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German Pages 469 [480] Year 2002
Peter Burschel u. a. (Hg.) Historische Anstöße
Historische Anstöße Festschrift für Wolfgang Reinhard zum 65. Geburtstag am 10. April 2002
Herausgegeben von Peter Burschel Mark Häberlein Volker Reinhardt Wolfgang E. J.Weber Reinhard Wendt
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg i. B., der Philosophischen Fakultät IV der Albert-Ludwig-Universität Freiburg i. B. und der Kurt-Bösch-Stiftung der Universität Augsburg.
Die Deutsche Bibliothek - QP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 3-05-003631-1 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2002 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Ingo Ostermaier, Berlin Druck: GAM Media, Berlin Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis Zum Geleit Peter Burschel, Mark Häberlein, Volker Reinhardt, Wolfgang E. J. Weber, Reinhard Wendt
I.
Städtische Eliten, sozialer und politischer Wandel im Alten Reich
9
13
Interessen, Parteien und Allianzen. Gereon Sailer als „Makler" in der oberdeutschen Reformation Mark Häberlein
14
German Imperial Cities, Reformation, and Republicanism - The Legacy of Hans Baron Thomas A. Brady, Jr.
40
II. Konfessionalisierung
55
Einführung Peter Burschel
56
Die konfessionelle Stadt - eine Problemskizze Heinz Schilling, Berlin
60
Biblioteche e disciplina della memoria: una proposta dell'età della Controriforma Adriano Prosperi
84
Katholische Reformtheologie bei Georg Cassander Heribert Smolinsky
96
Staat und Kirche im Kirchenstaat: Plädoyer für einen mikropolitischen Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung Birgit Emich
112
Et si conservi sana... - Konfessionalisierung und Sprache in den Briefen der römischen Inquisition Peter Schmidt
131
Alt und Neu. Ursprung und Überwindung der Asymmetrie in der reformatorischen Erinnerungskultur und Konfessionsgeschichte Johannes Burkhardt
III. Nepotismus, Papstfinanz und römische Elitenverflechtung
152
172
Einführung Volker Reinhardt
173
Fabio Chigi und der Hof der Barberini - Beiträge zu einer vernetzten Lebensgeschichte Irene Fosi
179
Raffe und regiere! Überlegungen zur Herrschaftsfunktion römischer Kardinalnepoten (1590-1655) Daniel Büchel
197
„Verflechtung" - ein Blick zurück nach vorn Nicole Reinhardt
235
'Nepotismum discussurus' - Die Korsenaffäre 1662 und ihre Auswirkungen auf die Nepotismus-Diskussion an der Kurie Arne Karsten
263
IV. Staatsgewalt, Politische Ideen und Humanismus
291
Einführung Wolfgang E.J.Weber
292
Urban experiences: some critical observations on contemporary scholarship concerning the relation between medieval political theories and practices. Janet Coleman
296
The Jesuits and Politics: self-appraisal at papal behest 1645/46 Robert Bireley, SJ.
315
Dignité contre vénalité. L'œuvre de Charles Loyseau (1564-1627) entre sciences du droit et science des saints Robert Descimon
326
Rhetoren und Pioniere. Italienische Humanisten als Geschichtsschreiber der europäischen Nationen. Eine Skizze. Markus Völkel
Y. Die Europäische Expansion und ihre Dialektik
339
363
Einführung Reinhard Wendt
364
Expansion und Imperium Jürgen Osterhammel
371
...diese menschenfressenden und niedrigstehenden Völker in ein vollständig neues Volk umwandeln - Papua-Neuguinea: eine letzte christliche Utopie Horst Gründer
393
Produktive Neugierde für das Fremde: Versuch einer Typologie der ethnographischen Werke über Spanisch-Amerika bis 1800 Mariano Delgado
411
Zur Rolle der Verfassung in der Gründungsphase der USA und der lateinamerikanischen Staaten Peter Waldmann
429
Streit auf Robben Island - Chiefs, Klassenkampf und Nationalismus in Südafrika Christoph Marx
452
Verzeichnis der Herausgeber und Autoren
470
Zum Geleit Seit 1877 Theodor Mommsen zu seinem 60. Geburtstag das von akademischen Schülern, Freunden und Kollegen verfaßte Sammelwerk 'Commentationes philologae in honorem Theodori Mommseni scripserunt amici' überreicht erhielt, sind in Deutschland nach einer vorläufigen Zählung rund 800 geschichtswissenschaftliche Personalfestschriften entstanden. Der Schwerpunkt der Produktion liegt nach 1945. Seit Mitte der 1970er Jahre ist sogar eine förmliche Festschriftenexplosion zu beobachten. Was zuvor Ausnahme war, ist mithin fast zur Regel geworden: 'Runde' Geburtstage von Wissenschaftlern fortschreitenden Alters sind auch bei den Vertretern der Geschichtswissenschaft ausgesprochen 'festschriftträchtig', und zwar quer durch alle historiographischen Richtungen und 'Schulen'. Können Historiker, die sich nach dem Vorbild ihres akademischen Lehrers nicht nur wissenschaftstheoretischer, sondern auch -historischer Selbstreflexion verpflichtet fühlen, sich dieser Gepflogenheit einfach anschließen? Um diese Frage beantworten zu können, ist zunächst erforderlich, sich über den Charakter und die Funktionen der Gattung Personalfestschrift Klarheit zu verschaffen. Dabei ist nicht von der Festschrifttheorie, wie sie sich aus den Geleitworten der Festschriften rekonstruieren lässt, auszugehen, sondern von der Praxis und wissenschaftshistorischen Realität des Festschriftwesens. Schüler- und Kollegenfestschriften bestehen heute üblicherweise aus einer mehr oder weniger umfänglichen Dedikation, der überwiegend noch ein Porträtfoto des Jubilars vorausgeht, aus thematisch direkt oder indirekt mit dem Spektrum der wissenschaftlichen Interessen des Geehrten zusammenhängenden Aufsätzen, aus dessen Personalbibliographie, aus einem Verzeichnis der Schülerarbeiten sowie aus einer Tabula gratulatoria, also einer Auflistung der den Jubilar zu seinem Jubiläum gratulierenden weiteren Schüler, Freunde und Kollegen. Während die personalen und sozialen Elemente der Kollektion also auf Reputationsbildung und Affirmation der wissenschaftlichen Rolle und Bedeutung des Geehrten zielen, ist inhaltlich gleichzeitig der Anspruch erhoben, ein genuin wissenschaftliches Unternehmen zu sein, das heißt, dem Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis zu dienen. Nimmt man die vorliegenden Festschriften genauer unter die Lupe, so zeigt sich allerdings, daß die affirmative Komponente in der Regel deutlich überwiegt. Beteiligte sind nahezu ausschließlich bewusste Anhänger des Geehrten, kaum kritische Wegbegleiter. Ihre Auswahl bemisst sich in erster Linie nach der Prominenz. Nüchtern gehaltene Geleitworte sind eher selten; gelegentlich geraten die Formulierungen tatsächlich in die Nähe derjenigen literarischen Gattung, die der
10 kritische Romanist Manfred Franzbach als 'Herrscherlob' gekennzeichnet hat. Die Tabula gratulatoria enthält möglichst 'große' und möglichst viele Namen. In das Verzeichnis der Schülerarbeiten werden zunehmend auch Habilitationsschriften aufgenommen - eine Praxis, die in eigenartigem Widerspruch zum Selbständigkeitspostulat für diese Qualifizierungsstufe und zum individualistischen Ethos gerade der Historie generell steht. Der Bezug, den die aufgenommenen Beiträge auf das Werk des Geehrten nehmen, ist grundsätzlich positiv, wenn nicht lediglich symbolisch. Thematisch und methodisch ist die herkömmliche Festschrift im Extremfall entweder richtungs- und schulbezogen geschlossen oder vereint so unterschiedliche Aufsätze, dass erst recht die Person des Geehrten den einzigen Zusammenhalt bildet. Mit anderen Worten, im Vordergrund steht die affirmative Repräsentation bestimmter Personen bzw., zur Gegenwart hin eher in abnehmendem Maße, bestimmter mit diesen Personen verbundener wissenschaftlicher Ansätze und Perspektiven, aber nicht die kritische oder gar selbstkritische Reflexion dieser Ansätze und Perspektiven, deren nüchterne Einordnung in den fachwissenschaftlichen Diskurs. Daß diese Tendenzen und Ambivalenzen teilweise durchaus wahrgenommen und kritisch eingeschätzt wurden und werden, belegen einerseits ironisch-kritische Kommentare von Festschriftempfängern, andererseits verstreute salvierende Äußerungen in Festschriftgeleitworten. In einem Brief an Ulrich von WilamowitzMoellendorf verurteilte bereits Theodor Mommsen 1881 alle „Anniversarien" als „eine höchst verwerfliche Institution der Weltordnung"; nach Erhalt seiner eingangs erwähnten Festschrift soll er festgestellt haben, dass er „Monate brauchen" werde, „um den Unsinn zu widerlegen". Diese Bemerkungen haben in Geleitworte auch jüngster Festschriften Eingang gefunden. Andere Äußerungen reklamieren, dass sich Beiträger und Herausgeber an die Veranstaltung oder an die Beteiligung an einer Festschrift nur sehr zögernd gewagt hätten; gelegentlich ist von prinzipiellen Festschriftverweigerern sowohl auf der Empfänger- als auch der Veranstalterseite zu hören, deren Identifikation im Einzelnen jedoch schwer fällt. Ohne Weiteres nachweisbar ist hingegen, dass diese Vorbehalte weitgehend ohne Konsequenzen für den Charakter der jeweiligen Sammlung bleiben. Die vorliegende Festschrift geht demgegenüber von der Auffassung aus, daß die Würdigung eines hervorragenden Repräsentanten einer wissenschaftlichen Disziplin bzw. eines bestimmten wissenschaftlichen Ansatzes umso glaubwürdiger ist, je konsequenter sie auf den einschlägigen Fachdiskurs bezogen wird. Ihre Herausgeber haben sich deshalb darauf verständigt, die üblichen affirmativreputativen Elemente zurückzustellen zugunsten einer Lösung, die man den Versuch einer 'kritischen' Festschrift nennen könnte. Auf bestimmte Teile und Formen wurde deshalb vollständig verzichtet. Weitere herkömmliche Komponenten wurden zwar beibehalten, aber deutlich reduziert. Auf der Gegenseite erfuhren die kritische Perspektive und die Einordnung der Beiträge des Empfängers in die aktuelle fachwissenschaftliche Debatte verstärkte Beachtung. Die Unterzeichneten
11 fühlen sich zu dieser explorativen Fortentwicklung der Festschrifttradition umso mehr motiviert und legitimiert, als sie wie bereits angedeutet nach ihrer Einschätzung in besonderem Maße der wissenschaftlichen Auffassung und Praxis des hier zu würdigenden Jubilars entspricht. Wolfgang Reinhard wurde am 10. April 1937 in Pforzheim geboren. Er legte an der Universität Freiburg i.B. das Staatsexamen für das höhere Lehramt ab und promovierte 1963. Weil weder der Schuldienst noch die Schulverwaltung seinen Interessen und Ambitionen entsprachen, habilitierte er sich nach einem ausgedehnten Forschungsaufenthalt in Rom 1973 ebenfalls an der Freiburger Universität. Im Jahr der Ernennung zum außerplanmäßigen Professor für Neuere Geschichte - 1977 - folgte die Berufung auf den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Augsburg. Einen Ruf an die Emory University in Atlanta/Georgia, USA, Frucht hoher internationaler Aktivität und Mobilität, lehnte er nach reiflicher Erwägung ab. 1990 kehrte er nach Freiburg zurück. Hinsichtlich seiner Wissenschaftsauffassung und seines professionellen Profils sind in der öffentlichen Berichterstattung anlässlich der Übergabe des Preises des Historischen Kollegs München durch den Bundespräsidenten im November 2001 insbesondere Wolfgang Reinhards Originalität, Universalität und außergewöhnliche Produktivität hervorgehoben worden. Zu unterstreichen ist in diesem Rahmen die Verbindung von italienisch-mediterranen Interessen mit außereuropäischen, denn sowohl diese beiden Forschungsfelder je für sich als auch ihre Kombination markieren eine grundsätzliche Herausforderung der deutschen Geschichtswissenschaft, die bekanntermaßen in Teilen bis heute dazu geneigt ist, ihren borussianisch-protestantisch nationalhistorischen Tunnelblick zu pflegen. Zu ergänzen ist aus unserer Sicht seine ausgeprägte kritische, wie selbstverständlich auch selbstkritische Perspektive, die keinerlei ideologischer oder methodischer Richtung folgt, sondern sich in striktem Empiriebezug und bester europäischer Normativität aufgehoben weiß. Bei Wolfgang Reinhard zu studieren war und ist trotz seiner im Schuldienst erworbenen, auf der Professorenebene bis vor kurzem eher seltenen didaktischen Fähigkeiten deshalb nie leicht; denn neben dem gerade geforderten, von Semester zu Semester wechselnden Seminarstoff war selbstverständlich ein aus Anfängersicht riesiges Zusatzprogramm zu erlernen. Zum Lehrerfolg und zur breiten Rezeption der Publikationen Wolfgang Reinhards trug und trägt unzweifelhaft die klare, nüchterne, zu hoher Verdichtung fähige Sprache bei. Der Jubilar zählt mithin nicht zur in jüngster Zeit wieder wachsenden Gruppe literarisch ambitionierter Historiker, sondern er räumt konsequent der inhaltlichen Präzision und reflektionsfördernden diskursiven Präsentation den Vorrang ein. In der Gliederung des vorliegenden Sammelbandes, zu dem bevorzugt jüngere und kritische Historikerinnen und Historiker eingeladen worden sind, haben wir uns grob an den bevorzugten Forschungsfeldern des Jubilars orientiert. Nicht alle Planungen und Einladungen konnten zwar realisiert werden; dennoch ergibt sich
12 der Eindruck, dass sich in der Gewichtung der Sektionen durchaus die Reinhardsche Agenda spiegelt: gewichtige spezifische Interessen im deutschen Bereich; ein entschiedenes Interesse an der Konfessionalisierung zumal im römischkatholischen Bereich; der papstgeschichtliche Schwerpunkt; die durchgehende staats- und ideengeschichtliche Perspektive; das weite Feld der europäischen Expansion. Die Sektionen werden dort, wo es die Vielfalt der Beiträge gebietet, durch eigene Einführungen vorgestellt. Diese Herausgeberbeiträge nehmen insbesondere diejenigen Perspektiven auf, die sich in der kritischen Reflektion der Beiträge Wolfgang Reinhards ergeben. Vollständigkeit wurde nicht angestrebt, sehr wohl jedoch im oben angedeuteten Sinne die Berücksichtigung derjenigen Aspekte, die in Festschriften bisher eher nicht zur Sprache gekommen sind. Unser Wunsch ist es, Wolfgang Reinhard noch möglichst lange als fordernden, kritischen, überzeugenden und freundschaftlichen Kollegen an unserer Seite und im geschichtswissenschaftliche Diskurs präsent zu wissen.
Augsburg/Erfurt/Freiburg/Fribourg/Hagen im Herbst 2001
Die Herausgeber
I. Städtische Eliten, sozialer und politischer Wandel im Alten Reich
Interessen, Parteien und Allianzen. Gereon Sailer als „Makler" in der oberdeutschen Reformation Mark Häberlein
I.
Als Wolfgang Reinhard sich 1983 im Rahmen einer Tagung über „Luther und die politische Welt" den Beziehungen des Reformators zu den deutschen Städten zuwandte, hatte das Thema in zweifacher Hinsicht Konjunktur. Zum einen bildete - wie so häufig in den letzten Jahrzehnten - ein Jubiläum, hier der 500. Geburtstag des Reformators, den Anlaß für eine intensivierte Auseinandersetzung mit Leben, Werk und Wirkung Luthers. Zum anderen hatte Bernd Moeller bereits zwei Jahrzehnte vorher mit einem schmalen Band über „Reichsstadt und Reformation" eine der fruchtbarsten Debatten der Frühneuzeit-Historiographie im Nachkriegsdeutschland angestoßen, die auch die internationale Forschung stimuliert hat und zumindest bis Anfang der 90er Jahre anhielt.1 Über eine quantitative Auswertung des Luther'sehen Briefwechsels identifizierte Reinhard die oberdeutschen Reichsstädte und die kursächsischen Landstädte als wichtigste Korrespondenzpartner des Reformators innerhalb der deutschen Städtelandschaft. Unter den Reichsstädten wiederum dominierte eindeutig Nürnberg. Reinhard erklärte „Luthers auffallend intensive Beziehungen zu dieser führenden Reichsstadt" mit bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Kontakten 1
Bernd Moeller: Reichsstadt und Reformation. Gütersloh 1962 (2. Aufl. Berlin 1987). Die Debatte wurde von mehreren Forschungsberichten begleitet, die einen guten Überblick bieten: Hans-Christoph Rublack: Forschungsbericht Stadt und Reformation. In: Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert. Hg. Von Bernd Moeller. Gütersloh 1978 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Bd. 190). S. 9-26; Kaspar von Greyerz: Stadt und Reformation. In: Archiv für Reformationsgeschichte 76.1985. S. 6-63; Bernhard Rüth: Reformation und Konfessionsbildung im städtischen Bereich. Perspektiven der Forschung. In: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 77.1991. S. 197-282.
Interessen, Parteien und Allianzen
15
Handelsbeziehungen der fränkischen Metropole mit Sachsen, Investitionen Nürnberger Kapitals im thürinigischen und sächsischen Bergbau, Verbindungen zwischen den Wittenberger und den Nürnberger Augustinereremiten und Nürnberger Studenten an der Universität Wittenberg. Männer wie der Nürnberger Stadtschreiber Lazarus Spengler und dessen Protégé Veit Dietrich wirkten als Multiplikatoren der Luther'sehen Lehre bzw. Interessenvertreter ihrer Stadt in Wittenberg, und die Nürnberger Buchdrucker sorgten maßgeblich für die Verbreitung der Luther'sehen Schriften. Daß Augsburg im Gegensatz zu Nürnberg nicht für die lutherische Richtung der Reformation gewonnen werden konnte, lag Reinhard zufolge nicht am fehlenden Engagement des Reformators; vielmehr waren „maßgebende Figuren der Augsburger Oligarchie [...] infolge ihrer sozialen Verflechtung nicht nach Wittenberg, sondern nach Straßburg sowie indirekt über Memmingen und Konstanz nach Zürich orientiert." Auch im Falle der sächsischen Kommunen war „der Kontakt mit jenen Städten besonders intensiv, in denen Luther nahestehende Personen lebten". Aufgrund dieser Beobachtungen schlug Reinhard daher vor, die Verbreitung der reformatorischen Lehre mittels des einige Jahre zuvor von ihm am Beispiel der römischen Kurie in die deutsche Geschichtswissenschaft eingeführten Verflechtungskonzepts zu untersuchen: „Die Ausbreitung der evangelischen Bewegung wird dabei als ein Kommunikationsprozeß aufgefaßt, der weniger durch soziale Schichtung als durch soziale Verflechtung und durch geographische Lage kanalisiert ist. Infolge der bereits vorhandenen sozialen Verflechtung durch Verwandtschaft, Freundschaft, Landsmannschaft, gemeinsames Studium, gemeinsame Ordenszugehörigkeit wird eine entscheidende Vorauswahl unter den möglichen Kommunikationspartnern getroffen. [...] Nürnberg wird nicht lutherisch, weil es fränkisch oder patrizisch ist, sondern weil seine Position im System der deutschen Städte eine intensive Kommunikation mit dem mitteldeutschen Raum bereits vorgibt und Luther infolgedessen bereits mit einer maßgebenden Gruppe verflochten ist. Augsburg wird nicht zwinglianisch, weil es schwäbisch und mehr oder weniger zünftisch ist, sondern weil es geographisch dem oberdeutschen Städtesystem zugeordnet ist und infolgedessen nur eine Minderheit mit Luther vernetzt ist, während maßgebende Figuren enge Kontakte nach Süden und Westen besaßen."2
2
Wolfgang Reinhard: Luther und die Städte. In: Luther und die politische Welt. Wissenschaftliches Symposium in Worms vom 27. bis 29.10.1983. Hg. von Erwin Iserloh, Gerhard Müller. Wiesbaden 1984. S. 87-112. Zitate S. 89, 97, 103, 111. Der zugrundeliegende Verflechtungsansatz wird programmatisch entwickelt in Wolfgang Reinhard: Freunde und Kreaturen. „Verflechtung" als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600. München 1979 (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg 14). Nachdruck: Wolfgang Reinhard: Ausgewählte Abhandlungen. Berlin 1997 (Historische Forschungen Bd. 60). S. 289-310. Da Nicole Reinhardt in ihrem Beitrag zu diesem Band die Grundlagen und die Weiterentwicklung des Verflechtungskonzepts ausführlich
16
Mark Häberleirt
Auch wenn die städtische Reformation in der Folgezeit nicht zu einem der Forschungsschwerpunkte Wolfgang Reinhards avancierte, blieb der in 'Luther und die Städte' skizzierte Ansatz, die Ausbreitung des reformatorischen Bekenntnisses über soziale Interaktionen zu erfassen, nicht ohne Folgen. Drei Augsburger Dissertationen der 1980er Jahre untersuchten die soziale Verflechtung der politischen Eliten in den bikonfessionellen Städten Ravensburg und Augsburg im 16. und frühen 17. Jahrhundert, und Reinhard faßte deren Ergebnisse in einem 1988 erschienenen Aufsatz über 'Oligarchische Verflechtung und Konfession in oberdeutschen Städten' zusammen.3 Aufgrund der schwierigen Quellenlage in Ravensburg mußte sich Wolfgang Schütze in seiner 1981 fertiggestellten Dissertation allerdings auf den Zeitraum von 1551 bis 1648 beschränken, die eigenüiche Reformationszeit also ausklammern. Für die insgesamt 88 Mitglieder des Kleinen Rates in diesem Zeitraum, deren „Verflechtung [...] durch Verschwägerung, Patenschaft, Trauzeugenschaft und Bürgschaften bei der Aufnahme ins Bürgerrecht" Schütze untersucht hat, zeigt sich, „daß man in Ravensburg in zunehmendem Maße unter sich bleibt." Ravensburg, so formulierte Reinhard 1988, bietet insgesamt „das Bild abnehmender sozialer Mobilität und zunehmender konfessioneller Abgrenzung, was mit wachsender 'Verfilzung' der Führungsgruppen einhergeht."4 Während das lückenhafte Ravensburger Quellenmaterial kaum darüber hinausgehende Erkenntnisse hinsichtlich der politischen Realisierung des Verflechtungspotentials in der Reichsstadt zuließ, konnte Katarina Sieh-Burens' Untersuchung der Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger zwischen 1518 und 1618 aus einem wesentlich reicheren Quellenfundus schöpfen. SiehBurens fragte nach dem „Wirkungszusammenhang von sozialer Verflechtung und politischer Entscheidungsfindimg"5 anhand der aus den Augsburger Quellen entwickelten Verflechtungskategorien Familie und Verwandtschaft, Nachbarschaft, rechtliche Interaktionen (Vormundschaft, Pflegschaft, Testamentsvollstreckung, Geschäftszeugenschaft) und Wirtschafts-beziehungen (Beteiligungen an Handelsgesellschaften, Dienstverhältnisse). Mittels dieser Verflechtungskategorien ermittelte Sieh-Burens vier „Netze", denen sich die 74 Bürgermeister und Stadtpfleger
3
4
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thematisiert, sei hier lediglich darauf verwiesen. Auf die von Wolfgang Reinhard angeregten Forschungen zu mitteleuropäischen Städten geht Nicole Reinhardt allerdings nicht ein. Wolfgang Reinhard: Oligarchische Verflechtung und Konfession in oberdeutschen Städten. In: Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit. Hg. von Antoni Maczak. München 1988 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien Bd. 9). S. 47-62. Wolfgang Schütze: Oligarchische Verflechtung und Konfession in der Reichsstadt Ravensburg 1551/52-1648. Untersuchungen zur sozialen Verflechtung der politischen Führungsschichten. Diss. phil. (masch.) Universität Augsburg 1981. Zitate nach W. Reinhard, Oligarchische Verflechtung (Anm. 3). S. 52. Katharina Sieh-Burens: Oligarchie, Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Zur sozialen Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger 1518-1618. München 1986 (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg. Historischsozialwissenschaftliche Reihe Bd. 29). S. 17; ähnlich S. 12f., 133. Vgl. auch die Zusammenfassung von W. Reinhard, Oligarchische Verflechtung (Anm. 3). S. 53-58.
Interessen, Parteien und Allianzen
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der Jahre 1518-1618 zuordnen lassen. Als ausgedehntestes dieser Netze erwies sich das „Welser-Netz" aus reichen Patriziern und handeltreibenden Großkaufleuten, das sowohl soziale Aufsteiger zu absorbieren wie Personen unterschiedlichen Bekenntnisses zu integrieren vermochte und dadurch über ein Jahrhundert hinweg eine führende Rolle in der Augsburger Stadtpolitik behauptete. Damit kontrastiert das altgläubige „Fugger-Netz", das durch die „Ausbildung eines kleinen, adeligelitären Personenverbandes" und die gezielte Vernetzung mit Familien des Landadels gekennzeichnet ist. Das vor allem in der Reformationszeit bedeutsame, evangelisch geprägte „Herbrot-Netz" rekrutierte sich „aus flexiblen, risikobereiten sozialen Aufsteigern der Zünfte", das „Seitz-Netz" schließlich bestand „aus angesehenen Mitgliedern des mittelständischen Handwerkerstandes". Das grundlegende „Strukturmerkmal der Vernetzung" bildete nach Sieh-Burens „die häufige Überlagerung mehrerer Beziehungsstränge, deren Fundament meist ein Verwandtschaftsverhältnis bildet."6 In der Frühzeit der Reformation beobachtete Sieh-Burens, ähnlich wie Reinhard in 'Luther und die Städte', die Ausbreitung der evangelischen Bewegung „entlang der bestehenden sozialen Beziehungslinien." Die vier von ihr identifizierten Beziehungsnetze der Bürgermeister entwickelten sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Haltung zur reformatorischen Bewegung auch „zu konfessionell weitgehend homogenen Gruppen." Daß das konfessionell relativ offene WelserNetz und das entschieden evangelische Herbrot-Netz seit den 1530er Jahren die städtische Politik bestimmten, hing nach Sieh-Burens auch mit einer gezielten Personalpolitik zusammen: wichtige Predigerstellen und Schlüsselpositionen in der reichsstädtischen Verwaltung wurden mit Parteigängern und Vertrauenspersonen besetzt, diplomatische Beziehungen zu den maßgeblichen evangelischen Fürsten und Städten gepflegt. Mit der Niederlage Augsburgs im Schmalkaldischen Krieg schied das Herbrot-Netz allerdings aus dem Kreis der städtischen Führungsgruppen aus, während das Fugger-Netz wieder in die Führung der Reichsstadt zurückkehrte und in den folgenden Jahrzehnten zusammen mit dem bikonfessionellen Welser-Netz dort den Ton angab.7 Ergänzt wurden Sieh-Burens' Forschungen durch Peter Steuers Dissertation über die Außenverflechtungen der Augsburger Oligarchie, insbesondere mit anderen oberdeutschen Reichsstädten und mit katholischen Fürstenhöfen (Habsburg, Bayern).8 Steuer betonte einerseits die enge Bindung führender reformatorischer 6
7 8
K. Sieh-Burens (Anm. 5). Zitate S. 123,127,129f. Ähnlich formuliert Gunner Lind in einem Überblick über Klientelismus im vorindustriellen Europa: „Kinship, taking part in family businesses, and political links, formed multiple bonds between the members of the city oligarchies." Gunner Lind: Great Friends and Small Friends: Clientelism and the Power Elite. In: Power Elites and State Building. Hg. von Wolfgang Reinhard (The Origins of the Modern State in Europe, 13th to 18th Centuries). Oxford 1996. S. 123-147. Hier S. 130. K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 136, 139, 207, 210f. Peter Steuer: Die Außen Verflechtung der Augsburger Oligarchie von 1500-1620. Studien zur sozialen Verflechtung der politischen Führungsschicht der Reichsstadt Augsburg. Augsburg
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Mark Häberlein
Politiker an Habsburg, die auch zu konfessionspolitischen Rücksichtnahmen zwang, zeigte andererseits die intensiven Verflechtungen maßgeblicher Augsburger Familien mit Ulm und Memmingen als weiteren Zentren der oberdeutschen Reformation auf, wobei „hohe strategische Bedeutung einzelnen besonders gut und nach mehreren Seiten hin vernetzten Personen tatsächlich zukam und auch von den Zeitgenossen beigemessen wurde." „Gleichwohl," räumte Steuer ein, „bleibt in Bezug auf den wichtigsten Herkunftsort der von auswärts durch den Augsburger Rat angeworbenen Prädikanten, Straßburg, das Ergebnis etwas unbefriedigend."9 Gerade die Straßburger Oligarchie bewahrte während der Reformationszeit ein hohes Maß an verwandtschaftlicher Geschlossenheit und hatte kaum familiäre Kontakte nach Augsburg - mit einer bemerkenswerten Ausnahme freilich, auf die zurück-zukommen sein wird. Hatte Reinhard 1979 in „Freunde und Kreaturen" die soziale Verflechtung programmatisch zum entscheidenden Konstitutivum politischer und gesellschaftlicher Führungsgruppen erklärt,10 so steht im Abschnitt über die städtische Gesellschaft in seiner 2001 erschienenen Neubearbeitung des Reformationsteils des 'Gebhardt'-Handbuchs das Verflechtungskonzept eher pragmatisch neben anderen Erklärungsmodellen: „Die Stadtgesellschaft war [...] nicht nur durch Schichtung gegliedert, sondern zusätzlich durch parallele 'Versäulung' in nebeneinanderstehende und häufig rivalisierende Gruppen, Faktionen und Klientelverbände."11 Die Bedeutung sozialer Interaktion für die Durchsetzung der Reformation wird im 'Gebhardt' ansonsten nur in einem knappen Teilkapitel über „Multiplikatoren" expliziert, das auf die Bedeutung von einflußreichen Verbindungsleuten und Gruppen wie der Nürnberger „Sodalitas" um Staupitz und Lazarus Spengler, humanistische Korrespondenznetze und städtische Prediger rekurriert. „Konkret kam es darauf an," so Reinhard, „daß Luther an die Kommunikations- und Interaktionsnetze solcher Personen und Gruppen Anschluß fand."12 Eine gewisse Skepsis gegenüber dem Erklärungspotential des Verflechtungsansatzes klingt bereits 1988 an, wenn Reinhard konstatiert, daß die Forschungen seiner Schüler zu oberdeutschen Reichsstädten „in weit größerem Umfang auf 'Indizienbeweisen' beruhen, als ich auf Grund meiner Erfahrungen mit römischen Archivalien angenom-
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11
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1988 (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben. Heft 10). Zusammenfassend: W. Reinhard, Oligarchische Verflechtung (Anm. 3). S. 58-61. P. Steuer (Anm. 8). S. 80. „Führungsgruppen sind nicht in erster Linie durch gleiche soziale Daten ihrer Mitglieder konstituiert, sondern durch die soziale Verflechtung dieser Mitglieder, weil dadurch Interaktion ermöglicht, begünstigt, kanalisiert wird, [...] Oder negativ formuliert: eine Oligarchie benötigt keine gesellschaftliche Gruppe als Substrat, Verflechtung ihrer Mitglieder genügt." Zit. nach W. Reinhard, Abhandlungen (Anm. 2). S. 290. Wolfgang Reinhard: Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte. Bd. 9: Probleme deutscher Geschichte 1495-1806. Reichsreform und Reformation 1495-1555. 10., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart 2001. S. 180. W. Reinhard, Gebhardt Bd. 9 (Anm. 11). S. 282f.
Interessen, Parteien und Allianzen
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men hatte. [...] Den vorhandenen Zusammenhang von sozialer Verflechtung und menschlichem Handeln im konkreten Einzelfall zwingend nachzuweisen ist, wenn überhaupt, so offensichtlich nur dann möglich, wenn wie in Rom [...] Privatkorrespondenz in größerem Umfang erhalten ist, die über Intentionen Auskunft geben kann. Mit Quellen anderer Art läßt sich aber nur der Tatbestand sozialer Verflechtung als Potential einerseits, die Präferenz zugunsten bestimmter Personen oder Entscheidungen in Interaktionssituationen andererseits nachweisen, nicht aber der ursächliche Zusammenhang zwischen beiden."13 Auch wenn andere Faktoren wie die Rolle der Gemeinden oder der Medien in der Forschung zum Problemkomplex „Stadt und Reformation" weit stärkere Beachtung gefunden haben als Reinhards interaktionistischer Ansatz, hat sich auch in jüngster Zeit wiederholt die Relevanz des Verflechtungskonzepts für die Erklärung spezifischer reformationsgeschichtlicher Phänomene und seine Integrationsfähigkeit in allgemeinere Erklärungszusammenhänge erwiesen. Rolf Kießling etwa hat in einer Darstellung der Reformation in Augsburg den gemeindereformatorischen Impuls „von unten" als Motor der Bewegung ebenso gewürdigt wie die Existenz konkurrierender sozialer Netze der Führungsschichten und die Einbindung der Ratspolitik in regional- und reichspolitische Zusammenhänge als retardierende Faktoren.14 Simon Teuschers Untersuchung sozialer und politischer Beziehungen und Gruppenbildungen im vorreformatorischen Bern verknüpft den Netzwerkansatz mit der Frage nach der Bedeutung, die persönliche Beziehungen für die gesellschaftliche Ordnung und das 'frühstaatliche' Herrschaftssystem der Stadt hatten. Im Mittelpunkt seines Interesses stehen zeitgenössische Wahrnehmungen und Bewertungen von Beziehungen und das konkrete Handeln von Personen und Kleingruppen. Teuscher betont für Bern den kurzfristigen, fluktuierenden Charakter sozialer Beziehungen und deren Situations- und Interessenabhängigkeit, und seine Befunde zum Verlauf des Staatsbildungsprozesses zeigen, daß sich informelle Beziehungsgeflechte und Gruppenbildungen nicht als eindeutig funktional oder dysfunktional für den Ausbau staatlicher Herrschaft charakterisieren lassen. Er vermutet allerdings, daß die sozialen Beziehungen in Bern im Laufe des 16. Jahrhunderts ihre Dynamik teilweise einbüßten und mit der zunehmenden Monopolisierung der Herrschaft durch den Kleinen Rat und der sozialen Ab13
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W. Reinhard, Oligarchische Verflechtung (Anm. 3). S. 61f. Entsprechend formulierte Rüth in seinem 1991 erschienenen Forschungsbericht: .Jedenfalls lief die zwischen- und innerstädtische Ausbreitung reformatorischer Ideen in erheblichem Maße über das durch soziale Beziehungen vorgegebene Kommunikationsnetz. Tiefere Einsichten in derartige Zusammenhänge verspricht ein von Wolfgang Reinhard entwickeltes Forschungskonzept: die Verflechtungsanalyse. Mangels geeigneten Quellenmaterials blieben die bisher erzielten Ergebnisse in Evidenz und Tragweite jedoch hinter den Erwartungen zurück." B. Rüth (Anm. 1). S. 243. Rolf Kießling: Augsburg in der Reformationszeit. In: „... wider Laster und Sünde". Augsburgs Weg in der Reformation. Katalog zur Ausstellung in St. Anna, Augsburg, 26. April bis 10. August 1997. Hg. von Josef Kirmeier u.a. München 1997 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 33/97). S. 17-43.
