum wesensmäßig „eigentlich dem Ideale der Menschheit näher, als der Mann“ (ebd., 80/143), auch wenn sie es seltener erreichen. Vor diesem Hintergrund wird den Frauen die private Sphäre primär nicht zur Erfüllung ihrer sogenannten weiblichen Pflichten, wie Haushaltsführung, Kinderpflege und Fürsorgearbeit, angewiesen, sondern sie gibt vielmehr den Schonraum für die Ressource Weiblichkeit ab. Wegen ihrer ausgeprägten Sensibilität – sind sie doch die „interessantesten Menschen, welche am zartesten und leichtesten auffassen, und am tiefsten bewahren“ (ebd., 79/142) – bedürfen die Frauen des Hauswesens als eines Refugiums gegenüber den strapaziösen und ihrem Wesen entgegenstehenden Dynamiken in der Außenwelt. Die weiblichen Bildungspotenziale und Bindungskräfte verlangen mithin besondere Schonung und Einhegung. Begrifflich-semantisch sind die Geschlechtscharaktere im PflanzlichOrganischen und in der Anatomie verankert und von dorther rührt auch die Logik der Anweisung der sozialen Sphären, nämlich den Frauen in allgemeiner Weise das „Innere“ und den Männern das „Äußere“. Jede Form von Wachstum erfordert grundsätzlich die männliche Anstrengung, „die äusseren Schranken zu entfernen“ und zugleich die weibliche Sorgfalt „wohlthätige innere“ Schranken zu ziehen (ebd., 80/143). Wie sehr die Vorstellung des Häuslichen und des Privat-Intimen als eine funktionsentlastete gesellschaftliche Binnenenklave, als ein privilegierter Mußeraum, sich schließlich im bürgerlichen Bewusstsein etabliert hat, zeigt der doch recht überraschende Vergleich der bürgerlichen Ehefrau mit dem griechischen Bürger. Es ist das Weib, schreibt Gervinus 1853, „das in der neuen Zeit die poetische Seite der Gesellschaft bildet […], weil das Weib heute, wie einst der griechische Bürger, den gemeinen Berührungen des Lebens entzogen, weil es den Einwirkungen des Rangsinnes, den Verderbnissen durch niedrige Beschäftigung, der Unruhe und der Gewissenlosigkeit der Erwerbssucht nicht ausgesetzt, und weil von Natur schon das Weib mehr als der Mann gemacht ist, mit der höchsten geselligen Ausbildung den Sinn für Natürlichkeit und die ursprüngliche Einfalt des Menschen zu vereinen“ (Gervinus 1853, 302). Bei Humboldt wird allerdings keine biedermeierliche Idylle von feindlicher Welt und freundlichem Haus beschworen, 2
Zur Harmonie auch Humboldt (2002, 334f. und 375).
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wo die Gattin den allabendlich von seinem Tagwerk heimkehrenden Mann tröstend in Empfang nimmt, der denn auch mit Gervinus feststellen könnte: „Ohne Weib wäre für jede feinfühlende Seele das heutige Leben nicht zu ertragen“ (ebd.; vgl. auch Hausen 1978, 170ff.). Weiblichkeit ist vielmehr eine gesellschaftliche Ressource, bewahrt doch der weibliche Charakter „den ganzen Schaz der Sittlichkeit“ (Humboldt 2002, 80/143) und es hängt „von der Ausbildung des weiblichen Charakters in der Gesellschaft so unendlich viel ab“ (ebd.). Bei dieser Gesellschaftsrelevanz des weiblichen Charakters ist wiederum nicht an die Familie als Sozialisationsagentur gedacht und an die Erzeugung und Erziehung künftiger Bürger*innen oder Untertanen – Reproduktion steht Humboldt bei seinem politischen Entwurf ebenso wenig wie Produktion als ein maßgeblicher Aspekt vor Augen. Auffällig ist, dass ebenso wie das Häuslich-Private primär unter dem Aspekt des zweckfreien Sprechens und Handelns, also weitestgehend von jedem Arbeitscharakter befreit geschildert wird und wie die Hausherrin sich denn auch zeigt als „[v]on sehr vielen äusseren Beschäftigungen gänzlich frei; fast nur mit solchen umgeben, welche das innere Wesen beinah ungestört sich selbst überlassen“ (ebd., 79/142)3, auch die Sphäre männlicher Wirksamkeit mit ihren „äußeren Beschäftigungen“ merkwürdig unterbestimmt bleibt. Humboldts Idee einer liberalen Gesellschaft hat wenig zu tun mit dem freien Spiel der Marktkräfte und die neueren Schriften der Nationalökonomie interessieren ihn – anders als Hegel später – nicht besonders. Ökonomisches findet man in den Ideen nur spärlich. Gesellschaft stellt denn auch nicht das marktförmig organisierte ‚System der Bedürfnisse‘ der konkurrierenden Wirtschaftssubjekte dar, sondern vielmehr eine Gemeinschaft frei kommunizierender und sich bildender Individuen. Diese Gesellschaft eröffnet einen Raum für Geselligkeit, die ihrerseits das ungezwungene Spiel des Miteinanders und Gegeneinanders der Bildungskräfte der Individuen freigibt. Geselligkeit als das frühromantische kollektive Experiment mit einer neuen Form von Sozialität korrespondiert ebenso wenig dem Bezirk der Kleinfamilie noch ähnelt es einer politischen Vereinigung, die durch Regeln, Hierarchien und Macht konstituiert ist. Geselligkeit basiert auf den intimen persönlichen Verbindungen von Freundschaft 3
Im Plan einer vergleichenden Anthropologie wird die häuslich-private Existenzweise der Frauen so umrissen: „Endlich gesellt sich die äussere Lage hinzu, in welcher die ernsthaften Geschäfte gerade die am wenigsten anstrengenden sind, die alle übrige als Spiel und Erholung anzusehen verstattet, und überhaupt der Musse des Geistes und dem Umherschweifen der Phantasie soviel Zeit zu widmen erlaubt“ (Humboldt 2002, 368).
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und Liebe und auf intellektuellen Gefährtenschaften. Sie weitet sich darüber hinaus zu einem unabschließbaren Geflecht von idealer freier, stände-, konfessionen- und geschlechtsübergreifender Interaktion und Kommunikation. Eine Theoretisierung dieses Experiments hat Schleiermacher in seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens aus dem Jahr 1798 unternommen. Und Humboldt hat mit seinem Plädoyer für das Grundrecht auf individuelle Vervollkommnung in einem auf die bürgerlichen Sicherheitsgarantien reduzierten Staat bereits 1792 Leitlinien für Schleiermachers Versuch ausgezogen. „Geselligkeit ist das wahre Element für alle Bildung, die den ganzen Menschen zum Ziele hat“ (Schlegel 1975, 55). Diesen Satz Schlegels setzt Schleiermacher an den Anfang seines Versuchs und Humboldt schreibt seinerseits in der Theorie der Bildung des Menschen: „Die letzte Aufgabe unseres Daseins: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ (Humboldt 2017, 7). Diese „allgemeinste, regeste und freieste Wechselwirkung“ realisiert sich in der freien Geselligkeit jenseits familiärer und beruflicher Zwänge. Hier wird alles von selbstzwecklicher Mitteilung und Wechselwirkung regiert: gesellige Mitteilung des Eigenen im Medium der gegenseitigen Ein- und Rückwirkung. „Alles soll Wechselwirkung seyn“, lautet die Forderung Schleiermachers, hier „ist sowohl die Form als der Zweck der geselligen Thätigkeit enthalten, und sie macht das ganze Wesen der Gesellschaft aus“ (Schleiermacher 1984, 170). Und vor dem Hintergrund dieser Idee einer Gemeinde von Individuen, die sich zu einem durch keine äußeren Instanzen und interessierten Hinsichten regulierten und beschränkten Austausch verbinden, avanciert die Frau zum Humanitätsideal. Es sind die beiden nach Humboldt genuin weiblichen Vermögen, die für die Formen freier Geselligkeit so unverzichtbar sind: Die rückwirkende Empfänglichkeit und die Befähigung zur Einheitsbildung, mithin zwei Potenziale, die den individuellen sowie den kollektiven Bildungsprozess als ganzen bestimmen, nämlich das innerliche Modellieren von vielgestaltigen Anstößen und die Kunst, die Wirkungen der Differenzierungsprozesse zu einer harmonischen Totalität zu fügen. Gesellige Kommunikation ist bildend, wahrend und weiterbildend. In diesem Kontext stellen das heterosexuelle Ehepaar und das homosoziale Freundschaftspaar 53
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die höchsten Realisationen einer persönlich rückhaltlosen Wechselwirkung dar. Individuelle Verschiedenheit und geschlechtliche Polarität liefern vitale Energien im Prozess der Selbstvervollkommnung, Individualität gedeiht bei Kontrast und Entgegensetzung und Polarität bewirkt Anziehung. Gleichheit und Homogenitäten aller Art hingegen führen zu Abstumpfung, Nivellierung und Konformität. Von dorther fällt noch einmal Licht auf das Ehekonzept Humboldts. Es präsentiert sich als ein Modell jenseits der angestammten Platzanweisungen. Gleichermaßen fern der feudalen Rücksichten der Linien und der Allianzen sowie der besitzbürgerlichen Zweckdienlichkeit bildet es die Keimzelle für eine Gesellschaft der grenzenlosen Kommunikation von Ebenbürtigen. Frühromantisch wird in den Ideen auch nicht die Frage der gleichen Rechte oder des Status‘ der Bürgerin verhandelt; interessanter als die Behauptung von Gleichheit bietet sich die Erkundung der Differenz an. Auch würde die politische Emanzipation den Frauen nur erlauben, so wie Männer zu werden (Vogel 1987, 121)4, wohingegen im Kontext frühromantischer Geselligkeit die spezifisch weiblichen Qualitäten zu ihrer Entfaltung kommen und sich damit auch Männer vom Korsett der Geschlechterkonventionen befreien können – von ihrer toxic masculinity sozusagen. Und grundsätzlicher noch: Nach der Enttäuschung über den Verlauf der Französischen Revolution gilt es, einen Prozess gesellschaftlichen Wandels anzuvisieren und Reformen, welche die Ideen von 1789 bewahren, aus dem Umkreis der Geselligkeit als einer politischer Gegenwelt auf den Weg zu bringen (hierzu Kuster 2014). Hier werden die Bürger und Bürgerinnen einer neuen Welt geformt, die nicht von oben herab deklariert wird, sondern sich lebensweltlich aus den befreiten persönlichen Beziehungen vielgestaltiger, wechselseitig offener, resonanzsensibler und enthierarchisierter Individualitäten allmählich herausbildet. Freiheit ist hier weniger im Sinne republikanischer Partizipation, sondern zuvörderst verstanden als die notwendige Bedingung persönlicher Entscheidungen und des persönlichen Scheiterns. Aber auch wenn es nicht unmittelbar auf den Staat und seine Institutionen zielt, muss das Konzept der Geselligkeit deshalb seinerseits nicht unpolitisch sein. In Schlegels Lucinde heißt es mit großer Geschlechteremphase: „Es sollte eigentlich nur zwei Stände unter den Menschen geben, den bildenden und
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Vogel weist gleichwohl auf die Problematik hin, dass die Geschlechteremanzipation der Frühromantiker sich zwar auf Konventionen, Rollenstereotype und Sexualität richtet, den Status ökonomischer Abhängigkeit und politischer Unmündigkeit der Frauen dabei jedoch unberücksichtigt lässt (Vogel 1987, 119).
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den gebildeten, den männlichen und den weiblichen, und statt aller künstlichen Gesellschaft eine große Ehe dieser beiden Stände, und allgemeine Bruderschaft aller einzelnen“ (Schlegel 1962, 63). Etwas umständlicher liest es sich bei Humboldt: „Wenn es eine Idee giebt, die durch die ganze Geschichte hindurch in immer mehr erweiterter Geltung sichtbar ist, wenn irgend eine die vielfach bestrittene, aber noch vielfacher missverstandene Vervollkommnung des ganzen Geschlechtes beweist, so ist es die der Menschlichkeit, das Bestreben, die Gränzen, welche Vorurtheile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen stellen, aufzuheben, und die gesamte Menschheit ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe, als einen großen, nahe verbrüderten Stamm, ein zur Erreichung Eines Zweckes, der freien Entwicklung innerlicher Kraft, bestehendes Ganzes zu behandeln. Es ist dies das letzte, äußerste Ziel der Geselligkeit, und zugleich die durch seine Natur selbst in ihn gelegte Richtung des Menschen auf unbestimmte Erweiterung seines Daseins“ (Humboldt 1839, 426). Bedauerlicherweise führt Humboldt neben Religion, Nation und Farbe das Geschlecht hier nicht an. Und doch ist es das genuin weibliche Vermögen – die Liebe bei Schlegel und Schleiermacher, die Rückwirkung bei Humboldt –, das in einer Sphäre jenseits der Schranken des Hauses, befreit aus seiner bisherigen Unterdrückung, gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten kann. Dies zieht eine umfassende Emanzipation nach sich, die mit politischen Mitteln nicht auf den Weg gebracht werden kann, denn sie kann politisch weder dekretiert und exekutiert werden, sondern vermag sich nur aus dem zweckbefreiten Sprechen und Handeln des geselligen Lebens heraus zu entwickeln. Das Leitbild liefert dem frühen Humboldt nicht eine Rousseau’sche Republik tugendhafter Bürger und Bürgerinnen. Diesem historischen Projekt kann Anfang der 1790er Jahre beim Scheitern zugesehen werden. Das Ideal bildet vielmehr ein gestutzter Minimalstaat, der als Garant einer frei prozessierenden Gesellschaft fungiert. In dieser dynamischen Einheit des Differenten entfaltet sich die wechsel- und allseitige Selbstvervollkommnung unter Vorherrschaft des weiblichen Prinzips der Empfänglichkeit.
Literatur Dippel, Lydia: Wilhelm von Humboldt. Ästhetik und Anthropologie. Würzburg 1990. Gervinus, Georg Gottfried: Geschichte der deutschen Dichtung in 5 Bänden. Bd. I, 4. Leipzig 18534.
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3 Passt Humboldt nicht immer? Zur persuasiven Kraft eines fragmentarischen Bildungsdenkens Roland Reichenbach (Zürich) Kürzlich schrieb Jürgen Kaube, freilich nicht ohne Ironie: „Behauptet ein Philosoph, alles fließe, wird das nicht als Übertreibung behandelt, sondern es finden nachdenkliche Deutungen statt“ (Kaube 2020, 14). Analog könnte man vielleicht formulieren: Behauptet jemand, Bildung sei die Verknüpfung des Ichs mit der Welt (Humboldt 1956, 29), so wird das auch nicht als Übertreibung behandelt, sondern als tiefe Wahrheit und axiomatischer Ausgangspunkt des Nachdenkens über Bildung – wie dann aber „Ich“, „Welt“ und „Verknüpfung“ zu verstehen sind, ist zweitranging, denn diese bombastische Idee gefällt vor allem, wenn man so tut, als ob klar wäre, was „Ich“, „Welt“ und „Verknüpfung“ meinen. Wilhelm von Humboldt selbst meint zu seinem Gedanken, dieser scheine „vielleicht auf den ersten Anblick nicht nur ein unverständlicher Ausdruck“, sondern auch „überspannt“ zu sein, doch bei „genauerer Untersuchung“ zeige sich am Ende, dass man „unmöglich bei etwas Geringerem stehen bleiben kann“ (ebd.). Nun kann man faktisch aber sehr wohl auf „etwas Geringerem“ stehen bleiben. Und daran scheinen sich manche – zumindest im deutschsprachigen Raum – immer noch und immer wieder neu zu stören, weil sie glauben, die Welt der Bildung, insbesondere aber der Universität, sei nun wirklich gar nicht (mehr) humboldtianisch geprägt. Sie scheinen zu glauben, dass diese Welt mit Humboldt im Kopf oder im Herzen zu verändern sei. Die folgenden Ausführungen handeln davon, dass dies weder möglich noch nötig ist. Wenn Bildungsideen und (staatliche) Bildungsinstitutionen wenig miteinander zu tun haben, kann man darüber lamentieren, man kann aber auch die Schönheit von Ideen schätzen und die prinzipielle Begrenztheit demokratisch notwendiger Institutionen akzeptieren. Für diese Haltung oder Einschätzung möchte ich hier einige Bemerkungen anbringen. Während es im ersten Teil um Ideen der Bildung und 59
Roland Reichenbach (Zürich)
die Rolle des Staates geht, wird im zweiten Teil auf die pädagogisch weitgehend vernachlässigte Sprachphilosophie Humboldts für sein Bildungsdenken eingegangen.
Wilhelm von Humboldt und die sogenannte „wahre“ Bildung Es sei „offensichtlich“, schreibt Erich Ribolits, „dass die schöngeistige Idee der Bildung immer nur ideologischer Überbau für die kapitalkonforme Zurichtung der Menschen war“ und auch im Bildungsbereich werde „sichtbar, was den Kapitalismus von allem Anfang an gekennzeichnet“ habe, namentlich „die Verwertungslogik des Marktes“ (Ribolits 2011, 51). Bildung sei daher eher als Pathosformel denn als Kampfbegriff zu begreifen bzw. sie sei von ihren „gesellschaftskritischen Wurzeln […] im Zuge der wissenschaftlich-technischen zweiten industriellen Revolution“ abgeschnitten worden (ebd., 58), wobei die „Auffächerung der universitären Disziplinen“ und die damit einhergehende „Abnabelung von der Philosophie“ in diesem Prozess mitentscheidend gewesen seien (ebd.). „Zugleich“ – so Ribolits weiter – „wurden die Fachwissenschaften zunehmend ökonomischen Imperativen unterworfen. Das System gesellschaftlich organisierten Lernens, das weiterhin als Bildungssystem bezeichnet wurde, nahm auch an den Universitäten rasch den Charakter von Ausbildung an“ (ebd., 59). Dem Verständnis Ribolits’ mag man zustimmen, wenn auch es in der Semantik und Wortwahl angreifbar ist, was jedoch niemand daran hindern muss, weiterhin pathetisch zu behaupten, die „wahre Bildung“ sei erstens eben gerade keine „Ware“, Bildung sei zweitens „keine Ausbildung“ und die Universität sei drittens keine ökonomische Anstalt. Diese manichäische Sicht auf Bildung scheint insbesondere für besorgte und sich kritisch dünkende Zeitgenossen immer noch anziehend zu sein. Dass die „wahre“ Bildung zugleich auch als „Ware“ gehandelt und betrachtet werden könnte (wenn vielleicht auch nicht unbedingt sollte), ist diesem Denken natürlich fremd. Ebenso, dass der vermeintliche Dualismus von Bildung und Ausbildung zwar institutionell nicht zu leugnen ist, aber bildungstheoretisch keineswegs überzeugt. Und um – schließlich – behaupten zu können, die Universität sei keine „ökonomische“ Institution, muss man sie wohl als eine Art Freizeitaktivität begreifen; wer nie hohe Studiengebühren bezahlen musste, meint vielleicht, Universitäten seien gratis zu haben. 60
3 Passt Humboldt nicht immer?
Mag das sogenannte humanistische Bildungsideal auch einmal „revolutionäre“ Wurzeln gehabt bzw. deutsche Bildungsdenker mit der französischen Revolution halbherzig geliebäugelt haben, so entspricht dieser Rekurs in der heutigen Bildungsdiskussion einer nostalgischen Verklärung, während umgekehrt aber die unbedachte, lässige oder auch zynische Zurückweisung eben des humanistischen Bildungsideals ein Ärgernis darstellt. Doch mit Wilhelm von Humboldt gegen zeitgenössische Reformen im Bildungssystem anreden zu wollen, scheint mir kaum überzeugend zu sein. Humboldts vor allem formale Bildungstheorie passt ja schon strukturell sehr zum heutigen Kompetenzdenken, auch zu PISA und Bologna. Dass institutionalisierte Bildung reiner Selbstzweck sein sollte oder könnte, auf eine solche Idee kommt nicht einmal die Heilsarmee (gegen die an dieser Stelle nichts auszusetzen ist). Die institutionalisierte Zwangsunterrichtung der Kinder und Jugendlichen in modernen Gesellschaften hat natürlich nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile. Zu den Vorteilen gehört erstens die Sicherung der Langfristigkeit, Systematik und Kumulativität des Lernens, zweitens ein gewisses Reflexionsniveau (d. h. Schule „eröffnet einen primär reflexiven Zugang zu unterschiedlichen Lebensbereichen. Reflexivität und der Primat des Kognitiven sind wahrscheinlich ein der Schule inhärenter Schutz gegen Indoktrination“ [Baumert 2002, 6]), und drittens ist auf den empirisch klaren Zusammenhang von formaler Bildung und der Ermöglichung demokratischer Lebens- und Staatsformen zu verweisen. Diesen Vorteilen stehen echte Nachteile bzw. Probleme gegenüber, die man auch mit Humboldt kaum aus der Welt schaffen kann: Erstens ist schulisches Lernen (meistens) aus dem Alltagszusammenhang herausgelöst, zweitens ist die Herstellung von Motivation bzw. persönlicher Bedeutsamkeit (des Lerngegenstands für den Lerner) unsicher bis unmöglich und drittens ist das Bildungssystem in der Verteilung der Ressourcen und seiner Selektions- bzw. Allokationsfunktion ungerecht (und wird auch ungerecht bleiben). Der reformpädagogischen Kritik, die sich – auf der tertiären Stufe – im deutschsprachigen Raum gerne auf Humboldt bezieht, ist eine anti-etatistische und antiinstitutionelle Neigung inne und sie geht gerne von der Differenz zwischen Schule und Leben aus, wobei dem Leben in diesem Dualismus die gute Seite, der Schule aber die problematische Seite zugeschrieben wird. Niemand weiss warum, aber das Leben hat einfach einen guten Ruf. „Lebensnähe“ wird daher auch als didaktisches und pädagogisches Prinzip propagiert. Jedenfalls hat die Schule in diesem Denken mit dem Leben selbst letztlich wenig oder nichts zu tun bzw. das „wahre“ Leben 61
Roland Reichenbach (Zürich)
findet neben der Schule statt oder beginnt erst nach der Schule. So ist es offenbar auch mit der „wahren“ Bildung. Das „wahre“ Leben und die „wahre“ Bildung scheinen in gewisser Weise zusammenzufallen. Nur von welchem Leben ist die Rede, das offenbar in die Schule rein muss, damit diese endlich besser wird, „lebensnah“? Gehört der Alkoholismus des Vaters auch zum wahren Leben, so wie die Depression der Mutter oder die Nullbock-Stimmung in der Gleichaltrigengruppe? Wahrscheinlich nicht, denn Drogen, Depression und „Null Bock“ gehören nicht in eine gute Schule. Womit viele reformpädagogische Kritiken sicher Recht haben: die Schule ist künstlich, scheint vom Leben entfernt zu sein, das Curriculum der öffentlichen Staatsschulen orientiert sich an den Wissenschaften und nicht an der Kirche, den vielfältigen Hobbies aller Beteiligten, nicht an Glanz und Gloria, nicht an Hollywood. Tatsächlich ist die Artifizialität und Organisiertheit der Schule beachtlich, bedeutsam und auch problematisch. Doch: Für nicht wenige Kinder und Jugendliche ist die Schule, auch wenn sie sie vielleicht nicht mögen, der einzige wirklich verlässliche Ort in ihrem Leben. Mit dem Schliessen der Schulen während der ersten Welle der COVID-19Pandemie zeigte sich deutlich, wie manche Kinder und Schülerinnen und Schüler, die es im Leben nicht optimal haben, sich plötzlich nach der Verlässlichkeit und Sozialität der Schule gesehnt haben. Euphemistisch war von „Homeschooling“ die Rede.1 Homeschooling ist eine tolle Sache, zumindest, wenn man Alexander oder Wilhelm von Humboldt heißt, im Schloss Tegel wohnt und von Hofmeistern wie Joachim Heinrich Campe oder Gottlob Johann Christian Knuth unterrichtet und betreut wird. Die idyllische Isolation hilft dem Geist, sich „mannigfaltig“ und zugleich „proportionierlich“ zu entfalten. Auch wer keine einzige Stunde lang die offizielle Schulbank gedrückt hat, kann nach langjähriger Bildungsquarantäne zu einem der wichtigsten Schul- und Bildungsreformer der deutschen Geschichte werden. Und was wäre ohne Homeschooling aus Friedrich Hölderlin oder G. W. F. Hegel geworden? Der Hausunterricht war für manche, idealistische Geister die einzige halbwegs attraktive Möglichkeit, um der akademischen Erwerbslosigkeit zu entkommen. Eine Stellung als Hofmeister bedeutete nebst Verdienst auch Kost und Logie sowie mehr oder weniger kultivierte Konversation und die Zufuhr von sogenanntem Vitamin B. Ohne Hausunterricht hätte sich Friedrich Hölderlin 1
Die folgenden Ausführungen (in diesem Unterkapitel) sind – grosso modo – schon in Reichenbach (2020) erschienen.
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3 Passt Humboldt nicht immer?
nicht in Susette Gontard verliebt und ohne diese unglückliche Liebschaft wäre der Roman Hyperion wohl nie geschrieben worden. Und wenn, so wäre Hyperion ohne „reale“ Diotima im Hintergrund höchst wahrscheinlich eine fade Lektüre geworden. Homeschooling dient dem Hauslehrer und seiner Leidenschaft als Inspirationsquelle. Hegel war während drei Jahren in Tschugg am Bielersee als Hauslehrer bei einer Berner Patrizierfamilie namens Steiger angestellt. Die spärliche Unterrichtung der beiden Kinder ließ ihm genügend Zeit für tiefschürfende Betrachtungen, wie auch etwa für eine Wanderung in den Alpen (vgl. Schneider/ Waszek 1977). Dort vermochten die prächtigen Viertausender die Hegelsche Vernunft nicht im Geringsten zu beeindrucken, so sehr war die letztere schon über sich selbst hinausgewachsen. Möglicherweise wäre der Philosoph ohne Tschugger Homeschooling nicht so schnell zu dieser erhebenden Selbsterkenntnis gekommen. Mit der allgemeinen Schulpflicht kam es im 20. Jahrhundert aber zu einem gesetzlichen Verbot des erquicklichen Hausunterrichts. Allerdings kennen heute nur wenige europäische Staaten die Schulpflicht, wie sie in Deutschland gilt, sondern postulieren eine Unterrichtspflicht oder auch Bildungspflicht, die nicht mit einer Schulbesuchsverpflichtung einhergeht. Was jeweils als „Bildungspflicht“, „Bildungsfreiheit“, „Lernpflicht“, „Unterrichtspflicht“, „Unterrichtsfreiheit“, „Schulpflicht“ oder „Schulzwang“ rechtlich festgelegt und vor allem faktisch praktiziert wird, ist sehr divers, pädagogisch und politisch mitunter umstritten. Seit 1993 ist Homeschooling in sämtlichen US-Bundesstaaten erlaubt und vergleichsweise weit verbreitet. Dank der Entwicklung der digitalen Medien erfreut es sich eines zunehmenden gesellschaftlichen Zuspruchs, womit zugleich ein lukrativer Markt von Kursangeboten, Materialien und „Komplettpaketen“ expandiert (vgl. MelasGeiger 2020). Die didaktische und methodische Gestaltung des Hausunterrichts kann ganz traditionelle, hoch strukturierte Formen annehmen, aber auch dem sogenannten Unschooling gleichkommen, bei welchem das spontane Interesse des Kindes darüber bestimmt, ob überhaupt und wie ein Thema oder Lerninhalt „behandelt“ wird. Der noble pädagogische Geist hält ja an der offenbar natürlichen intrinsischen Motivation des Kindes und den wundersamen Kräften der kindlichen Selbstregulation fest und stand institutionalisiertem Unterricht und dem Schulzwang schon immer skeptisch bis ablehnend gegenüber. An der Thematik des Heimunterrichts manifestiert sich die alte Kontroverse um die Frage, inwiefern Bildung als Staatsaufgabe zu verstehen sei. Die Rolle des Staates wird in der deutschen Aufklärung bzw. der klassisch-idealistischen Epoche 63
Roland Reichenbach (Zürich)
besonders von Humboldt und Hegel sehr unterschiedlich beurteilt (der erstgenannte profitierte ja auch vom Hausunterricht, der zweitgenannte musste ihn hingegen notgedrungen selber durchführen …). Die Positionen sind als Folge der unterschiedlichen Akzentuierungen des jeweiligen Bildungsverständnisses zu betrachten. In den Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792 bzw. 1851; Humboldt 1986) wendet sich Wilhelm von Humboldt (1767–1835) gegen eine umfassende Staatsmacht. Seine Kritik ist nicht anti-platonisch motiviert, sondern gegen den „Policey- und Wohlfahrtsstaat“ im „aufgeklärten Absolutismus“ Preußens gerichtet. Humboldt argumentiert für einen liberalen Rechtsstaat, dessen primäre Aufgabe in der Garantie der individuellen Freiheitsrechte liege und der sich nicht in die „Bildung des Menschen“ einzumischen habe. Staatliche Eingriffe in das Erziehungs- und Unterrichtswesen seien nur im Notfall legitim. Diese Position ist der Idee des „wahren Zweks des Menschen“ geschuldet, der in der „höchsten und proportionirlichsten“ Bildung seiner „Kräfte zu einem Ganzen“ bestehe (Humboldt 1956, 27–32). Die „Kräfte“ des Ich sind spontan, der Mensch von Anfang an selbsttätig: Das Ich bemächtigt sich der Welt, um sich damit zu stärken und der Welt sein Gepräge aufzudrücken. In den Schulplänen für Königsberg und Litauen (ebd. [1809/1810], 69–82) formuliert Humboldt die beiden Hauptziele institutionalisierter Bildung: individuelle Kräfteübung und allgemeine Menschenbildung. Etwas paradox mutet dabei die Rolle des Staates an: Einerseits ist Bildung als der wahre Zweck des Menschen für die liberale Ordnung unabdingbar, andererseits soll es dem Staat aber versagt bleiben, „Bildung durch den Aufbau, die Regulierung und Finanzierung eines öffentlichen Schulsystems zu fördern“ (Giesinger 2016, 30). Ohne staatliche Regulierung stellt sich die Frage, so Giesinger, ob nicht soziale Gruppen von Bildung ausgeschlossen würden, und darüber hinaus sei auch nicht sichergestellt, dass sich das Bildungsideal Humboldts so auch wirklich durchsetzen könne (ebd.). Hegels Auffassung der Rolle des Staates steht derjenigen Humboldts diametral gegenüber. Bildung wird in der Phänomenologie des Geistes (Hegel 1986) als „Entfremdung“, „Entäußerung“ und „Aufheben des natürlichen Selbst“ verstanden. Sie ist das Bemühen, die ungeformte, „natürliche“ Subjektivität zu überwinden. Damit sind Formen der Eitelkeit, der Willkür und der Begierde gemeint, welche erst durch den (Bildungs-)Prozess des „Hinaufhebens“ in die Allgemeinheit des „objektiven Geistes“ transzendiert werde. Man könnte zeitgenössischer formulieren: Bildung ist die (subjektive) Aneignung objektivierter Kultur, welche die 64
3 Passt Humboldt nicht immer?
Bereitschaft des Selbst einfordert, sich den symbolischen Ordnungen (der Sprache, Grammatik, Logik, des Fachwissens etc.) zu unterwerfen, und die ihm dadurch in der sittlichen Gemeinschaft als Person eine reflektierte Stellung ermöglicht. Die Aufgabe der Schule besteht für Hegel darin, zwischen Familie und Gemeinwesen zu vermitteln. Der Unterricht ist am Sachwissen orientiert, welches das Kind aus seiner emotionalen und unmittelbaren Bindung an die Familie loszulösen hilft. Unterrichtspraktiken und Wissensaneignung, welche von oben und außen verordnet sind, führen zu einer „bildenden Entfremdung“, doch mit der zunehmenden Aneignung der kulturellen Bestände kommt es schließlich zu einer Versöhnung zwischen Selbst und Gemeinwesen, zwischen subjektivem und objektivem Geist auf einem höheren Niveau (vgl. Lischewski 2014). Der Staat hat diesen Prozess zu unterstützen, denn er verkörpert für Hegel das „an und für sich Vernünftige“ ja gerade selber. Dies brachte Hegel die Kritik der Staatsverherrlichung und naiven Bejahung des Faktischen ein. Doch man kann es sich mit Hegel zu einfach machen: Erstens ist die Dialektik des Bildungsprozesses – Entfremdung und Versöhnung – heute zwar semantisch anders eingebettet, aber als bildungstheoretischer Topos zu betrachten. Zweitens sieht Hegel die Entwicklung und Stärkung eines reflektierten Selbstbewusstseins als ein Recht aller Menschen an, das drittens deswegen durch den Staat gesichert werden soll, namentlich – und viertens – durch ein Curriculum, das sich an Kultur und Wissenschaft zu orientieren hat und nicht an partikulären Präferenzen irgendwelcher Gruppen oder Machthaber. Es will einem vorkommen, als ob die zeitgenössische aufdringliche Bildungslyrik des selbstorganisierten Lernens, des kreativen Konstruierens und des unternehmerischen Selbst am Ende ganz humboldtianisch imprägniert ist, während die Totalität des Anspruchs, die damit einhergeht, und vor allem auch die staatlich und institutionell abgesicherte Alternativlosigkeit dieses Denkens doch sehr hegelianisch anmutet! In beiden Perspektiven scheint die (platonische) Idee auf, dass Bildung dem Guten und Gerechten unbedingt zur Verwirklichung verhelfen soll. Die seit 1919 in Deutschland geltende Schulpflicht wurde nun aber während der COVID19-Pandemie in allen Bundesländern vorübergehend außer Kraft gesetzt und es ist und war in diesem Zusammenhang euphemistisch von „Homeschooling“ die Rede. Doch mit Hausunterricht im oben genannten Sinne hat diese unerfreuliche Episode des Fernunterrichts nichts zu tun, vor allem fehlen den meisten Kindern ja geeignete Campes und Knuths, während „bildungsaffine“ Eltern mit der nötigen Zeit und Hingabe durchaus angemessene Campe- und Knuthsurrogate abgeben 65
Roland Reichenbach (Zürich)
konnten und eine schon willkommene Alternative zum ineffizienten schulischen Lernen bieten, indem sie das immer schon gutgeheißene „selbstbestimmte Lernen“ fördern. Bildungsaffine Eltern haben ja höchstwahrscheinlich auch intrinsisch motivierte Kinder und können wenigstens über die Coronazeit eine Art Unschooling praktizieren, während „bildungsferne“ Kinder offenbar nur extrinsisch motiviert werden können, aber kaum von ihren Eltern. Mit den Aufgabenstellungen, welche die Lehrerinnen und Lehrer recht bequem auf digitalem oder zunächst postalischem Wege in bzw. an die Haushalte verschicken, sind diese Eltern häufig sprachlich, fachlich und mitunter auch kognitiv überfordert. Nicht die Eltern sollen in einem modernen Staat die Kinder unterrichten, sondern Lehrpersonen – eins zu null für Hegel! In der Krise tritt der Staat auf, als ob er ganz hegelianisch die Kontrolle habe und schon immer gehabt hätte, in Wahrheit überlässt er die Bildung gerade dann recht humboldtianisch dem natürlichen Spiel der sozialen Kräfte. Humboldt ist und bleibt einfach sympathischer, man kann mit ihm fast alles machen, denn passt er nicht immer, wenn von Bildung die Rede ist? Ist er nicht einfach eine sichere Nummer? Die schöne Idee, dass uns Sprachen Welten eröffnen, dass aber die Welt in ihrer Widerständigkeit auch freche Spiele mit uns treibt, so dass gehaltvolle Erfahrungen zunächst vor allem Widerfahrnischarakter aufweisen, eher einem Erleiden und Erdulden als einem Erlebnis gleichen. Solch erbauliche Rhetorik ist immer akzeptiert, selbst wenn nachher nur noch Zahlen gezeigt werden: für ein beschwingtes, sich humanistisch gebärendes Präludium muss Wilhelm von Humboldt herhalten, ob er will oder nicht. Auch wenn die Funktion solcher Vorwandlyrik leicht zu durchschauen ist, so ergeben sich doch kurze Gefühle der Tiefe, welche die dann präsentierten Säulendiagramme des Bildungsmonitorings wie feine Nebelschwaden umgarnen. Natürlich kann man Humboldt auch lesen, z. B. eben: „Die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt scheint vielleicht auf den ersten Augenblick nicht nur ein unverständlicher Ausdruck, sondern auch ein überspannter Gedanke. Bei genauerer Untersuchung aber wird wenigstens der letzte Verdacht verschwinden, und es wird sich zeigen, dass, wenn man einmal das wahre Streben des menschlichen Geistes (das, worin ebenso sein höchster Schwung als sein ohnmächtigster Versuch enthalten ist) aufsucht, man unmöglich bei etwas Geringerem stehen bleiben kann“ (Humboldt 1956, 29). Humboldt kannte den Streit zwischen den Buchstaben und den Zahlen noch nicht, er wusste daher auch noch nicht, dass man sehr wohl bei Geringerem stehen bleiben kann! Man kann
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sogar auf die Verknüpfung mit der Welt fast ganz verzichten und sich alternativ dazu und recht sprachlos eine „eigene Welt“ aufbauen … Dass in der Bildung „höchster Schwung“ und „ohnmächtigster Versuch“ so nah beieinanderliegen, ist eine Einsicht, die sich bei PISA, TIMMS oder IGLU vielleicht nicht zu zeigen vermag, aber jedem offenbaren kann, der über den Zusammenhang von Bildung als Allgemeinbildung, besonderer Bildung und vor allem allgemeiner Menschenbildung nachdenkt. Im so gefassten Bildungsgedanken drückt sich die Kulturnatur des Menschen aus. Natürlich kann Bildung so als Selbstzweck gedeutet werden. Was für das Gemeinwesen die Kultur, ist für das Einzelwesen die Bildung: d. h. die subjektive Aneignung objektivierter Kultur. Das Versprechen lautet hier (in der einen oder anderen Form): Du kannst zu Dir selbst finden, d. h. ein Wesen werden, das zu sich selbst und zur Welt Stellung nehmen und sich zunehmend artikulieren kann, doch dazu musst du den lebenslangen Umweg über die gemeinsame Welt gehen!
