Forma et subtilitas: Festschrift für Wolfgang Schöne zum 75. Geburtstag [Reprint 2019 ed.] 9783110848298, 9783110101881


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German Pages 313 [380] Year 1986

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Table of contents :
Einleitung
Vorbemerkungen
Inhaltsverzeichnis
Aus den Anfangen der griechischen Memoirenkunst. Ion von Chios und Stesimbrotos von Thasos
Zur Büste der „Matidia" in Dresden
Das älteste deutsche Marienbild und die Essener Madonna
Zum Problem der Westchorhallen an Rhein und Maas
Groß und Klein, Nah und Fern in der Architektur
Donatellos Knabe mit den Schlangen
Lukas Cranach und der Kardinal Albrecht von Brandenburg. Bemerkungen zu den vier Hieronymus-Tafeln
Perspektive in der Hochrenaissance
Anmerkungen zu Raffaels Bildnissen des Ehepaars Doni
Ein unbekanntes Bildnis von Girolamo Muziano
Veduta ferma. Zur Bedeutung der Schrägsicht für die Sixtinische Decke
Johann Wilhelm Baur (1607—1641). Umrisse seines Lebens und Werks
Apsidale Barockaltäre
Die Gestaltung des umschreibenden Kreises. Geometrische Raumkurven in Balthasar Neumanns sakralen Kuppelräumen
Nah und Fern zum Bilde
Bild und Text: Zur Rezeption antiker Autoren in der europäischen Kunst der Neuzeit (Livius, Valerius Maximus)
Watteaus Ladenschild und die Perspektive
Wieder Bildlicht
William Blake: Anarchist, Haeretiker und Moralist
Daumier, der verfolgte Verfolger
Impressionismus — Industrialisierung des Sehens
Wolfgang Schöne an der Berliner National-Galerie. Erinnerungen an unsere Zusammenarbeit in den Jahren 1936 und 37
Museumsarchitektur in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945
Bibliographie Wolfgang Schöne
Abbildungsnachweis
Bildtafeln
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Forma et subtilitas: Festschrift für Wolfgang Schöne zum 75. Geburtstag [Reprint 2019 ed.]
 9783110848298, 9783110101881

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Forma et subtilitas

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Forma et subtilitas Festschrift für Wolfgang Schöne zum 75. Geburtstag Herausgegeben von Wilhelm Schlink und Martin Sperlich

1986 Walter de Gruyter • Berlin • New York

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)

CIP- Kur^titelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Forma et subtilitas : Festschr. für Wolfgang Schöne zum 75. Geburtstag / hrsg. von Wilhelm Schlink u. Martin Sperlich. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1986. ISBN 3-11-010188-2 NE: Schlink, Wilhelm [Hrsg.]; Schöne, Wolfgang: Festschrift

1986 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

,Forma et subtilitas': ein Mönch des 11. Jahrhunderts pries ihre Erscheinung an der frühromanischen Abteikirche Saint-Bénigne in Dijon. ,Gestalt und Schönheit' — nicht getrennt, sondern mit Neigung zum Hendiadyoin — wäre zu übersetzen. So etwa ließen sich auch Ziel und Gegenstand von Wolfgang Schönes anschauendem Denken umschreiben. Nicht, daß es der Jubilar an systematischem Griff hätte fehlen lassen — hätte er sonst ,Über das Licht in der Malerei' schreiben können? — oder an dem methodischen Rüstzeug der Typengeschichte und der Ikonologie.,Forma et subtilitas' überzeugen in Schönes kunstgeschichtlichem Werk und Unterricht, indem sie weder distanziert entrückt noch schwärmerisch zerredet werden; Schöne vermittelt sie in der Konzentration subtiler sprachlicher Anschauung. Die Jahre, da solches als bloße .Widerspiegelung' belächelt wurde, sind vorbei. Daß ,forma et subtilitas' nicht hinter uns liegen, sondern fortwährend Inhalt und Aufgabe kunstgeschichtlicher Anschauung und Darstellung seien, ist uns bewußt. Wolfgang Schöne für die Anleitung zum Verstehen von Kunstwerken zu danken, haben sich Kollegen, Freunde und Schüler zusammengeschlossen. Nicht ihren Beiträgen gilt der Titel des Sammelbandes, — er gehört dem Jubilar. Die Herausgeber danken in erster Linie vier Hamburger Institutionen, die durch die Gewährung von Druckkostenzuschüssen das Erscheinen der Festschrift möglich gemacht haben und Wolfgang Schönes nun schon über dreißigjähriges Wirken an der Hamburger Universität ehren: Hamburgische Wissenschaftliche Gesellschaft Hansische Universitätsstiftung an der Universität Hamburg Freie und Hansestadt Hamburg — Behörde für Wissenschaft und Forschung Universität Hamburg Unser Dank geht auch an Martin Warnke, der uns bei der Planung und Finanzierung der Festschrift große Hilfe geleistet hat. Schlußendlich danken wir Herrn Prof. Dr. H. Wenzel und seinen Mitarbeitern vom Verlag Walter de Gruyter für die Betreuung der Festschrift in ihrem Hause. Freiburg i. Brsg. und Berlin, im November 1985 Wilhelm Schlink

Martin Sperlich

Als wir, die Kriegsgeneration, studierten, im Keller der Hamburger Kunsthalle, waren wir an die zehn Hauptfachler und hörten oft die besorgte Frage, wo diese Masse wohl einmal unterkommen solle. Dort gab es neben dem Ordinarius den Privatdozenten Isermeyer, eine Assistentin und eine promovierte Kunsthistorikerin für die Geschäfte und die Bibliothek. Einige Stufen tiefer als die Oberlichträume des Seminars lagen, gänzlich fensterlos, die Diathek und der Doktorandenkeller, fensterlos auch die verwinkelte Garderobe samt Teeküche, die kein geringer Bestandteil des Lehr- und Lernbetriebs war. Ältere Studenten besaßen Schlüssel und konnten rund um die Uhr arbeiten, verließen die Räume nur zum kurzen Einkauf am Bahnhofskiosk, denn die Referate mußten eine Woche vorher schriftlich zur Vorbesprechung abgegeben werden. Daß ein Referat zwei Stunden dauerte oder gar zwei Sitzungen lang, war keine Seltenheit. Wolfgang Schöne bekleidete sich dazu aus uns allen unerfindlichen Gründen mit einem grauen Lagerverwalterkittel, was Besuchern, die ihn nicht kannten, Fachkollegen und Handwerkern, Identifizierungsschwierigkeiten bereitete. Es ist viel über die „Ordinarienuniversität" geredet worden, und die Zeit ist über sie hinweggegangen, im Hamburger Seminar damals haben wir keinen Einwand dagegen gefunden, denn sie sah für uns, die wir so wenige und gerade aus dem Krieg gekommen waren, ganz anders aus, als spätere sie erlebt haben mögen, vor allem deshalb, weil zu der üblichen Trias des Lehrbetriebes: Vorlesung, Seminar und Exkursion ein Viertes kam, das Gespräch zwischen Professor und Student, nicht das beiläufige und das in der Sprechstunde (die es nicht gab), sondern das tägliche und mehr noch das nächtliche. Schöne wohnte im Sommerhaus seiner Eltern in Timmendorferstrand, kam mit der Bahn nach Hamburg und hauste wöchentlich mehrere Tage in seinem Arbeitszimmer, und das hatte zur Folge, daß wir, die wir spät oder nächtlich dort arbeiteten, ihn regelmäßig mitternächtig trafen, wenn er von einem schnellen Imbiß und Stumpenkauf vom nahen Hauptbahnhof zurückkehrte. Dann blieb es selten bei einem kurzen Gruß, sondern es begannen stundenlange Gespräche, Schöne auf dem Tisch oder auf der Treppenstufe sitzend, mit hochgeschobenem Hut und offenem Mantel, Stumpenabschnitte aus seiner Pfeife qualmend, Gespräche, die allen als gleichwertig den klassischen Lehrveranstaltungen im Gedächtnis blieben. Das allzuoft als Phrase gebrauchte Humboldt-Wort von der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden wurde in solchen Nachtgesprächen, wurde aber auch auf Exkursionen zur Wirklichkeit. Exkursionen begannen grundsätzlich mit einem Privatissimum über eine Grundvoraussetzung, nämlich über das geeignete Schuhwerk. Von seinem Vater, dem

VIII

Vorbemerkungen

Chirurgen, der stundenlang im OP stehen mußte, hatte er gelernt, daß nur in über die Knöchel reichenden Schnürstiefeln gegen die Anforderungen seiner Exkursionen anzukommen war, denn, so zitierte er Rodin, „in einer Kathedrale kann man nur stehen oder knieen", sitzen wurde allenfalls Damen und Invaliden gestattet. Da das Raabe-Wort „Alles Große kommt auf leisen Sohlen ..." eines seiner Lieblingszitate war, fotografierte ein begabter Kommilitone seine Schuhe so täuschend nach dem Vorbild der van Gogh'schen Bauernschuhe (was vom Modell her keine Schwierigkeiten machte), daß, als wir bei seinem Geburtstag am Ende der Vorlesung dieses Dia an die Wand warfen, er keinen Zweifel daran hatte, daß es diejenigen waren, die Heidegger so eindrucksvoll beschrieben hatte. Das Bild kriegte emblematischen Charakter dadurch, daß zu diesem „Icon" Bruno Snell das „Epigramm" beisteuerte in Gestalt eines klassischen griechischen Hexameters nach Raabe: EANAAAOE EN MAABAKOEI IIAN EÜEPXETAI MErA (KAAON) Hatten die Übungen mit Haupt- und Nebenfachlern selten mehr als zwanzig Hörer, so waren die Hauptvorlesungen voll von Hörern aller Fakultäten, und niemand wird das glanzvolle Rubens-Kolleg vergessen haben, das, ich wage es zu sagen, zu den Sternstunden unseres Universitätslebens gehört. Die Analyse der Geißblattlaube brauchte zwei Kollegstunden und die Beschreibung der Hände des Paares endete mit der Stunde und dem Vers aus Rilkes zweiter Elegie: „Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht / menschlicher Geste ...". Nach der Pause las der Archäolog Griechische Grabplastik, begann mit der Stele der Hegeso und dem Vers: „Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen ..." — er hat den Grund des rasenden Beifalls wohl nie herausgefunden. Schöne wagte die zweisemestrige Vorlesung „Über das Licht in der Malerei", mit einem Thema, das, seit vielen Jahren in seinem Kopf, erst während dieser Zeit feste Gestalt annahm, und wir waren Zeugen eines Denk- und Forschungsprozesses, der sich gleichsam vor unseren Augen und Ohren abspielte und es gab spontane Diskussionen und Zwischenfragen; ein hochbegabter Student schrieb einen sehr langen, mit vielen Einwendungen gespickten Brief, den Schöne vom Katheder verlas und mit Autor und Auditorium diskutierte — dergleichen fand wohl nicht oft an der „Ordinarien-Universität" statt. Eine Übung vor Originalen in der Kunsthalle direkt über dem Institut — Beginn 7 00 Uhr morgens — ging bald in eine Kritik der Hängung über, besonders war ihm ein Dorn im Auge, wenn man Ehepaare, wie üblich, durch eine Landschaft trennte, aber überhaupt jedes Vorwiegen von Symmetrie. Als sich alle klar waren, wie man es besser machen könnte, wurden zwei Räume spontan umgehängt. Wir lernten zum ersten Mal mit Bildern, nicht nur mit Dias umzugehen, stellten natürlich auch den status quo ante sogleich wieder her; es ist schon so lange her und mag daher erzählt werden — das Wort „Praxisbezug" kam erst später auf. Der Weg von Timmendorf nach Hamburg war zeitraubend und mußte mit zwei großen Koffern und einem Rucksack voller 9 x 12 Glasdias zurückgelegt

Vorbemerkungen

IX

werden mit Umsteigen in Lübeck. Eines Tages gab es einen neuen Fahrplan mit anderthalbstündiger Wartezeit. Nur wenige schreiben da Beschwerdebriefe an die Bahn, keiner aber tut, was Schöne tat: Er machte einen tischgroßen, farbig angelegten Fahrplan für alle Züge der ganzen Strecke, der für alle Verbindungen besser war und ihm direkten Anschluß in Lübeck bescherte, und dieser Fahrplan wurde sogleich von der Eisenbahndirektion angenommen. Außer den drei Gepäckstücken, die Schöne trug, mußten zwei weitere DiaKoffer vom Assistenten zum Bahnsteig transportiert werden; ich war ihm fünfzig Schritte voraus, weil er noch Stumpen kaufte, versorgte die Last im Gepäcknetz der 2. Klasse (die Züge hatten 2. und 3. Klasse) und winkte ihm zu, daß ich einen Platz erobert habe. Der sehr soignierte Herr im Abteil folgte mit dem Blick meinem Signal, sah Schöne mit seinem Rucksack und informierte mich, daß hier aber zweiter Klasse sei. Seine mächtige Gestalt und seine völlige Gleichgültigkeit in modischen Fragen ließen manchen denken, er hätte es bei ihm mit einem Menschen härteren, wenn nicht gar gröberen Schlages zu tun, jedenfalls dann, wenn er nicht in Gesichtern lesen konnte. Ich habe nie wieder jedemanden kennengelernt, der vor einem Kunstwerk, und kannte er es auch seit Jahrzehnten, so neu und unbefangen stehen und mit allen Sinnen, mit Naivität, analytischem Verstände und genauer Zartheit eindringen konnte. Rembrandts Nachtwache behandelte er, ich glaube in sechs Kollegstunden, und brauchte mehr als deren zwei, um die Figuration der Lanzen zu beschreiben. Er nannte es am Ende „das Selbstbildnis der menschlichen Phantasie" und er lehrte uns auch, dem Kunstwerk sein Rätsel zu lassen. Die Unbedingtheit seiner Forderungen hat viele gestört, weil er ihnen einen Ernst und einen Arbeitsaufwand widmete, der die befremdete, die nicht bemerken konnten, wieviel Humor er hat, und die seine Unbefangenheit sich selber gegenüber nicht kennen. Er hat sich immer selbst in Frage gestellt und infrage stellen lassen. Bei einer Besprechung seines Licht-Buches freute ihn besonders die für viele schwer begreifliche Bemerkung, daß dieses auch einen „sense of humour" verriete. Martin Sperlich

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkungen

V

Hermann Strasburger, Aus den Anfangen der griechischen Memoirenkunst. Ion von Chios und Stesimbrotos von Thasos

1

Walter H. Gross, Zur Büste der „Matidia" in Dresden

12

Christian Beutler, Das älteste deutsche Marienbild und die Essener Madonna

21

Hans Erich Kubach, Zum Problem der Westchorhallen an Rhein und Maas

26

Wilhelm Schlink, Groß und Klein, Nah und Fern in der Architektur

33

Tilmann Buddensieg, Donatellos Knabe mit den Schlangen

43

Alexander Perrig, Lukas Cranach und der Kardinal Albrecht von Brandenburg. Bemerkungen zu den vier Hieronymus-Tafeln

50

Wilhelm Messerer, Perspektive in der Hochrenaissance

63

Erich Steingräber, Anmerkungen zu Raffaels Bildnissen des Ehepaars Doni

77

Rolf Kultzen, Ein unbekanntes Bildnis von Girolamo Muziano 89 Christian Adolf Isermeyer, Veduta ferma. Zur Bedeutung der Schrägsicht für die Sixtinische Decke 94 Johann Eckart von Borries, Johann Wilhelm Baur (1607—1641). Umrisse seines Lebens und Werks 130 Erich Hubala, Apsidale Barockaltäre

145

Jan van der Meulen, Die Gestaltung des umschreibenden Kreises. Geometrische Raumkurven in Balthasar Neumanns sakralen Kuppelräumen . . . 169 Martin Warnke, Nah und Fern zum Bilde

190

Christian Tümpel, Bild und Text: Zur Rezeption antiker Autoren in der europäischen Kunst der Neuzeit (Livius, Valerius Maximus) 198 Martin Sperlich, Watteaus Ladenschild und die Perspektive

219

Peter Zazoff, Wieder Bildlicht

225

Gert Schiff, William Blake: Anarchist, Haeretiker und Moralist

229

Werner Hofmann, Daumier, der verfolgte Verfolger

248

Andreas Haus, Impressionismus — Industrialisierung des Sehens

254

Alfred Hentzen, Wolfgang Schöne an der Berliner National-Galerie. Erinnerungen an unsere Zusammenarbeit in den Jahren 1936 und 37 269

XII

Inhaltsverzeichnis

Stephan Waetzoldt, Museumsarchitektur in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 290 Bibliographie Wolfgang Schöne

300

Abbildungsnachweis

302

Tafeln I - L X I I

H E R M A N N STRASBURGER

Aus den Anfängen der griechischen Memoirenkunst Ion von Chios und Stesimbrotos von Thasos Wie jener Feldarbeiter dem unvermutet vorbeiziehenden Großkönig, in seiner Überraschung um eine würdigere Huldigung verlegen, einen Schluck frischen Wassers in den hohlen Händen darbrachte und ihm immerhin ein huldvolles Lächeln entlockte 1 , so kann auch der Verfasser dieses anspruchslosen, auf freundliche Anregung der Herausgeber dieser Festschrift mit nicht minderer Hast aus einer alten Vorlesung über Griechische Geschichtsschreibung (1965) ausgegrabenen Beitrages nur auf die großmütige Nachsicht des ihm von alters her in Freundschaft verbundenen Jubilars bauen. Mögen die folgenden Seiten, die für Altertumswissenschaftler gar nichts Neues enthalten, dem mit der Antike so lebendig vertrauten Kunsthistoriker nicht ebenso uninteressant sein.

Den politischen Grundriß der griechischen Geschichte im 5. Jh. v. Chr., der Zeit der klassischen Hochblüte von Dichtung und Kunst, verdankt die Nachwelt den Geschichtswerken des Herodot und Thukydides, aber dem Bilde der namhaften Persönlichkeiten dieser Epoche fehlte viel an Leben und Farbe, hätte nicht mehr als ein halbes Jahrtausend später Plutarch durch eine Reihe von Biographien das von den beiden großen Historikern nahezu leer gelassene Feld der individuellen Lebensbeschreibung nachträglich ausgefüllt. Daß er sich bei seiner sorgfaltigen Sammlung von Quellenmaterial keineswegs nur mit landläufiger, aus Anekdoten herausgesponnener Trivialtradition begnügen mußte, sondern authentischen Erzählungsstoff aus der Originalzeit von hohem Zeugniswert erreichen konnte, verdankte er — und wir mit ihm — vor allem seiner Kenntnis zweier sehr alter, in der Antike wohl wenig verbreiteter und auch nicht umfänglicher Bücher, die er wahrscheinlich in der Bibliothek von Athen aufstöberte: Es waren die Epidemiai („Reisebilder", eigentlich „Reiseaufenthalte") des Ion von Chios und eine Schrift des Stesimbrotos von Thasos „Über Themistokles, Thukydides und Perikles". Was sich über die beiden Autoren noch wissen oder vermuten läßt, ist in der Forschungsliteratur ausgiebig erörtert worden und soll hier nicht noch einmal abgehandelt werden, nur an die unübertreffliche ästhetische Würdigung durch Ivo Bruns sei eigens erinnert2. 1 2

Plutarch in der Einleitung zur Schrift „Aussprüche von Königen und Feldherren" = Moralia 172 B. Albrecht von Blumenthal, Ion von Chios, Die Reste seiner Werke, Stuttgart 1939. — Felix Jacoby, Die Fragmente der Griechischen Historiker (abgekürzt: F G r Hist), Nr. 107: Stesimbrotos von Thasos, Berlin 1927; Nr. 392: Ion von Chios, Leiden 1950. — Ders., Some Remarks on Ion of Chios, in: Abhandlungen zur Griechischen Geschichtsschreibung, hsg. von H. Bloch, Leiden 1956. — Ernst Diehl, Ion von Chios, in: Pauly-Wissowa, Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (abgekürzt: RE), Bd. IX 2, 1916, Sp. 1861 — 68. — Richard Laqueur, Stesimbrotos von

2

Hermann Strasburger

Beide Büchlein, aus denen wir fast nur durch Plutarch und Athenaios nennenswerte Zitate bzw. „Fragmente" besitzen, darunter nur eine einzige leidlich große Textfläche im Originalwortlaut (Ion F 6), sind Nebenprodukte einer sonst ganz andersartigen literarischen Tätigkeit zweier angesehener Verfasser, beide Schriften entstammen deren späterer Lebenszeit, dem ersten Jahrzehnt des Peloponnesischen Krieges. Auch sind beide Autoren keine Athener, haben aber die berühmten athenischen Staatsmänner und Dichter, über die sie aussagen, selbst ausführlich erlebt oder gar persönlich gekannt. Wieviel historische Informationen, über die gekennzeichneten Zitate bei Plutarch und Athenaios hinaus, gerade ihnen und wem von beiden eigentlich verdankt werden, wäre das Problem wirklich moderner Quellenanalysen der drei einschlägigen Biographien Plutaichs 3 . Auch diese schwierige und weitläufige Problematik sei hier beiseite gelassen, Zurückhaltung mit abschätzigen Vermutungen über die Vertrauenswürdigkeit zweier so gebildeter und intelligenter Zeitgenossen jedenfalls empfohlen. Aber allein schon der literarische Aspekt der gesicherten Fragmente verdient immer wieder historiographisches und allgemein geistesgeschichtliches Interesse: Sie zeigen, was an Fähigkeit, individuelle Lebens- und Persönlichkeitsbilder sowohl beobachtend zu erfassen als auch adäquat darstellend festzuhalten, schon gleichzeitig mit Herodot und vor Thukydides, erst recht lange vor Piatons urbaner szenischer Kunst unter gebildeten Griechen möglich war. Damit wird zugleich sehr deutlich, was die Begründer und größten Meister der griechischen Geschichtsschreibung sehr wohl auch gekonnt hätten, aber offenbar gerade nicht gewollt haben. Ion, von seinen Zeitgenossen vor allem als tragischer und lyrischer Dichter hoch geschätzt, muß um 480 v. Chr. geboren sein, sein Tod fiel offenbar ins Jahr 422 v. Chr. Das Gastmahl, an dem er als Knabe teilnahm und bei welchem Kimon anwesend war (F 13 aus Plut. Kim.), muß in den Jahren 467 — 65 v. Chr., sein Zusammentreffen mit Sophokles (F 6 aus Athenaios) ungefähr 441 v. Chr. stattgefunden haben. Außer seiner persönlichen Bekanntschaft mit Kimon, Perikles und Sophokles ist die mit Aischylos wahrscheinlich (F 7 mit F 22); das könnte nur in dessen letzten Lebensjahren (gest. 456 v. Chr.) gewesen sein.

3

Thasos, REIH A 2, 1929, Sp. 2 4 6 3 - 6 7 . - Ivo Bruns, Das Literarische Porträt der Griechen im 5. und 4. Jh. v. Chr., Berlin 1896, 46—55. — Wilhelm Schmid, Geschichte der Griechischen Literatur 1 2 , 1934, 5 1 4 - 2 0 und 676ff. - Eduard Meyer, Geschichte des Altertums IV 1, 3. Aufl. 1939 = 6. Aufl. 1965, 232 f. und 766. — Albrecht Dihle, Studien zur Griechischen Biographie, Abh. Göttingen Nr. 37, 1956, 46—51. — Fritz Schachermeyr, Stesimbrotos und seine Schrift über die Staatsmänner, SB Ost. Akad. Wien 1965. — Wolfgang Schadewaldt, Die Anfange der Geschichtsschreibung bei den Griechen, Tübinger Vorlesungen Bd. 2, unter Mitwirkung von Maria Schadewaldt hsg. von Ingeborg Schudoma, stw 389, Frankfurt 1982. — Georg Misch, Geschichte der Autobiographie 1 1 , Frankfurt 3. Aufl. 1949, 102f. Nämlich derjenigen des Themistokles, Kimon und Perikles, zugänglich in der Übersetzung von Konrad Ziegler, Zürich/Stuttgart 1954/55. Die Quellenanalyse für die Perikles-Biographie ist gut geleistet durch Ekkehard Meinhardt, Perikles bei Plutarch, Diss. Frankfurt a. M. 1957.

Aus den Anfangen der griechischen Memoirenkunst

3

Ich lasse die ergiebigeren Fragmente der. Epidemiai in Jacobys Anordnung in Übersetzung folgen, wobei das einzige in größerem Umfang wörtlich erhaltene Stück zufällig an den Anfang zu stehen kommt, gewissermaßen als ein Modell, nach welchem sich unsere Phantasie die von Plutarch nur paraphrasierten Bruchstücke — von vielem ganz Verlorenen zu schweigen! — auszumalen hat. Ion F 6 4 : „Mit Sophokles, dem Dichter, traf ich in Chios zusammen, als er als Feldherr zu Schiffe nach Lesbos unterwegs war, einem Manne, der beim Wein jungenhaft und gewandt zu scherzen liebte. Gastgeber war Hermesileos, der zugleich sein persönlicher Freund und Staatsgastfreund der Athener war. Als da nun der beim Feuer stehende Knabe, der den Wein einschenkte, ... (kleine Textlücke, in der vielleicht stand, daß der Knabe errötete und den Dichter durch seine Anmut offenbar beeindruckte) ... und (der Dichter) sagte:,Willst du, daß ich mit Vergnügen trinke?', und als der Knabe dies bejahte, fuhr er fort: ,Dann also reiche mir die Schale langsam und nimm sie langsam wieder weg.' Als nun der Knabe noch viel mehr errötete, sagte er zu seinem Nachbarn, der mit ihm das Lager teilte: ,Wie schön hat doch Phrynichos gedichtet, wenn er sagt Auf purpurnen Wangen leuchtet das Licht der Liebe.' Und darauf antwortete der Eretrier, der ein Schulmeister war: ,Gewißlich, Sophokles, verstehst du viel von Dichtung; dennoch hat es eigentlich Phrynichos nicht gut gesagt, wenn er die Wangen des Schönen purpurn nannte. Denn wenn der Maler mit purpurner Farbe die Backen dieses Knaben anstriche, würde er nicht sehr schön erscheinen. Es ist also nicht sehr schön, wenn man das Schöne mit dem unschön Wirkenden vergleicht.' Da lachte Sophokles über den Eretrier und sagte: ,Also mißfallt dir wohl auch dies von Simonides, o Gastfreund, welches doch bei den Griechen als sehr gut gesagt gilt: Von purpurnem Munde entsandte die Stimme die Jungfrau und ebenso das Dichterwort vom goldhaarigen Apollon. Denn hätte der Maler das Haar des Gottes golden gemacht und nicht schwarz, dann wäre das Gemälde wohl schlechter. Und so wohl auch der, der sagt rosenfingrig. Denn hätte jemand die Finger in rote Farbe getaucht, dann hätte er die Hände eines Purpurfarbers und nicht die einer schönen Frau gemalt.' Als sie nun lachten, verzog der Eretrier ob der Züchtigung das Gesicht, Sophokles aber wandte sich wieder dem Gespräch mit dem Knaben zu. Da der nämlich gerade versuchte, mit dem kleinen Finger ein Hälmchen aus der Trinkschale zu entfernen, fragte ihn der Dichter, ob er das Hälmchen denn gut erkennen könne, und als der sagte, er erkenne es wohl, fuhr er fort: ,Dann blase es weg, daß nicht dein Finger benetzt werde.' Als nun aber der Knabe das Gesicht der Schale näherte, 4

Aus Athenaios XIII 603 f.; vgl. die schöne Übersetzung und Würdigung bei Schadewaldt a. O. 60/ 61.

4

Hermann Strasburger

zog er selbst das Gefäß immer dichter an seinen Mund, damit Kopf und Kopf sich näher kämen. Und als er ihm nun ganz nahe war, zog er ihn mit der Hand an sich und küßte ihn. Als nun alle Beifall klatschten unter Gelächter und Geschrei, daß er den Knaben so schön überlistet habe, sagte er: ,Ich übe mich in der Strategie, ihr Männer, da ja Perikles sagte, ich verstünde zwar das Dichten, aber nicht die Feldherrnkunst. Ist mir diese Kriegslist etwa nicht gut gelungen?' Derlei sagte und tat er vieles mit Geschick beim Trünke. In den Staatsgeschäften war er freilich weder besonders klug noch tatkräftig, sondern wie eben so einer von den vornehmen Athenern." F 12 „Er (sc. Kimon) war auch von untadeliger Gestalt, wie der Dichter Ion sagt, groß und mit krausem, reichlichem Haarwuchs." F 13 „Ion sagt, er habe in seinem frühen Knabenalter, als er von Chios nach Athen kam, mit Kimon bei Laomedon gespeist. Und als das Trankopfer vollzogen war 5 , sei Kimon zum Singen aufgefordert worden. Und als er da nicht übel gesungen habe, da hätten ihn die Anwesenden gelobt, er verstehe mehr als Themistokles; jener nämlich habe erklärt, Singen und Saitenspiel habe er nicht gelernt, aber eine Stadt groß und reich zu machen, das verstehe er 6 . Und da sei, wie es beim Trünke natürlich ist, die Rede auf die Taten des Kimon gekommen, und als die größten von ihnen ins Gedächtnis gerufen wurden, da habe Kimon selbst ein eigenes Glanzstück erzählt, das er für sein gelungenstes hielt. Als sie nämlich bei der Eroberung von Sestos und Byzanz viele der Barbaren gefangen genommen hatten, da forderten die Bundesgenossen den Kimon auf, die Beute zu verteilen. Und da er nun die Menschen zur einen Seite, den Schmuck, den sie am Leibe trugen, zur anderen schlug, beschuldigten sie ihn ungerechter Verteilung. Er aber hieß sie, von diesen Teilen den einen zu wählen; mit dem, den sie übrig ließen, würden die Athener zufrieden sein. Als nun Herophytos von Samos riet, sie sollten lieber die Habe der Perser wählen als die Perser, da nahmen sie für sich den Schmuck, den Athenern aber ließen sie die Gefangenen. Damals ging Kimon vom Platze mit dem Ruf, ein lächerlicher Verteiler zu sein, da die Bundesgenossen goldene Armreifen und Halsbänder und Ketten und gestickte Gewänder und Purpur davontrugen, die Athener aber nackte Leiber, die nur schlecht zur Arbeit gerüstet waren, übernahmen. Kurze Zeit danach aber kamen die Freunde und Verwandten der Gefangenen aus Phrygien und Lydien herab und lösten jeden für schweres Geld aus, so daß Kimon die Flotte davon für vier Monate verpflegen 5 6

Aus Plut. Kim. 9; mit dem Trankopfer wurde nach der Mahlzeit das Symposion eingeleitet. Daß Themistokles bei diesem Gelage anwesend gewesen sei, wie u. a. Bruns (a. O. 53 f.) und Diehl (a. O. 1861) unterstellen, wird durch die Anlage des Berichtes ausgeschlossen (Jacoby Abh. 147,16) und Plutarch würde es klarer vermerkt haben.

Aus den Anfängen der griechischen Memoirenkunst

5

konnte und dazu noch nicht wenig Gold aus den Lösegeldern für die Stadt übrig blieb." F14 7 „Ion überliefert auch das Wort, durch das er (seil. Kimon) besonderen Eindruck auf die Athener machte: er habe sie aufgerufen, nicht zuzulassen, daß Griechenland fortan lahme und die Stadt ohne ihr Nebenroß fahre" (Übers, von Ziegler). Dies Zitat zeigt, daß Ion nicht nur anekdotenhaft persönliche Züge überlieferte, sondern auch politisch Markantes. F 15 „Der Dichter Ion dagegen sagt, das gesellschaftliche Benehmen des Perikles sei ungezogen und anmaßend und seinen Großsprechereien sei viel Hochmut und Verachtung beigemischt gewesen. Demgegenüber lobt er an Kimon das harmonische, einfühlsame und feingebildete Wesen im Umgang." F 16 „Ion sagt von ihm (sc. Perikles), er habe sich auf die Besiegung der Samier wunder was eingebildet, wenn er nämlich sagte, Agamemnon habe in zehn Jahren eine Barbarenstadt, er aber in neun Monaten die ersten und mächtigsten der Ionier bezwungen." F228

Als einmal bei den Isthmischen Spielen in einem Faustkampf einer der Kämpfer getroffen wurde und das Theater aufschrie, stieß der Dichter Aischylos, der sich unter den Zuschauern befand, den Ion von Chios an und sagte: ,Da siehst du, was die Zucht vermag: der Geschlagene schweigt, aber die Zuschauer schreien'. Was den Zauber und die große Kunst dieser Bilder ausmacht, so kann ich mich nach Bruns auf wenige zusätzliche Bemerkungen beschränken. Wichtig erscheint mir der gelegentliche Ansatz zu einer individuellen Beschreibung des Aussehens einer Person, die noch lange in der griechischen Literatur selten bleiben wird. Erst bei Ktesias läßt sich wieder davon reden9. Ferner ist zu beachten das gewiß nicht unbewußte Geschick, auch Nebenfiguren oder gar nicht anwesende Personen mitzucharakterisieren. Hätte es Ion nicht an einigen Stellen (F 15 und 16) ausdrücklich ausgesprochen, daß es Perikles an menschlichem Takt fehlte, so hätte sich das 7

8

9

Aus Kimons Befürwortung der athenischen Hilfeleistung an Sparta nach dem Helotenaufstand 463/ 62 v. Chr. (Plut. Kim. 16,8). Zugehörigkeit zu den Epidemiai nicht gesichert, aber wahrscheinlich; vgl. F 7 und Jacoby im Kommentar. Jacoby Kommentar zu F 12; Ktesias F G r Hist Nr. 688; vgl. Verf., Studien zur Alten Geschichte II, Hildesheim 1982, 805 f. Zur Funktion von Personenbeschreibung bei Herodot s. Gisela Strasburger, Lexikon zur frühgriechischen Geschichte, Zürich/München 1984, 278/79 unter Masistios.

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Hermann Strasburger

indirekt, aber eindeutig auch aus der scheinbar harmlosen Schlußbemerkung des Sophokles in F 6 ergeben. Und in ganz ähnlichem Lichte erscheint in F 13 der nicht anwesende Themistokles. Mit Ions Epidemiai beginnt für uns die griechische Memoirenliteratur. Fragt man sich staunend, wie denn eine neue Gattung gleich auf solcher Höhe der technischen Kunst beginnen könne, so muß man sich klarmachen, daß gerade diese von Natur eine besonders lange Vorgeschichte hat. Die Anfange der Memoirenkunst müssen in grauer Urzeit liegen, aller Literatur weit voraus. Denn der mündliche persönliche Erinnerungsbericht ist die natürliche Vorform der Bewußtmachung historischer Zusammenhänge. Wie und wo sie durch die Jahrhunderte am besten gediehen ist, mag man sich am ehesten nach dem prächtigen Bilde des Xenophanes vorstellen: „Beim Feuer soll man dergleichen bereden, zur Winterszeit, auf behaglichem Lager ruhend, gesättigt, süßen Wein trinkend, Kichererbsen knabbernd: ,Wer bist du, woher stammst du, wieviele Jahre zählst du, Verehrter, wie alt warst du, als der Meder kam?' " 10 . Erzählungen in solchem Rahmen hatten ihren Stil, wie man das am Gastmahl des Laomedon sieht (F 13), und wie wir auch nach dem Typus der Trinklieder in der griechischen Lyrik annehmen dürfen. Diese Kunst geht parallel zu derjenigen des Erzählens fiktiver Geschichten, die im vorderorientalischen und griechischen Raum seit alters blühte. Aber es ist keineswegs nur ein logisches Postulat, daß die mündliche Memoirenkunst uralt sein muß; es wird bewiesen durch ihre bereits virtuose fiktive Verwendung in den Stilmitteln des Epos. Dabei denke ich weniger an den allgemeinen formalen Sachverhalt, daß, vor allem in der Odyssee aber durchaus auch in der Ilias, ein erheblicher Teil der Erzählung vom Dichter in die Erinnerungsberichte der Handlungsträger übertragen ist; das bedeutendste und ausgedehnteste Beispiel sind die Erzählungen des Odysseus bei den Phaiaken. Von Belang sind vielmehr die Fälle bei Homer, in welchen solche Erzählungen zur künstlichen Erzeugung des Memoirencharakters planmäßig mit der Art von alltäglichem bzw. realistischem Detail durchsetzt sind, welches zwar die historia contexta aus den ihr zugrundeliegenden Erinnerungsberichten wieder ausscheiden muß, welches aber für den ersten Erzähler ein unentbehrliches Ingredienz zur lebendigen Bewahrung der Erinnerung war, kurz also das, was auch für uns noch das Wesen und den Reiz von Memoiren ausmacht. Gehäufte Züge eines in diesem Sinne gesucht wirklichkeitsnahen Kolorits finden sich in der Ilias vor allem in den großen Erzählungen des Phoinix und Nestor aus ihrer Jugend. Aus der des Phoinix (II. IX 447 — 91) erwähne ich nur als die hervorstechendsten Realismen dieser Art: die Verführung der Kebsfrau seines Vaters auf Bitten seiner Mutter, die Einmischung der Sippe in den Streit mit seinem Vater zu seinen Gunsten, die Einzelheiten seiner Flucht aus dem Vaterhaus, seine Fürsorge für den Säugling Achilleus,

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Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, 6. Aufl. Berlin 1951, Nr. 21 fr. 22.

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der ihm das Gewand auf der Brust oft mit Wein vollsabbert. An Nestors Erzählung vom Kampf der Pylier und Epeier (IL XI 671—761) ist vor allem bezeichnend, daß das Streitobjekt Viehherden sind (vgl. das entsprechende Bild der Schildbeschreibung II. XVIII 509 — 40), nicht wie in der Haupthandlung der Ilias Frauen und Königsehre. Durch dieses bodennähere Kolorit wird hier — sicher absichtlich — die Illusion einer schlichteren Vorzeit erzeugt 11 . Dem entsprechen in der Odyssee die Lügenerzählungen des Odysseus an Eumaios (XIV 199 — 359; 469—502), besonders charakteristisch die zweite: wie er in der Winternacht auf Posten vor Troia fror. In diesen Episoden soll nicht die Illusion einer andersartigen Vergangenheit erzeugt werden, sondern die einer etwas weniger vornehmen Sphäre, welcher zu entstammen der Erzähler vorspiegelt; aber hier wie bei den genannten Iliasstellen werden die „memoirenhaften" Berichte mit dem gleichen Kunstmittel von der heroischen Haupthandlung abgesetzt: der Herabstilisierung durch die Anreicherung mit niederen Realismen, mit welchen die Haupthandlungen und ihre Träger in beiden Epen nicht oder jedenfalls in merklich geringerem Maße umgeben werden. Alle Stellen sind zugleich raffinierte Proben der pseudohistorischen Mimesis in den homerischen Epen. Bei Herodot kommt das memoirenhafte Element viel weniger zur Geltung, als man nach der Art seines Quellenmaterials und dessen Benutzung denken sollte. Das kann nicht nur daran liegen, daß er die selbst erlebte Zeit ausschließt; denn viele Berichte der zweiten Hälfte seines Werkes, vor allem in den Büchern VII bis IX, dürften ihm von Miterlebenden, ohne Zwischenquelle, übermittelt worden sein. In dieser im ganzen sehr konsequenten Unterdrückung der persönlichen Erlebnismomente, die in den Erzählungen seiner Gewährsmänner sicher noch üppig gewuchert haben, sieht man nicht zum wenigsten, in welchem Grade ihm bereits das Kriterium einer echten historischen Erheblichkeit als Auswahlprinzip bewußt ist. Wenn bei ihm zufällig einige wenige Beispiele von persönlichen Memoiren stehengeblieben zu sein scheinen, persönlich insofern, als er den Berichterstatter gegen seine Gewohnheit mit Namen nennt (III 55, VIII 65, IX 16), so scheint dies mehr auf dem Mangel an System zu beruhen, den er sich beim Zitieren und noch häufiger Nichtzitieren seiner Quellen allgemein gestattet; denn man würde an den betreffenden Berichten, fehlte die Nennung ihres Urhebers, schwerlich einen Unterschied zur sonstigen Erzählung bemerken. Immerhin sei das letzte der drei oben genannten Beispiele, die höchst eindrucksvolle und auch in einigem beinahe zufälligem Detail historisch besonders interessante Erzählung des Thersandros vom Gastmahl des Attaginos (IX 16), zu aufmerksamer Lektüre empfohlen mit der Fragestellung, ob die ausdrückliche zweimalige Nennung des Gewährsmannes auch die Authentizität der tragischen Stimmung, welche über dieser Szene ruht, verbürgen soll oder ob gerade dies Herodots Werk ist. An sich begegnet in

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Vgl. Wolfgang Schadewaldt, Iliasstudien, Abh. Leipzig 1938, 85 f.

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Zeitaltern, die Tragödien hervorbringen und aufnehmen, der tragische bzw. hochpathetische Ton auch in der privaten Sphäre, nur ist unsere Generation gerade die ungeeignetste, das nachzuempfinden. Die Unmöglichkeit, die gestellte Frage zu beantworten, kennzeichnet die Lage, in der wir uns Herodot gegenüber auch an jeder anderen vergleichbaren Stelle seines Werkes befinden. Auch Ions Szenen ist der Dichter anzumerken, wenn auch ihr hoher Gehalt an Authentizität deshalb nicht in Zweifel gezogen werden kann. Aber die naheliegende Gedankenverbindung zu seinen Tragödien erklärt nichts, weil Wirklichkeitswiedergabe im entsprechenden Sinne der tragischen Dichtung dieser Zeit, Euripides nicht ausgenommen, fremd blieb; und wenn es auch ein Meister der Komödie wie Aristophanes in der Ethopoiie nicht über grobe possenhafte Ansätze hinausbringt, so ist klar, daß quasi-geschichtliche Realität in beiden Gattungen nicht gewollt ist. Fragt man also nach Vorbildern oder Lehrern für Ions Kunst in den Epidemiai, so bleibt uns nur Homer und der Gedanke an den Mimos, der in Sizilien blühte. Ob Ion schon von Epicharmos oder Sophron Kenntnis haben konnte, wissen wir nicht. Der Mangel an Fragmenten aus den Mimoi läßt keine Vergleiche zu. Müßig ist die Frage deshalb nicht, weil der Einfluß Ions auf die szenische Kunst in den Rahmenstücken der Dialoge Piatons höchst wahrscheinlich ist — auch den erzählenden Teil des Kriton soll man in der Geschichte der Memoirenkunst nicht vergessen —, und weil Piaton andererseits ein eingestandener Verehrer von Epicharmos und Sophron war 12 . Als wirklich greifbares Vorbild für Ion bleibt uns am ehesten Homer, aber der Schritt aus der mit Wirklichkeit verzierten Poesie in die mit Poesie verzierte Wirklichkeit ist doch ein so bedeutender, daß wir Ion wohl eine beträchtliche Originalleistung zuzusprechen und in ihm den eigentlichen Begründer der „Lebensbeschreibung" zu sehen haben. Stesimbrotos von Thasos, mit dem Ion in eine, der angemessenen Würdigung beider abträgliche enge überlieferungsgeschichtliche Schicksalsgemeinschaft geraten ist, könnte ihm allerdings wenigstens einen Teil dieses Ruhmes streitig machen. Die Lebenszeit des Stesimbrotos muß ungefähr der des Ion entsprechen, er hat Kimon und Perikles erlebt und den letzteren überlebt13. Er hat sich mindestens zeitweise in Athen aufgehalten, schwerlich aber noch nach der Veröffentlichung seiner politischen Schrift. Seine Herkunft aus Thasos läßt daran denken, daß er irgendwie im Zusammenhang mit der Eroberung dieser Stadt durch Kimon (464 v. Chr.) nach Athen geraten ist14. Nach dem Zeugnis des Xenophon war er Rhapsode (T 4), daneben genoß er aber auch einen besonderen Ruf als tiefsinniger Homer-Erklärer, wie bei Piaton erwähnt wird (T 3). In der Tat schrieb er „ein Buch über homerische Probleme" und ein weiteres über Mysterienkulte, dessen

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Diogenes Laertios III 18. Duris von Samos F G r Hist Nr. 76 F 72. Albin Lesky, Geschichte der Griechischen Literatur, Bern/München 3. Aufl. 1971, 275 — 78 und 578. F Gr Hist Nr. 107, T 1. 2. F 4. 10. 11. Jacoby im Kommentar 343. Laqueur a. O. 2463.

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Fragmente fast ausschließlich mythologisch gelehrten Inhaltes sind15: Diese Verbindung von künstlerischer und gelehrter Betätigung kehrt bei einem seiner Schüler, Antimachos von Kolophon (T 5), wieder, dem epischen Dichter, der auch Textausgaben von Ilias und Odyssee besorgte. Stesimbrotos hat also mit Ion gemeinsam die literarische Mehrseitigkeit, in der die historische Betätigung nur eine Nebenrolle spielte. Es ist nicht unnütz, sich diesen geistigen Hintergrund des Stesimbrotos und den Respekt seiner Zeitgenossen vor ihm gegenwärtig zu halten, wenn man dem Werk gegenübertritt, welches den Historiker angeht, seine Schrift „Über Themistokles, Thukydides und Perikles" 16 . Die wenigen Fragmente, fast ausschließlich durch Plutarch vermittelt, zeigen überwiegend persönliche Züge aus dem Leben des Themistokles, Kimon und Perikles. Für die mutmaßliche Stoffökonomie des Originals ist zu beachten, daß Kimon, der jetzt in den Fragmenten einen breiten Raum einnimmt, im Titel fehlt, seine Stellung im Werke also eine nebengeordnete gewesen sein muß, wohingegen der im Titel genannte Thukydides (gemeint ist der Sohn des Melesias, der Politiker) in den Fragmenten gar nicht vorkommt, während über ihn doch mindestens mehr als über Kimon gesagt gewesen sein muß. Es fragt sich, ob diese Entstellung der inhaltlichen Proportion durch die Überlieferungslage nicht auch die Art der Nachrichten betrifft. Was wir noch haben, sind überwiegend sensationelle Angaben aus der Sphäre des politischen und gesellschaftlichen Klatsches, darunter besonders in die Augen springend die haarsträubenden Geschichten über die sexuellen Beziehungen des Kimon und des Perikles. Handelt es sich also um ein skrupelloses politisches Pamphlet oder spricht aus dieser rücksichtslosen Reportage feindseliger Indiskretionen — deren Zeugniswert übrigens nicht von neuzeitlichen Vorurteilen her abgeschätzt werden darf — nicht vielleicht eher die vor nichts zurückschreckende Gründlichkeit des Gelehrten, wie sie etwa auch Sueton zeigt? Diese Frage zu beantworten reichen die Fragmente allein nicht aus; aber da der Verdacht sehr naheliegt, daß Plutarch nur besonders auffallige Angaben mit namentlichen Zitaten gedeckt hat, darunter mehrfach solche, die sein Mißtrauen weckten (F 1.3.8), er Stesimbrotos andererseits in drei Biographien doch immer wieder heranzieht und eine gewisse Achtung Plutarchs vor diesem Zeugen nicht zu verkennen ist, ist das Bedürfnis hier in besonderem Maße berechtigt, durch vorsichtige Quellenanalyse das Material wenigstens soweit zu bereichern, daß ein Urteil möglich wird. Dabei ist man gar nicht auf allzu luftige Vermutungen angewiesen, da kein vernünftig zu begründender Zweifel daran bestehen kann, daß gerade Ion und Stesimbrotos diejenigen Gewährsmänner gewesen sind, die Plutarch eine zusammenhängende und lebendige Persönlichkeitsdarstellung in den genannten Biographien ermöglicht haben. Wir wüßten ohnehin 15

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F 1 2 - 2 0 und 2 1 - 2 5 , vgl. Rudolf Pfeiffer, History of Classical Scholarship, Oxford 1968, 35 und 45. Zum Buchtitel s. F 10 a.

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keinen anderen Primärautor aus dieser Zeit zu nennen, der konkurrierend für eine solche Rolle in Frage käme. Problem bleibt also am ehesten noch die Unterscheidung zwischen Ion und Stesimbrotos, die ja wieder dadurch erleichtert wird, daß Ions szenische Technik der Stoffbehandlung eine leidlich bekannte Größe und sein politisches Urteil bei an sich gleichartiger Abneigung gegen Themistokles und Perikles zurückhaltender und gutartiger ist17. Die früher beliebten Verlegenheitslösungen, wertvolle Nachrichten bei Plutarch lieber Ephoros oder Theopomp, die doch ihrerseits für das fünfte Jahrhundert nur Sekundärquellen sind, oder gar völlig unbekannten Größen zuzuschreiben, nur um die Autorität von Ion und besonders Stesimbrotos nicht aufwerten zu müssen, gehören nun hoffentlich der Vergangenheit an. Plutarch hat außer gründlicher Benutzung des Herodot und Thukydides — die wir leicht in Abzug bringen können — zwar mit großer Belesenheit und Gewandtheit noch überall Einzelzüge, vielfach anekdotischer Art, eingesetzt, die er z. B. in philosophischer Literatur oder in den Komödien der perikleischen Zeit gefunden hatte, aber seine eigentlichen Stützen für das Biographische sind Ion und Stesimbrotos18. Beschränken wir uns bei dieser Suche auf einige Zuweisungen von wirklich historischem Belang, so erfüllen am ehesten die Kapitel 12, 14 und 29,1—3 aus Plutarchs Perikles-Biographie alle Voraussetzungen19. Insbesondere die beiden ersteren Kapitel, welche die politische Auseinandersetzung zwischen Perikles und der aristokratischen Opposition über die Finanzierung der Bauten auf der Akropolis aus den Tributzahlungen des Seebundes betreffen, können per exclusionem kaum einem anderen Gewährsmann als Stesimbrotos zugesprochen werden, und sie beantworten wenigstens zum Teil die Frage nach dem Verbleib der Nachrichten über den Politiker Thukydides, welche die Schrift des Stesimbrotos dem Titel nach enthalten haben muß. Kapitel 29 ergänzt das bereits aus den Fragmenten bekannte Material über das feindselige Verhalten des Perikles gegen Kimon und dessen Familie durch eine sehr gehässige Version über Perikles' persönliches Nebenmotiv bei der so folgenschweren Hilfeleistung an Kerkyra. Deren Zeugniswert mag man wiederum mit Mißtrauen betrachten — wobei aber Stesimbrotos wahrscheinlich nur Weitererzähler, nicht Erfinder der Nachricht ist —, jedoch die Inhaltsangaben aus den Angriffen der von Thukydides geführten aristokratischen Opposition auf die Finanzpolitik des Perikles und die Rechtfertigung des Perikles sind offenkundig im Ganzen wie im Einzelnen von hervorragendem historischem Wert. Die Argumente beider Seiten treten genau und glaubhaft heraus, und es hat durchaus den Anschein, daß gerade die des Perikles ohne Verzerrung wiedergegeben sind und daß ihm insofern Gerechtigkeit wiederfährt, obwohl der peinliche menschliche

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Für Plutarchs Perikles-Biographie E. Meinhardt (s. Anm. 3); die allgemeine Quellensituation ist mindestens in der Kimon-Biographie zweifellos ganz ähnlich. S. Meinhardts Quellentabelle S. 69 ff. Zur näheren quellenkritischen Begründung s. Meinhardt 40 f., 43 ff., 57.

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Beigeschmack, den feiner empfindende Zeitgenossen und, außer Stesimbrotos selbst, ja auch Ion bei den Äußerungen des Perikles verspürten, hier ebenfalls, wenn auch weniger kraß als sonst bei Stesimbrotos, zu finden ist. Gewiß würde sich im Sinne dieser feineren Nuancierung, besäßen wir die Schrift des Stesimbrotos im Original, die Charakteristik des Perikles wie vielleicht auch die des Themistokles vervollständigen; lassen doch am Bilde des Kimon selbst die Fragmente noch eine eindringende Beobachtung erkennen, die von der des Ion kaum absteht, so in der wörtlich überlieferten Charakteristik, Kimon „habe weder die Musik noch eine andere der bei den Griechen heimischen freien Künste erlernt und er habe von der attischen Redegewandtheit und Mundfertigkeit gar nichts an sich gehabt, in seinem Charakter aber viel Edles und Echtes; die Struktur seiner Seele sei mehr die eines Peloponnesiers gewesen". Es ist eine für diese Zeit erstaunliche Kunst der psychologischen Beobachtung, die sich in diesen letzten Worten offenbart20. Die hier neu herangezogenen Stellen ergänzen sich mit den Fragmenten zu einem in sich stimmigen Gesamtbild. Es wird dann auch klar, daß der Autor einen durchaus nicht engen oder oberflächlichen, sondern in sich konsequenten politischen Standpunkt einnimmt: es ist der für einen gebildeten Bürger einer von Athen geknechteten Bundesstadt natürliche, bei welchem von den maßgeblichen athenischen Staatsmännern die demokratischen Vertreter der reinen Machtpolitik, Themistokles und Perikles, am schlechtesten wegkommen, Kimon schon wesentlich mehr und wohl am meisten Thukydides Sympathie findet. Aber es ist zugleich auch der Standpunkt einer gebildeten innerathenischen Opposition, die von berechtigten Sorgen um die Folgen der perikleischen Politik erfüllt war, ein Standpunkt, den sich schließlich auch Piaton zu eigen gemacht hat und der durchaus nicht mit einem Achselzucken über die Weltfremdheit des Philosophen erledigt werden kann21. Mag es auch dabei bleiben, daß der politische Zweck dieser Schrift den historischen überwog, die in der Forschung immer wieder begegnende Bezeichnung als „Flugschrift" oder „Pamphlet" also am ehesten das Rechte trifft, so gebietet doch die sich zeigende Einsicht in die politischen Probleme einer selbst miterlebten Zeit Respekt, und ihre Dokumentation mit historischen Mitteln ist wahrscheinlich ehrlich gemeint, wenn auch zu wenig kritisch gezügelt. Wenn man von Ions Reisebildern wohl sagen muß, daß ihr Verlust zu den schmerzlichsten in der griechischen Literatur gehört, so hat der Historiker den der Schrift des Stesimbrotos kaum weniger zu bedauern.

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Bruns a. O. 49 f. Piaton, Gorgias 503c, 515 d - e .

WALTER H . GROSS

Zur Büste der „Matidia" in Dresden Vor zwanzig Jahren hat der verdienstvolle Leiter des Dresdener Albertinum, Martin Raumschüssel, im Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden eine antike Büste veröffentlicht1 (Abb. 2 — 5), die er nicht ganz ohne Bedenken als Darstellung der Matidia deutete, der Nichte Traians und Mutter der Kaiserin Sabina. Erhalten ist eine Gewandbüste mit Indextafel, doch ohne den zugehörigen Fuß. Die Provenienz ist unbekannt. Das Werk tauchte nach dem Kriege auf; wie es in die Dresdener Sammlung kam, ist ungeklärt, „Schwemmgut des letzten Krieges" vermutet Raumschüssel. Weitere Nachforschungen hatten offenbar kein Ergebnis. Die nachfolgende Zustandsbeschreibung wird wörtlich aus dem Aufsatz von Raumschüssel zitiert, dessen sorgfaltige Beobachtungen vor dem Original verifiziert werden konnten. Für die Gelegenheit zum Studium der Büste und für die Beschaffung der Photographien sei hier ausdrücklich gedankt. „Die vollständig und ungebrochen erhaltene Büste ist aus gelblich patiniertem, feinkörnigem Marmor gearbeitet. Der Büstenfuß fehlt; nach der Zurichtung der Standfläche der Stütze und einem dort befindlichen Dübelloch zu schließen, war er gesondert gearbeitet und angesetzt. Die Büste hat eine Höhe von 60,8 cm. Das Indextäfelchen bis zum unteren Büsten rand ist 5,6 cm, die Büste bis zum Kinnansatz 28,6 cm, der Kopf bis zum oberen

Die Abkürzungen richten sich nach den Regeln des Deutschen Archäologischen Instituts, vgl. Archäologischer Anzeiger 1975, 640 ff. Zusätzlich werden mit bloßem Verfassernamen zitiert: Carandini Fittschen Freyer-Schauenburg Hausmann Jucker, Blätterkelch Jucker, Bildnisbüste Wegner, Datierung Wegner, Hadrian Zanker 1

A. Carandini, Vibia Sabina. Firenze 1969 (Accademia Toscana di Scienze e Lettere „La Colombaria", Studi XIII. K. Fittschen, in K . Fittschen—P. Zanker, Katalog der römischen Porträts in den Capitolinischen Museen III. Mainz 1983. B. Freyer-Schauenburg, Büsten mit reliefverziertem Indextäfelchen, Eikones (Festschr. H. Jucker), Bern 1980, 1 1 8 ff. (AntK Beih. 12). U. Hausmann, Bildnisse zweier junger Römerinnen in Fiesole. J d l 74, 1959, 164 ff. H. Jucker, Das Bildnis im Blätterkelch. Ölten, Lausanne, Freiburg i. Br. 1961. (Bibliotheca Helvetica Romana III). H. Jucker, Bildnisbüste einer Vestalin. RM 68, 1961, 93 ff. M. Wegner, Datierung römischer Haartrachten. A A 1938, 276 ff. M. Wegner, Hadrian. Berlin 1956 (Das römische Herrscherbild II/3). P. Zanker, in: Fittschen—Zanker (s. Fittschen).

Dresden, Staatliche Skulpturensammlung, Inv. Z. V. 3716. M. Raumschüssel, Jb. staatl. Kunstsammlungen Dresden 1963/64, 1 9 3 f f . Freyer-Schauenburg 119 Nr. 4 Taf. 41,4.

Zur Büste der „Matidia" in Dresden

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Rande des Haardiadems 26,6 cm hoch. Die Breite der Büste an den Schultern beträgt 40 cm. Die Oberfläche ist an den Ringellocken des Haardiadems verwittert. Ursprünglicher, fest haftender Sinter ist nur in geringem Umfang vorhanden, dagegen finden sich Reste von Kalkmörtel an Vorder- und Rückseite und vor allem im Haar. Die untere Hälfte des Nasenrückens mit dem größeren Teil der Nasenspitze und des linke Nasenflügels ist abgeschlagen, ebenfalls ein flaches Stück vom Flechtenkranz oberhalb des linken Ohres. Weggebrochen sind außerdem beide Ohrmuschelränder, das rechte Ohrläppchen, Teile der Faltenstege an der Büste und die rechte vordere Ecke der Stütze. Beide Brauen, die Oberlidbögen, der rechte Nasenflügel, die Lippen und mehrere Stellen im Haar an der rechten Seite des Kopfes sind leicht bestoßen. Abgesehen von diesen geringfügigen Beschädigungen, von denen einige noch ganz frisch aussehen, ist die Oberfläche vorzüglich erhalten. Lediglich das Gesicht und der Hals sind stellenweise etwas geputzt, dabei blieb aber der ursprüngliche Charakter gewahrt." Der Marmor schien mir griechisch zu sein. Ein kleiner Teil der Beschädigungen mag eine Folge von Kriegsschäden sein. Das Indextäfelchen ist an der Oberseite mit drei Profilleisten ausgestattet, denen an der Unterseite mindestens zwei gleichartige entsprechen. Aus den seitlichen Voluten entwickeln sich gegengleiche eingerollte Ornamentranken, auf deren Treffpunkt in der Mitte eine kleine Palmette sitzt. Die Büste ist mit Tunica und Palla bekleidet, die Schultern fallen stark ab, die Armansätze sind knapp gegeben. Der Kopf mit seiner komplizierten Frisur ist zur linken Schulter gewandt. Iris und Pupille sind mittels einer Vertiefung unmittelbar unter dem Oberlid und eines Dreiviertelkreises verdeutlicht. Die Rückseite der Büste ist gut durchgeformt, die Stütze hat die kanonische leicht geschwungene Gestalt. Die zeitliche Stellung ist nicht schwierig zu bestimmen. Die Büstenform, der verzierte Index, die Augenbohrung sind hadrianisch, gehören in das Jahrzehnt um 130 bis etwa 140. Im Gesicht ist alles Harte, Kantige vermieden. Die Formen gehen weich, ohne klar bestimmte Grenzen ineinander über. Der Gegensatz zu den stärker detaillierten, präziser gezeichneten Haar- und Gewandpartien ist beabsichtigt. Einst kam dazu noch die farbige Fassung der Haare, Brauen, Augen, Lippen, der Gewänder und der vegetabilen Elemente des Index. Das Ensemble macht einen Teil des Reizes dieser Büste aus und charakterisiert ihren Rang als Kunstwerk. Läßt sich die Dargestellte benennen? „Ernst und Festigkeit in den Zügen gepaart mit einer anspruchsvollen Haltung geben dem Bildnis etwas Offizielles, das über die private Sphäre hinausreicht", so formulierte Raumschüssel seinen Eindruck und damit zugleich den Ausgangspunkt weiterer Überlegungen. Die Kopfwendung in Verbindung mit dem glatten, verhältnismäßig langen Hals und der zurückhaltenden Alterscharakterisierung des Gesichts — in der durch die Büste festgelegten Hauptansicht treten fast nur die Eintiefung vom rechten Nasenflügel aus und die dazu parallele Falte am rechten Mundwinkel hervor — sind sicher ein Standeszeichen und haben insofern etwas .Offizielles'. Das wird sehr deutlich, wenn man die Bildnisse einfacherer Frauen vergleicht, etwa die in der gleichen Sammlung

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aufbewahrte, nur ein gutes Jahrzehnt ältere Büste 366 a (Abb. 7)2, die freilich von R. West erheblich überbewertet worden ist3. Unter den Damen des traianischen Hofes finden wir eine ähnlich .energische' Kopfwendung bei der Büste der Matidia in Paris4, auf die weiter unten zurückzukommen sein wird. Im übrigen sind die Bildnisse gerade aus dieser Umgebung in diesem Punkt zurückhaltender. Unter den Privatbildnissen sei die Kopenhagener Büste 670 erwähnt 5 , ein Privatporträt, das zeitlich der Dresdener Büste nahesteht. Die Haltung allein ermöglicht ersichtlich keine Antwort auf die Frage nach .offiziellem' oder Privatporträt, und der Gesichtsausdruck hülfe nur weiter, wenn wir sicher sein könnten, daß auch die Römer einen über das Maß eines Privatbildnisses hinausgehenden Grad von Ernst und Festigkeit in diesem Porträt erkennen konnten. Bei Annahme eines weiten zeitlichen Rahmens für die Entstehung der Büste kommen wir in die Jahre zwischen 120 und 140. In diesen beiden Jahrzehnten sind an offiziellen Bildnissen diejenigen der Plotina, der Marciana, der Matidia und der Sabina zu erwarten. Das Proträt der Plotina ist hinreichend bekannt6. Mit dem allein gesicherten Haupttypus und seinen großenteils späthadrianischen Wiederholungen 7 hat die Dresdener Büste keinerlei Verbindung, weder in der Frisur noch physiognomisch. Auch zu dem fraglichen Nebentypus8 bestehen keine Beziehungen. Raumschüssel hat mit gutem Recht hier ebenso wenig Anlaß zu einer Identifikation gesehen wie mit dem Bildnis der Marciana9. Und doch gibt es hier ungelöste Probleme. Wie Wegner in seinem grundlegenden Aufsatz 1938 festgestellt hat 10 , kennt die stadtrömische Prägung für Plotina und für Marciana nur jeweils einen Bildnistypus (Abb. 6). Der Nebentypus der Plotina ist durch die Münzprägung nicht überzeugend gedeckt und öfter auch Marciana oder Matidia getauft worden. Mit Ähnlichkeit der Bildniszüge kann man hier nur schwer operieren: Marciana war die Schwester Traians, Matidia ihre Tochter, die Verfechter der Benennung Plotina sind ihrer Sache keineswegs sicher, und bislang weiß niemand, welche Ähnlichkeiten schon durch den Bildnisauftrag gewünscht waren. Auch wenn man für Marciana nur das Kolossalporträt in Ostia anerkennt11, ist die Übereinstimmung P. Herrmann, Verzeichnis der antiken Originalbildwerke der staatlichen Skulpturensammlung zu Dresden (21925) Nr. 366 a. Jucker, Blätterkelch 72 Nr. St 9 Taf. 24. Vgl. M. Wegner, Die Herrscherbildnisse in antoninischer Zeit (Berlin 1939) 288 zu 109 f. Kat. Der Menschheit bewahrt. Staatliche Kunstsammlungen Dresden 1959, 14 Nr. S 38 m. Abb. 3 R. West, Römische Proträtplastik II (München 1941) 94 Taf. 28,101. 4 Encyclopédie photographique de l'art. Le Musée du Louvre III (Paris 1938) 292. Wegner, Hadrian 71. Hausmann 188 Abb. 11.191.201 Abb. 25. Raumschüssel a. O. Zanker 9 f . Anm. 5 und 7 zu Nr. 8. 5 V. Poulsen, Les portraits romains (Glyptothèque Ny Carlsberg) II (Kopenhagen 1974) 91 ff. Nr. 72. Zanker 52 Nr. 67 Anm. 5. 59 f. Nr. 79 Anm. 3. 6 Wegner, Hadrian 74 ff. Fittschen 8 f. Nr. 7. 7 Wegner, Hadrian Taf. 3 2 - 3 3 . Zanker Taf. 9. Beil. 8,8c.d. 9. 8 Zanker 7 f. Nr. 6. 9 Wegner, Hadrian 7 7 f f . 121 f. Taf. 3 5 - 3 6 . Hausmann 189 Abb. 14. Carandini 146.340f. Abb. 55.57. 10 Wegner, Datierung. 2

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Wegner, Datierung 293 f. Abb. 7 - 8 . Wegner, Hadrian Taf. 35. Hausmann 189 Abb. 14.195. Carandini

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mit der Marciana der Prägung nicht genau 12 . Raumschüssel beschränkt seine Erwägungen auf Sabina und Matidia, für die das Münzmaterial teils eindeutig (Matidia) ist, teils so verschiedenartig wie in dieser Generation sonst nicht wieder. Matidia hat, wie Plotina und Marciana, nur einen einzigen Bildnistypus in der Prägung Roms (Abb. 6)13. Sabina hat deren mehrere (Abb. 6). Wegner unterscheidet drei Haupttypen14, innerhalb derer freilich in der Wiedergabe der Frisur wie der Physiognomie beträchtliche Unterschiede zu beobachten sind15. Dazu kommen zahlreiche Varianten in der Prägung der kaiserlichen Münze in Alexandria und in den griechischen Städten vor allem Kleinasiens und des syrischen Raumes16. Damit beginnt eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt mit den Prägungen der jüngeren Faustina unter Pius und Marcus erlebt, wie Fittschen eindrucksvoll gezeigt hat17. Die Prägungen mit dem Bildnis der Sabina hat schon Wegner richtig in die Gruppen der Anlehnung an die Bildnisse der Marciana — dieser Typus wurde bis zu den Münzen der Diva Sabina wiederholt und leicht variiert — sowie der Plotina und einen eigenen Typus der Sabina unterteilt. Die Dresdener Büste hat gewisse Beziehungen ganz allgemeiner Art zum ersten Typus (Anlehnung an Marciana), stimmt jedoch nur in den Hauptzügen der Frisur (schon nicht mehr in wesentlichen Einzelheiten) damit überein und ist physiognomisch völlig andersartig. Raumschüssel sah, daß Stirn, Kinn und vor allem die Nase mit den gesicherten Porträts der Sabina nicht vereinbar sind. Man kann dem auch nicht entkommen, indem man sich auf die eine oder andere griechische Polis-Prägung beruft: deren Qualität gibt keine Basis für derartige Schlußfolgerungen her. Die Entscheidung für Matidia zwingt Raumschüssel zu dem fast verzweifelten Ausweg, in der Dresdener Büste „einen bisher nicht bekannten Typus der MatidiaBildnisse" zu erkennen, der obendrein durch keine zuverlässige Replik abgesichert ist. Ähnlichkeit der Gesichtszüge — „ein freilich schwaches Argument" 18 — und motivische Übereinstimmungen in der Haartracht stellten eine Verbindung zu einer Büste im Louvre 19 her, auf die oben schon einmal hingewiesen wurde. Damit

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146 Abb. 57. R. Calza, I ritratti (Scavi di Ostia V/1, Rom 1964) 61 Nr. 92 Taf. 54. H. v. Heintze, in: Helbig4 Nr. 3084. Vgl. z. B. das Haar- bzw. Zopfnest am oberen Hinterkopf. Wegner, Datierung 283 f. Abb. 3. Carandini 60 Taf. 5, XVI. Die Umzeichnungen beruhen auf zwei verschiedenen Prägungen. Wegner, Datierung 283 Abb. 3. Wegner, Hadrian 84 f. Nicht überzeugend Hausmann 183 ff. Carandini Taf. 5 0 - 5 1 . 77, 1 6 7 - 1 6 9 . 1 6 7 - 1 6 9 . 86, 2 0 2 - 2 0 5 . 96, 230.104,251. - 81,182 82,185. 84,193; 1 9 5 - 1 9 6 . 105,254. 106. Dazu mit Recht Fittschen 12 Anm. 15 zu Nr. 10. Alexandria: Carandini Taf. 72, 150—152. 81,179. A. Geissen, Katalog alexandrinischer Kaisermünzen ... Köln 2 (Opladen 1978) Nr. 1 2 6 1 - 1 2 7 0 . H. Jucker, JbBernischesHistMus. 41/42, 1961/62, 298f. Abb. 16. - Cistophoren (Smyrna): W. E. Metealf, The Cistophori of Hadrian (New York 1980. American Numismatic Society, Numismatic Studies 15) 35 Nr. 34 Taf. 11, 175 — 176. — Stadtprägungen: Carandini Abb. 1 0 5 . 1 1 8 - 1 2 0 . 1 2 2 - 1 3 5 . K . Fittschen, Die Bildnistypen der Faustina Minor und die Fecunditas Augustae. AbhGöttingen III/126, 1982. Zanker 7 zu Nr. 6. oben Anm. 4.

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geraten wir in ein kaum entwirrbares Knäuel von Problemen. Der einzige Bildnistypus der römischen Prägung (Abb. 6) kennt nur minimale Varianten. Ein entsprechendes rundplastisches Porträt aus der Antike ist offenbar nicht erhalten20. Ein in mehreren Repliken überliefertes, einmal in einer Statuengallerie der Divae Augustae mit einer Marciana verbundenes Bildnis21 wird „jetzt allgemein Matidia genannt" 22 . Daß das Porträt eine der Frauen an Traians Hof 23 darstellt, ist durch Zahl und Größe der Wiederholungen wie durch Fundzusammenhang gesichert. Aber ist es Matidia oder Sabina? Die wahrscheinliche Familienähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter erlaubt keine Entscheidung von den Gesichtszügen her, und die Münzbildnisse sind beiden Lösungen gleichmäßig ungünstig oder günstig. Mehr als vier Jahrzehnte nach Wegners grundlegenden Untersuchungen, mehr als zwei Jahrzehnte nach Hausmanns zu teilweise anderen Ergebnissen gelangenden Überlegungen 24 müßte das Problem an Hand neuer Daten nochmals überprüft werden. Bis das geschehen ist, wird man eher einen weiteren, nicht durch Münzen bezeugten Bildnistypus der Sabina annehmen als die Typen der Matidia-Proträts vermehren wollen. Auch der bereits erwähnte ,Nebentypus' der Plotina ist verschiedentlich Matidia, aber auch Marciana zugeschrieben worden 25 : Hier scheint mir immer noch die Erwägung Zankers26 der Wahrheit am nächsten zu kommen, es sei „nicht auszuschließen, daß es sich um eine Dame aus einer der führenden Familien" Roms handelt. Für die Dresdener Büste gibt es einen zusätzlichen Hinweis in dieser Richtung. Büsten mit reliefverzierten Indextäfelchen hat Jucker 27 zusammengestellt; eine wesentliche Ergänzung seiner Listen verdanken wir B. Freyer-Schauenburg 28 . Jukker sah, daß nur qualitätvolle Büsten einen reliefverzierten Index haben: „Der verzierte Titulus hat demnach den Wert einer vom Künstler selbst angebrachten Auszeichnung seines Werkes"; er spricht von der „in der Ausgestaltung der Indextäfelchen sich kundgebenden Zierfreude" 29 . Volutenrahmung und Reliefverzierung

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Gegen Wegners ursprünglichen Vorschlag, Datierung 296ff. Abb. 11. Vgl. B. M. Fellett Maj, I ritratti, Museo Nazionale Romano (Roma 1953) 94 f. Nr. 176, Wegner, Hadrian 80.124 f. („Es handelt sich um das Bildnis einer Unbekannten traianischer Zeit") und Zanker 10 Anm. 1 zu Nr. 8. Wegner, Datierung 298ff. Abb. 1 2 - 1 3 . Wegner, Hadrian 81 f. 1 2 3 f f . Taf. 39 - 40. Hausmann 195 Abb. 14. H.-J. Kruse, Römische weibliche Gewandstatuen des zweiten Jahrhunderts n. Chr. (Diss. Göttingen (1968) 1975) 117.331 Taf. 45. G. Capecchi, BdA 60, 1975, 169 ff. C. Gasparri, A A 1979, 524ff. Abb. 9 . 1 3 - 1 5 . 2 5 - 2 6 . Zanker 9 f . Nr. 8. Zanker a. O. Zu diesen vgl. H. Temporini, Die Frauen am Hofe Trajans. Berlin/New York 1978. Vgl. dazu H. Castritius, Gnomon 53, 1981, 347 f. s. Anm. 21. Die Literatur bei Zanker 7 Nr. 6. Zanker 8 zu Nr. 6. Jucker, Bildnisbüste 103 ff. Freyer-Schauenburg. Seitdem hinzugekommen: H. Jucker—D. Willers (Hsgg.), Gesichter, Griechische und römische Bildnisse aus Schweizer Besitz. Ausst.-Kat. Bern 1982/83, 160 f. Nr. 167. Jucker, Bildnisbüste 111.113.

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der Indextafeln beginnen um 120, also unter Hadrian, und enden unter Gallien um 260. Darstellungen von Männern und Frauen, Priesterinnen und Priestern, Philosophen und (uns) Unbekannten begegnen in diesem Zusammenhang, aber bisher weder eine Kaiserin noch ein Kaiser, seien es Divae (Divi) oder Lebende. Ist man bereit, das — immer schwache — argumentum e silentio in diesem Fall hinzunehmen, so ergibt sich daraus ein zusätzlicher Fingerzeig, daß in der vorzüglichen Dresdener Büste eine Privatperson dargestellt ist und daß der Bildhauer selbst sein Werk offenbar als wohlgelungen angesehen hat. Aber ist damit schon alles ausgedrückt, was die Ornamentranken mit der Palmette aussagen? B. Freyer-Schauenburg hat in ihren sorgfältig gearbeiteten Ausführungen auf eine nicht abgebildete Büste im Magazin des Museums in Saloniki hingewiesen30, die zwischen reliefverzierten Indextäfelchen und Blätterkelch vermittelt: „Der frei, ohne rechteckigen Hintergrund aufwachsende Akanthos ist zweifellos als Blattkelch, nicht als Index aufzufassen. Die Seitenblätter sind zu Voluten eingerollt, nach Juckers Terminologie also in „ägyptischer Art" wiedergegeben. Im Gegensatz zu seinen Beispielen jedoch ist die mittlere Blattspitze hier weder umgeklappt noch überschneidet sie die Büste, der Blattkelch endet vielmehr unten am Büstenfuß und oben am Büstenrand waagrecht wie ein Indextäfelchen". Die gelehrte Verfasserin weist dann noch auf den Marc Aurel aus Kyrene in London31 hin, dessen Büste von einem oben und unten ebenfalls waagrecht begrenzten Palmwedelkelch auf der Vorderseite des Büstenfußes unterfangen wird. Die vermittelnden Formen lassen darauf schließen, daß mit beiden Grundtypen, der Blätterkelchbüste und dem mit vegetabilen Motiven verzierten Index, ähnliche Aussagen verbunden sind. Jucker hat sie (für die Blätterkelchbüsten) mit Recht im Bereich des Sepulkralen und der Glück- und Segensymbolik gefunden 32 , eine für die Antike durchaus verständliche und sinnvolle Verbindung. Unter den Blätterkelchbüsten begegnen auch Kaiser (seit Caligula), aber wieder keine Augusta oder Diva 33 . Bei den geringen Zahlen,

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Freyer-Schauenburg 120 f. Saloniki, Museum, Magazin. Inv. 269. M. Wegner, Die Herrscherbildnisse in antoninischer Zeit, Berlin 1939 (Das römische Herrscherbild II/4) 180 Taf. 32. M. Wegner, Boreas 2, 1979, 154. Freyer-Schauenburg 121. Jucker, Blätterkelch 95 f. Nr. St 43 Taf. 37. E. Rosenbaum, Cyrenaican Portrait Sculpture (London 1960) 58 Nr. 49 Taf. 35,1—2. Entgegen dem Zeugnis des kurzen Barthaares wohl Bildnis des Divus Marcus, unter Commodus entstanden. Jucker, Blätterkelch passim, vgl. bes. 227. Jucker, Blätterkelch 104 f. Nr. St 53 Taf. 43 (vgl. V. Müller, Zwei syrische Bildnisse römischer Zeit, 86. BWPr (1927) 5 ff. 15.20.23 ff. 30 ff. Abb. 3 Taf. 2. Der Kopf befindet sich jetzt im University Museum, Philadelphia) nennt eine syrische Blätterkelchbüste als Darstellung der Iulia Maesa. Dem haben B. Andreae, Gnomon 37, 1965, 510 und Wegner (in: H. B. Wiggers—M. Wegner, Caracalla. Geta. Plautilla. Macrinus bis Balbinus. Das römische Herrscherbild III/l, Berlin 1971, 157) Zweifel entgegengesetzt, stillschweigend auch K. Fittschen, G G A 2 3 0 , 1 9 7 8 , 1 4 8 . Der Kopf ist nicht erwähnt in K. Buchholz, Die Bildnisse der Kaiserinnen der severischen Zeit, Diss. Frankfurt (1962) 1963, und J. Meischner, Das Frauenporträt der Severerzeit, Diss. Berlin 1964. Die verschollene Büste der Iulia Domna ehemals in Sanssouci (K. Parlasca, RM 77, 1970, 123 ff. Taf. 56) gehört unabhängig von der Praemisse Parlasca's, daß die Sepulkralsymbolik nicht zur Benennung Iulia Domna paßt,

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die für die Herrscherbildnisse im Blätterkelch anfallen, hat Statistik keine Aussagekraft, aber das völlige Fehlen von Kaiserinnen (Augustae, Divae) ist doch bezeichnend. Auch von dieser Seite her spricht alles dafür, in der Dresdener Büste das Privatporträt einer vornehmen Angehörigen der Oberschicht zu sehen. Es ist natürlich nicht auszuschließen, daß ein Neufund uns demnächst ein Augustaproträt mit verziertem Index beschert, aber dieses Risiko muß derzeit in Kauf genommen werden. Voraussetzung für die Verwendung vegetabilischer Motive im Zusammenhang mit Porträtplastik sind die aus griechischem Bereich, vor allem aus Großgriechenland nach Rom eingeflossenen Vorstellungen vom Leben nach dem Tode. Aber die Möglichkeit, die gleiche Symbolik auch auf die Bildnisse lebender Kaiser (Caligula) oder zum Staatsgott erhobener Herrscher (Traian, Marcus) anzuwenden, mahnt zur Vorsicht. Divi und Divae leben ja nicht wie die übrigen Dahingegangenen im fernen Elysium, sondern sind, wie schon die Apocolocyntosis eindrucksvoll zeigt, Genossen der Überirdischen, der .olympischen' Götter. Die vegetabilen Elemente meinen daher hier „nicht so sehr bestimmt zu umschreibende Ideen über das Dasein im Jenseits", sondern wollen „in einem weiteren Sinne als Segen und Glück verheißende Zeichen verstanden werden" 34 . Picard hat die inhaltliche Bedeutung des grünen Akanthus unter den Büsten so umschrieben: „L'acanthe reste la marque de la poussée végétale naissante comme indice et espoir de la reviviscence, à la limite du sol des mânes et de la terre des hommes"35. Das ist richtig für die Bildnisse verstorbener Privatleute (aus welcher Gesellschaftsschicht auch immer) und entspricht Gedankengängen, die bereits bei Bachofen ausgeführt sind36. Picards Formel trifft nicht zu auf die Büsten von Augusti/Augustae und Divi/Divae. Diese sind in erster Linie Staatsgottheiten, als Lebende „ein Gefäß, durch das hindurch göttliche Mächte zum Segen des Reiches wirkten" 37 , als Divi/Divae Garanten des Gedeihens des Imperium Romanum, als solche von hohem Rang und daher mit einem jeweils eigenen flamen ausgestattet. Für den lebenden Kaiser kann man zu den Göttern beten, „die also auch über ihm walten"37. Man bittet ihn ebenso wenig wie die Staatsgottheiten im Himmel um Hilfe etwa in der Liebe oder beim Spiel, aber man erfüllt die rituellen Pflichten ihnen gegenüber als Zeichen der Loyalität zum römischen Staat und seiner personalen Verkörperung, dem Kaiser. Ein Divus wird nicht im Himmel wiedergeboren, sondern er steigt unmittelbar in den Himmel zu den Göttern auf. Im Falle der Herrscherbüsten haben die vegetabilen Ornamente also eine nicht auf Wieder- oder Neugeburt zielende oder auf diesen Ideenkreis beschränkte Bedeutung, sondern sind anders, weiter zu verstehen. Aber über diese

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nicht mit ihrem verzierten Indextäfelchen zusammen (Parlasca 130 f.). Vgl. auch Freyer-Schauenburg 119 Nr. 12. Jucker, Blätterkelch 217. Ch. Picard, BCH 82, 1958, 461. Zustimmend zitiert Jucker, Blätterkelch 217 Anm. 1. Zur Verbindung der Gedankengänge von Jucker zu Bachofen K . Schefold, MusHelv 20, 1963, 59. K. Latte, Römische Religionsgeschichte (München 1960, HAW 5,4) 321 und Anm. 1.

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Feststellung hinaus können wir nicht präzisieren, es sei denn, man begnüge sich mit der allgemeinen Formel von der Glück- und Segensymbolik, die wohl ein wenig zu abstrakt ist. Wir werden uns also mit Jucker 3 8 bescheiden: „In keinem Fall aber wollen wir uns anmaßen, den Sinngehalt in präcise Worte zu fassen. Selbst mit der scheinbar noch so gut übereinstimmenden Aussage eines Grabepigramms kann die symbolische Bildsprache nicht restlos ausgelegt werden; denn diese drückt sich nicht in rational faßbaren Begriffen aus, sondern sie deutet an, ruft Ahnungen wach, lenkt Gedankenverbindungen in eine bestimmte Richtung oder vermittelt auch nur einen Stimmungsgehalt". Der Jubilar wird verzeihen, wenn ich zum Schluß noch ein paar Bemerkungen anfüge, die mehr sein Fachgebiet als das des Archäologen berühren. Nachantik, in der neueren Zeit, ist der reliefverzierte Index verhältnismäßig selten, selbst wenn man die entsprechenden ,Ergänzungen' antiker Büsten hinzurechnet. Im 16. Jahrhundert spielt dies antikisierende Motiv keine wesentliche Rolle 39 . Hat Christian Daniel Rauch irgendeine inhaltliche Vorstellung ausdrücken wollen, oder waren es Stichwerke wie die des de Rubels 40 nach den Antiken der Villa Pamphilj, die ihn zu den Palmetten (Rosetten) im Index einiger weniger Büsten veranlaßten? Der Lilienstengel am Grabmal der Barbara Lowther von John Flaxman 41 hat seine Wurzeln in der christlichen Ikonographie und läßt sich somit weder formal noch inhaltlich n- ; t den verzierten Indextafeln verbinden, fallt also auch als Quelle oder Anregung für Rauch aus. Das Grabmal des Malers Catel von Julius Troschel in S. Maria del Popolo in Rom (1857) 42 gibt sich schon stärker antikisierend, aber hier sitzt die nach antiken Begriffen etwas grobe Ranke am Büstenfuß, nicht auf einem Index, ist also von den römischen Büsten des Altertums nicht unmittelbar beeinflußt. Wenn Rauch an Porträtbüsten den Index verziert, dann sicher nicht aus den Gründen, die nach gängiger Auffassung in der Antike dafür verantwortlich waren. Bachofens Ideen mögen schon damals in den altertumswissenschaftlichen Kreisen des geistig sehr regen Berlin der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts diskutiert worden sein (Bachofen gehörte in jenen Jahren zum Kreis des Instituts am Abhang des Kapitols in Rom); dann sind sie auch bis zu Rauch gelangt. Aber 38 39

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Jucker, Blätterkelch 217, zustimmend zitiert von B. Andreae, Gnomon 37, 1965, 508. Vgl. P. Dittmann, Die formgeschichtliche Entwicklung der italienischen Büste im Cinquecento. Diss. Gießen 1970. Io. Iacobi de Rubeis, Villa Pamphilia eiusque palatium, cum suis prospectibus, statuae, fontes, vivaria, theatra, areolae, plantarum viarumque ordines, cum ejusdem villae absoluta delineatione. Romae, Formis J. J. de Rubeis (1649). Freyer-Schauenburg 122 f. Abb. 1 - 2 Taf. 42,3. R. Calza, Antichità di Villa Doria Pamphilj (Rom 1977) Nr. 3 5 0 - 3 5 1 Taf. 189.190. M. Whinney—R. Gunnis, The Collection of Models by John Flaxman, RA, at University College (London 1967) Nr. 108 Taf. 19 a. Ausst.-Kat. The Age of Neo-Classicism (London 1972. 14 th Exhibition of the Council of Europe) 237 Nr. 367 Taf. 76. P. Bloch—W. Grzimek, Das klassische Berlin (Berlin 1978) 129 f. — Vgl. zu Ergänzungen antiker Büsten mit verzierten Indices Freyer-Schauenburg 122, die auch darauf hingewiesen hat, daß die Indexplatte der sog. Iuno Ludovisi (Felletti Maj a. O. Nr. 118. H. v. Heintze a. O. Nr. 2341) erst nach der Mitte des 19. Jh. zugefügt worden ist.

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gerade diese Deutungsversuche kommen für Rauch nicht in Frage, denn die Goethebüste (1820) und das Selbstbildnis (1828) sind zu früh, außerdem hätte er die Bildnisse Lebender nicht mit einer sepulkralen Symbolik versehen. Hat er also das Motiv aus seiner Kenntnis der Antike übernommen, ausschließlich weil es antik war? War es reine Zierfreude? Hatte er irgendwelche darüber hinausgehende Ideen? Die Auswahl der betroffenen Büsten fällt auf. Goethe hatte 1820 Rauch (und Schadow) selber gesessen; dabei hatten sich lebhafte Kunstgespräche entwickelt, die auf den damals schon über vierzigjährigen Bildhauer nicht ohne Eindruck geblieben sein können. Die beiden anderen Büsten gehören in die engere Familie 43 , Eugenie d'Alton war mit Rauch eng verwandt. Soll man, darf man annehmen, daß Rauch instinktiv mit der Indexverzierung eine Heraushebung dieser drei Büsten, eine Art Auszeichnung beabsichtigte, wie dies Jucker mehr als hundert Jahre später für die Antike herausgearbeitet hat? Die Frage läßt sich hier nicht beantworten, sie muß an die Kunstgeschichte weitergereicht werden.

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Zu dem ganzen Komplex ausfuhrlich V. Rutenberg, Das klassizistische Bildnis im Werk von Christian Daniel Rauch. In: Festschrift Gottfried v. Lücken, WZ Univ. Rostock 17, 1968, 757 ff. Das Goethebildnis: Rutenberg a. O. 760 Taf. 39. Selbstbildnis Rutenberg a. O. 760 Taf. 41. BlochGrzimek a. O. Taf. 135. Zu Eugenie d'Alton (Berlin, Nationalgalerie) vgl. F. und K . Eggers, Christian Daniel Rauch 4 (Berlin 1887) Personalregister s. v., ferner Jucker, Bildnisbüste 108 Nr. 26. Freyer-Schauenburg 122 Nr. 25.

C H R I S T I A N BEUTLER

Das älteste deutsche Marienbild und die Essener Madonna Die Geschichte der deutschen Marienbildwerke setzt für uns Heutige mit einem künstlerischen Höhepunkt ein: der Goldenen Madonna im Essener Münsterschatz 1 (Abb. 11). Maria sitzt auf einem Thronstuhl und neigt ihr gewichtiges Haupt dem Kinde zu, das quer in ihrem Schöße liegt und zu ihr aufblickt. In der erhobenen Rechten hält sie den Apfel, der sie als die ,neue Eva' ausweist, während die Linke fürsorglich den Knaben an der Schulter umfaßt. Getriebenes Goldblech umhüllt Mutter und Kind und verleiht der Gruppe die einheitliche Erscheinung. Der geschlossene Umriß rafft in der Vorderansicht die Figur streng zusammen, doch erschließen die Seitenansichten und die Rückenansicht mit ihrem formalen Reichtum den mehrstimmigen Gefühlsgehalt des Bildwerkes. Die feine Fältelung der reichen Gewänder verleihen der geschlossenen Oberfläche höfische Eleganz. Aus Emailschmelzen eingesetzte, starr blickende Augen betonen das Kultbildhafte der kleinen Gruppe. „Aus der gleichen Kölner Werkstatt und gleichzeitig wie das ältere Mathildenkreuz, stellt die Goldene Madonna die älteste erhaltene, ringsum freigearbeitete Marienfigur dar" 2 . Dem ehrwürdigen Kultbild sei hier ein zweites Marienbildwerk zur Seite gestellt, das die Essener Madonna weder in ihrer künstlerischen Qualität noch in ihrer goldschmiedeartigen Kostbarkeit erreicht, das aber ein gleiches tausendjähriges Alter in Anspruch nehmen kann. Die kleine Figurengruppe, eine thronende Maria mit frontal sitzendem Kind, befindet sich heute im Bischöflichen Museum zu Trier 3 (Abb. 8, 9, 10). Die zum Teil beschädigte Skulptur ist aus Kirschbaumholz gearbeitet und nur 46 cm hoch. Reste von Farbspuren weisen auf eine alte Bemalung hin. Durch Wurmfraß wurden die Arme und Beine des Kindes wie die Hände Mariens zerstört sowie die Spitzen der beschuhten Füße. Den Hinterkopf der Maria hat man wohl zur Aufnahme eines metallenen Heiligenscheines schräg angeschnitten. Auch Teile des mit Blendarkaden verzierten, geschlossenen Thrones wurden in Mitleidenschaft gezogen. Doch läßt sich seine Rückseite herausnehmen, und dies gibt zu erkennen, daß die Figur zugleich als Reliquiar diente. Trotz dieser Beschädigungen strahlt die kleine Figur eine ruhige Feierlichkeit aus. Schlichter als die Essener Madonna und von einem anderen Figurentypus —

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Rudolf Wesenberg, Frühe mittelalterliche Bildwerke, Die Schulen rheinischer Skulptur und ihre Ausstrahlung, Düsseldorf 1972, S. 17, 18, 95, 96. Abb. 9 - 1 3 . Hermann Schnitzler, Rheinische Schatzkammer, Düsseldorf 1957, S. 31. Wesenberg, Bildwerke, S. 87, 108. Abb. 2 4 9 - 2 5 1 .

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das Kind sit2t frontal — ist sie dieser doch verwandt. Das große kugeligrunde Haupt mit dem mondartigen Gesicht, das der Gottesmutter einen fast somnambulen Ausdruck verleiht, beherrscht einen voluminösen Körper, dessen weiche, schwellenden Formen sich an den Armen und am Gesäß abzeichnen. Die Proportionen des gedrungenen Körpers und des übermächtigen Hauptes gleichen der Essener Figur, wobei der Übergang aus dem Rund des Kopfes in den breiten Hals und von diesem zu den schmal abfallenden Schultern ähnlich gleitend gearbeitet ist. Mit der gleichen Geschmeidigkeit überzieht der dünne Stoff der Gewänder die Körpermasse und bindet Glieder und Leib zu einer Einheit wie in Essen zusammen. Doch folgt die Fältelung des Stoffes in Trier charakteristischerweise anderen Gesetzen: Untergewand, Mantel und Schleier, der, über den Kopf gezogen, sich um den Rücken schräg spannt, sind als eine hauchdünne reliefförmige Schicht auf die Körpermasse aufgetragen. Dabei bilden sich Faltenformen, die vereinzelt für sich bestehen. An der rechten Seite der Figur treten allein sechs verschiedene, von einander unabhängige Faltenorganisationen auf: Am Untergewand bildet der herabhängende Stoff Tütenfalten. Über den Knien zieht sich der Mantel in einer Reihe bogenförmiger Rillen zusammen. Am Gesäß bildet sich ein Wirbel kreisförmiger runder Falten. Am breit herabhängenden Ärmel bedeckt den Unterarm ein ungleichförmiges Oval. Auf dem Oberarm wird ein halbes Oval sichtbar. Die Schulter selbst decken die querlaufenden Falten des Kopftuches. Jede Faltenorganisation bleibt eine Insel für sich. Diese Gewandbehandlung ist grundsätzlich unplastisch. Sie gleicht vielmehr einer Zeichnung, die auf einen Körper aufgetragen wurde. Der zeichnerische Charakter der Gewandfalten verweist auf die Buchmalerei, und in der Tat finden sich alle aufgezählten Faltenbildungen dort fast wörtlich auf einem Blatt versammelt. Es ist das zweite Widmungsbild des Evangelistars Erzbischofs Gero von Köln (969 — 976), das kurz vor 969 auf der Reichenau entstand4 (Abb. 12). „Das prunkvolle Hauptwerk der ältesten Gruppe ottonisch-reichenauer Buchmalerei"5 zeigt in seinen Bildern, die auf karolingische Kompositionen zurückgehen, großformige, fleischig wirkende Figuren, deren füllige Formen und weiche Bewegungen dem Figurenideal der kleinen Trierer Madonna durchaus nahestehen. Auch die entspannten, etwas leeren Gesichter verraten eine verwandte bedächtige Besinnlichkeit. Auf dem Blatt überbringt der Schreiber Anno dem künftigen Erzbischof, der hier noch als einfacher Kleriker dargestellt ist, das Evangelistar, das dieser auf dem ersten Widmungsbild dem Hl. Petrus in den alten Kölner Dom stiften wird. An den Gewändern der beiden Kleriker treten Tütenfalten wie ringförmige Fältelungen, die runden und die ovalen Faltensysteme, z. T. in Gold auf Rot gezeichnet, in derselben inselhaften Selbständigkeit auf wie auf dem Gewand Mariens. Aber auch 4

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A. Schmidt, Die Miniaturen des Gero-Kodex im Reichenauer Evangelistar des 10. Jahrhunderts, Leipzig 1924, Taf. XIII. - Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1948, fol. 7 verso. Schnitzler, a. a. O., S. 26.

Das älteste deutsche Marienbild und die Essener Madonna

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der schwellende Körperumriß und der gleitende Übergang von Kopf, dickem Hals und Schulterpartie bei Gero lassen sich gut mit dem kleinen Sitzbild vergleichen. Eine Besonderheit der Essener, aber auch der Trierer Madonna ist ihre jeweils freigearbeitete, volle rundplastische Gestalt. Die auf Ansicht berechnete, schön durchgearbeitete Rückseite mit den herabhängenden Schleierenden, deren Zeichnung wörtlich im Markusbild des Gero-Evangelistars wiederkehrt, ist ein Charakteristikum, das sich bei den thronenden Marien aus der Zeit nach 1000 verlieren wird. Mit der kleinen Elfenbein-Madonna in Mainz vom Ende des 10. Jahrhunderts 6 , die dem Trierer Gregormeister nahesteht, der Goldenen Madonna des Bischofs Bernward von Hildesheim, um 1010 —10157, und der ottonischen Madonna aus Kapellen-Stolzenfels bei Koblenz im Liebieghaus zu Frankfurt aus dem 1. Drittel des 11. Jahrhunderts 8 sowie schließlich der Madonna des Bischofs Imad von Paderborn (1051 —1076)9 ist der Weg gekennzeichnet, auf dem die stilistische Entwicklung zur Einansichtigkeit, zur Verhärtung der Oberfläche, zur Verspannung der Formen, kurz zu einer strengen Vergeistigung führen wird. Auf diesem Weg geht der Charakter der Freifigur und ihre Allansichtigkeit verloren. Die Vorderansicht drängt sich beherrschend vor, und die Skulpturen bieten sich nur noch vor einem realen oder ideellen Hintergrund dem Beschauer dar. Innerhalb der genannten Werke scheint die kleine Figur am Anfang der Reihe zu stehen. Nimmt man eine Entstehung der Essener Madonna in dem Zeitraum um 973 — 982 an, so scheint das Trierer Werk noch einer älteren Stilstufe verpflichtet, auf der das Gewand mit seiner Faltenführung nicht in die Richtung der Gliedmaße miteinstimmt, so daß noch nicht jenes formal gereinigte, makellose, elegant geglättete Bild entsteht, wie es die Goldene Madonna vor Augen stellt. Daher ist es wahrscheinlich, daß die kleine Trierer Figur gleichzeitig mit dem Evangelistar Geros noch in den 60er Jahren des 10. Jahrhunderts entstand. Bereits die vollrunde, freiplastische Gestalt der Essener Madonna hat Hermann Schnitzler zu der Bemerkung veranlaßt, daß diese kaum voraussetzungslos entstanden zu denken sei, wie es heute den Anschein hat. „Doch ist anzunehmen, daß nicht erst die ottonische Kunst den Schritt in die Freiplastik hinein gewagt hat, sondern die karolingische mit Werken voranging, die uns verloren sind" 10 . Eine solche karolingische Freifigur hat sich in dem Torso des Marcellinus aus Seligenstadt, der Gründung Einhards, erhalten, dessen Entstehung um 830 — 840 ich 1982 nachgewiesen habe 11 (Abb. 14). Wirft man einen vergleichenden Blick auf die 6 7 8

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Schnitzler, a. a. O., S. 16, 23. Abb. 31. Rudolf Wesenberg, Bernwardinische Plastik, Berlin 1955, S. 5 9 - 6 2 . Abb. 1 5 4 - 1 5 5 . Wesenberg, Bildwerke, S. 85, 86,108. Abb. 245, 246. Wesenbergs Datierung des so lyrisch wirkenden Werkes in die Jahre 1050—1060 erscheint gerade im Vergleich zur Imad-Madonna als zu spät. Wesenberg, Bildwerke, S. 52, 53, 100. Abb. 1 1 6 - 1 2 3 . Schnitzler, a. a. O., S. 12, 13. Christian Beutler, Statua, Die Entstehung der nachantiken Statue und der europäische Individua-

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Steinskulptur und die Holzfigur, so überrascht die verwandte Körperauffassung, die den beiden Skulpturen über einen Zeitraum von 130 Jahren hinweg zugrunde liegt (Abb. 13, 14). Eine üppige Leiblichkeit, deren kräftige Rundungen an den Armen, im Kreuz und am Gesäß einen schwungvollen Umriß hervorrufen, bestimmt beide Gestalten, wobei die körperliche Masse von einem faltenreichen Gewand überspielt wird. Die Breite und die Gedrungenheit der Proportionen vermitteln einen satten, gesetzten Figurentypus von eigener Schwere und von schlichter Einfalt. Die Ähnlichkeit der Figurenauffassung ist so groß, daß es nicht abwegig erscheint, in der Trierer Figur das Anknüpfen an eine karolingische Tradition sehen zu wollen, deren unmittelbare ikonographische Vorbilder uns verloren gegangen sind. Ist bei dem Torso des Marcellinus die Freifigur ein Erbe der Antike, so ist sie bei der Trierer und der Essener Madonna das Erbe der karolingischen Skulptur. In der wissenschaftlichen Literatur ist das kleine Kultbild zeitlich sehr verschieden eingeordnet worden, worin eine gewisse Verlegenheit seiner stilistischen Erscheinung gegenüber zum Ausdruck kommt. Das Inventar von 1939 gab das Werk noch als spätromanisch aus12. Matthias Schrecklinger und Theodor Kempf datierten die Figur 1957 dagegen um 100013. Rudolf Wesenberg schlug 1972 die Zeit um 1070 vor 14 ; er sah in dem ,Liniengespinst' der Oberfläche eine Verwandtschaft zur Kölner Buch- und Wandmalerei um 1070 und glaubte, im Kopf Ähnlichkeit zu den Köpfen des Berliner Kreuzabnahmereliefs erkennen zu können. Doch stehen die weichen kurvigen Linienmotive der Maria den Binnenzeichnungen des GeroEvangelistars mit denselben Motiven ungleich näher als den starren abstrakten Kölner Malereien, und der kugelige Kopf hat nichts mit den schlanken Köpfen der überlängten Figuren des Reliefs zu tun. Mit einer Datierung um 1070 würde die kleine Trierer Figur zu einer Zeitgenossin der Imad-Madonna, und mit dieser wahrhaft monumentalen Schöpfung salischer Kunst hat sie weder im Stil noch in ihrem Ausdrucksgehalt irgend etwas gemein. Über die Herkunft des Marienbildes ist nichts Sicheres auszumachen. Es kommt aus dem kleinen Ort Ayl an der Saar, und das Inventar des Landkreises Saarburg bemerkt dazu: „Die leider sehr beschädigte Figur stammt vielleicht aus der zu Anfang des 19. Jahrhunderts aufgegebenen St. Lambertuskirche — Pfarrkirche von Saarburg, befand sich dann auf dem Turmspeicher der ehemaligen Filiale Ayl, wurde nach Biebelhausen verschleppt und kam von da in das Diözesanmuseum zu Trier"15. Die

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lismus, München 1982, S. 157. — Die abgebildete Figur setzt sich aus zwei irrtümlich zusammengesetzten Fragmenten zweier Heiligenstatuen zusammen: dem Kopf einer Petrus-Statue und dem Torso einer Marcellinus-Statue. Die römischen Märtyrer Petrus und Marcellinus wurden von Einhard in Seligenstadt beigesetzt. E. Wackenroder und H. Neu, Die Kunstdenkmäler des Kreises Saarburg, Düsseldorf 1939, S. 35. Matthias Schrecklinger, Trierer Madonnen, Trier 1957 S. 7. S. 15 .frühes 11. Jh.'. Wesenberg, Bildwerke, S. 87, 108. Wackenroder-Neu, a. a. O., S. 35.

Das älteste deutsche Marienbild und die Essener Madonna

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Saarburg war bis 1866 Eigentum der Trierer Domkirche und unterstand dem Trierer Erzbischof. Ist das Bildwerk in Trier entstanden, wie Wesenberg wollte, oder nicht eher in Köln, wo die Essener Madonna geschaffen wurde und das Gero-Evangelistar lag?

HANS E R I C H K U B A C H

Zum Problem der Westchorhallen an Rhein und Maas Die durch Jahrzehnte andauernde wissenschaftliche Diskussion um vorromanische und romanische Westbauten hat sich vor allem dem karolingischen Westwerk und der frühromanischen Doppelturmfassade zugewandt. 1 Die anderen Westbautypen und vor allem die spätromanischen Westbauten sind dagegen eher vernachlässigt worden. Seitdem Albert Verbeek 1936 die spätromanischen ,Westchorhallen' an Rhein und Maas bekannt gemacht hat, 2 sind vor allem zwei Aufsätze von Pierre Heliot zu nennen, die in weit ausgreifendem Überblick romanische und frühgotische Westbauten in Frankreich und England behandeln und zahlreiche Anregungen für weitere Forschung geben.3 Das Problem der Westchorhallen bleibt dabei aber weitgehend außer Betracht und soll daher hier nochmals untersucht und durch einige Gesichtspunkte erweitert werden. Die drei Westchorhallen, in Lüttich St. Jacobus und St. Bartholomäus und in Maastricht St. Servatius, alle aus dem letzten Drittel des 12. Jhs., verkörpern in ihrem heutigen Zustand den Typus am reinsten. Sie sind höchst einprägsam gekennzeichnet durch den kastenförmigen, geschlossenen Baublock, der dem Langhaus westlich vorgelagert und außen in mehreren Geschossen gegliedert ist; durch den dreijochigen Raum, der wie ein Querschiff in voller Höhe des Mittelschiffs sein Inneres ausfüllt; durch die beiden stark einspringenden Türme, die aus seinem Dach herausragen. Schon durch diese Merkmale unterscheiden sie sich von den meisten Bauten, die Heliot in Nordfrankreich und England untersucht hat. (Der 1

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Zu den Westwerken zuletzt Carol Heitz, L'architecture religieuse Carolingienne, Paris 1980, unter .antéglise'. Er lehnt die eingehende quellenkritische Studie von Parsons kurzerhand ab. (David Parsons, The Pre-Romanesque Church of St.-Riquier: the Documentary Evidence: Journal of the British Archaeological Association 130, 1977, 21.) — Die Probleme der Zweiturmfassade, seinerzeit lebhaft zwischen Hans Reinhardt, Hans Kunze, Herwin Schaefer u. a. umstritten, sind zur Ruhe gekommen, doch wohl nicht ausdiskutiert. — Auch der Dreiturm-Westbau (Kiessmann 1952) dürfte weitere Beachtung verdienen. — Einen Grenzfall des Westbaues, die ,Schirmfassade' habe ich 1977/ 82 dargestellt. Albert Verbeek, Romanische Westchorhallen an Rhein und Maas: Wallraf-Richartz-Jb. 1936. — Um Hallen im üblichen Sinne, also mehrschiffige Räume von im wesentlichen gleicher Höhe und mit freistehenden Stützen, handelt es sich hier nicht. Dennoch sollte man wohl den einmal eingeführten Ausdruck beibehalten. Bei Verbeek 1936 Nachweise, Abbildungen und Schrifttum; weitere bei H. E. Kubach/Albert Verbeek, Romanische Baukunst an Rhein und Maas, 3 Bde. Berlin 1976 sowie Bildband .Romanische Kirchen ...', Neuß 1971 und weitere Auflagen. Pierre Héliot, Blocs de façade: Bulletin Monumental 114, 1956, S. 8 1 - 1 1 4 ; bes. 1 0 0 - 1 1 2 . - Ders., Avant-nefs et Transepts: Gazette des Beaux-Arts 1980, April, S. 1 2 9 - 1 3 6 , Sept., S. 5 3 - 6 2 . — Vgl. auch Charles Seymour, Notre-Dame of Noyon in the twelfth Century. Yale University 1939, 2 New York 1968. Französische Ausgabe Genf 1974; bes. S. 139 der Ausgabe 1968.

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bekannteste ist die Kathedrale von Noyon.) Des weiteren aber auch durch die große Mauerstärke und vor allem durch die stark in den Raum einspringenden Wand- und Eckpfeiler, die als Unterbau der Türme dienen und deren Einspringen ermöglichen. (Die einspringenden Pfeiler mögen von fern erinnern an die Pfeilermassive der aquitanischen Kuppelkirchen, an die Wandpfeiler der Tonnensäle in Südfrankreich, oder gar an die barocke ,Wandpfeilerkirche'.4) Die wechselseitige Bedingtheit der Wandpfeiler und der Türme erweist eine sehr überlegte Konstruktion, bei der Inneres und Äußeres aufeinander abgestimmt sind. Diese Anlage wird weiter kompliziert, indem zwei dieser Bauten zwischen den Wandpfeilern untiefe Nebenräume einbauen, und zwar in zwei Geschossen übereinander. Die oberen kann man als Emporen oder rudimentäre Laufgänge ansprechen. In einigen Bauten des Typus, die zeitlich unmittelbar auf die von Lüttich und Maastricht folgen, St. Viktor in Xanten und St. Georg in Köln, werden eigentliche Laufgänge in der Mauerstärke ausgebildet. Damit ist die zweischalige Mauer genau so gegeben wie in den bekannten Kölner Dreikonchenbauten und anderen rheinischen Apsiden. Es ist zu beachten, daß dort Innenlaufgang und äußere Zwerggalerie die Zweischalenkonstruktion in zwei Geschossen übereinander durchführen und daß im Innern der Kleeblattanlagen, nämlich in den zugehörigen Tonnenjochen, zwei innere Mauerlaufgänge ebenfalls übereinander vorkommen. Weder Ernst Gall (1956) noch Werner Meyer-Barkhausen (1952) sind darauf eingegangen, noch auch Walter Zimmermann (1950): daß diese doppelgeschossige Zweischalenkonstruktion, teils nach innen, teils nach außen gewandt, ganz für sich steht und als solche k e i n e normannischen Vorläufer hat. Einige der grundlegenden Baugedanken, denen wir bei den spätromanischen Westchorhallen begegnen — Zweischalenkonstruktion und einspringende Türme sowie die Mauerdurchhöhlung in zwei Geschossen, die auf zwei verschiedene Arten bei den Kölner Apsiden zu beobachten ist — haben in sehr auffalliger Weise einen frühromanischen Vorläufer im Südwesten des Rheinlands, im Westbau des Trierer Domes. Seine Türme erheben sich über der gemeinsamen Rückwand der großen Portalnischen und der über diesen liegenden zweigeschossigen Galerien. Wie die Türme der Westchorhallen springen auch sie über Pultdächern zurück. Jedoch zeigen die rahmenden Treppentürme, die Westapsis und die Raumanlage als Ganzes große Unterschiede zu den erstgenannten Bauten. Diejenigen früheren Westbauten, die vermutlich als direkte Vorläufer der Gesamtanlage unserer Westchorhallen angesprochen werden können, sind leider nur mit ihrem Erdgeschoß (Walcourt) oder gar nur im ergrabenen Grundriß bekannt, wie der erste Westbau von Nivelles, vielleicht auch der von St. Peter in Löwen. Einspringende Türme über Zwerggalerien sind aber gerade auch an Rhein und Maas bei anderen Bautypen gegeben, so bei den spätromanischen Chorfassaden 4

H. J. Böker hat den Ausdruck ,Wandpfeilerhalle' geprägt, für eine Sonderform der romanischen Hallenkirche Westfalens. (Im Druck: Zeitschr. f. Kunstgesch.)

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Hans Erich Kubach

von Brauweiler und Roermond. Gerade dies, die mehrgeschossige Anlage von Mauerlaufgängen, läßt sich auch bei den beiden soeben genannten rheinischen Westbauten nachweisen (s. u.). 5 Die Westchorhalle, die den drei maasländischen zeitlich unmittelbar folgt, die von Xanten, macht im Innenraum und in der Konstruktion den dort erst vorbereiteten Schritt: sie bildet die unteren Nebenräume zwischen den Wandpfeilern zu Muldennischen, die oberen zu Laufgängen um. Das gleiche ist bei St. Georg in Köln zu sehen, wo der Westchor nicht als Querbau, sondern als kuppelgewölbtes Geviert ausgebildet ist. Sowohl in Xanten wie in St. Georg machen es Baubefunde wahrscheinlich, daß einspringende Türme geplant waren. Statt der Wandpfeiler von Lüttich und Maastricht hätte hier also die innere Mauerschale des Innenlaufgangs die Turmaufbauten getragen; der Rücksprung wurde durch einen zweiten Laufgang vermittelt, der in Xanten unsichtbar im Innern der Mauer des 3. Geschosses liegt, in Köln aus Resten zu erschließen ist und sich wohl als Zwerggalerie nach außen öffnen sollte. Sowohl in Xanten wie in St. Georg sind somit als ursprüngliche Absicht einspringende Türme anzunehmen, und das gleiche haben die Untersuchungen von W. Weyres und W. Bader am Westbau in Neuß ergeben. 6 In allen drei Fällen sind aber die Türme nicht in dieser Form ausgeführt worden. In St. Georg, wie es scheint, überhaupt nicht; in Xanten sind die Türme mit der ä u ß e r e n Mauerschale fluchtend errichtet worden und haben daher das ungewöhnliche Volumen bekommen, das man heute sieht. Der Westbau von Neuß ist gar unter völligem Verzicht auf die innere Chorhalle in voller Breite zu doppelter Höhe emporgeführt und mit e i n e m Mittelturm bekrönt worden. Nur dieser nimmt die Idee des Einspringens wieder auf, indem er über den Bögen eines Innenlaufgangs errichtet ist, der das bis hierhin durchgeführte Mittelschiff des Langhauses abschließt. So wird in allen drei Bauten die ursprüngliche Gesamtidee aufgegeben; der Westbau von St. Georg wird zu einem niedrigen Mauerblock, der von Xanten zur eigentlichen Doppelturmfront und der von Neuß zum hohen Querbau mit e i n e m Mittelturm. Ahnliche Abwandlungen zeigen sich in weiteren rheinischen Westbauten, die bisher nicht in diesem Zusammenhang gesehen wurden. Es sind dies: Merten an

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In beiden Fällen sind zwar die Turmaufbauten im späten 19. Jh. ergänzt worden, doch dürfte damit der ursprüngliche oder doch der geplante Zustand getroffen sein. — Wie auffällig für den Architekturfachmann einspringende Bauteile sind, das hat die erregte Diskussion gezeigt, die 1963 in der Dombaukommission zu Speyer ausbrach, als die Veränderung der Dächer den Wiederaufbau der Giebel des östlichen Querhauses verlangte. Diese Giebel (1689 zerstört) sind durch zuverlässige alte Ansichten und ihren erhaltenen Unterbau gut bezeugt. Sie stehen, wie die Trierer Türme, auf der Rückmauer der Zwerggalerie, doch verlangten die beteiligten Architekten ihren Aufbau in der vermeintlich .normalen' Form, in der Vorderfläche der Querhausfassaden, d. h. über den Säulenarkaden der Galerie. Vgl. H. E. Kubach, Kunstchronik 1963. Bader 1943 (Zs. d. dtschen Vereins f. Kunstwiss. X , 1943, 1 - 1 8 ) .

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Grundrisse der Westchorhallen: Merten/Sieg (Erdgeschoß), St. Andreas/Köln, Andernach, Limburg/ Lahn (Obergeschoß). Kubach/Verbeek, Romanische Baukunst an Rhein und Maas, Bd. 4 (in Vorber.), Zeichnung W. Hafner

der Sieg, die Liebfrauenkirche in Andernach, St. Andreas in Köln und St. Georg in Limburg an der Lahn. Diese vier bedeutenden Kirchenbauten besitzen nämlich Westchorhallen, die nicht auf ebener Erde aufstehen, sondern gewissermaßen als Ganze ins Obergeschoß emporgehoben sind. Sie bilden quergelagerte, dreijochige Westemporen (Abb. 15), sind aber im Unterschied von anderen Westemporen aller Art in Höhe des Mittelschiffs gewölbt und öffnen sich voll zu diesem. Wie die älteren Westchorhallen gleichen sie in der Raumanlage einem Westquerschiff; wie die ersteren sind sie aber als Westchöre anzusprechen. Der von Andernach zeigt nämlich in der Mitte einen nach Osten vorspringenden Erker, der zweifellos wie in ähnlichen Fällen einen Altar trug, wie in Merten (Abb. 16) und Limburg anzunehmen. Für St. Andreas in Köln ist der Altar durch Schriftquellen nachgewiesen. — Im Erdgeschoß haben die vier Westbauten Vorhallen; in Merten und Andernach sind diese einjochig und liegen zwischen den Türmen, in Limburg sind Turmräume und Mittelj och als umwinkelnde Verbindung der Seitenschiffe gestaltet; in St. Andreas liegt hier ein langgestreckter niedriger Bau, der zugleich als Ostflügel des (westlich axial vorgelagerten) Kreuzganges diente. (Durch seine als ,Zackenbögen' ausgebildeten Gurtbögen ist er bekannt.) Die Empore, d. h. die Chorhalle, ist bei diesen vier Bauten von einfacher Mauerstruktur, hat also weder Wandpfeiler noch Laufgänge. Daher sitzen denn auch die Türme auf der vollen Mauerstärke auf und bilden so in Merten und Limburg echte Doppelturmfassaden mit mittlerem Eingang. In Andernach ist der Zusammenhang mit den Querbaublöcken von Lüttich, Maas-

1 0 I . i nI

10m

Merten/Sieg, Westbau, Nord-Süd-Schnitt und Grundriß des Obergeschosses. Landesdenkmalamt Bonn, Aufmaß H. Lob 1958, Kontrolle L. Schaefer, gez. H. Fischer

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St. Andreas/Köln, Westbau, Westseite, Aufriß (Giebel und Dach rekonstruiert). Kunstdenkmäler Köln (Umzeichnung W. Hafner, Saarbrücken, nach Angaben E. Kubach)

tricht, Neuß und Xanten noch deutlich, da die Gliederung der drei Geschosse quer durchläuft und durch ein starkes Hauptgesims von den Turmaufbauten abgesetzt ist. St. Andreas (Abb. 15) zeigt die Chorfunktion des Westbaues gleichsam durch einen ,Mittelrisalit' an, der wie ein flaches Chorjoch wirkt. Dieser Westbau verzichtet ganz auf Türme und läßt allein den quergelagerten Block zur Wirkung kommen. Während die zuletzt genannten Bauten auf die Wandpfeiler und die zweischalige Mauer verzichten, wird gerade diese im ersten Plan von Neuß durch die Zwerggalerie verwirklicht, jedoch nach a u ß e n geöffnet. Ähnlich war es vermutlich in St. Georg vorgesehen. Ein drittes Beispiel für eine Westchorhalle mit Zwerggalerie ist St. Germanus in Tienen. Mit diesem sehr hohen Westbau setzt sich auch im Maasland die Folge der Westchorhallen fort. Nach der gut begründeten Rekonstruk-

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tion von R. M. Lemaire waren ursprünglich %wei über der Zwerggalerie einspringende Türme vorhanden, die im 16. Jh. durch einen Mittelturm ersetzt wurden. Der Innenraum knüpft an die erste, einfachste Lösung von St. Jakob in Lüttich an und verzichtet wie die im Oberschoß gelegenen Chorhallen auf Wandpfeiler und Innenlaufgänge. Auch mit Tienen ist die geschilderte vielfaltige Abwandlung der Westchorhallen nicht beendet: es folgt Roermond an der Maas, wie St. Andreas ganz ohne Türme und mit einem Mittelrisalit im Westen versehen. Dieser große Bau rechtfertigt als letzter dieser Reihe die Bezeichnung Westchor h a l l e , denn hier hat er in der OstWest-Richtung zwei Joche; daher gibt es hier ein Paar freistehender (mächtiger, abgetreppter) Pfeiler. Die zweischalige und zweigeschossig aufgebaute Mauer umläuft mit Innenlaufgang an drei Seiten den ganzen Raum der U-förmigen Empore. So ist hier zugleich eine Synthese der Westchorhallen im Erdgeschoß und derjenigen im Obergeschoß verwirklicht. Nicht weniger als 15 Westbauten, vom 11. Jh. bis zur Mitte des 13., konnten hier als westliche Choranlagen angesprochen werden, die anders als die üblichen Westchöre — mit Apsis oder Chorgeviert — eine vielteilige Raumkomposition zeigen. Mit Ausnahme von St. Georg ist allen gemeinsam der dreijochige Querraum — im Erdgeschoß oder im Emporengeschoß. Wandpfeiler und einspringende Türme, Laufgänge und Zwerggalerien lassen mehrere von ihnen als strukturierte Bauten erscheinen, die sich neben die bekannten Dreikonchenbauten stellen. Vorhalle, Empore, Zweiturmfassade erweisen sich gewissermaßen als austauschbare Bauideen. Die erstaunliche Anlage des Hochgeschoß-Saales über der Westchorhalle von Maastricht verbindet diesen Bau sowohl mit dem spätromanischen Westbau von Nivelles als auch (in einfacherer Form) mit Tienen. Die vielteilige Anlage von Nivelles — von den Westchorhallen durchaus verschieden — läßt an den Westbau von Maria Laach und die Ostanlage des Mainzer Domes zurückdenken7, und diese letztere wiederholt im Außenbau gewisse Züge des anfangs genannten Trierer Westbaues. Westbau, Chorraum, Vorhalle, Empore, Apsis, Turmaufbauten — das alles wird in immer neuen Abwandlungen kombiniert. Wir fassen die architektonische Gestalt, erkennen aber — von der Chorfunktion abgesehen — weder die liturgischen Zwecke, noch etwa lokale Gebräuche, die die Abwandlungen hervorgerufen haben könnten. Gerade diese zeigen aber, wie lebendig die alte Tradition der Westchöre, der Doppelchoranlagen, der verdoppelten Querhäuser in der spätromanischen Baukunst an ,Rhein und Maas' geblieben ist. Darüber hinaus erscheint es überaus bedeutsam, daß mehrere dieser Bauten, vom Ende des 12. Jhs. bis gegen Mitte des 13. Jhs., die durch Muldennischen und Laufgänge ausgehöhlte Mauer ausbilden, die wir als ,raumhaltige Mauer' ansprechen. 7

F. Arens, Die Raumaufteilung des Mainzer Domes und seiner Stiftsgebäude bis zum 13. Jh. In: Festschr. .Willigis und sein Dom', Mainz 1975, 185.

WILHELM

SCHLINK

Groß und Klein, Nah und Fern in der Architektur* Ich möchte zunächst ein Phänomen vorstellen, das in der Bauanalyse zu wenig Beachtung gefunden hat: die mittelalterliche Architektur kennt Pfeilersockel, deren Höhe wir als normal, ja sogar als indifferent auffassen, und andere — ungewöhnlich hohe oder ungewöhnlich niedrige —, die uns spontan auffallen und die unser Verhältnis zum betreffenden Bau in einer besonderen Weise disponieren. Die Sockel der Kathedrale Notre-Dame von Paris haben Normalmaß. Sie sind mit knapp 50 cm annähernd kniehoch. Auch die Kathedrale von Noyon mit ihrem ausgeprägten Stützenwechsel besitzt unter den Dienstbündelpfeilern Sockel, die mit einer Höhe von 65 cm noch indifferent bleiben. Die Sockel der schwächeren Rundpfeiler jedoch sind um einen weiteren Quaderblock aufgestockt; mit 90 cm Höhe reichen sie uns mindestens bis zur Hüfte (Abb. 22). Dies bewirkt eine intensivere Form der Kommensurabilität von menschlicher Figur und Sockel. Der Sockel gewinnt eine Körperpotenz, die über seine normale Funktion als untergordnetes Glied der Stütze hinausweist. Dieser letztbeschriebene Eindruck kehrt — um vieles verstärkt — in der Kathedrale von Reims wieder. Hier reichen uns die mächtigen, dreifach gestuften Sockel mit einer Höhe von über 130 cm bis zur Brust, ja manchem bis zur Schulter empor (Abb. 23). Wir sind diesem Maß mit unserem Körperempfinden in besonders krasser Weise ausgesetzt — weit stärker noch als dem Maß der hohen Rundpfeilersockel in Noyon —, zumal die hohe Sockelung nicht nur an den Freipfeilern auftritt, sondern ausnahmslos alle Teile des Baus unterfangt, so wie wir es sonst allenfalls vom Außensockel eines Bauwerks gewohnt sind. In allen bodennahen Bereichen des Kathedralinnern, d. h. auch unter den Apsisstützen, in den Kapellen, an den Seitenschiffswänden und an den Innenfassaden, ist der hohe Sockel in durchgängig gleichbleibender Höhe angetragen. Tatsächlich ist nur die Gesamthöhe des Sockels an Wand und Freipfeilern gleich, die Stufenfolge jedoch bei Freipfeilersockel und Wandsockel verschieden. Während die Stufenstirnen des Pfeilersockels jeweils um die 40 cm hoch sind, messen sie beim Wandsockel nur um die 30 cm;

* Schon das Thema dieses Beitrags ist im wahrsten Sinne des Wortes Wolfgang Schöne eigen. Seiner Sensibilität entgingen die im Titel genannten Kategorien nie. Die mit Wolfgang Schöne ausgetauschten Beobachtungen auf einen Begriff zu bringen, war verlockend, ist aber voreilig. Beobachtungen zu Bauten aus anderen Epochen, insbesondere zur frühchristlichen Architektur und der des Barock, aber auch Modelle mitbetroffener Disziplinen, allen voran der Wahrnehmungspsychologie, wären zu berücksichtigen, wenn eine .Lehre' des angemessenen Architektursehens entwikkelt werden sollte.

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dafür nimmt der Wandsockel auf weite Strecken eine vierte Stufe hinzu, sodaß zwischen einer locker angeböschten Stufenfolge an der Wand und einer konzentriert gebündelten Sockelfigur unter den Freipfeilern deutlich unterschieden werden kann. Die kunstgeschichtliche Literatur hat trotz tiefgreifender Analysen des Wandaufrisses von Reims die Sockel kaum je ins Kalkül gezogen oder stand ihnen doch zumindest voller Verlegenheit gegenüber. Viollett-le-Duc hatte es sich Mitte des 19. Jhs. leichtgemacht: für ihn als ausgesprochenen Funktionalisten galten die Stufen eines Wandsockels als Sitzgelegenheit.1 Sobald die Kunstgeschichte sich vom ,rationalisme médiéval' Viollet-le-Ducs aber freigemacht hatte und die gotische Baugestalt nach ihren spezifisch-künstlerischen Merkmalen zu charakterisieren suchte, verschwand der Sockel aus ihrem Gesichtskreis. Schon bei Dehio-Bezold um 1900 erscheint der Sockel des gotischen Kirchenbaus — gemeinsam mit Kapitellflora und Schaftringen — nurmehr unter der Kapitelüberschrift ,Ornament'. 2 Hans Sedlmayr schließlich verstand die sichtbare Architektur der Kathedrale als Illusionsarchitektur, „die den Anschein zu erwecken versucht, als stünden die Glieder nicht fest auf der Erde, sondern schwebten über unseren Häuptern". 3 Auch in Hans Jantzens Analyse des gotischen Kirchenraums spielen Sockel keine Rolle — ebensowenig wie die anderen Elemente des Nahbereichs, Paviment und Stufen.4 Jantzens Blick, der aufs optische Erfassen des Raumes und der Raumgrenzen ausgerichtet ist, senkt sich nicht dem Boden zu, sondern hebt sich Triforium und Fenstergaden entgegen; was unterhalb des Augenhorizontes liegt, ist für ihn quantité négligeable. Ähnliches ließe sich übrigens von Beschreibungen gotischer Innenräume durch Lisa Schürenberg, Werner Gross und Hans Reinhardt sagen. Nur für Richard Hamann-McLean (dessen Analysen Reimser Skulpturen von einer fast zu geschärften Einfühlungssensibilität zeugen) sind die Sockel bedeutsam, und zwar nicht nur als Kennzeichen einer bestimmten Architektenindividualität, sondern auch als Merkmal einer spezifisch Reimsischen Bauwirkung. Wenn Haman-McLean sagt, der Wandsockel bereite auf die Nischung der Wand über der Passage Remois vor, so ist dies zwar vage, aber gefühlsmäßig plausibel; wenn er dann freilich fortfahrt, der Sockel bedeute „als sichtbar gemachtes Stufenfundament die formbildende Verwertung eines konstruktiven Elementes im gleichen Sinne wie die für die Hochgotik bezeichnende aesthetisch wirksame Gestaltung des Strebebogensystems"5, dann ist unsere baukünstlerische Assoziationskraft überfordert. 1

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Eugène Viollet-le-Duc, Dictionnaire raisonné de l'architecture française, 10 Bände, Paris 1858—1868, hier: Band 2, S. 99/100 Georg Dehio und Gustav Bezold, Die kirchliche Baukunst des Abendlandes, Bd. II, Stuttgart 1901, S. 159 ff. Hans Sedlmayr, Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950, S. 92. Dort, Seite 83, auch „Ein Beziehen der Kathedrale auf das Maß der menschlichen Gestalt ... widerspricht ihrem Wesen." So schon in dem berühmten Aufsatz „Über den gotischen Kirchenraum" von 1927, in welchem Jantzen seine .Analyse der Raumgrenze' aus „gewissen Faktoren optischer Art" speist; erneut in H. J., Gotik des Abendlandes, Köln 1962, etwa S. 16 Richard Hamann—McLean, Zur Baugeschichte der Kathedrale von Reims, in: Gedenkschrift Ernst Gall, München 1965, S. 197

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Bevor ich in meinen Überlegungen zum Sockel von Reims fortfahre, will ich ein Mißverständnis ausräumen. Man könnte auf den Gedanken kommen, der Sockel wachse notwendigerweise mit der Größe eines Baus oder doch zumindest mit der Stärke und Gesamthöhe der Stütze. Somit sei es selbstverständlich und kaum der näheren Betrachtung wert, daß die in großen Maßen erbaute Kathedrale von Reims schon in den bodennahen Gliedern über Normalmaß hinauswachsen mußte. Dieser Einwand wäre fehl am Platz, denn er setzt etwas voraus, das in der antiken und neuzeitlichen Kunsttheorie als Proportionssystem, als wechselseitiges Verhältnis steigender und fallender Maße aller Bauglieder definiert ist; gerade dies war der mittelalterlichen Architektur aber unbekannt. Ein Beispiel kann für viele genügen: obschon die Kathedrale von Bourges insgesamt nur wenig niedriger ist als die Kathedrale von Reims und im hohen Durchmesser ihrer Rundpfeiler dem der Reimser Pfeiler nahekommt, erreichen ihre Pfeiler- und Vorlagensockel nur gerade ein gutes Drittel der Reimser Sockelhöhe. Dennoch wird niemand die Sockel der Kathedrale von Bourges als besonders niedrig ansehen; vielmehr wirken sie mit ihrem kniehohen Maß einmal mehr indifferent, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sich über ihnen der gedehnte (ca. 16 Meter hohe) Riesenpfeiler des Langhauses oder die gestauchte (nunmehr viereinhalb Meter hohe) Stütze des niedrigen Außenseitenschiffs erhebt. Das bedeutet nun freilich nicht, daß der Sockel vom Mittelalter willkürlich oder gar nachlässig behandelt worden wäre, so als zähle er im baukünstlerischen Gefüge eines Kathedralbaus und seines Wandgefüges nicht voll. Ein Blick in Villard-de-Honnecourts Skizzenbuch zeigt, daß diesen aufmerksamen Zeichner in Reims nichts so sehr fasziniert hat wie Maßwerkformen und Sockelbildungen. 6 Von ungewöhnlich zeichnerischer Präzision und starker Anschauungsvermittlung sind seine Bilder vom dreifachen Blendsockel am Fuß der Blendarkade der Radialkapelle und von den hohen Sockeln der Freipfeiler (deren Einzelbildung der Reimser Realität freilich ebensowenig entspricht wie die hohe Blendarkatur der Seitenschiffe), vor allem aber seine Schnitte des Reimser Vierungspfeilers, eines Langhauspfeilers und einer Wandvorlage im Bereich des Querhauses, jeweils mit überaus genau vermerkten Sockelstufungen (Abb. 20/21). Worin liegt nun die baukünstlerische Bedeutung des Reimser Sockels? Ein Diktum Albertis über das Menschenmaß der Säule abwandelnd könnte man sagen: „vermöge des uns angeborenen natürlichen Gefühls merken wir das Maß". 7 Wie alle Körperformen der näheren Umgebung ist der Sockel dem permanenten Wunsch des Menschen nach raum-körperlicher Orientierung, dem Verlangen nach Kommen-

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vgl. Hans R. Hahnloser, Villard de Honnecourt, kritische Ausgabe des Bauhüttenbuches ms. fr. 19093 der Pariser Nationalbibliothek, 2. Aufl., Graz 1972, Tf. 60/62/63 Leon Battista Alberti, De re aedificatoria, Liber IX, 7. Nach der deutschen Übersetzung von Max Theuer, Wien und Leipzig 1912, S. 504

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surabilität in besonderer Weise zugänglich. Dies im Unterschied zur glatten Wand, die einer solchen Beziehung ganz unfähig ist. In der Regel ist der Sockel das einzige reicher gestaltete Architekturelement des Innenraums, das auf demselben Boden steht wie der Betrachter selbst; schon von daher fordert er zur Herstellung einer kommensurablen Beziehung auf. In Reims ist die physische, körperliche Wirkung des Sockelelementes im Nahbereich eine enorme; sofern man sich nicht aufs optische Erleben des Raumes und seiner Raumgrenzen allein versteift hat, ist die physische Wirkung der nahen, hohen Sockel sogar dominierend. Gerade in Reims bleiben diese im Nahbereich des Menschen durchgängig präsent, da kein Abschnitt des aufgehenden Mauerwerks ohne sie gestaltet ist. Wahrscheinlich bildet sich zwischen dem Menschen und den Sockelstufen — vor allem im Seitenschiff — zwangsläufig doch so etwas wie eine metrische Skala: die Stufen fordern zum präziseren Maßnehmen heraus, gerade weil sie als begehbare Stufen unverkennbar zu hoch sind. Warum wurde dieser offen zutageliegende Sachverhalt in der Kunstgeschichte nicht so vermerkt, wie ich ihn beschrieben habe? Wie konnte sich ein Sehen mittelalterlicher Innenräume ausbilden, das — im Falle der Kathedrale von Reims — die ersten 130 cm des Aufrisses einfach ignorierte? In einem Fragment aus dem Nachlaß Goethes vom Jahre 1795 heißt es ganz allgemein über die Aufgabe der Baukunst: „Man sollte denken, die Baukunst als schöne Kunst arbeite allein fürs Auge; allein sie soll vorzüglich, und worauf man am wenigsten acht hat, für den Sinn des menschlichen Körpers arbeiten." 8 Bei Hans Rose, dem Schüler Heinrich Wölfflins, heißt es knapp 150 Jahre später detaillierter, emphatischer, in der Tendenz aber ähnlich: „Was den Einklang von Mensch und Bau angeht, so wäre es richtiger, die Frage nicht nach Menschenähnlichkeit, sondern nach Menschenangemessenheit zu stellen; ob der Bau auf den Menschen und sein aufnehmendes Organ, auf das Auge Rücksicht zu nehmen bereit war, und zwar auf alle Funktionen, die das Auge in sich vereinigt: auf das Tastorgan, auf das Gewichtsgefühl, auf das Augenmaß, auf die natürliche Reichweite des Blicks und erst in letzter Linie auf das bildmäßige Sehen. Menschenangemessen ist zunächst die Art, wie der Bau sich verhält zu dem Felsgrund, auf dem er steht. Vom natürlichen Gestein zum Sockel und von diesem zum Säulenbau spielt sich ein ähnlicher Vorgang ab ... wie er seinerseits auch in das Menschenbild weitergedacht werden kann". 9 Das schiene Wasser auf meine Mühlen, wenn es nicht ausdrücklich über griechische Tempel und gerade nicht über das Innere einer gotischen Kathedrale gesagt worden wäre. Die Vorstellung, der Innenraum der Gotik sei ein aetherisch-schwereloses, schwebendes, allenfalls von vertikalen Linien markiertes Formgebilde und damit der äußerste Gegensatz zur Rundheit und körperlichen Fülle der antiken Architektur, — diese Vorstellung blieb als Erbe der Romantik über Franz Kugler, Heinrich Wölfflin und Hans

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Johann Wolfgang Goethe, ,Baukunst' (1795), Handschrift aus dem Nachlaß, in: Schriften zur Kunst (der Artemis-Gedenkausgabe), Zürich und Stuttgart 1965 (2. Aufl.), S. 109 Hans Rose, Klassik als künstlerische Denkform des Abendlandes, München 1937, S. 79 f.