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Schließung der Oberschicht kernfamiliale Bindungen und stabile Klientelverhältnisse auf Kosten anderer Soziabilitätsformen an Bedeutung gewannen, was durch weitere Forschungen zur Zeit der Reformation und Konfessionalisierung noch zu überprüfen wäre.15 Peer Frieß schließlich hat die Rolle der Stadtschreiber in den oberdeutschen Reichsstädten als einer Personengruppe betont, die schon von Berufs wegen im Zentrum von Interaktions- und Kommunikationsprozessen stand. Während einige anti-reformatorisch gesinnte Stadtschreiber die Einführung der Reformation in ihren Städten ernsthaft behinderten, förderten humanistisch eingestellte Schreiber die evangelische Bewegung zumindest in beschränktem Umfang. Die Mehrzahl der Stadtschreiber gehörte allerdings zu den entschiedenen Parteigängern der Reformation und konnte durch juristische Kenntnisse, diplomatische Erfahrung und literarische Fähigkeiten die konkrete Umsetzung und Ausgestaltung der Reformation in ihrer Stadt, deren theologische Ausrichtung, bündnispolitische Absicherung, rechtliche Verteidigung vor dem Reichskammergericht und publizistische Selbstdarstellung mitunter maßgeblich beeinflussen. Das pro-reformatorische Engagement der Stadtschreiber wurde Frieß zufolge „oft dadurch erleichtert, daß sie in vielfältigen Beziehungen zu den politisch und wirtschaftlich führenden Familien ihrer Stadt standen."16 In Anknüpfung an das Verflechtungsparadigma und unter Berücksichtigung neuerer Forschungsergebnisse zu städteübergreifenden und regionalen Interaktions- und Kommunikationsprozessen wird hier vorgeschlagen, 'Multiplikatoren' der Reformation wie Prädikanten, Stadtschreiber oder Humanisten auf ihre Rolle als 'Makler' hin zu untersuchen. In der Terminologie der sozialanthropologischen Netzwerkforschung bezeichnet der Begriff des Maklers (broker) eine Person, die an zwei oder mehreren weitgehend voneinander getrennten sozialen Netzwerken partizipiert und Kommunikation zwischen diesen Netzen herstellt, Allianzen und Koalitionen zwischen Personengruppen mit relativ starken Binnen- und vergleichsweise schwachen Außenbeziehungen (Clustern, Cliquen) schmiedet. Wie der Begriff bereits suggeriert, verfolgen Makler ihre Vermittlungstätigkeit keineswegs zweckfrei, sondern verbinden damit Profitinteressen, wobei 'Profit' hier nicht streng materialistisch zu verstehen ist, sondern Ehre, Prestige und persönlichen 'Erfolg' in einem weiten Sinne umfassen kann.17 In geradezu idealtypischer Weise scheint mir ein Protagonist der Reformation den Typus eines solchen Maklers zu verkörpern, der in den Quellen zur oberdeutschen Reformationsgeschichte überaus präsent ist und auch in der Literatur immer 15
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Simon Teuscher: Bekannte - Klienten - Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500. Köln u.a. 1998 (Norm und Struktur Bd. 9). Peer Frieß: Die Bedeutung der Stadtschreiber für die Reformation der süddeutschen Reichsstädte. In: Archiv für Reformationsgeschichte 89.1998. S. 96-124. Jeremy Boissevain: Friends of Friends. Networks, Manipulators, and Coalitions. New York 1974.
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wieder Erwähnung findet, ohne daß ihm bislang eine eigene Untersuchung gewidmet worden wäre: der Augsburger Stadtarzt Dr. Gereon Sailer (gest. 1562). Der aus Blumenthal bei Aichach stammende Sailer zog erst 1528 nach Augsburg, wo er Arzt am städtischen Blatterhaus wurde.18 Auch seine Frau Felicitas Mayr stammte nicht aus Augsburg, sondern aus der benachbarten Reichsstadt Kaufbeuren.19 Sailer bekleidete keine hohen Rats- und Verwaltungsämter und gehörte sozial und wirtschaftlich offenbar eher zur Mittelschicht;20 dennoch war sein Einfluß auf die Entwicklung der Reformation in der Reichsstadt nach übereinstimmender Forschungsmeinung enorm. Dieser Einfluß beruhte auf einer höchst aktiven und zumindest vorübergehend auch recht erfolgreichen Maklertätigkeit, die hier in drei Schritten nachvollzogen werden soll. Erstens pflegte Sailer intensive Beziehungen zu den Protagonisten der Straßburger und Zürcher Reformation, verfügte aber auch über Kontakte zu den Wittenberger Reformatoren; er läßt sich demnach als Makler zwischen unterschiedlichen theologischen und religionspolitischen Positionen charakterisieren. Zweitens nahm Sailer nach der Durchführung der Reformation in Augsburg (1534/37) als Leibarzt, Berater und Informant des Landgrafen Philipp von Hessen einerseits, eines kleinen Kreises von reichsstädtischen Politikern um den patrizischen Bürgermeister Wolfgang Rehlinger andererseits maßgeblichen Einfluß auf den innen- und außenpolitischen Kurs der Reichsstadt bis zu Rehlingers Wegzug nach Straßburg 1544. Drittens führte die Allianz Sailers und anderer einflußreicher städtischer Bediensteter mit dem Zunftbürgermeister Jakob Herbrot und seinem Netz die Reichsstadt trotz aller Ausgleichsbemühungen gegenüber katholischen und kaisertreuen Kräften innerhalb und außerhalb Augsburgs in den Schmalkaldischen Krieg.
II. Mit Recht hat die Forschung der Rekrutierung mehrerer Straßburger Prädikanten durch den Augsburger Rat 1530/31 entscheidende Bedeutung für die Ausrichtung der schwäbischen Reichsstadt auf die oberdeutsche Reformation beigemessen. Während sich die Hypothese, verwandtschaftliche Beziehungen Augsburger Stadtpolitiker nach Straßburg hätten diese Berufungen beeinflußt, nicht erhärten ließ, ist der Einfluß städtischer Bediensteter offensichtlich. Gereon Sailer wurde 18 19 20
K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 145; P. Steuer (Anm. 8). S. 50. Vgl. Gustav C. Knod (Bearb.): Deutsche Studenten in Bologna (1289-1562). Biographischer Index zu den Acta nationis Germanicae universitatis Bononiensis. Berlin 1899. S. 474. Vgl. die Angaben zur Steuerleistung und die wenigen Geschäftskontakte in Wolfgang Reinhard (Hg.): Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500-1620. Bearb. von Mark Häberlein, Ulrich Klinkert, Katarina Sieh-Burens und Reinhard Wendt. Berlin 1996. S. 720.
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Ende 1530 vom Augsburger Rat nach Konstanz geschickt, um den Reformator Ambrosius Blarer zur Übersiedlung nach Augsburg zu bewegen, hatte mit dieser Mission aber keinen Erfolg; hingegen gelang dem Ratssyndikus Dr. Balthasar Langnauer die Rekrutierung von Wolfgang Musculus. Erfolgreicher war Sailer im folgenden Jahr, als er Martin Bucer dazu bewegen konnte, erstmals selbst nach Augsburg zu kommen und sich um die theologische Aussöhnung der zerstrittenen lutherischen und zwinglianischen Prediger zu bemühen.21 Sailers enge Beziehung zu Bucer, die wohl auf eine Begegnung während des Reichstags von 1530 zurückging und sich in über 40 Briefen des Augsburger Stadtarztes an den Straßburger Reformator zwischen 1530 und 1537 niederschlug, war für die theologische Ausrichtung der Augsburger Reformation auf die straßburgisch-oberdeutsche Richtung von zentraler Bedeutung. Dieser Briefwechsel, der neben theologischen und politischen Fragen auch medizinische, literarische, künstlerische und finanzielle Themen einschloß, läßt zentrale Aspekte der kirchenpolitischen Konzeption Sailers deutlich werden. Erstens stellte sich Sailer hinter die Konkordienbemühungen Bucers, die er seit Anfang der 1530er Jahre unterstützte. Nichts wünsche ich mir aber mehr, schrieb Sailer im Januar 1531 an Bucer, als daß diese Entzweiung über das Abendmahl unter Euch beigelegt wird. Obwohl persönlich der zwinglianischen Richtung der Reformation zuneigend, waren Sailer kompromißlose Zwinglianer wie der Augsburger Prediger Michael Keller daher genauso suspekt wie dessen lutherische Kollegen Johann Frosch und Stephan Agricola. 1532 gewinnt in Sailers Äußerungen das Mißtrauen gegenüber Luther, der die Abendmahlslehre Zwingiis kurz zuvor nochmals scharf verurteilt hatte, zwar vorübergehend die Oberhand, doch spätestens 1534 stellt er sich wieder ganz in den Dienst von Bucers Unionsbemühungen. Zweitens erforderten die Konkordienbestrebungen nach Sailer eine straffe zentrale Leitung des Augsburger Kirchenwesens durch einen Superintendenten, der die zerstrittenen lutherischen und zwinglianischen Prediger zu einen und auf Linie zu halten vermochte. Für diese Aufgabe schien Sailer niemand geeigneter als Bucer selbst, und daher versuchte er immer wieder, den Straßburger Reformator dauerhaft an Augsburg zu binden.22 Diese Einigungsbestrebungen sollten nicht nur dem innenpolitischen 21
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Friedrich Roth: Augsburgs Reformationsgeschichte. 4 Bde. München 1901-1911. Bd. I. S. 352; Bd. II. S. 9-11, 18f.; K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 143f„ 146f.; P. Steuer (Anm. 8). S. 58f. F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. II. S. 9f„ 13, 18f., 46, 102, 181-185, 241; Jacques Pollet: Martin Bucer. Etudes sur la Correspondance avec de nombreux textes inédits. 2 Bde. Paris 1958/62. Bd. 2. S. 245-253; Marijn de Kroon: Die Augsburger Reformation in der Korrespondenz des Straßburger Reformators Martin Bucer unter besonderer Berücksichtigung des Briefwechsels Gereon Sailers. In: Die Augsburger Kirchenordnung von 1537 und ihr Umfeld. Hg. von Reinhard Schwarz. Gütersloh 1988 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Bd. 196). S. 59-90 (Zitat S. 74); Andreas Gößner: Weltliche Kirchenhoheit und reichsstädtische Reformation. Die Augsburger Ratspolitik des „milten und mitleren weges" 1520-1534. Berlin 1999 (Colloquia Augustana Bd. 11). S. 86f.
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Frieden der Stadt dienen, sondern hatten auch hohe bündnispolitische Relevanz: „Eine Abendmahlskonkordie zwischen den Oberdeutschen und den Wittenbergern hatte für die Reichsstadt die Bedeutung einer Eintrittskarte zum Schmalkaldischen Bund."23 Drittens erhoffte sich Sailer von Bucer und Wolfgang Capito die argumentative Absicherung des in Augsburg bis 1533/34 umstrittenen obrigkeitlichen Reformationsrechts. Im Mai 1533 hatte er die Straßburger Reformatoren um schriftliche Stellungnahmen zu den Aufgaben und Befugnissen der weltlichen Obrigkeit in Religionsangelegenheiten ersucht und damit einen maßgeblichen Impuls zu Bucers Abhandlungen über die Frage der Kirchengüter gegeben.24 Viertens erforderten die Einigungsbestrebungen zwischen Lutheranern und Zwinglianern in Sailers Konzeption eine strikte Abgrenzung gegen radikale und „schwärmerische" reformatorische Richtungen. Als der schlesische Adelige Kaspar Schwenckfeld von Ossig nach mehrjährigem Aufenthalt in Straßburg im Herbst 1533 in die schwäbische Reichsstadt kam, gehörte Sailer zu den entschiedenen Gegnern des Spiritualisten, vor dem Martin Bucer die Augsburger Prädikanten eindringlich gewarnt hatte, und versuchte unter anderem den Druck von Schwenckfelds Katechismus in Augsburg zu verhindern. In einem Brief an Bucer, den er regelmäßig über Schwenckfelds Aktivitäten in Augsburg unterrichtete, charakterisierte ihn Sailer „als listig, verschlagen (astutus) und als mißtrauisch (diffidens)".25 Schwenckfelds gute Beziehungen zu dem Augsburger Prädikanten Bonifatius Wolfart wirkten sich dementsprechend negativ auf die Beziehungen zwischen dem Stadtarzt und dem aus Straßburg stammenden Prediger aus. Sowohl Sailer als auch Wolfart hatten 1531 zu den treibenden Kräften der Einrichtung eines städtischen Gymnasiums bei St. Anna gehört, doch seit dem Spätjahr 1533 finden sich in Sailers Briefwechsel zunehmend kritischere Urteile über Wolfart.26 Sailers Maklertätigkeit zugunsten einer oberdeutsch-bucerischen Konzeption der Reformation kulminierte 1535. Bucer weilte im Frühjahr dieses Jahres, wiederum auf Sailers Drängen hin, erneut in Augsburg und konnte die zerstrittenen 23 24 25
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M. de Kroon (Anm. 22). S. 81. M. de Kroon (Anm. 22). S. 82-85. Quellen zur Geschichte der Täufer. Bd. 8: Elsaß. II. Teil. Stadt Straßburg 1533-1535. Bearb. von Manfred Krebs und Hans Georg Rott. Gütersloh 1960 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte Bd. 27). S. 132 (Nr. 423), 133f. (Nr. 427), 135 (Nr. 432), 231 (Nr. 473), 264 (Nr. 493, 494), 280 (Nr. 509), 305 (Nr. 544), 342 (Nr. 565), 344 (Nr. 570), 364 (Nr. 582), 368 (Nr. 590), 387 (Nr. 609), 415 (Nr. 632); F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. n. S. 59, 62; J. Pollet (Anm. 22). S. 250f.; Horst Weigelt: Die Beziehungen Schwenckfelds zu Augsburg im Umfeld der Kirchenordnung von 1537. In: Augsburger Kirchenordnung (Anm. 22). S. 111-122 (Zitat S. 119); ders.: Wolfgang Musculus und die radikale Reformation - die Auseinandersetzung zwischen Musculus und Kaspar Schwenckfeld. In: Wolfgang Musculus (1497-1563) und die oberdeutsche Reformation. Hg. von Rudolf Dellsperger u.a. Berlin 1997 (Colloquia Augustana Bd. 6), S. 159-172. F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. II. S. 68; M. de Kroon (Anm. 22). S. 67 Anm. 32.
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Prediger auf zehn Glaubensartikel verpflichten, mit denen Sailer und der lutherische Prediger Kaspar Huber im Sommer zu Martin Luther nach Wittenberg reisten. Versehen mit Empfehlungen der Nürnberger Prädikanten Osiander und Link sowie mit Unterstützung durch Justus Jonas und Philipp Melanchthon (dem er bereits auf dem Augsburger Reichstag von 1530 begegnet war) gelang es Sailer, auf dieser Grundlage die Aussöhnung der Augsburger Prädikanten mit Wittenberg zu erreichen. Von Wittenberg aus reiste Sailer nach Celle weiter, wo er allerdings vergeblich versuchte, Urbanus Rhegius zur Rückkehr als Prediger nach Augsburg zu bewegen; statt dessen nahm der von Luther empfohlene Johann Forster eine Predigerstelle in Augsburg an. Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Augsburg ritt Sailer im Auftrag des Rates nach Straßburg weiter, von wo aus er zusammen mit Bucer eine Rundreise durch mehrere „namhafte" südwestdeutsche Städte unternahm, die der Reformationshistoriker Friedrich Roth mit einem „Triumphzuge" verglichen hat. In Balingen trafen Sailer und Bucer auf Ambrosius Blarer und gewannen ihn für die Konkordie; in Stuttgart trafen sie mit Johannes Brenz zusammen, der solche Concordia ganz hoch vonnöten erachtet und sich aufs allerfreundlichst gegen uns erzeiget, wie Sailer später an Luther schrieb. Scheinbar nebenher legten der Augsburger Stadtarzt und der Straßburger Reformator religionspolitische Unstimmigkeiten zwischen den Reichsstädten Eßlingen und Reutlingen bei. „Überall," so Friedrich Roth, wurde Sailer „als der Überbringer 'eines wahren Evangeliums' begrüßt, überall ging man auf die Verhandlungen, die er zur Vollendung des großen Werkes pflog, willig ein und erklärte sich bereit, das Bekenntnis der Augsburger Prädikanten - die zehn Artikel - zu unterzeichnen." Nach dem positiven Echo auf seine Gesandtschaft zeigte sich Sailer gegenüber Luther auch zuversichüich, daß nun Secten und Zweispalten außtören würden und sich die scheinbar geeinte evangelische Partei vor keinem Schwärmer mehr sonderlich zu besorgen habe, obwohl der Schwenkfeld noch hin und wieder im Lande zu Würtemberg und etlichen Reichsstädten umherschleichet.27 Das große Echo, das Sailers erfolgreiche Mission nach Wittenberg in reformatorischen Kreisen fand, veranschaulicht auch die Korrespondenz Heinrich Bullingers. Nachdem Wolfgang Capito darüber nach Zürich berichtet hatte, tauschte Bullinger sich zwischen dem 31. August und dem 28. September 1535 über diese Nachricht und die sich daraus ergebenden Perspektiven mit Philipp Melanchthon, Oswald Myconius in Basel und Joachim Vadian in St. Gallen aus.28 27
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Sailer an Luther, 8. Sept. 1535; Martin Luther: Werke. Briefwechsel. Bd. 7. Weimar 1937. S. 258-265. Luthers wohlwollende Antwort vom 5. Okt. 1535 findet sich ebd. S. 293. Vgl. F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. II. S. 247-252 (Zitat S. 252); M. de Kroon (Anm. 22). S. 86. Heinrich Bullinger: Briefwechsel. Bd. 5: Die Briefe des Jahres 1535. Hg. von Hans Ulrich Bächtold u.a. Zürich 1992. S. 336 (Nr. 636; Bullinger an Philipp Melanchthon, 31. Aug. 1535), 337f. (Nr. 637; Bullinger an Oswald Myconius, 31. Aug. 1535), 359f. (Nr. 646; Bullinger an Joachim Vadian, 10. Sept. 1535), 370f. (Nr. 652; [Oswald Myconius] an Bullinger, 28. Sept. 1535).
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Zwar gibt es Indizien dafür, daß sich Sailer auch in den folgenden Jahren das Wohlwollen Bucers und Melanchthons bewahrte,29 doch sollte sich Sailers Hoffnung, daß die Konkordienbestrebungen auch zu einer größeren Einigkeit unter den Augsburger Prädikanten führen würden, nicht erfüllen. Als Ambrosius Blarer, um dessen Rekrutierung sich Sailer 1530 vergeblich bemüht hatte, 1539 tatsächlich für einige Monate nach Augsburg kam, mißbilligte der Stadtarzt dessen Tätigkeit, die die Spaltung unter den Prädikanten und der Bürgerschaft seiner Ansicht nach noch vertiefte. Es were pesser gewesen, schrieb Sailer im November 1539 an Philipp von Hessen, Blaurerus were nie hieher kommen?0 Michael Keller, der Veteran der zwinglianischen Prediger in Augsburg, war nach Sailers Einschätzung 1543 ain schwacher ybernechtiger gesell, und Wolfgang Musculus, der wohl profilierteste Straßburger Prediger im Augsburg der 1530er und 1540er Jahre und 1535 Taufpate von Sailers Sohn Raphael, erschien ihm in den sprachen gleichwoll seer eriebt, aber disem grossen paw ful vndful zw schwach?1 Sailers anhaltende Bemühungen um die Rekrutierung geeigneter Seelsorger blieben meist vergeblich; während des Speyrer Reichstags von 1544 etwa versuchte er den im kursächsischen Kahla wirkenden Thomas Naogeorgius für Augsburg zu gewinnen, der nicht nur gelehrt und angesehen war, sondern ihm auch in der leer vns
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Vgl. Briefwechsel Landgraf Philipp's des Großmüthigen von Hessen mit Bucer. Hg. von Max Lenz. 3 Bde. Leipzig 1880-1891 (Publicationen aus den K. Preussischen Staatsarchiven, Bd. 5/28/47). Bd. I. S. 113f. (Bucer an Sailer, 23. Okt. 1539); Heinz Scheible: Wolfgang Musculus und Philipp Melanchthon. In: Wolfgang Musculus (Anm. 25). S. 188-197. Hier S. 192 (Brief Melanchthons an Musculus vom 15. Juli 1541: „Namentlich grüßen läßt er von allen Augsburger Bekannten nur Gereon Sailer."), 195 (Brief Melanchthons an Musculus vom 10. Nov. 1544: „Melanchthon äußerte auch den Wunsch, mit Musculus und mit Gereon Sailer zu sprechen."). Sailer an Philipp von Hessen, 17. Nov. 1539: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. I. S. 434; Sailer an Philipp von Hessen, 6. Dez. 1539: Mit dem Plarer, auch Bonifacio [Wolfart] hob ich nichtz durffen reden, dann ich hob laider der kainen gefunden, wie er sein sol, sunder in der gantzen stat ain solliche Spaltung gegen dem Plarer, ain sollichen anhang, das es zu erparmen und warlich große sorgfeltigkait großer trennung darauff gestanden ist. [...] Wir hand unter den predigern drei sect, aine plarerisch, die ander sitzt still, lugt, wa hinaus, den dritten gefeit die gleisnerei gar nit, halten sich wol, wie M. Michel [Keller] an disem ort auch thut. Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. I. S. 348f. Am 20. Dezember 1539 schließlich schrieb Sailer an Philipp: Der Blarer hat sich mit seinem prachtischen leben, das er gefiert, [...] verklainert, also das unser volkh [...] auch nach seinem wekziehen wol zufriden und sich sein je lenger je minder annimpt. Ebd. S. 438. Vgl. F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. n. S. 446,449; K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 162. Friedrich Roth: Aus dem Briefwechsel Gereon Sailers mit den Augsburger Bürgermeistern Georg Herwart und Simprecht Hoser (April bis Juni 1544). In: Archiv für Reformationsgeschichte 1. 1903. S. 101-171. Hier S. 115; K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 161f. Zu Musculus' Patenschaft für Raphael Sailer siehe Beat Rudolf Jenny (Hg.): Die Amerbachkorrespondenz. Bd. 9. Basel 1983. S. 434.
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gemeß [...] woder zw fui lutherisch noch zwfiil zwinglisch erschien, doch ließ diesen sein Landesherr nicht ziehen.32 Da Sailers hohe Erwartungen an die seelsorgerischen Fähigkeiten der Augsburger Prediger, ihre Bereitschaft zum theologischen Ausgleich im Sinne der Lehre Martin Bucers und einen vorbildlichen Lebenswandel letztlich enttäuscht wurden, verlieh er seiner Frustration immer wieder in scharfer Kritik an den Predigern Ausdruck. Bereits 1533 beklagte er gegenüber Bucer heftig die vermeintliche Wankelmütigkeit der Prädikanten, ihre Streitsucht und ihre Vorliebe für ausgedehnte Gelage.33 Ende 1539 sah er sich genötigt, Philipp von Hessen vor den Augsburger Predigern zu warnen, das jederman auffsehen habe auff die neuen pfaffen, dann thut mans nit, so wird jamer und nott daraus. Ich habs albeg gesagt, sy werden wollen regieren, aber jetzo erfar ichs je lenger je mer.u Angesichts der Tatsache, daß Sailer 1536 vom Augsburger Rat angeblich wegen wiederholten Ehebruchs zu einer hohen Geldstrafe verurteilt wurde,35 fällt es scheinbar leicht, seinen immer wieder zur Schau gestellten moralischen Rigorismus als Heuchelei abzuqualifizieren. Sailers Moralismus war jedoch nicht Selbstzweck, sondern stand im Dienst seiner religionspolitischen Konzeption, die theologisch den Schulterschluß mit der oberdeutschen Reformation Bucer'scher Prägung und politisch die Einbindung Augsburgs in den Schmalkaldischen Bund anstrebte. Allerdings war Sailer auch sehr wohl bewußt, daß es in einer oberdeutschen Stadtrepublik mit einer ausgeprägten sozialen Schichtung und konkurrierenden Führungsgruppen überaus schwierig war, den angestrebten religionspolitischen Konsens herzustellen. In seiner Korrespondenz mit Landgraf Philipp von Hessen erweist er sich als scharfsichtiger Analytiker der Sozialstruktur Augsburgs und der besonderen Probleme, die sich daraus für das politische Handeln der Ratsführung ergaben. Sailer zufolge bedurfte es in ainer solchen großen commun, darynn so fui, auch also gar ungleichs volkh ist, wol auffsehens, das die oberkait das volkh [...] fiere, laite und regiere. Vor allem mußte die Ratsobrigkeit sunder auffmerkhen auff reich und arm haben. Wenn sie die Interessen der Reichen mißachtete, sei zu befürchten, daß diese die Stadt verließen und in andere Herrschaften 32
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F. Roth, Briefwechsel (Anm. 31). S. 120; vgl. F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. m. S. 132f.; K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 162 (dort „Naogerius"). Zu Sailers Bemühungen um neue evangelische Prediger vgl. auch Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. I. S. 350. J. Pollet (Anm. 22). S. 246f.; M. de Kroon (Anm. 22). S. 70f. Sailer an Philipp von Hessen, 6. Dez. 1539: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. I. S. 349. Dies behauptete jedenfalls der katholische Chronist Clemens Sender; in den Quellen der städtischen Administration findet sich kein Hinweis auf dieses Vergehen. Allerdings zählte eine Augsburger Prostituierte 1533 in einem Verhör vor den städtischen Strafherrn Sailer zu ihren Kunden. Vgl. Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert Bd. 23: Augsburg Bd. 4. Leipzig 1894. S. 404; F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. n. S. 335; Lyndal Roper: The Holy Household. Women and Morals in Reformation Augsburg. Oxford 1989. S. 87f„ 125.
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zögen, in denen sie bereits umfangreiche Kapitalinvestitionen und Grundbesitz hatten. In diesem Fall wäre aber nit muglich, das man die armen on verderben der stat kundt erhalten, dann die groß armuet diser stat mag oder kan nit unterhalten werden one die großen menig der reichen, die neben den armen hie wonen,36 Für die Verwirklichung seiner politischen Konzeption benötigte Sailer also Bündnispartner, die zwischen den sozialen Gruppen in der Stadt zu vermitteln und den notwendigen innerstädtischen Konsens herzustellen vermochten.
III. Einiges spricht dafür, daß Sailer zunächst vor allem im Bündnis mit dem erfahrenen und einflußreichen Stadtpolitiker Ulrich Rehlinger seine religionspolitischen Ziele zu realisieren versuchte: zwischen 1530 und 1533 ermunterte er Martin Bucer wiederholt, an Rehlinger zu schreiben.37 Ulrich Rehlinger war seit 1521 in allen ungeraden Jahren patrizischer Bürgermeister der Stadt und hatte bereits Mitte der 1520er Jahre durch die Protektion Michael Kellers seine Affinität zur zwinglianischen Richtung der Reformation bekundet.38 Rehlingers fortgeschrittenes Alter und seine Sympathien für die spiritualistische Theologie Kaspar Schwenckfelds39 dürften Sailer jedoch bewogen haben, sich nach einem anderen Kooperationspartner umzusehen. Diesen fand er spätestens Anfang 1534 in einem entfernten Verwandten Ulrich Rehlingers, dem aufstrebenden jungen Ratsherrn Wolfgang Rehlinger, der 1534 nach kurzer Ratszugehörigkeit erstmals zum Bürgermeister gewählt wurde. Sailer ermutigte nun Bucer, an Wolfgang Rehlinger zu schreiben, betreute den häufig erkrankten Bürgermeister ärztlich und erwähnt in seinem Briefwechsel mit Bucer Einladungen zum Essen in Rehlingers Haus.40 1535 gehörten Sailer und Wolfgang Rehlinger neben dem Kaufmann Simprecht Hoser aus der Salzfertigerzunft, dem Prädikanten Bonifatius Wolfart und dem 36
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Sailer an Philipp von Hessen, 20. Dez. 1539: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. I. S. 438f. Auch zitiert bei K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 168. In einem Brief vom 18. Januar 1540 wies Sailer den Landgrafen zudem nachdrücklich auf die wirtschafts- und regionalpolitischen Interesssen der Reichsstadt hin: Derhalben mein unterthanig pitt, E.f.g. wolle, wie pisher, die von Augspurg als ain solliche stat, die sich gern in aller unterthanikait wol per E.f.g. verdiente, in gnedigem pefelch haben. [...] Das sy aber vor andern Stötten zum frid genaigt, hat allerlai Ursachen, nemlich das sy ful zu verlieren, das ir in frembden landen und noch nit guet nachpaum haben [...]. Briefwechsel Landgraf Philipp's (wie Anm. 29).Bd. I. S. 453f. J. Pollet (Anm. 22). S. 252 mit Anm. 7; M. de Kroon (Anm. 22). S. 65 mit Anm. 22. K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 135f„ 138, 141-143, 349; A. Gößner (Anm. 22). S. 62-64, 67f„ 87, 95 und passim. H. Weigelt, Beziehungen (Anm. 25). S. 120; ders., Wolfgang Musculus (Anm. 25). S. 165. M. de Kroon (Anm. 22). S. 60, S. 65 mit Anm. 22, S. 80 mit Anm. 112; K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 145.
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Ratskonsulenten Dr. Konrad Hei dem im Vorjahr neu geschaffenen Scholarchat an, dem die Aufsicht über das städtische Schulwesen oblag.41 Aufgrund seiner Jugend und seiner politischen Unerfahrenheit schien Rehlinger anfänglich im Schatten seines erfahreneren Bürgermeisterkollegen Hieronymus Imhof - dem Chronisten Jörg Breu zufolge ains gantzen rath zuchtmaister und unterweiser - zu stehen.42 Während Imhof jedoch schon 1536 infolge einer Finanzaffäre die Stadt verließ, wurde Rehlinger als engagierter Befürworter der Reformation 1536, 1539 und 1541 wiedergewählt und gilt als einflußreichster patrizischer Stadtpolitiker jener Jahre.43 Katarina Sieh-Burens rechnet Rehlinger zum mehrheitlich katholischen Fuggernetz, obwohl er als entschiedener Befürworter und Förderer der (lutherischen) Reformation hervortrat.44 Für diese Zuordnung spricht vor allem, daß sein Onkel Hans Rehlinger der Schwiegervater Anton Fuggers war und sowohl Hans Rehlinger als auch Wolfgang Rehlingers Vater Bernhard in engem geschäftlichen Kontakt zu den Fugger und Baumgartner standen und größere Summen bei ihnen angelegt hatten.45 Wolfgangs Bruder Bernhard Rehlinger d.J. hatte jedoch 1528 Ursula Bimmel, eine Tochter des zwinglianischen Zunftbürgermeisters Anton Bimmel (gest. 1531) geheiratet, den SiehBurens zum „weiteren Umfeld" des Welser-Netzes zählt, und seine Schwester Anna wurde 1534 die Ehefrau Sixt Eiselins aus dem „Herbrot-Netz".46 Rehlingers Einfluß beruhte also vermutlich weniger auf seiner Zugehörigkeit zu einem der konkurrierenden Netze der reichsstädtischen Führungsschicht, sondern gerade auf seiner Mittlerposition zwischen drei konkurrierenden Elitennetzwerken. Aufgrund ihrer „Mittlerstellung innerhalb der Oligarchie" hat Sieh-Burens der Familie Rehlinger zu Recht „eine wesentliche Integrationskraft" bescheinigt.47 Hinzu kommt eine bedeutsame, für Augsburg untypische Verwandtschaftsbeziehung Rehlingers zur weitgehend geschlossenen Straßburger Führungsschicht: seine Mutter Richar41
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F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. ü. S. 192; „... wider Laster und Sünde" (Anm. 14). S. 162. Dies war eines der wenigen „offiziellen" städtischen Ämter, die Sailer bekleidete. 1537 gehörte er dem neugeschaffenen, kirchenpolitisch ebenfalls wichtigen Gremium der Zensurherren an. Vgl. F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. II. S. 332; Hans-Jörg Künast: „Getruckt zu Augspurg". Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555. Tübingen 1997 (Studia Augustana Bd. 8). S. 207f. Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert Bd. 29: Augsburg Bd. 6. Leipzig 1906. S. 58. K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 135, 157; Peter Burschel, Mark Häberlein: Familie, Geld und Eigennutz. Patrizier und Großkaufleute im Augsburg des 16. Jahrhunderts. In: „Kurzweil viel ohn' Maß und Ziel". Alltag und Festtag auf den Augsburger Monatsbildern der Renaissance. Hg. vom Deutschen Historischen Museum Berlin. München 1994. S. 48-65. Hier S. 55; Augsburger Eliten (Anm. 20). S. 672. K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 102, 107f.; vgl. auch P. Steuer (Anm. 8). S. 75; A. Gößner (Anm. 22). S. 88. Augsburger Eliten (Anm. 20). S. 653, 656, 672. K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 86f., 89f„ 110f., 114f.; Augsburger Eliten (Anm. 20). S. 101f„ 653, 672. K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 132,138f„ 213.
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dis Schenk (Mißbach) war u.a. mit dem maßgeblichen Straßburger Politiker der 1530er und 40er Jahre, Jakob Sturm, verwandt.48 Von daher war Rehlinger wie Sailer für eine Maklerrolle prädestiniert: zwischen der oberdeutschen Reformation Straßburger Prägung und der Wittenberger Reformation (der er persönlich zuneigte49) wie auch zwischen konkurrierenden Elitennetzwerken. Wenn Sailer, Rehlinger und dessen Bürgermeisterkollege Mang Seitz Anfang 1535 bei einem gemeinsamen Essen vereinbarten, daß Rehlinger an seinen Vetter Jakob Sturm und der Augsburger Rat parallel dazu an den Straßburger Magistrat schreiben sollten, um Bucer zur Lösung der kirchenpolitischen Probleme nach Augsburg zu holen, wird diese Funktion explizit faßbar.50 Als Sailer 1539 zum Leibarzt des an der Syphilis leidenden Landgrafen Philipp von Hessen avancierte, entwickelte er sich rasch zu einem höchst aktiven Diplomaten im Dienste dieses Führers des Schmalkaldischen Bundes. Bereits im Herbst 1539 reiste er nach Straßburg, um Martin Bucer in Philipps Pläne für eine bigamistische Zweitehe einzuweihen und dessen theologische Unterstützung zu suchen.51 Während die diplomatischen Beziehungen zwischen Straßburg und den Schmalkaldischen Bundesfürsten weiterhin die Domäne des Straßburger Stettmeisters Jakob Sturm bildeten,52 verfolgte Sailer in den nächsten Jahren ein ehrgeiziges diplomatisches Projekt: die durch eine gemaine reformation der kirchen geeinten evangelischen Stände sollten den Ausgleich mit Bayern suchen, das zusammen mit dem Schmalkaldischen Bund eine mächtige Opposition gegen den Kaiser bilden würde.53 Der Ausgleich mit Bayern würde zudem nicht nur dem Schmalkaldi48
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Thomas A. Brady, Jr.: Ruling Class, Regime, and Reformation at Strasbourg, 1520-1555. Leiden 1978 (Studies in Medieval and Reformation Thought Bd. 22). S. 273 Anm. 52, 280, 284, 379; K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 139; P. Steuer (Anm. 8). S. 45f„ 230. K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 138,142. M. de Kroon (Anm. 22). S. 60. Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. I. S. 345-352; F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. II. S. 334f.; Bd. m . S. 5, 13-15. Zu Sailers diplomatischer Tätigkeit für Philipp in Straßburg vgl. auch Die Politische Correspondenz der Stadt Strassburg im Zeitalter der Reformation. Bd. 2: 1531-1539. Bearb. von Otto Winckelmann. Strassburg 1887. S. 634, 641f. Die Augsburger Gesandten auf dem Regensburger Reichstag - Wolfgang Rehlinger, Simprecht Hoser und Dr. Konrad Hei - baten den Geheimen Rat der Stadt Anfang April 1541, dieser möge Doctor Gereon [...] in alweg alspaldt herab zuo verordnen nit [...] underlassen. dann unser gnediger herr landgraff darumb zum höchsten anhaldt. Friedrich Roth: Zur Geschichte des Reichstages zu Regensburg im Jahre 1541 (Teil I). In: Archiv für Reformationsgeschichte 2.1904. S. 250-307. Hier S. 304. Dies ist das zentrale Thema von Thomas A. Brady, Jr.: Protestant Politics. Jacob Sturm and the Reformation. Atlantic Highlands/New Jersey 1994. Besonders deutlich wird diese Konzeption in einem Schreiben Sailers an Philipp von Hessen vom 18. Januar 1540: Wann noch Gott gnad geb, das wir durch die gantzen pundtnus ain gemaine reformation der kirchen, zucht der jugent und etlich gleich, doch christlich ybungen furnemen, hoffet ich, wir wolten noch ful leut zu unspringen [...]. Das schreib ich E.f.g. in aller unterthanikait darumb, damit E.f.g. langmietig sei und nit nachlasse, das haus Bairn mit gepurlicher freuntlikait zu miltem oder aber, wie verhofflich, zu gewinnen, darzue ain ge-
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sehen Bund dienen, sondern lag auch im Interesse der Reichsstadt Augsburg, die auf ein gutnachbarschaftliches Verhältnis mit dem östlichen Nachbarn angewiesen war. Um dieses Ziel zu erreichen, nahm Sailer Ende 1539 eine rege Pendeldiplomatie zwischen Augsburg und dem Münchner Hof auf, wo er in Kanzler Leonhard von Eck einen seiner Konzeption aufgeschlossenen Gesprächspartner zu finden vermeinte. In diese diplomatische Strategie wurden auch Herzog Ottheinrich und dessen Rentmeister Gabriel Arnold einbezogen.54 In Augsburg selbst bildete das Vertrauensverhältnis zu Bürgermeister Wolfgang Rehlinger zu dieser Zeit nach wie vor das Rückgrat der Sailer'sehen Politik. Ende 1539 berichtete der Arzt dem Landgrafen, daß er mit Rehlinger über ein Geldgeschäft sowie wegen der geheimen Sache - Philipps Bigamie - Gespräche unter vier Augen geführt habe.55 Meinen herren, den geheimen furnemlich, pesunder auch dem burgermaister Rochlinger, ließ Sailer Anfang des folgenden Jahres den Landgrafen wissen, ist nichtz mer angelegen, dann E.f.g. reputation in der hohe [...] zu erhalten und je großer und großer zu machen, dann hie oben zwischen so fielen ungleichen und seltzamen nachpurn lernen meine herren aus teglicher erfarung, das gemainer christlicher verstentnus wolfart und ansehen allein an dem gelegen ist, das man E.f.g. in dem ansehen, darynnen sy pillich ist, erhaltet Daraus ließ sich eine fundamentale Übereinstimmung zwischen Rehlinger und Sailer folgern, hatte der Arzt doch kurz zuvor die Förderung der fürstlichen Reputation ebenfalls zu seinem vorrangigen Ziel erklärt.57 Angesichts anhaltender Parteiungen im Rat und unter den Predigern schien eine enge Zusammenarbeit mit dem innersten politischen Führungszirkel unabdingbar, um die Ziele des Landgra-
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maine gleichförmige reformationful thun und dienen wurde. Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. I. S. 452. Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. I. S. 130, 132, 136f„ 161, 165, 350f„ 433, 436-438, 441-446, 449-451, 455463, 468f.; Bd. m . S. 4-8, 14, 139f., 145, 174-204, 285-292, 303-309, 319-322, 325-332, 384-395,401404,407-414, 4 1 9 4 2 1 , 4 2 4 f . und passim; F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. m. S. 15-17, 144, 293, 355f.; Joachim Lauchs: Bayern und die deutschen Protestanten. Deutsche Fürstenpolitik zwischen Konfession und Libertät. Neustadt a.d. Aisch 1978 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns Bd. 56). S. 159-162, 170f„ 177, 197f„ 210-213, 218-220, 234f., 243f„ 263, 269f., 287-289, 291. Vgl. auch K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 160f., 165, 167. Zu Sailers Kontakten mit den bayerischen Gesandten auf dem Speyrer Reichstag von 1544 vgl. Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Bd. 15: Der Speyrer Reichstag von 1544. Bearb. von Erwein Eitz. Göttingen 2001. S. 1785 (Nr. 343), 1837f. (Nr. 377). Sailer an Philipp von Hessen, 17. Nov.1539: Briefwechsel Landgraf Philipp' s (Anm. 29). Bd. I. S. 433. Sailer an Philipp von Hessen, 18. Jan. 1540: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. I. S. 452. Sailer an Philipp von Hessen, 2. Januar 1540: derhalben hoch von noten und der gantzen teutschen nation nutz und wolfart erfodert, das man E.f.g. reputation erhalte und groß mach, dahin all mein synnen und gedenkhen tag und nacht tracht und stat. Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. I. S. 445.