Wilhelm von Humboldts pädagogisch vernachlässigte Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldt hat viel weniger über Bildung geschrieben als man vermuten möchte, wenn man sich seiner Bedeutung für den Bildungsdiskurs zumindest im deutschsprachigen Raum bewusst ist. Andreas Flitner schreibt zur pädagogischen Rezeption seines Werks: „Wilhelm von Humboldt hat sich als pädagogischer Klassiker schwerer vereinnahmen lassen als andere Philosophen/Pädagogen der großen Epoche aufklärerischer und idealistischer Philosophie. Das liegt auch daran, dass die Pädagogenzunft, die die Klassikerlektüre verwaltet, ihm in das Zentrum seines Denkens und Arbeitens, nämlich die Sprachphilosophie und Sprachforschung, nur ungern gefolgt ist“ (Flitner 2002, 287). Das sei weniger ein Manko dieser sogenannten „Pädagogenzunft“, sondern habe vielmehr mit der Vielgestaltigkeit von Humboldts Werk und Denken zu tun: „Für die Erschließung der ‚Pädagogik‘ Humboldts ist die Vielfalt seiner Arbeitsthemen ebenso bezeichnend wie hinderlich. Niemand kann heute die fachwissenschaftlichen Diskussionen beherrschen und ausschöpfen, in denen Humboldts Schriften eine Rolle spielen. Niemand kann sich andererseits zufrieden geben mit den Grenzen der eigenen fachlichen 67
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Zuständigkeit, wenn er sich auf das Humboldt-Studium einlässt“ (ebd., 291). „Mit Kants Destruktion der Metaphysik“ sei „ein revolutionär-neues Nachdenken über den Menschen freigesetzt, das nun in den Einzelwissenschaften nur fragmentiert und positivistisch beantwortet werden konnte“, so Flitner (ebd., 292). Humboldt habe die „vierte Frage Kants“ – die Frage nach dem Wesen des Menschen – „als eine Leitfrage aufgenommen und damit zur wählenden und ordnenden Instanz für das reich expandierende Wissen über den Menschen“ gemacht. Die „Wissenschaft der Menschenkenntnis“ sei „von Humboldt als eine philosophierende im Sinne Kants verstanden und der Aufgabe der ‚Menschenbildung‘ zugeordnet“ worden (ebd.). Wie das Leben hat auch die „Menschenbildung“ einen guten Ruf, es scheint ein schönes Wort zu sein. Doch sich von der Idee der Menschenbildung angesprochen zu fühlen, heißt nicht, damit auch ein Instrument in der Hand zu haben, wie Bildungsinstitutionen zu verstehen sind, wie sie zu verändern und verbessern wären. Der Wunsch, „Humboldt aus dem ständischen Humanismus des späteren 19. Jahrhunderts herauszuholen und ihn als hoch-anregenden Denker auch für Gegenwartsprobleme in Anspruch zu nehmen“ (ebd., 295), mag nobel sein2; dieser Wunsch scheint auch mir wichtig und bedeutsam zu sein, aber nur als Idee, als Inspiration. Humboldts Bildungsidee taugt nicht als Analyseinstrument und Kritik an den Bildungsinstitutionen, vielmehr drückt sie etwas aus, was manchen wichtig erscheint, was sie nicht aufgeben wollen. Natürlich haben sich auch Erziehungswissenschaftler und Bildungsphilosophen vereinzelt mit Humboldts Sprachphilosophie beschäftigt (vgl. z. B. Koller 1999); um den Bildungsprozess im Sinne Humboldts verstehen zu können, geht das letztlich auch nicht anders. Zwar sind, so Flitner mit Rekurs auf Di Cesare, im 20. Jahrhundert sowohl „terminologisch und problemgeschichtlich eine ganze Reihe von humboldtschen Formulierungen wieder aufgenommen und in die linguistische Diskussion eingebracht“ worden – ‚Energeia‘, ‚Weltansicht‘, ‚Organismus‘, ‚innere Sprachform‘,
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Doch: „Das kann natürlich immer nur mit Erinnerung an den historischen Abstand und an die ‚Übersetzung‘ von Problemen und Gedanken der Humboldt-Epoche in die Gegenwart geschehen, d. h. auch mit dem Vorbehalt, den Humboldt selber formuliert hat, nämlich dass Übersetzungen, auch sprachliche Übersetzungen, im Grunde nicht möglich sind, jedenfalls nie ganz aufgehen. Aber sie sind doch, beim Verstehen und Kommunizieren humaner Notwendigkeiten, uns fortwährend aufgegeben. Sie sind selbst eine Bildungsaufgabe ersten Ranges: das Wahrnehmen des anderen, der anderen Sprache und Kultur, des anderen Geschlechts, der anderen Epoche“ (Flitner 2002, 295).
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‚Typus‘, ‚Struktur‘, ‚unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln‘, ‚erzeugen/ generieren‘, ‚Form und Substanz‘ – (Flitner 2002, 293, Di Cesare 1998, 17 paraphrasierend), doch das „enorme Potenzial seiner Forschungen wurde nicht wirksam, trotz der Verbeugungen, welche Generationen von Sprachwissenschaftlern und Sprachphilosophen ihm seither dargebracht haben. Die Sprachwissenschaft hat mit den Brüdern Schlegel, mit Bopp und Grimm den entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Ihr Paradigma wurde das der Wissenschaft nach dem Modell der Naturwissenschaften. Sie suchte die Sprachphänomene nach notwendigen Ursache-Wirkung-Gesetzen von der Art der Naturgesetze zu erklären und damit die Philosophie und die Wissenschaften voneinander zu trennen“ (Flitner 2002, 292–293). Es ist in letzter Zeit u. a. Charles Taylor zu verdanken, die Bedeutung von Humboldts Sprachphilosophie für das Verständnis des Bildungsprozesses betont zu haben, wiewohl Taylor kein explizites bildungstheoretisches Interesse verfolgt. Taylor interessiert sich für den sogenannten „Bedeutungsholismus“, einer Idee Herders, auf welche Humboldt zurückgreift, „wenn er sein Bild der Sprache als Gewebe entfaltet“ (Taylor 2017, 45). So formuliert Humboldt: „Man kann die Sprache mit einem ungeheuren Gewebe vergleichen, in dem jeder Teil mit dem andren und alle mit dem Ganzen in mehr oder weniger deutlich erkennbarem Zusammenhang stehen. Der Mensch berührt im Sprechen, von welchen Beziehungen man ausgehen mag, immer einen abgesonderten Teil dieses Gewebes, tut dies aber instinktartig immer dergestalt, als wären ihm zugleich alle, mit welchen jener einzelne notwendig in Übereinstimmung stehen muss, im gleichen Augenblick gegenwärtig“ (Humboldt 1995, 65). Humboldt zeigt, wie wichtig die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem ist, was jenseits dieser Grenze liegt, und er gibt „Aufschluss über unseren stets wiederkehrenden Drang, diese Grenze weiter hinauszuschieben und das Gebiet unseres Artikulationsvermögens zu erweitern“ (Taylor 2017, 54). „Humboldt […] unterstellt einen Trieb, der darauf abzielt, ‚alles, was die Seele empfindet, mit dem Laut zu verknüpfen‘“ (ebd.). Diesem „Trieb“ geht es um die Möglichkeit, „immer weiter in den Bereich des Unsagbaren vorzudringen“ (ebd.). Taylor unterscheidet in Das sprachbegabte Tier (Taylor 2017) zwei Gruppen von Autoren bzw. Ansätzen, wie Sprache und damit auch der Mensch in der Tradition verstanden worden seien, namentlich die „HLC-Theorie“ (Thomas Hobbes, John Locke und Étienne Bonnot de Condillac) und die „HHH-Theorie“ (Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt). 69
Roland Reichenbach (Zürich)
Diese „Theorien“ stellt er einander gegenüber, teilweise mit anderen Namen: etwa „Rahmentheorien“ versus „Konstitutionstheorien“ bzw. „bezeichnungstheoretisch-instrumenteller“ Ansatz versus „expressiv-konstitutiver“ Ansatz (ebd., 98). Natürlich steht Taylor selbst ganz auf der Seite der HHH-Theorie und dem damit verbundenen Bedeutungsholismus: „Die HLC-Theorie tendiert zur Konzentration auf gesprochene oder geschriebene Wörter als den sich anbietenden Mitteln zur Weltbeschreibung. Die HHH-Theorie hingegen betont das konstitutive Vermögen des Ausdrucks und bringt außerdem Formen der enaktiven Bedeutung ins Spiel wie Gestik, Haltung und Körpersprache. Zudem vertritt sie die These, aufgrund der Wechselwirkungen zwischen enaktiven und deskriptiven Bedeutungen sei die Möglichkeit ausgeschlossen, die deskriptiven Bedeutungen allein für sich genommen zu verstehen“ (ebd., 98). So sei es ganz unmöglich, etwa „eine Abhandlung zu schreiben, ehe man gelernt hat, sich gesprächsweise zu unterhalten“ (ebd., 99). Die HLC-Theorie sei „durch und durch monologisch“ (ebd., 101). Anerkannt werden müsse „hingegen der Primat der Kommunikation, des Dialogischen. Die Vertreter der HHH-Theorie sehen durchweg, dass das Gespräch der vorrangige Ort der Sprache ist. Die Sprache entwickelt sich nicht einfach im Inneren der Individuen, um sich erst anschließend zur Verständigung mit anderen auszuwachsen. Vielmehr entwickelt sie sich stets im Zwischenbereich der gemeinsamen Aufmerksamkeit, der Verbundenheit“ (ebd., 101). Diesen „Sachverhalt“ nennt Taylor „Holismus“. Wer eine Sprache sprechen könne, der beherrsche vermutlich zu jedem gegebenen Zeitpunkt ein endliches (wenn auch vielleicht großes) Vokabular, sei aber dazu in der Lage, unbegrenzt viele Sätze zu bilden, darunter auch solche, die bis anhin noch nie geäußert worden sind. Diese unbegrenzte Produktivität der Sprache sei im 20. Jahrhundert sehr ernst genommen worden (ebd., 232f.). „Dieses endlose Streben nach Steigerung des Artikulationsvermögens ist der Grundgedanke hinter dem berühmten Ausspruch Humboldts über den unendlichen Gebrauch, den die Sprache von endlichen Mitteln machen muss“ (ebd., 336; hier auf Humboldt (1995, 146) Bezug nehmend).3
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„Manche Leser werden Humboldts Bild des unaufhörlichen und dringlichen Strebens nach ständig gesteigerter Artikulation im Gegensatz zu mir ein wenig überzogen finden, doch was sich nicht bestreiten lässt, ist die Tatsache, dass wir manchmal genau dieses Gefühl empfinden“ (Taylor 2017, 337).
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3 Passt Humboldt nicht immer?
Auch für den französischen Philosophen Marcel Gauchet (2002) ist Bildung vor allem als Arbeit am Ausdruck menschlicher Erfahrung zu verstehen (vgl. dazu auch Park [im Druck]) – diese Perspektive ist natürlich keine deutsche Eigenheit. Der Gedanke ist bei Humboldt angelegt. „Was Humboldt […] im Blick hat“, so Taylor, „ist das Gefühl, etwas sagen zu wollen, was man noch nicht befriedigend zum Ausdruck bringen kann. Was hier eigentlich fehlt, können wir nicht angeben; das gelingt erst, nachdem wir etwas erfolgreich artikuliert haben. Das HLCModell der Prägung eines Worts für eine im Geist vorhandene Idee (oder einen Gegenstand der Beobachtung) lässt sich oft gar nicht auf diese Situation anwenden“ (Taylor 2017, 338). Das Streben nach Artikuliertheit im Sinne Humboldts funktioniere in diesem Bereich der Bedeutungen anders als im Bereich der Beschreibung unabhängiger Gegenstände. Bei den Gegenständen müsse man sich vielleicht anstrengen, um eine Form zu finden, die – eventuell mit Hilfe der Erfindung eines neuen Paradigmas – sinnvoll erkläre, wie diese Gegenstände zusammenpassen. Bei Bedeutungen sei man hingegen bemüht, Ausdrucksweisen zu finden, die diesen Bedeutungen eine fest umrissene Form geben, welche ihnen wiederum die Möglichkeit geben, „in unserem Leben eine neue Rolle zu spielen“ (ebd., 358). Dieser Gedanke findet sich allerdings schon bei Georg Misch, wie Anna Park in ihrer Studie zu einem artikulationstheoretischen Verständnis von Bildung aufgezeigt hat (Park [im Druck]). Schon fast drei Jahrzehnte vor Das sprachbegabte Tier übernimmt Taylor in Quellen des Selbst einen Ausdruck des romantischen Dichters Percy Bysshe Shelly (1792–1822): „subtilere Sprachen“ (Taylor 1996, 664). Bildung, so könnte man sagen, ist die Bemühung, subtilere Ausdrucksweisen zu finden. Die Stärke der sprachholistischen Sicht Humboldts liegt in der mit dieser Perspektive intrinsisch verbundenen Einsicht, dass das sprachliche Bewusstsein den Menschen ständig an die Grenzen dieses Bewusstseins stößt (Taylor 2017, 52). Auf Fragen wie „Warum hast Du das getan?“ oder „Warum magst Du dieses Bild nicht?“ – es handelt sich um Taylors Beispiele – können wir häufig zunächst noch keine uns und den Fragenden zufriedenstellenden Antworten entwickeln. Wir brauchen dann „neue Modelle“, um uns selbst und andere zu verstehen, Modelle, die wir anzuerkennen lernen müssen. Humboldt habe gezeigt, „wie wichtig diese Grenze zwischen dem Sagbaren und dem ist, was jenseits dieser Grenze liegt, und gibt Aufschluss über unseren stets wiederkehrenden Drang, diese Grenze weiter hinauszuschieben und das Gebiet unseres Artikulationsvermögens zu erweitern“ (ebd., 54). 71
Roland Reichenbach (Zürich)
In Über die Sprache als Ausdruck eigentümlicher Geistesform, einem Exkurs aus der Schrift Latium und Hellas (vgl. Humboldt 1956[1806], 116–119), schreibt Humboldt: „Den nachteiligsten Einfluss auf die interessante Behandlung jedes Sprachstudiums hat die beschränkte Vorstellung ausgeübt, dass die Sprache durch Konvention entstanden und das Wort nichts als Zeichen einer unabhängig von ihm vorhandenen Sache oder eines solchen Begriffes ist. Diese bis auf einen gewissen Punkt freilich unleugbar richtige, aber weiter hinaus auch durchaus falsche Ansicht tötet, sobald sie herrschend zu werden anfängt, allen Geist und verbannt alles Leben, und ihr dankt man die so häufig wiederholten Gemeinplätze: dass das Sprachstudium entweder nur zu äußeren Zwecken oder zu gelegentlicher Entwickelung noch ungeübter Kräfte notwendig; dass die beste Methode die am kürzesten zu dem mechanischen Verstehen und Gebrauchen einer Sprache führende; dass jede Sprache, wenn man sich ihrer nur recht zu bedienen weiß, ungefähr gleich gut ist; dass es besser sein würde, wenn alle Nationen sich nur über den Gebrauch einer und ebenderselben verstünden, und was es noch sonst für Vorurteile dieser Art geben mag. Genauer untersucht zeigt sich nun aber von allem diesem das gerade Gegenteil“ (Humboldt 1956, 117). An diesem „geraden Gegenteil“ scheinen nun auch viele zeitgenössische Kritiker der Bildungsinstitutionen zu hängen, zu Recht, mit gutem Grund, mögen sie auch nur implizit die sprach- und bedeutungsholistische Position einnehmen. Doch das heißt keineswegs, dass mit einem besseren Verständnis auch die Werkzeuge der Verbesserung der Bildungsinstitutionen bereitliegen würden. Die Idee, die Welt nach Ideen verändern zu können, ist eine bedauerliche Machtphilosophie. Isaiah Berlin schrieb im Epilog zu seinen Persönlichen Eindrücken (2001): „Mein Interesse an Ideen, mein Glaube an ihre gewaltige und manchmal unheilvolle Macht, meine Überzeugung, dass der Mensch, wenn er diese Ideen nicht richtig begreift, von ihnen viel stärker bedroht wird als von den unkontrollierten Naturgewalten oder auch seinen eigenen Institutionen – all das wird von den Vorgängen in der Welt tagtäglich neu bestärkt“ (Berlin 2001, 372f.). Ideen sind mehr als unschuldige Gedankenblasen, sie können, werden sie handlungsrelevant, Wirkungen entfachen, die das Leben und Zusammenleben im Positiven wie im Negativen nachhaltig prägen; sie mögen, wenn sie in „leidenschaftlichen Überschwang“ geraten, um es nochmals mit Berlin zu sagen, die Künste beflügeln und das Leben vernichten (ebd., 375). Als den „ersten und höchsten Grundsatz im Urteil über alle Sprachen“ legt Humboldt fest, „dass dieselben immer in dem Grade einen höheren Wert haben, 72
3 Passt Humboldt nicht immer?
in welchem sie zugleich den Eindruck der Welt treu, vollständig und lebendig, die Empfindungen des Gemüts kraftvoll und beweglich, und die Möglichkeit beide idealisch zu Begriffen zu verbinden leicht erhalten“, und führt fort: „Denn der reale aufgefasste Stoff soll idealisch verarbeitet und beherrscht werden, und weil Objektivität und Subjektivität – an sich ein und dasselbe – nur dadurch verschieden werden, dass die selbsttätige Handlung der Reflexion sie einander entgegensetzt, da auch das Auffassen wirkliche, nur anders modifizierte Selbsttätigkeit ist, so sollen beide Handlungen möglichst genau in einer verbunden werden“ (Humboldt 1956, 118). In seinen Ausführungen Über den Charakter4 spricht Humboldt vom vergeblichen Bemühen, den Menschen aus den Umständen zu verstehen, die auf ihn gewirkt haben, immer bleibe „eine unbekannte Größe zurück: die primitive Kraft, das ursprüngliche Ich, die mit dem Leben zugleich gegebne Persönlichkeit. Auf ihr beruht die Freiheit des Menschen, und sie ist daher sein eigentlicher Charakter“ (ebd., 113). Diese Kraft sei es, „welche auch in der Erziehung so oft unsere Erwartungen täuscht oder unsre Bemühungen fruchtlos macht“ (ebd., 112). „Das ursprüngliche Naturell, der angeborne Charakter des Zöglings widersteht jedem Versuche, ihn auszurotten oder wesentlich umzustimmen, und es ist eine sehr gewöhnliche Erscheinung, dass Geschwister, die eine durchaus gleiche Erziehung genossen, dennoch in den Jahren ihrer Reife noch dieselbe Verschiedenheut der Charaktere zeigen, die sich schon in ihrer frühesten Kindheit verrieten“ (ebd.). Humboldts Fokus, Bildung allein als Selbstbildung, als Bildung des Selbst zu sehen, seine verführerische Idee, wonach der Welt letztlich allein die Funktion zukommt, dass der Mensch an ihr seine ursprünglichen Kräfte auszubilden und stärken vermöge, seine Einsicht, dass die Widerständigkeit der Welt – mag sie noch so mannigfaltig sein – auf die Widerständigkeit des Selbst trifft und mit ihm gleichsam in einem Spannungsverhältnis steht, sind schöne Beschreibungen, die Tiefe besitzen und sich jeder Herstellungs- und Zugriffsmentalität entziehen. Gegen diese „wahre“ Bildung oder Bildungsidee, kann jede Bildungsinstitution nur schlecht aussehen, in welcher Bildung dann noch vorwiegend als bloße „Ware“ erscheint. Fragte die Aufklärungspädagogik mit Immanuel Kant wenigstens noch, wie die Freiheit bei dem Zwange zu 4
Aus Das achtzehnte Jahrhundert (Humboldt 1956[1797], 111–115).
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Roland Reichenbach (Zürich)
kultivieren sei, sah sie also elementare Probleme, und vermutete Hegel, dass Bildungsprozesse mit Entfremdungserfahrungen zu tun haben, notwendigerweise Entfremdungsgefühle produzieren, so gibt es in Humboldts Bildungsdenken kaum eine Sprache für diese – sagen wir „systematischen“ und gesellschaftlichen – Probleme. Daher passt Humboldt immer und ist gleichzeitig ohne jede Wirkungskraft. Er bedient unbeabsichtigt die weitgehend lyrischen und ornamentalen Bedürfnisse einer sich kritisch dünkenden Personengruppe, welche am liebsten – wie Humboldt selbst – ganz auf die Einmischung des Staates in Bildungsorganisation und Curriculum verzichten möchte. Die Verteidigung der Bildung als (reinen) Selbstzweck kann sich wohl nur leisten, wer sie sich schon lange zum Mittel zum Zweck gemacht hat, aber einem mehr oder weniger noblen Selbstmissverständnis unterliegt. Dieser plumpe Dualismus und sentimentale Bildungsmanichäismus ist allerdings kein wirkliches Ärgernis und würde er ganz fehlen, so wäre der Bildungsdiskurs und vor allem auch die Bildungsforschung noch armseliger als sie es zurzeit sind. Daher ist an Humboldts sprachphilosophisch geprägtem Bildungsdenken festzuhalten, nicht als eine Art Allzweckwaffe im Bildungsdiskurs, sondern als einer Idee, die sich zwar ganz sicher nicht institutionell umsetzen lässt, die aber daran erinnert, dass die Ausbildung des Sinns für das Unsagbare, das nicht Wahrgenommene, vielleicht nicht Wahrzunehmende und das nicht von allein in Erscheinung tretende von Bedeutung für uns ist. John Berger formulierte – vielleicht hier passend: „Die alte Begegnung des Endlichen mit dem Unendlichen […], dieses sich immer wiederholende Rendezvous findet, soweit wir wissen, nur im menschlichen Herzen und Bewusstsein statt“ (Berger 2009, 73). Es ist – am sogenannten „Ende des Tages“, jedenfalls, wenn man ein wenig nachgedacht hat – geradezu zu begrüßen, dass sich diese Begegnung pädagogisch und institutionell nicht herstellen lässt.
Literatur Baumert, Jürgen: Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. Deutscher Bildungsserver Onlineressource 15249 (2002). In: http://www.mpib-berlin.mpg.de/de/aktuelles/ bildungsvergleich.pdf Berlin, Isaiah: Persönliche Eindrücke [1998]. Hg. von Henry Hardy. Übers. von Werner Schmitz. Berlin 2001.
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3 Passt Humboldt nicht immer? Berger, John: Das Kunstwerk. Über das Lesen von Bildern. Berlin 2009. Di Cesare, Donatella: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihrem Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Paderborn 1998, 11–128. Flitner, Andreas: Wilhelm von Humboldt – neuere Forschung und interpretierende Literatur. In: Zeitschrift für Pädagogik 48/2 (2002), 287–297. Gauchet, Marcel: Démocratie, éducation, philosophie. In: Marie-Claude Blais, Marcel Gauchet, Dominique Ottavi (Hg.): Pour une philosophie politique de l’éducation. Paris 2002, 11–42. Giesinger, Johannes (2016): Bildung im liberalen Staat. Von Humboldt zu Rawls. In: Rita Casale u. a. (Hg.): Das Pädagogische und das Politische. Paderborn 2016. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes [1807]. In: Werke in 20 Bänden. Hg. von Eva Modelhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986. Bd. 3. Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. Stuttgart 1986. Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Anthropologie und Bildungslehre. Hg. von Andreas Flitner. Düsseldorf/München 1956. Humboldt, Wilhelm von: Einleitung zum Kawi-Werk. In: Schriften zur Sprache. Hg. von M. Böhler. Stuttgart 1995, 30–207. Kaube, Jürgen: Logik eines Satzes. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 14/2 (2020), 14–26. Koller, Hans-Christoph: Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne. München 1999. Lischewski, Andreas: Meilensteine der Pädagogik. Geschichte der Pädagogik nach Personen, Werk und Wirkung. Stuttgart 2014. Melas-Geiger, Margot Heike: Portrait des amerikanischen Homeschoolings. Bonn 2020. Park, Anna: Arbeit am Ausdruck. Die ästhetische Dimension der Bildung: eine artikulationstheoretische Annäherung. Bielefeld (im Druck). Reichenbach, Roland: Homeschooling, Distant Learning und das selbstorganisierte Kind. In: Merkur, 74/8 (2020), 31–40. Ribolits, Erich: Bildung – Kampfbegriff oder Pathosformel. Über die revolutionären Wurzeln und die bürgerliche Geschichte des Bildungsbegriffs. Wien 2011. Schneider, Helmut/Waszek, Norbert (Hg.): Hegel in der Schweiz (1793–1796). Frankfurt a. M. 1977. Taylor, Charles: Das sprachbegabte Tier. Übers. von Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 2017. Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität [1989]. Übers. von Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 1996.