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Jantzen hinaus stets so bestimmend, daß man für eine Baukunst dieser Art von vornherein nur im Sinnmedium des Optischen die angemessene Erfahrungsweise glaubte bereitgestellt zu finden. Tatsächlich haben sich bildgemäße Sehweisen der Gotik mit besonderer Einseitigkeit angenommen, selbst dort, wo der einfühlungspsychologische Ansatz mehr zu versprechen schien. Ich erinnere an die Interpretationen des gotischen Innenraums durch August Schmarsow und Dagobert Frey oder an den Versuch des Phänomenologen Hermann Schmitz, der den eigenleiblichen Erfahrungen vor Kunstwerken auf die Spur kommen wollte und letztlich doch — nach Art der Gestaltpsychologie — nur vage Korrespondenzen von Bewegungssuggestionen und -anmutungen zwischen Kunstwerk und Betrachter herstellen konnte. 10 Was die gotische Kathedrale nicht nur dem Auge an Raumbildern, sondern dem Maßstabssinn an Körpern anbietet, muß also überhaupt erst wiederentdeckt werden. Das ist nicht einfach: da wäre in der Vorstellung erst einmal das Kirchengestühl wegzuräumen, das auf allen photographischen Aufnahmen und leider auch in Wirklichkeit die überaus wichtige Schamierstelle zwischen Boden und Sockel verschleiert und damit die Vorstellung von der ,schwebenden Kathedrale' ungemein fördern mußte. Zum zweiten aber müssen unsere orthogonalen Dehio-Bezold-Eindrücke, typische ,déformation professionelle', aufgrund der Erfahrungen vor Ort revidiert werden. Zwar meinte Erich Hubala jüngst, die besondere Illustrationsform im Dehio-Bezold nötige „zur aktiven Vorstellung von der körperlichen und der räumlichen Organisation des gemeinten Kirchenbaus" und sie gebe uns eine unmittelbare Auffassung von den „relativen Größenverhältnissen aller Formen zueinander und zum Ganzen, die sich auch in der gesetzmäßigen Verkleinerung ohne weiteres unserem Sehen darbieten." 11 Ich kann dies positive Urteil, das Dehios Orthogonalprojektion auf die Ebene eines cinquecentesken Fassadenrisses hebt, nicht teilen. Denn wozu Dehio-Bezolds Vorstellungshilfen uns schwerlich in die Lage versetzen, ist eine Differenzierung nach Nah- und Fernformen. Es ist dem Reimser Kathedralaufriß Dehio-Bezolds schlechterdings nicht anzusehen, wo die entscheidenden Qualitätsunterschiede zwischen Groß und Klein, Nah und Fern liegen (Abb. 18). Die hohen Reimser Pfeilersockel, in Wirklichkeit die bestimmende und bestimmteste dem menschlichen Gefühl für Kommensurabilität zugängliche Gestalt des Nahbereichs, sind bei Dehio-Bezold eine bloße Bodenleiste; wohingegen das bei DehioBezold als respektables Aufrißelement wiedergegebene Triforium in Wirklichkeit einzig dem Blick zugängliche Fernform ist. Gewiß sehen wir in Wirklichkeit keine stürzenden Linien, und doch gibt uns die zu Unrecht als gewaltsam verpönte Aufnahme der Reimser Mittelschiffhochwand im 10

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Hermann Schmitz, System der Philosophie, 2. Band, Teil II: Der Leib im Spiegel der Kunst, Bonn 1966 Erich Hubala, Georg Dehio 1850—1932, seine Kunstgeschichte der Architektur, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 46, 1983, S. 7

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Bildarchiv Foto Marburg (Abb. 17) den von Nah zu Fern vermittelten Eindruck richtiger wieder als jedes .entzerrte' orthogonale Bild: Unten der große Sockel, groß im Vergleich zum Menschen, aber immer noch eher klein im Vergleich mit dem auf ihm stehenden kantonnierten Pfeiler. Auch dieser ist der Maßstäblichkeit des Betrachternahbereichs noch nicht ganz entwachsen. Nur sein Kern ist uns Goliath, — den Trabanten hält Menschenmaß stand. Wir nehmen als bedeutsam wahr, daß die Körperformen des unmittelbaren Nahbereichs ausschließlich mit Kanten und Ecken arbeiten, die des Fernbereichs — unter Einschluß des kantonnierten Pfeilers — hingegen ausschließlich mit Rundformen. Für den weiteren Zusammenhang des Aufgehenden ist es wichtig, daß das abnehmende Maß vom Gurtdienst zum Triforiensäulchen und von diesem zum Rippendienst im Sinne einer relativen Deutlichkeit voll erkannt wird. Das heißt nun freilich nicht, daß wir den Dienst unmittelbar unter dem Gurtbogenansatz des Mittelschiffs noch in seiner effektiven metrischen Stärke wahrnehmen könnten, bedeutet aber doch, daß wir ihn auch nicht für so klein halten, wie er der perspektivischen Verkürzung entsprechend als Fernform erscheinen müßte. Es gibt hierauf eine einfache Probe: wir empfinden die Schlußsteine der Kathedrale von Reims als ungewöhnlich groß und voluminös und sind doch erschrocken und in unserem Maßstabssinn verletzt, wenn wir im Palais-de-Tau, dem Skulpturenmuseum der Kathedrale, unvermittelt einem Schlußsteinelement mit seinem Kyklopenmaß gegenüberstehen. Diese zunächst nur an der Kathedrale von Reims vorgenommene und etwas pauschal anmutende Differenzierung von Nah und Fern, Groß und Klein sollte verfeinert werden. Da wäre zuerst zu fragen: wo liegt die Grenze zwischen Nah und Fern? Gibt es dafür eine feste Marke, etwa das Gesims zwischen Arkade und Triforium oder die Deckplatte des kantonnierten Pfeilers? Oder ist nur das, was gemeinsam mit dem Menschen auf dem Boden aufsteht, wirkliche Nahform und schon das nächste Glied darüber — etwa der kantonnierte Pfeiler — allenfalls Nahform in eingeschränktem Sinne? Ich denke, die Dinge liegen selten so günstig wie in der Mensa von Saarbrücken, wo Architekt Walter Schrempf und Bildhauer Otto Herbert Hajek 1970 einen Nahbereich, der Le Corbusiers Modulor No. 2 entsprechen könnte, von einem darüberschwebenden, vorzüglich gestalteten Fernbereich resolut getrennt haben. 12 In der Gotik jedoch liegen die Dinge von Bau zu Bau so verschieden, daß es unmöglich ist, unsere Beobachtungen auf einen Nenner zu bringen. Ein paar Beispiele müssen genügen. Die Kathedrale von Laon strukturiert den Wandaufriß dergestalt, daß uns eine Grenze zwischen Nah und Fern deutlich vorgegeben scheint, nämlich an der Deckplatte der säulenähnlichen Rundstützen, über welcher das nurmehr optisch zugängliche Dienst-Säulchensystem der Hochwand beginnt. Für Chartres mag dasselbe gelten, obschon dort die kantonnierten

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vgl. Deutsche Bauzeitung, Heft 3/1968

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Pfeiler mit fast 10 m eine Höhe erreichen, die unsere Nahbereichsempfindung stark anspannt. Anders jedoch in der Kathedrale von Amiens, wo die Unauffalligkeit der Sockel, die gedehnte Spannkraft der Pfeiler und die vermittelnde Gestaltung der Kämpferzone dafür sorgen, daß die spezifische Erfahrung eines Geltungsbereichs der Nahformen hier nicht gemacht werden kann; ebensowenig übrigens wie in Cluny III, sofern wir uns in die zeichnerische Wiedergabe des Baus im 18. Jahrhundert versetzen. 13 Nicht, daß es in Amiens und Cluny keine Nahformen gäbe; doch ist ihr Geltungsbereich der Höhe nach nicht eigens definiert; er ist unscharf, nach oben offen und allein dadurch weniger spürbar als in Chartres oder Laon. Die Verkümmerung des Nahbereichs kann in der Spätgotik sogar soweit führen, daß die Nahform, die uns vom Körpervolumen her als groß erscheinen müßte, zur kleinen Form degeneriert; wenn sie nämlich (etwa in St. Maclou in Rouen) überwiegend von der kleinen Textur des Fernbereichs geprägt ist und damit als letzter Ausläufer des Fernbereichs in unserem nicht näher definierten Nahbereich erscheint. Bisher ging ich davon aus, als seien im gotischen Innenraum Nah und Fern einigermaßen genau definiert: nah das Niveau der Zugänglichkeit und der körperlichen Kommensurabilität, fern der darüber aufsteigende, optisch vermittelte Bau. Nun gibt eine Kathedrale mit über 100 m Länge aber nicht nur dem Blick nach oben, sondern auch dem Blick über die Längsachse Fernbilder, etwa den Blick auf die Apsis (wobei ich für diesmal von ehemaligen Lettnern absehe, weil es mir ums Phänomen und nicht um Rekonstruktion geht). Wie schätzt der Betrachter dieses Fernbild ein? Werden die potentiell kommensurablen Pfeiler des Chores trotz der in absoluten Maßen ausdrückbaren Ferne als potentielle Nahformen aufgefaßt? Bleibt die an einer Stelle des Baus — in diesem Fall also die in der unmittelbaren Nachbarschaft der Westfassade — gemachte Erfahrung der Nahbereichsformen auch für die in Fernsicht wahrgenommenen Apsisstützen bestimmend? Oder sticht das optisch zugängliche tableau der fernen, vom Tiefenzug der Langhauswände gerahmten Apsisrundung jede körperkommensurable Empfindung aus? Ich glaube, daß die einmal im Bau — an welcher Stelle auch immer — gemachte Erfahrung von Nah und Fern auch für die Fernsicht auf der Achse des Baus bestimmend bleibt. Denn gerade dem kommt die Gotik durch ihre in allen Teilen des Baus gleichbleibende Aufrißstruktur so deutlich entgegen. Der Reimser Apsispfeiler ist eben nicht im Gegensatz zu den kantonnierten Pfeilern der geraden Joche ein reiner Rundpfeiler (wie so oft gesagt wird), sondern ein um drei Trabanten erleichterter kantonnierter Pfeiler, der in der Grundform augenfällig Ähnlichkeit

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vgl. die Innenansicht des 18. Jhdts. in der Collection J. Vanuxem, abgeb. bei Francis Salet, Cluny III, in: Bulletin Monumental, 1968, S. 292

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mit den Freistützen des Langhauses wahrt und sich damit auch einer fernsichtigen Kommensurabilität stellt. Auf der anderen Seite wäre es aber ganz unsinnig zu verschweigen, daß die Zusammenschau von Stützen und aufgehender Wand im Fernbild den Fernformen von Triforium, Fenstergaden und Wölbung eine Größe verleiht, die wir auf anderem Wege nicht kennenlernen können. Wir stoßen hier auf das Phänomen, daß die Gotik — und ihr vergleichbar nur wenige Bauten der Renaissance und des Barock — die sukzessive Entwicklung des Aufgehenden von Nah zu Fern auch als simultanes Bild in Gestalt der fernsichtigen Apsisfassade wiedergeben kann. Beide Sichtweisen, die vertikal sukzessive wie die horizontal simultane, ergänzen und intensivieren einander; der nah erlebte Nahbereich gibt dem Bild des Fernbereichs seinen Maßstab, und umgekehrt gibt uns das Fernbild die notwendige Vorstellung vom engen Zusammenhang der Nahformen und Fernformen. Wenn man von St. Martin in Chablis (Abb. 19) nur eine photographische Aufnahme über die Achse des Baus hinweg vor Augen hat, könnte man im ersten Moment an einen ausgewachsenen Kathedralbau nach Art der Kathedrale von Sens oder der Ste. Madeleine von Vezelay glauben. Steht man aber im Bau selbst an entsprechender Stelle im Nahbereich der Langhausstützen, dann kann die Vorstellung einer großen Architektur auch im Fernbild gar nicht erst aufkommen, da sich das Maß der Säulen, die eine Höhe von nur wenig mehr als drei Metern erreichen, dem Betrachter längst mitgeteilt hat. Ein wichtiger Punkt in der Beurteilung von Groß und Klein bei Fernformen ist die Frage nach den Formzusammenhängen. Das einzelne Rippenprofil, der auf der Folie der Gewölbekappen gesehene Rippenbogen oder das Kapitell unter dem Wölbungsansatz sind für sich allein zweifellos kleine Formen; Sedlmayrs GewölbeBaldachin jedoch ist ein großfiguriger und auch in der Ferne großer Formzusammenhang. Dieselbe Frage muß an die Fensterformen gestellt werden. Aus der Feingliedrigkeit und Kleinteiligkeit des Maßwerks darf man nicht ohne weiteres auf Kleinheit der Fenster als Fernform schließen. Villard-de-Honnecourt verstand das hochgotische Maßwerkfenster in Art von Reims als zusammenhängende Grundform, die nicht etwa aus Addition kleinerer Teile gewonnen sei; bauanalytisch läßt sich dies nachvollziehen, und doch muß man sich fragen, ob die Reimser Fenster auch in den Glasmalereien groß gestaltet sind. Beginnt mit den doppelgeschossig besetzten Kathedralenbilderfenstern des Reimser Hochchores nicht eine Entwicklung, die mehr und mehr auf eine kleine Gestaltungsform der Fernform ,Fenster' hinzielt (Hochchor der Kathedrale von Tours, ca. 1250 — 70)? Wir brauchen nur Bourges dagegenzustellen, wo das ferne und eher kleine Fenster des Hochgadens durch die Glasmaler groß, ja geradezu monumental gestaltet wurde, das große Fenster des Nahbereichs in der kleinfigürlichen Medaillenfolge jedoch klein. Ich will dies nicht weiter vertiefen, — nur festhalten, daß in Fragen der maßstäblichen Abstimmung von Architektur und Glasmalerei noch vieles zu klären ist.

Groß und Klein, Nah und Fem in der Architektur

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Meine Bemerkungen zu ,Groß und Klein, Nah und Fern' seien mit einem Beispiel abgeschlossen, das aus den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts stammt: es sind die Ostteile von Santa Maria delle Grazie in Mailand, die wahrscheinlich unter Bramante erbaut wurden und nach entstellenden Eingriffen des 17. Jahrhunderts heute weitgehend in den alten Zustand zurückversetzt worden sind. 14 Wer mit normativen Vorstellungen von Renaissancearchitektur an den Bau heranging, wurde von ihm enttäuscht; wie viele andere zuvor hat Otto H. Förster den Bau mit Vorwürfen nur so überschüttet: „große, leblose Flächen in Apsis und Seitenteilen, deren Stützensystem und zierliche Umrandung und Gesimse schwächlich wirken unter dem ungeheuerlichen Halbrund des Schildbogens, der sie zu zerknicken droht und dessen Widrigkeit durch die riesigen Runde ins Unerträgliche gesteigert wird. Die obere Partie ist so lastend schwer, daß auch das weite, schwebende Rund der Kuppel darüber den Raum nicht hinaufzureißen vermag" u. s. f. 15 Was Förster hier als eine Frage der Qualität und der nicht befolgten Norm ausgibt, ist in Wahrheit eine Frage des Verhältnisses von Groß und Klein, — eine Frage, die in Santa Maria delle Grazie freilich auf ganz ungewöhnliche Art und Weise beantwortet worden ist. Der Nahbereich ist zurückhaltend, kahl und flächig, durch schmächtige Gesimse und dünne Stäbe nur gerade wie mit einer zeichnerischen Andeutung von Feldern und Pilasterspiegeln versehen. Der Fernbereich der Kuppel (Abb. 24) voller kleinteiliger, ferner Figurationen: teils aufgemalte, teils aufgeblendete, dichtgedrängte Scheinfenster am Kuppelfuß und ornamentierte Radialbänder, die bald enden und die Kalotte mit dem Opaion leer lassen. Zwischen der Wandzone unten, die sich einer Kommensurabilität zum Betrachter weitgehend verweigert, und den Fernformen der Kuppel oben steht schließlich die alle gewohnten Maßstäbe sprengende Wechselzone: sie spricht mit dem in den Halbrundbögen, den Speichenrädern und den Zwickeltondi angeschlagenen Riesenmaßstab so stark, daß sie endlich, über alle Entfernung hinweg, mit dem Betrachter ein quasikommensurables Verhältnis aufnimmt. Aber es ist eben nur ein quasikommensurables Verhältnis: denn es ist primär ein optisches und schafft als solches dem körperlichen Maßstabssinn eine gewisse Befriedigung nur aus dem Grunde, weil dieser Maßstabssinn in der ihm eigentlich zugedachten Nahbereichszone keinen entsprechenden Widerpart gefunden hatte. Vieles noch ließe sich an diesem Bau hervorheben, — etwa die Rolle der lichtspendenden Bullaugen und ihrer unterschiedlichen Durchmesser. Auch müßte man sich überlegen, ob eine Freskierung von Wand und Kuppelkalotte den beschriebenen Eindruck wesentlich hätte verändern sollen. Soviel dürfte deutlich geworden

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Agnoldomenico Pica, Piero Portaluppi, Le grazie, Roma 1938. Arnaldo Bruschi, Bramante architetto, Bari 1969, S. 194 ff. und 784 ff. Otto H. Förster, Bramantes Pläne für den Dom zu Pavia und S. Maria delle Grazie, in: Festschrift Heinrich Wölfflin zum 70. Geburtstage, Dresden 1935, S. 1 - 2 9 , insbes. S. 19 ff.

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sein, daß hier durch die krasse Veränderung des zonenspezifischen Maßstabs ,Nah und Fern' auf den Kopf gestellt worden sind; schließlich dürfte aber auch klar geworden sein, daß nichts weniger als Nah und Fern, Groß und Klein die Kategorien sind, mit denen dieser Bau analysiert werden muß.

TILMANN BUDDENSIEG

Donatellos Knabe mit den Schlangen Vom Schmetterlingsfänger, Bogenschützen und Würfelspieler zu einem „kleinen Gernegroß, der zu fliegen hofft" 1 , reichen die Versuche, die Gestik des Bronzeknaben im Bargello (Abb. 25) als handelnd und tätig, als gezielt und gerichtet zu verstehen2. So unbefriedigend diese Versuche sein mögen — sie sollen im Folgenden durch einen weiteren fortgesetzt werden —, ihnen liegt, wie ich meine, die richtige Beobachtung zugrunde, der Knabe habe ursprünglich irgendetwas in den Händen getragen. Die Bewegung der Arme, die Gestik der Hände und Finger, die Körperhaltung, die Stellung der Füße sprechen gegen die Auffassung, das Werk Donatellos sei vollständig erhalten, es fehle nur die Basis — und vielleicht ein Brunnen. Diese Meinung zwänge zum Einverständnis mit den Autoren, die den Ausdruck des Knaben mit einer tänzerischen Joie de vivre, als Sorglosigkeit der Liebe, als Weinseligkeit, als „Freude am eigenen Leib" 3 oder als Seelenregung zu erfassen suchen. Diese Vielfalt der Deutungen führt zu dem ungewollten und bei Donatello besonders unerträglichen Resultat, die widersprüchliche „Lektüre" des Bewegungsaufbaus und der Attribute könnte ihren Ursprung in Unklarheiten oder „Mißverständnissen" des Werkes selbst haben. Der fanciullo wäre so grundsätzlich von der außerordentlichen Zahl der tanzenden, singenden, spielenden, tätigen Kinder im Werk Donatellos unterschieden, die uns nie über die genaue Bestimmbarkeit ihres Daseins im Zweifel lassen. So haben wir es auch bei der Bargello-Bronze, wie ich meine, nicht mit einer vollständig erhaltenen gestischen Analogie zu einer heiteren Seelenverfassung zu tun, mit einer „offen herausbrechenden Fröhlichkeit ... [die] nur seine eigene Lebendigkeit zur Entfaltung" bringe4. Der Knabe muß irgendetwas vorsichtig und ohne Anstrengung in seinen Händen gehalten und gezeigt haben, das sein unbändiges Lachen entfachte, „an object that must have been a source of pleasure to him, judging from his radiant smile and admiring gaze" 5 . Dieses Lachen kann mit einem Ährenbündel, einer Weintraube oder einem goldenen Apfel nicht ausreichend 1

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E. Simon, Der sogenannte Attys-Amorino des Donatello, in: Donatello e il suo tempo, Atti del V i l i Convegno internazionale di Studi sul Rinascimento, Firenze 1966, Florenz 1968, S. 350. Vollständig zusammengestellt bei: H. W. Janson, The Sculpture of Donatello, Princeton 1959, I. S. 143 ff. Hier die gesamte ältere Literatur. J. Poeschke, Donatello, Figur und Quadro, München 1980, S. 83. H. Kauffmann, Donatello, Berlin 1935, S. 53. Janson, op. cit.

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erklärt werden. Ein musizierender Knabe ist ebenso auszuschließen, weil der Körper nicht in einer durchgehenden tänzerischen Bewegung ergriffen ist und die im festen Stehen erlebte Freude ebensowenig eine Begründung fände, wie durch die Annahme, er habe ein Gefäß auf dem Kopfe balanciert 6 . Erika Simon hat von der „Antinomie zwischen den beiden Teilen des Körpers" gesprochen 7 . Ich kann aber ihrer Deutung der Schlange zu Füßen des Knaben als Begründung für diesen Aufbau der Figur nicht zustimmen. Donatello hat seine ganze Sorgfalt darauf verwandt, sie als „friendly snake" 8 erscheinen zu lassen. Darin sind sich die meisten Autoren einig und das bestätigt der Augenschein: der Schlangenschwanz liegt auf einem Rest der Bodenplatte in der Mitte zwischen den Füßen, ihr Körper schiebt sich unter den großen Zeh in die Sohle der Sandale, erreicht das Freie unter dem angehobenen kleinen Zeh, kehrt in einer engen Kurve um und dringt wieder durch die Sohle unter zwei Zehen hervor, ringelt sich an und über den linken Fuß und schmiegt sich schließlich am Bein des Knaben, wie zu dessen Schutz, empor. Es braucht hier nur wiederholt zu werden, was die Mehrzahl der Autoren schon hervorgehoben hat: der Knabe tritt nicht auf die Schlange, die Schlange bedroht ihn nicht: seine Zehen geben ohne Druck ihren Bewegungen nach. Der Knabe läßt die Schlange gewähren. Das ist keine Luzifer-Schlange, die den „Priapus superbus" am Fliegen hindert, am Boden festhielte 9 . Hier verformt die Ikonographie den Augenschein. Was war, endlich, unter dem linken, ganz gewiß nicht verbogenen Fuß? Diese unausweichliche Frage ist, soweit ich sehe, noch gar nicht gestellt worden. Der Fuß ist nur mit der Ferse aufgestützt und gibt mit dem angehobenen vorderen Teil etwas frei, das verloren ist. Die Zehen reagieren ähnlich vorsichtig auf diesen Gegenstand, wie die des rechten Fußes. Die Ponderation des Unterkörpers scheint mir geradezu bestimmt von dem Umstand, daß der rechte Fuß fest auf dem Boden steht, die Schlange sich unbedroht ihren Raum zwischen Sandale und Zehen sucht, während der linke Fuß vom Körpergewicht weitgehend entlastet ist, um nur äußerst vorsichtig mit seiner vorderen Hälfte auf einem Gegenstand zu ruhen — sicher kein Stein, sondern, neben der Schlange, vermutlich ein weiteres Lebewesen. Soweit reichen Schlußfolgerungen, die sich nur auf eine genaue Beschreibung des Werkes selbst stützen können. Deutungsversuche der widersprüchlichen Attribute des Knaben, die Flügel auf den Schultern und an den Fußgelenken, der Faunsschwanz, die Mohnkapseln auf dem Gürtel, die Hosenbeine, der Blütenkranz im Haar, sie haben noch zu keiner schlüssigen Lösung geführt. Ein bisher nicht beachtetes Werk der Donatello-Schule mag wenigstens einen Schritt weiterführen. Wilhelm von Bode hatte in der Einleitung seiner italienischen

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Neuerdings noch Poeschke, op. cit. Simon, loc. cit., S. 345. E. Panofsky, Renaissance and Renaissances, Stockholm 1960, S. 169, Anm. 1. Simon, loc. cit., S. 345 f., 350.

Donatellos Knabe mit den Schlangen

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Bronzestatuetten der Renaissance die Statuette eines nackten Knaben aus der Sammlung Hazeltine in London (Abb. 27) veröffentlicht 10 , die vorher schon auf der Royal Academy Ausstellung von 1912 (Abb. 26) zu sehen war 11 . Die nur 14 cm große Statuette stellt einen nackten Knaben dar, mit Flügeln am Rücken und an den Fußgelenken, mit zwei kleinen Schlangen, die sich um seine Hände ringeln. Das Reptil in der erhobenen linken Hand nähert sich dem erregten Gesicht des Knaben, der mit den Schlangen zu spielen scheint, sie als freundliche Trophäe präsentiert. Der kräftige Putto steht auf dem rechten Bein, das linke ist entlastet, der Fuß ruht vorsichtig auf einer Schildkröte, die trotzdem ihren Kopf nicht zurückzieht. Die Basis, ein Werk von Caradosso 12 , gehört sicher nicht zu dem ursprünglichen Entwurf. Die Statuette wurde 1922 aus der Sammlung Hazeltine von Charles A. Baldwin in Broadmoor, Colorado Springs, für seine nicht unbedeutende kleine Sammlung italienischer Kunst erworben und 1937 in der Albright-Knox Gallery in Buffalo als „Hermes, School of Donatello", ausgestellt 13 . Heute wird man das Werk, dessen Verbleib nicht aufzuklären war, nicht vor den Anfang des 16. Jahrhunderts datieren. Ehe wir einige Schlußfolgerungen aus dem Vergleich der beiden geflügelten Schlangenfreunde ziehen, gilt es noch auf einen merkwürdigen Umstand hinzuweisen. Die „Hermes"-Statuette ist in zwei norditalienischen Zeichnungen der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in London und Paris überliefert. Soweit mir bekannt, sind zeitgenössische Nachzeichnungen nach Bildwerken des 15. Jahrhunderts äußerst selten. Während sich in den Skizzenbüchern nach antiker Architektur gelegentlich auch exempla zeitgenössischer Bauwerke von Brunelleschi, Alberti und Bramante finden, fehlt es an einem solchen Paragone der Plastik des 15. Jahrhunderts in den vielen Skizzenbüchern der Renaissance nach antiker Skulptur. Ist die HazeltineBaldwin-Statuette die gute Replik einer Schöpfung Donatellos? Galt sie, wie lange Zeit der Knabe Donatellos, als Antike und wurde sie deshalb gezeichnet? Man zögert, den Ausnahmefall zweier unabhängiger Zeichnungen nach derselben Renaissance-Bronze dem Zufall der Erhaltung oder dem Zufall der Wirkung eines reizvollen, aber doch beiläufigen Werkes im Umkreis Donatellos zuzuschreiben. Ferner sind die beiden Zeichnungen, jedenfalls die Londoner, vor dem Baldwin-

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W. v. Bode, Die italienischen Bronzestatuetten der Renaissance, Bd. 2, Berlin 1907, S. 21, Abb. 26; Ders., The Italian Bronze Statuettes of the Renaissance, New Edition edited and revised by J. D. Draper, New York 1980, Abb. 63, S. 55, 87. Burlington Fine Arts Club, London 1912, Catalogue of a Collection of Italian Sculpture and other Plastic Art of the Renaissance, by E. R. D. Maclagan, G. F. Hill and C. F. Bell, London 1913, S. 60, Nr. 15. Zur Basis siehe J. Pope-Hennessy, Renaissance Bronzes from the Samuel H. Kress Collection, London 1965, Nr. 49, S. 18, fig. 78. Master Bronzes selected from Museums and Collections in America, February 1937, The Buffalo Fine Arts Academy, Albright Art Gallery, Buffalo, New York, Nr. 129 (Abb.). Nach freundlicher Auskunft der Museen in Buffalo und Colorado Springs ist das Schicksal der Sammlung Baldwin unbekannt, die Familie Baldwin aus Colorado Springs unbekannt verzogen.

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Hermes zu datieren, sie muß also eine ältere, identische Fassung wiedergeben. Die Zeichnung im Kodex des Soane-Museums 14 trägt deutlich Florentiner Züge, man möchte an den Stil Filippo Lippis denken (Abb. 28); die „Ferraresischen" Architekturzeichnungen dagegen lassen sich in manchen Motiven mit Filarete und Alberti verbinden. Somit kommt man in örtliche und zeitliche Nähe zu Donatello. Die Pariser Zeichnung 15 gibt um 1520 vermutlich die gleiche Bronze wieder (Abb. 30). Der Zusammenhang zwischen beiden Bronzen und den Zeichnungen ist so eng, daß sich die eingangs entwickelten Fragen nach dem ursprünglichen und vollständigen Zustand des fanciullo im Bargello beantworten lassen: Er hielt zwei weitere Schlangen in seinen beiden Händen und stützte seinen linken Fuß auf eine Schildkröte. Oswald Sirén hatte schon 1914 und 1920 in der Bargello-Bronze den zwei Schlangen würgenden Herkulesknaben sehen wollen. 16 Alter und Physis beider Knaben entsprechen sich. Die Attribute der zwei Flügelpaare sind die gleichen, Standmotiv, Armhaltung und Gesichtsausdruck haben den Verwandtschaftsgrad einer Variante. Die Schildkröte vermag vollkommen die Fußstellung des Bargelloknaben zu erklären; Armhaltung, Handbewegung, der vorsichtige Zugriff der Finger hätte die Schlangen freier gewähren lassen als die Statuette. Ich glaube nicht, daß das Fehlen jeglicher technischer Anhaltspunkte in den Händen der Donatello-Bronze zwei vermutlich mehrfach um die Finger gewundene Schlangen ausschließt. Es sei schließlich auf ein von Volker Herzner veröffentlichtes Terracottarelief in Lyon von Bellano 17 hingewiesen (Abb. 29), wo ein nur bis zur Hüfte bekleideter Knabe durch die Hände zwei Schlangen gleiten läßt, die René Jullian 18 allen Ernstes für die Bänder zweier verlorener Castagnetten halten konnte. Unlängst ist schließlich ein weiteres Werk bekannt geworden, das in die Nachfolge des fanciullo im Bargello gehört: Das Metropolitan Museum in New York 19 erwarb die vergoldete, 61 cm hohe Bronzestatuette eines nackten Knaben mit doppeltem Flügelpaar und Bocksschwanz (Abb. 31). Auch hier ist die Benennung als „Merkur" keine Lösung eines weiteren Rätsels und die Erschließung des Windrades in seiner rechten Hand, das ein Wasserstrahl aus den vollen Backen des Knaben zum Drehen brachte, hilft auch hier nicht weiter.

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London, Sir John Soane's Museum, North Italian Sketchbook, fol. 56. Siehe M. Roethlisberger, Un Libro inedito del Rinascimento Lombardo, in: Palladio 1957, S. 95 ff. A. Blum, Les Nielles du Quattrocento, Musée du Louvre, Cabinet d'Estampes Edmond de Rothschild, Paris 1950, Taf XLIX, fig. 231: Skizzenbuch von Peregrino da Cesena, einem Kupferstecher aus Bologna, Schüler Francias. O. Sirén, Essentials in Art, London 1920, S. 104. V. Herzner, die Kanzeln Donatellos in San Lorenzo, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 1972, S. 134, Abb. 19. R. Jullian, La Sculpture du Moyen Age et de la Renaissance au Musée de Lyon, Lyon 1945, S. 126 ff. Notable Acquisitions 1983—1984, The Metropolitan Museum of Art, selected by Ph. de Montebello, New York 1984, S. 26 f. Ich danke Olga Raggio für Auskünfte und die Überlassung der Photographien. Siehe Christie's Versteigerungskatalog, 20. 6. 1983, Nr. 109.

Donatellos Knabe mit den Schlangen

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Man hat jüngst davon gesprochen, der „decisive clue" zur Deutung der Bronze sei das „object" gewesen, „which the boy once held aloof" 20 . Die Deutung der Gestik, des Ausdrucks und des Standmotivs erfahrt durch unseren Vorschlag vermutlich eine Lösung. Die inhaltliche Benennung jedoch bleibt rätselhaft. Lieber, verehrter Herr Schöne, in den 15 Jahren, seit mir diese Zusammenhänge aufgefallen waren, habe ich Notizen über Notizen gesammelt, zu freundlichen Schlangen, zu Schildkröten und den ganz normalen, zeitgenössischen Arbeitshosen des Knaben, die gar nichts mit den geschnürten Hosen des Attys auf den antiken Jahreszeit-Sarkophagen zu tun haben. Diese Notizen, hier nun ausgebreitet, hätten doch noch einen sehr gelehrten Aufsatz ergeben. Sie würden diesen hier weggelassenen antiquarischen Erörterungen aber vermutlich schon deshalb nur ungern folgen, weil es mir vielleicht gar nicht gelungen ist, Sie von dem neuen Donatello-Knaben mit drei Schlangen und einer Schildkröte zu überzeugen, und weil ich keine neue Deutung der Statue mit all ihren immer noch widersprüchlich erscheinenden Attributen zu bieten vermag. Es ist merkwürdig, in dem Augenblick, in dem die Hoffnung schwindet, durch einen glücklichen Textfund etwa, den Donatello-Knaben mit all seinen Attributen schlüssig zu deuten, kommt mir der Gedanke nicht mehr seltsam vor, es gäbe nunmehr gar kein ikonographisches und humanistisches „Rätsel" mehr zu lösen. Die Schildkröte, die auch ein Wassertier ist, bestärkt die Vermutung, der Bronzeknabe sei eine Brunnenfigur gewesen. Die Vermehrung der Attribute macht jede Hoffnung zunichte, sie alle einem der olympischen Götter schlüssig zuzuschreiben. Einzig die Frage, ob es sich doch um „Merkur" handle, scheint mir einer weiteren Prüfung wert, nicht zuletzt, weil Vasari den Putto einen „Merkur" genannt hat. Immerhin wurde ja auch der Baldwin-Putto als „Merkur" beschrieben. Es wäre durchaus denkbar, daß die zwei Schlangen des Caduceus, das heißt die Friedensstiftung zwischen zwei feindlichen Wesen, auch ohne den Stab möglich war. In zwei Handschriften des venezianischen Maestro degli Putti in Wien und in Paris von etwa 1470 finden sich Annäherungen an Donatellos fanciullo: in Wien ein Knabe mit Flügeln an den Fußgelenken und am Hut mit den zwei Schlangen des Caduceus und vielleicht, es ist in der Abbildung nicht eindeutig zu erkennen, mit einem Bockschwänzchen, — in Paris ein „Merkur-Anubis" mit Hundskopf, Flügelpaar an den Schultern, den Füßen, dem Caduceus mit den zwei Schlangen und einer Schildkröte in den Händen 21 . Doch decken sich die Attribute keineswegs völlig, und zur Vorsicht in zugreifenden Benennungen warnt der Umstand, daß in der Florentiner Zeichnungsgruppe von Maso Finiguerra von 1460 — 1470 unser Putto in gleicher, dem neuen Bronzeknaben des Metropolitan-Museums besonders

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B. A. Bennett and D. G. Wilkins, Donatello, Oxford 1984, S. 190. L. Armstrong, Renaissance Miniature Painters and Classical Imagery, London 1981, Abb. 3, 14.

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Tilmann Buddensieg

ähnlicher Physis mit dem doppelten Flügelpaar eindeutig nur als namenloser Putto erscheint, der eine Girlande trägt. 22 Das wirklich spezifische, ganz un-olympische Attribut des Knaben ist seine Kleidung: die beiden Hosenstrümpfe, die am breiten Ledergürtel hängen und die ausgetretenen Sandalen. Das unterscheidet sie von einer normalen, berufsspezifischen Kleidung der zeitgenössischen italienischen Bauern und Arbeiter nur durch das Privileg der kindlichen Jugend, auf die selbstverständliche Unterkleidung und den Wams verzichten zu dürfen. Bei Gozzoli in Pisa, Cossa in Ferrara, in Zeichnungen und Buchmalereien des 15. Jahrhunderts, finden sich genug der Belege, um den Knaben des Bargello zunächst unmißverständlich als Bauernknaben zu identifizieren. Damit ordnet Donatello sein Werk eindeutig einer zeitgenössischrealistischen und volkstümlichen Bedeutungsschicht zu — in der Mitte zwischen mittelalterlichen allegorischen Schlangenträgern, wie Prudentia oder Dialektik, und den antiken Göttern als Schlangentöter oder Schlangenzähmer. Donatello geht von einer gegenwärtigen Lebensbeschreibung eines Bauernknaben aus, dem auf Schritt und Tritt Schlangen begegnen, nicht mittelalterliche Allegorien und antike Symbole. In einer zweiten Bedeutungsschicht erhebt Donatello den Bauernknaben durch reichliche Attribute zu einem „göttlichen Kind" und sinnbildlichen Naturwesen, buchstäblich in jene Sphären, in denen der nicht minder realistische Bauer von Cossa im Palazzo Schifanoia in Ferrara die März-Dekade darstellen kann. Die Furchtlosigkeit des Kindes läßt die Schlange nicht als Tier des Todes, sondern als Sinnbild des naturhaften Wandels und der jugendlichen Erneuerung in ihrer jährlichen Häutung erscheinen, so wie die Langsamkeit der Schildkröte Dauer und „Weile" verheißt. Gegensätzliche Lebenskräfte der Natur werden in einem realistischen Abbild des Landlebens mit dessen Attributen, Flügel, Bocksschwanz, Mohnkapseln, vergöttlicht. Leonardo hat polemisch die Erfinder und Deuter zwischen Mensch und Natur, die „inventori e interpreti tra la natura e gli omini" unterschieden von den gebildeten Nachbetern der Werke von anderen, den „recitatori e trombetti delle altrui opere". 23 Auch Donatellos Knabe mit den Schlangen ist ein eigenständiger, bäurischer Naturgott, der sich an den „voluptatibus rusticis" erfreut 24 . Auch ohne Bocksfüße, aber mit dem Bocksschwänzchen ist er ein „satyrulo puero, il quäle nelle mano uno serpe molto involuto stringeva", — so wird ein Satyrknabe mit zwei Schlangen in den Fäusten in Francesco Colonna's Hypnerotomachia Poliphili beschrieben und abgebildet (Textabb.) 25 . Die drei Schlangen dieses 22

23 24

25

B. Degenhart, A. Schmitt, Corpus der italienischen Zeichnungen 1300—1450, Teil I, 4. Buch, Berlin 1968, Taf. 418, Kat. 599. A. Marinoni, Leonardo da Vinci, Scritti Letterati, Mailand, Rizzoli, 1952, S. 145. So der Titel eines Poemetto des Battista Guarino, Venedig 1469, zitiert bei G. Pozzi und L. A. Ciapponi, siehe die folgende Anm. Francesco Colonna, Hypnerotomachia Poliphili, a cura di G. Pozzi e L. A. Ciapponi, Padua 1964, I, S. 65, ferner S. 125 mit der Abbildung einer „matrona", die ein Flügelpaar und eine Schildkröte in den Händen hält, nach dem Text auch noch „bekrönt", „d'uno serpente instrophiolata". Satyrn mit Schlangen auch noch S. 249, 343f. und II, S. 93f.

Donatellos Knabe mit den Schlangen

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Bauernknaben verheißen als die der Ceres Ernten, im Umkreis der Venus (der auch die Schildkröte angehört) die Kraft der Erneuerung, die „Identità tra natura e venere". 26 Die attributiven Widersprüche der Statue könnten als inhaltliche Gegensätze und Spannungen jener bäurischen Lebenswelt verstanden werden, der dieser „satyrulo puero" angehört: Die geflügelte „Eile" mit der „Weile" der Schildkröte; die zwei Flügelpaare an einem faunischen Geschöpf, dem als solchem der platonische Aufflug zum Himmel verwehrt ist, in freundlichem Umgang mit Schlange und Schildkröte, den beiden Tieren der Erde und des Wassers. Es vermischen sich bäurische Präsenz, tierische Sinngebung und naturgöttliches Wesen zu einer bukolischen Einheit. Als Gartenbrunnen und mit den fehlenden Tieren wäre die Sprache dieses großen Werkes von Donatello vermutlich nie so unverständlich geblieben 27 .

26 27

M. Calvesi, Il sogno di Poliphilo Prenestino, Rom 1980, S. 156ff., siehe auch S. 140ff. In der Vorbereitung dieses Beitrages habe ich Hilfe und Anregung von zahlreichen Kollegen und Freunden erfahren, ich nenne vor allem André Chastel, Helen Ettlinger, Marilyn und Irving Lavin, Sir John Pope-Hennessy.

ALEXANDER PERRIG

Lucas Cranach und der Kardinal Albrecht von Brandenburg Bemerkungen

den vier

Hieronymus-Tafeln*

I. Aus der Wittenberger Cranach-Werkstatt stammen vier Tafeln, auf denen der Kardinal Albrecht von Brandenburg (1490—1545) in der Rolle eines Heiligen Hieronymus erscheint. Die älteste, heute im Hessischen Landesmuseum zu Darmstadt befindliche (Abb. 32), ist von Cranach signiert und 1525 datiert. Sie zeigt den Kardinal im Gehäuse. Ihr folgte 1526 die Variante, die jetzt im Ringling-Museum zu Sarasota in Florida hängt (Abb. 33). Beide Tafeln sind rund 115 cm hoch und 78 cm breit. 1 Die dritte, in Berlin-Dahlem befindliche Tafel (Abb. 36) datiert von 1527. Sie präsentiert den Kardinal in der Pose eines im Freien sitzenden Schreibers. Auch von ihr wurde — wahrscheinlich im gleichen Jahr — eine Variante hergestellt. Sie wird in einer Privatsammlung in Zürich verwahrt. Diese Tafeln haben nur ein Viertel der Größe der beiden erstgenannten. 2 Über Entstehungsmodalitäten und Bestimmung der vier Tafeln wissen wir nichts. Keine ist in einem zeitgenössischen Schriftstück erwähnt. Es kann nicht einmal mit Sicherheit davon ausgegangen werden, daß der Kardinal die Gemälde jemals zu Gesicht bekommen hat. 3 Denn im Unterschied zu der anderthalb Meter hohen Münchener Tafel, die den Fürsten vor einem Kruzifix kniend zeigt 4 , weist keine eine nachweisliche Provenienz aus Aschaffenburg auf. Aschaffenburg war jene letzte Residenz, in die der Kardinal 1541, nach seinem wirtschaftlichen und moralischen Bankrott, die in Halle angesammelten Bilder hatte überführen lassen. Die Hieronymus-Tafeln gelten als normale Auftragsarbeiten. Der Kardinal habe sie gewünscht, Cranach (1472—1553) habe sie wunschgemäß ausgeführt oder aufgrund seiner Entwürfe ausführen lassen. 5 Daß Cranachs Vorgesetzte, der sächsische * Der vorliegende Aufsatz ist die geringfügig veränderte Fassung eines am 20. Juni 1984 an der Universität Trier gehaltenen Vortrags. 1 M. J. Friedländer und J. Rosenberg, Die Gemälde von Lucas Cranach, Basel—Boston—Stuttgart, 1979, Nr. 183. 2 A. a. O., Nr. 184. 3 A. W. Biermanns Vermutung („Die Miniaturenhandschriften des Kardinals Albrecht von Brandenburg (1514—1545), Aachener Kunstblätter, XLVI, 1975, 260), daß eines davon in Albrechts Bibliothek auf der Moritzburg in Halle gehangen habe, läßt sich durch nichts untermauern. 4 Friedländer-Rosenberg, 1. c. Anm. 1: Nr. 183. 5 D. Koepplin und T. Falk, Lukas Cranach: Gemälde, Zeichnungen, Druckgraphik, Basel—Stuttgart,

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Kurfürst Friedrich der Weise (1463 — 1525) und sein Bruder und Mitregent Johann (1468 — 1532), dem Brandenburger eher schlecht gesonnen waren, hat der Normalität der Beziehung zwischen dem in Halle residierenden Kardinal und dem in Wittenberg tätigen kursächsischen Hofmaler angeblich keinen Abbruch getan. Der Kardinal habe eben — so der Tenor aller bisherigen Abhandlungen über die Bilder — den genialen Künstler, der Künstler den .kunstsinnigen' Kardinal bewundert. 6 II. Albrecht war der Sohn des humanistisch gebildeten Kurfürsten Johann Cicero von Brandenburg (f 1499). 7 Einseitig auf das Ziel hin erzogen, Macht und Ansehen der Brandenburger zu mehren, hatte er schon als junger Mann von 24 Jahren sämtliche Simonierekorde geschlagen und eine nie gesehene Fülle gekaufter Ämter auf seine Person kumuliert. Er war — den kanonischen Gesetzen zum Trotz — gleichzeitig Inhaber der beiden Riesenerzbistümer Magdeburg und Mainz und Administrator des Bistums Halberstadt. Als Erzbischof von Mainz war er auch Primas der deutschen Kirche, Kurfürst und Erzkanzler des Reiches. Seit 1518 wurde seine vielstöckige Würde vom Kardinalshut überdacht. Daß dieser Mann für seine Residenzkirchen zentnerweise Bilder und Reliquienbehälter bestellte und sowohl die Künstler als auch die Verfasser der ihm gewidmeten Bücher und Panegyrika fürstlich entlohnte, steht fest. 8 Aber das schiere Quantum der Förderungsausgaben macht den Förderer noch nicht zum Kenner. Im Falle Albrechts steht es jedenfalls in einem eigenartigen Kontrast zur Profilarmut der Person. Ob der Kardinal ein für ihn gemaltes Bild jemals mit Bewußtsein wahrgenommen, eine ihm gewidmete Schrift jemals aufmerksam gelesen hat, ist eine offene Frage. 9 Viel

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1974—6, I, 101: „Der Verehrung des Philologen-Heiligen durch Celtis, Erasmus u . a . wollte sich Albrecht von Brandenburg demonstrativ — und man könnte vielleicht sagen: in experimenteller Weise ohne Scheu (was an Schamlosigkeit grenzt) — anschließen. Demonstriert wird aber auch wohl bewußt die Parteinahme für die Geisteshaltung eines Erasmus und gegen jene Luthers." Nach Koepplin (a. a. O., II, 450 Nr. 288) und W. Schade (Die Malerfamilie Cranach, Gütersloh, 1983, 64) entsprach Cranachs Tätigkeit für den Kardinal „der kursächsischen Politik, Luther zu stützen und gleichzeitig den Konflikt mit den Luther-Gegnern ... zu entschärfen" (Koepplin). Zu seiner Biographie vgl. zuletzt G. A. Benrath, „Albrecht von Mainz", Theologische Realenzyklopädie, II, 1978, 1 8 4 - 7 . Zu Albrechts Mäzenatentum vgl. C. Becker, „Der Kardinal Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Mainz, als Kunstbeförderer", Kunstblatt, X X X I I - I I I , 1846, 1 2 9 - 3 1 , 133; P. Redlich, Cardinal Albrecht von Brandenburg und das Neue Stift zu Halle 1520—1541, Mainz, 1900; W. A. Luz, „Der Kopf des Kardinals Albrecht von Brandenburg bei Dürer, Cranach und Grünewald", Repertorium für Kunstwissenschaft, XLV, 1925, 41—77; U. Steinmann, „Der Bilderschmuck der Stiftskirche zu Halle: Cranachs Passionszyklus und Grünewalds Erasmus-Mauritius-Tafel", Forschungen und Berichte, X, 1968, 6 9 - 1 0 4 ; Biermann, I.e. Anm. 3: 1 5 - 3 1 0 ; K. Maurice, „Entwurf zu einer planetarischen Uhr für Kardinal Albrecht IV. von Brandenburg", Pantheon, XXXIII, 1975, 111—3. Bezeichnenderweise ist von diesem „größten fürstlichen Kunstförderer jener Zeit" (H. Knackfuss, Deutsche Kunstgeschichte, Bielefeld — Leipzig, 1888, II, 45) bis dato keine einzige ein Kunstwerk oder einen Künstler betreffende persönliche Aussage überliefert. Vgl. auch Anm. 32.

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Zeit scheint er dafür kaum gehabt zu haben. Denn aus dem, wäs aktenkundig wurde, zu schließen, waren seine Hauptbeschäftigungen das Repräsentieren, die Jagd, die Frauen, das Spiel, das Essen und der Reliquienkauf. Wenn Albrecht von Brandenburg mit dem Hl. Hieronymus (ca. 347—419/20) etwas Wesentliches gemein hatte, dann dürften das der Kardinalshut und das männliche Geschlecht gewesen sein. Immerhin w a r er ein großer Protektor der Wissenschaften und Künste. Zwar besaß er keine theologische Bildung. Aber eines scheint sich ihm ebenso tief eingeprägt zu haben wie seinem theologisch versierten Kontrahenten Luther — die Überzeugung nämlich, daß Reichtum und Macht von Gott verliehen seien. Von diesen Gottesgaben durch Förderung katholischer Bilder und Schriften den rechten Gebrauch zu machen, mochte für Luther kein Verdienst gewesen sein. Für Albrecht w a r es ein Verdienst, und zwar von derselben Art wie das Verdienst, das sich der gelehrte Kirchenvater, wenn auch aus anderer Einstellung heraus und mit anderen Mitteln, vor Gott und den Menschen erworben hatte. Der Kardinal durfte sich infolgedessen mit einigem Recht als neuen Hieronymus fühlen, nachdem alle Welt in ihm den irdischen Schutzpatron der Intellektuellen und der Künstler sah. Die Frage ist nur, wie sich zu dieser Identifikation der Künstler verhielt, dem es oblag, ihr bildlichen Ausdruck zu geben. III. Daß sich der Kardinal ausgerechnet an Cranach gewandt hat, scheint einerseits typisch und andererseits paradox zu sein. Typisch insofern, als es die Gleichgültigkeit des Bestellers gegenüber dem, w i e etwas gemacht war, dokumentiert. Cranach wußte ja gar nicht, wie Albrecht in Wirklichkeit aussah. Er kannte dessen fleischige Physiognomie lediglich aus dem Dürerschen Kupferstich von 1519. 10 Diesen hatte er 1520 frei nachgestochen — eine Art der Aneignung, die gerade ausreichte, daß die Kardinalsköpfe der vier Hieronymus-Bilder im Endeffekt als Ungefahr-Porträts herauskamen. 11 Paradox aber scheint des Kardinals Verhalten deshalb gewesen zu sein, weil Cranach überzeugter Lutheraner war. 1519 hatte er mit Andreas Bodenstein von Karlstadt (1480 — 1541) zusammen das erste reformatorische Flugblatt verfaßt — ein Werk, das mittels des antithetischen Bildes einer Himmel- und Höllenfahrt Luthers Erzfeind Dr. Johannes Eck (1486—1543) als Kandidaten 10

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W. L. Strauss, The Intaglio Prints of Albrecht Dürer: Engravings, Etchings & Drypoints, 3. Aufl., New York, 1981, Nr. 88; Kunst der Reformationszeit, Kat. der Ausst. im Alten Museum Ostberlin, Berlin (West), 1983, B 6 9 . 1 . Da alle n a c h 1520 entstandenen „Bildnisdarstellungen Albrechts von Cranach oder seiner Werkstatt den Kopf in der gleichen Ansicht zeigen wie der Stich von 1520, ist es wahrscheinlich, daß Cranach den Kardinal nie direkt gezeichnet hat, sondern daß der Dürerstich die Grundlage für alle späteren Bildnisse blieb" (Friedländer-Rosenberg, I.e. Anm. 1: Nr. 182). Zu den Abweichungen des Cranachschen vom Dürerschen Stich vgl. zuletzt M. Warnke, Cranachs Luther: Entwürfe für ein Image, Frankfurt a. M., 1984, 2 0 - 2 .

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ewiger Verdammnis denunziert. 12 Im Mai (?) 1521 hatte er das von ihm entworfene und von Philipp Melanchthon (1497 — 1560) und dem Juristen Johann Schwerdtfeger betextete ,Passional Christi und Antichristi', eines der radikalsten und wirksamsten Bildpamphlete des 16. Jahrhunderts publiziert. 13 Und 1522 hatte er zur Apokalypse in Luthers Septemberbibel einen Satz von Holzschnitten geliefert, deren explizite Verteufelung des Papsttums sogar seinen Protektor Friedrich den Weisen schockierte. 14 Mit Luther selbst, der den Kardinal haßte, verband ihn eine innige Freundschaft. 15 Sie fand ihren öffentlichen Ausdruck u. a. darin, daß der Maler anläßlich der Hochzeit Luthers mit Katharina von Bora (1499 — 1552) am 13. Juni 1525 als Trauzeuge auftrat und zwölf Monate später Taufpate des ersten der fünf Kinder der beiden Eheleute wurde. Was immer Albrecht von Brandenburg im Jahr der besagten Hochzeit bewogen haben mag, sich an Cranach zu wenden, er mußte eigentlich — sollte man meinen — damit rechnen, daß sich sein Adressat dem Auftrag gegenüber nicht unbedingt neutral verhalten würde. 16 IV. Die beiden zuerst gemalten Bilder wurden nicht ab ovo entworfen. Beiden liegt der berühmte Dürersche Kupferstich des .Hieronymus im Gehäuse' von 1514 (Abb. 37) zugrunde. 17 Er hat sowohl die kompositioneile Gesamtanlage als auch die Form von Fenster und von Fensternische, von Tisch und Lesepult sowie die topographische Beziehung zwischen dem Kardinal und dessen Hut bzw. dem Löwen bestimmt. Er ist in dem Gemälde als ein umfassendes Zitat gegenwärtig. Um so erstaunlicher, daß das Gemälde dem Stich gegenüber seitenverkehrt erscheint. 18 Wer gemalte Wirklichkeit am Maßstab der realen mißt, mag in dieser Seitenverkehrtheit den Ausdruck einer Verbesserungsabsicht vermuten. Dürers Hieronymus 12

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17 18

H. Zschelletzschky, „Vorgefecht des reformatorischen Bildkampfes. Zu Cranachs Holzschnitt .Himmelwagen und Höllenwagen des Andreas Bodenstein von Karlstadt' von 1519", Kunst und Reformation, hrsg. v. E. Ulimann, Leipzig, 1982, 67—75; Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Kat. d. Ausst. im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg, 1983, 244; Kunst der Reformationszeit (s. Anm. 10), E 5 1 . Martin Luther und die Reformation in Deutschland (s. Anm. 12), Nr. 302; Kunst der Reformationszeit (s. Anm. 10), B 78. W. Hütt, „Lucas Cranach d. Ä. und die Illustrationen zu Luthers Septemberbibel von 1522", Bildende Kunst, VI, 1972, 298—300; Martin Luther und die Reformation in Deutschland (s. Anm. 12), Nr. 360; Kunst der Reformationszeit (s. Anm. 10), B 79. Die nachweisbare Zusammenarbeit von Luther und Cranach setzte 1518 ein (vgl. Luther und die Reformation in Deutschland, Nr. 141). Beachtung verdienen im vorliegenden Zusammenhang die zwanzig Dukaten, die er Luther als Hochzeitsgeschenk schickte. Ob diese (von Luther abgewiesene) Beschwichtigungsgeste indirekt auch Cranach gelten sollte? Strauss, 1. c. Anm. 10: Nr. 77. In der bisherigen Literatur ist diese gewichtige Tatsache nicht reflektiert. Andernfalls wäre es wohl kaum zu der Mutmaßung gekommen, Cranach sei durch Albrecht selbst „dazu gehalten" worden, Dürers Kupferstich „zum Vorbild zu nehmen" (Koepplin, 1. c. Anm. 5: I, 101).

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empfangt sein Licht ja anscheinend von der falschen Seite (genau wie der schreibende Erasmus von Rotterdam in Dürers Kupferstich von 1526).19 Er könnte bequemer schreiben, wenn sich Fenster und offene Türe statt zu seiner Rechten zu seiner Linken befanden. Cranach habe dies — könnte man denken — gemerkt und daraus die Konsequenzen gezogen. Dagegen ließe sich wenig einwenden, wäre sein Pseudo-Hieronymus seinerseits mit Schreiben beschäftigt. Aber gerade das ist er ja nicht. Er tut überhaupt nichts, was eines besonderen Lichteinfalles bedürfte. Er starrt vor sich hin und blättert im Buch. Das könnte er auch, wenn das Licht von links her oder überhaupt nicht käme. Cranach hat dem Licht nie sonderliches Gewicht beigemessen. Er faßte es — wie alle seine Zeitgenossen — als ein diffuses Fluidum auf, dessen Funktion sich im großen und ganzen darin erschöpft, die Gegenstände möglichst gleichmäßig auszuleuchten und leuchten zu lassen.20 In Cranachs Gemälden sind die Übergänge von den belichteten zu den beschatteten Partien fließend, Schlagschatten, sofern vorhanden, matt und auffallend unscharf. Die jeweilige Lichtquelle ist dementsprechend nie genau lokalisierbar. Immerhin ist sie es soweit, daß mit Entschiedenheit gesagt werden kann: in Cranachs Bildern kommt das Licht generell aus der Normalrichtung, nämlich von links. Es kommt selbst dann von links, wenn sich — wie beispielsweise in der 1532 datierten ,Bezahlung' 21 — der Bildraum als ein Innenraum mit einem r e c h t s befindlichen Fenster präsentiert. Die beiden Gemälde mit dem Hieronymus-Albrecht im Gehäuse bilden somit — zusammen mit den übrigen Albrecht-Darstellungen des Künstlers — eine einsame Ausnahme. Die Möglichkeit, daß ihr spiegelbildliches Verhältnis zu Dürers Hieronymus-Stich mit einer künstlerischen Routinemaßnahme zu tun haben könnte, ist damit eo ipso ausgeschlossen. Dieses Verhältnis setzt die bewußte und einmalige Entscheidung voraus, die Norm zu durchbrechen und das Licht von r e c h t s her einfallen zu lassen. Die Frage ist, was diese Abkehr von der Norm bezweckte. V. Den Weg zur Antwort mag uns Albrecht Dürer (1471 — 1528) weisen — der Künstler, der sich über die Opportunität von linkem und rechtem Lichteinfall immerhin ein halbes Leben lang Gedanken gemacht zu haben scheint. Seine einschlägigen Reflexionen setzten spätestens um 1500 ein. Sie sind ablesbar an seiner Kupferstich- und Radierungsproduktion. V o r 1500 schenkte Dürer der Richtung des Lichteinfalles anscheinend keine Beachtung. Er schattierte seine 19 20

21

Strauss, 1. c. Anm. 10: Nr. 105. Begreiflicherweise kommt der Name Cranach in Wolfgang Schönes grundlegender Studie über das Licht in der Malerei (Berlin, 1954) nicht vor. Stockholm, National-Museum; Friedländer-Rosenberg, 1. c. Anm. 1: Nr. 290.

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Kupferstich- und Radierungsentwürfe so, als wären es Entwürfe zu Gemälden. Sämtliche vor 1500 gestochenen und radierten Platten ergaben infolgedessen beim Druck einen normwidrigen Lichteinfall von rechts.22 Ab ca. 1500 ändert sich diese Praxis. Von da an erscheinen die dargestellten Personen und Gegenstände in aller Regel von links her belichtet. Die Ausnahmen von dieser Regel sind jetzt wirkliche Ausnahmen — Darstellungen, bei denen der Lichteinfall von rechts her a priori gewollt war. Sie sind nicht sehr zahlreich23, aber insofern alarmierend, als sie zum Teil schon aufgrund ihrer Thematik als Sonderfalle auftreten. Das prominenteste Beispiel ist die .Melancholie'. 24 Im gleichen Jahr 1514 wie der ,Hieronymus' gestochen, wurde sie von Dürer selbst als dessen Pendant behandelt. In der Tat verhält sich ihr Licht zu dem hellen, scharfen Schräglicht, das in die Zelle des Heiligen fallt, auch inhaltlich konträr. Durch seinen bildlichen Kontext ist es unmißverständlich als Abend- oder Westlicht ausgewiesen. Als solches aber dürfte sich das von rechts einfallende Licht auch in den übrigen Ausnahmefallen verstehen. Im Falle der 1515 entstandenen Eisenradierungen ,Christus am Ölberg' und ,Der Verzweifelnde'25 ist diese Bedeutung jedenfalls evident. Auch hier kündet allein schon die Düsternis der Szenerie vom Sinken des Tages und dem Anbruch der Nacht. In seinen Gemälden, die, von den Porträts abgesehen, fast ausschließlich religiöse Themen behandeln, hat sich Dürer konsequent an die gängige Belichtungsnorm — Licht von links — gehalten. Er hat diese Norm nur einmal durchbrochen: in seiner 1526 vollendeten Münchener Aposteltafel.26 Die Anomalität von deren Lichtführung ist eklatant und fallt um so mehr ins Gewicht, als die zuvor (1514—26) entstandene g e s t o c h e n e Apostelserie27 vom ersten bis zum letzten (fünften) Stück der Norm gemäß belichtet erscheint. Sie läßt sich allein mittels der von Dürer mitkonzipierten Inschrift erklären. Diese Inschrift enthält die Botschaft, die den gemalten Aposteln zu verkünden obliegt. Sie spricht von „ferlichen zeitten", „falsche(n) prophetten" und dem „geist des widerchristis, von welchem ir habt

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Strauss (1. c. Anm. 10) zufolge maßten sich unter den 27 zwischen 1495 und 1500 entstandenen Dürer-Stichen drei rätselhafte Ausnahmen befinden: Nr. 13—15. Deren Datierung um 1 4 % bzw. 1497 ist indes nicht nur faktisch umstritten, sondern auch methodisch anfechtbar, weil sie — wie die Datierung der Dürerschen Graphik insgesamt — ohne Rücksicht auf den Belichtungsaspekt, nach rein figurenstilistischen bzw. .graphologischen' Kriterien erfolgte. Immerhin machen sie fast 2 0 % der zwischen 1500 und 1526 entstandenen (aus 77 Stück bestehenden) Gesamtmasse aus: Strauss Nr. 34, 37, 39, 40, 7 8 - 8 3 , 8 7 - 8 , 92, 97, 104. Strauss Nr. 79. Strauss Nr. 82, 80. Zur Münchener Aposteltafel vgl. zuletzt F. Anzelewsky, Albrecht Dürer: Das malerische Werk, Berlin, 1971, 274— 9; G. Goldberg, „Zum technischen Befund von Albrecht Dürers ,Vier Aposteln'", in: P. Strieder, Dürer, Königstein im Taunus, 1981, 333—46; M. Stuhr, „Zu den künstlerischen Vorstufen von Dürers ,Vier Aposteln'", Kunst und Reformation, hrsg. v. E. Ullmann, Leipzig, 1982, 1 3 3 - 4 9 . Strauss, 1. c. Anm. 10: Nr. 7 2 - 3 , 9 8 - 9 , 103.

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gehöret, das er kompt Vnnd ist yetzt schon in der wellt". 28 Sie qualifiziert die Zeit, in der sich die gemalten Apostel befinden, als eine Zeit der Trübsal und der Düsternis. Dieser Aussage entspricht der Lichteinfall von rechts. VI. Dürers Apostel werden von dem ,falschen' Licht angestrahlt, aber nur einer von ihnen, Markus, nimmt davon Notiz. Seinen Kopf nach rechts umdrehend, blickt er ihm unter gerunzelten Augenbrauen zornig entgegen. 29 Von solcher Erregung läßt Cranachs phlegmatischer Albrecht (Abb. 32, 33, 36) nichts erkennen. Er ist dem Westlicht so vorbehaltslos zugekehrt, als gäbe es überhaupt kein anderes Licht, an das man seine Sinne heften könnte. Er behandelt es sozusagen als seinen natürlichen Komplizen. Der Verdacht, daß es Cranachs Absicht war, den Kardinal als den zwielichtigen, falschen Hieronymus erscheinen zu lassen, liegt auf der Hand 30 und wird durch die übrigen Abweichungen des Gemäldes (Abb. 32) von Dürers Hieronymus-Stich (Abb. 37) erhärtet. 31 Albrechts Zelle ist geräumiger als diejenige des Heiligen Dürers. Gleichzeitig wirkt sie geschlossen. Sie läßt nichts von der Treppenstufe, dem untersockelten Pfosten und dem horizontalen Balken erkennen, die in Dürers Stich den Zelleneingang markieren. Auf diese Eingangsmarkierung hatte Dürer großen Wert gelegt. Offensichtlich wollte er damit den Eindruck erzeugen, daß die Zelle, deren Enge von der Anspruchslosigkeit ihres Bewohners zeugt, zur ganzen Welt hin geöffnet sei, und daß sich die emsige Schreibtätigkeit des Heiligen im Angesicht und 28 29

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Der vollständige Text abgedruckt bei Anzelewsky, 1. c. Anm. 26. Ein Äquivalent dieses Cholerikers (vgl. hierzu E. Panofsky, Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, München, 1977, 313—4) ist das von Dürer im Jahr der Vollendung der Tafel gestochene Melanchthon-Bildnis (Strauss, 1. c. Anm. 10: Nr. 104). Seine Rechtsorientiertheit und Belichtetheit von rechts können angesichts dessen, daß der rechtseitige Hintergrund bis zur Höhe des linken Auges schraffiert ist, kaum anders denn als Ausdruck der Absicht aufgefaßt werden, Melanchthon als den Menschen zu charakterisieren, der dem falschen Licht ,die Stirn bietet'. Daß das Bildnis in diesem Sinne auch verstanden worden ist, scheint die ab 1526 auffallend zunehmende Zahl von rechtsorientierten Reformatorenporträts zu bezeugen. Wie Warnke (1. c. Anm. 11: 22—7) gezeigt hat, muß schon Cranachs 1520 gestochenes AlbrechtBildnis als ein Negativ-Image aufgefaßt werden, mit dem das Positiv-Image der beiden im gleichen Jahre gestochenen Luther-Bildnisse kontrastiert. Wie sehr sich dieser Kontrast gerade auch auf der (von Warnke nicht berücksichtigten) Ebene der Belichtung und der Richtungsverhältnisse ausdrückt, veranschaulicht u. a. Hieronymus Hopfers seitenverkehrter Nachstich nach dem zweiten Cranachschen Luther-Bildnis (Warnke Abb. 17). Er hätte Luther in einen Komplizen Albrechts verwandelt, wären die negativen Implikationen der Rechtsorientiertheit und der Belichtung von rechts nicht durch den Zusatz eines strahlenden Heiligenscheins und einer über dem Lutherkopf schwebenden Heiliggeisttaube neutralisiert worden (gleiches gilt für die Holzschnittkopie Baidungs und für Daniel Hopfers seitenverkehrte Eisenradierungskopie nach Cranachs 1521 gestochenem Profilbildnis Luthers). Über den Sinn der Abweichungen des Gemäldes vom Stich ist aus der bisherigen Literatur immerhin dies zu erfahren: „Die Wendung ins Repräsentative auf Kosten des geistlichen Gehalts bestimmt auch die Darstellung der Person selbst" (Martin Luther und die Reformation in Deutschland, 142).

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zuhanden der Öffentlichkeit vollziehe. Die Zelle Albrechts erweckt — auch wegen ihrer stärkeren Aufsichtperspektive — den gegenteiligen Eindruck. Das Tun oder genauer: das Nichtstun ihres Inhabers scheint reinen Privatcharakter zu haben. Es wirkt selbstbezogen, egoistisch. Dem entspricht das Zelleninventar. Es hat nur zum geringsten Teil Ähnlichkeit mit dem Inventar der Dürerschen Zelle. Statt von Studium und Meditation kündet es vor allem von Liebe zum Komfort. Während Dürers Hieronymus seine einzige mit Lehne versehene Bank dem potentiellen Besucher freihält, hat der Kardinal die bequemste und prächtigste Sitzgelegenheit im Räume selber besetzt. Sein Tisch verfügt über eine spezielle Vorrichtung, um die Füße vor Kälte zu schützen. In seinem Gesichtsfeld liegt nichts, was dem Genuß passiver Muße hinderlich sein könnte, weder Totenkopf noch Foliant. Statt dessen bieten sich seinen Blicken lieblichere Gegenstände an: ein Früchteteller und der auf einem eigens dafür hergerichteten Tisch abgelegte, vom Sammetschwarz des Tischtuchs wirkungsvoll abgehobene scharlachrote Mantel (Abb. 32). Auch hinter dem Kardinal sieht es kaum nach Arbeit aus. Zwar erscheint dort nebst einer Notizen- und Schneidutensilienablage ein Regalschrank an der Wand befestigt. Aber nur seine untere Etage ist den Büchern gewidmet. Das Piano nobile wird von goldenen Pokalen besetzt. Auf dem Schrank selber stehen ein Kerzenständer und ein Wasserbecken, beides aus Bronze. Der Kerzenständer enthält — im Unterschied zu seinem schlichten Äquivalent auf dem Regal der Dürerschen Hieronymus-Zelle — nicht nur keine abgebrannten, sondern überhaupt keine Kerzen. Er läßt darauf schließen, daß der Kardinal bei Dunkelheit mit Vorliebe schläft. Das Wasserbecken befremdet durch den Umstand, daß es ausgerechnet auf dem Schrank steht. Eigentlich sollte es unter der in der Wandnische hängenden Kanne liegen, so wie das in unzähligen gemalten Lavabonischen der Fall ist. Die getrennte Aufstellung macht beides, Becken und Kanne, nutzlos und bringt den Besitzer obendrein in den Geruch, die Hände eher selten zu waschen. Sosehr es in Albrechts Zelle an Zeichen geistiger Anstrengung fehlt, sowenig mangelt es darin an Frömmigkeitszeichen. Auf dem nackten Tisch befinden sich — nebst dem obligaten Kruzifix — vier Büchlein, deren Quartformat vermuten läßt, daß es sich um Breviere, Stunden- oder sonstige Gebetsbücher handelt. Aufgeschlagen ist allerdings keines. Nach Ausweis der zugeklammerten Deckel scheint der Inhalt im Gegenteil seit langem unangetastet geblieben zu sein. 32 Im Rücken des Kardinals, links neben dem Regalschrank, hängt eine Pilgerflasche. Ihr Vorhandensein ist insofern bemerkenswert, als Albrecht von Brandenburg zwar tatkräftig Propaganda für Wallfahrten nach Halle machen ließ, aber anscheinend nie selber eine Wallfahrt unternommen hat. Bemerkenswerter noch als die Pilgerfla32

Anscheinend war, was Biermann 1975 (1. c. Anm. 3: 257) aufgrund der weitgehend fehlenden Gebrauchsspuren konstatierte (daß Albrecht seine religiösen Andachtsbücher „höchst selten zur Hand genommen hat"), schon 1525 in Wittenberg bekannt.

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sehe ist das an die Zellenrückwand genagelte Bildchen mit dem Veronika-Schweißtuch. Denn die andächtige Betrachtung von seinesgleichen war damals mit Ablaß verbunden, 33 und Ablaß ist eines der zentralen Stichworte in Albrechts Biographie. Der monströse Handel, den Albrecht damit durch den Dominikaner Johannes Tetzel (ca. 1465—1519) hatte treiben lassen, war ja 1517 zum Anlaß von Luthers 95 Thesen geworden. Bezeichnenderweise hängt das Ablaßbildchen so an der Wand, als pflegte es der Kardinal nur dann zu betrachten, wenn er sich vom darüberbefindlichen Tablar ein Glas herunterholt oder ausnahmsweise die Wasserkanne benutzt. Kraft seiner Position mitten zwischen einer unnützen Kanne und gläsernem Geschirr weist es sich drastisch als Bestandteil dessen aus, was Andreas Bodenstein 1522 in seinem Pamphlet ,Von abtuhung der Bylder' als den klerikalen „Krempelmarkt" apostrophierte. 34

VII. Von dem Ablaßbildchen ist im zweiten Hieronymus-Gemälde (Abb. 33) nichts mehr zu sehen. Auch Wasserkanne und Gläsertablar, Pinsel, Notizzettel, Messer und Schere, Pilgerflasche, Kerzenständer und Wasserbecken fehlen daselbst. Der gesamte Zelleninhalt mitsamt seiner Perspektive ist neu arrangiert, die Decke mit einem neuen, moderneren Trägersystem versehen. Man denkt angesichts dieser Veränderung unwillkürlich an eine Milderung des polemischen Tons, zumal dort, wo zuvor das Stundenglas hing, jetzt ein großes Madonnenbild hängt. Art und Lage des veränderten Inventars beweisen jedoch, daß das Gegenteil der Fall ist. Auf dem Tisch des Kardinals stehen jetzt u. a. ein Becher aus Zinn und ein kleines Rubinglas, vor welchem ein seinen Schnabel wetzender Papagei, das Symbol der Geschwätzigkeit 35 , sitzt. Der vormalige Kerzenständer ist durch einen monumentalen Hirschgeweihleuchter, genauer: durch ein Hirschgeweih mit darauf montierten leeren Kerzenhaltern ersetzt. Das einzige, was daran leuchtet, sind die von den Kerzenhaltern baumelnden Anhängsel mit dem Brandenburgwappen. Sie

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Vgl. hierzu Die Messe Gregors des Großen: Vision, Kunst, Realität, Kat. d. Ausst. im SchnütgenMuseum, Köln, 1982, 8 9 - 9 0 ; Luther und die Folgen, hrsg. v. W. Hofmann, München, 1983, Nr. 137. Bodensteins unpaginierte Schrift ist als Faksimile abgedruckt in: Ohn' Ablaß von Rom kann man wohl selig werden: Streitschriften und Flugblätter der frühen Reformationszeit, hrsg. vom Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg, Nördlingen, 1983, IX. Zum Papagei als Geschwätzigkeitssymbol vgl. R. Ronchetti, Dizionario illustrato dei Simboli, Mailand, 1922, I, 576 (Loquacità). — Nach Hildegard von Bingen (Naturkunde, hrsg. v. P. Riethe, Salzburg, 1959, 113) soll der Papagei, obwohl „etwas von dem Flug des Greifen und etwas von der Kraft des Löwen" (Löwe und Greif sind Albrechts Wappentiere!) besitzend, eher feige sein („nec in volatu nec in virtute quidquam audet et posset"). Nach Conrad Gesner (Historia animalium, III, 1557, 221 v) soll er gern schöne Jungfrauen sehen und mit Wölfen und Turteltauben befreundet sein (Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, VI, Berlin—Leipzig, 1934, 1387).

Lucas Cranach und der Kardinal Albrecht von Brandenburg

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machen aus dem Geweih so etwas wie eine heraldische Krone, aus dem leibhaftig darunter sitzenden Brandenburger einen Gehörnten. Die auffalligste Veränderung gegenüber dem ersten Gemälde betrifft die Position von Sitzbank, Regalschrank und Mantelablage. Die Sitzbank, nunmehr mit einer steifen Rückenlehne versehen, dislozierte von der linken Zimmerseite zur rechten. Regalschrank und Mantelablage wanderten umgekehrt von der rechten auf die linke Seite. Da man heutzutage eine innerbildliche Topographie hauptsächlich nach formalen Gesichtspunkten zu beurteilen pflegt, kommt einem dieses Möbelrücken recht befremdlich vor, zumal damit im Endeffekt eher ein Defizit als ein Zuwachs an Harmonie erreicht worden ist. 36 Damals urteilte man anders. Gerade in der Art und Weise, w i e die Dinge im Bildraum erscheinen, sah man eines der wichtigsten Mittel zur Verbildlichung von Charakter und individueller Moral. Das war deswegen möglich, weil seit frühchristlicher Zeit Einvernehmen darüber bestand, daß sich der höhere oder niedrigere Stellenwert, den ein Ding oder eine Person in den Augen Gottes oder eines Menschen besitzt, in der Stellung zu dessen rechter oder linker Hand ausdrückt. 37 Als beispielsweise Cranach um 1518 von dem Leipziger Juristen Dr. Heinrich Schmitburg den Auftrag erhielt, auf einem Epitaph (Abb. 35) den guten Tod und die bürgerliche Rechtschaffenheit von Schmitburg Senior zu schildern, 38 brauchte er sich über die hierfür einzuschlagende Methode nicht den Kopf zu zerbrechen. Nachdem das einschlägige Sterbezimmerpersonal einmal benannt war, kam es nur noch darauf an, dasselbe richtig zu plazieren. Das Richtige aber bestand in diesem Falle darin, den Seelenarzt, den Engel und den Notar zur R e c h t e n des sterbenden Schmitburg und in dessen Gesichtsfeld, den das Uringlas prüfenden Leibarzt dagegen, das höllische Monstrum und den Dämon mit dem Hirschgeweih auf dem Kopf zur L i n k e n desselben und von diesem unbeachtet erscheinen zu lassen. Im Falle des ähnlich komponierten Kupferstiches von Heinrich Aldegrever (Abb. 34) 39 war das Umgekehrte richtig. Hier mußte der Ehrenplatz zur Rechten des Sterbenden dem Teufel eingeräumt werden, weil es um die Charakterisierung nicht eines frommen und umsichtigen Familienvaters, sondern eines Egoisten, des reichen Prassers ging, der sein Herz noch auf dem Totenbett am Geld hängen hatte und Priester und Familie, ja sogar das Tageslicht links liegen ließ. Von hier aus gesehen, stellt sich die Neuordnung des Inventars in Cranachs zweitem Hieronymus-Bild als eine Radikalisierungsmaßnahme heraus. Sie zeigt 36

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Seit Ch. Schuchardt (Lucas Cranach des Älteren Leben und Werke, II, Leipzig, 1851, 35, 40) wird in der Literatur das zweite Bild dem ersten gegenüber abgewertet. Koepplin (1. c. Anm. 5: I, 101) findet es „im Detail etwas weniger ausgeglichen". Zum Links-Rechts-Problem vgl. auch Perrig, „Masaccios ,Trinitä' und der Sinn der Zentralperspektive", Marburger Jahrbuch, 1984, Anm. 65. Zu diesem Epitaph vgl. Friedländer-Rosenberg, 1. c. Anm. 1: Nr. 97; Kunst der Reformationszeit (s. Anm. 10), A 5. The Illustrated Bartsch, XVI, New York, 1980, 159 Nr. 46.

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Alexander Perrig

noch unmißverständlicher als die ursprüngliche Ordnung, woran dem Kardinal im Innersten liegt. Kein Zweifel, daß ihm der prachtvolle Schrank, die kostbaren Buchdeckel, das Schreibfutteral, das Papageiengeschwätz und die von saftigen Früchten gerahmte Kardinalstracht lieber sind als Stundenglas, Kruzifix und Maria, insbesondere auch lieber als der, den die Christen als ihren Nächsten bezeichnen. Des Kardinals Nächster ist der unsichtbare Besucher. Er muß mit der unbequemen Sitzbank Vorlieb nehmen und dem Fenster den Rücken zukehren, damit sich der Kardinal um so wirkungsvoller ins rechte Licht setzen kann. Er ist der Gast, dem der billige Zinnbecher vorgesetzt wurde, dieweil dem Papagei das Rubinglas zur Verfügung steht; der Verachtete, dem der starre Blick und der verächtliche Mund des Gastgebers gelten. Gleichzeitig ist er dessen moralisches Gegenbild. Er ist derjenige, der nach Osten blickend das Bild des Erlösers zu seiner Rechten stehen hat und eben deshalb auch im Kardinal noch ein Ebenbild Gottes erkennt. Zu seiner Linken aber befindet sich nicht nur der Becher, sondern — bezeichnenderweise — auch der Löwe. Der Löwe ist in normalen Hieronymus-Darstellungen ein äußerst friedliches, ja geradezu liebenswürdiges Wesen. In seiner Nachbarschaft kann ein Hündchen seelenruhig schlafen (Abb. 37). Hier jedoch erscheint er als Raubtier. Seine Augen und seine Körper- und Schwanzhaltung sind die einer Katze, die lauert. Er und sein schleichendes Äquivalent im ersten Hieronymus-Bild (Abb. 32) erinnern unweigerlich an die Stelle im ersten Petrus-Brief (5, 8), wo es heißt: „Seid nüchtern und wachet. Euer Widersacher, der Teufel, streift umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge." 40 Die von Albrechts Löwen Bedrohten sind im ersten Bild (Abb. 32) ein Rebhuhnpaar und eine Fasanenfamilie, im zweiten (Abb. 33) außerdem ein Biber und ein Hirsch. Es sind lauter Tiere, die nach der mittelalterlichen Tierexegetik dem Teufel standhalten oder ihn sogar überlisten. 41 In einer echten Hieronymus-Stube wären sie deplaziert, da dort kein Widersacher umgeht. In dieser Stube aber sind sie am richtigen Ort. Denn sie gehören mit zu dem Wild, auf das der leidenschaftliche

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Zur dämonischen Bedeutung des Löwen vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie, III, 1971, 115-6. Das Rebhuhnpaar kann ein Symbol für die Nachfolge Christi bzw. die Wahrheit sein (vgl. a. a. O., 504—5). Für seine sowie für die intendierte Bedeutung der Fasanenfamilie ist aber wohl vor allem die Befindlichkeit am Boden relevant. Sie scheint die Vertreter beider (am Boden nistenden) Vogelarten als Exempla der Selbstbescheidung und Einsicht (vgl. RDK, VII, 432) auszuweisen. — Der Biber vertritt — als das Tier, das den Verfolger durch Hinterlassung seiner eigenen Geschlechtsteile narrt — diejenigen, die sich, um dem Teufel zu entgehen, ihrer Laster entledigen (a. a. O., I, 1968, 289). — Der Hirsch ist das Symbol des Schlangenüberlisters Christus sowie aller derjenigen, „die nach dem Wasser des Lebens dürsten" (a. a. O., II, 1970, 286—7; G. Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole, Düsseldorf—Köln, 1971, 134—5). — Nach H. Rabe (Martin Luther und die Reformation in Deutschland, 1983, Nr. 164) sollen „die Tiere ... wohl die spezifischen Fürstentugenden der Klugheit, Mäßigung und Stärke symbolisieren".

Lucas Cranach und der Kardinal Albrecht v o n Brandenburg

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Jäger Albrecht von Brandenburg scharf war. Als lebendes Zelleninventar, das vom Wappentier des Brandenburgers bedroht wird, sind sie die Symbole der um ihres Glaubens willen drangsalierten Untertanen. Ihr schieres Dasein macht aus der Zelle das Sinnbild jener dreifaltigen Monsterdiözese, deren Wappen im zweiten Bild (Abb. 33) über dem Regalschrank erscheint. Von der Gemeinschaft derer, die dem Widersacher widerstehen, abgesondert, erscheint auf dem zweiten Bild ein vereinzelter Hase. Er sitzt am hinteren Fußende des Tisches, und zwar — wie im ersten Bilde (Abb. 32) das Hündchen — zur Rechten des Hausherrn. Er vertritt das niedere Wild, mit dessen Jagd sich ein Fürst nicht abzugeben pflegte. Die Protektion, die er von Seiten des Kardinals genießt, macht die bildliche Polemik komplett. Denn der Hase ist, sofern er nicht aufwärts hoppelt, ein Symbol des der Unkeuschheit frönenden Schwächlings. 42 Seine Position zeigt an, welcher Sorte von Untertanen des Kardinals Fürsorge gilt.

VIII. Nachdem die beiden ersten Hieronymus-Bilder (Abb. 32, 33) einmal aufgeschlüsselt sind, bedarf das dritte (Abb. 36) keiner langen Erörterung mehr. In ihm erscheint der Protektor des Hasen mitten in seinem Jagdrevier, eingespannt wie ein klerikaler Herkules am Scheideweg zwischen Kruzifix und Kardinalshut. 43 Mittels des aufgeschlagenen Folianten und der von der Rechten umkrallten Kielfeder stellt er geistige Produktivität, mittels des dem Kruzifix zugedrehten Körpers Frömmigkeit zur Schau. Doch das Herz weilt beim Kardinalshut, und die Vorliebe gilt den zugeklappten Büchern. Das von rechts her einströmende Licht bringt die rote Robe und den hochgehängten Hut förmlich zum Glühen. Es beleuchtet auch die gesamte übrige Szenerie, einschließlich Löwen und Hasen. Nur die Symbole des christlichen Widerstandes beleuchtet es nicht. Der Fasan und der Biber, insbesondere aber der junge Hirsch, der hier gewissermaßen die Stelle des unsichtbaren Gastes des zweiten Gemäldes (Abb. 33) vertritt, stehen in einem anderen, im ,richtigen' Licht — im gleichen Ostlicht, in dem normalerweise auch der echte Hieronymus erscheint.44 Nur scheinbar bleiben sie von Albrechts Raubkatze unbehelligt. Zwischen ihr, dem Kardinal und dem dichten Gebüsch sind sie in Wirklichkeit eingepfercht wie Gefangene in einem engen Verließ.

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Zur schillernden Bedeutung des Hasen vgl. Lex. d. christl. Ikonographie, II, 1970, 221—5. Die Polemik, die in der demonstrativen Gegenüberstellung von Kruzifix zur Linken und Kardinalshut zur Rechten des Kardinals liegt, wird vor allem vor dem Hintergrund der traditionellen Ikonographie des Hieronymus in der Wüste offenkundig. Daselbst liegt der Kardinalshut stets in einer Niederung — entweder am Boden oder neben dem Gesäß des Heiligen. Vgl. Anm. 44. Cranach selbst hat den echten Hieronymus zweimal gemalt, 1502 und ca. 1515—20 (FriedländerRosenberg, 1. c. Anm. 1: Nr. 4, 107). Z u beiden Darstellungen verhält sich die Albrecht-Tafel wie der totale Antityp.

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Alexander Perrig

Der vordergründige Löwe belauert jetzt den Betrachter. Warum, erhellt aus der Szene, die sich im Hintergrund abspielt. Sie nimmt Bezug auf eine von Jacobus de Voragine berichtete Legende. 45 Dieser zufolge hatte der nach Heilung seiner Pfotenwunde zahm gewordene Hieronymus-Löwe die Aufgabe, den klostereigenen Lastesel täglich auf die Weide zu führen und daselbst zu bewachen. Eines Tages schlief er beim Wachdienst ein. Dieweil er schlief, wurde der Esel von einer vorbeiziehenden Kaufmannskarawane gestohlen. Der Löwe war untröstlich und streifte wieder und wieder umher, um seinen Schützling zu suchen. Schließlich entdeckte er ihn, als die Karawane beladen zurückkehrte. Voller Ingrimm trieb er die Kamele mitsamt Esel und Gepäck in das Kloster. Die Verbildlichung dieser merkwürdigen Geschichte im vorliegenden Kontext ergibt nur Sinn, wenn sie als Mittel aufgefaßt wird, die Tätigkeit des vordergründigen Raubtiers zu qualifizieren. Dessen Lauern versteht sich dann als das Bewachen des Esels. Der bewachte Esel aber ist der damalige Betrachter, des Kardinals Untertan. Er lief 1527 kaum noch Gefahr, von der erzbischöflichen Weide abhanden zu kommen. Denn seit der Niederschlagung des großen Untertanenaufstands im Sommer 1525 schlief das Brandenburgische Tier nicht mehr ein. 46

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Legenda aurea, aus dem Lateinischen übers, von R. Benz, 3. Aufl., Heidelberg, 1925, 759—60. Am 19. Juli 1525 hatten sich der Kardinal, sein Bruder Kurfürst Joachim von Brandenburg sowie die Herzöge Georg von Sachsen, Heinrich von Wolfenbüttel und Erich von Calenberg in Dessau vereinigt, um „die verdammte lutherische Sekte als die Wurzel dieses Aufruhrs auszuroden" (K. Brandi, Reformation und Gegenreformation, 5. Aufl., Frankfurt a. M., 1979, 152).

WILHELM MESSERER

Perspektive in der Hochrenaissance I.

Daß Kunstgeschichte kein rein historisches Fach ist, sondern daß ein Kunstwerk uns vor allem Gegenwart ist, vor wie nach einer Kunst-historischen Untersuchung und u. U. gerade durch sie, haben schon einige ausgesprochen1 und viele bemerkt. Was interessiert da heute die Zentralsperpektive, wo sie in der Kunst nur noch punktuell angewandt wird, in Schulen kaum gelehrt, und wo große Meister wie Cézanne als ihre Überwinder gefeiert werden. Ist sie mehr als Instrument, 2 als solches von bloß historischer Bedeutung? Wieso sie in der Frührenaissance ein eigenes Thema war, und zwar symbolische' Form, wurde längst gezeigt3. Alles Sichtbare wird auf den Beschauer bezogen, dabei zugleich untereinander in Form und Größe vergleichbar und zu einem festen Gefüge der Umwelt zusammengeschlossen. Diese ganz neue Spannung von Subjektund Objektzusammenhang — die sich dabei beide erst als solche konstituieren 4 — hat als Thema Maler leidenschaftlich beschäftigt. „Oh che dolce cosa è questa prospettiva". Uccello, der das ausruft 5 , ist freilich ein Fanatiker der Perspektive, und darum vom Freunde Donatello, selbst einem Meister darin, getadelt.6 Er bohrt sich hinein in die perspektivischen Verformungen von Facetten eines Kelches, von modischen Kopfbedeckungen. Aber schon Brunelleschi bereitete das Durchzeich-

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Erwin Panofsky, Der Begriff des Kunstwollens, Ztsch. f. Ästhetik u. allg. Kunstwiss. XIV, 1920, S. 321—339, jetzt in: Ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwiss., hrsg. v. Harolf Oberer u. Egon Verheyen, Berlin 1974, S. 29 ff., hier bes. S. 29 f.; Herbert von Einem, Aufgaben der Kunstgeschichte in der Zukunft, Ztschr. f. Kunstgeschichte V, 1936, S. 1 ff., hier S. 1 und 6. Hans Sedlmayr, Kunst und Wahrheit, Hamburg 1958, S. 7 f. Perspektive in der Renaissance ist zwar vorzüglich in der Malerei zu untersuchen, aber auch in der Skulptur, nicht nur am perspektivischen Relief (vgl. W. Messerer, Das Relief im Mittelalter, Berlin 1959, S. 147 — 158), sondern auch an auf Projektion hin gearbeiteten Statuen (s. Artur Rosenauer, Studien zur frühen Donatello-Skulptur im projektiven Raum der Neuzeit, Wien 1975 (Wiener Kunstgesch. Forschungen)) sowie in der Architektur; nicht nur an dem verblüffenden Kunststück des Chors von S. Maria presso S. Satiro zu Mailand von Bramante, sondern auch auf die Frage hin, ob und wieso Bauten auf ein perspektivisches Sehen hin konzipiert sind. Wir müssen uns hier auf Malerei beschränken. Erwin Panofsky, Die Perspektive als symbolische Form, Vorträge der Bibliothek Warburg, IV, 1924/ 25, S. 258 ff. Diese Formulierungen beruhen auf Panofsky, ebda., und auf Aussagen von Hans Jantzen. Giorgio Vasari, Le vite (1550/1568): Vita di Paulo Uccello, pittor fiorentino. ebda.

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Wilhelm Messerer

nen des Florentiner Baptisteriums in all seinen scharf begrenzten Einheiten „Vergnügen" 7 — das gilt als Beginn der perspektivischen Darstellung. Prinzipiell schafft das ganze Quattrocento hindurch die Perspektive einen in den Grundrichtungen festgelegten Raum, der sich an den Dingen zeigt, aber ein eigener ,durchsichtiger Gegenstand' ist. 8 Daß der Ort vor dem Ding da sei, wurde kurz nach dem Ende der Frührenaissance formuliert9. Die Kunst hat hier den .absoluten Raum' entdeckt, den die Physik erst mit Newton in Worten klar formuliert. Ein eigenes Thema, ist Perspektive im Zeitalter der varietà10 doch nur eines der Themen11. Es kann sich mit anderen verbinden und auch an ihnen seine Grenze finden. Beim gemalten Reitergrabmal des John Hawkwood im Florentiner Dom 1436 hat Uccello den Sarkophag mit Konsolen und das Pferd in Untersicht gegeben; der Reiter aber sitzt in Normalsicht als Profilfigur darauf; er wird, als Porträt und damit eigener Wert, nicht subjektiv relativiert. Ähnlich sind bei Masaccios TrinitàFresko, in S. Maria Novella, Maria und Johannes und noch mehr der Kruzifixus (z. B. an den Armen) von unten gesehen, wie dann das Gewölbe. An seinem Haupt aber wird Untersicht nicht mehr wirksam, und Gottvater ganz oben steht so gerade vor uns wie unten in Augenhöhe die Beter. Wie bei Uccello das Bedeutsame, so ist hier das Göttliche aus der Perspektive herausgenommen12. An Mantegnas Cristo in scurto hat Hans Jantzen in einer kurzen lapidaren Studie das Zugleich einer relativierenden Vermenschlichung und Versachlichung und einer neuen religiösen Sphäre des Andachtsbildes aufgezeigt 13 , und damit die wesentliche Fragestellung nach der Anwendung der Perspektive, nicht nur ihrer Konstruktion oder allgemeinen Bedeutung, eröffnet. Sie ist entscheidend für die Hochrenaissance. II. Als gegen 1500, mit Theodor Hetzer zu sprechen14, der Bildkörper zum Bildleib wird, verwandelt sich das Gefüge der Dimensionen, zusammen mit dem Wesen des 7

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ebda., Vita di Filippo Brunelleschi, vgl. die Besprechung bei Kurt Badt, Raumphantasien und Raumillusionen, Köln 1963, S. 79, die den Vorgang als vom (später so oft maß-geblichen) Fußboden ausgehend mißversteht. Vgl. die Behandlung des Quattrocento bei Badt, ebda., S. 78 ff. Pomponius Gauricus, De sculptura (Ausg. H. Brockhaus, Leipzig 1886, S. 192.). Leon Battista Alberti, Della pittura II., ed. Luigi Malle, Florenz 1950, S. 91 ff.; implizit auch sonst, so in De re aedificatoria L. IX, cap. V, f. CXLI; cap. VII ff. CXVI. Dazu Martin Gosebruch, „Varietas" bei L. B. Alberti und der wissenschaftliche Renaissancebegriff, Kunstchronik 9, 1956, S. 301 f. (vgl. auch ders., Ghiberti und der Begriff von „copia" und „varietà" aus Albertis Maltraktat, in: Lorenzo Ghiberti nel suo tempo. Atti del convegno internazionale di studi, 18—21.10.78, Florenz 1980, S. 269 ff.). Das besagt wörtlich Donatellos Kritik an Uccello, a. Anm. 5 a. O. Ebenso ist das Gegenteil möglich, auf Castagnos Bild mit dem hl. Hieronymus, vgl. hier unten S. 70. Hans Jantzen, Mantegnas Cristo in scurto (1927) in ders.: Über den gotischen Kirchenraum und andere Aufsätze, München 1951, S. 49 ff. Theodor Hetzer, Vom Plastischen in der Malerei, (1938), in: ders., Aufsätze und Vorträge II, Leipzig o. J., S. 131 ff., hier S. 138.

Perspektive in der Hochrenaissance

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Dargestellten und des Anschauens. Fläche und Tiefe des Bildes sind nicht mehr getrennte Kategorien, ohne ihre Bedeutung zu verlieren. Ein Raum entsteht, der „atmet"15. Das bedeutet nicht eine Zurücknahme der Entdeckungen der Frührenaissance, sosehr in dem neuen Raum als einem qualitativen manches von Mittelalter wieder auflebt. Es handelt sich nicht um das Quantum an Perspektive, wie es z. B. bei Mantegna (zugleich mit neuer Auffassung) stark anwächst, im späten Quattrocento bei Botticelli sehr zurückgenommen wird. Freilich tritt sie in der frühen Hochrenaissance trotz neuer Leibhaftigkeit nicht sehr als solche auf (siehe z. B. Fra Bartolommeo). Vor Werken der drei Hauptmeister in der Malerei der mittelitalienischen Hochrenaissance16 Lionardo, Michelangelo und Raffael, soll gefragt werden, wie das Thema Perspektive in neuer Anwendung erscheint, wie es sich neu anderen allgemeinen und speziellen Themen zuordnet. Lionardo Lionardo da Vinci nennt gleich am Anfang seines Buches von der Malerei diese „die Mutter der Perspektive, d. h. der Lehre von den Sehlinien." Bei deren Dreiteilung enthält aber nur der erste „Ii lineamenti de' corpi", also das, was etwa mit Albertis Sehpyramide zu projizieren wäre; die anderen Teile handeln von Farbund Luftperspektive (Nr. 6)17. So ist auch im ganzen Buch viel mehr von diesen als von jenem die Rede. Färb- und Luftperspektive betrifft aber Qualitäten, nicht nur die Quantitäten stetig zu- und abnehmender, meßbarer Abstände. Lionardo sagt es selbst (Nr. 31 c)18: „Questa (pittura) considera tutte la quantità continue e la qualità delle proportioni d'ombre e lumi e distantie nella sua prospettiva". So ist es auch bei Lionardos ausgeführten Bildern. Auf der Mona Lisa und der Anna Selbdritt ist ,Ferne' eine eigene Wesenheit, nicht nur das weiter Entfernte. Wie inhaltlich durch das Kosmische der Gründe, so als Erscheinung im trüben

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Kurt Badt, a. Anm. 7 a. O. S. 82. Es ist zu bemerken, daß Badt hier, ganz entgegen der Tendenz (vielleicht nicht der Grundabsicht) seines Buches, dem Raum Aktivität zuspricht. Die ganze Stelle, an der Badt von nach-quattrocentistischer Malerei spricht, lautet: „Dieser homogene, isotrope Raum, der an den Dingen sichtbar wird, ist nun nicht länger in passiver Bewegung (wie der konstruierte Raum), am Laufe seiner .Fluchtlinien' in die Tiefe gerissen, sondern sich selbst bewegend, in aktiver Bewegung. In einer häufig verwandten Redensart ausgesprochen: er atmet. Damit erhält seine Homogenität einen ganz neuen Charakter. Der Raum ist einheitlich als ein lebendiger". Wir können uns in diesem Aufsatz nicht mit dem Gesamt des Raums in der Hochrenaissance, nur mit Perspektive befassen, doch hat sie mit Badts obigen Aussagen zu tun, s. u. Meister der Hochrenaissance im weiteren Sinn wie Giorgione, Tizian, Correggio können hier nicht besprochen werden, aus Platzgründen und weil sie von anderen Voraussetzungen ausgehen. ' Lionardo da Vinci, Das Buch von der Malerei, nach dem Codex Vaticanus (Urbinas) 1270 hsg., üb. u. erläut. v. Heinrich Ludwig, Wien 1882 (Quellenschriften für Kunstgeschichte ... v. R. Eitelberger v. Edelberg, XV.) 1. Bd., S. 8 f. ebda. S. 64 f.

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durchleuchteten Medium entrückt, ist sie von eigener Qualität.19 Man kann es gut erkennen bei einem Vergleich mit Filippo Lippis Madonna mit Engel im Palazzo Pitti, wo schon die scharf geformte, zugleich abgetönte Felseinsamkeit hereinsieht, wo alles vario und doch im Grunde von gleicher Wesenheit und Präsenz ist, ohne Lionardos Qualität der Ferne. Bei dieser Trennung der Qualitäten sind aber bei Lionardo Figur und Ferne zugleich zusammen im „universalen Licht" 20 verbunden — noch nicht bei der Felsgrottenmadonna, wo man durch Felsspalten in eine getrennte Schicht der hellen Landschaft sieht.21 Die Perspektive ist also hier inhaltlich bezogen. Daß es auch seine Linearperspektive ist, hat Heinrich Ludwig schon 1882 beobachtet22: „In den vorzüglichsten Compositionen der Hochrenaissance ist es stets so eingerichtet, daß die perspectivische Wirkung zur Hervorhebung der Gegenstände und Figuren mitbenützt ist, in denen das Hauptinteresse der Composition ruht. Der Augenpunkt liegt entweder in der Hauptfigur oder ganz in der Nähe derselben ...; auch weisen mit größter Schärfe alle Hauptfluchtlinien auf diese Stelle hin ... So ist es in Rafaels Disputa und in der Schule von Athen, so in Lionardo's Abendmahl ... Wir wollen ein solches Verfahren ... die Durchführung einer perspectivischen Idee der Composition nennen, zum Unterschied von der gewöhnlichen Richtigkeit der Construction ..." Inhaltlich ist die Perspektive23 bei Lionardo auch in der Figurendarstellung. Stellung und Bewegung sollen in Historien möglichst abwechseln, die gleiche Bewegung soll sich in einer Figur nicht wiederholen (Nr. 280, wie 365 bei Gesichtern) oder in verschiedenen Ansichten gezeigt werden. Das bedeutet zunächst höchste varietà, auch der Ansichten. Sehr eindringlich mahnt er bei den Bewegungen das decoro zu wahren, die Angemessenheit an die Lebensalter also (Nr. 299) sowohl wie die an den animo (Nr. 58, 367 u. ff.). Wir brauchen das hier nicht ausführen. Dabei ist animo offenbar weiter zu fassen; neben den atti mentali, „innere Gemütsbewegung" (Nr. 371)24 und „addenti mentali" „Gemütszuständen" (Nr. 358)25 gibt es „quello, che la figura a nel' animo" (Nr. 294), sicher richtig 19

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Piero della Francesca, der am meisten im Quattrocento als der .atmosphärische' Maler berühmt ist, hat kein Sfumato, das alles umfließt und vereinigt, sondern eine abgestufte Helle, die die Einheit enthält. Man blickt gleichsam in einen Kristall, in dem alles verklärt und geklärt zusammen leuchtend und für sich zu sehen ist. Selbst die Nebel in den Hintergründen der Monte-feltro-Bildnisse sind, anders als Lionardos Sfumato, eigene, im Licht erhobene Dinge. a. Anm. 17 a. O. Nr. 110, S. 160f.: „lume universale dell'aria in campagna"; Nr. 498, S. 448 f. „lumi universali". Ludwig übersetzt mit „allgemeinem Licht, wie es im Freien ist" und „allgemein verbreitetes ... Licht". Vgl. unten S. 67. Ähnlich, wenn auch nicht durch eine Perspektive sondern im Bild bedingt, ist schon das Gesicht der Ginevra de' Benci .hell', nicht nur heller als die nächste Umgebung, und hat es am Charakter der Ferne, hier eines Bereichs für sich, Anteil. a. Anm. 17 a. O., III. Bd., Commentar, S. 65. vgl. ebda. S. 70: „Man verstand zur Zeit der Renaissance unter Perspektive im allgemeinen die Lehre vom Sehen und von Allem, was damit zusammenhängt." Wir müssen uns, auch hier, näher an den verengten Begriff halten." a. Anm. 17 a. O. S. 370 f. ebda. S. 314 f.

Perspektive in der Hochrenaissance

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übersetzt mit „was die Figur im Sinn hat" 26 . Diesem Sinn entsprechen einfache und zusammengesetzte Bewegung (Nr. 354 f.), wobei für diese eine Biegung abwärts und seitwärts zugleich verlangt wird (che per alcuna operatione si richiede piegarsi in giù et in traverso in un medesimo tempo)27, also eine dreidimensionale Bewegung. Sie kann höchste Möglichkeiten des Leibes zeigen. So heißt es (Nr. 279), „von der äußersten Art (della somma qualità) der Bewegung" (che habbino attentione alle loro operationi, le quali sieno fatte con prontitudine) sei die „Behendigkeit der Kampfwuth", „dann zeige sich diese Figur in höchster Kraftanspannung und Leidenschaft zu solcher Action." 28 Von zwei beschriebenen und auch gezeichneten Figuren hat diejenige „den Vorrang an Kraft der Bewegung", die, in starkem contraposto vollräumlich gegeben, vorwärts schreitend und blickend, nach hinten ausholt. Trotz aller Richtung der Bewegung bleibt die Möglichkeit, daß „er nachher rasch und bequem zur Stelle zurück(kehrt), wo er seine Last aus der Hand gehen läßt". „So hat auch der Mensch, wenn er sich nicht wendet, dreht und biegt, keine Gewalt" 29 . Kraft von innen und allseitige Drehung frei im Raum, die sich der Perspektive des Körpers bedienen muß, stehen im Zusammenhang. Lionardo hat Figuren dargestellt, in Malerei und Zeichnung, die man universal nennen kann. Das Wort hat er selbst auf den Künstler, wie er ihn möchte, angewendet (Nr. 56, 60), und seine Tätigkeit erstreckt sich auf alle Gegenstände, auf atti und fatti (Nr. 73) und auf die Weisen, das alles zu sehen. Das Wort universal ist zu einem noch nicht erschöpften Schlagwort für die Großen der Hochrenaissance geworden. Man kann es aber auch auf Figuren und Gruppen Lionardos anwenden, wie vor allem auf die zentrale allseitige Gruppe der Anghiarischlacht, die Leda 30 (Abb. 41) und die Anna Selbdritt — noch nicht die Grottenmadonna. Mit ihrer leibhaften einheitlichen Fülle, wie sie das späte Quattrocento so nicht gekannt hatte, und mit kontinuierlicher Drehung und ausgeglichenen Gegensätzen erfüllen sie alle Dimensionen, und verbleiben sie doch in ihrem eigenen Raum, der ein Zurücknehmen des Ausgreifenden gestattet, einer ,Welt' für sich.31 Sie steht im „allgemeinen" Licht, das Lionardo selbst das „universale" nennt (vgl. o.)32. Nicht nur das Lächeln der Mona Lisa im Sfumato ihres Gesichts korrespondiert mit dem 26 27 28 29 30 31

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ebda. S. 362 £. ebda. S. 360 f. ebda. S. 298 ff. Schlachten werden ja auch verbal von Lionardo öfters geschildert. ebda. Dort Diskussion textlicher Fragen, die uns hier nicht beschäftigen können und müssen. Kopien und Zeichnungen, auch der Knienden, die eine Drehung im Ausladen noch mehr erlaubt. Sehr Bekanntes muß hier gesagt werden. Eine Beschreibung im einzelnen ist hier doch nicht möglich und wird darum nicht versucht; statt dessen, der Begrifflichkeit im Wort wegen, der Rückgriff auf das Malerbuch im Vergleich zu Lionardos Kunst. Soeben erschien: Leonardo da Vinci, Anatomie. Physiognomik, Proportion und Bewegung, Kölner medizinhistorische Beiträge, Bd. I, Köln 1984, worin für unser Thema besonders wichtig sind die Aufsätze von Kenneth D. Keele, Marielene Putscher und Sigrid Braunfels-Esche. Sie konnten hier leider nicht mehr berücksichtigt werden. Für unser Thema bringt bes. Braunfels-Esche mit der Untersuchung des Codex Anyghens neue Gesichtspunkte. Mit dem Gleichklang der Worte wollen wir die Sachen nicht pressen, aber zufallig ist er nicht.

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geheimnisvollen Dunst der Landschaft, sondern ebenso ihr allseitiger geschlossener Aufbau mit dem, was als Ferne ein Gleichnis des Alls ist. Die (aktuell oder potenziell) universale Figur hat größte Bedeutung für Michelangelo und Raphael und Einfluß auf andere gehabt; zum universalen Lichtraum gehört sie bei Lionardo. Immer ist Perspektive, einst ein eigenes Thema, einem inhaltlichen und qualitativen Thema zugeordnet: so der Ferne, der Hauptfigur und, als kontinuierliche Verkürzung, der Figur als von innen her universaler. Michelangelo Auf dem Bild der Sintflut an der Decke der Sixtinischen Kapelle, c. 150833, flüchtet ein Zug von Menschen aus einiger Entfernung auf eine Anhöhe vorn in der linken Bildecke. Dort hat ihr Weg ein Ende. Figuren sind nach rechts oder nach hinten gewendet, gelagert oder immer mehr aufgerichtet; einer ist den Stamm eines dürren, weit nach rechts ausgreifenden Baumes hinaufgeklettert und blickt herab, dann ist für alle Schluß. Auch links, überschnitten, hält eine steile Gruppe jede Bildbewegung auf. Wie Rudolf Kuhn erkennt 34 , besteht die Menge aus zwei Komplexen: das ganz geschlossene ,Gefüge' links oben und die Herankommenden. Sie sind durch eine Stufe im Boden getrennt, die die Beine dieser Figuren zum Teil verdeckt und sie nach hinten und unten absetzt. 35 Doch schließen beide nicht nur eng auf; die Frau mit den Kindern unter dem Baum und hinter ihr der erste des Zuges, der eine Frau trägt, stimmen überein als aufrecht, links gewendet, mit schrägen Armen und Rundungen oben, in Schreitstellung auch noch oben im Stehen. Hier schaffen die Figuren selbst Perspektive zur Nähe hin, entgegen dem Einblick ins Bild als Fenster (Alberti) 36 . Sie sind nicht nur Gesehene sondern aktiv auch im Bezug zur Bildtiefe. Der Zug geht vom fast Stillebenhaften zum immer mehr Bedeutsamen nach links und oben, entgegen der Richtung, die wir nach Wölfflin in jedes Bild hineintragen 37 , und hat damit mehr Nachdruck. Nur bei einer Lesung von rechts hinten her wird die Bedrängnis oben links ganz spürbar. Wie er mehr als die Hälfte des Vordergrundes und zuletzt seine Höhe einnimmt, bestimmt der Zug das ganze Bild.

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34 35

36 37

Ausführliche Analyse des Bildes bei Rudolf Kuhn, Komposition und Rhythmus, Berlin—New York 1980, S. 141 ff. Wir können uns hier nur zum Teil darauf beziehen und müssen uns begnügen zu unserer Teilfrage, nach der Perspektive, etwas beizutragen. ebda. S. 142 ff. Boden erstreckt sich ganz vorn, rechtshin abfallend, fast ungegliedert; sonst wird er von den Figuren selbst verdeutlicht. Für die Renaissance waren ja die Sehstrahlen auch noch vom Auge zu den Dingen hin ausgesendet. Sie bedeutet nicht eine bestimmte Lesefolge für jeden Fall, sondern eine Richtung auch im simultanen Blick (einen .unsichtbar eingebauten Pfeil'). Sonst kann z. B. der Zug der Sintflut sehr mißverstanden werden.

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Ein Vergleich mit Uccellos Sintflut aus Sta. Maria Novella zu Florenz, c. 1446 (48), liegt nahe. „Arche und Gegenarche sind einander symmetrisch in die Tiefe fluchtend gegeben, ein Areal geordnet-meßbarer Distanzen erschließend", bis in die vielgeteilten Mazocchio-Ringe als abstraktes, selbständiges System von Maßeinheiten, es gibt „in diesem Areal aber gerade keine Wohlordnung, sondern Wirrnis, wiedergekehrtes Chaos" 38 . Vorgegebene Fluchtlinien, die die Arche verdoppeln, laufen zu einem vorgegebenen Horizont. Die Arche ist also, anders als bei Michelangelo, mit ihrer geometrischen Form ein Faktor der Perspektive, Perspektive als eigenes Thema; bei Michelangelo schließt die Arche hinten ruhig den Raum voll Menschen ab, geht auch die Wasserwüste noch weit über sie hinaus. An ihr und im Boot sind am meisten Kampf und Unruhe. Lebendige Wesen bestimmen Raum und Perspektive und sind als solche Inhalt für Arche, Boot, Insel, Zelt, Boden, Baum, gefährdet von der ,Leere' des Wassers. Sündenfall und Austreibung. — Auf Masaccios Fresko der Austreibung von Adam und Eva in der Brancacci-Kapelle in Florenz schreiten die Voreltern, nach der Tiefe gestaffelt; ihre Körper sind klar je von einer Seite zu sehen. So entschieden sie schreiten — Adam in weitem, Eva in kurzem übergreifendem Schritt — so entschieden tun sie ihre Gefühle kund. Der rotgewandete Engel über ihnen kommt annähernd in derselben Schräge wie sie aus der Tiefe; seine Arme schlagen einen Bogen über ihnen. Bei Michelangelo gehen Adam und Eva nebeneinander in merkwürdig retardierender Bewegung. Fortschreiten, Zurückblicken, matte Abwehr sind in eins gefaßt. Wie das die Leiber bereichert und zu mehrdimensionalen komplexen Wesen macht, kann hier nicht geschildert werden; diese künstlerische Bereicherung wirkt tief in das spätere Lebenswerk des Malers und Bildhauers Michelangelo hinein. Der Engel, in stärkerem Rot als bei Masaccio, stößt direkt aus der Tiefe vor, dann sein Schwertarm waagrecht in der Bildfläche zu Adams Hals, parallel zu dessen schwach erhobenem Arm und seinem Oberkörper. Man kann sagen, der Engel sei ganz Funktion, sein Auftrag selber. Bei Masaccio sind alle Figuren, im Engel und Menschen bei großer varietà, von gleicher Grundbefindlichkeit, und so ist Perspektive allgemein angewendet. Bei Michelangelos Engel dient sie einem ganz besonderen Inhalt, wird sie aus einem eigenen Thema zur Funktion eines anderen Themas und in diesem, dem plötzlichen Erscheinen aus Gottes Auftrag, wird sie für diesmal absolut gesetzt. — Es ist hier nicht zu schildern, wie beim Sündenfall Eva, gerade durch die besondere Anwendung der Figuralperspektive, als Verführte zugleich eine sinnlich Verführende ist, in Leib, Farbe und Haltung im Raum ganz anders als die der Vertreibung, neben dem männlichen An-sich-raffen des Adam. Gott erschafft Sonne, Mond und Pflanzen (Abb. 38). — Gott selber, der mit ausgestrecktem Arm die beiden Gestirne schafft, erzeugt zugleich allseitig Raum,

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Kuhn a. Anm. 33 a. O. S. 24.

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wie er, im Crescendo seiner Leiblichkeit, aus der Tiefe hervorkommt. Links ist er von hinten zu sehen: er hat Sonne und Mond auf ihren Platz gesetzt — und schon fliegt er weiter, in rastlosem Schaffen 39 . Mit der anderen Ansicht der gleichen Gestalt wird das allseitige Erzeugen von Raum fortgesetzt, und zugleich geht Zeit aus diesem Wirken hervor. Im Quattrocento war schon einmal Gott aus der Tiefe hervorstoßend gezeigt worden: als Gnadenstuhl auf Castagnos Fresko mit dem hl. Hieronymus in SS. Annunziata zu Florenz. Er stößt, als Erscheinung, abrupt vor, ist gradlinig verkürzt; mit leichten seitlichen Abweichungen der Häupter von Gottvater und Christus. Die Gruppe ordnet sich einer Kategorie ein, der Senkrechten in die Raumtiefe. (An die „Räume der unterschiedlichen Richtungen" im Mittelalter 40 wird man noch erinnert.) Michelangelos Gestalt Gottes ist nach allen Seiten zugleich bewegt, wobei freilich das Hervorkommen oder in die Tiefe Dringen voransteht. Sie erschafft sich Perspektive und Raum selber, als universale Figur. In fast allen Gestalten der Sixtinischen Decke klingt der Gedanke der universalen Figur an 41 , am freisten in den Ignudi 42 , die jeweilige Inspiration gestaltend in Propheten und Sibyllen, auf die Handlung bezogen in den Historien; er gipfelt im ersten der großen Bilder, wo Gott, sich drehend und um sich greifend, Licht und Finsternis scheidet. (Perspektive wird hier nicht besonders bemüht.) Die Propheten und Sibyllen, von dem wesentlich im Profil gegebenen Zacharias an, werden (werksgeschichtlich) immer mehr zu Variationen, mehr: zu personalen Ausprägungen der universalen Figur 43 . Das bedeutet hier ein Zweifaches: man könnte es nennen die Immanenz der Transzendenz 44 . Jede Figur kreist vielfaltig in sich, ist eine Welt, und zugleich ist gerade dabei etwas mitgegeben, das über sie hinausreicht. Wir meinen nicht nur die zwei ,Prophetengeister' hinter jeder, sondern was in der Figur selbst vorgeht 45 : das entflammte Aufschauen der Delphica ist von ihrem inneren Kreisen getragen, bei Ezechiel brechen alle seine immanenten Gefüge aus, hin zum Himmelzeigen des Geistmädchens, Esaias verinnerlicht, im wörtlichen Sinne, die Botschaft des Geistwesens zu einem unermeßlich reichen Ineinanderspiel von Leib und Gewand, aus dem sich eine Hand (eingebogen, mit zeigendem

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Die Formulierung bei Rudolf Kuhn, Die sixtinische Decke, Berlin—New York 1975, S. 19: „Teilmoment eines Vorübergangs" scheint mir zumindest mißverständlich. August Nitschke, Revolutionen in Naturwissenschaft und Gesellschaft, Stuttgart—Bad Cannstadt 1979, S. 33 ff. Am zurückhaltendsten bei den späten Vorfahren Christi und dem Volk Israel auf der Rast, bloß Menschen also, in den Zwickeln und Lünetten. Nach Rudolf Kuhn, Michelangelo, Die sixtinische Decke, Berlin—New York, 1975, S. 52ff. wohl Engel; im Gebaren, dienend und frei spielend, trotz ihres Alters eigentlich ,Putten'. Vgl. Wilhelm Messerer, Kinder ohne Alter, Regensburg 1962, bes. S. 26 ff. Ein Vergleich mit Lionardo kann hier nicht durchgeführt werden. Vgl. Wilhelm Messerer, Verkündigungsdarstellungen des 15. und 16. Jahrhunderts als Zeugnisse des Frömmigkeitswandels, Archiv für Liturgiewissenschaft, Bd. V.2, 1959, S. 362 ff. Kuhn a. Anm. 33 a. O. S. 49 spricht von „inneren Eingebungen".

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Finger) und das zugleich in sich und fühlsam nach außen gewendete Gesicht, mit halbgeschlossenen Augen, erhebt. Die Erithrea hat ihr Gegenüber, das Buch, in dem sie gespannt liest, in ihre Gesamtgestalt hereingenommen, auch in der Farbe. Figurale Verkürzungen dienen solchen universalen Figuren. In einigen (werksgeschichtlich) späten Propheten und Sibyllen treten sie mehr hervor und gehören sie zur speziellen Charakteristik der jeweiligen Gestalt, nicht nur zum allgemein Universalen. Die Persica wendet sich in den Schatten in der Tiefe ihrer Nische, wo sie im Schreiben in dem dicht vorgehaltenen Buch versunken ist. Daniel, hinter den mächtigen Knien und der Kante des Buchs, in seinem hellen Gewand, ist abgesetzt vom Vorne, er gehört der still aufmerksamen, breit in zwei Pole auseinander gelegten Tätigkeit seines Lesens und Schreibens. Die Libica (Abb. 40) legt, sich zurückdrehend, ein großes Buch aufgeschlagen auf das Bord im Hintergrund; 46 indem sie sich mit gesenktem Blick wieder nach vorn wendet, bedenkend was sie gelesen hat, entsteht ein ungemeiner Reichtum der Gestalt an inneren Vorgängen, in körperlicher Entspannung, den man keineswegs als anatomischen Selbstzweck verstehen darf. 47 Wie die Libica sich vom schon entfernten Buch, der objektivierten Botschaft, löst und sie in einem reichen Vorgang in sich hineinnimmt, ist das Thema, dem sich auch Perspektivisches, vor allem der Gegensatz Buch — Figur, ganz einfügt. Jonas, über dem Altar mit dem Kruzifix ein Typus der Auferstehung, beugt sich weit in scurto zurück, aufschauend, aufgerissen Auge und Mund, von Gott getroffen und mit ihm rechtend mit den Händen im traditionellen Gestus des Argumentierens. Die Glieder streben auseinander. Die Figur ist wiederum universal, aber sie ist jetzt erst (zum Ende von Michelangelos Arbeit an der Prophetenreihe) aufgebrochen zu dem hin, was nicht die Figur ist. Perspektive, auch hier gänzlich integriert, kommt jetzt zu neuer Wirksamkeit aus dem anschaulichen Thema heraus. Aus der Decke sei nur noch die Figur des sog. gekreuzigten Haman aus einer der vier Pendentivs besprochen (ein Typus der Kreuzigung 48 ). Esther hat die Machenschaften des Günstling Haman, der die Juden ausrotten wollte, vor dem König Achaschwarosch enthüllt, jener wird hingerichtet. In der Mitte des Pendentivs, zwischen anderen Szenen der Geschichte, durch die ganze Höhe des Bildes hindurch, sieht man Haman nackt an den Pfahl gehängt, in stärkster, wechselnder Verkürzung des verdrehten Leibes. Die Beine scheinen in der Luft zu hängen, eine Lösung Michelangelos, der von der Leibesmitte her gestaltet; das rechte kommt 46

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Das Umgekehrte, ein Aufnehmen des Buches, kommt weder vom Physischen her (es würde viel mehr Kraft erfordern) noch von der Richtung der Aufmerksamkeit der Libica her in Frage. Heinrich Wölfflin, „viel Lärm um nichts", in seinem sonst so erhellenden Buch „Die Klassische Kunst", Basel 1898, 1948, S. 77. Vgl. meine Besprechung von Rudolf Kuhn, Michelangelo, Die sixtinische Decke, Berlin—New York 1975, in: Das Münster, 1977, S. 247 f., hier S. 248. Darstellungen der Abwehr am Eingang der Kirche sind häufig.

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nach vorn, vom linken, eingewinkelten, bleibt der Fuß im Schatten. Der zurückgedrehte mächtige Rumpf, ein komplexes Gefüge bis in das kleinste qualvolle Spiel der Rippen und Muskeln, ist Ausgang der ausgereckten Glieder und Zentrum des schmerzlichen Erlebens. Der rechte Arm ist in die Tiefe, der linke ganz nach vorn gestreckt, wobei die Hand, mit einzeln verkürzten Fingern, das halbe Gesicht am gespannt seitlich geführten Kopf verdeckt. Daß eine solch verrenkte Haltung aus der Tradition der Schächerkreuzigung kommt (Rud. Kuhn 49 ), wird zutreffen; es erklärt noch nicht die sehr auffallige Rolle der Perspektive. Die verkürzte Figur verliert an Würde 50 , gewinnt aber noch an unheimlicher, vielseitiger Mächtigkeit. Für den Beschauer hat sie sich selber mit der vorgestreckten Hand blind gemacht. Bei voller Spannweite der Arme, deren Eindruck die Verkürzung sogar noch verstärkt, nimmt die Gestalt im Bild nur einen Streifen ein. Es entsteht die größte Spannung zwischen dem unwillentlichen ,freien' Ausfahren und dem Zusammenschluß. Vergleichbar ist unter Michelangelos Skulpturen von den zwei marmornen ,Sklaven' des Louvre der heroische, um 1513, bald nach den Malereien der sixtinischen Decke entstanden. Nicht nur die Torsion als solche spricht in beiden Werken, auch ihr Gebundensein. Der Gefangene, nur mit dünnen Bändern gefesselt, ist in sich selbst gefangen, je mehr er dagegen angeht. Gibt dafür bei dem Bildhauerwerk der Blick das Grenzmaß an, so in der Malerei mit Haman die Projektion, der Streifen. In ihm kommt es zur größten Verdichtung des Ausfahrenden. Der .Aufschrei' der blinden Qual wird nicht gestillt, aber in einem Innen der deutenden Gesamterscheinung behalten. Bald geschieht es dem Bildhauer Michelangelo, daß sich die plastischen Kräfte nicht mehr nach außen, sondern ins Innere wenden. Was man vom Maler Michelangelo weiß, gilt auch in den hier besprochenen Figuren und Szenen. Sie geben die Nähe zur Bildhauerei zu erkennen. Aber sie sind alles andere als abgemalte Skulpturen. Die gezeigte Anwendung der Perspektive, wie vieles andere, ist ganz in der Malerei gedacht. — Man könnte weiterfahren. Schon ein flüchtiger Blick zeigt, wie beim Jüngsten Gericht die Wand an vielen Stellen wie aufgerissen ist, wozu Verkürzungen mithelfen, in der Capella Paolina aber eine Dichte des Beieinander entsteht, die man formal eine Fläche nennen mag, trotz z. B. dem in die Tiefe davonsprengenden Pferd. Das könnte aber nur in einer Gesamtuntersuchung dieser Werke einsichtig werden. Raffael Raffaels Galathea in der Farnesina zu Rom (Abb. 42), um 1513 für Agostino Chigi gemalt, läßt sich in den Motiven des Standes und der Drehung des Körpers

49 50

a. Anm. 33 a. O. S. 44. Vgl. Hans Jantzen über Mantegnas Christus in scurto, a. Anm. 13 a. O.

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mit Lionardos (bekanntlich nur in Kopien erhaltenen) stehender Leda (Abb. 41) vergleichen und wäre sicher ohne deren Vorbild nicht denkbar. Manches an den Unterschieden geht mit den verschiedenen Inhalten, ja mit Dingen der Sittlichkeit überein 51 , ist aber aus ihnen allein nicht zu erklären. Verschieden ist nicht zuletzt das Verhältnis des Körpers zu seiner bildhaften Projektion. Zwar muß jedes Bild, das Körper oder Tiefe fingiert, auf deren SichAbzeichnen in der ,intersegatione', dem Bild, bedacht sein; aber dabei können Fingiertes und Fiktion doch in sehr verschiedenem Verhältnis zu einander stehen; bei Raffael gewinnt gegenüber dem Körper das Erscheinen im Bild einen gewissen Eigenwert — freilich keine Selbständigkeit. Lionardos Leda, als organische Einheit, stellt sich in ihrer Drehung klar da; z. B. sind beide Brüste, hinter dem Oberarm gestaffelt, zu sehen. Raffaels spätere Figur ist mehr im Tiefenraum aufgebaut; man sehe den Abstand von der rechten zur linken Schulter, das sich vorschiebende linke Knie. Aber das Verhältnis zur bildhaften Erscheinung ist komplizierter als bei der Leda. Die Arme der Galathea, die ausgestreckt die Zügel führen, haben keinen leibhaft-fühlsamen Bezug wie die der Leda, und ihr Gegengewicht ist nicht wie bei dieser die rechte Hüfte und das rechtsgeneigte Haupt, sondern das flatternde Tuch, dem Haupt, Blick, Haare folgen: ein optisches Gegengewicht, in anderer Raumtiefe. Das Tuch umzieht den Körper nach hinten unter der rechten Hüfte über die linke Hüfte und bildet dabei, mit der Partie hinter dem Körper, ein schlankes Oval als eigenen Formwert. In Lionardos Leda reagieren lauter Glieder aufeinander; so entsteht eine mythische Figur der liebenden Hingabe. Wenn ihre rechte Hüfte von einem weißen Streif gesäumt und herausgehoben ist, so ist das zugleich das leibhafte Umfaßtsein ihrer ganzen Gestalt vom Flügel des Schwans. Galatheas Kontur wird begleitet vom Tuch, variierend im Abstand, dahinter. Bei ihr wie bei den Seewesen, die sie in räumlichem Kreise begleiten, kommt es zu dem unaufhörlichen kurvigen Ineinanderspiel der Formen im Bild, bei durchaus organisch aufgefaßten Figuren. Theodor Hetzer 52 hat dieses Spiel beschrieben, es ist eine einzigartige Gabe des mittleren Raffael. Wenn der späte, so in der PsycheGalerie der Farnesina, ganz auf die Körperlichkeit setzt, so gilt Vasaris Urteil: sie

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Leda, Attributives wie den Schwan und ihre Kinder statuarisch zusammenfassend, ist in sich selbst gewendet und versunken; der Kopf mit dem lächelnd gesenkten Blick drückt das aus, während er sich zugleich auf die liebende Annäherung des Zeus in Schwansgestalt bezieht und den Kindern zuwendet. Die Berührung des Schwanenhalses macht die von ihrer Umgebung erläuterte Einzelfigur doch zugleich zum Teil einer Gruppe. Für Galathea spielt Szenisches eine größere Rolle, indem sie doch herausgehoben ist. In der Fahrt auf dem von Delphinen gezogenen Muschelboot beugt sie den Oberkörper und streckt sie die Arme vor, flattert das Tuch, geht der Blick zurück, wohl zu Polyphem. — Leda, der die Liebe des Zeus gilt, ist völlig nackt. Bei Galathea, teilweise vom Tuch umhüllt, verdeckt der Arm die Brust.

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Theodor Hetzer, Gedanken um Raffaels Form, 2 Frankfurt a. M. 1957.