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fen und den „gemeinen Nutzen" der Stadt gleichermaßen zu fördern.58 Was aber der guet, frum, sorgfoltig, verstendig und fleißig Rochlinger, schrieb Sailer im Mai 1540 an den Landgrafen, sampt andern [...] für mie und arbait gehabt, pis man andern gueten leuten die Sachen, wie sy send, zu verstan hab geben, das mag nit genueg erwegen oder geschetzt werden.59 Seit dem Regensburger Reichstag von 1541 läßt Sailers Korrespondenz jedoch eine zunehmend kritischere Haltung gegenüber Rehlinger erkennen, die vor allem mit der immer offensichtlicher werdenden pro-kaiserlichen Haltung des Bürgermeisters und seiner Zusammenarbeit mit seinem Verwandten Hans Baumgartner d.J. im Zusammenhang stand. Unterstützt wurde der neue politische Kurs Rehlingers durch den Stadtadvokaten Konrad Hei, der spätestens jetzt zum wichtigsten Berater und Informanten des Bürgermeisters avancierte.60 Ende März 1541 warnte Sailer Philipp von Hessen, dieser möge sich gogen dem burgermaister Rochlinger nit lassen morkhen, das ich E.f.g. aus des Paumgartners mund etwas sage. Dann sy send ain man.61 Der katholische Patrizier Hans Baumgartner trat seit Ende der 1530er Jahre als führender Gegner der evangelischen Augsburger Ratsführung hervor und nutzte seine guten Beziehungen zu den Habsburgern - zu deren größten Gläubigern er gehörte - , und zu Granvella, um das zünftische Regiment der Reichsstadt und den Schmalkaldischen Bund in Mißkredit zu bringen.62 Im Juni 1543 berichtete Sailer dem Landgrafen ausführlich über Baumgartners Versuche,
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Vgl. Sailer an Philipp von Hessen, 2. Jan.1540: E.f.g. wissen, wie es zugatt, wa fiil herren, und sunderlich, wa parthen send, die dann warlich allein durch die gespaltnen prodiger send angericht worden. Ich wais, das mir mancher feind ist allain darumb, das er wais, das ich den gehaimen von gemaines nutz wegen wol diene. Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. I. S. 444. Sailer an Philipp von Hessen, 1. Mai 1540: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. I. S. 463. Vgl. Sailer auch an Philipp, 18. Jan. 1540: ebd. S. 452: Der guet herr burgermaister Rochlinger ist gleichwol sehr petriebt, dann er sieht zum posten, waran die Sachen standen. Wann er gern recht wolt einsehen haben, so wils in aim sollichen großen regiment nit jederman wol verstan, mueß sich ainer in ful weg krimmen und piegen, pis er doch ain tail erhobt; kan ers nit gar erhoben, geschickt aber ainem wee und hart darmit. Sailer an Philipp von Hessen, 23. Mai 1540: der burgermaister Rochlinger ist warlich von hertzen und in aller unterthanikaitt gar sorgfeltig, fleißig undpegirig, alles das zu pedenkhen, das E.f.g. imer mocht zu guetem raichen, [...]. Ebd. S. 464. F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. m . S. 4; K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 159, 165; A. Gößner (Anm. 22). S. 80f. Sailer an Philipp von Hessen, 29. März 1541: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. m. S. 14. Wilhelm Krag: Die Paumgartner von Nürnberg und Augsburg. Ein Beitrag zur Handelsgeschichte des XV. und XVI. Jahrhunderts. München/Leipzig 1919 (Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen. Heft 1). S. 91-100; Mark Häberlein: Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Berlin 1998 (Colloquia Augustana Bd. 9). S. 232-234.
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ihn auszuspionieren und zu überreden, daran mitzuwirken, den Landgrafen auf die Seite des Kaisers zu ziehen.63 Somit dürfte Sailer die wachsende innerstädtische Opposition gegen Rehlingers Politik nach Kräften unterstützt haben, die den Bürgermeister 1543 zur Ablehnung seiner erneuten Wahl in das höchste städtische Amt und um die Jahreswende 1543/44 schließlich sogar zum Verzicht auf das Augsburger Bürgerrecht und zum Wegzug nach Straßburg bewog.64 Ende 1543 zog Sailer gegenüber Philipp von Hessen sein persönliches Fazit aus Rehlingers politischer Tätigkeit: Rehlinger habe gewoltig [...] und schier allain regiert, die pfaffertenderung angericht, ain neuerung unter der burgerschafi, und wie man's nendt neue herren, und derhalben ain solliche unainikait gemacht, die pei menschengedenkhen nit gestilt wirt. Ferner habe er aus dem gehaimen radt der dreizohen personen fünf gemacht, darynnen er seinen schweher gehabt und regiert, hat ain gehaimes ampt, das die gehaim ausgab haist, gemacht, das derselb unpewist aller radtspersonen hat mögen ausgeben und verschenkhen, wann, wieful und wem er gewolt. Rehlinger habe auch ain verdorbnen schwager [Hans Schöner, M.H.] gehabt, den er und andere seine freundt ernoren haben missen - den hat er zum paumaister [Bauvogt, M.H.], und also ein neues ampt und neues ausgeben gemacht. Dieser Schwager habe die Stadt verlassen und sich zum Bischof von Mainz geflüchtet; er schreibe nun pose puchlach wider die von Augspurg. Ferner habe der mächtige Bürgermeister drei herren, item 6 herren gemacht; die haben miessen verrichten, was zuvor die purgermaister verlieht haben. Rehlingers Initiativen zur Zentralisierung politischer Herrschaft in der Stadt, insbesondere die Schaffung des sechsköpfigen Geheimen Rats im Jahre 1537, die Sailer zumindest bis 1540 mitgetragen hatte, charakterisierte er nun also als Arkanpolitik, Nepotismus und Verstärkung oligarchischer Tendenzen in Richtung eines persönlichen Regiments. Hinzu kam aus seiner Sicht eine beängstigende Akkumulation von Herrschaftswissen: Er [Rehlinger] wais die potschaft, ausgeben und einnemen der Stadt, er wais wie pestendig ain yeder im radt, und wie der gesinnet ist, er wais das fundament aller pundtnussen, warauf die gegrundt send. Rehlingers bevorstehender Wegzug nach Straßburg erschien Sailer auch aufgrund dieses umfassenden Wissens bedenklich. Schließlich bezog er auch die „Regionalpolitik" des mehrfachen Bürgermeisters in seine Kritik ein. Was gedachter Rochlinger unter dem schein gemainer stat, als wolt er dieselben pereichen, wider den apt von Sant Urlich [sie] ains dorfs halben, Haunstetten ge-
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Sailer an Philipp von Hessen, 15. Juni 1543: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. m. S. 298-303; vgl. Sailer an Philipp, 8. Juni 1543: ebd. S. 294; F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. II. S. 8; Bd. m. S. 45,94f. F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. m. S. 216-220; K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 157.
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nandt, gehandlet, wais meniklich. Dann er het's selber gern kauft, darumb er dem cantzlervon Sant Urlich etlich treffentliche verhaissung gethan [...].65 Die Entfremdung Sailers von Rehlinger korrespondierte mit einer engeren Anlehnung an den zwinglianisch gesinnten Patrizier und Großkaufmann Georg Herwart, der 1538 erstmals Bürgermeister wurde und bis 1546 noch viermal in das höchste städtische Amt gewählt wurde. Zwischen Sailer und Herwart hat SiehBurens „eine fast patronageähnliche Beziehung" konstatiert. „Darauf weist nicht nur die rege und vertrauliche Korrespondenz hin, sondern auch die mehrfache, sonst nicht übliche Anrede als 'herr und p a t r o n ' A l s wichtigster Verbündeter Herwärts und Sailers in der städtischen Administration erscheint Georg Fröhlich, seit 1537 Stadtschreiber von Augsburg. Fröhlich war 1535 neben Wolfgang Musculus Taufpate von Sailers Sohn Raphael gewesen, und seine Dienste wurden dem Landgrafen von Hessen durch Sailer im August 1541 wärmstens empfohlen.67 Im Sommer 1543 äußerte Sailer gegenüber Philipp von Hessen zwar die Befürchtung, daß sich Sailer durch Wolfgang Rehlinger und Hans Baumgartner bestechen lasse und nunmehr nur noch die Interessen der Großkaufleute vertrete, doch gelang es Fröhlich offenbar, das Vertrauen Sailers und Philipps wiederzugewinnen.68 Gemeinsam mit dem Stadthauptmann Sebastian Schertlin von Burtenbach, den Sailer ebenfalls dem Landgrafen empfohlen hatte, avancierten Sailer und Fröhlich in den folgenden Jahren zu wichtigen Verbündeten eines weiteren aufstrebenden Stadtpolitikers: des zünftischen Großkaufmanns Jakob Herbrot.69
IV. Der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Jakob Herbrot war in den 1520er und 30er Jahren als Fernhandelskaufmann zu Reichtum gekommen und 65
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Sailer an Philipp von Hessen, 26. Dez. 1543: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. m. S. 339f. Anm. 1. K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 43, 145f.; vgl. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. II. S. 431; Augsburger Eliten (Anm. 20). S. 276f. Sailer an Philipp von Hessen, 17. Aug. 1541: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. m. S. 146f.; F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. II. S. 336; Bd. m. S. 6f.; Max Radlkofer: Leben und Schriften des Georg Frölich, Stadtschreibers zu Augsburg von 1537-1548. In: Zeitschrift des Historischen Vereins flir Schwaben und Neuburg 27. 1900. S. 46-132. Hier S. 102, 114-123; K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 159f.; M. Häberlein, Brüder (Anm. 62). S. 199-202. Sailer an Philipp von Hessen, 19. Juli 1543: ich hab unsem stattschreiber flir ain piderman geachtet. So pefind ich aber, das ime das geld so lieb ist, das er auch von desselben wegen thuet, was man an ine muet; sorg gentzlich, er hab durch den Rochlinger und aus des Paumgartners seckel ain kefer geschlikht, der in änderst mache dann er sein sulle. Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. m. S. 316. Vgl. auch ebd. S. 325, 334; M. Häberlein, Brüder (Anm. 62). S. 202f. K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 157-160.
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hatte finanzielle Beziehungen mit Reichsfürsten wie Kardinal Albrecht von Brandenburg, Johann von Sachsen und Ottheinrich von Pfalz-Neuburg angeknüpft. Nachdem er bereits in den 1530er Jahren zum Stubenmeister der Kaufleutestube avanciert war, gelangte er 1540 erstmals als Zunftmeister der Kürschnerzunft in den Kleinen Rat der Reichsstadt Augsburg, nahm zwischen 1540 und 1544 an mehreren Religionsgesprächen und Reichstagen teil und wurde 1543 als städtischer Baumeister Mitglied des Dreizehnerausschusses, des engsten politischen Führungszirkels der Reichsstadt. Als Geldgeber Philipps von Hessen trat er zudem in Verbindung zu Gereon Sailers zweitem Dienstherrn.70 Im März 1541 hatte Sailer den Landgrafen noch davor gewarnt, in seiner Abwesenheit mit Jakob Herbrot Anleiheverhandlungen zu führen, denn der Kaufmann stecke voller finantz und Eigennützigkeit. Sailer wollte das Geschäft ohne alle finantz zustande bringen. Wenige Monate später hingegen empfahl er dem Landgrafen bereits, Herbrot zu seinem Rat zu ernennen, denn dieser habe nicht nur die Interessen Philipps im Blick, sondern sei in großem aufiiemen pey uns, wirt gewislich ain künftiger burgermaister in kurtz.n Wie zuvor schon Fröhlich wurde Sailer 1541 Mitglied der Augsburger Kaufleutestube, deren Bedeutung für Herbrots politischen Aufstieg Sieh-Burens mit Recht hoch einschätzt.72 Als die Augsburger Bürgermeister und Baumeister im August 1543 zusammentraten, um über ein Schreiben von Landgraf Philipp von Hessen zu beraten, hatte Sailer es nach eigenem Bekunden durch den Welser dahin gericht, daß Jakob Herbrot anstelle des erkrankten Bürgermeisters Mang Seitz zu den Beratungen hinzugezogen wurde. Sailer berichtete ferner, daß er mit Herbrot und Bürgermeister Hans Welser über die Lage des Schmalkaldischen Bundes oft disputiert hätte und alle drei Männer es begrüßen würden, wenn sich Philipp von Hessen um die Rekrutierung von Schweizer Söldnern bemühte. Sailer versicherte dem Landgrafen, er sei in Zürich, Bern und Basel peifulen personen im regiment und unter den predicanten, durch die man das regiment miest willig machen, fast wol bekandt und könne daher Philipps Interessen gegenüber den Schweizer Städten wirkungsvoll vertreten. In Konstanz wollte der Stadtarzt zudem Konrad Zwick und Thomas Blarer als Vermittler zwischen dem Landgrafen und den eidgenössischen Städten aktivieren.73 Auf dem Speyrer Reichstag von 1544 arbeiteten Sailer und Herbrot bei den vergeblichen Bemühungen um die Berufung des Predigers Naogeorgius und der
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Zu Herbrots wirtschaftlicher und politischer Laufbahn vgl. Mark Häberlein: Jakob Herbrot (1490/95-1564). Großkaufmann und Stadtpolitiker. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 15. Hg. von Wolfgang Haberl. Weißenhorn 1997. S. 69-111. Hier bes. S. 7280. Sailer an Philipp von Hessen, 29. März 1541, 17. Aug. 1541 \ Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. m . S. 14, 147. K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 163f. Sailer an Philipp von Hessen, 27. Aug. 1543: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. m. S. 322f.
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erfolgreichen Rekrutierung des profilierten Juristen Dr. Nikolaus Mair für den reichsstädtischen Dienst zusammen.74 Nachdem er die Sache des Schmalkaldischen Bundes durch jahrelange Verhandlungen mit Fürsten und Städten, die Sammlung von Informationen über die Lage im Reich und in Europa und die Beobachtung der practikhen der kaiserlichen Partei zu fördern versucht hatte, wähnte sich Sailer im Sommer 1546, zumindest was die politische Lage in Augsburg betraf, am Ziel seiner Bemühungen. Alle maßgeblichen politischen Kräfte waren nun seiner Meinung nach einmütig zum Krieg gegen den Kaiser entschlossen: Es saumpt sich Schertlin nicht, regt und bewegt alle seine Kraft. Und ist der Herbort [Bürgermeister Georg Herwart] gar hertzhaft. Der Herbrot nimpt auch hertz an sich. Die gemein, auch große kaufleute, alle weit will nur daran, daran. Die einflußreichsten Gegner des Schmalkaldischen Bundes, Hans Baumgartner und Ex-Bürgermeister Wolfgang Rehlinger, hatten die Stadt verlassen, und es war allenfalls zu befürchten, daß sie wichtige Politiker außerhalb Augsburgs manipulierten: das sorg ich aber, das Paumgartner und der Rochlinger zu Straspurg ander leut mochten corrumpieren, die fuleucht in ainer reputation pei her Jacoben [Sturm] weren und alsdann her Jacoben verfierten.15 Nach Auffassung Sailers konnten unter Umständen sogar die katholischen und kaisertreuen Fugger dafür gewonnen werden, dem Schmalkaldischen Bund ein Darlehen zu gewähren, da Jakob Herbrot seit Jahren über gute geschäftliche Beziehungen zu Anton Fugger verfügte und Sailer selbst ein Vertrauensverhältnis zu dessen Neffen Hans Jakob Fugger, der unser sachen verstendig und gar genaigt ist, aufgebaut hatte: So wolten die von Augspurg und sunderlich der Herprat mit dem Antoni Fugger, der ime wol als mir her Hans Jacob verwant ist, auch handien, guter Zuversicht, es werde one zweifei gan.16 Die Hoff-
nungen auf Fugger'sehe Finanzhilfe für die evangelischen Stände erfüllten sich jedoch ebensowenig wie Sailers Erwartung, daß seine jahrelange Beziehungsarbeit bei Leonhard von Eck und Wilhelm von Bayern bündnispolitische Früchte tragen würde. Die Niederlage des Schmalkaldischen Bundes 1546/47 bedeutete zwar das Scheitern der politischen Konzeption Sailers, und er mußte im Januar 1547 dem Landgrafen seine Dienste aufkündigen. Seine Bitte um die Begleichung seiner 74
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F. Roth, Briefwechsel (Anm. 31). S. 120, 135-137, 144; F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. HI. S. 224; K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 160f. Sailer an Philipp von Hessen, 11. Juni 1546: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. m. S. 415; ders. an Dr. Tilemann Günterode und Sebastian Aitinger, 20. Juni 1546: ebd. S. 425. Sailer an Philipp von Hessen, 14. Sept. 1546: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. m . S. 449-451; Werner Maasen: Hans Jakob Fugger (1516-1575). Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des XVI. Jahrhunderts. München/Freising 1922 (Historische Forschungen und Quellen. Heft 5). S. 14-16. Zu den Beziehungen zwischen Herbrot, Sailer und den Fugger vgl. auch K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 132,156,168,176; M. Häberlein, Herbrot (Anm. 70). S. 73f„ 78, 84.
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beträchtlichen Forderungen gegenüber Philipp fand zudem kein Gehör.77 Doch während seine Vertrauten Jakob Herbrot, Georg Fröhlich und Sebastian Schertlin ihre städtischen Ämter und Posten verloren, blieb Sailer bis zu seinem Tod im Jahre 1562 als Stadtarzt in Diensten Augsburgs, und das Stadtschreiberamt ging 1549 sogar an seinen Schwager, den ehemaligen pfalz-neuburgischen Kanzler Sebastian Bemler. Selbst Sailers erneute, von Sieh-Burens als opportunistisch charakterisierte Zusammenarbeit mit Jakob Herbrot und Georg Fröhlich während des Fürstenaufstands 1552 tat seiner Laufbahn als Stadtarzt keinen Abbruch.78 Ein 1551 in Basel gedruckter Band mit Gedichten des damals 16-jährigen Sohnes von Gereon Sailer, Raphael, gibt einige Hinweise darauf, wer den Stadtarzt und seine Familie in der kritischen Zeit nach der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes protegierte. Der Band war Hans Jakob Fugger und seinen Brüdern gewidmet und enthielt gegenseitige Widmungsepisteln von Gereon Sailer und Sixt Birck, dem Rektor des Gymnasiums bei St. Anna, poetische Nachrufe des Sohnes Raphael auf Herzog Wilhelm von Bayern und Leonhard von Eck, die beide 1550 verstorben waren, sowie Widmungsgedichte Raphaels an die Augsburger Syndici Marcus Miller (der wiederum dem Vater Gereon Sailer ein Gedicht des Bandes widmete) und Dr. Claudius Pius Peutinger, die Stadtärzte Ambrosius Jung, Achilles Pirmin Gasser und Adolf Occo (Vater und Sohn), den bayerischen Hofarzt Alexander Karthauser, den Augsburger Präzeptor Nicolaus Mameranus und den Rektor des Münchner Gymnasiums, Hieronymus Ziegler. Peutinger und Karthauser werden explizit als Patrone bezeichnet.79 Die Sailers bemühten sich also weiterhin um gute Beziehungen zu den Fuggern, zur akademischen Elite der Reichsstadt und zu einflußreichen Persönlichkeiten am bayerischen Herzogshof, um ihre Stellung in Augsburg abzusichern - offenkundig mit Erfolg, denn Sailer findet sich zwischen 1554 und 1561 sogar auf der bayerischen Gehaltsliste.80 Zugleich blieb Gereon Sailer an religiösen und kirchenpolitischen Fragen interessiert und führte von 1554 bis zu seinem Tod einen regen, bislang nicht ausgewerteten Briefwechsel mit Zwingiis Nachfolger Heinrich Bullinger in Zürich.81 1554 korrespondierte er auch wieder mit dem mittlerweile in Bern wirkenden Wolfgang Musculus.82 Sailer blieb also auch in den letzten eineinhalb Jahrzehnten seines Lebens ein
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Sailer an Philipp von Hessen, 27. Jan. 1547, sowie dessen Antwort vom 5. Feb. 1547: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. m. S. 480-482. F. Roth, Reformationsgeschichte (Anm. 21). Bd. m. S. 470f.; K. Sieh-Burens (Anm. 5). S. 175f. Amerbachkorrespondenz. Bd. 9 (Anm. 31). S. 435f. P. Steuer (Anm. 8). S. 232; W. Reinhard, Oligarchische Verflechtung (Anm. 3). S. 59. Amerbachkorrespondenz. Bd. 9 (Anm. 31). S. 435. Friedrich Roth: Zwei Briefe des Wolfgang Musculus an den Augsburger Stadtarzt Dr. Gereon Sailer. In: Beiträge zur Bayerischen Kirchengeschichte 18. 1912. S. 235-242; Marc van Wijnkoop Lüthi: Wolfgang Musculus in Bern (1549-1563). In: Wolfgang Musculus (Anm. 25). S. 281-298. Hier S. 294,296.
Interessen, Parteien und Allianzen
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Makler zwischen den Konfessionen und sozialen Gruppen - wenn auch offensichtlicher als zuvor in erster Linie ein Makler in eigener Sache.
V. Diese Studie über den Augsburger Stadtarzt Gereon Sailer als Makler in der oberdeutschen Reformation knüpfte an das von Wolfgang Reinhard entwickelte und vor allem von Katarina Sieh-Burens weitergeführte Erklärungsmodell städtischer (Religions-)Politik der Reformationszeit durch soziale Interaktion und Verflechtung an. Durch die Fokussierung auf einen Vermittler zwischen Reformatoren, Fürsten und städtischen Amtsträgern, dessen Rolle weniger aus der Einbindung in ein verwandtschaftliches oder wirtschaftliches Netzwerk herrührte, sondern auf fachlicher Qualifikation, dem Zugang zu Informationen und der geschickten Manipulation von Beziehungen beruhte, läßt sich das Modell oligarchischer Verflechtung in der Reichsstadt des 16. Jahrhunderts m.E. in dreifacher Hinsicht erweitern. Erstens wurde deutlich, daß Makler wie Sailer nicht nur Machtinstrumente einer städtischen Führungsgruppe waren, sondern eigenständige Interessen verfolgten, aus eigener Initiative Allianzen schmiedeten und Beziehungen manipulierten. Sailer beispielsweise scheint zusammen mit anderen Maklern wie Georg Fröhlich die Karrieren aufstrebender Stadtpolitiker wie diejenige Jakob Herbrots aktiv gefördert zu haben, und für die Beschaffung und Übermittlung von Informationen und Gefälligkeiten bediente er sich der Kommunikationsnetze der großen Augsburger Handelsgesellschaften.83 Am Beispiel der Vermittler zwischen Städten, Fürsten und Reformatoren kommt zweitens neben der Ebene innerstädtischer Politik und der bereits vor geraumer Zeit untersuchten korporativen Politik der Städte auf Reichsebene84 auch die erst in jüngster Zeit von der Forschung näher thematisierte regionale Komponente städtischer Politik der Reformationszeit mit ihren kommunikativen Vernetzungen zwischen Städten sowie zwischen Stadt und Umland ins Blickfeld.85 83
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Z.B. der Manlich- und Welser-Gesellschaften für Kontakte nach Italien: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. I. S. 350. Georg Schmidt: Der Städtetag in der Reichsverfassung. Eine Untersuchung zur korporativen Politik der freien und Reichsstädte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 1984 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte Bd. 113/Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches Bd. 5); Heinrich Richard Schmidt: Reichsstädte, Reich und Reformation. Korporative Religionspolitik 1521-1529/30. Stuttgart 1986 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte Bd. 122); T.A. Brady, Protestant Politics (Anm. 52). Rolf Kießling: Wolfgang Musculus und die Reformation im schwäbischen Einzugsgebiet der Reichsstadt Augsburg. In: Wolfgang Musculus (Anm. 25). S. 130-156; Kommunikation und Region. Hg. von Carl A. Hoffmann, Rolf Kießling. Konstanz 2001 (Forum Suevicum. Bei-
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Drittens treten in der Korrespondenz Sailers auch immer wieder die Motive seiner Maklertätigkeit und damit die kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Dimensionen politischen Handelns zutage. Vor allem Ehre bzw. Reputation, von der neueren kulturgeschichtlichen und historisch-anthropologischen Forschung als zentrales verhaltenssteuerndes Prinzip und fundamentale Ordnungskategorie der Vormoderne charakterisiert,86 erscheint als wesentliche Triebkraft von Sailers vielfältigen Aktivitäten. Immer wieder bezeichnete Sailer es als sein zentrales Anliegen, die Reputation des Landgrafen zu erhalten und zu mehren, während die Gegner des Landgrafen dessen Ehre zu schmälern suchten. Im Januar 1546 etwa rechtfertigte Sailer seine bayerische Diplomatie gegenüber Philipp damit, das ich nit änderst bairisch gewesen, dann als ful zu E.f.g. reputation, nutz und wolfart gedient hat. Während Sailer selbst angeblich primär an der Ehre des Landgrafen gelegen war, würden viele andere Personen Philipp nit änderst dienen, dann [...] so ful sy inen unter E.f.g. schein ain reputation und daraus ain nutz wollen schaffen,87 Da Sailer andererseits unablässig die Ehrbarkeit und Redlichkeit seines Handelns sowie die Wichtigkeit seiner Vermittlungstätigkeit betonte, dürfen wir jedoch getrost unterstellen, daß es ihm auch um die Mehrung seines eigenen Ehrvermögens ging. Als Hans Baumgartner durch haimliche listikait versuchte, Sailer in die prie des unerlichen anmutens zu ziehen, hoffte Sailer, Philipp von Hessen werde seiner eeren verschonen und mich kainswegs in denen hendlen, die E.f.g. uneerlich seien, gebrauchen. Wenn der Landgraf von ihm verlange, schrieb der eifrige Arzt weiter, das ich aim, sei wer der wolle, der solliche unerliche sachen an mich pringe, die faust in's angesicht schlage, so pin ich dessen gantz willig und unverzagt,88 Durch seinen nach der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes offenkundig werdenden Opportunismus setzte Sailer allerdings sein eigenes Ehrvermögen aufs Spiel, und so kann es nicht verwundern, daß es am Ende Sailer war, dem die faust in's angesicht geschlagen wurde. Achilles Pirmin Gasser, wie Sailer ein humanistisch gebildeter Augsburger Stadtarzt, berichtet in seiner Chronik von einem tätlichen Übergriff auf den alternden Gereon Sailer im Jahre 1560, der ausgerechnet von einem alten Weggefährten und dessen Handlangern unternommen wurde. Letztlich den 8. Nouembris / begäbe sich / daß ein Ritter Sebastian Schertlin genannt / wider alle der Statt Recht vnd Freyheiten / mit sieben gewajfneten
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träge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Bd. 4), bes. die Beiträge von Rolf Kießling, Wolfgang E J. Weber und Peer Frieß. Vgl. stellvertretend Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Schreiner, Gerd Schwerhoff. Köln u.a. 1995 (Norm und Struktur Bd. 5); Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen. Hg. von Sibylle Backmann u.a. Berlin 1998 (Colloquia Augustana Bd. 8). Sailer an Philipp von Hessen, 23. Jan. 1546 und 25. Sept. 1546: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. m. S. 388,461. Sailer an Philipp von Hessen, 8. Juni 1543 und 15. Juni 1543: Briefwechsel Landgraf Philipp's (Anm. 29). Bd. m. S. 294, 299.
Interessen, Parteien und Allianzen
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Reuttern / den Geryon Seylern / der Artzney Doctorn / vngewarneter Sach / nicht weit von seinem Hauß / auff S. Stejfans Platz / da er auch vnbewehrt / vn[d] sich keines argen versehen / vberfallen / vnd vbel abgeblawt hatte: Darumb daß er von dem Krieg welchen Schertlin mit Graff Ludwigen von Oetingen zu Bissing / wegen der hohen Obrigkeit vnd Wildtpann damals führte / änderst dann jhm wol gefiele/bey vnd mit den vnsern geredet: Auch jn mit einem eisern Kolben /mit welchem er vngehewer zuschlüge /noch vbler geschlagen / wo sich nicht der gute Mann auff seinem Pferdt [...] durch die Flucht saluiert hette. Vnnd ist hernacher diese thätliche Handlung an das Keyserliche Cammergericht gelanget / aber doch durch Vnderhandlung geschlichtet vnd vertragen worden Einmal mehr treten hier die drei Ebenen zutage, auf denen sich Sailer jahrzehntelang als Makler betätigt hatte: der städtische Raum, in dem sich dieser Übergriff vollzog und in dem Sailer zuvor angeblich schlecht über Schertlin geredet hatte; das regionale Umfeld, in dem sich Schertlin mit Graf Ludwig von Oettingen bekriegte; und das Reich, vor dessen höchster Gerichtsbarkeit der Konflikt schließlich beigelegt wurde. Die schrecklichen Prügel, die Sailer bezog, zeigten jedoch in aller Deutlichkeit, daß seine Tage als erfolgreicher Vermittler 1560 zu Ende waren.
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Achilles Pirmin Gasser, Wolfgang Hartmann: Dritter vnd letster Theil. Der Weitberuempten Keyserlichen Freyen vnnd deß H. Reichsstatt Augspurg in Schwaben/ Chronica [...]. Basel 1596. S. 102.
German Imperial Cities, Reformation, and Republicanism - The Legacy of Hans Baron Thomas A. Brady, Jr.
(1) Urban history as the prehistory of the bourgeoisie, the Holy Roman Empire as the first form of a German state, the Reformation as the dawn of German national history - today these three themes flow together under the rubric of the „urban reformation," in studies on the German Reformation.1 During the nineteenth century, the interests associated with two of these themes - liberal republicanism and advocacy of a comprehensive (groBdeutsch) German state - were defeated by the third - Protestant hegemony in state and culture - as the events of 1848, 1866, and 1870-71 lent credence to a narrative of modern German history „from Luther to Bismarck."2 When the Great War and the Revolution of 1918-19 blasted the foundations of the German order which Bismarck's victories had created, they also undermined this teleological Reformation narrative and brought the rich literature on the Reformation, which the Wilhelmian age had nourished, to the very brink of collapse. The pre-war stream of dissertations, monographs, and editions on the German Reformation slowed to a trickle. Important editions of sources did continue through the inter-war years, but at a much slowed pace, and few new ones were founded. Only one volume of the acts of the Imperial Diets under Charles V appeared between 1918 and 1945, and while the final volumes of Strasbourg's po1
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Hans-Christoph Rublack, Is There a "New History" of the Urban Reformation? in: E. I. Kouri and Tom Scott (eds.), Politics and Society in Reformation Europe. Essays for Sir Geoffrey Elton on his Sixty-Fifth Birthday, London 1987,121-141. See Thomas A. Brady, Jr., The Protestant Reformation in German History, Washington, D.C. 1998.
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litical correspondence did see the light of day, only one volume was added to the acts of the Hanse.3 Theological sources fared better: the Weimar edition of Luther's works maintained its pace, and several editions of Catholic sources did nearly as well.4 Measured, however, against all the pre-war record, the inter-war production is not very impressive. The Munich historian Paul Joachimsen (1867-1930), visibly upset by the decline of interest in the pre-war scholarship in the tradition of Leopold von Ranke, struggled to keep it alive in Reformation history through a six-volume edition of the master's 'Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation.' He remained convinced that, wrote Joachimsen in a glowing introduction, „if fairly comprehensive study is made of the genuinely significant monuments, conducted with seriousness and a desire for truth, later [than Ranke's] revelations will, to be sure, grasp the details more precisely but must in the end confirm his fundamental views. There can be, after all, only one truth."5 The master, Ranke himself, had not been so sure. In addition, the inter-war era saw few works of interpretation of the German Reformation that retained their value in the post-1945 era and that remain useful today. Two such works come to mind, both written against the Ranke-Treitschke tradition, though from very different points of view. One is the monumental study of the Emperor Charles V by Karl Brandi (1868-1946), which has never been surpassed.6 The other is the history of the German Peasants' War by Günther Franz (1902-1992), a convinced National Socialist, of which the first edition appeared in 1933 and the ninth in the 1970s.7 World War II and National Socialist rule further depressed interest in the history of the German Reformation, which in post-1945 Germany long stood, as silent as Banquo's ghost, at the table of German historical studies.8 The silence 3
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Winfried Dotzauer, Das Zeitalter der Glaubensspaltung, 1500-1618. Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart 1, Darmstadt 1987,15-16,102. Ibid., 57-59,104,111-114. Paul Joachimsen, Einleitung des Herausgebers, in: Leopold von Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, ed. Paul Joachimsen, 6 vols., Munich 1926, vol. 1, c. Karl Brandi, Kaiser Karl V. Werden und Schicksal einer Persönlichkeit und eines Weltreiches, Munich 1937. Günther Franz, Der deutsche Bauernkrieg, Darmstadt '1971. Wolfgang Behringer, "BauemFranz" und "Rassen-Günther": Die politische Geschichte des Agrarhistorikers Günther Franz, 1902-1992, in: Winfried Schulze and Otto Gerhard Oexle (eds.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main ^000, 114-141. See also the foreword to Peter Blickle (ed.), Bauer, Reich und Reformation. Festschrift für Günther Franz zum 80. Geburtstag am 23. Mai 1982, Stuttgart 1982, 5-6. On the continuity between historical studies in the 1930s and the rise of social history since the 1950s, see Hartmut Lehmann and James Van Horn Melton (eds.), Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s through the 1950s, Cambridge 1993; Schulze and Oexle (eds.), Deutsche Historiker. See Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, Munich 1993 [1989]; Ernst Schulin (ed.), Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, 19451965 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 14), Munich 1989.
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prompted Bernd Moeller to write in 1965 that Reformation history had degenerated into „an antiquarian exercise.'" In fact, by this time the situation had begun to change in both Germanys. In the East emerged the Marxist view of the Reformation as „early bourgeois revolution," in the West a style of Reformation history attuned to the ideal of a social-cum-institutional history of local and regional scope. Although the two tendencies defined and maintained deep differences in their assumptions about historical method and the dynamics of historical change, they shared an approach to the Reformation which may be called in a rough sense „social historical."10 Both of them interpreted the German Reformation as the outcome of a complex movement of social groups, not the creation of great individuals or their ideas, and framed it in the social structures and movements of the sixteenth century, not in a story of modern Germany's genesis." While much of post-1945 writing in German on German history, we know, fed from new ideas formulated during the 1930s - one thinks of the West German style of modern social history - older tendencies came to fruition in their adopted language, English. In Britain and above all in North America, exiled German historians, refugees from Hitler's Germany, continued the discussions and debates of their youth, in some fields with remarkable success. In the United States perhaps no field benefited more from the emigration than did Renaissance studies. Reformation studies, on the other hand, was for very obvious reasons much more poorly represented among the refugees.12 Yet it was represented, and one exiled historian presented the English-speaking world with his new ideas on a theme the German Imperial cities and the Reformation - which would develop during the 1960s and 1970s as what came to be called „the urban reformation." The author was Hans Baron (1900-1988), who was born in Berlin in 1900 and died in Champaign-Urbana, Illinois, in 1988.13 He is known today not for his few writings 9
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Bernd Moeller, Probleme der Reformationsgeschichtsforschung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 76 (1965), 246-257, reprinted in Bernd Moeller, Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, ed. Johannes Schilling, Göttingen 1991,9-20.1 quote here from Problems of Reformation Research, in: Bernd Moeller, Imperial Cities and the Reformation: Three Essays, translated by H. C. Erik Midelfort and Mark U. Edwards, Jr., Philadelphia 1975, 3-18, at p. 4. See R. W. Scribner, Is There a Social History of the Reformation? in: Social History 4 (1977), 483-505. An important stimulus to their convergence around the Peasants' War jubilee of 1975 was the German translation by Hans Nichtweiss of M. M. Smirin, Die Volksreformation des Thomas Münzer und der große Bauernrkrieg, Berlin 1952, which had appeared in Russian in 1947. See Peter Blickle, Bauern und Reformation. Positionsbestimmungen, in: Peter Blickle (ed.), Zugänge zur bäuerlichen Reformation, Bauer und Reformation 1, Zurich 1987, 9-20, at 1112. One thinks of Hajo Holborn, Wilhelm Pauck, and George W. Forell, to whose names must be added that of Hans Rosenberg, who died before completing his study of the Peasants' War. On Baron, masterful and brilliant is Riccardo Fubini, Renaissance Historian: The Career of Hans Baron, in: Journal of Modern History 64 (1992), 541-574. For other treatments, see
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on the German Reformation but for his many on the Italian Renaissance, which made him, in the words of a not uncritical judge, „surely one of the three or four most influential interpreters of the Renaissance in the second half of the twentieth century, particularly in Italy and America," whose „studies of the history of republicanism sparked a broad revival of interest in this topic among students of early modern history.'"4 But although his writings on the German Reformation did not escape notice, it is little appreciated that his method and ideas anticipated by a quarter of a century several directions of post-1960 scholarship on the urban reformation in the Holy Roman Empire.