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4 Humboldts Theorie der Freiheit Dieter Thomä (St. Gallen)
Freiheit und Mannigfaltigkeit Bekanntlich setzte die Rezeption von Humboldts Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen mit Verzögerung ein, nämlich erst nach der Veröffentlichung in Buchform 1851. Zur ersten Generation der Leser dieser Schrift gehörten extrem gegensätzliche Figuren wie der liberale Philosoph John Stuart Mill, der Jurist und Politiker Édouard de Laboulaye, der den New Yorkern die Freiheitsstatue zum Geschenk machte, und der nationalistische, antisemitische Historiker Heinrich von Treitschke (Mill 2009, 162–165; Laboulaye 1865, 50; Treitschke 1930, 45). Ihre Kommentare stammen aus den Jahren 1859, 1860 und 1861 – und sie alle heben lobend eine Passage hervor, die bis heute die bekannteste aus Humboldts Schrift geblieben ist. „Der wahre Zwek des Menschen […] ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlässliche Bedingung. Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwikkelung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannigfaltigkeit der Situationen.“ (2010b, 64/127) Humboldts Jugendschrift ist eine Fundgrube, systematisch geht in ihr allerdings einiges durcheinander. Dies gilt auch für die Doppelung aus „Freiheit der Kräfte“ und „Mannigfaltigkeit der Situationen“ (ebd., 58/121), die seine Leser fasziniert hat. Seltsamerweise lässt Humboldt nämlich das Verhältnis zwischen den zwei von ihm genannten Bedingungen der Bildung in der Schwebe. Einerseits soll die Mannigfaltigkeit etwas „andres“ sein als Freiheit, andererseits sollen beide „eng“ miteinander verbunden sein. Das wirkt unschlüssig. So beginne ich mit einigen Überlegungen zur genauen Bedeutung jener Passage, in denen ich die zwei von Humboldt angebotenen Deutungsmöglichkeiten um der Übersichtlichkeit willen hart gegeneinandersetze. 77
Dieter Thomä (St. Gallen)
Einiges spricht dafür, Freiheit und Vielfalt zu trennen. Humboldt selbst legt die Freiheit als kraftvollen Einsatz für eine Sache aus, womit gerade nicht Vielfalt, sondern „Einseitigkeit“ einhergeht (ebd., 61/124). „Nach Einem Ziele streben, und diess Ziel mit Aufwand physischer und moralischer Kraft zu erringen, darauf beruht das Glük des rüstigen, kraftvollen Menschen.“ (ebd., 57/120) „Jeder Mensch vermag auf Einmal nur mit Einer Kraft zu wirken, oder vielmehr sein ganzes Wesen wird auf Einmal nur zu Einer Thätigkeit gestimmt. Daher scheint der Mensch zu Einseitigkeit bestimmt“ (ebd., 64/127). Auch die von Humboldt an anderer Stelle zitierten Zeilen aus Goethes „Prometheus“ schlagen in diese Kerbe: „Hast Du’s nicht alles selbst vollendet,/ Heiligglühend Herz?“ (Humboldt 2010a, 22) Energie und Macht gehören zum terminologischen Arsenal, das Humboldt für diese Auslegung der Freiheit aufbietet. Folgt man dieser Lesart, dann erfüllt und erschöpft sich die Freiheit im Vollgefühl der Ausführung einer Handlung. Humboldt fällt sich bei dieser Festlegung der Freiheit selbst ins Wort, ohne dass er dies freilich merken würde. Er gelangt nämlich zu dem Schluss, dass dann eigentlich passenderweise nicht von Freiheit zu reden sei, sondern von der Fähigkeit, über das, was geschehen soll, zu bestimmen. Diese aber heißt „Herrschaft“: „Freiheit ist gleichsam nur die Möglichkeit einer unbestimmt mannigfaltigen Tätigkeit; Herrschaft, Regierung überhaupt zwar eine einzelne, aber wirkliche Thätigkeit.“ (2010b, 57/120) Damit nähert man sich schon der zweiten möglichen Lesart, wonach Freiheit eng an Vielfältigkeit heranrückt. In der neueren Sprache der politischen Philosophie würde man Humboldts divergierende Konzepte der Freiheit oder seine Unterscheidung zwischen Herrschaft und Freiheit anhand der Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit reformulieren (vgl. mit weiterführenden Hinweisen Thomä 2021). Auf der einen Seite steht demnach die – positive – Umsetzung dessen, was man entschieden oder einseitig will, auf der anderen Seite die – negative – Wegnahme von Hindernissen im Sinne der Zulassung „unbestimmt mannigfaltiger Tätigkeit“. Humboldt sagt dies nie so klar, wie man sich dies wünschen würde, aber er unterläuft die heute gängige Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit. Nicht nur wird bei ihm die positive Freiheit als Herrschaft gefasst, er legt – was viel interessanter ist – die negative Freiheit in einer Weise aus, die das heutige Verständnis der Abwesenheit von Hindernissen sprengt. In dem Maße, wie Humboldt die Freiheit an „unbestimmt mannigfaltige Tätigkeit“ koppelt, entfernt er sich vom Junktim von Freiheit und Einseitigkeit und sieht vor, 78
4 Humboldts Theorie der Freiheit
dass negative Freiheit an einen Spielraum gebunden wird, der dem Individuum zur beliebigen Gestaltung überlassen wird. Die Handlungsfähigkeit des Individuums wird demnach als gegeben unterstellt, und es geht einstweilen nur darum, dass äußere Umstände die Entfaltung des Individuums nicht beeinträchtigen. Dabei bleibt es aber nicht. Humboldt hält weiterhin Distanz zu einer (positiven) Freiheit, die auf Einseitigkeit, Macht und Herrschaft setzt. Aber er begnügt sich nicht damit, (negative) Freiheit an die Abwesenheit äußerer Hindernisse zu koppeln. Wenn er dies täte, bliebe die von ihm gepriesene Mannigfaltigkeit der Situationen dem Individuum äußerlich. Sie hätte keine produktive Funktion, sondern würde nur misstrauisch beäugt von demjenigen, der allseits Einschränkungen vermutet. Humboldt geht über diese Lesart hinaus, indem er die Mannigfaltigkeit als konstitutives Element des Freiheitsbegriffs selbst in den Blick nimmt. Drei durchaus verschiedene Argumente bietet Humboldt auf, um die innere Verbindung zwischen Freiheit und Mannigfaltigkeit zu belegen. Sie lassen sich unter den Überschriften Narration, Kommunikation und Anthropologie fassen. Narration. Der „Einseitigkeit entgeht“ der Mensch, so sagt Humboldt, „wenn er die einzelnen, oft einzeln geübten Kräfte zu vereinen, den beinah schon verloschnen wie den erst künftig hell aufflammenden Funken in jeder Periode seines Lebens zugleich mitwirken zu lassen […] strebt“ und um die „Verknüpfung der Vergangenheit und der Zukunft mit der Gegenwart“ bemüht ist (2010b, 64/127). Hingewiesen wird damit auf die Vielfalt, die den Individuen in ihrer Lebensgeschichte zugänglich ist, auf Situationen, denen sie sich aussetzen und in denen sie sich bewähren. Eine neuere Version dieses Arguments, das auf die narrative Verknüpfung lebensgeschichtlicher Episoden und Phasen hinausläuft, findet sich in Hannah Arendts Vita activa, wo die Verstricktheit und Vernetztheit der Person in Geschichten thematisiert wird. Bei Arendt wird deutlich, was auch bei Humboldt schon mitgedacht ist: dass nämlich das Individuum über weltliche Erfahrungen nicht im Modus der Herrschaft verfügt, sondern in sie eingebettet ist, von ihnen mitgerissen wird, sich ihnen ausgeliefert fühlt. Arendt beschreibt dies so, dass der Held oder Protagonist einer Lebensgeschichte nie vollumfänglich auch dessen Autor ist, also nicht verlässlich über das verfügt, was Humboldt „Herrschaft“ oder „Macht“ nennt (Arendt 2013, 226f.). Kommunikation. Humboldt sagt direkt im Anschluss an die gerade zitierte Stelle zur „Verknüpfung der Vergangenheit und der Zukunft mit der Gegenwart“, dass 79
Dieter Thomä (St. Gallen)
ebendiese Erfahrung von Diversität auch „in der Gesellschaft“, in der „Verbindung mit andren“ wirke (2010b, 64/127). „Durch Verbindungen also, die aus dem Innern der Wesen entspringen, muss einer den Reichthum des andren sich zu eigen machen. […] Der bildende Nutzen solcher Verbindungen beruht immer auf dem Grade, in welchem sich die Selbständigkeit der Verbundenen zugleich mit der Innigkeit der Verbindung erhält. Denn wenn ohne diese Innigkeit der eine den andren nicht genug aufzufassen vermag; so ist die Selbstständigkeit nothwendig, um das Aufgefasste gleichsam in das eigne Wesen zu verwandeln. Beides aber erfordert Kraft der Individuen, und eine Verschiedenheit, die, nicht zu gross, damit einer den andren aufzufassen vermöge, auch nicht zu klein ist, um einige Bewundrung dessen, was der andre besizt, und den Wunsch rege zu machen, es auch in sich überzutragen.“ (ebd., 64f./127f.) Diese Passage ist systematisch noch beachtlicher als die Überlegungen zur zeitlich-narrativen Verknüpfung von Lebensphasen. Denn hier werden Verbundenheit und Selbstständigkeit zusammengedacht, ja, die Selbstständigkeit wird gerade dadurch gestärkt, dass man Zugang zum „Reichthum des andren“ gewinnt und an der Aneignung oder Übertragung dieses Reichtums selber wächst. Wenn sich unter dem Stichwort Narration Verbindungen zwischen Humboldt und Arendt – und anderen hermeneutischen Positionen wie derjenigen Paul Ricœurs (1988–1991) – ergeben, so erkennt man in den gerade skizzierten Überlegungen Humboldts eine Vorwegnahme Hegelscher Positionen. Was bei Humboldt „Bewundrung“ für andere heißt, nennt Hegel „Anerkennung“. Und Hegels berühmte Formulierung vom Ich, das im „Anderen bei sich selbst sei“ (Hegel 1970, 57; vgl. Honneth 2010, 37f.) erscheint als bloße Explikation dessen, was Humboldt über das gelungene Zusammenspiel zwischen Selbstständigkeit und Verbindung sagt. Da Karl Marx in diesem Punkt ein treuer Schüler Hegels ist, lässt sich die Genealogie weiterziehen zu ihm – nämlich zu seiner Kritik an der „Freiheit“ als dem „Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem andern schadet“. Gegen die damit einhergehende Vorstellung, dass Freiheit nur durch die „Absonderung“ des Menschen, also durch dessen Verwandlung in eine „isolierte auf sich zurückgezogene Monade“ gewährleistet sei, setzt Marx die These, dass die Entfaltung der Freiheit des Menschen „auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen“ beruhe (Marx 1981, 364). Aus dieser These spricht, auch wenn Marx dies nicht bewusst ist, der Geist Humboldts. Humboldt hält noch eine überraschende Pointe bereit, die das Junktim von Verbindung und Freiheit illustriert. Er sagt nämlich: „Eine solche charakterbildende 80
4 Humboldts Theorie der Freiheit
Verbindung ist, nach der Erfahrung aller, auch sogar der rohesten Nationen, z. B. die Verbindung der beiden Geschlechter“, in der, wie er meint, die Erfahrungen der „Verschiedenheit“ und der „Vereinigung“ zusammentreten (2010b, 65/128). Auch diese Überlegung erscheint als eine Vorwegnahme Hegels, nämlich von dessen früher Philosophie der Liebe, in der die Vereinigung als Erfahrung beschrieben wird, die das Ich nicht behindert, sondern erweitert. Ich komme auf das geschlechtertheoretische Potential der Theorie Humboldts nochmal zurück. Anthropologie. Humboldt hält eine dritte Argumentation bereit, die den Zusammenhang zwischen Freiheit und Mannigfaltigkeit stützt. Hierfür tritt er einen Schritt zurück und betrachtet nicht die Freiheit selbst, sondern dessen Träger, also den Menschen. Er fasst den Menschen als Wesen auf, in dem sich „alles auf Form und Materie [reducirt]“ (ebd., 66/129). Dabei steht die „Form“ für die Kraft der Gestaltung gemäß einer gesetzten Idee, also auch für die Einseitigkeit des Handelns. Die „Materie“ gilt dagegen als Domäne der „sinnliche[n] Empfindung“, die die „Fülle und Mannigfaltigkeit“ des Gegebenen aufnimmt (ebd.). Da dieser anthropologische Dualismus gemäß Humboldt nicht nach einer Seite hin aufzulösen ist, da also weder die totale Vergeistigung noch die totale Reduktion auf Sinnlichkeit plausibel ist, treten Form und Materie in „Verschmelzung“ auf. Dies mache gerade die „Grösse“ des Menschen aus (ebd.). Das heißt: Wenn der Mensch auf die Einseitigkeit des Handelns im Sinne der Formgebung oder auf die positive Freiheit setzen würde, dann würde er gegen sein eigenes Wesen verstoßen, er würde seine Eigenschaft als empfindendes Wesen verleugnen, das sich der Mannigfaltigkeit öffnet oder sich für sie freigibt. Ebenso wie die anderen beiden Gesichtspunkte, die unter den Überschriften Narration und Kommunikation angeführt worden sind, erlaubt die anthropologische Argumentation Verbindungen zu anderen Positionen – am deutlichsten zu denjenigen, die Schiller in seiner Kant-Rezeption und -Kritik in den Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ 1794/95 ausführt. Die heterogenen Argumente, die Humboldt aufbietet, will ich hier nicht gewichten, sondern eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen hervorheben. Durchweg liegt der Akzent nämlich darauf, dass die Freiheit des Menschen sich nicht darin erschöpft, ihn als eigensinnigen und eigenwilligen Handelnden vorzustellen, sondern dass zur Freiheit die Fähigkeit des Menschen gehört, sich auf etwas einzulassen: ein Moment von Hingabe. Dies ist in der romantischen Philosophie der Individualität, 81
Dieter Thomä (St. Gallen)
die mit Humboldt eng verbunden ist, durchaus geläufig, bleibt aber der politischen Philosophie der Freiheit, die sich auf Humboldt beruft, fremd. Ich vertrete die These, dass Humboldt – wie auch immer unschlüssig und unausgegoren – einen Freiheitsbegriff entwickelt, der originell, in seiner Zeit unerreicht sowie in systematischer Hinsicht überzeugend ist: nämlich einen Freiheitsbegriff, in dem Handlungsfähigkeit und Empfänglichkeit, Aktivität und Passivität zusammengedacht werden. Er entwickelt, kurz gesagt, ein Verständnis situierter Freiheit (Thomä 2006, 209, 215ff.). Die Mannigfaltigkeit wird demnach nicht als das Andere der Freiheit angesehen, sondern als etwas, das mit der Freiheit eng verbunden ist. Hierzu finden sich auch Erläuterungen in anderen Schriften Humboldts, etwa in seinem Fragment zur „Theorie der Bildung des Menschen“ von 1793. Dort ist die Rede von der „Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“. Demnach sei der Mensch bestrebt, „von sich aus zu den Gegenständen außer ihm überzugehen“, so „daß er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er außer sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohltätige Wärme in sein Innres zurückstrahle“ (Humboldt 2010c, 235ff.). Besonders eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang ein Brief Humboldts an Charlotte Diede vom Juli 1822: „Ich habe […] immer nach zwei Dingen gestrebt: mich empfänglich zu halten für jede Freude des Lebens, und dennoch durchaus in Allem, was ich mir nicht selbst geben kann, unabhängig zu bleiben […]. Der Fähigkeit, sich einem fremden Willen, bloß weil es ein solcher Wille ist, […] als Muß sich zu unterwerfen, dieser Fähigkeit bedarf jeder, auch der Mann, und ich würde mich sehr tadeln, wenn ich nicht wüßte, daß ich sie hätte. Sie macht überdies das Gemüth milder, weicher und, so sonderbar es scheint, zugleich stärker, selbständiger und der Freiheit würdiger.“ (Humboldt 1909, 50f.) Meine Erläuterungen zu Humboldts Theorie der Freiheit haben damit begonnen, dass ich mich über die Unschlüssigkeit beklagt habe, an der sie leidet: dass sie nämlich schwankt zwischen der Freiheit als Einseitigkeit und Herrschaft einerseits, der situativen Freiheit, die sich in Pluralität entfaltet, andererseits. Ich halte es für geboten, diese situative Freiheit – wie auch immer unausgegoren sie bei ihm vorgestellt wird – herauszuheben und zu stärken. Mit ihr leistet Humboldt eine ebenso originelle wie plausible Intervention in die Diskussion um den Freiheitsbegriff. Im folgenden Hauptteil meines Aufsatzes will ich zunächst auf die geschichtliche oder sogar geschichtsphilosophische Periodisierung eingehen, mit der Humboldt seinen Freiheitsbegriff unterlegt, und dann einige Einwände und Ergänzungen zu 82
4 Humboldts Theorie der Freiheit
seinen Ideen zur Gefährdung und Entfaltung der Freiheit in der Moderne vorbringen. Abschließend will ich – anhand einer kurzen, aber heftigen Kontroverse aus dem frühen 20. Jahrhundert – darauf eingehen, wie sich Humboldts Verständnis der Freiheit in der Bildungstheorie spiegelt.
Gefährdung und Entfaltung der Freiheit in der Moderne Ich habe bereits erwähnt, dass man sich gerne damit behilft, die unterschiedlichen Bedeutungen der Freiheit in zwei Schubladen zu packen – nämlich in diejenige der positiven und der negativen Freiheit. Zugleich habe ich darauf hingewiesen, dass Humboldts Freiheitsbegriff dadurch gekennzeichnet ist, in keine dieser beiden Schubladen wirklich hineinzupassen. Zusätzliches Gewicht gewinnt die Unterscheidung jener zwei Freiheitsbegriffe dadurch, dass sie üblicherweise mit einer historischen Zuordnung versehen werden. Das bekannteste – freilich bei weitem nicht einzige – Beispiel hierfür ist Benjamin Constants Rede „De la liberté des anciens comparée à celle des modernes“ von 1819 (Constant 1972). Demnach soll die Geschichte eine Entwicklung durchlaufen, die – kurz gesagt – von der positiven zur negativen Freiheit führt. Humboldt legt nun eine eigene geschichtsphilosophische Deutung des Verhältnisses zwischen antiker und moderner Freiheit vor, die von Constants späterem Schema abweicht – nicht mit Blick auf die Antike, wohl aber mit Blick auf die Moderne. Was Humboldt zur Antike sagt, bewegt sich im geläufigen Rahmen. Dadurch, dass die Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten für die Menschen als Bürger eine derart zentrale Bedeutung gewinne, werde ihre „thätige Kraft“ oder „Energie“ gestärkt, wobei deren Identifikation mit dem öffentlichen Wohl die „Einseitigkeit“ befördere und die Vielfalt beeinträchtige (2010b, 61f./124f.). Dass sie ihre „Privatfreiheit […] aufopferten“, werde ausgeglichen durch eine „andre Thätigkeit“, den „Antheil an der Regierung“ (ebd., 104/167). Dieses Votum ähnelt diversen späteren Stellungnahmen, in denen regelmäßig Rousseau Prügel dafür bezieht, dass er krampfhaft an der antiken Abwehr der „Privatfreiheit“ festhalte. Eigentlich wäre nun zu erwarten, dass Humboldt zu einer Gegenüberstellung gelangt, wonach der Antike mit dem Plus bei Energie und dem Minus bei 83
Dieter Thomä (St. Gallen)
Mannigfaltigkeit nun die Moderne folgt, die umgekehrt ein Minus bei Energie und ein Plus bei Mannigfaltigkeit aufweist. Dies aber ist nicht der Fall. Vielmehr bekommt die Moderne bei Humboldt – anders als etwa bei Constant – ein doppeltes Minus. Er beklagt nicht nur den „Nachtheil der geringeren Kraft“ in der Moderne, sondern auch, dass in ihr „Einseitigkeit“ herrsche und Mannigfaltigkeit nicht zur Entfaltung komme (ebd., 62/125). Humboldt erzählt die Geschichte eines Niedergangs. Bevor ich nun die Begründung und Berechtigung dieser Diagnose diskutiere, muss ich einschränkend darauf hinweisen, dass sie in Humboldts Schrift keineswegs konsequent durchgehalten wird, sondern wiederum gemischte Signale und schwer vereinbare Botschaften zu hören sind. So sagt Humboldt doch auch, dass das „gegenwärtige Zeitalter einen Vorzug“ aufweise in Hinsicht auf „einen mannigfaltigeren Reichthum der handelnden Individuen“ (ebd., 58/121). In eine ähnliche Richtung geht Humboldts Feier der „Freiheit des Privatlebens“ (ebd., 63/126) oder der bereits erwähnten „Privatfreiheit“ (ebd., 104/167). Angesichts der Pluralität und Diversität von Lebensformen und Lebensstilen, die dem modernen Zeitalter regelmäßig bescheinigt werden, wirkt Humboldts brüske Auskunft, dass es in der „Einseitigkeit“ stecken bleibe, befremdlich. Und doch darf man seinen Befund nicht einfach abtun. Er steht damit übrigens auch nicht allein. Unabhängig von ihm sagt zum Beispiel Alexis de Tocqueville im Jahr 1840: „Die Vermögen, die Ideen, die Gesetze wechseln fortwährend. […] Auf die Dauer aber erscheint der Anblick dieser so betriebsamen Gesellschaft einförmig […]. In den Demokratien […] gleichen sich die Menschen alle, und sie tun ungefähr dasselbe. Die Menschheit büßt im Kern ihre Vielfältigkeit ein; in allen Winkeln der Welt findet man die gleiche Art des Tuns, des Denkens und des Fühlens.“ (Tocqueville 1987, 335, 337) Humboldts These vom Mangel an Freiheit und Mannigfaltigkeit in der Moderne mag polemischer Natur sein. Vielleicht will er eher provozieren als den fait accompli des totalen Niedergangs zu konstatieren. Immerhin zeichnet sich das Zeitalter, das er charakterisiert, doch auch dadurch aus, dass es ihn selbst als Fürsprecher der Mannigfaltigkeit hervorgebracht hat. Gleichwohl lohnt es sich, bei Humboldts These von der Krise der Freiheit und der Mannigfaltigkeit im modernen Zeitalter zu verharren und die Treiber zu identifizieren, die ihm zufolge diese Krise auslösen. Sie lassen sich verschiedenen Sphären zuordnen. Vier von ihnen möchte ich herausheben: Moral, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. 84
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Moral. Humboldt ordnet die Moral der Tugend, die eng an Tüchtigkeit und Tätigkeit gebunden ist, der Antike zu und erklärt, dass in der modernen Moral „Ideen, als Geseze“ den Menschen auferlegt und aufgedrängt würden, zu denen sie sich als Gehorchende verhalten müssten. „Unterdrükt“ werde damit die „moralische Kraft“ der Menschen selbst, „die Energie, welche gleichsam die Quelle jeder thätigen Tugend“ ist (2010b, 61/124). Humboldt wendet sich explizit gegen Immanuel Kant, der „die Moralität in ihrer höchsten Reinheit“ und die an sie gebundene „Glükseligkeit“ wie eine“ fremde Belohnung“ und nicht „wie ein eigen errungenes Gut“ erscheinen lasse (ebd., 62f./125f.). Damit verwandle sich die Moral in „eine sehr künstliche Maschinerie“ (ebd., 63/126), und es bestehe die Gefahr, dass „die Menschen“ selbst „zu Maschinen“ werden (ebd., 86/149). Über die Berechtigung dieses Vorwurfs lässt sich trefflich streiten, da Kant selbst durchaus unterscheidet zwischen der mechanischen Befolgung von Regeln und der moralischen Gesetzestreue. Da letztere auf einer eigens getroffenen Willensentscheidung beruht, soll sie im Geist der Autonomie erfolgen. Gehorsam und Freiheit sollen vereinbar sein. Gleichwohl darf man Humboldts Vorwurf nicht einfach abtun, denn in der Kontroverse um Kants Moralbegründung sind immer wieder die Vorwürfe erhoben worden, dass Autonomie und Heteronomie nicht klar zu trennen seien und Kant das innere Vermögen, die Menschen zum moralischen Verhalten anstiften, systematisch vernachlässige. Übrigens lässt sich auch an der Entwicklung seiner Pädagogik nachvollziehen, dass Kant die mechanische Regelbefolgung in seinen frühen Jahren noch scharf kritisiert und als Fremdbestimmung brandmarkt, während er sie später wohlwollender beurteilt und als eine Art Vorschule der moralischen Gesetzestreue ansieht (Thomä 2011). Mit der These, dass das moralische Gesetz die gütige Tatkraft schwäche, greift Humboldt der Sache nach auf die schottische Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts zurück, also den „Moral Sentimentalism“. Dort spielen die menschlichen Anlagen und Antriebe zum moralischen Handeln eine Schlüsselrolle. In diesem Zusammenhang verdient Humboldts Theorie der Geschlechter besonderes Interesse, die den Frauen einen besonderen Zugang zum „innre[n] Dasein“ der Empfindsamkeit zuspricht. So seien „die Weiber eigentlich dem Ideale der Menschheit näher, als der Mann“ (2010b, 80/143). Das klingt wie ein Zitat aus Adam Smiths Theory of Moral Sentiments: „Humanity […] is the virtue of a woman.“ (Smith 2002, 223) Entsprechend erklärt Humboldt im „Plan einer vergleichenden Anthropologie“, Frauen würden leichter als Männer Zugang zur 85
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Vielfalt der Wirklichkeit finden (Humboldt 2010d, 371–375). Und doch ist er eher darum bemüht, den Geschlechterunterschied zu verflüssigen, als ihn durch strikte Zuschreibungen zu verfestigen. So meint er, die Liebe beruhe auf einem Zusammenspiel von „Selbständigkeit und Empfänglichkeit“, das sich bei Männern und Frauen gleichermaßen entfalte (Rosenstrauch 2009, 109f.; vgl. zu Humboldts Geschlechtertheorie den Beitrag von Friederike Kuster in diesem Band). Politik. Aus der Kritik am Gesetz im Bereich der Moral leitet sich direkt Humboldts Kritik am Gesetz im Bereich der Politik ab, die in seiner Freiheitsschrift eine ungleich größere Rolle spielt. Schließlich geht es darin in erster Linie um eine Kritik am Staat. Dieser sorge mit seiner gesetzlichen Ordnung für Gleichförmigkeit und betreibe als „die Bürger bindende Einrichtung“ (2010b, 73/136) deren Entmündigung. Dies schädige sowohl die Vielfältigkeit wie auch die tätige Kraft der Menschen. „Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Ueberrest seiner Selbstthätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und genug zu thun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt.“ (ebd., 74/137) Da diese Folgsamkeit von allen Bürgern erwartet werde, gelte: „Der Geist der Regierung […] bringt Einförmigkeit hervor.“ (ebd., 71/134) Man könnte sagen, dass Humboldt hier eine Erklärung für Einförmigkeit anbietet, die in vertikaler Richtung, nämlich von oben nach unten funktioniert. Werden die Vorgaben von allen befolgt, so verhalten sich alle gleich. Dies hat zur Konsequenz, dass die horizontale, also zwischenmenschliche Aktivität geschwächt wird: „Wie jeder sich selbst auf die sorgende Hülfe des Staats verlässt, so und noch weit mehr übergiebt er ihr das Schiksal seines Mitbürgers. Diess aber schwächt die Theilnahme, und macht zu gegenseitiger Hülfsleitung träger.“ (ebd., 75/138) Es kommt, modern ausgedrückt, zu einem crowding out von Motiven, die Kooperation befördern. Die Übermacht des Staates trägt nach Humboldt dazu bei, dass – wie in der Diskussion zur Moral bereits ausgeführt – Mitmenschlichkeit geschwächt wird. Ein Einwand sei an dieser Stelle deponiert. Indem Humboldt horizontale Mitmenschlichkeit und vertikale Staatsordnung gegeneinandersetzt, entgeht ihm ein Verständnis von Politik und auch von Staatlichkeit, das beim gemeinschaftlichen – also horizontalen – Handeln der Menschen einsetzt. So stützt Rousseau die (vertikale) Ordnung der Republik auf eben jene (horizontale) Mitmenschlichkeit, die bei Humboldt „Theilnahme“ heißt. Bei Rousseau zeigt sich dies am Übergang von „Mitleid“ zu „Gerechtigkeit“ (vgl. mit weiteren Hinweisen Thomä 2016, 86
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93–100). Gegen Humboldt wären darüber hinaus auch der Marquis de Condorcet und seine Frau Sophie de Condorcet (resp. Sophie de Grouchy) anzuführen, die in ihrer Begründung der Menschen- und Bürgerrechte auf Adam Smiths Konzept des fellow-feeling zurückgehen, also gleichfalls vertikale Strukturen des Rechts und der Politik aus horizontalen Beziehungen ableiten (Smith 2002, 11–20; M. Condorcet 1976, 162, 212; S. Condorcet 1994, 79–81, 140; vgl. Thomä 2008, 112–114). Wirtschaft. Im Unterschied zu Moral und Politik scheint die Wirtschaft den Forderungen der Freiheit und der Vielfältigkeit zu entsprechen, die Humboldt aufstellt. Dafür spricht – wie bereits angedeutet – sein Lob der „Privatfreiheit“. Humboldts Argumente, wonach die Wirtschaft sowohl die freie Selbsttätigkeit wie auch die Vielfältigkeit fördere, sollen hier kurz diskutiert werden. Sie sind freilich nicht sonderlich originell, denn er übernimmt hier – wissentlich oder unwissentlich – Thesen von John Locke und David Hume. Bei Locke geht es um Selbsttätigkeit, bei Hume um Vielfalt. Humboldt schreibt – und Lockes Junktim von Arbeit und Eigentum liefert dafür die Vorlage (Locke 1977, 215f.) –: „Alle Kraft sezt Enthusiasmus voraus, und nur wenige Dinge nähren diesen so sehr, als den Gegenstand desselben als ein gegenwärtiges, oder künftiges Eigenthum anzusehn. Nun aber hält der Mensch das nie so sehr für sein, was er besizt, als was er thut, und der Arbeiter, welcher einen Garten bestellt, ist vielleicht in einem wahreren Sinne Eigenthümer, als der müssige Schwelger, der ihn geniesst.“ (2010b, 72f./135f.) „Gerade die am meisten energische Thätigkeit danken wir dem Gefühle des Eigenthums.“ (ebd., 92/155) Humboldt schreibt auch – und nun ist es Hume, der ihm mit seinem Essay „Of Refinement in the Arts“ vorausgeht (Hume 1985) –: „So liessen sich vielleicht aus allen Bauern und Handwerkern Künstler bilden, d. h. Menschen, die ihr Gewerbe um ihres Gewerbes willen liebten, durch eigen gelenkte Kraft und eigne Erfindsamkeit verbesserten, und dadurch ihre intellektuellen Kräfte kultivirten, ihren Charakter veredelten, ihre Genüsse erhöhten.“ (2010b, 76/139) Die Ausweitung von Handelsbeziehungen und die Luxurierung von Genüssen sollen demnach einen wichtigen Beitrag zur Bildung leisten. Humboldts Aufwertung der ökonomischen „Privatfreiheit“ geht einher mit einer scharfen Kritik an der antiken Abwertung der Sorge um die „Erwerbung äusserer Güter“ (ebd., 77/140). Die Befürchtung, dass das Erlangen der „Güter auf Kosten ihrer Kräfte“ gehen könnte (ebd., 71/134), kennt zwar auch Humboldt, aber er macht 87
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sie nicht am Konsumstreben der Individuen fest, sondern am Versorgungsstaat, der sie zu passiven Leistungsempfängern mache. Wirtschaftliche Akteure zeichneten sich dagegen dadurch aus, dass bei ihnen Arbeit als „Selbstthätigkeit“ (ebd., 74, 92/155) mit der Entfaltung von Fähigkeiten, der „Erfindsamkeit“ (ebd., 76/139) einhergehe. Humboldts Überlegungen bewegen sich – wie die Verweise auf Locke und Hume zeigen – auf Pfaden, die im 18. Jahrhundert bereits häufig begangen und kräftig ausgetreten worden sind. Es ist enttäuschend, dass bei ihm Gesichtspunkte, die dieses Bild stören oder trüben könnten, nur am Rande oder gar nicht zur Sprache kommen. Diese Gesichtspunkte betreffen wiederum sowohl die Freiheit als Selbsttätigkeit wie auch die Vielfalt. Humboldt legt Wert auf die Feststellung, dass „Thätigkeit“ für den Menschen nur wünschbar sein kann, „insofern sie Selbstthätigkeit ist“ (ebd., 92/155). Wie sein romantisch verklärtes Bild von der Verwandlung von Bauern und Handwerkern in Künstler zeigt, scheint er die Hindernisse, die der Selbsttätigkeit entgegenstehen, für wenig erheblich und bedrohlich zu halten. Natürlich schreibt Humboldt als Preuße, also aus einer Situation heraus, in der die Durchsetzung der Industriegesellschaft noch auf sich warten lässt. Aber es wäre für ihn ein Leichtes gewesen – und angesichts der polyglotten Neugier, die er wie sein Bruder an den Tag legt, wäre es nicht zu viel verlangt gewesen –, wenn er zeitgenössische Berichte zu Armut und Ausbeutung jenseits der Grenzen Preußens zur Kenntnis genommen hätte. Adam Smith findet z. B. scharfe Worte zur Kritik an der Lage der „labouring poor“: „The man whose whole life is spent in performing a few simple operations […] has no occasion to exert his understanding, or to exercise his invention […]. He […] generally becomes as stupid and ignorant as it is possible for a human creature to become. The torpor of his mind renders him, not only incapable of relishing or bearing a part in any rational conversation, but of conceiving any generous, noble, or tender sentiment […]. The uniformity of his stationary life naturally corrupts the courage of his mind […]. In every improved and civilized society this is the state into which the labouring poor, that is, the great body of the people, must necessarily fall, unless government takes some pains to prevent it.“ (Smith 2000, 840) Schon Adam Smith sieht also durchaus den Staat gefordert, in das Wirtschaftsleben einzugreifen. Schärfer noch als Smith wird dann John Stuart Mill, der große Bewunderer Humboldts, die Gefahren schildern, die der Freiheit durch den industriellen Kapitalismus drohen (Mill 1965, Bd. 2, 759–796). 88
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Dass Humboldt zu diesem Problem nichts zu sagen hat, lässt sich allenfalls durch die Einschränkung seiner Fragestellung rechtfertigen, die eben auf das Verhältnis zwischen Individuum und Staat ausgerichtet ist und die Wirtschaft nur am Rande behandelt. Dass er die Einrichtung von „Armenanstalten“ scharf kritisiert, passt ins Bild (2010b, 71, 94/134, 157). Immerhin sind manche Sätze in seiner Schrift zu finden, die zwar nicht auf die Situation der arbeitenden Klasse gemünzt sind, aber auf sie übertragen werden können: „Was nicht von den Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit.“ (ebd., 77/140) Wenn bei den Arbeitern der Mangel an Selbstbestimmung mit dem Mangel an Vielfalt, also mit der ermüdenden Monotonie ihrer Tätigkeit zusammentritt, so kommt es freilich auch bei denen, deren wirtschaftliche Situation günstiger ausfällt, zu Entwicklungen, die der von Humboldt gefeierten Vielfältigkeit entgegenstehen. Diese Entwicklungen werden von ihm wiederum dem Staat angelastet. Er beklagt nämlich, dass die „Absicht“ der Staaten „bei weitem mehr auf das geht, was der Mensch besizt, als auf das, was er ist“ (ebd., 61/124). Der Sache nach ist es freilich plausibler, die Perspektive umzudrehen und die Verschiebung vom Sein zum Haben nicht als Vorgabe des Staates, sondern als Vorhaben der ökonomischen Akteure anzusehen. Im Zuge dieser Verschiebung ergibt sich unweigerlich eine Angleichung der Individuen, also eben ein Verlust an Vielfältigkeit. Denn ihre Identität hängt dann nicht mehr an ihrem Sein, ihrer jeweils singulären Existenz, sondern an ihrem äußeren Besitz – und bei diesem geht es nicht mehr um Singularitäten, sondern um Äquivalenzen, also um messbare und vergleichbare Vermögen. Deshalb sagt Tocqueville – um ihn noch einmal zu zitieren –: „Die Liebe zum Reichtum ist […] gewöhnlich der Haupt- oder Nebenantrieb im Handeln der Amerikaner; das verleiht all ihren Leidenschaften einen verwandten Zug, und deren Bild ermüdet sehr bald. […] Sie werden sich auf diese Weise ähnlich, obwohl sie einander nicht nachgeahmt haben. Sie gleichen Wanderern, die in einem großen Walde verstreut sind, dessen Wege alle am gleichen Punkt einmünden.“ (Tocqueville 1987, 336f.) Humboldt bemerkt durchaus, dass es zu einer Verschiebung individueller Handlungsmotive auf äußere Güter kommt, aber ihm entgeht die Einförmigkeit, die damit generiert wird. So unterschätzt er die Gefahr, die nicht nur der freien Selbsttätigkeit, sondern auch der Vielfältigkeit in der ökonomischen Sphäre droht. 89
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Gesellschaft. Wenn hier von „Gesellschaft“ die Rede ist, so ist damit nicht ein Dachbegriff gemeint, der verschiedene Teilsysteme wie etwa Moral und Politik in sich enthält, sondern in dem engen Sinne Humboldts (2010b, 64/127) die Sphäre des geselligen oder gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen untereinander (vgl. den Kommentar der Herausgeber in Humboldt 2010f, 307). Humboldt lässt keinen Zweifel daran, dass er diese Sphäre als wahren Schauplatz der Entfaltung von Freiheit und Vielfältigkeit ansieht. Sogleich denkt man dabei an die Kultur der Salons, in denen sich die bürgerliche Öffentlichkeit entfaltet. Gemäß der oben eingeführten Unterscheidung zwischen der vertikalen Ausrichtung der Individuen auf staatliche Vorgaben und den horizontalen Beziehungen zwischen Individuen erscheinen letztere als Garant der Vielfalt. Dass Gesellschaft und Geselligkeit mit Blick auf Vielfalt durchaus ambivalente Effekte haben können, ist Humboldt leider entgangen – nicht aber seinem begeisterten Leser John Stuart Mill. Bei allem Lob für die „unqualified championship“ Humboldts (Mill 1985, 260) ist nicht zu übersehen, dass Mill dessen Theorie der Gleichförmigkeit um einen wichtigen Punkt erweitert. In Mills Kritik des Konformismus treten nämlich neben die Treiber, die vertikal wirken, also vom Staat ausgehen, auch Treiber, die horizontal wirken, also in der Gesellschaft generiert werden. Die entscheidenden Stichworte in diesem Zusammenhang sind „traditions or customs“ (Mill 2009, 160). Der Weg, auf dem Menschen Tradition oder Sitten übernehmen, erfolgt nach Mill über „imitation“, die – wenn sie ungeprüft und automatisch erfolgt – den Vorbehalt der Wahl, den Einsatz der Freiheit unterläuft und für Einförmigkeit sorgt: „He who does anything because it is the custom, makes no choice. […] If the grounds of an opinion are not conclusive to the person’s own reason, his reason cannot be strengthened, but is likely to be weakened, by him adopting it; and if the inducements to an act are not such as are consentaneous to his own feelings and character […] it is so much done towards rendering his feelings and character inert and torpid, instead of active and energetic. He who lets the world, or his own portion of it, choose his plan of life for him, has no need of any other faculty than the ape-like one of imitation.“ (ebd., 166) Mill erweitert hier Tocquevilles Kritik an der „Tyrannei der Mehrheit“ um eine Kritik an der „Tyrannei der Gewohnheit“, „despotism of custom“ (ebd., 200). Seine Konformismuskritik nimmt Gesichtspunkte vorweg, die in der Soziologie u. a. bei Gabriel Tarde, Thorstein Veblen, Robert Linton, Walter Lippmann und David Riesman zu finden sind. Im Unterschied zu Humboldt sieht Mill die eigentliche 90
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Gefahr für Vielfältigkeit und individuelle Energie nicht mehr in der Regelung von oben, also in dem „obedience“ erzwingenden „law“ (ebd., 172), sondern in der Anpassung des Verhaltens an soziale Rollen, an das, was in „my position […], my station and pecuniary circumstances“ erwartet wird. „Thus the mind itself is bowed to the yoke; even in what people do for pleasure, conformity is the first thing thought of; they like in crowds; they exercise choice only among things commonly done.“ (ebd., 174) Auch hier kann man wieder – wie beim Stichwort Wirtschaft – erwägen, ob die blinden Stellen, die sich in Humboldts Schrift finden, durch besondere historische Umstände bedingt sind oder ob daran systematische Schwächen zum Ausdruck kommen. Korrekturbedarf gibt es so oder so, wenn man denn um eine Aktualisierung Humboldts bemüht ist. Wiederum kann man mindestens Ansätze für eine solche Korrektur bei Humboldt selbst finden – weniger in seiner Frühschrift als z. B. in seinem „Plan einer vergleichenden Anthropologie“ von 1797. Hier kommt er auf den Staat als „Gesetzgeber“ zurück, der einen gleichmacherischen „Einfluss“ auf „den Charakter der Bürger“ ausübe. Auch wird als mächtigste Gegenkraft dagegen „der freie und alltägliche Umgang in engeren und weiteren Verbindungen“ erwähnt (Humboldt 2010d, 341–343). Immerhin aber berücksichtigt er neben dem Staat noch andere in der Gesellschaft wirksame Treiber der Gleichförmigkeit. Erwähnt wird etwa das Aufkommen von „Massen von Menschen“ und die Festlegung von „plumpen National- und Familiencharaktere[n]“, die der „Originalität“ feindlich seien. Konstatiert wird überdies die Neigung des Menschen, sich einzupassen und anzupassen: „Der Mensch ist allein genommen schwach […]. Er bedarf einer Höhe, auf die er sich stellen; einer Masse, die für ihn gelten; einer Reihe, an die er sich anschliessen kann.“ (ebd., 342, 346) Verwandte Überlegungen finden sich auch in Humboldts Sprachphilosophie, in der der „Zusammenhang des Einzelnen mit der ihn umgebenden Masse“ und die Einbindung in das Netz der Sprache betont werden. Diese Einbettung muss übrigens nicht als Absage an Spielräume angesehen werden, sie ist vielmehr als Voraussetzung menschlicher Bildung anzuerkennen, die dann darin besteht, die „Knoten“ dieses Netzes zu lösen (Humboldt 2010e, 410, 384f.). Analog zu der der Sprache innewohnenden Tendenz zur Erstarrung bringt demnach die Gesellschaft den Konformismus hervor. Doch wie die Sprache nach Humboldt nicht als ergon, sondern als energeia anzusehen ist, also an die „ewig wiederholende Arbeit des Geistes“ gebunden wird (ebd., 418), so kann auch die Gesellschaft in Bewegung 91
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gebracht werden. Die Kritik am gesellschaftlichen Konformismus könnte also in sein Modell eingebaut werden – und dies würde sein Plädoyer für Vielfältigkeit erschweren, aber nicht verunmöglichen.