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„genügen nicht ganz, denn es fehlt ihnen die Grazie und Weichheit, die Raffael eigen war". 5 3 Projektion ermöglicht Raffael also, anders als beim Haman Michelangelos mit seiner Verdichtung der Gestalt, ein vielfaches Spiel der Bezüge in der Figur und zu anderen hin. In einer großen Komposition wie der Disputa hilft sie den Nodus der beiden Sphären zu zeigen: die Wolkenbank, auf der Gestalten des Alten und Neuen Bundes im Halbkreis um die Deesis sitzen, bleibt überall auf gleicher Höhe; im Bild aber senkt sie sich in leichtem Bogen zum Horizont hin und nähert sich so der Monstranz, in der der Christus im Himmel auf dem irdischen Altar gegenwärtig ist. Daß ein konzentrisches Komponieren dem mittleren Raffael eigen ist, in den beiden ersten Stanzen und Gleichzeitigem, das hat der Verfasser zu zeigen versucht 54 . Das vielfältige Bild erfüllt sich in seinem inneren Einschluß. Dieser muß nicht viel mit Perspektive zu tun haben; er kann eine Form im Vordergrund sein: die Glorie um Christus in der Disputa; die Hauptfigur selbst kann ihn darstellen: Apoll im Parnaß und Prudentia, der Justitia beigegeben. Der Lichtschein des Engels auf Petri Befreiung (Abb. 39) ist wohl in der Wirkung ein Vordergrundmotiv, doch als Projektion: hier führen die seitlichen Stufen bis zur Vorderfront des Gefängnisses hinauf und nach hinten. Aber, da dieses direkt über der Kante der wirklichen Fensternische gemalt ist, vor allem durch Kraft und Ausdehnung ihres Strahlens hinter dem Gitter, steht die Erscheinung wie unmittelbar vor uns. Auf der Schule von Athen, der Messe von Bolsena und im Heliodor liegt die sammelnde Form im Hintergrund, sie wirkt von da in den Vordergrund. Daß das Sammelnde hinter der Hauptfigur des Vordergrundes liegt, kommt von Lionardos Abendmahl 55 ; aber während hier Christus, mit schräg ausgestreckten 56 Armen,

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Giorgio Vasari, Vita di Raffaello di Urbino. Es geht weiter: „indes war das zum großen Teil dadurch veranlaßt, daß er sie nach seiner Zeichnung von anderen malen ließ": zum Teil. Nicht nur der Parteigänger Michelangelos, sondern ein kluger Beurteiler spricht aus Vasaris Satz: „Wäre Raffael bei dieser seiner Manier geblieben ... so hätte er sich nicht des guten Namens ... teilweise beraubt." Wilhelm Messerer, Eine Bildform in Raffaels Stanzen, Festschrift Wolfgang Braunfels, Tübingen, 1972, S. 247 ff. Vgl. ebda. S. 255; s. Kuhn a. Anm. 42 a. O. S. 92. Herbert von Einem, Das Abendmahl des Leonardo da Vinci, Köln, Opladen 1961, S. 61 ff. Danach kündigt Christus nicht nur, wie allgemein bekannt, den Verrat des Judas an, sondern mit den ausgestreckten Armen weist er auf das verwandelte Brot und den zu verwandelnden Wein hin. „Mit leisem Hinweis auf das Mysterium bietet sich Christus als Opfer dar. Das Menschliche und Göttliche seiner Natur sind unnachahmlich vereinigt worden". Von Einems These ist widersprochen worden. Vielleicht ist er nicht weit genug gegangen, wenn er schreibt (S. 63): „Während die Jünger allein von dem Unheil, das ihnen droht, bewegt sind ...". Bei den äußeren Dreiergruppen ist der Grund der allgemeinen Erregung schwer auszumachen. Die Gruppe rechts von Christus bezieht sich deutlich auf den Verrat, das Zurück des Judas, das Vorstoßen des Petrus. Gegenüber links von Christus braucht das Zurücklehnen mit ausgebreiteten Armen kein Erschrecken, es könnte auch freudiges Erstaunen bedeuten; darüber, in dem „Drängen auf Christus zu", liegt deutlich Hingabe (s. o. S. 60). Entscheidend ist der Apostel mit erhobenem Zeigefinger. Ihn hat nicht nur, aus dem Bogen des Arms heraus zeigend, Lionardos Johannes der Täufer, sondern auch, knapper, die hl.

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von der heterogenen Form des Fensters dahinter umgriffen wird und über sie hinausreicht 57 , schmiegt sich der hintere Bogen fast ganz um Plato und Aristoteles 58 ; Piatos nach oben weisende Hand geht ihm entlang. Die lichte Öffnung hinten und die deutlich georteten Figuren bilden zusammen einen Bereich, dessen Ort nicht mehr im Schauplatz, nur noch vom Bild her zu bestimmen ist. Dieser Bereich ist, insofern, ,Erscheinung'. Das Lichte kennzeichnet ihn besonders. Licht umfaßt auch das ferne Bogensegment auf der Messe von Bolsena, goldenblaues Licht erfüllt das Allerheiligste in der Tiefe des Heliodor, in dem der Hohepriester, nicht als Zentrum, 59 zur Bundeslade ganz rechts hin betet. Schon die Projektion einer Ferne ist als solche, gegenüber den greifbaren Dingen vorn, etwas Erscheinendes; lichterfüllt, hat sie Ähnlichkeit mit dem (nach der Gesamtkomposition unperspektivischen) Engel im Lichtkreis auf der Befreiung Petri. Ungreifbares als Ferne oder Licht ist ins Bild eingelassen. Wozu aber dient hier Perspektive? 60 Sie sammelt bei Raffael die Fülle der Dinge, an der gerade Raffael gelegen war 61 , macht sie zur Welt 62 . Sie ist Raffaels besondere Art, die Varietà der Dinge zum Universalen zu fügen, universale Figuren wirken in einem universalen Bild. Oft ist es vom mittleren Einschluß als etwas Erscheinungshaftes gedeutet. Später, auf dem Borgobrand, ist der segnende Papst nicht in der Mitte, auch kompositionell ist er es nur in seinem kleinen Umfeld. Er ist Ziel der Gesten einiger Figuren vorn 63 und weiter hinten und entspricht ihnen durch sein Segnen. Bildeinschluß ist dieser ferne Endpunkt nicht mehr, in einem Bild, wo das sich Anschließen in Reihen zum Hauptprinzip geworden ist. Im letzten Bild, der ,Verklärung Christi', weisen auch energische Gesten in die Tiefe (Perspektive als Inhalt des Handelns); dort ist wieder Erscheinung, im wörtlichsten Sinn — nicht

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Anna auf dem Karton der Anna Selbdritt; bei Raffaels Schule von Athen der Plato, der Aristoteles gegenüber nach oben (zum .Reich der Ideen') zeigt, auf Michelangelos Kreuzigung Petri in der Cappella Paolina in der Gruppe über Petrus der, welcher dem Empörten mit dem einen Finger vor dem Mund Schweigen bedeutet, mit dem anderen erhobenen den Sinn des Martyriums, der ,oben' ist. Der Apostel von Lionardos Abendmahl kann nur sagen, daß es hier um ,oben', um himmlische Dinge geht. a. Anm. 54 a. O. S. 255. Daß Aristoteles, mit seinen energischen Gesten, in der Leibesmitte sich etwas über ihn ausweitet, ändert daran nichts. In der Mitte des Bildes ist er weder im geometrischen Sinn noch von der, konzentrischen, Komposition her. Raffael, ein Könner der perspektivischen Konstruktion, hat sie Fra Bartolommeo beigebracht (Vasari), von dem er selbst weitgehend in den ,Stil' der Hochrenaissance eingeführt wurde — Perspektive und Hochrenaissance also als zwei verschiedene Dinge, die erst zueinander zu führen waren. Vasari, Vita Raffaels. Ausführlicher a. Anm. 54 a. O. S. 252. Zentrum der Figuren im Vordergrund ist am ehesten die kauernde Frau, von vorn zu sehen, von den in die Tiefe zum Papst hin Gewendeten dicht umgeben. Gerade so ist der Papst deutlich zur Seite gerückt.

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mehr so wie in den Stanzen dem vordergründigen Bildgeschehen immanent, sondern darüber und dahinter. Licht, fern und erhoben, ist der Bereich um Christus von eigener Qualität, zu der jetzt Entrückung gehört. III. Perspektive war im Quattrocento ein eigenes Thema. In der Hochrenaissance dient sie anderen Themen, sie hat teil am Konkreten und inhaltlich Erfüllten der Gestalten und des Geschehens. 64 Vor allem wirkt sie mit am Universalen der Figur und des Bildes, dem neuen Gesamtthema. Oft ist sie in besonderen Themen als aktive oder enthebende Kraft wirksam. Sie wird jeweils aus einem Meßsystem zur Qualität. Aber damit ist sie doch nicht, im philosophischen Sinne, .aufgehoben'. In der, oft Manierismus genannten, Spätrenaissance und im Barock war ihr noch eine große Zukunft beschieden.

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Daß eine Figur der Hochrenaissance sich weniger dem Tiefenraum einfügt, als daß sie ihn erzeugt, hat im Mai 1984 Erwin Mitsch in einem Vortrag in Salzburg ausgesprochen.

E R I C H STEINGRÄBER

Anmerkungen zu Raffaels Bildnissen des Ehepaars Doni Obwohl der über vier Jahrhunderte unbestrittene Ruhm des „Divino" seit dem radikalen Bruch mit der künstlerischen Tradition am Anfang unseres Jahrhunderts, mit der Absage der modernen Kunst an „klassische", d. h. normative Werte zunehmend verblaßte, wurde ihm zu seinem fünfhundertsten Geburtstag am 6. April 1983 wie keinem anderen Genius in der ganzen abendländischen Kulturwelt einmütig gehuldigt. Die zahlreichen Jubiläumsausstellungen in Europa und den USA wurden erfreulicherweise in vielen Fällen zum Anlaß genommen, Raffaels Gemälde gründlich zu untersuchen, zu reinigen und zu restaurieren. Es war vor allem ein Omaggio der Restauratoren an den Urbinaten. Hieraus erwuchs eine Fülle neuer Erkenntnisse, die unsere auf altersbedingten Entstellungen vieler Werke basierende Vorstellung von Raffael als Maler revisionsbedürftig erscheinen lassen. Wir sind nicht zuletzt Dank der hochentwickelten Untersuchungsmethoden und dem heutigen Stand der Farbfotografie erst jetzt in die Lage versetzt, Raffaels Gemälde von den spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten der Malweise und Farbgebung neu überprüfen zu können. Die Bildnisse des Ehepaars Agnolo und Maddalena Doni präsentierten sich nach ihrer vorzüglich gelungenen Reinigung und Restaurierung durch Domenico Del Podestà dem Besucher der Ausstellung „Raffaello a Firenze" im wahrsten Sinne des Wortes in ganz neuem Licht (Abb. 43, 4 4 ) E s ist vor allem die strahlende Frische der Farben, die den Betrachter der hervorragend erhaltenen Gemälde überrascht und sofort in ihren Bann schlägt. So ging es auch dem Verfasser dieser Zeilen, der dadurch angeregt wurde, sich mit der künstlerischen und ikonographischen Tradition der Pendantbildnisse Doni zu befassen. Agnolo, am 19. 8. 1474 als Sohn des Francesco Doni und seiner Ehefrau Nanna di Bartolomeo Popoleschi in Florenz geboren, heiratete am 31. Januar 1504 die damals erst fünfzehn Jahre alte Maddalena, Tochter des Giovanni die Marcello Strozzi und der Lucrezia di Antonia della Luna. Der zu Wohlstand gelangte, mit 1

Zur Ausstellung erschien ein ausgezeichneter Katalog: „Raffaello a Firenze. Dipinti e disegni delle collezioni fiorentine". Firenze. Palazzo Pitti 1984. Dort werden die Geschichte der Gemälde und der derzeitige Stand der Forschung gründlich resümiert (Nr. 8, 9). Die gut gelungenen Farbtafeln 38 und 41 geben die Bildnisse nach der Reinigung und Restaurierung wieder. Einer der Autoren des Kataloges, Alessandro Cecchi, macht in einem Aufsatz „Agnolo e Maddalena Doni — Committenti di Raffaello", den er mir dankenswerterweise in den Druckfahnen zur Kenntnis gab und der in den Atti del Convegno Internazionale di Studi su Raffaello, Urbino 1985, erscheinen wird, zusätzlich interessante Details zu den Biographien der Dargestellten bekannt, aus denen sich auch Rückschlüsse auf die bisher umstrittene Datierung der Bildnisse ziehen lassen.

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hohen öffentlichen Ämtern und Aufgaben betraute Textilhändler konnte es sich offenbar leisten, ein Mädchen aus angesehenstem Florentiner Adel zu ehelichen. Die ausgehandelte Mitgift von 1400 Scudi hatte Agnolo freilich 1536 immer noch nicht erhalten, weshalb er gegen den Bruder seiner Frau einen Prozeß anstrengte. Der Zweig der Strozzi, dem die Braut entstammte, war Mitglied der „Arte dei Mercanti di Calimala" und residierte im Quartiere di Santa Maria Novella unter dem Banner des Einhorns. Vasari berichtet, daß Agnolo Doni, obwohl er im allgemeinen als geizig galt, für Bilder und Skulpturen gerne Geld ausgab, weil sie ihm viel Freude bereiteten. 2 Die Ausstattung seines Palastes am Corso de* Tintori, zu der als Glanzstück der Tondo mit der Heiligen Familie Michelangelos gehörte, erweist Agnolo als einen der bedeutendsten Florentiner Mäzene am Anfang des 16. Jahrhunderts. Den Auftrag, das Ehepaar Doni zu porträtieren, dürfte Raffael, der während seiner Florentiner Jahre 1504—1508 hauptsächlich für die reiche Kaufmannschaft tätig war, 1506 erhalten haben. Im selben Jahr hat Michelangelo auch den Tondo gemalt. Alessandro Cecchi vermag diesen Datierungsvorschlag neuerdings mit weiteren Hinweisen zu stützen. Die äußere Erscheinung der am 19. 2. 1489 geborenen Maddalena Doni legt, selbst wenn man sie für eine außergewöhnlich frühreife Frau hält, die Annahme eines Alters von wenigstens siebzehn Jahren nahe. Andererseits entdeckt man noch keine Spuren von Schwangerschaft, aus der am 8. September 1507 die erstgeborene Tochter Maria hervorgehen sollte. Die auf die Rückseiten der Bildnisse wahrscheinlich vom Maestro di Serumido monochrom gemalte Sage von Deukalion und Pyrrha kann als Fruchtbarkeitsallegorie im Zusammenhang mit dem nach zweijähriger Ehe 1506 immer noch kinderlos gebliebenen Paar interpretiert werden. 3 Die als Einzige der von Zeus geschickten Sintflut Entkommenen erzeugten auf Weisung eines Orakels der Themis ein neues Menschengeschlecht, das hier mit dem „wiedergeborenen", selbstbewußten Menschen der Renaissance gleichgesetzt wird. Die stilistische Einordnung der Bildnisse durch den Vergleich mit den übrigen Porträts und Madonnengemälden aus Raffaels Florentiner Zeit deckt sich mit der Annahme der Ausführung des Auftrages 1506 oder spätestens zu Beginn des Jahres 1507.4

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Giorgio Vasari (Le Vite, Ed. Milanesi, Firenze 1906. IV. S. 425): „Dimorando adunque in Fiorenza, Agnolo Doni, il quale quanto era assegnato nell'altre cose, tanto spendeva volentieri, ma con più risparmio che poteva, nelle cose di pittura e di scultura, delle quali si dilettava molto, gli fece fare il ritratto di sè e della sua donna in quella maniera che si veggiono appresso Giovanbatista suo figliuolo nella casa che detto Agnolo edificò bella e comodissima in Firenze nel Corso de'Tintori, appresso al canto degli Alberti." Kat. „Raffaello a Firenze" a. a. O., Abb. 40, 42. Zuletzt ging Jean-Pierre Cuzin, Raphael, Vie et oeuvre, Fribourg 1983, auf das stilistische Verhältnis zu den Bildnissen „Dame mit Einhorn" (Rom, Villa Borghese), „La Gravida" (Florenz, Galleria Palatina) und „La Muta" (Urbino, Palazzo Ducale) ein. Im Kat. „Raffaello a Firenze" a. a. O., S. 112 wird mit Recht darauf hingewiesen, daß die Kleidung der Maddalena Doni gegenüber den noch quattrocentesk anmutenden Gewändern der genannten Porträts am entwickeltsten erscheint.

Anmerkungen zu Raffaels Bildnissen des Ehepaars Doni

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Beide Porträts — bis 1826, als sie Erzherzog Leopold II. von Toskana für 5000 Scudi erwarb, Eigentum der Familienerben — sind auf zwei gleichgroße (65 : 45,7 cm) Holztafeln von demselben auseinandergesägten Brett gemalt und entsprechen sich in der kompositioneilen Anordnung etwa spiegelbildlich. Das einander zugewandte, im Dreiviertelprofil als Halbfiguren dargestellte Ehepaar ist leicht nach links, beziehungsweise rechts aus der Mittelachse gerückt und blickt, ohne die Köpfe zu wenden, den Betrachter an. Die nahe an den vorderen Bildrand gerückten Figuren füllen etwa die unteren zwei Drittel der Bildfläche, so daß von der sanften Hügellandschaft verhältnismäßig wenig zu sehen bleibt. Der etwa zweiunddreißigjährige Agnolo Doni sitzt — den heraldischen Regeln gemäß zur rechten Seite der Frau — in aufrechter Haltung und hat den linken Arm auf eine Brüstung gelegt. Die ausdrucksvollen Hände sind mit derselben Sorgfalt wie das Antlitz „porträtiert". Er trägt einen hochgeschlossenen und gegürteten „giuppone" aus schwerem schwarzem Samtstoff, der oben den Rand des plissierten Hemdes aus feinem Leinen sichtbar werden läßt, und mit dessen engem Zuschnitt die weiten Ärmel aus rotem Wollstoff kontrastieren. Das von langem dunklem Haar gerahmte Haupt wird von einer in jener Zeit häufig vorkommenden schwarzen Kappe mit hinten hochgeschlagenem Rand bedeckt. Mit dem betont nüchternen Zuschnitt der Kleidung des Mannes, die allein durch die Qualtität der Stoffe und die wenigen, aber edlen Acessoires den reichen Kaufmann ahnen läßt, kontrastiert das kostbare Gewand der jungen Frau, das im Verein mit dem Schmuck die aristokratische Herkunft Maddalena Donis verrät. Das mit einer goldenen Kette gegürtete, weit ausgeschnittene Gewand aus orangefarbiger Moirée-Seide, das die Brust fest umspannt und oben den Rand des plissierten Leinenhemdes sehen läßt, wird vorne von paarweise angeordneten Knöpfen zusammengehalten, die auf einer dunkelblauen Samtbordüre sitzen. Die in jener Zeit mit Hilfe der „agugelli" angehefteten weiten Ärmel bestehen aus blauem Damast mit Granatapfelmuster und lassen durch die Schlitze das Hemd durchschauen. Die Schultern werden von einem transparenten Schleier bedeckt, der von einer gestickten dunklen Seidenbordüre eingefaßt wird. Das üppige Décolleté der für ihr Alter etwas fülligen Dame ziert ein offensichtlich sehr kostbares, an einem Halsband befestigtes Kleinod, das aus drei tafelförmig geschliffenen Edelsteinen und einer tropfenförmigen Anhänger-Perle besteht. 5 Über der Schönheit der Edelsteine standen von alters her ihre magischen Kräfte. Die in „Lapidarien" kodifizierte Lehre von der natürlichen Beschaffenheit und den wunderbaren Eigenschaften der Kristalle bezeichnet den Saphir (unten rechts) als Symbol der Reinheit, als Unterpfand der Treue und himmlischen Glücks. Er schützte vor

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Farbige Detailabbildung des Anhängers im Kat. „Rafaello a Firenze" a. a. O. Abb. 43 und bei A. M. Pedrocchi im Ausstellungskat. „Raphael Urbinas — Il Mito della Fornarina", Rom 1983, Abb. 18, 20. Der Autor weist mit Recht auf die stilistische Verwandtschaft des Anhängers der Maddalena Doni mit dem Kopfschmuck der Fornarina hin.

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Armut und Verrat, verhütete Augenleiden und heilte Schlangenbisse. Der Rubin (unten links) verbürgte Liebe, körperliche Kräfte und Wohlstand, vereitelte schwere Träume und verlieh Frieden und Heiterkeit. Der Smaragd (oben) symbolisierte Reinheit, Reichtum, zersprang bei ehelicher Untreue und verlieh — unter die Zunge gelegt — die Gabe der Weissagung. Die besondere Form der goldenen Kastenfassung, aber auch die Komposition aus drei großen Steinen, besitzen noch spätgotische Reminiszenzen. Das berühmteste Schmuckstück dieser Art begleitete Herzog Karl den Kühnen auf seinem Kriegszug gegen die Schweiz und fiel am 1. März 1476 bei Grandson den Eidgenossen in die Hände: ein Anhänger aus drei großen, um einen Diamanten gruppierten Rubinen und vier Perlen, den sogenannten „drye bruedern". 6 Die Fassung des oberen Smaragdes im Anhänger der Maddalena ist in Form eines Einhorns gebildet, zusammen mit der Perle altes Sinnbild der Reinheit und Jungfräulichkeit. Gleichzeitig ist das Fabelwesen in diesem Fall aber auch auf das Bannertier des Quartiere di Santa Maria Novella zu beziehen, in dem die Eltern der Maddalena Strozzi residierten. Ob es sich bei dem Anhänger um ein Hochzeitsgeschenk des offenbar Freude an kostbaren Geschmeiden besitzenden Bräutigams 7 oder um ein älteres Familienschmuckstück der Strozzi handelt, das die Braut als Mitgift erhielt, muß angesichts der noch quattrocentesken Züge des Juwels dahingestellt bleiben. Die Stirn des jungen, noch etwas ausdruckslosen Gesichtes der Maddalena Doni ziert ein damals modisches Stirnband, das an der die hintere Haarpartie zusammenhaltenden „lenza" befestigt ist. Die wie ihr Mann Agnolo aufrecht sitzende und damit betont „Haltung" bewahrende junge Frau hat die mit drei Ringen gezierten Hände übereinandergelegt, wobei der linke Unterarm auf einer Stuhllehne ruht. Besondere Aufmerksamkeit verdient das in zartesten Abstufungen getönte Inkarnat, das die blühende Jugend der Dargestellten unterstreicht. Die heiter-liebliche Hügellandschaft mit einem Wäldchen im Mittelgrund unter einem leicht bewölkten Sommerhimmel läuft nahtlos über beide Gemälde hinweg, bindet das Ehepaar also an denselben Freiraum. Das goldgelb-reife Getreide um eine kleine Bauernhütte im Gemälde der Frau läßt an die Erntezeit denken. Dem zart-gefiederten Baum begegnen wir in vielen Madonnenbildern Raffaels. Die harmonisch im Gleichklang komponierten, auf „Haltung" bedachten Ehebildnisse Doni wirken ideal und natürlich zugleich. Sie charakterisieren die Individuen, setzen das Männliche entschieden gegen das Weibliche ab, beinhalten aber auch das, was der Geist des neuen Zeitalters als überpersönliche Ordnungsmacht formend bewirkt hat: Selbstsicherheit, Bildung, menschliche Würde. Über der Mahnung zur Naturgetreue, über der Mimesis als Kriterium täuschender Ähnlichkeit, stand für Raffael — ganz im Sinne der von Leon Battista Alberti überlieferten antiken Kunsttheorie — die aus dem theologisch-philosophischen Wertsystem 6 7

E. Steingräber, Alter Schmuck — Die Kunst des europäischen Schmuckes, München 1956, Abb. 98. A. Cecchi, a. a. O. (1985), S. 96 macht bekannt, daß Agnolo Doni noch in den dreißiger Jahren umfangreiche Einkäufe bei dem Juwelier Guasparri Baldini tätigte.

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stammende Schönheit, die mit Klarheit und Harmonie verbunden ist. Imitatio und electio gehören eng zusammen. Es galt, aus der Vielfalt der Natur eine Auswahl des Schönsten zu treffen. Gemäß dem platonischen Liebesprinzip „Harmonia est discordia concors" wird das Widerstrebende in der Harmonie zusammengeführt. Unter Harmonie verstand die italienische Kunsttheorie der Renaissance eine durchaus rational nachvollziehbare „Concinnitas" der Farben und Maßverhältnisse. Unter diesem Aspekt werden die madonnenähnlichen Züge der Maddalena Doni verständlich. Ob es sich bei den Pendantbildnissen ursprünglich um ein Diptychon handelte — wofür die durchgehende Landschaftsszenerie, aber auch die im folgenden abzuhandelnde Bildtradition sprechen —, muß angesichts des technischen Befundes unentschieden bleiben. Die derzeitigen Rahmen stammen aus den Jahren 1826/29.8 Wenn auch Raffaels Porträts der Maddalena Doni, der „Dame mit Einhorn" und „La Muta" in der äußeren Haltung auf die Auseinandersetzung mit Leonardos um 1503/05 entstandenen Bildnis der „Mona Lisa" zurückgeführt werden können, in dem die Hände zum wichtigen Ausdrucksträger gemacht worden sind, besitzen sie dennoch nichts von dessen geheimnisvollem kosmischem Naturverständnis 9 . Leonardos verunklärende „Trübung" des Bildes im Dienst des Ausdrucks von Gefühlen war Raffael und den Florentiner Zeitgenossen am Anfang des 16. Jahrhunderts, die noch ganz im Sinne der Florentiner Quattrocento-Malerei streng auf Reinheit und Unversehrtheit der Einzelformen und Farben achteten, fremd geblieben. Entschieden neu im Ambiente der Florentiner Malerei um 1500 war dennoch der transparente Schmelz und die strahlende Leuchtkraft, die die Doni-Bildnisse nach ihrer Reinigung aufweisen. 10 Das Kolorit Raffaels wurde in der Frühzeit von den für die damalige Zeit ganz ungewöhnlich leuchtenden Farben Peruginos beeinflußt, in dessen Werk seit etwa 1495 die von flämischen Malern im Verlauf des 15. Jahrhunderts zuerst an den Höfen von Neapel und Urbino eingeführte Ölfarbe voll zur Anwendung gelangte. 11 Das Inkarnat ist in Peruginos und in Raffaels ganz frühen Bildern dünn gemalt und in das höhere Relief der umliegenden Farben, besonders in den Gewandpartien, eingebettet. Raffael machte von Anfang an vollen Gebrauch von der Ölfarbentechnik, nur modellierte er mehr mit den Farben, wodurch seine Figuren körperhafter wirken. Gegenüber so peruginesken 8

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Kat. „Raffaello a Firenze" a.a.O., S. 118 Anm. 1. Die Kompositionen der Rückseite mit den Darstellungen aus der Sage von Deukalion und Pyrrha stehen in keinem räumlichen Zusammenhang. Eine Federzeichnung Raffaels im Louvre gibt die Komposition der „Mona Lisa" einschließlich des Motivs der Loggia wieder. Bereits Leonardos um 1475 entstandenes Bildnis der Ginevra de'Benci bezog im ursprünglichen Zustand die Hände ein. J. H. Beck, Raphael, New York 1976, Abb. 19, 20. Die Farben der Doni-Bildnisse waren vor der Reinigung nicht nur durch schmutzigen Firnis getrübt, sondern erheblich entstellt. Beim Vergleich mit älteren Farbabbildungen z. B. bei J. H. Beck a. a. O., Taf. 9, 10, wird deutlich, daß z. B. das Gewand der Maddalena zinnoberrot und die Ärmel mehr grün als blau wirkten. Vgl. H. v. Sonnenburg, Raphael in der Alten Pinakothek, München 1983, S. 48 ff.

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Ausgangspunkten wie etwa der um 1500 entstandenen „Solly-Madonna" in Berlin oder der Elisabetta Gonzaga erscheint die Form in den Doni-Bildnissen voluminöser und damit monumentalisierter, wozu auch die pastosere Malweise, insbesondere im Inkarnat, beiträgt, das nicht mehr die kleinteilige, von den Gewohnheiten der älteren Temperamalerei herrührende Pinselstrichelung aufweist. Charakteristisch für das Altersverhalten der stärkeren Malschichten in den Doni-Bildnissen ist die feine Craquelebildung. Die Farben sind gegenüber Perugino kühler und noch lichthaltiger, stehen dem Schmelz der flämischen Vorbilder näher. Das gilt vor allem für das Inkarnat, das mehr bleiweißhaltige Pigmentierung enthält und somit deckender, körperhafter erscheint. Nicht nur die konsequente Anwendung der in Florenz neuartigen Maltechnik weist auf nordische Quellen, sondern auch die Landschaft in Peruginos und Raffaels frühen Werken bis ans Ende der Florentiner Zeit verrät in manchen Einzelheiten das Studium altniederländischer Bilder. Selbst wenn es verfehlt wäre, den Maßstab einer Porträtlandschaft anzulegen, darf man sie häufig dennoch als völlig unitalienisch bezeichnen. Einige Hinweise mögen genügen. Das Gemälde mit der „Heiligen Familie aus dem Hause Canigiani", das kürzlich von Hubert von Sonnenburg mit großem Erfolg gereinigt und in seinen ursprünglichen Zustand versetzt worden ist, weist ein unverkennbar nordisches Stadtbild in einer lieblichen grünen Hügellandschaft mit in der Ferne blau schimmernden Bergen auf, wie sie ähnlich auf niederländischen, insbesondere auf Gemälden Hans Memlings — z. B. im Lübecker Kreuzigungsaltar — zu finden ist. 12 Am auffallendsten ist dabei die Übernahme von Memlings ganz persönlichem „Rezept", Sträucher, Bäume und Pflanzen zu malen. Bärenklau und Aronstabgewächs stimmen weitgehend mit entsprechenden botanisch bestimmbaren Details in Gemälden Memlings überein, wenn auch der Italiener mehr auf die Form und weniger auf die Deskription achtet. 13 Ein früher Raffael zugeschriebenes „Bildnis eines jungen Mannes", das heute als „Umbrisch, um 1505" in der Alten Pinakothek ausgestellt ist, gewährt über der Brüstung einer Säulenloggia Ausblick auf eine Landschaft mit Bäumen und einem Reh, die aus dem ebenfalls in der Alten Pinakothek gezeigten Gemälde Memlings mit dem „Heiligen Johannes dem Täufer" übernommen worden ist. Die Tafel war einst Teil eines Diptychons, das höchstwahrscheinlich Pietro Bembo als kleinformatiges Andachtsbild mit sich führte, als er 1506 am herzoglichen Hof von Urbino weilte. 14

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Farbige Abbildungen bei H. v. Sonnenburg, a. a. O., Abb. 39 und P. Trzeciak, Hans Memling, Berlin 1977, Abb. 20. H. v. Sonnenburg, a. a. O., S. 26. Zuletzt H. v. Sonnenburg, a. a. O., S. 106 ff., Abb. 121 — 126. Vgl. hierzu und zur Landschaft im Gemälde des hl. Georg in Washington auch D. A. Brown, Raphael und America, National Gallery of Art Washington 1983, S. 152 ff. Peruginos und Raphaels Anlehnungen speziell an Memling sind keinesfalls Einzelfälle. Vgl. hierzu die Literaturzitate bei H. v. Sonnenburg, a. a. O., S. 107 Anm. 40. Ferner zuletzt auch L. Castelfranchi Vegas, Italia e Fiandra nella Pittura del Quattrocento, Mailand 1982; R. Salvini, Banchieri Fiorentini e Pittori di Fiandra, Modena 1984; G. Passavant, Reflexe

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Man kann die Wirkung der altniederländischen Malerei, die die reichen italienischen Kaufleute in Brügge an der Quelle kennenlernen konnten, gar nicht überschätzen. Italiener ließen sich von Jan van Eyck, Rogier van der Weyden und Hans Memling porträtieren. An den Höfen von Neapel und Urbino weilten zahlreiche niederländische Maler. Hugo van der Goes hinterließ mit dem Portinari-Altar für Santa Maria Novella sein bedeutendstes Vermächtnis in Florenz. Memlings Altar mit dem „Jüngsten Gericht" und den Porträts von Angelo Tani und seiner Frau ist nur infolge kriegerischer Ereignisse nicht nach Italien, sondern nach Danzig gelangt. Lorenzo il Magnifico besaß Gemälde von van Eyck und Petrus Christus, ein Selbstporträt Rogiers van der Weyden befand sich in der venezianischen Sammlung des Giovanni Ram. Marcanton Michiel erwähnt die Darstellung einer Otterjagd Jan van Eycks im Haus des Philosophen Leonico Tomeo in Padua. Wie weit gespannt die künstlerischen Interessen der humanistischen Gesellschaft waren, zeigt auch die Kollektion des Patriarchen von Aquileia, Domenico Grimani, der nicht nur ein Liebhaber von Giorgiones Werken war, sondern auch Gemälde von Memling, Bosch, Patinir und Dürer u. a. besaß. Die Italiener waren also mit der altniederländischen Malerei wohl vertraut, besonders mit der als vorbildlich geltenden Porträtkunst. Bartolomeo Fazio, Humanist am Neapolitaner Hof König Alfonsos, lobt in seinen Biographien Jan van Eycks und Rogiers van der Weyden nachdrücklich die damals für Italien ganz neuartigen illusionistischen Züge der niederländischen Gemälde. 15 Im Rahmen der Untersuchungen vor der Restaurierung der Doni-Bildnisse wurde bei der Röntgenaufnahme des Frauenporträts die interessante Entdeckung gemacht, daß der Maler zunächst daran gedacht hatte, die Auftraggeber in einem Innenraum bei geöffnetem Fenster posieren zu lassen. 16 Daraus darf man den Schluß ziehen, daß das Bildnis der Maddalena Doni zuerst gemalt worden sein dürfte. Im übrigen ist hiermit ein neuer Hinweis auf Raffaels Auseinandersetzung mit niederländischen Vorbildern gewonnen. Das Halbfigurenporträt im Innenraum bei offenem Fenster mit Ausblick auf die Landschaft wurzelt in der altniederländischen Malerei und erfreute sich seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert besonders in Deutschland großer Beliebtheit. Wird der Dargestellte betend und nach den heraldischen Regeln vom Betrachter aus gesehen nach rechts blickend gezeigt, ist anzunehmen, daß die Tafel ursprünglich Teil eines Adorationsdiptychons oder eines Triptychons war. Für das 1462 datierte „Männliche Bildnis" von Dirk Bouts in der

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nordischer Graphik bei Raffael, Leonardo, Giulio Romano und Michelangelo, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz X X V I I 1983, S. 193 ff. Neuerdings L. Campbell, Notes on Netherlandish Pictures in the Veneto in the fifteenth and sixteenth centuries. The Burlington Magazine 123, Aug. 1981, S. 471 ff. Kat. „Raffaello a Firenze", a. a. O., S. 115, Abb. 45. Schon Leonardos Bildnis der Cecilia Gallerani war ursprünglich in einem Innenraum mit Fenster oder offener Tür postiert. Vgl. zum technischen Befund K. Kwiatkowski, „La Dame a l'Hermine" de Leonardo da Vinci, in: Etude technologique, Warschau 1955.

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National Gallery in London, das nach links schaut und mit übereinandergelegten Händen gezeigt wird, trifft dies nicht zu (Abb. 45). Es handelt sich offensichtlich um ein autonomes Bildnis. Anknüpfend an Innenraumbildnisse in der Art des 1446 entstandenen Porträts Edward Frymestons von Petrus Christus öffnet Bouts den Raum durch ein Fenster und veranschaulicht allein mit malerischen Mitteln den stimmungsvollen Kontrast zwischen der lichten Landschaft und dem dämmerigen Innengemach. Auf den Zusammenhang dieses oder eines ähnlichen Porträts mit dem heute allgemein als Selbstbildnis Peruginos angesprochenen, um oder bald nach 1500 entstandenen Gemälde in den Uffizien in Florenz (Abb. 46), das diesen Bildnistypus in Italien eingeführt hat, machte zuerst John Pope-Hennessy aufmerksam. 17 Die wesentlichsten Unterschiede liegen in der gesteigerten Voluminosität des Italieners, in dem auf den Betrachter gerichteten Blick und in der räumlichen Klärung insbesondere der Brüstung, auf der die Hände ruhen. Es überrascht nun nicht mehr, wenn auch der von Raffaels Doni-Porträts repräsentierte Typus des Ehepaar-Pendantbildnisses auf eine speziell niederländische Bildtradition zurückgeführt werden kann. Pendant-Bildnisse im einander zugewandten Dreiviertelprofil, die ursprünglich häufig ein Diptychon bildeten, sind in den Niederlanden fast so alt wie das Tafelbild und das Bildnis überhaupt. Am Anfang des individuellen, autonomen Bildnisses in der Malerei, das sich aus der untergeordneten Stifterdarstellung in gotischen Bildern entwickelt hat, stehen Porträts in strenger Seitenansicht als Büste vor einfarbigem Grund. „Die entscheidende Neuerung, die Einführung der lebendiger wirkenden Ansicht des Porträtierten im Dreiviertelprofil, die Vergrößerung des Bildausschnittes und die Wiedergabe der Hände, die entscheidend zur wirklichkeitsnahen Bildnisdarstellung beigetragen haben, ist untrennbar mit den großen niederländischen Meistern der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts verknüpft." 18 Als älteste autonome Ehepaar-Bildnisse gelten die des Bartholomäus Alatrye und der Marie Pacy vom Meister von Flémalle. Sie zeigen das Ehepaar als Brustbilder im Dreiviertelprofil einander zugewendet mit übereinandergelegten, auf einer nicht sichtbaren Brüstung am vorderen Bildrand ruhenden Händen. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts machte insbesondere Hans Memling diesen Bildnistypus populär, der auch im oberdeutschen Raum Anklang fand und dort in der Dürerzeit weit verbreitet war. In Frankreich entstand um 1475 das Nicolas Froment zugeschriebene Diptychon mit den Bildnissen des René d'Anjou und der Jeanne de Lavai. Alle Pendant-Bildnisse zeigen den Mann auf der linken Seite. Berthold Hinz hat nachgewiesen, daß das in der niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts ausgebildete Pendant-Ehepaarbildnis in den Stifterpaarporträts 17

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J. Pope-Hennessy, The Portrait in the Renaissance, London—New York 1964, S. 59, Abb. 59, 60. E. Panofsky, Early Netherlandish painting, Cambridge/Mass. 1953, S. 316f. R. Grosshans, Der Weg zur Entdeckung des Individuums. Bildnisse des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Ausstellungskatalog „Bilder vom Menschen in der Kunst des Abendlandes", Berlin 1980, S. 150 ff.

Anmerkungen zu Raffaels Bildnissen des Ehepaars Doni

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seine Wurzeln hat19. Die andächtige Hinwendung des Stifterpaares gilt dabei dem angerufenen Schutzpatron oder der Heiligen Familie, die gewöhnlich in der Mitteltafel eines Triptychons dargestellt sind. In einem späteren Stadium werden die Heiligen auch „realistisch" als gemalte Skulpturen wiedergegeben, räumlich im Bild mit dem Stifter verbunden, so wie sie dem Gläubigen aus den Kirchen vertraut waren. Das Triptychon schrumpfte zum Diptychon. Im Danziger Altar Memlings erscheint das ganzfigurig knieend wiedergegebene Stifterpaar bei geschlossenen Altarflügeln mit ihren jeweiligen Schutzpatronen zum ersten Mal in einer beiden gemeinsamen Realitätszone. In den um 1475 entstandenen Pendantbildern des „Meisters von Saint-Jean-de-Luz" mit dem Ehepaar Hugues de Rabutin, Seigneur d'Epiry, und Jeanne de Montaigu sind die Schutzpatrone zu kleinen Statuetten zusammengeschrumpft, so daß die Bildnisse nun zum eigentlichen Bildthema avanciert sind (Abb. 47, 48). Der Schritt zur Entstehung des autonomen EhepaarPendantbildnisses bestand dann nur noch im Fortlassen des Devotionsmotives und des Gebetsgestus. Entweder ließ der Maler die Hände der Eheleute fort oder er zeigt sie gewöhlich auf einer Brüstung übereinandergelegt, wie z. B. in einem von Hans Memling oder in seinem Umkreis um 1490 gemalten Diptychon, dessen Tafeln in den Galerien von Paris und Berlin verwahrt werden (Abb. 49, 50). Die in niederländischen Porträts häufig auftretende Säulen-Loggia 20 , in der das Paar postiert ist, gewährt über die Brüstung hinweg den Ausblick auf eine hügelige Landschaft. Ein Weg führt in die Tiefe auf ein burgähnliches Anwesen zu, das auf das offenbar wohlhabende Ehepaar bezogen werden darf. Loggia und Landschaft reichen über beide Tafeln und binden Mann und Frau an ein einheitliches räumliches Ambiente. Es war nur konsequent, daß noch während des 15. Jahrhunderts in den Niederlanden und in Deutschland aus dem Diptychon das eintafelige Ehebild entwickelt worden ist. Raffaels Doni-Bildnisse stehen offensichtlich in dieser niederländischen Bildtradition. Die italienischen Maler hielten im Gegensatz zu dem dynamischeren, mehr Raum verdrängenden Dreiviertelporträt der Niederländer mit dem in die Ferne gerichteten Blick lange am Typus des strengen idealisierenden Profilbildnisses fest, das Wilhelm Pinder als „Ausdruck der Verewigung" bezeichnet hat. Das gilt

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B. Hinz, Studien zur Geschichte des Ehepaarbildnisses. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 1974, S. 239 ff. Vgl. als Beispiele die Loggien in den Stifterbildnissen des Willem und der Barbara Morcel von einem Triptychon, dessen Mittelteil verloren ging, um 1480, oder im Diptychon mit Stifterbildnis eines Brügger Meisters um 1490: M. J. Friedländer, Early Netherlandish painting. Comments and notes by Nicole Veronec-Verhaegen, Vol. Vl/Part I, Brüssel 1972, Nr. 75/76 Taf. 116, 132 oben. Leonardo verwendet das Motiv der Loggia mit zwei an den Bildrändern stehenden Säulen in der „Mona Lisa". Von hier übernimmt es Raffael (Zeichnung im Louvre) in das Gemälde der „Dame mit Einhorn". Das schon erwähnte Jünglingsbildnis in der Alten Pinakothek (vgl. Anm. 14), das früher Raffael zugeschrieben worden ist, hat nicht nur Landschaftsmotive, sondern auch die Loggia von Memling übernommen.

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sowohl für die Stifterfiguren im religiösen Bild 21 wie auch für das Einzel- oder Doppelporträt. Erlösungsgedanke und Verewigungswille durchdringen sich. Zur mittelalterlichen Tradition des untergeordnet dargestellten Stifters im Profil kam im Quattrocento seit der um 1390 entstandenen Medaille des Francesco I Carrara die Auseinandersetzung mit den strengen Profilporträts antiker Münzen und Gemmen. Die wenigen italienischen Doppelporträts, die Raffaels Doni-Bildnissen vorangehen, wurzeln in dieser autochthonen Tradition. Die um 1440 entstandene Darstellung eines im strengen Profil gezeigten Paares, das Filippo Lippi zugeschrieben wird (New York, Metropolitan Museum), entspricht dem idealisierenden Porträttyp Pisanellos, Pollaiuolos oder Domenico Venezianos. 22 Ungewöhnlich ist dabei, daß von dem durch ein Fenster blickenden Jüngling nur das Gesicht und die Hände zu sehen sind. Das klassische Ehepaar-Pendantbildnis im Profil, ursprünglich ein Ditpychon, malte Piero della Francesca um 1465: Federigo da Montefeltro und seine Gemahlin Battista Sforza erscheinen als streng silhouettierte Büsten ohne jeden Gefühlsausdruck in unnahbarer Idealität als Landesherrn erhaben über dem ihnen zu Füßen liegenden Territorium, das Ausweis ihrer Herrschaft ist (Florenz, Galleria degli Uffizi). Die Bildnisse sind der Landschaft vor- und übergeordnet, verbinden sich nicht mit ihr. Sie charakterisieren den Rang des Herzogpaares, nicht das im Ehebund begründete menschliche Verhältnis von Mann und Frau. Mittelalterliches Standesbewußtsein paart sich mit dem Ruhmesgedanken der Renaissance. Die in die Zeit um 1500 zu datierenden Pendantbildnisse eines jungen Paares von Sebatiano Mainardi, einem Mitarbeiter Ghirlandaios in Florenz, verbinden das im Einzelbildnis inzwischen auch in Italien geläufiger gewordene Dreiviertelprofil des Mannes mit dem traditionellen Profil der Frau (Abb. 51, 52) 23 . Gemäß der heraldischen Tradition hat der Mann zur Rechten der Frau seinen Platz, wobei Kopf- und Blickwendungen regungslos mit der Körperhaltung korrespondieren. Auch hier steht die Idealisierung über der Individualisierung des Menschen. Die Dargestellten zeigen nicht, was sie fühlen und denken. Ihre Büstenform läßt sich eher mit Ausschnitten aus monumentalen Fresken oder Porträts der Florentiner Quattrocento-Plastik als mit lebenden Modellen vergleichen. Nur die kontinuierlich durchlaufende Landschaft, die beide Porträts verbindet, legt nahe, daß Mainardi Pendantbildnisse in der Art Memlings (Abb. 49, 50) gekannt hat. Dem Mann, vielleicht ein erfolgreicher Geschäftsmann, wird eine türmereiche Stadt mit Hafen

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Vgl. D. Kocks, Die Stifterdarstellung in der italienischen Malerei des 13. —15. Jahrhunderts. Diss. Köln 1971. Für die nordalpine Entwicklung: W. Kermer, Studien zum Diptychon in der sakralen Malerei, von den Anfangen bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Düsseldorf 1967 und S. Bäumler, Studien zum Adorationsdiptychon, Diss. München 1983. J. Pope-Hennessy, a. a. O., S. 41, Abb. 41. Für die Innenraumdarstellung mit Fensterausblick ist mit Recht auf niederländische Quellen (Petrus Christus) aufmerksam gemacht worden: R. Longhi, Quadri italiani die Berlino a Sciaffusa, in: Paragone X X X I I I 1952, S. 42 ff. Ausstellungskatalog „Bilder vom Menschen in der Kunst des Abendlandes", Berlin 1980, Nr. 2.

Anmerkungen zu Raffaels Bildnissen des Ehepaars Doni

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zugeordnet, das gemmenhafte Profil der Frau wird durch die Rückseite einer Loggia mit Ausblick auf die Landschaft abgeschirmt. Die Gegenstände in einem geöffneten Schrank beziehen sich sinnbildlich auf die Tugend, die gesellschaftliche Stellung und den christlichen Lebenswandel der Frau. Gegenüber der lebensfernen Idealität solcher Porträts wirken Raffaels Bildnisse menschlicher. Er bevorzugte die „natürlichere" nordische vor der italienischen Bildtradition, um — darüber entschieden hinausgehend — die Bildnisse des Ehepaars Doni zu Dokumenten des „befreiten Individuums" (Jakob Burckhardt) in der Renaissance zu machen. Man beachte, welch lebendige Spannung allein aus der Divergenz von Kopfwendung und Blick entsteht. Der neue Geist drückt sich anschaulich in der stark ausgebildeten körperlichen Präsenz und aufrechten Haltung der Dargestellten aus, in den fest auf den Betrachter gerichteten Nahblicken, die den Bildraum mit dem realen Raum um das Bild verknüpfen, in der belebenden Ausdruckskraft der Hände, die im Anschluß an Leonardos „Mona Lisa" in der künstlerischen Rechnung eine wichtige Rolle spielen, und in hohem Maße auch in der Postierung des Paares im Freiraum. Sieht man von der Auseinandersetzung mit Leonardos „Mona Lisa" ab, repräsentiert insbesondere das Bildnis des Francesco delle Opere von Perugino aus dem Jahr 1494 die markanteste Vorstufe für Raffaels neues Menschenbild, wenngleich die Hände, wie bei den Niederländern, auf einer mit dem unteren Bildrand gleichgesetzten Brüstung ruhen und deshalb noch keine besondere Ausdruckskraft entfalten können (Abb. 53). Porträttypus und Landschaft basieren ganz offensichtlich auf niederländischen Vorbildern. Es ist das Vertrauen in die eigene Leistung als Fundament des frühkapitalistischen Wirtschaftssystems, das diese Kaufleute prägt. Schon die Einzelbildnisse Jan van Eycks, des „Meisters von Flemalle", Petrus Christus' und Rogiers van der Weyden suchten vielfach Blickkontakt mit dem Betrachter, also mit einem außerhalb des Kunstwerkes liegenden Bezugspunkt. Rogiers Bildnis einer Frau mit Flügelhaube in Berlin sei hierfür als bekanntes und besonders einprägsames Beispiel erwähnt. Dennoch bleibt in diesen Menschen trotz allen bürgerlichen Stolzes der Erlösungsgedanke des alten Adorationsbildnisses, das Wissen um die Begrenztheit alles Irdischen lebendig. Sie bleiben Pilger auf dieser Erde per ressurectionem Christi. Der äußere kompositionelle Gleichklang der Doni-Bildnisse entspricht der auf Distanz und Objektivität ausgerichteten Haltung des Florentiners. Sie wirken „fortschrittlich" gegenüber den Bildnissen im reinen Profil, aber auch „altertümlich" gegenüber dem inneren Gleichklang der bald darauf hauptsächlich im oberitalienischen Raum entstandenen Ehe- und Liebespaar-Bildnisse, die Mann und Frau gemeinsam auf einer Tafel in Zuneigung vereinigt zeigen und damit den Ehe- und Freundschaftsbegriff in verinnerlichter, subjektiv-individueller Weise reflektieren. Zu den bekanntesten gemalten Zeugnissen dieser zuerst am Musenhof der ExKönigin Catarina Cornaro in Asolo sublimierten Liebeskultur zählen: die Bildnisse des Messer Marsiglio und seiner Frau (Madrid, Prado) und eines Ehepaares (Lenin-

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Erich Steingräber

grad, Ermitage) von Lorenzo Lotto, das Bildnis eines Ehepaares von Cariani (Philadelphia, John G. Johnson Collection), das gegen die Jahrhundertmitte wohl in Florenz entstandene Bildnis eines Ehepaares (Andrea del Sarto und seine Frau? Florenz, Galleria Palatina) und das „Liebespaar" in der Dresdner Galerie, das zuletzt Altobello Melone zugeschrieben worden ist (Abb. 54)24. Liebe, Leidenschaft und Erotik umreißen den eigentlichen Inhalt des Dresdner Doppelbildnisses, dessen wesentlichste künstlerische Merkmale im Giorgionismo wurzeln. Die Isoliertheit des Einzelnen ist überwunden. Raum und Zeit verbinden sich in der asymmetrischen flüchtigen Bewegung. Nicht das Beständige der Charaktere der beiden Menschen, sondern die vergleichsweise „haltlose" seelisch-labile Stimmung des Augenblicks im vielschichtigen Spannungsfeld zwischen Mann und Frau wird veranschaulicht, wozu das Hell-Dunkel der Malerei einen wichtigen Beitrag leistet. „Die Identität des Gefühls aber wird mit in erster Linie durch den Blick erweckt. In Lodovico Dolces ,Dialogo della Pittura' (1557) wird das psychologische Moment besonders herausgehoben: ,Doch sind es ganz besonders die Augen, welche als Fenster der Seele gelten, und in ihnen kann der Maler ganz entsprechend jede Leidenschaft, die Lustigkeit, den Schmerz, den Zorn, die Furcht, die Hoffnung und die Sehnsucht ausdrücken. Das alles ist geeignet auf den Beschauer zu wirken' " 25 . Die sinnliche Ausdruckskraft beruht im Fall des Dresdner „Liebespaares" auf den eigentümlich verschwommenen, ins Leere gehenden Blicken und den leicht geöffneten Mündern zugleich. Es ist, als ob der Porträtist das Paar bei seinen Zärtlichkeiten überrascht hätte. Von solchen lebendig handelnden Doppelbildnissen aus dem Umfeld der venezianischen Malerei führt eine direkte Linie zum barocken Ehebildnis, das ebenfalls nicht zuerst gesellschaftlichen Konventionen, sondern vielmehr einer inneren Lebensordnung gehorcht.26 Erst der Klassizismus besinnt sich wieder auf den in den Doni-Bildnissen verkörperten Geist einer dauerhaften Ordnung, wenn er gegen das dramatische Handlungsporträt des Barock opponiert. August Wilhelm Schlegel schreibt in seiner Kunstlehre: „Alles Gewaltsame und Heftige in Haltung, Gebärde, Ausdruck ist am unrechten Platz: teils weil die Handlung hier dem Charakter ganz und gar untergeordnet sein muß, da eine solche das Vorübergehende und Zufallige allzusehr fixiert, teils weil sie immer auf etwas nicht mit Dargestelltes hinweist und also die Betrachtung unbefriedigt bleibt."

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Vgl. B. Hinz, a. a. O., S. 184 ff. Für die Zuschreibung des Dresdner „Liebespaares" an Altobello Melone vgl. M. Gregori, Altobello e G. Francesco Bembo, in: Paragone 93, 1957, S. 16 ff. A. Neumeyer, Der Blick aus dem Bilde, Berlin 1964, S. 53. Dolce unterscheidet die Bildniskategorien „Volto in maestà", „Volto in profilo" und „Occhio e mezzo". Vgl. W. Schöne, P. P. Rubens — Die Geissblattlaube. Werkmonographien zur bildenden Kunst, hrsg. von C. G. Heise, Stuttgart 1956, S. 14.

ROLF KULTZEN

Ein unbekanntes Bildnis von Girolamo Muziano Der hier erstmals unternommene Versuch, ein Gelehrtenporträt (Abb. 55) aus Privatbesitz mit Girolamo Muziano in Verbindung zu bringen, macht sogleich deutlich, wie sehr dieser Künstler als Bildnismaler zunächst durch das Vorbild von Sebastiano del Piombo beeinflußt wurde. 1 Es genügt dafür auf das um 1520 entstandene Humanistenporträt Sebastianos (Abb. 56) aus der Washingtoner National Gallery hinzuweisen.2 Nicht nur, daß wir hier wie dort einem von gelassenem Selbstbewußtsein getragenen Verhalten begegnen, übereinstimmend ist auch die souverän gewahrte Distanz, in der beide Porträtierte dem Betrachter gegenüber verharren und dabei das ihnen jeweils zugewiesene Bildformat ebenso unaufdringlich wie selbstverständlich beherrschen. Allerdings bleibt die figürliche Erscheinung bei Sebastiano der hier betont atmosphärisch entwickelten Tiefe des Bildgrundes ungleich stärker verhaftet als bei Muziano, dessen blockhaft geschlossene und präzis konturierte Gestalt eher plastisch greifbar aus einer nur wenig abgestuften Dunkelheit hervortritt. Vor allem aber ist es der spezifisch ausgeprägte Einsatz zeichnerischer Mittel, welcher uns angesichts des Gelehrtenporträts aus Privatbesitz jeden Gedanken an Sebastiano verbietet. Man achte nur auf die eindringliche Durchbildung des gefurchten Greisenantlitzes, dessen rötliche Tönung leicht abgemildert in den schlank gegliederten Händen wiederkehrt. Desgleichen verrät das grob gebrochene Faltenwerk des in bläulichem Licht seidig aufglänzenden Mantels ein energisches Bemühen um plastische Wirkungen, an deren Stelle bei Sebastiano malerisch weich verklingende Abläufe die kaum weniger großformige Gewandung umgreifen. Tatsächlich ist der seit Ende 1549 verstärkt einsetzende Einfluß Michelangelos und seiner Nachfolger auf den inzwischen nach Rom übergesiedelten Muziano auch im Falle des Gelehrtenporträts aus Privatbesitz unverkennbar.3 Allerdings bleiben daneben jene Anregungen von Seiten Sebastianos wirksam, denen Muziano während seines unmittelbar voraufgegangenen Aufenthalts von nahezu vier Jahren in Vene1

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Tafel, 133 x 95 cm; angeblich aus dem Besitz der Maria Anna (Elisa) Bonaparte, seit 1805 Fürstin von Piombino; später in der Sammlung Schiff-Giorgini, Pisa; hier u. a. Sebastiano des Piombo zugeschrieben. Washington, National Gallery of Art, Inv. Nr. 1400, Tafel, 134,7 x 101 cm; vgl. M. Hirst, Sebastiano del Piombo, Oxford 1981, S. 101/02, Abb. 1 0 8 - 9 . siehe H. Voss, Die Malerei der Spätrenaissance in Rom und Florenz, Berlin 1920, II, S. 559, an welcher Stelle es über Muziano heißt: „Man kann ihn geradezu als einen geistigen Fortsetzer seines Landsmannes Sebastiano del Piombo ansehen, obwohl der Manierismus auch an ihm nicht spurlos vorübergehen konnte".

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dig immer wieder gefolgt war, nachdem er sich übrigens schon im Jahre 1544 als Zwölfjähriger von seinem Geburtsort Brescia aus in die Lehre eines sonst unbekannten Malers Francesco Picchena nach Padua begeben hatte. Einen besonders anschaulichen Beweis für die Intensität dieser Auseinandersetzung liefert etwa der Hl. Antonius Abbas von Muziano (Abb. 58) im Philadelphia Museum of Art 4 , bei dem es sich um eine nahezu wörtliche Wiederholung des erst kürzlich von Michael Hirst veröffentlichten Gemäldes von Sebastiano del Piombo (Abb. 59) im Musée National du Chateau de Compiègne handelt 5 . Obwohl sichtlich bestrebt, seinem Vorbilde so nahe wie möglich zu kommen, verbleibt Muziano demselben gegenüber wiederum in einer ähnlichen Distanz, wie sie sich bereits aus der Konfrontation des Gelehrtenbildnisses (Abb. 55) mit dem Humanistenporträt aus Washington (Abb. 56) ergeben hatte. Statt die aus einem tonig verschatteten Raumdunkel nahezu übergangslos hervortretende Erscheinung des Heiligen — wie bei Sebastiano — in ihrer gedämpften Verhaltenheit unbeeinträchtigt zu belassen, drängt die Figur bei Muziano geradezu ungestüm ins Blickfeld des Betrachters. Unterstrichen wird dieser Eindruck durch das hier ungleich schwerfälliger sich bauschende Gewand als vor allem auch angesichts der spürbar vergröberten Physiognomie des Heiligen. Während Sebastiano das in ein zart nuanciertes Helldunkel gebettete Lineament der Gesichtsbildung feinfühlig nachempfindet, verfallt Muziano über seinem Bemühen um die charakteristischen Züge des vom Alter gezeichneten Männerkopfes unversehens in einen geradezu drastischen Ton. Dabei verspannen die in Stirn und Wange tief eingegrabenen Furchen das knapp gehaltene Relief der Gesichtsoberfläche mit dem scharf umrissenen Profil, das sich auf diese Weise von dem Raumgrund dahinter ebenso unvermittelt absetzt, wie die knöchern gebildeten Hände von den Dunkelzonen des Gewandes. Daneben erscheint hier die Landschaft deutlich silhouettenhafter behandelt und in ihren verschiedenen Bereichen massiger zusammengezogen, während dichter geballte Wolken der Durchsichtigkeit des Himmels entgegenwirken. Überhaupt kommt es anstelle des für Sebastiano kennzeichnenden Anschwellens und Abklingens farbiger Tonwerte bei Muziano ganz allgemein zu einer vorerst zwar nur behutsam angedeuteten Verdichtung gelber, grüner und rötlicher Lokaltöne, deren ungleich entschiedeneres Auftreten uns bereits von seinem Gelehrtenbildnis 4

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Leinwand, 131,5 x 99 cm; siehe Kat. der Johnson Collection (Italian Paintings) Philadelphia 1966, S. 21, Nr. 193; vgl. R. Pallucchini, Sebastiano del Piombo Viniziano, 1944, S. 188: „— typical work of Girolamo Muziano"; M. Lucco, Sebastiano del Piombo (Classici dell'Arte, 99) Mailand 1980, S. 130, Nr. 161. — Eine Kopie von unbekannter Hand in der Karlsruher Kunsthalle (siehe „Katalog Alter Meister bis 1800", bearb. von Jan Lauts, Karlsruhe 1966, S. 217, Nr. 420: Lindenholz, 74,5 x 73 cm. Schlecht erhalten; Abb. 218 im Abbildungsband). Tafel, 117 x 90 cm; Inv. Nr. 841 (B 1344); siehe Cat. sommaire illustré des peintures du musée du Louvre. II Italie, Espagne, Allemagne, Grand-Bretagne et divers. Paris 1981. Index 5: Tableaux déposés par le Louvre. S. 299, Inv. Nr. 841 (Compiègne) sowie M. Hirst, Sebastiano del Piombo, Oxford 1981, S. 79/80, Anm. 22 und Abb. 112.

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(Abb. 55) her vertraut ist, wo etwa zwischen der roten Gesichtsfarbe und dem Hellblau der Augen ein lebhaftes Kontrastverhältnis hergestellt ist. Ein ähnliches Ausufern reiner Farben charakterisiert auch die halbfigürliche Darstellung eines heiligen Eremiten in einer Landschaft (Abb. 60) von Muziano aus dem Besitz der vatikanischen Pinakothek. 6 Hier schließen sich kalte Blau- und Grüntöne der an niederländischen Vorbildern orientierten Landschaft mit dem stumpfen Rot des Kopfes in der Bildfläche facettenhaft zusammen. Gleichzeitig macht sich jedoch nicht nur in der Landschaft eine zeichnerisch präzisere Durchbildung der Einzelformen bemerkbar, auch der betont rundplastisch behandelte Schädel des Anachoreten verrät einen beträchtlichen Verzicht auf bislang von Muziano bevorzugte Helldunkelwirkungen. Dasselbe gilt für die straffe Umschreibung des langärmeligen Mönchsgewandes, dessen gleichmäßig durchgehaltene Prägnanz ebenso auf die kühle Eleganz der Amtstracht des Bildnisses aus Privatbesitz (Abb. 55) verweist, wie die eindringlich behandelte Gelehrtenphysiognomie dort durch die scharf umrissenen Gesichtszüge des Büßers vorbereitet erscheint. Dieser vergleichsweise gezügelten Vortragsweise entspricht schließlich die auf karg eingesetzte Pinselstriche beschränkte Modellierung des Körpers Christi am Kreuze. Einem zunehmend verstärkten Einsatz zeichnerischer Mittel begegnen wir in dem bereits der römischen Frühzeit Muzianos aus den Jahren um 1550 angehörenden Freskenzyklus aus S. Caterina della Ruota, für den J. A. Gere eine Beteiligung Taddeo Zuccaris zumindest in der Planungsphase hat glaubhaft machen können. 7 In welchem Maße die dabei vollzogene Rezeption formaler Vorstellungen des römischen Manierismus den Gesamteindruck bestimmt, verdeutlicht auch die im Detail wiedergegebene Gestalt des Hl. Joseph (Abb. 61) aus dem Fresko mit der Aufforderung des Engels zur Flucht nach Ägypten. Kurvig und knapp umschriebene Einzelformen fügen sich hier zu einem von heftig ausfahrenden Gesten begleiteten Kontext praller Körperlichkeit, die einer nur mühsam beherrschten Erregung beinahe gequält Ausdruck verleiht. Solche Art hochgespielter Emphase hat allerdings mit der ruhigen Ausgeglichenheit unseres Gelehrtenporträts (Abb. 55) wenig gemein, obwohl die in beiden Fällen übereinstimmende Handschrift des ausführenden Künstlers nicht zu übersehen ist. Durchaus vergleichbar behandelte Details wie auch die jeweils auf große Formvorstellungen zielende Vortragsweise insgesamt machen das ohne weiteres deutlich. Völlig unberührt bleibt das Gelehrtenporträt dagegen von jenem in dem Fresko aufgekommenen Zug manieristischer Verkrampfung, welcher sich im

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Musei Vaticani, Inv. Nr. 367, Leinwand 134,5 x 112 cm. siehe Burlington Magazine, CVIII/1966, S. 417/18: Girolamo Muziano and Taddeo Zuccaro: A Note on an Early Work by Muziano; einen weiteren Beleg für die damals von Muziano erreichte Stilstufe liefert eine Kopfstudie im Amsterdamer Kupferstichkabinett, abgebildet bei L. C. J. Frerichs, Italiaanse Tekeningen II de 15 de en 16 de Eeuw. Rijksprentenkabinett/Rijksmuseum Amsterdam, 26. S e p t . - 1 3 . Dez. 1981, S. 47, Nr. 90 mit Abb.

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weiteren Verlauf der künstlerischen Entwicklung Muzianos allerdings schon bald wieder gänzlich löst. Ein Blick auf das um 1576/78 entstandene Deckenbild in der Sala del Concistorio des Vatikan mit einer Pfingstdarstellung (Abb. 57) mag das bestätigen.8 Es gehört in die Reihe jener zahlreichen Aufträge, mit denen der Künstler von dem ihm besonders gewogenen Papst Gregor XIII. (1572—1583) bedacht wurde. 9 Auf einem über Stufen ansteigenden Podium wie zu einer Bühnenszene vereinigt, wohnt die vielköpfige Menge der Apostel und heiligen Frauen in würdiger Verhaltenheit dem überirdischen Ereignis bei. Anzeichen von Ergriffenheit klingen zwar gedämpft an, schlagen jedoch zumeist um in ein ziemlich pathetisches Agieren einförmig typisierter Gestalten, deren Aktionen in dem ihnen jeweils zugewiesenen Rollenspiel sogar nicht selten beliebig austauschbar erscheinen. Nicht frei von solchen Schwächen ist selbst die ursprünglich für Gregors XIII. Kapelle in St. Peter bestimmte und später nach S. Maria degli Angeli überführte „Predigt des hl. Hieronymus" von Muziano, ohne daß die bereits von Voss hervorgehobene, feierliche Wirkung dieser in einer weitläufigen Landschaft abgehandelten Szene gänzlich zu verkennen wäre. 10 Von solchen Anzeichen formaler Erschöpfung kann jedenfalls angesichts des Gelehrtenporträts aus Privatbesitz (Abb. 55) noch keine Rede sein. Davor bewahrt blieb Muziano hier vor allem durch den schon eingangs nachgewiesenen Zusammenhang mit der selbstsicheren Vortragsweise Sebastianos, die ihm zunächst auch bei der seit 1549 aufgenommenen Auseinandersetzung mit römischen Vorbildern seine Eigenständigkeit sicherte. Endlich ließ sich anhand einer Gegenüberstellung mit dem thematisch zwar weniger gewichtigen Eremiten aus der vatikanischen Pinakothek (Abb. 60) eine für die römische Anfangszeit Muzianos kennzeichnende Steigerung farbiger Ausdrucksmittel aufzeigen, die allerdings im Falle unseres Gelehrtenporträts mit Rücksicht auf die Distinktion der vorgestellten Persönlichkeit merklich gezügelt erscheint. Unbeantwortet bleibt indessen die Frage nach deren Identität. Zwar dürfte kaum zweifelhaft sein, daß wir es hier mit einer Person hohen gesellschaftlichen Ranges zu tun haben und es erscheint daraufhin immerhin denkbar, darin jenen 1565 zum Kardinal erhobenen Marcantonio Colonna (1523 — 1597) zu erkennen, dessen bislang verschollenes Bildnis von der Hand Muzianos zudem in der 1584/

siehe in der 1584/85 von seinem Beichtvater verfaßten Vita Muzianos, veröffentlicht von Ugo Procacci in Arte Veneta, 8/1954, spez. S. 251 und Anm. 57 mit Hinweis auf die Stelle in der Muzianovita von Borghini (1584): „Nella stanza del Concistorio è di sua mano nel palco, l'istoria dell'avvenimento dello Spirito Santo con un gran numero di figure", während Baglione (1642) angesichts desselben Gegenstandes noch ausdrücklich hinzufügt: „— e diverse teste ritratte dal naturale di vecchioni, assai belle con buona maniera ad olio dipinte". ' siehe H. Voss, Die Malerei der Spätrenaissance in Rom und Florenz, Berlin 1920, II, S. 566. 10 siehe H. Voss, a. a. O., Berlin 1920, II, S. 562 und Abb. 226; vgl. L. v. Pastor, Geschichte der Päpste, Freiburg i. Br. 1928, IX, S. 796. 8

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85 niedergeschriebenen Vita des Künstlers ausdrücklich hervorgehoben wird. 11 Zumindest scheinen auch einige im 17. Jahrhundert entstandene Porträtstiche nach späteren Bildnissen dieses Kardinals eine solche Möglichkeit nicht gänzlich auszuschließen, wenngleich deren unzureichende Qualität ein verbindliches Urteil vorerst nicht zuläßt. 12 Sicher ist nur, daß wir es hier mit einem hervorragenden Beispiel jener in Rom intensiv fortgesetzten Porträttätigkeit Muzianos zu tun haben, auf deren nähere Betrachtung wir an dieser Stelle allerdings verzichten müssen.13 Die weiterhin offene Benennung des Gelehrtenporträts aus Privatbesitz aber fallt inzwischen umso weniger ins Gesicht, als wir uns hier mit einer Person konfrontiert sehen, deren individuelle Erscheinung durch die ihr beigegebenen Züge allgemein menschlicher Natur das Ansehen einer von zeitlicher Bedingtheit unabhängigen Persönlichkeit repräsentativen Charakters gewinnt.

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siehe in der Vita Muzianos (vgl. Anm. 8), veröffentlicht in Arte Veneta, 8/1954, spez. S. 250 und Anm. 20. siehe Ferd. Ughellus, Columnensis Familiae Nobilissimae S. R. E. Cardinalium. Ad vivum espressa imaginum. Roma 1650, Nr. X V I (Sign. Vat.: Barb Z III 49) und Dom. De Santis, Columnensium procerum imagines ..., Roma 1675, Nr. X V I (Sign. Vat.: Cicognara IV, 2104). siehe in der Vita Muzianos von 1584/85 (vgl. Anm. 8), veröffentlicht in Arte Veneta, 8/1954, spez. S. 251: „Onde fu poi forzato, richiesto da Sig. et Gentil'homini, farne molti ritratti, non si potendo satiare di cosa cosi divota".

C H R I S T I A N A D O L F ISERMEYER

Veduta ferma* Zur Bedeutung der Schrägsicht für die Sixtinische Decke1 In seinem 1961 erschienenen Aufsatz „Zur Bedeutung der Schrägsicht für die Deckenmalerei des Barock" hat Wolfgang Schöne, nach wichtigen Ausführungen grundsätzlicher Art zum Thema, an einigen italienischen Beispielen des späten 16. und des 17. Jahrhunderts überzeugend erläutert, wie nur in der Schrägsicht die Bilder den Absichten ihrer Schöpfer gemäß zur richtigen formalen Erscheinung kommen und ihren wahren inneren Sinn offenbaren. Um das Gesagte anschaulich zu machen hat er neue Aufnahmen anfertigen lassen, da die herkömmlichen Aufnahmen sinnwidrig senkrecht von unten gemacht sind. Diese neuen Aufnahmen in Schrägsicht zeigen, wie Schöne feststellt, „daß es trotz unvermeidlicher Verzerrungen (die sich in der Photographie stark aufdrängen, während das lebendige Auge sie vor dem Original sofort korrigiert) auch der photographischen Linse möglich ist, einiges von dem wahren künstlerischen Leben solcher Malereien einzufangen" (S. 145). Noch besser freilich als mit starrem „einäugigem" Objektiv gemachte Aufnahmen können, wie die beigegebenen Skizzen Schönes beweisen, zeichnerische Wiedergaben die mit beweglichem „zweiäugigem" Blick gemachte Wahrnehmung verdeutlichen. „Auch für das Kunstmittel der Schrägsicht horizontal liegender Deckenbilder hat die Hochrenaissance den Grund gelegt" sagt Schöne später (S. 149) und führt als Beispiel Michelangelos Decke der Sixtinischen Kapelle an. Den Grund gelegt haben wohl die Meister der Frührenaissance mit ihren theoretischen und praktischen Arbeiten zur Zentralperspektive, in erster Linie also Brunelleschi und Masaccio, auf denen dann Uccello, Alberti, Piero della Francesca, Mantegna, Melozzo da Forli * Die in Text und Anmerkungen mit Verfassernamen und, gegebenenfalls, Erscheinungsjahr zitierte Literatur ist im alphabetisch geordneten Verzeichnis am Schluß aufgeführt. 1 Dem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, den ich, angeregt durch die, von größtem künstlerischem Verständnis getragenen, unübertroffenen Interpretationen von Wölfflin und Justi, im Winter 1954/ 55 vor den Freunden der Hamburger Kunsthalle gehalten und dann, unter Berücksichtigung der jeweils neu erschienenen Literatur und Einarbeitung eigener neuer Beobachtungen, in veränderter Form an verschiedenen Stellen oft wiederholt habe. In Rom hielt ich ihn 1964 im Rahmen eines von Wolfgang Lötz an der Bibliotheca Hertziana veranstalteten Seminars, das die willkommene Möglichkeit bot, die vorgetragene Interpretation vor — bzw. unter — dem Original noch einmal zu erläutern und mit den Teilnehmern zu erörtern. Die Festschrift für meinen verehrten, mir durch ein gemeinsames Studiensemester in Göttingen (bei Vitzthum, Stechow und Pevsner) und durch eine 25 Jahre währende gemeinsame Lehrtätigkeit in Hamburg verbundenen Freund und Kollegen Schöne gab Anlaß zu der hier vorliegenden Fassung in Aufsatzform.

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und andere aufbauten; die erste Deckenmalerei, die in Schrägsicht wahrgenommen werden muß, ist aber sicherlich die Decke der Sixtinischen Kapelle. Auch von ihr gab es lange Zeit nur in senkrechter Untersicht gemachte Aufnahmen 2 . Erst Tolnay veröffentlichte 1935 — und dann wieder 1945 — zwei in seinem Auftrag gemachte Aufnahmen in Schrägsicht (Abb. 62, 63), die nach Schöne (S. 149, Anm. 5) „unbefangener Sicht entsprechen und etwas von dem Gemeinten zeigen" 3 . Merkwürdiger Weise aber zeigt sich Schöne seinerseits bei der Sicht der Decke — anders als bei der Sicht der von ihm interpretierten barocken Deckenbilder — seltsam befangen oder voreingenommen. Die Bilder im Deckenspiegel liest er nicht, wie das ein Unbefangener tut und wie das — von wenigen Ausnahmen abgesehen — bisher immer getan wurde, in ihrer erzählerischen Reihenfolge von der Altarwand her gegen den Eingang, sondern — ihrem Entstehungsgang folgend — ebenso wie Tolnay 1935 und 1945, der diese Bilder in neuplatonischem Sinn verstanden wissen will, und wie nach ihm aus anderen Gründen mehrere andere Autoren 4 vom Eingang her gegen den Altar. Der durch das Portal im Osten Eintretende muß danach seinen Blick sofort, mit stark in den Nacken zurückgelegtem Kopf, senkrecht in die Höhe richten zum Bilde der Schande Noahs, das „gleichsam in einer nach oben gekehrten Horizontalsicht" gesehen wird, und dann in die folgende „Addition von Einzelbildern" (S. 169), sozusagen gegen den Strich, jeweils vom oberen Rand der Bildkomposition her, eindringen. Genau in der umgekehrten Reihenfolge, von der Altarwand zum Eingang müssen die Bilder des Deckenspiegels, ja, die ganze Deckenmalerei gesehen werden; nur solche Sicht ist unbefangen und ungezwungen, nur in ihr offenbart sich ihr künstlerisches Wesen, formal wie geistig. Das soll dargelegt werden (Teil II). Zunächst aber müssen (in Teil I) zum

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Bei der Größe der Decke aus mehreren Aufnahmen zusammengesetzt. So z. B. die Abbildung bei Schubring 1909, Tafel 77/78; ähnliche Abbildungen bis in die Gegenwart immer wiederholt, z. B. bei Tolnay 1945, Portoghesi e Zevi (1964) und Seymour jr., 1972. Vorausgegangen waren die Abbildungen nach einer schematisierten Chromolithographie von Gruner bei Springer 1878 und einem Stich von Cunego bei Steinmann 1905 (Tafelband), in denen die gesamte Deckenzone, einschließlich der Lünettenfelder unter den Stichkappen, in der Fläche ausgebreitet erscheint. Eine farbige Aufnahme in Schrägsicht bei Salvini 1971, T. I, S. 43, flg. 45. Drei Beispiele: a) Freedberg 1961, S. 92—112 (vom Autor selbst veränderter Abdruck bei Seymour, 1972, S. 189—207) liest die Bilder im Deckenspiegel in „irreversible direction ... from entrance to altar", während er 1971, S. 21 im Gegensatz zu den S. 468, Anm. 16 zitierten anderen Meinungen feststellt: „With surpassing power to convince, the Sistine Ceiling basically means what it instantly and evidently says". b) Ragghianti, 1971, der die Darstellungen innerhalb eines, von ihm frei ersonnenen höchst komplizierten Netzwerks abliest, das er dem Schema der Decke auferlegt hat, stellt, S. 290, fest: „Zacharia is situated and depicted the way he is, because he can be seen above as soon as one enters the Chapel, and he initiates the itinerary of the Ceiling". c) Seymour 1972, S. 85 schreibt: „By this device, which in effect reverses the chronological order of events, the artist in a visual sense lifts these events out of time and into a whole new context of sensation and ideas".

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Christian Adolf Isermeyer

richtigen Verständnis einige Fakten in Erinnerung gerufen, bzw. für unseren Zweck neu festgestellt werden. Ikonographische Probleme sollen dabei außer Betracht bleiben. I.

A. Die ab etwa 1475 unter Sixtus IV. ( 1 4 7 1 - 1 4 8 4 ) im Westen der - ab 1540 zur Sala Regia umgestalteten — Aula prima oder Aula magna des Vatikanischen Palastes errichtete und von ihr aus zugängliche Kapelle mißt über 40 m in der Länge, über 13 m in der Breite und über 20 m in der Höhe5. Die Altarwand im Westen ist um fast einen Meter schmaler als die Eingangswand, sodaß die Längswände zu ihr hin leicht konvergieren 6 . Nach Vollendung des Bauwerks erhielt die Kapelle nach den Angaben des Papstes durch die berühmtesten toskanischen und umbrischen Künstler die Ausmalung, für die sie von Anfang an bestimmt war. Am 15. August 1483, dem Tage von Mariae Himmelfahrt, wurde sie der Assunta geweiht. Vom damaligen Aussehen des Inneren, das nur 25 Jahre unverändert blieb, ehe Michelangelo ab 1508 die neue Deckenmalerei und ab 1534 an der Altarwand das Jüngste Gericht schuf, hat Steinmann 1901 (Tafel VII) eine Rekonstruktionszeichnung veröffentlicht; sie wurde bis in unsere Gegenwart hinein immer wieder abgebildet, obwohl seit etwa 30 Jahren schwerwiegende Fehler darin aufgedeckt wurden 7 . In Abbildung 64, die

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Die Maßangaben in der Literatur stark abweichend. Am zuverlässigsten hier wohl Tolnay, 1945, S. 11, dem wir folgen. Wilde, 1958, S. 76. Die Berichtigungen betreffen die später von Michelangelo veränderten Teile, d. h. A) die Decke und B) die Altarwand A) Für die ursprüngliche Deckenmalerei gibt es eine Zeichnung von Pier Matteo d'Amelia, die sich heute in den Uffizien in Florenz befindet (Disegni di Architettura, Nr. 711). Zuerst wies Klaczko, 1898, auf sie hin (S. 348, Anm. 1). Steinmann 1901, S. 191 veröffentlichte sie in einer Umzeichnung, Tolnay, 1945, Abb. 253 in einer Originalaufnahme; eine farbige Abbildung bei Salvini, 1971. In dieser Zeichnung ist der blaue Himmelsgrund unregelmäßig mit goldenen Sternen bestreut, nicht in konzentrischen Kreisen wie bei Steinmann, außerdem ist das Mittelfeld an beiden Schmalseiten gegen die Zwickelfelder fest durch eine Profilleiste abgeriegelt, verläuft also nicht in sie hinein wie an den Längsseiten; und schließlich sind die aneinanderstoßenden Stichkappen in den Ecken klar voneinander abgesondert, verbinden sich also nicht zu einem übergreifenden sphärischen Dreieck. Auf diese Abweichungen machte Guldan, 1954, S. 18/20 in seiner — für die Sixtinische Decke äußerst wichtigen — Dissertation aufmerksam, die von der Michelangelo-Forschung bisher nicht beachtet wurde. Ettlinger, 1965, S. 15/16 läßt offen, ob der Entwurf ausgeführt wurde. Die Decke muß aber auf jeden Fall ausgemalt gewesen sein, bevor ca. 1481 die Ausmalung der Wände begann. B) Für die Altarwand ergibt sich eine Änderung aus der Tatsache, daß das Zwickelfeld (in dem Michelangelo später Jonas darstellte) von einer Konsole abgestützt wird, die aus der Erbauungszeit stammt; unter ihr befand sich also nicht, wie an der gegenüberliegenden Eingangswand und wie an den Längswänden, ein das Feld zwischen den Fenstern teilender — von gemalten Nischen mit Papstfiguren flankierter — Pilaster, wie die Rekonstruktion bei Steinmann angibt. Wilde, 1958, der darauf aufmerksam machte, vermutet, S. 70, daß in diesem Feld zwischen Petrus und Paulus Christus

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einen Ausschnitt der Rekonstruktionszeichnung zeigt, sind diese Fehler summarisch berichtigt. Der langgestreckte Raum wird in halber Höhe ringsum von einem Gebälk umklammert, über dem die Wände etwas zurückspringen. Zwei Mal wird diese Umklammerung in etwas abgeschwächter Form wiederholt: einmal in der unteren Hälfte durch ein, teilweise nur gemaltes, Gebälk, das oberhalb der Cantoria und durch sie unterbrochen, zwei verschieden hohe Wandstreifen trennt, ein anderes Mal in der oberen durch ein, von den rundbogigen Fenstern unterbrochenes Kämpferprofil, über dem sich die Decke erhebt. Diese waagerechte Gliederung wird durchkreuzt von einer senkrechten: die Felder zwischen den Fenstern — sechs an den Längsseiten, zwei an den Schmalseiten (die an der, an den Palast anschließenden, Eingangsseite als Blendfenster angelegt) — sind, mit Ausnahme der Altarwand, in ihrer Mitte unterteilt durch flach vorspringende Lisenen, die auf dem Wandrücksprung aufsitzen und mit ornamentalem Schmuck bemalt sind. In ihrer Achse befinden sich unterhalb des Gebälks zwei übereinander stehende, ebenfalls ornamentierte Pilaster, die in den beiden Wandstreifen große Felder schaffen, sechs an den Längs-, zwei an den Schmalseiten. Das Gewölbe endlich — eine flache Mulde, in die über den Fenstern Stichkappen einschneiden, die um deren gemalte Rundbogen Lünettenfelder bilden — ist architektonisch völlig ungegliedert. Was hier wie Architektur erscheint, ist gemalt: breite Profilleisten rahmen die Stichkappen, die an den Ecken des Raums zusammenstoßen, und betonen — in Kontrast und Ergänzung zu den Waagerechten und Senkrechten an den Wänden — in ihrem Zickzacklauf die Diagonale. An den Schmalseiten ist das Zwickelfeld zwischen den beiden Stichkappen durch die gleiche Rahmenleiste wie bei diesen vom Mittelfeld abgesondert, während sich in den Zwickelfeldern der Langseiten das Mittelfeld zwischen den Stichkappen bis zum verkröpften Kämpfer der Lisenen herabzieht, wodurch der ausgezackte Rand der Wölbung weiterhin stark betont wird. Die Ausmalung der Deckenzone ist ausgesprochen sparsam und rein dekorativ: Lünettenfelder und Stichkappen sind leer gelassen; im Deckenfeld befinden sich goldene Sterne auf blauem Grund: Gleichnis des Himmelszelts. Auch der untere Wandstreifen ist als Sockelzone rein dekorativ ausgemalt: zwischen der umlaufenden Marmorbank und dem unteren Gebälk befinden sich, von den Pilastern getrennt, ausgespannte Teppiche. Figürlich ausgemalt sind nur die beiden dazwischen liegenden Wandstreifen. Zu Seiten der Fenster in Nischen die, durch Inschriften bezeichneten, Idealbildnisse der dreißig ersten, heiliggesprochenen Märtyrerpäpste, in ihrer

dargestellt war, etwa an der gleichen Stelle, an der er sich im Jüngsten Gericht Michelangelos befindet. Unsere Berichtigung in Abbildung 2 folgt Wilde, der auf Tafel VI, b eine schematische Rekonstruktion der Altarwand im Jahre 1483 gibt. Eine andere, aus vielen Gründen nicht überzeugende, Rekonstruktion mit einem sechs Meter (!!) hohen Altarbild schlägt Ettlinger 1965, S. 22/26 und Tafel 44 b vor. Eine ablehnende Stellungnahme dazu erübrigt sich in unserem Zusammenhang.

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chronologischen Folge von Wand zu Wand überspringend; darunter in gleichmäßig fortlaufender Folge und typologischer Entsprechung im Süden Ereignisse aus dem Leben des Moses, im Norden Ereignisse aus dem Leben Christi, der Welt unter dem Gesetz und der Welt unter der Gnade. Hier wie dort entwickelt sich die Reihenfolge von der Altar- zur Eingangswand, alter Tradition folgend. Die Lichtführung unterstreicht das unauffällig: die Schlagschatten sind auf einen Lichteinfall durch die beiden Fenster der Altarwand bezogen. An den Längswänden sind die einzelnen Abschnitte unter den Stichkappen und zwischen den Pilstern in ihrer ganzen Höhenentwicklung als formal zusammengeschlossene Einheiten auf einen jeweils vor der Mitte des gegenüberliegenden Abschnitts stehenden Betrachter bezogen, ohne daß eine perspektivische Konsequenz hinsichtlich des Augenpunkts waltet (vgl. Steinmann 1901, Tafel XV/XVI). Die Historienbilder sind in starker Aufsicht gesehen, d. h. auf einen höher liegenden Augenpunkt berechnet, und in ihrer Komposition, vor allem in den Architekturen auf die Mittelachse des Bildfelds ausgerichtet. Umgekehrt sind die Nischen darüber mit den Papstfiguren — die beträchtlich größer sind als die Figuren der Historienbilder (diese im Vordergrund etwas unterlebensgroß, jene etwas überlebensgroß) — in starker Untersicht gesehen, d. h. auf einen tiefer liegenden Augenpunkt berechnet, aber nicht, den Historienbildern entsprechend, auf einen gemeinsamen, in der Mittelachse des dazwischen befindlichen Fensters liegenden Fluchtpunkt bezogen, sondern jede auf einen eigenen, der in ihrer Mittelachse liegt. Für die Schmalwände gilt Ähnliches. Das in der Sockelzone auf die Mauer gemalte Altarbild — durch eine Zeichnung in der Albertina bekannt73 — stellt die Assunta dar, der die Kapelle geweiht ist. Schließlich ist zu erwähnen die Cancellata, die etwa in der Mitte des Raums, am Ende der Sängertribüne, den rückwärtigen, der Geistlichkeit vorbehaltenen Teil mit Altar und Papstthron von dem vorderen, für die Laien bestimmten Teil trennt. Sie wurde um 1570 weiter nach vorn, d. h. nach Osten, versetzt, an die Stelle, wo sie sich heute befindet. Die ehemalige Trennungslinie ist am Muster des Fußbodens noch deutlich zu erkennen. B. Am 10. Mai 1506 hören wir zum ersten Mal von einem schon seit längerer Zeit erwogenen Plan Julius II. (1503—1513), eines Neffen Sixtus' IV., die Decke der Kapelle von dem damals 31jährigen Michelangelo neu ausmalen zu lassen. Dieser sträubte sich zunächst, stellte aber nach etwa zwei Jahren seine drei noch in Arbeit befindlichen großen Vorhaben — in Florenz die Wandgemälde für den großen Ratssaal und die zwölf Apostelfiguren für den Dom, in Rom das Riesengrabmal des Papstes für die Peterskirche — zeitweise zurück und übernahm den Auftrag, der ihn bei zunehmender Begeisterung völlig beschäftigte und den er mit Unterbrechungen innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren in der erstaunlich 7a

Abbildung bei Steinmann, 1901, S. 285 und Ettlinger 1965, Tafel 34c.

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kurzen Arbeitszeit von etwa 20 Monaten in einem wahren Schaffensrausch vollendete. Am 10. Mai 1508 notierte er, daß er die Arbeit an diesem Tage begonnen habe, im Oktober 1512 schrieb er seinem Vater, daß sie vollendet sei8. Es ist hier nicht nötig, den Verlauf des Arbeitsgangs im einzelnen zu verfolgen und zu erörtern. Wichtig ist nur, festzuhalten, daß Michelangelo noch im Jahre 1508 Entwürfe für die Anlage der Deckenmalerei machte, von denen sich drei erhalten haben, zwei Teilentwürfe und ein Gesamtentwurf 9 und daß er Ende 1508 oder Anfang 1509 die Arbeit an der Decke selbst nach dem endgültigen Entwurf im Osten — also an der Eingangsseite — begann, wahrscheinlich mit dem Bild der Sintflut im Deckenspiegel für ein damals vermutlich noch anders geplantes Bildprogramm. In drei oder vier Abschnitten rückte sie, diesem Entwurf folgend, voran nach ad hoc angefertigtenTeilkartons, die noch Änderungen innerhalb der Gesamtanlage erlaubten und für Bild- und Figurenschmuck im einzelnen bis zuletzt volle Freiheit ließen; für jeden Abschnitt wurde ein frei tragendes Gerüst errichtet und das Mauerwerk nach Bedarf für die Übertragung der Kartons in Freskenmalerei vorbereitet. Der Abbruch des ersten Teilgerüstes ermöglichte dem Künstler, sein Werk zum ersten Mal von unten zu betrachten und verursachte Änderungen innerhalb des Gesamtentwurfs, vor allem hinsichtlich des Maßstabs. C. Die beiden in Frühjahr und Sommer 1508 zu datierenden Teilentwürfe für die Decke (Tolnay 1945, Abb. 230 und 231), die dem sehr andersartigen — von Guldan, 1954, S. 39 als „Improvisation" bezeichneten — Gesamtentwurf vorausgehen (Tolnay 1945, Abb. 232), zeigen bereits zwei wichtige Ansätze im Hinblick auf die Ausführung: 1. Die Abriegelung der Zwickel an der Schmalseite, die Michelangelo vorfand — oder die jedenfalls im Entwurf für die ursprüngliche Deckenausmalung als Sternenzelt vorgesehen war —, wird auch an den Längsseiten durchgeführt und zwar in Form eines Gebälks, das sich oberhalb der Spitzen der Stichkappen hinzieht. Auf diese Weise wird innerhalb der Mulde ein längsrechteckiger Deckenspiegel abgegrenzt. 2. In den abgesonderten Zwickelfeldern werden zwischen den stark betonten Rahmungen der Stichkappen halbrund abschließende Nischenthrone für große Sitzfiguren angebracht, über deren flankierenden Pilastern sich das Gebälk des Deckenspiegels verkröpft, perspektivisch auf die Mittelachse eines jeden Feldes

Auszüge aus den diesbezüglichen Dokumenten mit Quellenangaben in (teilweise nur vermuteter) chronologischer Reihenfolge bei Tolnay, 1945, S. 217/249. Danach in Auswahl und englischer Übersetzung mit Kommentar bei Seymour, 1972, S. 102/109. Bei Seymour, S. 69/97 auch eine gedrängte Darstellung der Entstehungsgeschichte und eine Erörterung der strittigen Fragen. Neue Beobachtungen bei Wundram, 1974. « In London und Detroit; Dussler, 1959, Nr. 163 (Abb. 36), 5 (Abb. 37) und 329 (Tolnay 1945, Abb. 232) mit Stellungnahme zur vorausgegangenen Forschung. Guldans Untersuchungen (Anm. 11) sind dabei nicht genügend berücksichtigt. 8

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verkürzt. Im ersten Entwurf ragen diese Throne, das Gebälk unterbrechend, in den Deckenspiegel hinein und bilden Auffanglager für einen verbindenden Querriegel, der aber noch nicht zu klarer Durchbildung kommt, im zweiten Entwurf bleiben sie unterhalb des nun durchlaufenden Gebälks, über diesem aber stellen klar ausgebildete Querriegel jetzt die Verbindung innerhalb des Deckenspiegels her, der durch sie wie durch breite Gurtbogen in Joche unterteilt wird. Diese Gurtbogen und die dazwischen liegenden Flächen sind von regelmäßig angeordneten Felder erfüllt, die anfanglich wohl rein ornamental, am Ende vielleicht schon für figürliche Darstellungen geplant waren. Auf den zwölf Thronen sollten — wie Michelangelo selbst bezeugt10 — die zwölf Apostel Platz finden, die Vorgänger der darunter an den Wänden dargestellten Päpste11. D. Aus der Vielfalt der Ideen, die sich in den Entwürfen niedergeschlagen haben, kristallisiert sich dann Ende 1508, in Verbindung mit einem neuen Bildund Figurenprogramm, die Gliederung der Deckenzone so heraus, wie sie ausgeführt wurde. Die Formen der vorgegebenen Mulde, in der ringsum an den Rändern Stichkappen und Zwickel in Zickzackbewegung ein- und ausspringen, sind wie in der ursprünglichen Gestaltung — ja, noch stärker — hervorgehoben und betonen die Diagonalrichtung, besonders stark in den Ecken, in denen — abweichend von der ursprünglichen Gestaltung — die aneinanderstoßenden Stichkappen zu einem sphärischen Dreiecksfeld zusammengefaßt sind. Und damit verbindet sich nun — das Sternenzelt ersetzend — in spannungsvollem Kontrast das von Michelangelo ersonnene scheinarchitektonische (aber nicht illusionistische) Rahmengerüst, in dem sich Längs- und Quergliederung rechtwinklig durchkreuzen, die Längsrichtung betont durch das umlaufende Gebälk, das den Deckenspiegel begrenzt, die Querrichtung durch die oberhalb der schrägen Rahmen der Stichkappen entspringenden Thronpilaster und die sie verbindenden Gurtbogen. Die Schnittpunkte der beiden Gliederungen sind durch Verkröpfungen des Gebälks stark hervorgehoben. Innerhalb des Deckenspiegels bilden die Gurtbogen neun Felder, rhythmisch wechselnd fünf schmale und vier breite, die breiten zwischen den Spitzen der Stichkappen, die schmalen zwischen den Zwickelfeldern. Die breiten Felder sind ganz mit Bilddarstellungen gefüllt, die schmalen sind dreigeteilt, dergestalt, daß eine Bilddarstellung in der Mitte von zwei schmalen Feldern mit reliefierten Rundmedaillons flankiert ist. 10

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Brief Michelangelos aus Florenz an Giovanfrancesco Fattucci in Rom von Ende Dezember 1523 (Tolnay, 1945, Appendix, Nr. 90, S. 248/49). Guldan, 1954, S. 20/39 gibt eine, von der Michelangelo-Forschung bisher nicht berücksichtigte, äußerst sorgfaltige Analyse der Entwurfszeichnungen, in denen sich — wie er richtig bemerkt — mehrere Vorstellungen zusammendrängen und überlagern, die er überzeugend herausschält und deutet. Nach ihm zeigt sich darin eine Entwicklung, die vom Statischen zum Dynamischen führt und in der die zuerst auf den Deckenspiegel allein begrenzte Längserstreckung schließlich die gesamte Decke ergreift. Die ausgeführte Decke kann m. E. — wie in Teil II dargelegt — nur in diesem Sinn richtig interpretiert werden.

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Die Verkröpfungen des Gebälks über den Thronpilastern sind wie diese perspektivisch auf die Mittelachse der Thronnische hin verkürzt, was zur Folge hat, daß — räumlich gesehen — die schmalen Felder des Deckenspiegels sich von vorne nach hinten weiten, während die breiten sich verengen. In und vor diesem Rahmengerüst hat der Bild- und Figurenschmuck seinen Platz, in Größe und Realitätsgrad variierend und, wie das Rahmengerüst, Längs-, Quer- und Diagonalrichtung betonend. In den neun Feldern des Deckenspiegels — die in ihrer Folge wie dessen Gebälk die Längsrichtung betonen — befinden sich Darstellungen aus der Genesis, formal und thematisch in drei Dreiergruppen gegliedert und wohl auch als solche nacheinander von der Eingangswand her entstanden. In den Zwickelfeldern ringsum — an den Schmalseiten die Längsrichtung, an den Längsseiten, wie Thronpilaster und Gurtbogen, die Querrichtung betonend — befinden sich die Riesengestalten der Seher; in den Lünetten und Stichkappen dazwischen, ebenfalls die Querrichtung betonend, die Vorfahren Christi. Mit diesen Figuren zusammen durchgehende Riegel bildend und mit ihnen zusammengesehen betonen nun auch die einzelnen Bildkompositionen des Deckenspiegels, die als zusammenhängende Folge gelesen die Längsrichtung betonen, die Querrichtung. Solche Ambivalenz und Verschränkung der Teile innerhalb des Gesamtgefüges ist für das reiche und vielfaltige Erscheinungsbild der Deckenmalerei charakteristisch. Das wird besonders deutlich an den Sehergestalten in den Zwickelfeldern und an den Ignudi im Mittelfeld, die neben der Längs- und Querrichtung auch die Diagonalrichtung betonen, die im Rahmengerüst durch die Stichkappen, vornehmlich in den Ecken, betont ist. Zunächst zu den Sehergestalten: Wie oben (I C) erwähnt, hatte Michelangelo für die 12 Zwickelfelder — je eins an den Schmal-, je fünf an den Längsseiten — in seinem ersten Entwurf die Darstellung der zwölf Apostel, der Jünger und Nachfolger Christi und der Vorgänger der Päpste, geplant, was selbstverständlich in das damals bestehende Gesamt-Bildprogramm der Kapelle gepaßt haben muß und was sich außerdem wegen der zahlenmäßigen Ubereinstimmung von Feldern und Figuren sehr günstig fügte. Sehr bald jedoch erschien ihm das Geplante zu dürftig, eine „cosa povera", wie er selbst es — freilich erst sehr viel später, in einem Brief von 152310 — ausdrückte. Im ausgeführten Entwurf, der nur wenige Monate später entstand, trat dann — man ist versucht zu sagen: deshalb! — bei einer inzwischen veränderten Felderaufteilung des Deckenspiegels und einem inzwischen veränderten Bildprogramm — und vielleicht auch durch dieses mitbedingt — anstelle der eintönigen Folge thronender Apostel, d. h. nur männlicher Gestalten, die wechselnde Folge weiblicher und männlicher Gestalten, nämlich thronender Sibyllen und Propheten, heidnischer und jüdischer Seher und Vorauskünder Christi. Michelangelo hat sie in ihrer körperlichen Erscheinung und ihrem geistigen Ausdruck als individuelle Persönlichkeiten in größter — immer wieder bewunderter und gewürdigter — Mannigfaltigkeit dargestellt. In unserem

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Zusammenhang interessiert nur die Verteilung dieser Gestalten hinsichtlich ihres Geschlechts, die bisher nicht beachtet worden ist: J e ein Prophet hat Platz in den Zwickelfeldern der Schmalseiten und betont so, wie oben gesagt, im Zusammenhang mit der Folge der Bilder im Deckenspiegel die Längsrichtung. An der Altarseite, einleitend, der jugendliche, gottbegeisterte Jonas, an der Eingangseite, abschließend, der greise, Gott in den Schriften suchende Zacharias. Auch die fünf wechselnden Sehergestalten an den Längsseiten, die, von den Stichkappen unterbrochen, die Bilder im Deckenspiegel beidseitig begleiten, betonen, als Folge gesehen, wie diese, die Längsrichtung. In Verbindung mit den einzelnen schmalen und breiten, bzw. kleinen und großen Bildern in der Mitte gesehen, betonen sie aber in verschiedener Gruppierung zugleich auch Quer- und Diagonalrichtung. Um das zu erklären, muß zunächst festgestellt werden, daß an der Nordseite die wechselnde Folge mit einer Sibylle beginnt und mit einer Sybille endet, eine dritte sich, zwischen zwei Propheten, in der Mitte befindet. Wäre die Folge an der Südseite ebenso geordnet, so würden die 12 Gestalten ringsum sich regelmäßig abwechseln; die Zahl der Propheten und Sibyllen würde sich, wie in der Bildtradition üblich, genau entsprechen. Das ist nun aber, überraschender Weise, nicht der Fall. An der Sixtinischen Decke stehen sieben Propheten nur fünf Sibyllen gegenüber. An der Südseite nämlich ist der Wechsel umgekehrt wie an der Nordseite; an ihren Enden ist je ein Prophet dem Propheten an der Schmalseite benachbart, nicht eine Sibylle. Der Bruch in der Folge wird nicht als störend empfunden — und ist in der Literatur bisher auch nicht bemerkt und erörtert worden —, weil zwischen den benachbarten Propheten an Schmal- und Längsseiten ein scharfer Richtungswechsel stattfindet und das sphärische Bildfeld in der Ecke zwischen ihnen, darüber hinaus, eine fühlbare Unterbrechung schafft. Raumgebilde und scheinarchitektonische Rahmengliederung sind so beschaffen, daß man die Sehergestalten nicht als geschlossenen Zyklus sieht. Man sieht sie vielmehr, wie gesagt, in Bezug auf Längs-, Quer- und Diagonalrichtung. In Rücksicht darauf aber erscheint die unterschiedliche Folge an den beiden Längsseiten sinn- und wirkungsvoll, „per fuggir la sazietà che nasce dalla similitudine", um die Worte Condivis zu gebrauchen. Zu Seiten der fünf schmalen und kleinen Bildfelder des Deckenspiegels, mit denen sie, wie gesagt, durchgehende Querriegel bilden, stehen sich nämlich so — von Joch zu Joch wie an den Längsseiten abwechselnd — je ein Prophet und eine Sibylle gegenüber. Und die vier dazwischen liegenden breiten und großen Bildfelder sind auf diese Weise an ihren Ecken von vier Sehergestalten eingefaßt, große, ausund übergreifende, sich untereinander und auch mit den genannten Querriegeln verschränkende Gruppierungen, in denen sich jeweils zwei Propheten und zwei Sibyllen kreuzförmig gegenüberstehen und so die Diagonale betonen, die auch in den Bildkompositionen der durchkreuzten Felder hervortritt, am deutlichsten in den zuletzt entstandenen im Westen gegen die Altarwand. Unterstützt werden diese figurai betonten Diagonalverbindungen durch parallel verlaufende, architektonisch betonte Diagonalverbindungen zwischen den sich schräg gegenüberliegenden Rah-

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menleisten der Stichkappen, bei denen nun die, an ihren Seiten von einem Seherpaar flankierten kleinen Bildfelder der Querriegel durchkreuzt werden. Auch zwischen den figural und den architektonisch betonten Diagonalverbindungen besteht engste, unlösliche Verbindung: die figural betonte Verbindung wiederholt sich vier Mal, die architektonisch betonte fünf Mal, sodaß, auf die ganze Decke gesehen, eine sich durchdringende Folge von neun latent wirksamen Kreuzgewölben die Mulde unterfangt und sie zu stützen scheint. Das von Michelangelo hinzugefügte scheinarchitektonische Rahmengerüst wirkt dadurch, ebenso wie die es bevölkernde Figurenwelt, statisch gesehen entlastet und bekommt einen — wie noch zu zeigen ist, auch durch andere Mittel bewirkten — Ausdruck leichten Schwebens. Die Frage drängt sich auf, auf wen der äußerst folgenreiche Beschluß zurückgeht, die von den Gegebenheiten her durchaus mögliche und von der Tradition geforderte regelmäßige Abfolge von Sibyllen und Propheten zu durchbrechen, so wie es hier geschehen ist. In dem bereits zwei Mal zitierten Brief Michelangelos von 152310 schreibt er, daß der Papst, als er, nach Aufgabe des ersten Entwurfs mit den Apostelfiguren in den Zwickelfeldern, einen neuen Auftrag erteilte, ihm dabei alle Freiheiten zugestanden habe: „ . . . mi dette nuova commissione ch'io facessi cio ch'io volevo"! Wie weit diese Freiheit sich erstreckt hat, ist eine strittige Frage; vermutlich nicht auf das Bildprogramm im Ganzen. In diesem Fall aber — und in einem zweiten, von dem gleich die Rede sein wird — ist wahrscheinlich, daß Michelangelo aus den angeführten ästhetischen Gründen von seiner Freiheit Gebrauch gemacht hat, da vom ikonographischen Programm her die ungewöhnliche Verteilung der zwölf Gestalten auf sieben Propheten und fünf Sibyllen bisher nicht zwingend erklärt werden konnte 12 . Es ließe sich denken, daß Michelangelo zunächst seine Forderung stellte, was die Zahl der männlichen und weiblichen Seher und ihre Verteilung in den Zwickelfeldern betrifft, und es danach seinen geistlichen Ratgebern überlassen blieb, zu bestimmen, welche Propheten und welche Sibyllen dargestellt werden sollten. Und nun zu den Ignudi: Herrliche Jünglingsgestalten, die — zwanzig an der Zahl — den Deckenspiegel bevölkern. Schon die von Condivi und Vasari gleichermaßen gewählte Bezeichnung — die Nackten — drückt aus, daß in ihnen kein bestimmtes ikonographische Programm verwirklicht worden ist. Mit noch größerer Wahrscheinlichkeit als bei den Sehergestalten, ja, fast mit Gewißheit darf man wohl sagen, daß Michelangelo hier von der ihm eingeräumten Freiheit vollen Gebrauch gemacht hat, daß also die Einführung und die Gestaltgebung dieser Ignudi ganz allein auf ihn zurückgeht und sogar — mit der aus gleicher Neigung heraus verständnisvollen Unterstützung des Papstes — gegen seine geistlichen Ratgeber durchgesetzt werden mußte! „Michelangelo wollte sich einmal ersättigen 12

Vgl. z. B. die Erklärungsversuche bei von Einem, 1959, S. 58/59 und Wind, 1960, vor allem S. 50 ff. und S. 76 ff.

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am Nackten" schreibt Wölfflin (S. 63) und fahrt fort: „ . . . wenn irgendwo bei der Deckenarbeit, so war er hier mit Leib und Seele bei der Sache." Von der Bedeutung, die diese Jünglingsgestalten innerhalb des Bildprogramms haben, wird noch die Rede sein (Teil II A). Hier soll nur aufgezeigt werden, welche Funktion sie, analog zu den Sehergestalten, in Bezug auf Längs-, Quer- und Diagonalrichtung im Rahmengerüst der Decke haben. In der Längsrichtung begleiten sie, ebenso wie die großen Sehergestalten in den Seitenbahnen, die ihnen im Realitätsgrad entsprechen, mit denen sie aber in Maßstab und körperlicher Ausrichtung wirkungsvoll kontrastieren, die Bilder des Deckenspiegels, freilich in einer sehr anderen Art: Durch ihre paarweise Anordnung, ihre Ähnlichkeit miteinander und ihre Profilstellung sowie ihr enges Zusammenrücken innerhalb des Deckenspiegels und ihre Angleichung an den Maßstab — nicht den Realitätsgrad — der Figuren in diesen Bildern verbinden sie diese mehr als daß sie sie trennen. Die Querrichtung wirkt hinein. In den Querriegeln mit den kleinen Bildern in der Mitte und einem Propheten, bzw. einer Sibylle an beiden Enden stellen die vier Ignudi, als Bekrönung von deren Thronpilastern paarweise vor den Gurtbogen angeordnet, im Deckenspiegel die Verbindung her und betonen, so gesehen, auch ihrerseits die Querrichtung. Anders jedoch als bei dem weit auseinander gerückten Seherpaar kann die Querrichtung in ihnen nicht zu reiner Wirkung kommen. Die Längsrichtung wirkt hinein. Längs- und Querrichtung werden in den Ignudi eng miteinander verklammert und heben sich dadurch in ihrer Wirkung auf. Wirksam wird vielmehr die Vierergruppe um die einzelnen Bildfelder im Deckenspiegel, besonders um die kleinen, um die ein — durch die begleitenden Rundmedaillons in den abgetrennten Seitenfeldern formal noch unterstrichener — ringförmiger Zusammenschluß entsteht, je enger, je dichter gegen Westen, d. h. gegen die Altarwand hin, die Ignudi zum Scheitel der Decke zusammenrücken. Dazu kommt, daß gegen die kleinen Bildfelder die Ignudi sich einander zuwenden, womit sie der, durch die perspektivische Verkürzung der Thronnischen und der Gebälkverkröpfungen bewirkten räumlichen Öffnung dieser Felder nach vorn, auf die wir oben hinwiesen, entsprechen. Den großen, sich in voller Breite des Deckenspiegels ausdehnenden und nach vorn sich verengenden Bildfeldern kehren sie dagegen den Rücken zu und bilden so mit ihnen zusammen nicht eine dichtgefüllte und konzentrierte Einheit. Einem Sichzusammenziehen folgt ein Auseinanderklaffen. Hingewiesen werden muß hier noch darauf, daß die Ignudi durch ihren ringförmig rahmenden Zusammenschluß um die kleinen Bildfelder sich miteinander selbst in einem Schwebezustand halten, in dem das in dieser Sicht unstatisch wirkende Sitzmotiv, das bei Betrachtung einer einzelnen Gestalt störend empfunden wird, garnicht in Erscheinung tritt. Auch für die großen, die Muldendecke wie Kreuzgewölbe unterfangenden Gruppierungen, von denen die Rede war, haben die Ignudi eine wichtige Funktion. Sie befinden sich auf den Linien, die, wie gezeigt, durch die großen, bzw. kleinen

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Bildfelder des Deckenspiegels hindurch, die sich schräg gegenüber stehenden Sehergestalten bzw. Stichkappenrahmen in den Seitenbahnen miteinander verbinden, und betonen so wie diese die Diagonale. Ihre feste Einspannung in diese die ganze Decke übergreifenden Gruppierungen trägt weiterhin dazu bei, das unstatisch wirkende Sitzmotiv völlig in Vergessenheit geraten zu lassen. Abschließend stellen wir — unsere anfangliche Behauptung spezifizierend — fest, daß die im Rahmengerüst wirksamen Längs-, Quer- und Diagonalrichtungen, die bei den Sehergestalten nur in bestimmten Folgen, Gegenüberstellungen und Gruppierungen aufgenommen wurden, bei den Ignudi in jeder einzelnen Gestalt für sich durch die Ausrichtung von Leib und Gliedmaßen verkörpert werden, wodurch sie in dem starren scheinarchitektonischen Gerüst geschmeidige Übergänge bilden und wie Gelenke wirken 13 . E. Das Rahmengerüst der Sixtinischen Decke ist schon von den beiden zeitgenössischen Biographen Michelangelos verschieden interpretiert worden. Condivi, 1553, betont die illusionistischen Züge: er deutet die unterhalb des Deckenspiegels umlaufende, stark gekrümmte Zone mit den Thronnischen wie ein über den Wänden senkrecht aufsteigendes Attikageschoß, das von einem Gebälk abgeschlossen wird, in dessen Mitte ein offener Dachstuhl erscheint, der in neun abwechselnd große und kleine Felder unterteilt ist14. Diese Deutung entbehrt nicht der Grundlagen: Tatsächlich erscheinen die Throne, einzeln von der ihnen gegenüberliegenden Seite her in Schrägsicht gesehen, wie senkrecht aufsteigend (worauf — in Teil II, A — noch zurückzukommen ist), und tatsächlich erblickt man in den schmalen Streifen an den Enden des Deckenspiegels zwischen Gebälk und Gurtbogen einen blauen Himmelstreifen. Partiell gesehen ist Condivis Deutung also durchaus richtig. Aufs Ganze gesehen trifft sie freilich nicht zu. Vasari berichtigt sie deshalb 1568 in der zweiten Auflage seiner „Vite" (in der ersten, 1550, war er auf das Rahmengerüst nicht eingegangen), indem er feststellt, daß Michelangelo — wohlverstanden nun aufs Ganze der Scheinarchitektur gesehen — „non ha usato ordine di prospettive che scortino, ne v'e veduta ferma ,.." 15 . Die Michelangelo-Forschung ist in ihrer Interpretation des scheinarchitektonischen Gerüsts als Raumerweiterung oder Raumverengung teils Condivi, teils Vasari 13

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Nachdrücklich wies darauf Oertel, 1940, S. 12 hin: „Das gewaltige rechtwinklige Rahmenwerk wäre ohne sie (sc. die Ignudi) unerträglich ... Man versuche einmal, sich die Jünglinge wegzudenken oder achte auf die Stelle, w o im Jahre 1798 eine Pulverexplosion einen von ihnen zerstört hat". Vgl. unsere Abb. 63 oben rechts. Condivi 1553, S. 96/98. Die von Condivi gebrauchten Bezeichnungen sind vielfach mißverstanden und falsch übersetzt worden, z. T. sind sie aber auch mehrdeutig und müssen aus dem jeweiligen Zusammenhang erklärt werden. „Peduccio" z. B. bedeutet sowohl Kragstein — oder Konsole ( = „mensola") — wie Gewölbezwickel („spigolo"). Vgl. dazu Grassi e Pepe in ihrem alphabetisch geordneten Lexikon. „Cielo" bedeutet sowohl Himmel wie Dach oder Dachstuhl; bei Condivi muß es m. E. im letzten Sinn verstanden werden. Vasari 1568, S. 95.

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gefolgt, oder erklärt es — wie Thode I. S. 405, m. E. richtig — als „Zwitterding zwischen räumlicher Illusion und bloßem Bildschein"16. In jüngster Vergangenheit sind, vor allem von Architekten und Architekturhistorikern, mehrere Versuche unternommen worden, diese Scheinarchitektur, unter Berufung auf Condivi, wie eine gebaute oder baubare Architektur zu analysieren und in Zeichnungen zu veranschaulichen und sie dem architektonischen, nicht dem malerischen Werk Michelangelos zuzuordnen17. Typisch dafür ist die Erklärung, die Schiavo 1949 dem von ihm konstruierten Grund- und Aufriß beigegeben hat: „L'ossatura architettonica risulta orgánicamente indeformabile, saldamente collegata e fondata opera muraria, non dipinta, dimostrando come Michelangelo esordisse da architetto completo e non da semplice decoratore!" Hier wird also das scheinarchitektonische Gerüst der Decke für sich allein im Verhältnis zum Raum gesehen, ersonnen allenfalls, um den Rahmen abzugeben für Bild- und Figurenschmuck, nicht aber in unlöslicher Einheit mit diesem, ja, ihm dienend untergeordnet. F. Solcher Auffassung ist ganz entschieden zu widersprechen. Ja, auch die vorausgegangenen Interpretationen der Scheinarchitektur, in erster Linie in Beziehung zum realen Raum als dessen Erweiterung oder Verengung und erst in zweiter Linie in Beziehung zum Bild- und Figurenschmuck, scheinen abwegig. Die Scheinarchitektur hat nach augenscheinlicher Evidenz für Michelangelo ausschließlich die Aufgabe, Darstellungen und Figuren ins rechte Bild und den rechten Zusammenhang zu rücken und ist dafür ersonnen und gestaltet. Was sie darüber hinaus ist — Raumerweiterung oder Raumverengung — ist Nebenergebnis. Das glauben wir schon oben ausführlich dargelegt zu haben (I, D) und dazu soll im Folgenden noch Weiteres bemerkt werden: In unmittelbarem Anschluß an die oben (I, E) zitierte Äußerung Vasaris zum Rahmengerüst der Decke heißt es: „ma (sc. Michelangelo) é ito accomodando piu il partimento alle figure che le figure al partimento!" Mit diesem Nachsatz, mit dem er die vorher für sich allein gesehene und als solche in ihrer perspektivischen Folgerichtigkeit völlig zu Recht bemängelte Scheinarchitektur in dienende Funktion

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Vgl. die Überblicke bei Tolnay, 1945, S. 127 und Barocchi II, 1962, S. 453/455 (leider hier ohne Hinweis auf die wichtigen Ausführungen von Panofsky, 1921). So Schiavo 1949, Tafel 83 mit erklärendem Text, derselbe, 1953, S. 1 5 0 - 1 5 2 , Wilde 1958, S. 7 3 - 7 6 , der sich auf Schiavo bezieht und dessen Rekonstruktion abbildet, Sandström, 1963, S. 173 — 191, Pane, 1964, S. 1 0 0 - 1 0 2 und Seymour jr., 1972, der - S. 2 0 7 - 2 2 1 - Sandströms Aufsatz mit dessen Rekonstruktionen abdruckt und folgendermaßen kommentiert: „It is the fullest treatment so far available of the over-all formal structure of the ceiling's complex composition". Einwände gegen Schiavos Interpretation erhoben dagegen F. Barbieri und L. Puppi (in Portoghesi—Zevi, 1964, S. 828); sie stellen zutreffend fest: „Elementi figurativi e partiture architettoniche infatti non nascono qui in distinti momenti proponendosi obiettivi in reciproca subordinazione, ma sono due aspetti inscindibili di un solo atto creativo, quale si era già manifestato nella concezione della tomba di Giulio II e si manifesterà nella Capella Medici".

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setzt zum Bild- und Figurenschmuck und diesem die den Eindruck des Betrachters bestimmende Wirkung zuerkennt, hebt Vasari auch seine sie abwertende Charakterisierung auf. „Ne v'e veduta ferma" bezieht sich eindeutig nur auf die vorher für sich allein gesehene und erörterte Scheinarchitektur, nicht aber auf das Deckenbild insgesamt! Für dieses gibt es eine „veduta ferma": der Stand- bzw. Gesichtspunkt des Betrachters für sie liegt, wie noch zu zeigen ist (Teil II, B), am Eingang der Kapelle von der ihr vorgelagerten Aula magna her. Daß die Rahmengliederung den Figuren angepaßt ist, wie Vasari schreibt, und nicht umgekehrt — oder daß, anders ausgedrückt, beide eine untrennbare Einheit bilden — wird bei einem Blick auf die Decke sofort deutlich. Die dichtgedrängte mannigfaltige Figurenwelt herrscht überwältigend und bestimmt den Eindruck. Figuren in den Bilddarstellungen des Deckenspiegels, von denen der Adam, wie Schöne (S. 167/68) treffend sagt, als „Partner unseres Leibbewußtseins" erscheint, Figuren in und vor dem Rahmenwerk, deren Größe und Realitätsgrad an diesem Maßstab gemessen empfunden wird. Um Platz zu gewinnen für Figuren ist die konstruktive Gestaltung des scheinarchitektonischen Rahmengerüsts als Fortsetzung der Wandgliederung in der Deckenzone geopfert. In den Zwickeln wird nicht über den Pilastern der drei Wandstreifen ein vierter hochgezogen oder ein das Feld füllendes Widerlager vorgetäuscht, um das Gebälk des Deckenspiegels zu stützen, sondern — „accomodando il partimento alle figure" — Platz gewonnen für die Gestalten der Seher; die Pilaster ihrer Nischen sind zur Seite gerückt, wo sie — statisch gesehen — auf den schrägen Rahmenleisten der Stichkappen kein festes Auflager haben, sondern, wie bei einem sich selbst tragenden Sprenggerüst, eingeklemmt scheinen. In den Ecken des Raums werden die beiden aneinander stoßenden Stichkappen, die in der ursprünglichen Dekoration durch eine starke, die Raumstruktur betonende Diagonalrippe getrennt waren, ihrer architektonisch stützenden Funktion beraubt und zu einem sphärischen Dreiecksfeld zusammengezogen, bestimmt, ein Figurenbild aufzunehmen; die ursprünglich auch hier breite Rahmung — an den Längsseiten von Michelangelo noch verstärkt — wird, um Bildraum zu gewinnen, aufs äußerste verschmälert. So bekommen diese ursprünglich strukturell gestalteten Kappen den Anschein von luftig aufgeblähten Segeln, die dazu beitragen, daß die Decke schwebend erscheint. Figuren finden aber Platz nicht nur in und vor dem scheinarchitektonischen Rahmenwerk, von ihm eingefaßt und umgeben, sondern im Rahmenwerk selbst, dessen stützende und verbindende Aufgaben übernehmend: so die „Spiritelli" unter den Fußplatten der Throne, so die karyatidenartigen Puttenpaare an deren Pilastern und so in gewisser Weise auch — die Funktion der Gurtbogen unterstützend — die Ignudi darüber. Erwähnt werden muß schließlich auch, daß in der Farbgebung das Rahmengerüst nicht scharf abgesetzt ist vom Bildschmuck, sondern mit diesem zu einer Einheit verbunden 1 8 . 18

Vgl. dazu Mänz in seiner — leider bisher kaum beachteten — eindringlichen und grundlegenden

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Von dem ornamental verzierten Gliederungssystem der Wände und seiner kleinteiligen Bildausschmückung, mit der die Musterung des Fußbodens und der Schmuck von Schranke und Sängertribüne übereinstimmen, ist das kahle Gliederungssystem der Deckenzone und ihr mächtiger Bild- und Figurenschmuck grundsätzlich verschieden und deshalb mit Recht strukturell klar und entschieden abgesetzt. Es bestehen aber vielfache Beziehungen zwischen Deckenzone und Wänden, die beide zur Einheit verbinden: Einmal inhaltliche Beziehungen zwischen Bilddarstellungen und Figuren hinsichtlich Bedeutung und Abfolge: Die Bilder des Deckenspiegels, die die Welt vor dem Gesetz darstellen, ergänzen die Bilder an den Wänden, die die Welt unter dem Gesetz und die Welt unter der Gnade darstellen; sie verlaufen wie diese in ihrer Erzählfolge von der Altar- zur Eingangswand 19 . Die Figuren der Vorfahren Christi in Stichkappen und Lünetten entsprechen den Päpsten — als den Nachfolgern Christi — zu Seiten der Fenster darunter; sie sind wie diese in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge (nach Matthäus I, 1 — 16) vom Altar zum Eingang jochweise angeordnet, d. h. von Wand zu Wand überspringend 20 . Dann Beziehungen formaler Art: Das rahmende Gebälk des Deckenspiegels — durch die Pilaster der Throne fest mit dem von Michelangelo neu geschaffenen scheinarchitektonischen System, Untersuchung, S. 45 — 59, aus der ein Passus hier wörtlich zitiert werden soll: „Innerhalb der übergeordneten Ganzheit, in der sich letzthin unabhängig von Zweck und Anlaß die Farbidee des Schöpfers äußert, leben von einander unabhängige Farbpotenzen nebeneinander als Versinnlichung der wechselvollen thematischen Ideen. Was sie trennt, bindet sie zugleich. Es ist das Netz der architektonischen Glieder, das im Silber- und altgoldenen Schimmer des Graus die Decke überzieht, in der Profilierung des Simses Gelegenheit findet, in den Schatten Grautöne nebeneinander zu setzen, die die feste Konsistenz der Masse durchschwingen, ebenso die Flecken in die Oberfläche zu bringen, die die Mauerhaut ruinös und porös erscheinen lassen. Es ist eine Oberflächencharakteristik wie bei einem kristallinischen Material, das das Licht eine Strecke in seine Haut eindringen läßt, um es dann wie aus durchsichtigem Stoffe zurückzuwerfen. Es entsteht also ein Schwebezustand zwischen Oberflächen- und Raumfarbe, geeignet schon hier die Härte der klaren Form zu mildern, in diesen Raumpotenzen den Anschluß an den dargestellten Raum zu gewinnen, ebenso wie in der schwingenden Farbe seines Silbers den Anschluß an das Graublau der Genesis- und Prophetenräume. Der kristallinisch klaren und hart abgesetzten Form der Architektur werden durch Krakeluren Töne entlockt, die sie der Natur, der Landschaft und der drängenden Lebendigkeit ihrer Gestalten annähert. Der im Atmosphärischen materialisierte Raum schwingt in den Mauerflächen fort, gibt diesen außer ihrem tektonischen einen zweiten Sinn, in der Erweiterung und Durchdringung des zwischen ihnen Wirkenden. Es gelingt durch die Vielfalt der Töne von Silber, Blau und Blaßgelb."

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Diese Analyse wird, was das Grundsätzliche betrifft, auch nach der im Sommer 1980 begonnenen Reinigung der Deckenfresken ihre Gültigkeit behalten, soweit sich das nach der im Herbst 1984 abgeschlossenen Reinigung der Lünettenfelder beurteilen läßt. Die bekannte, von der Forschung verschieden erklärte Ausnahme, daß die Darstellung von Noahs Opfer der der Sintflut vorausgeht, darf hier unberücksichtigt bleiben. Das Überspringen erfolgt in den ersten 4 Jochen von der Südwand (links vom Altar, rechts vom Beschauer) zur Nordwand, in den beiden letzten dagegen umgekehrt von der Nord- zur Südwand. Vgl. dazu Steinmann II, p. 446 und Tolnay, 1945, p. 79, 174.

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bezeichnender Weise aber nur lose, durch die Bukranien über den Stichkappen, mit dem vorgegebenen Architektursystem verbunden — wiederholt die dreifache Umklammerung der Wände durch Gebälk und Gesims wie ein Echo. In Längs- und Querrichtung ist dieses Gebälk ausgerichtet auf die Scheitel der beiden Fenster an den Schmalwänden, bzw. der beiden Fenster an den Enden der Längswände. Und schließlich: wie bei Historien- und Papstbildern an den Wänden ist bei Bildern und Figuren der Decke der, sich unauffällig im Schlagschatten abzeichnende, Lichteinfall auf die beiden Fenster der Altarwand bezogen. II. Nach den in Teil I vorausgeschickten Feststellungen und Beobachtungen, die zum Verständnis des Folgenden unerläßlich sind und auf die wir immer wieder verweisen müssen, wenden wir uns nun unserer eigentlichen Aufgabe zu, der Frage, wie die Sixtinische Decke — und d. h. hier wie weiterhin: die Decke mit ihrer Ausmalung — gesehen oder, besser gesagt, wahrgenommen wird, bzw. wahrgenommen werden muß. Eine Unterteilung in zwei Abschnitte drängt sich dabei auf: A) Die Wahrnehmung der Decke in ihren wichtigsten Teilaspekten B) Die Wahrnehmung der Decke als zusammenhängendes Ganzes A. Wie an einigen Beispielen dargelegt (I E), ist die innige Durchdringung von Rahmenwerk und Figuren- und Bildschmuck in Längs-, Quer- und Diagonalrichtung mit der Bildung großer übergreifender Gruppierungen das Hauptcharakteristikum der Deckengliederung. Wölfflin (S. 55) sagt, es sei „ein zusammenfassendes tektonisches System", aus dem „man nichts Einzelnes herauslösen kann", und Justi (S. 8) spricht von „einer höchst komplizierten Partitur". Gewiß, man kann nichts Einzelnes herauslösen, wohl aber kann man, nach einem Blick auf das Ganze, Einzelnes in der jeweils günstigsten Sicht genauer ins Auge fassen, um sich danach mit vollerem Verständnis wieder dem Ganzen zuzuwenden. Bei solcher Sicht des Einzelnen gilt, was Vasari sagt: „ne v'e veduta ferma". Wiederholt muß man seinen Standpunkt ändern, um in mehr oder weniger steiler Schrägsicht aufzublicken zu Bildern und Figuren. Die Bilder im Deckenspiegel wollen in Längsrichtung gesehen werden von einem Standpunkt am Eingang im Osten, von dem aus auch die Decke als zusammenhängendes Ganzes wahrgenommen werden muß. Darauf kommen wir noch zurück (II B). Die Bildkompositionen in den sphärischen Eckfeldern muß man in Diagonalrichtung sehen, von einem Standpunkt in der Mitte des Raums aus (dort, wo sich ursprünglich die Öffnung der Cancellata befand), aber, sich um die eigene Achse drehend, unter vier verschiedenen Blickpunkten.

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Die Sehergestalten und Vorfahren Christi endlich müssen von mehreren, ihnen jeweils frontal gegenüberliegenden, Standpunkten gesehen werden. Darauf wollen wir etwas genauer eingehen,, wobei wir unser Augenmerk zunächst auf die Längsseiten richten. Von den Sehergestalten an den Schmalseiten wird später die Rede sein (II B). Wir hatten festgestellt (I A), daß in der Ausmalung des Quattrocento, die Michelangelo bei Beginn seiner Arbeit vorfand, an den Längswänden in deren ganzer Höhenerstreckung unter den Stichkappen und zwischen den Pilastern formal zusammengeschlossene Abschnitte gebildet wurden, die jeweils ein Historienbild und darüber, zu Seiten der Fenster, zwei Papstnischen einschlössen, und die auf einen Standpunkt in der Mitte des jeweils gegenüberliegenden Abschnitts bezogen sind. Diese als Einheiten begriffenen Wandabschnitte hat Michelangelo in der Deckenzone abschließend vervollständigt durch die Vorfahren Christi in den Lünettenfeldern um die Rundbogen der Fenster und in den Stichkappen, wobei er den bereits vom Historienbild zu den Papstbildnissen anwachsenden Größenmaßstab der Figuren abermals — und nun gewaltig — steigerte als Uberleitung zu den Sehergestalten in den Zwickelfeldern 21 . Für diese Überleitung spielen die in die Wölbung einschneidenden Stichkappen eine besonders wichtige Rolle. Anders als die zwar in der Deckenzone befindlichen, aber eindeutig der Wand zuzurechnenden Lünettenfelder gehören sie bereits der Decke an und verzahnen sich in ihr — Wand und Wölbung miteinander verklammernd, in einer gewissen Analogie zu der erwähnten Verklammerung von Deckenspiegel und Seitenbahnen innerhalb der Wölbung — mit den zwischen sie eingekeilten Zwickelfeldern, d. h. sie sind einerseits als bedachender Abschluß Teil der genannten Wandabschnitte, zu denen sie auch durch den ikonographischen Zusammenhang gehören — hier wie dort Vorfahren Christi —, andererseits, in der Nachbarschaft zu den Zwickelfeldern, Teil der Wölbung. Die Zwickelfelder mit den Seherthronen bilden in der Wölbung eine Parallele zu den Wandabschnitten. Wie bei diesen ist auch bei ihnen — bei der Ausdehnung der Längswände sozusagen selbstverständlich — für jedes Feld einzeln ein Standpunkt an der gegenüberliegenden Seite vorausgesetzt; er befindet sich vor den Pilastern der Wandabschnitte, ist also im Verhältnis zum Standpunkt für diese, der in der Mittelachse der Fenster liegt, um eine halbe Achse verschoben 22 . Auf diesen Standpunkt sind — wenigstens in etwa — die Verkürzungen der Pilaster zu Seiten

21 22

So auch Wilde, S. 74. Wilde, der S. 66 und Tafel III b und IV — ebenso wie wir — Steinmann folgend, die Wandabschnitte unter den Stichkappen und zwischen den Pilastern als zusammengehörige Einheiten sieht, innerhalb derer die beiden über den Historienbildern zu Seiten der Fenster befindlichen Papstnischen aufeinander bezogen sind — „bays of classical articulation and porportions" —, meint, S. 74, umgekehrt, daß die beiden zu Seiten des Pilasters befindlichen Papstfiguren als Einheit zusammengesehen werden müssen und die Fenster dazwischen trennende Elemente bilden — „two niches with a plastic pilaster between them will form a natural unit, separated from the next of its kind by a framed window opening". Das ist eindeutig unzutreffend.

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der Thronnischen und der sie abschließenden Gebälkverkröpfungen bezogen, d. h., mit Vasaris Worten, der „prospettive, che scortino", und auf diesen Standpunkt auch — ebenfalls in etwa — die über den Verkröpfungen, zu Seiten der zwischen ihnen befindlichen Rundmedaillons, auf würfelförmigen Hockern sitzenden IgnudiPaare, die, statisch gesehen, nur in dieser Sicht verständlich sind. Sehergestalten und Ignudi werden in dieser Sicht — d. h. von den ihnen gegenüber Stehenden oder auf den Marmorbänken gegenüber Sitzenden — als zusammengehörige Einheit wahrgenommen, in der geistige Existenz mit rein körperlichem Dasein wirkungsvoll konfrontiert ist 23 . In dieser Sicht — d. h. einzeln für sich gesehen — erscheinen die Seherthrone mit den sie bekrönenden Ignudi, wie Condivi bemerkt, „come un parete piano", d. h. wie ein senkrecht über den Wänden aufragendes Attikageschoß (vgl. I E). Genau gesehen — nicht nur in etwa — müssen die Beobachtungen nun aber noch präzisiert werden: Was die Ignudi betrifft, so zeigen sie, ebenso wie die Hocker, auf denen sie sitzen, im Gegensatz zu den darunter befindlichen Verkröpfungen des Gebälks, nicht die geringste Untersicht. Eine solche würde bei der Sicht dieser Gestalten in der Längsrichtung, auf die sie, wie oben (I D) dargelegt und wie weiter unten noch auszuführen ist, auch bezogen sind, störend empfunden werden. Dagegen macht sich das Fehlen der Untersicht bei der hier in Rede stehenden Schrägsicht in Querrichtung wegen der erwähnten engen Zusammengehörigkeit von Ignudi und Sehern nicht als Unstimmigkeit bemerkbar 24 . Was die Seher betrifft, so sind ihre Nischen zentralperspektivisch konstruiert; der Fluchtpunkt liegt etwas über dem Thronsitz in Höhe des Schoßes der Gestalten. Die Bodenplatte erscheint in Aufsicht, das abschließende Gebälk mit seinen Verkröpfungen in Untersicht. Was die perspektivische Konstruktion angeht, besteht also eine gewisse Übereinstimmung mit den Historienbildern an den Wänden (vgl. IA).