(2) Three eminent scholars inspired Baron's early experience of historical scholarship. One was the philosopher Wilhelm Dilthey (1833-1911),15 whom Baron knew only through his writings. Another was Walter Goetz (1867-1958) at Leipzig, who led Baron to the Italian Renaissance, the field of study in which he would gain international reputation, to a life-long engagement with the ideas of Jacob Burckhardt (1818-1897), and to the new intellectual history (Geistesgeschichte).16 Baron wrote his doctoral dissertation, however, not at Leipzig on the Renaissance with Goetz, but at Berlin on the Reformation with his third mentor, the theologian-philosopher Ernst Troeltsch (1865-1923), whose final dissertation student he became, and some of whose papers and newspaper columns he edited for publication.17 Baron studied not with the nationalistic Troeltsch of 1914 but with the deeply politicized Troeltsch of the early Weimar Republic, whose initial enthusiasm for the Great War had given way to deep bitterness about „the bonds
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James Hankins, The "Baron Thesis" after Forty Years and some Recent Studies of Leonardo Bruni, in: Journal of the History of Ideas 56 (1995), 309-338, at p. 311 note 6. Hankins, The "Baron Thesis" after Forty Years, 309-310; his summary of Baron's work does not mention the studies on the Reformation. Hans Baron, The Course of My Studies in Florentine Humanism, 1965, in: Hans Baron, In Search of Florentine Civic Humanism. Essays on the Transition from Medieval to Modern Thought, 2 vols., Princeton 1998, vol. 2, 182-193, at p. 185 note 3: Dilthey's intellectual history (Geistesgeschichte') "was probably the greatest inspiration of my formative years." In 1965 he said the same to me in a personal conversation. Ibid., 183: Goetz was "my unforgettable teacher" beginning with "one of my first seminars" at Leipzig. See Fubini, Renaissance Historian, 543-544, 554-556. Ernst Troeltsch, Spektatorbriefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918-1922, with a foreword by Friedrich Meinecke, Tübingen 1924; idem, Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophiche Aufsätze und Reden, Tübingen 1925; idem, Gesammelte Schriften 4: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Tübingen 1925.
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between the official Lutheran church and industrial and military circles."18 Well before the war, too, Troeltsch had been plunged into a debate over the meaning of the Protestant Reformation in German history. His principal antagonist, a fellow Swabian named Karl Holl (1866-1926), attacked nearly everything Troeltsch had written on this subject, but above all Troeltsch's pre-war advocacy of western European Calvinism over German Lutheranism as the agent of modern progress.19 If this thesis had antagonized Holl and others on intellectual grounds before the war, during the early 1920s - Troeltsch died in 1923 - it became a red flag to the raging bulls of Christian nationalism. The young Hans Baron thus ventured into a Reformation field which was more highly charged with polemical energy and political rancor than at any other point in modern times. Knowing this, he was ready to break a lance for the right side, the defenders of the Republic. In his dissertation on Calvin's republicanism, he defended the concept of „Christian natural law," which Troeltsch had applied to the Christian church's adaptation of Jesus' precepts to the world's realities. He aimed, Baron wrote, „to adapt Ernst Troeltsch's well known theory of 'Christian natural law' in a single sector, based on a precise analysis of Calvin's political doctrine, and thereby to make this concept fruitful for understanding the history of political ideas in the confessional era."20 Once published, his effort earned him a long, savage review by Hanns Riickert (1901-1974), a Holl disciple who was then Privatdozent in theology at Berlin.21 In the lines then drawn, Baron stood until he abandoned Reformation studies around 1940.22 Thereafter, he devoted himself wholly to his studies on the origins and growth of republican ideas in Renaissance Florence. Yet, as late as 1937, nearly a decade after his first publication on Italian civic humanism, Hans Baron in exile published - in England - his most important contribution to Reformation studies, 'Religion and Politics in the German Imperial Cities during the Reforma-
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Fubini, Renaissance Historian, 546, who quotes the following passage from a private letter cited in E. C. Kollman, Eine Diagnose der Weimarer Republik: Ernst Troeltschs politische Anschauungen, in: Historische Zeitschrift 183 (1956), 291-319, at 300. Karl Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte 1: Luther, 6th ed., Tübingen 1932 [Ist ed. 1922], see the index for references to Troeltsch, nearly all negative and polemical. See James M. Stayer, Martin Luther, German Saviour: German Evangelical Theological Factions and the Interpretation of Luther 1917-1933, Montreal, 2000. Hans Baron, "Christliches Naturrecht" und "Ewiges Recht." Eine Erwiderung, in: Historische Zeitschrift 133 (1926), 413-432, at 414. Hanns Rückert, in the Deutsche Literaturzeitung, no. 41,10 October 1925. Some years ago, I purchased Riickert's personal copy of Baron's book on Calvin. It contains, alas, no marginalia. Fubini, Renaissance Historian, 556 note 64, speculates that Baron's study, Religion and Politics (1937), suggests that possibly before 1940s or so "his choice of Italian history was not yet considered definite by Baron," for it "makes one think of research that exile was to interrupt."
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tion.'23 Two years later, he added a brief study on the German roots of Calvinist republicanism, in which he announced the preparation of „a detailed discussion of the problems raised in this essay, especially of the influence of Martin Bucer and Strassburg on Calvin's political thought."24 This book, 'Calvinist Republicanism. Its Origin and Place in History', which would have capped the project his dissertation had begun, became Baron's „road not taken."25 Its ruling idea - the urban origins of republicanism - was the same that had animated his dissertation. Baron's decision to bypass Zurich's Huldrych Zwingli, whom he saw as being „absorbed by the petty local conditions of Switzerland,"26 in favor of Strasbourg's Martin Bucer, shows how much he had developed away from Troeltsch's position. Calvin's Geneva and the worlds of the sects had been Troeltsch's hunting ground for „the protomodern attitudes he found wanting in the socially backward worlds of Luther's Saxony and German Lutheranism."27 His passing references to the German urban reformers, Zwingli and Bucer, had in no way softened his negative judgment on the German Reformation.28 Baron's agenda, by contrast, led him not only from theologian to theologian - Calvin to Bucer - but also from city to city Geneva to Strasbourg and Nuremberg. This step, which plunged him into political and social history of a concrete kind unknown to Troeltsch, bespeaks Baron's far warmer ardor for the cause of republicanism, which formed, more than anything else, the common element of his Reformation and his Renaissance studies.
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Hans Baron, Religion and Politics in the German Imperial Cities during the Reformation, in: The English Historical Review 52 (1937), 405^27,614-633. Hans Baron, Calvinist Republicanism and Its Historical Roots, in: Church History 8 (1939), 30-42, at p. 30 n l . In Calvinist Republicanism, 30 note 1, Baron explicitly connects the project to his dissertation on Calvin, his defense of it against Riickert, and his long article on the cities. Baron, Religion and Politics, 406. Thomas A. Brady, Jr., From the Sacral Community to the Common Man: Reflections on German Reformation Studies, in: Central European History 20 (1987), 229-245, here from idem, Communities, Politics, and Reformation in Early Modern Europe (Studies in Medieval and Reformation Thought 68), Leiden 1998, 353-370, at p. 354. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, 681-682, 752, 773-774, 812; English translation by Olive Wyon as The Social Teaching of the Christian Churches, New York 1931, 626, 669,677-678,703.
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(3) Against the backdrop of inter-war Reformation studies, the argument of his 'Religion and Politics' displays Baron's new departure. „Even at a time," he asserts, „in which religion was the most potent element in the life of peoples, colouring all ideas, political and economic conditions remained very real factors in supporting or restricting the influence of religious movements on political thought and action."29 The first and last phrases of this quote explain his aim to study the various attitudes of the German cities to an alliance of faiths and to the Empire" in the hope of demonstrating the potency of „political and economic conditions." Baron conceived this era in terms of a secularization narrative, in which Renaissance and Reformation formed the first stage of European modernity and politics - not religion - formed the central arena of struggle. This is why he wanted to show that „the individual development of the external and internal policy of the more important German imperial cities plays for the history of political thought in the age of the Reformation nearly as important a part as later ...was played by the respective peculiarities of Geneva and the Netherlands and the political structure of the great national States of Western Europe."30 The Italians may have been the „first-born sons of modern Europe," as Burckhardt had brashly asserted, but they had not stood alone. Baron proposed to read the German Imperial cities into a grand narrative of the European state, a high-stakes game indeed. One event stands at the center of „Religion and Politics": in 1529 Nuremberg, rejecting the arguments for resisting the emperor, surrendered to Strasbourg the leadership of the southern Imperial cities. Baron interrogated this shift. Why did Nuremberg, the nearest thing to a Imperial capital, not only shift to a policy of non-resistance but maintain it right through the Reformation era, and to the detriment of its co-religionists among the Imperial estates? Second, why did Strasbourg, traditionally a marginal player in Imperial politics, assume a role of active leadership both of the Imperial cities and of the Protestant League of Smalkalden? Third and more generally, why did these two superficially similar cities, Nuremberg and Strasbourg, which received the same Protestant religious ideas, part company on the issue of resistance and become strongholds respectively of monarchism and proto-republicanism? Baron's answer to these questions proceeds in two stages. In the first stage, he shows how „the mounting pressure on each city to choose between the imperial protector and the freedom of the new faith" formed the historical connexion which alone enables one to understand why the opposition of the German imperial 29 30
Baron, Religion and Politics, 405. Ibid., 406.
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cities to the emperor's desire for a religious restoration so profoundly affected all political and religious thought, and raised immediately in its most searching form the fundamental question of the right to oppose legitimate authority for the sake of the faith, the cardinal question of political thought during the coming century.31 Nuremberg and Strasbourg therefore had common experiences of religious reformation and of the tension it generated between them and their monarch. Neither religion or religious ideas as such nor the political situation, therefore, can explain the divergent paths their policies took. In the next step, Baron examines the two cities' economies and their relationships to the emperor and Empire, going well back into the pre-Reformation era. These differences of economy and political tradition, he concludes, and not the new religious ideas explain their divergent policies in 1529 and during the following two decades. The second part of this study, on differences, is more original than the first. Baron looks first at Nuremberg, then at Strasbourg. „The same peculiarities of economic and political structure which made Nuremberg since the middle ages a leader among German cities," he writes, „now brought about her cautious conservative attitude towards everything related to the Empire and the emperor." Among the „peculiarities" he numbers: an extensive territory which required Imperial protection; a prosperity which depended on a commerce which ranged over the Empire and to its southern, eastern and western neighbors, and which made Nuremberg „everywhere the pioneer of German commerce"; and a political experience which made „imperial patriotism, pride in the Empire, ...and the freedom of its cities" more precious to Nuremberg than to the citizens of "any other German city."32 Strasbourg „presented the greatest possible contrast to Nuremberg." It possessed a territory largely acquired piece-meal and without legitimate authority from the weak prince-bishops, a prosperity based on „the cultivation of and export of agricultural products" and a disdain for large-scale commerce, and a political tradition rooted in freedom from central authority and regionally oriented selfhelp.33 The Reformation overdetermined - to employ a term unknown to Baron - the two different sets of „political and economic conditions," as religious ideas blended with and strengthened the cities' respective political traditions of passivity and activism. „In Strassburg as in Nuremberg," Baron writes, „religious ideals and political conditions reinforced one another and led both cities - however different the result - to organic development and historical greatness."34 Baron saw nothing necessary or deterministic about his explanation of this divergence of the two cities' pasts and policies. Reformation religion could also un31 32 33 34
Baron, Religion and Politics, 403. Ibid., 614-617. Ibid., 621-624. Ibid., 628.
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derdetermine politics by working against a city's „political and economic conditions" to block a Reformation policy suited to local conditions and traditions. He illustrated this possibility from the history of a third Imperial city, Augsburg. This city's „less happy fate" followed from an economy and political traditions which prevented the kind of coordination between religion and politics that took place in both Nuremberg and Strasbourg. Augsburg possessed an insignificant territory, an economy dependent on large-scale ventures - the mines of Tyrol and Hungary and the colonial trade of Spain and Portugal - and a political tradition which downgraded urban solidarity and promoted the economic interests - „monopolies" - of the city's great trading families.35 Here, perhaps uniquely in his scholarly oeuvre, Baron appeals to social conflict - the leading families against the guilds to explain a city's politics. Baron concludes 'Religion and Politics' by turning the spotlight back toward his principal interest - political ideas. While „the first place in this period was occupied by religious ideas," he acknowledges, „they had a realistic rival of independent origin and with independent aims." Although he had demonstrated that, in this case, economy and political tradition were a good deal more than „a realistic rival" to „religious ideas," he backed away from generalizing. Whether religious ideas transformed the „external world" or were themselves changed by „political needs and ideals, depended always on the environment. It is impossible to generalize on this subject."36 This conclusion shows how faithful Baron remained to the Diltheyan position, avoiding questions of causation. This is why his final move is not to assert a conclusion but to ask „the real question": „Did religious impulse combine with political tradition so that their effects were mutually increased, or were they hostile to each other?"37 In Hans Baron's view the answer, we must infer, could go either way.
(4) While the core idea of Hans Baron's work on the Reformation, the contingency of the relationship between religion and politics, points clearly to the world before the Great War, the centrality of politics in his work reflects the currents of the 1920s and is not to be found in Troeltsch, much less in Dilthey. This centering on politics separated Baron's scholarship from the mentality of the pre-1914 world of scholarship.38 His own work looked back, to be sure, but it also looked forward, 35 36 37 38
Ibid., 628-630. Ibid., 633. Ibid. See Fubini, Renaissance Historian, 542-543, who brilliantly characterizes Baron's deep intellectual conservatism and his attachment to "a bygone age."
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and his study of the German cities anticipates in several ways post-1960 studies on the urban reformation. First, Baron emphasizes local urban settings, which places his work in tune with the non- or anti-national tendencies of modern research. Second, he insists on the Reformation's importance not only for local but also for Imperial politics, which anticipates recent réévaluations of „the Old Empire." And third, Baron tracks the continuities through affinities of political situations, not theological ideas, which is why Bucer, not Zwingli, assumes the role of Calvin's principal forerunner in Baron's conception of the history of republicanism. 'Religion and Politics' appeared at an inopportune time, and while the earliest post-1945 writers on the German urban reform cited it, they did not receive it. Although Baron's theme - progressive republican ideas in the German Reformation - struck a welcome chord in the restorationist atmosphere of West German politics in the 1950s and 1960s, in those years his analysis was neither engaged nor extended. The earliest work, the dissertation Wilhelm Bofinger submitted in 1957 to the Faculty of Protestant Theology at Tiibingen, argued that the South German and Swiss urban reformers' adaptation of Luther's message to the burghers' mentality gave rise to a sound, progressive, decidedly „western" tradition of German Protestantism.39 This „western argument" - sound but long suppressed German political traditions revived under Western influence - gained general currency in the field through Bernd Moeller, whose 'Imperial Cities and the Reformation' of 1962 formulated the scholarly topos of the German „urban reformation." Moeller made the argument's contemporary relevance crystal clear in his concluding lines: „The impressive theology of the first city reformers was not passed on to a loyal or thoughtful generation on German soil, but rather to Calvin in Geneva, ...[whence] it conquered new regions and different conditions and set in motion those profound changes whose historical effects are still alive."40 To drive this nail home in the spirit of his time and place, Moeller added one more sentence: „In the form of modern Anglo-Saxon democracy, however, despite many new and different ideas, a piece of medieval German urban civilization returned to Germany."41 If he read 39
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Wilhelm Bofinger, Oberdeutschtum und württembergische Reformation. Die Sozialgestalt der Kirche als Problem der Theologie- und Kirchengeschichte der Reformationszeit, unpublished Ph.D. dissertation, Tübingen 1957. The theological part of this dissertation remained unpublished, while the historical part appeared as Wilhelm Bofinger, Kirche und werdender Territorialstaat. Eine Untersuchung zur Kirchenreform Herzog Ulrichs von Württemberg, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 65 (1965), 75-149. Bernd Moeller, Reichsstadt und Reformation (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 180), Gütersloh 1962,76, here from Imperial Cities and the Reformation. Three Essays, translated by H. C. Erik Midelfort and Mark U. Edwards, Jr., Philadelphia 1972,114. Moeller, Reichsstadt und Reformation, 76: "In der modernen angelsächsischen Demokratie aber ist, nach vielen Wandlungen und neben manchem anderen Gedankenelement, auch ein Stück mittelalterlichen deutschen Städtewesen nach Deutschland zurückgekehrt."
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this line, Hans Baron, who was at this time totally absorbed in his Florentine studies, may well have felt vindicated.42 Baron's study has its flaws, of course, but they hardly damage its argument in any fundamental respect. For one thing, he had to rely on many old and very old studies that today are obsolete, though, to his credit, when possible he usually relied on the best and the most recent literature.43 For another, Baron's command of Early New High German was sometimes faulty, which led to misreadings,44 and sometimes his statements contradict sources he might - at least theoretically have known but did not.45 Yet, given its premises, his argument can be defended today. It gained stature in the 1970s and 1980s, when the local urban reformations began to be reconnected to Imperial politics.46 Simultaneously, new research supplied institutional flesh and social bones to Baron's concept of a common urban politics as an important element in the political history of the German Reformation.47 42 43
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In Baron, Calvinist Republicanism, 30 note 1, he explicitly connects the project to his dissertation on Calvin, his defense of it against Rückert, and his long article on the cities. Two cases in point are Johannes Kühn, Die Geschichte des Speyerer Reichstags 1529, Leipzig 1929, which is based on his editorial work for volume 7 of the Deutsche Reichstagsakten, mittlere Reihe; and Eugen Franz, Nürnberg, Kaiser und Reich. Studien zur reichsstädtischen Aussenpolitik, Munich 1930. A case in point is Baron's paraphrase, Religion and Politics, 412 of a passage in which Jacob Sturm is made to warn Strasbourg's preachers "to rely on 'fleshly arms' than on God alone." The uncited source is a letter of Jacob Sturm to Peter Butz, Speyer, 15 July 1526, in: Politische Correspondenz der Stadt Straßburg im Zeitalter der Reformation, 5 vols., Straßburg/Heidelberg 1882-1933, vol. 1, 263-264, note 464: "deshalben die prädicanten nit solten hoch uf new mer acht haben, wie es do oder dort zugieng, sich auch nit uf grosz oder vest stett verlossen; dan solichs bringt argwon, als ob si sich mer uf ein fleischlichen arme dan uf Christum allein verliessen." The passage's sense is precisely the opposite of Baron's reading. Baron was impatient with "an entrenched university culture stressing philology and overspecialized historical studies," notes James Hankins, who has called Baron's 1928 edition of Leonardo Brum's writings "useful but badly-edited." Hankins, The "Baron Thesis" after Forty Years, 311, 314. Baron, Religion and Politics, 627, declares that Strasbourg in the 1540s experienced "[no] internal contention, no disharmony," but the truth is that these years caused more internal disharmony than the Peasants' War had done. See Thomas A, Brady, Jr., Protestant Politics: Jacob Sturm (1489-1553) of Strasbourg and the German Reformation, Atlantic Highlands, N.J. 1995, chapter 9, based very heavily on the Politische Correspondenz der Stadt Straßburg, vol. 4, which Baron could have but probably did not study. The omission is an extremely venial sin for a scholar who had been driven into undeserved exile. Martin Brecht, Die gemeinsame Politik der Reichsstädte und die Reformation, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, kanonistische Abteilung 94 (1978), 181-263, here at 182-183, where he cites approvingly Baron's Religion and Politics. On the institutions, see Georg Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung: Eine Untersuchung zur korporativen Politik der Freien und Reichsstädte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 113), Wiesbaden 1984; and Heinrich Richard Schmidt, Reichsstädte, Reich und Reformation. Korporative Religionspolitik 1521-1529/30 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte
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By current standards, of course, Baron's concept of social history - what he called a „sociological interpretation" - was fairly primitive. For him it meant to be aware that a descriptively conceived economic history should form part of the background for the history of political ideas. This can be inferred from „Religion and Politics" and plays a more explicit role in some of his studies on Renaissance Florence. In a 1939 review of some books on Italian economic history, Baron frames „the vital question": „Were the old traditions simply carried on, ... [or] were new sectors of economic life developed in the Renaissance and added to the earlier medieval base?"48 His answer asserts the epochal divide between Middle Ages and Renaissance that haunts all of his work. While „the financial capitalism of the thirteenth century was an anomaly and not a factor capable of transforming the thinking of the period in a lasting way, the potent forces which ...gave the final blow to the decaying economic world of the Middle Ages ...were already at work in the Florence of the fifteenth century."49 Everyone familiar with his later work will recognize buried in this passage the Baronian turning point around 1400. The idea that a similar moment, when long-prepared ideas are triggered by political conflict to erupt into consciousness, occured in the German cities in the 1520s, hovers over 'Religion and Politics,' its presence sensed but not seen. Its materialization was blocked, probably, not by Baron's analysis of Nuremberg and Strasbourg, but by the enigmatic case of Augsburg, where economy and, by extension, social classes showed themselves to be something more than part of the „environment." This was treacherous ground for a historian of Baron's intellectual makeup. The problem was not methodological, for though he never embraced the principal method - prosopography or collective biography - which historians have subsequently used to unlock urban classes,50 he did not object to the method
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Mainz 122), Wiesbaden 1986. On the socio-political side, see Thomas A. Brady, Jr., Turning Swiss: Cities and Empire, 1450-1550, Cambridge 1985; idem, Protestant Politics. Hans Baron, A Sociological Interpretation of the Early Florentine Renaissance, in: Baron, In Search of Florentine Civic Humanism 2:40-54, here at p. 41; it is an abridged revision of a paper he published in 1939. Baron, A Sociological Interpretation of the Early Florentine Renaissance, 43-44,47-48. Walter Jacob, Politische Führungsschicht und Reformation. Untersuchungen zur Reformation in Zürich 1519-1528 (Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte 1), Zurich 1970; Thomas A. Brady, Jr., Ruling Class, Regime, and Reformation at Strasbourg, 1520-1555 (Studies in Medieval and Reformation Thought 22), Leiden 1978; Hans-Christoph Rublack, Die Einführung der Reformation in Konstanz von den Anfängen bis zum Abschluß 1531 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 40), Gütersloh and Karlsruhe 1971; Katarina SiehBurens, Oligarchie, Konfession und Politik im 16. Jahrhundert: Zur sozialen Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger 1518-1618 (Schriften der Philosophischen Fakultät der Universität Augsburg. Historisch-sozialwissenschaftliche Reihe 29), Munich 1986; Peter Eitel, Die oberschwäbischen Reichsstädte im Zeitalter der Zunftherrschaft. Untersuchungen zu ihrer politischen und sozialen Struktur unter besonderer Berücksichtigung der Städte Lindau, Memmingen, Ravensburg und Überlingen, Stuttgart 1970.
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itself.51 No, for him the sticking point was facing the possibility of what he called a „sociological interpretation" that would require him to draw the inference from the case of Augsburg, rather than those of Nuremberg and Strasbourg, that urban politics were shaped by the clash of class interests. This is why he concluded 'Religion and Politics' with a warning that „it is impossible to generalize on this subject."52 Furthermore, the correctness of this inference can be inferred from his consistent rejection of every suggestion that his Florentine civic humanists may have expressed, defended, or promoted specifically the interests of the Florentine oligarchy.53 Baron's desire to avoid a social interpretation and its historical materialist implications is the most probable explanation for the fact that, as Riccardo Fubini notes, 'Religion and Politics' is „one of Baron's most precise pieces of research, as well as one least anxious to establish a thesis."54 The establishment of a thesis would have taken him onto a conceptual ground he wished to avoid. The avoidance of social historical method - today a principal way of studying urban social and political history55 - is one feature of Baron's work that has become obsolete. Another casualty of time is his belief in the German cities as a significant forum of early republican ideas.56 While his thesis on Florentine civic humanism as the beginning of a powerful tradition of republicanism still enjoys respect among genealogists of European republicanism, the German cities have 51
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I infer this from his praise in seminar for Lauros Martines, The Social World of the Florentine Humanists, 1390-1460, Princeton 1963. Ibid., 633. E.g., Peter Herde, Politische Verhaltensweise der Florentiner Oligarchie, 1382-1402, in: Geschichte und Verfassungsgefüge. Frankfurter Festgabe für Walter Schlesinger (Frankfurter historische Abhandlungen 5), Wiesbaden 1973. See Ronald G. Witt, "In the Footsteps of the Ancients." The Origins of Humanism from Lovato to Bruni (Studies in Medieval and Reformation Thought 74), Leiden 2000, 424-425; Hankins, The "Baron Thesis" after Forty Years, 317. Fubini, Renaissance Historian, 557 note 64. The piece clearly benefits from Baron's pre-exile work on a volume of the acts of the Imperial Diets under Maximilian. His only other German study, Imperial Reform and the Habsburgs, 1486-1504. A New Interpretation, in: The American Historical Review 44 (1938/39), 293-303, relates directly to the setting of Religion and Politics, 406-408. When he in 1965 suggested that I investigate Jacob Sturm, he said that he expected the topic to shed new light on republican ideas under the impact of humanism and Reformation. See respectively Brady, Ruling Class, 19-33; Erdmann Weyrauch, Über soziale Schichtung, in: Ingrid Bätori (ed.), Städtische Gesellschaft und Reformation (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit. Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung 12), Stuttgart 1980, 5-57; Wolfgang Reinhard, Freunde und Kreaturen. "Verflechtung" als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen Römische Oligarchie um 1600 (Schriften der Philosophischen Fachbereiche der Universität Augsburg 14), Munich 1979,19. Heinz Schilling, Gab es im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit in Deutschland einen städtischen Republikanismus? Zur politischen Kultur des alteuropäischen Stadtbürgertums, in: Helmut G. Koenigsberger (ed.), Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 11), Munich 1988,101-144.
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simply dropped out of that picture.57 The story of republican practice - an untheorized culture of self-government - remains, however, quite living. Its most eloquent advocate is Peter Blickle, who argues that in Central Europe and elsewhere, late medieval burghers and peasants built communal forms and ways of selfgovernment that opposed both feudal and, later, absolutist governance. Further, that this experience has not lost its relevance for democratic political life today.58 „If one wishes to discover," Blickle writes, „roots of radical democratization in pre-modern European history, they must lie not in the process of social discipline and certainly not in the state, but in communalism. Democratic ways appeared first not where states exercised the strictest discipline, but where people lived most communally."59 Blickle's thesis on lived communalism - a long, deep tradition of popular selfdiscipline through community with relevance for modern politics - has also spread to historians of other parts of Europe.60 While its relevance for the practice of self-government is widely conceded, its place in the genealogy of republican ideas is disputed. Blickle holds that burghers and peasants shared not only a political practice but political ideas that found their first theoretical formulation in the writings of Jean-Jacques Rousseau.61 Wolfgang Reinhard, however much he agrees with Blickle about the vitality of republican practice, doubts that it had anything to do with republican ideas. „The republics of early modern Europe," Reinhard writes, .jested not on reflection but on improvisation. They were not founded as republics but developed under special conditions out of the common substratum of European communalism, on the one hand, and culture of estates and associations, on the other."62 Their generally defensive and localist character made such polities „losers from the outset" in the process of state-building, which was dominated by monarchies bent on unification. „At least on the road to the modern,
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Easily the most powerful assent comes from J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1976, from whose narrative the German cities are simply absent. Developed most fully in Peter Blickle, Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, 2 vols., Munich 2000; and most accessibly in Peter Blickle, Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch, Munich 1981, which appeared in English as Obedient Germans? A Rebuttal, translated by Thomas A. Brady, Jr., Charlottesville, Va. 1997. Blickle, Kommunalismus, vol. 2, 382. See Peter Blickle (ed.), Verborgene republikanische Tradtionen in Oberschwaben, Tübingen 1998. The argument for a continuity of practice is concentrated in this title: Hans Eugen Specker (ed.), Die Ulmer Bürgerschaft auf dem Weg zur Demokratie. Zum 600. Jahrestag des Großen Schwörbriefs, Ulm 1997. Peter Blickle, ed., Resistance, Representation, and Community, Oxford 1997. Blickle, Kommunalismus, vol. 2, 286-348, which culminates in his star theoretician, JeanJacques Rousseau. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, Munich 1999, 257; and there, too, the remaining quotes in this paragraph.
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national power-state, [republics] posed no alternative. The survival of Switzerland demonstrates this with more than sufficient clarity." Reinhard nevertheless agrees with Blickle that European traditions of selfgovernance, of local liberty formed a general feature of European societies since deep in the Middle Ages. The erasure of this barrier between town and countryside, a major advance in thinking about the late medieval and early modern eras, makes obsolete Hans Baron's association of liberty with burghers and cities only. In one final respect, however, the current outlook resonates with Hans Baron's political vision, however much its optimism is chastened by the European experience of catastrophe as an outcome of conflict. And its rhetoric is interrogative rather than, like Baron's, assertive. „Can Europe," asks Reinhard - to him the last word - „which invented the modern state based on power and war, possibly demonstrate through its [European] Union that this can be a peaceful and at least halfway prosperous world?"63
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Ibid., 536.
II. Konfessionalisierung
Einführung Peter Burschel
Wer einen Blick in das 'Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 1998' wirft, stößt in den Sitzungsbeiträgen vom 21. November auf eine Antrittsrede, die folgende Auskunft erteilt: „Die Dissertation hätte eigentlich eine Humanistenbiographie werden sollen, aber Jacopo Sadoleto hatte im südfranzösischen Carpentras nur Quellen zur Kirchengeschichte hinterlassen. So wurde daraus eine Studie über die katholische Reform in jenem Bistum und eine langjährige Beschäftigung mit der Kirchengeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, abermals eine ziemlich karriereschädigende Tätigkeit, auch wenn Papstgeschichte als Finanzgeschichte oder Reformgeschichte als Sozialgeschichte betrieben wurden. Letzteres gipfelte in dem anscheinend nicht ganz erfolglosen Versuch, den kulturkämpferischen Begriff „Gegenreformation" im Sinne der sozialhistorischen Impulse der sechziger und siebziger Jahre durch den umfassenderen und neutralen „Konfessionalisierung" zu ersetzen."1 Obwohl schwer zu ermessen ist, wohin und wie weit den Redner eine Dissertation gebracht hätte, die eine Humanistenbiographie geworden wäre, wird man ihn zu seinem 65. Geburtstag doch beruhigen dürfen: ganz erfolglos war der Versuch in der Tat nicht, die „Konfessionalisierung" auf den Weg zu bringen. Im Gegenteil. Der historische Anstoß ist längst zum Diskurs, das Konzept zum Paradigma avanciert. Ja, die Frage 'Wie hältst Du's mit der Konfessionalisierung?' gehört inzwischen zu den Gretchenfragen der Frühneuzeitforschung - und das nicht nur in Deutschland. Nachdem Wolfgang Reinhard bereits 1977 nach dem Beitrag der sogenannten „Gegenreformation" zur Entstehung der europäischen Moderne gefragt hatte,2 1
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Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 1998. Heidelberg 1999. S. 131135, hier S. 132. Vor dem Hintergrund von Überlegungen H. O. Evennetts und John Bossys: Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters. In: Archiv für Reformationsgeschichte. 68.1977. S. 226-252.
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legten er und Heinz Schilling 1981 unabhängig voneinander ihre Konfessionalisierungsüberlegungen vor. Angeregt von Systemtheorie und Identitätspsychologie, verbanden Reinhard und Schilling die Konzepte „Konfessionsbildung" (Ernst Walter Zeeden) und „Sozialdisziplinierung" (Gerhard Oestreich) zu einem Gesamtmodell, das die Entstehung der Konfessionen im westeuropäischen Christentum seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erstmals als fundamentalen gesellschaftlichen Wandlungsprozeß zu identifizieren erlaubte und die strukturellen Parallelen der konfessionellen Differenzierung ins Blickfeld rückte. Gleichzeitig ließ das Modell den engen Zusammenhang von Konfessionalisierungsprozeß und Staatsbildung erkennbar werden, was wiederum die Grundannahme seiner Erfinder stärkte, daß dieser Prozeß als entscheidende Entwicklungsstufe auf dem Weg in die Moderne zu gelten habe.3 Obwohl Reinhard und Schilling durchaus unterschiedliche Akzente setzen die Tendenz zum Beispiel, Konfessionalisierung zuerst einmal vorrangig als Prozeß der Kirchenbildung zu verstehen, ist bei Reinhard deutlicher ausgeprägt als bei Schilling - , decken sich ihre Konzepte doch so weitgehend, daß sie bis heute zumeist als Einheit rezipiert, modifiziert und in jüngerer Zeit vermehrt auch kritisiert werden.4 Wie sieht diese Kritik aus? Läßt man einmal jene Interpreten beiseite, die dafür plädieren, an die Stelle des Konfessionalisierungsparadigmas, an die Stelle generalisierender historischer Modellbildung also, Verfahren historistischer Typologisierung zu setzen, und die das Konfessionalisierungsparadigma deshalb zumeist auch als Konzept des 'Parallelisierungszwangs' ablehnen, konzentriert sich die Kritik vor allem auf den vermeintlichen 'Etatismus' des Konzepts. Konkret: Das makrohistorische Konfessionalisierungsparadigma sei viel zu staatslastig, um die sozialen, religiösen und kulturellen Aushandlungspotentiale 'vor Ort' angemessen berücksichtigen zu können, die eine soziale Kontrolle als
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Wolfgang Reinhard: Konfession und Konfessionalisierung in Europa. In: Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang. Hg. von Wolfgang Reinhard. München 1981 (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg. Bd. 20). S. 165-189; Heinz Schilling: Konfessionspolitik und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe. Gütersloh 1981 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte. Bd. 48). Reinhard und Schilling im Vergleich: Heinz Schilling: Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft - Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas. In: Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993. Hg. von Wolfgang Reinhard, Heinz Schilling. Gütersloh 1995 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte. Bd. 198). S. 149, hierS. 3f.