Freiheit zwischen Innerlichkeit und Weltlichkeit – ein Blick auf die Bildungsdiskussion nach Humboldt Wer von Humboldt redet, darf von der Pädagogik nicht schweigen. Zu groß ist seine Wirkung in diesem Feld (vgl. den Beitrag von Roland Reichenbach in diesem Band sowie Rieger-Ladich 2020), und sie lässt sich nicht nur auf seine universitätspolitischen Initiativen, sondern auch auf seine Frühschrift beziehen – insbesondere auf die eingangs zitierte Passage, in der die „höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ an die „Freiheit“ und die „Mannigfaltigkeit der Situationen“ gebunden wird (2010b, 64/127). Ich möchte nun weniger Humboldts eigenen pädagogischen Ansätzen nachgehen, als vielmehr seine Freiheitstheorie als Ausgangspunkt nehmen, um einen kurzen Blick auf die spätere, von ihm entscheidend geprägte Debatte über Bildung zu werfen. Am Ursprung dieser Debatte steht Humboldts Vorschlag, die Bildung als Kombination der Freiheit als Selbsttätigkeit mit der Freiheit als Offenheit für die Welt in ihrer Mannigfaltigkeit aufzufassen. Mein Eindruck ist, dass dieser zweite Punkt in der Folgezeit an den Rand gedrängt und damit zugleich die Selbstentfaltung beschädigt wurde. Der Bildungsbegriff ist – unter Berufung auf Humboldt, aber gegen dessen Intention – zu einem individualistischen Konzept geworden. Diese Entwicklung lässt sich auf dem Weg von der bürgerlichen Idee der Entfaltung der Persönlichkeit über die Steigerung des eigenen Humankapitals und die sogenannte Selbstverwirklichung bis zur Selbstoptimierung unserer Tage nachzeichnen. Sie kann als Kontrast dienen, um Humboldts Freiheitsbegriff eine scharfe Kontur zu verleihen. Nur ein Kapitel aus der Geschichte des Bildungsbegriffs möchte ich herausgreifen, nämlich eine Debatte, die kurz vor Hitlers Machtergreifung vom Zaun gebrochen worden ist. Die Zeitumstände waren brisant, die beteiligten Personen prominent. (Ich übernehme im Folgenden einige Passagen aus Thomä 2012, 114–123.) 92
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Ein Ausgangspunkt der Debatte war Hans Weils Buch Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips, das 1930 erschien und auf einer von Karl Mannheim betreuten, von Kurt Riezler und Paul Tillich geförderten Frankfurter Habilitationsschrift basierte. Die Crème de la crème der damaligen Szene war involviert: Mannheim als einer der wichtigsten Soziologen seiner Generation, Kurt Riezler als – wie man heute sagen würde – Kanzler oder Verwaltungsdirektor der jungen Frankfurter Universität, Tillich als einer der wichtigsten protestantischen Theologen seiner Zeit. Es bedarf der Erwähnung, dass Weil, Mannheim, Riezler und Tillich ebenso wie die Mitglieder der Frankfurter Schule, die im engen Austausch mit ihnen standen, ins Exil getrieben wurden. Die zentrale Leistung von Weils Buch bestand im Aufweis einer „Doppelseitigkeit“ des Bildungsbegriffs, welcher zwischen zwei „polaren Begriffen“ schwanke, nämlich zwischen „Weltlichkeit“ einerseits, „Innerlichkeit“ oder „Innigkeit“ andererseits (Weil 1967, 8f., 18, 55). Diese Doppelung wurde von Weil im Rückgang auf Humboldt sowie auch mit Bezug auf Johann Gottfried Herder herausgearbeitet. Weil fasste die gerade geschilderte individualistische Wendung des Bildungsgedankens unter dem Stichwort der Resignation, nämlich als Entfernung des sich selbst entfaltenden Individuums von den sozialen und auch politischen Umständen, auf die es doch um der eigenen Entfaltung willen nach Humboldt angewiesen ist. Diese Entwicklung erschien Hans Weil als typisch deutsches Problem, das sich durch die Diskrepanz zwischen dem kulturellen Siegeszug des Bürgertums und dessen politischer Machtlosigkeit erklären lasse. Er sprach von der „Zusammengehörigkeit von Resignation, Verzicht auf Verbesserung der Welt und einer neuen und wertbetonten ‚Innerlichkeit‘“ (ebd., 254, vgl. 9, 52). „Soziale Resignation, persönliche Kritik, Selbstreflexion, Vertrauen auf das eigene Urteil waren Komponenten dieses nun immer größere soziale Breite gewinnenden qualitativen Individualismus.“ (ebd., 257) Daraus ergab sich nach Weil die Entstehung einer „Geisteselite“, die „die Jugendträume staatlicher Umformung“ aufgegeben habe, „ihrem Wesen nach apolitisch“ sei und „ein gesellschaftliches Dasein ‚neben‘ dem Staate zu erreichen“ suche (ebd., 163f., 196f.). „Das Ethos des […] Individualismus wurde aufgegriffen in einem Augenblick und in einem Lande, wo man ‚von außen zu bedeutenden Handlungen keineswegs angeregt wurde‘“ (ebd., 255). Bei dieser letzten Wendung, wonach die Individuen „von außen zu bedeutenden Handlungen keineswegs angeregt“ werden, handelt es sich übrigens um ein Zitat aus Goethes Dichtung und Wahrheit – und Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wanderjahre sind bekanntlich eine Schatzgrube, 93
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der sich sowohl Belege für ein individualistisches Bildungsprojekt wie auch Belege für die Verbindung von Selbstentfaltung und Sozialität entnehmen lassen. Hans Weils Überlegungen fanden um 1930 breiten Anklang. Auf Zuspruch stießen sie in Frankfurt, denn Weils Überlegungen passten zu denjenigen Tillichs zur sozialistischen „Gemeinschaft“ (Tillich 1933) und zu Riezlers Ideen zur produktiven Spannung zwischen „Freiheit und Gebundenheit“ (Riezler 1929). Der mit Abstand einflussreichste preußische Kulturpolitiker der Weimarer Republik, Carl Heinrich Becker, bezog sich äußerst positiv auf ihn (vgl. die Belege in Feidel-Mertz 1992, 391f.) und betonte die Verbindung zwischen individueller Bildung einerseits, Gemeinschaft und politischer Ordnung andererseits. Es klingt fremd in unseren Ohren, aber Becker, jeder Sympathie mit den Braunhemden unverdächtig, sprach z. B. davon, eine Brücke zwischen der universitären „Gemeinschaft“ und der „Volksgemeinschaft“ bauen zu wollen (Becker 1930, 34; Becker 1919, IX). Doch darf nicht die bösartige Rezeption verschwiegen werden, die Hans Weils Exposition des Bildungsgedankens erfahren hat. Zu den Lesern von Weils Buch, das – wie erwähnt – 1930 erschien, gehörte auch Hans Freyer, Autor des Pamphlets Revolution von rechts und ideologischer Munitionsproduzent der Nazis. Freyer musste sich mit Plagiatsvorwürfen auseinandersetzen (Laube 2004, 531–538), weil er diverse Formulierungen aus Weils Buch ohne weitere Kennzeichnung in seinem Aufsatz „Zur Bildungskrise der Gegenwart“ verwandte – in Übernahmen, die er freilich in seinem Sinne weiterdrehte und verdrehte. Freyer sah in der Bildung rundweg „etwas nicht Aktuelle[s]“, ein Relikt „aus einer anderen Welt“, mit der der „Individualismus“, die „Ideologie des Bürgertums“, im Sinne der Selbstentfaltung verklärt worden sei (Freyer 1930/31, 597–599, 601, 611). Von dieser Kritik war es für Freyer nur ein kleiner Schritt zu einem Kollektiv, welches er als „politische Willenseinheit“ und als „Volksganze[s]“ bezeichnete und bejahte: „Wir alle sind […] Masse.“ (ebd., 609, 612, 622f.) Ich habe bereits erwähnt, dass sich Hans Weil und der Kreis, in dem er sich bewegte, um 1930 im engen Austausch mit der Frankfurter Schule befand. Dass das Thema der Bildung in dieser Schule eine wichtige Rolle spielte, wurde erst in der Zeit nach 1945 deutlich – etwa in Adornos Texten zur Erziehung zur Mündigkeit und zur Erziehung nach Auschwitz. Die deutlichste Verbindung zu Hans Weil und damit auch zu Humboldt findet sich jedoch in der Rede, die Max Horkheimer als Rektor der Universität Frankfurt zur Immatrikulationsfeier 1952 hielt. Mit äußerster Härte erhob Horkheimer hier den Vorwurf, die Bildung operiere mit individualistischen 94
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Scheuklappen: „Die sogenannte Bildung der Persönlichkeit, die Verinnerlichung, die Rückwendung des gestaltenden Willens auf sich selbst, so viel Positives sie auch gewirkt haben mögen, trugen doch zweifellos zur Verhärtung der einzelnen Menschen, zum Hochmut, zum Privilegbewußtsein und der Verdüsterung der Welt bei. Indem unter dem Titel der Bildung der gestaltende Wille, und das heißt die Liebe, von der Realität auf das seiner eigenen Formung lebende Individuum sich zurückwandte, kündigte die Barbarisierung der Menschheit bereits im neunzehnten Jahrhundert sich an. Es könnte – weiter – in unserem Fall so sein, daß eine der geistigen Ursachen der Bildungskrise gerade im Festhalten des aufs vereinzelte Ich bezogenen Bildungsbegriff gelegen ist, in der Vergötzung des sich selbst genügenden Ichs, die vielleicht ein notwendiges historisches Durchgangsstadium, jedoch ganz und gar keine ewige Norm war.“ Horkheimer stellte sich die „Aufgabe, über den alten Bildungsbegriff […] hinauszugehen“. Er verfolgte die Absicht, eine andere Art von Bildung, die an „Entäußerung“ und welthaltige „Erfahrung“ gebunden ist, zu rehabilitieren (1985, 414f.). Eigentlich muss man die von Horkheimer gestellte Aufgabe aber anders formulieren: nämlich nicht als Hinausgehen „über den alten Bildungsbegriff “, sondern als Rückkehr zu demselben, nämlich zum Bildungsbegriff Humboldts, in dem die Freiheit als kraftvolle Selbstentfaltung mit der Freiheit als Entäußerung und Einlassung auf die Welt und mit Vergesellschaftung zusammengebracht wird. Schließen möchte ich mit einem Zitat aus Robert Musils „Der Dichter in dieser Zeit“ aus dem Jahr 1935: „Wilhelm v. Humboldt hat die bedeutende Individualität als eine Geisteskraft bezeichnet, die ohne Beziehung zum Gang des Lebens aufspringt und eine neue Reihe beginnt. Er sah in den schöpferischen Menschen Knotenpunkte, Quellstellen, die Vergangenes in sich aufnehmen und aus sich entlassen in einer neuen Gestalt […]. Dieses Bild ist individualistisch von Natur, aber es stellt diesen Individualismus auch völlig in das Ganze. Ich möchte hoffen, und nehme es auch an, daß sein Besitz an Wahrheit in angepaßter Form […] noch ein zweitesmal in der europäischen Entwicklung zur Wirkung kommen werde!“ (Musil 1983, 1255f.)
Literatur Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München/Zürich 2013. Becker, Carl Heinrich: Gedanken zur Hochschulreform. Leipzig 1919.
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5 Zwischen Perfektionismus und Libertarismus. Auf der Suche nach dem verlorenen Humboldt und einem neuen Liberalismus Michael G. Festl (St. Gallen)
Zerrissen Heute trifft man in der politischen Philosophie vor allem an zwei Stellen auf Wilhelm von Humboldt. Zum einen fungiert er als Stichwortgeber für diejenigen, die einen schmalen Staat fordern – Humboldt als Vorläufer des Libertarismus.1 Zum anderen dient er denjenigen als Beispiel, die vor zu hohen Erwartungen an individuelle Bildung als Erfüllung der menschlichen Daseinsform warnen – Humboldt als Vorläufer des Perfektionismus.2 In ersterem Fall ist der Bezug zu Humboldt also positiv. Es soll an ihn angeschlossen werden. In letzterem Fall ist der Bezug negativ. Er dient als abschreckendes Beispiel. Zwar existieren bei beiden Bewertungen Ausnahmen, die allgemeine Tendenz ist jedoch wie beschrieben. Wichtiger als diese unterschiedliche Wertung ist mir zunächst allerdings, dass diese beiden Herangehensweisen an Humboldt sachlich miteinander in Konflikt stehen – nicht in polarem Gegensatz zueinander, aber doch in einem Spannungsverhältnis. So geht es bei Humboldt dem Libertären um die Forderung, dass die Menschen in Ruhe gelassen werden. Es sollen möglichst keine Eingriffe in ihre persönlichen Verhältnisse stattfinden – vor allem keine staatlichen –, denn dies 1 2
Vgl. etwa Niazi (2019) und Chomsky (2005). Für einen Überblick Briese (2021). Hier habe ich, wie unten deutlich werden wird, vor allem John Rawls im Sinn. Vgl. zu Humboldt als Beispiel für Rawls’ Ablehnung des Liberalismus auch Giesinger (2021).
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bedeute eine Einschränkung ihrer Freiheit. Bei Humboldt dem Perfektionisten geht es dagegen um die Behauptung, dass es ein Ideal menschlichen Lebens gibt, das für alle Menschen gilt. Alle Menschen sollen, kurz gesagt, danach streben, sich selbst, insbesondere ihre geistigen Fähigkeiten zu perfektionieren. Einmal, bei Humboldt dem Libertären, sollen die Individuen in ihren Entscheidungen nicht eingeschränkt werden, ein anderes Mal, bei Humboldt dem Perfektionisten, werden sie einem Ideal des guten Lebens unterworfen. Libertarismus und Perfektionismus vertragen sich nicht miteinander3, und doch soll Humboldt für beide stehen. Nun kann man einwenden, dass kein Widerspruch besteht. Die Freiheit, die im ersten Fall propagiert wird, ist nämlich eine Freiheit vom Staat, dieser soll sich nicht einmischen. Die Freiheit, die im zweiten Fall limitiert wird, wird dagegen durch eine anthropologische Tatsache eingeschränkt, dadurch, dass es für Menschen nun mal so ist, dass sie ihre Erfüllung darin finden, sich (geistig) zu bilden. Es besteht, so könnte man argumentieren, kein Widerspruch, weil die Macht, welche die Freiheit jeweils einschränkt, eine je andere ist: einmal die künstliche Macht des Staates, das andere Mal die natürliche Macht der menschlichen Essenz. Erstere darf des Menschen Freiheit nicht einschränken, letztere schon. Das wäre die Unterscheidung, die den Widerspruch beseitigt. Jedoch kann auch diese Unterscheidung nichts daran ändern, dass wir einmal auf einen Humboldt treffen, der darauf insistiert, dass man den Menschen nichts vorschreiben darf, und das andere Mal auf einen Humboldt, der den Menschen etwas vorschreibt. Hinzu kommt, dass es unter den kantischen Autonomieannahmen, unter denen Humboldt operiert (vgl. Geier 2009), gerade darauf ankommt, sich von der Natur zu befreien. Deshalb wäre es verwunderlich, wenn Humboldt der Perfektionist die menschliche Natur als Autorität für das beste menschliche Leben heranziehen würde. Ohnehin verbindet Humboldt das Postulat zur Bildung weniger mit der Natur, als dass er in ihm einen Ausdruck menschlicher Freiheit sieht, Beweis von gelebter Autonomie. Somit existieren beim Blick auf die beiden Stellen, an denen sich die politische Philosophie heute auf Humboldt bezieht, zwei miteinander konfligierende Humboldts. Es mag hilfreich sein, diese beiden Humboldts mit Isaiah Berlin als den negativen und den positiven Humboldt zu bezeichnen. Der libertäre Humboldt fordert Freiheit von staatlicher Einmischung, der perfektionistische Humboldt Freiheit zu einer bestimmten und normativ gefüllten Lebensweise. 3
Siehe Hennings Perfektionismus-Studie (2015).
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Ich löse dieses Spannungsverhältnis ganz direkt und argumentiere, dass die Lesart von Humboldt als libertärem Denker falsch ist. Die Lesart von Humboldt als perfektionistischem Denker ist dagegen korrekt. Allerdings nehme ich dabei im Gegensatz zu den beiden unterschiedenen Bezugnahmen auf Humboldt an, dass dies beides auch gut ist – gut an Humboldt. Ich nehme also an, dass es gut ist, dass Humboldt kein Libertärer ist, eine Annahme, die ich im Raum stehen lassen werde. Dies auch deshalb, weil sie mir vor dem Hintergrund der politischen Landschaft der westlichen Welt heute wenig strittig zu sein scheint. Politisch ist der Libertarismus mittlerweile klar im Hintertreffen – man denke nur an die Corona-Hilfen als Spitze des Eisbergs der staatlichen Versuche, die Wirtschaft anzukurbeln und sie, wenn einmal ins Laufen gebracht, am Laufen zu halten. Ich nehme zudem an, dass es gut ist, dass Humboldt perfektionistisch ist. Auch wenn man in Sachen Perfektionismus nicht so weit gehen muss wie er, kann Humboldt dadurch Vorreiter für einen neuen Liberalismus werden. Dieser neue Liberalismus wird die Bescheidenheit und Neutralität abwerfen, die sich der Liberalismus im 20. Jahrhundert – mit heute spürbaren, teils verheerenden Folgen – angezogen hat, und wieder offensiver eine bestimmte Form des guten Lebens vertreten. Was für einen solchen, perfektionistisch angehauchten und dabei von Humboldt inspirierten Liberalismus spricht, werde ich am Ende soweit skizzieren, wie es der Umfang dieses Beitrags erlaubt. Der in der politischen Philosophie affirmierte Humboldt, der libertäre, ist also gar kein echter Humboldt. Der in der politischen Philosophie zurückgewiesene, der perfektionistische, ist dagegen ein Original, ein wertvolles noch dazu. Auf die Suche nach diesem verlorenen Humboldt – echt und gut – gehe ich in seiner Frühschrift Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, die Schrift, um die es in diesem Band geht. Die zwei erwähnten und miteinander in Spannung stehenden Bezugnahmen auf Humboldt beziehen sich nämlich beide vordringlich auf diese Schrift.
Die Non-Existenz des libertären Humboldt Die Vorstellung von Humboldt als libertärer Denker fällt nicht aus heiterem Himmel. Humboldts Grenzen-Schrift liefert ihr durchaus Anhaltspunkte. In der Tat ist es sogar so, dass diese Schrift als Handbuch des Libertarismus gelten kann, liefert sie doch, manchmal in nuce, manchmal in ausgefeilter Form, die wichtigsten 101
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Argumente für Laissez-faire und gegen staatliches Eingreifen in gesellschaftliche Belange, vor allem die Wirtschaft, wie sie auch heute die libertäre Debatte prägen. Dies ist allerdings nicht gleichbedeutend damit, dass Libertäre Humboldt auf ihrer Seite wissen können. Wie ich zeigen werde, liegen der konvergierenden Argumentation bezüglich Limitierung staatlicher Eingriffe nämlich gegenteilige Annahmen zugrunde – würde Humboldt die Annahmen des Libertarismus teilen, zöge er andere Schlüsse. Starten möchte ich jedoch mit der libertären Seite von Humboldts Schrift. Zunächst argumentiert Humboldt, dass staatliches Handeln zu „Einförmigkeit“ führt, ein Schimpfwort für Humboldt (2010b, 71/134). Dies sei speziell der Fall, wenn der Staat versucht, den „Wohlstand der Nation zu erhöhen“ (ebd.), aber auch wenn es um Bildung geht: „[Ö]ffentliche Erziehung […] muß, selbst wenn […] sie sich bloß darauf einschränken wollte, Erzieher anzustellen und zu unterhalten, immer eine bestimmte Form begünstigen“ (ebd., 105/168). Folge ist die gefürchtete Einförmigkeit. Darüber hinaus werde „jede Einschränkung verderblicher […], wenn sie sich auf den moralischen Menschen bezieht“, was eben gerade in der „Erziehung“, weil sie „das einzelne Individuum bilden soll“, der Fall ist (ebd.). Deshalb wollte Humboldt, dass die Universität, die heute seinen und seines Bruders Namen trägt, finanziell unabhängig vom Staat Preußen ist, eine Forderung, die sich nicht durchsetzen ließ. Humboldt bringt als weiteres Argument gegen staatliches Handeln vor, dass es individuelle Energie zurückdrängt. Unternimmt der Staat, was Individuen selbst unternehmen können, werden letztere der Motivation beraubt. Sie verlassen sich nicht länger auf sich selbst, sondern auf den Staat, und ruinieren dabei ihren Charakter. „Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern“ (ebd., 74/137). Dies wiederum hat Auswirkungen auf das Gemeinschaftsleben. Indem der Staat individuelles Bemühen verdrängt, zerstöre er auch private Assoziationen. Die Menschen würden nicht mehr direkt miteinander in Kontakt treten, sondern nur noch vermittelt über den Staat. Jedoch stellten gerade solche freiwilligen Vereinigungen und der Pluralismus, der aus ihnen entsteht, das „höchste Gut“ der Gesellschaft dar (ebd., 71/134). Daher spricht sich Humboldt auch gegen Sozialversicherungen aus: „Tödtet etwas Andres so sehr alles wahre Mitleid, alle hoffende, aber anspruchlose Bitte, alles Vertrauen des Menschen auf Menschen? Verachtet nicht jeder den Bettler, dem es lieber wäre, ein Jahr im Hospital bequem 102
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ernährt zu werden, als, nach mancher erduldeten Noth, nicht auf eine hinwerfende Hand, aber auf ein theilnehmendes Herz zu stossen?“ (ebd., 94/157). Das gelte auch für die Ehe als staatliche Institution. Diese hemme die Partner in der jeweiligen Ausschöpfung ihres Potentials. Speziell wenn Scheidungen verboten sind, müssen sich die Partner nicht mehr länger anstrengen, können sie ihr Gegenüber doch zumindest formal auch dann nicht verlieren, wenn sie sich gehen lassen – die individuelle Perfektionierung ist damit einer wichtigen Motivationsquelle beraubt (ebd., 81f./144f.). Des Weiteren erteilt Humboldt sogar der Einschränkung seiner staatskritischen Position eine Absage, dass Gefahren und Chancen staatlichen Handelns positiv mit dem Penetrationsgrad dieses Handelns korreliert sind. Selbst gering dosiertem staatlichem Handeln steht Humboldt skeptisch gegenüber. Dabei führt er das Argument in die Debatte ein, dass staatlichem Eingreifen eine Dammbruchgefahr inhärent ist. Einmal ins Laufen gebracht, sei es nicht mehr aufzuhalten: „[J]ede einschränkende Einrichtung kollidirt mit der freien und natürlichen Aeusserung der Kräfte, bringt bis ins Unendliche gehende neue Verhältnisse hervor, und so lässt sich die Menge der folgenden, welche sie nach sich zieht (selbst den gleichmässigsten Gang der Begebenheiten angenommen, und alle irgend wichtige unvermuthete Zufälle, die doch nie fehlen, abgerechnet), nicht voraussehn“ (ebd., 84/147). Staatliches Handeln erhöht die Komplexität des Zusammenlebens und führt folglich vermehrt zu Kollisionen, um welche sich dann wiederum der Staat zu kümmern hat, dabei, nach demselben Prinzip, wieder nur mehr Kollisionen hervorbringend usw. (ebd., 144/207). Dies beraube die Gesellschaft wertvoller Ressourcen für die Dinge, die wirklich zählen. Der Staatsapparat saugt zu viel Energie und zu viele Menschen in sich auf und macht diese Menschen wiederum uniform. „Dadurch werden nun nicht bloss viele, vielleicht trefliche Köpfe dem Denken, viele, sonst nützlicher beschäftigte Hände der reellen Arbeit entzogen; sondern ihre Geisteskräfte selbst leiden durch diese zum Theil leere, zum Theil zu einseitige Beschäftigung” (ebd., 85/148). Abschließend führt Humboldt noch das Argument konfligierender Logiken zwischen staatlichem Handeln und individueller Selbstbildung ein. Staatliches Handeln brauche „Wohlstand und Ruhe“, wozu es vor allem wichtig sei, dass „das einzelne weniger miteinander streitet“, das Ideal der individuellen Bildung dagegen brauche „Mannigfaltigkeit und Tätigkeit“: „Nur dies gibt vielseitige und kraftvolle Charaktere, und gewiß ist noch kein Mensch tief genug gesunken, um für sich selbst 103
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Wohlstand und Glück der Größe vorzuziehen. Wer aber für andre so räsoniert, den hat man, und nicht mit Unrecht, in Verdacht, daß er die Menschheit mißkennt und aus Menschen Maschinen machen will“ (ebd., 72/135). Selbst staatliches Handeln, das seine Ziele erreicht, die Erhöhung des Bruttoinlandprodukts etwa, sei schädlich. Mit „dem Grade“ der „Wirksamkeit“ staatlichen Handelns, steige nämlich auch dessen „Schädlichkeit“ – ein „Staat, in welchem die Bürger durch solche Mittel genötigt oder bewogen würden, auch den besten Gesetzen zu folgen, könnte ein ruhiger, friedliebender, wohlhabender Staat sein; allein er würde mir immer ein Haufe ernährter Sklaven […] scheinen“ (ebd., 142/205). So hätten Monarchien definitiv schon mal einen Vorteil gegenüber Republiken, behauptet Humboldt trotz seiner Bewunderung des alten Griechenlands: Monarchen scheren sich nicht um den Wohlstand ihrer Bürger (ebd., 107/170). Machen diese Argumente Humboldt nun zum Apologeten des Laissez-faire, zu einem Libertären? Ich denke nicht. Meine bisherige Darstellung der humboldtschen Position war nämlich einseitig. Wie sieht die andere Seite aus? Zunächst ist Humboldt ganz selbstverständlich für ein staatliches Gewaltmonopol. Es sei Pflicht des Staates, die Bürger vor innerer und vor äußerer Gefahr zu schützen. Dabei knüpft er an John Lockes Rechtfertigung staatlicher Herrschaft an. Ohne Gesetze, Richter und ein staatliches Gewaltmonopol lassen sich Konflikte zwischen Individuen nur schwer eindämmen, es „entstehen Kämpfe aus Kämpfen. Die Beleidigung fordert Rache, und die Rache ist eine neue Beleidigung. Hier muß man also auf eine Rache zurückkommen, welche keine neue Rache erlaubt – und diese ist die Strafe des Staats –, oder auf eine Entscheidung, welche die Parteien sich zu beruhigen nötigt, die Entscheidung des Richters“ (ebd., 95/158). Bis hierher würden auch viele Libertäre heute mitgehen. Doch mit der zweiten Einschränkung seiner staatskritischen Position gewinnt Humboldt Distanz zur Laissez-faire Position des Libertarismus – aber auch zur Demokratie. Diese zweite Einschränkung besteht darin, dass Humboldts Grenzen-Schrift annimmt, der Staat müsse monarchisch sein. Humboldt hält einen demokratischen Staat für ein Ding der Unmöglichkeit (zumindest beim Bildungsstand der Allgemeinheit zu seiner Zeit), eine Annahme, die ihm aufgrund des Scheiterns der Französischen Revolution wohl unumgänglich erschien. Was er über staatliches Handeln schreibt, bezieht sich folglich auf diese Regierungsform, eine konstitutionelle und repräsentative Monarchie, aber nicht auf einen republikanischen oder demokratischen Staat. 104
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Zwar macht Humboldt dies nicht explizit deutlich, was wiederum damit zusammenhängen mag, dass er die Debatte von der Frage nach der richtigen Regierungsform hin auf eine Debatte über den Penetrationsgrad staatlichen Handelns lenken möchte (ebd., 56/119). Aus der Terminologie, die er benutzt, den Unterscheidungen, die er zieht, und den Allianzen, die er schmiedet, wird es aber deutlich. So trennt Humboldt zwischen „Mensch“ und „Bürger“ (ebd., 106/169), wo ein demokratischer Staat doch auf der Idee fußt, dass Bürger-Sein einen Teil des menschlichen Seins ausmacht. Er nimmt eine Dichotomie zwischen „Staat“ und „Nation“ an (ebd., 72/135), wo die demokratische Regierungsform doch davon ausgeht, dass der Staat ein Instrument der Nation darstellt. Er sieht eine Unterscheidung zwischen den „Diener[n] des Staats“ und „dem regierenden Teile des Staats“ inklusive der Gefahr, dass der dienende Teil vom regierenden Teil, anstatt von der Nation selbst abhängig wird (ebd., 85/148), wo Demokratien doch unter der Prämisse operieren, dass das Regieren des Staates identisch mit dem Dienen des Staates ist und in Einklang mit dem vorherigen Punkt identisch mit dem Dienst an der Nation. Gleichzeitig wendet sich Humboldt gegen Mirabeau, den weisesten Führer der Französischen Revolution, als jemand, der zwar große Einsichten in das Politische hat, mit dessen Prinzipien – demokratische – er, Humboldt, aber nicht übereinstimmen könne (ebd., 169, 232, Fn. 1). Stattdessen lobt Humboldt ein Volk, das sich für die Monarchie entscheidet, als eines, das der „höchsten Freiheit“ habhaft geworden ist (ebd., 97/160). Folglich, wenn Humboldt darauf insistiert, dass der Staat in den privaten Bereich weder eingreifen noch sich um das Wohl der Bürger kümmern soll, bezieht er diese Ansichten nicht auf einen demokratischen Staat. In Einklang damit konzediert Humboldt, dass Fälle existieren, in welchen staatliches Handeln einen positiven Einfluss auf individuelle Bildung haben kann. Dies trifft zu, wenn dieses Handeln ausschließlich auf die „innere Entwickelung der Fähigkeiten und Neigungen“ abzielt (ebd., 121/184). Es ist die Antike – mit ihrer republikanischen Regierungsform! –, die für Humboldt den Beweis liefert, dass staatliches Handeln einen positiven Einfluss auf die Bürger ausüben kann. Die antiken Staaten hätten dies zustande gebracht, weil sie vor allem daran interessiert waren, „Kraft und Bildung des Menschen als Menschen“ zu entwickeln, wohingegen die modernen Staaten auf „seinen Wohlstand, seine Habe und seine Erwerbfähigkeit“ abzielen (ebd., 61/124): „Die Alten suchten Tugend, die neueren Glückseligkeit. Daher waren die Einschränkungen der Freiheit in den älteren Staaten auf der einen Seite drückender und gefährlicher. Denn sie griffen geradezu an, was des Menschen 105
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eigentümliches Wesen ausmacht, sein inneres Dasein […]. Auf der andren Seite erhielten und erhöheten aber auch alle diese Staatseinrichtungen bei den alten die tätige Kraft des Menschen“ (ebd.). Der Unterschied freilich ist, so Humboldt, dass die antiken Staaten Republiken waren, weshalb „ihre Anstalten […] Stützen der freien Verfassung“ darstellten, „welche die Bürger mit einem Enthusiasmus erfüllte, welcher den nachteiligen Einfluß der Einschränkung der Privatfreiheit minder fühlen und der Energie des Charakters minder schädlich werden ließ. […] Was die Alten von moralischen Mitteln anwenden mochten, Nationalerziehung, Religion, Sittengesetze, alles würde bei uns minder fruchten und einen größeren Schaden bringen“ (ebd., 104f./167f.). Mithin beweist die Antike, dass staatliches Handeln in der demokratischen Regierungsform der individuellen Bildung durchaus förderlich sein kann. Jedoch nimmt Humboldt, veranlasst durch die Folgen der Französischen Revolution, unter dessen Vorzeichen seine 1792 erschienene Schrift steht, eben auch an, dass die demokratische Regierungsform einer vergangenen Epoche angehört. Und in der modernen Zeit, der Epoche der monarchischen Regierungsform, ist staatliches Handeln der individuellen Bildung in neun von zehn Fällen abträglich. Wer heute mit Humboldts Schrift zu den Grenzen staatlichen Handelns argumentieren möchte, muss die historische Dimension dieser Schrift, insbesondere dessen Affirmation der Monarchie aus dem Geiste des Scheiterns der Französischen Revolution, im Auge behalten. Auf dieser Basis finden sich Verfechter des Libertarismus in einem Dilemma. Wollen sie Humboldts Schrift auf ihrer Seite im Kampf gegen einen aktiven Staat wissen, müssen sie Humboldt auch darin folgen, dass die Monarchie die einzig mögliche Regierungsform darstellt – wohl kaum eine attraktive Annahme für Freunde und Freundinnen der Freiheit. Auf der anderen Seite, wollen sie demokratisch bleiben, müssen sie Humboldts Ausführungen zur demokratischen Regierungsform ernst nehmen, wonach staatliches Handeln mit dem Ziel, individuelle Bildung zu erhöhen, in dieser Art von Regierung äußerst fruchtbar sein kann – eine Annahme, die dem Laissez-Faire-Ideal des Libertarismus entgegengesetzt ist. Somit scheint fraglich, ob Humboldt wirklich aus dem Holze gemacht ist, aus dem man Libertäre schnitzt. Die Dinge liegen m. E. vielmehr so, dass sich Libertäre von Humboldt lossagen müssen (so argumentiert auch Chomsky 2005 allerdings aus anderer Warte heraus). Dies ist wiederum nicht gleichbedeutend damit, dass Libertäre grundsätzlich falsch liegen – Humboldts Text lässt sich gleichwohl als Stichwortgeber des Laissez-faire verwenden. Ob Laissez-faire als 106
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Doktrin taugt, entscheidet die Realität, nicht irgendein Buch. Jedoch zwingt mein Blick auf Humboldt Libertäre dazu, sich von Humboldt selbst loszusagen. Er kann ihnen nicht als Galionsfigur dienen, kann aus ihrer Sicht nicht ‚Deutschlands größter Theoretiker der Freiheit‘ (F. A. von Hayek) sein. Es existiert noch eine dritte Einschränkung für die staatsskeptischen Aspekte in Humboldts Werk, und diese leitet bereits zum Perfektionismus über. Diese Einschränkung rührt daher, dass Bildung, nicht Freiheit, das oberste Ideal in Humboldts Denken ist (dazu mehr im nächsten Abschnitt). Humboldt versteht Freiheit gar als Mittel für Bildung. Somit hat er kein Problem damit, die Menschen darauf zu verpflichten, sich zu bilden. Er hat eine klare Vorstellung von dem, was die Menschen mit ihrer Freiheit anzufangen haben – sich bilden mittels Geisteswissenschaften und Kunst, dafür ist Freiheit gut. Humboldt und der Libertarismus unterhalten somit eine gegenteilige Vorstellung von Zielen und Mitteln. Für den letzteren ist Freiheit das Ziel, dem alles andere untergeordnet ist. Für ersteren dient die Freiheit der Bildung. Negative Freiheit – Steckenpferd des Libertarismus – ist Humboldts Sache also nicht. Er hat eine klare Vorstellung vom guten Leben und scheut sich nicht, diese auch anderen zu verordnen. Libertarismus und Humboldt, das geht, auch wenn letzterer ein wertvoller Stichwortgeber für ersteren sein mag, nicht zusammen.