Um für diese den von der perspektivischen Konstruktion geforderten Blickpunkt zu gewinnen, müßte sich der Betrachter von seinem Standpunkt auf dem Boden der Kapelle lösen und in ihre Höhe versetzen, sodaß er ihnen frontal

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Die Abbildungen in den früheren Veröffentlichungen von Knackfuß, 1895, und Sauerlandt, 1911 (der die Sehergestalten sämtlich mit den zugehörigen Ignudi abbildet), sind in dieser Hinsicht besser als die auf die Sehergestalten allein beschränkten Abbildungen bei Steinmann, 1905, und Tolnay, 1945. Die Bemerkung Panofskys, S. 7, daß die Ignudi „statisch zu den Prophetenthronen, perspektivisch aber zu den Mittelbildern gehören", trifft in dieser Entschiedenheit nicht zu. Statisch gesehen gehören sie gewiß nur zu den Seherthronen, perspektivisch gesehen aber, in der für die Deckenmalerei charakteristischen Ambivalenz, sowohl zu diesen, wie — und gewiß vornehmlich — zu den Mittelbildern (vgl. dazu I, D und Guldan, 1954, S. 41/43). Für die Hocker gilt das gleiche. Wilde, 1958, S. 76 hat darauf aufmerksam gemacht, wie Michelangelo zu diesem Zweck ihre inneren Oberkanten bei allen zwanzig Ignudi geschickt verdeckt und dem Blick entzogen hat.

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gegenüberstände. Da das nicht möglich ist, wirken die Bildräume mit den sie belebenden Gestalten wie in eine zwar nahe, aber unbetretbare Zone entrückt. Ganz anders ist das Verhältnis des Betrachters zu den viel weiter entfernten Sehergestalten in ihren Nischen. Da die leicht gekrümmten Zwickelfelder, in denen sie dargestellt sind, schräg in den Raum stehen, fallt der in einem Winkel von etwa 55° aufwärts gerichtete Blick des ihnen gegenüber stehenden oder sitzenden Betrachters senkrecht auf sie. So entsteht der Eindruck, als ob Seher und Betrachter sich auf dem gleichen Niveau gegenüber befanden, die Standfläche von diesem in der gleichen Ebene läge wie die Bodenplatte der Nische, ja, in einem verbindenden Raumkontinuum deren unmittelbare Fortsetzung wäre. Wohlverstanden: nur der schräg aufwärts gerichtete Blick des Betrachters fallt senkrecht auf die Sehergestalten. Der Betrachter selbst befindet sich ihnen nicht senkrecht gegenüber. Das würde voraussetzen, daß er, losgelöst vom Boden und der Schwerkraft enthoben, parallel zu den Zwickelfeldern eine schräge Lage im Raum einnähme. Tatsächlich aber steht oder sitzt er aufrecht und sein Körper gehorcht der Schwerkraft. Das heißt: Blick und Körperhaltung des Betrachters weichen in ihrer Ausrichtung voneinander ab. Daraus ergibt sich nun eine merkwürdige Wechselwirkung bei der Wahrnehmung: Das Gegenüber von Sehern und Betrachter findet in dessen Vorstellung nicht, wie de facto, in der diagonalen Blickrichtung statt, sondern, auf Grund seiner aufrechten Körperhaltung und seines Körpergefühls in der Horizontalen, und zwar in Höhe der Sehergestalten, die, wenn sich der Betrachter ihnen in Wirklichkeit gegenüber befände, völlig verzerrt erscheinen würden. Der Betrachter wird also durch die gemalten Sehergestalten scheinbar in jene Region des Gewölbes erhoben, die nach Condivi wie ein Attikageschoß erscheint (vgl. oben und I, E) und in dem man sich in einem Gedankenexperiment den Betrachter stehend oder sitzend als Gegenüber vorstellen kann. Die Sehergestalten ihrerseits gewinnen durch die Konfrontation mit dem lebendigen Betrachter — in dessen Blickrichtung — den höchsten Anschein von Realität25. Eine kurze Bemerkung noch zu den unteren Abschnitten der Zwickelfelder zwischen der Bodenplatte der Thronnischen und dem Kämpfer der Lisenen in der Fensterzone. Räumlich betrachtet liegt dieser Abschnitt unterhalb der in Aufsicht dargestellten Bodenplatte, ist also dem auf die Sehergestalten gerichteten Schrägblick entzogen. Folgerichtig ist deshalb hier auf perspektivische Darstellung verzichtet. Von den beiden Konsolen, die die Bodenplatte tragen, erscheinen nur die Stirnseiten; das an ihnen aufgehängte Namensschild befindet sich in deren Ebene. Die „Spiritelli", die die Namensschilder stützen, gehören auf dem spitz zulaufenden 25

Guldan, 1954, S. 41 und Wilde, 1958, S. 76/77 berücksichtigen nicht die Tatsache, daß Körperhaltung und Blickrichtung des Betrachters voneinander abweichen, und kommen deshalb zu einer nur halbwegs richtigen Beschreibung des Wahrnehmungsvorgangs. Das Diagramm bei Wilde, S. 77 veranschaulicht nur den von ihm beschriebenen Sehakt, nicht den von uns beschriebenen Wahrnehmungsakt. In Bezug auf die barocke Deckenmalerei finden sich treffende Beobachtungen bei Schöne, 1961 — vor allem S. 145/47 —, die auch für die Sixtinische Decke gelten.

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und sich stark abflachenden Endstück des Zwickelfeldes, wie die Figuren der benachbarten Lünettenfelder, schon dem Bereich der Wand an. Zum Abschluß des Abschnittes über die Teilaspekte der Decke kommen wir nun 2urück auf den Deckenspiegel. Er ist an höchster und zentraler Stelle der alles beherrschende Aspekt durch Ausdehnung, Bildgegenstand und Gestaltenfülle. Im Unterschied zu den in Diagonal- und Querrichtung gesehenen Aspekten kann er in Längsrichtung von einem einzigen Standpunkt aus wahrgenommen werden, sowie man die Kapelle betreten hat — „V'e veduta ferma". Bevor wir auf die Art der Wahrnehmung eingehen, muß etwas gesagt werden zur Erscheinungsweise, zur Gliederung und zur Darstellung. Der Deckenspiegel ist nicht flach, sondern ganz leicht gewölbt. Zwischen der Ebene, die durch das umlaufende Gebälk gekennzeichnet ist, und der gekrümmten Deckenschale mit Gurtbogen und Bildfeldern — wir meinen ja, wie gesagt, mit Decke hier immer die ausgemalte Decke — befindet sich also ein sehr niedriger realer Raum, der durch das Gebälk aus dem Gesamtraum der Deckenzone ausgesondert ist, sich aber in ihm kontinuierlich nach unten fortsetzt in Condivis „Attikageschoß" mit den Sehergestalten, das in der Längssicht als solches entlarvt wird, dafür aber im Zusammenwirken mit dem Deckenspiegel eine andere wichtige Bedeutung gewinnt (vgl. II B). Die Darstellungen in den flach gebogenen Feldern zwischen den Gurtbögen sind, obwohl sie, mit einer Ausnahme, wie Tafelbilder konzipiert sind, nicht in das Rahmengerüst eingelassene „quadri riportati". Sie haben innerhalb der scheinarchitektonischen Gliederung keine eigene Rahmung 26 . Das flache Raumsegment innerhalb des Deckenspiegels wird von den Darstellungen in den gekrümmten Feldern wie von dem Abschnitt eines Panoramas hinterfangen und in die vordere Zone von deren Bildraum mit einbezogen. Bei den großen, vom Scheitel zum Gebälk tiefer herabreichenden Bildern tritt das naturgemäß deutlicher in Erscheinung als bei den kleinen. Besonders gut ist es zu erkennen an dem Bild von Sündenfall und Vertreibung, wo sich zwischen den beiden Gruppen links und rechts im Vordergrund eine reale, wenn auch sehr dünne, Raumschicht befindet. Realer Raum und Bildraum gehen hier ineinander über27. Nach oben, bzw. im Bildsinn gesprochen:

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vgl. dazu Guldan, 1954, S. 43. Das beschriebene Phänomen wird vor dem in Schrägsicht gesehenen Original ganz augenscheinlich. Dennoch ist es, soweit ich sehe, von der Forschung bisher nicht bemerkt worden; immer werden die Deckenbilder als in das scheinarchitektonische Rahmengerüst eingespannte Tafelbilder oder Teppiche gedeutet, in denen, nach Panofsky, 1921, S. 6, „Menschen als Gegenstände malerischer Darstellung" gezeigt werden. Nur Guldan machte darauf aufmerksam, daß „überhaupt keine eigenen Rahmen für die Deckenbilder existieren und folgerte: „Dieser Verzicht auf eigentliche BildfeldRahmen steigert die irreale Intensität, die den Hauptdarstellungen der Scheitelzone eigen ist." (vgl. Anm. 26) Unsere im Text beschriebene Beobachtung ist der von Guldan verpflichtet, geht aber über sie hinaus. In der Deutung weichen wir voneinander ab. Auf Abbildungen kann man das beschriebene Phänomen wenigstens in den von Tolnay veröffentlichten Schrägaufnahmen (Abb. 62 und 63) bei scharfem Zusehen erkennen. In den aus

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nach hinten, setzt sich der Bildraum dann fort bis in den Bereich des Himmels, der auf allen Darstellungen, wenn auch z. T. nur ausschnittweise, sichtbar ist und der in einem schmalen Ausblick in den Feldern am Anfang und Ende des Deckenspiegels erscheint, zwischen Gebälk und benachbartem Gurtbogen. Am wirksamsten wird die Verbindung von Realraum und Bildraum naturgemäß in denjenigen Darstellungen, die die luftige Atmosphäre als Schauplatz haben und in denen das Oben im Sinne der Wahrnehmung und das Hinten im Sinn der Bildkomposition zusammenfallen. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß der Realitätsgrad der Darstellungen im Deckenspiegel größer ist als er es bei eingelassenen „quadri riportati" wäre. Was die dargestellten Figuren betrifft, so haben sie zwar nicht den Realitätsgrad der riesigen Sehergestalten, wohl aber den Realitätsgrad der ihnen benachbarten Ignudi, die ihnen auch im Maßstab verwandt sind, vorausgesetzt, daß man diese nicht isoliert für sich betrachtet oder, wie wir es vorher getan haben, in Querrichtung in Verbindung mit den Sehern, sondern im Zusammenhang mit dem Deckenspiegel, in dem sie in Längsrichtung gesehen werden. Die Ignudi sitzen in der Anordnung, die wir beschrieben haben (I D), vor den Gurtbögen, die die Bildfelder trennen. Auch für ihre Erscheinungsweise kommt die niedrige, flach gewölbte Raumzone, die im Deckenspiegel zwischen der Ebene des Gebälks und dem Gewölbescheitel vorhanden ist, in's Spiel, aber in einer ganz anderen Weise als bei den Figuren in den Bildern. Ein Vergleich der vier Ignudi, die vor den Gurtbögen sitzen, die die erwähnte Darstellung von Sündenfall und Vertreibung begrenzen, mit den beiden ihnen unmittelbar benachbarten Vordergrundsgruppen macht das wieder besonders gut deutlich: Für die Vordergrundsgruppen der Darstellung besteht, wie wir gesehen haben, der Raum, in dem sie erscheinen, aus einer Verbindung der real vorhandenen Raumschicht im Deckenspiegel mit dem illusionierten Bildraum, der sich nach oben erweitert. Für die Ignudi existiert ein solcher Bildraum nicht. Die real vorhandene Raumschicht zwischen Gurtbögen und Gebälk, in der sie erscheinen, verbindet sich vielmehr nahtlos mit dem realen Raum der darunter befindlichen Deckenzone — also des „Attikageschosses" — ja, darüber hinaus mit dem Raum der ganzen Kapelle. Während die in der gleichen Raumschicht des Deckenspiegels erscheinenden Gruppen von Adam und Eva in Beziehung stehen zu den bereits völlig im Bildraum befindlichen Gestalten von Schlange und Engel am Baum der Erkenntnis in der Mitte des Bildfeldes, stehen die Ignudi in Beziehung zu den Menschen aus Fleisch und Blut, die sich unten in der Kapelle bewegen, und scheinen die gleiche Luft zu atmen wie sie. „Diese Reihen von nackten Körpern haben in Wahrheit die Fähigkeit, Ströme und Kraft in den Beschauer überzuleiten" schreibt Wölfflin (S. 63/64) und hebt so den starken Anschein von Realität hervor, den diese Gestalten, wie oben dem Zusammenhang gelösten Einzelaufnahmen, die immer senkrecht von unten gemacht sind, wird es nicht deutlich.

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gesagt, nur haben, wenn man sie isoliert für sich oder im Zusammenhang mit den Sehern des „Attikageschosses" betrachtet. Im Zusammenhang des Deckenspiegels und wie dieser in Längsrichtung gesehen, verlieren sie ihren hohen Realitätsgrad, einmal durch ihre Anordnung quer zur Standrichtung der Figuren in den Bildfeldern, zum andern durch ihr Sitzmotiv, das in dieser Sicht jeden Anscheins von Realität spottet. Demgegenüber haben, wie wir sahen, die Figuren in den gekrümmten, raumeinschließenden Bildfeldern einen höheren Realitätsgrad als sie ihn in „quadri riportati" an einer Flachdecke haben würden, vor allem in jenen Bildern, die sich im rückwärtigen Teil der Kapelle zur Altarseite hin befinden und die wir hier und auch im Folgenden vornehmlich im Auge haben; diese werden von dem von der Eingangsseite her schräg aufblickenden Betrachter in einem Winkel von 30 — 40° gesehen, sodaß sich das Unten ihres Bildraums in seinem Richtungsempfinden dem Unten seines Standraums, d. h. seiner Standfläche, annähert. Die dem Bildraum zugeordneten Figuren gewinnen also an Realität, die dem realen Raum zugeordneten verlieren an Realität. Auch das ist wieder gut erkennbar an der Darstellung von Sündenfall und Vertreibung und den ihr benachbarten Ignudi oder, noch besser, an den ersten vier Bildfeldern, in denen die Figuren in der Darstellung, durch das Motiv bedingt, quer gelagert sind oder schweben, sich also parallel zu den Ignudi verhalten. Alle Figuren scheinen hier die gleiche Seinsweise zu besitzen, die man am treffendsten als positiv unbestimmt bezeichnen kann 28 und die in Übereinstimmung steht mit der beschriebenen Seinsweise der scheinarchitektonischen Rahmengliederung des Deckenspiegels, ja der ganzen Decke (vgl. I E). Die Vermeidung eines scharfen Kontrastes zwischen den Figuren in und vor den Bildfeldern und ihre Angleichung in Seinsweise und Größe hat zur Folge, daß sich beide in einem gleichen Aktionsraum zu befinden scheinen, der weder der Bildraum, noch der Realraum ist, sondern ein Raum, den man ebenfalls am treffendsten als positiv unbestimmt bezeichnet. Wenn wir auf die Wahrnehmung des Deckenspiegels — und später der ganzen Decke — zu sprechen kommen, wird das deutlicher werden. Zuvor noch kurz zu Gliederung und Darstellung. Auch dabei können wir uns wieder auf vorher (I, D) Gesagtes und auch auf allgemein Bekanntes beziehen. Die Gliederung des gekrümmten, raumhaltigen Deckenspiegels erfolgt durch die Gurtbögen, die die Pilaster der Thronnischen miteinander verbinden. Sie schaffen zusammen mit dem Gebälk fünf schmale und vier breite Felder. Die schmalen, mit denen die Folge beginnt und endet, weiten sich, räumlich gesehen — an den Verkröpfungen des Gebälks leicht erkennbar — nach vorn, die breiten verengen sich. Es entsteht ein rhythmischer Wechsel wie bei Ein- und Ausatmen, ein Eindruck, der, körperlich nachfühlbar, dadurch verstärkt wird, daß die Ignudi

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Ähnliches meint wohl Guldan, S. 43 mit der Bezeichnung „Irreale Intensität" (vgl. Anm. 27).

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vor den Gurtbögen sich den sich öffnenden Feldern zuwenden, den sich verengenden den Rücken kehren. Auf die Bilddarstellungen in den Feldern gesehen, ist der Rhythmus der gleiche: Wo sich das Feld, räumlich gesehen, weitet, ist die Darstellung auf die Mitte beschränkt — seitlich flankiert von den Rundmedaillons vor den Brüstungen —, wo es sich verengt, nimmt sie die ganze Breite ein. Auf Ballung folgt Ausdehnung, oder a u f s Atemholen bezogen: auf Luft-Einziehen Sich-ihrer Entladen. Was die Gegenstände der Darstellungen in den neun Feldern betrifft, so schildern sie, von der Altarseite zum Eingang gelesen, nach Vasari (S. 95) Vorgänge „da la creatione del mondo fino al diluvio e la inebrazione di Noe". Man hat diese Bildfolge vielfach in drei Dreiergruppen unterteilt. So sieht sie z. B. Sauerlandt (S. IX): „in drei Akten von je drei Szenen: die Erschaffung der Welt (ein großes Feld flankiert von zwei kleinen) — die Erschaffung des ersten Menschenpaars und der Sündenfall (ein kleines Mittelfeld flankiert von zwei großen) — die Sintflut und die Geschichte Noahs (ein großes Mittelfeld flankiert von zwei kleinen)." Sinnvoller und, wie die Wahrnehmung lehrt, auch augenscheinlich überzeugender ist eine Unterteilung in zwei Abschnitte, wie sie, Tolnay folgend, von Einem (S. 59) vornimmt: „im Raum des Presbyteriums Gottvater als Schöpfer der Welt und des Menschen, im Laienraum Verstrickung und Fall des Menschengeschlechts." So hat es wohl schon Condivi gesehen, der die Darstellungen im Presbyterium besonders hervorhebt. Michelangelo habe, so schreibt er (S. 96), „dipinto principalmente la creatione del mondo". Aus dem Sechstagewerk Gottes hat Michelangelo — wohl er selbst, nicht ein geistlicher Berater — fünf Tagewerke für die Darstellung in den ersten fünf Feldern des Deckenspiegels ausgewählt, wobei er einmal zwei Tagewerke in einem Feld zusammenfaßte, ein anderes Mal ein Tagewerk auf zwei Felder verteilte. Im ersten Feld ist der erste Schöpfungstag dargestellt, im zweiten in einer Umstellung ihrer Reihenfolge der dritte und der vierte, im dritten der fünfte und im vierten und fünften endlich der sechste: die Erschaffung des Menschen, Mann und Weib. Die Erschaffung Adams im vierten Bildfeld ist die letzte Darstellung, in der Gottvater schwebend im Weltenraum erscheint, im fünften, der Erschaffung Evas, steht er, in Menschengestalt wie sie, auf der von ihm geschaffenen Erde, die dann auch für die Darstellungen in den folgenden vier Feldern — Sündenfall und Vertreibung und Geschichte Noahs — den Schauplatz bildet. Die Erschaffung Evas befindet sich in der Mitte des Deckenspiegels, genau dort, wo auf dem Boden darunter die Cancellata, vor ihrer Versetzung weiter nach vorn, Sakral- und Laienraum voneinander trennte. Der Schöpfergott erscheint hier zum letzten Mal. Mit der Erschaffung Evas, der Verführerin zur Sünde, beginnt Verstrickung und Fall des Menschengeschlechts. Das kleine Feld in der Mitte des Deckenspiegels zwischen je vier, gleich angeordneten, Feldern über Sakral- und Laienraum bildet also auch thematisch die Verbindung zwischen den beiden Abschnitten.

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Wie nun werden die Darstellungen im Deckenspiegel — den wir in diesem Abschnitt zunächst nur als Teilaspekt behandeln — vom Betrachter wahrgenommen? „Der Anfang sollte mit dem Anfang gemacht werden" sagt Justi (S. 29). Und das entspricht auch der unbefangenen, natürlichen Wahrnehmung: Der Betrachter, der die Kapelle betreten hat und sein Augenmerk auf den Deckenspiegel beschränken will, erhebt von seinem Standpunkt am Eingang den Blick schräg aufwärts durch die Länge des Raums zu dem entferntesten Bild an der Altarseite in einem für die Sicht bequemen Sehwinkel von etwa 30° und nimmt danach, den Kopf immer stärker in den Nacken zurücklehnend, die folgenden Bilder in einer immer steiler werdenden Schrägsicht wahr bis zum letzten, das sich fast senkrecht über ihm befindet und in einem Winkel von etwa 80° gesehen werden muß. Mit aufsteigendem Blick holt er, sozusagen, die hoch über ihm am Gewölbe erscheinende Bildfolge von rückwärts her zu sich ein, wobei für die Überleitung von Bild zu Bild der rhythmische Wechsel der Felder und die Vermittlung der zwischen diesen angeordneten Ignudi eine wichtige Rolle spielen, stärker am Anfang, schwächer am Ende, wo der Bewegungsablauf verebbt und endet. Der Unterschied zwischen den beiden thematisch verschiedenen Abschnitten in Sakral- und Laienraum kommt bei solcher Wahrnehmung zu voller Geltung. Zunächst der Sakralraum: die vier Bilder des Schöpfungsakts — nach Condivi die wichtigsten — zeigen, wie Panofsky (S. 7) bemerkt, in der „Beschränkung der Figurenzahl bei gleichzeitiger Steigerung der Figurengröße" (aus unserer Sicht müssen wir sagen: bei gleichzeitiger Abnahme der Figurengröße) „Einstellung auf den A n b l i c k von Ferne". Der in einem Winkel von etwa 30 — 40° aufblickende Betrachter wird, wie wir oben festgestellt haben, bei solcher Schrägsicht der Krümmung und Raumhaltigkeit der Bildfelder gewahr und bezieht das Unten ihres Bildraums und ihrer Figuren — soweit man bei diesen Darstellungen von einem solchen reden kann — auf sein eigenes Unten. Dann die vier Bilder im Laienraum, die in Sündenfall und Vertreibung die Verstrickung des ersten Menschenpaars und in der Geschichte Noahs den Fall des Menschengeschlechts schildern. Sie werden von dem Betrachter, der sich in diesem Raum aufhält, in einem steileren Winkel von etwa 55 — 80° gesehen. Dabei besteht ein starker Unterschied in Komposition und Wahrnehmung dieser Bilder zwischen dem ersten und den drei folgenden. Das erste Bild — Sündenfall und Vertreibung Adams und Evas —, das thematisch eng mit den beiden vorausgehenden Bildern ihrer Erschaffung verbunden ist, ist in Beschränkung der Figurenzahl, in Figurengröße und Erscheinungsweise den Bildern im Sakralraum noch verwandt. Auch bei ihm kann man in der Schrägsicht den flach gewölbten Realraum bemerken, der in den Bildraum einbezogen ist. Zwar Verstrickung und Abfall von Gott, aber, so muß man hinzufügen, noch in seinem Reich, dem Paradies, und unter seinen Augen. In den drei folgenden Bildern, die in der Geschichte Noahs den Fall des sündigen und gottverlassenen Menschengeschlechts zeigen, dem sich auch der Betrachter zurechnen muß, ist alles sehr anders. Diese Bilder, die vom Betrachter

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die geringste Entfernung haben — etwa die Hälfte derjenigen, die die auf Anblick von ferne eingestellten Bilder haben, sind, wie Panofsky (S. 7) sagt, „in einem klein- und vielfigurigen, zeichnerisch detaillierenden und wenig akzentuierten, kurz n a h s i c h t i g e n Stile vorgetragen". Die Ignudi im Rahmengerüst sind hier größer als die Figuren in den Bildern, wodurch zwar keine größere Differenzierung im Realitätsgrad entsteht als bei den Darstellungen im Sakralraum — hier wie dort ist er positiv unbestimmt —, wohl aber ein anderes Verhältnis zueinander. Während im Sakralraum die Figuren im Bild und die Ignudi sich in ein und demselben — positiv unbestimmten — Aktionsraum zu befinden scheinen, gehören sie hier augenscheinlich verschiedenen Bereichen an. Am Maßstab der Ignudi gemessen erscheinen die Figuren in den Bildern — und natürlich mit ihnen der ganze Bildraum — in eine größere Ferne gerückt. Zu bemerken ist schließlich, daß die Ignudi die Bilder, mit einer Ausnahme, nicht überschneiden und daß sie in der Querrichtung einen größeren Abstand voneinander wahren als sie ihn im Sakralraum haben; dadurch tritt der Gurtbogen als trennendes Element zwischen den einzelnen Bildern stärker hervor als bei allen anderen Bildfeldern, zwischen denen die Verbindung durch die Ignudi stärker wirkt als die Trennung durch den Gurtbogen. Der Betrachter, der unter diesen drei Bildern steht, sieht sie in einem Winkel von etwa 60 — 80°, d. h. nicht in Schrägsicht, sondern fast senkrecht von unten. Bei solcher Sicht kann er den flach gewölbten Raum im gekrümmten Deckenspiegel, der sich im vorhergehenden Abschnitt für die mehr oder weniger steile Schrägsicht bei den Bildern mit ihrem Bildraum darüber, bei den Ignudi mit dem realen Kappellenraum darunter zu verbinden scheint, nicht wahrnehmen. So wirken die Darstellungen wie in einer Ebene ausgebreitet, aber nicht als „quadri riportati", sondern auch sie positiv unbestimmt. Die Figuren erscheinen, im Vergleich zu den Figuren in den vorhergehenden Darstellungen, starr, ja, versteinert — „like petrified beings" sagt Tolnay (S. 25) —, der Bildraum, in dem sich der Betrachter zwar nach seiner Körperachse orientieren kann, hat in seinem Unten und Oben keine Beziehung zu ihm. Ereignisse der Menschheitsgeschichte, in denen der Schauplatz und die in ihm handelnden Personen zwar vertraut, aber in eine ferne Vorzeit entrückt erscheinen. Der fast senkrecht zu ihnen aufgerichtete Blick des Betrachters kann bei ihnen nicht lange verweilen, er rückt schnell von Bild zu Bild vor — bzw. zurück — und liest sie wie die Kapitel einer Chronik. Die vier Bilder im Sakralraum dagegen, zu denen wir abschließend noch einmal zurückkehren, um den Kontrast deutlich zu machen, werden ohne Anstrengung in bequemer Schrägsicht gesehen und zwar nicht nacheinander als Folge, sondern als zusammenhängende Einheit, in der sich das Sechstagewerk in unmittelbar lebendiger Vergegenwärtigung vor unseren Augen als ein durchgehender Schöpfungsakt vollzieht. Gottvater, der in fünf verschiedenen Bewegungsphasen sichtbar wird und immer mehr menschliche Gestalt annimmt, bewegt sich dabei in einer kontinuierlichen Zickzacklinie von Feld zu Feld, bis er im schwebenden Gegenüber mit dem

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nach seinem Bilde geschaffenen Adam zur Ruhe kommt 29 . Das Sich-Weiten und Sich-Verengen der Bildfelder, ihr Aus- und Einatmen, unterstreicht den Bewegungszug sinnfällig. Und die Ignudi vor den Gurtbögen, die die Bildfelder auffallig überschneiden, werden in dem positiv unbestimmten Raum, der weder der Realraum, noch der Bildraum ist, zu Teilnehmern des Schöpfungsaktes, sei es als Kreaturen Gottes wie Adam, dem sie in Größe und Gestalt gleichen und wie der auch sie — ja vielleicht noch stärker — als „Partner unseres Leibbewußtseins" erscheinen, sei es als Engel wie die flügellosen Putten, die Gott auf seinem Zuge begleiten 30 . Soviel zum Deckenspiegel, als Teilaspekt betrachtet. Wir müssen nun aber gleich einen Einwand erheben, der vielleicht schon bei der Beschreibung spürbar geworden ist. Während es durchaus möglich ist, die anderen Teilaspekte — also die Eckkappenbilder in Diagonalrichtung und die Sehergestalten in Querrichtung — isoliert für sich zu betrachten, ist das beim Deckenspiegel nicht — oder sozusagen nur mit Scheuklappen — möglich. Der Deckenspiegel kann vielmehr nur im Zusammenhang der gesamten Decke gesehen werden, in dem er freilich die beherrschende und die Blickrichtung bestimmende Rolle hat: nur seine Bilder in der Mittelbahn — und, wie schon jetzt bemerkt werden soll, der Jonas im Zwickelfeld über der Altarwand — sind von dem Standpunkt am Eingang der Kapelle, der auch für die Wahrnehmung der ganzen Decke gilt, ganz klar erkennbar und in ihrer Ausrichtung verständlich. Die Sehergestalten in den beiden Seitenbahnen dagegen, die, in Querrichtung einzeln für sich gesehen, dem Betrachter in Condivis „Attikageschoß" aufrecht gegenüber zu sitzen schienen, sind, in Längsrichtung in ihrer Reihung gesehen, deutlich gekrümmt, das heißt nicht klar erkennbar und in ihrer Ausrichtung unverständlich. Ob das vom Betrachter auch so wahrgenommen wird, ist freilich eine andere Frage, auf die wir noch zurückkommen werden. Wölfflin (S. 56) betont, mit dem Blick auf die ganze Decke, den „Richtungsunterschied, indem die Figurensysteme der Zwickel im rechten Winkel zu den Historien stehen" und meint: „Man kann nicht beide zusammen sehen, aber man kann sie auch nicht völlig trennen: es mischt sich immer ein Stück der anderen Gruppe der Erscheinung bei und hält die Phantasie in Spannung." Wir möchten diese Beobachtung Wölfflins, die, wie sich zeigen wird, von ihm nicht negativ gemeint 29

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Wilde, S. 78 liest den Bewegungszug seltsamer Weise in umgekehrter Richtung, also in der Folge der Entstehung der Bilder, auf die Figur des Jonas zu, bei der er, wie ein niederfahrender Blitz, ende. Er geht aber ganz augenscheinlich von Jonas aus, wie im Text (II B) näher ausgeführt. Die These, daß mit den Ignudi Engel gemeint sein könnten, hat Wind, 1960, S. 78 ff. aufgestellt und zu begründen versucht. Sie scheint uns weit weniger einleuchtend als der hier gemachte Vorschlag, in ihnen Kreaturen Gottes zu sehen. Mit Sicherheit behaupten kann man nur, daß die Ignudi im Zusammenhang mit den Bildern des Deckenspiegels, ebenso wie im Zusammenhang mit den Sehern, eine Bedeutung gewinnen, die über ihre wichtige Funktion als Gelenke im Rahmengerüst hinausgeht (vgl. I D). Ein Vergleich der Einzelaufnahmen der Bilder mit den sie rahmenden Ignudi — wie z. B. bei Schubring — und ohne sie — wie z. B. bei Tolnay, 1945 — macht das augenscheinlich deutlich.

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ist, positiv ausdrücken: Man soll die Historien und die Sehergestalten — und auch die Ignudi vor den Gurtbögen und die Vorfahren Christi in Stichkappen und Lunetten —, die in ihrer Einwirkung aufeinander die Phantasie in Spannung halten, nicht völlig trennen, und eben deshalb soll man beide zusammen sehen oder, besser gesagt, miteinander wahrnehmen. Daß man das kann, wollen wir versuchen, im folgenden Abschnitt aufzuzeigen. B. Bevor wir auf die Wahrnehmung der Decke als zusammenhängendes Ganzes eingehen, müssen auch hier Vorbemerkungen gemacht werden, einmal zu unseren Abbildungen, zum anderen zur Erscheinungsweise und Gliederung der gesamten Decke. Zunächst zu den Abbildungen: Abbildung 66 zeigt die Kapelle, was ihre Ausmalung betrifft, in dem Zustand, in dem sie sich nach Beendung der Deckenmalerei, 1512, befand. Das erst 1534/41 entstandene Jüngste Gericht an der Altarwand ist abgedeckt durch eine schematische Zeichnung des Zustandes vor 1534, wie ihn Wilde, 1958, überzeugend rekonstruiert hat (vgl. dazu I A): In den drei Wandzonen die Malerei des späten 15. Jahrhunderts: unten zwischen Teppichen als Altarbild das Fresko der Himmelfahrt Mariae, das wir aus einer Zeichnung kennen (7 a), darüber, durch einen Pilaster getrennt, die beiden ersten Historienbilder, von deren Aussehen wir nichts wissen, und schließlich in der Fensterzone — nur zu vermuten — im Mittelfeld Christus zwischen Petrus und Paulus, seitlich die beiden ersten Päpste. Über diesen drei Wandzonen dann in den beiden Lunetten unter den sphärischen Dreiecksfeldern und wie diese von Michelangelo gemalt, die ältesten Vorfahren Christi, die wir aus Kopien kennen31. Historienbilder, Papstbildnisse und Vorfahren Christi bilden, wie bekannt, den Anfang der Zyklen, die sich an den Längswänden, sei es gradlinig, sei es überspringend, zur Eingangswand fortsetzen. Was die ursprüngliche Ausstattung der Kapelle betrifft, so muß man sich die Cancellata, die Sakral- und Laienraum trennt, in der Mitte des Raums vorstellen wie auf der Rekonstruktionszeichnung in Abbildung 64; sie wurde erst um 1550 an ihren heutigen Platz versetzt, um mehr Raum für die Geistlichkeit zu gewinnen (vgl. dazu I A). Die in den meisten Veröffentlichungen über die Sixtinische Kapelle abgebildete Aufnahme, die auch unserer Abbildung zugrunde liegt, ist, wie am Aufblick auf den Fußboden leicht zu erkennen, von einem viel zu hohen Standpunkt aus gemacht, als daß sie den Raumeindruck des am Eingang auf dem Boden stehenden Betrachters und seine Sicht der Decke auch nur annähernd richtig wiedergeben könnte. Abbildungen 62 und 63, die sich ergänzen, zeigen, soweit es einer photographischen Aufnahme möglich ist, die Decke etwa so, wie sie dem schräg zu ihr aufblickenden Betrachter erscheint. Dem unter dem Original entstehenden Ein31

vgl. Tolnay, 1945, S. 90/91, 175/76 und Abb. 30/31, 261, 3 8 6 - 3 9 0 .

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druck, für den Raum und Wölbung eine wichtige, von der Photographie nicht zu erfassende, Rolle spielen, kann man etwas näher kommen, wenn man die Abbildung 66 leicht gebogen schräg über sich hält. Was die Erscheinungsweise der Decke angeht, so muß daran erinnert werden, daß sie — was auch in der Forschung bemerkt wurde 32 — trotz der Mächtigkeit des scheinarchitektonischen Rahmengerüstes und der ihr entsprechenden Körpermacht der Gestalten, aufs Ganze gesehen, leicht schwebend wirkt, nicht auf den Wänden lastend, sondern wie ein Sprenggerüst sich selbst tragend. Die Gründe dafür — oder doch einige der Gründe — sind in Teil I (D und F) aufgezeigt worden: die Loslösung der Deckenstruktur von der Wandstruktur; die Betonung der wie Segel geschwellten Stichkappen, vor allem der zu einem sphärischen Dreiecksfeld zusammengezogenen Stichkappen in den Ecken des Raums, deren Rahmung im Zickzack ein- und ausschwingt und die Grenze zwischen tragender Wand und lastendem Gewölbe verwischt; die Thronpilaster, die kein festes Auflager haben, sondern zwischen den Schrägen der Stichkappen wie eingeklemmt scheinen; die großen figuralen und architektonischen Diagonalverbindungen, die der muldenförmigen Wölbung wie eine Folge von Kreuzgewölben untergelegt scheinen. Die Gliederung der gesamten Decke, die nur in der Längsrichtung überschaubar ist, wird allein bei deren schwebender Erscheinungsweise verständlich. Im vorausgehenden Abschnitt über die Wahrnehmung der Teilaspekte der Decke waren wir ausgegangen von den Sehergestalten in den beiden Seitenbahnen, die in Querrichtung gesehen werden müssen und zwar eine jede für sich allein in ihrem Zwickelfeld zwischen den Stichkappen. Die ihre Thronnischen flankierenden Pilaster schienen dabei, in Schrägsicht gesehen, senkrecht zum Gebälk des Deckenspiegels aufzusteigen. Beim Teilaspekt des Deckenspiegels in der Mittelbahn, der in Längsrichtung gesehen werden muß, haben wir dann die ihn innerhalb des umlaufenden Gebälks in Felder unterteilenden Querbalken als die Pilaster verbindende Gurtbögen bezeichnet. Man könnte nun meinen, daß sich aus den architektonischen Elementen der beiden Teilaspekte — Pilaster und Gurtbögen —, wenn man sie zusammennimmt, ein den Raum überhöhendes Attikageschoß ergibt. Wie oben (I, E) ausgeführt, hat das Condivi getan, und ein Teil der Forscher ist ihm darin bis in die jüngste Zeit gefolgt. Wir haben dem entschieden widersprochen und behauptet, daß die Scheinarchitektur nach augenscheinlicher Evidenz für Michelangelo ausschließlich die Aufgabe hat, Darstellungen und Figuren ins rechte Bild und in den rechten Zusammenhang zu rücken (I, F). Das heißt: die Scheinarchitektur ist in erster Linie als Rahmengliederung konzipiert und muß als solche gewertet werden. Die durch sie gegliederte Decke setzt sich nicht aus Teilaspekten zu einem Gesamtaspekt zusammen, sondern ist von vornherein als zusammenhängendes Ganzes konzipiert, das auch als solches wahrgenommen werden soll. Erst 32

so z. B. Tolnay 1945, S. 15: „This mighty architectonic organism, filled with its own forces and peopled by an ideal race is suspended over the chapel in defiance of the law of gravity".

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innerhalb der Gliederung dieses Ganzen entstehen die Teilaspekte, die dann in sich zu voller Selbständigkeit ausgebildet sind und für sich allein gesehen werden können, ja, für sich allein gesehen erst verständlich werden. Wir haben das an den Sehergestalten beobachtet, deren Thronnischen perspektivisch für diesen Teilaspekt konstruiert sind; hier ist die Rahmengliederung vorrangig Scheinarchitektur: die Pilaster scheinen, wie gesagt, senkrecht aufzusteigen zum Gebälk, das sich über ihnen — ebenfalls in perspektivischer Verkürzung und in Untersicht — verkröpft. Auf die Decke als zusammenhängendes Ganzes gesehen, als das sie konzipiert ist und als das sie in Längsrichtung vom Eingang her wahrgenommen werden soll, verlieren die Pilaster die scheinarchitektonische Funktion, die sie als Teile der Thronsitze für die in Querrichtung gesehenen Teilaspekte haben. Als Rahmenglieder gewinnen sie dafür eine noch wichtigere Funktion im Verband der gesamten Deckengliederung, die ihrerseits ganz im Dienst der Bilder des Deckenspiegels steht. Der Deckenspiegel ist, wie wir feststellten, der Alles beherrschende Teilaspekt, der, im Unterschied zu den anderen Teilaspekten, nicht für sich allein gesehen werden kann, sondern nur im Zusammenhang der ganzen Decke. Mit seiner Gliederung durch die Gurtbögen treten die Pilaster — wie wir sie auch als Rahmenglieder weiterhin nennen wollen — in enge Verbindung. Nicht senkrecht aufsteigend zum Gebälk, wie in den Teilaspekten, sondern im Bogen vom Gebälk aus abwärts gerichtet zu den Rahmenschrägen der Stichkappen, in deren Mitte sie, ohne festes Auflager, gleichsam herabhängend, enden — ein Motiv, das bei der schwebenden Erscheinungsweise der Decke als durchaus angemessen erscheint —, bilden die Pilaster, zusammen mit den Gurtbögen, durchgreifende Querriegel. In Analogie zu der rhythmisch wechselnden Gliederung des Deckenspiegels in der Mittelbahn durch die Gurtbögen entsteht eine solche auch für die ganze Decke durch diese Querriegel. Die Querriegel sind, wie die Ignudi im Deckenspiegel, den fünf schmalen Feldern zugeordnet, in denen sich in der Mittelbahn das kleine Bildfeld befindet, in den Seitenbahnen zwischen den Pilastern die Sehergestalten sitzen; diesen Feldern dienen sie als Rahmung. So entstehen fünf breite Bahnen, die durch ihre ausgeprägt architektonische Ausgestaltung — die Brüstungen mit den Rundmedaillons im Deckenspiegel und die Thronnischen mit ihrer festen Rückwand in den Zwickelfeldern — und durch ihre gedrängte Füllung mit Figuren als massive Gurtjoche wirken, die sich vom Scheitel des Deckenspiegels zu den, von den Sehergestalten belasteten, Bodenplatten der Thronnischen herabsenken 33 . In den vier breiten Feldern zwischen diesen Gurtjochen erscheinen in der Mittelbahn, wie in entlasteten Zwischenräumen, die sie ganz füllenden großen Darstellungen. In den Seitenbahnen greifen, zwischen den nach außen und unten gerichteten Gurtjochen in den Zwickelfeldern, die nach innen und oben gerichteten Stichkappen

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Die „Gurtjoche" können nicht als von den Seiten zur Mitte aufsteigende, die Wölbung tragende Gliederung interpretiert werden, wie z. B. bei Oertel, S. 11: „Die Paare der Pilaster und Gurte spannen sich von einem Zwickel zum anderen und halten das Gewölbe".

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ein, die, als Teilaspekte gesehen, die Bedachung der Wandabschnitte zwischen den Pilastern bilden. Auf Sich-Ausdehnen folgt also Sich-Verengen, wie wir es auch im Deckenspiegel beobachtet haben, jedoch in umgekehrter Reihenfolge: wo sich im Deckenspiegel das Feld verengt, dehnt es sich in der ganzen Decke aus; wo es sich im Deckenspiegel ausdehnt, verengt es sich in der ganzen Decke. Wo hier Einatmen, ist dort Ausatmen. Die von Michelangelo für die Decke ersonnene, sich in Längs- und Querrichtung durchkreuzende Rahmenstruktur dient also dazu, wie wir feststellten, Darstellungen und Figuren ins rechte Bild und in den rechten Zusammenhang zu rücken. Und im Dienst dieser Aufgabe stehen nun schließlich auch die breiten Rahmen, mit denen er in der Diagonalrichtung die vorgegebene Struktur der Stichkappen betonte. Ihre Schrägen setzen die großen Darstellungen in der Mittelbahn in enge Verbindung mit den Sehergestalten in den Seitenbahnen. Wölfflin, dessen oben zitierte Beobachtungen, daß man die Historien im Deckenspiegel und die Figuren in den Zwickeln nicht völlig trennen könne, wir dahin ins Positive wendeten, daß man sie, der Absicht des Künstlers gemäß, garnicht völlig trennen solle, bemerkt dazu in diesem Sinne (S. 56): „Er (sc. Michelangelo) hilft nach mit dunklerer Färbung der ausgeschiedenen Nebenräume — die Medaillonfelder sind violett, die Dreiecksausschnitte neben den Thronsesseln grün, — wodurch die hellen Hauptstücke mehr herauskommen und das Umspringen des Accentes, von der Mitte auf die Seiten und wieder zurück zur Mitte, um so eindrücklicher wird." Für die Wahrnehmung der Decke als zusammenhängendes Ganzes, in dem die Darstellungen des Deckenspiegels dominieren, hat ihre scheinarchitektonische Rahmengliederung eine ähnliche Bedeutung wie Vers und Strophe im Epos. Was nun diese Wahrnehmung betrifft, so wollen wir zwei Feststellungen vorausschicken. Erstens: Für sie gilt der gleiche Standpunkt wie für die Wahrnehmung des Deckenspiegels als Teilaspekt, d. h. also vor dem Eingangsportal im Osten, dem Altar im Westen gegenüber. Von hier aus kann der Betrachter gleich nach Betreten der Kapelle die Decke in Schrägsicht überblicken bis auf die Partien, die sich in seinem Rücken und unmittelbar zu seinen Seiten befinden. „V'e veduta ferma"! Zweitens: die Schlüsselfigur für die Wahrnehmung der ganzen Decke ist der Jonas, der sich in dem schräg in den Raum stehenden Zwickelfeld über der Altarwand befindet (Abb. 65). So hat schon Justi die künstlerische Absicht Michelangelos beurteilt. Es heißt bei ihm, S. 29/30: „auch hat er dafür gesorgt, daß dem Eintretenden sogleich die Epopoe der Schöpfung in ihrem Ablauf von West nach Ost klar und übersichtlich ins Gesichtsfeld falle. Diese Hauptansichtsstelle des Ganzen am Ostende hat er vorausgesetzt. Auch die Propheten sollten nicht blos als Einzelfiguren, sondern als Doppelchor von hier aus überschaulich gesehen werden." Und dann weiter: „In derselben Gegend, wo die Folge der Schöpfungsakte anhebt, fällt der jene Avenue von thronenden Colossen durcheilende Blick des Besuchers auf die Gestalt des Jonas, durch Größe, Bewegung und Gebahren wol die auffallendste des ganzen

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Raumes ... Wären die Deckengemälde in perspektivischer Einheit entworfen, an dieser Stelle müßte der Augenpunkt des Ganzen liegen. Der Künstler hat weislich auf diese Einheit verzichtet; aber er will doch den Ort dieses letzten Fern- und Verschwindungspunktes andeuten, durch den der Hauptstandpunkt des Ganzen festgelegt und dessen Einheit besiegelt worden wäre." Da in der Michelangelo-Literatur verschiedentlich die Meinung geäußert worden ist, daß der in die Kapelle Eintretende seinen Blick zuerst auf die Sehergestalten an den Längsseiten der Decke richte und dann von diesen aus in der Querrichtung Joch für Joch die Bilder im Deckenspiegel als deren Visionen wahrnehme34, könnte man auf Grund von Justis Feststellung, daß „der jene Avenue von thronenden Colossen durcheilende Blick des Besuchers auf die Gestalt des Jonas" fallt, vermuten, daß auch er der Ansicht sei, der Blick des Eintretenden richte sich zunächst auf die Sehergestalten an den Längsseiten und würde erst durch sie auf den Jonas an der Altarwand gelenkt. Das wäre ein Mißverständnis. Justi kommt es bei der zitierten Feststellung lediglich auf den Vergleich des Jonas mit den anderen Sehergestalten an, um aufzuzeigen, daß er die auffallendste Gestalt des Raumes ist. Was die Blickrichtung des Betrachters auf ihn betrifft, so geht sie nach seiner ausgesprochenen Ansicht ganz eindeutig von dessen „Hauptstandspunkt", bzw. dessen „Hauptansichtsstelle" im Osten aus. Es gibt zwei Wege, die von dieser Hauptansichtsstelle aus den Blick des Betrachters zur Schlüsselfigur des Jonas führen, einen indirekten und einen direkten. Der gläubige Besucher der Kapelle wird seinen Blick zunächst durch die Weite des Raums auf den Altar im Westen richten, dessen Bild mit der Darstellung der Assunta ihm — im ursprünglichen Zustand der Altarwand, den wir hier voraussetzen — in der Öffnung der — ursprünglich weiter zurückstehenden — Cancellata erschien, ähnlich wie Tizians, etwa ein Menschenalter später entstandene, Assunta in der Frarikirche in Venedig in der Öffnung des Lettners erscheint. Das Bild der Assunta nun, das wir aus der Zeichnung in der Albertina kennen (7 a), ist mit seinen etwas unterlebensgroßen Figuren so komponiert, daß es den Blick in die Höhe führt: unten, in der Mitte der stehenden Jünger, der knieend aufschauende Thomas, darüber in der Mittelachse die aufschwebende Maria in der Mandorla. Über ihr erhebt sich dann, zwischen den beiden Historienbildern, der Pilaster, der die Verbindung herstellt zu der in der Mitte zwischen den Fenstern befindlichen, 34

So z. B. von Einem, S. 57: „Unser Blick trifft zuerst zu beiden Seiten auf die Steinwände mit den mächtigen Thronen und den sitzenden Gestalten ... Über ihnen Medaillons, die von nackten Jünglingen gehalten werden. Von hier aus dringt er an den steinernen Quergurten entlang zur Mitte — und nun erst gewahrt er in einer ganz anderen Seinsschicht — gleichsam wie Visionen der Thronenden — die Bilder der Schöpfung und der Anfänge des Menschengeschlechts". Und diese Bilder müssen, fahrt von Einem, S. 59 fort, „Kompartiment für Kompartiment in Quer- nicht in Längsrichtung" gelesen werden, von der Eingangs- zur Altarwand, von der Schande Noahs zum ersten Schöpfungstag. „Von diesem ersten Bild" heißt es dann schließlich, S. 69, „schweift unser Blick in der Folge der Erzählung bis zu dem letzten Bild zurück." Es erübrigt sich, zu sagen, daß solche komplizierte Lesart der unbefangenen Wahrnehmung nicht entspricht und willkürlich scheint.

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etwas überlebensgroßen Figur Christi. Und über dieser, den senkrecht aufsteigenden Bewegungszug abschließend, im sich vorwölbenden Zwickelfeld der Decke, der riesige Jonas, der, nackt und mit dem großen Fisch neben sich (der ihn, den ins Meer Geworfenen, — laut Jona 2 — nach drei Tagen und drei Nächten aus seinem Bauch ans Land spie), in diesem Zusammenhang als Präfiguration des auferstandenen Christus erscheint. „Denn gleichwie Jona war drei Tage und drei Nächte in des Walfisches Bauch, also wird des Menschen Sohn drei Tage und drei Nächte mitten in der Erde sein." (Matthäus 12,40) Der unbefangene Betrachter wird, angezogen von der Mächtigkeit des Jonas, seinen Blick schräg über die Cancellata hinweg direkt auf ihn richten oder, wie man hier in der feierlichen Sprache der Bibel sagen möchte, seine Augen aufheben zu ihm. Der Jonas wird in der Längsrichtung, in einer Entfernung von über vierzig Metern, in einem flachen Sehwinkel von etwa 25° erblickt, sehr anders als die Sehergestalten an den Seiten in der Querrichtung, die, in einer Entfernung von nur zwanzig Metern, in einem steilen Sehwinkel von etwa 55° erblickt werden. Dadurch ändert sich das Verhältnis des Betrachters zu ihm grundlegend. Während er sich bei der Wahrnehmung der Sehergestalten über den Längswänden, die, wie gesagt (II, A), nur für sich allein als Teilaspekte richtig gesehen werden können, als unmittelbares Gegenüber in ihre Höhe versetzt fühlt, kommt bei der Wahrnehmung des Jonas, der mit der ganzen Decke zusammen gesehen wird, das Empfinden des großen räumlichen Abstands und das Empfinden des Aufblicks von Unten nach Oben ins Spiel. Der Blick füllt sich, sozusagen, bei seinem schrägen Aufsteigen mit der Weite des durchmessenen Raums und nimmt an seinem Ziel zusammen mit der mächtigen Gestalt des Jonas die Mächtigkeit der Wölbung wahr. „Der Machtausdruck des Freskos" ist „für jeden unbefangenen Blick mit dem architektonischen Machtfaktor der Wölbung unlöslich gekoppelt" sagt Schöne (S. 151) treffend in bezug auf die barocke Deckenmalerei. Das gleiche gilt unvermindert auch hier. Jonas, in einer von Condivi (S. 104) und Vasari (S. 113) gleichermaßen bewunderten Verkürzung dargestellt, sitzt mit ausgreifender Gebärde vor seiner Thronnische und blickt, in Gegenrichtung zu unserem Aufblick zu ihm, schräg auf zum höher gelegenen Raum des Deckenspiegels über sich, ein Seher im wahrsten Sinne des Wortes. Unmittelbar vor und über ihm erscheint ihm, von Angesicht zu Angesicht, im ersten Bildfeld, in einer ausholenden Körpergebärde, die der seinen antwortet, der Gottvater des ersten Schöpfungstags. Durch den Raum der Kapelle hindurch, und durch den schmalen Himmelsspalt zwischen Gebälk und Gurtbogen wirkungsvoll getrennt, sind die beiden Gestalten in einem dramatischen Akt miteinander in Beziehung gesetzt. In diesem Zusammenhang ist Jonas nicht der von Gott aus dem Bauch des Fisches Gerettete, sondern — nach Jona 3 und 4 — der von ihm nach Ninive Entsandte und enttäuscht Zurückgekehrte, der, verdrossen und zornig, mit ihm rechtet.

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Der Blick des Jonas ist aber nicht begrenzt auf das erste Bild des Deckenspiegels, auf das er durch die dargestellte Handlung bezogen ist; er geht darüber hinaus und scheint die Bildfolge in ihrer ganzen Ausdehnung zu erfassen. Ja, noch mehr: auch die Ignudi, die zwischen den Bildern vermitteln, und die Seher, die sie, nach Justi's Ausdruck, wie ein Doppelchor begleiten, scheinen sich in seinem Blickfeld zu befinden. Beide sind eng mit ihm, der Schlüsselfigur, verbunden. Über den Pilastern seines Thronsitzes sitzt nicht ein Ignudi-Paar, wie über den Thronpilastern an den Längsseiten, wo es, wie wir oben (II, A) feststellten, einen wirksamen Kontrast zu der geistigen Existenz der Propheten und Sybillen in den Nischen bildet. Der Platz an der Schmalseite des Deckenspiegels ließ das nicht zu. Ein Ignudi-Paar hätte hier aber auch keine Kontrastwirkung erreicht. Der nur mit einem Lendenschurz bekleidete Jonas ist in seiner Jugendlichkeit, seiner Nacktheit und seiner, die drei Richtungen der Rahmengliederung aufnehmenden und ausgleichenden Körperbewegung ihresgleichen. Und so wirken die zehn Ignudi-Paare, die den Deckenspiegel durchziehen und die wir innerhalb von diesem als Kreaturen Gottes verstanden wissen wollten, mit seinen Augen gesehen und sich in der Richtung der Pilaster seines Thronsitzes entwickelnd, wie seine Gefährten, ihm zugehörig. Und in sein Blickfeld und seinen Bereich einbezogen sind auch die Sehergestalten in den gekrümmten Seitenbahnen. Unterhalb der Bodenplatte seiner Nische entspringen von der das Zwickelfeld stützenden Konsole aus zwei an den Wänden und im Gewölbe fortlaufende Rahmenbänder, die die Sehergestalten einschließen und die zugleich in ihrer Auf- und Abwärts- und ihrer Ein- und Auswärtsbewegung die rhythmische Gliederung der ganzen Decke bestimmen. Das äußere Rahmenband setzt sich, auf- und abschwingend, in den Schildbögen der Wände fort, das innere, das über die sphärischen Dreiecksfelder hinweg von der Altarwand zu den Längswänden überspringt, schwingt, die Stichkappen begleitend, räumlich aus und ein. Dazwischen haben die Sehergestalten ihren Platz, die den Deckenspiegel als Doppelchor begleiten. Vom Jonas aus, auf den das Augenmerk des am Eingang der Kapelle Stehenden indirekt oder direkt gelenkt wurde, nimmt der Betrachter also, gleichsam mit dessen Augen, die ganze Decke wahr. G l e i c h s a m mit dessen Augen! Tatsächlich wird die ganze Decke genau so wahrgenommen wie der Deckenspiegel als Teilaspekt (II A), d. h. mit schräg aufwärts gerichtetem Blick und immer stärker in den Nacken zurückgelehntem Kopf Bilder und Figuren von der Altarseite her zu sich einholend. Zum Deckenspiegel treten dabei nun die ihn umgebenden Sehergestalten in Verbindung, in erster Linie der Jonas, der, richtungsweisend, am Beginn der Wahrnehmung steht, dann die Propheten und Sibyllen an den Längsseiten, deren Krümmung in der Fernsicht weit geringer erscheint als sie ist, und die nach dem Vorbild des frontal gesehenen Jonas und auf die Körperachse des Betrachters bezogen als aufrecht sitzend wahrgenommen werden. Und erst bei Wahrnehmung der ganzen Decke kommen der

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großartige doppelte Rhythmus der Rahmengliederung und der architektonische Machtfaktor der Wölbung, der sich mit ihr und den Darstellungen unlöslich verbindet, zu voller Entfaltung. Befände sich der Betrachter dagegen an der Stelle des Jonas hoch oben im Gewölbe und sähe die unmittelbar vor und über diesem sich erstreckende Decke in dessen Blickrichtung, so kämen weder der großartige Rhythmus der Gliederung noch der architektonische Machtfaktor der Wölbung zur Wirkung; die Bilder im Deckenspiegel würden auf dem Kopf stehend erscheinen und die Sehergestalten gekrümmt. Der Standpunkt des Betrachters an der gegenüberliegenden Seite und dessen raumgreifender schräger Aufblick zum Jonas, in Gegenrichtung zu dessen Aufblick, sind also unerläßliche Voraussetzungen für die Wahrnehmung g l e i c h s a m mit dessen Augen. Stellt man sich in dem Zwickelfeld über der Altarwand eine der anderen Prophetengestalten vor, die, in weite Gewänder gehüllt, nachdenkend, lesend, schreibend oder redend, ganz auf ihr Tun innerhalb der Nische bezogen sind und nicht über sich hinausweisen, so wird schlagartig die wichtige Rolle des aufblickenden nackten Jonas als Schlüsselfigur für die Wahrnehmung der Decke als zusammenhängendes Ganzes deutlich. Den Jonas behält der zur Decke aufschauende Betrachter fest im Auge, wenn er seine Hauptansichtsstelle am Eingang der Kapelle verläßt und sich in Richtung Altar auf die Schranke zu bewegt, die wir uns an ihrem ursprünglichen Ort in der Mitte des Raums vorstellen müssen. In seinem Blickfeld befindet sich dabei nur der schräg vor ihm über dem Altarraum liegende rückwärtige Teil des Deckenbildes mit der Erschaffung der Welt, der, wie wir mit Condivi feststellten, der wichtigste Teil ist. Der vordere Teil über dem Laienraum, in dem sich der Betrachter bewegt, ist seinem Blick entzogen. Die Figurenwelt des rückwärtigen Teils aber — vor allem in den als kontinuierliche Folge erscheinenden Darstellungen des Sechstagewerks im Deckenspiegel — scheint dem Vorangehenden hoch zu seinen Häupten entgegen zu ziehen. Er empfindet dabei „den grandiosen Rhythmus" und „das gewaltig wogende Leben des Gewölbes", um die Worte Wölfflins zu gebrauchen (S. 55). Die Cancellata gebietet Halt. Das Deckenbild verschwindet an dieser Stelle völlig aus dem Blickfeld des Betrachters, der seine Aufmerksamkeit nun — durch den vorausgegangenen Anblick im Geist erhoben — auf den Altar richtet. Von den Teilnehmern an einem Gottesdienst, für den die Sixtina als päpstliche Hauskapelle geschaffen und ausgemalt ist — auch wenn sie schon seit der Entstehung von Michelangelos Werk als künstlerische Sehenswürdigkeit galt —, kann nur die Geistlichkeit durch sie hindurch den Altarraum betreten. Der Laie bleibt ausgeschlossen. Wendet er sich zurück zum Eingang, so fällt sein Blick auf den Teil der Decke, der ihm beim Betreten des Raums, also von der Hauptansichtsstelle für die „veduta ferma", verborgen geblieben war, vor allem auf den Zacharias, der sich dem Jonas gegenüber befindet. Vornehmlich am Vergleich dieser beiden Propheten-

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Christian Adolf Isermeyer

gestalten, mit denen Michelangelo seine Arbeit begann und abschloß, ist die gewaltige Steigerung seines Stils innerhalb von vier Jahren immer wieder deutlich gemacht worden. Man möchte glauben, daß Michelangelo bei Beendigung seiner Arbeit in einem „Jubel der Schöpferfreude" — um noch einmal einen Ausdruck Wölfflins zu gebrauchen (S. 54) — in dem von Gott inspirierten Jonas auch ein Idealbild des Künstlers gegeben hat, der sich, Prometheus gleich, ein Heer von Gestalten entwirft.

Verzeichnis der in Text und Anmerkungen zitierten Barocchi 1962 Condivi 1553 Dussler 1959 von Einem 1959 Ettlinger 1963 Freedberg 1961 Freedberg 1971 Grassi 1978 Guldan 1954 Justi 1900 Klaczko 1898 Knackfuß 1895 Mänz 1934 Oertel 1940 Pane 1964 Panofsky 1921 Portoghesi 1964 Ragghianti 1971 Salvini 1971 Sandström 1963 Sauerlandt 1911 Schiavo 1949 Schiavo 1953

Literatur

Barocchi, Paola: Giorgio Vasari La vita di Michelangelo nelle redazioni del 1550 e del 1568, 5 Bände, Mailand/Neapel 1962 Condivi, Ascanio: Vita di Michelagnolo Buonarroti, Rom 1553 (zitiert nach Carl Frey: Le vite di Michelangelo Buonarroti scritte da Giorgio Vasari e da Ascanio Condivi con aggiunte e note, Berlin 1887 Dussler, Luitpold: Die Zeichnungen des Michelangelo, Berlin (1959) von Einem, Herbert: Michelangelo, Stuttgart (1959) (Zweite, erweiterte Auflage, Berlin 1980) Ettlinger, Leopold D.: The Sistine Chapel before Michelangelo. Religious Imagery and Papal Primacy, Oxford 1963 Freedberg, Sydney J.: Painting of the High Renaissance in Rome and Florence, 2 Bände, Cambridge/Mass. 1961 Freedberg, Sydney J.: Painting in Italy 1500 to 1600, (Harmondsworth 1971) The Pelican History of Art Grassi, Luigi e Mario Pepe: Dizionario della critica d'arte, 2 Bände (Turin 1978) Guldan, Ernst: Die jochverschleifende Gewölbedekoration von Michelangelo bis Pozzo ... (Dissertation Göttingen 1954), Göttingen 1954 Justi, Carl: Michelangelo — Beiträge zur Erklärung der Werke und des Menschen, Leipzig 1900 Klaczko, Julian: Jules II, Paris 1898 Knackfuß, Hermann: Michelangelo, Bielefeld und Leipzig 1895, Velhagen und Klasings Künstler-Monographien, IV Mänz, Harry: Die Farbgebung in der italienischen Malerei des Protobarock und des Manierismus. Versuch einer Stiluntersuchung (Dissertation München 1933), Berlin 1934 Oertel, Robert: Michelangelo — Die Sixtinische Decke, Burg b. M (1940) Pane, Roberto: L'architettura della volta Sistina in: Paolo Portoghesi e Bruno Zevi: Michelangiolo architetto (Turin 1964), S. 97 — 107 Panofsky, Erwin: Die Sixtinische Decke, Leipzig (1921) Portoghesi, Paolo e Bruno Zevi: Michelangiolo architetto (Turin 1964) Ragghianti, Carlo: On the artistry of the Sistine Ceiling in: Roberto Salvini: The Sistine Chapel, New York 1971 Salvini, Roberto: The Sistine Chapel, New York 1971 (italienische Originalausgabe 1965) Sandström, Sven: The Sistine Chapel Ceiling, in: Levels of unrealty: Studies in Structure and Construction in Italian Mural Painting during the Renaissance, Stockholm 1963, S. 173—191 Sauerlandt, Max: Michelangelo, Düsseldorf und Leipzig (1911) Schiavo, Armando: Michelangelo Architetto, Rom 1949 Schiavo, Armando: La vita e le opere architettoniche di Michelangelo, Rom 1953

Veduta ferma. Zur Sixtinischen Decke Schöne 1961

Schubring 1909 Seymour 1972 Springer 1878 Steinmann 1905 Tolnay 1935 Tolnay 1945 Vasari 1568

Wilde 1958 Wind 1960 Wölfflin 1899 Wundram 1974

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Schöne, Wolfgang: Zur Bedeutung der Schrägsicht für die Deckenmalerei des Barock in: Festschrift Kurt Badt, Beiträge aus Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 1961, S. 1 4 4 - 1 7 2 Schubring, Paul: Die Sixtinische Kapelle, Rom 1909 Seymour, Charles, jr.: Michelangelo — The Sistine Chapel Ceiling, London (1972) Springer, Anton: Raffael und Michelangelo ( = Dohme: Kunst und Künstler Italiens, Band II), Leipzig 1878 Steinmann, Ernst: Die Sixtinische Kapelle, 2 Text- und 2 Tafelbände, München 1901 und 1905 Tolnay, Charles de: la volta della cappella Sistina (Saggio d'interpretazione) in: Bollettino d'arte XXIX, 1935/36, S. 3 8 9 - 4 0 8 Tolnay, Charles de: Michelangelo, Band II: The Sistine Ceiling, Princeton 1945 Vasari, Giorgio: Le vite de'più eccellenti pittori, scultori et architetti, scritte e di nuovo ampliate, vol. III, Florenz 1568 (zitiert nach Carl Frey: Le vite di Michelangelo Buonarroti scritte da Giorgio Vasari e da Ascanio Condivi con aggiunte e note, Berlin 1887) Wilde, Johannes: The decoration of the Sistine Chapel. Letture in aspects of art, Henrietta Hertz Trust of the British Academy 1958 in: Proceedings of the British Academy XLIV, Oxford 1958, S. 6 1 - 8 1 Wind, Edgar: Michelangelo's prophets and sybils. Lecture in aspects of art, Henrietta Hertz Trust of the British Academy 1960 in: Proceedings of the British Academy CI, London 1960, S. 47—84 Wölfflin, Heinrich: Die klassische Kunst, München 1899 Wundram, Manfred: Beobachtungen zur Chronologie der Malereien Michelangelos an der Sixtinischen Decke, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Band 36, 1974, S. 235 - 247

JOHANN E C K A R T VON BORRIES

Johann Wilhelm Baur ( 1 6 0 7 - 1 6 4 2 ) Umrisse seines Lebens und Werks Was ihm bis weit ins 18. Jahrhundert hinein die besondere Wertschätzung der Kunstkenner sicherte — die außerordentliche Feinheit seiner figurenreich erzählenden kleinformatigen Kabinettminiaturen —, ist seiner Anerkennung gegenwärtig eher hinderlich; zu einer Zeit, da nur noch starke Wirkungen zu fesseln vermögen. Doch auch die Kenner und Liebhaber erlesener Graphik finden heute an den mitunter etwas spröden, auch nicht immer ganz perfekt gedruckten Radierungen Baurs offenbar wenig Gefallen. Lediglich in Spezialausstellungen trifft man gelegentlich noch auf Arbeiten seiner Hand.1 Wenn im folgenden versucht wird, der künstlerischen Gestalt Baurs etwas deutlichere Umrisse zu geben, so setzt dies eine Klärung seines äußeren Lebensgangs voraus; denn es macht schon einen Unterschied, ob ein Künstlerleben nach 40 oder

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Zu den Bewunderern der Kunst Baurs gehörten u. a. Cornelis de Bie (Het Gulden Cabinet vande edele vry Schilder-Const. Antwerpen 1662, S. 113 f.), Joachim von Sandrart ( J . v. Sandrarts Academie ... von 1675. Hrg. von A. R. Peltzer, München 1925, S. 176 f.; wichtigste, auf persönlicher Bekanntschaft gegründete Biographie Baurs), Roger de Piles (Abrégé de la Vie des Peintres. Paris 1699, S. 423), Arnold Houbraken (De groote Schouburgh. Bd. II, Amsterdam 1719, S. 332 f.), Pierre-Jean Mariette (Description sommaire des desseins... du cabinet de feu M. Crozat. Paris 1741, S. 102) und Antoine Joseph Dézailler d'Argenville (Abrégé de la vie des plus fameux peintres. Bd. II, Paris 1745, S. 3 1 - 3 4 ) . Mit den Notizen von Mariette (Paris, Bibliothèque Nationale, Estampes, Ya 2 . 4, Bd. I, doss. 90 bls — 99) beginnt die detaillierte Katalogisierung der Radierungen Baurs, die in bisher letzter, stellenweise korrekturbedürftiger Fassung von Woldemar von Seidlitz stammt (in: Allgemeines Künstler-Lexikon, hrg. von J. Meyer u. a. Bd. III, Leipzig 1885, S. 154f. [im folgenden zitiert als „Seidl."]; dort S. 152 f. Lebenslauf und Würdigung. Seidlitz hat auch den Artikel im Künstlerlexikon von Thieme/ Becker verfaßt: Bd. III, Leipzig 1909, S. 89 f.). Folgende Ausstellungen, in denen Arbeiten Baurs gezeigt wurden, sind hervorzuheben: „Deutsche Maler und Zeichner des 17. Jahrhunderts", Orangerie Charlottenburg, Berlin 1966, Kat. Nr. 1 (E. Brochhagen) und Nr. 118 (H. Möhle; die hier und auch sonst gelegentlich ausgestellte NiobidenZeichnung aus Darmstadt, Inv. Ae 217, stammt mit Sicherheit nicht von Baur); „Jacques Callot und sein Kreis (Die Kunst der Graphik V)", Albertina, Wien 1 9 6 8 - 6 9 , Kat. Nr. 6 8 5 - 6 9 9 und 821 - 8 2 5 (Eckhart Knab; S. 211 und 212 vorzügliche Würdigungen der Kunst Baurs); „Zeichnung in Deutschland 1 5 4 0 - 1 6 4 0 " , Staatsgalerie Stuttgart 1 9 7 9 - 8 0 , Bd. II, S. 40 Kat. Nr. H 1 5 - 1 6 (H. Geissler) und „Drawings from the Holy Roman Empire 1540—1680", Princeton 1983, Kat. Nr. 71 und 72 (Th. DaCosta Kaufmann). Schließlich noch zwei Aufsätze zu Teilkomplexen aus Baurs Werk: E. Tietze-Conrat: Johann Wilhelm Baurs Zeichnungen in der fürstlich Liechtensteinischen Bibliothek in Wien. In: Mitt. d. Gesellsch. f. vervielfält. Kunst 1918, S. 25 — 32; und A. Busiri Vici: Visioni architettonico-figurative del suggiorno in Italia di Giov. Guglielmo Baur. In: Palladio 7, 1957, S. 30—40.

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schon nach 34 Jahren zuendegegangen ist — mit allen daraus sich ergebenden Folgerungen für die Entstehungsgeschichte des Lebenswerks. 2 Johann Wilhelm Baur ist am 31. Mai 1607 in Straßburg geboren; Vater und Großvater waren dort angesehene Goldschmiede. 3 In der Werkstatt von Friedrich Brentel, dem nach Tobias Stimmers und Wendelin Dietterlins Tod führenden Maler und Graphiker der Stadt, erlernte er das Zeichnen, das Radieren und das Malen mit deckenden ,Gummifarben'. 4 Sein frühestes bekanntes Werk, ein in Stuttgart entstandenes Stammbuchblatt mit Chronos, Venus und Amor vor weiter Landschaft, dessen Entstehungsjahr vielleicht als „1627" zu lesen ist (Abb. 67), zeigt noch starke Anklänge an seinen Lehrer Brentel, aber auch schon eine diesem fremde Eleganz der Figurenbildung und Feinheit des zeichnerischen Duktus. 5 Den jungen Baur hielt es nicht in dem engen, immer noch zünftig geordneten Handwerkermilieu der alten Reichsstadt, die auch von den Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges nicht verschont blieb. Er strebte in die Weite und ging nach Italien. Die Bedeutung dieses Schrittes wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Baur wohl der einzige Straßburger Künstler und deutsche Miniaturist seiner Zeit gewesen ist, der es in Italien zu Ansehen und Erfolg gebracht hat. Sein erstes eindeutig datiertes Werk, eine kleine Radierung der Predigt Johannes des Täufers, der weitere Arbeiten in gleicher Technik anzuschließen sind, trägt das Datum 1630. 6 Die Blätter dieser Gruppe zeigen in Anlage und Landschaftsbildung, daß Baur inzwischen der Kunst Elsheimers und seines Kreises begegnet sein muß — wahrscheinlich in Rom, vielleicht auch, vermittelt durch Gottfried Wals, in Neapel. Hier jedenfalls hat Baur Ende des nächsten Jahres den großen VesuvAusbruch vom 16. Dezember 1631 in einer relativ großformatigen Radierung festgehalten, mit deutschem Text, also für den deutschen Markt bestimmt. 7 Das 2

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Lange Zeit nahm man an, Baur habe von 1600 bis 1640 gelebt, tatsächlich lebte er von 1607 bis 1642. Das richtige Geburtsdatum und die Angaben über die Herkunft Baurs bei A. Seyboth: Strasbourg historique et pittoresque. Straßburg 1894, S. 335. Zu Brentel s. W. Wegner: Untersuchungen zu Friedrich Brentel. In: Jahrb. d. Staatl. Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 3, 1966, S. 107 ff. Zur „Manier der Gummi Farben" s. Brentels handschriftliches „Mahler und Illuminir Büchlein" von 1642 in der Göttinger Universitätsbibliothek (cod. Ms. Uffenbach 49). Baur ist bei der erlernten Miniaturtechnik geblieben und hat sie Ende der 1630er Jahre in Wien zur Emailmalerei hin erweitert; unter den Ölbildern jedoch, die ihm bisweilen zugeschrieben werden, fand sich bis jetzt keines, das von seiner Hand stammen könnte. Baurs Stammbuchblatt aus Stuttgart, heute im Straßburger Kupferstichkabinett (Inv. Da 115; Feder in Braun, grau und bräunlich laviert; 14,1 x 18,6 cm), trägt unten ein durch Beschneiden verstümmeltes Datum, das als „9 Iuni 162." zu entschlüsseln ist; der Rest der letzten Ziffer am ehesten als Fragment einer „7" zu deuten. Vgl. damit Brentels Stuttgarter Stammbuchblatt von 1618, ebenfalls in Straßburg (Inv. Da 2,19; abgebildet bei Wegner 1966 [s. Anm. 4], S. 126 Abb. 99). Seidl. 2 sowie 3, 4, 10 und 11 (diese „Allegorische Darstellung" stellt wahrscheinlich die Übergabe des spiegelnden Schildes an Perseus dar). Den Radierungen geht ein in Padua entstandenes, undatiertes Stammbuchblatt voraus (Landschaft mit Rundtempel; Herzog-Anton-Ulrich-Mus. Braunschweig, Inv. 0 128), das noch eng mit dem Stil der Brentel-Werkstatt zusammenhängt. Seidl. 29.

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Blatt spiegelt die Schrecken der gewaltigen Eruption in eindrucksvoller Weise. Möglicherweise hat der in Neapel ansässige Lothringer Didier Barra (,Monsu Desiderio') die Radierung für ein Bild desselben Vorwurfs benutzt.8 Umgekehrt scheint Baur von dessen phantastischen Architekturen beeindruckt worden zu sein, denn er entwirft gelegentlich Innenräume von schwindelnder Höhe und Weite, mit Pfeilern von zerbrechlicher Schlankheit und mit labyrinthischen Durchblicken. Dies gilt z. B. für eine damals entstandene Miniatur der Wechsleraustreibung, während zwei gleichzeitige Martyrienszenen mit ihren steil in die Tiefe fluchtenden Palastarchitekturen (Abb. 68) eher etwa an Architekturstiche nachVredeman de Vries oder an den ,Bethlehemitischen Kindermord' von Callot denken lassen.9 Vor allem aber zeigen sich in der Figurenbildung dieser frühen Arbeiten, in dem flackrigen Helldunkel der Radierungen und in der düsteren Farbigkeit der Miniaturen starke Einwirkungen des neapolitanischen Caravaggismus. Im übrigen bemerkt man schon in dieser Werkgruppe die Neigung Baurs, möglichst große Scharen kleiner Figuren auftreten und viele Einzelne daraus in verschiedener Weise auf das Hauptereignis reagieren zu lassen. Seine besondere Begabung für das Darstellen hochdramatischer Szenen wird deutlich in einer kleinen, 1632 datierten Pinselzeichnung von Pyramus und Thisbe (Abb. 69). Sie besitzt überdies dokumentarischen Wert, da sie zusammen mit ihrem ruhigeren Gegenstück (Nymphen lauschen musizierenden Faunen) Baurs Bentnamen „Reger" oder „Reyger" überliefert.10 Und wenn man nun, einmal auf den Reiher aufmerksam geworden, sein Werk durchmustert, stößt man zwischen 1630 und 1641 in fast jeder zweiten Arbeit auf einen reiherartigen Vogel: höchstwahrscheinlich eine spielerisch versteckte Signatur. Möglich, daß Baur 1632 von Neapel aus in Rom gewesen ist, denn das erwähnte Blatt mit den Nymphen und

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Das Bild von Barra abgebildet in: Paragone 7, 1956, Nr. 75, Abb. 28. Die drei Miniaturen gleich groß, 12,7 x 16,9 cm: „Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel" und „Martyrienszene" im Histor. Museum der Stadt Wien (Inv. 115.890 und 115.889), die „Marter der hl. Agathe" 1973 im Londoner Kunsthandel. Die beiden Fassungen der Radierung von Callot verzeichnet bei J. Lieure: Jacques Callot, Catalogue de l'œuvre gravé. Paris 1924—29, Nr. 278 und 427. Die beiden Zeichnungen, deren Photos ich vor Jahren im Rijksbureau voor Kunsthistorisch Documentatie im Haag fand (ehemals im Besitz von Vitale Bloch), sind verschollen. Sie müssen kleinformatig und weitgehend mit dem Pinsel ausgeführt sein. Vielleicht etwas früher entstanden sind zwei größere bildhafte Zeichnungen mythologischer Szenen im Louvre (s. L. Demonts: Musée du Louvre, Inventaire des Dessins des Écoles du Nord, Écoles Allemande et Suisse. Bd. II, Paris 1938, Nr. 462 [m. Abb.] und 463). Das Zeichnungskabinett des Louvre besitzt eine der größten und vielseitigsten Sammlungen von Werken Baurs, darunter etwa zehn Miniaturen aus dem Besitz des Kardinals Mazarin. Der Bentname „Slagzwaard", den G. J. Hoogewerff (De Bentvueghels. Den Haag 1953, S. 133) im Anschluß an A. v. Wurzbach (A. Houbraken's Grosse Schouburgh ... übersetzt. Bd. I [Quellenschriften, XIV], Wien 1880, S. 463: „Slagzwaard") auf Baur bezog, gehört, wenn man den Passus bei Houbraken (s. Anm. 1; Bd. II, S. 144) richtig liest, dem Prager Karel Skreta, der offenbar in Rom eine Weile mit Baur zusammengewohnt hat.

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Faunen zeigt, besonders im Figürlichen, deutliche Anklänge an Poelenburgh und Breenbergh. In Neapel fand Baur offenbar Anschluß an eine der großen alten italienischen Adelsfamilien, denn seine erste Radierfolge der Kämpfe verschiedener Nationen trägt eine Widmung an den Fürsten Federico Colonna. 11 Es sind höchst phantasievoll erdachte Blätter, prall gefüllt mit Handlung. Baur kannte das Kampfthema von seinem Lehrer Brentel 12 , doch tritt nun noch ein anderer Künstler in sein Blickfeld, dessen umfangreiches und vielfaltiges Radierwerk ihm fortan immer wieder wichtige Anregungen zum eigenen Weiterdenken und Ausspinnen geben sollte: Antonio Tempesta — hier vor allem dessen zahlreiche Pferde- und Kampfdarstellungen. So wenig sich Baurs Neapler Bekanntenkreis noch erschließen läßt, der Pariser Kunsthändler François Langlois, der sich nach seiner Geburtsstadt „Ciartres" nannte, muß dazugehört haben. Denn an ihn schrieb Jacques Stella aus Rom am 19. Februar 1633, er möge Baur veranlassen, nach Rom zu kommen, um Illustrationen für das Werk des Famiano Strada über den belgischen Krieg zu radieren, die er selber nicht ausführen könne, da er im Begriff sei, nach Frankreich zurückzukehren. 13 Vielleicht auch hat Baur damals seine Folge der vier Elemente für Langlois radiert: sehr eigenwillige Darstellungen der Gottheiten des Himmels, des Wassers, der Erde und des Feuers, deren letzte sich übrigens eng an Tempesta anschließt. Neun von Baurs Neapler Radierungen sind jedenfalls im Verlag von Langlois erschienen, der die Platten wahrscheinlich damals mit nach Paris genommen hat. 14 Ein Blatt mit einem flott gezeichneten Reiterzweikampf und Baurs Aufschrift „ . . . fecit in roma 1633" bestätigt, daß er tatsächlich noch in diesem Jahr in Rom eingetroffen ist. 15 Hier führte er nun zunächst den Auftrag aus, den Jacques Stella ihm hinterlassen hatte: den ersten Band des Geschichtswerks über die Eroberung der südlichen Niederlande von dem Jesuiten Famiano Strada mit elf großformatigen radierten Darstellungen der wichtigsten militärischen Erfolge über die Niederländer zu illustrieren. Ein erster Versuch, den Kampf um Oosterweel wiederzugeben, wurde offenbar wegen Unübersichtlichkeit zurückgewiesen und durch eine klarer 11

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Seidl. 25. Die Folge umfaßt ein Titelblatt und 13 Kampfdarstellungen. Eine der zuletzt geätzten Platten, „Bataglia de Lamazone", trägt innerhalb der Darstellung das Datum „1633". Eine wahrscheinlich ursprünglich für die Folge bestimmte Radierung einer Artilleriestellung (unbeschrieben) wurde früh durch einen störenden Kratzer beschädigt und ausgeschieden (s. Anm. 14). Vgl. dessen Radierung einer Reiterschlacht von 1617 (Wegner [s. Anm. 41], S. 151 Kat. Nr. 12). Der Brief Stellas an Langlois, ehemals im Besitz von Mariette, bei G. Bottari: Raccolta di lettere. Bd. IV, Mailand 1822, S. 447 f. Die Elemente-Folge: Seidl. 5 — 8; die Darstellung der Unterwelt mit Pluto entwickelt aus Tempestas „Raub der Proserpina" (A. Bartsch: Le Peintre Graveur, Wien 1802 ff. [weiterhin zitiert als „B."], Bd. XVII, S. 135 Nr. 814). Baurs seltener „Triumph des Neptun" (Seidl. 9) wahrscheinlich im Umkreis der Elemente-Folge entstanden. Folgende Radierungen sind in Paris mit der Adresse und Numerierung des „F. L. D. Ciartres" erschienen: Seidl. 2—8, 10 und die unbeschriebene Artilleriestellung (s. Anm. 12). Zeichnung im Straßburger Kupferstichkabinett, Inv. Da 1,11.

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akzentuierte Neufassung ersetzt, in der freilich manches erzählerische Detail verlorengegangen ist.16 Baur hat sich in diesen Blättern, die nicht alle die gleiche Dichte und Intensität besitzen, mit Erfolg bemüht, einen einheitlichen, etwas erhöhten Blickpunkt für die ganze Weite der Landschaft durchzuhalten, statt sie hinter dem Vordergrund plötzlich in die Höhe kippen zu lassen, wie dies Callot in seinen großen Schlachtenpanoramen so wenig vermeiden konnte wie später auch noch Stefano della Bella. Baurs wichtigste Leistung liegt jedoch im Vorstellen dramatisch geballten Kampfgeschehens. Und hier, wie überhaupt im Figürlichen, hat er von Callot gelernt, ihn dann freilich an erzählerischem Einfallsreichtum übertroffen.17 Sein nächstes Radierwerk, die „Capricci di varie battaglie", begonnen 1634 und im Jahr darauf mit dem Titelblatt abgeschlossen, variiert und erweitert den schon einmal in Neapel durchgespielten Themenkreis der Kämpfe verschiedener Nationen, jetzt aber größer in den Formen und offener in der Zeichnung. Das Titelblatt trägt keine Widmung in Worten, sondern — was bisher nicht bemerkt worden ist — in Gestalt eines Wappens, das auf dem Fanfarentuch eines berittenen Trompeters erscheint: des Wappens von Paolo Giordano II Orsini, Herzog von Bracciano, zu dessen Klientel Baur während seines römischen Aufenthaltes gehörte — wie später auch Johann Heinrich Schönfeld. Expressis verbis widmete Baur dem Herzog 1636 eine radierte Folge von Trachten verschiedener Nationen: Kostümblätter mit witzigen Anspielungen auf nationale Eigenarten, zum Beispiel zwei elegante „Francesi", die einander mit weitausladendem Schwingen ihrer riesigen Hüte ehrerbietige Reverenz erweisen, während auf einem anderen Blatt drei „Ingallesi" etwas steif beieinanderstehen, u. s. f. Im selben Jahr 1636 entstand auch ein radiertes Porträt des Herzogs.18 Weitere Arbeiten Baurs für seinen römischen Patron sind bisher nicht ans Licht gekommen, mit einer wichtigen Ausnahme: einem gezeichneten großen 16

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Baurs Radierungen zu dem erst 1640 in Rom erschienenen I. Band der Folio-Ausgabe von Stradas „De Bello Belgico": Seidl. 13—23. Die Seidl. 13 vorausgehende erste Fassung der „Pugna ad Osteruelam" (unbeschrieben), zu der es eine Vorzeichnung im Britischen Museum gibt (Inv. 18618-10-55), ist für einen Autorenschwindel benutzt worden: Ein gewisser Pietro Carrocci aus Bari hat in das Schriftband eine Widmung an den Kardinal Mauritio de Saubaudia samt dessen Wappen eingraviert oder eingravieren lassen, Baurs Signatur in der linken unteren Ecke bis auf Spuren gelöscht und an die Stelle „P. C. F." gesetzt; die Lizenz datiert von 1637, dem Jahr, in dem Baur Rom verließ. Die drei Schlachtenpanoramen Callots von etwa 1627/28: Lieure (s. Anm. 9) 593, 654 und 655. — Die Schlachtendarstellungen von Stefano della Bella aus den Jahren 1638, 1641 und 1650 verzeichnet bei A. de Vesme: Le Peintre-Graveur Italien. Mailand 1906, (S. 79 ff.) Kat. Nr. 878, 8 8 0 - 8 8 2 . In dem kleinen Baur-Klebeband des Straßburger Kupferstichkabinetts (s. Anm. 27) finden sich mehrfach figürliche Kopien aus Radierungen Callots. Auch eine der Marinen Stefano della Bellas von 1634 (de Vesme 816) ist dort kopiert (fol. 28). Die „Capricci di varie battaglie" (Seidl. 24) bestehen aus dem Titelblatt und 14 Schlachtendarstellungen; zwei Blätter enthalten weitere Hinweise auf die Orsini: auf einer Trommel das reduzierte Wappen und in einer Fahne den Orsini-Bären. Die Kostümfolge (Seidl. 26) umfaßt ein Titelblatt, 14 Blätter mit den Trachten der einzelnen Nationen sowie ein weiteres Blatt, das noch einmal alle Kostüme vereinigt. Das Bildnis des Herzogs (Seidl. 40) ist mir bisher unbekannt geblieben.

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streifenförmigen Panorama von Bracciano mit dem mächtigen Orsini-Kastell und rechts einem Stück des Sees, gesehen aus einiger Distanz etwa von Südosten. Im Vordergrund naht auf der Via Claudia eine stattliche Karosse, gezogen von sechs galoppierenden Pferden, wohl der Wagen des Herzogs. Die mit feiner Feder, aber durchaus nicht kleinlich gezeichnete, detailgenaue Vedute ist unsigniert und deshalb wohl nicht als selbständiges ,Federkunststück' zu betrachten, sondern eher als Vorzeichnung für ein Deckfarbenbild.19 Mit der Vedute hat sich Baur offenbar in Rom ein neues Tätigkeitsfeld erobert, auf dem er als Miniaturist ohne Konkurrenz war. Kleinformatige römische Ansichten gab es vorher nur als Radierungen, wie etwa die Vedutenfolge des Giovanni Battista Mercati von 1629, die Baur gelegentlich als Vorlage für seine Bildchen benutzt hat. Sein bekanntestes Werk auf dem Gebiet der Vedute ist die Ansicht des Casino der Villa Borghese, heute in der dortigen Galerie ausgestellt, gemalt 1636, aller Wahrscheinlichkeit nach für den Fürsten Marcantonio Borghese, den Besitzer der Villa und Schwiegersohn des Herzogs von Bracciano.20 Dieses Bild zeigt die besonderen Qualitäten des Vedutenmalers Baur: Genauigkeit im architektonischen Detail, und eine reiche Phantasie im Erfinden vielfaltiger Staffage: an- und abfahrende Karossen, Scharen von Kavalieren verschiedener Nationen, wie er sie im selben Jahr auch in der schon erwähnten Radierfolge dargestellt hat — einige zu Pferde, die meisten zu Fuß, einander grüßend, zu mehreren im Gespräch, beim Boccia-Spiel, dazwischen rennende Hunde, vorn rechts am Prellstein ein Zeichner. Diese bunte Welt im Kleinformat galt bis ins 18. Jahrhundert hinein als eine besondere schätzenswerte Spezialität der Kunst Baurs. Zwei Rundbilder mit Ansichten von St. Peter (Abb. 70) und von Sta Maria Maggiore, in denen Hinweise auf den Borghese-Papst Paul V. besonders hervorgehoben sind, dürften von einem Mitglied dieser Familie bestellt worden sein.21 Ihre 19

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Die Ansicht von Bracciano, deren Kenntnis ich Harold Joachim verdanke, befindet sich im Art Institute in Chicago (Inv. 1962.365). Sie ist mit brauner Feder auf drei zusammengeklebte Blätter gezeichnet und mißt 28,3 x 91,0 cm (s. Ausst. Kat. Princeton 1983 [s. Anm. 1], Nr. und Abb. 71). In den Entstehungszusammenhang dieser Vedute gehört wahrscheinlich die gezeichnete Schrägansicht der Vorderfront in starker Verkürzung, Kunsthalle Bremen, Inv. 60/288. Zu Baurs Ansicht des Casino Borghese s. Paola della Pergola: Galleria Borghese, I dipinti. Bd. II, Rom 1959, Kat. Nr. 199 und Abb. 201; dort auch, Kat. Nr. 200 - 203, vier kleine Tondi Baurs mit Ansichten des Traians-Forums, des Kapitolsplatzes, des Quirinalsplatzes und der Piazza Colonna (die beiden Ansichten mit den antiken Säulen übrigens nach Radierungen von G. B. Mercati [B. 34 und 35]). Baurs römische Veduten zuerst gewürdigt, auch in ihrem dokumentarischen Wert als Abbildungen bestimmter Bauphasen der dargestellten Monumente, durch A. Busiri Vici 1957 (s. Anm. 1), dort S. 33 — 35 Abb. 6—10 die fünf Veduten in der Galleria Borghese. Zu Baurs Sonderstellung innerhalb der Geschichte der römischen Vedute s. G. Briganti: Gaspar van Wittel e l'origine della veduta settecentesca. Rom 1966, S. 55 — 58; dort S. 28, 30 und 31 Abbildungen der Veduten in der Galleria Borghese. So Busiri Vici (s. Anm. 1), S. 32 f., dazu Abb. 11 und 12; Farbabb. der Peterskirche bei Briganti, S. 29. Die beiden Bilder heute im Besitz der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (Inv. 2588, 2589), Durchmesser je 24 cm.

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gedämpfte Tonigkeit — verglichen mit den frischeren Farben des Casino Borghese — rückt die beiden Bilder in die Nähe der Neapler Arbeiten. Auch gibt es Züge von darstellerischen Ungeschicklichkeiten, etwa den bauchig geblähten Kontur der Peterskuppel, die eher auf einen Anfanger im Vedutenmalen deuten. So wird man die beiden Tondi in den Beginn der römischen Zeit zu setzen haben, etwa in das Jahr 1634. Selbst der Umgang mit der zeitgenössischen Staffage wirkt noch etwas zaghaft, so hübsch die kleinen Figürchen zu betrachten sind, etwa die Keramikverkäuferinnen auf dem damals noch ungepflasterten Petersplatz. — Zu Baurs römischen Ansichten gehört schließlich auch die 1636 entstandene kleine Radierfolge „Vedute de'giardini" für den Verleger Callisto Ferranti: eng gefaßte Ausschnitte aus den Gärten der Ludovisi in Rom und aus der Villa d'Este in Tivoli. 22 Aus Baurs Beschäftigung mit der realen Vedute erwuchs ein neuer Bildtypus: Indem er die Palastarchitekturen seiner Neapler Martyrienbilder sozusagen modernisierte und mit zeitgenössischer Staffage umstellte, schuf er eine Art .Phantasievedute', die wie eine echte Vedute aussieht, auch viele in der Realität beobachtete Details enthält, im ganzen aber der kombinatorischen Phantasie ihres Autors entstammt. Was gemeint ist, illustriert am besten die ,Italienische Villa' der Münchner Residenzgalerie, die um 1634/35 entstanden sein dürfte: ein stattlicher Gartenpalast mit architektonischen Motiven aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts, davor eine riesige liegende Brunnenmaske, die wahrscheinlich auf Eindrücke aus dem Park der Orsini-Besitzung Bomarzo zurückgeht, vorn in der Terrassenmauer antikische Reliefs, und wieder die bekannte Staffage vielfaltig agierender Kavaliere. 23 Und aus solchen Phantasieveduten einzelner Paläste wie ganzer Palaststraßen entstand dann, auch noch in Rom und wahrscheinlich unter dem Eindruck der ersten Hafenszenen Claude Lorrains aus der Mitte der 1630er Jahre, das Hafenbild Baur'scher Prägung, mit dem er in Wien große Erfolge haben sollte (Abb. 71): In der einen Bildhälfte, zumeist der rechten, eine steil in die Tiefe fluchtende Reihe von Palästen italienischen Charakters, manchmal mit Anklängen an das Casino Borghese; den Palästen zum Meer hin vorgelagert ein breiter, gelegentlich mit Treppen versehener Kai als Promenade für die bereits bekannten Kutschen und Kavaliere, hier oft bereichert durch Kaufleute, Lastträger und Matrosen; und endlich das Meer, dicht besetzt mit Segel- und Ruderschiffen verschiedener Art. Ein besonders reich ausgestattetes Hafenbild aus dem Jahr 1637 in Cambridge,

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Seidl. 31, bestehend aus Titelblatt und fünf Ansichten. München, Residenzmuseum, Gemälde-Inventar 924 (s. H. Buchheit/R. Oldenbourg: Das Miniaturenkabinett der Münchener Residenz. München 1921, Kat. Nr. 40 und Farbtaf. 22; Ausst. Kat. Berlin 1966 [s. Anm. 1], Nr. 1 und Abb. 2: auch Ernst Brochhagen spricht hier von einer „Phantasievedute"). Wohl etwa aus der gleichen Zeit stammt ein gezeichneter Tondo mit fiktiver Palaststraße und zeitgenössischer Staffage in der Albertina (s. H. Tietze u. a.: Die Zeichnungen der deutschen Schulen [Beschreibender Katalog der Handzeichnungen in der Albertina, Bd. IV]. Wien 1933, Kat. Nr. und Abb. 464).

Johann Wilhelm Baur (1607-1642)

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Mass. (Abb. 71), zeigt im Vordergrund ein bewegtes Gruppenduell von Kavalieren, die von Bootsleuten unterstützt werden. 24 Uberblickt man die rund vier Jahre, die Baur in Rom verbracht hat, und fragt nach ihrem künstlerischen Ertrag — wobei erhebliche Werkverluste vorauszusetzen sind —, so entdeckt man einen neuen Schwerpunkt dort, wo es um eine Verbindung zur Realität der eigenen Zeit geht: in der Vedute und ihren phantasiegeprägten Varianten, vor allem aber auch in der zeitgenössischen Aufmachung der reichen Staffage. Nachdem er sich in Neapel weitgehend mit Themen aus der christlichen und profanen .Historie' beschäftigt hatte, fand er in Rom, wahrscheinlich in den Kreisen der .Oltramontani', Hinweise auf die reale Umwelt, die seinen zupackenden und unsentimentalen, zu erzählerischem Ausspinnen neigenden Wirklichkeitssinn vielfältig anregten. 25 Im Jahr 1637, als Baur am 31. Mai dreißig Jahre als wurde, radierte er — vielleicht aus diesem Anlaß und sicher noch in Rom — ein Selbstbildnis. Im Herbst dieses Jahres jedoch verließ er die Stadt, um nach Wien überzusiedeln. Was ihn hierzu veranlaßt hat, ist nicht überliefert. Vielleicht war es die Erwartung einer neuen Kunstblüte unter dem jungen Kaiser Ferdinand III., der in diesem Jahr seinem am 15. Februar gestorbenen Vater Ferdinand II. auf den Thron gefolgt war, vielleicht war es gar die Hoffnung auf ein Hofamt. Eine Zeichnung von „Orpheus mit den Tieren" ist am 23. August 1637 noch in Rom entstanden, ein „Reiterkampf" im selben Jahr „in Venetia". Baur muß verhältnismäßig rasch nach Wien gereist sein. Denn es gibt etliche Miniaturen und Zeichnungen, die 1637 offensichtlich

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Konrad Oberhuber verdanke ich den Hinweis auf das Bild im Fogg Art Museum in Cambridge, Mass., Inv. 1979.78: bezeichnet 1. u. am Fuß des Säulensockels: loi WBaur Fecit/1637; 15,3 21,3 cm. — Eine kaum abweichende, gleich große, aber unbezeichnete Erstfassung in der Albertina in Wien (Kat. 1933 [s. Anm. 23], Nr. und Abb. 468). Eine frühere Version des Hafenthemas in Straßburg, Musée des Beaux-Arts (s. Catalogue des Peintures Anciennes. Straßburg 1938, Nr. 471). Ein Bildchen im Louvre (Demonts, Invent. 1938 [s. Anm. 10], Nr. 455), das dem Straßburger wahrscheinlich noch vorausgeht, zeigt eine frühe Entstehungsphase des Hafenbildes: eine beiderseits bebaute Palaststraße, erweitert um das Nebenmotiv eines Hafens mit einigen Schiffen. Wie mehrere Zeichnungen im Straßburger Album (s. Anm. 27) belegen, hat Baur sich schon in Rom Schiffstypen für seine Hafenbilder notiert, vor allem nach Abraham Casembrots radierten Hafenansichten von Messina (F. W. H. Hollstein u. a.: Dutch and Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts. Amsterdam 1949 ff.; hier Bd. IV, S. 94 Nr. 1 - 1 3 ) . - Das Straßburger Album enthält auch einige in Rom entstandene Entwürfe für Hafenbilder. Die Rolle der nordischen Künstler bei der Entstehung der römischen Vedute ist ausführlich dargestellt von Briganti 1966 (s. Anm. 20). Zwei Zeichnungen Baurs bieten amüsante Szenen aus dem römischen Künstlerleben: Die eine, in Oxford (s. K. T. Parker: Catalogue of the Collections of Drawings in the Ashmolean Museum. Bd. I, Oxford 1938, Nr. 351), zeigt eine Künstlerwerkstatt, in der gezeichnet und Ton für plastische Arbeit geknetet wird; die andere, in der Veste Coburg (Inv. Z 287), bietet ein winterliches Beisammensein in einem kaminbeheizten Innenraum, alle sind in Mäntel gehüllt, tragen Mützen oder breitrandige Hüte, einer wärmt sich am Feuer, ein anderer notiert in ein Büchlein, die fünf übrigen sitzen beim Kartenspiel; oben an der Wand ein kurioses Bild.

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schon dort entstanden sind. Auch hat er bereits am 13. Januar 1638 die Witwe des verstorbenen Wiener Goldschmieds Paul Faustner, Anna Maria, geheiratet.26 Über den Verlauf des ersten Teils seiner Reise bis nach Venedig sind wir recht gut unterrichtet durch Zeichnungen, zum Teil mit Ortsangaben, die sich in einem kleinen Klebeband des Straßburger Kupferstichkabinetts erhalten haben. Baur reiste zunächst auf der Via Flaminia. Bei Narni zeichnete er mit rascher Feder und leicht aquarellierendem Pinsel einen Blick über eine weite, locker gegliederte Landschaft mit fernem Bergzug (Abb. 72). Wahrscheinlich über den Paß von Serravalle gelangte er an die Adria-Küste auf die Via Aemilia und nach Loreto, wo er die Fassade der Wallfahrtskirche notierte. Weitere Aufzeichnungen entstanden in Rimini und bei Ravenna. In „Gioza" (Chioggia) skizzierte er in schwarzer Kreide einen Reisegefährten, dahinter Gruppen von Frauen mit Kindern. Auch in Padua muß er gewesen sein, wie einige Nachzeichnungen nach dortigen Altarbildern bezeugen. In Venedig endlich hat er sich vor allem in II Redentore umgesehen und auch hier wieder Altarbilder notiert. Bemerkenswert ist eine, leider schwer lesbare, Innenansicht der Palladio-Kirche in blassem Metallstift. Schließlich durchstreifte er auch die Lagune und notierte sich bei „Mala mocu" verschiedene Segelschiffe für seine Hafenbilder. 27 Über Baurs Leben und Tätigkeit in Wien unterrichten einige Dokumente. Daß er am 13. Januar 1638 geheiratet hat, wurde schon erwähnt. Am 21. Juni stand er dem aus Würzburg stammenden Bildhauer Adam Lenckhardt als Trauzeuge bei; am 22. März 1639 und am 9. Mai 1641 übernahm das Ehepaar Baur die Patenschaft bei Lenckhardt'schen Kindern, während ihre eigene Ehe kinderlos geblieben zu sein scheint. Baur arbeitete in Wien sozusagen als ,freier Künstler'. Die oft wiederholte Behauptung, er sei kaiserlicher Hofmaler gewesen, trifft nicht zu. Unter den fest besoldeten „Cammermalern" taucht sein Name in den Hofzahlamtsbüchern nirgendwo auf, sondern nur in der Rubrik „Deputate". Hier geht es um Zahlungen für die „Lehrung der Mahlerey" und den Unterhalt eines getauften Tartaren jungen

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Das radierte Selbstbildnis des Dreißigjährigen (Seidl. 28) zeigt, daß das Porträt nicht unbedingt seine Sache war. Die „Orpheus"-Zeichnung vom 23. 8. 1637 findet sich im Straßburger Album (s. Anm. 27), fol. 1; der „Reiterkampf' (J. W. B. „ ... Fecit in Veneria 1637") auf der Veste Coburg, Inv.' Z 288. Wiener Arbeiten Baurs aus dem Jahr 1637 gibt es z . B . in der Albertina: Kat. 1933 (s. Anm.23), Nr. 4 6 7 - 4 7 2 . Die Nachricht von seiner Eheschließung: Trauungsbuch von St. Stephan, Bd. 15, fol. 229 v. Das Baur-Album des Straßburger Kupferstichkabinetts (Inv. 211) ist etwa 16,5 X 25 cm groß und enthält 61 eingeklebte Blätter (35 Papier- und 26 Pergament-Bll.) mit Zeichnungen verschiedener Technik, vorwiegend in Feder (41 BU. sind beidseitig bezeichnet). Es handelt sich um bunt gemischtes Werkstattmaterial von der flüchtigen Notiz bis zur „finalen" Zeichnung aus dem ganzen Zeitraum von Baurs italienischem Aufenthalt: einiges aus Neapel, das meiste natürlich aus Rom und etwa ein Dutzend Blätter von der Reise Rom—Venedig. — Die Landschaft „a Narniy": fol. 54; Feder in Schwarz, blaßgrün, blaßlila und in Mischtönen aquarelliert; 11,0 x 15,5 cm. Die Fassade der Basilika von Loreto: fol. 6; die Figurenskizze „a Gioza": fol. 13 v; die Innenansicht von II Redentore: fol. 51 v; die Dreimaster bei „Mala mocu": Fol. 56.

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namens Ferdinand Hotschockh, wohl eines „Hofziehkindes", in Höhe von jährlich 175 Gulden, vom 1. Juli 1639 an. Noch 1641 erhielt Baur die volle Summe. Im Januar 1642 ist er laut Eintrag im Totenbuch der Pfarre St. Stephan gestorben; am 29. Januar wird seiner Witwe eine Abschlußzahlung von 100 Gulden gewährt. 28 Während der vier Jahre, die ihm in Wien noch blieben, schuf er ein umfangreiches und vielgestaltiges Werk. Selbst wenn man annimmt, er habe außer dem Jungen Ferdinand noch andere Hilfskräfte zu seiner Verfügung gehabt, so lehrt doch der Augenschein, daß es für die Frage der Eigenhändigkeit keine Rolle spielt, ob er sriner Signatur ein „fec." oder ein „inv." hinzugefügt hat — so wenig wie etwa bei Claude Lorrain. Die in Rom so erfolgreiche reale Vedute scheint in Wien kein Interesse gefunden zu haben, während das italienisierende Hafenbild offensichtlich sehr begehrt war. Es änderte sich in Gesamtanlage und architektonischen Motiven kaum, dem Schiffspark wurden gelegentlich ein paar venezianische Gondeln hinzugefügt, das Personal blieb zunächst auf die bekannten Kavaliere verschiedener Nationen beschränkt, erweiterte sich später aber um vornehme Damen, Dienstpersonal und gelegentlich einen geistlichen Herrn. Um 1640 variierte Baur das Thema des Seehafens mit Palästen auch in einer Gruppe von Radierungen. 29 Zwei seiner Wiener Werke, die in ganz verschiedener Weise über das bisher Bekannte hinausgehen, sind auf die Person Kaiser Ferdinands III. bezogen; doch handelt es sich in beiden Fällen um Auftragsarbeiten. Die eine, veranlaßt durch einen Freiherrn von Rindtsmaul, ist eine Radierung von ungewöhnlicher Größe aus dem Jahr 1639: eine Huldigung an den Kaiser mit umfangreichem allegorischem Apparat. Sie folgt in Ikonographie und Aufbau weitgehend einem Huldigungsblatt Lucas Vorstermans d. Ä. von 1625 für Ludwig XIII. von Frankreich, besitzt aber auch durch die Lebhaftigkeit der Darstellung und die Kraft des Ausdrucks durchaus Baur'sche Züge. 3 0 Die andere, etwa zur gleichen Zeit entstandene Arbeit bietet technisch das einzige bekanntgewordene Beispiel dessen, was Sandrart in seiner Baur-Vita als „Goldamaliren, Schmelzwerken und dergleichen" bezeichnet hat 31 : Emailmalerei auf Gold — in diesem Fall auf einer fast 960 g schweren massiven Goldplatte, die

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Zu A. Lenckhardt s. Chr. Theuerkauff in: Jahrb. d. Hamburger Kunstsammlungen 10, 1965, S. 27 ff. — Die Trauungsnotiz: Trauungsbuch von St. Stephan, Bd. 15, fol. 265; die Taufnotizen: Taufbuch, Bd. 13, fol. 117v, und Bd. 14, fol. 198. Die Zahlungen für den Tartarenjungen Ferdinand sind verzeichnet in den Hofzahlamtsbüchern 1639, fol. 189 v, und 1641, fol. 148 (für zwei Jahre). — Gleichlautende Eintragungen über Baurs Tod: Totenbuch von St. Stephan, Bd. 8, fol. 128, und Bd. 9, fol. 24. Die Abschlußzahlung an die Witwe im Hofzahlamtsbuch 1642, fol. 318 v; dazu Hoffinanzprotokolle R, 1642, fol. 44 (Nr. 784, unter dem 29. 1.) sowie Hoffinanzprotokolle E, 1642, fol. 60 (Nr. 784, unter Januar). Seidl. 33: 7 Radierungen, davon zwei mit dem Datum 1640, kein Titelblatt. Die etwa 43 x 55,5 cm große Radierung Baurs: Seidl. 44; die Radierung Vorstermans: A. v. Wurzbach: Niederländ. Künstler-Lexikon. Wien/Leipzig 1906, Bd. II, S. 816 Kat. Nr. 109. Sandrart/Peltzer (s. Anm. 1), S. 177.

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der kaiserliche Kammergoldschmied Hans Georg Bramer hergerichtet und mit einem ziselierten Rand versehen hatte und für die dieser 1640 und 1641 Zahlungen in der beträchtlichen Gesamthöhe von 1031 Gulden erhielt.32 Dargestellt sind die wichtigsten militärischen Erfolge unter Ferdinands Oberbefehl bis zu seiner Kaiserkrönung: auf der (von Baur monogrammierten) Hauptseite der Sieg bei Nördlingen; auf der anderen Seite in vier getrennten Feldern die erfolgreichen Belagerungen von Regensburg, Donauwörth und Würzburg sowie der Krönungsakt im Regensburger Dom. Obgleich die Malfläche auf der an den Ecken weit abgerundeten Goldplatte nur etwa 18,5 x 24 cm mißt, konnte Baur vor allem auf der Hauptseite wieder ein weites Schlachtenpanorama entwickeln mit großen Truppenmassen in den verschiedensten Aktionen. So entstand ein „Schaustück' für die kaiserliche Kunstkammer — materiell von großer Kostbarkeit und überaus künstlich in der Ausführung. Seine ungewöhnliche Kunstfertigkeit im Darstellen unzähliger, auf vielerlei Weise handelnder Figürchen hat Baur während seiner Wiener Zeit wiederholt zeigen können — so 1638 in einem großen, figurenreichen „Turmbau zu Babel" (Vaduz); so auch in zwei streifenförmigen Auszügen hoher Herren mit massenhaftem Gefolge und Scharen von Zuschauern: einer Papstprozession zum Lateran und einem Auszug des Großtürken mit militärischer Begleitung (Paris, ehemals im Besitz des Kardinals Mazarin); ferner vielfigurige .Historien' wie „Alexander der Große an der Leiche des Darius" mit im Hintergrund tobender Schlacht (Vaduz); schließlich auch volkreiche Szenen aus dem Neuen Testament: etwa eine „Predigt am See Genezareth" (Kunsthandel) oder eine 1641 datierte „Kreuzaufrichtung" (München). 33 32

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E. Schwaighofen Auszüge aus den Hofzahlamtsrechnungen in der Nationalbibliothek, II. In: Jahrb. d. kunsthistor. Sammlungen in Wien, N . F. 12, 1938, (S. 227 ff.) S. 227 Reg. 243, S. 230 Reg. 308. Baurs Malerlohn ist nicht gesondert ausgewiesen, dürfte also in der Gesamtsumme enthalten sein. — Zu Bramer s. H. Haupt: Joh. Gg. Bramer von Brams, Kammergoldschmied Kaiser Ferdinands III. In: Wiener Geschichtsblätter 33, 1978, S. 1 9 3 - 2 0 5 ; dort S. 199 Abb. der Plattenvorderseite. „Turmbau zu Babel", Sammlungen des Fürsten von Liechtenstein, Vaduz, Inv. 3813 (s. H. Minkowski: Aus dem Nebel der Vergangenheit steigt der Turm zu Babel. Berlin 1960, S. 116 c mit Abb.). — Die beiden „Auszüge" im Louvre (Demonts, Invent. 1938 [s. Anm. 10], Nr. 451 und 452). — „Alexander an der Leiche des Darius", Vaduz, Inv. 3824. — „Predigt Jesu", Aukt. Christie's London 19. 3. 1975, Kat. Nr. 116 und Abb. Taf. 17. — „Kreuzaufrichtung", Bayer. Nationalmus. München, Inv. R 2389. Einen Überblick über Baurs Wiener Produktion, eingeschlossen einige römische Arbeiten und wenige zweifelhafte Stücke, gibt Melchior Küsel in seinen Radierungen nach Baur'schen Zeichnungen, die er zuerst 1670 unter dem Titel „Ioannis Guilielmi Baum Iconographia ..." und dann bis 1702 in immer neuen Zusammenstellungen herausgegeben hat (Seidl. b 1; Ho. X X , S. 105 ff. Nr. 301—446); 1681 folgten kleinere Radierungen Küsels unter dem Titel „Johann Wilhelm Bauren Underschidliche Prospecten ..." (Seidl. b 13; Ho. 4 9 5 - 5 3 5 ) . Küsel muß große Teile von Baurs zeichnerischem Nachlaß besessen haben, die dann zumindest teilweise in fürstlich Liechtensteinischen Besitz gelangt sind (s. E. Tietze-Conrat 1918 [s. Anm. 1]): so sämtliche 151 Zeichnungen zu Ovids „Metamorphosen" (s. Anm. 34), so auch eine Folge von Zeichnungen zur Passion Christi u. a. Weitere von Küsel benutzte Zeichnungen, vor allem Seehäfen mit Palästen, sind im Besitz der Houghton Library, Harvard University, Cambridge Mass. (zur

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Was in der Wiener Zeit sonst an Zeichnungen, Deckfarbenbildern und Radierungen entstanden ist, kann hier unbeachtet bleiben, mit Ausnahme eines umfangreichen Druckwerks, dem sich Baur in seinen letzten Lebensjahren mit offenbar besonderer innerer Beteiligung gewidmet hat: den 150 radierten Illustrationen zu Ovids „Metamorphosen", begonnen 1639 und abgeschlossen 1641 mit einem dem kaiserlichen Rat Jonas von Heysperg gewidmeten allegorischen Titelblatt. Dieses graphische Hauptwerk Baurs, dessen Vorzeichnungen sich in Vaduz erhalten haben, wurde in vier verschiedenen Ausgaben bis ins 18. Jahrhundert hinein immer wieder neu aufgelegt — auch Goethe besaß ein Exemplar —; außerdem entstanden in Nürnberg und in Augsburg Kopien danach, was auf starke Nachfrage schließen läßt. 34 Die Vorzeichnungen, in lebendig bewegtem Duktus rasch skizziert und summarisch laviert, boten weitgehenden Anhalt für das Radieren. Dabei ist fast durchgehend die durch den Druck bewirkte Verkehrung der Händigkeit — etwa bei Waffenträgern — schon berücksichtigt, wie es überhaupt den Anschein hat, als habe Baur bei der Mehrzahl seiner Darstellungen die Umkehrung der ganzen Komposition im voraus mitbedacht.35 Das Übertragen der malerisch lavierten Zeichnungen ins reine Strichbild der Radierung erfolgte frei und nicht im Pausverfahren. Baur hielt sich weitgehend an seine Vorzeichnungen, beschränkte sich aber nicht aufs Ausarbeiten der Details, sondern änderte, wo es ihm im Sinne erzählerischer Deutlichkeit erforderlich schien. Vor allem gab er in vielen Fällen den Figuren durch leichte Vergrößerung und durch Verändern der Landschaftsgründe mehr Gewicht im Bildfeld.

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Herkunft s. Kaufmann 1983 [s. Anm. 1], Kat. Nr. 72). Da Küsel auch einige Zeichnungen aus dem Straßburger Album (s. Anm. 27) radiert hat, könnten auch diese aus seinem Besitz stammen. Im übrigen ist nachdrücklich anzumerken, daß die topographischen Angaben, die Küsel seinen Radierungen nach wirklichen oder scheinbaren Veduten Baurs beigefügt hat, allesamt fiktiv sind. Baurs Radierungen zu Ovids „Metamorphosen" (Seid. 12) umfassen 150 Illustrationen aus den Jahren 1639—41 und ein 1641 datiertes Titelblatt. Plattengröße ca. 13 x 20,5 cm. Die 1. Ausgabe ohne Texte in den Unterrändern, die 2. mit der Adresse Johann Michael Hoffmanns (Wien) auf dem Titelblatt und mit lateinischen Versen in den Unterrändern, die 3. mit der Adresse von Jeremias Wolff, Augsburg, auf dem Titelblatt, die 4. mit ganz neuem Titelblatt (deutscher Text), Jerem. Wolff, Augsburg 1709. — Kopien: a) von Abraham Aubry bei Paul Fürst (f 1666) in Nürnberg, 2. Ausgabe bei Fürsts Witwe, 1688, eine 3. ohne Verlegeradresse; b) von Melchior Küsel, Augsburg 1681 (Ho. XX, S. 122 Nr. 1444-1594, mit falscher Angabe einer Adresse von Jerem. Wolff). Zu dem Exemplar in Goethes Besitz s. H. Ruppert: Goethes Bibliothek, Katalog. Weimar 1958, Nr. 2445. Die Vorzeichnungen in dem Vaduzer Klebeband (Inv. VA 5-4-31) zuerst beschrieben von E. TietzeConrat 1918 (s. Anm. 1): Feder in Braun, grau oder braun laviert; je ca. 13,5 X 20,5 cm; Numerierung und häufige Betitelung im Unterrand eigenhändig. Ein besonders schlagendes Beispiel für vorbedachte Umkehrung: Nr. 144 „Vertumnus und Pomona": Die Zeichnung wirkt entschieden rechtslastig, der Druck der Radierung dagegen ausgewogen. — Zur Dominanz des linken Gesichtsfeldes s. H. J. Hufschmidt: Über die Linksorientierung der Zeichnung und die optische Dominanz der rechten Hirnhemisphäre. In: Zeitschr. f. Kunstgesch. 46, 1983, S. 2 8 7 - 2 9 4 .

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Die vorbereitende Sorgfalt und Umsicht zeigen, wie wichtig ihm dieses Vorhaben offenbar gewesen ist. Bei Ovid hatte er endlich Erzählstoffe gefunden, die seine Phantasie — weit über die bisherigen amüsanten Histörchen hinaus — ernstlich zu fesseln und anzuregen vermochten. Hier bot sich ihm farbig erzählte vielfältige Handlung als Vorwurf für bildnerisches Fortspinnen und prägnante Vergegenwärtigung. Selbstverständlich kannte er andere graphische Ovid-Illustrationen, Einzelblätter und Folgen, vor allem die Tempestas von 1606. Aber er verfügte über sie frei und selbständig, entnahm ihnen Anregungen, wo er sie brauchte, doch nur als Grundlage für die eigene Weiterarbeit, so daß das Endprodukt doch unverkennbar als sein Werk erscheint.36 Künstlerisch ging es ihm vor allem um lebensvolle Vergegenwärtigung. Er bemühte sich nicht nur, die szenischen Höhepunkte in Bilder von prägnanter Deutlichkeit zu fassen.37 Seine besondere Aufmerksamkeit galt vielmehr den darin auftretenden Personen. Ihnen suchte er Gestalt und Ausdruck handelnder und leidender Menschen zu geben. Dabei bildete er das jeweilige Ambiente nicht als weitgehend neutralen Hintergrund, sondern als liebevoll ausgemalten Handlungsraum und Stimmungsträger. Was hier gemeint ist, läßt sich an drei Darstellungen von Pyramus und Thisbe zeigen. Die schon bekannte Zeichnung von 1632 (Abb. 69) bietet eine Szene von höchster Erregtheit. Als Schauplatz dient eine knappe Bühne in hellem Mondlicht, rechts begrenzt durch den Brunnen in bewegten italianisierenden Formen und hinterlegt mit einer dunklen Waldkulisse, aus der einzelne Wipfel herausschießen und so die Unruhe des ganzen verstärken. Pyramus liegt rücklings am Boden. Thisbe, aus stürmischem Herbeieilen in einer Gebärde tiefsten Erschreckens vor dem Toten verhaltend, stößt sich das Schwert in die Brust. Baur bietet hier eine wirkungsvolle Formel für das Thema „Frau findet ihren toten Geliebten", und er hat sie auch sehr ähnlich in seinen Ovid-IllustraSonen verwendet: für die Zeichnung von Venus über dem Leichnam des Adonis (Nr. 99), wobei an der Stelle des Brunnens das Schwanengefahrt der Göttin erscheint. Bei Pyramus und Thisbe dagegen suchte er, von der Formel loszukommen und den Ausdruck ins Individuellere zu wenden. Die sieben Jahre nach der Version

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Für Baurs Selbständigkeit im Umgang mit fremden Vorlagen ein paar Beispiele, bezogen auf Tempestas Folge von 1606 (B. 638 — 787): Nr. 80 „Farnes bei Erysichthon/Ceres bei Farnes": Gesamtdisposition von Tempesta (Nr. 80) übernommen; Nr. 53 „Proserpina und Ascalaphus": Haltung der Proserpina auf Tempesta (Nr. 49) zurückgehend; Nr. 75 „Sturz des Icarus": Figur des Daedalus nach Tempesta (Nr. 75). In allen Fällen aber bei Baur gesteigerte Ausdrucksfahigkeit der handelnden Personen und ganz andere Mitwirkung des dramatisierten Bildraums. Von jedem, der sich bisher mit Ovid-Illustrationen beschäftigt hat, sind Rang und Eigenständigkeit der illustratorischen Leistung Baurs gebührend gewürdigt worden, zuerst wohl von M. D. Henkel (Illustrierte Ausgaben von Ovids Metamorphosen im XV., XVI. und XVII. Jahrhundert. In: Vorträge der Bibliothek Warburg 1 9 2 6 - 1 9 2 7 , Leipzig/Berlin 1930, [S. 58 ff.] S. 1 2 8 - 1 3 2 ) und von W. Stechow (Apollo und Daphne [Studien der Bibl. Warburg XXIII], Leipzig/Berlin 1932, S. 43 f.). Das ist ihm zumeist gelungen; nicht ganz vielleicht bei Nr. 14, 20, 55, 96, 102, 106, 145 und 146.

Johann Wilhelm Baur ( 1 6 0 7 - 1 6 4 2 )

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von 1632 entstandene Vorzeichnung für die Radierung (Abb. 73)38 übernimmt die Gesamtdisposition mit wichtigen Änderungen. Die Gruppe ist nun gedreht, so daß Pyramus fast quer daliegt. Thisbe, hinter ihm in die Knie sinkend, hat an Vehemenz verloren. Sie ist nicht mehr die plötzlich Erschreckte, ihr Aufblick drückt Verzweiflung aus — freilich nicht ohne eine gewisse Theatralik. Ein großer Baum mit ausladendem Geäst ist dazugekommen, der Brunnen vereinfacht und in den Schatten gerückt, der Hintergrund in eine ferne und eine nahe Waldpartie geteilt, im ganzen aber beruhigt, so daß er nun als Kontrastfolie wirkt. Baur war mit dieser Lösung offenbar noch nicht zufrieden, denn er hat bei der Umsetzung in die Radierung (Nr. 37; Abb. 74) — sie trägt das Datum 1639 — ungewöhnlich viel verändert: nicht nur den Stamm des großen Baums in die, auf der Zeichnung schon angedeutete, Schräglage gebracht, nicht nur die Waldfolie nun in einer Tiefenschicht gänzlich beruhigt, sondern vor allem die Gruppe des Liebespaars noch einmal neu gefaßt. Pyramus liegt nun mit dem Kopf nach vorn; Thisbe, rechts neben ihm, hält den Blick gesenkt auf den toten Geliebten, während sie sich ruhig den Tod gibt. Äußerliche Theatralik ist durch den Ausdruck individueller Empfindung ersetzt. Die helle Gestalt Thisbes steht — deutlich in ihrem Tun — vor der verschatteten Waldkulisse, ihre Beinpartie scheint mit dem Körper des Toten zu verschmelzen. Daneben ragt der geneigte dunkle Baum wie ein Schicksalszeichen in den Nachthimmel. Die Spannweite der Stimmungen, denen Baur in seinen Ovid-Illustrationen Ausdruck zu geben vermochte, zeigen zwei Beispiele aus dem Jahr 1639: Auf der einen Seite steht die Radierung der Großen Flut (Nr. 8; Abb. 75)39. Hier herrscht höchste, von einem starken Pathos getragene Dramatik. Vor einem bewegten Dunkelgrund, gebildet aus geballten Wolkenmassen, hinter denen Blitze aufleuchten, aus Regengüssen und Wasserfluten, in denen Menschen und Tiere um ihr Leben kämpfen, verkörpern zwei helle Gestalten in eindrucksvoller Verdichtung die Not des Menschengeschlechts angesichts seines von Jupiter verhängten Untergangs: ein erschöpft nach links niedersinkender Mann; und neben ihm, kompositionell mit ihm verbunden, die mächtig aufragende Profilfigur einer nach rechts gewandten Frau von wahrhaft Rubens'schen Formen, mit zum Himmel gerungenen Händen — eine Erfindung Baurs von unvergeßlicher Ausdruckskraft. — Und in äußerstem Gegensatz dazu die friedvolle Idylle: Narcissus (Nr. 32; Abb. 76), in einer lieblichen Elsheimer'schen Waldlandschaft, niedergesunken an der Quelle und mit einer Gebärde des Staunens ganz hingegeben an die Betrachtung seines Spiegelbildes. Diese wenigen Hinweise können nur einen schwachen Eindruck geben von dem erzählerischen Reichtum und der darstellerischen Intensität, durch die sich die 38

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Klebeband Vaduz (s. Anm. 34), Nr. 37. Bez. unter der Darst.: 37 [korrigiert aus 36]. piramus et Tisbe. 37.; Feder in Braun, blaßgrau laviert, Korrektur der Baumneigung in Bleigriffel; 1 3 , 4 x 2 0 , 5 cm. s. Henkel (s. Anm. 36), S. 130 und Abb. 74.

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Johann Eckart von Borries

Ovid-Illustrationen Baurs von denen aller anderen unterscheiden. Ein Werk bleibt noch zu betrachten, eine höchst befremdliche Radierung mit dem Datum 1641: Kain und Abel (Abb. 77) 40 . Nackt und gewaltig wie ein hingestreckter antiker Koloß liegt der ermordete Abel links im Vordergrund am Boden. Seine Haltung entspricht spiegelbildlich der des toten Pyramus in der Radierung von 1639 (Abb. 74). Am Himmel erscheint über dunkel aufwallendem Gewölk in einer Lichtwolke Gottvater und wendet sich mit herrscherlicher Geste hinab zu dem nach rechts fliehenden Kain, der wie gebannt mit entsetzt zurückgeworfenem Kopf auf den göttlichen Anruf Antwort gibt. Diese Radierung ist ein Einzelblatt. War sie der Anfang einer geplanten Bildinterpretation des Alten Testaments? Jedenfalls führt sie in ihrer Eigenwilligkeit und lapidaren Ausdruckskraft noch über die Ovid-Illustrationen hinaus. Offenbar befand sich Johann Wilhelm Baur, als er mit 34 Jahren starb, auf dem Wege, aus seinem Kleinmeisterdasein heraus ein großer Erzähler zu werden.

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Seidl. 1. Bez. o., r. von der Mitte: Joh: Wilhelm Baür. Inüentor/ett. fecitt. 1641.; Plattengröße: 16,9 x 24,0 cm.

ERICH HUBALA

Apsidale Barockaltäre An der kunstgeschichtlichen Fachliteratur über den Barockaltar läßt sich wie kaum an einem andern Zweig dieses Schrifttums erkennen, daß das Interesse am Barock erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts und im Zeitalter des Jugendstils allgemein wurde. Denn die Architektur dieser Barockaltäre wird oft so beschrieben, als ob sie aus Glas geblasen, in Schnee geformt oder in Papiermache ausgedrückt sei; man erinnert sich bei solchen Deskriptionen des Scherzwortes von Jakob Burckhardt, der meinte, die barocken Fassaden sähen oft so aus, als wären sie auf dem Ofen getrocknet. Indessen trifft ein solcher Eindruck blanker Willkür, ungegliederten „Wühlens im S t o f f und bloß assoziativer Motivanhäufung zwar auf manche der gemeinten kunstgeschichtlichen Interpretationen barocker Altararchitektur zu, nicht aber auf diese selbst, wofern es sich um Haupt- oder um Meisterwerke der Epoche handelt. Sie nämlich entpuppen sich als durchaus geordnete Kompositionen mit klaren, angebbaren Themen, sobald man den willkürlichen neobarocken Geschmack beiseite und den Jugendstilformalismus außer acht läßt und sie nach den Regeln der sogenannten Säulenordnungen und nach erkennbaren Bauschemata als architektonische Kompositionen zu verstehen sucht, wie das zur Zeit ihrer Entstehung üblich war und zwar auch für diejenigen Maler, Bildhauer oder Baumeister, die diesen Regeln mit künstlerischer Freiheit gegenübertraten, sie aber auch gekannt haben. Einer solchen vernunftgemäßen Gliederungskritik barocker Architektur will auch die folgende Skizze dienen, die einen wichtigen Typus des Barockaltars aus den chamäleonartigen Variationskünsten der Fachliteratur heraushebt. Selbstverständlich beschränke ich mich in meiner Skizze darauf, diese Gebilde als architektonische Kompositionen zu behandeln. Daß Gemälde, Bildwerk und Ornament bei qualitätvollen Barockaltären nicht einfach hinzuaddiert sind, sondern dem von der Architektur geprägten Gliederungszusammenhang integral angehören, versteht sich von selbst; sie brauchen jetzt aber nicht mehr in einem Nebel von assoziativen Impressionen zu schwimmen: für manchen vielleicht eine Entzauberung, sicher aber eine Konkretisierung des Barockbegriffs 1 .

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Der vorliegende Beitrag basiert auf meinem Münchener Seminar über süddeutsche Barockaltäre im W S 1962/63; meinem Referat beim Centro Intern, di Studi di Architettura Andrea Palladio 1972; meinem Vortrag im Museum Lübeck „Über die kunstgeschichtliche Stellung des ehemaligen Hochaltars der Lübecker Marienkirche" 1973; meinem Referat: „The apsidal baroque altar: Bernini or Palladio?" beim Intern. Colloquium on Bernini der American Academy in Rome am 9. Mai 1980.

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Erich Hubala

Allerdings: So frisch von der Leber weg können wir nicht unsere Untersuchungen beginnen. Es geht ja nicht darum, allein vom Charakter eines Stils wieder zu reden (oder zu schwärmen), sondern die Kunst des architektonischen Komponierens, die eben in Gliederung und Proportionierung bestand, zu genießen. Voraussetzungen also sind unerläßlich, drei vor allem hebe ich hervor. Erstens ist die Lehre von den Säulenordnungen als Kompositionsgrundlage anzuerkennen. Das aber heißt, nicht bloß addierend eine und noch eine und dann noch eine dritte Säule zu nennen, sondern aufgrund der eisernen Regel von der Symmetrie die kleinste Bau- und Kompositionseinheit zu erkennen, die solches Komponieren nutzte, die Travée nämlich, das Intervall. Zweitens gehört zu der hier geforderten Gliederungskritik eines Barockaltars die Kontrolle des Aufrisses am Grundriß. Es muß das Bauschema am Grundriß geprüft, oft dort erst festgestellt werden. Das ist ein heute gar nicht mehr selbstverständliches Verfahren, das im 17. und 18. Jahrhundert durchgängig galt, nicht nur in den Entwürfen, wo man es vielleicht durch die Notwendigkeit, das Gebilde herzustellen, entschuldigen könnte, sondern auch in allen seriösen Stichpublikationen, wo es als ein selbstverständliches Kontrollverfahren von Architektur aufgefaßt und — für den modernen Kunsthistoriker sicher lehrreich — natürlich auch als ein Erziehungs- und Belehrungsmittel verbreitet wurde. Die dritte Bedingung betrifft das, was ich hier das „Bauschema" einer Altararchitektur genannt habe. Daß Barockaltäre solchen Typen in Grund- und Aufriß folgen, ist eine unbestreitbare Erfahrungstatsache. Sie ist besonders auffallig bei solchen Retabeln, die im Zentrum kein großes Relief oder Gemälde besitzen, sich also für jedermann als Architektur im geläufigen Wortsinn darstellen und, bevölkert mit Statuen oder Bildwerken, geschmückt mit Ornamenten, getrennt vom Altartisch aufgestellt sind. Die Typen sind leicht zu erkennen, weil sie sich auch in der monumentalen Architektur finden, also Übertragungen davon darstellen, eine Tatsache, die der Renaissance wie auch dem Barock gleichermaßen eigen ist. Daß es sich dabei nicht bloß um rein formale oder technische Muster handelt, sondern um bestimmte, wenn auch sehr allgemeine thematische Vorstellungen, die daran geknüpft sind, ist für die Beschreibung und für die Deutung solcher Architekturen nicht gleichgültig. Diese thematisch vorbestimmten Bauschemata sind zwar keine „Archetypen", die ewig gelten, aber doch historisch bedingte Kulturideale der Baukunst. Immerhin enthalten sie bereits den Zusammenschluß von Gedanken und Form, der für alle alteuropäische Kunstgestaltung selbstverständlich war. Vielleicht könnte das deutsche Wort „Baugedanke" verdeutlichen, was hier vorliegt. Zur Verständigung jedoch genügt die gewählte Bezeichnung: „Typus der Komposition". Beispiele: „Rotunde", „Konche", „Kolonnade", „Arkatur", „Bogentor" (Fornix) usw. Das Komponieren von Altararchitektur im Rahmen solcher Typen des Bauschemas und aufgrund der Regeln der Säulenordnungen ist also im 17. und 18. Jahrhundert von allem Anbeginn thematisch gewesen.