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Peter Burschel
kommunale Selbstregulierung auch unabhängig von obrigkeitlicher Initiative entstehen ließen.5 Wie auch immer man diese Kritik beurteilt, fest scheint zu stehen, daß ihr jene Distanz gegenüber der Vorstellung von der Machbarkeit von Gesellschaften, und das heißt ja immer auch: von der Machbarkeit des Menschen, zugrunde liegt, die sich als wissenschaftlicher Generationenkonflikt bekanntlich keineswegs nur im Konfessionalisierungsdiskurs artikuliert. Ist das Konfessionalisierungsparadigma als Produkt funktionalistischen und damit bis zu einem gewissen Grad auch deterministischen Systemdenkens der siebziger Jahre demnach ein Auslaufmodell, das nur noch von der Macht der Patriarchen am Leben erhalten wird? Läuft es Gefahr, Geschichtsbilder zu produzieren, die an den Bedürfnissen einer Gesellschaft vorbeigehen, die zwar immer noch eine Verfahrensgesellschaft sein mag, die aber nicht mehr an die Kraft, ja, vielleicht nicht einmal mehr an die Legitimität von Verfahren glaubt? Kurz: Hat es seine Schuldigkeit getan?6 Reinhard und Schilling antworten ihren Kritikern seit geraumer Zeit fast regelmäßig, indem sie hervorheben, daß das Konfessionalisierungsparadigma in besonderer Weise geeignet sei, Mikro- und Makroperspektiven zu kombinieren, was es vor allem für historisch-anthropologische Analysen attraktiv erscheinen lasse.7 Gleichzeitig deutet sich an, daß das Konzept auch jenseits der Mikrogeschichte im engeren Sinne als entwicklungsfähig wahrgenommen wird nicht zuletzt aus systemtheoretischer Perspektive!8 Führt man sich darüber hinaus vor Augen, daß inzwischen die Halbwertszeit vieler 'neuer' historischer 'Konzepte' und 'Diskurse' kaum mehr der Rede wert ist, spricht zudem einiges
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Um hier nur einen Vertreter dieser Position zu nennen: Heinrich Richard Schmidt: Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung. In: Historische Zeitschrift. 265.1997. S. 639-682. Vgl. zu diesen Fragen Wolfgang Reinhard selbst: Was ist katholische Konfessionalisierung? In: Die katholische Konfessionalisierung (Anm. 4) S. 419-452, hier insbesondere S. 423f. und: Kommentar zu der Sektion „Staatserfahrung" in der Frühen Neuzeit? - Kriege, Verwaltung und Bauten. In: „Erfahrung" als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. Hg. von Paul Münch. München 2001 (Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge. Bd. 31). S. 471475. Beispiele: Wolfgang Reinhard: Konfessionalisierung. In: Oldenbourg Geschichte Lehrbuch. Frühe Neuzeit. Hg. von Anette Völker-Rasor. München 2000. S. 299-303; Heinz Schilling: Nochmals .¿weite Reformation" in Deutschland. Der Fall Brandenburg in mehrperspektivischer Sicht von Konfessionalisierungsforschung, historischer Anthropologie und Kunstgeschichte. In: Zeitschrift für Historische Forschung. 23. 1996. S. 501-524; ders.: Disziplinierung oder „Selbstregulierung der Untertanen"? Ein Plädoyer für die Doppelperspektive von Makro- und Mikrohistorie bei der Erforschung der friihmodernen Kirchenzucht. In: Historische Zeitschrift. 264.1997. S. 675-691. Rudolf Schlögl: Differenzierung und Integration: Konfessionalisierung im friihneuzeitlichen Gesellschaftssystem. Das Beispiel der habsburgischen Vorlande. In: Archiv für Reformationsgeschichte. 91. 2000. S. 238-284, hier insbesondere S. 241-245 (mit weiterer Literatur).
Einführung
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dafür, das Konfessionalisierungsparadigma zu den potentiellen Profiteuren dieser Entwicklung zu zählen. Hat das Konfessionalisierungsparadigma also doch eine Zukunft? Wirft man einen Blick in die folgenden Beiträge, fallen die Antworten auf diese Frage zwar durchaus unterschiedlich aus. Doch gibt es keinen Beitrag, der nicht erkennen ließe, daß die Konfessionalisierungsforschung auf vielen Feldern noch am Anfang steht und daß sie gerade auch dort, wo sie sich um Distanz zum Konfessionalisierungsparadigma bemüht, entkonfessionalisierte wissenschaftliche Deutungsmuster nutzt und weiterentwickelt, die dieses Paradigma erst geschaffen hat.
Die konfessionelle Stadt - eine Problemskizze Heinz
Schilling
Die nachfolgenden Überlegungen zur europäischen Stadt im konfessionellen Zeitalter erscheinen mir als Geburtstagsgaben an Wolfgang Reinhard vor allem deswegen geeignet, weil sie in manchem seine eigenen Forschungen berühren.1 Das gilt für die europäisch vergleichende und notwendig epochenübergreifende Perspektive ebenso wie für die bei einem solchen Thema unabdingbare methodisch-theoretische Reflexion. Vor allem aber tritt an diesem Thema besonders eindringlich die Offenheit der vor rund 20 Jahren von ihm maßgeblich mitbegründeten Konfessionalisierungsforschung für die neuen kulturgeschichtlichen und anthropologischen Fragestellungen zutage, denen seit einigen Jahren sein besonderes Interesse gilt. Wenn die konkreten Beispiele eher aus dem transalpinen Norden und Nordwesten Europas als aus dem Reinhard besonders vertrauten und wohl auch lieberen Süden und Südwesten gewählt werden, so wird auch dieses kaum sein Mißfallen erregen - entspricht das doch einer seit Jahrzehnten freundschaftlich bewährten regionalen 'Arbeitsteilung' zwischen ihm und dem Verfasser bei ihren thematisch und theoretisch-methodisch weitgehend gleichgerichteten Forschungen und Darstellungen zu den frühneuzeitlichen Konfessionalisierungen und den daraus hervorgegangenen europäischen Konfessionskulturen. Dem Charakter einer historischen Problemskizze oder - wie Wolfgang Reinhard so etwas gerne nennt - von Prolegomena zu einer Geschichte der konfessionellen Stadt entsprechend, wird im folgenden weitgehend auf Anmerkungen verzichtet. Auf dem Überschneidungsfeld meiner Stadt- und konfessionsgeschichtlichen Interessen gelegen, wurde das Thema in mehreren meiner Publikationen berührt und durch wissenschaftliche Apparate erschlossen. Ich werde auch zukünftig darauf zurückkommen, u.a. im Rahmen der Arbeit in Team I „Religion and Cultural Exchange" des ESF-Programms „Cultural Exchange in Europe, 14001700", dessen erste Ergebnisse soeben erschienen oder im Erscheinen begriffen sind: Confessionalism and the Rise of Religious and Cultural Frontiers in Early Modern Europe. In: Frontiers of Faith. Religious Exchange and the Constitution of Religious Identities 14001750. Hg. von Eszter Andor, Istvän György Tóth. Budapest (CEU/ESF) 2001, bzw. Religious Ceremonials and Images: Power and Social Meaning (1400-1750). Hg. von José Pedro Paiva (erscheint Coimbra 2002).
Die konfessionelle Stadt - eine Problemskizze
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Bekanntlich ist 'Stadt und Kirche' ein die Geschichte Europas vom frühen Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert hinein tief prägender und zugleich außerordentlich vielschichtiger Zusammenhang, der sich in einem Festschriftbeitrag auch nicht annähernd erschöpfend behandeln läßt. Es kann daher im folgenden nur um ausgewählte Entwicklungen und Strukturen gehen, und zwar zunächst um die epocheübergreifenden Zusammenhänge, die die Beziehungsgeschichte zwischen Stadt und Kirche zu einem besonderen Strukturproblem des Zivilisationstypus Europa machten (Teil I), danach um das spezifische Phänomen der konfessionellen Stadt vom ausgehenden 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert (Teil II), anschließend dann um einige thesenhafte Schlußfolgerungen (Teil III).
'Stadt und Kirche' als Strukturproblem der europäischen Geschichte Die europageschichtliche Dimension unseres Themas resultiert nicht aus der Symbiose zwischen Stadt und Kirche als solcher. Denn daß städtische Siedlungen in ihren Ursprüngen und Funktionen aufs engste mit religiösen Bräuchen und kirchlichen Institutionen verbunden waren, ist - wie Lewis Mumford zu recht betont - ein universalgeschichtliches Phänomen: „The city of the dead antedates the city of the living. In one sense, indeed the city of the dead is the forerunner, almost the core, of every living city"2. Das europaspezifische Strukturproblem resultiert vielmehr aus zwei eng miteinander verzahnten Eigentümlichkeiten der europäischen Stadt und der europäischen Zivilisation, nämlich aus der historischen Genese der alteuropäischen Stadt und aus dem besonderen religionssoziologischen Profil oder Muster des lateinischen Europa. 1. Genese und Langzeitperspektive - Es waren hauptsächlich kirchliche Institutionen, die die Kontinuität Urbanen Lebens von der Antike über die Völkerwanderungszeit hinweg sicherten, in den italienischen Kommunen ebenso wie in den nordalpinen Bischofsstädten. Dem entspricht es, daß die Kirche ihre Diözesanorganisation ganz auf die Städte ausrichtete, die Bischöfe also von Anbeginn an stadtsässig waren, ebenso die großen Kanonikerstifte. Bereits im frühen, vor allem aber im hohen und späten Mittelalter wurden zahlreiche europäische Städte zum Ziel von Wallfahrten und transkontinentalen Pilgerströmen, voran natürlich Rom, gefolgt von Toulouse mit gleich mehreren Apostelgräbern und Santiago de Compostela mit dem Jakobusgrab sowie von zahlreichen Pilgerstädten mehr regionaler 2
Lewis Mumford: The City in History. New York 1961. Benutzt wurde die Ausgabe Penguin Books. Harmondsworth 1974. Zitat, S. 15.
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Bedeutung. Mit der Bettelordenbewegung des Spätmittelalters konzentrierten sich dann auch die Klöster in den Städten, nachdem die älteren Orden - Benediktiner, Cluniazenser und Zisterzienser - bekanntlich vorwiegend oder gar ausschließlich landsässig gewesen waren. Die Kirche des lateinischen Christentums war somit im prä-modernen Europa nicht nur Adelskirche, wie man sie angesichts der adligen Dominanz im Episkopat, des adligen Eigenkirchenrechts und der zahlreichen Adelsklöster auf dem Lande gerne charakterisiert, sie war von Anfang an auch immer Stadtkirche. Diese Stadtsässigkeit der Kirche förderte entscheidend die organisatorische und geistige Durchdringung Europas durch das Christentum. Vor allem bei der Integration des 'jüngeren Europa', d.h. der vom Römischen Reich unberührten Randzonen, und bei dessen Angleichung an das 'ältere Europa' gingen Christianisierung und frühe Urbanisierung Hand in Hand. Nur Irland macht insofern eine Ausnahme, als dort die mittelalterliche Kirche von den Klöstern her organisiert wurde, während die dort ebenfalls stadtsässigen Bischöfe nachgeordnet blieben.3 Indem auch die Parochialgliederung als untere Ebene der Kirchenorganisation auf die städtischen Siedlungen bezogen war, war jede der zahlreichen europäischen Stadtgründungswellen durch eine enge Verschränkung von Urbanisierung und Ausdifferenzierung kirchlicher Organisation charakterisiert, auch die Industrialisierung, ja sogar noch die Siedlungsverdichtungen, die die europäischen 3
Zur mittelalterlichen Stadt liegt eine außerordentlich breite Literatur vor. Ich nenne nur die Habilitationsschrift von Edith Ennen: Frühgeschichte der europäischen Stadt. Bonn 1963, und ihren Überblick: Die europäische Stadt des Mittelalters (1972). 4. verb. Aufl. Göttingen 1987 für das frühe bzw. gesamte Mittelalter, sowie Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter. Stuttgart 1988 für die späteren Jahrhunderte, jeweils mit ausführlicher Literatur. Überblick zur vorreformatorischen Beziehungsgeschichte Stadt/Kirche in Deutschland bei Bernd Moeller: The Town in Church History: General Presuppositions of the Reformation in Germany. In: The Church in Town and Country 16. 1979. S. 257-268; in europäischer Perspektive L. Mumford, City (Anm. 2) S. 282-323. Demgegenüber wird das Thema Stadt und Kirche so gut wie gar nicht beachtet bei Leonardo Benevolo: Die Stadt in der europäischen Geschichte. München 1999 (Europa Bauen), wodurch diese - so manchem anderen Band in der Reihe „ E u r o p a Bauen" ähnlich - Darstellung entgegen ihrem anspruchsvollen Titel einen Zug von Beliebigkeit erhält. - Speziell zu den Pilgerstädten nenne ich nur zwei Aufsätze mit ausführlicher Literatur: Edith Ennen: Stadt und Wallfahrt in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Deutschland. In: Diess. (Hg.): Studien zu Volkskultur, Sprache und Landesgeschichte. Festschrift Matthias Zender. Bd. 2. Bonn 1972. S. 1057-1075; Klaus Herbers: Stadt und Pilger. In: Franz-Heinz Heye: Stadt und Kirche. Linz/Donau 1995 (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas. Bd. XIH). S. 199-238. - Die Unterscheidung .jüngeres" und „älteres" Europa nach Peter Moraw: Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen Mittelalter. Ein Versuch (1987). In: Ders.: Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des deutschen Mittelalters. Sigmaringen 1995. S. 293-320. Zur irischen Sondersituation vgl. Brendan Bradshaw: Irland. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 16. Berlin, New York 1987. S. 273-287, hier 273277; Ders.: The Wild and Woolly West: Early Irish Christianity and Latin Orthodoxy. In: The Churches, Ireland and the Irish. Hg. von W. J. Sheils, Diana Wood. Oxford, New York 1989. S. 1-23; Kathleen Hughes: The Church in Early Irish Society. London 1966.
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Städte zu Mitte unseres Jahrhunderts weit ins Umland wachsen ließen: Rund zwei Jahrtausende gehörte die Pfarrkirche zur Grundausstattung jeder Stadt oder jeden Stadtteils, in der Regel ergänzt durch zahlreiche andere Kirchentypen und weitere kirchliche Institutionen, in der Moderne vor allem Krankenhäuser oder Kindergärten. Die gewaltigen, meist den Kaufmannsheiligen Maria oder Nikolaus geweihten Backsteinkirchen der mittelalterlichen Hansestädte von Brügge im Westen bis Danzig, Reval und Königsberg im Osten zeugen davon ebenso wie die Hof- und Metropolitankirchen in den Haupt- und Residenzstädten der Neuzeit - etwa St. Pauls im Herzen des Londoner Handels- und Hafenbezirkes oder die vier Dome in der Mitte von Berlin. Daß die Hauptkirchen der Hansestädte der städtischbürgerlichen Selbstdarstellung dienten, die Dome der Haupt- und Residenzstädte dagegen das Königtum, den Hof und andere nichtbürgerliche Kreise der Stadtbewohner einbezogen, zeigt die Flexibilität und soziale Anpassungsfähigkeit dieser europäischen Symbiose von Stadt und Kirche. In unseren Tagen allerdings scheint sich diese Beziehungsgeschichte ihrem Ende zuzuneigen. Darauf deutet jedenfalls das Schicksal der Hauptkirchen beider Konfessionen in der Mitte Berlins hin: Als Ende der 1970er Jahre die kommunistischen Staatsführung bei der evangelischen Kirchenleitung Ostberlins anfragte, was mit der Ruine des imposanten Wilhelminischen Doms - topographisch in der politisch wie kulturell gleich bedeutsamen Schnittstelle zwischen Altem Museum und 'Palast der Republik' gelegen - geschehen solle, zeigte der damalige Bischof Schönherr kein Interesse am Wiederaufbau des Domes und forderte statt dessen einen sicheren Besitz von zwei, drei Kirchen in den Vororten. Die Ostberliner protestantische Kirche wußte offensichtlich mit der architektonischen Präsenz in der Mitte der Großstadt nichts mehr anzufangen. Bewahrt wurde der Dom dennoch, wie jeder weiß, doch primär als Staatssymbol und Unterpfand für die historische Legitimität von 'Berlin, Hauptstadt der DDR'. Mit der Wende von 1989 kam der aufwendig und mit Geschick wiederhergestellte Gottespalast dann zwar in einen ganz anderen Bedeutungszusammenhang. Doch jeder historisch sachkundige Beobachter wird bezweifeln, daß der heutige Touristendom, den man außerhalb des Gottesdienstes nur mit Eintrittsgeld betreten kann, die zwei Jahrtausende alte Symbiose von Stadt und Kirche neu begründen kann. Dazu ist auch der nur wenige hundert Meter entfernt an ähnlich prominenter Stelle am Rande des Forums Friderizianum gelegene katholische Hedwigsdom kaum geeignet. Die katholische Kirche und ihr Metropolit haben dieses Gebäude zwar bereits früh wieder in Besitz genommen und zu ihrer Berliner Zentralkirche erhoben. Wie schwer es aber auch ihnen fällt, die Mitte der Stadt mit kirchlichem und religiösem Leben zu erfüllen, wird alljährlich am Fronleichnamsfest nur all zu deutlich. Solche Beobachtungen, die sich fast in jeder modernen Großstadt machen lassen, deuten darauf hin, daß wir unser Thema 'Stadt und Kirche in der europäischen Geschichte' gleichsam im Abendrot einer untergehenden Tradition behandeln.
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2. Das religionssoziologische
Profil Europas - Wichtiger als die siedlungsge-
schichtliche Seite ist das geistig-kulturelle Fundament, auf dem in Alteuropa nicht nur die Beziehungen der Kirche zur Stadt, sondern zu Gesellschaft, Staat und Öffentlichkeit ganz allgemein ruhten: Der Zivilisationstypus Europa unterschied sich von anderen Weltzivilisationen durch ein spezifisches religionssoziologisches Profil.4 Dieses prägte nicht nur einzelne Epochen der europäischen Geschichte, es war auch entscheidend für den gesellschaftlichen Wandel mitverantwortlich. Ohne dieses besondere Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft, zwischen Kirche und Staat wäre das, was Max Weber und seine Schüler 'Modernisierung' nennen, gar nicht möglich gewesen und auch nicht der Aufstieg der europäischen Stadt und des europäischen Bürgertums. Dieses religionssoziologische Profil Europas oder präziser gesagt des lateinischen Alteuropas5 war durch zwei Grundstrukturen und einen dadurch bedingten säkularen Fundamentalprozeß gekennzeichnet: Zum einen waren Religion und Gesellschaft, politische und kirchliche Ordnung stets eng miteinander verzahnt/verkoppelt: Im modernen Verständnis von Gesellschaft sind Religion und Kirche untergeordnete Teile eines größeren säkularen Systems. Im Gegensatz dazu waren Religion und Kirche im vormodernen Europa zentrale Säulen der gesamten gesellschaftlichen Ordnung. Wie die deutschen Juristen des 16. Jahrhunderts sagten: religio vinculum societatis - Religion ist das Band der Gesellschaft und unverzichtbar für alles gesellschaftliche Zusammenleben. Dieses sozio-religiöse Axiom der frühmodernen Gesellschaft macht deutlich, daß Religion und kirchliche Institutionen von eminenter politischer und sozialer Bedeutung waren und daß dementsprechend religiöser Wandel auch sozialer Wandel war. Zum anderen basierte diese Verzahnung aber nicht auf einem Monismus, der Kirche und Staat nicht unterscheidet, wie das in asiatischen, zu einem gewissen Maße auch in osteuropäischen, griechisch-christlichen Zivilisationen der Fall war oder gegenwärtig vom religiösen Fundamentalismus vertreten wird. Das lateinische Christentum war vielmehr durch einen Dualismus von Kirche und Welt charakterisiert, in dem beide zwar eng aufeinander bezogen waren, aber stets selbständig blieben. Daraus resultierte eine gesellschaftliche, geistige und kulturelle Dynamik, die Kirche und Gesellschaft häufig gegeneinander auftreten ließ, vor allem in den Städten, ohne daß das aber eine grundsätzliche Gegnerschaft bedeutete. Damit gilt drittens, daß Europa - wie ich thesenhaft formulieren möchte - von vornherein auf Säkularisation angelegt war. Diese Säkularisation bedeutete aber nicht einfach, daß Kirche und Welt schrittweise auseinander traten. Es handelte sich vielmehr um einen dialektischen Prozeß, in dessen Verlauf religiöse Energien in die weltlichen Bereiche eingespeist wurden, dort in 4
5
Näheres hierzu Heinz Schilling: Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten. 1250 bis 1750. Berlin 1999 (Siedler Geschichte Europas. Bd. 3). Vgl. grundsätzlich dazu Wolfgang Reinhard: Die lateinische Variante von Religion und ihre Bedeutung für die politische Kultur Europas. Ein Versuch in historischer Anthropologie. In: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 43.1992. S. 231-255.
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gewandelter Form fortwirkten und so eine besondere soziale, politische oder kulturelle - nach Max Weber auch wirtschaftliche Dynamik freisetzten. Es ist evident, daß sich dieses dualistische Kirchen-Welt-Modell mit seiner spezifischen Wandlungsdynamik vor allem in den Städten auswirken mußte, wo es auf gesellschaftliche und kulturelle Konstellationen traf, die ebenfalls auf Wandel angelegt waren, und wo sich im Verlaufe des Mittelalters nichtklerikale Eliten und Intellektuelle in Konkurrenz zu den Theologen und der Verwaltungselite der Kirche herausbildeten. Das daraus resultierende Syndrom von Zusammenarbeit und Konflikten, von sich gegenseitig stärkenden und ergänzenden Institutionen und Aktionen, von kirchlichen und bürgerlichen Festen und Riten etc. beeinflußte das städtische Leben und den bürgerlichen Alltag in einer Tiefe, die moderne, an die Säkularisation gewöhnte Menschen sich kaum noch vorstellen können. Nahezu alle Bereiche des städtischen und privaten Lebens waren in der einen oder anderen Weise, permanent und tiefgreifend oder gelegentlich und mehr an der Oberfläche von der Präsenz der Kirche in der Stadt und dem von ihr monopolhaft gestalteten religiösen Leben betroffen. Das zeigt einprägsam bereits die städtische Topographie - also die Verteilung von Grund- und Immobilienbesitz; der Grund- und Aufriß der Stadt; die Aufteilung zwischen kirchlichen und bürgerlichen Kompetenz-, Herrschafts- oder Rechtsbezirken; in gewisser Weise auch die Differenzierung der Stadtkirche und deren Einflußbereiche in un- oder gar antibürgerliche Institutionen wie adlige Domstifte oder den Benediktinerabteien einerseits und bürgerfreundliche wie vor allem den Bettelorden andererseits; schließlich auch der städtisch-zivile Besitz über Teile der Kirchengebäude, etwa über die Kirchtürme zur Feuer- oder Kriegswache oder über die Kirchenvorhalle als Versammlungsorte der Bürgergemeinde oder zu Gerichtszwecken.6 Nicht weniger prägend war die Stadt-KirchenSymbiose für das Recht und die Gerichtsbarkeit, erinnert sei nur an die kirchlichen Immunitätsbezirke und die Sondergerichtsbarkeit über das kirchliche Personal; für die politischen Institutionen und die Stadtverfassung generell, die sich nicht selten konkret erst im Kampf mit dem Bischof als Stadtherrn oder anderen kirchlichen Institutionen herausbildete; für die Konstituierung, Legitimierung und Sanktionierung des Stadtfriedens. Vergleichbares gilt für Schule und Bildung; für Kranken-, Armen- und Altersfürsorge; für die städtisch-bürgerliche Mentalität und Frömmigkeit; für die symbolisch-rituelle Begründung und Festigung des Bürgerverbandes oder einzelner seiner Korporationen. Konkret und noch heute erfahrbar wird dieser kirchliche Einfluß auf die alteuropäische Geschichte von Stadt und Bürgertum in den patrizischen oder bürgerlichen Grablegungen und 6
Hierüber gibt es eine breite Literatur, die sich vor allem auf das späte Mittelalter bezieht. Ich nenne nur zwei Überblicke: E. Isenmann, Stadt (Anm. 3), S. 210; Christopher Friedrichs: The Early Modern City. 1450-1750. London, New York 1995. S. 64-72; Francis Rapp: L'église et la vie religieuse en occident à la fin du moyen age. Paris 1971 und zahlreiche Neuauflagen.
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Epitaphen, vor allem in den großen Bettelorden-'Bürgerkirchen' in Florenz und Venedig, aber auch in Leeuwarden und Amsterdam; in den Kapellen, Patroziniumsfeiern und Prozessionen der Zünfte oder Bruderschaften; in der religiöskirchlichen Prägung herausgehobener Kasualien wie der Eröffnung von Magistratssitzungen, bei Vertragsabschlüssen Kriegserklärungen und Friedensschlüssen; ebenso in der städtischen Selbstdarstellung.
Die konfessionelle Stadt Innerhalb der rund tausendjährigen Beziehungsgeschichte, die durch Spannungen und offene Gewaltanwendung, aber auch fruchtbaren politischgesellschaftlichen wie geistig-kulturellen Austausch und durch Synergie-Effekte charakterisiert ist, lassen sich idealtypisch einige sowohl zeitlich-chronologisch als auch sachlich-inhaltlich bestimmte Schlüssel-Prozesse und Hauptetappen unterscheiden. Von heute, und damit vom 'modernen' Ende dieser Beziehungsgeschichte her betrachtet, waren das Etappen in einem säkularen Wandel, der die Stadt-Kirche-Beziehungen immer wieder auf eine neue Basis stellte, bis im ausgehenden 18. Jahrhundert sich der systemische Übergang von alteuropäischen zu modernen Verhältnissen vollzog: Im hohen Mittelalter setzte die Emanzipation der bürgerlichen Gemeinwesen vom kirchlichen Stadtherrn ein, und es machte sich eine mächtige Autonomiebewegung geltend, die das städtische Leben allgemein von kirchlicher Beeinflussung befreien wollte. Im Spätmittelalter beschleunigte sich diese Verbürgerlichung oder Kommunalisierung von Kirche und Religion. Im Zuge von Reformation und Konfessionalisierung kam es in manchen Städten zur bürgerlich-ratsherrlichen Monopolisierung der Gewalt über die Kirche und analog zu den National- bzw. Landeskirchen zur Konstruktion eines StadtKirchen-Systems, letzteres allerdings nur in den deutschen Reichsstädten sowie in autonomen Stadtstaaten oder Stadtrepubliken wie - dort besonders ausgeprägt Venedig. Ab dem 17. Jahrhundert brachte die De-Konfessionalisierung eine religiös-kirchliche Diversifizierung der Bürgergemeinde sowie das Ende einer religiös einheitlichen Stadtkirche, was sich vor allem in den nordniederländischen Städten bereits im 16. Jahrhundert angebahnt hatte. Schließlich griff seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die weltanschauliche Pluralisierung im Zuge der Aufklärung über die christlichen Konfessionen und Denominationen prinzipiell hinaus und öffnete so der Säkularisierung und Entchristlichung der Moderne das Tor.
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Das leitete zugleich das Ende der alteuropäischen Symbiose von Stadt und Kirche ein.7 Nachdem Bernd Moeller mit seinem einflußreichen Buch 'Reichsstadt und Reformation' 1962 eine Welle Stadt- wie kirchengeschichtlicher Untersuchungen zur engeren Reformationsphase eingeleitet hat,8 erscheint nunmehr eine Schwerpunktverlagerung auf die konfessionelle Stadt vonnöten. Daraus ergeben sich über die zeitliche Verschiebung vom frühen auf das späte 16. und frühe 17. Jahrhundert hinaus zwei auch theoretisch-methodisch bedeutsame Erweiterungen, nämlich zum einen die Öffnung des vorwiegend deutschen Paradigmas 'Stadt und Reformation' hin zu einer europäischen Perspektive und zum anderen die Möglichkeit, die seit Max Weber notorisch unterbewertete und untererforschte katholische Stadt mit ihrem katholisch konfessionalisierten Bürgertum wieder ins Spiel zu bringen. Die Wandlungen der Konfessionalisierung, die am offenkundigsten in den protestantischen Städten waren, aber auch die katholisch konfessionalisierten erfaßten, betrafen nahezu alle im Mittelalter entstandenen städtisch-kirchlichen Überschneidungsfelder. Ich greife zwei Zusammenhänge exemplarisch heraus, und zwar zum einen die städtische Topographie und Architektur und zum andern die städtisch-bürgerlichen Riten und Zeremonien. Katholische und protestantische Städte werden nacheinander behandelt, um sowohl Eigentümlichkeiten als auch strukturelle und funktionale Ähnlichkeiten ins Blickfeld zu rücken. 1. Topographie und Architektur - Topographie und Architektur der europäischen Städte änderten sich im Zuge der Konfessionalisierung gründlich - und zwar am dramatischsten nicht in protestantischen, sondern in katholischen Städ7
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Einen Überblick bis Ende des 17. Jahrhunderts findet sich bei Olaf Mörke: Integration und Desintegration. Kirche und Stadtentwicklung in Deutschland vom 14. bis ins 17. Jahrhundert. In: La ville, la bourgeoisie et la genèse de l'état moderne (XII - XVIII siècle). Hg. von Neidhardt Bulst. Paris 1988. S. 297-321. Auch in anderen Veröffentlichungen kommt Mörke immer wieder auf die Stadt-Kirchen-Beziehungen, vor allem in den Niederlanden, zurück, etwa Ders. „Konfessionalisierungprinzip" als politisch-soziales Strukturprinzip? Das Verhältnis von Religion und Staatsbildung in der Republik der Vereinigten Niederlande im 16717. Jahrhundert. In: Tijdschrift voor Sociale Geschiedenes. 16. 1990. S. 31-60; Ders. Die politische Bedeutung des Konfessionellen im Deutschen Reich und in der Republik der Vereinigten Niederlande. Oder: War die Konfessionalisierung ein „Fundamentalvorgang"? In: Der Absolutismus - ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550-1700). Hg. von Ronald Asch, Heinz Duchhardt. Köln u.a. 1996. S. 125-164, v.a. S. 141. Moellers Buch hat mehrere Übersetzungen und Neuauflagen erhalten. Ich nenne nur die letzte erweiterte Fassung: Bernd Moeller: Reichsstadt und Reformation. Bearbeitete Neuausgabe. Berlin (Ost) 1987. „Stadt und Kirche" war auch Gegenstand eines vom Verein für Reformationsgeschichte veranstalteten Symposions: Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert. Hg. von Bernd Moeller. Gütersloh 1978 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte. Bd. 190). Die neueste Literatur aufnehmend und weiterführend zuletzt Berndt Hamm: Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation. Göttingen 1996.
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ten. Zwar trat in den protestantischen Städten insofern eine radikale Veränderung ein, als theologische wie jegliche rechtliche Legitimation für eine Sonderstellung von klerikalem Personal und Institutionen fortfiel, und damit auch die dadurch begründeten besonderen, nicht-bürgerlichen Personalverbände beziehungsweise Stadtbezirke. Unabhängig davon war die protestantische Stadt im Zeitalter des Konfessionalismus aber topographisch wie architektonisch bemerkenswert steril und statisch. Die Bauleidenschaft, die das spätmittelalterliche Bürgertum mit dem Ziel erfaßt hatte, der ideellen Identität von civitas terrestris und civitas caelestis im neuen, gotischen Stil architektonisch Ausdruck zu verleihen, war in den protestantischen Städten nahezu erloschen. Neue Sakralbauten entstanden nur, wo die Städte demographisch expandierten - so etwa im Falle Amsterdams und im ostfriesischen Emden, wo anfangs des 17. Jahrhunderts eine Neuwe Kerk bzw. Neue Kirche gebaut wurde - oder wo Feuer oder andere Zerstörung es notwendig machten, wie im Falle von St. Pauls in London. Auch Waisenhäuser, Hospitäler, Siechen- und Altersheime, Schulen und Universitäten, auf die sich die öffentlichen Aktivitäten in den protestantischen Städten konzentrierten, erhielten nur ausnahmsweise Neubauten, typischerweise wiederum im expandierenden Amsterdam. In der Regel wurden solche Institutionen in säkularisierten mittelalterlichen Sakralräumen untergebracht. So in Marburg die Universität in der Brüderkirche, in Tübingen das Stift im Augustinerkloster, ähnlich in Dublin das Trinity College oder in Danzig, wo das Gymnasium ins Franziskanerkloster einzog, oder - vielleicht die eindrucksvollsten Beispiele - in Zürich, wo das Stadtarchiv in der mit fünf Stockwerken unterteilten gotischen Predigerkirche bzw. in Göttingen, wo noch im 18. Jahrhundert zunächst ein Kollegienhaus, später dann die Bibliothek der Universität in der Kirche des mittelalterlichen Dominikanerkonvents untergebracht wurden. Zwar wurde im Zuge der Reformation meist das Innere der Kirchen verändert, besonders radikal durch den Bildersturm oder vergleichbare Purifizierungsaktivitäten, vorrangig in reformiert-calvinistischen Städten, und in lutherischen Stadtkirchen entstanden nicht selten in Plastik oder Tafelgemälden neue Bilderprogramme, die die evangelische Lehre und ihren Bibelzentrismus veranschaulichten. Im äußeren Erscheinungsbild blieben die protestantischen Städte aber seltsam mittelalterlich. Speziell ihre sozialen und schulischwissenschaftlichen Anstalten bewahrten noch über Jahrhunderte hin einen kirchlich-klerikalen Anstrich, obgleich sie längst weltliche Institutionen waren, städtische oder staatliche. Topographie und Architektur waren nur äußerer Ausdruck tiefverwurzelter Strukturen und Prozesse: Die protestantische sola-gratia-Theologie und ihre radikale Beschränkung der kirchlichen Aktivitäten auf den Gemeindegottesdienst und die Seelsorge reduzierten die mittelalterliche Vielfalt kirchlicher oder halbkirchlicher Bauten - für Mönche oder Nonnen, Stiftsherren oder -damen, für Säkularkleriker oder Semi-Religiöse, für Beginen oder Begarden, Fraterherren oder Schwestern vom gemeinsamen Leben etc., etc. - auf einen einzigen legitimen
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Funktionstypus, nämlich die Pfarrkirche. Allerdings bedeutete diese protestantische De-Differenzierung der Stadtkirche zumindest langfristig zugleich Formierung und neuzeitliche Differenzierung im Sinne der Organisationssoziologie Niklas Luhmanns. Denn in einer doppelten Spezialisierung konzentrierte sich die protestantische Kirche auf den Kernbereich Wortverkündigung, Gottesdienst und Seelsorge, während die mannigfaltigen anderen sozialen und kulturellen Funktionen der mittelalterlichen Stadtkirchen in säkulare Hände übergingen, sei es der Magistrat oder der Staat, seien es Institutionen oder Gruppen der Bürgerschaft. Daraus ergaben sich weitreichende Folgen sowohl für das materielle und das geistig-ideelle Bild der Stadt als auch für die Identität, den Alltag und die Mentalität der Bürger. So konnten protestantische Bürger anders als die Bürger mittelalterlicher oder katholisch konfessionalisierter Städte nicht mehr zwischen verschiedenen Typen kirchlicher Institutionen mit unterschiedlicher Spiritualität, Frömmigkeit und bis zu einem gewissen Grade auch unterschiedlichen Gottesdienstformen diejenige auswählen, die ihren religiösen Bedürfnissen als Person oder sozialer Gruppe am weitesten entgegenkam. Sie hatten den Gottesdienst in ihrer Pfarrkirche zu besuchen, gleichgültig welcher sozialen Gruppe sie angehörten oder welche Art von Frömmigkeit und Theologie sie bevorzugten. Eine Ausnahme machten im wesentlichen nur werktägliche Sondergottesdienste für die Universität in den Universitätskapellen, für die Stadträte in der Haupt-Pfarrkirche der Stadt oder für die Insassen von Siechenhäusern, Hospitälern, 'Altersheimen' und ähnlichen Einrichtungen.9 Dieser Pfarrzwang entsprach dem allgemeinen städtisch-bürgerlichen Trend nach Vereinfachung, Rationalität und sachlicher wie personaler Vereinheitlichung von Nachbarschaft, Verwaltungs- und Kirchenbezirk. Die soziale, politische und religiöse Dimension der bürgerlichen Existenz wurden so zusammengeführt und konzentriert, aber auch effektiverer sozialer Kontrolle und besserer Verhaltensdisziplin ausgesetzt. Durchbrochen wurde der Pfarrzwang nur wo die einheitliche Reformation scheiterte und sich protestantische Dissenters behaupteten wie die Arminianer in niederländischen oder die Puritaner in englischen Städten. In Mittel- und Nordeuropa ergab sich eine vergleichbare Diversifikation erst wieder mit den pietistischen Konventikeln des späteren 17. Jahrhunderts.
Diese reformatorische Vereinheitlichung des bürgerlichen Kirchenlebens und die Konzentration auf die Gemeinde, meist im Sinne einer Lokalgemeinde verstanden, prägt den Protestantismus bis zum heutigen Tag. Das ist etwa ablesbar an den Abwehrreaktionen der meisten protestantischen Gemeinden gegen die Zumutung der Nationalsozialisten, jüdisch stämmigen Christen im Gemeindegottesdienst besondere Plätze zuzuweisen oder gar für sie besondere Abendmahlsfeiern vorzusehen, womit innerhalb der Lokalgemeinde eine besondere Personalgemeinde entstanden wäre. Ganz ähnlich verhält es sich mit den in unseren Tagen von interessierter Seite gelegentlich geforderten besonderen Abendmahlsfeiem für Homosexuelle, die ebenfalls dem reformatorischen Prinzip der absoluten Einheitlichkeit der Gemeinde und der Stadtkirche zugegenliefen.