Bildung und der perfektionistische Humboldt Der perfektionistische Humboldt existiert tatsächlich. Er kommt in dem Bildungsideal zum Ausdruck, das heute Humboldts Namen trägt. Bildung bedeutet darin die Entwicklung des Selbst zu einem harmonischen Ganzen. Wie der Bildhauer die wilde Natur eines Steins zu einer vollendeten Figur formt, eine Figur, die als Möglichkeit in diesem Stein bereits angelegt ist, vom Bildhauer jedoch verwirklicht werden muss, hat der Mensch die Anlagen zu entwickeln, die in ihm stecken. Der Mensch ist Bildhauer des Steins, der er selbst ist. Er muss sehen, welche Möglichkeiten in ihm stecken und eine dieser Möglichkeiten möglichst vollständig ausschöpfen – „die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen” hat er laut Humboldt zustande zu bringen (ebd., 64/127). Das Sich-Entwickeln zu einer frei gewählten und den eigenen Fähigkeiten entgegenkommenden Perfektion – Ganzheit –, ist für Humboldts Bildungsideal wesentlich. 107
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Diese Perfektion ist freilich als Idealisierung zu verstehen, als realiter nie zu erreichender Fixpunkt, denn, so Humboldt, die Entwicklungsmöglichkeiten des Selbst sind in jeder Hinsicht unendlich, „immer höhere Vollkommenheit“ ist das Ziel (ebd., 141/204). Humboldt hebt zwei Voraussetzungen für diese Ganzheit hervor. Beide sind bemerkenswert. Die erste vor allem deshalb, weil Humboldt darin das Freiheitsideal zu einem Mittel herabsetzt, und zwar zu einem Mittel für Bildung. Zwar braucht die Freiheit zunächst Bildung, doch ultimativ preist Humboldt die Freiheit nicht um ihrer selbst willen, sondern als notwendige Bedingung, um Humboldts höchste Ansprüche an Bildung zu verwirklichen (ebd., 64/127). Zuerst braucht es Bildung, um politische Freiheit zu ermöglichen. Die so gewonnene Freiheit ist dann aber wiederum wertvoll, um mehr Bildung zu generieren. Zweite Voraussetzung, um das Ziel der Ganzheitlichkeit zu erreichen, ist Pluralismus, „Mannigfaltigkeit der Situationen“ (ebd.). Individuen müssen Unterschieden ausgesetzt sein. Humboldt schwingt sich zu einem Helden der Abweichung auf, und das zu einer Zeit, die weit davon entfernt ist, der Abweichung auch nur einen potentiellen Wert zuzusprechen. Solange gegen kein Recht verstoßen wird, so Humboldt, ist jede Art von Denken und Verhalten zu akzeptieren, ja als Instanz von Pluralismus sogar zu begrüßen: „Wer Dinge äußert oder Handlungen vornimmt, welche das Gewissen und die Sittlichkeit des andren beleidigen, mag allerdings unmoralisch handeln, allein sofern er sich keine Zudringlichkeit zuschulden kommen läßt, kränkt er kein Recht. Es bleibt dem andren unbenommen, sich von ihm zu entfernen, oder macht die Lage dies unmöglich, so trägt er die unvermeidliche Unbequemlichkeit der Verbindung mit ungleichen Charakteren und darf nicht vergessen, daß vielleicht auch jener durch den Anblick von Seiten gestört wird, die ihm eigentümlich sind“ (ebd., 151/214). Je mehr Nonkonformität, desto mehr Pluralismus, desto mehr Chancen auf Bildung, eine Ursache-Wirkungs-Kette, die John Stuart Mill gut 70 Jahre später in den Mittelpunkt seiner Abhandlung Über die Freiheit stellen wird (Mill 1989). Die Ganzheit, für die Freiheit und Pluralismus Voraussetzungen darstellen, manifestiert sich, so Humboldt weiter, zum einen in der Kongruenz zwischen der Ausbildung der Fähigkeiten eines Individuums und seinen ursprünglichen Anlagen. Bei der Entwicklung seiner Fähigkeiten muss sich das Individuum an „dem Maße seines Bedürfnisses und seiner Neigung, nur beschränkt durch die Grenzen seiner Kraft und seines Rechts“ orientieren (ebd., 69/132). Insbesondere muss es seine 108
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individuelle Mischung aus „denkende[r] und empfindende[r] Kraft“ berücksichtigen (ebd., 141/204). Diese, einem jeden Menschen von Natur gegebene Mischung zwischen Rationalität und Gefühl bestimmt die konkreten Eigenschaften des für diese Person gelingenden Lebens – „das Glück, zu welchem der Mensch bestimmt ist, ist auch kein andres, als welches seine Kraft ihm verschafft“ (ebd., 75/138). Gelungene Ganzheitlichkeit impliziert Kongruenz zwischen Natur und Erziehung, zwischen dem, wozu das Individuum fähig ist, und dem, wozu es sich macht. Die zweite Dimension der Ganzheitlichkeit, abgeleitet aus der ersten, bezieht sich auf die Harmonie zwischen dem Individuum und dem, was es tut. Damit beugt Humboldt einem zu aristokratischen Konzept von Bildung vor. Trotz dem Bezug zu natürlich gegebenem Talent ist Bildung für Humboldt eine Angelegenheit für jedermann und jederfrau. Die Entwicklung des eigenen Selbst mittels Bildung trifft auf jede Art von Beruf zu, insistiert Humboldt, und kritisiert dabei sogar die alten Griechen, welche er ansonsten als Paradebeispiel exzellenter Erziehung anführt. Deren Institution der Sklaverei zeuge von Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass eine „[j]ede Beschäftigung […] den Menschen zu adeln, ihm eine bestimmte, seiner würdige Gestalt zu geben“ vermag (ebd., 78/141). Die Art, wie ein Beruf ausgeführt wird, nicht der Beruf selbst bestimmt den Wert des Berufes, doziert Humboldt. Dabei leitet er die allgemeine Regel ab, dass eine jede Beschäftigung das Individuum veredelt, solange diese Beschäftigung um ihrer selbst willen getan wird. In diesem Sinne müsse die Gesellschaft darauf abzielen, auch seine „Bauern und Handwerker“ zu „Künstler[n]“ zu „bilden“, ergo, zu „Menschen, die ihr Gewerbe um ihres Gewerbes willen liebten, durch eigengelenkte Kraft und eigne Erfindsamkeit verbesserten und dadurch ihre intellektuellen Kräfte kultivierten, ihren Charakter veredelten, ihre Genüsse erhöhten“ (ebd., 76/139). Humboldts Erziehungsideal kulminiert in der Ganzheit der Menschheit. Die Selbstbildung, nach der Individuen streben (sollten), kommt in verschiedensten Formen. Gleichwohl, eingedenk der Kürze des eigenen Lebens, könne jedes Individuum je nur eine bestimmte Art von Selbstbildung erreichen. Humboldt nimmt an, dass es eine große Menge verschiedener und je an sich wertvoller Selbstbildungen gibt. Diese verschiedenen Selbstbildungen zusammengenommen ergeben wiederum eine allumfassende Ganzheit auf der Ebene der Menschheit: „Denn auch durch alle Perioden des Lebens erreicht jeder Mensch dennoch nur eine der Vollkommenheiten, welche gleichsam den Charakter des ganzen Menschengeschlechts bilden“ (ebd., 64/127). Individuelle Selbstbildung kenne gar 109
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so viele verschiedene Formen, dass selbst eine ganze Zeitperiode nicht ausreicht, um alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Nur die Geschichte der Menschheit als Ganzer sei in der Lage, diese vollständige Ganzheit zu erreichen. Nur wenn wiederum diese verschiedenen Zeitperioden kombiniert werden, und alle individuellen Selbstbildungen in ihnen, entsteht Perfektion, die Ganzheitlichkeit der Menschheit als solcher, „Bild einer wunderbaren Vielseitigkeit“ (ebd., 214/277). Das ist Humboldts Version einer Philosophie der Geschichte, bei ihm vor allem eine Rückversicherung, dass obwohl alles auf dem Individuum aufbaut, alles doch auch einen größeren Sinnzusammenhang kennt. Zudem ist diese Geschichtsphilosophie um Erziehung zentriert, nicht wie üblich um Politik oder um Philosophie. Daher ist Humboldt, so zeigt er in seinen „Betrachtungen über die Weltgeschichte“, stolz darauf, dass die zentrale Einheit des Fortschritts in seinem Konzept nicht wie sonst in einer „abstract gedachten Vollkommenheit“ zu finden ist, sondern „in der Entwicklung eines Reichtums großer individueller Formen“ (Humboldt 2010a, 576). Die Ganzheit der Menschheit ist folglich Resultat individueller Selbstgestaltungen in Richtung einer autonom bestimmten, möglicherweise gar idiosynkratischen Ganzheit. Die individuelle Selbstgestaltung ist, was für Humboldt zählt, die Ganzheit der Menschheit, kommt als angenehme Nebenwirkung heraus. Das humboldtsche Bildungsideal ist perfektionistisch, indem es eine klare Vorstellung des guten Lebens kennt. Das gute Leben ist ein der Bildung gewidmetes Leben. Bildung, nicht Freiheit, ist, wie festgestellt, das höchste Gut bei Humboldt. Dies trennt ihn nicht nur vom Libertarismus, sondern macht ihn zugleich zum Vertreter des Perfektionismus. Im Unterschied zum Freiheitsideal, das es dem Individuum ja gerade freistellen möchte, was es je für sich zum höchsten Gut erhebt, ist Humboldts Bildungsideal bereits ausgefüllt. Über die soeben beschriebene formale Natur hinaus ist es auch inhaltlich gefüllt – und zwar mit Geisteswissenschaft und Kunst. Diesen beiden Gegenständen sollen die Menschen sich widmen. Dann ist ihr Leben wahrhaft lebenswert. Zwar ist sich Humboldt bewusst, dass viele Menschen unter Bedingungen geboren werden, die es ihnen schlicht nicht erlauben, sich um Geisteswissenschaften und Kunst zu kümmern. Deshalb bietet er als Surrogat die Idee an, dass jede Tätigkeit den Menschen auszeichnet, wenn sie um ihrer selbst willen getan wird. Trotzdem lässt Humboldt keinen Zweifel daran, dass er auch innerhalb all der Tätigkeiten, die um ihrer selbst getan werden, eine Hierarchie kennt – mit dem Studium der Künste und Geisteswissenschaften an der Spitze. 110
5 Zwischen Perfektionismus und Libertarismus.
Humboldt und die Neuausrichtung des Liberalismus Humboldt ist also kein Libertärer, wohl aber ein Perfektionist. Nun hatte der Perfektionismus in den letzten Jahrzehnten eine schlechte Presse – gerade unter Liberalen, also Freunden der Freiheit, zu denen Humboldt zweifelsohne gerechnet werden darf (Libertarismus und Liberalismus haben gemeinsam, die Freiheit in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu stellen, doch im Unterschied zu Libertären nehmen Liberale an, dass der Staat hierbei viele wertvolle Dienste leisten kann, etwa in Sachen Bildung, Sozialversicherung oder als Akteur, der den wirtschaftlichen Konjunkturverlauf positiv beeinflusst). Der von John Rawls 1971 in A Theory of Justice formulierte und den Liberalismus seitdem prägende Vorwurf gegen den Perfektionismus lautet, dass das Konzept des guten Lebens, mit dem er einhergeht, die Freiheit der Individuen einschränkt, für sich selbst zu entscheiden, was das gute Leben für sie jeweils bedeuten soll. Individuen sollen ihre je eigene Vorstellung des guten Lebens verfolgen können, und diese muss nicht unbedingt liberal sein. Folglich wirft Rawls auch liberalen Perfektionistinnen und Perfektionisten vor, das Neutralitätsgebot zu verletzen, welches eine politische Konzeption wahren sollte, die auf individuelle Freiheit abzielt. Dabei braucht es nicht viel, um sich mit dem Vorwurf des Perfektionismus im rawlsschen Sinne konfrontiert zu sehen. Schon Kant und Mill, beileibe keine politischen Eiferer, fallen darunter: „The liberalisms of Kant and Mill may lead to requirements designed to foster the values of autonomy and individuality as ideals to govern much if not all of life“ (2003, 156). Dies geht Rawls bereits zu weit, weshalb seine eigene Konzeption nach viel weniger strebe („requires far less“) (ebd.). Die Individuen, welche in Rawls’ imaginiertem Naturzustand die Prinzipien des von ihnen zu gründenden liberalen Staates festlegen, wissen zwar, dass jedes von ihnen eine Theorie vom guten Leben haben wird, nicht jedoch welche. So werden sich deren staatliche Einrichtungen gegenüber konkreten Konzeptionen des guten Lebens neutral verhalten, solange selbige mit den ganz grundsätzlichen, eng definierten Gerechtigkeitsvorstellungen eines liberalen Staates übereinstimmen. Auf diese Weise wird der Wert des Individualismus, welcher den Liberalismus fundiert, verteidigt, wenn es um die grundsätzliche Ausgestaltung politischer Institutionen geht, in allem darüber hinaus, insbesondere in der Vorstellung darüber, was ein gutes Leben ausmacht, darf dieser Wert jedoch nicht offensiv vertreten 111
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werden.4 Folglich wendet sich der rawlssche Liberalismus, und das ist der heute dominierende, auch und gerade gegen Humboldts Perfektionismus. Rawls insistiert, dass liberale Konzeptionen dem Perfektionismus abschwören und keinerlei Theorie des guten Lebens vertreten.5 Nun ist der Liberalismus heute aber unter Druck wie selten zuvor. Das gilt sogar für seine historischen Kernländer USA und Großbritannien, wo zentrale Errungenschaften des Liberalismus – etwa das one-man-one-vote Prinzip dort und die Mitgliedschaft in einer supranationalen, friedenssichernden und ökonomisch sinnvollen politischen Einheit hier – in Frage stehen. Erst recht aber ist mittlerweile die Hoffnung des ausgehenden 20. Jahrhunderts aufzugeben, dass der Liberalismus global auf dem Vormarsch ist. Nicht einmal in Osteuropa, eine Region, wo er nach dem Fall des Eisernen Vorhangs der logisch nächste Schritt zu sein schien, kann er sich durchsetzen. So liegt es – nimmt man an, dass politische Philosophie auch tatsächlich wirkmächtig ist – nahe, die neue Stagnation des Liberalismus mit der neutralen Auslegung desselben von Rawls in Verbindung zu bringen. Ich nehme folglich an, dass Rawls’ Laissez-Penser-Liberalismus mitverantwortlich für den internationalen Machtverlust des Liberalismus ist. Zwar geht eine auch nur annähernd erschöpfende Erklärung dieser kausalen Beziehung über die Grenzen dieses Aufsatzes hinaus, erst recht, wo diese Frage Teil des notorisch schwierigen Zusammenhangs zwischen Theorie und Praxis ist. Jedoch erhärtet nicht zuletzt das Scheitern des Liberalismus in weiten Teilen Osteuropas, inklusive Russlands, wie Krastev und Holmes es in ihrem Erfolgsbuch The Light that Failed (2019) beschreiben, die Vermutung, dass das rawlssche liberale Denken, indem es die weltanschauliche Neutralität zur Bürgerpflicht erhebt, un-, ja gar anti-liberalen politischen Ergebnissen erheblichen Vorschub leistet. Wie Krastev und Holmes darlegen, konnte der Liberalismus nach 1989 kaum emotionale Anziehungskraft für große Teile der Bevölkerung Osteuropas gewinnen. Dieser Liberalismus verzichtete entlang der von Rawls markierten Linien auf jegliche Theorie des guten Lebens und insistierte unter dem Stichwort Washington Consensus einzig und allein auf die sofortige Öffnung aller Marktschranken und die Privatisierung ehemaliger Staatsbetriebe.
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In späteren Werken, besonders Political Liberalism (2005), verstärkt Rawls seine Zurückhaltung in Sachen Weltanschauung eher noch. Vgl. die Ausführungen in Rawls (1999, Kap. 50). Ausführlich zum Zusammenhang zwischen Rawls und Perfektionismus Henning (2015).
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5 Zwischen Perfektionismus und Libertarismus.
Man traf dort also auf einen Liberalismus, der möglichst ohne Werte auskommen wollte, mit Ausnahme des Werts des US-Dollars. Auch wenn Rawls nicht vorzuwerfen ist, dass er den Liberalismus auf ökonomische Werte verengt, passt diese Art von Liberalismus gut zu der weltanschaulichen Enthaltsamkeit, die Rawls predigt – einzig das neutrale Tauschmedium Geld eignet sich unter solchen intellektuellen Vorzeichen noch als etwas, das weltanschauungsübergreifende Gültigkeit reklamieren kann. Mittlerweile, noch angefeuert durch die nachvollziehbare Enttäuschung darüber, dass die meisten Menschen Osteuropas von den versprochenen Dollars nicht allzu viel abbekamen, hat sich vor allem der Nationalismus erfolgreich darin erwiesen, durch das Einfallstor hindurchzumarschieren, das Rawls’ weltanschaulich neutraler Liberalismus alternativen Theorien vom guten Leben eröffnete. Die strikte Beschränkung des Werts der Individualität auf das Politische und die Ablehnung, diesen Wert auch in Sachen Weltanschauung zu proklamieren, bereitete, so meine Vermutung, dem Nationalismus den Weg. Es steht zu vermuten, dass Rawls unterschätzt hat, wie sehr auch der Erfolg des Liberalismus, und sei es nur als politische Konzeption, davon abhängt, dass seine Vorteile offensiv proklamiert werden. Hält man diese These, welche ich hier wie gesagt nicht weiter erhärten kann, für plausibel, drängt sich der Schluss auf, dass die Wiederbelebung des Liberalismus nur mit einem Liberalismus gelingen kann, der, was Fragen des guten Lebens betrifft, offensiver auftritt. Den Rest dieses Aufsatzes widme ich der Frage, inwieweit Humboldts Perfektionismus einem solchen Liberalismus die Richtung weisen kann. Dazu unterscheide ich in Humboldts Perfektionismus zwischen einem substanziellen und einem ideellen Teil. Ersterer definiert Werte, die verfolgen muss, wer die universell beste Form menschlichen Lebens anstrebt. Dies macht Humboldt, wenn er Geisteswissenschaften und Künste als oberste Werte festlegt. Dieser Aspekt von Humboldts Perfektionismus sollte in der Neuausrichtung des Liberalismus m. E. keine Rolle spielen. Er ist mit dem Pluralismus unserer Zeit nicht vereinbar. Es gibt keine Basis mehr, um zu entscheiden, dass Geisteswissenschaften und Künste objektiv höherwertig sind als etwa Naturwissenschaft und Basketball. Diese Basis gab es auch zu Humboldts Zeit nicht. Doch der soziologische Unterschied ist, dass Intellektuelle heute nicht mehr das Selbstverständnis haben, das Schöne, das Gute und das Gerechte gemäß ihren eigenen Vorlieben zu definieren. Eine derartige Engführung verträgt sich nicht mit einer Zeit, in der Thai-Curry in 10 verschiedenen Geschmacksrichtungen, Abendkleider in 20 verschiedenen Schnitten und Sportwägen in 30 verschiedenen Farbvarianten erhältlich sind. Genauso wenig 113
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passt sie zur Demokratie und der Tatsache, dass Intellektuelle in ihr bei Wahlen auch nur eine Stimme haben. Den ideellen Perfektionismus Humboldts halte ich dagegen für wertvoll. Er hat das Potential, einen neuen Liberalismus zu inspirieren. Anstatt die Frage nach dem guten Leben mit konkreten Tätigkeiten zu füllen, bietet er mit seinem Lob der individuellen Bildung ein abstraktes Ideal des guten Lebens jenseits der Maximierung von Dollars und gegen nationalistische Versuchungen. Wenn Humboldt „die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ (siehe oben) zum Ideal des gelingenden Lebens erhebt, ist das ein Gegenprogramm zur Enthaltsamkeit in Sachen Werte, die Rawls dem Liberalismus verschreibt. Die Kernidee des Liberalismus, nämlich Freiheit und Wohl des Individuums in den Mittelpunkt aller philosophischen Überlegungen zu stellen, umspannt in Humboldts Konzeption auch die Theorie des guten Lebens und gibt sich nicht damit zufrieden, politische Minimalbedingungen abzuleiten. Humboldts Liberalismus kommt mit einer Position zu der Frage, welche ideelle Einstellung das Leben lebenswert macht. Unterstützend knüpft er daran in der Folge auch noch andere Werte, insbesondere die Autonomie als die Bedingung, je selbst zu definieren, welche Art von Bildung bzw. Perfektion angestrebt wird. Mit seinem abstrakten, auf das Individuum abzielenden, aber noch von jedem Menschen mit konkreten Tätigkeiten zu füllendem Ideal scheint mir Humboldt die richtige Dosis an Verpflichtung auf eine Theorie vom guten Leben zu finden. Einerseits konzediert der ideelle Teil von Humboldts Perfektionismus gegenüber Rawls, dass eine Hierarchie der besten Tätigkeiten heute nicht mehr formuliert werden kann. Andererseits geht Humboldt dabei nicht soweit, sich gegenüber allen, außer den politisch unbedingt notwendigen Werten, neutral zu verhalten. Er hält vielmehr daran fest, dass Liberal-Sein auch eine gewisse Art zu leben umfasst, nämlich eine Art, die das individuelle Gedeihen, nicht das Gedeihen von Nationen oder anderen Kollektivsubjekten, in den Mittelpunkt stellt. Ein Liberalismus, der in diesem Sinne für eine Theorie des guten Lebens einsteht, sollte besser in der Lage sein, sich gegen andere Doktrinen zur Wehr zu setzen. Insbesondere das Bekenntnis zu individuellen Zielsetzungen, das in Humboldts Wendung steckt und selbige liberal macht, bietet ein Gegenprogramm zum Nationalismus und dessen Höhergewichtung kollektiver Werte. Ein derartiges Bekenntnis zum Individuum, auch und erst recht, wenn es um die Frage nach dem guten Leben geht, anstatt nur um die politischen Minimalbedingungen des sicheren Zusammenlebens, fehlt bei Rawls, da es dessen weltanschauliches 114
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Neutralitätspostulat verletzt. Doch von Humboldt kann der Liberalismus lernen, dass des Liberalismus Wertschätzung des Individuums, wenn es sich am Markt der Weltanschauungen durchsetzen möchte, die Frage nach dem guten Leben inkludieren muss. Es ist vielleicht erst diese Inklusion, die Menschen dazu veranlasst, sich zu einer philosophischen Schule zu bekennen, und damit eine rechtmäßige Erwartung an jede philosophisch-weltanschauliche Theorie – auch an den Liberalismus. Jedenfalls scheint Rawls’ Neutralitätsliberalismus gerade dort unfähig zu sein, den Liberalismus attraktiv zu machen, wo er historisch, wie in den Ländern Osteuropas größtenteils der Fall, nicht schon ohnehin fest verwurzelt ist. Mit dem Selbstbild des Liberalismus vor der rawlsschen Wende ist ein Liberalismus mit Theorie vom guten Leben allemal vereinbar. Viele Größen des Liberalismus, etwa Constant und Mill – letzterer war von Humboldts Ideal des gelingenden individuellen Lebens übrigens massiv angeregt –, waren dem zugetan.6 Dies gilt erst recht, wenn man die Tradition des Liberalismus breiter spannt und etwa Goethes Wilhelm-Meister-Romane hinzuzählt, Emerson, Arnold und vielleicht sogar einige Aspekte im Denken Nietzsches. Angesichts der Krise, in die Rawls’ neutraler Liberalismus die liberale Welt geführt hat, scheint es sinnvoll, sich auf den weltanschaulich nicht-neutralen Liberalismus zurückzubesinnen. Mit ihm könnte sich verlorenes Land und aus liberal Sicht ungleich wichtiger könnten sich verlorene Geister zurückgewinnen lassen. Dies sind natürlich nur Andeutungen am Ende eines Aufsatzes, in dessen Mittelpunkt andere Dinge standen. Im Idealfall weisen diese Andeutungen einer Neukonstruktion des Liberalismus aber die Richtung – mit Humboldt mehr Perfektionismus wagen, könnte das Motto eines neuen Liberalismus sein.
Literatur Briese, Olaf: Anarchismus. In: Michael G. Festl (Hg.): Handbuch Liberalismus. Stuttgart 2021, 305–312. Chomsky, Noam: Government in the Future. New York 2005. Geier, Manfred: Die Brüder Humboldt. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2009.
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Für Constant vgl. die Studie Rosenblatts (2008). Mill stellt seinem liberalen Hauptwerk On Liberty (1989) ein Zitat Humboldts voran.
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Michael G. Festl (St. Gallen) Giesinger, Johannes: Bildung. In: Michael G. Festl (Hg.): Handbuch Liberalismus. Stuttgart 2021, 255–262. Henning, Christoph: Freiheit, Gleichheit, Entfaltung. Die politische Philosophie des Perfektionismus. Frankfurt a. M./New York 2015. Humboldt, Wilhelm von: Betrachtungen über die Weltgeschichte. In: Werke in fünf Bänden. Hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Darmstadt 2010a, 567–577. Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. In: Werke in fünf Bänden. Hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Darmstadt 2010b, 56–233. Krastev, Ivan/Holmes, Stephen: The Light that Failed. A Reckoning. London 2019. Mill, John Stuart: On Liberty and Other Writings. Cambridge 1989. Niazi, Nahyan: Die anarchistische Geisteshaltung. Vom libertär-sozialistischen Perfektionismus Rudolf Rockers unter Bezugnahme auf Wilhelm von Humboldts Liberalismus. In: Klaus Mathis/Luca Langensand (Hg.): Anarchie als herrschaftslose Ordnung? Berlin 2019, 37–78. Rawls, John: A Theory of Justice. Revised Edition. Cambridge, Ma. 1999. Rawls, John: Justice as Fairness. A Restatement. Cambridge, Ma. 2003. Rawls, John: Political Liberalism. Expanded Edition. New York 2005. Rosenblatt, Helena: Liberal Values. Benjamin Constant and the Politics of Religion. Cambridge 2008.
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Im Folgenden handelt es sich um ein Faksimile von Humboldts Ideen-Schrift aus der folgenden Ausgabe: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. In: Werke in fünf Bänden. Hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Darmstadt 2010, 56–233. Querverweise innerhalb des folgenden Textes beziehen sich daher auf diese Ausgabe. Um einem dieser Querverweise in der hier abgedruckten Ausgabe zu folgen, müssen zur angegebenen Seitenzahl 63 Seiten hinzugerechnet werden. Beispiel: Wenn im Text auf Seite 100 querverwiesen wird, handelt es sich um Seite 163 in der hier abgedruckten Ausgabe.
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I. Einleitung
sehenden, und dienenden Theils der Nation, und alles dessen, was zur wirklichen Einrichtung der Regierung ge hört, dann die Bestimmung der Gegenstände, auf welche die einmal eingerichtete Regierung ihre Thätigkeit zu gleich ausbreiten, und einschränken muss. Diess Leztere, welches eigentlich in das Privatleben der Bürger eingreift, und das Maass ihrer freien ungehemmten Wirksamkeit bestimmt, ist in der That das wahre, lezte Ziel, das erstere nur ein nothwendiges Mittel, diess zu erreichen. Wenn in dess dennoch der Mensch diess I Erstere mit mehr ange strengter Aufmerksamkeit verfolgt; so bewährt er dadurch den gewöhnlichen Gang seiner Thätigkeit. Nach Einern Ziele streben, und diess Ziel mit Aufwand physischer und moralischer Kraft erringen, darauf beruht das Glük des rüstigen, kraftvollen Menschen. Der Besiz, welcher die angestrengte Kraft der Ruhe übergiebt, reizt nur in der täuschenden Phantasie. Zwar existirt in der Lage des Menschen, wo die Kraft immer zur Thätigkeit gespannt ist, und die Natur um ihn her immer zur Thätigkeit reizt, Ruhe, und Besiz in diesem Verstande nur in der Idee. Allein dem einseitigen Menschen ist Ruhe auch Aufhören Einer Aeusserung, und dem Ungebildeten giebt Ein Ge genstand nur zu wenigen Aeusserungen Stoff. Was man daher von dem Ueberdruss am Besize, besonders im Ge biete der feineren Empfindungen, sagt, gilt ganz und gar nicht von dem Ideale des Menschen, welches die Phantasie zu bilden vermag, im vollesten Sinne von dem ganz Un gebildeten, und in immer geringerem Grade, je näher immer höhere Bildung jenem Ideale führt. Wie folglich, nach dem Obigen, den Eroberer der Sieg höher freut, als das errungene Land, wie den Reformator die gefahrvolle Unruhe der Reformation höher, als der ruhige Genuss ihrer Früchte; so ist dem Menschen überhaupt Herrschaft reizender, als Freiheit, oder wenigstens Sorge für Erhal tung der Freiheit reizender, als Genuss derselben. Freiheit ist gleichsam nur die Möglichkeit einer unbestimmt man nigfaltigen Thätigkeit; Herrschaft, Regierung überhaupt zwar eine einzelne, aber wirkliche Thätigkeit. Sehnsucht
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I. Einleitung
Ebenso sind die Mittel, durch welche die Reform zu be wirken stände, einer fortschreitenden Bildung, wenn wir eine solche annehmen, bei weitem angemessener. Wenn sonst das gezükteSchwerdt der Nation die physische Macht des Beherrschers beschränkt; so besiegt hier Aufklärung und Kultur seine Ideen, und seinen Willen, und die um geformte Gestalt der Dinge scheint mehr sein Werk, als das Werk der Nation zu sein. Wenn es nun sdion ein schöner, seelenerhebender Anblik ist, ein Volk zu sehen, das im vollen Gefühl seiner Menschen und Bürgerredite seine Fesseln zerbricht; so muss - weil, was Neigung oder Achtung für das Gesez wirkt, schöner und erhebender ist, als was Noth und Bedürfniss erpresst - der Anblik I eines Fürsten ungleich schöner und erhebender sein, welcher selbst die Fesseln löst und Freiheit gewährt, und diess Geschäft nicht als Frucht seiner wohlthätigen Güte, son dern als Erfüllung seiner ersten, unerlasslichen Pflicht be trachtet. Zumal da die Freiheit, nach welcher eine Nation durch Veränderung ihrer Verfassung strebt, sich zu der Freiheit, welche der einmal eingerichtete Staat geben kann, eben so verhält, als Hofnung zum Genuss, Anlage zur Vollendung. Wirft man einen Blik auf die Geschichte der Staatsver fassungen; so würde es sehr schwierig sein, in irgend einer genau den Umfang zu zeigen, auf welchen sich ihre Wirk samkeit beschränkt, da man wohl in keiner hierin einem überdachten, auf einfachen Grundsäzen beruhenden Plane gefolgt ist. Vorzüglich hat man immer die Freiheit der Bürger aus einem zwiefachen Gesichtspunkte eingeengt, einmal aus dem Gesichtspunkte der Nothwendigkeit, die Verfassung entweder einzurichten, oder zu sichern; dann aus dem Gesichtspunkte der Nüzlichkeit, für den physi schen, oder moralischen Zustand der Nation Sorge zu tragen. Je mehr oder weniger die Verfassung, an und für sich mit Macht versehen, andre Stüzen brauchte; oder je mehr oder weniger die Gesezgeber weit ausblikten, ist man bald mehr bei dem einen, bald bei dem andren Gesichts punkte stehen geblieben. Oft haben auch beide Rüksichten
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I. Einleitung
kehrt die Aehnlichkeit mit den älteren Staaten zurük, in dem insofern diese Einrichtungen gleichfalls auf die Er haltung der Verfassung abzwekken. Was aber diejenigen Einschränkungen betrift, welche nicht sowohl den Staat, als die Individuen, die ihn ausmachen, zur Absicht haben; so ist und bleibt ein mächtiger Unterschied zwischen den älteren und neueren Staaten. Die Alten sorgten für die Kraft und Bildung des Menschen, als Menschen; die Neue ren für seinen Wohlstand, seine Habe und seine Erwerb fähigkeit. Die Alten suchten Tugend, die Neueren Glük seligkeit. Daher waren die Einschränkungen der Freiheit in den älteren Staaten auf der einen Seite drükkender und gefährlicher. Denn sie griffen geradezu an, was des Men schen eigenthümliches Wesen ausmacht, sein inneres Dasein; und daher zeigen alle ältere Nationen eine Einseitigkeit, welche (den Mangel an feinerer Kultur, und an allgemei nerer Kommunikation noch abgerechnet) grossentheils durch die fast überall eingeführte gemeinschaftliche Er ziehung, und das absichtlich eingerichtete gemeinschaftliche Leben der Bürger überhaupt hervorgebracht und genährt wurde. Auf der andren Seite erhielten und erhöheten aber auch alle diese Staatseinrichtungen bei I den Alten die thätige Kraft des Menschen. Selbst der Gesichtspunkt, den man nie aus den Augen verlor, kraftvolle und genügsame Bürger zu bilden, gab dem Geiste und dem Charakter einen höheren Schwung. Dagegen wird zwar bei uns der Mensch selbst unmittelbar weniger beschränkt, als viel mehr die Dinge um ihn her eine einengende Form erhalten, und es scheint daher möglich, den Kampf gegen diese äusseren Fesseln mit innerer Kraft zu beginnen. Allein schon die Natur der Freiheitsbeschränkungen unsrer Staa ten, dass ihre Absicht bei weitem mehr auf das geht, was der Mensch besizt, als auf das, was er ist, und dass selbst in diesem Fall sie nicht - wie die Alten - die physische, intellektuelle und moralische Kraft nur, wenn gleich ein seitig, üben, sondern vielmehr ihr bestimmende Ideen, als Geseze, aufdringen, unterdrükt die Energie, welche gleich sam die Quelle jeder thätigen Tugend, und die noth-
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I. Einleitung
die Moralität in ihrer höchsten Reinheit sah und darstellte, glaubt, durch eine sehr künstliche Maschinerie seinem Ideal des Menschen die Glükseligkeit, warlich mehr, wie eine fremde Belohnung, als wie ein eigen errungenes Gut, zu führen zu müssen. Ich verliere kein Wort über diese Ver schiedenheit. Ich schliesse nur mit einer Stelle aus Ari stoteles Ethik: ,. Was einem Jeden, seiner Natur nach, eigenthümlich ist, ist ihm das Beste und Süsseste. Daher auch den Menschen das Leben nach der Vernunft, wenn nemlich darin am meisten der Mensch besteht, am meisten beseligt." 1 Schon mehr, als Einmal ist unter den StaatsRechtsLeh rern gestritten worden, ob der Staat allein Sicherheit, oder überhaupt das ganze physische und moralische Wohl der Nation beabsichten müsse? Sorgfalt für die Freiheit des Privatlebens hat vorzüglich auf die erstere Behauptung geführt; indess die natürliche Idee, dass der Staat mehr, als allein Sicherheit gewähren könne, und ein Misbtauch in der Beschränkung der Freiheit wohl möglich, aber nicht nothwendig sei, der lezteren das Wort redeten. Auch ist diese unläugbar sowohl in der Theorie, als in der Ausfüh rung die herrschende.Diess zeigen die meisten Systeme des Staatsrechts, die neueren philosophischen Gesezbücher, und die Geschichte der Verordnungen der meisten Staaten. Akkerbau, Handwerke, Indüstrie aller Art, Handel, Künste und Wissenschaften selbst, alles erhält Leben und Lenkung vom Staat. Nach diesen Grundsäzen hat das Studium der Staatswissenschaften eine veränderte Gestalt erhalten, wie Kamera!- und Polizeiwissenschaft I z. B. be weisen, nach diesen sind völlig neue Zweige der Staats verwaltung entstanden, Kamera!- Manufaktur- und Fi nanz-Kollegia. So allgemein indess auch dieses Princip sein mag; so verdient es, dünkt mich, doch noch allerdings eine nähere Prüfung, und diese Prü[fung] .... 1 To or.xe:tov lxiXOTCfl -r71 qiuaet, xpot-rtctTov xixt 'ij8ta-rov e:a&' lxotctT(fl" Xott 't'Cfl otv&(jlc.>Tt(Jl 8"/j 6 XIX't'IX 't'OV VOUV ßto�, E:tltE:p !J.otAlct'l'ot -rou-ro ixv&pc.>1to�, oö-ro� otpot xat e:u8ixtµove:a-rix-rot;. Aristotelis H&txc.:v Ntxoµcx,c. l. X. c. 7. in tin.