Apsidale Barockaltäre

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In der Regel werden diese Typen des Bauschemas bei der heutigen Beschreibung und Beurteilung von Barockaltären nicht beachtet, ein bedauerlicher Zustand, der die Unsitte immer weiter um sich greifen ließ, „alles" in diesem Bereich aus „allem", bzw. aus „einem" genetisch zu erklären und damit das barocke Komponieren von Architektur zu einem spannungslosen Variieren und Assoziieren zu machen, wie es, mit ganz anderen Voraussetzungen und Zielen, im Jugendstil üblich war. Wahrscheinlich erklärt diese Unsitte die Abneigung vieler junger Kunsthistoriker gegen genetische Erörterungen in der Kunstgeschichte, eine bedauerliche Reaktion auf solchen Abusus, der jedoch ein richtiges Gespür innewohnt, die Einsicht nämlich, daß sich in der Kunst nichts nach Naturgesetzen vollzieht. Mit diesen Bemerkungen ist meine theoretische Einleitung zuende. Wir wenden uns den Denkmälern selbst zu2.

Ziborium und apsidaler

Barockaltar

Die bedeutende Rolle, die Berninis Baldacchino in St. Peter in Rom 3 als Paradigma barocker Altarbaukunst gespielt hat, ist manifest. Dafür gibt es außerhalb Italiens zahlreiche Beweise, nicht nur in Zentraleuropa. Marcel Reymond gab eine erste Liste französischer Beispiele4, die Louis Hautecoeur im 2. Band seiner „Histoire de l'Architecture Classique en France" 1948 erweiterte 5 . Auf die Altarprojekte für Notre-Dame in Paris von 1699 von Pierre LePautre und G. Oppenord machte Fiske Kimball aufmerksam 6 , und mehrere Einzeluntersuchungen lassen sich benennen, die den Einfluß des großen römischen Vorbildes auf französische Altarbauten nachzuweisen trachteten7.

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Über die architektonische Komposition nach den Regeln der Säulenordnungen seit Brunelleschi siehe Hubala Erich, Renaissance und Barock (Epochen der Architektur, hrsg. von Harald Busch, Frankfurt am Main) 1968, 5 — 19. — Derselbe, Guarineskes an der Fassade der Münchener Dreifaltigkeitskirche. In: Das Münster, 25, 1972, 165 — 172. — Derselbe, Von der doppelten Wurzel des Renaissancestils. Zur Renaissance der Antike in der europäischen Kunst. In: Antike und europäische Welt. Aspekte der Auseinandersetzung mit der Antike. Universität Bern, kulturhistorische Vorlesungen 1983 — 84, hrsg. von Maja Svilar und Stefan Kunze. Bern—Frankfurt/Main—New York 1984, 239-280. Irving Lavin, Bernini and the Crossing of Saint Peter's (Monographs on Arch, and the Fine Arts 17), New York 1968. — Hans Kauffmann, Berninis Tabernakel. In: Münchener Jb. der bild. Kst. III Folge 6, 1955, 222—242. — Heinrich Thelen, Zur Entstehungsgeschichte der Hochaltararchitektur von St. Peter in Rom, Berlin 1967. — Josef Braun, Der christliche Altar, Freiburg i. Br. 1924, 2 3 9 - 2 4 1 und 396ff., sowie 4 7 3 - 4 8 9 (Altarziborium). RDK 1, 1937, Sp. 531 ff. (Artikel Altarretabel). In: GBA IVe pér. 9, 1913, 2 0 7 - 2 1 8 . In: L'Architecture Classique en France II (Louis XIV.), Paris 1948, 822 ff. (Baldaquins). In: Le Style Louis XV. Origin et évolution du Rococo, Paris 1949, 84 und Fig. 75 (Entwurfszeichnung) und 76 (Medaille), sowie Fig. 104 (Oppenord 1699). So z. B. Runar Strandberg, Les projets de' autel conçus par Pierre Bullet pour Saint-Germain-desPrés conserveés a Stockholm. In: GBA Vie pér. 71, 1968, S. 33—43.

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Erich Hubala

Die Bedeutung Berninis für die Barockaltäre Zentraleuropas, soweit sie nicht Aedikula-Retabel mit Gemälden oder Reliefs sind, wird in der Fachliteratur noch höher eingeschätzt als im Falle von Frankreich und nur durch die angebliche Wirkung der Werke und Muster des Padre Andrea Pozzo übertroffen 8 . Zwei Bücher haben für Bayern und für Franken diese Meinung besonders verbreitet und gefestigt, nämlich Richard Hoffmanns „Bayerische Altarbaukunst" von 1923 und Werner Hegemanns Marburger Dissertation (1936) über „Die Altarbaukunst Balthasar Neumanns", 1937 publiziert. Besonders Hegemanns Anschauung von der stereotypen Vorbildlichkeit des Bernini-Ziboriums in St. Peter in Rom für a l l e kolumnare Altararchitektur des 17. und 18. Jahrhunderts ist bis heute weitgehend maßgeblich geblieben, in den kunstgeschichtlichen Handbüchern, in den Beiträgen von Joachim Hotz von 1963/64 und anderen Untersuchungen zu diesem Thema 9 . Als entscheidendes Kriterium für die behauptete „Ableitung" von Berninis römischem Prototypus werden die „Säulen", bzw. „Säulenstellung" angesehen und eine dem Baldacchino ähnliche Bekrönung. Grundlegend für diese Anschauung ist die meist stillschweigend getroffene Annahme, daß aus Berninis konzentrisch organisiertem Vier-Säulen-Ziborium durch Variation und Assoziation, etwa mit dem spätgotischen Flügelaltar, praktisch jede Form kolumnarer Barockaltäre entstanden sei 10 . Die Voraussetzungen für eine solche Meinung aber sind m. Es. methodisch nicht haltbar und historisch auch deshalb hinfallig, weil sich zeigen läßt, daß barocken Altararchitekturen, die bisher alle auf das römische Bernini-Ziborium zurückgeführt wurden, verschiedene Typen zugrundeliegen, die ganz offensichtlich nicht als Ziborien verstanden wurden, sich daher auch nicht als Variation eines Ziboriums darstellen können, sondern Entfaltung und Entwicklung eigener Prototypen voraussetzen, darunter auch apsidale Barockaltäre. Der Typus, den ich als apsidalen Altar bezeichne, existiert im 17. und 18. Jahrhundert in zwei Grundformen, die ich Konchenaltar und Kolonnadenaltar nenne. An den Konchenaltar erinnere ich lediglich mit zwei Beispielen, mit dem Altar der hl. Margarete in der Pariser Kirche von St.-Germain-des-Pres 11 und mit 8

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Zu Pozzo: Bernhard Kerber, Andrea Pozzo. Beiträge zur Kunstgeschichte, hrsg. von Günther Bandmann, Erich Hubala, Wolfgang Schöne, Band 6, Berlin 1971, besonders 137 ff. und 209 ff. So z. B. Joachim Hotz, Balthasar Neumanns Hochaltar im Wormser Dom. In: Der Wormsgau 1963—64, Jg. 6, 9—25 und im gleichen Sinn auch Jörg Garms, in: Balthasar Neumann in BadenWürttemberg, Ausstellungskatalog Staatsgalerie Stuttgart 1975, 36, Nr. 45 (Altarriß für den Hochaltar der Peterskirche in Bruchsal). Genetisch ganz anders beurteilt von Erich Hubala, in: Deutsche Zeichnungen 1500—1800. Ausstellungskatalog Würzburg, Martin von Wagner-Museum der Universität 1982, 30 f. Nr. 22. (Hochaltarentwurf Bruchsal, Peterskirche 1747). Kennzeichnend für diese Anschauung, die in den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts in der deutschen Fachliteratur tonangebend war und bis heute nachwirkt, ist das Diagramm bei Werner Hegemann, Die Altarbaukunst Balthasar Neumanns, Diss. Marburg a. d. Lahn 1936, 1937, 59 („Die Entwicklung des Ziboriumraumes bei B. Neumann"). Anlaß war die Translation von Reliquien aus Fontainebleau am 16. 10. 1661; geweiht wurde der Altar 1683. Erik Langenskiöld, Pierre Bullet ..., 1959, Abb. 111 und S. 128 mit der richtigen Lokalisierung und Zuweisung des Projektes, von dem in Stockholm in der Coll. TH 8286 sich eine Nachzeichnung befindet. Die Statue der Heiligen wurde erst 1705 aufgestellt.

Apsidale Barockaltäre

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dem Hochaltar der Lübecker Jacobikirche 171712 (Abb. 78). Die apsidale Bildung dieser Retabelarchitekturen ist manifest und ebenso das zentrale und namensgebende Motiv einer gewölbten Konche, die uns getrennt von der Wandgliederung als eine mittlere Travée der Architektur gezeigt wird. Deutlich ist der Verweis auf römischantike Architektur und auf deren Nachgestaltung in der klassischen Baukunst Roms nach 1500. Konchenaltäre13 besitzen stets eine Statue, ein Bildwerk oder eine Figurengruppe in ihrem Zentrum. Auffallend sind ikonographische Beziehungen zur Memorialsphäre und zur Passionsthematik, besonders in protestantischen Gegenden, die gut zum architektonischen Zentralmotiv der Konche passen. Dort, wo dieser Altartypus als ein selbständiger erkannt wurde, bezeichnet ihn die Fachliteratur als „Nischenaltar", bzw. als „Nischenretabel" und dgl. 14 . Die zweite Grundform, der apsidale Kolonnadenaltar, von dem hier hauptsächlich die Rede ist, wird dagegen in der Fachliteratur mit Ausnahme der Untersuchung von Hans Peter Trenschel über die Altäre Johann Peter Wagners in Unterfranken 1968 nicht mit dem Konchenretabel zusammengesehen, sondern noch immer als Umgestaltung des römischen Berniniziboriums mißverstanden oder durch die Assoziation gerade dessen, was nicht da ist, zu erklären versucht, d. h. als „halber Tempietto" apostrophiert. Das sind Versuche, die schon deshalb unhaltbar sind, weil sich zeigen läßt, daß die Typen des Ziboriums und der apsidalen Architektur im Spätbarock nicht bloß genau unterschieden wurden, sondern sogar nebeneinander entstanden, so z. B. in Paris an ein und demselben Ort, nämlich im Val-de-Grâce, und zwar in einer ostentativen Entgegensetzung. Unter der Kuppel ragt das sechssäulige Altarziborium LeDucs auf, während dahinter in Gestalt des 1669 vollendeten Tabernakels sich ein perfektes Miniaturmodell einer apsidalen Kolonnade befindet15 (Abb. 79). Zwar sehen wir heutzutage an Ort und Stelle nur die Rekonstruktion von 1869 — 70, die Rupprich-Robert auch in seinem Buch über den Val-de-Grâce nach einem Stich von Fr. Penel und Sellier 1873 abgebildet hat16. Diese Rekonstruktion aber ist in allen für unser Thema einschlägigen Punkten des Bauschemas korrekt. Das beweisen die Beschreibungen bei Brice und bei Piganiol-de-la-Force (1769).

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Nach dem Vorbild des 1944/45 zerstörten Grabaltars Friedenshagen in St. Marien, der 1697 geweiht wurde und wohl auf einen Entwurf des Thomas Quellien zurückging, wurde der Hochaltar der Lübecker Jacobikirche von H. J. Hassenborg, einer Stiftung von Hermann Rode folgend, 1717 errichtet. Ich unterscheide Nischen und Konchen: jene sind Recesse in der Mauer, die nicht bis auf den Boden reichen; diese ersetzen die Mauer nach Art einer Apsis, sie „stehen", während Nischen stets nur (in der Mauer) „sitzen" können. Josef Braun, a. a. O. (1924) unterscheidet „Nischenziborien", S. 250ff., nicht von Konchenaltären, die bei ihm unter die „Ziborien" fallen, ebensowenig Hautecoeur a. a. O. Marcel Reymond, L'autel du Val-de-Grâce. In: GBA IVe pér. 5, 1911, 3 6 7 - 3 9 4 . - Hautecoeur, a. a. O. (1948) 825, Fig. 654. - P. Lemoine, in: Bull. Soc. Arch. Franc. 1960, 95 ff., sowie P. Phaleix, ebenda 1961, 211 ff. In: L'Église et le monastère du Val-de-Grâce, Paris 1875 32 ff.

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Die erstgenannte zitieren wir mit einzelnen eingestreuten Kommentaren anstelle einer umständlichen Analyse. Brice sagt: „ ... au milieu et derrière ces belles figures, qui sont grandes come nature" (die Figuren Augiers, heute in Saint Roche, die im Val-de-Grâce durch Kopien ersetzt wurden), „il s'eléve" (nämlich auf hoher, von Voluten begleiteter, frontal mit dem Kreuzeszeichen ausgezeichneter Stele) „un tabernacle tout doré, en forme de niche" (welcher Ausdruck freilich die mangelnde Unterscheidung von Nische und Konche in der modernen Fachliteratur nicht zu entschuldigen vermag), „soutenu de douz colonnes" (der korinthischen Ordnung, kannelliert und mit ihren Plinthen direkt auf dem Boden aufstehend) — „posées sur un plan courbe, qui portant un semidòme, quattre de face" (d. h. mit vier dem Anblick sich zeigenden Freisäulen auf dem Grundriß eines Hemizykels) „le reste dans l'enfoucement" (nämlich paarweise als Prostasen die Apsis flankierend, ein Paar „im Profil" und ein anderes „en face", wie die dazugehörigen Gebälkstücke beweisen). „C'est dans ce tabernacle que le Saint Sacrament est exposé les jours des grandes fêtes ... ". Soweit die Beschreibung von G. Brice, die ganz klar die typische Struktur einer apsidalen Kolonnade als „Retabulum" für das Altarsakrament in Grund- und Aufriß erkennen läßt 17 . Auf der Stirnseite des Apsisgewölbes („semidòme") lagern zwei Engel. Sie halten gemeinsam eine Krone hoch, Anspielung auf Christus, den König der Könige, ebenso wie auf die königliche Stiftung und den Dauphin. Zwei schmale Flammenvasen stehen auf den seitlichen Prostasen. Als Postament für die ausgesetzte Monstranz diente ein sarkophagförmiger Miniaturaltartisch. Das Tabernakel bildet ikonographisch einen festen Bestandteil des Hochaltarbaues. In der Vertikalen herrscht der heilsgeschichtliche Aspekt vor, in der Horizontalen der realhistorische und damit auch die Allusion auf den Anlaß der Stiftung, die Geburt des Dauphins, der dann, noch ein Kind, auch die Grundsteinlegung des Val-de-Grâce vollzogen hatte. Da das Tabernakel sowohl vom Kirchenschiff und den beiden seitlichen Kapellen, als auch vom Nonnenchor aus gesehen werden sollte, legitimierte sich die Wahl der transparenten Kolonnade anstelle einer Konche auch von der liturgischen Seite der Aufgabe her. Es mag uns heute befremden, daß eine so anspruchsvolle Architektur an einem Tabernakel, einer Kleinarchitektur also, an einem Kirchenmöbel, auftritt. Im Barock aber, auch Italiens, war das nichts Ungewöhnliches. Es sei nur an zwei berühmte Beispiele dieser Art erinnert: an das Tabernakel „in prospettiva" auf dem Altar der Spadakapelle von San Paolo in Bologna 18 und an Berninis Sakraments-Tabernakel

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G. Brice, Nouvelle Description de la ville de Paris III, 264. — Piganiol de la Force, 1765, VI, 9 Tafel VII. Heinrich Thelen, Francesco Borromini. Mostra di Disegni e Documenti Vaticani, Ausstellungskatalog Rom 1967, Nr. 32 (BAV, Cod. lat. 11257, Fol., 228 halber Grund- und Aufriß, nach einer Invention Virgilio Spadas von Agostino Bittoni gezeichnet).

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in der römischen Peterskirche 19 . Beide zeigen kunstvolle kolumnare Architekturen en miniature als Darstellungen architektonischer Prototypen in ostentativer Auswahl (verräumlichte Serliana und mit Säulen umstellte gewölbte Kuppelrotunde), nicht anders als das Tabernakel im Val-de-Grâce, das auch seine Vorgänger und Verwandten in der monumentalen Kunst besaß. Diese apsidalen Kolonnadenaltäre in den Pariser Kirchen sind verschwunden. Das am besten durch Beschreibung und Abbildungen bekannte Exemplar befand sich im Presbyterium der mittelalterlichen Augustinerchorherrenkirche 20 (Abb. 80). LeBrun hatte die Architektur entworfen, sie wurde in der Revolution demoliert. Dieser wohl in den Jahren 1675 — 1678 geplante und errichtete Hochaltar bei den „Grand Augustins" wurde noch vom Abbé L. Miliin in situ gesehen, wie aus dem 3. Band seiner „Antiquités ..." von 1791 zu entnehmen ist. Auf Miliin geht auch die hier reproduzierte Illustration in dem 5. Band der „Topographie historique du vieux Paris" von A. Berty zurück 21 . Im gotischen Presbyterium, wo auch die Sitzungen des Ordenskapitels vom Heiligen Geist stattfanden, erhob sich über einem hohen Stufenpodest hinter dem einfachen quaderförmigen Altartisch und dem 1605 von Leonora Galigai gestifteten Tabernakel ein apsidal geformter, mächtiger Sockel mit zwei seitlichen Flanken, auf denen die Statuen des Hl. Augustinus und seiner Schwester zu sehen waren. Acht kolossale Säulen, deren Schäfte aus Marmor von Saravêche gemeißelt waren — eine Stiftung des Kardinals Fürstenberg —, bildeten eine Kolonnade auf halbkreisförmigem Grundriß mit zwei flankierenden Avant-corps und zwar dergestalt, daß die zweite und die siebte Säule (die Rand- oder Drehsäulen der Kolonnade) zugleich mit der ersten und der achten Säule eine Travée formierten: Die Kolonnadenapsis wurde durch flankierende Säulenpaare eingefaßt und „festgestellt". Die kräftig ausgebildete Stirnarchivolte des „semidöme" in der Art eines syrischen Bogens bekrönte das Kreuzeszeichen. Das Fresko der Wölbung stellte Gott Vater im Himmel dar. Auf dem inneren Scheitel des Kolonnadengebälks sah man die Taube des Heiligen Geistes. Von einem ähnlichen Altar, der 1684 entstand und dessen Entwurf wiederum auf LeBrun zurückgeht 22, wird in Saint-Severin zu Paris berichtet. Es gibt ferner von Jean LePautre solche Altäre unter den Exempla für die „Nouveaux Dessins d'Autels à la Romaine". Ein besonders reich geziertes Exemplar einer apsidalen

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Heinrich Brauer und Rudolf Wittkower, Die Zeichnungen des Gianlorenzo Bernini, Berlin 1931, Textband 172ff. — Ausstellungskatalog Bernini in Vaticano, Rom 1 9 8 1 , 1 5 2 f f . — Rudolf Wittkower, Gianlorenzo Bernini. The Sculptor of the Roman Baroque, London 2 1966, Cat. Nr. 78, Tafel 119. A. Berty und a. A., Topographie Historique du vieux Paris. Tome V, 1887, 241 ff. — G. Brice, a. a. O. IV, 88 gibt als Entstehungszeit 1678 an und als entwerfenden Meister LeBrun. — Hautecoeur, a. a. O. 826, Fig. 655 erörtert den Altar unter „Baldaquins". A. Berty, a. a. O. Tafel bei Seite 242 nach Miliin. Hautecoeur, a. a. O. 626 und 312 Anm. 7.

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Kolonnade fungiert als Titelblatt dieser posthum publizierten Stichserie23. Auch der Hochaltar in der Abteikirche von Bec, später nach St. Croix in Bernay übertragen, gehörte ursprünglich unserem Kompositionstypus an24. Offenbar gab es seit 1665 neben berninesken Ziborien und einzelnen apsidalen Konchenaltären in Frankreich mehrere apsidale Kolonnadenaltäre. Das Vorbild der apsidalen Kolonnadenaltäre: Andrea Palladio Ihr Prototypus kann nicht zweifelhaft sein. Er ist in Palladios Apsis der venezianischen Votivkirche von II Redentore zu erkennen, die im Auftrag des venezianischen Senats und nach verworfenen, die transparente apsidale Kolonnade aber schon enthaltenden Projekten seit 1576 entstanden ist und 1593 vollendet war25. Palladios Viertes Buch seiner „Quattro Libri d'Architettura", 1570, beweist, daß der Architekt und Autor seine künstlerisch so bemerkenswerte Apsis von II Redentore nicht nur, wie des öftern bemerkt wurde, allgemein der römisch-antiken Thermalarchitektur nachempfunden hatte, sondern in genauer Entsprechung zu seiner Rekonstruktion römisch-antiker Tempelarchitektur sehen wollte. Denn er rekonstruierte mehrfach die Konchengliederung im Innern römischer Podiumstempel als eine freigestellte Kolonnade unter einem Viertelkugelgewölbe, so im Grundriß des Tempels des Jupiter tonans im IV. Buch, Kap. 19, Illustration Seite 71, und so auch bei dem Tempel des Mars Ultor, den er besonders eingehend erörterte und in mehreren Bildern darstellte. Zwar ist auf der betreffenden großen Abbildung im IV. Buch, Kap. 7, Seite 19, welche die halbe, auf unserer Abbildung 81 zu einer ganzen ergänzte Ansicht der Mittelkonche der Cella zeigt, ein Grundriß nicht beigegeben und auf dem dazugehörigen Gesamtgrundriß ist die freistehende Kolonnade, wie sie die Illustration des Jupiter-tonans-Tempels zeigt, wegen des großen Maßstabs und der Holzschnittdarstellung nicht deutlich genug. Die Illustration im einzelnen und die Analogien mit IV, Kap. 13, Seite 71 lassen gar keinen Zweifel daran, daß Palladio diese Wandgliederung so gedacht hatte. Ikonographisch, d. h. also im Rahmen von Palladios Auffassung der Sakralarchitektur, ist die wunderschöne Gestalt der Redentore-Apsis in der Tempelarchitektur des Alten Rom verankert und so auch inhaltlich, nicht nur formal, in den Augen des Baumeisters „legitimiert".

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Jean LePautre ist 1682 gestorben; die betreffenden Altarentwürfe sind erst 1751 durch Jombert publiziert worden, besonders einschlägig Nr. 71. Beschrieben von Thoussaint de Plassis, in der geogr.-hist. Beschreibung der Normandie 1740, Tome II, 279: „Le grand autel, d'ordre composite, qui fut echevé en 1685, est surmonté de huót colonnes de marbre jaspic avec leur architecture, frise et corniches; leur bases sont de bronze doré et les chapiteaux de pierre, aussi dorés. Sur la corniche est une demicouronne d'où pend sur l'autel la custode de Saint Sacrament... ". Wladimir Timofiewitsch, La Chiesa del Redentore. Corpus Palladianum III, Vicenza 1969, Tafel 37 und Relievi.

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Allerdings ist die antikische Legitimation der Apsis von II Redentore keine „Erfindung" Palladios im Sinne des modernen Neuheitskultes, obwohl sie der Autor als eine solche auch im Text der Quattro Libri auszugeben scheint. Sie geht nämlich, wie bereits 1965 Erik Forssman bemerkte, auf den Libro dell'Architettura des Antonio Labacco, der 1552 erschienen ist, zurück 26 . Da wir aber wissen, daß an Ort und Stelle einer derartigen Rekonstruktion im Innern einer römischen Tempelcella keinerlei archäologische Anhaltspunkte vorgegeben waren, was Palladio übrigens in seinem Begleittext zum Mars-Ultor-Tempel freimütig auch zugibt 27 , hilft der Rückverweis auf Labacco in unserm Falle nichts oder nur insofern, als er die Richtung angibt, in der wir die wahre Quelle dieses schönen architektonischen Themas zu suchen haben, nämlich in Rom, und zwar in der Bauhütte von St. Peter im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, als es um die Ausgestaltung der Umgänge in den Tribunen ging, die später bekanntlich eliminiert wurden. In dem überkommenen Entwurfs- und Planmaterial für die Neue Peterskirche häufen sich die Beispiele für solchen Einsatz einer transparenten Kolonnade; man findet sie auf Schritt und Tritt 28 . In der Fabbrica di San Pietro also, hauptsächlich bei und im Umkreis von Baldassare Peruzzi und Raphael ist der wahre Ursprung jenes Motivs zu finden, das dann Palladio aufgriff und vor dem Chor von II Redentore so ernst, licht- und klangvoll zu gestalten wußte. Für eine Entstehung des Motivs schon im frühen 16. Jahrhundert und nicht bei Palladio spricht u. a. die Anwendung der Kolonnade auf rundem Grundriß in Frankreich durch Jean Bullant. Ihm nämlich wird der Entwurf einer Grabmalsarchitektur zugeschrieben, die, für den 1567 gestorbenen Connetable Anne de Montmorency seit 1577 durch Bullants Neffen Charles ausgeführt, in der Kirche von Montmorency aufgestellt, in der Revolution aber demoliert wurde und aus Montmorency verschwunden ist. Teile dieser Grabmalsarchitektur seien, so heißt es, durch Alexandre Lenoir nach Paris gebracht worden. Es gibt eine anonyme Zeichnung mit einer Ansicht der „Petite Augustins", wo Lenoir sein Lapidarium angelegt hatte. Auf dieser Zeichnung sieht man so etwas wie eine apsidale Kolonnade nach Art eines Nymphaeums aufgestellt, in der man die nach Paris verbrachten Reste der Grabmalsarchitektur für Anne de Montmorency erkennen will 29 . Heute gibt es 26

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28

29

Erik Forssman, Palladios Lehrgebäude. Studien über den Zusammenhang von Architektur und Architekturtheorie bei Andrea Palladio. Stockholm 1965, 170 und Fig. 66 und Fig. 67. Zum archäologischen Befund siehe John Nash, Bildlexikon zur Topographie des antiken Roms I, 401 f. — Palladio sagt zur archäologischen Situation: „Nella parte di dentro, cioè nella Cella non si vede indicio nè vestigio alcuno, nè meno sono morse nelle mura, onde si possa fermamente dire, che vi fossero ornamenti, et tabernacoli; n o n d i m e n o perche è molto verisimile che ve nè fossero, io ve nè ho fatto di mia invenzione ..." (Sperrung von mir), in: IV, Kap. 7 S. 15. z.B. Folio 3 3 r im Taccuino Senese, siehe Dagobert Frey, Bramantestudien I, Wien 1915, 45, Fig. 26 oder UA 449 r, ebenda Fig. 25 und im Bildband von Franz Graf Wolff-Metternich, Die Entstehungsgeschichte von Sankt Peter in Rom. Berlin 1975, Fig. 38. Francois-Charles James, Jean Bullant. Recherches sur l'architecture française du 16é siècle (These der Ecole nat. des Chartes 1968, S. 105 — 106. — Georg Kauffmann, Die Kunst des 16. Jahrhunderts. Prop. K G 8, Berlin 1971, 277.

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davon noch Gebälkfragmente in der Ecole-des-Beaux-Arts von Paris, wie mir Volker Hoffmann freundlich mitteilte. So unsicher im Einzelnen eine Rekonstruktion der apsidalen Kolonnade des Montmorency-Grabmals auch ist, — was bekannt wurde, genügt um anzunehmen, daß Palladios berühmte Gestaltung einer „transparenten Konche" in der venezianischen Kirche nur die hervorragendste, entwicklungsgeschichtlich auch fruchtbare, aber nicht die einzige Gestaltung dieses Motivs des frühen Cinquecento gewesen ist. Aedikula mit apsidaler Kolonnade: Der Altar in Bologna Älter als die bisher zitierten Beispiele apsidaler Kolonnadenaltäre in Paris ist eine höchst merkwürdige Fusion von klassischer Aedikula mit transparenter Kolonnade auf rundem Grundriß, an deren Entstehung seit 1633 auch Gianlorenzo Bernini Anteil hatte. Das ist der heutige Hochaltar in der Barnabitenkirche von San Paolo in Bologna (Abb. 82), dessen Entstehung von Rom aus betrieben wurde und der 1648 noch immer nicht fertig dastand, zu einer Zeit, als Bernini absolut nichts mehr mit dieser Altararchitektur zu tun hatte. Der Altar beherbergt eine den Martertod des hl. Paulus darstellende Figurengruppe Alessandro Algardis. Ein Datum für den Beginn der Arbeit Algardis an dieser Gruppe existiert nicht, in situ muß sie 1650 gewesen sein, denn die Altararchitektur, die ihr Schauplatz und Hintergrund bietet, ist mit folgender Inschrift von dem herstellenden Architekten und Bildhauer versehen: „Dominici Facchetti Opus Anno Jubilaei 1650". Facchetti ist also der ausführende Meister dieser Architektur gewesen, Bernardo Spada, der römische Kardinal, und Virgilio Spada, sein Neffe, der einflußreiche Oratorianer, später auch ein eifriger Förderer Borrominis, sind die Promotoren der Stiftung, mit welcher das Presbyterium der Bologneser Barnabitenkirche zu einer Familienkapelle der Spada ausgestaltet werden sollte30. Das beherrschende Frontmotiv dieser hochragenden Altararchitektur ist die klassische Aedikula korinthischer Ordnung, deren Pfeilerpaar von je zwei kannelierten Freisäulen derartig begleitet wird, daß sowohl vorne wie auch an den Flanken Prostasen entstehen. Sie sind an den Flanken mit Gebälkkröpfen versehen, während sie vorne ein vollständiges, unverkröpftes Gebälk mit einem Segmentgiebel tragen. Das Bauschema dieser Aedikula, welches im Grundriß eine kreuzförmige Anordnung der Säulen und Pfeiler ergibt, entspricht vollständig dem monumentalen Sakramentsaltar im Querhaus von San Giovanni in Laterano, jenem frühbarocken

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Den Nachweis von Berninis Tätigkeit erbringt L. Neppi, Palazzo Spada, Rom 1975, 131 Nr. 48, 176, Nr. 7, 276, Nr. 32. — M. Heimbürger-Ravalli, in: Architettura, Scultura e Arti Minori nell Barocco Italiano: Ricerche nell' Archivio Spada, Florenz 1977, 37 ff. — Zusammenfassend und mit weiteren Beiträgen zurTätigkeit Berninis für San Paolo in Bologna: K. Güthlein, in: Rom. Jb. 17,1978, 148 ff. — Derselbe: Bernini architetto e gli Spada. In: Gianlorenzo Bernini Architetto e l'architettura europea del Sei- e Settecento. Rom 1984, 81 — 104.

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Altarriesen, der noch lange ins Seicento als Vorbild hineingewirkt hat. Die Proportionen in Bologna sind freilich andere als im Lateran, die Aedikula zeigt sich massiger, auch stämmiger. Durch die Einschaltung einer ziemlich hohen Predellazone über den Sockeln, die gleiche Höhe wie der Altartisch besitzen, wirkt die Aedikula in San Paolo feierlich erhöht gegenüber dem römischen Sakramentsaltar. Im Rahmen dieser erhabenen Aedikula römischer Abkunft und saftiger, fülliger Ausgestaltung erscheinen die Marmorfiguren Algardis, der zum Schwertstreich ausholende Henker als Rückenfigur und der am Boden knieende, zur Seite blickende Heilige mit gefalteten Händen. Erst jetzt bemerkt man die transparente jonische Kolonnade mit der kassettierten Viertelkugelwölbung über dem verkürzten Gebälk, die hinten an die Aedikula angebaut und in der Form einer eingestellten „kleinen" Ordnung, also mithilfe einer Pfeilerarkade nach vorne geöffnet ist. Was wir vor uns haben, ist also nichts weniger als eine apsidale Altararchitektur, aber dennoch eine solche, welcher das palladianische Motiv inkorporiert wurde als eine architektonisch ausgestaltete Raumblase, die der großen, den Eindruck und die Komposition beherrschenden Aedikula zu- und nachgeordnet ist. Wir werden angesichts dieser Verbindung zweier so ungleichartiger Leitmotive des italienischen Altar- und Retabelbaus Paolo Portoghesi zustimmen, der von diesem Altar schon 1964 sagte, er sei ein Werk „in cui e possibile cogliere echi di influenze palladiane e romane use da un linguaggio incerto" 31 . Zeigt nun dieser „linguaggio incerto" die Handschrift und den Geist des 35jährigen Gianlorenzo Bernini? Nach den bisherigen Veröffentlichungen zur Entstehungsgeschichte des Bologneser Altars von L. Neppi 1975, von Maria Heimbürger-Ravalli 1977 und von Klaus Güthlein 1978 und 1984 müßte man diese Frage positiv beantworten, denn es konnte gezeigt werden, daß der Kardinal Virgilio Spada (1596 — 1662) tatsächlich Bernini für das ehrgeizige Altarprojekt in Bologna gewinnen konnte: Seit 1633 müssen Verhandlungen stattgefunden haben, am 7. August 1634 äußerte sich Virgilio bereits über Kosten aufgrund eines „modello" der „Erfindung" Berninis 32 . Zweifelsfrei sind auch die Faustskizzen Berninis im Archivio di Stato. Eine dieser Skizzen zeigt die Anordnung der Freisäulen im Grundriß, wobei Bernini einmal einzelne Säulen in gleichem Abstand, das anderemal nur zwei Säulenpaare probeweise skizziert hat 33 . Auf einem andern Blatt ist der heutige Grundriß samt einem flüchtigen Aufriß der Kolonnade gezeichnet, wie er auch heutzutage besteht 34 . Für unseren Zusammenhang bemerkenswert ist an der Berniniskizze, daß die Mündung der apsidalen Kolonnade noch nicht wie heute mit der in die Aedikula eingeschriebenen Pfeilerarkade übereingestimmt ist, sondern

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33 34

In: Borromini nella cultura europea, Rom 1964, 316. Irving Lavin, Bernini and the Unity of the Visual Arts, New York 1980, Textband 64, Anm. 1. — K. Güthlein, a. a. O. (1978) Doc. 5. Irving Lavin, a. a. O. Fig. 107. Irving, Lavin, a. a. O. Fig. 109.

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sich noch an die Pfeilerrückseiten mittels einer Halbsäule anschließt. Die kleine Arkade und die ihr doch ideell zugeordnete Kolonnade sind voneinander zugunsten einer bloßen Prospektwirkung getrennt. Heute ist das in Bologna anders, wie der Grundriß des Altars in dem Cod. Vat. lat. 11 258 auf Folio 78 beweist: Kleine Pfeilerarkade und jonische Kolonnade der kleinen Ordnung sind übereingestimmt. Fest steht also heute nur, daß Bernini sich mit der so wenig glücklichen Fusion von Aedikula und apsidaler Kolonnade à la Palladio 1633 — 34 beschäftigt hat. Offen jedoch muß die Frage bleiben, ob Bernini es war, der das palladianische Motiv in die Planung eingeführt hat. Auch Christof Thoenes hält sich bei der Erörterung eben dieser Frage bedeckt, wenn er 1984 zusammenfassend von den berninesken Spuren in der Entstehungsgeschichte des Bologneser Altars meinte: „Rimane il dubbio se la scelta palladiana sia stata, in questo caso, del maestro stesso, se si sia fondata sulla conoscenza de visu dell'originale veneziano, oppure se sia stata suggerita da un mediatore, da ricercare nella cerchia dei concorrenti settentrionali oppure tra i committenti dell'opera, anzitutto i frati di S. Paolo ... " 35 . Es belegt die Planung des Spada-Altars allerdings denjenigen Punkt in der Entfaltung von Berninis Architektur, von dem ab wir ohne jeden Zweifel mit der Kenntnis des palladianischen Bauschemas bei dem römischen Bildhauerarchitekten rechnen müssen. Das ist für unser Verständnis von Berninis Auftreten in Paris im Jahre 1665 von Wichtigkeit. LeDucs und Hardouin-Mansarts

Ziborien

In Paris muß sich so etwas wie eine Auseinandersetzung der französischen Kunstrichter und Künstler mit Berninis römischem Ziborium, dem weltberühmten Baldacchino einerseits und der inzwischen offenbar angewachsenen Partei der „Klassiker" andererseits abgespielt haben. Nur so ist das programmatische Nebeneinander von hochragendem Ziborium und kleinem Sakramentstabernakel als apsidaler Kolonnadenarchitektur im Val-de-Grace verständlich und ebenso jene merkwürdige Veränderung des römischen Ziborium-Vorbildes durch LeDuc. Anstelle des römischen Vier-Säulen-Monuments mit der schönen Bekrönung Berninis sehen wir sechs solcher Säulen aufragen: weshalb solche Veränderung und zu welchen Zwecken? Auf diese wichtige Frage gibt es, soviel ich weiß, aus den bisher veröffentlichten Dokumenten keine eindeutige Antwort. Es spricht aber alles dafür, daß das SechsSäulen-Ziborium eine „grundsätzliche" Verbesserung oder Korrektur des BerniniVorbilds insofern darstellt, als es die optische Schwäche des Baldacchino beseitigt hat, die auch heute noch für manchen aufmerksamen Besucher der römischen Peterskirche bemerkbar wird. Sie besteht darin, daß das hochragende, in der Mitte

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In: Gianlorenzo Bernini Architetto ... a. a. O. (1984), 114.

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der Blickbahn aufgerichtete Vier-Säulen-Monument Berninis in der Regel dem Anblick nur eine Aedikula, d. h. also eine Travée und deshalb nur zwei Säulen zeigt, die ihrerseits das zweite, westliche Säulenpaar verdecken. Eine solche Schwächung der Stützen im Anblick scheint den französischen Kunstrichtern, Höflingen und Künstlern nicht gefallen zu haben, jedenfalls gab sie Anlaß zur rationalen Kritik an dem römischen Paradigma. LeDucs Sechs-Säulen-Ziborium beseitigt nämlich dieses Mißfallen, indem aus dem Kirchenschiff und dem Nonnenchor bei jeder Position die vorderen Ziboriums-Säulen jeweils von noch mindestens einer andern begleitet und damit optisch verstärkt werden. Allerdings ist damit die ideale Allseitigkeit des Ziboriums aufgegeben. Aus der Kapelle der Königin und dem rechten Querarm des Kuppelraums gesehen ergibt der Anblick nicht mehr eine den Hauptrichtungen entsprechende Ansicht, sondern jeweils drei eng nebeneinandergestellte Stützen. Aus einem idealen vierseitigen Gebilde in Gestalt des römischen Baldacchino ist hier ein Ziborium mit jeweils paarweise verschiedener Ansicht geworden und auch ein solches, das sich q u e r zur Hauptrichtung stellt. Die von Rom her gesehen merkwürdige Stellung der Säulen und ihre Anzahl — sechs anstatt vier — hängt eng mit dem Bauschema des Ziboriums von LeDuc zusammen: Die Säulen stehen auf einem querovalen Grundriß und werden dementsprechend auch oben über den korinthischen Gebälkkröpfen von einem ovalen Diadem-Gesims, von dem erst die Bekrönung aufragt, zusammengehalten. Ein solcher Grundriß erlaubt ja erst die Stellung der zweiten und fünften Säule in der Weise, wie wir es beschrieben haben und zugunsten eben jener Stärkung des „Bildes" der Stützen in den Hauptrichtungen, welche offenbar ein Anliegen der Schar rational argumentierender Kritiker des römischen Ziboriums gewesen ist. Es war also nicht etwa der ovale Grundriß das eigentliche Motiv, die „causa movens" für die französische Umbildung, sondern die Kritik an der „schwachen" Erscheinung der zwei vorderen gewundenen Berninisäulen. Die Wahl des ovalen Grundrisses ist Folge und nicht Ursache gewesen. Das läßt sich mit aller wünschenswerten Deutlichkeit an dem Hochaltar zeigen, den Hardouin-Mansart zwischen der neuen Eglise-du-Döme und der Eglise-des-Soldates im Invalidenhotel in Paris entwarf: Wie der Grundriß von Daniel Marot von 1683 beweist, ist das Bauschema dieses Ziboriums absolut kurvenlos. Auf den Eckpunkten eines zur Hauptrichtung quer gestellten Grundrißrechtecks stehen die vier Hauptsäulen des Ziboriums, ihnen sind, wie auch entsprechende Schnitte durch diese Stelle des Kirchenprojektes beweisen, seitlich niedrigere Säulen beigesellt, um die gewünschte optische Stärkung zu bewirken. Die seit 1683 gültige Planung Hardouins beweist, wie sekundär die Kurvung des Val-de-Gräce-Ziboriums in den Augen der spätbarocken Altarbauer blieb. Hauptsache war und ist es, daß diese Altararchitekturen alle, einschließlich ihrer späteren Nachbildungen, etwa durch den Kavaliersarchitekten Anselm Ritter zu Groenesteyn im Kiedricher Archiv 36 echte Ziborien blieben. Freilich muß eine 36

G. Jahn, Der kurmainzische Hofcavaliersarchitekt Anselm Franz Reichsfreiherr von Ritter zu Groenesteyn. Frankfurt a. Main 1977, Kat. Nr. 14 b, Abb. 23.

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entscheidende künstlerische Änderung gegenüber dem Prototyp in Rom genannt werden, die aber nicht typologisch, sondern stilgeschichtlich zu bewerten ist: die Reduktion des Ziboriums auf eine Blickbahn, also die Verkürzung des reinen Zentralbaus in St. Peter in Rom auf einen nur bildhaft in einer Hauptrichtung sich vollständig darstellenden Säulenprospekt, dessen Flanken für sich gar keinen Anblick bieten. Von Hardouin aus ergibt sich im Rückblick auf die Gestalt des Sechs-SäulenZiboriums im Val-de-Gräce eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit dafür, daß Bernini selbst die Anregung zu der „Korrektur" seines römischen Erstlingswerkes gegeben habe. Wir wissen zwar aus den Aufzeichnungen des Herrn von Chantelou über Berninis Pariser Aufenthalt im Jahre 1665, daß der Römer fortgesetzt Vorschläge machte und Rat erteilte, auch ungefragt und in der Form oft herber Kritik an den französischen Planungen oder Bauten 37 . Aber das Schicksal der Sechs-SäulenZiborien in Frankreich macht es wahrscheinlicher, daß die Reduktion des römischen Säulenmonuments auf ein bloßes Stützen-Gestell, d. h. die Technifizierung eines figuralen Baugedankens Berninis, von den Kunstrichtern, Höflingen und Baumeistern Frankreichs herkam. Dagegen ist es wegen der schon erwähnten Bologneser Planung, an der ja Bernini beteiligt war, durchaus möglich, daß der Römer die Anregung für das Kompositions-Schema des Sakraments-Tabernakels im Val-deGräce gegeben hat, dann aber sicherlich mit dem dringenden Rat, die hybride Fusion Aedikula und apsidale Kolonnade aufzulösen und letztere allein zum Gegenstand der Komposition zu machen. Gleichviel, wie man diese Vermutungen gewichten mag — das ausgeführte Bauschema war jedenfalls des Beifalls der Kundigen sicher. LeBruns monumentale apsidale Altäre, vor allem in der Kirche der Augustiner zu Paris am Sitz des Kapitels des Ordens vom Heiligen Geist, beweist dies.

37

Aus dem Tagebuch des Herrn von Chantelou über die Reise des Cavaliere Bernini nach Frankreich (so die deutsche Ausgabe von Hans Rose, München 1919), das Laianne in der GBA 1877 — 1885 erstmals edierte, sind die folgenden Tageseintragungen für die Planungsgeschichte des Ziboriums im Val-de-Gräce relevant: 25. Juni 1665: Tubeuf und Herr von Bartillat kommen und bitten im Namen der Königinmutter Bernini um einen Entwurf für den Altar. — 3-/4. Juli 1665: Bernini vollendet den erbetenen Entwurf für den Altar. — 5. Juli 1665: Bernini erläutert seinen Entwurf, er entschuldigt sich bei LeDuc, daß er ein Konkurrenzprojekt gezeichnet habe. — 8. Juli 1665: Colbert fragt Chantelou, ob Bernini nicht verstimmt gewesen sei über die kühle Aufnahme seines Entwurfs durch die Königinmutter; es wird erwähnt, daß Bernini offenbar nicht alle Bedingungen kannte, die für dieses Altarprojekt Geltung hatten, und daß sich daraus die „exzentrische Stellung" des Hochaltars in Berninis Entwurf erkläre. — 22. Juli 1665: Mignard legt Bernini ebenfalls einen Altarentwurf für den Val-de-Gräce vor. Lob Berninis, grundsätzliches über den Architekten. — 28. Juli 1665: Jetzt sagt Bernini ganz klar, man habe seinen Entwurf n i c h t befolgt. — 30. Juli 1665: Schlechte Nachrichten für Bernini. König und Königinmutter sind damit nicht zufrieden. — 7. Sept. 1665: Bernini beschwert sich bei Colbert, daß LeDucs Entwurf demjenigen von Mignard vorgezogen wurde. Colbert beschwichtigt Bernini mit dem Hinweis, daß es die Nonnen vom Valde-Gräce gewesen seien, die Mignards Entwurf niedergebügelt hätten.

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Der Hochaltar in Notre-Dame

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Paris 1699— 1703

LeDucs Ziborium im Val-de-Gräce ist sowohl dem Bauschema als auch seiner anschaulichen Wirkung im Kirchenraum nach noch immer ein Zentralbau, ein echtes Ziborium also, auch wenn seine Seitenausdehnung länger als seine Tiefenachse ist. Hardouins Ziborium im Invalidendom ist das auch, wenn auch in bedingtem Ausmaß. Es hat nur mehr 2wei, nicht vier Aspekte und ist zur Hauptrichtung der beiden Kirchenräume, die es verbindet, quer angelegt. Aber diese Besonderheit ist von der einzigartigen baulichen Situation abhängig und deshalb auch nicht ohne weiteres zu verallgemeinern. Erst um 1700 entsteht die wichtigste, nun auch das Ganze des Bauschemas betreffende Umgestaltung des berninesken Ziboriums, nämlich der Altar im Chor der Pariser Bischofskathedrale von Notre-Dame 38 . Ludwig XIII. hatte bereits gelobt, dieser Kirche einen neuen Altar zu stiften, sein Sohn erfüllte nun — spät! — dieses Gelübde. Die zugunsten des neuen Altars geprägte Medaille trägt deshalb auch die Umschrift: „Votum a Patre nuncupatum solvit". Es ging bei dieser Planung zusätzlich um die Neugestaltung des Chorgestühls, das dann später auch ausgeführt wurde, nachdem der Hochaltar, der hier besprochen wird, schon 1704 abgebrochen wurde und einem neuen Platz machen mußte. Ein Entwurf von Oppenord, der sich mit seiner Omamentfülle, den Statuen und den kleinen Trabantenbauten wunderlich genug ausnimmt und den Fiske Kimball publizierte, zeigt ein hochragendes Vier-Säulen-Monument ä la Bernini, jetzt aber nach dem Vorbild im Val-deGräce und im Invalidendom nicht mehr auf die Eckpunkte eines Grundrißquadrates gestellt, sondern so angeordnet, daß die beiden hintern Säulen ein engeres Intervall bilden als die beiden vordem, sodaß im Anblick jene optische Stärkung der Stützen eintritt, die den Franzosen offensichtlich besser gefallen hat als die römische Lösung Berninis. Oppenords Entwurf wurde nicht ausgeführt 39 . Errichtet wurde der Hochaltar in Notre-Dame 1699 nach einer Zeichnung von Pierre LePautre (Abb. 83). Sie diente auch als Vorlage für die erwähnte Gründungsmedaille des gleichen Jahres. Vier bernineske Säulen auf blockförmigen einfachen Piedestalen tragen über das um den Fries verkürzte Gebälk vier halbkreisförmige Bügel, die sich in der Mitte als Kreuzung vereinigen. Darüber erhebt sich auf Volutenkonsolen Weltkugel und Kreuz. Zwei Engel lagern links und rechts davon. Kleiner gestaltet sieht man auf dem Gebälk darunter einen auf Wolken erscheinenden Altartisch mit einem knieenden Engelspaar. Die korinthischen Spiralsäulen sind wie in Rom und im Val-de-Gräce im untern Drittel mit Spiralkanneluren versehen, darüber sind ihre gewundenen Schäfte mit Palmzweigen, in denen Putten herumturnen, geschmückt. Die Piedestale tragen Wappenschilder des königlichen Stifters. Der Altartisch ist unter der Bekrönung auf einem Stufenpodest aufgestellt. 38 39

Fiske Kimball, a. a. O. 84, Fig. 75. Fiske, Kimball, a. a. O. 101, Fig. 104.

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Die Proportionierung im gotischen Chor von Notre-Dame war so angenommen, daß das Ziborium LePautres das untere Arkadengeschoß entschieden überragte und bis zum Abschluß des Emporengeschosses reichte. Die wichtigste Veränderung des Bernini-Vorbildes, die ursächlich mit der schon erwähnten Verbesserung der Stellung der Säulen zusammenhängt, ist noch nicht genannt worden: Das reduzierte korinthische Gebälk dieses Ziboriums verbindet die vier Stützen in der Form eines flachen, nach vorne offenen Bogens. Auf diese Weise ist also einerseits eine Uberschneidung des hinteren durch das vordere Säulenpaar im Anblick vermieden und zugleich eine bemerkbare und weitgehende Anähnelung an einen apsidalen Kolonnadenaltar erreicht worden. Darin beruht der Baugedanke dieser Altararchitektur und ihre entwicklungsgeschichtliche Bedeutung, die sie trotz der so kurzen Lebensdauer zweifellos besitzt. Apsidale Altäre außerhalb Frankreichs und Italiens Ich lasse nun eine Reihe von Beispielen folgen, die alle die Entstehung des apsidalen Kolonnadenaltars französisch klassischer Prägung wie in der Pariser Augustinerkirche voraussetzen. Sie belegen die hier immer wieder erinnerte Erfahrungstatsache, daß die typischen Bauschemata der barocken, auch der spätbarocken Altararchitekturen sehr oft einfache, klare Strukturen sind und erst durch die reiche, bisweilen überschäumende Zier mit Ornament und figürlicher Skulptur jenen bekannten „barocken" Eindruck erwecken. Ein hervorragendes Exempel dieses Zusammenspiels von beweglichem Ornament und figürlicher Bewegung einerseits und dem geradezu klassischen Bauschema liefert Daniel Pöppelmanns Dresdner Zwinger 40 . Niemand, der nur die Fülle, Kraft und Beweglichkeit der Dekoration bemerkt hat und genießt, darf glauben, diese Architektur schon verstanden zu haben. Erst wenn er bemerkt, daß dies alles auf dem Grund einer geradezu akademischen Komposition beruht, die regelmäßig große Arkaden im Wechsel mit daneben aufgehenden Lisenen oder Pfeilern aneinanderreiht, kann er füglich solches behaupten. Auch der Spätbarock ist eben noch kein Jugendstil. In Belgien nenne ich den Hochaltar der Kirche von Saint Jacques in Antwerpen als das wichtigste, noch bestehende Exempel eines apsidalen Kolonnadenaltars41. Artur Quellien d. Jüngere ist der Autor des Entwurfs von 1685, der Protonotarius apostolicus H. Hilleverwe war der Stifter, die Ausführung in Stein dauerte bis zum Jahre 1698. Der manifeste barocke Charakter des Altarriesen wurde oft betont und besonders die ornamentale Pracht und Fülle des Schmucks hervorgehoben. Das ist auch ganz in der Ordnung so. Es ist aber für den Historiker der Kunst ebenso 40 41

Erich Hubala, Renaissance und Barock, a. a. . (1968), 186 f. Catharine Freemantie, The Baroque Town Hall of Amsterdam, Utrecht 1959, Abb. 175 und S. 152. — Kunstwerken uit de Eeuw van Rubens in Antwerpse kerken en kloosters, Ausstellungskatalog St. Jacques Antwerpen 1977, 32ff., Nr. 2 1 - 2 3 .

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nötig, die präzise tektonische Komposition zu erkennen, an der nichts willkürlich ist, auch nicht die Unterschiede zu rein palladianischen Vorbildern in Paris. So z. B. erklärt sich der Ersatz der Rand- und Drehsäulen, wie wir sie am Altar der Pariser Augustinerkirche hervorhoben, durch ein Paar mit Pilastern formierten Pfeilern in Antwerpen aus einer Schwenkung, die Quellien wünschte und die natürlich mithilfe eines vierkantigen Pfeilers viel besser zur Anschauung gebracht wird als mithilfe einer Säule. Die Schwenkung der Pfeiler hat wiederum die Schrägstellung der damit fest verbundenen Prostasen zur Folge und damit auch die entsprechende Krümmung des Apsisgewölbes über der Kolonnade. Wie dieses schöne Beispiel des flämischen Barock erkennen läßt, muß der zugrundeliegende Typus einer barocken Altarkomposition aus dem Bauschema, nicht einfach aus dem Stilcharakter ermittelt werden, was stets die Analyse des Grundrisses erfordert. Dann zeigt sich nämlich, daß auch im barocken Zeitalter „klassische" Paradigmata akzeptiert wurden und zwar gerade dort, wo sich die ornamentale Ausgestaltung zu oft ganz besonders reichem Leben erhebt. Daß übrigens bei dem Antwerpener Hochaltar auch das ursprünglich fest geschlossene Apsisgewölbe durchbrochen wird, entspricht der Herausbildung des apsidalen Kolonnadenaltars aus dem verwandten Typus des Konchenaltars durchaus. Im 18. Jahrhundert tritt das reine Bauschema dieses apsidalen Kolonnadenaltars selten auf. Ein besonders interessantes Beispiel bietet der 1720 datierte Entwurf für den Hochaltar der Kirche von Sallapulka in Niederösterreich, der Johann Bernhard Fischer von Erlach, dem 1723 verstorbenen Begründer einer österreichischen Barockarchitektur, zugeschrieben wird und sich im Stiftsarchiv von Herzogenburg befindet42 (Abb. 84). Schon 1925 versuchte Hans Sedlmayr eine genetische Erklärung dieses Projektes, von dem sich in dem genannten Stiftsarchiv auch ein Grundriß befunden haben soll, der jedoch niemals fotographiert wurde und als verschollen gilt. Sedlmayr nannte als Vorbild den Hochaltar von SS. Trinità de' Monti in Rom, der 1675 in den Guiden der Stadt erwähnt wird und dessen Entwurf Jean de Champaigne geliefert haben soll. Seiner Ableitung ist die Fachliteratur bis heute gefolgt 43 . Wie aber die Konfrontation des Fischer-Entwurfs mit einer Darstellung des besagten römischen Altars im Stich von J. J. de Rossi beweist, ist diese Ableitung nicht überzeugend. Denn das Sallapulka-Projekt wiederholt alle Merkmale des apsidalen Kolonnadenaltars in der lupenreinen Grundform der Pariser Exemplare, besonders auch des Sakramentstabernakels im Val-de-Gräce. In diesem Fall läßt sich übrigens auch zeigen, daß Korrekturen der genetischen Typologie, wie ich sie hier vorschlage, auch handfeste Konsequenzen für Fachpro42

43

Hans Sedlmayr, Johann Bernhard Fischer von Erlach, Wien—München 2 1976, 296, Abb. 196, sowie 174. So auch Hans Aurenhammer, in: Ausstellungskatalog J. B. Fischer von Erlach 1956, Nr. 58. — Bemerkenswert ist es, daß Sedlmayr in der eben zitierten 2. Auflage der Fischermonographie von 1956 die Abbildung des Hochaltars von SS. Trinità de' Monti in Rom (Fig. 267) nicht auf den Sallapulka-Altar bezieht, sondern auf den älteren Hochaltar im Mausoleum von Graz (Tafel 86).

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bleme haben, die nicht aus der Typologie, sondern aus der Stilgeschichte kamen, hier 2. B. für die Autorenfrage. Denn unsere genetische Bestimmung des SallapulkaProjektes führt dazu, eindringlicher als bisher darnach zu fragen, von welchem Fischer von Erlach dieser Pariser Import herrührt, vom Vater, wie bisher behauptet, oder vom Sohn Josef Emanuel, der damals (um 1720) von Pariser Studienreisen nach Wien heimkehrte, um seinem Vater beim Bau der Karlskirche in Wien und besonders beim Zeichnen zu helfen. Es kann hier nicht die Frage in ihrer ganzen Tragweite erörtert werden. Ich glaube aber doch, daß mit der Aufweisung des prototypischen Bauschemas zugleich die Wahrscheinlichkeit gewachsen ist, daß Josef Emanuel der Spender dieses Baugedankens gewesen sei. Aus Bayern, diesem Eldorado spätbarocker Altarbaukunst, zitiere ich nur zwei Beispiele für den apsidalen Kolonnadenaltar. Das repräsentative und noch bestehende findet sich in München. Es ist der Hochaltar der Pfarrkirche von Sankt Peter im Tal (Abb. 88), der auf Betreiben des rührigen Dechanten Unertl nach langer, auch in der kurfürstlichen Bauverwaltung erörterter Planung 1730 — 33 so entstand, wie es die Wiedergabe im Kupferstich des Nikolaus Stuber und die heutige Rekonstruktion an Ort und Stelle zeigen. Die apsidale Kolonnade beherbergt die Sitzfigur des hl. Petrus aus dem frühen 16. Jahrhundert und die Statuen der vier Kirchenväter von Egid Quirin Asam. Wegen dieses Figurenprogramms ist der Hochaltar von St. Peter stets mit Bernini in Beziehung gesetzt worden, zu Recht, wenn Berninis Kathedra Petri in der römischen Hauptkirche gemeint wird, — zu Unrecht aber, wenn damit auf Berninis Baldacchino verwiesen wird. Denn die Architektur des Münchener Retabels folgt eben dem Bauschema eines apsidalen Kolonnadenaltars und nicht dem eines in sich konzentrierten Ziboriums. Wir kennen in diesem Fall sogar den Einspruch gegen eine bloße Wiederholung des Bernini-Ziboriums in München, wie die bekannten Akten der Entstehungsgeschichte aussagen. Der Einspruch erfolgte durch den kurfürstlichen Hofbaumeister Josef Effner. Er schrieb 1726 als Kritik an der bisherigen Planung dieses Hochaltars, es solle der Altar nicht „einer Copia von Sankt Peters Kirch in Rom gleichsehen, sondern vielmehr als ein Original erkennet werden müssen" 4 4 . Das zweite bayerische Exempel eines apsidalen Kolonnadenaltars stand bis zum zweiten Weltkriegsende in der Franziskanerkirche zu Ingolstadt, die nach Plänen von Johann Michael Fischer errichtet wurde. Die Architektur, die noch aus Fotographien bekannt ist (Abb. 86), war 1739 datiert. Sie läßt sich besonders gut mit dem ehemaligen Hochaltar bei den Grand-Augustins zu Paris vergleichen, auch wegen der flankierenden Säulenpaare links und rechts, die in Ingolstadt etwas schräg gestellt sind. Deutlich ist die eminente Rolle des Ornaments für die Erscheinung dieser Architektur gewesen, aber auch die Klarheit, mit der die klassische Grundform des Bauschemas als Träger dieses Reichtums festgelegt wurde 4 5 . 44 45

Norbert Lieb, München — Die Geschichte seiner Kunst, München 1971, 176. Felicitas Hagen-Dempf, Der Zentralbaugedanke bei J. M. Fischer, München 1954, Tafel bei Seite 56 und Grundriß S. 21.

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In Parenthese möchte ich an dieser Stelle auf die apsidale Kolonnade als ein besonders beliebtes Leitmotiv der deutschen, böhmischen und österreichischen Deckenmalerei des 18. Jahrhunderts hinweisen. So z. B. haben Lorenz Reiner in Prag, Franz Maulbertsch in Wien, ehemals in Klosterbruck bei Znaim und anderen Orten beide Typen der apsidalen Altararchitektur für ihre Bildkompositionen genutzt. Daß öfters der Konchenaltar, nicht die transparente Kolonnade, Verwendung fand, das erklärt sich wohl aus der künstlerischen Absicht solcher Architekturkulissen, die sonore räumliche Fülle wie ein Hohlkörper zu speichern, sie aber nicht durch Öffnungen wieder entweichen zu lassen. Ein schönes Beispiel dieser Art findet sich auf dem Bozzetto von Maulbertsch für Klosterbruck im Barockmuseum in Augsburg (Abb. 85). Das von Bruno Bushart publizierte Bild ist vor 1778 entstanden 46 . Dargestellt ist Paulus auf dem Areopag, der vor dem dortigen Altar des unbekannten Gottes den Griechen das Evangelium predigt. An der gegenüberliegenden Seite des Bozzetto sieht man den Altar des Alten Testaments als apsidalen Konchenaltar gestaltet, eine sehr sinnvolle architektonische Symbolik, die Maulbertsch schon im Kuppelfresko der Wiener Piaristenkirche 1752 genutzt hatte. Gewöhnlich werden solche Bildarchitekturen ohne Umschweife auf Andrea Pozzo zurückgeführt. In dem beschriebenen Beispiel verführt dazu wohl die markante Ausbildung einer Säulenquadrupel mit Pfeilerkern, mittels derer die Kolonnadenapsis seitlich gefaßt und festgestellt wird. Solche Motive gibt es auch tatsächlich bei Pozzo. Sie sind aber Bestandteil einer älteren Tradition, wie der Hochaltar von San Giovanni e Paolo in Venedig z. B. beweist, der zwischen 1652 und 1674 seine jetzige Gestalt erhielt, oder der Longhena-Altar von 1633 in San Fantin deutlich macht. Daß sich Pozzo übrigens mit beiden Bauschemata des apsidalen Altars auseinandergesetzt hat, sei hier nur am Rande erwähnt 47 . Unsern Rundblick in Zentraleuropa schließen wir ab mit Rhein- und Mainfranken. Dort entstanden schon früh und an maßgeblicher Stelle Nachbildungen von Berninis römischem Baldacchino und sie wurden bis ins späte 18. Jahrhundert auch vereinzelt wiederholt. So erhielt der Dom zu Bamberg um 1650 unter dem Fürstbischof Melchior Otto Voit im östlichen Georgen- und im westlichen

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Bruno Bushart, Die Offenbarung der göttlichen Weisheit. Zur Augsburger Bildskizze des Fr. Anton Maulbertsch. In: Alte und Moderne Kunst, 16, 1971, Heft Nr. 115, 19 — 31 mit allen einschlägigen Nachweisen. — Siehe auch Hans Tintelnot, Die barocke Freskenmalerei in Deutschland ... München 1951, wo sich andere Beispiele des apsidalen Kolonnadenaltars in Deckenbildern finden, so z. B. das Chorfesko der Pfarrkirche von Groß-Hoschitz von Franz Anton Sebastini, Abb. 152. Kreuzförmige Anordnung der Stützen findet sich bei Aedikula-Altären Venedigs bereits vor Pozzo: San Fantin, der Longhena-Altar von 1633, siehe: G. Vio, I Mastri della chiesa di San Fantin, in: Arte Veneta 1977, 225—231. — Und vor allem: Zanipolo, Hochaltar, dessen endgültige Gestalt Longhena zwischen 1652 und 1674 bestimmt haben dürfte. Siehe: R. Cessi, Mattia Carneri, Architetto e Scultore, 1652—1673. Collana Artisti Trentini, 1964. Nach diesen Feststellungen sind meine Daten für diesen Hochaltar in Reclams Kunstführer Italien, Venedig. Stadt und Umgebung, 1974, 193 zu korrigieren.

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Peterschor zwei solche Ziborien. Sie sind auf Gemälden von Georg Adam Arnold im Bamberger Diözesanmuseum zu sehen und fielen der Purifizierung des Dominnern unter Ludwig I. zum Opfer48. Auch der Würzburger Dom erhielt 1700 ein bernineskes Ziborium, das 1749 erneuert wurde. Damals wurde ausdrücklich verlangt: „nach form des Altars wie zu S. Peter in Rom" 49 . Als im neuerbauten Bonifaziusmünster der Reichsabtei zu Fulda der neue Hochaltar errichtet werden sollte, sandte man 1710 den Bildhauer Neudecker nach Würzburg, um das dortige Altarziborium zu studieren. Auch der Fuldaer Hochaltar ist dementsprechend gestaltet worden 50 . Aber allein aus diesem erlauchten Vorbild läßt sich die große Zahl von Altararchitekturen Mainfrankens und des Mittelrheins nicht erklären, wie Werner Hegemann uns 1937 glauben machen wollte. Denn auch in diesen Kunstlandschaften und besonders seit dem 4. Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Beispiele von apsidalen Kolonnadenaltären, unter die auch die Altäre in Worms, Trier, Brühl und Bruchsal gerechnet werden müssen, die direkt auf Entwürfe Balthasar Neumanns zurückgehen 51 . Ihre Eigenart besteht in einem Ersatz der üblichen Apsiswölbung durch eine Bekrönung nach Art von Berninis römischem Baldacchino oder in der Form von einfachen Bügeln wie auf LePautres Hochaltar in Notre-Dame in Paris. Schon das relativ frühe Beispiel, nämlich der ehemalige Hochaltar in Sankt Quentin zu Mainz von Maximilian von Welsch (1739—40), illustriert diese höchst bemerkenswerte grundsätzliche Neugestaltung des apsidalen Kolonnadenaltars in Franken. Lautete bisher das genetische Urteil: Bernini oder Palladio!, so muß es angesichts dieser neuen Fusion von Berninibekrönung und Palladiokolonnade: sowohl Bernini als auch Palladio! lauten.

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Renate Baumgärtel-Fleischmann, Ausgewählte Kunstwerke aus dem Diözesanmuseum Bamberg 1983, 72 mit Abb. eines dieser beiden Gemälde. Werner Hegemann, a. a. O. (1937), 6 f. Ernst Kramer, Fulda. München o. J. Abb. 13, sowie Werner Hegemann, a. a. O. (1937), 8 und Abb. 2. — Das Sechs-Säulenziborium entstand 1700—1712. Werner Hegemann, a. a. O. — Joachim Hotz, a. a. O. (1963/64) am Beispiel des Wormser Hochaltars auch über die andern Neumannaltäre. — Zur Gruppe darf auch der Hochaltar in Maria Limbach gezählt werden, den der Fürstbischof J. Adam Friedrich von Seinsheim stiftete und Johann Peter Wagner ausgeführt hat. Hans Reuther, Die Kirchenbauten Balthasar Neumanns, Berlin 1960, 71 f. bezeichnet die Architektur als: „Viersäuligen Baldachinaltar". — Siehe auch Hans-Peter Trenschel, Die kirchlichen Werke des Würzburger Hofbildhauers Johann Peter Wagner, Würzburg 1968, 2 9 - 4 2 , Abb. 6. Abbildungen des Hochaltars in Sankt Peter zu Bruchsal jetzt auch in: Hans Reuther, Balthasar Neumann, München 1983, 68 f., Abb. 56 und 58. — Ob bereits der Hochaltar von 1700 im Würzburger Dom die Form eines apsidalen Altars gezeigt hat, wie Tilman Kossatz aufgrund seiner Lesart der Dokumente, die er erstmals studierte, in seiner Würzburger Dissertation über den Bildhauer Preuß, MS 1983, behauptet, ist m. Es. noch nicht hinreichend sicher. Das Sechs-SäulenRetabel in Fulda, das ja nach dem Würzburger Vorbild sich nachweislich ausrichtete, zeigt eben nicht diesen Typus, sondern geht auf Mansarts Hochaltar im Invalidendom und seine Deszendenz zurück. Kossatz' Dissertation soll als unveränderter Nachdruck seines Manuskripts publiziert werden, was m. Ws. noch nicht geschehen ist.

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Baltbasar Neumanns Re-Integration der apsidalen Kolonnade in die Wandgliederung des Kirchenraums Aus der großen Schar der fränkischen apsidalen Barockaltäre heben sich die Neumann-Altäre deutlich durch eine Eigentümlichkeit heraus, die aus der seit Hegemann immer wieder behaupteten Anähnelung an spätgotische Flügelaltäre überhaupt nicht zu erklären ist. Sie besteht in der Proportionierung der Kolonnade als hochragende und auch weit auseinandergestellte kolumnare Architektur und in dem offensichtlichen Bestreben, diese Architektur bis an die Wände des Kirchenraums hinauszuschieben, Tuchfühlung also mit der Wandgliederung zu nehmen und sich deshalb auch dieser Gliederung nach Verhältnissen und Ordnung anzugleichen. Daß wir ein solches Bestreben Neumann nicht andichten, beweist die Entstehungsgeschichte des Hochaltars der Peterskirche in Bruchsal. Neumann hatte die linke Variante des schönen bildmäßigen Altarentwurfs für St. Peter in Bruchsal, den Wolfgang von der Auwera nach seinen Angaben zeichnete (Abb. 87), in seiner Relation von November 1746 für die Ausführung empfohlen, also diejenige, welche sich an die Kirchenwand streckt, nicht die rechte, die dann ausgeführt wurde; er wollte also die Reintegration dieser ansonsten frei und isoliert stehenden Altararchitektur mit der Wand- und Raumgliederung des Kirchenbaus 52 . Eine Folge dieser Bestrebung rein baumeisterlicher Art ist die Dehnung der Flankentraveen und dies wiederum bringt ein hohes Maß an Transparenz, an Durchlichtetheit mit sich. In Sankt Paulin in Trier wirkt die kolumnare Architektur des Neumann-Altars wie ein Gitter vor dem Lichtgrund der Apsis des Presbyteriums mit den steilen, hohen Fenstern und den kurzflächig gefalteten Wänden (Abb. 89). Man mag solche Eindrücke als „gotisch" empfinden — aber mit den spätgotischen Flügelaltären haben sie nichts zu schaffen. Das Streben nach Re-Integration von Altar- und Wandgliederung muß tief im Wesen dieses Baumeisters angelegt gewesen sein, denn er hatte es schon befriedigt, bevor er einen seiner Altarentwürfe liefern konnte, nämlich im Januar des Jahres 1732, als er einen Satz von Plänen für die Hofkirche der Würzburger Residenz zeichnete, die sich heute in der Kunstbibliothek von Berlin befinden und die Grundgestalt dieses Kirchenraums schon enthalten 53 . Wie diese Entwürfe zeigen und auch die ausgeführte Architektur des Kirchenraums lehrt (Abb. 90), setzt sich die Wandgliederung des untern Geschosses dieser zweistöckigen Hofkirche auch in der Kolonnade des Altarbezirks fort oder umgekehrt: Diese bildet sich zu einem Kolonnadenring aus, welcher den gesamten 52

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Die Relation Neumanns vom November 1747, abgedruckt im Ausstellungskatalog Balthasar Neumann in Baden-Württemberg a. a. O. (1975), 36, Nr. 45. — Vgl. zum Altarprojekt den Ausstellungskatalog Würzburg, a. a. O. (1982) 30 f. Nr. 22. Die Berliner Neumannpläne von 1732 für die Hofkirche tragen die Inv. Nr.: HdZ 4689 (Grundriß), HdZ 4687 (Längsschnitt), HdZ 4688 (Querschnitt). Siehe: Hans Reuther, Zeichnungen aus dem Nachlaß B. Neumanns. Der Bestand der Kunstbibliothek Berlin, Berlin 1979, 18 sowie 32 ff.

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Raum umringt, allerdings sehr deutlich durch Abstände und Ausrichtung in den Zusammenhang mit der übrigen, hochragenden Raumgliederung gebracht, dergestalt, daß in der Hofkirche in Würzburg und in dem so wichtigen Plansatz dafür aus dem Januar des Jahres 1732 alle Arten und Typen der Gliederung zu einem einzigen, nicht mehr trennbaren Ganzen verwoben erscheinen, dem nicht mehr eine „Altararchitektur" als etwas Besonderes, dem Raumbild Entgegengesetztes, gegenübergestellt werden kann. Diese Re-Integration der bisher isolierten Altararchitektur, die ihrerseits ja auch aus einem vollständigen, in sich schlüssigen Konzept einer Kirchenraumgliederung Palladios abstammte, sehe ich als den Höhepunkt in der Geschichte der apsidalen Barockaltäre Frankens und des Spätbarock an. Sie erweist die eminente Kraft von Neumanns raumgliedernder Komposition und zeigt, wie sich über Jahrhunderte weg große Baumeister verstehen können, ohne daß sie ins Kostüm ihres Vorbilds schlüpfen müssen. Natürlich gab es vor 1732 schon transparente Kolonnadenapsiden italienischer oder österreichischer Kirchenprojekte, die eine selbständige Altararchitektur auf solche Weise umgehen wollten. Bekannt ist z. B. ein Entwurf Francesco Borrominis für Sant Ivo in Rom, auf welchem die Apsis á la Palladio geformt ist 54 . Nachweisbar ist dieser Baugedanke auch bei Johann Bernhard Fischer von Erlach, wie einer seiner Grundrisse für die Karlskirche in Wien, abgebildet im 2. Buch seiner „Historischen Architektur" von 1721, beweist. Hans Sedlmayr datierte dieses Projekt, das so nicht verwirklicht wurde, auf „um 1716" 55 . Solche Projekte aber, von denen keines m. Ws. ausgeführt wurde, wiederholen lediglich Palladios Kolonnade und zwar als ein bloßes Zitat, obwohl sie die Säulenstellung fest mit der Mauer des Kirchenraums verbinden. Es findet eben nicht jene Entwicklung statt, die bei Palladio die kolumnare Architektur erfahrt, bis sie mit der hellen Freistellung der apsidalen Kolonnade feierlich schließt und im Kirchenraum als Zielbild auftritt. Bei Neumann ist das anders. Das palladianische Motiv, die klassische Kolonnade und die inzwischen eingebürgerte Nutzung des Motivs für die Ausgestaltung einer Apsis, diese Momente hat der Baumeister aus Eger völlig in die ganz unpalladianische Raumgestalt seiner Residenzkirche eingeschmolzen. Nicht, daß er etwa der „Erfinder" der Säulenstellung für dieses Projekt gewesen wäre! Allem Anschein nach gebührt dieser Titel — wenn es ein solcher sein sollte — dem Wiener Baumeister Lucas von Hildebrandt 56 . Aber erst Neumann gelang es nach einer langen und auch krisenhaften Durcharbeitung der Bauaufgabe — einer zweistöckigen Hofkirche innerhalb der rektangulären Mantelmauern des Residenzschlosses zu Würzburg — die geforderte Aufstellung so vieler Säulen, gegen die sich Neumann von Anfang sogar wegen Kosten und Transport gewandt hatte, mit

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Rom, Archivio di Stato, publiziert von A. Munoz in: L'Urbe, Oktober 1937, Tafel IX. Hans Sedlmayr, a. a. O. (1976), 52 ff., 119, 132, Abb. 46. Erich Hubala und Otto Mayer, Die Residenz zu Würzburg. Aufnahmen von Wolf-Christian von der Mülbe, Würzburg 1984, 155 mit S E 2 9 7 + ; ferner 1 6 0 - 1 6 1 .

Apsidale Barockaltäre

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seiner Raumgliederung zu vereinen. Das zeigen schon die erwähnten Entwürfe in Berlin von 1732. Fugenlos ist nämlich die Konzeption der drei großen, hohen, gewölbten Rotunden im Innern, deren fiktive Einheiten sich zueinander öffnen, sich aber gegenseitig auch fragmentieren, im zweiten Stockwerk der Hofkirche mit der Kolonnade im untern, dem 1. Stockwerk, übereingestimmt. Diese Übereinstimmung ist nicht nur eine optische. Auch in der Konstruktion hat sie Neumann dadurch erreicht, daß er die Position der Säulen unten von Anfang an für die Lage und Größe der drei Rotunden adaptierte, jedenfalls in optimaler Weise, wie es Härmen Thies in seiner Untersuchung der Berliner Pläne aus dem Jahr 1732 gezeigt hat 57 . Die Würzburger Hofkirche erinnert gewiß nicht „auf den ersten Blick" an Palladios Kirchenraum von II Redentore in Venedig. Der spätbarocke Hofbaumeister Neumann war nichts weniger als ein Palladianist. Er ahmte den Architekten von Vicenza nicht nach in der Impression von dessen Architektur, sondern eignete sich dessen strukturelles Denken und dessen leidenschaftliche Vorliebe für die Säule als figurales Gliederungsmittel über den langen Umweg seines Studiums Hvon Altararchitektur an. Aber trotz größter Unterschiede sind beide doch in einem Punkte sehr gut vergleichbar und nicht in einem nebensächlichen, darin nämlich, daß die apsidale Kolonnade, dieses Motiv, das bei Palladio nach Rudolf Wittkower den „szenographischen" Abschluß eines Kirchenraumes bildet 58 , auch in Würzburg aus einer konsequenten thematischen Gliederung des Ganzen hervorgeht. Machen wir uns diese innerliche kompositionelle Identität trotz denkbar großer Unvergleichlichkeit bei Palladio und bei Neumann abschließend klar! In Palladios Kirchenraum von II Redentore „befindet sich im Langhaus die Säule als Halbsäule fest an die Mauer gebunden, mit einem Minimum an anschaulicher Bewegungsfahigkeit. Dann finden wir die Halbsäule am Triumphbogen und in der Kuppelvierung mit dem Pfeiler, der wie die Säulen eine Schwellung, die Entasis zeigt, lockerer zusammengruppiert und damit in einer Position, die mehr an Bewegungsfähigkeit illusioniert als im Langhaus. Schließlich und endlich sehen wir hinter dem Altartisch die Säule völlig freigestellt und als transparente Kolonnade auf apsidalem Grundriß hervorgehoben und durch Beleuchtung auch verklärt, ein Schluß- und Zielbild der Architektur als das Ergebnis einer konsequenten, schrittweise formierten Sequenz der Wandgliederung. Sie beinhaltet eine stufenund abschnittsweise Befreiung der Säule von der Mauer, derjenigen Stammform aller Gliederungskünste des Renaissancestiles, der Palladios ganze Liebe galt und deren Geschichte und Wirkungsmöglichkeit er unaufhörlich studierte und ausprobierte." 59 57

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Härmen Thies, Grundrißfiguren Balthasar Neumanns, Zum maßstäblichen geometrischen Rißaufbau der Schönbornkapelle und der Hofkirche in Würzburg. Florenz 1980, 29 ff., Fig.: 6, 7, 8, 9, 10. Rudolf Wittkower, Le chiese di Palladio e l'architettura veneta. In: Barocco Europeo e Barocco Veneziano, Kongreßberichte Florenz 1962, 77 — 87. Erich Hubala, in: Reclams Kunstführer Italien, Venedig. Stadt und Umgebung, Stuttgart (1964), 2 1974, 333.

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Erich Hubala

Wenden wir uns von diesem Raumbild Palladios zurück zur Architektur in Neumanns Würzburger Hofkirche, so ist es nicht mehr schwer, über all das Trennende hinweg und trotz der Unterschiede des Stilcharakters und der Dekoration das Gemeinsame zu erkennen. Es liegt in der Gliederung des Kirchenraumes dort und hier und zwar darin, daß das Bauschema der transparenten Kolonnade unlöslich mit der defilierenden Wandgliederung und mit dem Ganzen der räumlichen Ordnung verbunden ist, sich daraus losringt und befreit schließlich als Zielbild in Venedig und als die beiden Pole des Kirchenraums in Würzburg erscheint. Es ist Neumanns Ruhm, das Bauschema, das seit Palladio als ein isoliertes Kompositionsmotiv vielerlei Dienste hat leisten müssen und darunter eben vornehmlich für den Altarbau, wieder zurückgebracht zu haben in denjenigen Zusammenhang, aus dem es zugunsten der Erzeugung apsidaler Barockaltäre herausgelöst worden war. Nicht nur die sogenannten Neumannaltäre Frankens sind dafür Zeugnis, sondern auch der Kirchenraum in der Würzburger Residenz (Abb. 90).

J A N V A N DER M E U L E N

Die Gestaltung des umschreibenden Kreises Geometrische

Raumkurven in Balthasar Neumanns sakralen

Kuppelräumen*

Wolfgang Schönes Untersuchung „über den Beitrag von Licht und Farbe zur Raumgestaltung im Kirchenbau" veranlaßt daran zu erinnern, daß die Raumform des Innenraumes konstitutive Bedeutung besitzt. Schöne beschreibt dieses Innenräumliche als eine besondere Form des „zwischen den Dingen", ein Raumlichtmedium, in dem nicht nur „die Bestandteile der gebauten Architektur ... miteinander kommunizieren", sondern wo auch der Betrachter — gewiß der Jubilar — mit der Raumempfindung verschmilzt1. Von der optischen Raumerfahrung ausgehend, errang Günther Neumann oft geniale, wenn auch komplizierte Beschreibungen2, die von der jüngeren Forschung nur unzulänglich weitergeführt wurden. Zwei seiner Begriffe blieben bis heute Gemeingut der Analyse: erstens die „Einheit", nämlich die zylindrisch gestelzte (Vierungs)kuppel, die auf vier Stützen selbständig herausgelöst als Baldachin aufzu* Die vorliegende Untersuchung kann sich weder mit den einzelnen Bauwerken, noch mit der ganzen Literatur seit 1947 auseinandersetzen. Die folgende, in den Anmerkungen lediglich mit Autorennamen zitierte Literatur stellt die wichtigsten Standpunkte dar. Hoffmann: Walter J. Hoffmann, „Das Balthasar-Neumann-Kolloquium von 2 . - 4 . 11. 1978 in Würzburg", Kunstchronik 32, 1979, 322—328. Die vorliegenden Thesen wurden am Rande dieses Treffens besprochen, jedoch nicht vorgetragen. Holst: Maren Holst, Studien zu Balthasar Neumanns Wölbformen, Mittenwald 1981. Hotz/Reuther: Joachim Hotz, Katalog der Sammlung Eckert aus dem Nachlaß Balthasar Neumanns im Mainfränkischen Museum Würzburg (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, VIII. Reihe. Quellen und Darstellungen ..., Bd. 3, Plansammlungen zum fränkischen Barock, I. Teil), Würzburg 1965. „Ein Tafelband ist vorgesehen und ähnliche Kataloge über andere Bestände sind geplant" (S. viii). Hotz/Reuther: Hans Reuther, Die Zeichnungen aus dem Nachlaß B. Neumanns. Der Bestand in der Kunstbibliothek Berlin. (Hrsg. von der Kunstbibl. Berlin 82. Veröffentl.) Berlin 1979. Hubala: Erich Hubala, Renaissance und Barock (Epochen der Architektur), Frankfurt/Innsbruck 1968. Neumann: Günther Neumann, Neresheim, München 1947. Reuther: Hans Reuther, Balthasar Neumann. Der Mainfränkische Barockbaumeister, München 1983. Thies: Härmen Thies, Grundrißfiguren Balthasar Neumanns. Zum maßstäblich-geometrischen Rißaufbau der Schönbornkapelle und der Hofkirche in Würzburg, Florenz 1980. 1 Wolfgang Schöne, Über den Beitrag von Licht und Farbe zur Raumgestaltung im Kirchenbau des alten Abendlandes, Berlin 1961, S. 144. 2 Neumann, S. 5. Die 1942 erschienene erste, unvollständige Auflage ist für ein Verständnis Balthasar Neumanns' Entwicklung wertlos, da der dort fehlende erste Teil die zehn wichtigsten Vorläuferbauten behandelt. Günther Neumanns Versuch der Analyse wurde dadurch erschwert, daß er zuerst das krönende Spätwerk Neumanns bearbeitet hat, und erst danach der Vorgeschichte der Einzelelemente nachgegangen ist. Diese Tatsache erklärt die komplizierte Zusammenstellung von einzelnen Raumteilen — wovon die Summe kein vollständiges Bild von Neumanns Grundgedanken zu geben vermag.

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Jan van der Meulen

fassen ist — wodurch ein Grad ihrer symbolischen Ursprünge angesprochen sein mag3. Zweitens, die sogenannte „Bogenarkade", Günther Neumanns freigewählte Bezeichnung für „Arkaden über kurvigem Grundriß". Diese „Bogenarkaden" entstehen im Oeuvre Balthasar Neumanns aus der Genese der erwähnten zylindrisch gestelzten Vierstützen-Kuppel in der Schönbornkapelle am Würzburger Dom. Der „Einheit" — gelegentlich als Rotunde bezeichnet4 — wird jedoch von keinem Autor die gleiche konstitutive Bedeutung beigemessen wie dies Günther Neumann tat5. Vielmehr wird lediglich allgemein auf die „zentrierende" oder „zentralisierende" Wirkung Bezug genommen6; diese Eigenschaft besitzt jedoch

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Die religionsgeschichtliche Bedeutung der hier besprochenen Erscheinungen der nordischen Barockarchitektur soll anhand neuer Erkenntnisse sowohl von der Skene (de Vyver) und dem spätantiken und christlichen Sakralraum (Bandmann, Sedlmayr, Smith und Swift), als auch von dem Nachleben dieser Formen im Bereich der Nachgotik (Hipp) her neu untersucht werden. Jüngst Thies, S. 10 f. Obwohl Hubala 1978 auf dem Würzburger Kolloquium (vgl. Lit.: Hoffmann) die Rotunde als entscheidendes Moment in Neumanns Raumgestaltung hervorzuheben schien, trifft es nicht zu, daß er in seiner einschlägigen Publikation 1968 den Begriff der Rotunde „zur näheren Bestimmung von Neumanns Architektursystem eingeführt" hat (wie Thies, S. 51, Anm. 15). Dort bezieht Hubala nämlich die „Rotunde" auf mehrere Stufen der Allgemeinentwicklung: „In Bayern ist der Ausgangspunkt die gewölbte Rotunde ..." (S. 13), nämlich Viscardis Kuppelrotunde in Mariahilf bei Freystadt, 1701 — 1710 (S. 159). Der Begriff Rotunde wird von Hubala ganz richtig auch auf den geschlossenen Kuppelraum der Asamkirche Weltenburg, 1716 — 18, bezogen (S. 159). Schon angesichts des Pantheon läßt sich dagegen nicht sagen, daß „die Rotunde und das kupplige Gewölbe als ihr wichtigstes anschauliches Kriterium ihrer Natur nach Schalenbauweise sind" (S. 13); so ergibt sich auch schließlich nur durch die Benutzung des Günter Neumannschen Begriffs von der Baldachin-Rotunde als „Einheit", daß Hubala die Rotunde (über Guarini und Böhmen) schließlich mit Balthasar Neumann in Verbindung bringt (S. 13 f.). Dann aber („obwohl sie materiell nur Fragmente sind") lediglich als eines von vielen „alten Bauschemata", das „nur mehr Bildungsstoff" der gesamten Raumgestalt ist. Der Begriff „Einheit", eher als „Rotunde", bestimmt auch Hubalas ausführliche Erläuterung von Neumanns Architektursystem am Beispiel Vierzehnheiligen (S. 166, vgl. Anm. 29) — bezeichnenderweise das einzige Bauwerk, bei dem Neumanns sonst allesbestimmende Vierangstinheit (durch Krohnes eigenmächtige Versetzung des Bauwerks östlich vom Heiligtum) geopfert werden mußte. (Auch bei Hubalas Analyse der Würzburger Residenz — S. 204 — bekommt die „Einheit" Vorrang vor der Rotunde, die wiederum als Schlüsselelement des früheren, böhmischen Beispiels von Nova Paka angesehen wird — vgl. Neumann, S. 22 f.). Das ausführliche Manuskript der von Hermann Usener angeregten, hier veröffentlichten Teiluntersuchungen wurde Erich Hubala 1978 überlassen. Reuther führt die Einheit noch 1983 bewußt an zweiter Stelle an; diese sekundäre, „eigenschöpferische Raumkonzeption" wertet er jedoch nur als „eigenwillige Zentralisierung" (siehe unten Anm. 6). Thies, dessen Beschäftigung mit den Originalgrundrissen einen längst fälligen Aspekt der Forschung bedeutet, meint die von ihm so überzeugend nachgewiesenen, sich durchdringenden Grundrißoval-Konstruktionen bis in den Aufbau verfolgen zu können und die Architektur«'»A«Ve» infolgedessen als „sich verschränkend" zu erkennen — eine Lage, wenn dies bei der gegebenen Konfiguration überhaupt möglich wäre, die die Bedeutung der Einheiten als solche selbstverständlich negieren würde (zur Geometrie, siehe unten). Holst, nach überzeugender Würdigung der Baldachine bei früheren Bauten Neumanns, sieht die „Einheit" gerade auf der vollendetsten Stufe der Entwicklung, in Neresheim, als einen „Fremdkörper". Z. B. Hubala, S. 166: „Zentrierung als Rotunden", S. 13: Im barocken Raumstil geht es „darum im Gewölbe zu zentralisieren". Reuther, S. 44: „die überkuppelte Vierung ... als eigenwillige Zentralisierung des Sakralraumes". Holst, S. 25, 37 und passim „zentralisierende Kuppel"; S. 12 f. „zentralisierende Tendenz"; daß Neumanns Vierungskuppel entscheidend anders gestaltet ist, bewirkt

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jede Pendentifkuppel — so z. B. die von II Gesu in Rom, aber auch die der auvergnatischen Romanik. Beim heutigen Gebrauch der Bezeichnung „Bogenarkade" ist ein gewisses Unbehagen zu spüren. Entweder wird unbestritten Bezug auf Günther Neumanns Terminus genommen7, gelegentlich um ihn wieder durch den der „sphärischen Gurtbögen" zu ersetzen8, oder er wird zu Unrecht als Pleonasmus abgetan9 — zu Unrecht, weil Günther Neumann selbstverständlich das aus der Ebene „Gebogene" der Arkade meinte (und nicht den Bogen des Bogens); d. h. das „Biegen" im Terminus bezieht sich auf das Ausbiegen oder auf die Windung der (sonst ebenen) Arkade. Diese Vorstellung entspricht wohl den geometrischen Gegebenheiten — wir haben es hier mit Raumkurven zu tun (siehe unten). Entscheidend dabei ist, daß Günther Neumann seine Nomenklatur sehr deutlich auf eine bestimmte Architekturform bezieht. Ist sie einmal definiert, so darf trotz ihrer vagen etymologischen Signifikanz jede Arkade über kurvigem Grundriß „Bogenarkade" genannt werden. Einschränkend zu fragen wäre lediglich, ob der Terminus auch auf Gar/bögen über kurvigem Grundriß anzuwenden ist, weil wir damit in einen anderen Bereich der geometrischen Genese der betreffenden Formen geraten. Kategorisch aber ist die von Günther Neumann an der Schönbornkapelle und an Neresheim primär entwickelte „Bogenarkade" keinesfalls als „sphärisch-gekrümmte Gurtbögen" zu bezeichnen10. Die Formen in der Schönbornkapelle sind abolut nicht aus sphärischen Schnitten gewonnen, auch wenn die Form unter anderen Bedingungen als Kugelschnitt entstehen kann. Bis hierher beruht das Gesagte ausschließlich auf Günther Neumanns klarer Bestimmung zweier Grundformen der Bauentwicklung. Um jedoch eine klare

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nur dann, daß er „seine Bauten auf eine neue Weise zentralisiert" (S. 21), wenn die Bedeutung der neuen Kuppelgestaltung begriffen wird. Thies, S. 10 f. und 51, Anm. 15, schließt sich Günther Neumann fraglos an, eher aus der negativen Begründung heraus, daß die übliche Bezeichnung „sphärischer Bogen" unzutreffend sei. Hans Reuther, „Die Pfarrkirche zu Schleid im Fuldaer Land", Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 30, 1976, S. 32, verwendet Günther Neumanns Terminus „Bogenarkade" auf eine undeutliche, aber offenbar andersartige Sachlage. 1983 greift Reuther alsdann auf „sphärische Gurtbögen" zurück {passim) und sieht diese (im Zusammenhang mit der „Durchdringung der Wölbschalen") sogar als integrierenden Bestandteil Neumanns primärer Raumkonzeption (S. 44), um ähnliche Bogenverläufe bei Dientzenhofer „Kurven dritten Grades" zu nennen. Günther Neumann verschwindet nunmehr aus sämtlichen bibliographischen Angaben. Holst, S. 60, Anm. 29, sich weiterhin mit der ebenfalls unzutreffenden Bezeichnung „sphärischer Bogen" behelfend (passim). Schon das Wort „Gurtbogen" ist in Frage zu stellen: Dort, wo die Arkaden als „Gurte" das Gewölbefach auch an den geschlossenen Seitenwänden begrenzen (das Wort stammt an sich aus dem Fachwerkbau), fehlt die dem G»r/bogen anhaftende querteilende Eigenschaft. Auch die in der Vorstellung dem „Gurtbogen" anhaftende Rippenform fehlt bei Balthasar Neumanns dokumentierter Intention, keine Artikulierung der Kuppelgrenze durch profilierte Absetzung des Bogens zu dulden — eine Absicht, die deutlich aus den Zeichnungen gerade von entscheidenden Beispielen, wie u. a. der Würzburger Hofkirche, Etwashausen, Gaibach, Vierzehnheiligen und Neresheim hervorgeht.

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Vorstellung von den weiteren Voraussetzungen der Terminologie zu gewinnen, wird an dieser Stelle angeraten, vorweg die Einführung in die Geometrie der Gewölbeschnitte (Anhang A) sowie in die geschichtliche Entstehung des Pendentifs (Anhang B) zu lesen. Es wird deutlich, daß, trotz allgemeiner Hochachtung des „Mathematischen" bei Balthasar Neumann 11 , die Forschung zu keiner übereinstimmenden Terminologie sich durchgerungen hat — eben weil die geometrischen Voraussetzungen (trotz Günther Neumanns positiven Ansätzen und der durchaus positiven Weiterführung in den Untersuchungen von Härmen Thies und Maren Holst) bis heute noch nicht geklärt sind. (Hier soll vorweg auf Heinrich Gerhard Franz' richtungsgebende Arbeiten hingewiesen werden, die parallel zu denen Günther Neumanns erschienen sind 12 ). Als Schlüsselelement bietet sich das Pendentif an. Vorweg soll aber nochmals an die anfangs angesprochene Generationsfrage bei der sprachlichen Erfassung der Problematik erinnert werden: „aller Merkwürdigkeit und Unbestimmtheit der Formulierungen zum Trotz" lobt Härmen Thies mit Recht Grimschitz' (1929/ 1932) überzeugende Ergebnisse (es handelt sich u. a. um Begriffe wie „stilistische Raumgestaltung", „Raumerscheinung" und „räumliche Grundform", aber auch um „dekorative Ausgestaltung", „Raumform" und „Raumgestaltung", die durchaus als objektive Kriterien angesehen werden dürfen 13 ). Das Eigene an einer Formentwickiung zu bestimmen, meint Thies ferner, heißt „ihren Kern ... begrifflich darstellend zu fassen" 14 . Aus Thies' eigener Auseinandersetzung mit Rizzi geht aber hervor, daß (ohne die dazu notwendigen zugrundeliegenden geometrischen Kriterien) Rizzis Formulierung „Raumdurchdringungen in der Kuppelzone" keineswegs weniger vage ist als Thies' Ersatzbegriff „ .Ineinanderschmiegen' komplementärer und zugleich integraler Raumkompartimente" 15 . Es fehlt der Formulierung mindestens so viel an objektiver Beweiskraft wie Günther Neumanns instruktiven aber ungenauen Erfahrungsmodellen. 11

12

13 14 15

Während das Mathematische bei Holst (vgl. S. 12 und passim) und Thies {passim) inhärent ist, betont auch Hubala gelegentlich Neumanns „durchdringende Mathematik" (S. 14), während Reuther Dientzenhofers „empirische Handwerkstechnik" (S. 40, 257) gegenüber Neumanns vorausgesetzten mathematischen Kenntnissen herausstreicht und Ähnliches bei seiner Zeichenkunst lobt (S. 160). Reuther setzt seinem Buch ein Zitat von Werner Hager voraus: „In Vierzehnheiligen erreicht die mathematische Raumkunst des Barocks ... ihre ... Vollendung. Neumann verwirklicht (die) Raumverwandlung aus errechneter ... Gestalt". Heinrich Gerhard Franz, Die Kirchenbauten des Christof Dientzenhofer, Brünn/München 1942; ders. „Die Klosterkirche Banz und die Kirchen Balthasar Neumanns in ihrem Verhältnis zur böhmischen Barockbaukunst", Zeitschrift für Kunstwissenschaft, Bd. I, Jahrgang 1947, Berlin 1947, S. 54 ff. Obwohl seine „Verbiegungs-Theorie" in bezug auf den böhmischen Barock nicht ohne weiteres angenommen werden darf, gehörten die Begriffe, mit denen gearbeitet wurde, zu den zutreffendsten der frühen Literatur. Weil auch er keine stichhaltige Erklärung der Neumannschen Gewölbe entwickelte, muß auf eingehende Behandlung seiner Thesen verzichtet werden. Thies, S. 8. ibid. id. S. 11.

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Wir wenden uns dem Pendentif zu. Geometrische Voraussetzungen am Bauwerk bestimmen, ob von einem Pendentif, besser einem Hängezwickel, überhaupt die Rede sein kann oder nicht. Dies betrifft nunmehr keine harmlose Frage der reinen Nomenklatur: Bei der falschen Anwendung wird hier nomen zum omen der Forschungslage. Dort wo ein Nicht-Pendentif als „pendentifartige Restfläche" oder als „Pendentifs, die Zylinderflächen darstellen" umschrieben wird, überrascht es nicht, wenn (auf dem Wege über die nicht bemerkte begriffliche Umkehrung bei der Abkürzung auf „Pendentifflächen") die zylindrischen Zwickelflächen von Neresheim und der Schönbornkapelle schließlich als „Pendentifs" von „Pendentifkuppeln" beschrieben werden 16 ; oder wenn versucht wird, zwischen „doppelt gekrümmten" und „einfach gekrümmten" Pendentifs (wieder auf dem Weg über den „zylindrischen Pendentifstreifen") zu unterscheiden, und die aktuelle zweideutige Problematik Neresheims in die widersprüchliche Behauptung mündet: „Die Kuppel ist keine Pendentif- oder Stützkuppel ...", aber „die doppelte Krümmung der Wölbschale setzt schon am Hauptgesims an ,.." 1 7 . Die Mißverständnisse bei der Begriffsbestimmung der „Bogenarkade" im fränkischen Barock haben offenbar das sonst ganz eindeutige Formverständnis für die Pendentifs in Mitleidenschaft gezogen. Die notwendige Präzisierung der Terminologie der „Bogenarkade" verlangt zunächst, die Bauform auf ihre mathematische Grundbezeichnung zurückzuführen: es handelt sich um eine Raumkurve, eine Kurve, die nicht in einer Ebene liegt. Ihre Grundeigenschaften sind ihre Krümmung, d. h. ihre Abweichung vom geradlinigen Verlauf, und ihre Windung, d. h. ihre Abweichung vom ebenen Verlauf. Die geschilderte Unklarheit über die exakten Eigenschaften von räumlich geschwungenen Arkaden auf (Viertel)kreisgrundrissen und die Gestaltung ihrer zylindrischen Zwickelfelder entsteht durch die Primärbeschäftigung der NeumannForschung mit gemeinter „Durchdringung im Gewölbebereich". Aber da die Schnittfläche zweier Rotationsflächen oder -körper eben verläuft, könnte die Durchdringung der Wölbschalen nur in den allerwenigsten Ausnahmefallen „Durchdringungskurven" verursachen, die nach dem Stand der Forschung dann durch „sphärische Gurtbögen" betont sein sollten 18 . Das erste Prinzip ist eindeutig: die geöffneten Arkaden des „Einheits"-Zylinders ergeben Raumkurven; zu Paaren werden sie 16 17 18

Hans Reuther (op. cit. Anm. 8), S. 36, 41, wieder 36; Reuther, S. 209. 44 (vgl. auch S. 222 f.). Holst, S. 15, 21, 61 Anm. 48, und schließlich S. 39. Reuther, S. 44, 209, 222 f. Die wenigen Ausnahmen, die sich bei höheren oder niedrigeren Stichhöhen der anschneidenden Elemente ergeben, sind aus dem Anhang ersichtlich. Holst, das Verhalten der Rotationsflächen kennend (S. 37), lobt Reuthers „stereometrische Analysen", da die Gewölbe „geometrisch exakt definiert" seien, und zwar gerade die von Vierzehnheiligen, deren Wölbform noch 1983 (S. 218) widersprüchlich dargestellt wird. Ihre Behauptung, „Balthasar Neumann gewinnt seinen spährisch gekrümmten Bogen niemals, indem er die intakte Kuppelschale anschneidet" (S. 37), wird durch ihre eigene Beschreibung, als ob es eine Durchdringung der halbkugelförmigen Wölbschale Etwashausens durch die Kreuzarmtonnen gäbe, widerlegt (S. 61, Anm. 48, vgl. auch S. 25).

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dann, wenn zusätzliche „Einheiten" herangeschoben werden. Obwohl sie bis zum Scheitel der raumkurvigen Arkaden zueinander geöffnet sind, sind es nie diese raumhaltigen Architektureinheiten, die miteinander verschränkt sind oder sein können (wie am Grundriß deutlich abzulesen ist)19, dementsprechend auch keine Durchdringung im Gewölbebereich stattfinden kann. Optisch ist die Vorstellung einer Durchdringung sehr verstärkt, wenn eine Flach- statt einer Vollkuppel angebracht wird, ferner auch, wenn an den geschlossenen Seitenwänden der Gewölbefuß tatsächlich auf die Höhe des Hauptgesimses heruntergezogen wird (am leichtesten erkennbar an den Stichkappen der Fensteröffnungen); indessen scheint bei keinem Bauwerk eine systematische Untersuchung unternommen worden zu sein, um zu klären, ob dies vom Zeichner mißverstanden wurde, bei der Bauausführung verschleifend umgeformt ist, oder aber als eine, echte Raumkurven verursachende, Stichhöhen-Differenz bei der Planung intendiert worden war. Nicht einmal in der Schönbornkapelle, wo wir es eindeutig mit sich durchdringenden Grundrißfiguren (Kreis und Ovati) zu tun haben, ergibt sich eine „Durchdringung der Wölbschalen", vielmehr werden die flankierenden Ovatikuppeln — völlig unabhängig von ihrer eigentlichen oder tatsächlichen Wölbform — von dem Zylinderkreis des Arkaden-Tambours angeschnitten (oder „durchdrungen"), über dem die umgreifende Kuppel ruht. Ließen sich diese Probleme mit Hilfe der Stereometrie und der Differentialgeometrie lösen? Die jüngsten widersprüchlichen Aussagen über Neresheim würden eher beweisen, daß die maßtechnische Erfassung der Kirche (die ab 1965 durchgeführt wurde) 20 sich keinesfalls für die bauhistorischen Forschungsarbeiten als unerläßlich gezeigt hat. Im Gegenteil, präzise Kenntnisse der genauen Kurvaturen der Bögen und Gewölbe könnten durchaus der Deutung des historischen Vorgangs, d. h. einem Verständnis von der Genese der Formen sogar abträglich sein. Würde bei der rückblickenden Analyse ein Wissen des Architekten vorausgesetzt, das dieser nicht hatte haben können, so müßte dies bei der Interpretation seiner Absichten deformierend wirken 21 . (Die vollständige Publikation der erhaltenen Zeichnungen wäre vorrangig gewesen; daß sogar dies ausgeblieben ist22, ist nicht die Ursache unserer Forschungs-Misere, sondern symptomatisch für die Wahl der Prioritäten). 19

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21 22

Das System (eingentlich nur ein Zeichensystem) von wechselnd sich durchdringenden Grundrißovalen (Thies, 10 f., vgl. oben Anm. 5) findet keine analog sich verschränkenden Architektureinheiten. Die Einheiten haben ihre Genesis in der Kuppel; sie sind unantastbar. Auch in der Würzburger Hofkirche gibt es keine „positiven" Einheiten von Querovalen (Thies, 12 f.), sondern effektiv nur konkave Ausbuchtungen der Fensterachsen im negativen, raumnegierenden (vgl. unten Anm. 27) Tangentialbereich %wischen den Einheiten. Gerhard Nagel in: Gunter Thiem (Hrsg.), Katalog der Ausstellung Balthasar Neumann in BadenWürttemberg, Stuttgart 1975, S. 135. Vgl. Holst, S. 12 und 35 f. Auch Oldfich Radas soll geometrisch exakte Analysen von Gewölben des böhmischen Barocks nach eigenen Aufmaßen unternommen haben, vgl. Holst, S. 11 und 66. Vgl. Holst, S. 12. Trotz des Katalogs Hotz.

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Schon 1736, zeitlich mitten in Balthasar Neumanns praktischem Wirken, publizierte Leonard Euler in seiner „Mechanica" entscheidende Einsichten zum Verhalten von Kurven und Flächen 23 . Jedoch deutet nichts darauf hin, daß diese Präzisierung der Geometrie zu einer genaueren Vorstellung von Raumkurven bei den Architekten geführt hätte. Auch die bauliche Ausführung kann davon nicht berührt worden sein: Noch in der Folgezeit bestehen nämlich Widersprüche zwischen den verschiedenen zeichnerischen Projektionen einerseits und (erst recht) zwischen diesen und den schließlich ausgeführten (und sogar den heute dem fertigen Bau nachgezeichneten) Formen andererseits 24 . Freilich trat schon 1687, im Geburtsjahr Balthasar Neumanns, der Mathematiker Jakob Bernoulli seine Lehrtätigkeit in Basel an, aus der die Arbeiten Eulers hervorgehen sollten. Jedoch obwohl der Beginn einer systematischen Erforschung der Differentialgeometrie sogar drei Jahre früher mit Leibniz'ens „Nova Methodus ..." in den Acta Eruditorum angesetzt wird, wurde der sog. Eulersche Satz über die Krümmung von Flächen erst 1760, also sieben Jahre nach Neumanns Tod, entdeckt, und es dauerte bis um die Jahrhundertwende, bis die früheste Veröffentlichung über Raumkurven und das erste Lehrbuch der Differentialgeometrie von Gaspard Monge, dem Begründer der darstellenden Geometrie, erschien. (Daß Neumann allerdings schon vorher Zugang zur neuen Geometrie gehabt haben dürfte, geht überraschenderweise aus seiner militärischen Tätigkeit hervor; seit 1712 bei der Artillerie, 1719 Hauptmann und 1729 Obristleutnant. Die Nutzanwendung im militärischen Bereich beschäftigte auch die Mathematiker des 18. Jahrhunderts. Von Anfang an (Bernouilli) betrifft die Fragestellung auf diesem Gebiet Trajektorien und Ballistik; so verfaßte Euler 1745 seine „Grundsätze der Artillerie", und auch Monge war zunächst Professor an der Kriegsschule Mezieres (1768), achtundzwanzig Jahre, bevor er an der Begründung der Ecole polytechnique beteiligt war. Die zukünftige Forschung wird diese praktischen Bezüge der reinen Wissenschaft möglicherweise berücksichtigen müssen.) Es ist lediglich die zeichnerische Darstellungsweise der Zeit Neumanns, die diagrammatisch nachvollzogen werden darf (siehe Anhang A), wenn man die damalige Problematik der Raumkurven verstehen will. Die differentialgeometrische Genauigkeit, die heute von der Denkmalpflege und den Statikern vorausgesetzt wird, soll uns nicht von den einfachen planimetrischen Rissen Neumanns ablenken 25 . Dabei muß an erster Stelle bedacht werden, daß den Präsentationszeichnun23 24 25

Vgl. D. J. Struik, „Outline of a History of Differential Geometry", Isis, S. 19 und 20 (1933). Als Beispiel dient um 1745 Etwashausen, der Fall jüngst von Holst, S. 25 und Anm. 48, dargestellt. Günther Neumanns Schlußfolgerungen versagen überhaupt nicht vom Standpunkt der darstellenden Geometrie (wie Holst, S. 10, ihn bezichtigt — daß er die „sphärischen Gurte" falsch projiziert, spielt überhaupt keine Rolle, vgl. unten und Anm. 27), sondern lediglich und gelegentlich dort, wo er sich ohne Nachvollzug der Orthogonal-Verhältnisse auf sprachliche Darstellung des erfahrenen Raumes verläßt. Gerade durch das Fehlen an planimetrischer Systematik scheitert Holsts ansonsten bahnbrechender Versuch, mathematisch-technisch vorzugehen (vgl. Anm. 24 auf S. 60). Ihre gläsernen Isometrien entsprechen auf zeichnische Weise Günther Neumanns Fehler, von der dreidimensionalen Raumerfahrung ausgehen zu wollen. Ihre vielen ganz und gar richtigen Beobachtungen gehen

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gen, die ihrer Schönheit wegen bewahrt wurden und auf uns gekommen sind, dreidimensionale Gestaltung durch Schattierungen und gelegentliche Perspektivzeichnung nur beigegeben wurde, um dem Auftraggeber und seinem Kreis die Raumvorstellung zu erleichtern, während die echten Ausführungsunterlagen nicht erhalten sind. Ob Neumann Raumkurven richtig zu projizieren wußte, ist bis zur Faksimileausgabe der Zeichnungen in Frage zu stellen. An einem entscheidenden und gut dokumentierten Beispiel, der Schönbornkapelle 26 , kann schon heute nachgewiesen werden, daß Lucas von Hildebrandt den Bogenverlauf vom Grundriß auf den Schnitt jedenfalls nicht richtig zu übertragen wußte 27 . Die beiden differentialgeometrischen Eigenschaften der Raumkurve (Krümmung und Windung) lassen sich bei zylindrischen Figuren an sich in sehr simpler Weise auf Orthogonalflächen (d. h. Flächen, die sich senkrecht schneiden) ohne irgendwelche differentialgeometrischen Kenntnisse projizieren. Bei der Planung heißt es, Grundriß, Querschnitt und Längsschnitt aufeinander abzustimmen, bei der Ausführung entsprechend, das Leergerüst der Krümmung nach dem Schnitt und eine waagerechte Schablone der Windung nach dem Grundriß herzustellen und schließlich danach den Bogenverlauf auszuloten 28 . Raumkurven treten an sich bei jeder Bogenöffnung in Mauern auf Kreisgrundriß auf und sind als solche seit der Antike geläufig. Auffälliger, und für die Vorstellung einfacher, sind die Probleme bei den freistehenden kreisrunden Arkaden von Zentralbauten wie Santa Costanza (4. Jh.), oder bei den Viertelkreis-Exedren des 5. Jahrhunderts in Ravenna oder Konstantinopel, bei deren Vielstützigkeit allerdings nie eine Windung von mehr als 30° des Kreises überbrückt zu werden brauchte. Bei achtachsigen Grab- oder Taufgebäuden beträgt die Windung schon 40° —45°, wie in der Fuldaer „Michaelskapelle" des 9. Jahrhunderts (Abb. 91), oder in Apsisarkaden überhaupt.

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manchem Leser — der fehlenden Systematik wegen — gewiß verloren; manches, wie oben gezeigt, wird durch die entstehenden inneren Widersprüche entwertet. Als Holst dann beim Fortschreiten des Textes sporadisch die planimetrische Projektion anwendet, ist das Richtige an ihrer Arbeit schon so sehr von den vorausgehenden grob gezeichneten, ungenau verständlichen (und unvollständigen) isometrischen Diagrammen verunklärt, daß ihr Beitrag ebensosehr beeinträchtigt wird wie Günther Neumanns durch seine sprachlichen Darstellungen des räumlichen Anblicks. Vgl. Thies, S. 1 9 - 2 3 . Wie auch Holst, S. 15 f., vermutet und richtig erklärt. Allerdings ließen sich ihre Überlegungen zur Ursache wahrscheinlich revidieren. Hierin widerspiegelt sich auch das Richtige an Heinrich Gerhard Franz' Auffassung von dem „geradlinig entwickelten Baukörper", weil „Neumann seinen Bauten immer wieder einfache geradlinige Projekte zugrunde gelegt hat" (siehe oben Anm. 12, vgl. Holst, S. 10). Die dreimal notwendig planimetrische Erfassung der Formen (erstens bei ihrer Entstehung im Grundriß, Quer- und Längsschnitt, zweitens bei der beschreibenden Analyse derselben Pläne), beeinträchtigt keinesfalls stupende Leistungen im Bereich der reinen, monumentalen und sinnvollen Raumgestaltung (nach Hubala, S. 14) — weder bei ihrer Erschaffung noch in ihrer Erfahrung. Daß dies mißverstanden worden ist, erklärt hoffentlich die Virulenz, mit der Franz gelegentlich abgelehnt wird. Das Irrationale dieser damnatio memoriae schimmert auch bei Thies durch, Anm. 24 auf S. 51 f.

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Die Gestaltung des raumkurvigen Bogens als solche war Balthasar Neumanns Anliegen nie gewesen. Gewiß nur durch die populäre Faszination der fehlerhaft entstandenen Vierung von Vierzehnheiligen gewann dieses Element bei der Forschung selbständige Bedeutung29. Die „Bogenarkade" war lediglich ein Nebenprodukt bei Balthasar Neumanns Verwirklichung des umschreibenden Kreises der Hängekuppel. Anstelle der geradlinig abgegrenzten Kleinkuppeln des additiven Raumgefüges des körperhaften Renaissance-Kirchenbaus, wird eine raumumgreifende Vollkuppel gesetzt, die sich, der inhärenten Vierstützigkeit der Vierung fügend, den Anräumen in voller Höhe und Breite als Baldachin öffnet; ihr Raum — mit Wolfgang Schöne zu sprechen: ihre „Innenräumlichkeit ... zwischen den Dingen" — dehnt sich vereinheitlichend in den Bereich der Anräume 30 . Schon bei der Umgestaltung von Maximilian von Welschs Entwurf für die Schönbornkapelle ist diese „Einheit" hergestellt; sie bestimmt auch jegliche Stufe der anschließenden Entwicklung bis Neresheim und muß jedem Versuch der Analyse zugrunde gelegt werden 31 . So wesentlich ist ihre Selbständigkeit, daß es dabei fast nebensächlich ist, ob der Baldachin auf Freisäulen vor oder auf den Vierungsecken selbst gestaltet wird. Im Gegensatz zur Geometrie der Pendentifkuppel wird schon in dem Entwurf zur Schönbornkapelle von 1721 der umschreibende Kreis auf einem zylindrischen Tambour getragen, der zwischen den vier Ecken der Vierungsstützen bis an den oberen Rand ausgeschnitten wird; die sich ergebenden Raumkurven der Arkade sind nicht formende Bestandteile des Zylindermantels, 29

30

31

Vierzehnheiligen ist die einzige Kirche, bei der Neumanns sonst allesbestimmende Vkrungse.inheit (durch Krohnes eigenmächtige Versetzung der Vierung östlich vom Heiligtum) geopfert werden mußte. An der Stelle des Vierungsbaldachins gewinnt stattdessen das raumkurvige Bogenpaar ein dominierendes Eigenleben, eine physische (nach Thies, S. 12, richtig „raumnegierende") Präsenz, die diesem Motiv sonst nirgends bei der Neumannschen Raumgestaltung zukommt. Es gibt jedoch eine bedauerliche Tradition, ausgerechnet Vierzehnheiligen als typisches Beispiel Neumanns anzuführen und im Grundriß abzubilden. Statistisch führen Abbildungen vom Innenraum, die den Vierungsbogen betonen. Der dem Kult und seiner architektonischen Gestaltung wesentliche Hauptraum am Gnadenaltar (versehentlich ins Langhaus verlagert), wird nur in den seltensten Fällen als Gesamtraum abgebildet; die Baldachineinheit kommt nicht zur Geltung. Weiter zu Anm. 3 wäre nachzugehen, ob nicht diese letzte abendländische Steigerung des Religiösen mit den Mitteln des Irdischen, wie dies gelegentlich Bernini und den Gebrüdern Asam gelang, doch an der früheren anthropologischen Situation der christianisierten Spätantike Anschluß sucht oder findet, ob nicht der umgreifende mythische Raum der Kuppelsphäre den endlichen, diesseitigen Raum der Anräume symbolisch miteinbezieht. Dies würde aber höchstens aus dem Schrifttum seiner kirchlichen Auftraggeber hervorgehen — wenn nicht die kurfürstliche Kirche bereits vom zerstörerischen Welt- und Raumbegriff Kopernikus' verleitet worden und so nicht mehr in der Lage war, im liturgischen Instrument Neresheim etwas mehr als ein Kunstwerk zu erkennen. Der Stand der Planung um 1720 unter von Welsch ist der Bollschen Rekonstruktion des Grundrisses und dem dazugehörigen Längsschnitt S. E. 26 zu entnehmen, vgl. W. Boll, Die Schönbornkapelle am Würzburger Dom, München 1925, S. 66, 7, T. 17. Unter Übernahme der zugrundeliegenden Raumanordnung und des Fassadenaufbaus gestaltete Neumann 1721 den Innenraum neu: S. E. 40, siehe Thies, Abb. 14; Holst, Abb. 3. Gegenüber der älteren Meinung, daß Joh. Dientzenhofers Entwürfe für Holzkirchen als Vorbild angesehen werden dürften, hat Neumann (S. 9) eindeutig bewiesen, daß Dientzenhofers Pläne später entstanden sind. Dies wird heute allgemein akzeptiert. Vgl. Thies und Holst.

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sondern resultierende Restflächen des Tambourbereichs; als solche sind die architektonischen Elemente als Tambourarkade aufzufassen und zu bezeichnen. „Tambour" bindet sie ebenfalls an ihre Genese in der getragenen Kuppel; „Zylinder"arkade etwa wäre zu abstrakt auf den Ausschnitt des Zylindermantels bezogen. Es liegt nur an seiner äußerst verwickelten, durchaus additiv die Elemente aufzählenden Beschreibung, daß Günther Neumanns bahnrechende Analyse nicht bis zur geometrischen Genese der Kuppel selbst vordrang. Stattdessen sah er bei Balthasar Neumanns Änderung von Welschens Entwurf als entscheidend an, daß „eine gradlinige Verbindung rechtwinkliger Räume durch eine kurvige Verbindung kurviger Räume ersetzt" sei32. Damit trat gleich anfangs die „Bogenarkade" in Konkurrenz zu seinem sonst so fruchtbaren Begriff der „Einheit"; sie gewann Anwendung auf jeder Arkade über kurvigem Grundriß. Es muß nochmals verdeutlicht werden: das Ziel, die Vereinheitlichung des Raumes durch Ubergreifen der zentralen Kuppel in die Anräume, bewegte Balthasar Neumann dazu, den traditionellen, umschreibenden Konstruktionskreis der Pendentifkuppel als Kuppelfuß zu gestalten. Die Kuppel trieb dadurch die Wände auf einen Kreisgrundriß, und es war nicht so, wie Günther Neumann es schilderte, daß auf einen Zylindermantel eine Kuppel aufgesetzt wurde. Es ist bisher nicht gelungen, den ersten Entwurf für die Schönbornkapelle von einem früheren Bau abzuleiten33. Wenn der geniale, raumschöpfende Gedanke Neumanns erkannt wird, ist keine andere Voraussetzung als Maximilian von Welschs traditionelles Raumgefüge nötig. Als wichtigste Voraussetzung für die zur Ausführung gelangende Variante mit Freisäulenpaaren (S. E. 27) will Günther Neumann Guarinis Entwurf für S. Filippo Neri in Casale ansehen. Wieder beruht die Gemeinsamkeit jedoch nur auf der Erscheinung einiger Einzelelemente, während ihre Verwendung so grundverschieden ist, daß der Vergleich der beiden Systeme vielmehr dazu dient, die Eigenart und Unabhängigkeit der Schönbornkapelle zu betonen34.

32 33

34

Neumann, S. 7. Holst führt die Untersuchungen konstruktiv weiter; eine Auseinandersetzung ist hier nicht mehr möglich. Die folgenden Gedanken entsprechen also nicht dem Stand der Forschung. Da die bisherige Forschung einstimmig S. E. 40 als die früheste Zeichnung aus der Entwurfsreihe der Schönbornkapelle ansah, setzte Günter Neumann mit seiner historischen Ableitung der Schönbornkapelle hier an. Zu der Capella Lancelotti an S. Giovanni in Laterano (Giov. Ant. de Rossi, nach 1650?) meinte Günther Neumann, daß sie „abgesehen von der 4-teiligen Kuppel in allen Elementen des beschriebenen Systems mit S. E. 40 übereinstimmt". Das ist aber keineswegs der Fall. Die Capella Lancelotti hat eine Art Hängekuppel, d. h. die Kuppel selber ist von Arkaden geöffnet, während sie bei Balthasar Neumann unverletzt über die Arkaden gestelzt wird. Die Capella Lancelotti geht von einem überwölbten Rundbau aus, worin ein Gefüge von säulengetragenen Rippen hineingestellt ist; Balthasar Neumann geht von der quadratischen Säulenstellung aus. Sein Bau trägt die Vorstellung der Zweischaligkeit in sich, der italienische ist zweischichtig. Neumann, S. 10: „Gemeinsam sind die von Paarsäulen getragenen zylindrischen Zwickel des Hauptraumes und die an die Bogenarkaden angeschobenen überwölbten Zylinder der Conchen". In S. Filippo Neri ist die Beschreibung unanfechtbar, da der guarinische Entwurf offensichtlich von

Die Gestaltung des umschreibenden Kreises

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Es kann zugegeben werden, daß Bogenstellungen auf gekurvten Grundrissen in Italien schon länger bekannt waren; auch waren schon die Arkaden über Ovalgrundriß im vorangehenden deutschen Barock (u. a. Peterskirche, Wien) krummlaufend, und geschwungene Gurte erschienen in den Tonnengewölben des böhmischen Barock. Aber kein Gebäude als solches diente zum unmittelbaren Vorbild für Balthasar Neumanns pendentiflose umgreifende Vierstüt^enkuppel — jenes Baldachinelement, dessen Ausbruch aus den Grenzen seines Stützensystems die Ummantelung durch eine äußere Schale benötigte35. Dies ließe sich in seiner weiteren Entwicklung beweisen. Unter Anerkennung der formprägenden Grundgedanken der Schönbornkapelle lassen sich alle folgenden Kirchenbauten Neumanns, den jeweiligen lokal-geschichtlichen Gegebenheiten entsprechend, sinnvoll erklären und einordnen (Abb. 92).

Anhang A: Kugel- und Zylinderschnitte

des

Kuppelbaus

Vorläufige Einführung. Folgendes will keine vollständige Anleitung im Sinne eines Handbuchs darstellen, sondern lediglich als Anregung zur Diskussion wirken. Idealerweise sollte die reine Geometrie zuerst vorgestellt, technische Gesichtspunkte der gebauten Gewölbe im zweiten Anlauf behandelt werden. Aus Platzmangel komprimiert, wurde hier stattdessen das gebaute Gewölbe jeweils weitmöglichst nach seiner theoretischen Geometrie beschrieben. Auch die gewählten Kategorien streben keine entwicklungsgeschichtliche Progression an, sondern sind teilweise von der Neumann-Problematik vorbestimmt. Die Linienführung der Raumkurven (und der parabolischen Schrägansichten) ist nach freiem Ermessen gezeichnet worden und erstrebt nicht differentialgeometrische Genauigkeit; dagegen entsprechen die Festpunkte (Kämpfer-Ansätze, Stichhöhen usw.) den betreffenden geometrischen Voraussetzungen.

35

einem runden Hauptraum ausgeht, welcher in der Tat als eine zylindrische Stellung von Arkaden konzipiert ist. Jedoch darüber befindet sich dann eine von Pendentifs getragene kleinere Kuppel, die wegen dem dazwischenliegenden traditionellen Pendentifquadrat völlig unabhängig von dem kreisrunden Grundriß der Arkadenstellung ist und durchweg im Widerspruch dazu steht. Bei dem Guarinischen Grundriß handelt es sich — wie für ihn überhaupt charakteristisch ist — um ein gewölbtes Spiel mit den geometrischen Formen; demgegenüber entstehen die geometrischen Formen bei Neumann aus einem raumvereinheitlichenden Zentralgedanken. Bei dem einen ist symbolische (?) Geometrie als Ziel zu verstehen, bei dem anderen ist die Geometrie nur ein Kunst-Mittel. Am nächsten steht merkwürdigerweise ein französischer Bau von 1548, die Schloßkapelle von Anet — auch die gleichzeitige Kapelle von Villers-Cotterets. (Siehe E. W. Grashoffs sehr wichtige Ausführungen in Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, Bd. 7, 1940, S. 123 ff.). Entgegen den Argumenten von Grashoff muß nur darauf hingewiesen werden, daß in beiden Bauten die Arkadentambourzone höher als der Arkadenbogen selber ist (im Falle Villers-Cotterets ist eine selbständig gestaltete Tambourzone an der Außenansicht zu sehen), d. h. eine regelrechte Wandzone darstellt, welche zusammen mit den beträchtlichen und schwer detaillierten Wandstützen doch den Eindruck von einem massiv überwölbten Zylinder gibt. Obwohl es vielleicht näher zu der Schönbornkapelle steht als jedes andere Einzelbeispiel, bleibt das System der Kapelle von Anet doch in der Kategorie der Peterskirche in Wien. Um es auf ein Stichwort zu bringen: Arkadentambour — primär ist der gemauerte Zylinder — gegenüber Tambourarkade — primär ist das der Kuppel dienende Stützensystem. Zu diesem Aufsatz ist es wiederum notwendig darauf hinzuweisen, daß die „sphärischen Bögen" bei den Dientzenhofers kaum mit dem Anet-Schönbornkapellen-Gedanken verwandt sind.

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I Grundform: Halbkugel-Kuppel auf zylinderförmigem Unterbau

Ausgangspunkt bildet die vollständige Halbkugel, die in vollem Umfang auf einem Zylinder ruht. Der zugrundeliegende einfache Kreis des Grundrisses darf als ein allgemeines Grundsymbol kosmischer und sakraler Vorstellungen angesprochen werden. In gebauter Form wird eine Vollkuppel von einer geschlossenen Ringmauer (Tambour) getragen, deren Masse dem Lateralschub gewachsen ist. Beispiel: Das Pantheon in Rom.

II Kuppelgebilde mit geraden Anschnitten A. Hängekuppel (Stützkuppel): umschreibende Halbkugel auf vier quadratisch angeordneten Stützen zugeschnitten (gestützt). Die Halbkugel wird durch vier Sekanten auf einem Grundrißquadrat senkrecht angeschnitten (oder vielmehr in der Vorstellung: ,,zurück"geschnitten). Die Schnittflächen bilden im Aufriß jeweils einen Halbkreis, der im Bau als Kreis- oder „Rund"-Bogen aufgemauert wird. Diese vier Sekanten-Bögen teilen sich beidseitig jeweils gemeinsame Fußpunkte, die auf der Kreis-Peripherie liegen und so in gebauter Gestaltung die Auflager-Stützen oder Säulen gestaltet, sind diese Stützen als das ResidualTambour aufzufassen. Paarweise bilden sie gemeinsam mit ihrem zugehörigen Bogen eine Bogenstellung. Der Peripherie-Kreis der (im Gedanken zu vervollständigen) Halbkugel umschreibt das Quadrat, das von den Bogenstellungen gebildet wird. Der Kugeldurchmesser ist dabei gleich dem Diagonalmaß des Stützenquadrats. Dies bewirkt, daß auf die Diagonalachsen des Raumes die Kuppel in ihrer Höhendimension in vollem Umfang erhalten und im Raumerlebnis wirksam ist. Die Kreislinie, auf der diese Halbkugel fußen soll, bleibt jedoch nirgends erhalten, die Stützung bleibt vielmehr auf die vier Punkte beschränkt, so daß die den quadratischen Binnenraum umgreifende Kuppel auf den Diagonalachsen fast wie schwebend herüber zu„hängen" scheint. Daher ihre sinnvolle Bezeichnung „Hängekuppel" (welche der Beschreibung des ersten Kuppelgewölbes der Hagia Sophia durch Prokopius sehr wohl entspricht — vgl. Anhang B). „Pendentif" wird jedoch ausschließlich auf die Restzwickel dieser Grundform bei der sog. „Pendentif'-Kuppel angewandt (siehe Folgendes). Die Hängekuppel bedarf keines vermittelnden Gebildes zwischen den vier senkrechten Stützen und der auf den Diagonalachsen vollkommenen Kuppel-Halbkugel. Zu bemerken ist allerdings, daß, obwohl massive Stützen-Widerlager

Die Gestaltung des umschreibenden Kreises

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an diesen Diagonalachsen leicht angebracht werden können, um den Gewölbeschub aufzufangen, die Flachkalotte auf der Orthogonalachse einen technisch höchst bedenklichen Seitenschub auf den sie tragenden Bogenscheitel verursacht.

Eine Variante der oben unter II A i. besprochenen umschreibenden Hängekuppel entsteht, wenn die Sekanten etwas weiter von dem Mittelpunkt gelegt werden. Die Sekantenbögen verbinden sich nicht mehr zu einem eingeschriebenen Quadrat, sie bilden lediglich getrennte Bogenstellungen zwischen konkaven Restflächen der Ringmauer. Die entsprechenden kurzen Bogenstrecken gelten aber ebenfalls

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Jan van der Meulen

am Kuppelfuß. Über diese Strecken ist die Halbkugel in vollem Umfang erhalten, sodaß das Umgreifen der Hängekuppel optisch wirksamer ist — eine Wirkung, die durch die erhaltenen zylindrischen Mauerfelder gesteigert wird.

B. Halbkugel-Kuppel

von Rotationsgebilden

angeschnitten

i. Tonnen- und Halbkugelanschnitte.

Sowohl Halbkugel wie Halbkreistonnen sind Rotationsgebilde. D. h. ihre Projektion in der dritten Dimension entspricht der Rotation von einer Planhälfte um die Mittelachse; der Längsschnitt entspricht genau dem halben Grundriß. Beide Gebilde haben daher immer einen Halbkreis als Querschnitt. Folglich verlaufen alle axialen Anschnitte zwischen diesen Gebilden immer gerade und im rechten Winkel zu der Achse und ergeben somit orthogonal verlaufende, gerade Halbkreis-Gurtbögen. Dieses Prinzip gilt ungeachtet der Spannweite der anschneidenden Tonnengewölbe und gilt selbstverständlich ebenfalls für anschneidende Halbkugel-Kuppeln jeglichen Durchmessers. Diese Verhältnisse betreffen nicht das Stützensystem, das beliebig nach Zahl und Größe der Anräume ausfallt, so z. B. als Wandpfeiler einer Folge verschiedentlich gestalteter Langhausjoche. Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die angeschnittene Kuppel jeweils eine Hängekuppel darstellt (vgl. oben, II. A i.) — und zwar eine, die durch anliegende Gewölbe statisch gesichert ist. (Es zwingt sich dementsprechend der Vergleich mit dem ursprünglichen System der Hagia Sophia auf, bei dem auch Tonnen als (ungenügende) Streben an den Querachsen außen angebracht wurden.) ii. Durchdringung von regelmäßigen Ovaten. Auch jede regelmäßige Ovato-Kuppel, die im Halbkreis gewölbt ist, stellt ein Rotationsgebilde dar. Axial ineinanderschneidende Ovati ergeben daher ebenfalls orthogonal verlaufende, gerade Schnittflächen. (Die Strichlierung zeigt, daß die Ovati an der Durchdringungslinie doch Teilkreise, bzw. Teilkuppeln sind.)

Die Gestaltung des umschreibenden Kreises

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C. Inkreis-Kuppeln auf vier Stützen i. Hängezwickel- oder „Pendentif-Kuppel" (Gekappte oder gestutzte Hängekuppel mit aufgesetzter Inkreis-Kuppel).

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Das Stützensystem der oben besprochenen Hängekuppel (Bogenstellungen auf Quadratgrundriß) bleibt unangetastet. Wird nun die Kuppel-Kalotte in Höhe des Bogenscheitels waagerecht gekappt, bleiben von der ursprünglichen Halbkugel lediglich vier Kugelzwickel (nicht „sphärische Dreiecke") übrig; am Bauwerk sind dies die „Pendentifs". Der Horizontalschnitt erscheint im Grundriß als ein Kreis, der in dem Stützenquadrat eingeschrieben ist. Da sich die zusammenhängenden Kugelzwickel im Bereich der unteren Bogenschenkel befinden, bewahren sie die inhärente Stabilität der ursprünglichen Halbkugel: während sie oben in einen unverformbaren Ring geschlossen sind, wirk faktisch kein Seitenschub mehr auf den sie tragenden Sekanten-Bogenscheitel ausgeübt, während in Diagonalrichtung, wo Seitenschübe leicht aufzufangen sind, die Lasten steil nach unten geführt werden. Dies erlaubt es, auf der Schnittfläche der entfernten Flachkalotte eine vollständige Halbkugel-Kuppel zu setzen — vgl. Anhang B. Während der Grundrißkreis der ursprünglichen Halbkugel seine Stützen umschrieb, ist der Kuppelgrundriß (die Haupt-Raumdecke!) nunmehr eingeengt in das Stützenquadrat eingeschrieben; der Durchmesser der Kuppel entspricht lediglich der Seitenlänge, nicht mehr dem vollen Diagonalmaß des Stützenquadrats; die Kuppelhöhe gleicht lediglich der der tragenden Arkaden. Entscheidend ist ferner, daß sich dabei ein vermittelndes Gebilde zwischen Stützenquadrat und Kuppelzone ergibt. Diese Eigenschaft, aber nur diese, teilt das Pendentif mit der Trompe, der primitiveren Ecklösung der InkreisKuppel. ii. Eine primitivere Form der Überführung vom Stützenquadrat zur eingeschriebenen Kuppel bot die Trompe. Jedoch da sie den Kugelschnitt nicht betrifft, wird sie unten, Anhang B, behandelt.