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Über die katholisch konfessionalisierte Stadt wissen wir weit weniger als über die Stadt der Reformation. Doch gibt inzwischen eine ganze Reihe von Fallstudien vor allem zu den Verhältnissen jenseits des Reichs Auskunft, so diejenige von Alain Lottin zu Lille, von Louis Chätellier zu Strasbourg, von Marc Venard über Avignon, Bernard Sauzet über Nimes, von Oscar di Simplicio über Siena, Gerald Chaix zu Köln, von Marie Juliette Marinus zu Antwerpen.10 Diesen Monographien und Spezialuntersuchungen, aber auch bereits der simplen touristischen Autopsie ist zu entnehmen, daß sich unter der katholischen Konfessionalisierung städtische Topographie und Architektur deuüich anders als unter dem Protestantismus entwickelten: Die kirchlichen Institutionen behielten ihren Inselcharakter innerhalb der Bürgerstadt, wenn Umfang und Qualität ihrer Sonderrechte auch eingeschränkt wurden. Vor allem aber ist die katholische Stadt durch einen gewaltigen Bauboom charakterisiert. Allenthalben entstanden Neubauten im Renaissanceoder Barockstil - die großen Jesuitenkirchen, aber auch Parochial-, Hof- oder Triumphkirchen wie die Wiener Karlskirche, in der dem Triumph des Heiligen Carlo Borromeo über die Häretiker ein weithin sichtbares urbanes Denkmal gesetzt wurde. Hinzu kamen neue Ordensniederlassungen, Schulen und Hospitäler sowie eine umfassende stilistische Modernisierung des Innern der bestehenden Gebäude. Aus gotischen oder romanischen Kathedralen und Pfarrkirchen wurden Renaissance- oder Barockkirchen, wie in Antwerpen bei Sint Paulus, Sint Jans und der Kathedrale Unserer Lieben Frau oder auch bei St. Panthaleon in Köln. Diese ungebrochene kirchliche Bautätigkeit der katholischen Konfessionalisierung machte die Kirche in einem gesteigerten Maße sichtbar, und die Beobachtung von Maria Bogucka, daß in der polnischen Stadt des 17. Jahrhunderts „in Topographie und Architektur der Akzent vom Rathaus zur Kirche und den Stadtpalais der Magnaten wechselte"11, gilt für Europa allgemein, jedenfalls was die 10
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Alain Lottin: Lille, citadelle de la Contre-Réforme? (1598-1668). S.l. 1984; Louis Chätellier: Tradition chrétienne et renouveau catholique dans l'ancien diocèse de Strasbourg (16501770). Paris 1981; Marc Venard: Pour une sociologie du clergé au 16e siècle. Recherches sur le récrutement sacerdotal dans la province d'Avignon. In: Annales 23. 1968. S. 987-1016; Robert Sauzet: Chroniques des Frères ennemis: catholiques et protestants à Nîmes du XVIe au XVIIIe siècle. Caen 1992; Ders.: Contre-réforme et Réforme catholique en Bas-Languedoc. Le diocèse de Nîmes au 17e sïecle. Paris-Louvain 1979; Oscar Di Simplicio: Peccato, Penitenza, Perdone. Siena 1575-1800. La formazione délia coscienza nell'Italia modema. Mailand 1994; Gérald Chaix: De la cité chrétienne à la métropole catholique. Vie religieuse et conscience civique à Cologne au 16e siècle. Habilitationsschrift. Manuskript Universität Strasbourg 1994; Marie Juliette Marinus: De Contrareformatie te Antwerpen (1585-1676). Brüssel 1995. Diesen Wandel hat Maria Bogucka immer wieder in ihren Stadt- und kulturgeschichtlichen Untersuchungen zu Polen beschrieben, vgl. u.a. Maria Bogucka: Das Alte Polen. Leipzig 1983; Dies.: Das alte Danzig. Leipzig 1980; Dies.: The lost world of the „sarmatins". Warschau 1996; Dies.; Krakau - Warschau - Danzig. Funktionen und Wandel von Metropole 1450-1650. In: Metropolen im Wandel. Zentralität in Ostmitteleuropa an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Hg. von Eva-Maria Engel, Karen Lambrecht, Hanna Nogossek. Berlin 1996. S. 71-92.
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Sichtbarkeit der Kirche anbelangt. Das bedeutet aber zugleich, daß die frühneuzeitliche katholische Stadt weit weniger mittelalterlich erscheint als ihr protestantisches Gegenbild, will man nicht Kirchlichkeit per se als unmodern charakterisieren, was ein fataler, wenn auch nicht selten anzutreffender Irrtum wäre. Im Zuge einer katholischen Spätkonfessionalisierung erhielten die Städte Ostmitteleuropas - Prag nach der Schlacht am Weißen Berg, die ungarischen Städte nach der Vertreibung der Türken - in ganz ähnlicher Weise wie die Städte Süd- und Westeuropas ein neues, modernes Aussehen, das durch eine umfassende Präsenz der Kirche geprägt war.12 Wie sehr insbesondere die Jesuitenbauten mit der für sie typischen Architektur das mittelalterliche Stadtbild veränderten, zeigt noch heute eindrucksvoll der zwischen 1615 und 1621 errichtete Antwerpener Konvent. Seine Sint Carolus Kerk und die Wohn- und Unterrichtsgebäude nahe dem Stadtzentrum nehmen einen gewaltigen Block von mehreren Tausend Quadratmetern ein und repräsentieren die Modernität frühneuzeitlicher Urbanistik inmitten eines weiten mittelalterlichen Umfeldes. Aufschlußreich ist vor allem auch das Innere dieser frühen Jesuitenkirche: Mit ihrem langen, rechteckigen Schiff und den großen Seitengalerien war sie nicht weniger gut für die Bedürfnisse des frühmodernen Bürgertums nach Predigt und Wortverkündigung ausgerüstet als die calvinistischen Hallenkirchen Hollands. Und mit dreizehn gewaltigen Doppelbeichtstühlen, jeder mit einer langen Bank für wartende Gläubige, war sie auch bestens für Seelsorge und Interaktion zwischen Geistlichen und bürgerlicher Gemeinde ausgerüstet. Ganz ähnlich verhielt es sich übrigens mit der bereits erwähnten modernisierten Sint Paulus Kerk der Dominikaner in unmittelbarer Nachbarschaft. Beide Kirchen und ihre neue Ausstattung sind noch heute ein augenfälliger Beweis dafür, daß die in der Regel exklusiv für den Calvinismus angenommene Erziehung zu bürgerlichdiszipliniertem Denken und Verhalten ebenso in den katholisch konfessionalisierten Städten anzutreffen war.13 12
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Diese Stadt- und bürgertumsgeschichtlichen Zusammenhänge der Gegenreformation in Ungarn sind noch kaum aufgearbeitet. Zur Katholisierung Ungarns allgemein aufschlußreich die Edition von Istvän György T6th: Relationes missionariorum de Ungaria et Transsilvania (1627-1707). Budapest, Rom 1994. Indirekt für die stadtgeschichtliche Entwicklung wichtig ist auch die jüngste deutschsprachige Untersuchung zu den kirchengeschichtlichen Verhältnissen in Ungarn von Joachim Bahlcke: Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie. Von einer Partnerschaft zur Konfrontation (1686-1790). Manuskript Habilitationsschrift Universität Leipzig 2001. Die allgemeingeschichtlichen Implikationen der alteuropäischen Kirchengeschichte sind aus den bekannten Gründen für den Osten Mitteleuropas noch wenig erforscht, einige Bemerkungen in bezug auf Prag und die böhmischen Städte bei Zdenek Hojda: Prag um 1600 als multikulturelle Stadt: Hof - Adel - Bürgertum - Kirche. In: Metropolen im Wandel (Anm. 11), S. 225-232. Zu Prag ist eine Doktorarbeit in Arbeit von Anna Olidalova: Stadt und Konfessionalisierung: Träger und Strategien katholischer rund protestantischer Formierung in der Prager Städten (1580-1630). Zur Antwerpener Sint Carolus-Kirche der Jesuiten vgl. F. Peters: Une visité à l'église S Charles. Antwerpen 1924. Fl. Prims, Sint Carolus. Antwerpen 1947 und J. Martin: The Ceiling Paintings for the Jesuit church in Antwerp. In: Corpus Rubenianum, Teil 1, Arkade 1968.
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Im Lichte der Konfessionalisierungsforschung erscheint es somit immer fragwürdiger, Wandel und Modernität ausschließlich oder vorwiegend mit protestantischen Städten und deren Bürgertum zu verbinden.14 Dagegen spricht das gewaltige Bauprogramm, das den katholischen Städten innerhalb einer Generation einen topographischen und stadtarchitektonischen Vorsprung vor den meisten protestantischen Städten sicherte, ebenso die gleichzeitige Erziehungs- und Bildungsinitiative der Jesuiten und ihrer Marianischen Kongregationen, die Kranken- und Sozialprogramme eines Johann von Gott und Johann Grande samt ihrem Orden der Barmherzigen Brüder. Auch die entsprechenden Aktivitäten bürgerlicher Korporationen waren so weit von denjenigen in protestantischen Städten nicht entfernt. Das ist wiederum besonders schön greifbar in Zeugnissen der bildenden Kunst, nämlich dem im katholischen Flandern, Brabant und dem heutigen Nordfrankreich weit verbreiteten Bildertypus 'Die Werke der Barmherzigkeit'15, in deren Mittelpunkt Angehörige derselben Kaufmanns- und Großbürgerschicht stehen wie bei den viel beachteten Portraits der calvinistischen Armen- oder Waisenhausmütter bzw. -väter in den nordniederländischen und norddeutschen Städten. Somit ist evident - jeder Zeitgenosse im Antwerpen, Köln der München des frühen 17. Jahrhunderts hätte die These moderner Religionssoziologen, er lebe in einer altmodischen, statischen, unwandelbaren Gesellschaft, schlicht und einfach als lächerlich empfunden.
Die alternativ gezeigten Hochaltarbilder von Peter Paul Rubens „Die Wunder des Hlg. Franz Xaver", und „Die Wunder des Hlg. Igantius von Loyola" (beide um 1615/16) befinden sich heute im Kunsthistorischen Museum Wien. - Ausführlich zu den Antwerpener Beichtstühlen am Beispiel derjenigen in der St. Pauls-Kirche Salome Zajadacz-Hastenrath: Das Beichtgestühl der Antwerpener St Paulus Kirche und der Barockbeichtstuhl in den südlichen Niederlanden. Brüssel 1970. Allgemein zur Kirchenarchitektur des Zeitalters: L'église dans l'architecture de la Renaissance. Paris 1995, in der Reihe 'De architectura', begründet von André Chastel und Jean Guillaume. Zur deutschen, insbes. bayerischen Jesuitenkunst vgl. den Katalog einer Ausstellung des bayerischen Nationalmuseum Rom in Bayern. Kunst und Spiritualität der ersten Jesuiten. Hg. von Reinhold Baumstark. München 1997, sowie die Dissertation von Wolf Scheibel: Kollegien der Gesellschaft Jesu. Barock in Bayern. Bildung und Kultur finden in den Jesuitenkollegien ihre Heimstatt. Ihre Architektur ist Programm ... Komm herein. Dissertation Univ. Marburg 2000. (Bisher nur im Internet greifbar, und zwar in einer wissenschaftlich kaum rezipierbaren Form, es ist sehr zu hoffen, daß dieses Werk noch einmal im Print-Medium erscheint!) 14 Dieser stadtgeschichtliche Befund kann anknüpfen an Wolfgang Reinhard einstmals provozierende These „Gegenreformation als Modernisierung". In: Archiv für Reformationsgeschichte. 68. 1977. S. 226-252. Wiederabdruck: Wolfgang Reinhard. Ausgewählte Abhandlungen. Berlin 1997. S. 77-101. 15 Grandiose Beispiele dieses Bildtypus finden sich in der Antwerpener Sint-Paulus-Kerk, vgl. A. Janssen: De Sint-Paulus-Kerk en Haar kunstbezit. Antwerpen 1971, sowie Mark Martens: Werken von barmhartigheid te Middelburg en Antwerpen. In: Sint-Paulus-Info. Speciale editie. Antwerpen 1993. S. 1012-1022.
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2. Städtische Riten und Bürgerreligion - Für den Vergleich protestantisch und katholisch konfessionalisierter Städte scheint das Thema öffentlicher Riten, das in der Kulturgeschichte zunehmend Aufmerksamkeit findet, 16 auf den ersten Blick eher marginal. Denn solche städtischen Riten überlebten scheinbar nur in katholischen Städten. Und selbst dort zählen sie anscheinend zu den Relikten des mittelalterlichen und nicht zu den markanten Prägungen eines neuzeitlichen Bürgertums. Man diagnostiziert sogar den Verlust des „original civil character" dieser Riten infolge der gegenreformatorischen Unterwerfung der Stadtkirchen unter die Autorität einer neu erstarkten Amtskirche 17 . Im Gegensatz zu einer solchen Einschätzung wird im folgenden der Fortbestand bzw. die Erneuerung des bürgerlichcivilen Charakters dieser Riten im konfessionellen Zeitalter angenommen, und zwar in katholisch wie protestantisch konfessionalisierten Städten. a) Katholische Städte. Es ist zweifellos richtig, daß öffentliche Riten im Katholizismus einen breiteren Raum einnahmen als im Protestantismus. Trotz Beibehaltung einer großen Vielfalt bedeutete die Konfessionalisierung des Katholizismus auch i m Hinblick auf Alltagsleben und Riten Formalisierung, Regulierung und Vereinheitlichung. Das im späten Mittelalter entstandene System wurde beibehalten, aber weiterentwickelt und den Interessen und d e m kulturellen Profil des 16
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Ich nenne nur die Arbeiten von Eduard Muir: Civic ritual in Renaissance Venice. Princeton 1981; Ders.: Ritual in Early Modern Europe. Cambridge u.a. 1997; Richard Trexler: Public life in Renaissance Florence. Ithaca 1991; Ders.: The spiritual power: Republican Florence under Interdict. Leiden 1974; Ders.: Ritual behavior in Renaissance Florence: The satting. In: Medievalia et Humanistica. Neue Reihe IV. 1973. S. 125-144; Ders.: Ritual in Florence: Adolescence and salvation in the Renaissance. In: The Persuit of Holiness in Late Medieval and Renaissance Religion. Hg. von C. Trinkaus, H. Oberman. Leiden 1974. S. 200-264. Ein Überblick auch in dem Klassiker zur Geschichte von Florenz von Gene Brucker: Florenz in der Renaissance. Stadt, Gesellschaft, Kultur. Deutsche Übersetzung des amerikanischen Original von 1969, Hamburg 1990. S. 212-257. Giorgio Chittolini hat unlängst auf den Zusammenhang zwischen "Civic Religion/Rituals" und Beherrschung des Umlandes durch die oberitalienischen Städte hingewiesen: Civic Religion and Countryside in Late Medieval Italy. In: City and Countryside in Late Medieval and Renaissance Italy. Hg. von Trevor Dean, Chris Wickham. London 1990. S. 69-80). In der deutschen Geschichtswissenschaft ist in Fragen des Bildes und der Riten höchst kompetent die Bielefelder Schule von Klaus Schreiner: vgl. etwa den Aufsatzband Klaus Schreiner, Gabriela Signori (Hg.): Bilder, Texte, Rituale. Wirklichkeitsbezug und Wirklichkeitskonstruktion politisch-rechtlicher Kommunikationsmedien und Stadt- und Adelsgesellschaften des späten Mittelalters. Berlin 2000 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 24), mit einem einleitenden Grundsatzreferat von Klaus Schreiner. Die Festschrift für Klaus Schreiner trägt den bezeichnenden Titel,.Mundus in imagine. Bildsprache und Lebenswelten im Mittelalter" (München 1996). - Für die Frühe Neuzeit, aber kaum in bezug auf die Stadt, einschlägig Brigitte Tolkemitt, Rainer Wohlfeil (Hg.): Historische Bildkunde. Probleme - Wege - Beispiele. Berlin 1991 (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 12), sowie Bernhard Jussen, Craig Koslowsky (Hg.): Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch, 1400-1600. Göttingen 1999. So Gorgio Chittolini im Ausblick seiner mediävistischen Untersuchung „Civic Religion and Countryside" (wie Anm. 16), S. 80.
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frühmodernen Bürgertums angepaßt. Das gilt insbesondere für die Prozessionen, dem wohl wichtigsten öffentlichen Ritus, der alljährlich die enge Verbindung zwischen irdisch bürgerlichem oder städtischem Gemeinwesen und transzendentaler Gemeinschaft des himmlischen Jerusalem demonstrierte und symbolisch verwirklichte. Auch sie unterlagen zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert einer strengen Formalisierung und Reglementierung, die in gewissem Sinn auch eine Modernisierung darstellten, zumindest insofern als die institutionelle religiöse Zeremonie der Prozession, die im Altertum wurzelte, an die sich wandelnden frühneuzeitlichen Rahmenbedingungen angepaßt wurde. Diese Prozessionen hatten zumindest zwei Funktionen: Erstens waren sie der Ort, um die enge Verknüpfung zwischen der sozialen Position eines Individuums in der irdischen Stadt einerseits und seiner prätendierten Position in der himmlischen Welt andererseits aufzuzeigen. So hatten die Stadträte, Beamten, Kaufleute und Handwerker in der Prozession ebenso ihren Platz wie die Armen und die Bettler, die Sünder und sogar die Verbrecher, allerdings in der ihnen jeweils nach städtisch-bürgerlichen Normen zustehenden Nähe oder Ferne vom Allerheiligsten. Zweitens gaben die Prozessionen der Stadt und ihren Einwohnern die Chance, zumindest einmal im Jahr zu demonstrieren, daß die irdische Gemeinschaft in einem idealistischen Sinn sich am Modell der civitas caelestis, dem himmlischen Jerusalem, orientierte. Auch das hatte eine individuelle und eine kollektive Seite. Das Individuum wie die Gemeinschaft als Ganzes versicherte sich des ewigen Seelenheils, und beide Seiten waren nicht voneinander zu trennen. Die 'heilige Stadt' setzte das 'heilige Individuum' voraus und vice versa. Aber Katholiken wußten ebenso wie die Protestanten, daß das Alltagsleben nicht für jeden ein heiliges Leben sein konnte, vor allem nicht in den Städten mit all ihren Möglichkeiten der Sünde. Um so wichtiger waren die jährlichen Prozessionen, durch die die Stadtgemeinde bekunden konnte, daß ungeachtet des sündigen Alltags das Ideal weiterhin gültig war, und die dem Individuum wie der Gemeinschaft die Möglichkeit einräumte, sich von den Sünden zu reinigen. b) Protestantische Städte. Bekanntlich gab es in protestantischen Städten weder Prozessionen noch das tägliche Ritual der Messe oder die rituellen Pflichten von Bruderschaften und Kongregationen wie den Marianischen der Jesuiten. Es waren statt dessen das private Gebet und das Bibellesen in der Familie, verordnet und geleitet vom pater und der mater familias, die in lutherischen wie calvinistischen Städten die Grundlagen der alltäglichen Religion bildeten. Dennoch blieb das Verhältnis von Stadt und Kirche, von civitas terrestris und civitas celestris auch in den protestantischen Städten erhalten. Und tatsächlich war es die Vision einer im echten Sinne 'geheiligten Stadt', die die Stadtreformationen beflügelt hatte und auch für die konfessionelle Stadt weiter galt, besonders deutlich im Falle Genfs. Auch die protestantischen Städte entwickelten zum Ausdruck dieser Verbindung eine städtische bürgerliche Spiritualität und Theologie mit entspre-
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chenden öffentlichen Riten, wenn auch auf andere Art und mit anderen Mitteln als in der konfessionellen Stadt des Katholizismus. Es gab in den protestantischen Städten drei Komplexe von kirchlich-bürgerlichen Riten - die Amts- und Zuchtriten; die Abendmahlsgemeinschaft, die geheiligt und 'rein' sein mußte; schließlich die Büß- und Bettage. Unter den protestantischen Konfessionen gilt das Luthertum als traditionaler, insbesondere auch in Blick auf die rituellen und sakralen "Restbestände", etwa dem viel diskutierten Exorzismus bei der Taufe. Die öffentlichen städtischen Riten scheinen mir gleichwohl in der calvinistischen Stadt stärker ausgeprägt, die sich in dieser Hinsicht als eigentliches Gegenstück zur katholischen Stadt zeigt. Das gilt auch insofern, als ähnlich wie im Katholizismus die calvinistischen Riten in der Hand einer besonders herausgehobenen Gruppe lagen, zwar nicht eines Sakralstandes nach Art des katholischen Klerus, wohl aber eines besonderen Amtsstandes aus Prädikanten und bürgerlichen Laienältesten, der sich in Macht, Reputation, Verhalten, Kleidung und symbolischer Repräsentation deutlich von den anderen Einwohnern unterschied. Die bereits oben im Zusammenhang mit dem katholischen Bildtypus 'Werke der Gerechtigkeit' erwähnten Kollektivporträts von Ältesten, Diakonen, Waisenhausmüttem oder -vätern der protestantischen Städte der Niederlande oder Nordwestdeutschlands belegen das eindrucksvoll.18 Inhaltlich waren die Riten auf die moralische und dogmatische Reinheit der Stadt, also auf das Verhalten und auf das Wort, bezogen, und damit ähnlich wie die Pro18
Ich habe hier und im folgenden insbesondere Verhältnisse im nordwestdeutschen und niederländischen Reformiertentum vor Augen, das ich aus eigenen Forschungen etwas näher kenne. Vgl. dazu u.a. Heinz Schilling: Calvinistische Presbyterien in Städten der Frühneuzeit - eine kirchliche Alternativform zur bürgerlichen Repräsentation? (Mit einer quantifizierenden Untersuchung zur holländischen Stadt Leiden). In: Städtische Führungsgruppen und Gemeinden in der werdenden Neuzeit. Hg. von Wilfried Ehbrecht. Köln, Wien 1980 (Städteforschung. Reihe A. Bd. 9). S. 385 - 444; Ders.: Religion und Gesellschaft in der calvinistischen Republik der Vereinigten Niederlande. "Öffentlichkeitskirche" und Säkularisation; Ehe und Hebammenwesen; Presbyterien und politische Partizipation. In: Kirche und gesellschaftlicher Wandel in deutschen und niederländischen Städten der werdenden Neuzeit. Hg. von Franz Petri. Köln, Wien 1980 (Städteforschung. Reihe A. Bd. 10). S. 197 - 250; Ders.: Reformierte Kirchenzucht als Sozialdisziplinierung? Die Tätigkeit des Emder Presbyteriums in den Jahren 1557-1562. In: Niederlande und Nordwestdeutschland. Hg. von Wilfried Ehbrecht, Heinz Schilling. Köln, Wien 1983 (Städteforschung. Reihe A. Bd. 15). S. 261 - 327 (Mit vergleichenden Betrachtungen über die Kirchenräte in Groningen und Leiden sowie mit einem Ausblick ins 17. Jahrhundert); Ders.: Das calvinistische Presbyterium in der Stadt Groningen während der frühen Neuzeit und im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts. Verfassung und Sozialprofil. In: Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland. Hg. von Heinz Schilling, Herman Diederiks. Köln, Wien 1985 (Städteforschung. Reihe A. Bd. 23) S. 195 - 273. - Als Quellengrundlage für die nachfolgenden Betrachtungen liegt inzwischen eine ganze Serie von reformierten Presbyterial- bzw. Konsistorialprotokollen vor. Auch hier beziehe ich mich primär auf den genannten Raum, konkret auf: Heinz Schilling in Zusammenarbeit mit Klaus-Dieter Schreiber (Hg. und Bearb.): Die Kirchenratsprotokolle der reformierten Gemeinde Emden, 1557 - 1620. (1557 - 1574, Köln, Wien 1989. Städteforschung. Reihe C. Bd. 3, Teil 1).
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Zessionen der katholischen Stadt auf die Selbstvergewisserung von Stadtgemeinde oder Bürgerschaft als Spiegelbild der civitas caelestis. Amts- und Zuchtriten - Die calvinistischen Riten waren öffentlich oder halböffentlich, fanden gelegentlich oder periodisch statt. Die meisten calvinistischen Städte waren in Bezirke oder Nachbarschaften unter der Aufsicht eines Mitglieds des Konsistoriums eingeteilt. Diese Ältesten oder Prädikanten besuchten regelmäßig die Haushalte ihrer Bezirke, um sie im rechten Glauben zu bestärken, zu korrektem Verhalten zu ermahnen und um nach Informationen über jeden eventuellen 'Abweichler' und über alles zu forschen, was im Gegensatz zu den calvinistischen Normen des privaten und öffentlichen Lebens stand. Dasselbe gilt für die Diakone, die regelmäßig in den Haushalten Almosen für die Armen sammelten. Obwohl die Quellen nicht genau erkennen lassen, wie diese regelmäßigen Besuche konkret abliefen, kann man wohl von einem 'rituellen' Rahmen ausgehen, bestehend aus Gebet, Ermahnung und möglicherweise einer Bibellesung. Dies traf mit Sicherheit auf die wöchentlichen Versammlungen der Presbyterien zu. Ähnlich ritualisiert war die Verhaltensweise, die man von Personen erwartete, die sich wegen Verstößen gegen die moralische oder religiöse Ordnung der 'frommen Stadt' vor dem Presbyterium als dem Zentrum der christlichen städtischen Gemeinschaft zu verantworten hatten. Für das Ältesten- und Diakonenkollegium fanden in den einzelnen Städten konkret unterschiedlich, d.h. auf Lebzeit oder für eine begrenzte Amtsperiode Zuwahlen statt, die ebenfalls nach einem festen Ritus abliefen. Dasselbe gilt für die Einführung ins Amt. Solche kirchlichen Einführungsriten fanden in calvinistischen Städten folglich häufiger statt als in katholischen oder auch lutherischen, wo es in der Regel nur um die Einführung von Pastoren bzw. Klerikern ging. Ohne Zweifel war der Introitus eines katholischen Bischofs oder Kardinals19 spektakulärer. Gleichw 1 haben auch die kirchlichen Zeremonien bei der Amtseinführung von calviniv .sehen Prädikanten, Ältesten und Diakonen die konfessionelle Stadt und ihr Bürgertum mitgeprägt. Abendmahlsriten - Das Zentrum der calvinistischen bürgerlichen Riten war das Abendmahl. Dieses fand normalerweise fünf bis sechs Mal im Jahr statt - also wesentlich seltener als in katholischen oder lutherischen Städten. Es wurde nicht nur als ein Symbol oder als eine Repräsentation verstanden, sondern es war die 'fromme' Stadt. Besonders während des 16. und frühen 17. Jahrhunderts wurde die Reinheit der Stadt, die man als Voraussetzung für das Heil jedes Individuums nicht nur innerhalb des Bürgerverbandes, sondern der Einwohnerschaft generell ansah, kontrolliert und zugleich realisiert im gemeinsamen Abendmahl. Jeder einzelne Teilnehmer mußte sich vorab selbst prüfen, ob er sich für den Empfang des Sakramentes würdig fühlte, und auch das Presbyterium prüfte die Abend19
Vgl. hierzu die Beiträge der Sektion „Bishops Solemn Entrances" sowie „Roman Ceremonials" im Zusammenhang des oben Anm. 1 erwähnten ESF-Programmes „Cultural Exchange" entstandenen Tagungsbandes „Religious Ceremonials (wie Anm 1).
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mahlsteilnehmer nochmals auf ihre Würdigkeit. Wenn das Abendmahl angekündigt wurde, hatte sich jeder zunächst selbst, aber auch seine Familienmitglieder und die Hausgenossen, also auch die Mägde, Knechte, Gesellen etc. sowie die Nachbarn zu prüfen, ob sie zur Beteiligung an der Abendmahlsgemeinschaft würdig waren oder wegen Sündhaftigkeit davon fernbleiben sollten. Denn die Grundvoraussetzung dafür, daß der einzelne und die Gemeinde insgesamt das Abendmahl zur Gnade und nicht zur Verdammung empfinge, war die Reinheit der Abendmahlsgemeinde, über die nicht nur der Pastor und die Ältesten, sondern jedes einzelne Gemeindemitglied zu wachen hatte. Diese Reinheit war bereits nicht mehr gegeben, wenn ein einziger verstockter Sünder teilnahm, gleichgültig ob heimlich oder öffentlich bekannt. Das galt als eine Befleckung und Verletzung des gemeindlichen und städtischen Heils, mit der sich die Stadt - der einzelne wie die communitas insgesamt - unweigerlich der Strafe Gottes aussetzte. Damit hatte die alteuropäische Idee einer Identität von kirchlicher und bürgerlicher Gemeinde, von irdischer und himmlicher Stadt in calvinistischen Städten wie Emden oder Groningen im 16. Jahrhundert einen kaum noch zu steigernden Höhepunkt erreicht. Dieser alltägliche religiöse Kommunalismus der calvinistischen oder reformierten Stadt prägte das öffentliche Bewußtsein in einer ganz besonderen Weise in Zeiten der politischen, ökonomischen oder kulturellen Krise. So entfaltete sich in Emden und Groningen in den Jahrzehnten um 1600, als sich die Niederlande und die nordöstlich angrenzenden Gebiete des Reiches von Spanien bedroht sahen, eine ausgeprägte eschatologische Mentalität, die sich aus dem Gegensatz zwischen 'frommer Stadt' und 'spanischem Antichristen' speiste und die wesentlich zur historisch-politischen Selbstdeutung und zur aktuellen politischen wie militärischen Selbstbehauptung beitrug, im Falle Emdens übrigens zugleich auch gegenüber den semi-absolutistischen Tendenzen des lutherischen Landesherrn.20 Über ein Jahrhundert später, im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts, reagierte das calvinistische Utrecht in ganz ähnlicher Weise, als deutlich wurde, daß die 'Sünde gegen die Natur', worunter man Homosexualität und Sodomie verstand, in der Umgebung der Hauptkirche, und damit im sakralen Zentrum der Stadt entdeckt wurde. Man sah nicht nur die kirchliche Gemeinde, sondern die Stadt insgesamt befleckt und dem drohenden Strafgericht Gottes ausgesetzt. Zum Schutz der Abendmahlsgemeinschaft vor solchen Folgen entwickelten die Calvinisten ein ausgeklügeltes Kontrollsystem. Vor allem in Städten wie Nîmes, 20
Näheres mit Literatur und Belegen dazu bei Heinz Schilling: Calvinismus und Freiheitsrechte. Die politisch-theologische Pamphletistik der ostfriesisch-groningischen "Patriotenpartei" und die politische Kultur in Deutschland und in den Niederlanden. In: Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden. 102. 1987. S. 403^34; Ders.: „Die "Emder Revolution" als europäisches Ereignis. In: Die "Emder Revolution" von 1595. Kolloquium der Ostfriesland-Stiftung am 17. März 1995. Hg. von Hajo van Lengen. Aurich 1995. S. 113-136.
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Lyon and anderen Hugenotten-Städten, die unmittelbar mit dem konfessionellen Gegner konfrontiert waren, wurde der Zugang zum Abendmahl durch Marken geregelt, die das Konsistorium als eine Art dogmatischer und moralischer Unbedenklichkeitsbescheinigung zum Abendmahl an würdige und von Sünden freie bzw. durch vorherige Buße befreite Mitglieder vergab. Das Abendmahl, in weniger spektakulären Fällen auch der normale Sonntagsgottesdienst, war auch der Ort der öffentlichen Reue des Sünders und seiner Versöhnung mit denjenigen, die er verletzt hatte - Ehemann oder Ehefrau, Eltern, Kinder und Familie, Nachbarn, aber auch der kirchlichen und bürgerlichen Gemeinde insgesamt. Das bedeutete zugleich seine Reintegration in die 'fromme' Stadt. Solange der Sünder keine Reue zeigte, wurde er von der Kirchengemeinde isoliert, in schweren Fällen auch von der bürgerlichen Gemeinde - bis hin zum Bann und zur Vertreibung aus der Stadt. Büß- und Bettagsritus - Die calvinistische Idee einer Korrelation zwischen Heil und säkularem Wohlergehen der Stadt, zwischen der Verletzung der göttlichen Ordnung und Versöhnung mit Gott durch Reue wird besonders an den Bußund Bettagen deutlich, die als funktional äquivalent zu den jährlichen oder gelegentlichen Prozessionen in katholischen Städten begriffen werden können. Auch sie wurden wiederum vor allem in calvinistischen Städten durchgeführt. Wenn die Stadt in einer extremen Zwangslage war, sei es durch politischen Druck von außen, sei es durch innere Zwietracht, gefährliche Dürre, Epidemien, Hunger oder ähnliches, setzten die calvinistischen Konsistorien einen besonderen Büß- und Bettag an, der bald zu einem wichtigen Ort städtischer Selbstvergewisserung und bürgerlicher Identität wurde. Denn anders als bei den Büß- und Fastenzeiten der mittelalterlichen und der katholisch konfessionalisierten Kirche wurden die protestantischen Bußtage nicht von der ganzen protestantischen Christenheit gefeiert, sondern nur von der jeweiligen Stadt und ihrer Bürgerschaft. - Zusammen mit ähnlichen Feiertagen - etwa dem kirchlichen Friedensfest, mit dem seit 1650 die Protestanten in der Stadt Augsburg jährlich die Aufhebung des prokatholischen Restitutionsediktes begingen, wurden die Büß- und Bettage bald für viele protestantische Städte, vor allem für die calvinistischen unter ihnen, zu einer Art Heu de memoir. An diesen Tagen versicherte sich die protestantische Stadt in ganz ähnlicher Weise ihrer religiösen und kulturellen Identität und ihrer Gottbezogenheit, wie das die mittelalterlichen und die frühneuzeitlichen katholischen Städte in ihren alljährlichen Stadtprozessionen taten. c) Riten der Bilder, Symbole und Gesten versus Riten des Wortes, der Reinheit und der Sühne - Auch die protestantische Stadt des Konfessionalismus entwickelte, so ist festzuhalten, kirchliche Riten, bezogen auf das Individuum wie auf die Kirchen- und Stadtgemeinde insgesamt. Dabei tritt der Gegensatz zu den Riten der Bilder, Symbole und Gesten der katholischen Stadt besonders deutlich bei den reformierten oder calvinistischen Städten hervor, die auf das Wort, die Sühne und
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die Vorstellung von Reinheit zugespitzte Riten entwickelten. Beide Typen des Rituellen haben die europäische Stadt der frühen Neuzeit und den Weg des europäischen Stadtbürgertums in die Moderne ohne Zweifel mitgeprägt. Näher zu diskutieren bleibt aber die Frage, ob die Wort- und die Moralbezogenheit der calvinistischen Riten dem von ihnen beeinflußten Stadtbürgertum Nordwesteuropas oder der Schweiz nun doch einen Modernisierungsvorteil im Sinne Max Webers verschaffte oder ob auch und gerade der katholisch konfessionalisierte Typus des frühneuzeitlichen Ritus einen - in den Worten Louis Chätelliers - „christianisme moderne" repräsentiert und damit ebenfalls „ä l'origine de l'esprit bourgeois en Europe"21 stand. Unübersehbar ist allerdings bereits jetzt die Diskrepanz zwischen Webers auf den Calvinismus bezogener Rationalitätsthese einerseits und der Realität in calvinistischen Städten andererseits. Denn die erwähnte rituelle Spiegelung politischer und kultureller Krisen in Emden beziehungsweise Utrecht war genausowenig innerweltlich rational wie entsprechende Strategien der katholischen oder lutherischen Bürgergemeinden.
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Louis Châtellier: L'Europe des dévots. Paris 1987. S. 127,151.
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Katholisch traditionale Stadtgesellschaft versus protestantisch moderne Bürgergesellschaft - eine akzeptable Forschungshypothese? All das ist näher an einzelnen konkreten Beispielen zu untersuchen, und zwar in europäischer Perspektive und konfessionell komparatistisch, zwischen katholischen und protestantischen Städten, aber auch innerprotestantisch vergleichend, also zwischen calvinistisch-reformierten und den hier ausgeblendeten lutherischen Städten. Dabei ist makrohistorisch der Frage nachzugehen, ob die zweifellos vorhandenen Unterschiede zwischen katholisch und protestantisch konfessionalisierter Stadt tatsächlich - biologisch gesprochen - genotypisch verankert waren, oder betrafen sie lediglich den Phänotypus? Haben wir es in der konfessionellen Stadt des Katholizismus einerseits und des Protestantismus, und hier vor allem des Calvinismus, andererseits mit zwei ganz anderen, entgegengesetzten bürgerlichen Gesellschaften zu tun, die sehr verschiedene politische, soziale, mentale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungskapazitäten besaßen - einer katholisch traditionalen, rückwärts gewandten Stadtgesellschaft und einer protestantisch progressiven, modernen Bürgergesellschaft? Je genauer man die Realität und den Alltag der europäischen Städte in den Jahrzehnten um 1600 erforscht, um so größer werden die Zweifel an einer solch vereinfachenden Forschungsperspektive. 1. Die protestantische Stadt erscheint uns heute allgemein weniger 'modern' und umgekehrt die katholische Stadt und die katholische Konfessionalisierung weniger traditional oder anti-modern als im üblichen Licht der Weber-These. Insbesondere den unvermittelten Sprung von der alteuropäischen Stadtgesellschaft in eine überstädtische bürgerliche Gesellschaft wird man heute methodisch und theoretisch eher als problematisch empfinden, und zwar auch in den reformiert oder calvinistisch geprägten Gesellschaften wie den Niederlanden und England, während umgekehrt von mancher der katholischen Stadtgesellschaften gelten kann, daß sie sich viel eher und problemloser in die überstädtische Gesellschaft der Moderne öffneten, man denke nur an Paris, Wien oder Madrid. - Will man die allgemeinen gesellschafts-, kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Implikationen der beiden hier näher behandelten Wandlungen 'Kommunalisierung' und 'Monopolisierung' der Stadtkirchen für die Bürger genauer bestimmen, dann ist zunächst der eigentlich städtische Kontext jenseits der religösen Unterschiede genauer zu berücksichtigen, als das in der Weber-These geschieht. Das gilt auch und gerade für die Städte und Bürgergemeinden des reformiert-calvinistischen Protestantismus, dem Weberschen Paradepferd.