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II. Der Endzweck des Menschen
einer den Reichthum des andren sich eigen machen. Eine solche charakterbildende Verbindung ist, nadi der Erfah rung aller, auch sogar der rohesten Nationen, z. B. die Verbindung der beiden Geschlechter. Allein wenn hier der Ausdruk, sowohl der Versdiiedenheit, als der Sehnsucht nach der Vereinigung gewissermaassen stärker ist; so ist beides darum nicht minder stark, nur schwerer bemerkbar, obgleich eben darum auch mächtiger wirkend, auch ohne alle Rüksicht auf jene Verschiedenheit, und unter Personen desselben Geschlechts. Diese Ideen, weiter verfolgt und genauer entwikkelt, dürften vielleicht auf eine richtigere Erklärung des Phänomens der Verbindungen führen, welche bei den Alten, vorzüglich den Griechen, selbst die Gesezgeber benuzten, und die man oft zu unedel mit dem Namen der gewöhnlichen Liebe, und immer unrichtig mit dem Namen der blossen Freundschaft belegt hat. Der bil dende Nuzen solcher Verbindungen beruht immer auf dem Grade, in welchem sich die Selbstständigkeit der Verbun denen zugleich mit der Innigkeit der Verbindung erhält. Denn wenn ohne diese Innigkeit der eine den andren nicht genug aufzufassen vermag; so ist die Selbstständigkeit nothwendig, um das Aufgefasste gleichsam in das eigne Wesen zu verwandeln. Beides aber erfordert Kraft der Individuen, und eine Verschiedenheit, die, nicht zu gross, damit einer den andren aufzufassen vermöge, auch nicht zu klein ist, um einige Bewundrung dessen, was der andre besizt, und den Wunsch rege zu machen, es auch in sich überzutragen. Diese Kraft nun und diese mannigfaltige Verschiedenheit vereinen sidi in der Originalität, und das also, worauf die ganze Grösse des Menschen zulezt beruht, wonach der einzelne Mensch ewig ringen muss, und was der, welcher auf Menschen wirken will, nie aus den Augen verlieren darf, ist Eigenthümlichkeit der Kraft und der Bildung. Wie diese Eigenthürnlichkeit d�rch Freiheit des Handlens und Mannigfaltigkeit der Handlenden gewirkt wird; so bringt sie beides wiederum hervor. Selbst die leblose Natur, 1 welche nach ewig unveränderlichen Ge sezen einen immer gleichmässigen Schritt hält, erscheint
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II. Der Endzweck des Menschen
spriesst, ist noch fem von ihrem Reiz. Der volle I dikke Stengel, die breiten, aus einander fallenden Blätter bedür fen noch einer mehr vollendeten Bildung. Stufenweise steigt diese, wie sich das Auge am Stamme erhebt; zartere Blätter sehnen sidi. gleichsam, sich zu vereinigen, und schliessen sich enger und enger, bis der Kelch das Verlangen zu stillen scheint. 1 Indess ist das Geschlecht der Pflanzen nidi.t von dem Sdi.iksal gesegnet. Die Blüthe fällt ab, und die Frucht bringt wieder den gleich rohen, und gleich sidi. verfeinernden Stamm hervor. Wenn im Menschen die Blüthe welkt; so macht sie nur jener sdi.öneren Plaz, und den Zauber der schönsten birgt unsrem Auge erst die ewig unerforsdi.bare Unendlichkeit. Was nun der Mensch von aussen empfängt, ist nur Saamenk.orn. Seine energisdi.e Thätigkeit muss es, seis auch das schönste, erst auch zum seegenvollsten für ihn madi.en. Aber wohlthätiger ist es ihm immer in dem Grade, in welchem es kraftvoll, und eigen in sich ist. Das höchste Ideal des Zusammenexistirens menschlidi.er Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sidi. selbst, und um seiner selbst willen sich entwikkelte. Physisdi.e und moralisdi.e Natur würden diese Menschen sdi.on noch an einander führen, und wie die Kämpfe des Kriegs ehrenvoller sind, als die der Arena, wie die Kämpfe erbitterter Bürger höheren Ruhm gewähren, als die getriebener Miethsoldaten; so würde auch das Ringen der Kräfte dieser Menschen die höcnste Energie zugleich beweisen und erzeugen. Ist es nicht eben das, was uns an die Zeitalter Griechen lands und Roms, und jedes Zeitalter allgemein an ein ent fernteres, hingeschwundnes so namenlos fesselt? Ist es nicht vorzüglich, dass diese Mensdi.en härtere Kämpfe mit dem Sdi.iksal, härtere mit Menschen zu bestehen hatten? dass die grössere ursprüngliche Kraft und Eigenthümlidi.keit einander begegnete, und neue wunderbare Gestalten sdi.uf? Jedes folgende Zeitalter - und in wieviel sdi.nelleren Gra den muss diess Verhältniss von jezt an steigen?- muss den 1 Göthe, über die Metamorphose det Pflanzen.
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III. Der Staat und das Wohl der Bürger
eine Kraft, und die vielleicht jene gerade um den Grad ihrer Feinheit an Stärke übertrift; aber es fragt sich, ob nicht die frühere Bildung durch das Gröbere immer voran gehen muss? Ueberall ist doch I die Sinnlichkeit der erste Keim, wie der lebendigste Ausdruk alles Geistigen. Und wenn es auch nicht hier der Ort ist, selbst nur den Versuch dieser Erörterung zu wagen; so folgt doch gewiss soviel aus dem Vorigen, dass man wenigstens diejenige Eigen thümlichkeit und Kraft, nebst allen Nahrungsmitteln der selben, welche wir noch besizen, sorgfältigst bewachen müsse. Bewiesen halte ich demnach durch das Vorige, dass die
wahre Vernunfi dem Menschen keinen andren Zustand, als einen solchen wünschen kann, in weld,em nicht nur jeder Einzelne der ungebundensten Freiheit geniesst, sich aus sid, selbst, in seiner Eigenthümlichkeit, zu entwikkeln, sondern in welchem auch die physische Natur keine andre Gestalt von Menschenhänden empfängt, als ihr jeder Ein zelne, nach dem Maasse seines Bedürfnisses und seiner Neigung, nur beschränkt durch die Gränzen seiner Krafi und seines Rechts, selbst und willkührlich giebt. Von die
sem Grundsaz darf, meines Erachtens, die Vernunft nie mehr nachgeben, als zu seiner eignen Erhaltung selbst nothwendig ist. Er musste daher auch jeder Politik, und besonders der Beantwortung der Frage, von der hier die Rede ist, immer zum Grunde liegen.
III In einer völlig allgemeinen Formel ausgedrukt, könnte man den wahren Umfang der Wirksamkeit des Staats alles dasjenige nennen, was er zum Wohl der Gesellschaft zu thun vermöchte, ohne jenen eben ausgeführten Grundsaz zu verlezen; und es würde sich unmittelbar hieraus auch die nähere Bestimmung ergeben, dass jedes Bemühen des Staats verwerflich sei, sich in die Privatangelegenheiten der Bürger überall da einzumisdien, wo dieselben nidit unmittelbaren Bezug auf die Kränkung der Redite des einen durdi den andren haben. Indess ist es doch, um die
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Wohlstand der Nation, oder bloss ihre Sicherheit abzwek ken soll, bei allen Einrichtungen nur auf das zu sehen, was sie hauptsächlich zum Gegenstande, oder zur Folge haben, und bei jedem beider Zwekke zugleich die Mittel zu prüfen, deren der Staat sich bedienen darf. Ich rede daher hier von dem ganzen Bemühen des Staats, den positiven Wohlstand der Nation zu erhöhen, von aller Sorgfalt für die Bevölkerung des Landes, den Unterhalt der Einwohner, theils geradezu durch Armenanstalten, theils mittelbar durch Beförderung des Akkerbaues, der Indüstrie und des Handels, von I allen Finanz- und Münz operationen, Ein- und AusfuhrVerboten u. s. f. (insofern sie diesen Zwek haben), endlich allen Veranstaltungen zu Verhütung oder Herstellung von Beschädigungen durch die Natur, kurz von jeder Einrichtung des Staats, welche das physische Wohl der Nation zu erhalten, oder zu beför dern die Absicht hat. Denn da das moralische nidit leicht um seiner selbst willen, sondern mehr zum Behuf der Sicherheit befördert wird, so komme ich zu diesem erst in der Folge. Alle diese Einrichtungen nun, behaupte ich, haben nach theilige Folgen, und sind einer wahren, von den höchsten, aber immer menschlichen Gesichtspunkten ausgehenden Politik unangemessen. 1. Der Geist der Regierung herrscht in einer jeden sol chen Einrichtung, und wie weise und heilsam auch dieser Geist sei, so bringt er Einförmigkeit und eine fremde Handlungsweise in der Nation hervor. Statt dass die Men schen in Gesellschaft treten, um ihre Kräfte zu schärfen, soll ten sie auch dadurch an ausschliessendem Besiz und Genuss verlieren; so erlangen sie Güter auf Kosten ihrer Kräfte. Gerade die aus der Vereinigung Mehrerer entstehende Man nigfaltigkeit ist das höchste Gut, welches die Gesellschaft giebt, und diese Mannigfaltigkeit geht gewiss immer in dem Grade der Einmisdiung des Staats verloren. Es sind nicht mehr eigentlich die Mitglieder einer Nation, die mit sich in Gemeinschaft leben, sondern einzelne Unterthanen, welche mit dem Staat, d. h. dem Geiste, welcher in seiner
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der ihn geniesst. Vielleicht scheint diess zu allgemeine Rai sonnement keine Anwendung auf die Wirklichkeit zu ver statten. Vielleicht scheint es sogar, als diente vielmehr die Erweiterung vieler Wissenschaften, welche wir diesen und ähnlichen Einrichtungen des Staats, welcher allein Ver suche im Grossen anzustellen vermag, vorzüglich danken, zur Erhöhung der intellektuellen Kräfte, und dadurch der Kultur und des Charakters überhaupt. Allein nicht jede Bereicherung durch Kenntnisse ist unmittelbar auch eine Veredlung, selbst nur der intellektuellen Kraft, und wenn eine solche wirklich dadurch veranlasst wird, so ist diess nicht sowohl bei der ganzen Nation, als nur vorzüglich bei dem Theile, welcher mit zur Regierung gehört. Ueber haupt wird der Verstand des Menschen doch, wie jede andre seiner Kräfte, nur durch eigne Thätigkeit, eigne Er findsamkeit, oder eigne Benuzung fremder Erfindungen gebildet. Anordnungen des Staats aber führen immer, mehr oder minder, Zwang mit sich, und selbst, wenn diess der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hülfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken. Die einzige Art beinah, auf welche der Staat die Bürger belehren kann, besteht darin, dass er das, was I er für das Beste erklärt, gleichsam das Resultat seiner Untersuchungen, aufstellt, und entweder direkt durch ein Gesez, oder indirekt durch irgend eine, die Bürger bindende Einrichtung anbefiehlt, oder durch sein Ansehn und ausgesezte Belohnungen, oder andre Ermunterungsmittel dazu anreizt, oder endlich es bloss durch Gründe empfiehlt; aber welche Methode er von allen diesen befolgen mag, so entfernt er sich immer sehr weit von dem besten Wege des Lehrens. Denn dieser besteht unstreitig darin, gleichsam alle mögliche Auflösun gen des Problems vorzulegen, um den Menschen nur vor zubereiten, die schiklichste selbst zu wählen, oder noch besser, diese Auflösung selbst nur aus der gehörigen Dar stellung aller Hindernisse zu erfinden. Diese Lehrmethode kann der Staat bei erwachsenen Bürgern nur auf eine ne gative Weise, durch Freiheit, die zugleich Hindernisse ent-
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so ist es ein niederschlagender Anblik, oft die heiligsten Pflichten und die willkührlichsten Anordnungen von dem selben Munde ausgesprochen, ihre Verlezung nicht selten mit gleicher Strafe belegt zu sehen. Nidlt minder sichtbar ist jener nachtheilige Einfluss in dem Betragen der Bürger gegen einander. Wie jeder sich selbst auf die sorgende Hülfe des Staats verlässt, so und noch weit mehr übergiebt er ihr das Schiksal seines Mitbürgers. Diess aber schwächt die Theilnahme, und macht zu gegenseitiger Hülfsleistung träger. Wenigstens muss die gemeinsdlaftliche Hülfe da am thätigsten sein, wo das Gefühl am lebendigsten ist, dass auf ihm allein alles beruhe, und die Erfahrung zeigt auch, dass gedrükte, gleichsam von der Regierung verlassene Theile eines Volks immer doppelt fest unter einander ver bunden sind. Wo aber der Bürger kälter ist gegen den Bür ger, da ist es auch der Gatte gegen den Gatten, der Haus vater gegen die Familie. Sich selbst in allem Thun und Treiben_ überlassen, von jeder fremden Hülfe entblösst, die sie nicht selbst sich ver schaften, würden die Menschen auch oft, mit und ohne ihre Schuld, in Verlegenheit und Unglük gerathen. Aber das Glük, zu welchem der Mensch- bestimmt ist, ist auch kein andres, als welches seine Kraft ihm verschaft; und diese Lagen gerade sind es, welche den Verstand schärfen, und den Charakter bilden. Wo der Staat die Selbstthätigkeit durch zu specielles Einwirken verhindert, da - entstehen etwa solche Uebel nicht? Sie entstehen auch da, und über lassen den einmal auf fremde Kraft sich zu lehnen gewohn ten Menschen nun einem weit trostloseren Schiksal. Denn so wie Ringen· und thätige Arbeit das Unglük erleichtern, so und in zehnfach höherem Grade erschwert es hofnungs lose, vielleicht getäuschte Erwartung. Selbst den besten Fall angenommen, gleichen die Staaten, von denen ich hier rede, nur zu oft den Aerzten, welche die Krankheit näh ren, und den Tod entfernen. Ehe es Aerzte gab, kannte man nur Gesundheit, oder Tod. 3. Alles, womit sich der Mensch beschäftigt, wenn es gleich I nur bestimmt ist, physische Bedürfnisse mittelbar
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wieder belohnt, fesseln es süss an seinen Akker und seinen Heerd; Theilnahme der seegenvollen Mühe und gemein schafl:licher Genuss des Gewonnenen schlingen ein liebe volles Band um jede Familie, von dem selbst der mitarbei tende Stier nicht ganz ausgeschlossen wird. Die Frucht, die gesäet und geerndtet werden muss, aber alljährlich wieder kehrt, 1 und nur selten die Hofnung täuscht, macht gedul dig, vertrauend und sparsam; das unmittelbare Empfan gen aus der Hand der Natur, das immer sich. aufdringende Gefühl, dass, wenn gleich die Hand des Mensch.en den Saamen ausstreuen muss, doch nicht sie es ist, von welcher Wachsthum und Gedeihen kommt; die ewige Abhängig keit von günstiger und ungünstiger Witterung flösst den Gemüthern bald schauderhafte, bald frohe Ahndungen höherer Wesen, wechselsweis Furcht und Hofnung ein, und führt zu Gebet und Dank; das lebendige Bild der einfach sten Erhabenheit, der ungestörtesten Ordnung, und der mil desten Güte bildet die Seelen einfach, gross, sanft, und der Sitte und dem Gesez froh unterworfen. Immer gewohnt hervorzubringen, nie zu zerstören, ist der Akkerbauer friedlich, und von Beleidigung und Rach.e fern, aber er füllt von dem Gefühl der Ungerechtigkeit eines ungereiz ten Angriffs, und gegen jeden Störer seines Friedens mit unerschrokkenem Muth beseelt. Allein, freilich ist Freiheit die nothwendige Bedingung, ohne welch.e selbst das seelenvollste Geschäft keine heil samen Wirkungen dieser Art hervorzubringen vermag. Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit mensch.lich.er Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit. Die Alten, vorzüglich die Grie chen, hielten jede Beschäftigung, welch.e zunächst die kör perliche Kraft angeht, oder Erwerbung äusserer Güter, nicht innere Bildung zur Absicht hat, für sch.ädlich. und entehrend. Ihre mensch.enfreundlich.sten Philosophen bil ligten daher die Sklaverei, gleichsam um durch ein unge rech.tes und barbarisch.es Mittel einem Theile der Mensch-
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gen; und bei jedem Menschen wird sein ganzer moralischer Charakter, vorzüglich die Stärke, und die Art seiner Emp findungskraft darin sichtbar sein. Ob der Mensdi mehr äussere Zwekke verfolgt, oder lieber sein innres Wesen be schäftigt? ob sein Verstand thätiger ist, oder sein Gefühl? ob er lebhaft umfasst und schnell verlässt, oder langsam eindringt und treu bewahrt? ob er losere Bande knüpft, oder sich enger anschliesst? ob er bei der innigsten Verbin dung mehr oder minder Selbstständigkeit behält? und eine unendliche Menge andrer Bestimmungen modificiren an ders und anders sein Verhältniss im ehelidien Leben. Wie dasselbe aber auch immer bestimmt sein mag; so ist die Wirkung davon auf sein Wesen und seine Glükseligkeit unverkennbar, und ob der Versuch, die Wirklichkeit nach seiner innren Stimmung zu finden oder zu bilden, glükke oder mislinge? davon hängt grösstentheils die höhere Ver vollkommnung, oder die Erschlaffung seines Wesens ab. Vorzüglich stark ist dieser Einfluss bei den interessantesten Menschen, welche am zartesten und leichtesten auffassen, und am tiefsten bewahren. Zu diesen kann man mit Recht im Ganzen mehr das weibliche, 1 als das männliche Ge sdilecbt rechnen, und daher hängt der Charakter des erste ren am meisten von der Art der Familienverhältnisse in einer Nation ab. Von sehr vielen äusseren Beschäftigungen gänzlich frei; fast nur mit soldien umgeben, welche das innere Wesen beinah ungestört sich selbst überlassen; stär ker durch das, was sie zu sein, als was sie zu thun vermö gen; ausdruksvoller durch die stille, als die geäusserte Empfindung; mit aller Fähigkeit des unmittelbarsten, zei chenlosesten Ausdruks, bei dem zarteren Körperbau, dem beweglidieren Auge, der mehr ergreifenden Stimme, rei cher versehen; im Verhältniss gegen andre mehr bestimmt zu erwarten und aufzunehmen, als entgegenzukommen; schwächer für sich, und doch nicht darum, sondern aus Be wunderung der fremden Grösse und Stärke inniger an schliessend; in der Verbindung unaufhörlich strebend, mit dem vereinten Wesen zu empfangen, das Empfangne in sieb zu bilden, und gebildet zurükzugeben; zugleich höher
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fenheit der Individuen so eng verschwisterte Verbindung durch Geseze zu bestimmen, oder durch seine Einrichtun gen von andren Dingen, als von der blossen Neigung ab hängig zu machen versucht. Diess muss um so mehr der Fall sein, als er bei diesen Bestimmungen beinah nur auf die Folgen, auf Bevölkerung, Erziehung der Kinder u. s. f. sehen kann. Zwar lässt sich gewiss darthun, dass eben diese Dinge auf dieselben Resultate mit der höchsten Sorg falt für das schönste innere Dasein führen. Denn bei sorg fältig angestellten Versuchen hat man die ungetrennte, dauernde Verbindung Eines Mannes mit Einer Frau der Bevölkerung am zuträglichsten gefunden, und unläugbar entspringt gleichfalls keine andre aus der wahren, natür lichen, unverstimmten Liebe. Ebensowenig führt diese fer ner auf andre, als eben die Verhältnisse, welche die Sitte und das Gesez bei uns mit sich bringen: Kindererzeugung, eigne Erziehung, Gemeinschaft des Lebens, zum Theil der Güter, Anordnung der äussren Geschäfte durch den Mann, Verwaltung des Hauswesens durch die Frau. Allein, der Fehler scheint mir darin zu liegen, dass das Gesez befiehlt, da doch ein solches Verhältniss nur aus Neigung, nicht aus äussren Anordnungen entstehn kann, und wo Zwang oder Leitung der Neigung widersprechen, diese noch weniger zum rechten Wege zurükkehrt. Daher, dünkt mich, sollte der Staat nicht nur die Bande freier und weiter machen, sondern - wenn es mir erlaubt ist, hier, wo ich nicht von der Ehe überhaupt, sondern einem einzelnen, bei ihr sehr in die Augen fallenden Nachtheil einschränkender Staats einrichtungen rede, allein nach den im Vorigen gewagten Behauptungen zu entscheiden - überhaupt von I der Ehe seine ganze Wirksamkeit entfernen, und dieselbe vielmehr der freien Willkühr der Individuen und der von ihnen er richteten mannigfaltigen Verträge, sowohl überhaupt, als in ihren Modifikationen, gänzlich überlassen. Die Besorg niss, dadurch alle Familienverhältnisse zu stören, oder vielleicht gar ihre Entstehung überhaupt zu verhindern - so gegründet dieselbe auch, bei diesen oder jenen Lokal umständen, sein möchte - würde midi, insofern ich allein
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Streben, die innerste Eigenthümlid:ikeit des andren zu fas sen, sie zu benuzen, und, von der innigsten Ad:itung für sie, als die Eigenthümlid:ikeit eines freien Wesens, durd:i drungen, auf sie zu wirken - ein Wirken, bei weld:iem jene Ad:itung nicht leicht ein andres Mittel erlauben wird, als sid:i selbst zu zeigen und gleid:isam vor den Augen des andern mit ihm zu vergleid:ien - der höchste Grundsaz der Kunst des Umganges, welche vielleicht unter allen am meisten bisher noch vernachlässigt worden ist. Wenn aber auch diese Vernad:ilässigung leid:it eine Art der Entschul digung davon borgen kann, dass der Umgang eine Erho lung, nid:it eine mühevolle Arbeit sein soll, und dass leider sehr vielen Mensd:ien kaum irgend eine interessante eigen thümlid:ie Seite abzugewinnen ist; so sollte doch jeder zu viel Ad:itung für sein eignes Selbst besizen, um eine andre Erholung, als den Wed:isel interessanter Besd:iäftigu ng, und nod:i dazu eine sold:ie zu sud:ien, weld:ie gerade seine edel sten Kräfte unthätig lässt, und zu viel Ehrfurd:it für die Mensd:iheit, um aud:i nur Eins ihrer Mitglieder für völlig unfähig zu erklären, benuzt, oder durch Einwirkung an ders modinzirt zu werden. Wenigstens aber darf derjenige diesen Gesid:itspunkt nid:it übersehen, weld:ier sid! Behand lung der Mensd:ien und Wirken auf sie zu einem eigent lichen Geschäft macht, und insofern folglich der Staat, bei positiver Sorgfalt auch nur für das, mit dem innem Da sein immer eng verknüpfte äussre und physisd:ie Wohl, nid:it umhin kann, der Entwikklung der Individualität hinderlich zu werden; so ist diess ein neuer Grund eine solche Sorgfalt nie, ausser dem Fall einer absoluten Noth wendigkeit, zu verstatten. Diess möd:iten etwa die vorzüglid:isten nachtheiligen Folgen sein, welche aus einer positiven Sorgfalt des Staats für den Wohlstand der Bürger -entspringen, und die zwar mit gewissen Arten der Ausübung derselben vorzüglich verbunden, aber überhaupt doch von ihr meines Erachtens nicht zu trennen sind. Ich wollte jezt nur von der Sorgfalt für das physisd:ie Wohl reden, und gewiss bin ich auch überall von diesem Gesid:itspunkte ausgegangen und habe
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nur zu oft vernachlässigte Berechnung, ob die natürlichen Kräfte des Staats zu Herbeischaffung aller nothwendig erforderlichen Mittel hinreichend sind? und fällt diese Be rechnung unrichtig aus, ist ein wahres Misverhältniss vor handen; so müssen neue künstliche Veranstaltungen die Kräfte überspannen, ein Uebel, an welchem nur zu viele neuere Staaten, wenn gleich nicht allein aus dieser Ur sache, kranken. Vorzüglich ist hiebei ein Schade nicht zu übersehen, weil er den Menschen und seine Bildung so nahe betrift, nemlich dass die eigentliche Verwaltung der Staatsgeschäfte da durch eine Verflechtung erhält, welche, um nicht Verwir rung zu werden, eine I unglaubliche Menge detaillirter Einrichtungen bedarf, und ebensoviele Personen beschäf tigt. Von diesen haben indess doch die meisten nur mit Zeichen und Formeln der Dinge zu thun. Dadurch werden nun nicht bloss viele, vielleicht trefliche Köpfe dem Den ken, viele, sonst nüzlicher beschäftigte Hände der reellen Arbeit entzogen; sondern ihre Geisteskräfte selbst leiden durch diese zum Theil leere, zum Theil zu einseitige Beschäf tigung. Es entsteht nun ein neuer und gewöhnlicher Er werb, Besorgung von Staatsgeschäften, und dieser macht die Diener des Staats so viel mehr von dem regierenden Theile des Staats, der sie besoldet, als eigentlich von der Nation abhängig. Welche fernem Nachtheile aber noch hieraus erwachsen, welches Warten auf die Hülfe des Staats, welcher Mangel der Selbstständigkeit, welche fal sche Eitelkeit, welche Unthätigkeit sogar und Dürftigkeit, beweist die Erfahrung am unwidersprechlichsten. Dasselbe Uebel, aus welchem dieser Nachtheil entspringt, wird wie der von demselben wechselsweis hervorgebracht. Die, welche einmal die Staatsgeschäfte auf diese Weise verwal ten, sehen immer mehr und mehr von der Sache hinweg und nur auf die Form hin, bringen immerfort bei dieser, vielleicht wahre, aber nur, mit nicht hinreichender Hin sicht auf die Sache selbst, und daher oft zum Nachtheil dieser ausschlagende Verbesserungen an, und so entstehen neue Formen, neue Weitläuftigkeiten, oft neue einschrän-
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Glükseligkeit und Genuss gearbeitet zu sein. Allein, wenn, da über Glükseligkeit und Genuss nur die Empfindung des Geniessenden riditig urtheilt, die Beredinung audi riditig wäre; so wäre sie dennoch immer weit von der Würde der Mensdiheit entfernt. Denn woher käme es sonst, dass eben diess nur Ruhe abzwekkende System auf den mensdilidi hödisten Genuss, gleidisam aus Besorgniss. vor seinem Gegentheil, willig Verzicht thut? Der Mensch geniesst am meisten in den Momenten, in welchen er sich in dem höchsten Grade seiner Kraft und seiner Einheit fühlt. Freilich ist er audi dann dem höchsten Elend am nädisten. Denn auf den Moment der Spannung vermag nur eine gleiche Spannung zu folgen, und die Richtung, zum Genuss oder zum Entbehren, liegt in der Hand des unbesiegten Schiksals. Allein wenn das Gefühl des Hödi sten im Mensdien nur Glük zu heissen verdient, so gewinnt auch Sdimerz und Leiden eine veränderte Gestalt. Der Mensch in seinem Innren wird der Siz des Glüks und des Unglüks, und er wediselt ja nicht mit der wallenden Fluth, die ihn trägt. Jenes System führt, meiner Empfindung nadi, auf ein fruchtloses Streben, dem Sdimerz zu entrin nen. Wer sidi wahrhaft auf Genuss versteht, erduldet den Schmerz, der dodi den Flüditigen ereilt, und freuet sidi unaufhörlidi am ruhigen Gange des Schiksals; 1 und der Anblik der Grösse fesselt ihn süss, es mag entstehen, oder verniditet werden. So kommt er - dodi freilich nur der Sdiwärmer in andern, als sehnen Momenten - selbst zu der Empfindung, dass sogar der Moment des Gefühls der eignen Zerstörung ein Moment des Entzükkens ist. Vielleidit werde idi beschuldigt, die hier aufgezählten Naditheile übertrieben zu haben; allein ich musste die volle Wirkung des Einmisdiens des Staats - von dem hier die Rede ist - schildern, und es versteht sich von selbst, dass jene Naditheile, nadi dem Grade und nadi der Art dieses Einmischens selbst, sehr verschieden sind. Ueber haupt sei mir die Bitte erlaubt, bei allem, was diese Blätter Allgemeines enthalten, von Vergleichungen mit der Wirk lichkeit gänzlich zu abstrahiren. In dieser findet man selten
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Gestalten in sich verwandelte; wie zart und fein das innere Dasein des Menschen sich ausbilden, wie es die an gelegentlichere Beschäftigung desselben werden, wie alles Physische und Aeussere in das Innere, Moralische und Intellektuelle übergehen, und das Band, welches beide Naturen im Menschen verknüpft, an Dauer gewinnen würde, wenn nichts mehr die freie Rükwirkung aller menschlichen Beschäftigungen auf den Geist und den Cha rakter störte; wie keiner dem andren gleichsam aufge opfert würde, wie jeder seine ganze, ihm zugemessene Kraft für sich behielte, und ihn eben darum eine noch schönere Bereitwilligkeit begeisterte, ihr eine, für andre wohlthätige Richtung zu geben; wie, wenn jeder in seiner Eigenthümlichkeit fortschritte, mannigfaltigere und fei nere Nüancen des schönen menschlichen Charakters ent stehen, und Einseitigkeit um so seltener sein würde, als sie überhaupt immer nur eine Folge der Schwäche und Dürf tigkeit ist, und als jeder, wenn nichts mehr den andren zwänge, sich ihm gleich zu machen, durch die immer fort dauernde Nothwendigkeit der Verbindung mit andren, dringender veranlasst werden würde, sich nach ihnen anders und anders selbst zu modificiren; wie in diesem Volke keine Kraft und keine Hand für die Erhöhung und den Genuss des Menschendaseins verloren gienge; endlich zeigen, wie schon dadurch ebenso auch die Gesichtspunkte aller nur dahin gerichtet, und von jedem andren falschen, oder doch minder der Menschheit würdigen Endzwek ab gewandt werden würden. Ich könnte dann damit schliessen, aufmerksam darauf zu machen, wie diese wohlthätige Folgen einer solchen Konstitution, unter einem Volke, welches es sei, ausgestreut, selbst dem freilich nie ganz tilgbaren Elende der Menschen, den Verheerungen der Natur, dem Verderben der feindseligen Neigungen, und den Ausschweifungen einer zu üppigen Genussesfülle, einen unendlid1 grossen Theil seiner Sc hreklichkeit nehmen würden. Allein ich begnüge mich, das Gegenbild geschil dert zu haben; es ist mir genug, Ideen hinzuwerfen, damit ein reiferes Urtheil sie prüfe.
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nommen gewesen wären.! Auch handelt eine Privatperson aus andren Gründen, als der Staat. Wenn z.B. ein einzel ner Bürger Prämien aussezt, die idi auch - wie es doch wohl nie ist - an sich gleich wirksam mit denen des Staats annehmen will; so thut er diess seines Vortheils halber. Sein Vortheil aber steht, wegen des ewigen Verkehrs mit allen übrigen Bürgern, und wegen der Gleichheit seiner Lage mit der ihrigen, mit dem Vortheile oder Nachtbeile andrer, folglich mit ihrem Zustande in genauem Verhält niss. Der Zwek, den er erreichen will, ist also schon gewis sermaassen in der Gegenwart vorbereitet, und wirkt folglich darum heilsam. Die Gründe des Staats hingegen sind Ideen und Grundsäze, bei welchen audi die genaueste Berechnung oft täuscht; und sind es aus der Privatlage des Staats geschöpfte Gründe, so ist diese schon an sich nur zu oft für den Wohlstand und die Sicherheit der Bürger be denklich, und auch der Lage der Bürger nie in eben dem Grade gleich. Wäre sie diess, nun so ists auch in der Wirk lichkeit nicht der Staat mehr, der handelt, und die Natur dieses Raisonnements selbst verbietet dann seine Anwen dung. Eben diess, und das ganze vorige Raisonnement aber gieng allein aus Gesichtspunkten aus, welche bloss die Kraft des Menschen, als solchen, und seine innere Bildung zum Gegenstand hatten. Mit Recht würde man dasselbe der Einseitigkeit beschuldigen, wenn es die Resultate, deren Dasein so nothwendig ist, damit jene Kraft nur überhaupt wirken kann, ganz vernachlässigte. Es entsteht also hier noch die Frage: ob eben diese Dinge, von welchen hier die Sorgfalt des Staats entfernt wird, ohne ihn und für sich gedeihen können? Hier wäre es nun der Ort, die einzelnen Arten der Gewerbe, Akkerbau, Indüstrie, Han del und alles Uebrige, wovon ich hier zusammengenommen rede, einzeln durchzugehen, und mit Sachkenntniss aus einander zu sezen, welche Nachtbeile und Vortheile Frei heit und Selbstüberlassung ihnen gewährt. Mangel eben dieser Sachkenntniss hindert mich, eine solche Erörterung einzugehen. Auch halte ich dieselbe für die Sache selbst
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willen, absolute Gewalt besizen. Diese aber dehnt er nun auch auf das Uebrige aus, und je mehr sich die Einriditung von ihrer Entstehung entfernt, desto mehr wädist die Madit, und desto mehr versdiwindet die Erinnerung des Grundvertrags. Eine Anstalt im Staat hingegen hat nur Gewalt, insofern sie diesen Vertrag und sein Ansehen er hält. Sdion dieser Grund allein könnte hinreidiend sdiei nen. Allein dann, wenn audi der Grundvertrag genau bewahrt würde, und die Staatsverbindung im engsten Verstande eine Nationalverbindung wäre; so könnte den noch der Wille der einzelnen Individuen sich nur durch Repräsentation erklären, und ein Repräsentant Mehrerer kann unmöglidi ein so treues Organ der Meinung der einzelnen Repräsentirten sein. Nun aber führen alle im Vorigen entwikkelte Gründe auf die Nothwendigkeit der I Einwilligung jedes Einzelnen. Eben diese sdtliesst audt die Entsdteidung nadt der Stimmenmehrheit aus, und dodi liesse sidt keine andre in einer solchen Staatsverbin dung, weldie sidt auf diese, das positive Wohl der Bürger betreffende Gegenstände verbreitete, denken. Den nidtt Einwilligenden bliebe also nidits übrig, als aus der Gesell sdtafl: zu treten, dadurdt ihrer Gerichtsbarkeit zu ent gehen, und die Stimmenmehrheit nidtt mehr für sidt geltend zu madien. Allein diess ist beinah bis zur Unmög lidtkeit ersdtwert, wenn aus dieser Gesellschaft gehen, zugleich aus dem Staate gehen heisst. Ferner ist es besser, wenn bei einzelnen Veranlassungen einzelne Verbindungen eingegangen, als allgemeinere für unbestimmte künftige Fälle gesdtlossen werden. Endlidi entstehen audt Vereini gungen freier Mensdten in einer Nation mit grösserer Sdiwierigkeit. Wenn nun diess auf der einen Seite auch der Erreidiung der Endzwekke sdiadet - wogegen doch immer zu bedenken bleibt, dass allgemein, was sdiwerer entsteht, weil gleidisam die langgeprüA:e KraA: sidi in einander fügt, audi eine festere Dauer gewinnt - so ist dodi gewiss überhaupt jede grössere Vereinigung minder heilsam. Je mehr der Mensdi für sidi wirkt, desto mehr bildet er sidi. In einer grossen Vereinigung wird er zu
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IV. Der Endzweck des Staats
daraus entspringende Zwietracht stiftet, wie mit den phy sisdi.en Uebeln der Natur, und denjenigen, diesen hierin wenigstens gleichkommenden moralisdi.en, welche durdi. Uebermaass des Geniessens oder Entbehrens, oder durch andre, mit den nothwendigen Bedingungen der Erhaltung nidi.t übereinstimmende Handlungen auf eigne Zerstörung hinauslaufen; so wäre schledi.terdings keine Staatsvereini gung nothwendig. Jenen würde der Muth, die Klugheit und Vorsicht der Mensdi.en, diesen die, durch Erfahrung belehrte Weisheit von selbst steuern, und wenigstens ist in beiden mit dem gehobenen Uebel immer Ein Kampf be endigt. Es ist daher keine lezte, widerspruchslose Macht nothwendig, weldi.e doch im eigentlidi.sten Verstande den Begriff des Staats ausmacht. Ganz anders aber verhält es sich mit den Uneinigkeiten der Menschen, und sie erfor dern allemal sdi.lechterdings eine solche eben beschriebene Gewalt. Denn bei der Zwietracht entstehen Kämpfe aus Kämpfen. Die Beleidigung fordert Radi.e, und die Rache ist eine neue Beleidigung. Hier muss man also auf eine Radi.e zurükkommen, welche keine neue Radi.e erlaubt und diese ist die Strafe des Staats - oder auf eine Entschei dung, welche die Partheien sich zu beruhigen nöthigt, die Entsdi.eidung des Richters. Auch bedarf nidi.ts so eines 1 zwingenden Befehls, und eines unbedingten Gehorsams, als die Unternehmungen der Menschen gegen den Men schen, man mag an die Abtreibung eines auswärtigen Feindes, oder an Erhaltung der Sicherheit im Staate selbst denken. Ohne Sidi.erheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden, noch die Früchte derselben zu ge niessen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit. Es ist aber zugleich etwas, das der Mensch sidi. selbst allein nidi.t ver sdi.affen kann; diess zeigen die eben mehr berührten als ausgeführten Gründe, und die Erfahrung, dass unsre aber dodi (soviel mir wenigstens vorgekommen ist} dem be ständigen Gebraudi der Sdiriftsteller nadi, liegt. Passender, ob gleidi, wenigstens dem Spradigebraudie nadi, wohl audi nidit von völlig gleidiem Umfang, mödite nodi Ueberuortheilung sein.