III Kuppelgebilde und Tonnen mit krumm verlaufenden Anschnitten A. Vollkuppel auf Tambourarkade (Günter Neumanns „Bogenarkade"). i. Vier Stützen umschreibende Kuppel auf zylindrischer Stelzzone.

Die erzielte vollständige Halbkugel wird über der quadratischen Stützenstellung mittels vier Bögen getragen, die — im Aufriß normale Rundbögen — im Grundriß im vollen Viertelkreis ausschwingen und so eine Tambourzone der Kuppel bilden. Die resultierende Krümmung in der dritten Dimension

Die Gestaltung des umschreibenden Kreises

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darf nicht als „spährisch" verlaufend bezeichnet werden; sie geschieht in der senkrechten Fläche und ergibt sich keinesfalls aus dem Kugelschnitt. Die Zwickelfelder sind senkrecht, liegen aber in der gleichen Fläche wie der Ansatz der Kuppel, mit dieser eine Einheit bildend. Also, obwohl die Halbkugel durch eine vermittelnde Zone über die vier Stützen gehoben wird, geschieht dies nicht wie bei den engeren Inkreis-Kuppeln durch fragmentierte Fremdkörper wie Pendentif oder Trompe. Als Einheit umgreift das Großkuppel-Gebilde nunmehr das Stützquadrat, der Kuppel-Durchmesser gleicht dem Diagonalmaß der Säulenstellung. Der statischen Bedingungen wegen ist dies aber kein selbständiges Gebilde im Sinne eines freistehenden Baldachins. Vielmehr läßt sich die geometrische Form baulich nur realisieren, wenn an den raumüberspannenden Orthogonalachsen passend gestaltete Widerlager angebracht werden — was manche spiegelbildliche Führung krummverlaufender Gurtpaare des fränkischen Barocks erklärt. (Das Prinzip der Tambourarkade mit ihrer gekrümmten Bogenstellung wurde schon in den römischen Exedren, spätantiken Zentralbauten und franko-gallischen Apsidenarkaden angewandt, allerdings (der Vielheit der Stützen wegen) nur über Kreisteilen von höchstens 60° und vergleichsweise geringer Spannweite.) ii. Tambour von einer Tonne angeschnitten.

(DIAGONALSCMNITT

Wird ein Tambourzylinder von einem Halbkreis-Tonnengewölbe angeschnitten, so greift die Tonne in Kämpferhöhe (Tonnen-Fuß) weit um die Tambour-Krümmung herum. Der Schnittpunkt (der Mündungs-Sekante) ergibt sich aus der Grundrißbreite der Tonne. Dagegen liegt der Tonnenscheitel, da vom Längsschnitt bedingt, an dem Tangentenpunkt des Berührungsradius, d. h. an der Tambourperipherie. Der Gurt verläuft deswegen nicht als Sehne auf der Sekante, sondern krümmt sich „zurück" zum Scheitel hin, hoch an der Peripherie entlang. Sein Verlauf entspricht somit genau dem des Bogens einer vier-stützigen Tambourarkade. Ist die Tonne jedoch segmentförmig oder korbbögig im Querschnitt, so wird der Grad der Krümmung gesteigert. Ein wichtiges Korrelat ergibt sich hieraus: entsprechend dem obigen, lassen sich Gurte auf Viertelkreis-Grundriß beliebig auf der Innenfläche eines Tonnengewölbes „aufzeichnen", anbringen; diese lassen sich nun paarweise, oder z. B. zusammen mit einer echten Kuppel-Anschnittskante, zu spiegelbildlich tangierenden Krummgurten gestalten, ohne daß diese aus den technischen Bedingungen des Gewölbes hervorgerufen werden. Keiner dieser Formen, die wohl bei den Dientzenhofers vorkommen, sind als „sphärisch" zu bezeichnen.

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B. Zentripetal verlaufende Anschnitte (sphärisch gekrümmte Gurte), i. Anschnitt von gestelzten Halbtonnen.

IBi

GRUNDR.I5S

Weil die Höhe der Tonne in diesem Fall mehr als die Hälfte ihrer Breite ist, liegt der Anschnittspunkt ihres Scheitels nicht auf der Sekante ihres Fußes. Nach wie vor ergibt sich der Sekanten-Anschnitt ihres Fußes aus dem Grundriß, während der Schnittpunkt des Scheitels vom Längsschnitt bestimmt wird. Weil „höher" im Kuppelschnitt sich als „näher" zum Mittelpunkt (Kuppelscheitel!) auf dem Grundriß auswirkt, greift die Anschnittslinie der Tonne über den Kuppelraum hinein. Die Gurte (sei der Anschnitt als solcher gestaltet) schlängeln sich über dem Kuppelraum empor, von dessen Halbkugelform nunmehr zur sphärischen Linienführung bedingt. Bei Stelztonnen, die niedriger als die Kuppelstichhöhe sind, ergeben sich lediglich Stichkappen in der Kuppel (linkes Diagramm). Bei gleichen Höhen treffen sich entgegengelegene, gekrümmte Bögen zum tangierenden sphärischen Gurtbogenpaar, dabei die Kuppel auf der Längsachse in zwei Reststücke verzehrend, die sinngemäß als Hängekuppel-Zwickel anzusprechen sind (rechtes Diagramm).

ii. Durchdringen von Segment-, Rund- und Parabelgewölben. Obwohl Ovati-Grundrisse durchaus im Halbkreis-Querschnitt gewölbt und somit regelmäßige Rotationsgebilde sein können (vgl. oben II C ii), gibt es gleichwohl Gewölbequerschnitte im Kegelschnitt. Entsprechend den oben besprochenen geometrischen Prinzipien ergeben sich dabei zentripetal verlaufende Anschnitte überall dort, wo die Kuppel flachere Proportionen hat als das anschneidende Gebilde (das selber ebenfalls ein Ovato sein darf). So z. B., wo ein parabolisches Gewölbe in eine Halbkugel-Kuppel (diagrammatisch wie eine gestelzte Halbtonne mit schräger Stelzung vorzustellen vgl. oben III B ii) oder ein Halbkreis-Tonnengewölbe in eine Flachkuppel (Ellipse-, Segment- oder Korbbogen) einschneidet (vgl. unser Diagramm).

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Die Gestaltung des umschreibenden Kreises

i LÄNGSSCHNITT

m & i i

TONNENSCHNITT

GRUNDRISS

Zu betonen ist, daß in beiden hier unter III B besprochenen Fällen die Anschnittsflächen im Aufriß selbstverständlich dem Querschnitt des anschneidenden Gebildes (Halbkreis gestelzt, Parabel, oder Halbkreis) entsprechen. Als deformierte Kreisteile, d. h. Kegelschnittlinien, erscheinen sie nur im Grundriß und im Längsschnitt. Die sich in der Raumerfahrung (und photographisch) ergebende sphärische (dreidimensionale!) Linienführung der verschiedenen Beispiele variiert in der Art und im Grad der Schwingung, bewegt sich aber stets zwischen den beiden im Grundriß und Schnitt leicht ermittelbaren Festpunkten. Auf der Baustelle brauchten lediglich diese beiden Ebenen (Grundriß und Schnitt) als Leergerüste nachgebildet zu werden, um die Bögen an der Schnittfläche mittels Ausloten aufzumauern, ohne daß die sphärisch geschwungene Linienführung je ausgerechnet, geschweige denn als Gerüst gezimmert zu werden brauchte. Auch der geschwungene Bogenverlauf auf Neumanns Zeichnungen entspricht weniger der geometrischen Kalkulation, als der intendierten Wirkung.

C. Zentrifugal verlaufende Anschnitte (sphärisch gekrümmte Gurte) i. Anschnitte von Flachtonnen (Ellipse-, Segment- oder Korbbogen). Da die Höhe des anschneidenden Gebildes niedriger als die Hälfte ihrer Breite ist, greifen die Fußpunkte (Kämpfer) weiter um den Umkreis des Kuppelfußes, als der Scheitel der Tonne (im Längsschnitt) über den Kuppelschnitt hinübergreift. Der Anschnitt erscheint als ausschwingender Gurt oder, anders gesagt, der Kuppelgrundriß greift „raumvereinheitlichend" in den Nebenraumbereich. Die Ähnlichkeit mit der Tambourarkade ist deutlich, nur handelt es sich im vorliegenden Fall um eine Art Hängekuppel mit sphärisch verlaufenden Restflächen. Noch schwerwiegender ist, daß die Kuppel nunmehr keinesfalls über einen Kreisgrundriß gezeichnet wird, sondern im Gurtbereich deformiert ist (siehe S. 188).

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ii. Anschnitte von Halbkreis- oder Flachtonnen in Steilkuppeln (Parabeln). Zentrifugale Anschnitte ergeben sich bei den entsprechenden Proportionsverhältnissen, z. B. wenn der betreffende Kuppelquerschnitt parabolisch verläuft (wieder übertrifft die Höhe die halbe Breite) und die anschneidende Tonne einen Halbkreis-Querschnitt hat. (Ist das anschneidende Gebilde — es dürfte sich wieder um ein Ovato handeln — sogar flachbogig, so nähert sich die Bogenführung etwas mehr der Kreisperipherie.) Alle übrigen, zuletzt oben besprochenen Eigenschaften gelten auch hier.

Die Gestaltung des umschreibenden Kreises

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Die sich ergebenden deformierten Kreisteile führen dazu, daß die Gurtführung im Grundriß keinen vollständigen Kreis (also regelmäßige Figur) erlaubt. Die Gurtfuhrung läßt sich jedoch als Ovato zur regelmäßigen Figur vervollständigen. Wird in diesem Bereich der Halbkugel-Querschnitt bewahrt, so ergibt sich ein regelmäßiges Kuppelgebilde, das die Wirkung der Tambourarkade erringt, jedoch der Hängekuppel zugerechnet werden muß. Zukünftige Aufgabe der Forschung wäre es nachzugehen, inwieweit Neumanns spätere Grundrißovati dieser Gurtbogenführung Rechnung getragen haben, d. h. vom Schnitt her von der gewölbten Bogenführung mitbestimmt gewesen sein könnten. Besonders in dem Notfall der Kompromiß-Lösung Vierzehnheiligens, wo die Bögen als Vierungs-Komponente der Neumannschen Raumintention in sinnwidriger Weise eine ausgeprägte Selbständigkeit in der Wirkung erringen, wäre diese Frage zu klären. Deutlich ist aber, daß schließlich — bei der Krönung der Entwicklung in Neresheim — die einfache Logik der umschreibenden Tambourarkade als Ideallösung der raumvereinheitlichenden Vierungskuppel gilt.

Anhang B: Zur Geometrie und Entstehung des Pendentifs; sein Verhältnis %ur Trompe Entsprechend seiner in Anhang „A" verdeutlichten geometrischen Genese, wie auch der Baustatik (vgl. Anhang A) nach, entstand das Pendentif erstmals aus der überlieferten Reparatur nach dem Einsturz der Flachkalotte der Hagia Sophia — als „Erhöhung" oberhalb der erhalten gebliebenen standfesten Zwickelfelder einer ursprünglichen Hängekuppel; keineswegs aber wurde dieses abstruse Gebilde absichtlich als Ersatz für Trompen „erfunden". Reduziert man die Höhe der heutigen Kuppelscheitel der Hagia Sophia um die überlieferten rund sieben Meter, dann ergibt sich — aber nur auf dem Diagonalschnitt wahrnehmbar! —, daß die erste Kuppel nur eine Hängekuppel hat gewesen sein können. (Vgl. hierzu Josef Fink, Die Kuppel über dem Viereck, Freiburg/München 1958, S. 17, 48 — 71, die Arbeiten Schneiders (1939) bis Sas-Zaloziecki (1952) zusammenfassend. Die zutreffenden Meinungen sind ohne die hier vorliegende Bestätigung durch die Schnitte und die Geometrie erreicht worden. Die Ergebnisse werden dort auch anders gewertet.) Einem bewußten Entwurf der Form widerspricht darüberhinaus die Tatsache, daß sich dieser dreiseitige Kugelzwickel nicht als reguläres Kugeldreieck (das verfehlte „sphärische Dreieck" der Kunstgeschichtsschreibung) aus der euklidischen Geometrie erfassen läßt. Während alle regulären Kugeldreiecke von drei vollen Großkreisen begrenzt und vom Zentriwinkel des sie erzeugenden Dreikants bestimmt werden, haben wir es umgekehrt beim Pendentif mit einer Fläche zu tun, die von Sekanten im Peripheriewinkel und oben durch einen „Klein"kreis (dessen Radius im Horizontalschnitt geringer ist als der des Pendentif-Kugelschnitts selber) begrenzt wird. Die geometrische Form ergibt sich aus einer Art Verstümmelungs-Geometrie ihrer bautechnischen Entwicklung und bleibt vorwiegend im Einflußbereich der umgestaltenen Hagia Sophie wirksam (Byzanz, Islam, Italien, wo dies während der Renaissance in bewußter Reaktion zum fränkischen Gewölbebau gesehen wurde). Schließlich geht nur der Spätbarock andere Wege. Die Trompe, eine ältere, einfachere Form der Überführung vom Stützenquadrat zur eingeschriebenen Kuppel, folgte gänzlich anderen, nicht vergleichbaren Gesetzen: Die Ecken des Quadratraumes wurden durch kleine, diagonal gestellte Bögen überbrückt, um so eine achteckige Figur als Basis für die Kuppel zu gewinnen; eine 16-eckige Annäherung an die Kreisform der Kuppel wurde durch Kragplatten in den Winkeln erreicht. An sich sind Trompen von vornherein lediglich als technisch verbesserte Kragplatten oder übereckgestellte Balken aufzufassen, die älterer orientalischer Tradition entstammen. Da der vordere Trompenbogen zur Ecke hin durch kleinere Bögen hinterlegt, und dieser Bereich gelegentlich nischenartig abgeglättet wird, könnte der falsche Eindruck entstehen, Trompen seien gelegentlich als Kugelschnitt aufzufassen. Fernerhin, obwohl die Trompen gelegentlich in der Zwickelzone der orthogonalen Bogenstellungen des Quadratraumes angebracht werden können (und sogar, wie in späteren byzantinischen Beispielen, der Form dieser Bögen angeglichen), besteht zwischen den beiden Komponenten keine Beziehung. Die Trompe wird des öfteren beliebig hoch oberhalb des Zwickelfeldes angebracht.

MARTIN WARNKE

Nah und Fern zum Bilde I.

Einer der frühesten Zeichnungen, die aus der Zeit seines Italienaufenthaltes erhalten ist, hat Rubens sorgfaltig links oben einen Zettel aufgeklebt, auf dem er eine Erfahrung niedergeschrieben hatte, die er aus der Ferne und aus der Nähe zu einem Fresko des Pordenone in der Apsis der Malchiostrokapelle des Domes zu Treviso gemacht hatte (Abb. I) 1 : In concavo hoc depictum est a lateribus untrinq(ue) Templum Pacis quod procul visentibus integrum stare videtur appropinquantibus vero et habsidem subeuntibus corruere ac plane dissolvi (In der Kalotte ist dieses gemalt; beiderseits der Friedenstempel; es scheint denjenigen, die von ferne sehen, unversehrt zu sein, während es denjenigen, die nahe herantreten und unter die Apside gehen, zu verfallen und in Auflösung begriffen erscheint; Pordenone aus Treviso hat es gemalt.)

Der Verfall, den er dem Fresko ansah, und der besonders die Architekturstaffage betraf, hat Rubens vielleicht ermutigt, seine Nachzeichnung etwas freier anzulegen. Die antiken Gebäude, die bei Pordenone die Szenerie füllen und unter denen Rubens wohl im Hinblick auf das Thema einen Friedenstempel vermutet, obwohl die Cestiuspyramide, der Turm der Porta S. Sebastiano und das Kolosseum identifizierbar waren, läßt Rubens weg. Seine Aufmerksamkeit konzentriert sich auf den ritterlich gepanzerten Kaiser Augustus, den die Sibylle von Tibur bei der Hand 1

Die Zeichnung — sie ist 39,7 cm hoch, 33,4 cm breit — befindet sich im Cabinet des Dessins im Louvre (Inv. Rf707). — Was die Daten zu Pordenone angehen, so haben sich Irrtümer in die Rubensliteratur eingeschlichen: Die alte Benennung „Der heilige Liberalis mit einem Engel", die G. Glück und F. M. Haberditzl: Die Handzeichnungen von Peter Paul Rubens. Berlin 1928, Nr. 2 übernommen hatten, und die von der Pordenone-Forschung längst richtiggestellt war, ist bei L. Burchard und R. A. d'Hulst: Rubens Drawings. Brüssel 1963, Bd. 1, S. 45 (unter Nr. 24) korrigiert, dennoch bei M. Bernhard: Rubens. Handzeichnungen. München 1977, S. 140 wieder aufgeführt. J. Held: Rubens Selected Drawings. London 1959, Bd. 1, S. 65, Anm. 2 enthält die Angabe, das Apsisfresko des Pordenone sei zerstört, was jedoch nur für das Kuppelfresko (s. Anm. 3) zutrifft. Der Ausstellungskatalog „Rubens, ses maîtres, ses élèves. Dessins du Musée du Louvre". Paris 1978, Nr. 94 verlegt die Malchiostrokapelle nach San Niccolo zu Treviso. — Die Zeichnung wird einmütig vor die erste Spanienreise, also zwischen 1600—1603, datiert. M. Jaffé: Rubens and Italy. Oxford 1977 enthält S. 26/27 eine Farbabbildung der Zeichnung. Eine Abbildung des PordenoneFreskos bei G. Fiocco: Giovanni Antonio Pordenone. Padua 1943, T. 73.

Nah und Fern zum Bilde

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nimmt, um ihm am Himmel die Jungfrau Maria mit dem Kinde zu zeigen. Rubens verjüngt die Sibylle etwas, belebt ihre Konturen und gestaltet ihren Gesichtsausdruck etwas eindringlicher. Die Beine des jugendlichen Kaisers gibt Rubens schlanker, geschmeidiger, auch an den Armen vereinfacht er die Rüstung, so daß die Bauschen des Mantels, dessen venezianisches Orangerot er in Aquarellfarben aufzufrischen sucht, wie ein Wappenzelt in großen Bewegungsschwüngen den Körper in der schwarzen Rüstung hinterfangen. Es ist, als habe Rubens, da er aus der Nähe den Verfall des Freskos wahrnahm, in restauratorischer Absicht Pordenones Figuren etwas von der Frische des ersten Tages zurückgeben wollen. Der Erhaltungszustand des Freskos jedoch scheint nicht das Einzige gewesen zu sein, was Rubens aus der Nähe auffiel. Die Zeichnung gehört zu den nicht eben zahlreichen Beispielen, für die Rubens Wasserfarben zuhilfe genommen hat, und kaum jemals wieder hat er sie so intensiv eingesetzt. In schwarzer und roter Kreide hatte er die Umrisse der Figuren gezeichnet, die besonders am Oberkörper der Sibylle scharf und prägnant gezogen sind. Vielleicht ist die Architekturstaffage auch deshalb weggelassen, um die Figurengruppe deutlich so vor Augen zu haben, wie sie sich aus der Ferne darstellte. Gegenüber dem festen, gelegentlich wie zu Bleiruten verdickten Kontur bieten die aquarellierten Partien ein bewegtes, gelöstes und flatterndes Bild. Aus der Ferne, so scheint Rubens in der Beischrift auch sagen zu wollen, sieht der Betrachter eine „unversehrte", zeichnerisch geschlossene, klar bewegte Gruppe, während aus der Nähe ein großzügiger Farbduktus, ein lockerer Pinsel alles verschwimmen und „verfallen" läßt. In jedem Fall hält Rubens' Gedächtnisnotiz fest, daß an einem Bild aus der Ferne andere Wahrnehmungen gemacht werden können als aus der Nähe. Das Bild ist nicht identisch, sondern abhängig von den Bewegungen, die der Betrachter vor ihm vollzieht. Diese Bewegungen mußten gelernt werden, und sie haben ihre Geschichte. II. Mit seiner Überprüfung des Pordenone-Freskos von nah und fern folgt Rubens nicht spontan einer selbstverständlichen Verhaltensweise vor Bildern, sondern einer kunstliterarischen Vorgabe. Der junge Rubens rekapituliert eine Lektion aus der italienischen Kunstgeschichte, die Vasari dem Tizian erteilt hatte: „Wahr ist bei alledem, daß seine (Tizians) Verfahrensweise in den letzten Lebensjahren von der seiner Jugend sehr verschieden war, indem er seine ersten Arbeiten mit einer gewissen Feinheit und mit unglaublichem Fleiß ausführte, so daß man sie nahe wie ferne betrachten kann, während die des späten Alters im Fluge, grob und fleckig gemacht sind, in der Nähe nicht gesehen werden dürfen, in der Ferne aber eine vollkommene Wirkung machen: tirate via di grosso e con macchie di maniera, che de presso non si possono vedere e di lontano appariscono perfette".2 2

Giorgio Vasari: Le Vite de' più eccellenti Pittori, Scultori e Architettori. Hsg. G. Milanesi. Florenz 1906 2 , Bd. 7, S. 452. Ich zitiere die deutsche Übersetzung nach L. Schorn und E. Förster: Giorgio

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Rubens' Aufschrift übersetzt also nur ins Lateinische, was Vasari an späten Tiziangemälden beobachtet hatte. Die Stelle in der Malchiostrokapelle zu erinnern, lag nahe, weil das Fresko des Pordenone die Kalotte jener Apsis schmückte, vor der Tizians Verkündigung von 1517 — 1519 den Altar schmückte. Auf Tizians Bild kniet Maria ganz im Vordergrund, weil ihr vom Presbyterium her aus dem Kuppelfresko des Pordenone, das Rubens ebenfalls nachgezeichnet hat, Gottvater mit Engeln entgegenschwebt3. Tizian und Pordenone in Wechselwirkung zu sehen, war für einen lerneifrigen jungen Künstler schon deshalb von Interesse, weil Vasari von den ständigen Konkurrenzgefühlen berichtet hatte, die Pordenone gegenüber Tizian empfand, und die er durch eine Übersteigerung römischer Stilerrungenschaften zu überwinden gesucht hatte. Indem Rubens an Pordenone die Nah-FernÜberprüfung vollzieht, die Vasari an Tizian vollzogen hatte, mißt er die Rivalen mit dem gleichen Maßstab. In Vasaris Vitenwerk begegnet das Prüfungskriterum, das ein Bild von nah und fern ins Auge faßt, öfters.4 Einmal, in der Vita des Luca della Robbia, gibt er jedoch in einem längeren Exkurs zu erkennen, daß auch er einer literarischen Anweisung folgte. Anläßlich des Vergleichs der Orgelkanzeln des Donatello und des Luca della Robbia meint er, daß ersterer „das Werk fast nur aus dem Rohen gearbeitet und es nicht fein ausgemeißelt hatte, damit es sich von ferne hervorheben möchte, wo es denn auch ein weit besseres Ansehen hat, als das von Luca, welches zwar nach guter Zeichnung und mit Fleiß vollführt ist, bei aller seiner zarten Vollendung aber in der Weite dem Auge undeutlich wird und sich nicht so gut unterscheiden läßt, wie jenes von Donato. Dies ist eine Sache, auf welche Künstler sehr Acht haben müssen, denn die Erfahrung lehrt, daß alle Dinge, die von ferne gesehen werden, seien es nun Maler- oder Bildhauerwerke oder andere ähnliche Sachen, mehr Kraft haben, wenn sie einem schönen Entwurf gleichen, als wenn sie fein ausgebildet sind. Abgesehen davon, daß die Entfernung jene Wirkung tut, scheint es auch, als ob bei Entwürfen, die durch plötzliche Eingebung der Kunst entstehen, mit wenig Strichen der Gedanke besser ausgedrückt werde, als Mühe und zu großer Fleiß es vermögen, durch welche diejenigen, welche nie fertig werden können, sich oftmals um alle Kraft und Wissenschaft bringen. Die Zeichenkunst, um nicht nur die Malerei zu nennen, ist der Poesie zu vergleichen, und wie Dichterwerke, welche der poetische Erguß eingibt, die wahren und guten sind, und vorzüglicher als die mühselig

3

4

Vasari, Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister. Neu hsg. von J. Kliemann, Worms 1983, Bd. 6, S. 54 f. Das Fresko ist im 2. Weltkrieg zerstört. Zu Rubens' Nachzeichnung vgl. Burchard/d'Hulst (wie Anm. 1), Nr. 24 und Jaffé (wie Anm. 1), S. 40, w o auch weitere Pordenone-Einflüsse auf Rubens besprochen werden und auch eine Nachzeichnung der „Anbetung der Könige" in der Malchiostrokapelle angenommen wird. Zu dem Wechselverhältnis zwischen Tizians Verkündigungsbild und Pordenones Fresko vgl. J. Schulz: Pordenone's Cupolas. In: Studies in Renaissance and Baroque Art Presented to Anthony Blunt. London/New York 1967, S. 46. Vasari (wie Anm. 2), Bd. 7, S. 563 über Giulio Clovio: „Intanto che cosi da presso come lontano fanno restare ciascun maravigliato ..." oder Bd. 6, S. 591 über ein Jüngstes Gericht von Tintoretto: „E chi la mira cosi a un tratto resta maravigliato, ma considerandola più minutamente ella pare dipinta da burla".

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gearbeiteten, ebenso gelingen auch die trefflichen Meisterwerke der Zeichenkunst besser, wenn sie durch plötzliche Eingebung hervorgebracht werden, als wenn sie durch Hinund Hersinnen nach und nach mit Anstrengung entstehen".5

Die etwas unvermittelte Überführung des Problems der Standortrücksichten in einen Vergleich der bildenden Künste mit der Poesie, ergibt sich daraus, daß Vasaris Lektüre der „Ars poetica" wenigstens eine Zeile über das „ut pictura poesis" hinausgediehen war, und daß dort dem Kunstrichter eine Stellung nah und fern vom Bilde zugewiesen war: „ut pictura poesis: erit quae, si proprius stes, te capiat magis, et quaedam, si longius abstes; haec amat obscurum, volet haec sub luce videri, iudicis argutum quae non formidat acumen".6

Nach Horaz kann an einem Bild aus der Nähe anderes fesseln als aus der Ferne, und er meint damit gegenständliche Motive, die man schon aus physiologischen Gründen aus einigem Abstand nicht mehr sehen kann; das Bild ändert sich bei der Bewegung nicht, es gibt nur aus der Nähe zusätzliche Einzelheiten preis. In diesem Sinne hat 1456 Bartolomeo Fazio von einem Gemälde des Hieronymus von van Eyck bemerkt, daß man den Heiligen wie lebend in seiner Bibliothek sehe, „denn wenn man etwas wegtritt, scheinen alle Bücher zurückzuweichen und offenzuliegen, während, wenn man nahe herantritt, auch Kapitelüberschriften erkennbar sind". 7 Bei dieser Form der Nah- und Fernsicht bleibt das Bild identisch, es gibt sich beim Nahetreten nur genauer zu erkennen. Indem Vasari die Bewegung auf das Bild zu und von ihm weg aus Horaz übernimmt, macht er doch vor den neuzeitlichen Kunstwerken neuartige Erfahrungen. Während der Betrachter des Horaz beim Nähertreten genauer erkennt, sieht der von Vasari an Donatello und Tizian herangeführte Betrachter nur noch ungenau, nur noch unstrukturierte Gestaltungselemente, bei Donatello die rohe Bearbeitung, bei Tizian verschwommene Farbflecken; die Gegenstände verschwinden, das Bild gewinnt eine andere Qualität, es offenbart seine „macchia". Vasari ist nicht in der Lage, sich gegenüber diesem Merkmal neuzeitlicher Malerei unbefangen zu verhalten. Das wird deutlich aus der widersprüchlichen Wertung, die im Falle Donatellos jene Merkmale als Zeichen der Genialität, eines (von Horaz noch bespöttelten) „furor poeticus", sie aber im Falle Tizians als Anzeichen einer nachlässigen Flüchtigkeit ansieht. Diese Wertung ist deshalb folge -

5 6

7

Vasari (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 171; Übersetzung nach Schorn/Förster (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 65 f. Quintus Horatius Flaccus: De Arte Poetica Liber. Lateinisch und deutsch von Horst Rüdiger. Zürich 1961, V. 3 6 1 - 3 6 4 . Vgl. O. Morisani: Letterature artistica a Napoli tra il '400 ed il '600. Neapel 1958, S. 16. M. Baxandall: Giotto and the Orators. Oxford 1971, S. 106, Anm. 140 erörtert die Übersetzungsschwierigkeiten der Fazio-Stelle und weist auf Horaz als Quelle hin. — Zwei mittelalterliche Reflexe der HorazStelle bei J. Gage: Horatian Reminiscences in Two Twelfth-Century Art Critics. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Bd. 36, 1973, S. 360.

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richtig, weil im Falle Donatellos die Reliefs der Sängerkanzel jener Nah-FernPrüfung nicht ausgesetzt sind, sondern gerade deshalb roh ausgearbeitet sind, damit die Gegenstände „sich hervorheben" und von einer festgelegten Distanz aus umso deutlicher gesehen werden können; da der Betrachter in der Ferne bleibt, nimmt er die „rohe Bearbeitung" gar nicht wahr. Im Falle Tizians jedoch rechnet Vasari mit mobilen, zugänglichen Gemälden, die jedermann von nahem wie von ferne ansehen kann. Um dem Betrachter die Erfahrung verschwimmender Gegenstände, einer in Farbflecke aufgelösten Bildoberfläche zu ersparen, rät Vasari ihm davon ab, sie von nahem zu besichtigen. Vasaris Wertvorstellung bleibt beim jungen Tizian stehen, als dessen Gemälde noch „von nahem und von ferne betrachtet werden" konnten. Im Sinne einer handwerklichen Solidität bleiben die Frühwerke von jedem Standpunkt sich selbst gleich, während die Spätwerke diese Identität verlieren, indem sie aus der Nähe nicht mehr halten, was sie aus der Ferne versprachen. Auch Rubens hat vor dem Pordenone-Fresko diese negative Erfahrung notiert: Aus der Ferne erschienen ihm die Gegenstände des Freskos unversehrt, vollkommen, wogegen sie ihm aus der Nähe aufgelöst erschienen. Aus der Nähe machten sie ihm einen desillusionierenden Eindruck: Was aus der Ferne heil schien, war aus der Nähe korrupt. III. Der Nahblick kann unter dem Verdacht stehen, etwas prüfen, unter die Lupe nehmen zu wollen. Ein Bild von nahem zu sehen, bedeutet zumeist, ihm etwas abgewinnen zu wollen, was es nie geben wollte. Wenn Rubens in der Beischrift zu seiner Nachzeichnung ausdrücklich vermerkt, daß sich der Eindruck vom Zerfall des Freskos erst demjenigen ergeben kann, der „in die Apsis eintritt", der also die Chorschranken überwindet, dann scheint er damit zu meinen, daß dieserart Neugier nicht selbstverständlich ist. Denn in einer Kapelle hinter den Altar zu gehen, um in der Kalotte der Apsis ein Fresko aus der Nähe zu besichtigen, konnte heißen, dem Eindruck aus der Ferne zu mißtrauen, ihn wenigstens nicht für endgültig zu halten. Denjenigen — und es werden die meisten gewesen sein —, die das Fresko nur aus der Ferne sehen, wird es so erscheinen, wie es von Anfang an gemeint war: intakt und aussagekräftig, indem es den Legendeninhalt für den Andächtigen deutlich vorstellt. In die Apsis einzudringen, wie Rubens es getan hat, setzt ein Interesse voraus, das sich nicht mehr mit der religiösen Aussage des Freskos begnügt, sondern das von ihm mehr sehen und wissen möchte als ihm von der Funktion her zugedacht war. Der Nahblick sucht am Bild etwas anderes als dessen Intention. Diese Form der Annäherung an das Bild unterscheidet sich grundsätzlich von einer kultischen Annäherung, in der ein Bild berührt oder geküßt wird. In der kultischen Nähe erfüllt sich ein fernes Versprechen. Die tridentinische Kirche

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suchte diese magische Annäherung zu neutralisieren, und Rubens wird mit dem Bildtabemakel von Santa Maria in Valicella ein Gnadenbild aus greifbarer Nähe in eine nur noch anschaubare Ferne rücken. 8 Die Annäherung, die Rubens selbst in der Malchiostrokapelle zu Treviso vollzog, ist professionell motiviert und sie möchte unabhängig vom Aussage- und Funktionszusammenhang eine ästhetische Qualität überprüfen. Daß diese den Ferneindruck bestätigen und nicht desillusionieren sollte, scheint auch für Rubens noch ein Kriterium der Wahrheit zu sein. Fast dreißig Jahre später hat Rubens in einer ganz anderen Situation eine Nah-Fern-Erfahrung notiert, und wieder erinnert er an eine literarische Vorgabe. Während seiner diplomatischen Verhandlungen in London schreibt er am 9. August 1629 an den französischen Humanisten Peiresc: „Den berühmten Philosophen Drebbel sah ich nur auf der Straße, wo er mit mir im Vorbeigehen einige Worte wechselte. Er lebt auf dem Lande, in einiger Entfernung von London. Dieser Mann ist wie jene Dinge, von denen Machiavelli sagt, daß sie in der Meinung der Leute aus der Ferne größer erscheinen als aus der Nähe". 9

Die politische Dimension, in die Rubens hier die rezeptionsästhetische Kategorie rückt, erklärt vielleicht das prekäre Moment, das auch für Vasari in der Nah-FernRelation enthalten war. Die Stelle bei Machiavelli, an die Rubens gedacht haben mag, könnte diejenige aus den „Istorie Fiorentine" sein, wo gesagt wird, daß Papst Alexander III. von den Fürsten geachtet wurde, während er in Rom selbst Schwierigkeiten hatte, seine Autorität zu behaupten, woraus Machiavelli folgert: „le cose che paiono sono più di scosto che da presso temute". 10 Die Inszenierung des Scheins, durch welchen den Untertanen eine erhabene Aura vorgespiegelt wird, war ja ein Grundgedanke auch des „Principe". Vielleicht aber hatte Rubens eigentlich Montaigne gemeint, der in seinen „Essais" bemerkt: „Tout ainsi que j'ay essayé en plusieurs autres occurrences ce que dit Cesar, que les choses nous paroissent souvent plus grandes de loing que de près . . . " n Nähe und Ferne erscheinen hier als Kategorien politischer Psychologie oder auch als Instrumente politischer Aufklärung: Was aus der Ferne prunkvoll, erhaben, heil aussieht, stellt sich aus der Nähe als verfallen, kläglich, korrupt dar. Auch hier ist die Identität das Wahrheitskriterium: Zu sein, was man scheint, wäre die eigentliche moralische Existenz.

Vgl. M. Warnke: Italienische Bildtabernakel bis zum Brühbarock. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, Bd. 19, S. 61 ff. ' Ch. Ruelens und M. Rooses: Correspondance de Rubens et documents epistolaires concernant sa vie et ses oeuvres. Antwerpen 1887 — 1909, Bd. 5, S. 153: „ ... e tra quelle cose come dice Maschiavello che di lontano nelle opinione degli huomini paiono maggiori che d'appresso ...". Über die Bedeutung Drebbels vgl. R. L. Colie: Cornelis Drebbel and Salomon de Caus: Two Jacobean Models for Salomon's House. In: The Huntington Library Quarterly, Bd. 18, 1954, S. 254—260. 10 Niccolò Machiavelli: Istorie fiorentine. Hsg. F. Gaeta. Opere, Bd. 7, Mailand 1962, S. 106. 11 Montaigne: Essais. Paris 1962, Li. I, ch. X X , S. 92. Die dort in Anm. 221 nachgewiesene Belegstelle De Bello Gallico VII, 84 besagt, daß ein Kampfgeschrei, das man nicht sieht, besonders beunruhigt. 8

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Martin Warnke

Dieser kritische Impuls, der an die Nähe der Dinge trieb, scheint auch die Nähe zu Bildern und Bildwerken belastet zu haben. Während die künstlerische Praxis die opake Bildoberfläche aufgebrochen hatte und der Nahsicht eine Textur eigener Geltung anbot, scheint die ästhetische Sprache unfähig gewesen zu sein, das Phänomen positiv zu benennen. Von Horaz her auf eine Nahsicht verpflichtet, möchte sie dort den Ferneindruck bestätigt finden; sie tabuisiert aber die Nahsicht, wo sie auf eine Differenz stößt, wo von nahem der Eindruck aus der Ferne sich auflöst. So hat Condivi 1553 über die Skulpturen Donatellos geurteilt, sie seien „wunderbar für den Blick von ferne, doch aus der Nähe verlieren sie an Würde". 12 Auch van Mander hat noch keinen Blick für die Naheindrücke vor Gemälden des Massys: „AI dese dinghen schijnen nyt der handtuytnemende net, suyver, en scherp ghedaen te wesen doch van by is het al vry wat rouw; maer is op een seker manier ghedaen, det hat van verre soo heel suyver laet te wesen". 13 Es ist kaum vorstellbar, daß Rubens, als er später in Madrid den Spätwerken Tizians nahetrat und sie kopierte, die farbigen Flächenwerte, die er selbst in seinem Spätstil freigesetzt hat, nicht mit Bewunderung wahrgenommen hätte. Doch auch seine ästhetische Sprache hat dafür noch keinen Begriff; sie ist gleichsam noch blockiert gegenüber einer Erfahrung, die durch eine Emanzipation von festen Standpunkten ausgelöst war. Erst die kunstkritischen Energien der Aufklärung werden die Möglichkeiten im Nahbereich der Bilder auskosten und ausschöpfen. Auf Watteaus Ladenschild kniet die Kundschaft vor dem Bild und tastet es mit der Lupe ab. Glaubt man den Karikaturen, dann hat damals das bürgerliche Publikum jede Scheu vor der Ausstrahlung der Bilder abgelegt und ist es mit allen optischen Hilfsmitteln den Bildern auf den Leib gerückt. Die Botschaft der Bilder wird nicht mehr aus respektvoller Distanz entgegengenommen, sondern man sucht ihrem Geheimnis aus der Nähe, wo Lehrinhalte ausgeschaltet sind, auf die Spur zu kommen. Um 1720 hat der spanische Kunstgelehrte Antonio Palomino die Technik des Veldzquez ganz unbefangen mit der „manera valiente del gran Ticiano" verglichen, indem er berichtet, Velizquez habe „mit langstieligen Pinseln und Bürsten gemalt, die er gelegentlich benutzte, um aus größerer Entfernung und mit größerer Entschlossenheit zu malen; so daß man die Bilder aus der Nähe nicht verstand, wogegen sie aus der Ferne ein Wunder sind". 14 Das Werturteil der Vasari-Stelle spielt noch hinein, doch ist es ganz von der Bewunderung für den schaffenden Impetus neutralisiert. Diese furiose Schaffensweise ist anders geartet als jene, die eine

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Ascanio Condivi: Vita di Michelangelo Buonarroti. Hsg. E. Spina Barelli, Mailand 1964, S. 38: „di sorte che, riuscendo mirabili a vista lontano, da presso perdevano riputazione". Carel van Mander: Hat Leven der Doorluchtighe Nederlandtsche en Hooghduytsche Schilders. Übersetzt von Hanns Floerke, München/Leipzig 1906, Bd. 1, S. 138. Über Ketel heißt es Bd. 2, S. 19, daß die Ausführung mit den Füßen ihnen nicht schade, da man, „wenn man sie aus einiger Entfernung sieht, glauben sollte, sie seien mit der Hand und den Pinseln gemacht". Vgl. auch van Mander: Lehrgedicht. Hsg. R. Hoecker. Den Haag, S. 273 f. Zitiert nach Varia Velazquena. Madrid 1960, Bd. 2, S. 87, 92.

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Empfehlung Leonardos spiegelt, beim Malen gelegentlich „etwas zurückzutreten, weil das Werk dann kleiner wird, so daß man es mit einem Blick besser übersieht und die nicht übereinstimmenden, unproportionierten Gliedmaßen und die Farben der Dinge besser erkennt". 15 Leonardo prüft noch, ob sein Bild aus der Nähe wie aus der Ferne identisch bleibt; Veläzquez malt nach Palomino gleich aus der Ferne und überläßt den Naheindruck sich selbst. Spätestens im Impressionismus wissen dann die Künstler auf beiden Niveaus bewußt zu operieren. Auch in der Kunsttheorie und Kunstkritik, von Diderot bis zu Fromentin, gewinnen die Beobachtungen aus der Bildnähe ein immer stärkeres Eigengewicht; bei Hildebrand und Riegel haben Nah- und Fernsicht den Status kunstwissenschaftlicher Kategorien. 14 Die reiche Nachgeschichte unseres Topos soll hier nicht mehr ausgebreitet werden. Es sollte nur aus dessen Frühgeschichte erinnert werden, daß, wo Kunsthistoriker ihre Berufsbewegung machen, sie sich eine Freiheit nehmen, die ihnen erst erworben werden mußte.

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Leonardo da Vinci: Tagebücher und Aufzeichnungen. Hsg. Th. Lücke, Leipzig 1940, S. 694. — Zum 18. Jahrhundert vielschichtig und unser Thema berührend J. T. Ogden: From Spatial to Aesthetic Distance in the Eighteenth Century. In: Journal of the History of Ideas, Bd. 35, 1979, S. 6 3 - 7 8 .

C H R I S T I A N TÜMPEL

Bild und Text: Zur Rezeption antiker Autoren in der europäischen Kunst der Neuzeit (Livius, Valerius Maximus)* Merkwürdigerweise ist von kunsthistorischer Seite aus noch nie zusammenfassend untersucht worden, wie die Werke der antiken Autoren im Mittelalter und in der Renaissance tradiert, ediert, übersetzt und illustriert worden sind und wie sich ihre textliche und bildliche Herausgäbe auf die Ikonographie und Themenwahl des Mittelalters, der Renaissance, des Manierismus und des Barock ausgewirkt hat. Obwohl eine Reihe von verstreut erschienenen Aufsätzen sich mit Teilaspekten dieser Frage befaßte, fehlt noch eine Gesamtdarstellung und Gesamtschau.1 Gerade

* Wolfgang Schöne riet mir in seinem Rembrandt-Seminar 1964/5, mich mit den ungedeuteten Historiendarstellungen Rembrandts zu beschäftigen. Ihm sei deshalb ein Aufsatz gewidmet, in dem für eine Reihe von barocken Gemälden, darunter auch einem Bild von Rembrandt, eine neue Interpretation vorgetragen wird. 1 Die umfassendste Materialzusammenstellung findet sich bei A. Pigler, Barockthemen, Eine Auswahl von Verzeichnissen zur Ikonographie des 17. und 18. Jahrhunderts, Bd. 1 f. Budapest und Berlin 1956. Von diesem Werk habe ich ausgiebig Gebrauch gemacht. Doch sind dort eine Reihe von Sophonisbe- und Artemisia-Gemälden falsch gedeutet, so daß seine Listen kritisch benutzt werden müssen. Einige Beispiele bietet auch der D. I. A. L., Decimal Index of the Art of the Low Countries (Iconographic Index), hrsg. vom Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie, Den Haag 1952 ff. unter 6 BB (Sophonisbe) 71 bzw. unter 33 E 23.33.2. Nicht verarbeitet sind in den beiden Katalogen die einflußreichen Buchillustrationen. Auf folgende Arbeiten über die Rezeption der Antike in der holländischen Kunst sei verwiesen: M. D. Henkel, Nederlandsche Ovidius-Illustraties van de 15e tot de 18e eeuw, in: Oud-Holland, 39, 1921, S. 149 — 187; Erwin Panofsky, Der gefesselte Eros (Zur Genealogie von Rembrandts Danae), in: Oud-Holland, 50, 1933, S. 1 9 3 - 2 1 7 ; Wolfgang Stechow, The Myth of Philemon and Baucis in Art, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 4, 1940-1941, S. 1 0 3 - 1 1 3 ; E. Kieser, Über Rembrandts Verhältnis zur Antike, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 10, 1941—42, S. 129—162; Herbert von Einem, Rembrandt und Homer, in: Westdeutsches Jahrbuch für Kunstgeschichte, Wallraf-Richartz-Jahrbuch, N. E 14, 1952, S. 1 8 2 - 2 0 5 ; H. van de Waal, The Iconological Background of Rembrandt's Civilis, in: Konsthistorisk Tidskrift, 25, 1956, S. 11 —25; Christian Tümpel, Studien zur Ikonographie der Historien Rembrandts, Hamburg phil. Diss. 1968, vgl. bes. § 27 „Die Bedeutung der literarischen Quellen und der Bildtradition für die Themen aus der Heiligengeschichte, der Mythologie und Profangeschichte, S. 222 ff.; Ausstellungskatalog E . B . Crocker Art Gallery, The Pre-Rembrandtists, Introduction and Catalogue by Astrid Tümpel, Iconographic Essay by C. Tümpel, Foreword by W. Stechow, Sacramento 1974; der Essay von C. Tümpel ist in erweiterter Fassung und deutscher Sprache veröffentlicht in: Vestigia Bibliae, Jahrbuch des Deutschen Bibel-Archivs Hamburg, hrsg. von Heimo Reinitzer, Bd. II, Litteratura Laicorum, Beiträge zur christlichen Kunst, Bd. II, Hamburg 1980, S. 127 — 158; Ausstellungskatalog (Washington, Detroit, Amsterdam 1980/81), God en de Goden, Verhalen uit de bijbelse en klassieke oudheid door Rembrandt en zijn tijdgenooten, mit Aufsätzen von u. a. Albert Blankert, Christian Tümpel, Eric J. Sluijter und Beatrijs Brenninkmeijer-de Rooij, Amsterdam 1981 (in engl. Sprache Gods, Saints & Heroes, Dutch Painting in the Age of Rembrandt, Washington 1980); der in unserem

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aber weil die durchaus erkennbaren „Regeln" der Rezeptionsgeschichte noch nicht erfaßt worden sind, herrscht bei der Benennung, Beschreibung und Interpretation von vielen Kunstwerken aus diesem Themenkreis noch immer Unklarheit. Nicht wenige von ihnen sind sogar falsch oder unsicher gedeutet. Ich möchte das an zwei Gemälden der genialsten Künstler des Barock illustrieren, nämlich an Pieter Paul Rubens' Tafelbild in Potsdam (Abb. 113) und Rembrandt van Rijns Kabinettbild in Madrid (Abb. 111). Rubens' Gemälde wird in der Forschung meist als „Sophonisbe empfangt den Giftbecher von Massinissa" beschrieben, also als eine Darstellung des Livius-Berichtes (30. Buch, Kap. V) verstanden. In der neueren Forschung aber haben einige Autoren dieses Gemälde als eine Verbildlichung der bei Valerius Maximus in seinen „Facta et dicta Memorabilia" überlieferten Geschichte von Artemisia, die in ihren Wein die Asche ihres verstorbenen Mannes mischte, erklärt. 2 Rembrandts berühmtes Gemälde aus dem Jahre 1634 in Madrid erhielt im Laufe der letzten hundert Jahre noch mehr Interpretationen und wurde auch als Bathseba, als Gemahlin Simsons, als Kleopatra bei ihrer Toilette und schließlich auch als Sophonisbe gedeutet. Die Rembrandtforschung hat seit Bode-Hofstede de Groot (1890) einheitlich der Bezeichnung „Sophonisbe empfangt den Giftbecher" den Vorzug gegeben, während die meisten Madrider Kataloge es weiterhin als eine Darstellung Artemisias aufführen. 3 Da die Deutungen als Bathseba, Gemahlin Simsons und Kleopatra abwegig sind, stellt sich auch hier wie bei dem Potsdamer Rubensgemälde die Frage: Was ist nun wirklich dargestellt, das von Valerius Maximus erwähnte beispielhafte Verhalten der Artemisia oder die von Livius überlieferte Tragödie der Sophonisbe? Um dieses Rätsel der Forschung lösen zu können, müssen wir uns die allgemeinen Regeln der Rezeption und der Überlieferung der antiken Historien in den Handschriften und dem Buchdruck vergegenwärtigen. Dann müssen wir uns die Geschichten selbst anschauen und uns verdeutlichen, wie sie in der bildenden Kunst

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Zusammenhang wichtige Aufsatz von Eric Jan Sluijter trägt den Titel De uitbeelding van mythologische thema's, S. 55 — 63. Christopher Brown, in: God en de Goden, 1981, Kat. Nr. 116; J. G. van Gelder, Rubens in Holland in de zeventiende eeuw, in: Nederlands kunsthistorisch jaarboek, 3, 1950 — 51, S. 103—150, vgl. S. 113 f., er beruft sich auf eine scharfsinnige Analyse L. Burchards (die er allerdings nicht nachweist); J. Richard Judson, Gerrit van Honthorst, A Discussion of His Position in Dutch Art, in: Utrechtse bijdragen tot de kunstgeschiedenis onder redactie van het Kunsthistorisch Instituut der Rijksuniversiteit te Utrecht, Bd. 6, Den Haag 1959, S. 192, Kat. Nr. 97; Gary Schwanz, Rembrandt, zijn leven, Zijn schilderijen, Maarssen 1984, S. 127 und Abb. 120; J. I. Kusnetzow, Veröffentlichungen der Eremitage, Abt. Westeuropäische Kunst, 3, 1964, S. 197 (auf Russisch), referiert nach Horst Gerson, Rembrandt, Gemälde, Gütersloh 1969, S. 491, Kat. Nr. 69. Nur J. I. Kusnetzow (vgl. Anm. 3) schließt sich der Interpretation der meisten Madrider Kataloge an. Er argumentiert damit, daß Rembrandt von dem Rubens-Gemälde, das 1632 in der Slg. der Amalia von Solms aufgeführt wird, beeinflußt sei. Ein Überblick über die Deutungsgeschichte des Madrider Bildes findet sich in: Christian Tümpel, Katalog zur Geschichte der Rembrandtforschung, Hamburg 1967, Nr. 11.

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und Literatur verbildlicht worden sind und uns schließlich die Sprache der Bilder und den Erzählerstil der Künstler bewußt machen. Indem ich versuche, eine Basis für die Deutung dieser beiden Gemälde zu bilden, schildere ich sehr skizzenhaft und global formuliert die Rezeptionsgeschichte der antiken Autoren im Mittelalter und der Neuzeit. Die historischen und mythologischen Werke der antiken Autoren sind im Mittelalter sehr unterschiedlich rezipiert worden. Das hängt mit der anfanglich kritischen Einstellung der christlichen Religion zur antiken Welt zusammen. Die spätantike, christliche Kirche war an der Uberlieferung der als heidnisch betrachteten antiken Werke nicht interessiert — im Gegenteil, sie bekämpfte sie oft. In dieser Zeit traten die größten Verluste an antiken Werken auf. Im Mittelalter hatte man ein entspannteres Verhältnis zur antiken Kultur und damit auch zu den antiken Werken, weil man sie nicht mehr als Repräsentanten der heidnischen feindlichen Welt, sondern als oft nützliche Beispielserzählungen deutete. Dabei bediente man sich oft typologischer Auslegungweise. Den italienischen Humanisten des 15. Jahrhunderts kommt das Verdienst zu, die antiken Werke für den Druck ediert und damit einer breiteren wissenschaftlich orientierten, gebildeten Öffentlichkeit wieder bekannt gemacht zu haben. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden die antiken Autoren dann in die europäischen Sprachen übersetzt und durch Holzschnittillustrationen — die z. T. in Bildbänden herausgegeben wurden — für eine breitere Öffentlichkeit popularisiert. Den Künstlern waren im allgemeinen nur die antiken Werke bekannt, die in die Muttersprache übertragen worden waren, da nur wenige unter ihnen Latein und Griechisch beherrschten. Wie klein die Anzahl der Werke war, die ein Maler kennen mußte, erweist ein zeitgenössisches Lehrbuch. Der Maler und Kunsttheoretiker Gerard de Lairesse läßt — worauf Martin Dierker aufmerksam machte — in seiner Schrift Grondlegginge ter Teekenkonst, 1701 (in deutscher Übersetzung bei Samuel Theodor Gericken, Berlin 1705), in einem Gespräch zwischen Schüler (probus) und Meister (judicio) den Schüler die Werke aufzählen, die ein Künstler zur Ausübung seines Berufes kennen sollte. Probus nennt „Herodotus, Tacitus, Livius, Justinus, Flavius Josephus, Plutarchus und vornehmlich die Heilige Schrift. Judicio: das seynd die Historien-Bücher." 4 Diesem Lehrgespräch können wir entnehmen, daß die Künstler auch am Anfang des 18. Jahrhunderts nur wenige Autoren kannten. Die Auswahl, die Lairesse trifft, ist durch seine Vorliebe für antike Geschichtsschreibung und profane Historien bestimmt. Aus kunsttheoretischen Gründen ordnet er z. B. Ovids Metamorphosen den niedriger einzustufenden Fabeln zu und erwähnt sie nicht, obwohl die das antike Werk sind, dessen Szenen im 16., 17. und 18. Jahrhundert am häufigsten 4

Vgl. Martin Dierker, Die Bedeutung der Jüdischen Altertümer für die holländische Historienmalerei des 16. und 17. Jahrhunderts (Seminararbeit in meiner Übung „Die holländische Historienmalerei im 17. Jahrhundert", Berlin, Freie Universität, W S 1980/81).

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dargestellt wurden. Wenn uns das „Lehrgespräch" auch keine verbindliche Auskunft darüber geben kann, welche Autoren die Künstler kannten — schließlich gab es keine allgemeinverbindliche Ausbildungsordnung — so demonstriert es doch, daß die Anzahl der Autoren bzw. Werke gering war. Von den beiden Autoren, mit denen wir uns beschäftigen, erwähnt er Livius, aber nicht Valerius Maximus. Nun beweist schon ein Blick auf die Themenwahl des 16. und 17. Jahrhunderts, daß nicht nur Livius, sondern auch Valerius Maximus bekannt war. Gleiches ergibt eine Untersuchung von Künstlerinventaren. Beides, die Untersuchung der Themenwahl wie die Analyse der Künstlerinventare bestätigen aber auch, daß der durchschnittliche bildende Künstler nur die populäreren antiken Autoren kannte, sofern sie in die Muttersprache übersetzt waren. Der Autor, dessen Werke im 15., 16. und 17. Jahrhundert am häufigsten von den Künstlern rezipiert wurde, ist Ovid. 5 „Die Kenntnis seiner Werke war nie erloschen, sie zeigte sich schon im frühesten Mittelalter und erreichte im 11. Jahrhundert einen Höhepunkt." 6 Im Ovid moralisé wurden die Metamorphosen christlich gedeutet und damit ihres anstößigen Charakters entkleidet. Der Haarlemer Maler, Dichter und Kunsttheoretiker Karel van Mander hielt die Metamorphosen für so wichtig, daß er einen großen Teil seines Schilderboecks, 1604, diesem antiken Werk widmet und darin eine „Wtlegginghe op de Metamorphosis", wie dieser Teil heißt, den Künstlern und Kunstliebhabern darbietet.7 Van Mander legt die Ovidschen Verwandlungen, wie das zuvor im Ovid moralisé geschehen war, für seinen Leser aus. Für ihn sind nämlich in diesen Fabeln allgemeine Weisheiten und Lehren verborgen. Er unterscheidet drei Arten der Auslegung, eine historische, eine naturhistorische und eine moralische. Die letztere erhält bei ihm das größte Gewicht. Mehr als die Hälfte aller von barocken Künstlern dargestellten antiken Historien geben Szenen aus der griechischen oder römischen Mythologie wieder, die von Ovid entweder in seinen Metamorphosen oder in seinen Fasti oder in beiden Werken beschrieben sind. Das Bild von der antiken Mythologie ist im 15., 16. und 17. Jahrhundert vor allem durch diesen römischen Dichter geprägt worden. Verglichen damit haben die Erzählungen aus der griechischen und römischen Geschichte eine sehr viel geringere Bedeutung gehabt. Sie machen in der Gesamtwahl nicht einmal ein Viertel aller überlieferten Werke aus. Auch sind aus der römischen und griechischen Mythologie erheblich mehr Svenen behandelt worden als aus der griechischen und römischen Geschichte. Das hängt sichtlich damit zusammen, daß die meisten historischen Werke erst spät ediert und erst spät einem

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Zur Themenverteilung vgl. die durchaus repräsentativen Materialzusammenstellungen bei Pigler und im D. I. A. L. Beide Arbeiten sind in Anm. 1 zitiert. Zu den folgenden Ausführungen über die Ovidrezeption vgl. auch den schon in Anm. 1 erwähnten Aufsatz von Sluijter. Walther Kraus, Artikel P. Ovidius Naso, in: Der kleine Pauli, Lexikon der Antike, hrsg. von Konrat Ziegler und Walther Sontheimer, München, Bd. IV, 1979, Sp. 383 ff., vgl. bes. Sp. 387. Vgl. Eric Jan Sluijter, 1980/1 (zit. in Anm. 1), S. 55.

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breiteren Publikum durch Übersetzung und Darstellungsfolgen bekannt gemacht wurden. Dies sei an Titus Livius' „Ab urbe condita libri" illustriert, in dem die eingangs erwähnte Geschichte von Sophonisbe beschrieben ist. 8 Livius hatte in 142 Büchern die Geschichte Roms von der Gründung bis zum Tode des Drusus im Jahr 9 vor Chr. beschrieben. Dieses Werk galt in der Kaiserzeit als die maßgebliche Autorität für die Geschichte der römischen Republik. In der Übergangszeit zwischen Antike und Mittelalter ist der Verlust an Handschriften am größten. Was bewahrt blieb, war im Mittelalter nur wenig verbreitet. Heute sind von den 142 Büchern nur 35 erhalten. Wiederentdeckt wurde Livius' Werk in der italienischen Renaissance. 1469 wurde es erstmals in Rom wieder herausgegeben, 1531 in Basel. 1541 erschien dann eine niederländische Übersetzung, „Römsche Historien, nun erstmal in Nederlantsche Spraken gedruckt. Antwerpen 1541." Von den deutschen Übersetzungen erwähne ich die 1571 in Frankfurt bei Feierabend erschienene. 9 Anstelle der verlorenen Bücher waren Zusammenfassungen der einzelnen Bücher abgedruckt, die bereits in der Antike erstellt worden waren. Im Gegensatz zum Werk von Livius ist Valerius Maximus' „Facta et dicta memorabilia", in dem die Geschichte von Artemisia erwähnt wird, im Mittelalter hoch geschätzt worden. Das Werk bietet eine Sammlung von Beispielen vorbildhaften Verhaltens aus dem Bereich der Religion, der politischen Institution, der Tugenden und der übrigen Lebensbereiche. In der Antike wurde dieses Handbuch nur vereinzelt benutzt, es gewann in der Spätantike an Beliebtheit. Für die enorme Rezeption im Mittelalter sprechen die etwa 350 vollständigen Handschriften, und seit dem 14. Jahrhundert die Kommentare und Übersetzungen in das Italienische, Französische und Katalanische. „Valerius Maximus' Exempla haben ihre Bedeutung als historische Quelle ..., als Symptom des rhetorischen Betriebs der frühen Kaiserzeit und schließlich als Vermittler eines anekdotisch strukturierten Antikenbildes im Mittelalter und der frühen Renaissance." 10 1476 erschien eine lateinische Ausgabe, der eine ganze Flut weiterer Editionen folgte. Schon 1485 wurde eine französische Übersetzung herausgebracht, 1565 bei Feyerabend in Frankfurt eine deutsche und 1614 in Rotterdam eine holländische. Wir können also sowohl bei der Sophonisbe-Geschichte, die von Livius erzählt wird, wie bei der Artemisia-Erzählung, die von Valerius Maximus erwähnt wird, feststellen, daß sie für die Künstler in der Originalsprache wie in Übersetzung in die Muttersprache nachlesbar war. 8

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Manfred Fuhrmann, Artikel „Livius, in: Der kleine Pauly, Lexikon der Antike, München Bd. III, Sp. 689 ff. vgl. bes. Sp. 698. Livius und Florus, Von Ankunfft und Ursprung deß Römischen Reichs. Verteutscht durch Zachariam Müntzer, Frankfurt a. M. Georg Rab und Weigand Hahn (für Siegmund Feierabend) 1571 (mit Holzschnitten von Jost Amman). In dem Überblick über Valerius Maximus folge ich u. a. Peter L. Schmidt, Artikel V. Maximus, in: Der Kleine Pauly, Lexikon der Antike, München, Bd. V, 1979, Sp. 1 1 1 7 f . , das Zitat Sp. 1118.

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Rubens nannte eine bedeutende Bibliothek sein eigen und war mit Gelehrten aus aller Welt befreundet und im geistigen Austausch. Rembrandt besaß zwar nur 15 Bücher, darunter eine alte (wohl vom Luthertext geprägte) niederländische Bibel, eine hochdeutsche Gesamtausgabe von Flavius Josephus, vermutlich eine hochdeutsche Ausgabe des Livius mit den Illustrationen von Jost Amman nach Entwürfen Johann Bocksbergers d. J., eine hochdeutsche Ausgabe von Fronspergers Kriegsbuch und elf andere Bücher. 11 Von den meisten der elf weiteren Bücher kennen wir den Titel nicht. Valerius Maximus Werk kann darunter gewesen sein. Aber selbst wenn Rubens oder Rembrandt eines der Werke nicht besessen haben sollte, das Ausleihen von Büchern ist vielfach belegt. Wir können also davon ausgehen, daß beide Künstler beide Erzählungen nachlesen konnten. Welche Informationen konnten sie aus dem Text erhalten? Der Tod der Sophonisbe wird von Livius im 30. Buch, Kap. 5 berichtet. Sophonisbe war Königin von Numidien und Tochter von Hasdrubal. Der patriotischen Karthagerin gelang es, ihren Mann Syphax im Kampf zwischen Rom und Karthago auf der Seite ihrer Heimatstadt zu halten, auch als ihre Beziehung zueinander schon erkaltet war. Der Sieg Roms ließ sich jedoch nicht aufhalten. Syphax wurde von dem mit Rom verbündeten Masinissa und den Römern gefangengenommen. Sophonisbe fiel bei der Kapitulation der Stadt Cirta in Masinissas Hand. Begleitet von ihren Jungfrauen stand die Königin in kläglichem Gewand vor ihm und bat ihn flehentlich, sie vor den Römern zu schützen. Massinissa ließ sich erweichen und nahm sie dadurch unter seinen Schutz, daß er sie zur Frau nahm. Da der von Scipio zur Rede gestellte Syphax seine Bündnis-Untreue damit entschuldigte, daß er unter Sophonisbas schädlichen Einfluß geraten sei, fürchtete Titus, auch Massinissa würde dem erliegen. Daher machte er Massinissa schwere Vorwürfe darüber, daß er diese Feindin ohne Rücksprache mit ihm geheiratet habe und verlangte ihre Auslieferung. Massinissa aber wollte nicht, daß seine Frau in die Hände der Römer fiele und schickte einen Diener mit einer Nachricht zu ihr, der ihr einen tödlichen Trank geben sollte. „Sie hette in zwey ding gebeten / daß er sie den Römern nit übergeben / oder so er sie darfür nit fristen köndt / daß er sie mit seiner Hand töten wollte. Nun bezeugte er mit allen Göttern / daß er allen müglichen fleiß angewendet hette / damit sie niet in der Römer gewalt käme ... Wo sie aber je lieber sterben / denn sich in der Römer gewalt ergeben wolt / so schickt er ir einen Tranck / damit sie das für kommen möchte. Da Sophonisbe diese Rede höret / stellet sie sich jämmerlich / und sprach mit kläglichen Worten: Wehe dieser Botschaft / soll ich elende Frauw nicht anderer Zugab und Ehesteuwer von meinem Herren und Eheman gewertig seyn. Aber o Masanissa, hastu mir nichts bessers können leysten / so nim ich es zu danck an ... Solt icc warten biß mein Vaterland auch / als diß Königreich / gewonnen un zerstört / un ich eins

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Zu Rembrandts Bibliothek vgl. C. Tümpel, Studien zur Ikonographie der Historien Rembrandts, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 20, 1969, S. 1 0 7 - 1 9 8 , vgl. bes. S. 109 ff.

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hochmütigen Römers dienstmagd würd / So erkenn ich / daß mein Leben nicht zu freuden / sondern zu noch größeren hertzleid und jammer gereichen würde. Hab ich bißher ehrlich gelebt / so wil ich auch ehrlich mein Leben enden / un bekenne doch / daß ich baß gestorben were / wo ich mich nicht wider verheuratet hette. Und nam damit das Gifft / und tranck es unerschrocken / und stunde mit viel kläglichen und jämmerlichen Worten so lang / biß der vergifft Trank an ir wircket / Da legt sie sich auff ein Bett / un nam also ir end." 12

Auch die Erzählung von Artemisia handelt von dem Tod einer heldenhaften Frau. Artemisia war die Tochter des Hekatomnos und Gattin ihres Bruders Maussollos. Nach seinem Tode im Jahre 353 folgte sie ihm als Herrscherin auf dem Thron. Sie errichtete für ihn ein monumentales Grabmal, das Maussolleion, das in der Antike zu den Weltwundern gezählt wurde. Nach einer prächtigen Totenfeier siechte sie — wie die Überlieferung meldet — aus Kummer über den Verlust ihres geliebten Mannes hin und starb im Jahre 353. Ich zitiere hier die niederländische Ausgabe von 1614: „Wtlantsche liefden zijn oock rechtveerdich / door de donckerheydt der onwetenheydt niet verduystert: van welcken het genoech zijn sal / weynige aengheroert te hebben. Hoe seer dat Artemisia de Coninginne van Carien over hare overlede man Mausolom, getreurt heeft / dat is siecht / dat men daer over / nae de verhevenheyt van allerlei tsamen gesochte eere / en een graf tot seven wonderwercken toe uytgebreyt / wil disputeren. want wat wilt ghy doch d'eeren by een soecken / oft van dat heerlijcke graf spreke / daer sy selve Mausoli levendige + graef heeft begeert te zijn / naert getuygenisse der genen / die schrijven datse het gebeente des overleden / onder den dranck gemengt / gedroncken heeft?"

In den Marginalien ist noch hinzugefügt worden: „ + of levendich ende aessem hebbende." und „Suid. schrift uit Theopomp, dat se van treurichheydt is vergaen." 13

Vergleichen wir nun beide Texte miteinander und beziehen sie auf die Bilder (Abb. 111, 113), so wird deutlich, daß der Text für die Interpretation nicht ausreicht. Wir können bei beiden Gemälden — wie es in der Forschungsgeschichte geschehen ist — den Becher mit sehr viel Argumenten als den Giftbecher deuten, oder aber als den Becher mit der Asche des Maussollos. Für beides lassen sich gute Gründe anführen. Zu einer präzisen Deutung gelangen wir nur, wenn wir uns fragen, wie die beiden barocken Künstler und überhaupt Künstler des 16. und 17. Jahrhunderts beim Entwurf ihrer Gemälde vorgingen. Und hier stelle ich nun eine These auf, die schon etwas ergraut ist, weil ich sie zuerst vor zwanzig Jahren in einem Seminar von Wolfgang Schöne vertreten habe,

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Zitiert nach der in Anm. 9 genannten Übersetzung. Valerii Maximi factorum et dictorum memorabilium libri novem (4,4 Ext. 1); im Text abgedruckt die 1614 in Rotterdam erschienene niederländische Übersetzung.

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die aber auch bei diesen Gemälden erst die Voraussetzung für eine sichere Deutung schafft: Die gesamte Barockikonographie ist entscheidend durch die Graphik und Buchillustration des 16. und 17. Jahrhunderts geprägt, die ihrerseits wieder auf das Mittelalter zurückgeht. Nur wenn wir uns die Graphik und Buchillustration vergegenwärtigen, können wir die Werke des Barock mit einem unbekannten Thema sicher deuten, denn bei vielen Themen hat sich schon im Mittelalter die Bildtradition vom wörtlichen Text gelöst. In dichterischer Phantasie sind Motive hinzugefügt worden, von denen der Text nichts berichtet.14 Von fundamentaler Bedeutung ist weiterhin, daß gerade die gelehrten Künstler manchmal Motive hinzufügten, die von späteren Künstlern übernommen und auch auf andere Themen übertragen werden. Wir müssen also auch die Sprache der Renaissance- und Barockkunst kennen, den höfischen Stil und die Zeichensprache der Zeit, um in der Lage zu sein, solche Werke angemessen zu interpretieren. In der italienischen und französischen Kunsttheorie wurde gefordert, die Künstler sollten sich den Themen zuwenden, die schon zuvor dargestellt worden waren, und in der Variation und Umgestaltung des Vorbildes ihre Erfindungsgabe zeigen. 15 In der Praxis sah das so aus, daß in vielen Lucasgilden und Malerinnungen den Gesellen für ihre Meisterstücke graphische Vorlagen gegeben wurden, die sie in ein Gemälde übersetzen mußten.16 Die niederländischen Kunsttheoretiker forderten, die Entlehnungen müßten in den eigenen Stil übertragen werden. Wie man in einer Suppe auch nicht jede Zutat für sich schmecken dürfe, vielmehr sich alles zu einem wohlschmeckenden Gericht verbinden müsse, so müßten auch die einzelnen geraubten Motive nicht als solche erkennbar bleiben, sondern zu einer Gesamtkomposition verschmelzen.17 Bei den barocken Künstlern, auch bei Rubens und Rembrandt, gehörte das Kopieren und Variieren von Vorbildern, das Transformieren eines Themas in das Bildmuster eines anderen, die Übertragung eines Themas aus der Simultandarstellung in eine Einzelszene, aus der Graphik in die höhere Gattung der Malerei, nicht nur zur Ausbildung, sondern auch zum eigenen Arbeitsstil. Beide Künstler besaßen eine königliche Kunstsammlung, auf die sie zurückgreifen konnten.18

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S. Anm. 1. Rensselaer W. Lee, Ut Pictura Poesis: The Humanistic Theory of Painting. New York 1967 (vorher erschienen im Art Bulletin, 22, 1940), vgl. Kap. II Invention, S. 16 ff. Die Tradition ist vielfaltig belegt, vgl. etwa den Katalog der Ausstellung des Deutschen BibelArchivs in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Schrift, Bild und Druck der Bibel, Hamburg 1955, Nr. 119. Vgl. den glänzenden Abschnitt „Originaliteit en ontlening in de 17de eeuw" bei J. A. Emmens, Rembrandt en de regels van de kunst, in: S. 111 —115. Dort auf S. 111 der im Text besprochene Kommentar von Carel van Mander zu Entlehungen. Christian Tümpel, Rembrandt in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlts Monographien, hrsg. von K. Kusenberg, Bd. 251, Reinbek, 3. Auflage 1984, S. 1 0 6 - 1 1 4 .

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Was bisher allgemein gesagt worden ist, soll nun an einer Untersuchung des Artemisia- und des Sophonisbe-Themas erläutert werden. Wenn wir die Bildtradition auf ihre inhaltlichen Motive hin untersuchen, werden wir auch Rubens' und Rembrandts Gemälde sicher deuten können. Wenden wir uns der SophonisbeGeschichte zu. Sophonisbe Nach Pigler scheint das Thema in der Neuzeit zuerst in der italienischen Frührenaissance gemalt worden zu sein, und zwar von Bernardo Fungai auf seiner Cassonetafel mit der Geschichte des Publius Cornelius Scipio. 19 In der Mitte dieses Werkes thront Scipio auf einem Sessel. Links von ihm erkennen wir Lelius und Syphax, im Hintergrund ist das Lager Scipios geschildert. In der rechten Szene bedeutet Scipio dem Massinissa, daß er auf Sophonisbe, Hasdrubals Tochter, zu verzichten habe. In der linken Szene erscheint die Römerfeindin Sophonisbe. Schon in dieser Darstellung ist die Ikonographie deutlich ausgeprägt: Sophonisbe, von einigen Mädchen begleitet, erhält den Giftbecher durch den Diener angeboten. Aus dem gleichen humanistisch geprägten Milieu der Frührenaissance stammen die beiden Pendants der Mantegnawerkstatt oder — nachfolge, die sich in der National Gallery in London befinden (Abb. 9320). Sie zeigen Sophonisbe und die Vestalin Tuccia. Der Künstler benutzt eine vor allem bei Andachtsbildern und in der Plastik gebräuchliche Bildform: er löst die Figuren aus ihrem szenischen Zusammenhang und stellt sie isoliert dar. Populärer wurde die Sophonisbe-Szene (wie im übrigen auch die Artemisia Geschichte), als humanistisch gebildete Stecher der Renaissance sie als Vorwurf wählten und durch ihre Kupferstiche bekannt machten. Die ikonographischen Lösungen, die sie fanden, haben nicht nur Künstler des 16., sondern auch des 17. und 18. Jahrhunderts entscheidend beeinflußt. Der in Nürnberg geborene Kleinmeister Georg Pencz hat in einem Kupferstich (der nicht datiert ist und m. E. von Landau mit 1539 zu spät angesetzt wird) die Ikonographie dieser Szene geprägt (Abb. 94). 21 Sophonisbe sitzt in einem Innenraum auf einer Bank. Sie trinkt das Gift aus dem Pokal. Der bewaffnete Bote hält in seiner Linken noch den Hut, den er zum Gruß und als Zeichen der Demut 19

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Paul Schubring, Cassoni, Truhen und Truhenbilder der italienischen Frührenaissance, Ein Beitrag zur Profanmalerei im Quattrocento, Leipzig, Text- und Tafelband 1915, Kat. Nr. 485 und Taf. CXV. E. Tietze-Conrat, Mantegna, Gemälde, Zeichnungen, Kupferstiche, London 1956, S. 168 u. Abb. 28. Zur Forschungsgeschichte vgl. Martin Davies, The Earlier Italian Schools, National Gallery Catalogus, London 1961 2 , S. 340, Nr. 1125 B. Mit Recht wird dort die Vermutung zurückgewiesen, es handle sich bei den Pendants um Fälschungen. David Landau, Catalogo completo dell'Opera grafica di Georg Pencz, in: I classici dell'incisione 6 - 7 , Mailand 1978, Nr. 90 B. 82.

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abgenommen hat. Mit seiner Rechten unterstreicht er seine Worte. Deutlich hat der Künstler den Boten kleiner als die Königin wiedergegeben, so daß der Bote — obwohl er steht, die sitzende Herrscherin kaum überragt. Durch dieses Mittel macht der Künstler auf den sozialen Rangunterschied aufmerksam und hebt die Hauptperson deutlicher hervor. 1553 hat der Soester Künstler Heinrich Aldegrever in seinem Kupferstich mit Sophonisbe Pencz' Komposition leicht abgewandelt (Abb. 95). 22 Die Königin sitzt in einem Innenraum auf einem Thron und trinkt ruhig das Gift aus einem Pokal. Der Bote hat ehrfürchtig sein Barett abgenommen und hält seine Hand betroffen vor seine Brust. Unter dem Baldachin ist eine Tafel mit folgendem erklärenden Text angebracht: MASINISSA SCIPIONIS CONSILIO SOPHONISBEN NUMIDIE REGINAM RELINQUENS NE IN MANUS RO INCIDERET VENEM U EI MISIT QUO HAUSTO EXPIRAVIT.

Dieser Text bestätigt, daß der Livius-Text rezipiert wurde, demzufolge ein Bote (und nicht Massinissa selbst) das Gift brachte. In den verschiedenen deutschen und niederländischen Liviusausgaben wurden mehrere Szenen aus der Sophonisbegeschichte illustriert: u. a. ,Sophonisbe bittet Massinissa um Hilfe' und ,Sophonisbe trinkt das Gift'. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde in den deutschen wie in den niederländischen Livius-Ausgaben häufig ein Holzschnitt abgedruckt, der zeigt, wie Sophonisbe vor dem Tor des Palastes das ihr überreichte Gift trinkt (Abb. 96). 23 Hinter ihr steht eine Zofe. Der Bote hält in seiner Linken ein Gefäß. Vor dem Palast steht die Wache. In den niederländischen und deutschen Ausgaben aus dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts wird oft der von Jost Amman nach Entwurf von Johann Bocksberger d. J. geschnittene Holzschnitt verwendet (Abb. 97). 24 Die Szene ist im Palast wiedergegeben. Sophonisbe trinkt, von drei Mädchen begleitet, das Gift. Mehrere Boten sind erschienen, zwei halten je einen Pokal. Im nördlichen Europa scheint das Thema während der Renaissance noch nicht in einem Gemälde dargestellt worden zu sein. Nur auf einem Brettspiel, das Hans Kels 1537 für Kaiser Karl V schuf und das reich mit antiken mythologischen und historischen Szenen geschmückt ist, finden wir die Sophonisbe-Szene auf einen der

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F. W. H. Hollstein, German Engravings, Etschings, and Woodcuts, ca. 1400 — 1700, Amsterdam Bd. Iff. 1954 ff. vgl. Bd. VIII, 1952, 3 5 7 - 3 6 4 , Blatt 2. Die deutschen und niederländischen Übersetzungen von Livius aus dem zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts bilden meist den Holzschnitt eines anonymen Holzschneiders ab, der zeigt, wie Sophonisbe das Gift trinkt. Dieser Holzschnitt kann mit unterschiedlichen Szenen kombiniert werden. Vgl. z. B.: Livius, Roemsche historie, nu eerstmael in Nederlantscher Spraken ghedruckt, Antwerpen 1541, und Titi Liuij deß aller Eedsprechsten und Hochberhümptesten Geschichtschreibers Rhömische Historien, Mainz 1567. Vgl. die in Anm. 9 genannte Literatur.

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Spielsteine geschnitzt (Abb. 98). 25 Die Komposition ist deutlich von Georg Pencz' Kupferstich abhängig. Weitere Darstellungen aus den ersten beiden Dritteln des 16. Jahrhunderts sind bislang nicht bekannt geworden. In den nördlichen Niederlanden ist das Thema nach unserer jetzigen Kenntnis erst um 1630 von Pieter Lastman, dem Lehrer Rembrandts, in einem Gemälde aufgegriffen worden. Wenn dieses auch verschollen ist, so ist die Komposition m. E. doch durch eine offensichtlich getreue Nachzeichnung — die ich François Venant zuschreiben möchte — überliefert (Abb. 99). 26 Diese bildmäßige Zeichnung wird in der Forschung für ein Werk Lastmans gehalten, und zweifellos stammt die Komposition auch von Pieter Lastman. Die Strichführung weist dagegen eindeutig auf François Venant. Von daher halte ich das Blatt für eine Nachzeichnung Venants nach einem verschollenen Gemälde Lastmans; dessen Komposition gibt einen früheren Moment wieder als die bisher besprochenen Werke. Denn er hat — für ihn durchaus charakteristisch — die Szene in eine Erkenntnisszene übersetzt. Sophonisbe erschrickt, fahrt zusammen, als die die Botschaft bekommt. Diese Reaktion wird durch das furchtsame Verhalten der alten Frau verstärkt. Der ruhige Bote dagegen verkörpert den unausweichlichen Befehl. Im Hintergrund wird das Portal des Palastes gezeigt. Soldaten halten Wache. Man schaut durch das Portal auf römische Architektur. Deutlich ist, daß Lastman sowohl die Graphik wie die Buchillustrationen in seiner Komposition verarbeitet hat. Lastmans verschollenes Gemälde prägte zwei Bilder von Rembrandtschülern: Gebrandt van den Eeckhouts 1664 datiertes Gemälde im Herzog Anton UlrichMuseum Braunschweig und Salomon de Könincks Gemälde in der University of Southern California. Eeckhout hat in seinem Werk Lastmans breitformatige Komposition ins Hochformat übertragen, Sophonisbe als Hauptfigur stärker auf den Betrachter bezogen und den Boten strenger im Profil gewendet (Abb. 101). 27 Der Rembrandtschüler übernimmt den Motivschatz des Vorbildes, erweitert ihn aber noch. Statt der einen Kammerzofe zeigt er drei, die unterschiedliche Reaktionen und Lebensalter verkörpern. Eine Greisin betet, ein junges Mädchen weint, ein anderes blickt verzweifelt zum Himmel. Sophonisbe selbst gibt sich auch ihren Gefühlen hin, verzweifelt, wie Livius es ausführlich beschreibt. Das Tränentuch in iher Rechten veranschaulicht die Trauer. Aber dennoch bewahrt sie Contenance, wie es die höfische Etikette vorschreibt. Mit Würde hat sie sich in ihr Schicksal gefunden.

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Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses, II, 1885, Taf. XI, 2. Die Nachzeichnung von François Venant nach Pieter Lastman wird in der Forschung meist als Artemisia gedeutet, so u. a. von Kurt Bauch, Handzeichnungen Pieter Lastmans, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, N. F. 3/4, 1952/53, S. 2 2 0 - 232, vgl. s. 118 u. Abb. 12; J. Richard Judson, 1959 (vgl. Anm. 2), S. 192 bei Nr. 97. Rüdiger Kiessmann, Die holländischen Gemälde, Kritisches Verzeichnis, Herzog Anton UlrichMuseum Braunschweig, Braunschweig 1983, S. 60 f., Kat. Nr. 260 m. Abb.

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Die ausgestreckte Linke ruht auf dem Brief Massinissas. Ihren Zepter hat sie aus der Hand gelegt. Auch in Salomon de Könincks Kniestück mit lebensgroßen Figuren (Abb. 100) finden wir die gleiche Emotionalisierung der Szene. Die Königin schreckt vor dem Pokal mit dem Gift zurück. 28 Ihre Rechte hat sie beschwörend erhoben, ihre Linke mit dem Tränentuch drückt sie an die Brust. Den Deckel des Pokals lüftet hier die greise Kammerzofe mit grimmigem Gesicht. Das junge Mädchen dagegen verkörpert die Trauer. Links ist der Brief Massinissas zu erkennen. Im Text wird dieser Brief nicht erwähnt; die Rembrandtschüler haben die Nachricht Massinissas dadurch verbildlicht, so wie in der Bildtradition Davids Botschaft an Bathseba durch einen (vom Text nicht erwähnten) Brief symbolisiert wurde. In den niederländischen Darstellungen des 17. Jahrhunderts können wir — trotz der Beachtung der höfischen Etikette — eine stärkere Betonung der Emotionen beobachten; das gleiche können wir auch in der französischen und italienischen Malerei feststellen. Guido Reni schuf um 1630 eine Darstellung Sophonisbes als herausgelöste Einzelfigur (Abb. 102). Man hat dieses Gemälde bisher als Artemisia gedeutet und es sogar als eine Darstellung der Zauberin Circe interpretiert, weil im Inventar des Kardinals Ludovisi, das im Jahre 1633 erstellt wurde, „una femina, che tiene una tazza i figurata per Circe maga alta p m ' cinque aufgeführt ist." 29 Sollte unser Gemälde mit diesem identisch sein, dann hätten wir hier eine der zahlreichen Fehldeutungen, die vor allem die Herauslösungen von Einzelfiguren oder Gruppen aus einer Szene immer wieder erfahren haben. Sophonisbe hält mit beiden Händen die Trinkschale und blickt mit erhobenen Augen zum Himmel. Es ist der Blick der vom Himmel Hilfe Erwartenden, •Sich auf eine höhere Gerechtigkeit Berufenden, so ist sie auch in einem Gemälde in Padua, das Niccolò Renieri zugeschrieben wird (Abb. 103), wiedergegeben. Pigler deutet falschlich sowohl Renis wie das zuletzt besprochene Gemälde als Artemisia. 30 Schon der Vergleich mit dem Kasseler Gemälde (Abb. 105)31 Niccolo Renieris, eines in Mabeuge geborenen Künstlers, der erst in Rom unter den Einfluß Caravaggios geriet und später Züge der von Reni geprägten bolognesischen Schule übernahm — zeigt deutlich, aus welchem Zusammenhang die Sophonisbefigur Renis gelöst ist, selbst wenn Renieri einen späteren Moment darstellt. In Renieris Gemälde hat Sophonisbe das Gift schon getrunken. Die Trinkschale liegt umgestürzt auf dem Tisch — das deutet zeichenhaft die Gewalttätigkeit des Todes und die Schwäche in der Todesstunde an. In der Rechten hält sie den Brief. Sterbend erhebt sie ihre Augen zum Himmel. Auch in diesem Bild finden wir die greise Dienerin und das weinende junge Mädchen. 28 29

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Pigler (zit. Anm. 1), 1956, II, S. 414 u. 1974, II, S. 435. Cesare Garboli, Guido Reni (Kritischer Katalog von Edi Baccheschi), in: Classici dell'Arte, Bd. 48, Mailand 1971, Nr. 142. Pigler (zit. Anm. 1), 1956, II, S. 355 u. 357 (Abb.) und 1974, II, S. 371 u. Tafelband Taf. 301. Hermann Voss. Die Malerei des Barock in Rom. Berlin 1924, S. 146 (Abb.) und S. 479 f.

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Renieris Landsmann Simon Vouet (der von 1612—1627 in Italien weilte) schuf in dem Gemälde der Kasseler Galerie ein streng komponiertes Halbfigurenbild (Abb. 106), 32 das sich an eine Komposition Renis mit einem anderen Thema anschließt, ikonographisch aber deutlich den deutschen Stechern des frühen 16. Jahrhunderts folgt. Sophonisbe empfangt den Becher aus der Hand des Dieners, der mit seiner Rechten die Worte unterstreicht. Sie blickt ihm tief in die Augen. Die Alte schaut verzweifelt zum Himmel. In Francesco Solimenas Dresdner Gemälde reicht der Bote in dunkler Rüstung der erhöht thronenden Königin das Gefäß mit dem Gift empor. 33 Giovanni Antonio Pellegrini wandelt das traditionelle Schema insofern ab, als Sophonisbe hier von einem kleinen Jungen den Giftbecher, der auf einem Tablett steht, gereicht bekommt. 34 Der Bote in der Rüstung legt ihr den Brief Massinissas aus. Mit gebrochenen Augen blickt die Königin zum Himmel. Ein Mädchen wendet sich ab und wischt die Tränen weg. Schließlich hat auch einer der größten Maler, Giovanni Battista Tiepolo, sich dem Sophonisbe-Thema zugewandt. Er hat beide Szenen behandelt, sowohl den Tod der Sophonisbe wie das Überreichen des Giftbechers. 35 In den großartigen Kompositionen im Festsaal des Palastes Dugnani in Mailand, die er 1731 geschaffen hat, schildert er die Übergabe des Giftes. Wie auf den meisten Bildern Tiepolos, welche feierliche Vorgänge schildern, spielt sich der Vorgang auf einer erhöhten Bühne ab, zu der einige Stufen emporführen. Der Bote erscheint als dunkle Figur unter dem Portal und reicht den Pokal (den ein kleiner Knappe auf einem Tablett herangetragen hat) zu Sophonisbe empor. Es ist, als ob ein Abgrund den Boten und die Königin voneinander trenne. Die Königin, die in ihrer Rechten den Brief hält, greift mit ihrer Linken nach dem Becher, stimmt also in ihr Geschick ein. Der Kontrast zwischen der dunklen soldatischen Macht und der zerbrechlichen Gestalt der Königin wirkt bedrohlich und läßt das Ende vorausahnen. Es war ein weiter Weg von den frühen Darstellungen der italienischen Frührenaissance über die Kupferstiche und Holzschnitte des 16. Jahrhunderts bis hin zu diesem Meisterwek des 18. Jahrhunderts. Die Ikonographie der Szene ist erstaunlich einheitlich. Im 16. Jahrhundert wurde meist dargestellt, wie Sophonisbe im Begriff ist, das Gift zu trinken. Im 17. Jahrhundert wurde dagegen häufig die Becherüber-

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Voss, 1924 (zit. Anm. 31), S. 142 (Abb.) u. 476 f. Katalog: Die Staatliche Gemäldegalerie zu Dresden. Vollständiges Verzeichnis der älteren Gemälde. Die romanischen Länder. Dresden 1929, S. 217 f., Nr. 500 (Abb.). Arthur von Schneider, Aus der Sammlung Robert Scholz-Forni. Hamburg 1937, Nr. 35 m. Abb. Vgl. G. B. Tiepolo, Der Tod der Sophonisbe. Paris, Slg. Patino (Antonio Morassi, A complete Catalogue of the Paintings of G. B. Tiepolo, London 1962, Abb. 290. Zu dem Gemälde im Festsaal des Palastes Dugnani vgl. Eduard Sack, Giambattista & Domenico Tiepolo, ihr Leben und ihre Werke. Hamburg 1910, S. 50 f. u. Abb. 36; Guido Piovene / Anna Pallucchini, L'opera completa di Giambattista Tiepolo. In: Classici dell'Arte. Mailand 1981, Nr. 62 H.

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gäbe, in der sich das Schicksal ankündigt, oder der bewegende Moment des Sterbens gewählt. Die Königin bewahrt, den höfischen Idealen entsprechend, auf fast allen barocken Werken die Contenance. Der Hofstaat drückt die Gefühle aus, die den Betrachter ergreifen sollen. Auffällig ist, wie schnell die emotionalisierte caravaggeske Darstellungsweise von Historien auch in den Niederlanden rezipiert worden ist. Die Versuchung liegt nahe, nun Rubens' und Rembrandts Gemälde mit der Sophonisbe-Ikonographie zu vergleichen. Eine Reihe von Motiven stimmen überein: bei Rubens die Kammerzofen, das Halten des Pokals, der Blick zum Himmel, die Repräsentanten des Hofstaats. In Rembrandts Bild sehen wir das Überreichen des Pokals (allerdings durch eine Kammerzofe), einen alten Diener im Hintergrund. Die Unsicherheit der älteren Forschung sollte uns aber davor warnen, nun schon Schlüsse zu ziehen, bevor wir nicht auch die Artemisia-Tradition untersucht haben. Artemisia Georg Pencz, der die Sophonisbe-Ikonographie durch einen Kupferstich entscheidend geprägt hatte, schuf auch die wichtigste Vorlage zum Artemisia-Thema (Abb. 104).36 Die Königin sitzt auf einer Bank in einem palastartigen Gebäude. Sie hält einen Pokal in ihrer Rechten. Eine vor ihr stehende Dienerin schüttet in gebückter Haltung vorsichtig aus einem Sack Asche des Verstorbenen in den Pokal. Im Vordergrund liegen die Rüstung und die Waffen des Verblichenen, im Hintergrund ist seine Verbrennung durch Artemisia (und das Maussolleion?) angedeutet. Deutlich wird also die Asche, das Behältnis, in dem sie verwahrt wird, die Verbrennung und vielleicht auch noch das Maussolleion gezeigt. Maerten van Heemskerck hat in seiner Reihe der Sieben Weltwunder das Maussolleion als eine gewaltige Pyramide abgebildet. Im Vordergrund sehen wir, wie Artemisia die Asche ihres Mannes in einem Weinpokal hält (Abb. 107).37 In der Barockmalerei konnten Motive aus beiden graphischen Werken miteinander kombiniert werden. In der italienischen Kunst bildete sich ein eigener Typus der Darstellung heraus, der zweifellos von der deutschen Graphik herkommt, aber doch die antiken oder biblischen Helden aus ihrem szenenischen Zusammenhang herausgelöst darstellt. So hat etwa Domenico Fetti, der in vielen seiner Werke auf die nördliche Graphik zurückgeht, Artemisia als eine einsam trauernde Herrscherin geschildert (Abb. 108).38 Gebrochen sitzt sie auf ihrem Thron, das Tränentuch müde in ihrer 36 37

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Landau, 1981 (zit. in Anm. 21), Nr. 91 B. 83. Ullrich Fechner (Bochum) rief mir dieses Blatt ins Gedächtnis zurück. Illja Veldman sei dafür sehr herzlich gedankt, daß sie mir ihr Foto des Kupferstichs freundlicherweise entlieh. M. Marangoni, Domenico Fetti. In: Dedalo, 3, 1 9 2 2 - 1 9 2 3 , S. 6 9 5 - 7 1 0 , 7 7 7 - 7 9 2 , vgl. S. 783. Eine andere Fassung dieser Komposition befindet sich in Wien, vgl. Kunsthistorisches Museum.

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Linken haltend. Mit der Rechten faßt sie den Pokal, in den aus der auf einer steinernen Bank stehenden Urne die Asche gefüllt ist. Im Hintergrund sieht man die Errichtung des Maussolleion. Noch stärker der römischen und bolognesischen Traditions verpflichtet ist Francesco Furini mit seinem Artemisia-Gemälde, das sich 1907/9 in der Kgl. Galerie zu Augsburg befand (Abb. 109). In der Beschreibung Ludwig van Buerkels heißt es dazu: „Dargestellt ist Artemisia, welche ein Gefäß in der Rechten hält und mit der Linken eine Tollkirsche(P) aus einer Schale nimmt, nach ihrem erregten Ausdruck zu schließen, um sich zu vergiften". 39 Von Buerkel, der hinter der Tollkirsche schon ein Fragezeichen setzte, hat die Sprache des Bildes zweifellos falsch gelesen. Die Königin selbst füllt mit einem Löffel von der Asche ihres Mannes, die sich auf einer großen flachen Schale befindet, in das Trinkgefäß. Der Plan für den Bau des Maussolleion, das künftig die Überreste ihres Mannes bewahren soll, wird teilweise durch die Schale und die Urne, die die Asche jetzt enthalten, verdeckt. Artemisia aber, die schmerzerfüllt die Handlung vollzieht, wird zu einem lebendigen Behältnis ihres Mannes werden. In den besprochenen italienischen Werken werden die Trauer Artemisias, ihr Schmerz und ihre Einsamkeit herausgestellt. Dagegen wird in den holländischen Gemälden derselben Zeit die Szene stärker in ein höfisches Zeremoniell übersetzt, in dem die Würde Artemisias bei dieser unglaublichen Tat hervorgehoben wird. Das mag damit zusammenhängen, daß die Artemisiageschichte am niederländischen (wie im 16. Jahrhundert schon am französischen) Hof zur Idealisierung der Herrscherehe benutzt wurde. 1562 etwa schrieb Nicolaes Houel eine — mir im Wortlaut noch nicht bekannte — Geschichte der Artemisia mit einer Widmung an Catharina de Medici, der Witwe des französischen Königs Henri II: Er zog darin eine Parallele zwischen Mausseilos und Henri II. Wie sehr sich die Königin in dieser pathetischidealisierten Rolle gefiel oder zu gefallen hatte, wird daraus deutlich, daß für sie eine Teppichserie mit der Artemisia-Geschichte nach Entwürfen von Antoine Caron gewebt wurde. 40 Auch Gerrit van Honthorsts Gemälde der Artemisia wird mit dem Auftrag eines Herrscherhauses in Verbindung gebracht (Abb. 110). Scheurler hat zu zeigen versucht, daß es von Amalia von Solms in Auftrag gegeben wurde und mit einem Bild identifiziert werden kann, das im Inventar von Huis ten Bosch (dem Palast, den Pieter Post zwischen 1645 und 1652 für Amalie errichtet hatte) erwähnt wird. 41 Honthorst hat in seinem Gemälde den Stoff nach allen Regeln der Kunst

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Verzeichnis der Gemälde. Bearbeitet von Klaus Demus. Führer durch das Kunsthistorische Museum Nr. 18, Wien 1973, S. 65 Taf. 47. Ludwig von Buerkel, Francesco Furini. In: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses, 27, 1 9 0 7 - 0 9 , S. 5 5 - 9 0 , vgl. bes. S. 83. Erwähnt von Christopher Brown, „Gerrit van Honthorst. Artemisia." Katalogtext in: God en de Goden, 1981 (zit. in Anm. 2), Nr. 116 unter Berufung auf Scheurler, 1969, S. 57 f. (ohne Nachweis). Scheurler, 1969, S. 57 f. Ohne bibliographischen Nachweis erwähnt von Christopher Brown (s. die

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weiter ausgesponnen: bei seiner Schilderung beachtet er das höfische Ritual, ergänzt daraus Motive, die danach angemessen und schicklich sind. Auch formal ist die Komposition sehr streng aufgebaut. Die Figuren sind reliefartig wiedergegeben. Die Königin trägt ein reiches, mit Perlen geschmücktes Kleid. Ein dunkler Schleier kennzeichnet sie als Witwe. Ihre Linke ruht auf dem Thron, ihre Rechte hält würdevoll einem reich gekleideten greisen Diener den Weinpokal entgegen. Dieser schüttet mit einem Löffel Asche des verstorbenen Maussellos in den Pokal, die er einer monumentalen metallenen Urne entnommen hat. Ein Knappe hält eine Weinkanne, was daran erinnert, daß Artemisia die Asche mit Wein mischte. Die alte Dienerin und die beiden jungen Mädchen mit ihren unterschiedlichen Reaktionen gehören zum Repertoire solcher Szenen. Eine junge Königin ist hier Witwe geworden, die würdevoll ihr Schicksal trägt. Alle Motive, die Honthorst hinzugefügt hat (reiche Kleidung, silberner Pokal, Witwenschleier, Greis, Knappe, große Urne, Kammerzofen mit unterschiedlichen Gebärden, und schließlich die beiden Alten im Hintergrund) sind nicht von der Historie wörtlich erwähnt. Vielmehr hat der Künstler sie aus den wenigen Angaben des Textes oder nach den Regeln der Schicklichkeit von dem Stand der Hauptperson (verwitwete Königin mit Hofstaat, Staatstrauer) entwickelt. Gerade weil die Ikonographie nicht so festgelegt war, konnte sie sich frei entfalten, Motive der Vorgänger aufnehmen und verändern. Bei Pieter de Grebber verwandelt sich der Greis, der die Asche des Maussollos in den Pokal Artemisias schüttet, in eine hünenhafte, prophetische Gestalt (Abb. 112). Die Szene findet in einem tempelartigen Raum als fremdartiger Kult statt, im Hintergrund verrichten Priester mit Loorbeerkränzen um das Haupt bei einer brennenden Fackel ihren Dienst. Trotz einer Abwandlung der Szene, die bei Grebber vielleicht im Maussoleum stattfindet, ist die Herkunft von Pencz' Kupferstich noch immer gut zu erkennen: Der Greis hält in seiner Linken einen kleinen Beutel mit der Asche des Verstorbenen. Das Gemälde eines unbekannten flämischen Künstlers, aus dem Umkreis Theodor van Thuldens, zeigt eine andere Konzeption: Artemisia empfängt als trauernde Witwe mit Schleier zärtlich die Urne mit der Asche ihres Verstorbenen, die von Sklaven in das Maussoleum getragen wird. Ein Weinpokal, den ein anderer Sklave trägt, weist auf die künftige Szene. Blicken wir auf das Sophonisbe- und auf das Artemisia-Thema, so entdecken wir für beide konstitutive Motive: für die Sophonisbeszene den Boten mit dem Giftbecher, für die Artemisiaszene neben dem Trinkgefaß auch die Urne oder den Sack mit der Asche, die oft in den Becher eingefüllt wird. Manchmal ist auch das Maussolleion abgebildet. vorangehende Anm.). Das Gemälde ist in seiner Deutung umstritten. Pigler (zit. Anm. 2), 1974 2 , II, S. 435 weist ausdrücklich die im The Art Quarterly 31, 1968, S. 439 vertretene Deutung als Artemisia zurück, allerdings zu Unrecht.

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Wir kommen nun auf die beiden Werke zurück, die ich eingangs besprochen hatte: Rubens' Potsdamer Tafelbild und Rembrandts Madrider Gemälde (Abb. 111 und 113). Rubens malte sein in der Deutung umstrittenes Gemälde um 1615. 42 Es wurde in der neueren Forschung von Burchard, van Gelder (1950 — 51), Judson (1959), Pigler (1974 2 ) und Schwartz (1984) als Sophonisbe gedeutet, während es J. J. Kusnetzow (1964) und C. Brown (1981) als Artemisia beschrieben. 43 Beide Themen sind schon in der Barockzeit miteinander verwechselt worden. Darum überzeugt auch die Theorie von Burchard und van Gelder (1951/2), das Potsdamer Sophonisbe-Gemälde könnte mit einem Bild identisch sein, das 1632/3 im Inventar des Palastes der Oranier in den Den Haag, des Huys op het Noordeinde, erwähnt wird. Dort heißt es: Een schilderij, staende voor de schoorsteen, de historie van Artemise, door P. P. Rubbens van Antwerpen gedaen." 44 Van Gelder argumentierte überzeugend, mit Artemise müsse Artemisia gemeint sein (und nicht Artemis), weil das Gemälde im Verkaufskatalog des Nachlasses von Willem III aus dem Jahre 1713 als Sophonisbedarstellung aufgeführt wurde. Die Verwechslung der Artemisia und Sophonisbe-Darstellung sei wegen ihrer großen Verwandschaft naheliegend, nicht aber die einer Sophonisbedarstellung mit einer Artemisszene. 45 Wird das Gemälde also schon in den Katalogen als Sophonisbe und als Artemisia interpretiert, ist die Klärung dieser Frage um so dringlicher. Welches Thema ist wiedergegeben? Die Antwort muß lauten: Artemisia. Die Königin ist von Rubens durch einen schwarzen Schleier deutlich als Witwe charakterisiert, klagend drückt sie ihre Hand (in der sie ein Tränentuch hält) an ihre Brust. Mit schmerzerfülltem Blick schaut sie zum Himmel. In ihrer ausgestreckten Rechten hält sie den Pokal, in den ein junger Diener die Asche ihres verstorbenen Mannes füllt. Er scheint sie mit einem kleinen Schälchen aus der mächtigen Urne, die im Vordergrund gelagert ist, entnommen zu haben. Links hinter Artemisia sind junge Kammerzofen dargestellt, rechts (hinter dem Knaben) greise Berater mit orientalischen Kopfbedeckungen, die die Szene deutlich als eine Begebenheit an einem antiken Hof charakterisieren. Mit den Motiven, die der Kupferstich bot, ist Rubens recht frei umgegangen. Er hat die Szene durch die Hinzufügung des Witwenschleiers und durch die Wiedergabe des Hofstaates erweitert. Statt eines Sackes hat er — aus Gründen der Würde des Gegenstandes — eine Urne abgebildet. Aber auch er wählt den von Georg Pencz verbildlichten Moment. An diesem Werk wird uns die Sprache der Bilder bewußt. Durch Gesten, Blicke, Gebärden, Motive, die jeweils das Rahmenthema erläutern, wird der Text 42

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Kieser, 1941/2 (zit. in Anm. 2), S. 157 hat ernsthafte Zweifel an der Eigenhändigkeit des SanssouciGemäldes geäußert. Ich habe es nicht im Original gesehen, doch scheint mir die Zuschreibung zutreffend zu sein. Vgl. Anm. 3. Zit. nach van Gelder, 1 9 5 0 - 5 1 (zit. Anm. 2), S. 113. ebenda S. 113 f.

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verbildlicht, in eine Bildsprache übersetzt. Diese Bildsprache selber ist bei einem königlichen Sujet, und, bei einem quasi königlichen Auftraggeber, in hohem Maß von der höfischen Etikette geprägt. Es sind rhetorische Formeln, die benutzt werden; bei Rubens ausgesprochen fest vorformulierte, von der höfischen Tradition geprägte, die additiv aneinandergefügt sind. Dagegen ist Rembrandts Gemälde weniger formelhaft, wie wir sehen werden. Er kann großzügiger mit der Sprache des Barock umgehen und setzt kaum merklich Motive ein, die von großer Empfindsamkeit zeugen. Sein Gemälde ist auf den ersten Blick nicht so eindeutig zu erklären wie Rubens' Werk. Die Königin sitzt in prächtigem Gewand auf ihrem Thron. Ihre Haare fallen über die Schulter. Mit ihrer Linken stützt sie sich auf den Tisch, mit ihrer Rechten weist sie auf ihren Leib. Ein im Bildfeld sehr viel niedriger angeordnetes junges Mädchen bringt ihr den Pokal. Im Hintergrund sehen wir einen greisen Diener. Ist dies nun der Bote Massinissas, der seine Aufgabe einfach einem Mädchen des Hofstaates übertragen hat? Oder haben wir hier den greisen Diener vor uns, den wir aus Artemisia-Bildern kennen? Nur am Original kann man das Motiv eindeutig erkennen. Reproduktionen zeigen es nicht. In seinen Händen hält der Greis einen großen Sack. Damit ist das Thema eindeutig bestimmt. Rembrandt hat den feierlichen Moment verbildlicht, in dem das junge Mädchen der gefaßten Königin die Asche ihres Mannes bringt. Das banale Einfüllen der Asche ist nicht geschildert, sondern nur angedeutet. Daher hält die junge Kammerdienerin den Pokal auch mit einem Tuch (so wie Simeon den Christusknaben auf mittelalterlichen Darstellungen mit Händen trägt, die in ein Tuch gehüllt sind). Das Mädchen hält etwas Heiliges, Numinoses: die vergänglichen Reste eines mächtigen Menschen, eines Königs. Die Königin weist auf ihren Leib. Der wird nun ein lebendiges Grabmal ihres verstorbenen Mannes sein. Der Greis, der den Sack mit der Asche hält, ist nicht nur eine Figur, die den Erzählungszusammenhang bewußt macht und dem Kunstkenner die Erinnerung an die Bildtradition dieses Themas ermöglicht, die Szene also deutbar macht. Er ist zugleich ein stummer Zeuge der exemplarischen Handlung, ergriffen wie der Betrachter. Zugleich macht er uns durch seine orientalische Kleidung bewußt, daß es sich um ein Geschehen aus der Alten Welt handelt. Neumann bemerkte 1922: „Es gibt eine lebensgroße sitzende Frauenfigur ... der in einem Nautilusgefaß etwas zu trinken dargereicht wird. Man nennt dieses Bild jetzt Sophonisbe mit dem Giftbecher. Früher nannte man es Kleopatra oder Artemisia; nichts in ihrem Ausdruck erleichtert die Bestimmung eines so affectvollen Augenblicks; sie ist ein Mannequin für herrliches Kostüm." 46 Hiermit ist Rembrandts Absicht völlig verkannt und die Sprache des barocken Künstlers nicht zur Kenntnis genommen.

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Carl Neumann, Rembrandt. München Bd. 1 f. 1922', vgl. Bd. I, S. 204.

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Weisbach, 1926, wandte dagegen ein: „Wenn man an der ruhigen, fast apathischen Haltung der Frau in einem solchen für sie höchst aufregenden Moment Anstoß nimmt, so darf daran erinnert werden, daß es sich eben um den Typus des Kostümbildnisses, nicht um eine eigentliche Historie handelt." 47 Beide Autoren verkennen die Sprache des Künstlers, sind unsensibel für die leisen Töne der Komposition — vielleicht auch deshalb, weil sie das Bild nur in mäßigen Abbildungen kannten. Die ruhige Handlung erklärt sich aus der weihevollen, fast sakralen Situation und der Würde des Amtes. Artemisia wird selbst zu einem lebendigen Grabmal für ihren Mann und tut dies in eigener Freiheit und in königlicher Würde. Das reiche Gewand macht das Bild nicht zum Kostümstück, sondern gehört zum Thema. Es ist nicht irgendeine Frau, es ist die mächtige Artemisia. Schon die Künstler vor Rembrandt haben das unterstrichen. Natürlich will der Künstler auch einen ästhetischen Reiz vermitteln, das Auge betrügen, den delikaten Stoff so preziös wiedergeben, daß dieser als gemaltes Objekt unser Auge erfreut. Warum wurde das Werk nun falsch gedeutet? Wahrscheinlich nicht nur, weil man für die Sprache des Barock unsensibel war und die Analogien in der Poesie nicht sah. Sicher auch deshalb, weil die Rembrandtforscher das Original nicht kannten und die ikonographische Tradition nicht untersuchten. In den schwachen Schwarzweißabbildungen ist der Sack mit der Asche nicht zu erkennen. Deshalb trennte sich in diesem Fall auch die Forschung so deutlich. Die spanischen Museumsleute hielten an ihrer Interpretation fest, obwohl die gesamte Rembrandtforschung seit 95 Jahren dem Titel „Sophonisbe" den Vorzug gab. Gerade bei Rembrandt, der ikonographisch wichtige Motive oft nicht kraß herausspringen läßt, sondern sie weniger betont im Hintergrund wiedergibt, ist die Kenntnis des Originals unerläßlich, will man das Werk in seiner Tiefe verstehen. Bei unserem Thema gibt es im 16. Jahrhundert eine deutliche Beziehung zwischen der Literatur und der bildenden Kunst. Sowohl in der Dichtung wie in Tapisserien wird Henri II als Maussollos, seine Witwe Catharina de Medici als Artemisia gefeiert. Es muß künftigen Untersuchungen vorbehalten bleiben, zu klären, wie sich im 16. Jahrhundert Dichtung und bildende Kunst berühren und gegenseitig beeinflussen. 48 Im 17. Jahrhundert auf jeden Fall können wir bei unserem Thema nicht von einer Beeinflussung der Malerei durch die Dichtung sprechen, sondern nur von einer gleichen Interpretation, von gleichen rhetorischen Motiven. Hans Kauffmann hatte in einer verfehlten Untersuchung Rembrandts Gemälde als eine Darstellung gedeutet, die von Jacob Cats Schilderung der Sophonisbe-Szene in dessen Trouring beeinflußt sei. „Rembrandts Sophonisba ist aber keine solche Heldin (wie bei Livius). Wie ihr eine Magd den goldenen Pokal reicht, weicht sie betroffen zurück, 47 48

Werner Weisbach, Rembrandt. Berlin und Leipzig 1926, S. 237. Vgl. dazu die Nachweise bei Brown (zit. A n m . 40).

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zaudert und legt mit dem Ausdruck des Schmerzes die Rechte auf ihre Brust. Das ist die Sophonisbe des Jacob Cats." 49 Schon Hofstede de Groot warf seinem ehemaligen Assitenten vor, daß Cats Trouring erst drei Jahre nach Rembrandts Gemälde gedruckt worden sei, so daß auch nicht der geringste Anschein dafür spreche, daß Rembrandt dieses Stück gekannt habe. 50 Heute wissen wir außerdem, daß Kauffmanns Theorie auf einer falschen Deutung des Gemäldes beruhte, die Rembrandts Bildsprache mißversteht. Sieht man aber einmal von der unzutreffenden Interpretation ab und faßt die von Kauffmann aufgeworfene Frage allgemeiner: Ist der Erzählstil der Maler durch Theaterstücke beeinflußt worden? Haben die Poeten dazu beigetragen, daß die Künstler deutlicher die Emotionen der Betroffenen zeigten? Wie sorgfaltig wir bei einer Beantwortung dieser Fragen die Texte miteinander vergleichen müssen, wie eindringlich wir vor vorschnellen Ergebnissen warnen müssen, macht Kauffmanns Aufsatz deutlich: Er schreibt, die Emotionalisierung des von ihm untersuchten Historiengemäldes gehe auf Jacob Cats zurück, denn Livius' Sophonisba sei eine Heldin. Cats aber interessierten „die physischen und mimischen Reflexe des schwachen Weibes. Beim Empfang ließ er sie erbleichen und ihr Geschick beklagen, ehe sie trinkt." 51 Ein Vergleich der Texte von Livius und Cats zeigt, daß Kauffmann in sie das Gegensatzpaar „Heldin" und „schwaches Weib" hineingelesen hat. Auch Livius' Sophonisbe wird schwach: „Da Sophonisbe diese Rede höret / stellet sie sich jämmerlich / und sprach mit kläglichen Worten: Whe dieser Botschaft / soll ich elende Frauw ... Und nam damit das Gifft / und tranck es unerschrocken / und stunde mit viel kläglichen und jämmerlichen Worten so lang / biß der vergifft Trank in ihr wircket / Da legt sie sich auff ein Bett / un nam also ir end." 52 Bei Livius werden die Emotionen dreier unterschiedlicher Momente beschrieben: Beim Empfang des Briefes klagt Sophonisbe. Beim Trinken des Giftes ist sie unerschrocken. Beim Sterben klagt und jammert sie. An diesen Aufbau hat sich Cats gehalten. Wenn er in seiner Schilderung die Szene emotionalisiert, gebraucht er Stilmittel, deren sich die Illustratoren und Maler vor ihm schon bedient hatten. Dabei mag hier noch auf ein grundsätzliches Problem hingewiesen werden. Cats beschreibt Sophonisbes Geschichte und verweist dabei auf die Textillustration. Seine Textillustration hat die Liviusillustration zum Vorbild. Fast alle Textillustrationen zu den von ihm beschriebenen biblischen und antiken Helden gehen aber auf die Buchillustrationen der Übersetzungen dieser historischen Bücher zurück, sind 49

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51 52

Hans Kauffmann, Rembrandt und die Humanisten vom Muiderkring. In: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen, 41, 1920, S. 4 6 - 7 8 , vgl. bes. S. 78. Cornells Hofstede de Groot, Rembrandt's Bijbelse en historische voorstellingen. In: Oud Holland, 41, 1 9 2 3 - 2 4 , S. 4 9 - 5 9 , 9 7 - 1 1 4 , vgl. S. 59. Kauffman, 1920 (zit. Anm. 49), S. 78. Zitiert nach der deutschen Ubersetzung von 1572 (s. Anm. 9).

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von ihnen abhängig. Es werden dieselben Momente als darstellungswürdig angesehen, die auch von den Herausgebern der historischen Bücher und ihren Illustratoren dafür gehalten wurden. Der Dichter wendet sich den von Künstlern ausgesuchten Brennpunkten der Geschichte besonders zu, gibt ihnen ein besonderes Gewicht. Das ist nicht nur bei Cats so, sondern auch bei anderen barocken Dichtern. Die bewegenden Illustrationen der historischen Bücher haben die Dichter in ihrer Themenwahl stärker bestimmt, als viele bisher annehmen. Das Zueinander von Literatur und bildender Kunst ist neu zu beschreiben.

M A R T I N SPERLICH

Watteaus Ladenschild und die Perspektive Watteaus Ladenschild des Kunsthändlers Gersaint ist in seiner Geschichte und in seinem materiellen Bestand weitgehend aufgeklärt (Abb. 116). Es wurde im Sommer des Jahres 1720 von dem schon todkranken 37-jährigen Antoine Watteau in den Vormittagsstunden einer Woche für seinen Freund, den Kunsthändler Gersaint, gemalt, der in dem Haus Nr. 35 auf Pont-Notre-Dame seine Kunstboutique hatte. Es hing dort nur vierzehn Tage, wurde von Claude Glucq erworben, ging darauf in den Besitz von Jean Julienne über, und 1745 kaufte es Friedrich der Große für das Konzertzimmer des Charlottenburger Schlosses, wo es nach langem „Exil" im Berliner Stadtschloß, nach Kriegsverlagerung und zeitweiliger Unterbringung in den Staatlichen Museen nun wieder an der Westwand des Raumes, zwischen den beiden Türen zur Goldenen Galerie, hängt und zwar, anders als bei Friedrich, der es als zwei Gegenstücke erworben hatte, wieder zu einem Teil zusammengefügt, freilich noch auf zwei gesonderten Keilrahmen montiert. Auch das ursprüngliche Format und die Anbringung als Geschäftsreklame über dem Eingang der Kunsthandlung sind geklärt, zuletzt durch die sorgfaltige Röntgenuntersuchung im Louvre 1964. 1 Das jetzt 166 cm hohe Bild ist in der Mitte der gemalten Glastür des Ladens, den es „porträtiert", geteilt worden, dergestalt daß nun die rechte Bildhälfte 155, die linke 151 cm breit ist; die Gesamtbreite beträgt jetzt also 306 cm. Beiderseits sind jedoch Streifen abgeschnitten und, als es bei Glucq zu zwei Galeriebildern umgeformt wurde und nachdem man den oberen Kurvenabschluß mit Hilfe der noch vorhandenen Leinwandabschnitte zum Rechteck ergänzt hatte, als obere Bildstreifen angesetzt. Rekonstruiert man die volle Breite, so ist diese um 49 cm größer, mißt also 355 cm. Der rechte Abschnitt enthielt analog zur linken Bildseite den Quaderpfeiler der rechten Hausecke. Die auch am Original sichtbare Bogenlinie ist freilich nicht die Grenze der Malfläche, sondern es müssen noch ca. 5 cm für den Umschlag um den Keilrahmen abgezogen werden; in diesem Streifen zeigen die Röntgenbilder Nagellöcher, und die vom Maler der Anstückungen, Pater, weitergeführten Bilderrahmen zeigen deutliche Farbunterschiede. Watteaus Rahmen haben ein kühles, grünliches Gold,

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Hélène Adhémar, „L'Enseigne de Gersaint", par Antoine Watteau. Aperçus nouveaus. In: Bulletin du Laboratoire du Musée du Louvre, 1964, S. 6—17.

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wie es für Bilderrahmen der Regence üblich ist, während die von Pater auch auf dem Nagelstreifen rötlich und wärmer sind. Die Gestalt der Brücke ist durch mannichfache Quellen belegt. 2 Sie wurde anstelle einer Holzbrücke 1500 von dem 1433 geborenen Ingenieurarchitekten Giovanni Giocondo über den Seinearm westlich der Ile-de-la-Cite errichtet, 1507 fertiggestellt und sodann mit Häusern bebaut, je 34 auf jeder Seite, so daß der Passant durch eine enge Straße zu gehen meinte. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts berichtete der Metzer Bürger Philippe Vignelle: „ . . . besagte Brücke ist das schönste Werk, das ich je sah ... es giebt ... 68 Häuser, ein jedes enthielt eine boutique ... sie sind alle völlig gleichartig, sowohl in der Breite wie in der Höhe und jedes Haus hat eine Inschrift in Gold und Blau mit der Nummer dieses Hauses von 1 bis 68." Corrocet erwähnt 1562, 3 daß alle Häuser im Innern eine völlig gleiche Einteilung haben, daß die Brücke wie die übrigen Straßen gepflastert sei und der Besucher also garnicht bemerken könne, daß er sich auf einer Brücke befinde. Die meisten barocken Darstellungen der Brückenstraße geben ganz andere Proportionen wieder, die Straße scheint platzartig erweitert, die Häuser niedriger und die Ladenöffnungen sind zumeist rund- oder segmentbogig. Doch ein Vogelschauplan von Du Cerceau 4 zeigt ebenso wie die Darstellung vom Abriß der Häuser 1786 von Hubert Robert mit aller Deutlichkeit Korbbogenöffnungen und schließlich auch ein Stich von 1687, dem man wohl auch die Holzverschlüsse der Ladenöffnungen glauben darf (Abb. 118). In der Illustration seines Aufsatzes von 1885 (Abb. 117) hat Jules Cousin die Straße in richtiger Proportion gezeigt 5 (freilich mit Rundbögen). Für den heutigen Blick ist zwar die gründerzeitliche Neorenaissance nicht ohne Komik, der Gesamteindruck der hohen Straßenschlucht dürfte aber der Wirklichkeit sehr genau entsprechen; für das Folgende ist diese Enge, und das heißt auch die Betrachterdistanz zum Bild, nicht unwichtig. Zunächst schließt die Darstellung Watteaus sehr dicht an die Wirklichkeit an: das gemalte Pflaster ist das nämliche, wie das, auf welchem der Betrachter steht. Obwohl die im Bilde suggerierte Breite des Ladens doppelt so groß ist wie die in den überlieferten Grundrissen (Abb. 119, 120),6 gibt es auch hier wiederum mit der Wirklichkeit Vergleichbares. Zunächst dadurch, daß alle Häuser zwei

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Jules Cousin, La cité entre le pont Notre-Dame et le pont au Change (Chap. II Le pont NotreDame, S. 7 — 17 in M. F. Hoffbauer, Paris a travers les ages, Paris 1885, Bd. I, 4. Teil). Lucia A. Ciapponi: Fra Giocondo da Verona and his edition of Vitruvius, in: Journal of the Warburg and Courtauld Inst., Vol. 47, 1984, S. 7 2 - 9 0 , bes. S. 85. Corrozet, Antiquités de Paris, 1562 (1. Aufl. 1532), abgedr. bei M. le Roux de Lincy, S. 21. Abb. bei Cousin (s. Anm. 2) Fig. 7. ebd. Fig. 10. Die lichte Breite des Ladens beträgt 3,63 m, im Verhältnis zur Figurengröße würde der gemalte Laden eine Breite von nahe 7 m haben.

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hintereinandergelegene Räume haben, sodann aber durch ein zunächst kaum bemerkbares Detail. Da alle Häuser der Brücke den gleichen Grundriß haben, kann der hintere Raum Fenster natürlich nur auf der Giebel-, d. h. der Wasserseite, haben; bei Watteau erkennen wir aber im zweiten Raum zwei Fenster in der linken Wand (Abb. 116). Nun gibt es ein einziges Haus auf der Brücke, das — jedenfalls der Möglichkeit nach — an dieser Stelle eine Fensteröffnung haben könnte (wenngleich nicht zwei große Fenster), das ist das Naus Nr. 35, das Haus des Gersaint. Die drei links benachbarten Häuser sind durch die anschließende Uferbebauung um den auf Konsolen ruhenden, leichter gebauten Teil verkürzt worden, sodaß an dieser Stelle ein kleiner Mauerzug seitlich freigestellt wurde (Abb. 120, 121). Watteau schließt also so dicht wie möglich an die Wirklichkeit an, überhöht jedoch die Erscheinung des Kunstladens in Größe und Ausstattung — der junge Gersaint hatte gewiß kein solches Angebot — beträchtlich. Der Eintretende sah erst das traumhafte Idealbild des Ladens, ehe er unter ihm hindurch den wirklichen Raum betrat. Die Raumdarstellung Watteaus ist die der Zentralperspektive, der Maler ist aber kein pedantischer Konstrukteur und erlaubt sich scheinbar saloppe Abweichungen von der projektiven Geometrie. Untersuchen wir diese aber genauer, so bemerken wir einige Verstöße, die ganz offenbar mit künstlerischem Bewußtsein eingesetzt wurden. Der Fluchtpunkt des Raumes liegt in der Mitte der gemalten Tür; das ist nicht die Mitte des Bildformates, die liegt und lag früher noch deutlicher rechts daneben; die Gleichsetzung von Fluchtpunkt und Bildmitte wurde als trivial empfunden —, heute, da die falsche Mitte durch die Bildteilung noch überbetont ist, ist dieser Fehler noch verstärkt. 7 Der Fluchtpunkt der rechteckigen Pflastersteine liegt bei der unteren Horizontalsprosse der Tür in Augenhöhe des der linken Dame zugewandten Kavaliers. Das gilt jedoch nicht für alle Orthogonalen des Bodens; insbesondere die seitlichen gleiten nach oben, wohl um eine unangenehme Verkürzung zu vermeiden. Auch die Bilderrahmen fluchten ohne allzugroße Genauigkeit auf diesen Punkt. Der Fluchtpunkt in Augenhöhe einer stehenden Person bedeutet aber, daß alle Stehenden, etwa gleiche Größe vorausgesetzt, isokephal dargestellt werden müßten; das ist aber mit großer Deutlichkeit nicht der Fall; vielmehr geht die Figurenkomposition von einem entschieden höheren Fluchtpunkt aus, etwa von der Höhe der vierten, statt der ersten Quersprosse. Dieses ist nun aber keineswegs eine „Nachlässigkeit", sondern ein ganz bewußt eingesetztes Kunstmittel, denn eben

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Da der Fluchtpunkt in der Mitte der Rückwand des Ladens liegt — (aber nicht auch in der Mitte der Rückwand des hinteren Raumes) — müßte der Abstand vom Fluchtpunkt zu den seitlichen vorderen Raumecken der gleiche sein, der rechte (abgeschnittene) Pfeiler ist aber beträchtlich weiter entfernt.

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auf diesen höheren Fluchtpunkt war das ganze Bild ursprünglich angelegt. Über der „hommage ä Rubens", der „Mariage mystique" hinter dem Ladentisch, hängen zwei Bilder, ohne Zweifel Erfindungen Watteaus, schlafende Nymphen und ein trunkner Bacchus, deren untere Rahmenschenkel — die oberen sind schon von Pater — ursprünglich anders verliefen; man sieht sie deutlich durchgewachsen auf den höheren, „richtigen" Fluchtpunkt hinzielen. Was kann Watteau veranlaßt haben, im Laufe der sehr kurzen Arbeitszeit sich der Mühe zu unterziehen, die Raumdarstellung dieses Bildes so entgegen allem Handwerksbrauch zu verändern, wenn nicht ein Grund von allerhöchster Bedeutung? Die Kohärenz, die Isotropie des perspektivischen Bildraumes bedingt einen Realitätsgrad von großer Eindringlichkeit, und ohne Zweifel ist, zumal durch die Darstellung der Gewänder, ein solcher Realitätsgrad beabsichtigt. Die Verschränkung der perspektivischen Daten, der Fluchtpunkte, wird aber nur unbewußt wahrgenommen; ohne Nachmessen wird sie gar nicht bemerkt. Aber gerade darin liegt ihre Wirksamkeit. Raum und Figuren gehören verschiedenen Sphären an, bekommen den Klang des Unwirklichen, abgehoben von dem Ort, auf dem der Betrachter, auf gleichem Pflaster, wie ihn das Bild darstellt, steht. Dabei wird noch ein anderer perspektivischer „Fehler" deutlich, der offenbar nie bemerkt worden ist. Bei einem Fluchtpunkt so nahe der Bildmitte und bei bildebenparalleler Darstellung des Raumes müßten beide Seitenwände die gleiche Fläche einnehmen; das tun sie aber nicht, sondern sind so verkürzt, als läge der Augenpunkt beträchtlich nach links verschoben; die linke Wand ist um ca. ein Drittel stärker verkürzt. 7 Auch Pater ist sich dieses Umstandes nicht bewußt geworden. Die große Landschaft über dem linken Spiegel, von der Watteau nur die rechte untere Ecke gemalt hat, ergänzt er zu einer Länge, die, projeziert man dieses Bild auf die rechte Wand, ein unsinniges friesartiges Format ergäbe. Nun sieht man auch, daß die Fensterwand des zweiten Raumes in einer völlig unwirklichen Situation hegt. Sie fluchtet ja in Wirklichkeit mit der Wand des vorderen Raumes. Auf welchen der beiden Fluchtpunkte ihre Deckenkante auch hinzielt, sie müßte merklich vor der Senkrechten durch den Fluchtpunkt enden, denn sie ist ja nur „endlich" lang. Die Gesamtheit der Bilderscheinung ist, bei direktestem Anschluß an die sinnlich erlebbare Wirklichkeit, aus der meßbaren geometrischen Struktur listig herausgenommen und tritt so in eine numinose, irreale Sphäre ein, ist reine Verzauberung. Das erste zentralperspektivisch gemalte Bild, Masaccios Trinität in S. Maria Novella in Florenz, enthält lehrbuchhaft alle Daten der soeben erfundenen Darstellungsweise: Fluchtpunkt in Augenhöhe des auf dem Kirchenboden stehenden Betrachters, Distanzpunkt in Seitenschiffsbreite, also dort, wo der von der Architektur Geleitete verharrt, um das Fresko zu betrachten. Die Architektur ist einschließlich der korrekt kontruierten Kreisverkürzungen von ungemeinem Verismus, die

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Stifterfiguren vor der gemalten Architektur ebenso wie die Gestalten von Maria und Johannes unter der vorderen Arkade sind auf das eindrucksvollste für die Untersicht verkürzt. Im Hintergrund der gemalten Kapelle aber steht das Kreuz unmeßbar auf dem unter dem Augenpunkt gelegenen, also nicht sichtbaren Fußboden, und die Figuren der Trinität sind nicht in Untersicht gegeben, sondern frontal einem von niemandem einnehmbaren Standpunkt gegenüber. Schon das erste Bild, das nach den Gesetzen der euklidischen Geometrie geschaffen wurde, durchbricht an entscheidender Stelle diese Gesetzlichkeit, als hätte der Künstler gespürt, daß er das Gottesbild nicht der physikalischen Optik unterordnen könne. Mantegna hat seinem „Cristo in scurto" das trivialisierende Moment der Zentralperspektive durch ein überraschend anderes Mittel genommen, nämlich durch das Mittel der Zentralperspektive selbst, die er nur auf eine extreme Weise ins Spiel bringt. Zunächst legt er den Fluchtpunkt, ganz gegen den Kunstbrauch bei Tafelbildern, außerhalb der Bildfläche, beträchtlich über den oberen Bildrand. Der normale Distanzpunkt ist in seiner Zeit kaum mehr als das anderthalbfache der Bildbreite. Das entspricht dem gewöhnlichen Abstand des Betrachters. Nimmt man nun diesen ein, so erscheint die Proportion des Körpers völlig falsch, die Beine wirken stummelhaft kurz, der Kopf viel zu groß. Tritt man nun langsam zurück bis auf etwa das fünffache der Bildbreite, so bemerkt man, das sich der Körper kontinuierlich plastisch zu verformen scheint, bis er die „richtige" Proportion erreicht hat. Diese kontinuierliche, niemals sprunghafte Verformung beweist aber, daß jeder Punkt der extremen Verkürzung exakt gesetzt ist. Man kann einen geometrischen Körper, einen Quader etwa, leicht mit jedem beliebigen Distanzpunkt konstruieren, nicht aber einen menschlichen Leib mit der unendlichen Vielzahl seiner Raumpunkte. Wird dieses „freihändig" getan, so gibt es die kontuierliche Verformung bei Änderung des Augabstandes nicht. Dürer hat in seiner „Unterweisung der Messung" von 1525 die mechanischen Methoden angegeben, komplizierte Körper zu verkürzen. Dabei ist der Distanzpunkt vom Abstand des Auges von der durchsichtigen Zeichenfläche, der nicht größer sein darf als die Reichweite der zeichnenden Hand, bedingt. Der Zeichner der Laute benutzt ein „perspektivisches Auge", in Gestalt einer Öse hinter dem Künstler an der Wand, von der eine Schnur als Sehstrahl ausgeht, mit dem die Laute Punkt für Punkt abgetastet wird. Das ist bei einem so regelmäßigen und vergleichsweise einfachen geometrischen Körper mit einer endlichen Zahl von Punkten möglich, nicht aber bei einem menschlichen Leib. In der zweiten Auflage der „Unterweisung", die posthum 1538 herauskam, zeigt Dürer die Methode, die ohne Zweifel auch von Mantegna benutzt wurde. Der „Zeichner mit der Kanne" benutzt den Dürer schon seit 1525 bekannten, aber offenbar noch älteren Perspektivapparat von Jakob Keser. Hier ist der „Sehstrahl" weit hinter dem Künstler und oberhalb der durchsichtigen Zeichenfläche fixiert, das menschliche Auge schaltet sich mittels einer Visiereinrichtung in diese große

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Distanz ein und kann nun alle Linien auch des kompliziertesten Körpers mechanisch nachzeichnen. Außer Mantegnas Christus kenne ich keine Figur, die nachweislich mit Hilfe dieses Apparats entstanden ist. Mantegna aber verschleiert diesen raffinierten Trick durch die perspektivisch davon abweichende, ganz „normale" Darstellung der weinenden Frauen und der Pyxis neben Christus. Giotto hatte 1305 als erster die Heiligenscheine perspektivisch verformt, dieses aber in seinen späteren Werken wieder aufgegeben, da bleiben die Nimben unabhängig von der Kopfhaltung kreisrund; er mochte gefühlt haben, daß ein göttliches Licht nicht den Gesetzen der Optik folgen darf, wenn es glaubwürdig sein soll. Auch seine Schüler und Enkelschüler folgen ihm darin. 1376 vollendet Giusto Menabuoi die Ausmalung des Baptisteriums in Padua mit Bildern des alten und des neuen Testaments. In der bedrängenden Überfülle von Figuren sieht man hunderte von Heiligenscheinen, alle als reine Kreisformen dargestellt. Ein einziger macht eine Ausnahme, er ist nicht vergoldet, sondern schwarz und energisch mit dem im Profil gegebenen Kopf verkürzt; sein Träger hatte in den Darstellungen zuvor ebenfalls einen goldenen runden Nimbus, nun aber bekommt Judas bei seinem Verräterkuß einen perspektivischen „Unheiligenschein". Diese Darstellung wäre ein angemessenes Titelbild für Panofskys „Perspektive als symbolische Form", die Zentralperspektive als der Sündenfall, der Verrat an der Malerei, gegen den sich die Künstler mit einem großen Aufwand an List zu wehren haben.