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2. Der Traditionalismus protestantischer Städte ist, wie dargelegt, in ihrer Architektur und Topographie dokumentiert. Wichtiger ist aber die mentalitäts- und im weiten Sinne - gesellschaftsgeschichtliche Seite. Die protestantische Theologie war städtisch und bürgerlich nicht im modernen Mittelklassen- oder gar Bourgeoisieverständnis, sondern im Verständnis alteuropäischer Stadt- oder Ziviltheologie respektive Mentalität. Denn sie zielte nicht auf die Befreiung des modernen bürgerlichen Individuums von kollektiven Bindungen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Religion oder Kultur ab, sondern betonte die „zugleich individuell auf die eigene Person als auch gemeinschaftlich auf den städtischen Sozialkörper bezogene Heilung" und suchte „die neue Gerechtigkeit in der Bürgergemeinde durch geistliche Gesetzeserfüllung"22 zu realisieren. Die genossenschaftlichkommunalen Verfassungsstrukturen sowie Denk- und Verhaltensweisen des alteuropäischen Stadtbürgertums wurden nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt. Entsprechend meinte die Erziehung des 'neuen' protestantischen Menschen und Bürgers, wie sie wiederum vor allem die Kirchenzucht der calvinistischen Konsistorien Genf, Emden, Amsterdam, Nîmes oder das reformierte Chorgericht Züricher Prägung energisch in Angriff nahmen, eben nicht die Erziehung zu moderner Autonomie des Individuum, sondern die Einbindung von Handeln, Denken und Mentalität des einzelnen Mitglieds der Kirchen- und Stadtgemeinde in die Gemeinschaft des städtischen corpus christianorum. In seinem Denken und Handeln wurde der einzelne auf das Wohl der Stadt verpflichtet - auf das bonnwn commune im irdischen Sinne, aber auch und vor allem auf das Heil im transzendentalen Sinne. - Allerdings ist auch unverkennbar, daß im späten 18. und im 19. Jahrhundert im Zuge von Aufklärung und Säkularisation die protestantische Stadt sich dem Neuen in der Regel leichter öffnete. Das ist ein Zusammenhang, der hier nicht näher behandelt werden kann. Von der Phase der konfessionellen Stadt her gesehen ist jedenfalls festzuhalten, daß der lange Weg in die moderne bürgerliche Gesellschaft auch im Protestantismus über eine Zwischenstation, nämlich über das Brückenglied der 'reinen Stadt' oder in der Sprache der englischen Puritaner godly city lief, in der nicht Autonomie des Subjekts und Emanzipation von Stadt und bürgerlichen Lebensbereichen von der Kirche angezeigt waren, sondern die Durchdringung des einzelnen wie der Stadtgesellschaft insgesamt mit christlichen Normen. Komplementär zur Kommunalisierung der Kirche erfolgte die Verchristlichung der Bürgerkommune, besonders deutlich auf der Basis der kirchlichbürgerlichen Einheitstheologie Zwingiis, in der alltäglichen Realität aber auch in calvinistischen und lutherischen Städten, wenngleich der Wittenberger Reformator theoretisch-theologisch die Trennung der Zwei Reiche gepredigt hatte. 3. Auch für die postulierte Offenheit der katholisch konfessionalisierten Stadt für religiösen und gesellschaftlichen Wandel sind Architektur und Topographie 22
Berndt Hamm: Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation. Göttingen 1996. S. 133f.
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nur erste Hinweise. Die weiterreichende These oder Hypothese muß gewagt werden, daß auch in der katholischen Stadt religiöse Funktionen, Spiritualität, Frömmigkeit und Mentalität allgemein im Prinzip diesen Wandel begünstigen konnten, ihn jedenfalls nicht blockierten. Wenn soziale und politische Verantwortlichkeit der Bürger durch religiöses und kirchliches Engagement gestärkt wurden, dann gilt das für katholische Stadtgesellschaften genauso wie für protestantische. Wenn kirchliche Zucht, Predigt und Seelsorge der Konfessionskirchen irgendeinen Einfluß auf die Hervorbringung von - im modernen Sinne - bürgerlichen (Mittelklassen) Verhaltens-, Denk- und Mentalitätsmustern hatten, dann gilt das nicht nur für die in diesem Zusammenhang vielbeachtete presbyteriale Kirchenzucht des Calvinismus, sondern auch für das viel weiter gespannte und differenzierte Instrumentarium der katholischen Konfessionalisierung - die Marianischen Kongregationen, tägliche Gewissenserforschung und periodische Exerzitien der Jesuiten vor allem, aber auch für die großartigen barocken Hochaltäre und Wand- bzw. Dekkengemälde - etwa Tizians Solitär-Hochaltar in der Frari-Kirche in Venedig oder Rubens' Deckengemälde in der Borromäo-Kirche Antwerpens, die in rationaler psychologischer Konstruktion in ganz ähnlicher Weise wie die protestantische Kirchenzucht Glauben, Mentalität und Verhalten der Bürger beeinflußten. 4. Neu zu bedenken ist schließlich auch das Problem einer angeblich gespaltenen Politikkultur - Freiheit, Kommunalismus und Republikanismus des protestantischen, vor allem calvinistischen versus Absolutismusaffinität des katholischen Bürgertums. Dieser Gegensatz hat im Lichte der jüngeren Konfessionalisierungsforschung seine Licht-Schatten-Verteilung eingebüßt. Zwar ist es richtig, daß die protestantische Reformation die Emanzipation von der Kirche und kommunale Selbstbestimmung der Bürgergemeinde vollendete. Abgesehen von Spezialfällen war das aber nur eine kurze Episode vor der Unterwerfung unter den frühmodernen Staat. Die katholische Konfessionalisierung begünstigte in der Regel ebenfalls die Unterwerfung von Städten und Bürgertum. Nicht anders als der Protestantismus war sie prinzipiell aber auch geeignet, städtisch-bürgerliche Freiheits- und Autonomiebewegungen zu stützen. Das gilt selbst auf dem Gipfelpunkt des Absolutismus: So widersetzten sich Bürger und Kapitel der Stadt Chartres gemeinsam dem Unterwerfungsdruck Ludwigs XIV. und legitimierten das in einem prächtigen barocken Pamphlet, das in zahlreichen Bildern die Verbindung von Stadt und Kapitel mit der Gottesmutter vor Augen stellt, mit dem trotzigen Rechtsanspruch, Maria und kein anderer sei 'dame souveraine de Chartres' - angesichts des Bodinschen Souveränitätsmonopols für den frühmodemen Staat eine kaum zu überbietende Herausforderung an die Stadtpolitik des Absolutismus.23 5. Protestantisch und katholisch konfessionalisierte Städte des späten 16. und des 17. Jahrhunderts dürfen nicht länger als zwei antagonistische Muster betrach23
André Sansfaçon: Mythes et représentation: l'identité de Chartres aux 16e et 17e siècles (Vortrag auf dem 29. Colloque international d'Etudes Humanistes. Tours 1996, erscheint in dem von Gérald Chaix zu edierenden Kongreßband).
Die konfessionelle Stadt - eine Problemskizze
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tet werden - von bürgerlicher und städtischer Modernität einerseits und städtischem Traditionalismus andererseits. Sie repräsentieren eher zwei unterschiedliche frühneuzeitliche Wege hin zur modernen bürgerlichen Gesellschaft des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. Um es mit einer begrifflichen Anleihe bei Hans Baron zu formulieren - dem civic Calvinism der werdenden Neuzeit entsprach ein civic Lutheranism und ein civic Catholizism, und ihr Abstand zum Bürgertum der
Moderne war jeweils in etwa gleich groß.24
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In bezug auf den Calvinismus vgl. Heinz Schilling: Civic Calvinism in Northwestern Germany and the Netherlands. Sixteenth to Nineteenth Centuries. Kirksville/Mo 1991. (Sixteenth Century Essays and Studies. Bd. 17.)
Biblioteche e disciplina della memoria: una proposta dell'età della Controriforma Adriano Prosperi
Gli storici tutti - e quelli dell'età moderna in particolare - sanno quanto il loro lavoro dipenda dagli archivi e dalle biblioteche. Sono abituati a sperare l'apertura e a temere la chiusura o la distruzione di questi luoghi deputati alla memoria culturale e alla conoscenza del passato. Contenti di poter disporre di simili strumenti e depositi, non si soffermano volentieri a riflettere sull'altra faccia della medaglia: una biblioteca, un archivio, sono anche il frutto di una selezione, dunque di una costruzione che passa attraverso la cancellazione casuale o deliberata di ciò che non viene accolto in quei depositi. La cosa riguarda in particolare gli storici dell'epoca che definiamo tradizionalmente moderna: le maggiori biblioteche e i più importanti archivi di cui siamo abituati a servirci nelle ricerche sull'Europa moderna e sull'età della Riforma e della Controriforma, furono creati nel vivo di uno scontro di religione che fu anche e soprattutto una battaglia per la memoria. Come fu vista l'esistenza delle biblioteche e degli archivi dai contemporanei? E'una domanda che possiamo porre a Juan Batista Cardona, teologo spagnolo e vescovo di Vich, autore di un importante memoriale a Filippo II per la creazione della Biblioteca del monastero di San Lorenzo a E1 Escoriai1. Lo scritto di Cardona si sofferma con espressioni di grande ammirazione sulle maggiori biblioteche italiane dell'epoca, che dichiara di aver visitato e di conoscere bene: la Biblioteca Vaticana in primo luogo, la Laurenziana a Firenze, la Marciana a Venezia. Prendendo a modello quelle grandi e mirabili creazioni, Cardona espone il disegno delle biblioteca che Filippo II dovrà costruire. E' un progetto molto dettagliato, che prevede non solo l'ordine dei libri, gli arredi e i servizi per gli studiosi ma anche l'aspetto con cui la biblioteca deve accogliere il visitatore, educarlo e introdurlo nel mondo del sapere. Fin dall'atrio, si debbono offrire immagini dei cieli e della terra, dei popoli e degli stati (su cui primeggi la Spagna), delle città - in primo luogo, Roma antica e Gerusalemme - , delle isole e delle navigazioni. E ci Ioan. Bapt. Cardonae, episc. Dertosani: De regia S.Laurentii Bibliotheca, De Pontificia Vaticana, De expungendis haereticorum propriis nominibus, De Diptychis. Tarraconae, apud PhilippumMey, 1587.
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debbono essere mappamondi, clessidre e orologi, sfere, strumenti scientifici. Raccolte numismatiche e lapidi con iscrizioni antiche da collocare in modo opportuno dovranno dare alla biblioteca l'aspetto di una esposizione ( e m p o r i u m ) di carattere antiquario. Ma il primo e fondamentale scopo di una biblioteca regia è quello di essere superiore ad ogni altra nel numero e nella varietà dei libri, nella loro eccellenza e rarità. Ci saranno, dunque, libri di ogni genere e in ogni lingua, anche se il modello culturale trilingue (ebreo, greco e latino) è riconosciuto come dominante. Si dovrà tenere speciale attenzione agli autori antichi e raccogliere le loro opere su ogni supporto di scrittura, papiraceo, membranaceo o cartaceo che sia. Anzi, dal momento che molte opere degli antichi si sono perdute, si dovranno raccogliere con ogni cura manoscritti antichi e stampe, nella speranza di recuperare testi ignoti o redazioni più accurate di testi noti. E qui Cardona apriva una parentesi dedicata alle delizie della buona filologia, con molte osservazioni che rivelano una cultura notevole e una vera esperienza di studioso di testi antichi e dei problemi posti dalla loro trasmissione. Ad esempio, era opportuno, secondo lui, che la Biblioteca reale si dotasse di codici antichi ma anche di edizioni recenti, perché le mende dei primi potevano risultare corrette da interventi successivi. Questo era un lavoro prezioso, un compito di grande importanza secondo Cardona: chi aveva provato anche una sola volta il piacere di ripulire testi di autori venerati dagli errori di una cattiva trasmissione (come lui aveva fatto, emendando ben ottocento passi delle opere di Sant'Ilario e di San Leone papa), capiva che solo per quella via si poteva giovare alle lettere e alla vita civile. Se nei contratti bastava una parola introdotta firaudolentemente a scatenare infiniti litigi, quali potevano essere le conseguenze di errori nella trasmissione di testi di scienza? un medico, da un errore nel testo di Galeno, avrebbe ricavato dosi sbagliate di medicamenti, con gravi pericoli per i malati. Ma conseguenze assai più gravi si dovevano temere dagli errori introdotti nei testi di diritto e in quelli di teologia (in libris divinis). Gli eretici, del resto, rendevano gravissimo quel pericolo con i molti libri dove stampavano le loro false immaginazioni (somnia) e con quello che introducevano di falso e di sbagliato nelle edizioni dei più antichi e santi scrittori. Il tema della lotta all'eresia attraverso le biblioteche percorre l'opera del dotto vescovo spagnolo e ispira i suoi consigli a Filippo II. Ma non pare che fosse favorevole alle forme distruttive della censura libraria che dette vita allora ai roghi di libri. Il suo suggerimento era quello di riserbare una zona appartata alla conservazione dei libri eretici, da non concedere in consultazione a nessuno senza previa licenza speciale dell'Inquisitore; bisognava ricorrere al papa e ottenere per il re di Spagna il permesso di conservare i libri proibiti.2 In generale, l'atteggiamento di Cardona appare improntato alla volontà di conservare i libri e non di distruggerli. Per lui, era importante che la Biblioteca regia avesse tutti i libri e potesse gareg2
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giare in completezza con le maggiori biblioteche già esistenti; a questo scopo, si doveva garantire la disponibilità anche dei libri di autori eretici o dal contenuto ereticale. E' un consiglio che mostra la notevole apertura intellettuale e l'amore per i libri che si trova in queste pagine. Si trattava di garantire il miglior funzionamento possibile della Biblioteca ma anche di renderla uno strumento per aiutare gli studiosi e per dare alla luce i frutti intellettuali che dagli studi si potevano ricavare. Alla Biblioteca dovevano affluire, secondo lui, le raccolte private dei dotti; e si doveva imitare il granduca di Toscana imponendo la norma che, a quanto Cardona sapeva, a Firenze riserbava al sovrano il diritto di prelazione su ogni vendita di un qualche codice o libro raro. Ma bisognava anche provvedere perché arrivassero a essere stampate le opere di dotti rimaste inedite. E qui Cardona citava i manoscritti inediti di un gruppo di vescovi ed ecclesiastici spagnoli morti o ancora viventi: Martin Perez de Ayala vescovo di Valenza, Antonio Agustìn di Tarragona, Diego Covarrubia di Segovia, Miguel Thomàs di Lerida, Pedro Chacòn, Alfonso Salmeròn e altri ancora. Tra i viventi, spiccava il nome di Benito Arias Montano. E si doveva anche provvedere la Biblioteca di un prefetto, di suoi subalterni 0ministri) e di un gruppo di esperti in grado di aiutare i lettori. Modello insuperato di bibliotecario era, per Cardona, la figura del cardinal Guglielmo Sirleto. Un candidato ideale poteva essere un uomo di grande cultura come Antonio Agustìn, che però era morto di recente, oppure Garcìa de Loaysa, precettore dei figli di Filippo II. L'esperienza romana gli suggeriva anche il modo per provvedere la Biblioteca Reale di esperti di lingua ebraica ricorrendo a qualche dotto rabbino convertito al cristianesimo; per le lingue persiana e turca, suggeriva uno Stefano, un giovane educato dai Turchima passato poi al servizio del re a Napoli. Ma gli aspetti sui quali l'amore per i libri e il senso concreto dell'organizzazione libraria si avvertono di più sono quelli della catalogazione e della reperibilità dei libri. Quelli effettivamente posseduti dalla Biblioteca Reale dovevano - secondo Cardona - essere ordinati secondo le grandi partizioni del sapere: e dunque, in primo luogo, la teologia e al primo posto la Bibbia, più in alto i testi greci, seguiti nell'ordine da quelli latini e così via, graduando l'accessibilità fisica secondo l'accessibilità linguistica e mettendo fuori portata le opere più rare. In questo modo si poteva passare da un Ippocrate in greco al livello più alto alle redazioni e stampe latine di Ippocrate al livello inferiore. I libri rari dovevano essere conservati in armari appositi e tutelati dal logoramento con l'inserimento di veli di seta interfoliati. La biblioteca reale doveva essere di sola consultazione: una apposita sanzione papale doveva minacciare la scomunica a chiunque danneggiasse o asportasse libri o pagine e un ordine del re doveva rafforzare tale proibizione (e i frequentatori dovevano poter leggere con grande evidenza nell'atrio tali disposizioni). La consultazione doveva avvenire in un atrio spazioso sotto il diretto e costante controllo di appositi custodi. Quanto agli indici, essi dovevano essere collocati all'ingresso in modo che i lettori potessero trovarvi in ordine alfabetico i libri ebraici, greci e latini con la loro precisa collocazione. Ac-
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canto all'indice per autori, se ne doveva fare uno per materia, indicando con estrema precisione non solo il libro dove si parlava di un determinato argomento per esempio, la Trinità - ma anche la pagina. I cataloghi dovevano essere editi a stampa e inviati in Italia, in Francia e in altri luoghi. Inoltre, si dovevano mettere a disposizione di tutti i cataloghi delle altre grandi biblioteche della cristianità: la Veneta (Marciana), la Fiorentina (Laurenziana), la Romana o Vaticana; le altre biblioteche regie, cioè quella francese, quella di Mattia Corvino e così via.3 Seguivano consigli sulle possibilità di incrementare con acquisti nuovi e cospicui il patrimonio librario: e qui Cardona suggeriva di tener presenti le ricchezze italiane, di privati eruditi e di conventi. Qui il lettore si trova davanti all'abbozzo di un panorama che registra ancora l'egemonia culturale italiana ma ne avverte i segni di decadenza. C'erano le biblioteche di Antonio Agustìn e di Miguel Thomasius, di Achille Statius e di Girolamo Zurita, dotti di origine spagnola ma attivi in Italia, le cui biblioteche Cardona affermava dì aver conosciuto bene: c'erano quelle di italiani come Guglielmo Sirleto, Vincenzo Pinelli, Pietro Vettori, Fulvio Orsini; quella del convento di San Giovanni a Carbonara, a Napoli, dove si conservava - integra ma poco apprezzata dai frati - la biblioteca di Girolamo Seripando.4 Piano piano, attraverso le pagine del dotto vescovo spagnolo, prende forma una rete di conoscenze e di relazioni personali che disegna un vero e proprio panorama dell'erudizione romana del secondo '500. E a quel mondo di relazioni rinviano le due brevi appendici allo scritto per Filippo II: alcune pagine sulle biblioteche dell'antica Roma, tratte dal volume di Fulvio Orsini sulle 'imagines et elogia virorum illustrium'5 e una storia della Biblioteca Vaticana che l'autore afferma di aver composto a Roma con l'aiuto di Onofrio Panvinio.6 La storia della creazione di depositi archivistici e librari da parte dei cristiani, tracciata in modo sintetico ma con metodo storico e intento documentario, si colloca così sullo sfondo della tradizione bibliotecaria precristiana a Roma. Cardona sottolinea come lo sforzo di tutelare le proprie memorie da parte cristiana nascesse in contrasto con la volontà degli imperatori romani di cancellare quelle stesse memorie per eliminare la tradizione cristiana: e in seguito erano stati gli eretici a dare alle
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Ibidem. Ivi, pp.23-27. A Napoli, viene segnalata anche l'antica biblioteca di San Severino in condizioni di abbandono (in pulvere negligitur). Quanto alla biblioteca e alle carte del Seripando, che i frati disprezzavano (fratres ipsi quodammodo videntur aspemari) Cardona consiglia di affidare il compito di sceglierne libri da portare a E1 Escoriai all'abate Porzio, figlio del filosofo Simone. Fulvius Ursinus: Imagines et elogia virorum illustrium ex antiquis lapidibus. Romae in aedibus P. Dehuchino, Venetiis 1570. I dati relativi al personale della Vaticana riportati da Cardona sono stati utilizzati nello studio di Romeo De Maio: La Biblioteca Vaticana nell'età della Controriforma. In Romeo De Maio: Riforme e miti nella Chiesa del Ciquecento. Napoli 1973, pp.313-363: v. in part. p.316 e nota.
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fiamme i libri nei quali si conservava la memoria della vera religione.7 Si noterà, nell'elenco dei documenti più importanti conservati nell'archivio e poi nella biblioteca vaticana, l'assenza della donazione di Costantino. L'opera del Valla aveva ormai trovato ascolto tra storici ed eruditi, anche se il dissenso dalle tesi ufficiali non poteva ancora essere espresso se non col prudente silenzio: e nemmeno questo bastava a evitare disavventure con l'Inquisizione, come come dimostrava il caso di Carlo Sigonio che proprio dal Sirleto ebbe a soffrire censure pesanti.8 Nella Spagna di Filippo II, il pericolo dell'eresia era ufficialmente assente. Tra i vanti del suo re, Cordona poteva così elencare al primo posto il fatto che l'eresia era stata sradicata totalmente dalle menti dei sudditi del grande regno.9 La costruzione della Biblioteca Regia rispondeva al secondo obbiettivo da raggiungere, e cioè che, dileguate le nebbie degli errori, si potesse educare le menti alla dottrina ortodossa nella sua forma più garantita ( p u r i s s i m a m mentes imbibant doctrinam). Nell'età di Cardona, la censura antiereticale era garantita da robuste istituzioni e da un intero apparato che faceva capo all'Inquisizione. Non è certo un dettaglio trascurabile il fatto che a capo della Biblioteca Vaticana sedesse nel 1571 la stessa persona che presiedeva la Congregazione dell'Indice e cioè proprio quel cardinale bibliotecario Guglielmo Sirleto che il vescovo spagnolo considerava (a ragione) uno dei dotti più grandi del suo tempo.10 Fu in quel contesto che Cardona scrisse il suo parere. Non ci meraviglieremo dunque che dalla sua biblioteca fossero di norma escluse le opere degli eretici, secondo quanto già stabilivano gli indici dei libri proibiti. Ma, nel passare dal divieto astratto delle dottrine proibite alla concreta selezione di quel che si poteva stampare e leggere, un problema fra i tanti che si erano affacciati, era apparso particolarmente intricato. Si dovevano eliminare tutte le opere degli eretici oppure solo quelle che riguardavano la religione? non era un problema da poco. L'unità culturale dell'Europa, già minacciata dal conflitto di dottrine, si manteneva nei luoghi del sapere grazie alla utilizzazione di testi di carattere giuridico, letterario, medico, e altro ancora - di autori di diversa confessione. Distruggere nei roghi di libri tutto ciò che veniva da paesi o autori prote-
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Libros sanctos... temporibus Diocletiani excisis oratoriis ad delendam prorsus memoriam Christianorum exustos esse; in seguito, erano stati gli Ariani che libros ecclesiae ereptos indignissime combusissent ( loan. Bapt. Cardonae, episc. Dertosani: De regia S.Laurentii Bibliotheca, p.37). Cfr Paolo Prodi: Storia sacra e controriforma. Nota sulle censure al commento di Carlo Sigonio a Sulpicio Severo. In: Annali dell'Istituto storico italo-gennanico in Trento, HI, 1977, pp.75- 104. Nella dedica a Filippo, Cardona elogia id primum ... ut nulli animis tuorum errores Christianae religionis insiderent, utque iam orti radicitus evellerentur ( loan. Bapt. Cardonae, episc. Dertosani: De regia S.Laurentii Bibliotheca, c.a ii r). Stima ricambiata, a quanto pare. Nel 1584 la candidatura di Cardona a vescovo di Vich fu sostenuta in concistoro proprio dal cardinal Sirleto. Della gratitudine di Cardona restano testimonianze in una sua lettera datata Siviglia 2 settembre 1584 (Biblioteca Apostolica Vaticana. Vat.Lat. 6182, p.n, cc.716rv,7459) e in una lettera del cardinale Hispalense sempre al Sirleto del 28 gennaio 1584 (ivi. Vat.Lat. 6181, cc.95r,96r,105v).
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stanti avrebbe comportato infiniti problemi. Da qui, la soluzione che alcuni avanzarono e che fu specialmente sostenuta da Cardona in uno scritto che fu stampato a Roma nel vivo della discussione su tali problemi e che fu poi ripreso nello stesso libro dedicato al modello di biblioteca per El Escoriai." Nella Roma del tempo, dopo gli anni di guerra contro il dissenso ereticale dei pontificati di Paolo IV e Pio V, prevaleva un orientamento più moderato: il controllo della stampa, fino ad allora esercitato in forma aggressiva e distruttiva, si orientava verso un uso positivo dei mezzi della cultura a fini di penetrazione e di propaganda. Lo stesso editore del testo di Cardona pubblicò nel medesino volume il testo di una lunga dichiarazione di un convertito dal calvinismo dove si spiegavano le ragioni che avevano portato l'autore a tomare nelle braccia della Chiesa cattolica.12 Di quell'orientamento più moderato, la proposta di Cardona è un documento significativo. Secondo lui, sarebbe stato sufficiente cancellare i nomi degli autori o curatori dei testi e conservare i libri, se l'argomento non era di carattere religioso. Gli argomenti di Cardona erano stati da lui esposti in una sede di indiscutibile peso per quanto riguardava le funzioni di censura: la Congregazione dell'Indice, da poco nata in appoggio alla Congregazione dell'Inquisizione. Ambedue le istituzioni avevano a che fare con quello che veniva allora definito il Santo Officio. L'argomento fondamentale su cui Cardona fondava la sua proposta era che si doveva colpire la fame di notorietà degli eretici cancellando quello a cui costoro tenevano maggiormente: il nome. Che cosa infatti spingeva quegli uomini a una così forsennata attività scrittoria e pubblicistica se non il desiderio di conquistare la gloria terrena per il loro nome? era per quel nome che erano pronti a perdere la gloria eterna del paradiso. Ergo, il modo migliore di punirli consisteva precisamente nel colpire il nome. Bisognava togliere loro la speranza di una sopravvi-
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Iohannis Baptistae Cardonae doctoris theologi canonicique Valentini ad S.D.N. Gregorium X m Pont. Opt. Max. De expungendis haeretìcorum propriis nominibus etiam de libris qui de religione ex professo non tractant. Romae apud Josephum de Angelis 1576. H testo della proposta di Cardona è riportato alle pp.53-115 del volume stampato a Tarragona nel 1587. Le circostanze in cui era stato composto, a quanto racconta Cardona, erano state quelle di una discussione avvenuta a Roma superioribus annis ...ínter gravissimos et illustrissimos viros sulla questione an nomine emendationis, et expurgationis sint haeretìcorum nomina propria expungenda, quae in titulis, et inscriptionibus librorum qui de religione non tractant, continentur, (c. e Ulr) in relazione alle regole quinta e ottava dell'Indice tridentino, che riporta. Fu deciso allora di ascoltare aliorum ... sententias per giungere a più maturo giudizio e fu scelto anche lui tra i consultori. La sua opinione post lentam, et fastidiosam meditationem era stata che Haeretìcorum nomina tolli, delerique omnino debere ex titulis eorum etiam librorum, in quibus nulla de suo apponunt, sed aliorum tantum dieta colligunt (e mir). Matteo Grillo gentiihuomo salernitano: Abiuratione di molti errori heretici, fatta publicamente, et spontaneamente ... innanzi a Mons. niustriss. Cardinale di Armagnac. Avignone, per Pietro Rosso, 1568. Il testo è pubblicato in traduzione latina, di seguito allo scritto di Cardona: Johan. Matthaei Grilli nativi Salernitani: Ad fratrem epistola de rationibus et causis, quae eum moverunt ut ad Ecclesiam Catholicam Romanam rediret.
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venza nella gloria mondana cancellando dai libri che avevano scritto e pubblicato con tanta fatica proprio il nome dell'autore. Era questa la proposta che Cardona aveva sostenuto quando era stato interpellato a tale proposito dalla Congregazione dell'Indice.13 Lo aveva fatto con abbondanza di riferimenti alle fonti classiche e a quelle cristiane antiche in materia di cancellazione della memoria. Aveva anche inserito quella proposta in un contesto di storia della Chiesa di grande respiro, aperta - come vedremo - a sviluppi futuri. Certo, nell'immediato, Cardona non aveva incertezze: vista la situazione presente e l'aumento di giorno in giorno del pericolo, quei libri eretici dovevano essere bruciati (comburendi). Ma c'erano dei casi in cui ci si poteva limitare alla cancellazione dei nomi. La questione era diventata assai grave e urgente con gli inizi dell'attività censoria delle autorità romane. In particolare, l'indice promulgato nel 1559 da Paolo IV, mettendo indiscriminatamente fuori legge qualunque libro pubblicato da autori eretici, aveva creato gravi problemi non solo ai semplici lettori ma a chiunque per la propria attività intellettuale - studio, insegnamento - aveva bisogno di libri ed era abituato a tenere nella propria biblioteca o comunque a utilizzare testi di (o curati da) autori di confessione luterana o riformata, o stampati da editori ginevrini, basileesi, strasburghesi etc. Un caso speciale all'interno del problema generale fu costituito dalle pubblicazioni curate dal giurista francese Charles Du Moulin; usate nell'insegnamento universitario e nella pratica giuridica, le sue edizioni di testi non presentavano nessun pericolo di tipo dottrinale teologico. Ma il fatto che l'autore fosse notoriamente non cattolico era sufficiente, agli occhi dell'Inquisizione, perché si dovesse vietarli.14 Inutilmente singoli giuristi e intere facoltà di diritto - come quella dell'Università di Pisa - presentarono appelli perché fosse loro consentito di conservare opere così preziose.15 La risposta che ricevettero fu costantemente negativa, nonostante i vari argomenti con cui venne sostenuta la richiesta: costo delle opere condannate alla distruzione, loro insostituibilità per gli studenti e per i professori, assenza di ogni pericolo per la fede. Già allora si era affacciata la proposta che Cardona doveva far sua: conservare i libri 13
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Purtroppo gli atti di quella che, a detta del Cardona, era stata una commissione incaricata di formulare proposte non sono stati finora trovati nell'Archivio della Congregazione dell'Indice. Silvana Seidel Menchi osserva che la questione „divenne un tema centrale di dibattito nella Congregazione dell'Indice" intorno al 1575 (Silvana Seidel Menchi: Sette modi di censurare Erasmo. In: La censura libraria nell'Europa del secolo XVI. Atti del convegno di studi di Cividale del Friuli, a cura di Ugo Rozzo. Forum, Udine 1997, pp.194-203) ma non fornisce indicazioni al riguardo; il testo di Cardona è segnalato anche nel saggio di Ugo Rozzo: L'espurgazione dei testi letterali nell'Italia del secondo Cinquecento, ivi, pp.219-271; v.p.237. Cfr a questo proposito una recente e accurata ricerca di Rodolfo Savelli: Da Venezia a Napoli: diffusione e censura delle opere di Du Moulin nel Cinquecento italiano. In Censura ecclesiastica e cultura politica in Italia tra Cinquecento e Seicento. Firenze 2001,pp.l01-154. Si veda dello scrivente: Anime in trappola. Confessione e censura all'Università di Pisa. In: "Belfagor", LIV, 3 (31 maggio 1999), pp.257-287.
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cancellando tutto ciò che poteva ricondurre all'autore e alla sua scelta ereticale: il nome in primo luogo, ma anche eventuali prefazioni o dediche, indicazioni di luogo e di stampatore e così via. Sembrava una soluzione sostenibile ai fini dell'uso corretto dei libri e della eliminazione di ogni pericolo di infezione ereticale. Ci fu anche chi tentò, per quella via, di salvare dalla condanna e dalla distruzione le opere di Niccolo Machiavelli, con la proposta di permetterne un'edizione espurgata sotto un nome fittizio.16 Ma nel testo di Cardona la proposta veniva motivata in termini generali, fino a diventare non un rimedio astuto per sfuggire alla durezza della censura bensì una vera punizione per contrappasso capace di colpire la smodata ambizione alla gloria terrena da cui sembravano afflitti gli autori eretici. L'accusa che veniva mossa così alla cultura dei paesi riformati aveva avuto già diverse formulazioni precedenti. Si era partiti dalla considerazione che la diffusione dei libri era il mezzo più insidioso di cui si valessero i protestanti. Particolarmente grave era sembrato il caso dei maestri di scuola: gli umanisti, i pedanti, già guardati con sospetto per il loro linguaggio anticheggiante e per il culto degli autori pagani che diffondevano, furono sempre più oggetto di misure di controllo inquisitoriali con l'infittirsi dei segni di una loro ostilità nei confronti del clero e dei suoi vizi e di una tendenziale simpatia per gli argomenti anticuriali della Riforma; si aggiungeva a questo la diffusione della produzione libraria di origine protestante, dalle Bibbie ginevrine ai testi che Melantone, il praeceptor Germaniae, destinava all'insegnamento nelle scuole luterane. Melantone godeva di largo credito presso l'opinione degli umanisti italiani. Durante il Concilio di Trento, tra le lagnanze di molti vescovi e religiosi sulla diffusione di libri infarciti di insegnamenti immorali e sulla pericolosità dei maestri di scuola, se ne ascoltò una di altra origine: lo scienziato siciliano Francesco Maurolico indirizzò ai padri conciliari un invito pressante a rispondere in maniera sistematica all'offensiva libresca degli autori oprotestanti. Secondo Maurolico, il veleno ereticale era giunto fino alle estreme terre meridionali dove lui abitava. I veicoli erano i libri di Erasmo, Zwingli, Melantone e di tutti i loro compagni, disseminati nei villaggi e nelle più infime località. I testi editi con prefazioni e commenti da quei pericolosi eretici erano indispensabili a chiunque volesse studiare autori antichi o Padri cristiani. Così, secondo Maurolico, bisognava concepire e attuare un piano lungimirante, adatto a tempi come i presenti, in cui non un singolo eretico - come ai tempi di Ario e di Nestorio - ma una ribellione di grandi dimensioni agitava la Chiesa. Era 16
Sul progetto di un'edizione espurgata degli scrìtti del Machiavelli, la risposta del cardinal Santoro che il fiorentino Giovanni Nicolini riferì al granduca di Toscana fu questa: Se fussero dannate solamente l'opere di quell'autore, questo potrebbe forse succedere (la ristampa rivista e corretta), ma che essendo dannato insieme con l'opere il nome et la memoria di detto autore, quest'è una cosa che non si concederà mai (lettera del 7 dic.1596; cfr Peter Godman: From Poliziano to Machiavelli. Fiorentine Humanism in the high Renaissance, Princeton University Press. Princeton 1998, pp.303 e ss: v.p.329).
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necessario mettere insieme quanto di meglio ci fosse nel mondo dei dotti e in quello degli editori e mettersi al lavoro per fornire edizioni corrette dei testi fondamentali di tipo dottrinale, morale, storico (di storia sacra), redatti da teologi antichi e moderni.17 Si apriva così un campo sterminato. L'editoria cattolica della Controriforma - e segnatamente quella romana - concepì progetti ambiziosi; è innegabile l'importanza simbolica della scelta di un editore come Paolo Manuzio, che trasferì a Roma la sua attività. Grandi eruditi si mossero nella direzione di quella risposta positiva che Maurolico auspicava. Lo stesso Cardona ne menzionò diversi nel suo scritto sulla Biblioteca di Filippo II, per mostrare al re di Spagna modelli di edizioni accurate di autori antichi. Per garantire una cultura degli ingegni esente dal pericolo dell'eresia, il gesuita Antonio Possevino concepì e realizzò l'impresa della sua 'Bibliotheca selecta': una introduzione bibliografica ragionata alla conoscenza, una biblioteca fatta di proposte positive e non di divieti, con la quale chiunque poteva imparare storia, geografia, teologia, senza uscire mai dal circuito delle opere di autori di sicura ortodossia.18 Quella biblioteca del Possevino realizzò il disegno di Cardona per quanto riguardava la fornitura di biblioteche cattoliche a tutti coloro che ne avessero bisogno. Pur non avendo la bellezza delle biblioteche descritte dal vescovo spagnolo la Vaticana, la Laurenziana, la Marciana - quella messa su carta dal Possevino offriva la possibilità di individuare a colpo sicuro e senza pericoli i libri che si potevano leggere per costruirsi un sapere ortodosso. E lo strumento per diffondere quelle bibliografie fu la missione: nel corso delle sue ispezioni missionarie, Possevino si adoperò costantemente per catechizzare i maestri di scuola, togliendo loro i libri sospetti e sostituendoli con le edizioni castigate elaborate dai gesuiti. Per quella via, si realizzava solo in parte il progetto esposto da Maurolico e desiderato da Cardona. Ma, abbassandosi a compiti di divulgazione, la cultura cattolica non poteva conservare il livello scientifico auspicato sia dal dotto siciliano sia dal vescovo spagnolo. Quanto alle biblioteche vere e proprie, le trasformazioni che subirono all'epoca meriterebbero di essere ricostruite dettagliatamente. Quella su cui abbiamo maggiori informazioni è certamente la biblioteca Vaticana. Ogni frequentatore delle sue vaste, accoglienti e ricchissime collezioni ha modo ancor oggi di leggere sulle mura la definizione degli scopi così come fu formulata all'epoca in cui Cardona ne redigeva la sua descrizione: la propaganda fides ne è il punto capitale. Di fatto, 17
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...Omnia quae adfìdei sanctae rudimento, quae ad cerimonias, et ad morum instituta, quae ad sacras historia pertinet, tam a priscis theologis quam a recentibus tradita correctissmis typis excusa (Francesco Maurolico: Ad reverendissimos Tridentìnae synodi legatos et antistites, in Sicanicarum rerum compendium sive Sicanicae historiae libri sex. Lugduni sumptibus Petri Vander s.d., pp. 322-323). Cfr Albano Biondi: Aspetti della cultura cattolica post-tridentina. Religione e controllo sociale. In: Storia dltalia. Aiinali 4. Intellettuali e potere, a cura di Corrado Vivanti. Torino 1981, pp. 253-302.