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IV. Der Fndzweck des Scaat•
sungen Asiens, so die ältesten Griechenlands, Italiens, und der freiheitliebendsten Stämme, der Germanischen. 1 Denkt man über die Gründe hiervon nach; so wird man gleich sam von der Wahrheit überrascht, dass gerade die Wahl einer Monardiie ein Beweis der höchsten Freiheit der Wählenden ist. Der Gedanke eines Befehlshabers entsteht, wie oben gesagt, nur durch das Gefühl der Nothwendig keit eines Anführers, oder eines Schiedsrichters. Nun ist Ein Führer oder Entscheider unstreitig das Zwek mässigste. Die Bcsorgniss, dass der Eine aus einem Führer und Schiedsrichter ein Herrscher werden möchte, kennt der wahrhaft freie Mann, die Möglichkeit selbst ahndet er nicht; er traut keinem Menschen die Macht, seine Freiheit unterjochen zu können, und keinem Freien den Willen zu, Herrscher zu sein - wie denn auch in der That der Herrschsüchtige, nicht empfänglich für die hohe Schönheit der Freiheit, die Sklaverei liebt, nur dass er nicht der Sklave sein will - und so ist, wie die Moral mit dem Laster, die Theologie mit der Kezerei, die Politik mit der Knechtschaft entstanden. Nur führen freilich unsre Mon archen nicht eine so honigsüsse Sprache, als die Könige bei Homer und Hesiodus. 2 1 Reges (nam in terris nomen imperii id primum fuit) cet. Sallustius in Catilina. c. 2. Ka:-r' a:pxa:i; «1ta:aa: 1tOALi; 'Ella:i; e:ß=L).&ue:-ro. (Zuerst wurden alle Griediisdie Städte von Kö nigen beherrsdit u. s. f.) Dion. Halicarn. Antiquit. Rom. l. 5. 1 'Ovnva: TL!L7)0'0UO'L A,oi; xoupa:, !LEYa:AOLo, re:L'JO!LEVOV -r' e:ar.3c.>O'L 8Lo-rpe:cpe:c.>V ßa:aLA7)c.>V, T !LEV E7tL YA(A)0'0'7l YAUXEp"l)V XELOUO'L EEpa7)V, Tou 8' e:1te:' e:x a-ro!La:-roi; pe:L !LELALJ(a:. und Touve:xa: yup ßa:arJ.7je:i; e:xe:cppove:i;, oöve:xa: Aa:oLi; ßAa:7t'l"O!LEVOLi; a:yop7l!pL !LE'l"C1:Tp07tCI: e:pya: 'l"&:AEUO'L P7jt8Le,>i;, !La:ACl:XOLO'L 7ta:pa:L!pCl:!LEVOL e:7tEEO'O'LV. Hesiodus in Thcogonia. (Wen der götterentsprossenen Könige Zeus des Erhabnen Töditer ehren, auf wen ihr Auge bei seiner Geburt blikt,
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V. Sicherheit gegen auswärtige Feinde
kann, in der Vergangenheit. Allein das Andenken der Vergangenheit tritt immer weiter zurük, die Zahl derer, auf welche es wirkt, vermindert sic:n immer in der Nation, und selbst auf diese wird die Wirkung schwächer. Andren, obschon gleich gefahrvollen Beschäfngungen, Seefahrten, dem Bergbau u. s. f. fehlt, wenngleich mehr und minder, die Idee der Grösse und des Ruhms, die mit dem Kriege so eng verbunden ist. Und diese Idee ist in der That nicht chimärisch. Sie beruht auf einer Vorstellung von über wiegender Macht. Den Elementen sucht man mehr zu ent rinnen, ihre Gewalt mehr auszudauern, als sie zu besiegen; -mit Göttern soll sich nicht messen irgend ein Mensch; Rettung ist nicht Sieg; was das Schiksal wohlthätig schenkt, und menschlicher Muth, oder menschliche Erfindsamkeit nur benuzt, ist nicht Frucht, oder Beweis der Obergewalt. Auch denkt jeder im Kriege, das Recht auf seiner Seite zu haben, jeder eine Beleidigung zu rächen. Nun aber achtet der natürliche Mensch, und mit einem Gefühl, das auch der kultivirteste nicht abläugnen kann, es höher, seine Ehre zu reinigen, als Bedarf fürs Leben zu sammlen. Nie mand wird es mir zutrauen, den Tod eines gefallenen Kriegers schöner zu nennen, als den Tod eines kühnen Plinius, oder, um vielleicht nicht genug geehrte Männer zu nennen, den Tod von Robert und Pilatre dü Rozier. Allein diese Beispiele sind selten, und wer weiss, ob ohne jene sie überhaupt nur wären? Auch habe ich für den Krieg gerade keine günstige Lage gewählt. Man nehme die Spartaner bei Thermopylä. Ich frage einen jeden, was solch ein Bei spiel auf eine Nation wirkt? Wohl I weiss ichs, eben dieser Muth, eben diese Selbstverläugnung kann sich in jeder Situation des Lebens zeigen, und zeigt sich wirklich in jeder. Aber will man es dem sinnlichen Menschen verar gen, wenn der lebendigste Ausdruk ihn auch am meisten hinreisst, und kann man es läugnen, dass ein Ausdruk dieser Art wenigstens in der grössesten Allgemeinheit
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V. Sidierh�it gegen auswärtige Feinde
hier, der Fall, dass, mit der Ausbildung der Theorie der menschlichen Unternehmungen, der Nuzen derselben für diejenigen sinkt, welche sich mit ihnen beschäftigen. Un läugbar hat die Kriegskunst unter den Neueren unglaub liche Fortschritte gemacht, aber eben so unläugbar ist der edle Charakter der Krieger seltner geworden, seine höchste Schönheit existirt nur noch in der Geschichte des Alter thums, wenigstens - wenn man diess für übertrieben hal ten sollte - hat der kriegerische Geist bei uns sehr oft bloss schädliche Folgen für die Nationen, da wir ihn im Alter thum so oft von so heilsamen begleitet sehen. Allein unsre stehende Armeen bringen, wenn idi so sagen darf, den Krieg mitten in den Schooss des Friedens. Kriegsmuth ist nur in Verbindung mit den schönsten friedlichen Tugen den, Kriegszucht nur in Verbindung mit dem hödisten Freiheitsgefühle ehrwürdig. Beides getrennt - und wie sehr wird eine solche Trennung durch den im Frieden be wafneten Krieger begünstigt? - artet diese sehr leicht in Sklaverei, jener in Wildheit und Zügellosigkeit aus. Bei diesem Tadel der stehenden Armeen sei inir die Erinnerung erlaubt, dass ich hier nidit weiter von ihnen rede, als mein gegenwärtiger Gesichtspunkt erfordert. Ihren grossen, un bestrittenen Nuzen - wodurch sie dem· Zuge das Gleich gewicht halten, mit dem sonst ihre Fehler sie, wie jedes irrdische Wesen, unaufhaltbar zum Untergange dahin reissen würden - zu verkennen, sei fern von mir. Sie sind ein Theil des Ganzen, welches nicht Plane eitler mensdi licher Vernunft, sondern die sichre Hand des Schiksals gebildet hat. Wie sie in alles Andre, unsrem Zeitalter Eigenthümliche, eingreifen, wie sie mit diesem die Schuld und das Verdienst des Guten und Bösen theilen, das uns auszeichnen mag, müsste das GemäMe schildern, welches uns, treffend und vollständig gezeichnet, der Vorwelt an die Seite zu stellen wagte. Auch müsste ich sehr unglüklich in Auseinandersezung meiner Ideen gewesen sein, wenn man glauben könnte, der Staat sollte, meiner Meinung nach, von Zeit zu Zeit Krieg erregen. Er gebe Freiheit und dieselbe Freiheit geniesse ein benadibarter Staat. Die
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VI. Ober iUfentlidie Staatserziehung
VI Eine tiefere und ausführlidiere Prüfung erfordert die Sorgfalt des Staats für die innere Sicherheit der Bürger unter einander, zu I der ich mich jezt wende. Denn es sdieint mir nicht hinlänglich, demselben bloss allgemein die Erhaltung derselben zur Pflicht zu machen, sondern ich halte es vielmehr für nothwendig die besondern Gränzen dabei zu bestimmen, oder wenn diess allgemein nicht möglich sein sollte, wenigstens die Gründe dieser Unmög lichkeit auseinanderzusezen, und die Merkmale anzuge ben, an welchen sie in gegebenen Fällen zu erkennen sein mömten. Schon eine sehr mangelhafte Erfahrung lehrt, dass diese Sorgfalt mehr oder minder weit ausgreifen kann, ihren Endzwek zu erreidien. Sie kann sich begnü gen, begangene Unordnungen wieder herzustellen, und zu bestrafen. Sie kann schon ihre Begehung überhaupt zu verhüten suchen, und sie kann endlidi zu diesem Endzwek den Bürgern, ihrem Charakter und ihrem Geist, eine Wendung zu ertheilen bemüht sein, die hierauf abzwekt. Auch gleichsam die Extension ist versdiiedener Grade fähig. Es können bloss Beleidi gungen der Redite der Bür ger, und unmittelbarer Redite des· Staats untersudit und gerügt werden; oder man kann, indem man den Bürger, als ein Wesen ansieht, das dem Staate die Anwendung seiner Kräfte sdiuldig ist, und also durdi Zerstörung oder Sdiwächung dieser Kräfte ihn gleidisam seines Eigenthums beraubt, auch auf Handlungen ein wachsames Auge haben, deren Folgen sich nur auf den Handlenden selbst erstrek ken. Alles diess fasse idi hier auf einmal zusammen, und rede daher allgemein von allen Einriditungen des Staats, weldie in der Absicht der Beförderung der öffentlidien Sicherheit geschehen. Zugleich werden-sidi hier von selbst alle diejenigen darstellen, die, sollten sie audi nidit über all, oder nicht bloss auf Sicherheit abzwekken, das mora lisdie Wohl der Bürger angehen, da, wie ich schon oben bemerkt, die Natur der Sache selbst keine genaue Tren nung erlaubt, und diese Einriditungen doch gewöhnlich die
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VI. Ober öffentliche Staatserziehung
anders. Was die Alten von moralisdien Mitteln anwenden mochten, Nationalerziehung, Religion, Sittengeseze, alles würde bei uns minder fruditen, und einen grösseren Scha den bringen. Dann war audi das Meiste, was man jezt so oft für Wirkung der Klugheit des Gesezgebers hält, bloss schon wirkliche, nur vielleicht wankende, und daher der Sanktion des Gesezes bedürfende Volkssitte. Die Ueber einstimmung der Einrichtungen des Lykurgus mit der Lebensart der meisten unkultivirten Nationen hat schon Ferguson meisterhaft gezeigt, und da höhere Kultur die Nation verfeinerte, erhielt sich auch in der That nidit mehr, als der Schatten jener Einriditungen. Endlidi steht, dünkt mich, das Menschengeschlecht jezt auf einer Stufe der Kultur, von welcher es sich I nur durdi Ausbildung der Individuen höher emporsdiwingen kann; und daher sind alle Einrichtungen, welche diese Ausbildung hindern, und die Menschen mehr in Massen zusammendrängen, jezt schädlicher als ehmals. Sdion diesen wenigen Bemerkungen zufolge erscheint, um zuerst von demjenigen moralischen Mittel zu reden, was am weitesten gleidisam ausgreift, öffcntlidie, d. i. vom Staat angeordnete oder geleitete Erziehung wenigstens von vielen Seiten bedenklich. Nach dem ganzen vorigen Rai sonnement kommt schlechterdings Alles auf die Ausbildung des Menschen in der hödisten Mannigfaltigkeit an; öffent liche Erziehung aber muss, selbst wenn sie diesen Fehler vermeiden, wenn sie sidi bloss darauf einsdiränken wollte, Erzieher anzustellen und zu unterhalten, immer eine be stimmte Form begünstigen. Es treten daher alle die Nach theile bei derselben ein, welche der erste Theil dieser Untersuchung hinlänglich dargestellt hat, und idi brauche nur noch hinzuzufügen, dass jede Einsdiränkung verderb licher wird, wenn sie sidi auf den moralisdien Menschen bezieht, und dass, wenn irgend etwas Wirksamkeit auf das einzelne Individuum fordert, diess gerade die Erziehung ist, weldie das einzelne Individuum bilden soll. Es ist un läugbar, dass gerade daraus sehr heilsame Folgen ent springen, dass der Mensch in der Gestalt, welche ihm seine
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VI. Ober öffentliche Staatserziehung
ungewöhnlicher Grad gehörte dazu, sich auch da, wo jene Fesseln von der ersten Jugend an drükten, noch zu erheben und zu erhalten? Jede öffentliche Erziehung aber, da immer der Geist der Regierung in ihr herrscht, giebt dem Menschen eine gewisse bürgerliche Form. Wo nun eine solche Form an sich bestimmt und in sich, wenn gleich ein seitig, doch schön ist, wie wir es in den alten Staaten, und vielleicht noch jezt in mancher Republik finden, da ist nicht allein die Ausführung leichter, sondern auch die Sache selbst minder schädlich. Allein in unsren monarchi schen Verfassungen existirt- und gewiss zum nicht gerin gen Glük für die Bildung des Menschen - eine solche bestimmte Form ganz und gar nicht. Es gehört offenbar zu ihren, obgleich auch von manchen Nachtheilen beglei teten Vorzügen, dass, da doch die Staatsverbindung immer nur als ein Mittel anzusehen ist, nicht soviel KräA:e der Individuen auf diess Mittel verwandt zu werden brauchen, als in Republiken. Sobald der Unterthan den Gesezen gehorcht, und sich und die Seinigen im Wohlstande und einer nicht schädlichen Thätigkeit erhält, kümmert den Staat die genauere Art seiner Existenz nicht. Hier hätte daher die öffentliche Erziehung, die, schon als solche, sei es auch unvermerkt, den Bürger oder Unterthan, nicht den Menschen, wie die Privaterziehung, vor Augen hat, nicht Eine bestimmte Tugend oder Art zu sein zum Zwek; sie suchte vielmehr gleichsam ein Gleichgewicht aller, da nichts so sehr, als gerade diess, die Ruhe hervorbringt und erhält, welche I eben diese Staaten am eifri gsten beabsichten. Ein solches Streben aber gewinnt, wie ich schon bei einer andren Gelegenheit zu zeigen versucht habe, entweder keinen Fortgang, oder führt auf Mangel an Energie; da hingegen die Verfolgung einzelner Seiten, welche der Privaterziehung eigen ist, durch das Leben in verschiede nen Verhältnissen und Verbindungen jenes Gleichgewicht sichrer und ohne Aufopferung der Energie hervorbringt. Will man aber der öffentlichen Erziehung alle positive Beförderung dieser oder jener Art der Ausbildung unter sagen, will man es ihr zur Pflicht machen, bloss die eigene
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VI. Ober öffeodidie Staauerziehung
eine bestimmte Form ertheilen, so ist, was man auch sagen möge, zur Verhütung der Uebertretung der Geseze, zur Befestigung der Sicherheit so gut als nichts gethan. Denn Tugend und Laster hängen nicht an dieser oder jener Art des Menschen zu sein, sind nicht mit dieser oder jener Charakterseite nothwendig verbunden; sondern es kommt in Rüksicht auf sie weit mehr auf die Harmonie oder Dis harmonie der verschiedenen Charakterzüge, auf das Ver hältniss der Kraft zu der Summe der Nei gungen u. s. f. an. Jede bestimmte Charakterbildung ist daher eigner Aus schweifungen fähig, und artet in dieselben aus. Hat daher eine gll;nze Nation aussc:hliesslich vorzüglich eine gewisse erhalten, so fehlt es an aller entgegenstrebenden Kraft, und mithin an allem Gleichgewicht. Vielleicht liegt sogar hierin auch ein Grund der häufigen Veränderungen der Verfas sung der alten Staaten. Jede Verfassung wirkte so sehr auf den Nationalcharakter, dieser, bestimmt gebildet, artete aus, und brachte eine neue hervor. Endlich wirkt öffent liche Erziehung, wenn man ihr völlige Erreichung ihrer Absicht zugestehen will, zu viel. Um die in einem Staat nothwendige Sicherheit zu erhalten, ist Umformung der Sitten selbst nicht nothwendig. Allein die Gründe, womit ich diese Behauptung zu unterstüzen gedenke, bewahre ich der Folge auf, da sie auf das ganze Bestreben des Staats, auf die Sitten zu wirken, Bezug haben, und mir noch vorher von einem Paar einzelner, zu demselben ge höriger Mittel zu reden übrig bleibt. Oeffentliche Erzie hung scheint mir daher ganz ausserhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit halten muss. 2 1 Ainsi c'est peut-etre un probl�e de savoir, si les l�is lateurs Fran�ais doivent s'occuper de l'&iucation publique autrement que pour en prot�ger les progr�s; et si la constitution la plus favorable au d�veloppement du moi humain et les lois les plus propres mettre chacun sa place ne sont pas la seule �ducation, que le peuple doive attendre d'eux. l. c. p. 11. D' apr�s cela, les principes rigoureux sembleraient exiger que l'Assembl�e Nationale ne s'occupAt de l'&iucation que pour
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VII. Staat und Religion
der Religion aus eigener Gewissenhaftigkeit der Fürsten geübt, welche dieselbe ihnen von der Gottheit selbst an vertraut glaubten. In neueren Zeiten ist zwar diess Vor urtheil seltener geworden, allein der Gesid>.tspunkt dei innerlichen Sicherheit und der Sittlic:hkeit - als ihrer festesten Schuzwehr - hat die Beförderung der Religion durd>. Geseze und Staatseinrid>.tungen nid>.t minder drin gend empfohlen. Diess, glaube ich, wären etwa die Haupt epochen in der Religionsgesd>.ichte der Staaten, ob ich gleich nid>.t läugnen will, dass jede der angeführten Rük sid>.ten, und vorzüglid>. die I lezte überall mitwirken mod>.te, indess freilid>. Eine die vorzüglid>.ste war. Bei dem Bemühen, durch Religionsideen auf die Sitten zu wirken, muss man die Beförderung einer bestimmten Religion von der Beförderung der Religiosität überhaupt unterscheiden. Jene ist unstreitig drükkender und verderblid>.er, als diese. Allein überhaupt ist nur diese nicht leid>.t, ohne jene, möglid>.. Denn wenn der Staat einmal Moralität und Reli giosität unzertrennbar vereint glaubt, und es für möglid>. und erlaubt hält, durd>. diess Mittel zu wirken; so ist es kaum möglid>., dass er nicht, bei der verschiedenen Ange messenheit verschiedener Religionsmeinungen zu der, wahren, oder angenommenen Ideen nach, geformten Moralität, eine vorzugsweise vor der andren in Schuz nehme. Selbst wenn er diess gänzlid>. vermeidet, und gleichsam als Beschüzer und Vertheidiger aller Religions partheien auftritt; so muss er dodi, da er nur nadi den äussren Handlungen zu urtheilen vermag, die Meinungen dieser Partheien mit Unterdrükkung der möglichen ab weichenden Meinungen Einzelner begünstigen; und wenig stens interessirt er sid>. auf alle Fälle insofern für Eine Meinung, als er den aufs Leben einwirkenden Glauben an eine Gottheit allgemein zum herrsd>.enden zu mach.en sucht. Hiezu kommt nun nod>. über diess alles, dass, bei der Zweideutigkeit aller Ausdrükke, bei der Menge der Ideen, welche sidi Einem Wort nur zu oft untersdiieben lassen, der Staat selbst dem Ausdruk Religiosität eine be stimmte Bedeutung unterlegen müsste, wenn er sidi des-
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V II. Staat und Religion
kraft in selbstthätige Wesen verwandelt, madien den In begriff der ganzen Religion aus. Wo geistige Kultur an fängt, genügt diess nicht mehr. Die Seele sehnt sich dann nach dem Anschauen einer Vollkommenheit, von der ein Funke in ihr glimmt, von der sie aber ein weit höheres Maass ausser sich ahndet. Diess Anschauen geht in Be wunderung, und wenn der Mensch sich ein Verhältniss zu jenem Wesen hinzudenkt, in Liebe über, aus welcher Be gierde des Aehnlichwerdens, der Vereinigung entspringt. Diess findet sich auch bei denjenigen Völkern, welche noch auf den niedrigsten Stufen der Bildung stehen. Denn dar aus entspringt es, wenn selbst bei den rohesten Völkern die Ersten der Nation sich von den Göttern abzustammen, zu ihnen zurükzukehren wähnen. Nur verschieden ist die Vorstellung der Gottheit nacli der Verschiedenheit der Vorstellung von Vollkommenheit, die in jedem Zeitalter und unter jeder Nation herrscht. Die Götter der ältesten Griechen und Römer, und die Götter unsrer entferntesten Vorfahren waren Ideale körperlicher Macht und Stärke. Als die Idee des sinnlich Schönen entstand und verfeinert ward, erhob man die personificirte sinnliche Schönheit auf den Thron der Gottheit, und so entstand die Religion, welche man Religion der Kunst nennen könnte. Als man sich von dem Sinnlichen zum rein Geistigen, von dem Schönen zum Guten und Wahren erhob, wurde der In begriff aller intellek- 1 tuellen und moralischen Vollkom menheit Gegenstand der Anbetung, und die Religion ein Eigenthum der Philosophie. Vielleicht könnte nach diesem Maassstabe der Werth der verschiedenen Religionen gegen einander abgewogen werden, wenn Religionen nach Natio nen oder Partheien, niclit nach einzelnen Individuen ver schieden wären. Allein so ist Religion ganz subjektiv, beruht allein auf der Eigenthümlichkeit der Vorstellungs art jedes Menschen. Wenn die Idee einer Gottheit die Frucht wahrer geisti ger Bildung ist; so wirkt sie schön und wohlthätig auf die innere Vollkommenheit zurük. Alle Dinge erscheinen uns in veränderter Gestalt, wenn sie Geschöpfe planvoller
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Vll. Staat und lleligion
jeder Religion eine Penonificirung, eine An der Versinn lichung zum Grunde, ein Anthropomorphismus in höhe rem oder geringerem Grade. Jene Idee der Vollkommen heit wird auch demjenigen unaufhörlich vorschweben, der nicht gewohnt ist, die Summe alles Moralisch Guten in Ein Ideal zusammenzufassen, und sich in Verhältniss zu diesem Wesen zu denken; sie wird ihm Antrieb zur Thä tigkeit, Stoff aller Glükseligkeit sein. Fest durch die Erfah rung überzeugt, dass seinem Geiste Fortschreiten in höherer moralischer Stärke möglich ist, wird er mit muthigem Eifer nach dem Ziele streben, das er sich stekt. Der Ge danke der Möglichkeit der Vernichtung seines Daseins wird ihn nicht schrekken, sobald seine täuschende Einbil dungskraft nicht mehr im Nichtsein das Nichtsein noch fühlt. Seine unabänderliche Abhängigkeit von äusseren Schiksalen drükt ihn nicht; gleichgültiger gegen äussres Geniessen und Entbehren, blikt er nur auf das rein Intel lektuelle und Moralische hin, und kein Schiksal vermag etwas über das Innre seiner Seele. Sein Geist fühlt sich durch Selbstgenügsamkeit unabhängig, durch die Fülle seiner Ideen, und das Bewusstsein seiner innren Stärke über den Wandel der Dinge gehoben. Wenn er nun in seine Vergangenheit zurükgeht, Schritt vor Schritt auf sucht, wie er jedes Ereigniss bald auf diese, bald auf jene Weise benuzte, wie er nach und nach zu dem ward, was er jezt ist, wenn er so Ursach und Wirkung, Zwek und Mittel, alles in sich vereint sieht, und dann, voll des edel sten Stolzes, dessen endliche Wesen fähig sind, ausruft: Hast Du nicht alles selbst vollendet, Heiligglühend Herz? wie müssen da in ihm alle die Ideen von Alleinsein, von Hülflosigkeit, von Mangel an Schuz, und Trost, und Bei stand verschwinden, die man gewöhnlich da glaubt, wo eine persönliche, ordnende, vernünftige Ursach der Kette des Endlichen fehlt? Dieses Selbstgefühl, dieses in und durch sich Sein wird ihn auch I nicht hart und unempfind lich gegen andre Wesen machen, sein Herz nicht der
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Vll. Staat und Religion
welches die religiöseste Stimmung, wie die am meisten ent gegengesezte, fähig ist. Allein es ist gehässig, bei so wenig angenehmen Gemählden zu verweilen, und die Geschichte schon stellt ihrer zur Genüge auf. Vielleicht fühn es audi sogar eine grössere Evidenz mit sich, auf I die Natur der Moralität selbst, und auf die genaue Verbindung, nicht bloss der Religiosität, sondern auch der Religionssysteme der Menschen mit ihren Empfindungssystemen einen flüch tigen Blik zu werfen. Nun ist weder dasjenige, was die Moral, als Pflidit vor schreibt, noch dasjenige, was ihren Gesezen gleichsam die Sanktion giebt, was ihnen Interesse für den Willen leiht, von Religionsideen abhängig. Ich führe hier nicht an, dass eine solche Abhängigkeit sogar der Reinheit des mora lischen Willens Abbruch thun würde. Man könnte viel leicht diesem Grundsaz in einem, aus der Erfahrung ge schöpften, und auf die Erfahrung anzuwendenden Raison nement, wie das gegenwärtige, die hinlängliche Gültigkeit abspredien. Allein die Beschaffenheiten einer Handlung, welche dieselbe zur Pflicht machen, entspringen theils aus der Natur der menschlichen Seele, theils aus der näheren Anwendung auf die Verhältnisse der Menschen gegen ein ander; und wenn dieselben auch unläugbar in einem ganz vorzüglichen Grade durch religiöse Gefühle empfohlen werden, so ist diess weder das einzige, noch auch bei wei tem ein auf alle Charaktere anwendbares Mittel. Vielmehr beruht die Wirksamkeit der Religion schlechterdings auf der individuellen Beschaffenheit der Menschen, und ist im strengsten Verstande subjektiv. Der kalte, bloss nachden kende Mensch, in dem die Erkenntniss nie in Empfindung übergeht, dem es genug ist, das Verhältniss der Dinge und Handlungen einzusehen, um seinen Willen danadi zu be stimmen, bedarf keines Religionsgrundes, um tugendhaft zu handlen, und, soviel es seinem Charakter nadi möglidi ist, tugendhaft zu sein. Ganz anders ist es hingegen, wo die Fähigkeit zu empfinden sehr stark ist, wo jeder Gedanke leicht Gefühl wird. Allein audi hier sind die Nüancen unendlich verschieden. Wo die Seele einen starken Hang
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VII. Staat und Religion
und der Phantasie genügt; da folgt der Glaube unaufhalt bar dem eigenthümlichen Triebe der VernunA:, jeden Be griff, bis zur Hinwegräumung aller Schranken, bis zum Ideal zu erweitern, und heftet sidi fest an ein Wesen, das alle andre Wesen umschliesst, und rein und ohne Vermitt lung existirt, anschaut und schaft. Allein oft besdiränkt auch eine genügsamere Bescheidenheit den Glauben inner halb- des Gebiets der Erfahrung; oft vergnügt sich zwar das Gefühl gern an dem, der Vernunft so eignen Ideal, fin det aber einen wollustvolleren Reiz in dem Bestreben, ein geschränkt auf die Welt, für die ihm Empfänglichkeit ge währt ist, die sinnliche und unsinnliche Natur enger zu verweben, dem Zeichen einen reidteren Sinn, und der Wahrheit ein verständlicheres, ideenfruditbareres Zeichen zu leihen; und oft wird so der Mensdt für das Entbehren jener trunknen Begeisterung hoffender Erwartung, indem er seinem Blik in unendlidie Fernen zu sdiweifen verbie tet, durch das, ihn immer begleitende Bewusstsein des Ge lingens seines / Bestrebens entsdtädigt. Sein minder kühner Gang ist dodi sidirer; der Begriff des Verstandes, an den er sidi festhält, bei minderem Reichthum, doch klarer; die sinnlidie Ansdiauung, wenn gleich weniger der Wahrheit treu, doch für ihn tauglidier, zur Erfahrung verbunden zu werden. Nichts bewundert der Geist des Mensdien über haupt so willig und mit so voller Einstimmung seines Ge fühls, als weisheitsvolle Ordnung in einer zahllosen Menge mannigfaltiger, vielleicht sogar mit einander streitender Individuen. Indess ist diese Bewunderung einigen nodi in einem bei weitem vorzüglicheren Grade eigen, und diese verfolgen daher vor allen gern die Vorstellungsart, nadi weldier Ein Wesen die Welt sdiuf und ordnete, und mit sorgender Weisheit erhält. Allein andren ist gleidisam die Kraft des Individuums heiliger, andre fesselt diese mehr, als die Allgemeinheit der Anordnung, und es stellt sich ihnen daher öfter und natürlicher der, wenn idi so sagen darf, entgegengesezte Weg dar, der nemlich, auf weldiem das Wesen der Individuen selbst, indem es sich in sidi ent wikkelt, und durch Einwirkung gegenseitig modificirt,
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sehe, und es sdteint mir unedel, überall da, wo es der Mensdt ist, weldter die Untersudtung besdt.äfl:igt, nidtt aus den hödtsten Gesidttspunkten auszugehen. Kehre im jezt - nadt diesem allgemeinen, auf die Reli gion und ihren Einfluss im Leben geworfenen Blik - auf die Frage zurük, ob der Staat durdt die Religion auf die Sitten der Bürger wirken darf oder nidtt? so ist es gewiss, dass die Mittel, welche der Gesezgeber zum Behuf der mo ralisdten Bildung anwendet, immer in dem Grade nüzlidt und zwekmässig sind, in weldtem sie die innere Entwik kelung der Fähigkeiten und Neigungen begünstigen. Denn alle Bildung hat ihren Ursprung allein in dem Innern der Seele, und kann durdt äussre Veranstaltungen nur veran lasst, nie hervorgebradtt werden. Dass nun die Religion, weldte ganz auf Ideen, Empfindungen und innerer Ueber zeugung beruht, ein solches Mittel sei, ist unläugbar. Wir bilden den Künstler, indem wir sein Auge an den Meister werken der Kunst üben, seine Einbildungskrafl mit den sdtönen Gestalten der Produkte des Alterthums nähren. Ebenso muss der sittlidte Mensch gebildet werden durdt das Anschauen hoher moralisdter Vollkommenheit, im Le ben durch Umgang, und durdt zwekmässiges Studium der Geschidtte, endlich durdt das Ansdtauen der hödtsten, idealisdten Vollkommenheit im Bilde der Gottheit. Aber diese leztere Ansidtt ist, wie idt im Vorigen gezeigt zu haben glaube, nidtt für jedes Auge gemadtt, oder um ohne Bild zu reden, diese Vorstellungsart ist nidtt jedem Cha rakter angemessen. Wäre sie es aber audi:; so ist sie dodt nur da wirksam, wo sie aus dem Zusammenhange aller Ideen und Empfindungen entspringt, 1 wo sie mehr von selbst aus dem Innern der Seele hervorgeht, als von aussen in dieselbe gelegt wird. Wegräumung der Hindernisse, mit Religionsideen vertraut zu werden, und Begünstigung des freien Untersudtungsgeistes sind folglich die einzigen Mit tel, deren der Gesezgeber sich bedienen darf; geht er wei ter, sucht er die Religiosität direkt zu befördern, oder zu leiten, oder nimmt er gar gewisse bestimmte Ideen in Sdtuz, fordert er, statt wahrer Ueberzeugung, Glauben auf
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braucht nur den Wohlstand kultivirter, und aufgeklärter Nationen mit der Dürftigkeit roher und ungebildeter Völ ker zu vergleichen, um von diesem Saze überzeugt zu wer den. Daher sind auch die Bemühungen aller, die sich je mit Staatseinrichtungen beschäftigt haben, immer dahin gegangen, das Wohl des Staats zum eignen Interesse des Bürgers zu machen, und den Staat in eine Maschine zu verwandeln, die durch die innere Kraft ihrer Triebfedern in Gang erhalten würde, und nicht unaufhörlich neuer äussrer Einwirkungen bedürfte. Wenn die neueren Staaten sich eines Vorzugs vor den alten rühmen dürfen; so ist es vorzüglich, weil sie diesen Grundsaz mehr realisirten. Selbst dass sie sich der Religion, als eines Bildungsmittels bedienen, ist ein Beweis davon. Doch auch die Religion, insofern nemlich durch gewisse bestimmte Säze nur gute Handlungen hervorgebracht, oder durch positive Leitung überhaupt auf die Sitten gewirkt werden soll, wie es hier der Fall ist, ist ein fremdes, von aussen einwirkendes Mit tel. Daher muss es immer des Gesezgebers leztes, aber-wie ihn wahre Kenntniss des Menschen bald lehren wird -nur durch Gewährung der höchsten Freiheit erreichbares Ziel bleiben, die Bildung der Bürger bis dahin zu erhöhen, dass sie alle Triebfedern zur Beförderung des Zweks des Staats allein in der Idee des Nuzens finden, welchen ihnen die Staatseinrichtung zu Erreichung ihrer individuellen Ab sichten gewährt. Zu dieser Einsicht aber ist Aufklärung und hohe Geistesbildung nothwendig, welche da nicht emporkommen können, wo der freie Untersuchungsgeist durch Geseze beschränkt wird. Nur dass man sich überzeugt hält, ohne bestimmte, ge glaubte Religionssäze, oder wenigstens ohne Aufsicht des Staats auf die Religion der Bürger, könne auch äussre Ruhe und Sittlichkeit nicht bestehen, ohne sie sei es der bürger lichen Gewalt unmöglich, das Ansehen der Geseze zu er halten, macht, dass man jenen Betraditungen kein Gehör giebt. Und doch bedürfte der Einfluss, den Religionssäze, die auf diese Weise angenommen werden, und überhaupt jede, durch Veranstaltungen des Staats beförderte Reli-