PETER ZAZOFF

Wieder Bildlicht „Das Bildlicht bedarf doch einer genaueren Untersuchung. Es erheben sich zwei Fragen. Was tut das Licht und welcher Art ist es?"1 Wer diese Fragen bei Caravaggio ebenso wie bei unzähligen anderen Malern vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart gestellt hat, den entzücken die Gemmenzeichnungen aus der alten „Dactyliothek" des Gorlaeus (1601) 2 in besonderem Maße. Der Jubilar wußte beim Blättern in der schwer zugänglichen Ausgabe 3 so viel dazu zu sagen, da er ja, wie doch immer, mehr darin sah als sein Gesprächspartner. Zu seiner Freude und zur Erinnerung an gemeinsame Gemmenbetrachtung seien seiner Festschrift drei Gemmen-Kupferstiche dieser Art beigegeben. Der Ratsherr und Schatzmeister des Grafen von Moers, Abraham Gorlaeus gibt sich in Frontispiz seiner „Dactyliotheca" (Abb. 122) als Mäzen der Künste, als Sammler und vor allem als Gelehrter 4 zu erkennen, der in komfortabler Umgebung seiner Bibliothek den Betrachter an Hand seiner Gemmen zum Studium einlädt5. Seine Linke zeigt halbwegs im Gestus einer Sabazioshand das Sprechen an6, der Fingerring am rechten Zeigefinger sowie die Gemmen, Münzen und Bücher vor ihm das Demonstrieren der Objekte. Ein pompöser klassizistischer Gemmenschrank 7 im 1 2

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Wolfgang Schöne, Über das Licht in der Malerei, 4. Aufl. Berlin 1977, S. 137. Über Gorlaeus s. Hilde und Peter Zazoff, Gemmensammler und Gemmenforscher, München 1983, S. 30 ff. Peter Berghaus, in: Der Archäologe, Graphische Bildnisse aus dem Porträtarchiv Diepenbroick, Münster 1983, S. 148 Nr. 15. Abrahami Gorlaei, Antverpiani, Dactyliotheca seu annulorum sigillarium quorum apud priscos tam graecos quam romanos usus. E ferro aere argento et auro promptuarium. Accesserunt variarum gemmarum quibus antiquitas in sigillando uti solita. Scalpturae. Cum priviligio (1601. 1609), 2 (1695, 1707). Zu Gemmenkunde als Wissenschaft s. Peter Zazoff, Vom Gemmensammeln zur Glyptikforschung, in: Antikensammlungen im 18. Jahrhundert, hrsg. von Herbert Beck, Peter Boi u. a., Berlin 1981, S. 363 ff. Es war im 18. Jh. allgemein üblich, sich als Gelehrter so darstellen zu lassen, vgl. z. B. auch den Gemmensammler Jacob de Wilde, Zazoff a. a. O. S. 365 Abb. 7, und den Numismatiker Joseph Pellerin, Berghaus a. a. O. S. 267 f. Abb. S. 268. Die Sabazioshand hat im Sinne der „benedictio" den Mittelfinger deutlicher ausgestreckt, s. Christian Blinkenberg, Archäologische Studien, Kopenhagen und Leipzig 1904, S. 67 ff. Peter Zazoff, in: Antike Gemmen in deutschen Sammlungen III, Wiesbaden 1970, S. 248 Taf. 113, S. 197 (Lit.), s. jetzt Atanas Milcev, Zum Kult des Sabazios in Thrakien und Untermoesien, in: The Proceedings of the Xth International Congress of Classical Archaeology, Ankara 1978, S. 995 ff. Gleiche Sprechgeste auch b. Pellerin, s. hier Anm. 5. Erhaltene Exemplare solcher Gemmenschränke des Barock, s. Dietmar I. Ponert, in: Katalog Berlin und die Antike, Berlin 1979, S. 285 mit Abb. zu Nr. 561. Vgl. auch die Gemmenschränke für die Slg. Ebermayer in Nürnberg, Hilde und Peter Zazoff, Gemmensammler und Gemmenforscher, München, 1983, S. 133 Anm. 233 u. Taf. 28, 2.3.

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Hintergrund des Raumes steht für das geistige Altertum, das Wappen an der linken Wand für die politische Macht. Das Licht beleuchtet die Hauptperson und die Gegenstände voll von rechts; es ist stark, wie der dunkle Schatten an der Wand bezeugt. Unter dem Bild, aber wie ein kalligraphischer Bestandteil desselben, preist ein Gedicht von Hugo Grotius in lateinischen Versen den Autor 8 . Nun folgt man der Aufforderung des Gorlaeus und schlägt die Tafeln auf (Abb. 123). Sie verherrlichen in scharfgestochenen Kupfern Ringe und Ringsteine. Die Metallringe mit ihren gravierten Edelsteinen im Ringschild erscheinen vorn im Bild vor einem schachbrettartigen Paviment im Interieur einer Palastruine. Die Gemmenbilder selbst wiederholen sich nochmals links und rechts oben vor der Wand, vergrößert, wie unter der Decke hängend und zugleich bis zum Himmel darüber emporgehoben. Dann das Licht: im Vordergrund mystifiziert diffuses Zwielicht die präsentierten Gegenstände aus der Antike, hinter der offenen Tür leuchtet Tageslicht auf bizarre Landschaft draußen und auf gegenwärtiges Geschehen. Oben verbindet der helle Himmel beide Sphären. Die perspektivische Tiefenstaffelung ist im unteren Dreiviertel des Bildes wirksam. Wie diese den Bereichen Zäsuren setzt, so die Nuancierung des Lichtes auch. Ein zweites Beispiel. Der venezianische Patrizier Antonio Capello, ein Senator, publizierte im Jahre 1702 seine Gemmensammlung unter dem Titel „Prodromus Iconius" derart wirkungsvoll 9 , daß der hessische Landgraf Karl bereit war, sie für die Kasseler Sammlung zu erwerben und eine enorme Kaufsumme zu bezahlen 10 . In gleicher Art wie bei Gorlaeus weist hier das Frontispiz des Buches (Abb. 124) auf Gelehrsamkeit des Besitzers und Vornehmheit der kleinen Präziosen. Anstelle des Gedichts erscheint unter dem Bild eine antike Maske inmitten einer Rankenkomposition, die an die Stanzen Raphaels erinnert. Im Bild selbst bietet eine Art Rotunde im Palast Capellos das Interieur. Gleiche Tiefenstaffelung wie im Frontispiz des Gorlaeus: Ausblick nach draußen durch die offene Tür im Hintergrund, inmitten der barocken Rotunde ein Gemmenschrank mit zwei betrachtenden Hofdamen, weiter vorn ein Globus und ein auf dem Boden lagernder Chronos als Flügelgenius, der alles ans Licht bringt 11 . Gemmen und Globus — Antike und Naturwissenschaft — werden hier zusammen als geistige Konzeption dem realen Draußen entgegengesetzt. 8 9

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Die Verse heben Gorlaeus als Gelehrten hervor, zu Grotius s. Berghaus a. a. O. (Anm. 5) S. 148. A. Capello, Prodromus iconicus sculptilium gemmarum, basilidiani, amulectici, atque talismani generis, de Musaeo Antonii Capello Senatoris Veneti (1702). Zu Capello s. Zazoff a. a. O. (Anm. 6) S. 179 f. u. Christoph Höcker, Die Gemmen in Kassel (im Druck). Capello erhielt für seine Gemmensammlung den stattlichen Preis von 3296 Dukaten. Als er 1710 selbst nach Hessen fuhr, machte er ein zweites Gemmengeschäft für weitere 1874 Dukaten, s. Zazoff a. a. O. (Anm. 6) S. 179 f. Vgl. hierzu Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben, in: Forschungen zur Villa Albani, hrsg. von Herbert Beck und Peter Bol, Berlin 1982, S. 519 ff. (Maschinen), S. 527 ff. (Philosophie).

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Die Gemmenzeichnungen setzen natürlich die Kenntnis der Renaissancemalerei voraus. Vergleichen kann man zum Beispiel das bekannte Bild von Daniel Meytens in Arundel Castle (Abb. 126) 12 , das dem Earl von Arundel, Thomas Howart, mit seiner Statuengalerie zeigt (1618). Auch hier die Perspektiven von Halbdunkel innen zum Licht nach draußen mit dem Ausblick in die Natur. Ganz fern erscheint dort Terra: Boden gleich Gegenwart. Vorn weist der Earl mit seinem Stab auf die Statuengalerie, und diese wirkt wie ein Bild im Bilde, — etwa in der Funktion eines Bild-Tabarnakels, wie es Martin Warnke gesehen hat 13 ; die Galerie bietet sich wie eine Art Reliquie dar 14 , steht als Vergangenes, als Antike, dem IrdischGegenwärtigen draußen gegenüber. Der Stich von F. Chauveau und R. Nanteuil (1659) zeigt den französischen Staatsmann Kardinal Mazarin in ähnlicher Weise als Kunstliebhaber vor der Statuengalerie seines Palastes (Abb. 127) 15 . Jedoch sitzt hier der Dargestellte zudem zwischen Globus, Uhr und Karten. Diese sind Representanten der mechanischen Wissenschaft, zeugen von Beherrschung der Natur durch Technik. Wie Horst Bredekamp durch zahlreiche Beispiele belegt hat, haben sie „im Doppelinteresse an Antiken und Maschinen im Rahmen der Hofkultur des 16. —18. Jahrhunderts einen hohen sozialen Stellenwert" erhalten 16 . So stellt denn auch der Globus im Frontispiz des Capelloschen Buches (Abb. 124) die Gemmenbetrachtung in folgerichtige Antithese zur Naturkunde. Mehr als ein Jahrhundert später ließ sich im Jahre 1777 der damalige britische Gesandte in Neapel, der bekannte Antiquar Lord William Hamilton, von Joshua Reynolds als Repräsentant der geistigen Antike porträtieren — als Archäologe, wie man für jene Zeit schon sagen kann (Abb. 128) 17 . Jung, nobel gekleidet, mit seiner eigenen Publikation auf dem Schoß 18 , sitzt er in seinem vornehmen Zimmer in Neapel inmitten der von ihm gesammelten und publizierten kostbaren antiken Vasen 19 . Im Hintergrund sieht man durch die offene Loggia seiner Villa die Natur, vor allem den Vesuv und zur Steigerung der Tiefenwirkung eine Pinie vorn. Draußen ist helles Licht, im Innern des Zimmers auch hier diffuser Halbschatten. 12

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Bredekamp a. O. S. 517 Taf. 162 Abb. 313. W. Prinz, Galerien und Antikengalerien, in: Antikensammlungen im 18. Jahrhundert hrsg. von Herbert Beck, Peter Bol u.a., Berlin 1981, S. 347 f. Abb. 14. Martin Warnke, Italienische Bildtabernakel bis zum Frühbarock, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, Bd. 19, 1958, S. 61 ff. Bredekamp a. O. (Anm. 11) S. 517 f. ebenda S. 518 ff. Taf. 164 Abb. 315. ebenda S. 522. Das Gemälde befindet sich heute in der National Portrait Gallery, London. Adolf Greifenhagen, Griechische Vasen auf Bildnissen der Zeit Winckelmanns und des Klassizismus. Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-Hist. Kl., NF III Nr. 7, Göttingen 1939, S. 215 ff. Taf. 7. Auf dem Gemälde hält er den ersten Teil des von d'Hancarville herausgegebenen Werkes „Antiquités Cab. Hamilton" I (1766). Greifenhagen a. O. identifiziert die Vasen.

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Bibliothek, klassizistischer Tisch und Vasen sind Ausdruck der Bildung durch Antike. Ebenfalls als Freund der Antike läßt sich der Architekt Friedrich Schinkel 1824 von Franz Catel im großen Neapler Zimmer porträtieren (Abb. 129) 20 . Auch hier bilden antike Vasen die Staffage. Das Schema des Bildes wird beibehalten: Fern die Natur durch die geöffnete Tür und im Sonnenlicht sichtbar (Vesuv, Bucht von Neapel mit Schiffen und Garten), dann weiter vorn im halbschattigen Zimmer der Altertumsfreund sitzend mit einem Manuskript in den Händen, umgeben von Vasen und einem Kandelaber links und Tisch und Fruttiera auf dem Fußboden rechts. So zeigt dann auch das Aquarell von Carl Wilhelm Goetzloff (1826), heute Stiftung Ratjen in Vaduz (Abb. 125)21, die Vasen vordergründig und als Hauptobjekt im großen Zimmer eines Archäologen. „Napoli" steht beigeschrieben. Die Tür ist geöffnet, man sieht über die sonnige Terrasse auf die Balustrade hinweg wieder die Meeresbucht in der Ferne und eine Hügellandschaft. Unten in der Stadt erkennt man die Kirche (als Santa Maria della Vittoria zu identifizieren) und den Obelisken, dann Häuser. Die Vögel auf der Terrasse trennen vom Raum. Im Halbdunkel des großen Zimmers stehen vordergründig rechts zwölf antike Vasen auf kariertem Paviment (ähnlich wie bei Gorlaeus und bei Daniel Meytens). Sie sind reich variiert in Form, Größe und Stil 22 . An der Seite links ist vor einem Schrank ein großer Vogekäfig auf hohem Dreifuß mit einem Papagei darin aufgestellt. Der Käfig ist auffällig in seiner technischen Konstruktion wie ein Rundgebäude. Der bunte Prachtvogel drückt aus, daß der Zimmerbesitzer nicht nur ein Altertumsfreund ist; seine Zuneigung zu besonderen exotischen und technischen Dingen bekundet darüber hinaus seine Weltoffenheit. Die Erhebung in diese Sphäre durch besondere Gegenstände findet sich seit der Renaissance immer wieder 23 . So fallen bei allen betrachteten Bildern Gemeinsamkeiten auf: In der Fernsicht Natur- und Naturerschließung, Stadt, Hafen und sonstiges Tagesgeschehen als Gegenwart. Im durch Parerga mystifizierten Raum der Porträtierte oder auch nur ausgewählte Requisiten. Antike Kunstwerke und technische Gegenstände erheben den Adressaten in den magisch-geistigen Bereich der Fiktion Antike und Wissenschaftlichkeit. Die Tiefenstaffelung und vor allem die Nuancen des Lichts setzen hierfür die Zäsuren.

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Adolf Greifenhagen, Griechische Vasen auf Bildern des 19. Jahrhunderts, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 4. Abbildungen, Heidelberg 1978, S. 316 ff. Taf. 2. Greifenhagen ebenda 9 ff. Taf. 3. Von Greifenhagen identifiziert und erörtert, ebenda 10 ff. ebenda 15 Anm. 28.

GERT SCHIFF

William Blake: Anarchist, Haeretiker und Moralist Der englische Dichter und Maler William Blake ist noch heute beinah so unverstanden wie zu seinen Lebzeiten. Die Menschen seiner Zeit — er lebte von 1757 bis 1827 — hatten kein Verständnis für seine Größe. Heute gibt es zwar viele gelehrte Bücher über Blake, und seine Bilder oder gar die wenigen erhaltenen Exemplare seiner selbstgedruckten und handkolorierten Dichtungen gehören zu den unerschwinglichen Seltenheiten auf dem Kunstmarkt. Aber selbst in den angelsächsischen Ländern ist Blake doch nur Gelehrten und Sammlern ein Begriff; für die übrigen ist er noch immer, was er für seine Zeitgenossen war: ein unverständlicher Mystiker oder, schlicht, ein Verrückter. Zu dem Märchen von seiner Verrücktheit hat wohl vor allem der Umstand beigetragen, daß er Visionen hatte, also mit dem zweiten Gesicht begabt war. Er hat ja auch manchmal seine Dichtungen als Diktat der ihm erscheinenden übersinnlichen Wesenheiten ausgegeben. Aber dann sprach er wohl eher metaphorisch. In Wahrheit sind sie aus tiefem Nachdenken und stupender Bildung genährte, sorgfaltig ausgearbeitete Werke. Wenn sie dunkel sind, so liegt dies einmal daran, daß sie das Dunkel selbst suchen, dann auch daran, daß sie Religion, Kosmologie, legendäre Frühgeschichte und akute Zeitprobleme in oft verwirrender Mischung zusammenpressen. In den fragwürdigsten Partien seines Systems zeigt Blake sich keineswegs immun gegen die damals kursierenden Irrlehren, welche die wörtliche Wahrheit der Genesis mit dem jüngsten Stand „naturwissenschaftlicher" Kosmologie versöhnen wollten und die britischen Inseln als geographischen Ort des Gartens Eden, die alten Briten aber als Kinder der biblischen Patriarchen nachzuweisen suchten.1 Darin war er eben ein Kind seiner Zeit. Schließlich war es zweifellos Blakes Isolierung, die ihn in seinem späteren Leben in einer fast nur noch ihm selbst verständlichen Symbolsprache sprechen ließ. Doch die neuere Forschung hat den kostbaren Kern seiner Ideen aus der harten Schale gelöst. So wissen wir heute, daß Blake einer der unabhängigsten Denker in Religion, Philosophie, Moral und Politik war, die England hervorgebracht hat. Vordem waren es vor allem Künstler, die mit ihrem anders organisierten Begreifen dann und wann einen Funken von Blakes Größe erfaßten. Freilich steht diese Wiederentdeckung im Zeichen von Mißverständnissen. Wenn beispielsweise die Surrealisten Blake als einen ihrer Ahnen 1

Siehe Ruthven Todd, William Blake and the Eighteenth-Century Mythologists, in Tracks in the Snow, London (1946) und Kathleen Raine, Blake and Tradition, 2 Bände, Bollingen Series X X X V , Princeton University Press 1968, passim.

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in Anspruch nahmen, so verwechselten sie die nur scheinbare Unentwirrbarkeit seiner Mythologeme mit der wirklichen Wirrnis ihrer psychischen Automatismen. Ein anderes Mißverständnis setzte schon früher ein und hat sich bis heute gehalten. Es gründet sich auf Blakes beispiellosen Sturmlauf gegen die herrschende Moral. Gewisse provokante Sätze, von denen sein Werk voll ist, haben ihm den unverdienten Ruf eines Immoralisten, ja Sadisten eingetragen; sie haben immer wieder die Aufmerksamkeit solcher Geister auf ihn gelenkt, die sich selbst zu irgendeiner Form von ästhetischem Immoralismus bekannten. Blakes erster englischer Interpret war Swinburne. Sein Buch, das er mit sechsundzwanzig Jahren, rund fünfundzwanzig Jahre nach Blakes Tod, schrieb, legte den Grund nicht nur für die Erkenntnis von Blakes dichterischer Leistung, sondern auch für das genannte Mißverständnis. Die offizielle Literaturgeschichte kennt Swinburne vor allem als Sänger des italienischen Befreiungskampfes, als lyrischen Bundesgenossen Garibaldis. Diese seine politische Parteinahme fand er in etwa vorgebildet in Blakes Verherrlichung der Französischen Revolution. Doch Swinburnes bedeutendste Werke sind aus anderen Erlebnisquellen gespeist. Leitmotiv seiner Dramen (u. a. einer Trilogie mit Maria Stuart als Heldin), seiner Lyrik und seiner erzählenden Schriften ist die Unterwerfung des Mannes unter weibliche Grausamkeit. In manchen Kreisen galt Swinburne später als Prototyp für das angebliche englische Nationallaster, den Flagellantismus. Wenn Blake nun mit all seinem Feuer für die Befreiung, ja Heiligung der Sinne eingetreten ist, so mag dies Swinburne als Sanktionierung seiner eigenen besonderen Disposition erschienen sein. Zwar bemerkt er in einem Satz, der in seinem Ton ein gut Teil des Jugenstils vorwegnimmt, Blake selbst habe nie „irgendeinen Zugang gefunden zu jenem fragwürdigen Land, wo einfache und zarte Freuden komplex und grausam werden und wo die Rosen, die man pflückt, an der Wurzel röter sind als in den Blättern." Doch Blakes Protest gegen die puritanische Geschlechtsmoral nimmt in Swinburnes Interpretation unverhältnismäßig viel Platz ein. Noch mehr betont Swinburne den pessimistischen Aspekt von Blakes Denken, nämlich daß für Blake die Welt, in der wir leben, eine gefallene ist, geschaffen von einem grausamen Demiurgen, dessen Walten Unterdrückung und Zerstörung ist; der seine Kinder verschlingt wie Chronos und seine sterile Seele nährt mit dem Mitleid mit den Leiden, die er selbst der Menschheit auferlegt. An dieser Stelle seiner Interpretation fügt Swinburne nun einen weiteren Zeugen ein, wie er sagt, „einen modernen heidnischen Philosophen von mehr materialistischer Tendenz"; so eng verwandt scheint ihm die Weltdeutung dieses Philosophen mit derjenigen von Blake, daß er ihn mit einer langen „Laienpredigt" zu Wort kommen läßt: „Die Natur dem Verbrechen abhold? Ich sage euch, die Natur lebt und atmet durch es; sie hungert aus allen Poren nach Blutvergießen, stöhnt in allen Nerven nach Unterstützung durch die Sünde, verlangt aus ganzem Herzen nach Förderung der Graumsamkeit. Die Natur soll dieses oder jenes verbieten? Nein, nicht der beste oder schlechteste von euch würde je so weit gehen, wie sie es gern sähe; kein

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Verbrecher wird es ihr gleichtun, keine Zerstörung scheint ihr zerstörend genug. Wenn wir Böses tun wollen, können wir allenfalls ein wenig Materie desorganisieren, etwas Blut vergießen, ein wenig Atem abwürgen an der Tür eines verfallsbestimmten Körpers; das können wir tun und es Verbrechen nennen. Das soll unnatürlich sein? Guter Freund, nur durch verbrecherische und unnatürliche Taten wirkt, bewegt sich, besteht Natur; was durch träge Tugend erschlafft, stachelt sie durch aktives Verbrechen; aus Tod schlägt sie Leben, sie nutzt den Staub des Menschen, um an ihm ihre Flamme anzureiben; mit frischem Blut füttert sie die zahllosen unersättlichen Mäuler, die an ihrer milchlosen Brust saugen; sie nutzt die Qual der ganzen Welt, um den vitalen Rausch in ihren grenzenlosen Venen zu steigern: sie ersticht und vergiftet, zermalmt und zerfrißt, aber sie kann nicht schnell genug leben und sündigen für die Grausamkeit ihrer großen Begierde. Sieh nur, alle Lebensalter liegen tot zu ihren Füßen; das Blut der Welt klebt an ihren Händen; und sie verlangt ständig nach dem Bösen, um das Ende von all dem zu sehen, was sie geschaffen. Freunde, wenn wir mit der Natur eins sein wollen, so laßt uns unausgesetzt Böses tun mit all unserer Kraft. Aber was können wir schon Böses tun, wenn der ganze Weltorganismus böse ist? Die Spinne tötet die Eintagsfliege, und nennt sie's Verbrechen? Nein, wenn wir der Natur das Handwerk legen könnten, dann würde Verbrechen vielleicht möglich und die Sünde eine Realität. Könnte der Mensch das nur; könnte er den Lauf der Sterne durchkreuzen, die Gezeiten des Meeres verschieben; konnte er den Weltlauf verändern und die Heimstatt des Lebens finden, um sie zu zerstören; könnte er die Sonne herabreißen, damit sie die Erde versenge, und den Mond bitten, daß er Gift und Feuer auf die Luft gösse; könnte er die Frucht im Samen abtöten und den Kindermund mit der Muttermilch zersetzen: dann hätte er gesündigt und der Natur Böses zugefügt. Aber nein, nicht einmal dann: denn der Natur wäre es so gerade recht, auf daß sie eine Welt von neuen Dingen schaffen könnte; denn sie ist all des alten Lebens müde: ihre Augen sind krank vom Sehen und ihre Ohren dumpf vom Hören; sie ist glühheiß vor Schaffensgier und zerrissen von Wehen, bis sie Wechsel gebären kann; sie möchte nichts als Neues schaffen und kann es doch nicht, außer durch Zerstörung; in allen ihren Trieben dürstet sie nach sterblicher Nahrung, und in all ihren Kräften arbeitet sie im Verlangen nach Tod. Und was sind die schlimmsten Sünden, die wir begehen können — wir, die wir für einen Tag leben und in einer Nacht sterben? Ein paar Morde ..." 2 Dieser „materialistische Philosoph" ist Donatien Anne François Marquis de Sade; die „Laienpredigt" ist eine Swinburnesche Paraphrase einzelner Sätze aus den Romanen Justine und Juliette, welche Sade im Jahrzehnt vor dem Ausbruch der Französischen Revolution im Gefängnis geschrieben hat. Die Helden dieser Romane äußern derartige Philosopheme zur Rechtfertigung ihrer blutigen Libertinage. 2

Algernon Charles Swinburne, William Blake, A Critical Essay, London 1868, S. 158. Mit Ausnahme der Verse auf S. 7 sind alle Übersetzungen in diesem Aufsatz vom Verf.

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Gewiß will Swinburne nicht Blake die Tendenzen des „divin marquis" unterschieben; aber soviel ist doch wahr: auch bei Blake gibt es Stellen, in denen die Welt als eine einzige blutende Wunde erscheint. Dann gibt es in Blakes 1790/91 geschriebener Marriage of Heaven and Hell einen Abschnitt Sprichwörter der Hölle, darunter die folgenden: „Die Straße der Ausschweifung führt zum Palast der Weisheit." „Wer begehrt und nicht handelt, brütet Pestilenz." „Morde eher ein Kind in der Wiege, als daß du unausgelebte Begierden nährtest." „Gefängnisse sind aus Steinen des Gesetzes gebaut, Bordelle aus Ziegeln der Religion." „Ein Gesetz für den Löwen und den Ochsen ist Unterdrückung." „Ein Leichnam rächt kein Unrecht." „Der zerschnittene Wurm vergibt dem Pflug." „Das Brüllen von Löwen, das Heulen von Wölfen, das Wüten der stürmischen See und das zerstörende Schwert sind Teile der Ewigkeit, zu groß für das Auge des Menschen."3

Weiterhin sagt Blake in derselben Marriage of Heaven and Hell: „Ohne Gegensätze gibt es keinen Fortschritt. Anziehung und Abstoßung, Vernunft und Energie, Liebe und Haß sind dem menschlichen Dasein nötig. Diesen Gegensätzen entspringt, was die Frommen Gut und Böse nennen. Das Gute ist das Passive, das der Vernunft gehorcht. Das Böse ist das Aktive, das der Energie entspringt. Das Gute ist Himmel. Das Böse ist Hölle." 4 Schließlich verherrlicht er in dem gleichen Werk Satan, den Rebellen gegen die göttliche Ordnung, als Lichtbringer und wahren Messias. Und Milton, der Satans „heilige Rebellion" im „Verlorenen Paradies" besungen hat, sei, wie alle wahren Dichter, „von des Teufels Partei" gewesen, „ohne es zu wissen." 5 Hält man solche Sätze von Blake neben die pompöse Laienpredigt, so begreift man, daß manche, die Blake nur oberflächlich kannten, ihn als geistigen Bruder des Marquis de Sade ansprechen konnten. Auch daß Blake gelegentlich als Vorläufer Nietzsches angesehen wurde, ist verständlich; denn auch Blake bewegt sich ja auf weite Strecken in einem Bereich „jenseits von Gut und Böse." Und wenn Blake immer wieder die reine Energie verherrlicht, so trifft er sich ganz mit Nietzsches Hingabe an die „tonischen Affekte, welche die Energie des Lebensgefühls erhöhen." Blakes seltsames Wort: „Was in der natürlichen Welt als Laster gilt, sind die höchsten Erhabenheiten in der geistigen Welt" erinnerte schon den Blake-Forscher S. Foster Dämon an Nietzsches „Halbwahrheit" aus seiner Göt^endämmerung. „Der Verbrecher-Typus, das ist der Typus des starken Menschen unter ungünstigen Bedingungen, ein krankgemachter starker Mensch." 6

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Poetry and Prose of William Blake, edited by Geoffrey Keynes, London 1956 (im folgenden zitiert als „Keynes 1956"), S. 1 8 3 - 1 8 5 . Ibid., S. 181. Ibid., S. 182. Bemerkung Blakes zu Henry Crabb Robinson am 17. Dezember 1825; Diary, Reminiscences and

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Blakes grausamer Gott dieser Welt, der seine Seele mit Mitleid füttert, entspricht Nietzsches Denunziation der christlichen Kirche: „ . . . sie lebte von Notständen, sie schuf Notstände, um sich zu verewigen." 7 Und wenn Blake im Everlasting Gospel verkündet, Jesus habe weder Demut noch Keuschheit gepredigt, so entspringt diese Umdeutung anscheinend ähnlichen Quellen wie Nietzsches Verdammung der christlichen Tugenden als „Sklavenmoral." Auf André Gide wirkte Blake schon bei erster flüchtiger Kontaktnahme 1914 als Offenbarung. 1922 wendet er sich ihm von neuem zu, sieht ihn in Parallele zu Nietzsche und Dostojewski und übersetzt die Marriage of Heaven and Hell. Er schreibt nur ein allerknappstes Vorwort, in dem er anmerkt, der aufmerksame Leser werde schon die Stellen erkennen, um derentwillen er das Werk übersetzt habe. Erst 1947, in einem Vorspruch zu einer großen Pariser Blake-Ausstellung, gibt er seine Deutung des Mystikers preis: „Der Stern Blake funkelt in jenem fernen Bereich des Himmels, in dem auch der Stern Lautréamont glänzt. „Strahlender Luzifer — seine Strahlen umkleiden mit unheimlichem Glanz die elenden und glorreichen Leiber des Mannes und der Frau. Strahlen, die um so schädlicher sind, als sie mit Segnungen beladen scheinen. Blake lobte Milton: ein wahrer Dichter, sagte er, weil von des Teufels Partei, ohne es zu wissen. Das gilt auch von Blake: doch er wenigstens hat es gewußt. Er hat es auch zu vergessen gewußt: daher seine Kraft." 8

Lautréamont, mit dem Gide Blake vergleicht, war ein 1870 sehr jung verstorbener Dichter der satanischen Revolte; die Surrealisten machten ihn zu ihrem Abgott. In seinem Prosaepos Les Chants de Maldoror geistert er als Vampyr durch ein Universum, das ganz im Sinne der Sade-Swinburneschen Laienpredigt von Zerstörung und Fäulnis erfüllt ist. Nach alledem kann es nicht wundernehmen, daß der italienische Literaturforscher Mario Praz in seiner Untersuchung über den Sadismus als Element der romantischen Kultur Blake mit Swinburne, Dostojewski, Nietzsche, d'Annunzio und Gide als Autoren zitiert, die alle in größerem oder geringerem Maß Sadisten gewesen seien. 9 Dennoch ist diese Auffassung absolut falsch. Aber wie konnte Blake dann diese aufreizenden Paradoxa formulieren, die doch zum mindesten so klingen, als wolle er eine völlige moralische Anarchie, eine totale Befreiung der Instinkte und eine nietzscheanische Herrenmoral predigen? Wie kann

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Correspondence of Henry Crabb Robinson ..., hg. von Thomas Sadler, London 1869. — Friedrich Nietzsche, Göt^endämmerung, 45. — S. Foster Damon, William Blake, His Philosophy and Symbols, Boston und New York 1924, S. 296. Der Antichrist, 62. William Blake 1757 — 1827. Catalogue de l'Exposition organisée par la Galerie René Drouin et The British Council, Paris 1947, S. 13. Mario Praz, The Romantic Agony, übersetzt von Angus Davidson, 2. Auflage, Oxford University Press (1954), S. 278 Anm. 50.

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jemand, der auch nur einen Funken Frömmigkeit und Menschenliebe in sich hat, die Welt als von Grund auf schlecht und ihren Schöpfer als böse hinstellen? Man wird es schwerlich begreifen, solange man nicht weiß, daß in Blake ein überfeines metaphysisches Gerechtigkeitsverlangen gepaart war mit einer irgendwann in Kindheitstiefen empfangenen Vision von der Welt, wie sie sein sollte-, eine Vision von so vollkommener Harmonie, so absoluter Glückseligkeit, daß er bis ins Alter mit den tödlich erschrockenen Augen eines Kindes auf jedes vorkommende Unglück oder Unrecht starrte. Nie hat er sich trennen wollen, weder von dem Paradiesestraum noch von der Empörung. „Unbeirrtheit des Traums und ein Infantiles lassen bei ihm nicht säuberlich sich scheiden" — dieser Satz, mit dem Adorno einen Blake in manchen Wesenszügen verwandten Künstler deutet, nämlich Gustav Mahler, trifft auch Blake selbst im Kern. In einer Art von Kinderreimen, die er selbst „Weissagungen der Unschuld" (Auguries of Innocence) überschreibt, äußert Blake in Gleichnissen sein ständig erschüttertes Gerechtigkeitsgefühl: „Ein Rotkehlchen im Vogelbauer Setzt alle Himmel in Wut und Trauer. Ein Hund, verhungert vor des Herren Haus, Sagt den Verfall des Staates voraus. Ein Pferd, das man mißhandeln tut, Schreit zum Himmel nach Menschenblut ... Jeder Aufschrei des Hasen, den man hetzt, Eine Faser im menschlichen Hirn zerfetzt ... Töte die Motte, den Falter nicht, Es steht vor der Tür das Jüngste Gericht ... Das Kind, das unter der Rute schreit, Schreibt Rache in des Todes Bereich ..." 10

Nun waren es nicht nur mißhandelte Kinder und Tiere, die seinen Unrechtsnerv schmerzlich gespannt hielten. William Blake lebte in einer Zeit blutiger Kriege und gewaltiger Umwälzungen, welche den Bau des absolut regierten Staates sogar in England fühlbar erschütterten und dabei nicht nur bestehendes Elend bloßlegten, sondern auch eine Flut von neuem Elend heraufführten. Aus skrupellosen Geschäften mit den Kolonien, aus dem Schweiß und Blut von Sklaven zogen die liberalen Kaufherren Millionengewinne, im Zuge der Industrialisierung ruinierten sie die kleinen Handwerker, kauften auf dem Land die Pächter und Kleinbauern aus und machten so zahllose Menschen arbeitslos, die sich dann wieder mühelos zu unwürdigen Bedingungen in die aufschießenden Industriebetriebe pressen ließen. Es war die Zeit der Kinderarbeit, wo nicht eingehaltene Gesetze unterernährte Kinder vor mehr als zwölfstündiger Arbeit schützen sollten. Blake erlebte Hungerrevolten und eine Hungersnot, er sah, wie das Aufbegehren der amerikanischen Kronkolonien im Mutterland eine Kette von Unruhen nach sich zog; knapp ein 10

Keynes 1956, S. 118. Übersetzung von Adolph Knoblauch, in William Blake, Ausgewählte Dichtungen, übertragen von A. K., I, Berlin 1907.

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Jahrzehnt vor dem Sturm auf die Bastille beteiligte der junge Blake sich an der Befreiung von Häftlingen aus dem Londoner Newgate-Gefangnis. Wie kein anderer englischer Dichter seiner Zeit war er empfanglich für die sozialen Erschütterungen, die er zugleich als Erschütterungen der staatlichen und kirchlichen Autorität erlebte. Er sah nicht nur die Knechtung ganzer Bevölkerungsschichten; nicht minder schlimm schien ihm die Knechtung des Einzelnen, vor allem der Frauen, durch die herrschende Gesellschaftsmoral. Dieselben anglikanischen Priester, die in Pamphleten die Sklaverei als gottgewollt verteidigten, verfolgten unbarmherzig jede von Gesetz und Sitte nicht sanktionierte Liebe und erklärten die Verleugnung der Gefühle für tugendhaft. Darum sagte Blake, wiederum in den „Sprichwörtern der Hölle": „So wie die Raupe sich die schönsten Blätter aussucht, um ihre Eier darauf zu legen, legt der Priester seinen Fluch auf die schönsten Freuden." Nun war Blake weder bereit, die Wunden, welche die Industrialisierung dem Volksorganismus schlug, als Vorauszahlung auf einen künftigen breiteren Wohlstand hinzunehmen, noch ließ er sich die Versagung der menschlichsten Wünsche in dieser Welt als Pfander auf um so vollkommenere Seligkeit in der jenseitigen schmackhaft machen. Er sah keinen Unterschied zwischen kleinen und großen Leiden, zwischen dem feinen gesellschaftlichen Zwang, der den einzelnen unmerklich zerreibt, und der massiven Rohheit, welche Tausende in Kriegen und Hungersnöten vernichtet. Der kleine frierende Schornsteinfeger junge, auf den er ein Gedicht schrieb, die ausgepeitschten und verstümmelten Negersklaven, die er für Kapitän Stedmans Bericht aus Surinam in Kupfer stach, alles führte ihn vor die furchtbare Frage nach der Rechtfertigung des Unheils in der Welt, und die stellte sich ihm genau so, wie sie sich in der zweiten Jahrhunderthälfte Dostojewski stellen sollte: in ihrer äußersten Form, nämlich als Frage nach der Rechtfertigung schuldlosen Leidens. In der Beschwörung der gequälten Kinder und Tiere klingen die zitierten Verse aus den Auguries of Innocence wie eine Vorwegnahme des Monologs, mit dem Iwan Karamasoff seine Parabel vom Großinquisitor einleitet. Genau wie Iwan muß Blake sich einmal gesagt haben: „Ich habe doch nicht dafür gelitten, daß meine Missetaten und Leiden als Dünger dienen für irgendwessen künftige Harmonie", und genau wie er muß er dann entschieden haben, diese künftige Harmonie sei „nicht einmal eine einzige Träne auch nur des einen gequälten Kindes wert, das sich mit den Fäustchen an die Brust schlug und in dem übelriechenden Loch mit ungesühnten Tränen zu seinem ,lieben Gott' betete." Die Konfrontation mit Unglück und Unrecht führte Blake in die Auflehnung gegen Gott. Da er aber in seiner unbedingten Religiosität Gott ebenso liebte, wie er ihn brauchte, fand er einen Ausweg nur im Rückgriff auf altes esoterisches Gedankengut, wie es zum esten Male die Gnostiker, und in freilich ganz anderer Weise die jüdischen Kabbalisten entwickelt haben. Kern dieser Gedanken ist die Vorstellung, die Welt, in der wir leben, sei nicht von Anbeginn dagewesen; sie sei auch keineswegs die beste aller möglichen Welten. Im Uranfang, Äonen vor der

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Schöpfung, habe die Menschheit, zusammengefaßt in einem einzigen gigantischen himmlischen Körper, in völliger Einheit mit Gott gelebt, und nur ein furchtbarer kosmischer Spaltungsvorgang habe dazu geführt, daß sich Gewalten aus dieser AllEinheit losgerissen hätten, die dann, auf sich allein gestellt, böse geworden seien und sich in dem dämonischen Demiurgen verkörpert hätten, der unsere Welt geschaffen habe. Diese Schöfung sei der eigentliche, ursprüngliche Sündenfall gewesen, ein böser Akt eines bösen Gottes: folglich sei der Schöpfer, den wir anbeten, nur ein düsteres Zerrbild des Wahren, Höchsten, genau wie unser Dasein in dieser Welt nur ein Zerrbild jener früheren Existenz des Menschen in Einheit mit Gott sei. Blakes immer wiederkehrendes Bild für diesen falschen Gott ist jener böse Greis mit vereisten Tränen heuchlerischen Mitleids in den Augen, der, Gesetzestafeln in den Händen, in Wolkenhöhen thront. 11 Blake nennt ihn Urizen. Das Wort enthält zunächst das griechische öpi^eiv, das als „begrenzen" gleichermaßen die ordnende Tat, das Setzen eines Horizonts in der Weltschöpfung, wie das Einengen und Limitieren ausdrückt; andererseits ist „Urizen" ein Wortspiel: your reason — euer Verstand. Urizen verkörpert also den Intellekt, der, von den höheren Bewußtseinskräften abgespalten, Amok läuft, die Sinneswahrnehmungen in papierne Abstraktionen auflöst, das Göttliche in ein mechanisches Naturgesetz verfälscht und alle Freuden durch ein System von starren Moralgesetzen unterdrückt: kurz, er ist der Todfeind alles Schöpferischen und, wie Blake nie versäumt hinzuzufügen, Inbegriff aller Unterdrückung durch Ratio und Moral, Staat und Kirche. Hier regt sich unweigerlich frommer Protest. Wie — diese Welt soll eine gefallene, ihr Schöpfer soll böse sein? Empört sich da nicht all unser früheingepflanzter Glaube, der uns gelehrt hat, sie so, wie sie ist, als gottgewollt anzusehen, empört sich da nicht vor allem unser aus tiefstem Verlangen stammender Glaube an Gott als den „lieben Vater"? Blake hätte geantwortet: „Wie kann er denn überhaupt ein lieber Vater sein? Er wird uns als gut geschildert, und wir müssen uns als schlecht erkennen; wir sollen glauben, daß er, der doch nur zum Guten fähig sein soll, uns so geschaffen habe, wie wir sind, und dennoch auf eine mysteriöse Weise nicht für unsere Schlechtigkeit verantwortlich sei — und dabei versündigen wir uns angeblich ebensosehr, wenn wir annehmen, er sei für unsere Schlechtigkeit verantwortlich, wie wenn wir glauben, irgendetwas könne geschehen ohne seinen Willen. ,Alles was geschieht, ist Gottes Wille' — lauert hinter dieser Versicherung nicht überhaupt die staatserhaltende List der Priester, die mit den Herrschenden gemeinsame Sache

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Die eindrucksvollste Darstellung Urizens ist unsere Abbildung 114: The House of Death (farbige Monotypie, mit Feder und Aquarell übergangen, 1795; Täte Gallery, London.) Urizen erscheint hier als der böse Schöpfergott, über dem unausweichlichen Verfall seiner Geschöpfe schwebend, in einem Elendsspital. Tödliche Pfeile erwachsen aus dem Pergamentstreifen, auf dem seine grausamen Gesetze geschrieben stehen.

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machen, indem sie die Fürsten als von Gott eingesetzt hinstellen und dann mit ihrer Höllendrohung dasselbe erreichen, was jene mit ihrer Polizeigewalt erzwingen: unseren bedingungslosen Gehorsam, unsere vollständige Unterwerfung? Läuft das nicht alles darauf hinaus, daß nur die Leidenschaftslosen, Dürren und Lauen, also die durch und durch Unschöpferischen einer Seligkeit teilhaftig werden, um die man sie nicht einmal beneiden möchte — während die anderen, die mit Leidenschaft und Vision Begabten unweigerlich dem Richterspruch verfallen, in dieser wie in jener Welt? Ja und wenn schon in dieser Welt so viel Gutes und Schönes keinen Platz haben soll — wie kann man sich je damit abfinden, daß so viel grauenhaft Böses tatsächlich seinen Platz in ihr hat?" 12 Unaufhaltsam führt Blakes Denken auch hier auf die Frage, welche später Iwan Karamasoff stellt: „Was kann die Hölle wiedergutmachen, wenn die Kinder schon zu Tode gequält sind?" Es ist leichter, dies alles als vulgäres Mißverständnis der christlichen Lehre abzutun, als einen Menschen, der von solchen Zweifeln befallen ist, davon zu befreien. Blake war nicht der Mann, sich eine Lösung innerhalb des Dogmas zu erfinden, die ein Minimum der Widersprüche mittels subtiler Dialektik der Willensfreiheit auflöst, für die verbleibende Unermeßlichkeit aber nur den Sprung in den Abgrund des Glaubens bereithält. Er war genausowenig bereit, die Widersprüche als unlösbar hinzunehmen. Wie alle großen Idealisten wollte er mit seinen Mitteln die Welt verändern. Mit seinen Mitteln, das hieß: als visionärer Dichter und Maler oder, wie er selbst sich später nannte: als Prophet, wobei er sich freilich nicht als Zukunfts-Wahrsager, sondern als Verkünder geistiger Wahrheiten verstand. Deutlich lassen sich in seiner Entwicklung zwei Phasen unterscheiden. Zuerst erhoffte er die Erlösung noch im Hier und Jetzt, im Gefolge der politischen Umwälzungen. Als er dann alle Hoffnung auf Änderungen in den äußeren Gegebenheiten verlor, beschritt er den Weg nach Innen und entwickelte die genannten gnostisch-kabbalistischen Gedanken zu einem umfassenden Systen. Für Blakes politische Haltung ist ausschlaggebend, daß er von Kind an allem irdischen Geschehen auch eine über das Irdische hinausreichende Bedeutung zuschrieb. So ließ er sich vom Ausbruch der Französischen Revolution zu noch weit höheren Hoffnungsflügen hinreißen als die übrigen englischen Radikalen. Der Unabhängigkeitskampf der amerikanischen Kolonien gegen das englische Mutterland war sein bestimmender Jugendeindruck gewesen. Von der Erhebung des französischen Volkes erhoffte er, daß sie die Befreiung ganz Europas, vorab Englands, vom Joch des despotischen Monarchismus heraufführen würde. „Everjbody hates a king", dachte Blake. Er feierte die erste Phase bis zum Sturm auf die Bastille in einem Epos The French Revolution, das unvollendet blieb. Als England 1793 nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. zum Krieg gegen Frankreich rüstete, 12

Diese Zusammenfassung von Blakes Einwänden gegen die „Priesterreligion" beruht auf einigen Sätzen in Northrop Frye, Fearful Symmetry, A Study of William Blake, Princeton University Press, Paperback Edition, 3. Auflage 1958, S. 6 1 - 6 2 .

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präsentierte Blake der Nation in America, a Prophecj den Fehlschlag des Kreuzzuges gegen die Kolonien als Warnung vor dem in seiner Sicht ebenso unvermeidlichen Fehlschlag dieses neuen Kreuzzuges gegen den siegenden Republikanismus. Dabei kleidete er das Geschehen in die Symbole selbstgeschaffener Mythologie. Den Geist der Revolution verkörpert ein jugendlicher Gott namens Ore. Durch seinen Mund läßt Blake die rebellierenden Völker sprechen, wobei er ihr Verlangen nach politischer und moralischer Befreiung in eins setzt: „Muß denn der Großmütige zittern und sein Glück dem Faulen überlassen, dieser Pest, „Die seiner spottet? wer gebot dies? welcher Gott? welch' Engel? „Erfahrung vorenthalten ihm, dem Großmütigen, bis wer keine Großmut kennt, „In Freiheit alle Lebensenergien darf spielen lassen; „Bis Mitleid ein Geschäft geworden, Großmut Wissenschaft, „Durch die man reich wird; und die sand'ge Wüste nur dem Starken bleibt? „Wer ist der Gott, der Frieden dekretiert und sich in Stürme kleidet? „Wer ist der Engel, der nach Tränen giert und sich mit Seufzern fächelt? „Wer ist der kriechende Halunke, der Enthaltsamkeit verlangt und hüllt sich selbst in Lämmerfett? „Ich folge nicht mehr, ich gehorch' nicht mehr!" 13

Blakes unbeirrte Hoffnung hielt lange an. Septembermorde und Schreckensherrschaft erschienen ihm noch als notwendige Übel im Kampfe gegen die im Königtum, der Priesterherrschaft und der Unterdrückung der Armen verkörperte Ratio. In Blakes prophetischer Auslegung war der Kampf der Franzosen für eine bessere Gesellschaftsordnung nicht weniger als das Heraufdämmern der Apokalypse. Nach dem Weltbrand sollten die als „Hölle" gebrandmarkten Leidenschaften des Menschen in mystischer Vermählung im „Himmel", dem wiedererstandenen Reich Gottes aufgehen. Das ist der Sinn seiner „Hochzeit von Himmel und Hölle". War es somit die Hölle, die sich erhob und die in England regierenden „Engel" wie Pitt, Burke, die Erzbischöfe und den König zu angstvollem Widerstand aufrief, so konnte es für Blake keine passendere Verkörperung für den Geist der Revolution geben als Satan. Milton hatte Satan im „Verlorenen Paradies" tragischen Glanz verliehen: über ihn hinausgehend, verherrlichte Blake ihn in dieser Phase seines Schaffens als politischen und moralischen Befreier. Freilich ist hier eins zu beachten. Wir erinnern uns an André Gides Wort, wonach Blake überhaupt „von des Teufels Partei" gewesen sei: das läßt sich so nicht halten. Wenn Blake in seiner revolutionären Phase Satans Revolte bejaht, so tut er es weder im Sinne Lautréamonts noch im Sinne Sades, welche beide, der eine aus knabenhaftem Schmerz über die Unvollkommenheit der Welt, der andere aus Verbitterung und von kranken Instinkten getrieben, die herkömmliche Ordnung von Gut und Böse einfach umkehrten. Weil sie fanden, daß Zerstörung die Welt beherrscht, predigten sie Zerstörung; weil sie Unrecht und Schmerz erfuhren, zeigten sie die Erfüllung des Weltgesetzes in imaginären Orgien der Quälerei und 13

Keynes 1956, S. 205.

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Vernichtung. Für Blake hingegen symbolisiert die satanische Revolte, das heißt das Streben nach politischer und moralischer Befreiung gerade das, was uns in der gefallenen Welt am Leben hält: das Beharren auf unserem göttlichen Ursprung. Am Anfang von Blakes geistiger Existenz steht jene überwältigende Vision von der Welt, wie sie sein sollte. Die Fähigkeit zu solcher Schau, der gegenüber die uns gegebene Welt zwar quälend unvollkommen, aber zugleich doch auch nicht letztgültig, sondern nur vorläufig erscheint, ist die Grundlage von Blakes Glauben und Denken. In dem schöpferischen Akt der Vision, der den Trug der Erscheinungen in Richtung auf die Ewigkeit durchbricht, erwacht, was noch göttlich ist in uns. Machen wir uns dies an einem vielzitierten Wort von Blake klar: „Für mein Teil erkläre ich ausdrücklich, daß ich die Außenwelt der Schöpfung nicht anschaue und daß sie für mich nur ein Hindernis ist, kein Anreiz; sie ist wie der Staub auf meinen Füßen, kein Teil Von mir. Wie, wird man fragen, wenn die Sonne aufgeht, sehen Sie nicht eine runde feurige Scheibe, etwas wie eine Guinea? O nein, nein, ich sehe eine unzählbare Schar von Engeln, die ausrufen: Heilig, heilig, heilig ist unser Herr Gott, der Allmächtige." ,4

Die Sonne als Gloriole lobpreisender Engel zu sehen, ist ein Akt der schöpferischen Einbildungskraft, der Imagination. Die Imagination ist für Blake nicht nur „das Göttliche in uns", er identifiziert sie geradezu mit Gott. „Gott ist Mensch und existiert in uns und wir in ihm", sagt Blake und weist damit die Vorstellung eines Weltenlenkers, der in unerreichbarer Ferne über den Sternen thront, zurück. Das ist das Gottesbild, das er Urizen nennt. In philosophischen Termini bekennt er sich somit zur Immanenz Gottes im Gegensatz zu seiner Transzendenz. Aber entwickelt Blade dann nicht lediglich eine Spielart des Pantheismus Spinozas, für den Gott restlos mit der Welt zusammenfällt und die Welt völlig in ihm aufgeht? Keineswegs. Damit wäre für Blakes Anliegen nichts gewonnen: denn eine solche Gleichsetzung bestätigte ja wiederum diese Welt als einzig wirkliche und letztgültige — nur daß ihr grausames Gesetz ihr nun nicht mehr aus Sternenhöhen zudiktiert wäre, sondern sie gleichsam von innen durchwaltete. Urizen der WeltAerrscher würde dabei, als „denkendes Ding", zum allumfassenden 'Weltbegriff und behielte so die leidende Menscheit gleich unausweichlich in seinen Fängen. Aber Blake identifiziert Gott eben gerade nicht mit der bestehenden Welt, sondern mit der Imagination als der uns gegebenen Fähigkeit, die Fesseln, die diese Welt uns auferlegt, in schöpferischen Akten der Einbildungskraft zu durchbrechen. Er sagt an anderer Stelle: „Gott verehren, heißt: seine Gaben in anderen Menschen ehren, einen jeden gemäß seinem Genius, und die größten Menschen am meisten lieben ... denn es gibt keinen anderen Gott." 15 Diese Worte könnten nun wiederum dazu verleiten, Blake einfach als Atheisten zu verstehen. Wäre Gott wirklich ganz eins mit dem Menschengeist in seiner höchsten Ausprägung, so würde die Idee Gottes hinfallig, weil überflüssig. 14 15

A Vision of the Last Judgment; Keynes 1956, S. 651 f. The Marriage of Heaven and Hell; Keynes 1956, S. 191.

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In Wahrheit enthalten sie jedoch gerade einen Fingerzeig, wie Blakes Immanenztheorie vor dem atheistischen Mißverständnis zu bewahren sei. Obgleich Gott für Blake die Vollkommenheit des Menschen darstellt, ist der Mensch doch niemals ganz Gott. Denn die Imagination, d. h. unsere Einheit mit Gott, ist eben beeinträchtigt durch das Maß, in dem jeder von uns ihn verleugnet durch Beugung unter das Gesetz Urizens. Wo immer es der Imagination gelingt, aus diesem Teufelsbann auszubrechen: in der Erkenntnis des Propheten, im Schöpfertum des Künstlers, im Opfertod des Märtyrers, aber auch in jedem einfachen Akt der Standhaftigkeit, Güte und Mitmenschlichkeit, findet das Göttliche in uns zu sich selbst. Die großen Menschen, die uns solche Triumphe der Imagination vorleben, erinnern uns an unsere ursprüngliche Einheit mit Gott und helfen uns so, das Göttliche in uns wiederzufinden. Darum sollen wir sie, die sich in offenbarem Gegensatz zum Weltlauf verhalten, am meisten lieben. Nun könnte man einwenden, daß das Wort „Standhaftigkeit" seltsam klingt im Munde eines Denkers, dessen innerste Substanz im Protest gegen das, wie auch immer unabwendbare, Schicksal besteht. Das jedem von uns auferlegte unverständliche, ja feindliche Schicksal als gottgewollt anzuerkennen, kann doch niemals Inhalt von Blakes rebellischer Gläubigkeit sein? Nein, erst wenn ihm die Möglichkeit eines völlig anderen Weltzustands aufdämmert, erfahrt der Mensch, Blake zufolge, den ihm einwohnenden Gott. Wem es gelingt, die Sonne als Engelsschar zu sehen, der kehrt heim: er hat den Trug der Zeitlichkeit durchschaut und braucht sich nicht mehr an der Unvollkommenheit alles Irdischen wundzureiben. Von Stund an lebt er im Reiche der Imagnination, dem ewigen Hier und Jetzt. Zwar entwickelt Blake für die uns gegebene Welt ein zyklisch gegliedertes Geschichtsbild, das in die vorausbestimmbare Apokalypse mündet; aber er sieht doch zugleich diese uns gegebene Welt als bloßes Trugbild der Ewigkeit vorgeblendet. So kann, wer aufhört, sich auf seine fünf Sinne zu verlassen — oder: das Gesetz Urizens anzuerkennen — das Irdische hinter sich lassen. Indem Blake das Dasein als bloßes Zerrbild des Seins entlarvt, befreit er Zweifler von der Art des Iwan Karamasoff von ihrem Hadern mit Gott: ihre Anklage trifft nur mehr Urizen. Freilich kann man fragen, was mehr Standhaftigkeit erfordere: sein Schicksal als gottgewollt zu ergreifen oder, wie Blake selbst, ein Leben lang allem Druck der irdischen Mächte sein Wissen um die Scheinhaftigkeit und metaphysische Minderwertigkeit des Irdischen entgegenzusetzen. Dies führt auf die Frage, wie der Prophet sich den irdischen Mächten gegenüber verhält, und damit auf die Frage nach Blakes Moral. So viel ist doch sicher, und nicht einmal verwunderlich: dieser Denker, der sich weigert, die Wirklichkeit anzuerkennen, so wie sie für uns alle gilt, verweigert auch der aus dieser Wirklichkeit hergeleiteten Moral seinen Gehorsam. Trotzdem verfügt er über ein sittliches Pathos, das ihn an vielen Stellen mit echtem Prophetenzorn sprechen läßt. Machen wir uns also seinen Ausgangspunkt klar. Blake verbindet seine Konzeption von der Immanenz Gottes mit den genannten gnostischen Vorstellungen von

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der Schöpfung als Sündenfall. Seine frühempfangene Vision der Welt, wie sie sein sollte, wird ihm zum Bild des Zustandes vor der Schöpfung: alle Einzelmenschen, Völker und Rassen seien wie Körperzellen Teile der ewigen Gestalt des Menschen gewesen, die eins war mit Gott. Die Imagination war die Seinsweise der noch ungeteilten Menschheit in ihrer Einheit mit Gott: ein Dasein in unvorstellbarer Fülle des Lichts, in immerwährendem schöpferischen Entzücken. Als dann aber jenes spaltende Ereignis eintrat und die aus Gott, dem All-Einen, abgespaltenen Energien sich in Urizen manifestierten; als dieser das gegenwärtige All und mit ihm die gegenwärtige Menschheit schuf, aus Materie, darum heillos und unvollkommen: da sei die Einheit des Menschen mit Gott gestört worden. Seitdem trage jeder von uns mit dem göttlichen Wesensanteil, der Imagination — jetzt nur noch die ahnende Erinnerung an die verlorene Einheit — einen „natürlichen" Menschen in sich, und der ist selbstsüchtig, da er diese Welt als letztgültig und ihr Gesetz, das grausame Gesetz Urizens, als verpflichtend ansieht. Dieser „natürliche" Wesensanteil ist gleichsam Blakes Konzeption der Erbsünde. Da die Imagination allein Leben ist, ist alles, was ihr entgegenwirkt oder sie unterdrückt, lebensfeindlich und führt in letzter Konsequenz zu geistigem Tod. Hieraus leitet Blake die für sein Moraldenken entscheidende Auffassung her, daß das Böse rein negativ sei: alles Böse besteht entweder in der Unterdrückung des eigenen Selbst oder in der Unterdrückung von anderen. Mit seinen Worten: „... selbst ein Tun zu unterlassen oder einen anderen daran zu hindern: das ist Laster, jedoch alles Tun ist Tugend ... Morden ist: einen anderen hindern. Stehlen ist: einen anderen hindern. Verleumdung, Unterschleif, List und was immer negativ ist, ist Laster."16 Diese Definition mag beim ersten Lesen als eine etwas exzentrische Vereinfachung anmuten; genauer bedacht, erweist sie sich jedoch als sehr umfassend und, vom Standpunkt eines Denkers, dem die Befreiung der schöpferischen Bewußtseinskräfte höchstes Anliegen ist, als durchaus folgerichtig. Northrop Frye hat mit Recht darauf hingewiesen, daß sich unter die Unterdrückung anderer oder des eigenen Selbst nicht allein das meiste als solches geltende Unrecht, sondern auch manches gemeinhin nicht als solches erkannte subsumieren lasse. Er nennt bösartige Neckerei, das Einflößen von Furcht oder Entmutigung, die Nötigung zu blindem Gehorsam.17 All dies zerstört Unbefangenheit, bricht eigenständige Entfaltung, verknappt, verengt unsere geistige Existenz. Jede Selbstverleugnung, die nicht im Dienste imaginativer Anliegen geübt wird, ist Selbstmord in petto, führt am Ende zu tödlicher Erstarrung, in jenen Zustand, der für Blake der ärgsten Sünde gleichkommt: die Trägheit des Herzens, die mittelalterliche acedia oder, moderner, Baudelaires ennui. So wird auch das „Sprichwort der Hölle" verständlich: „Morde lieber ein Kind in der Wiege, als daß du unausgelebte Begierden nährtest", wobei das 16 17

Annotations to Lavater's „Aphorisms on Man" London MDCCLXXXVIII; Keynes 1956, S. 735. Frye, op. cit. S. 56.

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Wort „Begierden" für alle nur denkbaren Sehnsüchte, Wünsche und Antriebe steht, bis hin zum Verlangen nach Gott, das ja auch in der Sprache der deutschen Mystiker immer wieder als „Begierde" aufloht. Die Unterdrückung von anderen erzeugt diejenigen Laster, die in Grausamkeit entspringen; die Unterdrückung des eigenen Selbst erzeugt diejenigen, die in Furcht entspringen. Grausamkeit ist die Grundeigenschaft des Tyrannen, Furcht die Grundeigenschaft des Sklaven: beide werden durch die Laster, die sie beherrschen, zur Selbstsucht bestimmt. Gewiß verachtet Blake den zerschnittenen Wurm, der dem Pflug vergibt, sofern diese Vergebung nur feige Unterwerfung unter das als endgültig angesehene Gesetz dieser Welt ist; doch ein „Wille zur Macht" hat in seinem Wertsystem keinen Platz. Blakes Stimme wird schneidend, wenn er anprangert, was seiner Meinung nach die Priester als Diener der Tyrannen zur Befestigung von deren Macht aus der Religion Christi gemacht haben: in der Staatsreligion entspricht die Beziehung vom Gott zum Menschen genau der Beziehung des Tyrannen zu seinem Untertan: hier ein ferner, unerreichbarer und unberechenbarer Gott, der jedes Unheil schicken kann, dort ein elender, furchtgepeinigter Mensch, der alles von ihm hinnimmt und ihm in blindem Gehorsam dient. So könnte es garnicht fehlen, daß die Vertreter der Staatsreligion Routine-Moralität, geistige Unselbständigkeit und passiven Gehorsam mit dem Guten, Energie, Freiheit und Unabhängigkeit mit dem Bösen gleichsetzen. So zeigt Blake sich als konsequenter Anarchist. Macht, seien es nun die Gewalten von Staat und Kirche, die Gesellschaft oder, mit einem heutigen Wort, das „establishment" (das auf künstlerischem Gebiet ihn vom Erfolg ausschloß) sind für ihn böse. Wenn er aber immer wieder gegen die landläufige Moral eifert, so denkt er nicht daran zu leugnen, daß vieles, was ihr als gut oder verwerflich gilt, wirklich gut oder verwerflich ist; er weiß lediglich, daß nur allzu oft in der herrschenden Moral das wirklich Gute auf eine dem Durchschnittsmenschen undurchschaubare Weise vermengt wird mit Gesichtspunkten der Staatsraison, und die zielt ja nie auf absolute Werte, sondern immer nur auf die Erhaltung des status quo, der gegebenen Mächteverteilung. So wie Blake das Sittengesetz von der Vermengung mit der Staatsraison reinigen will, will er das sittliche Verhalten von feigem Konformismus reinigen. Dazu stimmt, daß er, der vielleicht unter den Dichtern seiner Zeit das leidenschaftlichste Sozialempfinden hatte, im Geistigen der geschworene Feind jeder Gleichmacherei war. Schlagend sein Aphorismus: „Ein Gesetz für den Löwen und Ochsen ist Unterdrückung." Das heißt: jeder Einzelne ist einzig und kann sich nur nach dem ihm eingeborenen Wachstumsgesetz entfalten. So wäre diejenige Gesellschaftsform für Blake die beste, welche dem Einzelnen ein Höchstmaß an individueller Entfaltung erlaubte. Für wen Konventionen — auch die „heiligsten" — nicht gemacht sind, der versündigt sich, wenn er sie befolgt; denn gut sein heißt ja nicht, den unbegreiflichen Geboten eines irgendwo außerhalb der Welt thronenden Gottes gehorchen, sondern den Gott in der eigenen Brust herausbrin-

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gen. Wie abermals Northrop Frye mit unübertrefflicher Prägnanz interpretiert: Blake versteht Erlösung nicht im Sinne eines Gegeneinanderwirkens von göttlichem und menschlichem Willen, sondern im Sinne der Einheit von göttlicher und menschlicher Imagination. Freilich, um erlöst zu werden, muß der Mensch erst von seinen Sünden befreit werden. Zwar ist Blake unermüdlich im Zertrümmern von Gesetzestafeln, wie sie die Herrschenden im Interesse ihrer Herrschaft aufstellen, um sie dann nachträglich durch die Herleitung aus Gottes unerforschlichem Willen zu sanktionieren; doch er verkennt nicht, daß es eines jeden Menschen Teil ist, sich mit Schuld zu beladen, und ein Leben mit Schuld führt mehr als alles andere in jenen tödlichen Torpor, jene unimaginative, trostlose Melancholie, die für Blake die äußerste Gottesferne bezeichnet. Strafe lähmt zwar den schuldhaften Impuls, befreit den Schuldigen aber nicht von ihm. Insofern der Strafvollzug, genau so wie moralische Konventionen und soziale Fesseln, nicht die Befreiung der Imagination, sondern nur Unterdrükkung von Energie bewirkt, gehört er für Blake auf die Seite der Negativa. Zudem sieht er zu sehr auf der Seite der Richtenden die Selbgerechtigkeit, eine der hassenswertesten Ausprägungen der Selbstsucht. Unzweifelhaft ist Blakes Denken entscheidend bestimmt durch die kabbalistische Idee, das Böse als metaphysische Realität sei aus einer Hypertrophie der richtenden Gewalt in Gott hervorgegangen. Natürlich will er nicht sagen, daß die Gesellschaft, wie sie ist, ohne Strafe auskäme: die Notwendigkeit der Strafe zeigt eben die Unfreiheit der Gesellschaft. Der irdischen Praxis der Vergeltung und der religiösen Idee der Verdammnis hält Blake seine Lieblingsidee der gegenseitigen Vergebung aller Sünden entgegen. In ihr sieht er das Heilmittel gegen die Vergiftung der Seele durch das lähmende Sündenbewußtsein; als Gegenkraft zu der Religion Urizens ist sie die leitende Idee seiner späteren Dichtungen; er sieht sie verkörpert in der Gestalt Christi, der auf dem Höhepunkt von Blakes apokalyptischem Mythos Urizen als den Antichrist vernichtet. Grundlage dieser Idee ist Blakes Überzeugung, daß der Mensch in der gefallenen Welt nur bestehen kann durch jenes bewußte Absehen von sich selbst und Eingehen auf den Nächsten, das sich 'nicht nur in Akten der Freundschaft, Liebe und Freundlichkeit bewährt, sondern schließlich auch darin, daß man den Missetäter nicht dauerhaft aus der Gemeinschaft der weniger Fehlbaren ausstößt. Alle derartigen Akte haben zur Voraussetzung, daß man die Selbstsucht in sich abtötet. So läßt Blake in seinem letzten, großen Epos Jerusalem den Gekreuzigten sagen: „Jede Freundlichkeit zu einem anderen ist ein kleiner Tod Im Bild Gottes. Noch kann die Menschheit bestehen, wenn nicht durch Brüderlichkeit." 18

Blakes Begriff der Vergebung hat nun allerdings nichts zu tun mit weichlicher Toleranz oder Läßlichkeit. Vergebung hat für ihn strenge Verurteilung zur Voraus18

Jerusalem, 96; Keynes 1956, S. 564.

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Setzung: alle die Sünden, die es wirklich sind in seiner Sicht, also im „Hindern" oder Unterdrückung seiner selbst oder anderer bestehen, müssen unnachgiebig verurteilt werden, denn nur das eröffnet dem Schuldigen die Einsicht, in seiner Sprache: das Freiwerden der Imagination, das es ihm möglich macht, hinfort nicht mehr zu sündigen. Blake sagt: „Wer immer den Irrtum aufgibt und die Wahrheit umarmt, über den bricht zur selben Stunde ein Jüngstes Gericht herein." 19 So wie das Jüngste Gericht eingeleitet wird durch die Verzehrung der Welt im Feuer der Apokalypse, geht dem Freiwerden der Imagination die Zerstörung des Sinnentruges voraus, der uns diese Welt als letztgültig vorgaukelt. Die Auferstehung der Menschheit ist ihre erneute Vereinigung in einem einzigen himmlischen Körper, der eins ist mit Gott. Jeder Aufbruch ins Mitmenschliche deutet schon hier auf jenes vollkommene Einswerden voraus. Wem dazu noch die Gabe der Vision zuteil wird, der erfahrt schon in diesem Leben vorausahnend seine Auferstehung. So viel kann, Blake zufolge, im glücklichsten Falle die Vergebung der Sünden bewirken, wenn der Prophet oder sonst ein Wissender und Mensch guten Willens in dem Schuldigen Reue und Einsicht weckt. Verleitet ihn hier nicht die Fülle des Lichtes, das er selber erschaut, zu einer Täuschung über das Wesen des gefallenen Menschen? Allerdings ist Blake soweit Realist, daß er nicht allen Menschen die Fähigkeit zu solcher Steigerung durch die Einsicht zutraut. Er kennt auch die durch und durch in Selbstsucht und Selbstgerechtigkeit Verstockten und nennt sie hohnvoll, wie sie selbst sich in ihrem Hochmut sehen mögen: „die schon vor der Weltschöpfung Auserwählten." 20 Aber sein Weltsystem sieht selbst für diese keine ewige Verdammnis vor. Die Hölle mit Folterqualen in einer nach Minuten zählenden Ewigkeit ist für Blake „eine Phantasie böser Menschen." 21 Gleichwie die Selbstsucht, werden auch sie in der Apokalypse zunichte. Während es Blake fast überall nicht um totale Verwerfung, sondern nur um Reinigung der geltenden Moral geht, versucht er in einem Punkt radikale Umwertung, nämlich in der Geschlechtsmoral. Sein Widerwille gegen jede Denunzierung des Geschlechtlichen als sündhaft führt ihn in die mit christlicher Orthodoxie allerunverträglichste Blasphemie: da er in direkter Vorwegnahme Nietzsches der Meinung ist, die Kirche habe mit dem Dogma der Unbefleckten Empfängnis nur „die Empfängnis befleckt" 22 , tilgt er es in provokanter Sprache aus seiner Christologie. In Blakes Moralsystem ist Keuschheit ein beinah ebenso verwerfliches Laster wie Eifersucht. Gewiß, die freiwillige Keuschheit des Asketen mag diesem in seinen imaginativen Anliegen helfen. Aber die gegen den eigenen Willen, unter dem Druck von Erziehung, gesellschaftlicher Konvention und Kirchengesetz 19 20 21

22

A Vision of the Last Judgment; Keynes 1956, S. 647. Milton, 4; Keynes 1956, S. 381. Annotations to Swedenborg's „Wisdom of Angels Concerning Divine Love and Divine Wisdom", London MDCCLXXXVIII; Keynes 1956, S. 740. Der Antichrist, 34. Für Blakes Ablehnung des Dogmas siehe The Everlasting Gospel, i, und Jerusalem, 61; Keynes 1956, S. 142 und 510.

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aufrechterhaltene Keuschheit erscheint ihm als ein besonders schlimmes Beispiel für die Unterdrückung des eigenen Selbst. Eifersucht hingegen — und er versteht darunter nicht allein das egoistische Besitzverlangen der Liebenden, sondern auch die in der Institution der Ehe verankerte Verfügungsgewalt der Gatten übereinander — ist ihm ein besonders schlimmes Beispiel für die Unterdrückung von anderen. Er ist einer der ersten europäischen Dichter, die ihre Stimme erheben gegen eine Gesellschaft, welche die Hure verdammt, der sie doch selbst ihr Los zuweist. Das meint er mit seinem Ausspruch: „Bordelle sind mit Ziegeln der Religion gebaut." Da mag nun der heutige Mensch sagen: Zwangsvorstellungen aus grauer Vergangenheit! Aber vergessen wir nicht, daß erst ganz kurz vor Blake Rousseau mit seinem Ruf „Zurück zur Natur", Diderot und Voltaire mit ihrer liebenswürdigen Laxheit das Geschlechtliche aus dem Kirchenbann der Unaussprechlichkeit befreit hatten. Immer noch hielten Staat und Kirche den Einzelnen in den Fesseln starrer Sittengesetze, deren Übertretung hart geahndet wurde. Zudem wandte Blake sich ja in erster Linie an ein Volk, das von je her besonders schwer an dem lustund körperverdammenden Erbe des Puritanismus trägt; wäre dies anders, so hätte es nicht, 150 Jahre nach Blake, einen D. H. Lawrence gegeben. Die sexuelle Moral war für Blake Teil der sozialen Knechtung; die Freiheit des Sinnengenusses ein möglicher Weg zur Befreiung der Imagination. In einem merkwürdigen Gedicht, Visions of the Doughters of Albion, hat er seine dahingehenden Ansichten mit besonderer Entschiedenheit ausgesprochen.23 Es ist ein in seiner Handlung seltsam unbestimmtes Dramolett zwischen drei Personen mit unwahrscheinlichen, ossianisch klingenden Namen. Beides, die Vagheit der Handlung und die phantastischen Namen, erklärt sich zum Teil aus Zensurrücksichten: denn da Blake hier mit der sexuellen Unfreiheit der Frauen auch den Sklavenhandel und die Unterdrückung der amerikanischen Kronkolonien anklagt, hatte er, wie alle Verfasser „jakobinischer" Schriften, 1794 das Gefängnis zu fürchten. Wir brauchen den Komplikationen der Handlung nicht nachzugehen; nur ein Blick auf die Akteure ist notwendig. Da ist ein trüber Charakter namens Bromion: er verkörpert die Politik Englands gegen die Kolonien, außerdem ist er der Sklavenhändler und, auf der moralischen Ebene, der Mann, der die ihm angetraute, „legal" erworbene Frau beherrscht. Dann diese selbst, sie heißt Oothoon und ist zugleich die „Seele Amerikas", die versklavte Negerrasse und das „leidende Weib". Schließlich Theotormon, Oothoons Liebhaber: in der politischen Allegorie vertritt er die Liberalen von der Art eines Wilberforce, die, von humanitären Skrupeln geplagt, im Parlament gegen den Skl&venhandel protestierten, aber doch nicht wagten, für 23

Für eine eingehende Interpretation der Dichtung siehe David V. Erdman, Blake: Prophet Against Empire, Revised Edition, Princeton University Press 1969, S. 228 — 248 und ders. Blake's Vision of Slavery, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, X V (1952), S. 242—252. Unsere Abbildung 115, das Titelblatt zu Visions of the Daughters of Albion (farbige Relief-Radierung, mit Feder und Aquarell übergangen, c. 1795; Tate Gallery, London) zeigt Oothoon und Bromion, Rücken an Rücken aneinander gefesselt, und Theotormon in Verzweiflung zu ihrer Seite.

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die Abschaffung der Sklaverei selbst einzutreten; in der moralischen Allegorie ist er der unentschlossene Liebhaber, der nicht den Mut hat, sich über die geltende Moral hinwegzusetzen. Die Frau schildert ihm die Gesellschaft, in der sie aufgewachsen ist, und ihre Ehe in einer wilden Anklage: „Lacht nicht der große Mund der Gabe, spottet nicht verkniffner Blick Der Arbeit, die mit Geld nicht auszuwiegen? Willst du den Affen Zum Ratgeb, soll der Hund dir deine Kinder lehren? Bewegt die gleiche Leidenschaft den, der der Armut spottet, so wie den, Den Wucher ekelt? Sind sie gleich gerührt? Wie kann der Spender je des Kaufmanns Wonnen fühlen? Wann fühlt der fleiß'ge Bürger je des Tagelöhners Pein? ... „Mit welchem Recht verlangt der Pfarrer den Ertrag der Fron des Bauern? Was legt er Netze, Schlingen, Fallen, was umgibt er ihn Mit kalten Fluten von abstraktem Denken und mit Wäldern Von Einsamkeit — sich aber Schlösser, Türme zu errichten, recht für Könige und Priester; Bis sie, die brennt vor Jugend und kein vorgezeichnet Schicksal kennt, Gebunden durch Gesetz an einen, der sie ekelt? Muß sie die Lebenskette schleifen In abgestumpfter Lust? M u ß frostig, mördrisch Denken ihr Den klaren Himmel ihres ewigen Frühlings trüben; muß sie Winterwut Brutalen Schreckens tragen und, dem Wahnsinn nah, die Rute Ob ihren eingefall'nen Schultern dulden und bei Nacht Das Rad der falschen Gier ankurbeln, Lüste, die ihren Schoß erwecken Zu widriger Geburt von Menschenengeln, Die pestgleich leben, meteorhaft sterben — und sind nicht mehr; Bis auch ihr Kind mit dem lebt, den es haßt, und tut, was es verabscheut, Und die unreine Geißel ihm den Samen in den kaum schon reifen Schoß zwingt, Bevor sein Auge noch des Tages Pfeile sehn kann?" 2 4 Die Vehemenz dieser Anklage wird vielleicht auch den noch berühren, der meint, das Problem sei heute erledigt — und, beiläufig, wer könnte das aus voller Überzeugung behaupten? Daß es 1 7 9 4 den Leuten auf den Nägeln brannte, beweist im deutschen Sprachgebiet Jean Paul, der nur drei Jahre später in seinem Extrablatt über den grünen Markt mit Töchtern genau so leidenschaftlich gegen die Unmoral erzwungener Ehen protestiert; dabei zitiert er zur Stützung seiner These einen Dr. Edward Hill, der ermittelt habe, daß in England jährlich 8000 junge Frauen am K u m m e r über derartige Schicksale stürben! 2 5 In einem anderen Passus eifert die „Tochter Albions" gegen Keuschheit und erzwungene Entsagung. Dann malt sie dem Geliebten das Glück, das sie ihm bieten würde, wenn günstigere Umstände sie zusammengeführt hätten, den Himmel einer Liebe ohne Eifersucht:

24 25

Visions of the Daughters of Albion, Keynes 1956, S. 198; das folgende Zitat auf den S. 199 - 200. Jean Paul, Titan, II, 12, 58.

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„Ich rufe Liebe, Liebe, Liebe, glücklich glücklich Lieb', frei wie der Bergwind! Kann Liebe heißen, was den andren aufsaugt wie ein Schwamm das Wasser, Was ihm mit Eifersucht die Nächte ganz umwölkt, mit Heulen seine Tage, Um ihn in Altersnetze einzuspinnen, grauhaarig und düster, Bis seine Augen kranken an der Sicht der Frucht, die vor ihm hängt? Das ist die neidzerfressne Eigenliebe die, ein kriechendes Gerippe, Mit Lampenaugen das gefrorne Hochzeitsbett umlauert. Doch Oothoon will Netze aus Seide legen, adamant'ne Fallen stellen Um Mädchen dir zu fangen, silbermilde, goldenwütige; Ich will an einem Ufer, dir zur Seite liegend, schaun, wie sie In lustvoll-lieblicher Vereinigung, Glück auf Glück, mit Theotormon spielen: Rot wie der rosige Morgen, selig wie der erstgebor'ne Strahl Will Oothoon seine liebe Freude schauen, nie mit eifersüchtiger Wolke Den Himmel großmütiger Lieb' entweihen, nie selbstischen Gifthauch bringen."

Dieser Hymnus auf die freie Liebe ist in der Literatur des 18. Jahrhunderts ohne Beispiel; er ist jedoch nicht mehr als die Konsequenz von Blakes eigenen Gedanken über Freiheit und Unterdrückung im moralischen Bereich. Vielleicht als Erbe bestimmter antiker Hochkulturen bewahrt die Menschheit ein zuzeiten in sektiererische Praxis ausbrechendes Verlangen nach einer anderen Möglichkeit des Sexus, die dessen Zweckgebundenheit an die Fortpflanzung verneint, den Einzelnen aus der monogamen Fessel entläßt und die umfassendere Gemeinschaft aller mit allen durch einander ungehemmt gewährte Lust besiegelt. Man mag hier an bestimmte häretische Sekten der frühchristlichen Zeit, die ja auch Blakes gnostische Leitideen hervorgebracht hat, oder an die Wiedertäufer denken, oder auch an die homines intelligentiae, denen, W. Fraenger zufolge, Hieronymus Bosch ihr „Irdisches Paradies" gemalt haben soll. 26 In Blakes eigener Zeit gab es unter den englischen Radikalen Ehepaare, die Dritte in ihre Gemeinschaft einbezogen. Blake glaubte, daß die Sinne Fenster in das Unendliche aufstoßen können; wenn wir bedenken, daß sein Mythos in der Vision einer in einem einzigen himmlischen Körper vereinten Menschheit gipfelte, so wird auch sein Glaube verständlich, daß die Liebe aller zu allen etwas von dieser verlorenen Einheit zurückgewinnen könne. Aber soweit Blakes eigenes Leben in Frage steht, waren das doch theoretische Spekulationen. Sein eigenes Gefühlsleben war frei von Extravaganz. Seine Biographen wollen wissen, er habe lediglich einmal eine junge Gehilfin in sein Haus aufnehmen wollen und selbst das auf Einspruch seiner Frau sofort aufgegeben. Ist nicht dieser mystische Pansexualismus, den er verkündet, das Ergebnis vergleichsweiser Unerfahrenheit? Hätte Blake aus einem weniger exemplarischen Leben nicht wissen müssen, was auch die Geschichte jener sektiererischen Exzesse lehrt, nämlich daß völlige Freiheit im Sexuellen wie auch im Sozialen nicht nur schwer zu verwirklichen, sondern auch schwer zu ertragen ist; daß sie beispielsweise in Übersättigung, in Abstumpfung und damit in jener seelischen Todesstarre enden 26

Wilhelm Fraenger, Hieronymus Bosch: Das tausendjährige Reich, Coburg 1947.

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Gert Schiff

kann, die in seinem Moralsystem die ärgste Sünde darstellt; oder daß die fessellosen Triebe sich in reißende Wölfe verwandeln können, wie dies der Marquis de Sade seinen erschrockenen Lesern vordemonstriert? André Gide hat die gefahrlichen Möglichkeiten erkannt, die in Blakes moralischem Befreiungswillen enthalten sind: darum kennzeichnet er seine Wirkungen als „Strahlen, die um so schädlicher sind, als sie mit Segnungen beladen scheinen." Jedoch es finden sich auch in Blakes eigenen Aussagen solche Sicherungen. So definiert er einmal in einer Randbemerkung zu Lavaters Aphorismen %ur Menschenkenntnis die Eifersucht geradezu als „Abgeschlossensein in der Besessenheit durch körperliche Begierden, welche den Menschen bald entkräften." 27 Wahrscheinlich war es sein eigenes, vielleicht begrenztes und „erfahrungsarmes" Glück, das ihm die innere Freiheit gab, das Geschlechtliche vom Stachel der Sündhaftigkeit zu befreien. In anderer Hinsicht war es wohl auch seine Isolierung, die es ihm möglich machte, alle Formeln gesellschaftlichen Zwanges so anzuprangern, wie dies nur einer kann, dem die Gesellschaft nie nahgelegt hat, zu seinem Wohle mit ihren Mächten zu paktieren. Sicher ist er maßlos, wenn er alle Zwänge beseitigen will, weil sie Leiden verursachen; wenn seine Vorstellung von der Welt, wie sie sein sollte, ihn zur totalen Verurteilung der bestehenden veranlaßt. Aber ist diese Maßlosigkeit nicht nur ein anderer Name für eine unbedingte moralische Forderung?

27

Annotations to Lavater's „Aphorisms on Man" London MDCCLXXXVIII; Keynes 1956, S. 717.

WERNER HOFMANN

Daumier, der verfolgte Verfolger Am 27. Februar 1848 brachte der „Charivari" eine Ankündigung, die alle seine Leser neugierig stimmen mußte: „ ... la troisième page du CHARIVARI retrouvera bientôt ses beaux jours. Notre vieille amie la caricature reprend possession de son fouet ..." Bald wird die Karikatur wieder ihre Geißel schwingen. Diesen Akt der Bestrafung hatte Daumier in einer „Allégorie réelle" schon in den Jahren dargestellt, als die Zensur die meisten politischen Themen tabuisierte. Am 3. Juli 1838 erschien im Charivari ein Holzschnitt, der eine Frau zeigt, die eine Herde Männer in die Flucht schlägt: „La Caricature, un fouet à la main, met en fuite les boursicotiers." (Abb. 130) Sie vertreibt die Spekulanten aus der Stadt in Richtung auf das Heiligtum der Geschäftemacher, die Börse. Der Letzte, den die Hiebe erwischen, verliert mit dem Zylinder auch seine Wertpapiere. Daumier, seiner Sache als Zeichner sicher, hat die Verständnishilfe der Legenden und Titel heruntergespielt: „Si mon dessin ne vous dit rien, c'est qu'il est mauvais; la légende ne le rendra pas meilleur." 1 Sicher vertieft die Legende nicht unser Formerlebnis, aber sie ist doch oft unentbehrlich, wenn es um das Entschlüsseln der Inhalte geht. Wer vom Titel absieht, hat eine Rächerin vor sich ähnlich jener anderen Gestalt mit Fackel und Knute, die einen „Dunkelmann" zu Boden geworfen hat (Abb. 131). Die beschrifteten Papiere deuten darauf hin, daß es sich um einen Arzt handelt. Der Holzschnitt heißt: „Némésis!" Eine solche Nemesis fallt auch über die Börsenjobber her, deren Identität aus den herumfliegenden Papieren hervorgeht. Aber erst der Titel weist die Rächerin als Allegorie der Karikatur aus. Der von Panik ergriffene Männerhaufen gleicht den Ministern, die zehn Jahre später von der Lichtgestalt der Republik — Champfleury sieht sie „illuminée par un nimbe rayonnant" 2 — davon gejagt werden. (Abb. 134) Vergleichbar ist die Rollenverteilung — jeweils triumphiert eine Frau über Männer und macht sie lächerlich —, doch das Rollenspiel der beiden ungleichen Schwestern weist wesentliche Unterschiede auf. Die junge Frau mit der phrygischen Mütze sorgt allein durch ihren plötzlichen Eintritt für die Auflösung des politischen Machtapparates, indes ihre Schwester gleich einer rasenden Furie die Züchtigung vollzieht. Die Kompetenzverteilung ist eindeutig. Die Gestalt der Republik wirkt als Verkörperung einer abstrakten Idee. Ein Wert an sich, überzeugt sie durch ihre 1

2

Daumier raconté par lui-même et par ses amis, hsg. v. Pierre Courthion, Genf 1945, S. 50. Vgl. W. H., Ambiguity in Daumier (and Elsewhere), in: Art Journal, Vol. 43, 4, 1983, S. 361 f. Champfleury, Histoire de la Caricature moderne, Paris 1865, S. 161.

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Werner Hofmann

schiere Präsenz und steht über der „comédie humaine" — also „au dessus de la mêlée", welche sie unter den Ministern provoziert. Die Frau mit der Geißel nimmt ein niedrigeres Bedeutungsniveau ein, sie verkörpert eine der Instanzen der republikanischen Freiheit, die öffentliche Meinung und deren kritische Waffe, die Karikatur. Sie muß zupacken und zuschlagen, sie kann nur wirken, wenn sie handgreiflich wird. Die Herkunft des Zerrbildes aus der Aggression und der physischen Verletzung, worauf Gombrich und Kris hingewiesen haben, tritt hier deutlich vor Augen. 3 Was die Allegorie den Boursicotiers zufügt, besorgt der Karikaturist mit seinem Stift. Eine ähnliche Rollenverteilung läßt sich bei analogen Themen der christlichen Ikonographie nachweisen, wo freilich ein und dieselbe Gestalt — Christus — sowohl als Lichtbringer wie als Züchtiger auftritt. Zornig schlägt Christus auf die Händler ein und treibt sie aus dem Tempel, indes der Auferstehende allein durch seine Lichtwirkung die Wächter verwirrt und später als Erscheinung die Jünger in Emmaus blendet. 4 Man könnte an das biblische „Rahmenthema" der Händlervertreibung anknüpfen und vermuten, daß Daumiers Rächerin die Börsianer von der rechts hinten in der Kuppel angedeuteten Sakralzone wegtreibt und in den Tempel des Geldes verweist, in dem ein sakraler Bautypus der Antike eine profanierende Bedeutungsinversion erfahren hat. 5 Der Meister der zeitgenössischen Sittenchronik zeigt, wie lächerlich die Herren der Schöpfung aussehen, wenn sie die Fassung verlieren, und er widerlegt damit die trotzige Behauptung Baudelaires, „combien nous sommes grands et poétiques dans nos cravates et nos bottes vernies." (Salon de 1845) Der Kontext entscheidet über Würde und Lächerlichkeit. Im Holzschnitt von 1838 (Abb. 130) und in der Lithographie der Republik (Abb. 134) hat die Lächerlichkeit eine zeitgenössische Färbung, indes die Würde in zeitlosem Pathos auftritt. Wenn wir von Würde reden, müssen wir freilich differenzieren. Die beiden Frauen verkünden ihre moralische Überlegenheit auf unterschiedliche Art. Die geißelschwingende Furie vollstreckt einen reinigenden Auftrag, der sich von den Erinyen und den strafenden Schwerterengeln der Apokalypse ableiten läßt. Die Republik bewahrt in ihrer bescheidenen Anmut einen matten Widerschein der Schönheit, die der splendor veritatis ist. Profil steht gegen Vorderansicht, und es zeigt sich wieder einmal, daß ersteres beredter ist, dem Zeichner mehr Möglichkeiten bietet: der messerscharfe, stechende Kontur hat höhere Ausdruckspotenz als die weich verschwommene Ebenmäßigkeit der Vorderansicht. 3

4

5

Ernst Kris & Ernst Gombrich, The Principles of Caricature, in: The British Journal of Medical Psychology, XVII, 1938, S. 327 f. Schon in frühchristlichen Texten wird der Auferstehende als Lichtgestalt geschildert (Hubert Schrade, Ikonographie der christlichen Kunst, I: Die Auferstehung Christi, Berlin—Leipzig 1932, S. 9). Erst spät, im 15. Jahrhundert, werden die Wächter zu verwirrten Zeugen des Vorganges, in den Berichten der Evangelien bleibt er ihnen verborgen. Auf den Kult des Mammon spielt u. a. D. 2919 an: „M. Prudhomme vouant son fils au culte du nouveau Dieu des Parisiens" (1857). Der Knabe kniet vor dem Altar des Kapitals.

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Die „Caricature" ist von einem Eifer getrieben, der nie zur Ruhe kommen wird, indes die Republik die Gelassenheit eines in sich ruhenden Selbstbewußtseins verkündet. So sehr divergiert die Erscheinung der beiden Frauen, daß sie sich für den idealtypischen Gegensatz schön-häßlich anbieten. Dabei wird das Dilemma des Karikaturisten deutlich, der nicht nur strafen sondern auch rühmen, der dem Lächerlichen ein positives Gegenbild entwerfen will. Die wütende Verfolgerin und die stereotype Idealfigur der Republik stellen metaphorische Konstanten im Werk Daumiers dar. Die Republik ist mit Gestalten verschwistert, die durch Beischriften als Constitution, Liberté, France und Italie ausgewiesen sind. 6 Allen diesen herkömmlichen Allegorien eignet in der Regel die statuenhafte Würde unantastbarer Idole, was sie Daumiers zeichnerischem Duktus eher entfernt als annähert. Der Zeichner Daumier war ein Meister der dynamisch zerklüfteten Physiognomie: die statischen Gesichtszüge eines in sich ruhenden Wertsymbols boten seinem Stift zu wenig potentielle Erregungslinien. Woher kommt die Allegorie der Karikatur als Rächerin? Sie trägt Chiton und Peplos. Die Geißel ist das Werkzeug, mit dem die Erinyen ihr strafendes Handwerk betrieben. Auch Fackeln (vgl. Abb. 131) gehörten zu ihren Attributen, und ihr Haar war aufgelöst. Alles das sind Hinweise auf die Herkunft der „castigatio" aus dem Altertum. Die rauschhafte Entfesselung der Erinyen und Mänaden ist in Daumiers Holzschnitt in einen gesellschaftlichen Auftrag eingegangen, der Zorn fungiert als öffentlich richtende Instanz. Im Hinblick auf Daumiers „Histoire ancienne" (1841/43, D. 925 — 974), in der die Antike mit menschlich-allzumenschlichen Zügen versehen und vom Piedestal geholt wird, stellt die strafende „Caricature" das Fortleben der Antike auf der Höhe eines ernsten Ausdruckspathos dar, das wir vorerst als „expressiv" bezeichnen wollen. Daß freilich diese Expressivität ins lächerliche Zerrbild umschlagen kann, zeigt die Fratze der Sphinx. (Abb. 133) Für Daumier ist alles Handlung und Auseinandersetzung, Gegensatz von Kräften. Diese physisch-motorische Partnerschaft beginnt im Dialog etwa von Macaire und Bertrand, und sie steigert sich in den Konflikt von Täter und Opfer. Deshalb fesselt uns Daumier formal immer dann, wenn er seine Wertvorstellungen in Handlungen und Konflikte umsetzt. Die rasende „caricature vengeresse" (so die Bildunterschrift bei Champfleury) ist dafür ein Beispiel. Sie ist in unseren Augen eine Tochter der „Wahrheit" und handelt als deren Vollstreckerin. Diese Abkunft veranschaulicht der Vergleich mit Grandville, der 1830 für das Plakat der „Carica-

6

Positive Allegorien gibt es vereinzelt schon im Frühwerk, sie treten in den Jahrzehnten der politischen Zensur zurück und werden erst in Daumiers letztem Jahrzehnt, ab 1866, zu einem zentralen Verständigungsmittel seiner Satire; das zeigt allein die quantitative Bilanz: D. 3496, 3517, 3520, 3530, 3547, 3552, 3565, 3566, 3583, 3585, 3588, 3593, 3601, 3613, 3627, 3644, 3648, 3651, 3655, 3659, 3662, 3663, 3669, 3671, 3683, 3688, 3701, 3708, 3712, 3715, 3717, 3724, 3728, 3731, 3733, 3745, 3747, 3752, 3754, 3766, 3784, 3813, 3823, 3838, 3858, 3867, 3869, 3872, 3882, 3891, 3895, 3899, 3903, 3909.

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ture" eine stolze nuda veritas zeichnete, die den Dunkelmännern den entlarvenden Spiegel vor das Gesicht hält, während ihr Gehilfe, der mit Pfeil und Bogen versehene Narr, zum Geißelhieb ausholt (Abb. 132). Die Rollen sind verteilt: der Narr handelt, die Wahrheit hingegen ist in sich ruhende Autorität. Ähnlich behandelt Grand ville die Wahrheit auch 1845 in einer Illustration zu „Cent Proverbes", wo sie mit ihrem Spiegel die ganze comédie humaine, Männer wie Frauen, blendet und zu Boden streckt.7 Grand villes „Arbeitsteilung" wird von Daumier wieder in einer Gestalt vereinigt. Seine Caricature vengeresse ist das, was man in der ikonographischen Typenwanderung eine Contamination nennt: die Verkünderin der Wahrheit nimmt selber den Strafvollzug vor. Indem die Wahrheit selber zur Waffe greift, gerät die Allegorie der Karikatur in eine moralisch fundierte Ausdruckshöhe, die das Lächerliche hinter sich läßt: der Spaß hat sich aufgehört. Die rasende Frau, in der wir eine Erinye erkannten, wird zu einer mythischen Gestalt, die ihren affirmativen Auftrag mit der Negation des Schönheitsideals bestreitet. Dabei greift Daumier, bewußt oder unbewußt, zu Sprachmitteln der physiognomischen Ausdruckssteigerung, die seit Le Bruns „Méthode pour apprendre à dessiner les passions" kodifiziert vorliegen. Was dort über den Schrecken (la Frayeur) gesagt wird, trifft auf die rasende „Caricature" zu: „la bouche sera fort ouverte, et les coins seront fort apparens, tout sera beaucoup marqué, tant à la partie du front qu'autour des yeux, les muscles et veines du col doivent être fort tendus et apparens, les cheveux hérissés, la couleur du visage pâle et livide, comme le bout du nez, les lèvres, les oreilles, et le tour des yeux." 8 Mit den Hinweisen auf die Erinyen und die Ausdruckslehre Le Bruns stellen wir der Rächerin und dem Zerrbild überhaupt, das sie buchstäblich verkörpert, einen noblen Stammbaum aus: die Gestalt partizipiert an der Ausdruckskategorie der erhabenen Häßlichkeit. Dazu kommt, daß Daumier bei der Rollenverteilung eindeutiger als Grandville Partei zu ergreifen scheint: er identifiziert die moralische Überlegenheit und ihr Strafgericht mit dem weiblichen Geschlecht und weist den Männern den negativen Part zu. Dieser emanzipatorische Befund ändert sich jedoch, wenn wir den Holzschnitt in die Gegenrichtung projizieren und seine Heldin mit der Rolle vergleichen, die Daumier in den Zyklen „Les bas bleus" (1844, D. 1221 — 1260), „Les Divorceuses" (1848, D. 1769-1774, 1928) und „Les femmes socialistes" (1849, D. 1918-1927) der Frau zugedacht hat. 9 Die dort verhöhnte feministische Agitation schlägt auf die „caricature vengeresse" zurück und reduziert deren Strafgericht auf den Konflikt 7

8 9

Cent proverbes par Gavarni et + + + , Paris 1845, Abb. S. 393. Das Bild illustriert den Zweizeiler: „Vérité est la massue (in Form eines Spiegels!) qui chacun assomme et tue." Charles Le Brun, Methode ..., Amsterdam 1702, S. (11). Zum Thema Daumier und die Frauen vgl. Cäcilia Rentmeister, Daumier und das häßliche Geschlecht; Helmut Hartwig, Die Republik und andere allegorische Frauengestalten, beide in: Daumier und die ungelösten Probleme der bürgerlichen Gesellschaft, Kat. Berlin 1974 (Neue Gesellschaft für bildende Kunst), 57 ff. u. 80 f.

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der Geschlechter. Die Rasende ist nun nicht mehr das öffentliche Gewissen der Gesellschaft, nicht die Verkörperung der freien Meinung, die ihre Gegner bloßstellt — sie ist die Frau, die die Männer das Fürchten lehrt. Doch im männerfeindlichen Furioso dieser „femme tigre" (Flaubert) wird die Frau letztlich verhöhnt, denn in Wahrheit spricht Daumier in seiner Zeichnung den traditionellen männlichen Argwohn vor der weiblichen Selbstbestimmung aus. So gibt das Blatt einen Hinweis auf Daumiers zwiespältige Beziehung zu seiner künstlerischen Lebensgefahrtin, der Karikatur. Es genügt deshalb nicht zu sagen, in der „caricature vengeresse" sei die Allegorie mit dem Formverfahren dieser Kunstsprache, der Verzerrung, eins geworden. Selbst wenn wir ihre Drohgebärden von der körperlichen Erscheinung abziehen, ist diese Gestalt weder gewinnend noch verführerisch. Zeichnet man so seine Gefahrtin, seine Partnerin, der man sich mit Leidenschaft verschrieben hat? Das tut nur jemand, dem dieses Bündnis zur Last geworden ist. Wir wissen, daß Daumier unter der „besogne forcée" (Champfleury) des Bildjournalismus stöhnte und daß ihn auch das ständige Attackieren ermüdete: „Je suis fatigué des attaques contre Louis-Philippe, on m'en demande au journal, et je n'en veux plus." 10 Er träumte von der Flucht in die Malerei. Arsène Alexandre meinte sogar, die Serienproduktion, von der er lebte, habe ihn getötet, und er überliefert ein Gespräch Daumiers mit dem jungen Carjat, der dem Meister seine Arbeiten zeigte. „Nicht übel," lautete Daumiers Urteil, „aber warum zum Teufel wollen Sie Karikaturen machen?" Und mit einem Lächeln, das seine Traurigkeit verbergen sollte, fügte er hinzu: „Seit dreißig Jahren glaube ich immer, daß ich die letzte zeichne." 11 Schon der dreißigjährige Daumier spielt 1838 in der „caricature vengeresse" auf diesen Zwiespalt und seine Lebensfron an. Er haßt die Karikatur und ist ihr doch verfallen. Deshalb bestraft und erhöht er sie zugleich, indem er sie verhäßlicht. Daumier bringt eine paradoxe Situation in ein anschauliches Gleichnis. Von seiner eigenen Geißel heimgesucht und gepeinigt, ist er der verfolgte Verfolger, mithin das erste Opfer der Waffe, die er sich selbst geschaffen hat. Er ist Täter und Opfer zugleich. So treffen auf ihn die berühmten Zeilen aus Baudelaires Gedicht L'Héautontimorouménos zu: „Je suis la plaie et le couteau ... Et la victime et le bourreau".

10 11

Jean Adhémar, Honoré Daumier, Paris 1954, S. 35. Daumier raconté ... (Anm. 1), S. 95.

ANDREAS HAUS

Impressionismus — Industrialisierung des Sehens 1 Wo die ältere Kunst menschliche Sinnestätigkeit zum Thema hatte, — vor allem im umfassenden Zusammenhang der Fünf-Sinne-Darstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts 2 — da ist dem „Gesichtssinn" eine überraschende Eindeutigkeit zuerteilt: Die Gabe des Sehens erfüllt sich zumeist instrumenteil zum Zweck buchstäblicher „Aneignung" von Wirklichkeit und technisch unterstützt durch allerlei optische Gerätschaften, welche die neue materielle Wissensgier und Welterforschung des frühen Bürgertums sich geschaffen hatte: Brillen, Lupen, Mikroskope, Fernrohre, Sextanten helfen dem Auge, Nähe und Ferne zu durchdringen und auszumessen; auch die Thematik des Lesens spielt eine große Rolle und zuweilen sogar die des Armbrust- oder Bogenschießens, wobei der Pfeil als haptischer Abgesandter des scharf sich in die Ferne bohrenden Blicks das sicher anvisierte Ziel erbeutet. Sehen als greifende und begreifende Körpertechnik also, im Dienste der menschlichen „Industria" perfektioniert und zum Arbeitsmittel eingesetzt. Selbst wenn jenen älteren Darstellungen des „Sehens" in mehr allegorischer Weise der Spiegel als Attribut beigegeben ist, so ist hierin doch eher auf das Optisch-mechanische der Seh-Vorstellung angespielt, und der zuweilen den „Gesichtssinn" begleitende Adler ist letzten Endes auch nur Sinnbild für höchste Kraft und Schärfe des Auges. Wo „Sehen" in die Kategorie des ästhetischen Schönheitsgenusses gehoben wird, scheint es leicht, der Vanitas anheimzufallen: P. P. Rubens' und Jan Brueghels „Allegorie des Gesichts" im Prado 3 ist (neben den üblichen optischen Instrumenten, die ungenutzt am Boden liegen) übervoll von künstlich-kostbaren Pracht- und Schauobjekten, inmitten derer die venusschöne weibliche Personifikation des SehSinnes gleich einer „Melancholia" oder Büßerin ins Meditieren gerät. Einzig wenn Rubens in der Geschichte von Juno und Argus (Wallraf-Richartz-Museum, Köln), 1

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Der vorliegende Beitrag fußt auf Gedanken, die ich erstmals auf einem Colloquium zur Ausstellung „Die nützlichen Künste" 1981 in Berlin-W. vorgetragen habe. Ich widme ihn dem Jubilar mit dem Wunsch, daß seine besondere Bemühung um den optisch-sinnlichen Zugang zum Kunstwerk fruchtbar noch für viele Erörterungen bleiben möge. Daß impressionistische Gemälde hier „farblos" abgebildet werden müssen, ist nicht nur Appell an des Lesers Farbgedächtnis. Es stellt sich so die Frage: Ist Farbe allein die Seele des Impressionismus? Hierzu: Hans Kauffmann, Die Fünfsinne in der niederländischen Malerei des 17. Jh. in: Fsch. für Dagobert Frey, Breslau 1943. Das Gemälde ist signiert und datiert: J. Brueghel f. 1617; vgl. K . Ertz, Jan Brueghel d. Ä., Die Gemälde, Köln 1979, Kat. Nr. 327.

Impressionismus — Industrialisierung des Sehens

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wie Hans Kauffmann 1941 vorschlug, 4 eine „Allegorie zur Verherrlichung des Menschenauges und seines Widerscheins in Kreatur und Kosmos" gegeben hat, ist das Auge in einem höheren Sinne „gerettet": das rein quantitative Sehvermögen des Argus ist durch Merkurs Flötenzauber besiegt, aber durch Juno in eine höhere Sphäre gehoben; der Farbenzauber des Regenbogens hinter Iris wird „Kunst" im Glanz von Junos Diadem und in der rauschenden Pracht der Farbentrias Blau-RotGelb der göttlichen Gewänder. Im ganzen aber scheint die ältere Philosophie des physiologischen Sehens des Menschen sich doch in rationalen, praktischen oder sittlichen5 Überlegungen zu erfüllen, und wir empfinden dies vielleicht als Armut, gemessen an dem sehnsüchtigen Uberschwang des mit der Goethe-Zeit einsetzenden ästhetischen Kultus des „Sehens", wie wir ihn von zahllosen dichterischen Evokationen kennen: „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, Dem Turme geschworen, gefallt mir die Welt ... Ihr glücklichen Augen, was je Ihr geseh'n Es sei wie es wolle, es war doch so schön!" „Augen meine lieben Fensterlein Gebt mir schon so lange holden Schein" ... „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, Von dem goldnen Überfluß der Welt!" 6

Hier ist „Sehen" nicht mehr nur praktische Tätigkeit der Wahrnehmung, sondern eine neue Bedeutung tritt auf: Die Bedeutung des Auges als eines subjektgebundenen Organs des Genusses, der individuellen Rekreation, ja der Nahrungsaufnahme. „Das Vergnügen, welches wir hier mittelst des Gesichtsorganes durch absoluten Eindruck von Farben empfinden, ist ganz demjenigen ähnlich, welches wir mittelst des Geschmacks durch absoluten Eindruck wohlschmeckender Speisen

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Das Gemälde ist undatiert und wird allgemein um 1611 angesetzt; vgl. Katalog der Niederl. Gemälde von 1550—1800 im Wallraf-Richartz-Museum und im öff. Besitz der Stadt Köln, bearb. von H. Vey und A. Kesting, Köln 1967, Kat. Nr. 1040, S. 9 5 - 9 8 ; H. Kauffmann, Rubens und Mantegna, in: Köln und der Nordwesten, Köln 1941 (wieder abgedruckt in: H. Kauffmann, Peter Paul Rubens, Bildgedanke u. künstler. Form, Aufsätze und Reden, Berlin 1976, S. 17 ff.); — Die Nähe auch der Rubensschen Ikonographie zur „praktischen" Optik der Zeit zeigt sich in seinem allegorischen Titelblatt zu den „Opticorum libri sex" des Jesuitenpaters F. Aguilon, Antwerpen 1613 (vgl. Kauffmann ebda, und L. Burchard, Corpus Rubenianum Part XXI, Brüssel 1978, vol. I Kat. Nr. 10, vol. II Abb. 55). Bei Nicolas Poussin scheint das Organ des schönheitsempfindenden Sehens durch die Kunst von der sinnlichen in eine sittliche Sphäre gehoben; siehe die kleine Liebesszene mit der augengekrönten weiblichen Gestalt im Hintergrund von Poussins Selbstbildnis von 1650, die Bellori (vita di N. Pusino) als „pittura", als „amore della pittura" und zuletzt als „amicizia" bezeichnet hat; vgl. dazu die Überlegungen bei Oskar Bätschmann, Dialektik der Malerei von Nicolaus Poussin, München 1982, S. 56 ff. Die Gedichtzeilen stammen aus Goethe, Faust II, Lied des Türmers, und Gottfried Keller, Abendlied, 1879.

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Andreas Haus

empfinden" 7 , schrieb 1839 der Chemiker Chevreuil, welcher, ausgehend von Färbetechniken in der Seidenindustrie, die physiologischen Gesetzmäßigkeiten des farbigen Simultankontrasts entdeckte und damit neben Helmholtz' Untersuchungen zur physiologischen Optik einen bedeutsamen Einfluß auf die Entwicklung der impressionistischen Malerei hatte. Der berühmte Zeichenlehrer der Ecole des Beaux Arts Charles Blanc rechtfertigte 1870 die Herausgabe seiner „Grammaire des Arts du Dessin" unter anderem mit einer Bezugnahme auf Brillât-Savarins kulinarische „Physiologie du Goût" 8 . Und gegen Ende des 19. Jahrhunderts mahnte, in einer ganz biologistisch gewordenen ästhetischen Theorie, der deutsche „Kunstwart": „Nein, nicht in der Vermittlung des Genusses von Kunstwerken liegt die höchste Bedeutung der richtigen ästhetischen Erziehung ..., sondern darin, daß sie uns unsere Erdenheimat mit dem, was auf ihr in Körpern und Seelen ist und war, mit verfeinerten Sinnen und geläutertem Empfinden zu betrachten lehrt, so daß wir schier ununterbrochen in edlem Sinne genießen." Ziel sei die „Kräftigung angeborener geistiger Organe"; geübt und ertüchtigt werden sollte nach dieser Lehre die Fähigkeit, reine „Farben, Linien, Bewegung" zu „abstrahieren und selektieren". „ . . . Wer die Töne der Farbe, wer die Spiele des Lichts zu sehen gelernt hat, dem führen Himmel und Land draußen an jedem Tag ... eine Kunstausstellung ohne Eintrittsgeld auf." 9 Richard Muther, ein Herold des modernen Impressionismus, schwärmte von dem durch die neue Malerei erreichten „unendlich verfeinerten Natursehen": „statt zehn Abstufungen von Blau, Rot oder Grün empfinden wir heute hundert Valeurs, die unsere Sprache garnicht fähig ist, noch mit dem Wort zu umschreiben." 10 Alle diese Zitate zeigen eine fast süchtige Hoffnung, das „Sehen", das optische Rezipieren als solches, zu einem Hauptmittel der sinnlichen Verbindung des Menschen zur Natur zu entwickeln und zu trainieren. Solche Intensität der Hoffnung läßt objektive historische Verluste erkennen, welche ihren eigenen Heroenkult kreieren: „Ein solcher Maler, der die Welt nahm, wie sie ist, den es niemals lockte, noch im 19. Jahrhundert Metaphysik zu treiben, sondern der sich breitbeinig auf die Erde stellte, aus ihr wie Antäus seine Kraft saugte, war Courbet." 11 Hier wird in gewisser Weise frühromantischer Sturm und Drang wieder lebendig, welcher erstmals die moderne Entzweiung des Menschen von der Natur tief empfand und zu kompensieren suchte:

Eugène Chevreul, Harmonie der Farben; zit. nach der Übersetzung in: Alwin v. Wouwermans, Farbenlehre für die praktische Anwendung in den verschiedenen Gewerben ... Wien/Pest/Leipzig 1879. 8 Charles Blanc, Grammaire des Arts du Dessin, Paris 1867, S. 3 (Vorrede aus dem Jahr 1860 zur Erstveröffentlichung der „Grammaire" in der Gazette des Beaux Arts). 9 Ferdinand Avenarius, Überschätzung der Kunst, in: Der Kunstwart 1895 — 96. 10 Richard Muther, Aufsätze über bildende Kunst, Berlin 1914, Bd. II, S. 109. » ebda. Bd. I, S. 176. 7

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„Ich saug' an meiner Nabelschnur N u n N a h r u n g aus der Welt. U n d herrlich rings ist die Natur, D i e mich am Busen hält , . . " ' 2

Was hier der junge Goethe zu Beginn der bürgerlichen Moderne in mythischer Krudität beschwor: das Naturwesen des Menschen, das außerhalb jeder gesellschaftlichen und historischen Vermittlung sich primitiv aus der Natur ernährt, ist im Laufe des 19. Jahrhunderts zur ästhetischen Form humaner Selbstbehauptung inmitten der durch Ökonomie und Industrie veränderten und entfremdeten Umwelt geworden: Die sinnliche Verbindung zur Natur ging auf Distanz, reduzierte sich auf das „sehende" Genießen von Natur, und das „Sehen" wurde einem wissenschaftlichen Sondertraining unterworfen, um das menschliche Weltverhältnis auf eine physiologisch unmittelbare Funktionsstufe zurückzuführen. Dieser Vorgang ist demokratisch und subversiv zugleich, denn er versucht, dem Individuum eine naturale Autonomie dort zurückzugeben, wo sie ihm soziokulturell zunehmend entglitten war: in der aktiven Teilhabe an der gesellschaftlich produzierten Welt. Unsere eingangs erwähnten barocken Allegorien des „Sehens" zeigen die historische Spanne an: Damals empfand sich menschliche Sinnestätigkeit eingebettet in den durch gesellschaftliche Arbeit vermittelten „Stoffwechsel des Menschen mit der Natur". Im 19. Jahrhundert hingegen begann der Begriff der produktiven Arbeit als Parameter des Verhältnisses des Menschen zur Welt sich radikal zu verändern und letztlich zu verflüchtigen in dem Maße, wie die materielle Güterproduktion dem Prinzip des Tauschwerts und dem Druck maximierter Kapitalverwertung anheimfiel und demzufolge die technisch-industrielle Ausbeutung der Natur wie der menschlichen Arbeitskraft sich steigerte. Dem bürgerlichen Bewußtsein blieben von dem ökonomischen Bereich fast nur noch die Zirkulations- und Verkehrsbewegungen sichtbar, von denen primär die Entwicklung der Großstädte geprägt wurde. In einem solchen Milieu wurde menschliche Sinnestätigkeit vom produktiv-verfügenden weitgehend auf ein rezeptives Verhalten zurückgeworfen, d. h. genauer ausgedrückt: die ehemals gesellschaftlich und kulturell schöpferische Fähigkeit des Sehens wurde nun als trans-industrielles Vermögen auf die Sicherung des Subjekts rückverwandt, indem seine physiologische Funktionalität mit dem Begriff des „Genusses" einen privatisierten „Gebrauchswert"-Aspekt erhielt. Diese Haltung hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts eindeutig rein biologische, teilweise darwinistische Züge der Ich-Stärkung angenommen. Zwischen 1860 und 1880 aber besaß sie vorübergehend einen unreflektiert „industriellen" Charakter, den es nun zu beschreiben gilt und für den die Malerei des Impressionismus epochale Bedeutung erlangt hat.13 12 13

Goethes Gedicht „Auf dem Zürichsee", 1775. Max Raphael zitiert in „Arbeiter, Kunst und Künstler" (ca. 1940; veröffentlicht 1975 im S. Fischer-

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Die Kunst- und Wissenschaftstheorie des 19. Jahrhunderts pflegte meist folgendermaßen zu unterscheiden: Wissenschaft, Technik und, mit ihnen verbunden, die Industrie müssen die Vielfalt der Weltphänomene auf allgemeine Naturgesetzmäßigkeiten hin definieren und diese produktiv anwenden. Die Kunst hingegen muß aus der Vielfalt der Weltphänomene das Bedeutende, Charakteristische, Individuelle heraussondern und darstellen. Dieser Auffassung entsprechend hat die romantische und idealistische Kunst des 19. Jahrhunderts das „Allgemeine" in Natur- und Weltgeschehen, das in der unablässigen Wiederkehr des Zeitablaufs sich Wiederholende des menschlichen Gesellschafts- und Arbeitslebens wie auch das Serielle der modernen Technik zu individuellen Gestaltungen physiognomisiert — im Mythos, im Historienbild, in der Arabeske, in der Allegorie. 14 Die konventionelle Aufgabe von „Kunst" im 19. Jahrhundert bestand in weiten Bereichen eben darin, die Phänomene des Allgemeinen dieserart zu individualisieren und ihnen damit einen kulturell wertbaren Sinn zu verleihen. 15 Die impressionistische Malerei dagegen hat sich diesem Schema programmatisch entzogen und sich eindeutig dem wissenschaftlich-industriellen Verfahren unterworfen, indem sie alles Individuelle und Einmalige meidet und sich an die Generalität allgemeiner Gesetzmäßigkeiten hält. Impressionismus ent-individualisiert und entphysiognomisiert die Erscheinung zugunsten einer die seriellen Abläufe hervorhebenden Darstellungsweise. Zwei Beispiele mögen dies veranschaulichen: Claude Monets „Flußbecken bei Argenteuil" 1875 und Pissarros „Boulevard des Italiens" 1897 (Abb. 135; 137). Die Motive sind absolut alltäglich. Straße und Flußlandschaft scheinen aus einem übergeordneten Zeitstrom ausgeschnitten, sozusagen als Belege für die allgemeinere Gesetzlichkeit der ständigen Bewegungen der Stadt und der Landschaft. Das

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Verlag Ffm.) S. 109 Victor Hugos Beschreibung seiner ersten Eisenbahnfahrt („ ... Die Blumen sind nicht mehr Blumen, es sind rote oder weiße Flecken oder vielmehr Streifen ...") und meint: „Man sieht hier förmlich den impressionistischen Stil entstehen". Ähnliche Überlegungen gibt mit interessanten weiteren Beispielen Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, Zur Industrialisierung von Raum und Zeit, Ffm./Berlin/Wien 1979; Max Raphael irrt gewiß, wenn er im „impressionistischen Stil" nur das Verwischte sieht. Meine Darstellung möchte, auch in anderer Weise als Schivelbusch, die künstlerische Entwicklung der menschlichen Sinnestätigkeit nicht nur als abhängig von der materiell-technischen Entwicklung, sondern als deren produktive Verarbeitung und damit als historisch progressiven Faktor betonen. Siehe dazu auch die Beiträge von D. Vorsteher und W. Busch in: T. Buddensieg und H. Rogge (Hg.), Die Nützlichen Künste — Gestaltende Technik und Bildende Kunst seit der Industriellen Revolution, Berlin 1981. Im „Staatslexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften" hg. von Carl v. Rotteck und Carl Welcker heißt es (9. Band 1840, S. 538 s. v. „Kunst"): „Die Wissenschaft schreitet vom Besonderen zum Allgemeinen ... Die Kunst macht dagegen das Besondere zum Träger des Allgemeinen; sie ist dessen Individualisierung und Beseelung". F. Meinecke hatte als die bleibende Leistung des Historismus des 19. Jh. die „Entdeckung der Individualität" betont. — Es scheint geboten, gerade hierin eine Kompensation der im 19. Jh. empfundenen Krise des Individuellen zu erkennen. Michelet (Die Renaissance, 1855) differenzierte genauer: In der Renaissance wurden Mensch und Welt entdeckt. Damals galt der Mensch, heute nur noch das Individuum ...

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Menschlich-Individuelle: die Einzelpersonen, die Wagen, Boote, Häuser, Brücken sind wie beiläufig hingetupft, ohne zu individuellen Gestalten zu werden. Was weitgehend die Bilder konstituiert, ist ein fleckenhaftes Muster von allerdings großer abstrakter Regelmäßigkeit, in welches alle Gegenstandserscheinungen, gleich welcher Art, mehr oder weniger fest eingebunden sind. In Pissarros Bild bilden die regelmäßigen Fensterreihen und die Senkrechten der Bäume ein Grundmuster, von welchem letztlich auch die hingetupften Wagen und Personen bestimmt sind. Bei Monet sind es die Baumstämme und ihre Schatten, die horizontal gereihten Wolkenballen und die Brückenbogen, welche dem Bild das feste Grundmuster verleihen, dem alles Bewegliche und Lebendige vollkommen untergeordnet ist. Es scheint, als könnte sich die vielbesprochene Lebendigkeit und Bewegtheit impressionistischer Bilder nur im Raster einer gesetzmäßigen Strukturierung erfüllen. Nicht anders, noch „naiver" auf ein technisch vorgegebenes Rasterwerk rekurrierend, zeigt sich Pissarros kleines Gemälde „Das Wehr bei Pontoise" (1872, Abb. 136). Und rein formal gesehen, erscheint Ähnliches — in der motivischen Symbolik bedeutender — in Edouard Manets Bild „Im Wintergarten" 1879 (Abb. 142). Hier ist in einer zuvor nie dagewesenen Weise eine seriell strukturierte Figur — die Bank mit ihren gitterartigen Sprossen — das abstrakt regulierende Hauptmotiv des Bildes. Starr und rahmenparallel ins Bild gesetzt, trägt diese Bank die Skala des ganzen Geschehens bis in die psychologische Struktur. Die Bank ist das Kommunikations- und Vermittlungsobjekt der Personen, aber sie trennt diese gerade auch und erklärt die starre Unnahbarkeit der Frau, deren Kleid mit Falten und Knöpfen dem starren und abstrakten Muster der Bank verwandt erscheint. 16 Manets Psychologismus erfaßt gesellschaftliche Konvention im modernen Bürgertum als Gitterwerk. Daß dieses Gitterwerk, das hier so peinlich akkurat ausgemalt ist, zur genuinen Wahrnehmungsstruktur Manets gehört, zeigt z. B. ein rein skizzenhaftes Werk desselben Künstlers (Die beflaggte Rue Mosnier, 1878, Abb. 138), wo die gesamte Strich- und Pinselführung, das Gegenständliche überlagernd, solch gitterartige Fügungen zeigt, deren regulärer Rhythmus das ganze Bild bestimmt. Das heißt doch wohl: die ästhetische Wahrnehmung, das Sehen und Gestalten selbst, ist in hohem Maße auf diese abstrakten, regulären und das Individuelle überspielenden Muster hin strukturiert. Vielleicht beginnt hier die innere Verfassung dessen, was man den industriellen Charakter des Impressionismus nennen könnte. „Industriell" am Impressionismus ist, daß in einer gewissen arbeitsteiligen Spezialisierung eine menschliche Sinnestätigkeit vom ganzheitlichen Komplex der

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Wilhelm Messerer (Der Zeitstil um 1880 in: Fsch. für Karl Oettinger, hg. v. H. Sedlmayr und W. Messerer, Erlanger Forschungen, Reihe A, Bd. 20, Erlangen 1967, S. 433 — 448) hat auf Tendenzen zur Verfestigung und gitterartigen Verspannung der Bildstrukturen in der europ. Malerei um 1880 hingewiesen und dabei auch Manets „Wintergarten" intensiv psychologisch gedeutet.

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menschlichen Empfindungen abgespalten wird: Impressionistische Malerei ist ganz explizit eine Kunst des reinen Sehens. „Industriell" ist, daß diese isolierte Sinnestätigkeit als Produktivkraft auf einen produktiven Effekt hin, nämlich Umarbeitung des Natureindrucks zum sinnlichen Genuß, in einem ganz rationellen Prinzip ausgebaut und intensiviert wird: dem malerischen Fleckenschema, das uns noch weiter beschäftigen wird. „Industriell" ist weiterhin, daß — ähnlich wie in der Ablösung des Handwerkers durch die arbeitsteilige Maschinenindustrie — die menschliche Aneignung der Welt aufhört, sich in individuellen Produkten zu realisieren. Das heißt, daß jedes Produkt — in der Malerei: jedes Bild — nicht ein ganzheitliches Einzelstück ist, sondern Teil aus einer Serie, Ausschnitt aus einem umfassenderen und zeitlich bewegten System; man denke etwa an die HeuhaufenSerien und Kathedralfassaden Monets, welche diesen Charakter zum darstellerischen Prinzip erhoben haben. „Industriell" ist schließlich am Impressionismus, daß er seine spezialisierte und rationalisierte Produktionsweise naturwissenschaftlich und apparativ untermauerte, und zwar durch Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Optik, der Physiologie des Sehens und deren mechanischer Anwendung in der Fotografie. Zwar hat auch der noch genuin romantische Maler Delacroix sowohl Chevreuils Entdeckung des farbigen Simultankontrasts wie die Fotografie seiner Kunst dienstbar gemacht. Doch geschah es dort noch zur sinnlichen Intensivierung der poetischen Bilderfindung. Bei den Impressionisten hingegen war die technisch-wissenschaftliche Optik sozusagen das Basisprinzip zur sensualistischen Ausbeutung der Natur. Der „poetische" Kunstcharakter ist aufgegeben. Malen ist nicht mehr Bilderschaffen, sondern ein durch spezielle Technik vermitteltes Umsetzen von Naturstoff zum menschlichen Genuß. Impressionistische Kunst ist überhaupt nur als Umsetzung von Gegenstandswirklichkeit denkbar. Damit gehört sie jenem Positivismus an, welcher die Wahrnehmung und Nutzung der Welt auf das egalitäre Niveau wahrnehmbarer Faktizität reduzierte. Solche Reduktion der Erscheinung auf elementare Fakten bot zudem jener positivistischen Hoffnung die Basis, daß eine Ebene elementarer Parallelität zwischen Außenwelt und menschlicher Erfahrungswelt zu erreichen sei. Im peinlichen Ausschalten aller Metaphysik und aller vorgefaßten Begrifflichkeit, in der vollkommenen Unvoreingenommenheit der Anschauung erschien es möglich, Realität unverfälscht in ihrer potentiellen Wahrheit und auch in ihren unbekannten, bislang nicht wahrgenommenen Relationen zu erfassen. Der Impressionismus in seiner totalen Reduktion der Wahrnehmung auf optische Bildquanten war eine solche postivistisch-analytische Haltung und leistete damit etwas, was die romantische Kunst nie leisten konnte und wollte: Die Erarbeitung eines universellen bildlichen Systems, welches alle Erscheinungen der optischen Wirklichkeit unterschiedslos und widerspruchsfrei abzubilden vermochte. Ob Landschaft oder Maschine, ob Eisenbahn, Strandcafe, Stilleben, Porträt, Boulevard oder Blumenstrauß, ob künstliches oder natürliches Licht: die neutrale, unvoreingenommene impressionistische Aufnahmetechnik bewältigt alles. Dies

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gelingt ihr dadurch, daß sie — und hier am stärksten beeinflußt durch die Fotografie — die wesenhafte Substantialität der Dingwelt, eben jenen Bereich, der aufgrund vorgeprägter Erfahrung physiognomisch und begrifflich faßbar ist, a priori außer acht läßt und sich rein auf den Funktionalismus des Akzidentiellen beschränkt. Was dem Impressionismus seinen „industriellen" Charakter gibt, ist eben jener Pragmatismus, welcher ohne jede Rücksicht auf den substanziellen oder wesenhaften Eigencharakter der Materie alle sensualistisch verwertbaren Erscheinungen der Wirklichkeit systematisch auf ein einheitliches Schema reduziert und die Gesamtheit des Gegebenen auf ihre optische Genießbarkeit hin aufbereitet und verwertet, unbekümmert um die Ursachen des Gegebenen. So wird das impressionistische „reine Sehen" zu einer systematischen Verwertungstechnik. Hier lag auch die Quelle des anfanglichen Mißverstehens beim Publikum. Edmond de Goncourts Verachtung für die Kunst Manets mag stellvertretend für die konventionelle Einstellung sein: Er bedauerte das gänzliche Fehlen der tiefleuchtenden, durch Lasuren glühenden Farben der traditionellen Ölmalerei und kritisierte die helle, fleckig-flache Buntfarbigkeit der modernen Bilder. 17 Eben das geheimnisvolle Glänzen, Glühen und Funkeln aus der Tiefe heraus hatte noch die Schule von Barbizon in ihren Weihern und Sonnenuntergängen letztmals verwirklicht und so der Bildsubstanz und der gegenständlichen Tiefe der Bildwelt selbst eine poetische Eigenwertigkeit verliehen. Theodore Duret hat naiv und schön beschrieben, wie Theodore Rousseau, bekannt für seine glühenden Sonnenuntergänge, die Eichen in seinen Bildern „wie Personen behandelte, die eine bestimmte Rolle spielen sollten". 18 Diese Gestalthaftigkeit geht mit der herkömmlichen Malweise einher, „Licht und Schatten als Gegensätze anzusehen", d. h., Helligkeit aus der Dunkelheit erscheinungshaft herauszuentwickeln. So arbeitete auch noch Gustave Courbet mit dunkler Grundierung, was seinen Bildgegenständen das Solide und die materielle Dichte verleiht. Courbet wollte „Schüler der Natur" sein und verlangte von sich: „In einer so wohlzivilisierten Epoche muß ich ein wildes Leben führen". Courbet machte seine Bildgegenstände nicht „verdaulich". In seinen „solides" bleibt ein Rest unerhellten ontologischen Dunkels, das seiner romantischen Einstellung entspringt und zuweilen den Eindruck des Magischen und traumhaft Unerlösten macht. Seine Natur bleibt selbst Autorität und gegenständliche Instanz. 19 Die Impressionisten hingegen verließen diese lichtlose Materialität

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18 19

Vgl. Karin v. Maur, Französische Künstler des 19. Jh. in den Schriften der Brüder Goncourt, Phil. Diss. Tübingen 1966, S. 397. Théodore Duret, Die Impressionisten, Berlin 1920, S. 25. Vgl. Klaus Herding, Farbe und Weltbild, Thesen zu Courbets Malerei in: Courbet und Deutschland, Ausstellung der Hamburger Kunsthalle 1978, S. 478 — 492; und ders.: Egalität und Autorität in Courbets Landschaftsmalerei in: Städel-Jahrbuch N. F. 5, 1975. Wolfgang Schöne hat substanzielle Bemerkungen zum Dualismus von Licht und Finsternis und dessen Auflösung in der impressionistischen Malerei geliefert. (Vgl. W. Schöne, Über das Licht in der Malerei, 5. Aufl. Berlin 1979 S. 199 ff.).

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des gegenständlichen Innen, malten „alla prima" die Farbflecke direkt auf die helle Leinwand und betrachteten nur noch die optisch-zufalligen Färb- und Helligkeitsrelationen in ihrem kontinuierlichen Zusammenhang von Lichtreflex zu Lichtreflex. Nun ist allerdings zu bemerken, daß im Gegensatz zum romantisch-gestalthaften das analytisch-strukturale Sehen des Impressionismus völlig neue Realitäten wahrnimmt. Hatte Courbet 1869 die Felsen von Etretat in der Normandie (Abb. 141) noch wie eine urtümliche Festung oder wie ein mythisches Lebewesen, dunkel und von undurchdringlicher Körperlichkeit, aufgefaßt, so dringt Monets impressionistische Phänomenologie vor dem gleichen Motiv 1883 (Abb. 139) zu ganz anderen, naturwissenschaftlichen Dimensionen vor. Die zebraartige Streifung der Felsen auf Claude Monets Bild ist nicht einfach impressionistische „Auflösung" oder „Fleckenstruktur", sondern die Felsen sind in ihrem geologischen Aufbau in eben dieser Weise geschichtet und gebändert (Abb. 140). In der unvoreingenommensten Weise erfaßt Monet damit geradezu erdgeschichtliche Abläufe, den Prozeß der Sedimentierung der Steinmassen und ihre erneute Erosion in der Brandung des Meeres. Monet erfaßt den Fluß der Erd-Zeit, macht diese gigantischen Vorgänge dem biederen Auge erfahr- und genießbar, indem er sein malerisches Fleckengitter zum Mittler zwischen naturgesetzlichen Abläufen und den Wahrnehmungsgesetzen des Auges einsetzt. Hier erkennen wir besonders gut, daß das eigentliche Thema impressionistischer Malerei die Parallelisierung von Objekt und Subjekt in der Vermittlung zeitlicher Abläufe ist. Das Medium dafür liefert die serielle Strukturierung der egalitär aufgefaßten optischen Elemente. Die entscheidende Grundlage für diese optische Egalisierung des Bildmaterials lieferte zweifellos das Erlebnis der Fotografie, 20 welche bewiesen hatte, daß auch der beiläufigste, zufälligste Ausschnitt aus der Wirklichkeit und die Zusammenstellung auch des heterogensten Materials durch die eminent synthetischen Fähigkeiten des menschlichen Auges bildlichen Realcharakter gewinnen können. Die außerordentlichen Abstraktionen der einfarbigen fotografischen Licht- und Schattenprojektionen löste das Auge spielend auf, ergänzte die Lücken und schuf in den flachen Helligkeitsverteilungen der Fotoschicht die ganze Fülle der Wirklichkeit aus eigenem Empfinden nach. Weiter aber hatte die Fotografie — ex negativo — eine noch bedeutendere Erfahrung vermittelt: die Erfahrung, daß das Erlebnis der Wirklichkeit sich im Zeitlichen abspielt. Gerade die starren, zum Moment geronnenen Fotoaufnahmen machten überhaupt erst bewußt, daß für das lebendige Bewußtsein nur im Zeitfluß ein Zusammenhang der Dinge entsteht und eine reine Momentaufnahme nichts als Zusammenhangslosigkeit enthüllt. Man entdeckte, daß das Auge ganz von sich aus seine eigene Betrachtungsdauer als „Leben" in den beziehungslosen Formenwirrwarr der Fotografie hineinlegt und unablässig bemüht 20

Siehe dazu A. Haus, Die Welt als Pattern — Fotografie als Spenderin ornamentaler Sehweisen in: Vipecker Raiphan 1/25, Osnabrück 1984 S. 14—33; und ders., Vision photographique — Vision ornementale in: Cahiers de la Photographie, Paris 1985.