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Gefühle vorhanden sein, da entspringt sie mehr aus einem, nur noch unentwikkelten Hange zur Sittlichkeit, auf den sie hernach nur wieder zurükwirkt. Und überhaupt wird ja niemand den Einfluss der Religion auf die Sittlichkeit ganz abläugnen wollen; es fragt sich nur immer, ob er von einigen bestimmten Religionssäzen abhängt? und dann, ob er so entschieden ist, dass Moralität und Religion darum in unzertrennlicher Verbindung mit einander stehen? Beide Fragen müssen, glaube ich, verneint werden. Die Tugend stimmt so sehr mit den ursprünglichen Neigungen des Menschen überein, die Gefühle der Liebe, der Verträg lichkeit, der Gerechtigkeit haben so etwas Süsses, die der uneigennüzigen Thätigkeit, der Aufopferung für andre so 1 etwas Erhebendes, die Verhälmisse, weldie daraus im häuslidien und im gesellschaftlichen Leben überhaupt ent springen, sind so beglükkend, dass es weit weniger noth wendig ist, neue Triebfedern zu tugendhaften Handlungen hervorzusudien, als nur denen, welche sdion von selbst in der Seele liegen, freiere und ungehindertere Wirksamkeit zu verschaffen. Wollte man aber audi weiter gehen, wollte man neue Beförderungsmittel hinzufügen; so dürfte man dodi nie einseitig vergessen, ihren Nuzen gegen ihren Schaden ab zuwägen. Wie vielfadi aber der Sm.ade eingeschränkter Denkfreiheit ist, bedarf wohl, nachdem es so oft gesagt, und wieder gesagt ist, keiner weitläuftigen Auseinander sezung mehr; und ebenso enthält der Anfang dieses Auf sazes schon alles, was ich über den Nachtheil jeder positi ven Beförderung der Religiosität durdi den Staat zu sagen für nothwendig halte. Erstrekte sidi dieser Schade bloss auf die Resultate der Untersudiungen, brächte er bloss Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit in unsrer wissen schaftlidien Erkenntniss hervor; so möchte es vielleicht einigen Schein haben, wenn man den Nuzen, den man für den Charakter davon erwartet - audi erwarten darf? dagegen abwägen wollte. Allein so ist der Naditheil bei weitem beträchtlicher. Der Nuzen freier Untersudiung dehnt sich auf unsre ganze Art, nidit bloss zu denken, son,
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wie in dem selbstdenkenden Kopfe, neue Mittel zur Wahrheit zu gelangen; sie nehmen ihm bloss die Gewiss heit, ohne ihm ein Mittel anzuzeigen, dieselbe auf eine andre Weise wieder zu erhalten. Diese Betrachtung, weiter verfolgt, führt auf die Bemerkung, dass es überhaupt nicht gut ist, einzelnen Resultaten eine so grosse Wichtigkeit beizumessen, zu glauben, dass entweder so viele andre Wahrheiten, oder so viele äussre oder innere nüzliche Fol gen von ihnen abhängen. Es wird dadurch zu leicht ein Stillstand in der Untersuchung hervorgebracht, und so arbeiten manchmal die freiesten und aufgeklärtesten Be hauptungen gerade gegen den Grund, ohne den sie selbst nie hätten emporkommen können. So wichtig ist Geistes freiheit, so schädlich jede Einschränkung derselben. Auf der andren Seite hingegen fehlt es dem Staate nicht an Mitteln, die Geseze aufrecht zu erhalten, und Verbrechen zu verhüten. Man verstopfe, soviel es möglich ist, diejeni gen Quellen unsittlicher Handlungen, welche sich in der Staatseinrichtung selbst finden, man schärfe die Aufsicht der Polizei auf begangene Verbrechen, man strafe auf eine zwekmässige Weise, und man wird seines Zweks nicht verfehlen. Und vergisst man denn, dass die Geistesfreiheit selbst, und die Aufklärung, die nur unter ihrem Schuze gedeiht, das wirksamste aller Beförderungsmittel der Sicherheit ist? Wenn alle übrige nur den Ausbrüchen wehren, so wirkt sie auf Neigungen und Gesinnungen; wenn alle übrige nur eine Uebereinstimmung äussrer Handlungen hervorbringen, so schaft sie eine I innere Har monie des Willens und des Bestrebens. Wann wird man aber auch endlich aufhören, die äusseren Folgen der Handlungen höher zu achten, als die innere geistige Stim mung, aus welcher sie fliessen? wann wird der Mann auf stehen, der für die Gesezgebung ist, was Rousseau der Erziehung war, der den Gesichtspunkt von den äussren physischen Erfolgen hinweg auf die innere Bildung des Menschen zurükzieht? Man glaube auch nicht, dass jene Geistesfreiheit und Aufklärung nur für einige Wenige des Volks sei, dass für
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wie er sie aufnehme? diess hängt gänzlich von seiner ganzen Art zu sein, zu denken und zu empfinden ab. Auch nun angenommen, der Staat wäre im Stande, diese auf eine, seinen Absichten bequeme Weise umzuformen wovon doch die Unmöglichkeit wohl unläugbar ist - so wäre ich in der Rechtfertigung der, in dem ganzen bis herigen Vortrage aufgestellten Behauptungen sehr un glüklich gewesen, wenn ich hier noch alle die Gründe wiederholen müsste, welche es dem Staate überall verbie ten, sim des Menschen, mit Uebersehung der individuellen Zwekke desselben, eigenmächtig zu seinen Absimten zu bedienen. Dass auch hier nicht absolute Nothwendigkeit eintritt, welche allein vielleicht eine Ausnahme zu redit fertigen vermöchte, zeigt die Unabhängigkeit der Mora lität von der Religion, die ich darzuthun versucht habe, und werden diejenigen Gründe noch in ein helleres Licht stellen, durch die ich bald zu zeigen gedenke, dass die Erhaltung der innerlichen Sicherheit in einem Staate kei neswegs es erfordert, den Sitten überhaupt eine eigne be stimmte Richtung zu geben. Wenn aber irgend etwas in den Seelen der Bürger einen fruchtbaren Boden für die Religion zu bereiten vermag, wenn irgend etwas die fest aufgenom mene, und in das Gedanken- wie in das Empfindungs system übergegangene Religion wohlthätig auf die Sitt lichkeit zurükwirken lässt; so ist es die Freiheit, welche dodi immer, wie wenig es auch sei, durch eine positive Sorgfalt des Staats leidet. Denn je mannigfaltiger und eigenthümlicher der Mensch sich ausbildet, je höher sein Gefühl sich emporschwingt; desto leichter richtet sich auch sein Blik von dem engen, wediselnden Kreise, der ihn umgiebt, auf das hin, dessen Unendlichkeit und Einheit den Grund jener Schranken und jenes Wechsels enthält, er mag nun ein solches Wesen zu finden, oder nicht zu finden vermeinen. Je freier ferner der Mensch ist, desto selbstständiger wird er in sich, und desto wohlwollender gegen andre. Nun aber führt nichts so der Gottheit zu, als wohlwollende Liebe; und macht nichts so das Entbeh ren der Gottheit der Sittlichkeit unschädlich, als Selbst-
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oder zu bestimmen, die theils an sidt, jedodt ohne fremde Redtte zu kränken, unsittlidi sind, theils leidtt zur Un sittlidikeit führen. Dahin gehören vorzüglidt alle den Luxus einsdtränkende Geseze. 1 Denn nidtts ist unstreitig eine so reidie und gewöhnlidie Quelle unsittlidter, selbst gesezwidriger Handlungen, als das zu grosse Uebergewidit der Sinnlidikeit in der Seele, oder das Misverhältniss der Neigungen und Begierden überhaupt gegen die Kräfte der Befriedigung, weldte die äussre Lage darbietet. Wenn Enthaltsamkeit und Mässigkeit die Menschen mit den ihnen angewiesenen Kreisen zufriedner madtt; so sudten sie min der, dieselben auf eine, die Redtte andrer beleidigende, oder wenigstens ihre eigne Zufriedenheit und Glükselig keit störende Weise zu verlassen. Es sdteint daher dem wahren Endzwek des Staats angemessen, die Sinnlidtkeit - aus weldier eigentlidt alle Kollisionen unter den Men sdten entspringen, da das, worin geistige Gefühle über wiegend sind, immer und überall harmonisdi mit einander bestehen kann - in den gehörigen Sm.ranken zu halten; und, weil diess freilidi das leidt:teste Mittel hierzu sdieint, so viel als möglidi zu unterdrükken. Bleibe idi indess den bisher behaupteten Grundsäzen getreu, immer erst an dem wahren Interesse des Mensdten die Mittel zu prüfen, deren der Staat sidt bedienen darf; so wird es nothwendig sein, mehr den Einfluss der Sinnlidikeit auf das Leben, die Bil dung, die Thätigkeit und die Glükseligkeit des Mensdien, soviel es zu dem gegenwärtigen Endzwekke dient, zu untersudien - eine Untersuchung, welche, indem sie den thätigen und geniessenden Mensdten überhaupt in seinem Innern zu schildern versudit, zugleidi ansdiaulidier dar stellen wird, wie sdtädlicb oder wohlthätig demselben überhaupt Einsdtränkung und Freiheit ist. Erst wenn diess gesdiehen ist, dürfte sidt die Befugniss des Staats, auf die Sitten der Bürger positiv zu wirken, in der hödisten Allgemeinheit beurtheilen, und damit dieser Theil der Auflösung der vorgelegten Frage besdiliessen lassen. Die sinnlidien Empfindungen, Neigungen und Leiden sdiafl:en sind es, weldie sidi zuerst und in den heftigsten
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räumt auch Kant den bildenden Künsten den Vorzug vor der Musik ein. Allein er bemerkt sehr richtig, dass diess auch zum Maassstabe die Kultur voraussezt, welche die Künste dem Gemüth verschaffen, und ich möchte hinzu sezen, welche sie ihm unmittelbar verschaffen. Es fragt sich indess, ob diess der richtige Maassstab sei? Meiner Idee nach, ist Energie die erste und einzige Tugend des Menschen. Was seine Energie erhöht, ist mehr werth, als was ihm nur Stoff zur Energie an die Hand giebt. Wie nun aber der Mensch auf Einmal nur Eine Sache empfin det, so wirkt auch das am meisten, was nur Eine Sache zugleich ihm darstellt; und wie in einer Reihe auf einander folgender Empfindungen jede einen, durch alle vorige ge wirkten, und auf alle folgende I wirkenden Grad hat, das, in welchem die einzelnen Bestandtheile in einem ähnlichen Verhältnisse stehen. Diess alles aber ist der Fall der Musik. Ferner ist der Musik bloss diese Zeitfolge eigen; nur diese ist in ihr bestimmt. Die Reihe, welche sie darstellt, nöthigt sehr wenig zu einer bestimmten Empfindung. Es ist gleichsam ein Thema, dem man unendlich viele Texte unterlegen kann. Was ihr also die Seele des Hörenden insofern derselbe nur überhaupt, und gleichsam der Gat tung nach, in einer verwandten Stimmung ist - wirklich unterlegt, entspringt völlig frei und ungebunden aus ihrer eignen Fülle, und so umfasst sie es unstreitig wärmer, als was ihr gegeben wird, und was oft mehr beschäftigt, wahrgenommen, als empfunden zu werden. Andre Eigen thümlichkeiten und Vorzüge der Musik, z.B. dass sie, da sie aus natürlichen Gegenständen Töne hervorlokt, der Natur weit näher bleibt, als Mahlerei, Plastik und Dicht kunst, übergehe ich hier, da es mir nicht darauf ankommt, eigentlich sie und ihre Natur zu prüfen, sondern ich sie nur, als ein Beispiel brauche, um an ihr die verschiedene Natur der sinnlichen Empfindungen deutlicher darzustel len. Die eben geschilderte Art, zu wirken, ist nun nicht der Musik allein eigen. Kant bemerkt eben sie als möglich bei einer wechselnden Farbenmischung, und in noch höherem Grade ist sie es bei dem, was wir durch das Gefühl emp-
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die Plastik, spricht sie die Empfindung weniger eindrin gend an, als der Gesang und die Musik. Allein freilich vergisst man diesen Mangel leicht, da sie - jene vorhin bemerkte Vielseitigkeit noch abgerechnet - dem innren, wahren Menschen gleichsam am nächsten tritt, den Ge danken, wie die Empfindung, mit der leichtesten Hülle bekleidet. Die energisch wirkenden sinnlichen Empfindungen denn nur um diese zu erläutern, rede ich hier von Kün sten - wirken wiederum verschieden, theils je nachdem ihr Gang wirklich das abgemessenste Verhältniss hat, theils je nadidem die Bestandtheile selbst, gleichsam die Materie, die Seele stärker ergreifen. So wirkt die gleich richtige und schöne Menschenstimme mehr als ein todtes Instrument. Nun aber ist uns nie etwas näher, als das eigne körperliche Gefühl. Wo also dieses selbst mit im Spiele ist, da ist die Wirkung am höchsten. Aber wie immer die unverhältniss mässige Stärke der Materie gleichsam die zarte Form unterdrükt; so geschieht es auch hier oft, und es muss also 1 zwischen beiden ein richtiges Verhältniss sein. Das Gleich gewicht bei eine,m unrichtigen Verhältniss kann hergestellt werden durdi Erhöhung der Kraft des einen, oder Schwä chung der Stärke des andren. Allein es ist immer falsch, durch Schwächung zu bilden, oder die Stärke müsste denn nicht natürlich, sondern erkünstelt sein. Wo sie aber das nicht ist, da schränke man sie nie ein. Es ist besser, dass sie sich zerstöre, als dass sie langsam hinsterbe. Doch genug hievon. Ich hoffe meine Idee hinlänglidi erläutert zu haben, obgleich ich gern die Verlegenheit gestehe, in der ich mich bei dieser Untersuchung befinde, da auf der einen Seite das Interesse des Gegenstandes, und die Unmöglich keit, nur die nöthigen Resultate aus andren Schriften - da ich keine kenne, weldie gerade aus meinem gegenwärtigen Gesichtspunkt ausgienge - zu entlehnen, mich. einlud, mich weiter auszudehnen; und auf der andren Seite die Betrachtung, dass diese Ideen nicht eigentlich für sich, sondern nur als Lehnsäze, hiehergehören, mich immer in die gehörigen Schranken zurükwies. Die gleidie Entschul-
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weiter von der Wahrheit entfernt ist. Auf diesem Boden, wenn nicht allein, dodi vorzüglidi, blüht audi das Schöne, und noch weit mehr das Erhabene auf, das den Menschen der Gottheit gleichsam noch näher bringt. Die Nothwen digkeit eines reinen, von allen Zwekken entfernten Wohl gefallens an einem Gegenstande, ohne Begriff, bewährt ihm gleidisam seine Abstammung von dem Unsichtbaren, und seine Verwandtschaft damit; und das Gefühl seiner Unangemessenheit zu dem überschwenglichen Gegenstande verbindet, auf die menschlich göttlichste Weise, unendliche Grösse mit hingebender Demuth. Ohne das Schöne, fehlte dem Menschen die Liebe der Dinge um ihrer selbst willen; ohne das Erhabne, der Gehorsam, welcher jede Belohnung versdimäht, und niedrige Furcht nicht kennt. Das Studium des Sdiönen gewährt Gesdimak, des Erhabnen - wenn es auch hiefür ein Studium giebt, und nicht Gefühl und Dar stellung des Erhabnen allein Frucht des Genies ist - riditig abgewägte Grösse. Der Gesdimak allein aber, dem allemal Grösse zum Grunde liegen muss, weil nur das Grosse des Maasses, und nur das Gewaltige der Haltung bedarf, ver eint alle Töne des vollgestimmten Wesens in eine reizende Harmonie. Er bringt in alle unsre, auch bloss geistigen EmpfindungenundNeigungensoetwasGemässigtes,Gehalt nes, auf Einen Punkt hin Gerichtetes. Wo er fehlt, da ist die sinnliche Begierde roh und ungebändigt, da haben selbst wis senschaftliche Untersudiungen vielleiditScharfsinn und Tief sinn, aber nicht Feinheit, nicht Politur, nicht Fruchtbarkeit in der Anwendung. Ueberhaupt sind ohne ihn die Tiefen des Geistes, wie die Schäze des Wissens todt und unfrucht bar, ohne ihn der Adel und die Stärke des moralischen Willens selbst rauh und ohne erwärmende Seegenskraft. 1 Forschen und Schaffen - darum drehen und darauf beziehen sich wenigstens, wenn gleidi mittelbarer oder unmittelbarer, alle Besdiäftigungen des Mensdien. Das Forschen, wenn es die Gründe der Dinge, oder die Sdiran ken der Vernunft erreichen soll, sezt, ausser der Tiefe, einen mannigfaltigen Reichthum und eine innige Erwär mung des Geistes, eine Anstrengung der vereinten mensch-
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Daher erscheint der also gebildete Mensch in seiner höchsten Schönheit, wenn er ins praktische Leben tritt, wenn er, was er in sich aufgenommen hat, zu neuen Schöpfungen in und ausser sich fruchtbar macht. Die Ana logie zwischen den Gesezen der Plastischen Natur, und denen des geistigen Schaffens ist schon mit einem warlich unendlich genievollen Blikke beobachtet, und mit treffen den Bemerkungen bewährt worden. 1 Doch vielleicht wäre eine noch anziehendere Ausführung möglich gewesen; statt der Untersuchung unerforschbarer Geseze der Bildung des Keims, hätte die Psychologie vielleicht eine reichere Be lehrung erhalten, wenn das geistige Schaffen gleichsam als eine feinere Blüthe des körperlichen Erzeugens näher gezeigt worden wäre. Um auch in dem moralischen Leben von demjenigen zuerst zu reden, was am meisten blosses Werk der kalten Vernunft scheint; so macht es die Idee des Erhabenen allein möglich, dem unbedingt gebietenden Geseze zwar allerdings, durch das Medium des Gefühls, auf eine menschliche, und doch, durch den völligen Mangel der Rüksicht auf Glükseligkeit oder Unglük, auf eine göttlich uneigennüzige Weise zu gehorchen. Das Gefühl der Unangemessenheit der menschlichen Kräfte zum moralischen Gesez, das tiefe Bewusstsein, dass der Tugend hafteste nur der ist, welcher am innigsten empfindet, wie unerreichbar hoch das Gesez über ihn erhaben ist, erzeugt die Achtung - eine Empfindung, welche nicht mehr kör perliche Hülle zu umgeben scheint, als nöthig ist, sterbliche Augen nicht durch den reinen Glanz zu verblenden. Wenn nun das moralische I Gesez jeden Menschen, als einen Zwek in sich ZU' betraditen nöthigt, so vereint sich mit ihm das Schönheitsgefühl, das gern jedem Staube Leben einhaucht, um, auch in ihm, an einer eignen Existenz sich zu freuen, und das um so viel voller und schöner den Menschen auf nimmt und umfasst, als es, unabhängig vom Begriff, nicht auf die kleine Anzahl der Merkmale besdiränkt ist, welche der Begriff, und noch dazu nur abgeschnitten und einzeln, 1
F. v. Dalberg vom Bilden und Erfinden.
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unermüdet nachforsdi.t, wessen ridi.tiges und feines Schön heitsgefühl keine reizende Gestalt unbemerkt lässt, wessen Drang, das ausser sich Empfundene in sich aufzunehmen und das in sich Aufgenommene zu neuen Geburten zu be frudi.ten, jede Schönheit in seine Individualität zu verwan deln, und, mit jeder sein ganzes Wesen gattend, neue Schönheit zu erzeugen strebt, der kann das befriedigende Bewusstsein nähren, auf dem ridi.tigen Wege zu sein, dem Ideale sich zu nahen, das selbst die kühnste Phantasie der Menschheit vorzuzeidi.nen wagt. Ich habe durch diess, an und für sidi. politisdi.en Unter sudi.ungen ziemlidi. fremdartige, allein in der von mir gewählten Folge der Ideen nothwendige Gemählde zu zeigen versudi.t, wie die Sinnlidi.keit, mit ihren heilsamen Folgen, durdt das ganze Leben, und alle Besdi.äftigungen des Menschen verflochten ist. Ihr dadurch Freiheit und Adi.tung zu erwerben, war meine Absidi.t. Vergessen darf ich indess nidi.t, dass gerade die Sinnlidi.keit auch die Quelle einer grossen Menge physisdi.er und moralischer Uebel ist. Selbst moralisch nur dann heilsam, wenn sie in ridi.tigem Verhältniss mit der Uebung der geistigen Kräf\:e steht, erhält sie so leicht ein schädliches Ueber gewicht. Dann wird mensdi.liche Freude thierisdi.er Genuss, der Gesdi.mak versdi.windet, oder erhält unnatürlidi.e Richtungen. Bei diesem lezteren Ausdruk kann ich mich jedoch nicht enthalten, vorzüglidi. in Hinsidi.t auf gewisse einseitige Beurtheilungen, noch zu bemerken, dass nicht unnatürlidi. heissen muss, was nicht gerade diesen oder jenen Zwek der Natur erfüllt, sondern was den allgemeinen End zwek derselben mit dem Mensdi.en vereitelt. Dieser aber ist, dass sein Wesen sich zu immer höherer Vollkommenheit bilde, und daher vorzüglidi., dass seine denkende und empfindende Kraf\:, beide in verhältnissmässigen Graden der Stärke, sidi. unzertrennlich vereine. Es kann aber ferner ein Misverhältniss entstehen zwischen der Art, wie der Mensch seine Kräf\:e ausbildet, und überhaupt in Thätig keit sezt, und zwischen den Mitteln des Wirkens und Geniessens, die seine Lage ihm darbietet, und diess Mis-
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Zwekken ziehn will, wird sidt dieser Mittel nie bedienen. Denn abgeredtnet, dass Zwang und Leitung nie Tugend hervorbringen; so sdtwädien sie audi nodt immer die Kraft. Was sind aber Sitten ohne moralisdie Stärke und Tugend? Und wie gross audi das Uebel des Sittenverderb nisses sein mag, es ermangelt selbst der heilsamen Folgen nicht. Durdt die Extreme müssen die Menschen zu der Weisheit und Tugend mittlerem Pfad gelangen. Extreme müssen, gleidt grossen, in die Ferne leuditenden Massen, weit wirken. Um den I feinsten Adern des Körpers Blut zu versdiaffen, muss eine beträdttlidte Menge in den grossen vorhanden sein. Hier die Ordnung der Natur stören wollen, heisst moralisdies Uebel anrichten, um phy sisdies zu verhüten. Es ist aber audt, meines Eradttens, unriditig, dass die Gefahr des Sittenverderbnisses so gross und dringend sei; und so mandies audt sdion zu Bestätigung dieser Behaup tung im Vorigen gesagt worden ist, so mögen dodt nodi folgende Bemerkungen dazu dienen, sie ausführlidter zu beweisen: 1., Der Mensdi ist an sidt mehr zu wohlthätigen, als eigennüzigen Handlungen geneigt. Diess zeigt sogar die Gesdiidtte der Wilden. Die häuslidten Tugenden haben so etwas Freundlidies, die öffentlidten des Bürgers so etwas Grosses und Hinreissendes, dass audi der bloss unverdor bene Mensdi ihrem Reiz selten widenteht. 2., Die Freiheit erhöht die Kraft, und führt, wie immer die grössere Stärke, allemal eine Art der Liberalität mit sich. Zwang erstikt die Kraft, und führt zu allen eigen nüzigen Wünsdien, und allen niedrigen Kunstgriffen der Sdtwädie. Zwang hindert vielleicht mandte Vergebung, raubt aber selbst den gesezmässigen Handlungen von ihrer Sdtönheit. Freiheit veranlasst vielleidtt mandte Verge bung, giebt aber selbst dem Laster eine minder unedle Gestalt. 3., Der sidt selbst überlassene Mensdt kommt sdtwerer auf ridttige Grundsäze, allein sie zeigen sidi unaustilgbar in seiner Handlungsweise. Der absidttlidi geleitete emp-
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von selbst entstehende Folge seiner übrigen schlechterdings nothwendigen Maassregeln unvermeidlich ist, gänzlich enthalten müsse, und dass alles, was diese Absicht beför dern kann, vorzüglich alle besondre Aufsicht auf Erzie hung, Religionsanstalten, Luxusgeseze u. s. f. schlechter dings ausserhalb der Schranken seiner Wirksamkeit liege.
IX Nachdem ich jezt die wichtigsten und schwierigsten Theile der gegenwärtigen Untersuchung geendigt habe, und ich mich nun der völligen Auflösung der vorgelegten Frage nähere; ist es nothwendig, wiederum einmal einen Blik zurük auf das, bis hieher, entwikkelte Ganze zu wer fen. Zuerst ist die Sorgfalt des Staats von allen denjenigen Gegenständen entfernt worden, welche nicht zur Sicherheit der Bürger, der auswärtigen sowohl als der innerlichen, gehören. Dann ist eben diese Sicherheit, als der eigent-1 liche Gegenstand der Wirksamkeit des Staats dargestellt, und endlich das Princip festgesezt worden, dass, um dieselbe zu befördern und zu erhalten, nicht auf die Sitten und den Charakter der Nation selbst zu wirken, diesem eine be stimmte Richtung zu geben, oder zu nehmen, versucht werden dürfe. Gewissermaassen könnte daher die Frage: in welchen Sdiranken der Staat seine Wirksamkeit halten müsse? schon vollständig beantwortet scheinen, indem diese Wirksamkeit auf die Erhaltung der Sicherheit, und in Absicht der Mittel hiezu noch, genauer auf diejenigen eingeschränkt ist, welche sich nicht damit befassen, die Nation zu den Endzwekken des Staats gleichsam bilden, oder vielmehr ziehen zu wollen. Denn wenn diese Be stimmung gleich nur negativ ist; so zeigt sich doch das, was, nach geschehener Absonderung, übrig bleibt, von selbst deutlich genug. Der Staat wird nemlich allein sich auf Handlungen, welche unmittelbar und geradezu in fremdes Recht eingreifen, ausbreiten, nur das streitige Recht entscheiden, das verlezte wiederherstellen, und die Verlezer bestrafen dürfen. Allein der Begriff der Sicher-
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aber, und mit wie grossem Nachtbeile hierin zu weit ge gangen werden kann, ist schon daraus klar, dass gerade Sorgfalt für die Freiheit mehrere gute Köpfe vermocht hat, den Staat für das Wohl der Bürger überhaupt ver antwortlich. zu machen, indem sie glaubten, dass dieser allgemeinere Gesichtspunkt die ungehemmte Thätigkeit der Kräfte befördern würde. Diese Betrachtungen nöthigen mich daher zu dem Geständniss, bis hieher mehr grosse, und in der That ziemlich sichtbar ausserhalb der Schranken der Wirksamkeit des Staats liegende Stükke abgesondert, als die genaueren Gränzen, und gerade da, wo sie zweifel haft und streitig scheinen konnten, bestimmt zu haben. Diess bleibt mir jezt zu thun übrig, und sollte es mir auch selbst nicht völlig gelingen, so glaube ich doch wenigstens dahin streben zu müssen, die Gründe dieses Mislingens, so deutlich. und vollständig als möglich., darzustellen. Auf jeden Fall aber hoffe ich, mich nun sehr kurz fassen zu können, da alle Grundsätze, deren ich. zu dieser Arbeit bedarf, schon im Vorigen - wenigstens so viel es meine Kräfte erlaubten - erörtert und bewiesen worden sind. Sicher nenne ich. die Bürger in einem Staat, wenn sie in der Ausübung der ihnen zustehenden Rech.te, dieselben mögen nun ihre Person, oder ihr Eigenthum betreffen, nicht durch. fremde Eingriffe gestört werden; Sicherheit folglich - wenn der Ausdruk nich.t zu kurz, und vielleicht dadurch. undeutlich. sch:eint - Gewissheit der gesezmässigen Freiheit. Diese Sicherheit wird nun nich.t durch. alle die jenigen Handlungen gestört, welche den Mensch.en an irgend einer Thätigkeit seiner Kräfte, oder irgend einem Genuss seines Vermögens hindern, sondern nur durch solch.e, welch.e diess widerrechtlich thun. Diese Bestim mung, so wie die obige Definition, ist nich.t willkührlich. von mir I hinzugefügt, oder gewählt worden. Beide fliessen unmittelbar aus dem oben entwikkelten Raisonnement. Nur wenn man dem Ausdrukke der Sicherheit diese Be deutung unterlegt, kann jenes Anwendung finden. Denn nur wirkliche Verlezungen des Rechts bedürfen einer
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IX. Der Begriff der Sid,erbeit
ist. Beide Gattungen der Handlungen muss der Staat, je dodi mit Modifikationen, weldie I gleich der Gegenstand der Untersudiung sein werden, verbieten, zu verhindern sudien; wenn sie gesdiehen sind, durch rechtlich bewirkten Ersaz des angerichteten Schadens, soviel es möglich ist, unsdiädlidi, und, durch Bestrafung, für die Zukunft selt ner zu madien bemüht sein. Hieraus entspringen Polizei Civil- und Kriminalgeseze, um den gewöhnlichen Aus drükken treu zu bleiben. Hiezu kommt aber nodi ein andrer Gegenstand, weldier, seiner eigenthümlidien Natur nach, eine völlig eigne Behandlung verdient. Es giebt nem lich eine Klasse der Bürger, auf welche die im Vorigen entwikkelten Grundsäze, da sie dodi immer den Menschen in seinen gewöhnlichen Kräften voraussezen, nur mit man dien Versdiiedenheiten passen, ich meine diejenigen, wel che noch nicht das Alter der Reife erlangt haben, oder weldie Verrüktheit oder Blödsinn des Gebraudis ihrer mensdilidien Kräfte beraubt. Für die Sicherheit dieser muss der Staat gleidifalls Sorge tragen, und ihre Lage kann, wie sich sdion voraussehen lässt, leicht eine eigne Behandlung erfordern. Es muss also nodi zulezt das Ver hältniss betraditet werden, in welchem der Staat, - wie man sich auszudrukken pflegt - als OberVormund, zu allen Unmündigen unter den Bürgern steht. So glaube idi - da idi von der Sicherheit gegen auswärtige Feinde wohl, nadi dem im Vorigen Gesagten, nichts mehr hinzuzusezen brauche - die Aussenlinien aller Gegenstände gezeidinet zu haben, auf weldie der Staat seine Aufmerksamkeit riditen muss. Weit entfernt nun in alle, hier genannte, so weit läuftige und schwierige Materien irgend tief eindringen zu wollen, werde idi midi. begnügen, bei einer jeden, so kurz als möglidi, die hödisten Grundsätze, insofem sie die gegenwärtige Untersudiung angehen, zu entwikkeln. Erst wenn diess gesdiehen ist, wird audi nur der Ver such vollendet heissen können, die vorgelegte Frage gänz lich zu ersdiöpfen, und die Wirksamkeit des Staats von allen Seiten her mit den gehörigen Grenzen zu um schliessen.
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X. Polizeigesetze
zweite Bestimmung erfordert also eine weitere Erklärung. Schmälerung des Rechts nemlich ist nur überall da, wo je mandem, ohne seine Einwilligung, oder gegen dieselbe, ein Theil seines Eigenthums, oder seiner persönlidien Freiheit entzogen wird. Wo hingegen keine soldie Entziehung ge schieht, wo nidit der eine gleidisam in den Kreis des Rechts des andren eingreift:, da ist, weldier Nachtheil auch für ihn entstehen möchte, keine Sdimälerung der Befugnisse. Ebensowenig ist diese da, wo selbst der Naditheil nicht eher entsteht, als bis der, weldier ihn leidet, auch seiner seits thätig wird, die Handlung - um mich so auszudruk ken - auffasst, oder wenigstens der Wirkung derselben nicht, wie er könnte, entgegenarbeitet. Die Anwendung dieser Bestimmungen ist von selbst klar; ich I erinnere nur hier an ein Paar merkwürdige Beispiele. Es fällt nemlidi, diesen Grundsäzen nadi, sdilechterdings alles weg, was man von Aergerniss erregen den Handlungen in Absicht auf Religion und Sitten beson ders sagt. Wer Dinge äussert, oder Handlungen vornimmt, welche das Gewissen und die Sittlichkeit des andren be leidigen, mag allerdings unmoralisch handeln, allein, so fern er sich keine Zudringlidikeit zu Sdiulden kommen lässt, kränkt er kein Redit. Es bleibt dem andren unbenom men, sich von ihm zu entfernen, oder macht die Lage diess unmöglidi, so trägt er die unvermeidlidie Unbequemlidi keit der Verbindung mit ungleichen Charakteren, und darf nicht vergessen, dass vielleicht auch jener durch den Anblik von Seiten gestön wird, die ihm eigenthümlidi sind, da, auf wessen Seite sich das Recht befinde? immer nur da wichtig ist, wo es nidit an einem Rechte zu entsdiei den fehlt. Selbst der doch gewiss weit sdilimmere Fall, wenn der Anblik dieser oder jener Handlung, das An hören dieses oder jenen Raisonnements die Tugend oder die Vernunft: und den gesunden Verstand andrer ver führte, würde keine Einsdiränkung der Freiheit erlauben. Wer so handelte, oder sprach, beleidigte dadurch an sich niemandes Recht, und es stand dem andern frei, dem üblen Eindruk bei sich selbst Stärke des Willens, oder Gründe
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X. Polizeigesetze
soll, wo dieser folglich nicht selbst mitwirkend, sondern nur folgsam und leidend zu sein braucht, und wo es dem nach nur auf die Wahrheit oder Falschheit der Resultate ankommt; und wo zweitens die Beurtheilung Kenntnisse voraussezt, die ein ganz abgesondertes Gebiet für sich aus machen, nicht durch Uebung des Verstandes, und der prak tischen Urtheilskrafl: erworben werden, und deren Selten heit selbst das Rathfragen erschwert. Handelt der Staat gegen die leztere Bestimmung, so geräth er in Gefahr, die Nation träge, unthätig, immer vertrauend auf fremde Kenntniss und fremden Willen zu machen, da gerade der Mangel sicherer, bestimmter Hülfe sowohl zu Bereiche rung der eigenen Erfahrung und Kenntniss mehr anspornt, als auch die Bürger unter einander enger und mannigfal tiger verbindet, indem sie mehr einer von dem Rathe des andren abhängig sind. Bleibt er der ersteren Bestimmung nicht getreu; so entspringen, neben dem ebenerwähnten, noch alle, im Anfange dieses Aufsazes weiter ausgeführte Nachtheile. Schlechterdings müsste daher eine solche Ver anstaltung wegfallen, um auch hier wiederum ein merk würdiges Beispiel zu wählen, bei Religionslehrern. Denn was sollte der Staat bei ihnen prüfen? Bestimmte Säze davon hängt, wie oben genauer gezeigt ist, die Religion nicht ab; das Maass der intellektuellen Kräfte überhaupt allein bei dem Religionslehrer, welcher bestimmt ist, Dinge vorzutragen, die in so genauem Zusammenhange mit der Individualität seiner Zuhörer stehen, kommt es beinah einzig auf das Verhältniss seines Verstandes zu dem Ver stande dieser an, und so wird schon da- 1 durch die Beur theilung unmöglich; die Rechtschaffenheit und den Cha rakter - allein dafür giebt es keine andre Prüfung, als gerade eine solche, zu welcher die Lage des Staats sehr unbequem ist, Erkundigung nach den Umständen, dem bisherigen Betragen des Menschen u. s. f. Endlich müsste überhaupt, auch in den oben von mir selbst gebilligten Fällen, eine Veranstaltung dieser Art doch nur immer da gemacht werden, wo der nicht zweifelhafte Wille der Na tion sie forderte. Denn an sich ist sie unter freien, dur