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ist, sinnvolle Relationen zwischen leblosen Abbildungsfragmenten zu schaffen. Die positivistische Technik mißtraute der gestalthaften Bewegungswahrnehmung des Auges und begann, reale Bewegungsabläufe fotografisch in Einzelphasen zu zerlegen und diese zu studieren. 21 Die Impressionisten hingegen hatten auf ihre eigene Weise die aktive, „lebenschaffende" Fähigkeit des betrachtenden Auges genutzt: Am virtuosesten auf die menschliche Gestalt bezogen tat dies vielleicht Edgar Degas, der in viele seiner Bilder phasenverschobene „Momentaufnahmen" gleichartiger Figuren so einbrachte, daß die Betrachtung die Phasenlücke überspringen und einen bildimmanenten Bewegungsablauf rekonstruieren kann (Abb. 143). Aber auch im allgemeinen malerischen Verfahren hat der Impressionismus — vielleicht in bewußter Konkurrenz zur Fotografie — die in der Momentaufnahme sich zeigenden Starre des naturalistischen Bildes zur lebendigen Dauer erweitert. Indem er durch die analytische Fleckenteilung die Physiologie der Augenbewegung — das flackernde Weitertasten von Fleck zu Fleck — unterstützt und imitiert, ist er in der Lage, die Augenbewegung auch zu steuern. Er tut dies, indem die Flecken auffallig regelmäßige „Patterns" bilden: leiter- oder gitterartige Punkt-, Streifenoder Netzmuster, auf welchen das Auge spielerisch dahingleitet. Dieses seriell gelenkte, tastende Hingleiten des Auges bewirkt nun zweierlei: Einmal reguliert es die zeitliche Empfindung des Sehens; das Abtasten der Flecken- und Streifenbahnen dauert eine gewisse Zeit, ja im kunstvollsten Falle „unendlich lang". Das Auge kann nicht „abrutschen" und auch nichts übergehen, es muß sozusagen den angebotenen Leitersprossen folgen. Die Physiologie hatte übrigens auch erkannt, daß regelmäßig unterteilte Strecken wegen der Quantifizierung der Augenbewegung größer wirken. 22 So ergibt sich aus der Flecken- und Musterteilung des Bildes eine quantitative Ausdehnung der gegenständlichen Wirkung wie auch der zeitlichen Dauer. Indem aber im impressionistischen Bild zusätzlich gegenständliches Motiv und FleckenPattern sehr häufig zusammenfallen (Impressionisten bevorzugen „seriell" strukturierte Motive technischer Herkunft wie Gitter, Geländer, Zäune, Brücken, Baumreihen, durchfensterte Hausfassaden, Bretterwände, Stoffmuster ebenso wie solche „natürlichen" Ursprungs: Wasserwellen, Pflanzenblätter, Schattenstreifen), wird dem „tätigen" Auge das hinreißende Angebot gemacht, seine eigene „Arbeitsbewegung" parallel zur Gegenstandsstruktur des Bildes zu rhythmisieren. 23 Diese Paralle21

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23

Zu denken ist an die kinematographischen Analysen von Marey und Muybridge. Ihre Wirkung auf die Philosophie Bergsons und damit auf eine Erneuerung der künstlerischen Ästhetik bis zum Futurismus und die Filmexperimente Viking Eggelings ist bekannt. Herr A. Rabinbach wies mich auf eine umfassende Ausstellung zu diesen Problemen in Stafford University hin. Georges Gueroult, Formes, Couleurs et Mouvements (mit Bezug auf Helmholtz, Optique physiologique) in: Gazette des Beaux Arts 1882, 2 e Per. X X V , S. 165. Hier wäre daran zu erinnern, daß kulturkonservative Kritik schon früh mit ähnlichen Kriterien gegen den Impressionismus polemisiert hat. Max Picard geißelte das Theorem von der physiologischen „Seharbeit" scharf als „Pseudoproduktivität" und begründete: „Der Mensch dieser Zeit konnte seine Arbeitsleistung nicht auswirken sehen. Er sah sie verschwinden in dem unübersehbaren Gewirr der Arbeitszergliederung. Diese Zeit, die mit Endergebnissen überschüttet wurde, war froh,

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lität von gegenständlichem Bildmuster und Bewegungsmuster des Auges erzeugt häufig eine tiefe eudämonistische Harmonievorstellung zwischen Betrachter- und Bild Wirklichkeit. Selbstverständlich spielt hier die impressionistische Farbigkeit die wichtigste Rolle. Sie bietet die physiologische Grundlage der „Synthese", indem das Auge die geschickt in koloristische Kontrastsituationen gesetzten reinen Farbpunkte zu einheitlichen Farbempfindungen notwendig „zusammensieht" und gerade im dynamischen Akt dieser Synthese die Beimengung der individuellen Sinnesassoziationen stattfindet. Dieser zweite Effekt der Parallelisierung des Bildmusters mit dem Bewegungsmuster der Augenmotorik ist entscheidend. Die „Lücken" zwischen jedem Quanten.Sprung bieten Raum für die Aktivierung assoziativer Vorstellungen, welche aus der Realwahrnehmung der tatsächlichen, vitalen Umwelt stammen. Zu diesen assoziativen Ergänzungsleistungen des Gehirns gehört vor allem die bereits genannte Vollendung von Bewegungsvorstellungen aus den wahrgenommenen Bruchstücken. Die impressionistische Fleckentechnik ist denn auch nicht einfach ein „Unscharfmachen" der momentanen Gegenstandserscheinung, sondern die Flecken zerdehnen das Gegenstandsbild tendenziell zu zeit-räumlich verschobenen Einzelwahrnehmungen. Der Impressionismus verabsolutiert geradezu die Fähigkeit des Auges, aus wahrgenommenen Einzelquanten ganzheitliche Bewegungserscheinungen zu bilden. Nicht nur de facto bewegte Gegenstände wie Wasserwellen, Pflanzen und Menschenmassen, sondern auch ruhende Gebilde wie Straßen, Brücken und Gebäude werden zeit-räumlich quantifiziert. Das typische impressionistische „Fluidum" entsteht, jene aufgeweichte, zerkleinerte, bewegungshaltige Erscheinungsweise, welche — der vitalen Motorik des Auges näher als der bildhaften Gegenständlichkeit — die dingliche Existenz „genießbar" macht. Das Geschick des impressionistischen Malers besteht darin, objektive Strukturmerkmale gerade der wenigstens vor einem Gemälde sich an der Entstehung eines Ereignisses abarbeiten zu dürfen" (Max Picard, Das Ende des Impressionismus, München 1916, S. 21, 22, 29). Weiter: „Die Spannung von Möglichkeiten im Impressionismus ist das Korrelat zu den Möglichkeiten, die der Besitz von Geld anweist"; „Die Mannigfaltigkeit der Beziehungen zur Umwelt, die Mühseligkeit der Einzeleroberung ... wurde durch die Maschine reduziert auf die Maßeinheit. Die Lebensfülle wurde zu einer Variante der Geschwindigkeit, der Ausdehnung, der Genauigkeit. Man hatte die ganze Umwelt, aber man faßte sie nur an einer Äußerlichkeit" (ebda. S. 52); „Diese Zeit zeigte den liberalen oder sozialen Demokratismus als ihre politische Wunschrichtung vor. Das Wesen der politischen Organisation war der impressionistischen Tendenz günstig" (ebda. S. 55); „Am besten schlug der Impressionismus dem Juden an" (ebda. S. 64). Gegen die verfängliche Tendenz dieser Aussagen muß sich eine Untersuchung wie die vorliegende noch heute schärfstens absetzen, gerade weil sie die gleichen historischen Tatsachen behandelt. So ist Tilmann Buddensieg zu danken, daß er in der Diskussion des Colloquiums (siehe Anm. 1) auf Meyer Schapiro und dessen auf marxistischer Sicht begründete optimistische Einschätzung des Impressionismus gerade hinsichtlich einer Liberalisierung der menschlichen Sozialwahrnehmung hingewiesen hat. Man vergesse auch nicht, daß Th. W. Adorno „Im Jeu de paume gekritzelt" hat: Die Landschaften der Impressionisten seien „mit allen möglichen Signa der Moderne durchsetzt ..., zumal mit Momenten der Technik" (Th. W. Adorno, Ohne Leitbild — Parva Aesthetica Ffm. 1967, S. 42). Dies war positiv angemerkt.

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modernen Welterscheinung: die Massenhaftigkeit und Serialität des Gleichen, endlose Reihungsformen, technisch-rasterartige und gitterartige Strukturen, die abstrakte, anonyme Bewegungshaltigkeit der modernen Verkehrsformen für die herkömmliche Apperzeptionsmotorik der biologisch-sinnlichen Erfahrung so aufzubereiten, daß die Subjektbewegung sich in völligem Einklang mit der Umweltbewegung fühlt. Doch hier zeigt sich auch der Januskopf der impressionistischen Malerei. Einerseits unterliegt sie strukturell der abstrakt quantifizierenden Verwertungslogik der modernen Ökonomie, andererseits aber sucht sie in anarchischem Zugriff sich gerade solcher Bereiche zu bemächtigen, die noch nicht von der technischindustriellen Verwertung ergriffen oder von ihr gar nicht ergreifbar sind; dazu gehören vor allem die großen kosmischen Naturzustände: das Wetter, das Licht, die Jahreszeiten und die zufalligen, von keiner Ökonomie faßbaren stimmungshaften Akzidenzien der gegenständlichen Erscheinung. Auf diese Weise — und das ist Not und Tugend des modernen bürgerlichen Bewußtseins — ergibt der Impressionismus sich der Versuchung, die ganze Umwelt zu naturalisieren. Nichts erklärt impressionistische Bilder besser als jene frühen Beschreibungen, daß man vor ihnen die Wärme, die Kälte, den Regen und das Licht 24 regelrecht empfinde, ebenso wie jene bewundernden Äußerungen, daß man vor diesen Gemälden keinerlei Eindruck von Arbeit, sondern von einer völligen Mühelosigkeit ihres Entstehens habe. 25 Teilhabe menschlicher Empfindung am objektiven Naturleben ohne den Begriff der Arbeit ist die technische und ökonomische Utopie des bürgerlichen Jahrhunderts. Die impressionistische Bildform bringt es auf den optischen Begriff, daß diese Teilhabe in der industrialisierten Welt nur eine abstrakt-vermittelte ist. Der „Pattern" der optischen Sinnesdaten ist ein Raster parallel zur Natur nach dem Maßstab ökonomisch rationalisierter Quantifizierung. Das ökonomische Prinzip dieses Systems lautet: Maximierung des Gewinns bei Minimierung des materiellen Aufwandes. 26 Die Ökonomie und Rationalität der impressionistischen Reduktion der Bildelemente auf ein optisches Raster liegt in dessen „Offenheit": In den Lücken dieser Offenheit realisiert sich der individuelle „Gewinn" bzw. „Genuß". Weil Individuelles nicht dargestellt ist, gesellt sich im Betrachter dessen eigenes Individualwissen assoziativ hinzu. Es aktiviert sich also die private Apperzeptionsmasse in ihrer jeweils lustvollsten Weise, indem sie ihren Wunsch nach naturhafter Ganzheit mit ins Bild legt: Das private menschliche Bewußtsein assoziiert in jedem Falle nichtindustrielle, naturale und atmosphärisch-sensitive Empfindungen, also

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Théodore Duret 1878 über Manet, zit. nach: Hans Graber, Camille Pissarro, Alfred Sisley, Claude Monet nach eigenen und fremden Zeugnissen, Basel 1943, S. 2 1 8 — 219. Théodore Duret 1880, ebda. S. 227. Vgl. hierzu: Richard Avenarius, Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung. 1876.

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die schon genannten Sehnsuchtszonen unentfremdeter Eudämonie. Es gelingt den impressionistischen Malern, mitten im Industrialismus ihres optischen Mediums die naturhafte Empfindungsweise des Menschen so zu aktivieren, daß die zeitgenössische Kritik sich begeistern konnte: „Die Intensität, die Bewegtheit, mit einem Wort das Leben, das Herr Renoir in die Personen legt, legt Herr Monet in die Dinge. Er hat die Seele in ihnen entdeckt. In seinen Bildern plätschert das Wasser, die Lokomotiven fahren, die Segel der Boote blähen sich im Wind ... Niemals wird ein trauriger Gedanke den Beschauer vor den Bildern dieses machtvollen Malers trübe stimmen. Nach dem Vergnügen, ihn zu bewundern, fühlt man nur das Bedauern, daß man nicht ewig inmitten der üppigen Natur, die sich in seinen Bildern entfaltet, leben kann." 27 Die konventionelle Kritik hat durchaus registriert, daß die impressionistische Darstellungsweise genuin dem neuen Zeitparameter der industriellen Verwertungssphäre verhaftet ist. So in einer Karikatur auf ein verschollenes Bild Monets „Ausfahrt aus dem Hafen von Le Havre" 1868 (Abb. 144). Die Gedichtzeile „Time is Money" enthält eine phonetische Anspielung auf Monet (den Maler). Das Sujet eines großen Industriehafens, dargestellt in der hastigen, zur flirrenden Abstraktion tendierenden Fleckenmanier, mußte zu einer solchen Assoziation Anlaß geben, denn Hafenbilder waren bislang vorzugsweise in verklärter, romantisch-historischer Aufmachung gemalt worden, „überzeitlich" sozusagen. Monets Bild alltäglicher Verkehrshektik enthüllte hingegen den Kern der Sache: Der Alltag war vom ökonomischen Gesetz geprägt. Hier liegt auch der Zwiespalt bürgerlicher Existenz des 19. Jahrhunderts, wie ihn die Karikatur darstellt (Abb. 146): Zwiespalt zwischen der Zeit des Alltags, des Erwerbs, der Arbeit, des Geschäfts und der Zeit der individuellen Privatheit — Zwiespalt insofern, als bürgerliche Privatexistenz nur noch über äußerst abstrakte ökonomische Vermittlung mit dem Bereich der wirklichen materiellen Produktion verknüpft ist. Das private bürgerliche Individuum reproduziert sich nicht mehr durch die am Naturgegenstand geleistete „Arbeit", sondern mit quantitativen Kapitalanteilen am kollektiven Industrieprodukt, wie es die gestückelten RenditeCoupons auf Abb. 146 vermitteln. Diese in abstrakten Quanten vermittelte Relation des Privatmanns zum gesellschaftlichen Arbeitsprozeß ästhetisch zu naturalisieren, war die epochale Neuerung des Impressionismus. Der antiphysiognomische, abstrakte „Pattern" des impressionistischen Bildes ist Korrelat zur abstrakten Geldbewegung. Das konservative bürgerliche Publikum wollte und konnte diese abstrakte Vermitteltheit seiner Existenz naturgemäß zunächst nicht wahrhaben. Es hüllte sich in eine historistisch individualisierte Scheinwelt ein und bekämpfte den Impressionismus, dessen „Zynismus" eben darin bestand, daß er die soliden Werte unter den Funktionalismus der egalitären Verrechnungseinheit stellte.

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Georges Rivière im: „Impressioniste" v. 6. April 1877, zit. nach Graber (wie Anm. 24) S. 216.

Impressionismus — Industrialisierung des Sehens

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Auch wo Arbeit selbst dargestellt ist (vgl. Abb. 145), zerfallt sie in quantifizierte Zeitlichkeit. Monets erstaunliches Bild der Kohlenträger erzeugt einen geradezu kinematographischen Effekt und registriert — aus bürgerlicher Distanz — genau, wie die Menschenarbeit unter dem Aspekt industrieller Verwertung sich zum Maschinenhaften abstrahiert. Wie menschliche Förderkörbe schaffen die anonymen Träger Quantum um Quantum der Kohle hervor, in ihrem gestückelten Rhythmus dem Pattern der Rendite-Coupons (Abb. 146) entsprechend und in der Höhe großartig überwölbt vom technischen Sinnbild der Verwertungssphäre: dem immerfort brausenden Verkehr auf der Eisenbrücke. Edouard Manet hat — aus seinen romantischen Grundlagen heraus — diese Stückelung, Zertrennung und Entfernung der Realität noch stärker motivisch empfunden als später die „naiven" Impressionisten Monet und Pissarro. In seinem Gemälde „Eisenbahn" 1873 (Abb. 148) ist das ganze Bild zerteilt durch ein bildparalleles Eisengitter und das Kind — Sinnbild unentfremdeter Naturhaftigkeit — betrachtet aus der Geborgenheit des bürgerlichen Parks die faszinierende Welt des modernen Dampf-Verkehrs. „Gestalt" und „Muster": Das Gitter zwischen der alten Welt geschlossener Gestalten und dem neuen Dynamismus des mechanisierten Zeitflusses gibt dem Titel des Bildes „Le Chemin de Fer" vertieften Sinn. Die Welt der modernen Aktualität entrückt und wird nurmehr in ihrer Bewegungsrhythmik faßbar. Die Hand am Eisengitter ist der einzige „Halt" für den entrückten Blick in den dampfenden Bahnschacht. Früh schon erscheint im 19. Jh. das Menschenbild (und wohl nicht zufallig das Bild der Frau) hinter gitterhaften Mustern verschleiert (Abb. 147). Es sind Inkunabeln jenes neuen Existenzbildes, das den praktisch arbeitenden Zugriff zur Welt verloren hat und sich ihr nur mehr träumend wie hinter Schleiern nähert. Damit steigert sich die Ornamentalität der Wahrnehmung. Claude Monets Sicht der „Kohlenträger" (Abb. 145) findet ihre Verwandtschaft in einem fernen Vorbild träumenden Genusses: Hokusai's Holzschnitt „Der Traum des Rauchers" (Textabb.) zeigt eine Reihe von Silhouetten kleiner Wasserträger als Vision des Opiumrausches. Walter Benjamin, der gleich Baudelaire Erfahrungen im Haschischrauchen suchte, bemerkte in überraschender Übereinstimmung dazu: „Es ist höchst merkwürdig, daß die Phantasie dem Raucher Objekte — und zumal besonders kleine — gern serienweise vorstellt. Die endlosen Reihen in denen da vor ihm immer wieder die gleichen Utensilien, Tierchen oder Pflanzenformen auftauchen, stellen gewissermaßen ungestaltete, kaum geformte Entwürfe eines primitiven Ornaments dar."28

Damit ist dem „Sehen" seine nach innen gewandte, ornamentale Eigenkraft neu zugewiesen, und diese Eigenkraft wird vom impressionistischen Sehen — zum Teil angeregt durch die Fotografie und danach „stilisiert" durch die Kunst Japans

28

Walter Benjamin, Crocknotizen, aus dem Nachlaß; abgedruckt in: W. Benjamin, Über Haschisch, Novellistisches, Berichte, Materialien; hg. v. Tillman Rexroth, Ffm. 1971, S. 57 ff.

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Andreas Haus

— produktiv auf die Phänomene der modernen Welt geworfen. Der vom Industriezeitalter verschuldeten Weltferne entgegen wächst eine Steigerung der subjektiven Sinnestätigkeit, die den Verlust an individuell gestaltender Praxis zu kompensieren hofft.

A L F R E D HENTZEN

Wolfgang Schöne an der Berliner National-Galerie Erinnerungen an unsere Zusammenarbeit

in den Jahren 1936 und 37

Im Spätherbst 1935 kam Eberhard Hanfstaengl von einem Besuch des Kupferstichkabinetts im Neuen Museum in Berlin ins Kronprinzen-Palais zurück und erzählte Paul Ortwin Rave und mir, er habe einen geeigneten Kandidaten für die Stelle eines Volontärs an der National-Galerie gefunden: „einen höchst munteren Knaben", Wolfgang Schöne (Abb. 155). Zum 1. Januar 1936 wurde dieser als ,Volontär mit Werkvertrag' (d. h. also mit bescheidener Bezahlung; bloße Volontäre erhielten damals bei den Berliner Museen keinerlei Entgelt) eingestellt. Schöne selbst war von dieser Entwicklung der Dinge überrascht, weil er nur ein einziges Gespräch mit Hanfstaengl geführt hatte, in dem er heftige Kritik an den seiner Meinungen nach „unmöglichen" Ausstellungen geübt hatte, die damals im Prinzessinnen-Palais (einem Erweiterungsbau des Kronprinzen-Palais) von der National-Galerie gemeinsam mit der Generaldirektion der Staatlichen Museen unter dem Titel „Deutsche Kunst seit Dürer" veranstaltet worden waren und weiter veranstaltet werden sollten. Die mutige, vielleicht auch vorlaute Kritik des damals 25-j ährigen Volontärs hatte dem Direktor der NationalGalerie offenbar gut gefallen, und seine spontane Entscheidung, diesen „munteren Knaben" zu sich hinüberzuziehen, war richtig gewesen. Schöne wurde nicht nur ein sehr belebendes Element in dem kleinen Mitarbeiter-Stab der National-Galerie, er war durch seine Kompromißlosigkeit und seinen Mut ein trefflicher Mitstreiter im Kampf um die lebendige Kunst gegen die kulturzerstörenden Kräfte im nationalsozialistischen Lager, den wir im Kronprinzen-Palais zu führen versuchten und den wir schließlich verlieren mußten. Heutigen, wohl auch in der Regel jüngeren Lesern dieser Festschrift können die um ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Verhältnisse nicht bekannt sein, darum sind hier wohl einige Andeutungen notwendig. Die National-Galerie unterstand damals nicht — wie heute und wie während der Amtszeit ihres zweiten Direktors Hugo von Tschudi (1896 — 1910) — dem Generaldirektor der Staatlichen (ehemals Königlichen) Museen, sondern ihr Direktor stand seit der Eröffnung im Jahre 1876, also zur Zeit von Max Jordan (1876-1895) und wieder unter Ludwig Justi (1910-1933) und Eberhard Hanfstaengl (1934—1937) gleichrangig neben dem Generaldirektor. Das endete endgültig erst mit Hanfstaengls Abgang im Jahre 1937. Das ehemalige Kronprinzen-Palais beherbergte seit 1919 die Neue Abteilung der National-Galerie, die in ihrem entscheidenden und unsere damalige Vorstellung

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Alfred Hentzen

von der neuen Kunst bestimmenden Bestand erst nach dem ersten Weltkrieg entstanden war. Wegen seines Eintretens für diese, von den Nationalsozialisten als „entartet" verschriene Kunst war Ludwig Justi am 1. Juli 1933 beurlaubt und — da er sich weigerte, um seine vorzeitige Pensionierung zu bitten — in eine KustosStelle bei der Staatlichen Kunstbibliothek versetzt worden. Sein kommissarischer Nachfolger Aloys Schardt, bis dahin Direktor des Städtischen Museums Halle-Moritzburg, war nach einem heroischen, in seinen Zielsetzungen allerdings recht zugespitzten Rettungsversuch schon Ende Oktober des gleichen Jahres gescheitert. Seither war Eberhard Hanfstaengl, bis dahin Direktor der Städtischen Galerie im Lenbachhaus und des Stadt-Museums in München, Direktor der NationalGalerie, — seit Ende November 1933 vertretungsweise, seit dem 1. Januar 1934 endgültig bestallt. Er fand vier wissenschaftliche Mitarbeiter vor. Der älteste, ,Kustos und Abteilungsleiter' Hans Mackowsky, ein bedeutender Gelehrter (Gottfried Schadow), hatte sein Dienstzimmer in der ehemaligen Bauakademie, in deren erstem Stock zu Justis Zeiten die ,Bildnis-Sammlung der National-Galerie', seit Schardts Veränderungen das gleichfalls der National-Galerie unterstehende ,Schinkel-Museum' untergebracht war. Zweiter Kustos war Paul Ortwin Rave, der später in seiner verdienstvollen aktenkundigen Schrift „Kunstdiktatur im Dritten Reich" (1946) die damaligen, unglaublichen Ereignisse als erster dargestellt hat, dessen Interesse aber schon seit längerer Zeit durch die von ihm geleitete Arbeit am großen Schinkel-Werk in Anspruch genommen wurde. Dann gab es zwei Wissenschaftliche Hilfsarbeiter', wie die nicht beamteten Assistenten damals genannt wurden: Frau Anni Paul Pescatore, die das Inventar der Handzeichnungen-Sammlung der National-Galerie führte und die Kataloge der Sammlung wie der Ausstellungen bearbeitete, und den Verfasser dieses Berichtes. Dazu trat nun als fünfter Schöne, für den die Stelle eines ,Volontärs mit Werkvertrag' neu geschaffen worden war. Die z. T. stürmischen Ereignisse dieser Jahre habe ich in einer längeren Abhandlung im Jahrbuch Preussischer Kulturbesitz VIII, 1970, „Das Ende der Neuen Abteilung der National-Galerie im ehemaligen Kronprinzen-Palais" dargestellt, die auch als Sonderdruck und als Buch unter dem Titel „Die Berliner National-Galerie im Bildersturm" erschienen ist. Hier sollen nun, aus mehr persönlicher Sicht, einige Erinnerungen an die Jahre 1936 und 37 aufgezeichnet werden, während derer wir sehr eng zusammengearbeitet haben. Da fast alles gemeinsam getan wurde, kann ich nur in einzelnen Fällen sagen: „das hat Schöne gemacht oder gesagt oder veranlaßt"; aber bei allem, was ich hier zu berichten habe, war er aktiv beteiligt. Schöne war 1934 mit einer wichtigen und gewichtigen Dissertation über Dieric Bouts (die 1938 in hervorragender Ausstattung im Verlag für Kunstwissenschaft erschienen ist) bei seinem späteren Schwiegervater Hans Jantzen in Frankfurt a. M. promoviert worden und war auch weiterhin wissenschaftlich mit der Altniederländischen Malerei beschäftigt. Eine schöne Frucht dieser Studien ist der 1939 erschienene Band „Die großen Meister der niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts

Wolfgang Schöne an der Berliner National-Galerie

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— Hubert van Eyck bis Quentin Massys". Er war ja — und ist bis heute — überhaupt seiner ganzen Veranlagung nach ein sehr ernster und systematischer wissenschaftlicher Kopf, was er seinen beiden Großvätern auch schuldig ist: väterlicherseits Richard Schöne, dem Maler, Archäologen, Kunstreferenten im Preussischen Kultusministerium und Generaldirektor der Königlichen Museen von 1880 bis 1905, und mütterlicherseits Woldemar von Seidlitz, dem bedeutenden LionardoForscher, der als Vortragender Rat die Generaldirektion der Königlichen Sächsischen Kunstsammlungen in Dresden leitete. Nun aber stürzte er sich mit der ganzen Verve seiner jungen Jahre in die Aufgaben, die ihm in der National-Galerie zufielen oder die er selbst hier sah. Und diese Verve hat er sich ja bis heute fast unvermindert erhalten; ebenso die Offenheit neuen oder ihm neuen Phänomenen gegenüber und die Fähigkeit zu enthusiastischer Anteilnahme für das, was ihm gerade wesentlich erscheint; schließlich die nicht minder typische Fähigkeit zu leidenschaftlichem Zorn über die seinen Vorstellungen feindlichen Mächte und deren, seiner Ansicht nach, niedrige Motive. Schöne hatte immer ein sehr sensibles Rechtsempfinden. Damals gab es nun Vieles und Vielerei zu bewirken, und Schöne war mit Eifer und Überzeugung dabei: bei Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Abteilungen der Staatlichen Museen oder der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten, mit dem Kultus- oder auch mit dem Propaganda-Ministerium, mit den Vertretern der Presse, mit der mächtiger werdenden Kulturkammer und anderen nationalsozialistischen Organisationen, mit den mehr und mehr unterdrückten Künstlern und mit den Kunsthändlern, die den Künstlern zu helfen versuchten, auch mit den Kollegen an der Universität und den Museen: mit den älteren, zwangspensionierten wie Carl Georg Heise und Ernst Gosebruch, und mit vielen anderen Persönlichkeiten. „Er ist oft fast wie so ein junger Hund am Wasser", sagte Hanfstaengl in freundschaftlicher Ironie, „er muß hinein". (Hanfstaengl sagte bayrisch: „nei"). Nach dem Mittagessen, das immer erst um oder nach 3 Uhr stattfinden konnte (die Dienstzeit an den Berliner Museen bzw. die Anwesenheitspflicht der wissenschaftlichen Beamten, Angestellten und Volontäre war damals noch, um die wissenschaftliche Arbeit zu ermöglichen, auf die Öffnungszeiten der Sammlungen, nämlich von 10 bis 3 Uhr beschränkt), — nach dem meist gemeinschaftlich eingenommenen Mittagessen also, wenn Rave und ich nach Hause fuhren oder in der Staatsbibliothek arbeiteten oder Kunsthändler und Ateliers besuchten, ging er gern zurück ins geschlossene Kronprinzen-Palais (Abb. 149), in die Bibliothek, die im langgestreckten Festsaal-Flügel hinter der Handzeichnungen-Sammlung aufgestellt war, und ruhte — bevor er sich seinen Studien hingab — auf einem der langen und breiten Tische, ausgestreckt auf dem Rücken liegend wie eine mittelalterliche Grabfigur auf ihrem Sarkophag, einen Band Thieme-Becker unter dem Kopf, und sammelte frische Kräfte. Die Ausstellungen im Prinzessinnen-Palais, die Schönes Kritik herausgefordert hatten, sollten u. a. der engeren Zusammenarbeit der Staatlichen Museen und der National-Galerie dienen. Der seit 1933 amtierende Generaldirektor Otto Kümmel

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Alfred Hentzen

(zugleich Direktor der Ostasiatischen Kunstabteilung) und Hanfstaengl hatten als Thema für eine Ausstellungsreihe „Deutsche Kunst seit Dürer" gewählt. (Gleichzeitig mit dem Beginn dieser Reihe im Dezember 1934 fand anläßlich der ,Deutschen Tanzspiele 1934' im gleichen Haus eine von allen Abteilungen der Museen zusammengestellte Ausstellung „Der Tanz in der Kunst" statt.) Innerhalb der Reihe hatte es bis dahin drei Überblicke gegeben: „Das Bildnis in der Plastik" (Katalogvorwort von Hans Mackowsky), „Das Ereignisbild" (Katalogvorwort von Niels von Holst), „Das Stilleben" (Katalogvorwort von mir). Die letztgenannte Ausstellung lief noch, als Schöne eintrat. Wenn wir von der umfangreicheren Veranstaltung „Der Tanz in der Kunst" absehen, waren diese Ausstellungen recht anspruchslose Unternehmungen und alles andere als künstlerische Ereignisse, wie sie das Kronprinzen-Palais zur Zeit von Justi erlebt hatte. Es waren vielmehr bescheidene Bemühungen, das Interesse der Besucher wach zu halten, formale wie geistige Parallelen alter und neuerer Kunst aufzuzeigen und auch immer wieder „moderne", von den Nationalsozialisten abgelehnte Künstler in den Zusammenhang einzuordnen, um die Legitimität der neuen Kunstsprache innerhalb der Tradition zu demonstrieren. Wir ergänzten das, was die National-Galerie und die deutsche Kunst sammelnden Abteilungen der Staatlichen Museen (Gemäldegalerie, Skulpturenabteilung, Kunstgewerbe-Museum, Kupferstich-Kabinett) zur Verfügung stellen konnten, durch Leihgaben aus dem Besitz der Staatlichen Schlösser und Gärten, aus deutschem Privat- und Museumsbesitz und einmal sogar aus dem Louvre. In den von Kümmel und Hanfstaengl unterschriebenen Vorbemerkungen der Kataloge wurden als verantwortlich für die Auswahl drei mal Niels von Holst (Außenamt der Staatlichen Museen) und ich genannt. Bei der vierten Ausstellung dieser Folge „Das Sittenbild" (1936/37), bei deren Durchführung ich in Amerika war, liest man neben Holst und Rave auch den Namen des kritischen Wolfgang Schöne. Aber vorerst gab es zwei gewichtigere Vorhaben, die alle unsere Kräfte in Anspruch nehmen sollten, und bei denen Schöne nun auch erfolgreich mitwirkte: Die Neuordnung der Kunst des 19. Jahrhunderts im Stammgebäude der National-Galerie auf der Museumsinsel, nach einem partiellen, von Hanfstaengl sorgfaltig geplanten Umbau (Wiedereröffnung am 24. Mai 1936), und die Ausstellung „Große Deutsche in Bildnissen ihrer Zeit", die anläßlich der Olympiade 1936 in Berlin im Kronprinzen-Palais gezeigt werden sollte (Eröffnung am 30. Juli 1936). Die Neuordnung zuerst: Jeder neue Leiter eines Museums wird den Wunsch haben, die ihm anvertrauten Sammlungen nach seinen Vorstellungen zu ordnen, die Akzente eventuell anders zu setzen als bisher und, gegebenenfalls, die Möglichkeiten dazu durch Umbauten (oder Erweiterungsbauten) zu schaffen. Letzteres ganz besonders im Falle eines so schwierigen, für Museumszwecke so wenig geeigneten Gebäudes wie der National-Galerie (Abb. 150), die nach Ideen Friedrich Wilhelms IV. von Stüler zunächst als Ruhmeshalle entworfen und nach Stülers Tod von Strack, für den neuen Zweck verändert, errichtet wurde, unter Berücksichtigung

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unglücklicher Auflagen des Preussischen Landtages (Cornelius-Säle). So hatte Ludwig Justi bald nach seinem Amtsantritt im Jahre 1910 durch Ausscheiden der Schlachtenbilder wie der Repräsentations-Bildnisse, seit 1913 auch durch den Umbau der für Skulpturen bestimmten Säulenhalle des Erdgeschosses zu einer Folge von Ausstellungsräumen für Gemälde, glückliche Veränderungen bewirkt. Nun hatte Hanfstaengl das Problem des Hauptgeschosses in Angriff genommen, in dessen Mitte die beiden riesigen, in ihrer Höhe durch zwei Stockwerke reichenden Säle lagen, die, ursprünglich für die Campo-Santo-Kartons von Cornelius bestimmt, für Gemälde normalen Formates kaum verwendbar waren. Justi hatte sie noch als unantastbar betrachtet, damit sie eines Tages, wenn für die übrigen Sammlungsbestände andere Ausstellungsmöglichkeiten gefunden sein würden, die Kartons wieder aufnehmen könnten. Hanfstaengl hatte nun — unter vorsichtiger Schonung der Bausubstanz, so daß der alte Zustand ohne große Schwierigkeiten hätte wiederhergestellt werden können — im Winterhalbjahr 1935/36 in die 14 bzw. 12 m hohen Säle in etwa halber Höhe Glasdecken einziehen lassen, ihre Proportionen günstig verändert und sie dadurch geeignet gemacht, die bedeutenden Sammlungen von Böcklin, Feuerbach, Marées und Thoma aufzunehmen. Der Grundgedanke Hanfstaengls war, die Hauptmeister der Malerei (und Plastik) der zweiten Jahrhunderthälfte im Hauptgeschoß, in den repräsentativsten Räumen der National-Galerie, zu zeigen; in der Mitte die sog. Deutsch-Römer und Thoma, rechtsherum in den die großen Säle umgebenden kleineren Räumen, Gängen und Kabinetten: Leibi, Menzel (ein Gang mit Zeichnungen, ein großer Saal und drei Kabinette), Rayski und Waldmüller; linksherum die Franzosen von Delacroix und Courbet über Manet und die Impressionisten bis zu Cézanne, der dann etwas unvermittelt neben Waldmüller stand. Im Obergeschoß blieben, wie bisher, die Klassizisten und Romantiker (Friedrich und Runge), Blechen und die Nazarener, was dadurch gegeben war, daß das frühe Hauptwerk der Nazarener, die Fresken der Casa Bartholdy in Rom, seit Jordans Zeiten im Obergeschoß eingebaut war (und heute noch ist). Das Erdgeschoß, das nach Justis Plan und Ordnung die Hauptmeister beherbergt hatte, die nun im Mittelgeschoß Platz fanden, nahm jetzt die lokalen Schulen auf: Düsseldorf, Berlin, München u. s. w. Die National-Galerie gewann durch die neue Ordnung ein neues Gesicht und Gewicht. Auch Rave und ich, die nach der langen Zusammenarbeit mit Justi ungern von dessen Darstellung der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts Abschied nahmen, wurden überzeugt, und unsere — wie Schönes — Anteilnahme an allen Fragen der Hängung wie der Farbgebung der Räume war sehr rege. Schöne hat in einem Aufsatz der Zeitschrift ,Museumskunde', Neue Folge VIII, 1936, Heft 4: „Die Neuordnung der National-Galerie", die Problematik des Gebäudes aus den geschichtlichen Wurzeln ebenso klar dargestellt wie die Vor- und Nachteile der Veränderungen gegeneinander abgewogen und die neue Ordnung in Grundrissen und Photos vorbildlich dargestellt, sodaß ich mich hier darauf berufen kann.

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Hanfstaengl hatte mit Umbau und Neuordnung wie mit der erstaunlichen Reihe bedeutender Erwerbungen für alle Sammlungszweige 1 auch die Absicht verfolgt, die Aufmerksamkeit der NS-Presse und der Partei-Gewaltigen von dem immer umstrittenen Kronprinzen-Palais auf einen ebenso wichtigen, von Kennerschaft und Museumserfahrung getragenen Zweig seiner Tätigkeit hinzulenken und so die Weiterentwicklung der National-Galerie in ein ruhigeres Fahrwasser zu führen. Aber wenn der Versuch überhaupt zum damaligen Zeitpunkt noch Erfolg haben sollte — was unwahrscheinlich war — so kam er jedenfalls zu spät. Das große Haus war noch nicht wieder eröffnet, da erschien am 2. April 1936 ein unglaublicher, unverschämter Artikel in der Zeitung der SS, ,Das Schwarze Korps', unter dem Titel: „Kronprinzenpalais säuberungsbedürftig!". Der oder die natürlich anonymen Verfasser griffen Hanfstaengl ganz persönlich an, kritisierten nicht nur seine, nach ihrer Meinung selbstverständlich unzeitgemäße künstlerische Wertsetzung, sondern bezweifelten auch seine Fähigkeit, ein Museum sinnvoll zu ordnen: „Ja, es ist geradezu so als wollte dieses Haus unter dem Deckmantel der Kunstwissenschaft gerade die Dinge weiterhin propagieren, deren Ausmerzung uns geboten erscheint" (darin hatten sie allerdings recht). „Dazu kommt ein blamables Ungeschick beim Hängen selbst, das jedem Geübten nur ein mitleidiges Lächeln entlocken kann". Die Galerie des Kronprinzen-Palais wird als „eine wirkliche Kulturschande" gebrandmarkt. „Es ist höchste Zeit, daß endlich dieser Unfug aufhört", vor allem vor der näher rückenden Olympiade. „Wir hoffen, daß die deutsche Galerie im Kronprinzenpalais bis dahin noch gesäubert wird", da sie bei den „Tausenden von Ausländern ... je nach dem ein Kopfschütteln oder eine Heiterkeit auf unsere Kosten" auslösen würde. Die Lektüre der z. T. grotesken Fehlurteile („der üble Schmierant August Macke", „der Nichtskönner Max Beckmann") und der niederträchtigen Unterstellungen und Verdrehungen treibt einem noch heute die Zornesröte ins Gesicht. Es war die schärfste und gefährlichste Attacke auf das, was Hanfstaengl und wir mit ihm (und zahllose andere Menschen im ganzen Reich) vertraten, die bisher geritten worden war, und die für die kommende Zeit Böses ahnen ließ. Wir waren natürlich alle sehr betroffen. Hanfstaengl wehrte sich mit scharfen Briefen an die Redaktion des Schwarzen Korps und an den Minister Rust, der tatsächlich einen Abgesandten in die Redaktion schickte, um zu protestieren und zu verhindern, daß der Artikel von anderen Zeitungen übernommen würde. Wir alle führten erregte Gespräche mit Künstlern und Kunstfreunden, mit den Herren im Ministerium und mit Vertretern der Presse. Einer von diesen wagte, taktisch geschickt aber mutig, eine Erwiderung: Paul Fechter in der „Deutschen Zukunft". In der gespannter werdenden Atmosphäre taten wir unsere Arbeit unter nicht geringem Druck, den wir aber, wenn uns die Aufgabe Freude machte, zwar nicht 1

Rave hat im Auftage des Vereins „Freunde der National-Galerie" und seines Vorsitzenden Baron Eduard von der Heydt 1938 eine eindrucksvolle Veröffentlichung im Deutschen Kunstverlag herausgegeben: „National-Galerie, Die wichtigsten Erwerbungen in den Jahren 1933—1937".

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vergaßen aber doch überspielten. Das gilt vor allem für die Vorarbeiten zu dem zweiten großen Vorhaben dieses ereignisreichen Jahres, der Ausstellung „Große Deutsche in Bildnissen ihrer Zeit", die zwei Stockwerke des Kronprinzen-Palais und die anschließenden Räume im Obergeschoß des Prinzessinnen-Palais füllen sollte und gefüllt hat. Sie wurde ein großer Erfolg und jeder, der sie gesehen hat, wird eine gute und starke Erinnerung an sie bewahren. Der Plan war zuerst in einem Gespräch zwischen dem von den Nationalsozialisten ins Kultusministerium berufenen Museums-Referenten Hans Werner von Oppen und dem von den Nationalsozialisten seines Amtes enthobenen ehemaligen Direktor des Lübecker Museums Carl Georg Heise entwickelt worden. Es war recht eigentlich Heises Gedanke und es ist bemerkenswert, daß dieser, der gleich nach seiner Entlassung nach Berlin gezogen war, um Berliner Kunstberichterstatter der „Frankfurter Zeitung" zu werden, in den ersten Jahren des .Dritten Reiches', d. h. bis 1937, häufig im Kultusministerium vorsprach und aus seinen MuseumsErfahrungen und seiner großen Personal-Kenntnis manche fruchtbare Anregung geben konnte und gab. Die Vorarbeiten hatten auch hier längst begonnen, bevor Schöne zu uns stieß. Die seit der unglücklichen und für die National-Galerie wenig förderlichen Tätigkeit von Aloys Schardt magazinierte Bildnissammlung gab einen gewichtigen Grundstock ab, wenn auch natürlich nicht alle hier in Bildnissen vertretenen 155 Deutschen unter dem für die Ausstellung zu fordernden Maßstab als ,groß* gelten durften. Jedenfalls hatte man in dem Verfasser des in jeder Hinsicht vortrefflichen „Führers durch die Bildnis-Sammlung" von 1929, Hans Mackowsky, einen kenntnisreichen Mitarbeiter. Aber Mackowsky war damals nicht mehr sehr aktiv. Er half uns, beriet uns in schwierigen Fragen, aber die entscheidende Arbeit hatten Niels von Holst — mit dem die Zusammenarbeit immer ganz vorzüglich war — Rave, ich und später auch Schöne zu leisten, von Hanfstaengl in jeder Weise unterstützt. Kümmel und die Direktoren der vierzehn Abteilungen der Staatlichen Museen lieferten kaum Beiträge, aber Kümmel hatte auf die grundsätzliche Frage: „Wer ist ein Großer Deutscher?" eine schlagende und praktische Antwort gegeben: „Groß ist, wer einem einfallt!" So hatten wir — Rave, Holst und ich — die Arbeit damit begonnen, daß wir jeder eine Liste der uns groß erscheinenden Deutschen anlegten, „die uns einfielen", um diese Listen dann in gemeinsamen Besprechungen zu vergleichen und sie zu einer einheitlichen Liste zu verschmelzen. An diesen Besprechungen nahm oft Hanfstaengl teil und bald auch ständig Schöne. Die Sitzungen waren immer sehr anregend, und wir waren durchweg in heiterster Stimmung. Es erschien uns ein höchst interessantes, wenn auch gewiß anmaßendes Unterfangen, darüber entscheiden zu wollen bzw. zu sollen, wer in die Reihe der ,Großen' aufgenommen werden sollte oder auch, welche unbestreitbar große Persönlichkeit deutscher Abkunft im Ausland in diese Ausstellung einbezogen werden dürfe. Es wurde viel gelacht, z. B. als sich beim Vergleich der Listen herausstellte, daß ausgerechnet

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Rave Friedrich Gilly vergessen hatte; „er sägt selbst den Ast ab, auf dem er sitzt!" rief Niels von Holst aus; oder als Schöne zu bedenken gab, ob nicht auch Frauen aufzunehmen seien, die — obwohl selbst nicht schöpferisch — für das Schaffen großer Männer wichtig gewesen seien, wie z. B. Charlotte von Stein, und ich dazu anmerkte: „dann wohl auch Maximin?". Dann erinnere ich mich, daß wir sehr ernstlich überlegt haben, ob wir nicht wagen könnten, in die Abteilung ,Deutsche im Ausland' Queen Victoria aufzunehmen, die ja in der Tat rein deutschen Blutes war — zumal wir selbstverständlich Katharina die Große in unser Programm einbezogen hatten. Aber das erschien Hanfstaengl, Kümmel und dem Ministerium politisch doch untunlich. Die Auswahl der ,Großen', die aufzunehmen wären, war aber schließlich nur eine Seite der Aufgabe; für die Verwirklichung einer Ausstellung war es noch wichtiger, Bildnisse der Großen zu finden und — wenn man wußte, wo solche waren — sie auszuleihen. Es gab erstaunlich wenig und erstaunlich unzulängliche einschlägige Literatur. Der Allgemeine Bildnis-Katalog von Hans Wolfgang Singer, der damals noch im Erscheinen war (der 14. Band erschien erst 1936), erwies sich als wenig hilfreich. Zwar hatten wir in der Bildnis-Sammlung einen beachtlichen Grundstock, der übrigens unter der Leitung Hanfstaengls noch um 15 Porträts vermehrt worden war. Vieles wußte man natürlich, aber weil wir nicht allzusehr auf die reichen Bestände des Kupferstich-Kabinetts zurückgreifen wollten, damit nicht der Eindruck einer Graphik-Ausstellung entstünde, gab es manches schwierige Problem, das zu lösen sich mitunter als einfacher erwies, als man gedacht hatte. So half uns mehrfach das Berliner Telefonbuch. Wir riefen z. B. einen dort verzeichneten Herrn v. Fichte an, um ihn zu fragen, ob er aus der Familie von Johann Gottlieb Fichte stamme, und als er das bejahte, ob er ein Bildnis von seinem Vorfahren besäße. Er verneinte diese Frage, aber verwies auf einen Vetter in Hildesheim, der ein Bildnis besäße, das wir dann tatsächlich ausgestellt haben. Ähnliches gelang uns mit Friedrich Wilhelm v. Steuben, von dem wir über das Telefonbuch Nachkommen in Saarbrücken ausfindig machten, die ein Bildnis besaßen.2 Es war also eine umfangreiche Korrespondenz zu führen, schließlich auch mit den Bitten um Leihgaben, die wir Assistenten entwarfen, wenn sie natürlich auch von Kümmel oder Hanfstaengl unterschrieben werden mußten. An einen dieser Bittbriefe bzw. an die Antwort erinnere ich mich: wir wollten als Nr. 1 des Katalogs gern die kleine Reiterstatuette Karls des Großen aus Metz ausstellen, die sich damals im Cluny-Museum zu Paris befand; wir sahen voraus, daß die Franzosen uns ihren Charlemagne nicht geben würden, und hatten uns schon einen Nachguß der Statuette aus dem Historischen Museum in Frankfurt gesichert. Aber wir machten den Versuch dennoch und baten die Direction des Musees-de-France um 2

Diese und eine ganze Reihe weiterer Bildnisse, wie wir entdeckten, erschienen dann im „Neuen Bildniskatalog" von Singer, der in konzentrierter Form in 5 Bänden 1937/38 herauskam, wozu unser Katalog fleißig benutzt worden war.

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das Selbstbildnis Dürers im Louvre und die Reiterstatuette. Die Antwort kam prompt telegraphisch: „Duerer volontierement, Charlemagne impossible". Während der ganzen Dauer der „Großen Deutschen" — August und September 1936 — blieb im Obergeschoß des Kronprinzen-Palais die neue Kunst ausgestellt. Hier waren ja insbesondere Werke der umstrittenen, bald als .entartet' verfemten Künstler zu sehen. Hanfstaengl — und wir alle mit ihm — wollten auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, man hätte die Bildnis-Ausstellung zur Olympiade als willkommene Gelegenheit benutzt, sich aus der Kampflinie um die neue Kunst zurückzuziehen. So haben viele der zahlreichen Ausstellungsbesucher während und vor allem nach der Olympiade hier noch einmal einen gewichtigen Teil der bedeutenden Sammlung der lebendigen deutschen Kunst sehen können und gesehen, — zum letzten Mal. Da die beiden anspruchslos gedruckten Katalogheftchen „Verzeichnis der Kunstwerke in der Neuen Abteilung der National-Galerie im ehemaligen KronprinzenPalais", die Hanfstaengl 1934 und 1935 drucken ließ — das zweite sogar mit 16 recht guten Abbildungen — und in denen alle tatsächlich ausgestellten Gemälde und Bildwerke aufgeführt sind, heute kaum noch irgendwo zu finden sein dürften, soll hier eine komprimierte Liste des Wichtigsten eine Vorstellung zu geben versuchen, was damals im Obergeschoß ausgestellt war. Zunächst die Gemälde: Fran^ Marc> D r e i R e h e (1911), Der Turm der Blauen Pferde (1913/14, beide bis heute verschollen) / August Macke, Spaziergänger (1913), Mädchen unter Bäumen (1914, heute Neue Staatsgalerie, München), (Das Bildnis Franz Marc hing unter den Großen Deutschen in der Ausstellung) / Lyonel Feininger, Segelboote (1929, heute Detroit Art Institute), Lüneburg (1925, Leihgabe) / Paul Klee, Der Goldene Fisch (1925, heute Hamburger Kunsthalle) / Oskar Kokoschka, Adolph Loos (1909), Bessie Loos (1910, beide noch bzw. wieder in der National-Galerie West), Das Theater in Bordeaux (1925) / Emil Nolde, Junge Pferde (1916), Reife Sonnenblumen (1933, heute Detroit Art Institute) und Leihgaben / Christian Rohlfs, Gethsemane (1917-22), Kapelle in Dinkelsbühl (1921) / Ernst Ludwig Kirchner, Die Rheinbrücke in Köln (1912-14, noch in der National-Galerie, Ost) Abb. 151, Bergwald (1923, lange als Leihgabe ausgestellt, seit 1935 als Geschenk — Neue Erwerbung!) / Erich Heckel, Die Zeltbahnmadonna (1915, Leihgabe des Künstlers, im letzten Krieg verbrannt) Abb. 152, Frühling (1918), Glockenblumen (1927), Sylt (1931) / Karl Schmidt-Rottluff, Dorf am See (1913), Römisches Stilleben (1930), Landschaft am See (1934, anläßlich des 50. Geburtstags des Künstlers Geschenk von Freunden — Neue Erwerbung!) / Otto Mueller, Sommer, Waldteich mit Badenden / Max Pechstein, Flußlandschaft (1927) / Max Beckmann, Südliche Küste, St. Cyr (1931), Ochsen im Stall (1933), Stilleben (1934) / Karl Hof er, Weg nach Bellinzona (1929), Bergkirche (1930), Selbstbildnis (1934) / Otto Dix, Das Söhnchen des Künstlers (1928), Mädchen mit Puppe (1929, Leihgabe). Dazu kamen Werke jüngerer Künstler wie Max Kaus / Otto Herbig / Christof Drexel / Xaver Fuhr, Kaffeeterrasse (1928) / Werner Gilles / Werner Schol^, zwei

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Blumenbilder (beide 1934), Zwei Menschen (1935) / Ernst Wilhelm Naj, Fischerboote an der Hafenmole (1930), und natürlich auch die damals weniger angefeindeten, z. T. als Akademie-Professoren tätigen Maler der sog. Neuen Sachlichkeit, wie Alexander Kanoldt / Georg Schrimpf / Fran% Lenk / Fran% Rad^iwill und manche andere. Auch die Auswahl der Bildhauerwerke konnte sich sehen lassen: von Ernst Barlach gab es drei Hölzer: Die Verlassenen (Relief, 1912/13), Lesende Mönche (1933), Der Rächer (1922, Leihgabe der Stadt Berlin) / Wilhelm Lehmbruck war mit fünf Werken vertreten, darunter der berühmten Knieenden (1911) und auch einem Gemälde. Gerhard Mareks, Still Allein (1932) / Philipp Harth, Jaguar (Holz, 1928) / Ewald Mataré, Stier (Holz, 1923, heute in Saarbrücken) / Rudolf Belling, Der Boxer Max Schmeling (1929) / Herbert Garbe / Hans Mettel / Hermann Blumenthal / Gustav Seit£ und viele andere waren vertreten. Im Obergeschoß des Kronprinzen-Palais konnte man also immer noch einen in der Auswahl zwar vorsichtigen, aber dennoch überzeugenden Uberblick über die deutsche Kunst der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gewinnen. Nach Schluß der Ausstellung wurde gleich damit begonnen, die beiden unteren Stockwerke wieder so einzurichten wie vorher. Im Erdgeschoß die ausländischen Künstler: Vier Gemälde von van Gogh, Moulin de la Galette (1886, noch in der National-Galerie West), Das Liebespaar (1888), Kornfeld mit Mäher (1889, beide bis heute verschollen!), Le Jardin de Daubigny (1890, heute in amerikanischem Privatbesitz)3 und fünf Zeichnungen / ein Gemälde von Hodler (Leihgabe) / eine Plastik von Minne / sechs Gemälde von Münch ergänzt durch Graphik aus dem Kupferstich-Kabinett / weiter eine Reihe von Werken jüngerer skandinavischer Maler / eine Vitrine mit Kleinplastik von Maillol j und schließlich einige Beispiele aus der Sammlung zeitgenössischer Italiener: zwei frühe Gemälde von de Chirico / eine Landschaft von Carrä / ein Stilleben von Severini / „Die Mutter" von Casorati / und der kleine Mädchenkopf von Modigliani (alle mit Ausnahme des Modigliani, der sich in Berner Privatbesitz befindet, noch in der National-Galerie Ost). In den ehemaligen Repräsentations-Sälen des Hauptgeschosses waren die älteren Künstler aus dem Kreis des Vereins Berliner Künstler und vor allem der Berliner Sezession ausgestellt mit den Schwerpunkten Corinth und Slevogt, dazu Plastik von Lederer, Klimsch, Hermann Haller, Kolbe (fünf Bronzen, darunter die „Tänzerin" von 1911/12), Scheibe, Wackerle u. a. Es seien nur ein paar Namen der Maler genannt, die hier neben Corinth und Slevogt zu sehen waren: Friedrich Ahlers-Hestermann / Heinrich und Ulrich Häbener /

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Neben diesem Hauptwerk aus den letzten Lebenstagen van Goghs hing im Jahre 1934 mehrere Monate lang zum Vergleich die andere Fassung aus der Sammlung Staehlin in Basel (heute Kunstmuseum Basel), wobei sich für uns alle zwingend herausstellte, daß es sich bei dem Basler Bild um eine Fälschung handelt (Vergl. meine Aufsätze, Zeitschrift für Kunstgeschichte IV, 1935, S. 3 2 5 - 3 3 3 , und V, 1936, S. 2 5 2 - 2 5 9 ) .

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Arthur Kampf / Konrad von Kardorff / Leo von König / Reinhold Lepsius / Oskar Moll / Hans Purrmann / Fritz Rhein / Waldemar Rösler j Wolf Röhricht / Maria Slavona u. s. w. Von Slevogt waren noch die bezaubernden Wandmalereien aus dem GartenPavillon in Neu Cladow von 1911 zu sehen, die im Krieg zerstört worden sind, und ein großer Saal mit 12 Gemälden — der große D'Andrade als Don Giovanni (1912) im Mittelpunkt —, ergänzt durch 18 Zeichnungen und Aquarelle. Beherrschender Höhepunkt aber war die Cor/«/A-Sammlung mit zwölf Meisterwerken, von dem Bildnis der Frau Rosenhagen (1899) über die Flora (1923, heute Hamburger Kunsthalle), Das Trojanische Pferd (1924, durch Raves kluge Taktik für die National-Galerie gerettet), bis zum späten Ecce homo (1925, heute in Basel). Für diesen Saal, dessen Hängefläche durch eine fest eingebaute Scherwand vergrößert worden war, fand Schöne eine neue Ordnung, die uns alle überzeugte. Aber das Kronprinzen-Palais konnte als Ganzes in der beschriebenen alten Form der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich gemacht werden. Bevor die Wiederherstellung der alten Ordnung abgeschlossen war, verließ ich für vier Monate Berlin. Ich hatte das große — und vielbeneidete — Glück, als Begleiter einer Wander-Ausstellung deutscher Malerei des 15. bis 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten ausersehen zu sein. Hanfstaengl hatte an der Eröffnung in Philadelphia teilgenommen und ich fuhr am 17. Oktober mit der „Bremen" nach drüben, um ihn abzulösen. Erst am 17. Februar 1937 kam ich wieder in Berlin an; so erfuhr ich von den nun folgenden Ereignissen zunächst nur aus Zeitungen oder durch Briefe meiner Frau und der Kollegen. Am 30. Oktober 1936 — Hanfstaengl nahm gerade als einer von zwei wissenschaftlichen Vertretern des Reichs auf Einladung der italienischen Regierung am internationalen „Volta-Kongreß" in Rom teil — wurde die obere Etage des (noch gar nicht wieder eröffneten) Kronprinzen-Palais auf Anordnung des Ministers Rust „vorläufig" geschlossen. Rust, der im Grunde ungern Entscheidungen traf und bisher im Bereich der umstrittenen Kunst seinen Mitarbeitern von Staa und von Oppen ziemlich freie Hand gelassen hatte, war wohl „auf Befehl von höchster Stelle" aktiv geworden, wie Schöne in einem Brief an seinen Lehrer Hans Jantzen vermutete. In einer Rede zur Eröffnung der Akademie-Ausstellung am 5. Oktober kündigte er gleiche Maßnahmen für alle anderen deutschen Museen an. Sonst aber geschah vorerst nichts. Die beklemmende Ruhe vor dem Sturm währte volle acht Monate. Als Hanfstaengl aus Rom zurückkehrte, wurden Erd- und Hauptgeschoß des Kronprinzen-Palais ohne viel Aufhebens wieder eröffnet. Im Prinzessinnen-Palais, das ja nur durch den Schwibbbogensaal über der Oberwallstraße vom KronprinzenPalais aus erreicht werden konnte, wurde die Ausstellungsreihe „Deutsche Kunst seit Dürer" — nun, wie erwähnt, unter Mitwirkung von Schöne — mit „Das Sittenbild" fortgesetzt (Dezember 1936/Januar 1937), als ob alles beim alten wäre. Die Ausstellung — die letzte in der Reihe — war schon geschlossen, als ich aus Amerika zurückkam, angefüllt mit großen Eindrücken. Die Betreuung der

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deutschen Wanderausstellung auf ihren weiteren Stationen hatte ich Ernst Holzinger übergeben, der damals Conservator der Bayerischen Staatsgemälde-Sammlungen unter Ernst Buchner war. Aus der lähmenden Stille der nächsten Monate ist wenig zu berichten. Am 1. April trat Hans Mackowsky in den Ruhestand, und Hanfstaengl beantragte im Ministerium, daß Rave in dessen Stelle aufrücken und ich zum Kustos ernannt werden solle. Als ich in der ersten Juni-Hälfte zu einem kurzen Aufenthalt nach Rom fuhr, legte Schöne mir nahe, mit seinem damals dort lebenden Studienfreund Christian Adolf Isermeyer Fühlung zu nehmen. Er wollte ihn als Kandidaten für die Stelle des wissenschaftlichen Hilfsarbeiters in Vorschlag bringen, die frei würde, wenn ich zum Kustos ernannt werden sollte. Isermeyer sei völlig anders als er selbst, aber er halte ihn für sehr geeignet, an der National-Galerie mitzuarbeiten. Tatsächlich ist Isermeyer nach den stürmischen Ereignissen des Jahres 1937 ohne mein Zutun drei Jahre unter der Leitung von Rave tätig gewesen. Schönes Eindruck hatte sich mir bestätigt, aber ich konnte 1938 keinen unmittelbaren Einfluß auf eine solche Stellenbesetzung mehr nehmen. Am 15. Juni kam ich aus Italien zurück. Am 16. wurde meine Ernennung zum Kustos von Hitler und Goering unterschrieben (merkwürdigerweise nicht von Rust), aber die Überreichung der Urkunden an Rave und mich durch Hanfstaengl erfolgte erst am 5. Juli, und das war ausgerechnet der Tag, an dem das KronprinzenPalais endgültig geschlossen wurde. Inzwischen hatten sich nämlich die Verhältnisse weiter zugespitzt. Goebbels hatte am 30. Juni den berüchtigten Erlaß unterschrieben, mit dem er, im Auftrag des Führers, den Präsidenten der Reichskunstkammer Adolf Ziegler ermächtigte, in den öffentlichen Kunstsammlungen Werke der „Verfallskunst" zum Zwecke einer Schand-Ausstellung zu beschlagnahmen. Der Kultusminister Rust, dem der Erlaß — der ja rücksichtslos in seine Kompetenzen eingriff — sofort vorgelegt wurde, wagte keinen Widerspruch. Seine einzige Reaktion war die Schließung des Kronprinzen-Palais am 5. Juli. Seine Mitarbeiter von Staa und von Oppen konnten nichts anderes tun, als die Museen, die moderne Kunst sammelten, im ganzen Reich zu warnen. Da wir keine Möglichkeit hatten, einer gewaltsamen Beschlagnahme von staatseigenen Kunstwerken zu wehren, bemühten wir uns wenigstens die privaten Besitzer, die uns unterstützt hatten, vor Schaden zu bewahren und alle ihre Leihgaben so schnell wie möglich zurückzugeben. Dazu gehörte z. B. die „ZeltbahnMadonna" von Heckel, aber auch anderer Künstler-Besitz, mehrere Werke von Marc und Macke aus der Sammlung Bernhard Koehler, von Paula Modersohn aus der Sammlung des Barons von der Heydt u. s. w. Wir brachten auch den ganzen Besitz des Vereins .Freunde der National-Galerie', von dem damals nur Einzelnes ausgestellt war, aus dem Haus: Picasso, Gris, Braque, Münch, Feininger u. s. w. Da die Kunstwerke nach dem Statut Eigentum des Vereins blieben und der National-Galerie nur als Leihgaben überlassen wurden, behandelten wir sie wie

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Privatbesitz und gaben sie der Thyssen-Bank in Verwahrung, an der Baron Eduard von der Heydt, der Vorsitzende des Vereins, beteiligt war. Wir saßen im Kronprinzen-Palais zusammen wie in einer belagerten Festung. Die gemeinsame Arbeit für die große Ausstellung und die immer stärker werdende Bedrohung von außen hatten bewirkt, daß Rave, Schöne und ich einen fest geschlossenen Kreis um Hanfstaengl bildeten. Dazu gehörten außerhalb des Hauses auch Niels von Holst und vor allem Willy Kurth, Kustos am Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Museen für die neueren Meister, der um die Bestände moderner Kunst in der ihm anvertrauten Sammlung bangte. Am 7. Juli erschien die Beschlagnahme-Kommission im Kronprinzen-Palais. Adolf Ziegler kam in Begleitung eines Vertreters des Kultusministeriums, eines Ministerialdirektors Kummer; des Bibliotheks-Dezernenten (da die Kunstbibliothek ja mitbetroffen war!), des Malers Wolfgang Willrich, der durch sein gemeines und dummes Buch „Reinigung des Kunsttempels" seinen Teil zur Vorbereitung der Aktion beigetragen hatte; des „Reichsbeauftragten für Künstlerische Formgebung", seit dem 30. Januar 1937 auch „Professor", Hans Schweitzer-Mjölnir, eines mäßigen Karikaturenzeichners für nationalsozialistische Blätter, der in Ausübung seines Auftrages den phantasielosen Schmuck der Straße Unter den Linden während der Olympiade entworfen hatte (Transparente mit Ansichten deutscher Städte); eines Herrn Sachse, dessen Funktion uns unbekannt war, und des damaligen Direktors des Essener Folkwang-Museums, Dr. Wolf Graf Baudissin, der eigentlich hier gar nichts zu suchen hatte, sich aber mehr und mehr in den Vordergrund drängte. Hanfstaengl hatte sich geweigert, die Kommission zu empfangen. Als Ziegler trotzdem zu ihm vordrang, sagte er in unserer Gegenwart, bleich vor Wut, mit aller Schärfe, daß er jede Hilfestellung oder gar Beteiligung an der Ausübung des „Scharfrichteramtes" dieser Herren ablehne. Er beauftragte Rave damit, die Kommission zu begleiten. Dieser hat in seiner schon erwähnten Schrift „Kunstdiktatur im Dritten Reich" berichtet, wie das „Femgericht" vor sich ging. Die Kommission hatte vorbereitete Listen, die Wolfgang Willrich aufgestellt hatte, zusammen mit seinem Freund und Helfer Dr. Walter Hansen (einem mehr als fatalen, auch in manchen NSFührungskreisen sehr kritisch betrachteten Hetzer und Schwätzer, dessen unerquickliche Aktivitäten wir seit längerem beobachtet hatten).4 Nach diesen Listen wurden beschlagnahmt Gemälde von Nolde, Rohlfs, Kirchner, Otto Mueller, Heckel, Schmidt-Rottluff, Pechstein, Beckmann, Kokoschka, Hof er, Dix, Macke, Marc, Klee, Feininger, Kandinsky, Oskar Moll, auch drei Werke von Corinth, insgesamt 68 Bilder, dazu 7 Werke der Plastik und 33 Zeichnungen und Aquarelle aus der Handzeichnungen-Sammlung. 4

Er ist übrigens in der Mitte der fünfziger Jahre noch einmal wieder aufgetaucht — als Kunsterzieher im Meldorfer Gymnasium — was Schöne und mich zu einem gemeinsamen und erfolgreichen Protestschreiben an den damaligen Kultusminister von Schleswig-Holstein veranlaßte.

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Einige Werke, die auf den Listen standen, waren unauffindbar, so die Bildnisse von Adolph und Bessie Loos und ein frühes Stilleben von Kok/oscbka, die sich gerade auf einer Kokoschka-Ausstellung in Wien befanden, die „Zeltbahn-Madonna" von Heckel, die dem Künstler zurückgegeben worden war (Abb. 152), und die „Rheinbrücke" von Kirchner, die Schöne, ohne jemanden ins Vertrauen zu ziehen, versteckt hatte, so daß die an sich dienstwilligen Aufseher sie nicht finden konnten (das herrliche Bild befindet sich noch heute in der National-Galerie Berlin (Ost), da es auch der zweiten Beschlagnahme-Aktion im August entgangen ist (Abb. 151). 12 Tage später, am 19. Juli, einen Tag nach der „Großen Deutschen Kunstausstellung" im neuen ,Haus der Deutschen Kunst', wurde in München die Ausstellung „Entartete Kunst" durch Ziegler eröffnet, das wohl für alle Zeiten beschämendste Ereignis in der Geschichte staatlicher ,Kunstpflege', das nie vergessen werden darf. Im Einvernehmen mit dem noch amtierenden Ministerialdirektor von Staa und dem Museumsreferenten von Oppen hatten Hanfstaengl und seine Mitarbeiter Rave, Schöne und ich schon einen Tag nach dem Besuch der BeschlagnahmungsKommission damit begonnen, alle noch nicht entführten modernen Kunstwerke zu magazinieren und die Bildnis-Sammlung im Kronprinzen-Palais aufzubauen, einmal um diesen wichtigen, seit Schardts Tätigkeit 1933 magazinierten Sammlungsbestand, dessen Bedeutung durch die Ausstellung „Große Deutsche" erneut ins Blickfeld gerückt worden war, wieder ständig zugänglich zu machen, vor allem aber natürlich, um das Kronprinzen-Palais durch eine sinnvolle Nutzung der National-Galerie zu erhalten. Es erschien ja in der Tat einleuchtend, gegenüber dem Zeughaus als der Ruhmeshalle preussisch-deutscher Geschichte eine Portraitgalerie bedeutender deutscher Persönlichkeiten zu errichten — für die die zunächst noch nicht ausreichende Sammlung vorerst durch Graphik und Photographien ergänzt werden konnte. Während wir noch mit der Verwirklichung dieses Planes beschäftigt waren, wurde Hanfstaengl beurlaubt (am 26. Juli), und am gleichen Tag trat der Ministerialdirektor Wolf Meinhard von Staa zurück. Einige Tage später folgte die Beurlaubung von Oppens. Als Nachfolger von Staas begann nun Wolf Graf Baudissin seine kurze, für die Zukunft der National-Galerie und für das Ansehen der Berliner Museen insgesamt verhängnisvolle Tätigkeit. Rave, nunmehr stellvertretender Direktor, Schöne und ich hatten die Einordnung der Bildnissammlung gerade abgeschlossen, als Baudissin die sofortige Räumung des Kronprinzen-Palais anordnete, das zunächst „leihweise" der Reichskammer der Bildenden Künste zur Verfügung gestellt wurde, später aber der Akademie der Künste als Ersatz für ihre Räume am Pariser Platz übergeben wurde, die der Generalbauinspektor Albert Speer für seine jeden Maßstab sprengenden Pläne und Modelle für die Neugestaltung Berlins nach Hitlers Vorstellungen beanspruchte. Die Räumung des Kronprinzen-Palais (mit Ausnahme des Festsaal-Flügels mit Handzeichnungensammlung und Bibliothek) begann am 7. August. Daran war ich nicht mehr beteiligt. Baudissin hatte am 4. August einen kommissarischen Direktor

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der National-Galerie ernannt, Kurt Karl Eberlein, dessen Pamphlet „Was ist Deutsch in der Deutschen Kunst?" ich bald nach seinem Erscheinen in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 15. November 1933 sehr scharf zerpflückt hatte 5 , mit dem unerwarteten Erfolg, daß seine damaligen Pläne und Hoffnungen, Leiter einer Berliner Museumsschule zu werden, ein jähes Ende fanden. Eine Zusammenarbeit zwischen Eberlein und mir wäre also schwer möglich gewesen, und sicher gab es für Baudissin auch noch genügend andere Gründe, die gegen mein Verbleiben an der National-Galerie sprachen. Jedenfalls wurde ich am gleichen 4. August „bis auf weiteres" beurlaubt. Schöne, der nach seiner Gewohnheit bis zum Abend in der Bibliothek gearbeitet hatte, rief mich zu später Stunde an, um mir den Inhalt des von Baudissin unterzeichneten „Schnellbriefs", den er geöffnet hatte, mitzuteilen. Am 5. August packte ich meinen Schreibtisch zusammen und verließ das Kronprinzen-Palais, in dem ich zehneinhalb Jahre tätig gewesen war — davon einen Monat als Kustos. Damit endete meine Zusammenarbeit mit Schöne, nicht aber unser freundschaftlicher Kontakt. Rave und Schöne hielten Hanfstaengl und mich über die weiteren Ereignisse im Bereich der National-Galerie auf dem laufenden, und soweit Schöne darin eine Rolle gespielt hat, soll das hier noch mitgeteilt werden. Wenn ich auch selbst nicht dabei war, und die Erinnerung an die mündlichen Berichte nach fast einem halben Jahrhundert etwas vage sind, so habe ich die beste Quelle in Gestalt der Briefe Raves und Schönes an Hanfstaengl, die mir dieser für meinen Jahrbuch-Aufsatz zur Verfügung gestellt hatte, und außerdem eines langen Briefes von Schöne an seinen Lehrer Hans Jantzen, der nach dessen Tod an ihn zurückgelangte. Photokopien dieser Briefe bewahrt heute das Archiv der National-Galerie Berlin (West) zusammen mit anderen Unterlagen über die Ereignisse der Jahre 1936-38. Zwei Tage nach meiner Beurlaubung begann also die Räumung des Kronprinzen-Palais. Rave berichtete, daß Ziegler dort war, um die Räume zu besichtigen, und daß es offenbar möglich sein würde, den Festsaal-Flügel mit HandzeichnungenSammlungen und Bibliothek sowie das Prinzessinnen-Palais vom Hauptgebäude des Kronprinzen-Palais abzutrennen und so der National-Galerie zu erhalten. Im unteren Stockwerk des Prinzessinnen-Palais befand sich noch das Schinkel-Archiv mit Raves und auch Schönes Arbeitszimmern, im Obergeschoß sollte die „Ausländer-Galerie" eingerichtet werden, die tatsächlich im September probeweise hier aufgestellt aber nie eröffnet wurde — so wenig wie Eberlein, dessen Einfall die Aussonderung der außerdeutschen Kunst aus der National-Galerie gewesen war, jemals sein Amt als kommissarischer Direktor angetreten hat. Baudissin hatte übrigens diesen Plan ins Abstruse erweitert, indem er verlangte, auch Liebermann solle in die Ausländer-Galerie eingeordnet werden. 5

wie später übrigens auch mein verehrter Lehrer Wilhelm Pinder, Zeitschrift für Kunstgeschichte II, 1933, S. 4 0 5 - 4 0 7 .

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Am 13. August erschien die zweite Beschlagnahmungs-Kommission im Kronprinzen-Palais und wurde von Rave und Schöne ins Stammgebäude der NationalGalerie auf der Museumsinsel begleitet, wohin die wichtigsten Gemälde und Skulpturen bereits verbracht worden waren. Diesmal sollte ganze Arbeit geleistet und alle entarteten Kunstwerke beschlagnahmt werden. Die von Ziegler auf Befehl Hitlers ernannte Kommission bestand aus vier Herren: 1. Dr. Franz Hofmann, ehemals Münchner Kunstkritiker des „Völkischen Beobachter", seit 1934 Nachfolger Hanfstaengls als Direktor der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, 2. Prof. Emil Stahl, Maler und seit 1933 Direktor der Städtischen Galerie in Nürnberg, der schon gleich nach seinem Amtsantritt als einer der ersten eine „Schreckenskammer der Kunst" eingerichtet hatte, 3. Gustav Adolf Engelhardt, ebenfalls Maler und Parteigenosse, sonst unbekannt und 4. Carl Meder, Berliner Kunsthändler und Sachbearbeiter der Abteilung Kunsthandlungen in der Kammer, in dessen Firma Eberlein eine Zeitlang tätig gewesen und offenbar mit Krach ausgeschieden war. „Das Niveau dieser Herren, unter denen sich Hofmann und Stahl führend beteiligten, war unglaublich t i e f . . . " schrieb Schöne am 24. August an Hans Jantzen über die Kommission, und an Hanfstaengl berichtet er am gleichen Tag ausführlich, was in den insgesamt vier Tagen ihrer Tätigkeit in der National-Galerie, in der Handzeichnungen-Sammlung und im Kupferstich-Kabinett geschah. Die eigentlichen Erreger des Anstoßes, die sog. „Expressionisten" hatte die erste .Säuberung' am 7. Juli ja schon größtenteils erfaßt. So beschlagnahmte diese Kommission am ersten Tag zunächst grundsätzlich alles, was etwas ,impressionistisch', d. h. mit lockeren Pinselzügen gemalt war, wie z. B. zwei Landschaften und Stilleben von Slevogt, bis am nächsten Tag Ziegler erschien und „mäßigende Richtlinien gab, denen zufolge eine größere Anzahl von Bildern wieder frei gegeben wurde". Hofmann betonte später, daß die Kommission sehr großzügig sei und daß Hitler selbst sehr viel strenger urteilen würde. Auch Ziegler hatte als Mitglied der ersten (später von Hitler durch den Photographen, Reichsbildberichterstatter Heinrich Hoffmann abgelösten) Jury für die Eröffnungsausstellung im Haus der Deutschen Kunst seine Erfahrungen mit Hitler gemacht. „Er (Ziegler) sagte vor Landschaften von Slevogt, die Bilder, derentwegen er in München die Zigarre bekommen habe, seien viel viel harmloser gewesen als diese Slevogts" (Schöne). Grotesk waren die Betrachtungen von Hofmann über Corinth, dessen InntalLandschaft von 1910 (Abb. 153) ihm als ein typisches Beispiel dafür galt, „wie in einem Bild Genialität und Verfall zusammentreffen können" (genial ist die Landschaft, Verfall der Himmel!). Nach Hofmann hat „der seelische Verfall bei Corinth schon lange vor dem ersten Schlaganfall begonnen". So sollte über Beschlagnahme oder Verbleib des großen Gruppenbildnisses der „Familie R u m p f von 1901 (Abb. 154), aber auch des „Zitronen-Stillebens" von Slevogt von 1926, der Führer persönlich entscheiden, und man forderte die Einsendung von Photographien, um sie ihm vorzulegen (wie es zu Zeiten Kaiser Wilhelms II. seit 1898 bei jedem geplanten Ankauf für die National-Galerie erforderlich gewesen war). Rave und

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Schöne „vergaßen" aber diesen, nur mündlich gegebenen Auftrag, und die beiden Bilder blieben verschont. Am Nachmittag des zweiten Tages wirkte die Kommission in der Handzeichnungen-Sammlung, wo sie zunächst nach den Karteikarten auswählte, was sie vorgelegt haben wollte — wobei sie wohl mancherlei übersah. Darum kam sie am vierten Tag noch einmal hierher, um nach neuen Weisungen Kasten für Kasten und auch das zunächst vergessene Depot durchzusehen. Schöne war enttäuscht darüber, daß die Aufseher mit größtem Eifer bemüht waren, alles heranzuschleppen, auch ja nichts zu übersehen — auch wenn es sich um Bestände handelte, die zu betreuen sie vor kurzem noch stolz gewesen waren. Die von Rave und Schöne verfolgte Taktik, den Herren möglichst viel möglichst schnell vorzulegen, um sie zu ermüden, war dennoch in vielen Fällen erfolgreich. Am dritten Tag wurde das Kupferstich-Kabinett durchgekämmt und Rave und Schöne waren auch hier dabei, obwohl diese Sammlung dem Generaldirektor unterstand und mit der National-Galerie nichts zu tun hatte. Sie versuchten mit Erfolg Direktor Friedrich Winkler zu bewegen, die gleiche Taktik anzuwenden, die sie bei den Zeichnungen erprobt hatten, und durch ihr Dabeisein auch den Kustos für die moderne Abteilung, Willy Kurth, der mit Winkler auf schlechtem Fuß stand, zu unterstützen. Schöne berichtet, daß die Kommission in 2 bis 21/2 Stunden etwa 2000 Blätter durchgesehen habe, sodaß die Herren zuletzt ganz verwirrt waren. Rave hat in seinem Buch „Kunstdiktatur im Dritten Reich" eine Liste der im Jahre 1937 in Berlin beschlagnahmten Kunstwerke veröffentlicht und darin die Gesamtzahlen genannt: 164 Gemälde (davon 68 am 7. 7.), 27 Bildwerke (davon 7 am 7. 7.), 326 Handzeichnungen und Aquarelle (davon 33 am 7. 7.) und 615 druckgraphische Blätter aus dem Kupferstichkabinett, das von der ersten Kommission gar nicht heimgesucht worden war. Von den Kunstwerken aus der National-Galerie waren gleich Listen angelegt worden, die einen Austausch völlig unmöglich machten, aber im KupferstichKabinett waren die beschlagnahmten Drucke nur gezählt worden, und das gab Kurth, der Schöne dabei zu Hilfe zog, die Möglichkeit, viele der wertvollsten Blätter nach Abzug der Kommission gegen weniger bedeutende auszuwechseln. Dazu wartete er, bis die Kommission mit der Ankündigung, die 615 Blätter würden am nächsten Tag von dem Spediteur Knauer abgeholt, das Haus verlassen hatte, und nach ihr auch Winkler, Rave, die anderen Assistenten des Kupferstichkabinetts und die Aufseher. Schöne gab er einen Wink, noch da zu bleiben, weil er für das, was er vorhatte, einen vertrauenswürdigen Zeugen haben mußte. Die Auswechslung hat der Sammlung moderner Graphik im Kupferstichkabinett viele wichtige Blätter gerettet. Natürlich durfte niemand davon wissen, vor allem Winkler nicht. Mir haben beide vertraulich von ihrer mutigen Tat erzählt. Hans Möhle, Direktor des Kupferstichkabinetts nach dem Krieg, hat im Jahrbuch Preussischer Kulturbesitz V, 1967, S. 82, und ich im gleichen Jahrbuch VII, 1970, S. 39, darüber berichtet.

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In dem Brief an Hanfstaengl vom 24. August schreibt Schöne nur, nachdem er sich über die Charakterschwäche einiger älteren Kollegen ausgelassen hat: „Es ist aber schön, dazwischen auch Menschen zu treffen, die auch in schwierigen Augenblicken sich selbst treu bleiben. So Professor Kurth, der alles getan hat, was er nur tun konnte, und mit dem zusammenzuarbeiten eine Freude war. Näheres mündlich." In dem langen Brief an Jantzen vom gleichen Tag äußert er sich eindringlicher über seine menschlichen Erfahrungen in dieser gespannten Situation: „Ich hätte nie gedacht, daß man in kurzer Zeit so außerordentlich an Menschenkenntnis gewinnen könnte, wie es bei mir in den letzten beiden Monaten gewesen ist. Ich buche das als großen Gewinn. Daß meine Achtung vor den Menschen gestiegen sei, kann ich leider nicht sagen. Es gibt nur ganz wenige, die fest stehen, und auf die man sich verlassen kann. Zu ihnen gehört Hanfstaengl im absoluten Sinne, dann Prof. Kurth vom Kupferstichkabinett und meine Kollegen hier an der Galerie. Die außerordentlichen Ereignisse haben viele Schranken zwischen uns hier eingerissen, ich habe gesehen, daß über alle wissenschaftliche Mehr- oder WenigerLeistung hinaus der Charakter eines Menschen das eigentlich Wesentliche ist, und daß wissenschaftliche Leistung und Charakter leider häufig nicht so zusammengehen, wie es sein sollte. Der Nationalsozialismus hat mit seiner Forderung, daß der wissenschaftliche Mensch am Leben seiner Zeit tätigen Anteil nehmen sollte, unbedingt recht, wir sind eben in solch einer Lage. Man sollte doch denken, daß der Abgang Hanfstaengls aus den Museen nur ein einziges Echo fände, nämlich ein unbedingtes Solidaritätsgefühl. Dem ist aber nicht so, sondern jeder bangt um sich, und mancher möchte möglichst viel von der National-Galerie für sich erbeuten. Andere entziehen sich der Aufgabe. Der Generaldirektor Kümmel ist 2 Tage, nachdem die Kommission hier war, für längere Zeit nach Japan gefahren, etwas wofür ich vergeblich nach einer Entschuldigung suche." Ziegler hatte auf Grund des ihm von Hitler persönlich erteilten Befehls, alle öffentlichen Sammlungen zu säubern, gleich drei Kommisssonen ernannt, um die Aktion möglichst schnell zu Ende zu bringen. Diese zogen nun von Stadt zu Stadt, von Museum zu Museum und ihre ,Beute' wurde zunächst in den Depoträumen der Firma Knauer in Berlin gesammelt, später in einem Lagerhaus in der Köpenicker Straße 24 a im Osten der Stadt untergebracht. Hier kann uns die lange Geschichte der ,Verwertung' der beschlagnahmten Kunstwerke durch die berüchtigte Auktion in Luzern und durch freihändigen Verkauf über eine Reihe von Kunsthändlern ins Ausland gegen Devisen im Einzelnen nicht mehr beschäftigen. Rave und ich haben in den erwähnten Schriften eingehend darüber gehandelt6. Es soll nur noch einmal daran erinnert werden, daß tatsächlich die ,nicht verwertbaren' Werke am 20. März 1939 — insbesondere auf Betreiben von Franz Hofmann, der ins Propaganda6

siehe auch: J. Wulf, Die bildenden Künste im Dritten Reich, Gütersloh, 1963; rororo-Taschenbuchausgabe 1966.

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Ministerium übernommen worden war — im Hof der Hauptfeuerwache Berlin, die sich in der Nähe des Lagerhauses, ebenfalls in der Köpenicker Straße befand, verbrannt worden sind: 1004 Gemälde und Skulpturen, 3825 Aquarelle, Zeichnungen und druckgraphische Blätter. Die Zahlen stammen aus der Schrift von Rave, der bei der Abfassung noch Zugang zu den von den Russen beschlagnahmten Akten des Propaganda-Ministeriums hatte. Man hat diesen ungeheuerlichen Vorgang mit den Bücherverbrennungen verglichen, deren erste am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz in Berlin stattgefunden hatte. Die Motive mögen wohl vergleichbar sein, aber die Verbrennung eines Buches, das in Auflagen von tausenden von Exemplaren existiert, ist schließlich nur eine symbolische Geste, löscht es nicht aus, kann es nicht auslöschen. Wenn man Reproduktionen .entarteter' Kunstwerke öffentlich verbrannt hätte, wäre das ein vergleichbarer symbolischer Akt gewesen. Aber man verbrannte OriginalKunstwerke, die (mit Ausnahme der Druckgraphik) nur einmal existierten, man vernichtete sie, löschte sie aus und man tat es heimlich, scheute die Öffentlichkeit; das ist etwas grundsätzlich anderes, das sehr viel schwerer wiegt. Es schmeckt nach einer geplanten ,Endlösung' im Felde der neuen Kunst. Aber zurück zu den Ereignissen des Spätsommers 1937. Eberleins Gedanke einer Ausländer-Galerie sollte nun doch noch — wenn auch zunächst nur probeweise — verwirklicht werden. Rave und Schöne ließen die Gemälde und plastischen Werke der ausländischen Künstler, vor allem der Franzosen, aus der National-Galerie ins Prinzessinnen-Palais bringen und berieten sich brieflich mit Hanfstaengl, wie die hier frei werdenden Räume sinnvoll mit anderen Werken zu füllen wären, ohne die neue Ordnung des Ganzen zu stören. Dazu holte man aber auch Werke moderner Meister, die vorher im Kronprinzen-Palais gehangen hatten und bis dahin bei der Beschlagnahme ausgespart worden waren: van Gogh, Münch, die jungen Skandinavier, die Italiener u. s. w. Als sie glaubten, eine vertretbare Hängung gefunden zu haben, kam Baudissin, um sich das anzusehen. Den lebendigen und anschaulichen Bericht Schönes über diesen Besuch in seinem Brief vom 17. September 1937 habe ich schon auszugsweise in meinem Jahrbuch-Aufsatz abgedruckt. Er soll aber hier in extenso noch einmal Platz finden, um die veränderte Atmosphäre in den Berliner Museen und in ihrem Verhältnis zum Ministerium erkennbar werden zu lassen und — ein wenig auch — um nach den Tragödien dem Satyrspiel seinen Platz einzuräumen. „Berlin, den 17. IX. 37 Hochverehrter lieber Herr Direktor, bevor Sie nach Paris fahren, sollen Sie noch den Bericht über die letzten Ereignisse bekommen, den ich ja über die Grenzen schlecht schicken kann. Vorgestern Mittag war der Graf bei uns, um die Ausländergalerie zu besichtigen. Er hat sich nach jeder Seite hin wenig angenehm betragen (ich brauche einen sehr milden Ausdruck). Die Hand in der Hosentasche, den Herbstmantel über die Schulter

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geworfen, die kalte Zigarre im Munde, — so hat er in den von uns mit Sorgfalt und Hingebung geordneten Museumsräumen mit Rave gesprochen. Positives und Anerkennendes hat er überhaupt nicht gesagt, nur räsonniert. Die Tänzerin von Degas (Bronze), den Modigliani, den Schelfhout, den Lucas, den de la Serna u. a. hat er wegnehmen lassen. Anderes muß umgehängt werden, so ,Das Liebespaar' von van Gogh zwischen zwei Fenster an eine dunkle Wand, die Friesbilder von Münch als Friese ganz oben an die Decke etc. Alle seiner Ansicht nach notwendigen Änderungen hat er aber nicht etwa mit uns besprochen, sie auch nicht begründet, sondern alles von oben herab in einem wenig feinen Ton angeordnet. Vor den Aufsehern zu Rave gesagt: „das kostet Ihren K o p f etc. Am schlimmsten finde ich, daß er befohlen hat, Liebermann dazu zu hängen. „Wenn das Ausland ihn nicht haben will, soll es das sagen". Wir haben etwas dagegen geredet, er konnte aber keinerlei Einwand ertragen. Ich halte es im Grunde eines Deutschen Museumsdirektors für unwürdig, Liebermann zu den Ausländern zu hängen, und würde es ohne schriftlichen Befehl nicht tun; dann lieber gar nicht. Munkascy hielt der Graf ebenfalls für einen Juden, wir widersprachen, die anschließende Diskussion, bei der wir Philo-Lexikon und Thieme-Becker zur Hand nahmen, war grotesk. Sie schloß damit, daß der Graf feststellte: „er ist Jude, sagen Sie, ich hätte es so bestimmt." ... Das Gesamtergebnis seines Besuches: Die angeordneten Änderungen sind auszuführen, alsdann will er noch einmal kommen. Die ganze Sache sei vorläufig eine völlig interne Angelegenheit. Über die Öffnung der Galerie scheint — wie über alles andere — noch völlige Unklarheit zu bestehen. Für uns bleibt schmerzlich besonders, daß die Galerie jetzt ein Gesicht erhalten wird, das unserem Willen nicht entspricht. Sie dürfen nicht denken, daß nur ich so über den Besuch denke, auch Rave denkt genau so; er war hinterher auch ganz erschüttert. Man mag zugeben können, daß das Verhalten des Grafen innerer Unsicherheit und äußerer Unsicherheit entspringt, aber ein anständiger Mann hat eine andere Haltung. In der seinen kam das zum Ausdruck, was heute ja überall gefordert wird: Kadavergehorsam bis zum Letzten; das wollte er ja auch bei uns sehen. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob ich ihm nicht Feuer geben dürfe." ... Baudissin, dessen innere (und äußere) Unsicherheit der scharf beobachtende Schöne in diesem Brief bereits anmerkte, machte in seiner nicht ganz neun Monate währenden Ministerialdirektorialen Tätigkeit noch viele andere Fehler und Dummheiten. Die Berufung von Eberlein, auf den gleich von allen Seiten geschossen wurde, war eine der ersten gewesen, die Zuziehung von Wolfgang Willrich als Berater war eine nicht geringere, die ihm bald verleidet wurde, als irgendwer herausfand, dieser sei ,Ludendorffianer' (was damals als eine sehr schlimme ,Abweichung' galt). Aber dessen nicht minder üblen Freund Walter Hansen, der in scharfem Gegensatz zu ,Reichsleiter' Alfred Rosenberg, dem „Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP" stand, und dem der ,Reichsstatthalter von Hamburg' Karl Kaufmann in einem Brief

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an Minister Rust „jeden Funken anständiger Gesinnung" absprach, beschäftigte er gleichwohl innerhalb der Staatlichen Museen mit obskuren Aufträgen, wies ihm dort ein Dienstzimmer an und ließ ihn während einer ,Museumstagung' vom 2 3 . - 2 5 . November 1937 ein skandalöses Referat halten, über dessen Resonnanz und museumspolitische Folgen bei Rave und in meinem Jahrbuch-Aufsatz nachgelesen werden mag. Anfang 1938 hielt derselbe Hansen einen Vortrag in der LessingHochschule über „Fragen der Gegenwartskunst", den Schöne mehrfach durch Zwischenrufe unterbrach. Darauf zitierte ihn Baudissin einige Tage später ins Ministerium, um ihm zu erklären, daß er in diesem Staate nichts werden könne, wenn er seine künstlerischen Uberzeugungen nicht ändere. Schöne erhob sich nach dieser Eröffnung kurz, um zu gehen, und verließ einige Monate später die NationalGalerie und Berlin, um sich mit einem Stipendium der „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft" auf seine Habilitation vorzubereiten. Wenige Zeit später, am 21. April 1938, führten die sich häufenden Widerstände gegen diesen Ministerialdirektor zu seiner Beurlaubung. Mit ihm verschwanden Eberlein und Hansen von der Berliner Bühne. Schöne hatte seinen oben zitierten Brief an Hanfstaengl vom 17. September 1937 mit dem Satz abgeschlossen: „Etwas Schönes haben die letzten Monate doch gebracht: sie haben uns alle noch näher miteinander verbunden. Man wird das nicht vergessen."

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Museumsarchitektur in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945* Die emotionellen Grundsatzdebatten der späten Sechziger und der Siebziger Jahre um die gesellschafts- und bildungspolitischen Aufgaben des Museums — ob der Kontemplation geweihtes elitäres Schatzhaus der Kunst oder Lernort für das Volk — sind in jüngster Zeit abgelöst worden von ebenso grundsätzlich gemeinten Auseinandersetzungen über die äußere und die innere Gestalt des Museumsgebäudes. Auf der einen Seite stehen die Verfechter des unterschiedlich nutzbaren, des flexiblen Museumsraumes, der — etwa nach den Worten des Künstlers Günther Uecker — eine Werkhalle sein sollte, ein Optimum an wettergeschütztem Raum ohne Rahmen, ohne Environment, als möglichst störungsfreier Ort für die Begegnung des Menschen mit dem Kunstwerk. In diesem Sinne hatte sich 1955 auch Walter Gropius geäußert: „Die verschiedenen Hauptabteilungen eines Museums sollten als neutrale, mit unveränderbaren Wänden umschlossene Räume angelegt werden. Dagegen sollte sich innerhalb dieser die Raumordnung den jeweiligen Erfordernissen anpassen können." Auf der anderen Seite stehen die Verfechter der Architektur als Kunst, des Museumsgebäudes als eines eigenständigen architektonischen Kunstwerkes von innen und von außen: „Das Museum als Ausstellungsgegenstand" überschrieb Wolfgang Pehnt seinen Bericht über James Sterling's Stuttgarter Staatsgalerie in der „Kunstchronik" (1984). Den Anspruch, das Museum als ein architektonisches Kunstwerk zu entwerfen, hat am deutlichsten Josef P. Kleihues bei den Dortmunder Architekturtagen 1979 formuliert; und er wurde viel zitiert: „Für den Architekten stellt die Planung von Museen so etwas wie einen letzten Freiraum für die Übung des Entwerfens mit künstlerischen Ambitionen' dar ... Museumsarchitektur wird nicht besser, wenn sie vom Künstlerischen abschwört, wie Architektur nicht besser wird, wenn sie auf Widerspruch verzichtet. Die Nötigung, zum Äußersten zu gehen, im Sinne von Adorno bleibt: ,Gemäßigte Moderne ist in sich kontradiktorisch, weil sie die ästhetische Rationalität bremst'." Die Nachkriegs-Museumsarchitektur in Deutschland bietet Beispiele für beide Extreme aber auch für weniger radikale Lösungen. Drei Prämissen zunächst: 1

Museumsarchitektur ist international, zumal die deutsche. Im 19. Jahrhundert waren wir vor allem die Gebenden: Klenze baute in München und Leningrad und entwarf einen Museumsbau für Athen. Stühler, der Architekt der Nationalgalerie und des Neuen * Erweiterte und veränderte Fassung eines Plenarvortrages anläßlich des Kunsthistoriker-Tages 1984 in Stuttgart. Literatur in dem Beitrag von Peter J. Tange „Museologie und Architektur. Neuer Museumsbau in Deutschland" in: Dortmunder Architekturhefte No. 15, Dortmund 1979 o. S. Zitate nach diesem Beitrag.

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Museums auf der Berliner Spree-Insel, ist auch verantwortlich für das Stockholmer Nationalmuseum. Semper baute in Dresden und in Wien, und Schinkels Altes Museum wurde zum Museums-Vorbild weltweit. Im zwanzigsten Jahrhundert dagegen bauten bei uns die emigrierten großen Bauhaus-Architekten Gropius und Mies van der Rohe und dessen ehemaliger Partner Philip Johnson. Die deutschen Kunsthistoriker tagten 1984 in einem Bau des Briten James Sterling. Das besonders viel diskutierte Museum in Mönchengladbach hat der Österreicher Hans Hollein entworfen, das Frankfurter Kunstgewerbemuseum der Amerikaner Richard Meier. Museumsarchitektur muß auf die Sammlung, deren Geschichte, die zukünftige Entwicklung, auf die Dienstleistungs-Funktion des Museums für eine ganz bestimmte Öffentlichkeit Rücksicht nehmen. Der Museumsdirektor als Bauherr und der Architekt müssen eine Gemeinschaft bilden. Das Museum sollte, wie Johannes Kladders es formuliert hat, als geistiges „Kind einer Ehe zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer" entstehen. Museumsarchitektur ist standortabhängig. Dies besagt nicht nur, daß Museen städtebauliche Akzente zu setzen haben, sondern daß der gestalterischen Freiheit des entwerfenden Architekten auch durch regionale und überregionale Planung, Bürgerbeteiligung und kulturpolitische Vorgaben Schranken gesetzt werden. Die städtebauliche Situation am Abteiberg von Mönchengladbach z. B. war entscheidend für die äußere Gestalt des Museums, seiner Reispflanzungen nachempfundenen terrassenförmigen Hanglage. In der Baden-Württembergischen Staatsgalerie in der Landeshauptstadt Stuttgart stellt sich auch der Anspruch eines höchst kulturbewußten, vorwärtsgerichtet kunstsammelnden deutschen Teilstaates dar. Die Münchener Neue Pinakothek in einer besonders traditionsbewußten Region der Bundesrepublik und in traditioneller städtebaulicher Situation ist für eine kaum noch sich verändernde staatliche Sammlung von Malerei des 19. Jahrhunderts bestimmt. Die fast vollendete Kölner Museumsarchitektur-Landschaft zwischen Dom und Rhein ist ebensosehr unter städtebaulichen wie sammlungspolitischen Gesichtspunkten zu beurteilen. Der Standort des Berliner „Kulturforums" nahe der Mauer wurde auch von Deutschland- und Berlin-politischen Motiven bestimmt.

Auch die neue Museumsarchitektur, und keineswegs nur die deutsche, beruft sich auf Vorbilder der Baugeschichte: Schinkels Berliner Museum hat Einfluß gehabt auf so grundsätzlich verschiedene Bauten wie die Berliner Nationalgalerie und die Stuttgarter Staatsgalerie. Die klassische Einfachheit des Kubus mit dem vorgelagerten Säulen-Portikus über Stufen meinte Mies van der Rohe, die Rotunde meinte James Sterling. Die architekturgeschichtlichen Ahnen für Schinkels Kuppelsaal, den „würdigen Mittelpunkt" des Museums, „der das Heiligtum sein muß, in dem das Kostbarste bewahrt und noch unterstrichen wird" (Schinkel) sind bekannt: das antike Pantheon in Rom, der Kuppelsaal des Museo Pio Clementino im Vatikan von Simonetti und Camporesi, zwischen 1733 und 1780 entstanden, und dann vor allem die MuseumsIdealentwürfe der französischen Revolutionsarchitektur eines Louis Etienne Boullée, welche z. B. in dem „Précis d'Architecture" von Jean Nicolas Louis Durand 1803 weite Publizität erhielten: ein Gebäude auf quadratischem Grundriß mit vorgelagerter Säulenhalle und kreisrundem kassettiertem Tempel in der Mitte. Schinkels Berliner Museums-Tempel seinerseits hat ungezählte Nachfolger gehabt, insbesondere in den Vereinigten Staaten, z. B. die erst 1941 vollendete National Gallery in Washington. Alles dort ist allerdings gigantisch überhöht und verfremdet:

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außen der hohe Sockel und die gewaltige Tempelfront, innen im Zentrum der Rotunde ein trivial plätschernder Springbrunnen. Die Nischen des Schinkelschen „Pantheon" sind zu Durchgängen aufgebrochen. Von dort her zu Sterlings — wie Pehnt formulierte — offenem Hohlzylinder, dem Negativraum als „ruinöse Erinnerung an das verlorengegangene Zentrum" ist allerdings nur ein konsequenter Schritt, ein Schritt zurück zu pathetischem Ausdruck und architektonischer Würde, aber auch zu befremdlicher Unnahbarkeit. Das andere Vorbild, Schinkels Tempelfront — man könnte ebenso auch Klenzes gleichzeitige Glyptothek zitieren oder Robert Smirkes Londoner Britisches Museum —, der architektonische Topos der Säulenfassade oder -vorhalle, geht zurück auf das typenbildende Sammlungs- und Bibliotheksgebäude „Museum Friderizianum" in Kassel von Simon Louis du Ry (1769/70). Im Zwanzigsten Jahrhundert und in Deutschland ist die Patenschaft von Schinkels Museum für zwei höchst unterschiedliche Bauten in Anspruch genommen worden: Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie in Berlin, 1968 eröffnet, zeigt in der Tat mit der eindrucksvollen Attika auf schlanken Pfeilern, mit der Graphik der Fenstersprossen, mit der klaren Geometrie des Baukörpers und seiner klassizistischen Einfachheit ästhetische Elemente, die an Schinkel gemahnen. Philip Johnsons Bielefelder Kunsthalle, ebenfalls von 1968, hat trotz der säulenartigen Stützen in der blockhaften, ja abwehrenden Geschlossenheit des Baukörpers mit dem Berliner Alten Museum nichts zu tun, mag auch immer der Architekt sich auf Schinkel berufen. Die kubische Masse hat eher etwas von den Urformen der Architekturphantasien eines Boullee. Sterlings Stuttgarter Rotunde ist museal funktionslos — leerer, architektonisch ausdrucksstarker, ja erdrückender Hohlkörper, nur gelegentlich von Passanten belebt, die den wenig attraktiven Hangweg von der Oberstadt her durch das Museum zum Schloßgarten gefunden haben. Neben und gleichzeitig mit dem bauikonographischen Typus des Museumstempels hat das neunzehnte Jahrhundert aber für die Bauaufgabe „Museum" noch einen zweiten Prototyp geschaffen: Er ist aus der Palastarchitektur der italienischen Renaissance und des Barock abgeleitet. Das „klassische" Beispiel ist Klenzes Münchener Alte Pinakothek (1826 — 36), die ihre äußeren Formen der italienischen Hochrenaissance, etwa dem Palazzo Pitti in Florenz, entlehnte. Es gibt keine zentrale pathetische Rotunde, sondern eine geniale Folge von Oberlicht-Sälen und Kabinetten, keinen Zwangsweg, sondern eine Enfilade regelmäßiger Räume, und im Süden eine Loggia, von der aus jeder einzelne der Säle erreicht werden konnte. Der von Klenze erfundene „Museums-Palazzo" fand unmittelbare Nachfolge in Sempers neo-barocken Museen für Dresden und Wien und ist durch die Entscheidung für Oberlicht bei den Sälen mit großformatigen Gemälden und dem Seitenlicht bei den Kabinetten für die kleineren Formate bis heute vorbildlich geblieben. Selbstverständlich gab es eine Vielzahl von Kombinationen und Abwandlungen dieser beiden grundsätzlichen Museums-Prototypen Tempel und Palast. Das Berli-

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ner Kunstgewerbemuseum von Martin Gropius (1877 — 1881) z. B. ist äußerlich reine italianisierende Palastarchitektur, ordnet aber die Ausstellungsräume um einen zentralen inneren Lichthof mit kreuzgangartigem Umgang und einem architektonischen Anspruch, der Schinkels zentrale Rotunde in Erinnerung ruft. Zugleich ist hier an architektonisch wichtigster Stelle ein repräsentativer Raum für wechselnde Ausstellungen entstanden. An diesem Beispiel eines Kunstgewerbemuseums, das mit einer Unterrichtsanstalt verbunden war, und zur Hebung des Geschmacks und der Entwicklung des Handwerks beitragen sollte, kündigt sich bereits ein dritter Museums-Bautypus an, das Ausstellungshaus für wechselnden Bestand und unterschiedliche Anlässe. Für den Kunst-Ausstellungs-Betrieb waren zunächst die Akademien mit ihren bescheidenen Kabinetten zuständig gewesen, ohne daß sich daraus architektonische Konsequenzen ergeben mußten. Erst im Zusammenhang mit den universalen und internationalen Industrie- und Gewerbe-Ausstellungen entwickelte sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine Hallen- und „Glaspalast"Architektur, die erheblichen Einfluß auf den Museumsbau des zwanzigsten Jahrhunderts gehabt hat. Manche Elemente des modernen Museumsbaus, das Shed-Dach, die flexiblen Stellwand-Systeme, die Spotlights und ganz allgemein das Kunstlicht als alleinige Lichtquelle entstammen dem Repertoire der Ausstellungsarchitekten. Schnell wachsende und schnell sich verändernde Sammlungen, kurzfristigere Wandlungen des Zeitgeschmacks, das immer wichtigere und publikumswirksame Ausstellungswesen verlangten nach veränderbaren Schauräumen, nach einem ganz und gar flexiblen Museumsgebäude. Corbusier's wachsendes Museum (1929), das flexible Kunstmuseum von Newark in den USA (1926), das Museum für eine kleine Stadt von Mies van der Rohe (1942) etwa entsprachen deshalb nicht nur dem neuen Funktionalismus, den 1901 Louis Sullivan gefordert hatte: „form follows function", sondern sollten auch aktuelle Raumprobleme des Museums lösen helfen. Die Pathos-Formeln von „Tempel" und „Palast" schienen obsolet. Noch 1976 in seinem Buch „A history of building types" urteilte Nikolaus Pevsner über die Museumsarchitektur des zwanzigsten Jahrhunderts: „In fact no new principles have turned up, except that the ideal of a museum as a monument in its own right has been replaced by the ideal of a museum as a perfect place to show, enjoy and study works of art." — Er hatte, wie wir heute wissen, nur sehr bedingt recht. In Deutschland und nach 1945 ist die Forderung nach Flexibilität am radikalsten in Manfred Lehmbrucks Museum in Duisburg (Entwurf 1957/59) verwirklicht worden. Lehmbruck hatte die Aufgabe, einen „inszenierten" Museumsbau für die ständige Ausstellung der Werke seines Vaters einerseits und ein Gebäude für wechselnde Nutzung andererseits miteinander zu verbinden. Der dynamische Bauteil, für Wechselausstellungen bestimmt, ist in der Tat das Nonplusultra an Flexibilität: Lehmbruck schuf einen an Bindern aufgehängten, von allen Seiten belichtbaren Baukörper, eine „Großvitrine", die bestimmt war, dem Aussteller alle nur erdenk-

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liehen Gestaltungsmöglichkeiten an2ubieten und die unterschiedlichsten Kunstwerke „ins rechte Licht" zu rücken. Mies van der Rohes zunächst ähnlich flexibel erscheinende Ausstellungshalle im oberen Geschoß der Berliner Nationalgalerie ist nicht mehr und auch nicht weniger als ein klimageschützter Ausschnitt der granitgepflasterten Piazza, auf der dieser Stahl-Glas-Bau aufgesetzt erscheint. Das Rastersystem strenger Proportionalität, für jedermann spürbare stereometrische Volumina schränken jedoch die Flexibilität ein. Man kann bei ausstellungsnotwendiger Raumgliederung sich nur entweder dem Raster unterordnen oder gewaltsam und spürbar gegen ihn angehen. Im Prinzip aber ähneln sich in Berlin und in Duisburg die Lösungen wie die Zweckbestimmung, denn auch von Mies war ein flexibler Raum für wechselnde Ausstellungen und ein statischer Bereich für die ständige Sammlung zunächst noch der Berliner Galerie des zwanzigsten Jahrhunderts, die später mit der Nationalgalerie vereinigt wurde, gefordert worden. Mies löste die Aufgabe durch das mit Kunstlicht erhellte Museumsgeschoß im Sockel und die „Ausstellungsvitrine" auf der Piazza. Was aber den Bau von Mies von dem Lehmbrucks grundsätzlich unterscheidet, ist der ästhetische Anspruch: Pathosformel mit Berufung auf Schinkels Altes Museum in Berlin, architektonisch bewußt einfache Ausstellungsmaschinerie, durch die Gestalt und das Material veredelte Fabrikhalle in Duisburg. Von den Beispielen zurück zu Grundsätzlichem. Volker Plagemann hat in der Museums-Architekturgeschichte eine entscheidende Zäsur um 1870 erkannt: „Mit der Einheit von ausgestellten Kunstwerken, Gebäude und bildnerischem Schmuck zerfiel auch der Monumentcharakter des Museums". Es blieb — so Plagemann — nach 1870 nur der Charakter des Museums als Sammlungsmagazin, als Ausstellungsgebäude, als Erziehungsinstitution. Plagemann zitiert aus Dürrns Handbuch der Architektur von 1893: „Die Gebäude, in denen ... [Kunstwerke, Kostbarkeiten und Merkwürdigkeiten aller Art] gesammelt, geordnet und aufbewahrt werden und die dazu bestimmt sind, sie dem Verständnis aller Kreise der Mit- und Nachwelt zugängig zu machen, heißen Museen ... Sie sind unentbehrliche Anstalten in Staat und Gemeinwesen sowohl zu Zwecken der Belehrung und allgemeinen Bildung des Volkes, als zur Förderung ernsten Studiums des Gelehrten und Künstlers". — Der Verzicht auf Museumsarchitektur als Baukunst ist Lehrsatz der Architekturtheorie geworden. Immer weniger wurde demzufolge von der Museumsarchitektur eine Demonstration kulturellen Geltungsanspruches erwartet, immer größere Bedeutung gewann die intensive Auseinandersetzung mit den technischen und funktionellen Problemen des Museumsbetriebes. Zumindest theoretisch wurde in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts der Weg zu ganz neuen, ganz anderen Lösungen der Bauaufgabe „Museum" möglich. Einen „international style" nach Art der Raster-Architektur für Wohnund Geschäftsbauten hat es in der Museums-Baugeschichte dennoch nicht eigentlich gegeben. Wohl aber versuchte man sich mit dem architektonischen „Understate-

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ment" — das Museum sollte ein öffentliches Gebäude sein, wie alle anderen, wie Büro- und Wohnhaus. Es galt dabei zunächst und vordergründig, ohne den repräsentativen Eingang inmitten einer mit mehr oder weniger deutlichem architektonischem Pathos ausgezeichneten Fassade auszukommen. Keine Schwellenangst mehr sollte es also geben vor dem Schatzhaus der Bildungs-Privilegierten. Konsequent ordnete sich daher das New Yorker Museum of Modern Art gänzlich „normal" in die Front einer Seitenstraße ein. Rainer Schells Rheinisches Landesmuseum — das beste Beispiel in Deutschland für diesen Geist — zwar durch den vertieften Vorplatz abgesetzt und betont, bleibt dennoch Teil der Bonner Straßenund Bürgerhaus-Landschaft. Ein anderes Modell für das „einfache" Museum ohne architektonischen Repräsentationsgestus ist das Kröller-Müller-Museum im Nationalpark von Hooghe Velouve (1938, Henry van den Velde). Es ist Paradebeispiel für ein Museum außerhalb der Stadt. Louisiana bei Kopenhagen und in Berlin Werner Düttmanns Brücke-Museum sind vergleichbar. Aber Neubauten für solche „Ausflugsmuseen" sind selten. Meist finden und fanden sich historische Bauten, die zum Museum umgestaltet werden konnten. Das Kröller-Müller-Museum hatte deshalb keine direkte Nachfolge. Die „Postmoderne" unserer Tage, z. B. in Stuttgart und in Mönchengladbach, versteckt sogar den Museumseingang, sie gestaltet den Zugang zumindest labyrinthisch. Selbst bei der neuen Pinakothek im konservativen München ist die Bedeutung des Eingangs eher zurückgenommen als pathetisch überhöht — ein Stilelement, dem man sonst an der Außenhaut dieses Bauwerks nur allzuoft begegnet. Statt des Anstiegs über die zentrale und eher furchtgebietende Stufenfolge der Museums-Tempel des neunzehnten Jahrhunderts also manieristische Enge und Labyrinthik. Das Erzeugen einer neugierigen Erwartungshaltung ist der postmoderne Ersatz für die ehrfurchtgebietende Geste des neunzehnten Jahrhunderts. Glaubenskämpfe unter den Kunsthistorikern und Museumsleuten — aber nicht nur diesen — entstanden aber vor allem um die rechte Art der Beleuchtung. In seinem Beitrag zu den Dortmunder Architekturheften von 1979 hat Peter J. Tange diese Diskussion vorzüglich referiert. Er geht aus von dem Streit um das 1957 eröffnete neue Wallraf-Richartz-Museum in Köln von Rudolf Schwarz. Der Architekt war ein bedingungsloser Verfechter des Seitenlichtes. Er wollte ein „helles Haus, durchleuchtet von dem Licht der Sonne". Schwarz wandte sich vor allem gegen gleichbleibende, gleichmachende Belichtung, gegen das gefilterte Oberlicht und das Kunstlicht. Was er meinte, ist aber wohl eher in dem architektonisch bescheideneren „alten" Folkwang-Museum in Essen verwirklicht worden als in Köln. Vor- und Nachteile des Seitenlichtes werden an dem Essener Beispiel besonders deutlich: bei Räumen mit hohem Seitenlicht werden unterhalb des Fensterbandes hängende Kunstwerke in ein Licht zweiter Qualität verbannt. Konsequenterweise werden deshalb solche Flächen in der Regel nur für „zweite Wahl" genutzt. Auf

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der dem hohen Seitenlichtband gegenüberliegenden Wand ist sowohl eine von oben nach unten abnehmende Intensität der Beleuchtung festzustellen, wie eine Veränderung der Lichtqualität, die den Verhältnissen draußen am Himmel entspricht. Verfechter des Oberlichtes, das eine viel gleichmäßigere Belichtung erzeugt, kritisieren vor allem diese „Nachteile" des Seitenlichtes. Aber gerade solche „Nachteile" sind es, die ein so bedeutender Museumspraktiker und ausübender Künstler, der Amsterdamer Willem Sandberg als positiv empfand: „Für mich, einen Europäer, macht ständig wechselndes Licht das Ausstellungsgut interessanter; warum denn versuchen, einem Museum einen künstlichen Aspekt zu geben?" Ganz ähnlich Schwarz: „Mir scheint es auch dem Gedanken des Museums zu widersprechen, wenn man darin eine Stätte der Wissenschaft sieht und also daraus eine PräparatSammlung macht ... So präpariert verstummen die Bilder, schon ein Licht, das nur Helligkeit ist und nicht mehr Strahlung ... schüchtert sie ein." Daß — wie am Beispiel Essen deutlich wird — Seitenlicht notwendigerweise die Hängefläche verringert, empfand Sandberg eher als ein Positivum: „Natürlich erlaubt Oberlicht den Gebrauch aller vier Wände zum Ausstellen, aber das ist genau das, was vermieden werden sollte. Wichtige Werke hinter unserem Rücken zu haben, gibt ein unwohles Gefühl, und, was wichtiger ist, ein Raum sollte eine Richtung haben, und diese bekommt er, wenn das Licht von der Seite kommt." — Georg Schmidt dagegen, dem großen Baseler Museumsmann, stockte der Puls angesichts der Wechselbäder, denen z. B. in Köln die Kunstwerke ausgesetzt seien. Er forderte eine durch das Wetter nicht beeinflußbare, stets konstante Helligkeit. Georg Schmidt dachte sicherlich an beeindruckende amerikanische Beispiele für reine Kunstlicht-Museen, die Bauten von Philip Johnson in Lincoln und Utica z. B., Bunshafts Albright Knox Gallery in Buffalo oder Kahns Gemäldegalerie in Yale. Musterbeispiele gerade für die Präsentation moderner Kunst aber waren vor allem die Kunstlichträume des Museum of Modern Art in New York. Zwei aus den Vereinigten Staaten kommende Architekten haben bei uns die am konsequentesten ganz auf Kunstlicht gestellten Museumsräume geschaffen: Philip Johnson in Bielefeld mit einer gerasterten Lichtdecke und Downlights vor den stoffbespannten Wandflächen und Mies van der Rohe in Berlin mit einem System sogenannter Wall-Washer, die, mit Glühlampen bestückt, ein nach unten kaum sich abschwächendes gleichmäßiges Licht auf prinzipiell variable Hängeflächen richten. Die vier meistdiskutierten neuesten Museumsbauten in Deutschland — München (Neue Pinakothek), Stuttgart (Staatsgalerie), Mönchengladbach (Museum am Abteiberg), Frankfurt (Kunstgewerbemuseum) — weisen höchst unterschiedliche Beleuchtungs-Konzeptionen auf: München hat das klassische Oberlicht über hoher Voute, an die oben eine ästhetisch neutrale sogenannte „Staubdecke" anschließt. Die Wände sind farbig. — Stuttgart hat ebenfalls Oberlicht. Aber es fällt ein durch eine stark farbige, betont konstruktive, offen erscheinende Deckengliederung mit kleiner Voute. Das Tageslicht ist weniger diffus und weniger gleichmäßig. Die

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Wände sind rein weiß. — Die Frankfurter Museumsräume sind ganz hell, ganz auf weiß gestellt, mit einem dem Ausstellungsgut angemessenen Zimmercharakter der Räume und entsprechendem Seitenlicht. München wie Stuttgart bieten relativ konventionelle Lösungen des Beleuchtungsproblems, was übrigens auch für die Raumvolumina und für den eindeutigen Weg des Besuchers, für das in Stuttgart besonders deutliche Prinzip der „Raumenfilade", gilt. In beiden Häusern wird von der Möglichkeit, das Tageslicht unauffällig aus gleicher Richtung mit Kunstlicht zu verstärken oder zu ersetzen, fleißig Gebrauch gemacht. Ganz anders Hans Hollein in Mönchengladbach: in seinem Haus der Treppen, Rampen, Stützen, Durchganspassagen und Annexe, dem Haus mit Emporen, Stiegen und Nischen — wie Ekkehard Mai es in der „Museumskunde" (1984) beschrieben hat — in solchem Haus finden sich so gut wie alle bekannten Lichtsysteme und Lichtqualitäten: Kunst- und Naturlicht, Ober- und Seitenlicht und beides meistens zugleich und in durchaus dekorativer Anordnung. Merkwürdig: in diesen Räumen — oder besser, in diesem Ambiente — aber auch angesichts dieses Sammlungsbestandes schmerzt die Kombination des kälteren Tages- und des wohl bewußt wärmeren Kunstlichtes, schmerzt das sonst so viel geschmähte „Mischlicht" nicht. Ob allerdings die Nordlicht einfangenden Sheds zur Lichtqualität im Raum und an den Hängewänden Wesentliches beitragen, ist zu bezweifeln. Sie sind allzu klein dimensioniert. Für das Äußere aber, als Beitrag zum Charakter einer Stadtlandschaft, bedeutet die an Werkhallen einer IndustrieRegion erinnernde bleigraue Shed-Dachlandschaft viel. Die starke Aussagekraft einer Shed-Dachlandschaft nutzt auch das Kölner „Museum Ludwig". Es ist eine Formensprache, die große Baumassen optisch kleinteiliger erscheinen läßt und damit dem kleinteiligen Charakter der Mönchengladbacher wie der Kölner Altstadt zu entsprechen vermag, ja, die in gewisser Weise sogar mit dem Spitzigen und Bogigen der gotischen Domarchitektur assoziiert werden kann. Solche Wirkung einer Shed-Dachlandschaft am Außenbau war für die beiden Bauten wohl zumindest das auslösende Moment bei der Entscheidung für das gewählte Beleuchtungssystem. Dessen Qualität, der Wirkungsgrad, dürfte für Köln sehr viel wichtiger sein als für Mönchengladbach. Das gleiche gilt für die Sammlungen Nordrhein-Westfalens in Düsseldorf. Man darf schon der Belichtung wegen gespannt sein auf die Vollendung des Kölner wie des Düsseldorfer Neubaus. Prinzipiell ähneln sich die Systeme: Abstrahlung des einfallenden Lichtes durch die gegenüberliegende gewölbte Reflektionsebene und Verstärkung des Tageslichtes durch Halogene oder Leuchtstoffröhren. Die Sammlungsräume des Neubaus für die Düsseldorfer Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalens erhalten Tageslicht durch längsgerichtete Deckenschlitze, welches durch untergehängte doppelt halbkreisförmige Reflektoren nach oben und zur Seite abgestrahlt und verteilt wird. Meines Wissens hat Louis Kahn ein ähnlich

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geartetes System für sein schönes Spätwerk im lichtüberfluteten texanischen Fort Worth erdacht. Die Debatte um die Qualität des Lichtes im Museum hält bei uns an — nachdem über die zulässige generell niedrige Lichtquantität endlich weitgehende Einigkeit besteht. Museumsarchitektur muß notwendig- und glücklicherweise heterogen sein, die Typen der Vergangenheit, Tempel und Palast, können, aber müssen nicht auch noch in unseren Tagen Vorbildcharakter haben. Museumsarchitektur war und ist — es ist Kleihues Recht zu geben — eine besondere, eine baukünstlerische Aufgabe. Aber das Museum ist auch ein Dienstleistungsbetrieb. Museumsarchitektur darf deshalb nicht zu einem Reservat allein für die Selbstdarstellung der schöpferischen Phantasie von Architekten-Persönlichkeiten werden. Museumsarchitektur hat auch dienende Funktion, der Sammlung und dem Besucher gegenüber. Wir begegnen gegenwärtig einer neuen Architekten-Hybris und die geistreiche Spöttelei, in Dortmund würden alljährlich Messen gelesen zur Förderung einer bestimmten Architekturrichtung, ist so abwegig nicht. Der dort entzündete Weihrauch ist in Stuttgart und Mönchengladbach, in Frankfurt und Berlin durchaus wohlgefällig gewesen. Die fatale Selbstüberschätzung von Otto Wagner in seiner „Modernen Architektur" von 1896 scheint wieder Gültigkeit zu erlangen: „Als die Krone des modernen Menschen in seiner glücklichen Vereinigung von Realismus und Idealismus wurde der Architekt gepriesen. Leider empfindet nur er selbst, während die Mitwelt wenig teilnehmend abseits steht, das Wahre dieses Anspruches und auch ich [Otto Wagner] muß, auf die Gefahr hin, des Größenwahns geziehen zu werden, in das Preislied einstimmen". Ebensowenig aber wie an die Allwissenheit der Architekten ist an die Allwissenheit der Museumsleute zu glauben. Ihnen mangelt es oft an schöpferischer Phantasie. Sie sind Historiker, sie arbeiten mit visuellem Vergleich, sie haben ein optisches Gedächtnis, sie reproduzieren und analysieren, sie sind gestaltend tätig wesentlich mit dem Wort. Dennoch dürfen die Museumsleute den Architekten das Feld nicht allein überlassen. Im Gegenteil: das gefestigte Fundament historischen Wissens und gegenwärtiger praktischer Erfahrung macht Langzeitprognosen über die Zukunft der Sammlung, die Zukunft auch der Institution „Museum" und ihrer Rolle in der Gesellschaft von morgen überhaupt erst möglich. Dies bedeutet: Museumsleute, Architekten, Politiker und Verwaltungsbeamte müssen zusammenwirken, wenn nicht nur Baukunst, sondern ein in Inhalt, Form und Funktion homogenes Gesamtkunstwerk entstehen soll. Diese, nach Plagemann um 1870 dem reinen funktionalistischen Planen und Denken geopferte Forderung nach dem Gesamtkunstwerk „Museumsgebäude", feiert sie gegenwärtig eine historische Wiedergeburt? Prinzipiell gewiß, denn das Architekturzitat aus dem Formenschatz der Baugeschichte, als Collage oder Assemblage, ist an die Stelle der kulturhistorischen Bildprogramme der Museen des neunzehnten Jahrhunderts getreten. Räume, Raumfolgen, plastische und stereome-

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trische Werte, Lichtqualitäten, Farben haben in der Museumsarchitektur eine neue Wertigkeit erhalten und die geforderte Freiheit zu künstlerischem Gestalten in der Museumsarchitektur ist gewiß mehr als nur eine Reaktion auf die öden Fassaden der Wohn- und Bürohäuser, die während der hektischen Phase des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur in unserem Land entstanden. Dennoch ist zu erinnern an die sibyllinische Skepsis, die ein wahrhaft Großer der Architekturgeschichte, Mies van der Rohe, anläßlich der Verleihung eines Architekturpreises 1960 so ausgedrückt hat: „In all diesen Jahren bin ich immer mehr zu der Überzeugung gekommen, daß Architektur kein Spiel mit Formen ist. Mir wurde die enge Beziehung zwischen Architektur und Zivilisation klar ... ich bin überzeugt, daß Architektur — in ihrer Vollendung — ein Ausdruck der inneren Struktur ihrer Zeit sein kann. Die Struktur der Zivilisation ist einfach: sie ist zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie ist schwer zu definieren, zu verstehen. An der Vergangenheit läßt sich nichts ändern, das liegt in der Natur der Sache. Die Gegenwart muß man hinnehmen und sollte sie meistern. Doch die Zukunft ist offen — offen für schöpferisches Denken und Handeln. Das ist die Struktur, aus der heraus Architektur entsteht".

Bibliographie Wolfgang Schöne Vier vlämische Bildteppiche in Madrid (Quentin Massjs), in: Sitzungsberichte der kunstgeschichtlichen Gesellschaft Berlin, Oktober 1935 bis Mai 1936, S. 5 - 6 Die Versuchung des Heiligen Antonius: Ein wenig bekanntes Bild im Escorial, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 57, 1936, S. 57—64 Die Neuordnung der National-Galerie, in: Museumskunde NF 8, Heft 4, 1936, S. 145 — 151 Die Sammlung Paul Kaufmann in Berlin, in: Die Kunst (Freie Kunst) 75, Heft 2, November 1937, S. 5 7 - 6 2 Über einige altniederländische Bilder, vor allem in Spanien, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 58, 1937, S. 1 5 3 - 1 8 1 Dieric Bouts und seine Schule, Berlin—Leipzig 1938 Die Madrider Teppiche in Genf, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Beilage ,Kunst und Leben' vom Sonntag, 6. August 1939 Die grossen Meister der niederländischen Malerei des 15.Jahrhunderts. Hubert van Ejck bis Quentin Massjs, Leipzig 1939 Hans Memling. Zur Ausstellung seines Lebenswerkes in Brügge, in: Pantheon 24,1939, S. 291 —299 (Hrsg., gemeinsam mit Friedrich Schöne) Richard Schöne, Heinrich Dreher, [„Forschungen zur deutschen Kunstgeschichte", 34], Berlin 1940 Albert von Ouwater: Ein Beitrag %ur Geschichte der Holländischen Malerei des XV. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 63, 1942, S. 1—42 Rodins Denkmäler, in: Geistige Welt, Vierteljahrsschrift für Kultur- und Geisteswissenschaften 1, Heft 2, 1946, S. 1 5 - 2 6 Max Beckmann, [„Künstler unserer Zeit"], Berlin 1947 (Rezension) A. E. Brinckmann, Geist im Wandel: Rebellion und Ordnung, Hamburg 1946, in: Hamburger Akademische Rundschau 2, 1947/1948, S. 6 5 3 - 6 6 2 Ansprache %ur Eröffnung der Beckmann-Ausstellung des Kunstvereins in Hamburg am 3. Mai 1947, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 1, 1948, S. 10—15 Ernst Barlach: Katalog der Gedächtnisausstellung %um 10-jährigen Todestag, Galerie Rudolf H o f f mann, Hamburg 1948 Die Leda von Michelangelo und Rubens, in: Kunst 1, 1948, S. 30 — 35 Die Glasfenster der Kathedrale von Chartres, in: Kunstchronik 2, 1949, S. 204— 206 Gerhard Vierundsyvan^ig Zeichnungen, Krefeldin:1949 Raphaels Mareks: Krönung des Heiligen Nikolaus von Tolentino, Festschrift für Carl Georg Heise zum 28. 6.1950. Berlin 1950, S. 1 1 3 - 1 3 6 Über das Licht in der Malerei, Berlin 1954 (derzeit 6. Auflage, Berlin 1983) Die Drei Marien am Grabe Christi: ein neugewonnenes Bild des Petrus Christus, in: Zeitschrift für Kunstwissenschaft 8, 1954, S. 1 3 5 - 1 5 2 Zur Kreuzabnahme Rogiers von der Wejden im Escorial, in: Kunstchronik 8, 1955, S. 7 — 9 Raphaels Sixtinische Madonna und die Sixtuskirche in Piacen^a, in: Kunstgeschichtliche Gesellschaft zu Berlin Sitzungsberichte, NF 4. Heft, Oktober 1955 bis Mai 1956, S. 1 0 - 1 1

Bibliographie Wolfgang Schöne

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Peter Paul Rubens: Die Geißblattlaube — Doppelbildnis des Künstlers mit Isabella Brant, [„Werkmonographien zur Bildenden Kunst in Reclams Universal-Bibliothek", 11], Stuttgart 1956 Studien \ur Oberkirche von Assisi, in: Festschrift Kurt Bauch, Berlin 1957, S. 50 — 116 Die Bildgeschichte der christlichen Gottesgestalten in der abendländischen Kunst, in: Das Gottesbild im Abendland, mit Beiträgen von Wolfgang Schöne, Johannes Kollwitz und Hans Freiherr von Campenhausen, Witten und Berlin 1957 (19592), S. 7—56 Raphael, Berlin und Darmstadt 1958 Giottos Kru^ifixustafeln und ihre Vorgänger, in: Festschrift Friedrich Winkler, Berlin 1959, S. 4 9 - 6 3 Über den Beitrag von Licht und Farbe %ur Raumgestaltung im Kirchenbau des alten Abendlandes, in: Evangelische Kirchenbautagung Stuttgart 1959, Berlin o. J. [1961], S. 89—154 Das Verhältnis von Zeichnung und Maßangaben im Kirchengrundriß des St. Galler Klosterplans, in: Zeitschrift für Kunstwissenschaft 14, 1960, S. 147—154 Zur Bedeutung der Schrägsicht für die Deckenmalerei des Barock, in: Festschrift Kurt Badt zum siebzigsten Geburtstage, Berlin 1961, S. 144—172 Die künstlerische und liturgische Gestaltung der Pfal^kapelle Karls des Großen in Aachen, in: Zeitschrift für Kunstwissenschaft 15, 1961, S. 97 — 148 Das Königsportal der Kathedrale von Chartres, [„Werkmonographien zur Bildenden Kunst in Reclams Universal-Bibliothek", 67], Stuttgart 1961 Kampf um die deutsche Universität: Streitschrift anläßlich der am 14. Mai 1966 verabschiedeten Empfehlungen des Wissenschaftsrates s^ur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen, Hamburg 1966 Rembrandts Mann mit dem Goldhelm, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 1972, [1973], S. 3 3 - 9 9 Wände — Mauern — Farbstadt: eine Anmerkung %ur Gegenwart, in: Festschrift für Wilhelm Messerer zum 60. Geburtstag, Köln 1980, S. 3 3 7 - 3 5 8

Abbildungsnachweis Museumsphotos 2 - 5 , 7, 13, 14, 29, 3 1 - 3 3 , 36, 4 3 - 5 6 , 58, 59, 68, 70, 71, 85, 88, 1 0 0 - 1 0 2 , 104, 105, 111, 1 1 3 - 1 1 6 , 1 5 1 - 1 5 4 Rheinisches Bildarchiv, Köln 8—10 Bildarchiv Foto Marburg 1, 17, 23, 89 Landesbildstelle Berlin 149, 150 Städtische Bildstelle Essen 11 Landesdenkmalamt Bonn 16 Stadtkonservator Köln 15 Wilhelm Castelli, Lübeck 78 Kunstgeschichtliches Institut der Universität Würzburg 86, 87, 90 Paris, Archives Nationales 119 — 121 Foto Anderson, Rom 40, 66 Musei Vaticani, Archivio Fotografico 57, 60, 65 Istituto Centrale per il Catalogo e la Documentazione, Roma 61 Die übrigen Abbildungen nach Buchvorlagen bzw. nach den Archivbeständen der Verfasser und Herausgeber

Bildtafeln

M. Warnke

Tafel I

Abb. 1 P. P. Rubens nach Pordenone, Kaiser Augustus und die Sibylle von Tibur, Paris, Louvre

Tafel II

W. H. Gross

W. H. Gross

Tafel III

Tafel IV

Ch. Beutler

Ch. Beutler

Tafel V

Tafel VI

Ch. Beutler

H. E. Kubach

Tafel VII

Tafel V I I I

W. Schlink

W. Schlink

Tafel IX

Tafel X

W. Schlink

Abb. 22 Noyon, Kathedrale Notre-Dame, Langhausstützen

T. Buddensieg

Tafel XI

Tafel XII

T. Buddensieg

Tafel XIII

T. Buddensieg

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