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gli obbiettivi di propaganda e di controllo del sapere furono decisivi nel determinare le modifiche dell'epoca. Una modifica, in particolare, sembra degna di essere qui ricordata perché riguarda proprio quel sistema dei cataloghi e del reperimento dei nomi di autori a cui Cardona dedicò tanta attenzione. In un memoriale anonimo indirizzato forse a Francesco Barberini, fu affrontato allora il problema della consultazione bibliografica col sistema delle tavolette di indice. Vi si legge una tesi che riguarda proprio la questione del nome: Perché gli eretici ambiscono di corroborare le proprie opinioni con l'autorità dei libri della Vaticana, et mandarle alle stampe: i bibliotecarii hanno comandato espressamente in ogni congregatione, che i custodi debbano toglier via le pubbliche tavolette, et i titoli publici de i libri, et che se ne facesse compito indice; acciò quando vengono gli oltramontani a studiare qualche libro, possano i custodi vedere se è libro da concedere o no, che, se vi saranno le tavolette, vedendosi ivi tutti registrati, non se li potranno negare. Essendosi dunque tornato a rimettere le dette, ritorna a nascere l'inconveniente.'9 Col trasferimento della biblioteca nel salone sistino nel 1590, il sistema dei libri incatenati con le tavolette di indice venne sostituito con quello degli armadi chiusi.20 Nasceva e si diffondeva nel mondo cattolico un modello di biblioteca pubblica dove i libri, celati dietro grate e reti metalliche, erano accessibili solo a personale di custodia e concessi al lettori solo con filtri censori accurati. E' un modello tipico della Controriforma, che doveva caratterizzare nei secoli il mondo cattolico.21 Un processo parallelo investiva intanto la documentazione d'archivio: non solo venivano poste sotto segreto le fonti archivistiche relative al Concilio di Trento ma la consultazione delle fonti dell'Archivio Vaticano veniva concessa solo quando era necessario disporre di documenti nella controversia coi protestanti. Si giunse fino a fulminare la scomunica contro chi avesse tratto copie dalle fonti vaticane sul Concilio di Trento, mentre il custode dell'Archivio Felice Contelori proponeva come norma generale una censura preventiva sugli appunti degli studiosi, così come avveniva ai suoi tempi nella Biblioteca Vaticana.22
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G. Mercati. Per la storia della Biblioteca Apostolica bibliotecario Cesare Baronie. Perugia, Bartelli 1910, pp.14-15. Cfr A. Frajese: II popolo fanciullo. Silvio Antoniano e il sistema disciplinare della Controriforma. Milano, Angeli 1987, pp.32ss. m appendice, pp. 124-30, la minuta del programma iconografico riguardante la sistemazione del salone sistino. Cfr anche J. Bignami Odier: La Bibliothèque Vaticane de Sixte IV à Leon Xm. Città del Vaticano 1930. Cfr Luigi Balsamo: La bibliografia. Storia di una tradizione. Firenze 1984. Son de pensiero che si servi lo stile della libraria che le cose gravi che si ricopiano, si vedine prima de darle (Memoriale del 29 marzo 1629, riportato da Hubert Jedin: Das Konzil von Trient. Ein Überblick über die Erforschung seiner Geschichte. Roma 1948, p.99n).
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E' una norma che ha funzionato fino a tempi recentissimi.23 Anche nella pratica degli studi storici, d'altra parte, il criterio del silenzio davanti a nomi, fatti o documenti che potessero servire all'avversario di fede si affermò come norma durevole: come ha osservato Wolfgang Reinhard, Bellarmino consigliò a Baronie di tacere sulla falsità della donazione di Costantino, secondo una linea di condotta che possiamo riconoscere anche nella storiografia cattolica dei nostri tempi.24 La cancellazione dei nomi lasciando sopravvivere i testi (dei libri o dei documenti) era una soluzione di compromesso: essa permetteva di conciliare la damnatio memoriae per gli autori con la sopravvivenza delle opere. Colpiva l'ambizione individuale, la ricerca della gloria terrena; ma lasciava in vita i prodotti intellettuali - sempre che, naturalmente, non fossero eretici. In questo modo, Cardona risolveva un conflitto che la sua epoca visse con grande drammaticità. Il secolo si era aperto col trionfo della memoria dell'antico ma anche con la consapevolezza della fragilità della memoria culturale. L'affiorare di statue e di altri reperti antichi (monete, cammei) esaltava nei contemporanei il senso della rinascita o almeno della lunga durata della memoria ma, dall'altro, spingeva le menti più acute a riflettere sulle ragioni delle vaste zone di oscurità del passato. Niccolo Machiavelli aveva indicato, accanto alle ragioni naturali (peste, alluvioni, carestie) quelle dei conflitti di religione: Perché, quando e 'surge una setta nuova, cioè una religione nuova, il primo studio suo è, per darsi riputazione, estinguere la vecchiaMachiavelli pensava al conflitto tra cristianesimo e religione pagana: ma le sue osservazioni si adattano bene anche al conflitto interno al cristianesimo che si stava per aprire mentre egli scriveva quelle pagine. E' singolare, tuttavia, che durante la battaglia per la memoria che investì le confessioni cristiane nell'età della lotta fraterna e della costruzione di nuove chiese nessuno riprendesse il filo di quelle meditazioni sui pericoli della cancellazione della memoria. Anzi, si registrò proprio allora un trionfale ingresso nella cultura italiana e poi europea delle Arti della memoria, un genere letterario nuovo che insisteva sulle grandi potenzialità della memoria come facoltà individuale: non si contarono più le offerte di mnemotecniche e le proposte di nuovi modi per accrescere e conservare la memo-
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Nel 1954 Don Giuseppe De Luca fu ammesso a consultare documenti dell'allora segreto Archivio del S.Uffìzio: su quel che trovò, gli fu imposto l'obbligo del segreto e gli appunti che ne trasse finirono nell'archivio stesso (cfr Sergio Pagano: Vittoria Colonna e l'Inquisizione. In: Sergio M.Pagano-Concetta Ranieri: Nuovi documenti su Vittoria Colonna e Reginald Pole. Città del Vaticano 1989, pp.25ss). „Storici come Cesare Baronie, Ludwig von Pastor e Hubert Jedin sono stati insuperabili nella padronanza coscienziosa delle fonti, ma considerazioni di opportunità ecclesiale li spingono a lasciare di volta in volta sotto silenzio dei fatti" (W. Reinhard: Möglichkeiten und Grenzen der Verbindung von Kirchengeschichte mit Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. In: Spezialforschung und Gesamtgeschichte. Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, 8, 1981, pp.243278). Niccolò Machiavelli: Discorsi ulla prima deca di Tito Livio, L.n, cap.5.
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ria,26 paradossalmente fiorite proprio mentre i roghi dei libri proibiti gettavano i loro foschi bagliori sulle piazze delle città europee. Va detto, tuttavia, che quelle distruzioni di libri e di documenti non hanno cancellato la nostra memoria di quell'epoca e di quei conflitti, anche se hanno reso molto difficile il lavoro degli storici. Bisogna pur prendere atto di un fatto indiscutibile, che risalta nel confronto con altre epoche e altre culture: i documenti dell'età della Riforma e della Controriforma sono stati in gran parte conservati. Anche quei libri che allora furono in vario modo sottratti alla conoscenza e spesso deturpati da interventi censori, si sono in gran parte conservati, magari restando celati a lungo nei fondi segreti di archivi e biblioteche. Certo, le perdite sono state ingenti.27 Ma la guerra religiosa apertasi tra le confessioni cristiane nel '500 non ha portato alla distruzione sistematica delle fonti storielle. Forse, proprio perché è stata una guerra per la memoria nella quale l'elemento storico del rapporto con le origini ha avuto un'importanza decisiva, le parti in conflitto hanno gelosamente tutelato la documentazione scritta: e questo a scopo strumentale, cioè in vista dell'uso che se ne poteva fare nel conflitto di religione. Ma ci fu allora anche chi gettò sul conflitto in atto uno sguardo più lungimirante, alla luce di una idea della memoria di lunga durata nella quale ciò che oggi è vietato domani può diventare lecito. Fu questo il caso di Gian Battista Cardona: in fondo, egli diceva, c'erano autori un tempo proibiti perché eretici che poi era stato possibile leggere tranquillamente, quando il pericolo dell'eresia da loro sostenuta era venuto meno. Il nome che gli veniva in mente era quello di Origene: un nome assai significativo. E' un esempio che mostra come il suo sguardo sul presente fosse pieno di immagini e di ricordi tratti dal passato e dalla lunga storia della trasmissione della memoria nel mondo cristiano. Era in quella direzione che un lettore attento lo invitò a guardare. Il cardinale Gabriele Paleotti, dopo aver conosciuto l'opuscolo di Cardona, gli scrisse suggerendogli di indagare sul tema della tutela e cancellazione dei nomi nella chiesa antica: cosa che lo spagnolo aveva fatto, scrivendo in seguito un opuscolo sui dittici.28 Conservazione e cancellazione della memoria si rivelavano così come due volti della stessa realtà: fu su questa consapevolezza che presero forma, con la Biblioteca Regia di E1 Escoriai, le altre grandi biblioteche costruite nella prima età moderna e concepite come strumenti di quella che potremmo definire una disciplina della memoria. 26
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Cfr Lodovico Dolce: Dialogo del modo di accrescere e conservar la memoria. Venezia 1562 (una accurata edizione recente è quella a cura di Andrea Torre, Pisa 2001). Di un libro che è stato distrutto ho raccontato le vicende (si veda A. Prosperi: L'eresia del libro Grande. Storia di Giorgio Siculo e della sua setta. Milano 2000. Una lettera di Gabriele Paleotti a Cardona, datata Bologna 14 dicembre 1578, è riportata nell'edizione Tarragona 1587 dell'opera qui analizzata, alle pp. 119-120. Paleotti scrive di aver letto il libretto De expungendis haereticorum nominibus, che approva; suggerisce di soffermarsi sulla consuetudine di togliere i nomi degli eretici dai dittici e consiglia l'autore di rivolgersi al cardinal Sirleto. Sullo scritto sui dittici e più in generale su questi aspetti, mi propongo di tornare in altra sede.
Katholische Reformtheologie bei Georg Cassander Heribert Smolinsky
Diese Studie beginnt mit drei Zitaten. Das erste macht eine Aussage über die Religionsparteien und ihre differenzierten inneren Gruppierungen zur Zeit der Reformation und lautet, nachdem der Text zunächst von den Protestanten und deren altgläubigen, harten Gegnern gesprochen hatte, folgendermaßen: Unter denen, die heute am meisten in der Kirche herausragen, wird, obwohl fast unsichtbar und dunkel, eine gewisse dritte Art von Menschen gefunden, die, weil sie gezwungen sind, in einer der beiden Parteien zu verweilen, dennoch keiner Partei von Herzen anhängen und das, was hier wie dort richtig und dem katholischen Glauben und der Gewissenhaftigkeit entsprechend ist, annehmen [...]. Sie wünschen den wahren, aufrechten und den Heiligen Schriften und der Tradition der katholischen Kirche entsprechenden Frieden und Eintracht mit allen Gebeten herbei. Um ihn zu erreichen, sind sie bereit, all ihren Fleiß und Eifer zusammenzufassen [...]. Wenn nämlich nicht der Rat solcher Menschen gilt, ist keine Hoffnung auf Vereinigung; und wenn solche gehört werden, braucht man nicht bezüglich des Friedenschaffens zu verzweifeln1. Das zweite Zitat ist ganz anderer Art. Der Autor sagt, er dürfe nicht verschweigen, dass einige Schriftsteller der Gegenwart als katholisch bezeichnet und ihre Schriften geschätzt und gepriesen werden, die in Wahrheit und im vollen Sinne [...] nicht katholisch sind, wie Georg Wicel, Conrad Klinge, Johannes Ferus, Jacob Schöpper, Georg Cassander [...]. Wenn deren Schriften richtig geschätzt und nach der Form des Konzils von Trient und soliden theologischen Regeln geprüft werden, so enthalten und verteidigen sie zwar zum größten Teil die katholische Lehre, weichen aber mitunter von dem gesunden Glauben und der katholischen Religion ab2.
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[Georg Cassander]: De officio pii ac publicae tranquillitatis vere amantis viri, in hoc Religionis dissidio. O.O. [Köln] 1562. S. 27. Petrus Canisius an Herzog Wilhelm V. von Bayern, 8. August 1580. In: Beati Petri Canisii Epistolae et Acta. Hg. von Otto Braunsberger. Freiburg 1922 (Nr. 2063. Bd. 7). S. 553.
Katholische Reformtheologie bei Georg Cassander
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Schließlich das dritte Zitat, entnommen einem 1642 in den Niederlanden erschienen Werk mit dem Titel Via ad pacem ecclesiasticam. Dort heißt es als Teil eines längeren Gedichtes, die Niederlande freuten sich, dass die die Wahrheit verkündenden Schriften des Cassander viel gelesen würden3. Der erste Text entstammt einem kleinen Buch, das Georg Cassander für François Bauduin verfaßte, damit dieser es auf dem Religionsgespräch von Poissy 1561 vorlege4. Das zweite Zitat ist einem Brief des Jesuiten Petrus Canisius entnommen, den er am 8. August 1580 dem bayerischen Herzog Wilhelm V. schrieb, und worin es um neue Verzeichnisse von Büchern ging, die man in Bayern verbieten solle. Was er zu Cassander sagte, war insofern nichts Neues, da dieser schon ab 1559 auf dem Index stand. Der Autor und Herausgeber des Buches, dem der dritte Text entstammt, ist Hugo Grotius. In seinem Werk druckt er Cassanders Begutachtung der Confessio Augustana (CA) für Kaiser Ferdinand I. und Maximilian IL, ebenfalls ein längst indizierter Text, ab und nimmt selbst dazu Stellung. Mit den drei unterschiedlichen Aussagen erhält man als Einstieg in unser Thema mehrere perspektivische Spiegelungen: Erstens einen Einblick in die Selbsteinschätzung derer, die wie Cassander nach einer Kircheneinigung suchten und sich bewusst als nicht konfessionalisiert ansahen; zweitens die Einsicht in eine auf dezidierte Abgrenzung der Konfessionen drängende Position; schließlich drittens Informationen über die Bemühungen, den abgeschlossenen Prozess der Kirchenspaltung im 17. Jh. mit Hilfe vorgängiger theologischer Arbeiten aufzubrechen. Von daher stellen sich mehrere Fragen: Was war an Cassanders Theologie interessant und zeitüberdauernd, aber für Konfessionalisten wie Canisius gefährlich? Ist der in der Überschrift gewählte Begriff katholische Reformtheologie treffend, irreführend oder hilfreich, ohne Monopolansprüche anmelden zu dürfen? Hat die Reformidee, die damit assoziativ verknüpft ist, vielleicht etwas mit der Potentialität cassandrischer Theologie zu tun, die ja nicht nur bei Grotius aktualisiert worden ist, sondern auch in der Helmstedter Theologie Anklang fand5? Es soll zur Beantwortung dieser Fragen eine Arbeitshypothese aufgestellt und im folgenden untersucht werden. Sie lautet: Cassanders Theologie stellte insofern eine Reformtheologie dar, als er den Reformbegriff mit dem Kirchenbegriff 3
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Hugo Grotius: Via ad pacem ecclesiasticam. Amsterdam 1642. S. 56. Eine zeitgenössische englische Übersetzung durch Clement Barksdale lautet: „That mild Cassander's Works are published (thanks to Cordesius) and by thee are read." Zit. nach und hg. von Henk J. M. Nellen, Edwin Rabbie: Hugo Grotius Theologian. Essays in Honour of G. H. M. Posthumus Meyjes. Leiden u.a. 1994. S. 97f. Cordesius war der Editor von Cassanders Opera omnia 1616. Titel siehe Anm. 1. Die Erstausgabe erschien Basel 1561. Vgl. Michael Erbe: François Bauduin und Georg Cassander. Dokumente einer Humanistenfreundschaft. In: Bibliothèque d'humanisme et renaissance 40/1978. S. 537-560. Vgl. Inge Mager: Helmstedt. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 15.1986. S. 35 - 39.
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verband. Diese Reform war aus der Dynamik der Geschichte wissenschaftlich zu erheben, hinter deren Maßstäben die Kirche in ihrer konkreten Verwirklichung ständig zurückblieb und die deshalb für Veränderungen offen blieb. Das gewährte die Chance, die notwendige Flexibilität zu gewinnen, um durch verändernde Kirchenreformen mit Ausrichtung an einer übergreifenden Norm aufeinander zuzugehen und die Einheit herzustellen.
1. Person, Werk und historischer Kontext Zur Person Cassanders seien nur einige Stichworte genannt6. Geboren 1513 oder 1515 in Pitthem bei Brügge, studierte Cassander in Löwen, wo er vermutlich über das Collegium trilingue sein Interesse am Humanismus entwickelte. 1541 wurde er Professor der Humaniora in Brügge, 1544 immatrikulierte er sich in Köln in der Theologischen Fakultät, 1546 in Heidelberg7. Ab 1549 lebte er meist in Köln, literarisch tätig und mit zahlreichen Kontakten, und 1566 starb er dort auch. In den fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre arbeitete Cassander mit Herzog Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg und dessen Räten am Thema der Kirchenreform. Als Kaiser Ferdinand 1564 nach dem Abschluss des Trienter Konzils einen Anlauf machte, unkonziliar auf eine Kircheneinheit hinzuarbeiten, da die große Kirchenversammlung dies in Deutschland nicht erreichen werde8, bat er Cassander und Georg Witzel um Gutachten zur Confessio Augustana. Cassanders Entwurf De articulis religionis inter Catholicos et Protestantes controversiis, Consultatio machte Karriere: 1576 in Köln gedruckt, natürlich indiziert, veröffentlichte und kommentierte nicht nur Hugo Grotius den Text9, sondern 1631 legte in Nürnberg Johannes Saubertus der Ältere eine deutsche Übersetzung vor10 und publizierte Hermann Coming 1659 Cassanders und 6
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Vgl. Barbara Henze: Cassander. In: LThK. 3. Aufl. Bd. 2. 1994. S. 968f.; Heribert Smolinsky: Cassander. In: RGG. 4. Aufl. Bd. 2. 1999. S. 78f. Für Köln belegen die Matrikel die Theologische Fakultät, in Heidelberg ist die Fakultät nicht angegeben. Vgl. Cassander : De articulis religionis inter Catholicos et Protestantes controversiis Consultation. In: Georgii Cassandri [...] Opera quae reperiri potuerunt omnia. Paris 1616. S. 899: [...] Ferdinandus [...] Quamobrem, cum videret, eas Concilio Tridentino in Germania, quam pro summi Magistrates munere regebat, non potuisse sopiri [...]. Im folgenden zitiert Opera omnia. Vgl. Anm. 3. CassanderEvangelicus. sive In plaerisque Assertor Aug. Confessionis graviss [...]. Diejenige Puncten, Worinn der Fürnehme, Hochgelehrte und in der Römisch-Catholischen Kirchen weitgerühmte Mann Georgius Casssander die Augspurgische Confession mit gutem Grund gebillichet [...]. Durch Johannem Saubertum, Nürnberg 1631. Saubert, der 1646 in Nürnberg starb, war lutherischer Theologe und Prediger. Da er als orthodox gilt, ist es umso interessanter, daß gerade er eine Teilübersetzung anfertigte. Vgl. Wagenmann: Saubert. In:
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Witzeis Gutachten nochmals11. Ein zweites Werk Cassanders, das 1561 anonym unter dem Titel De officio pii ac publicae tranquillitatis vere amantis viri, in hoc religionis dissidio erschien, bereits angesprochen wurde und u.a. eine literarische Kontroverse mit Johannes Calvin auslöste, druckte Jean Hotman 1607 in Lyon ebenso wie Johannes Latermann 1650 in Königsberg nach. Das Interesse der Helmstedter Theologie lässt sich schließlich neben Conring und Latermann nochmals belegen, wenn wir bedenken, dass Georg Calixt 1642 einen Dialog Cassanders De communione sub utraque specie dialogus publizierte12. Für dieses Interesse, das man noch weiter verfolgen könnte13 und das man heute vielleicht ökumenisch nennen würde, liefern sowohl die soziale Einbindimg wie auch das Gesamtwerk Cassanders über die schon genannten Schriften hinaus Gründe. Beides lässt erste Schlüsse auf seine Theologie zu und wäre intensiver zu analysieren, als das hier der Fall sein kann. Was die Sozialverflechtungen betrifft, so sollen einige Namen aus Cassanders Briefwechsel genannt werden14. Briefpartner waren u.a. Heinrich Bullinger, Sebastian Castellio, Flacius Illyricus, Johannes a Lasco, Graf Hermann von Neuenahr, der Düsseldorfer Prediger und Calvinist Gerhard Veltius, der Kölner Erzbischof Hermann von Wied sowie Herzog Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg und dessen Räte. Das auf diese Weise entstandene Spektrum und der normalerweise freundliche Inhalt der Briefe zeigen, dass Cassander keine konfessionalistische Abgrenzung betrieb, sondern im Gespräch bleiben wollte. Vor allem die Einbindung in die konfessionsneutrale Politik des Düsseldorfer Hofes ab den fünfziger Jahren des 16. Jh. könnte mit dazu beigetragen haben, die spezielle Form seiner integrativen Theologie weiterzuentwickeln15. Den kommunikativen Verflechtungen korrespondierte das literarische Oeuvre, das ab 1555 bezüglich theologischer Arbeiten einsetzte, nachdem Cassander vorher u.a. rhetorisch-dialektische Schriften veröffentlicht hatte. Das erste eigenständige theologische Werk behandelte die Zwei-Naturen-Lehre Christi16 in
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ADB 30 /1890. S. 413 - 415; Matthias Simon: Saubert. In: RGG. 3. Aufl. Bd. 5. 1961. S. 1375. Georg» Cassandri et Georgii Vicelii: De sacris nostri temporis controversiis libri duo, cura Hermanni Conringii. Helmstedt 1659. R. J. M. van de Schoor: Reprints of Cassander's and Witzel's Irenica from Helmstedt. The Meaning of the Irenical Tradition for Georg Calixtus, Hermann Conring and Johannes Latermann. In: Lias 20.1993. S. 167-192. Vgl. etwa Rob van de Schoor: De invloed van Georgius Cassander op de engeise theologie in de zeventiende eeuw, in: Nederlandsch archief voor kerkelijke geschiedenis 77.1997. S. 158 -195. Vgl die Briefe in Opera omnia: Epistolae CXVH Zur Mitarbeit Cassanders in Düsseldorf vgl. Heribert Smolinsky: Humanistische Kirchenordnungen des 16. Jh. als kirchenpolitische „via media" in Jülich-Kleve-Berg. In: Der Niederrhein im Zeitalter des Humanismus. Konrad Heresbach und sein Kreis. Hg. von Meinrad Pohl. Bielefeld 1997. S. 57 - 72. Cassander: Commentarius de duabus in Christo naturis, Köln 1555.
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Auseinandersetzung mit deren Leugnung durch radikale Reformatoren. Analysiert man die weiteren theologischen Bücher, ergeben sich folgende Schwerpunkte: die Kindertaufe, bedingt durch das Auftreten der Mennoniten im Niederrheingebiet, die genannten Schriften zur Kircheneinheit sowie liturgische Arbeiten17. Damit wird klar: Im historischen Kontext einer vermittelnden Kirchenpolitik und in Auseinandersetzung mit reformatorischen Strömungen seiner Zeit entwickelte Cassander eine Theologie, deren Ziel es war, zu überzeugen und den nötigen weiten Rahmen zu setzen, der eine integrierende, nicht hart abgrenzende Religionsform ermöglichte. Merkwürdig ist, dass keine größeren Arbeiten zur Exegese vorliegen18, wie sie z.B. der ihm gleichende Georg Witzel schuf. Ahnlich wie in dem einflussreichen Buch des Erasmus De sarcienda ecclesiae concordia von 1535 steht nicht die Lehre, sondern die richtige Praxis im Vordergrund der Gedanken Cassanders. Trotz der Vorbildhaftigkeit des Erasmus für ihn betrieb Cassander kein sklavisches Nachahmen, sondern es entstanden deutlich neue Akzente, wozu vor allem die Konzentration auf die Liturgie gehörte. Dieser Neuheitscharakter könnte es bedingen, dass vieles bei Cassander merkwürdig allgemein, beinahe abstrakt und wenig konkret klingt.
2. Strukturelemente der Theologie Georg Cassanders Wenden wir uns als nächstes den Strukturen zu, die Cassanders Theologie bestimmen und die hier wesentlich aus den beiden erstgenannten Schriften De officio pii viri und der Consultatio erhoben werden. Systematisch hat er diese Theologie auf Grund des eingeschränkten, nur zu bestimmten Themen sprechenden Oeuvres nicht ausgearbeitet, und es lassen sich bei ihm Widersprüche nachweisen, die mit der Art der Entstehung seiner Arbeiten erklärbar sind. Hierin ähnelte Cassander vielen seiner Zeitgenossen in allen Kirchen. Zwei Strukturelemente lassen sich dennoch als wesentlich herausarbeiten: Erstens der Reformgedanke mit Blick auf die Norm, an der das konkrete Christentum immer zu messen ist; zweitens die Idee der Moderatio als Vorgehensweise, um die Kircheneinheit voranzubringen.
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Zwei Schriften über Kindertaufe, zwei Ausgaben von Disputationsakten mit Täufern; drei Editionen liturgischer Texte; Edition der Werke des Vigilius von Trient, vier Schriften zur Kircheneinheit, zwei Schriften zur Kommunion unter beiden Gestalten, Edition des Honorius von Autun; vgl. Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 16. Jh. Bd. 4. Stuttgart 1985. S. 58-61; Wilbirgis Klaiber: Katholische Kontroverstheologen und Reformer des 16. Jh. Münster 1978. Nr. 598 - 616. Nach Maria E. Nolte: Georgius Cassander en zijn oecumenisch streven. Nijmegen 1951. S. 235, gibt es eine Handschrift in der Universitätsbibliothek Leiden mit einer Annotatio in obscuriores quosdam locos Psalmorum.
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2.1 Reformidee und Reformnorm
Beginnen wir mit der Reformidee und der Reformnorm. Beides hat bei Cassander insofern eine besondere Perspektive, als er nicht wie viele zeitgenössische Reformgutachten auf die lange Tradition der Gravamina, die Reformkonzilien des 15. Jh. oder auf das Einhalten des Kirchenrechtes zurückgriff, ebensowenig auf die Dekrete des 1563 abgeschlossenen Trienter Konzils, das er wohl als spaltend und parteilich ablehnte, sondern eine grundsätzliche Sicht entwickelte, die man scharf zugespitzt folgendermaßen formulieren könnte: Auf Grund einer permanenten Abweichung der Kirche von ihrer Idealnorm ist Reform ein immerwährendes Anliegen. Das bedeutet: Cassander ist mit seiner Reformidee in der Lage, für die römisch-katholische Kirche ebenso wie für die anderen Kirchen Änderungen zu verlangen, mit deren Hilfe schließlich eine Einheit denkbar wäre. Dazu bedarf es allerdings eines zweiten Schrittes. Die Norm für diese Reform gilt es zu suchen, und zwar auf wissenschaftliche Weise von gelehrten Männern, wobei Scholastiker so gut wie ausscheiden. Im wesentlichen stellt die Alte Kirche, zeitlich limitiert bis ca. Gregor dem Großen, den Ort dar, wo das Material zur Normenfindung bereitliegt19. Da dieses aber vielfältig ist, angefangen mit der Schrift, den Synoden und Kirchenvätern bis hin zu bestimmten religiösen Praktiken, genügte die Festlegung auf ein zeitliches Limit nicht. Der Stoff war nach seinem jeweiligen Verbindlichkeitsgrad zu qualifizieren20. Cassander nahm eine Abstufung vor. Den 19
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Vgl. Cassanders Brief an Johannes Sambucus, undatiert. In: Opera omnia (Anm. 8) S. 1180: Scripseram enim, Ecclesiam esse instaurandam ad formam et exemplum potissimum illius Ecclesiae, quae ab aetate Constantini floruit, quo loco adendum erat, usque ad aetatem Augustini vel Leonis. Nam ad earn usque aetatem, imo usque ad Gregorium I. etiam illi, qui praesentem Ecclesiam aspernantur, Apostolicam doctrinam incorruptam, et Ecclesiae constitutionem et gubernationem legitimamfuisse fatentur. Cassander: De officio pii viri. S. 7f: Primum earn doctrinam ut veram et Catholicam habendam esse iudico, quae sacris Uteris est expressa Deinde, quae ex mente et intelligentia earundem literarum ab ipsis usque Apostolorum temporibus est tradita, et per successionem ad nos usque derivata quarum utramque pari fidei integritate amplectendam duco. Tertio loco est, quae ab omnibus Ecclesiis, vel maiore certe parte est recepta, et probabilibus rationibus e sacris Uteris confirmata, hanc quoque pio cuique suscipiendam existimo: quamvis ingeniosis hominibus rationes occurrere possint, quibus probabiliter refutetur. Quarto loco quaestionum quoddam genus est, quae neque tarn Claris Scripturis testimoniis, neque tam antiquo et magno consensu Ecclesiae nituntur: tamen posterioribus temporibus, in hoc praecipua Occidentali Ecclesiae parte constitutae et receptae sunt: quae cum divinis Uteris manifeste non repugnent, in earum confutatione neque pugnaciter agendum neque ea de causa Ecclesiarum pacem perturbandam puto. Siehe auch die Praefatio zur Consultalo. In: Opera omnia S. 894: Est autem omnis disputationis, quae de Religionis causa suscipitur, hoc unicum principium, Doctrina Evangelica in lege et Prophetis pronunciata, a Christo prodita; ab Apostolis per universum orbem denunciata, et postea Uteris consigliata; et universali
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höchsten Grad der Verbindlichkeit hatte die Schrift als Trägerin der wahren und katholischen Lehre, gefolgt von Sinn und Einsicht der Apostolischen und weitertradierten Überlieferung. Es folgt das von allen Kirchen oder auf sichere Weise vom größten Teil derselben Akzeptierte, und als unterste Stufe Fragen, die bei den ersten drei Elementen nicht vorkommen, dennoch in späterer Zeit besonders in der Westkirche aufgestellt und rezipiert sind. Lezteres ist zu dulden, wenn es nicht der Schrift entgegensteht. Meinungen von Gelehrten müssen nicht geglaubt werden, und was der Schrift und Tradition der Kirche entgegensteht, ist zu meiden. Die Norm der Schrift war weiter zu bedenken, da sich mit ihr ein Problem verband. Schon Erasmus hatte in De libero arbitrio lapidar festgestellt: De sensu scripturae pugna est21. Die Frage nach der Bibelinterpretation stellte sich Cassander Ende der fünfziger Jahre des 16. Jh. beim Problem der Kindertaufe in scharfer Form, als er selbst mit Täufern disputierte, sein Buch zur Begründung der Säuglingstaufe schrieb und es Herzog Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg widmete, in dessen niederrheinischem Territorium die Täufer auftraten. Das Problem lautete: Wenn alle, auch die mennonitischen Täufer, sich auf die Bibel berufen und diese im Textbestand in etwa bei allen christlichen Denominationen gleich ist, dann kann das biblische Wort nicht der entscheidende Streitpunkt sein. Was seit Beginn der Kontroversen um die Frage nach der Schriftauslegung zur Diskussion stand, kam jetzt bei Cassander erneut zur Sprache: Wie finde ich eine Auslegungsinstanz im Wirrwar der Meinungen? Das Problem verschärfte sich für unseren Humanisten insofern, als der Duktus seiner Gedanken durchaus den Gedanken nahelegt, er trete für die Schriftsuffizienz ein. Seine Bemühungen richteten sich auf die Bestimmung der Tradition in ihrer Beziehung zur Schrift und auf die auslegende Kraft dieser Tradition. Die Lösung des Dilemmas sah so aus, dass Cassander untrennbar beide Größen miteinander verband und bis zu einem gewissen Grade ineinssetzte. Das Mittel dafür boten ihm die Begriffe der Implicatio und Explicatio. Er kann formulieren: Weil diese Tradition nichts anderes ist als die Explikation [die Auslegung] der Schrift selbst und die Interpretation: so, dass nicht unpassend gesagt werden könnte, die Schrift sei eine gewisse implizierte und versiegelte Tradition, die Tradition aber sei eine
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perpetuoque consensu et concordi testimonio eorum, qui Apostolos audierunt, et iis per ordinem successerunt, confirmata, et adposteros propagata [...]. Qua divina scriptura tanquam certissima quadam regula, veteres in controversiis, quae statim post Apostolorum discessum extiterant, diiudicandis usi sunt. Sed saepe in his contentionibus evenit, ut de sensu et intelligentia harum divinarum literarum non conveniret, oc non paucae controversiae ortae sint, quarum in iis divinis Uteris non tarn certa et aperta explicatio reperiebatur. Quare semper necesse fuit ad consensum universalem vetustissimarum Ecclesiarum, tanquam ad publicum etfirmissum testimonium, vivae Apostolicae Doctrinae et verae scriptorum Apostolicorum intelligentiae provocare, quod et hodie usu venire videmus[...\. Erasmus: De libero arbitrio. Hg. von Winfried Lesowsky (Ausgewählte Schriften. Bd. 4). Darmstadt 1969. S. 26.
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explizierte und entsiegelte Schriftn. Folgerichtig schien es Cassander möglich, die Kindertaufe weitgehend über die Kirchenväter zu beweisen. Auch damit war nicht das volle Prinzip gewonnen, um Wahres und Falsches zu scheiden. Als Kriterium gelten zusätzlich der communis consensus und das publicum testimonium aller Kirchen23. An anderer Stelle bestimmen drei Größen die rechte katholische Tradition: antiquitas, universitas, consensio24. Vinzenz von Lerins und dessen Traditionsprinzip sind zitiert25. Damit war eine Grundlage gewonnen, die Reformnorm zu erheben, aber wir werden im Kirchenbegriff sehen, dass der Befund letztlich doch komplizierter ist.
2.2 Die Vorgehensweise der Moderatio Ein zweites Strukturelement der Theologie Cassanders bildet das Prinzip der Moderatio 26 . Barbara Henze hat in einem Vortrag in Amsterdam, der in der Zwischenzeit in einem Sammelband über den Erasmianismus veröffentlicht ist, gezeigt, wie hier ein antikes, von Piaton in den Tugendrang erhobenes und von
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Cassander: De officio pii viri. S. 6: [...] cum haec traditio nihil aliud sit, quam Scripturae ipsius explicatio et interpretatio: ita ut non inepte dici posset, Scripturam esse implicatam quondam et obsignatam traditionem, traditionem vero esse Scripturam explicatam et resignatam. Siehe auch Cassander: Defensio insontis libelli de officio pii viri. O.O. 1562, S. 81: Neque enim de aliis dogmatibus loquimur, ut iam aliquoties dictum est, quam quae scripturis divinis consentanea sunt, et quae quamvis in scripturis sacris ad verbum non exprimantur, tamen ex iis quae scripta sunt consequuntur: neque alio loco habenda sunt, quam diffusiores explicationes et interpretationes eorum quae brevius et rectius scripta sunt, quae interpretationes et ante evangelium scriptum viva voce pleraeque traditae et ab auditoribus acceptae posteritatique per successionem traditae et expositae, nonnullae vero et amplissimorum conciliorum decretis declaratae fuerunt. Cassander: De officio pii viri. S. 6: [...] quae intelligentia petendo erat a communi consensu et publico testimonio omnium ecclesiarum. Brief an Wilhelm Ketteier. In: Opera omnia S. 1080:[...] sed in hac item, ut in reliquis fidei dogmatibus, canonem Scripturae sacrae, etfidei, quae in eo canone clare proponitur, analogiam et conventientiam mihi propono; ac deinde perpetuam Ecclesiae consensionem, quae in priscorum Patrum scriptis, et cum canonicae scripturae regula et inter ipsos congruentibus extat, libenter adhibeo; quibus si a recensioribus quoque aliquid consentaneum tradatur, et aliqua commoditate dicendi, quam temporis ratio requirit, dilucidius explicatur, aspernandum non puto. Cassander: De officio pii viri. S. 7: Quae quidem Catholica traditio tribus notis deprehendatur: antiquitate, universitate, et consensione. Huius intelligentiae ex Catholica traditione, id est antiqua, perpetua et universali consensione necessitatem hodie quoque deprehendimus. Vgl. Hubertus R. Drobner, Vinzenz von Lerins. In: Lexikon für Theologie und Kirche 3. Aufl. 10. 2001, Sp. 798f. Barbara Henze: Erasmianisch: Die 'Methode', Konflikte zu lösen? Das Wirken Witzeis und Cassander. In: Erasmianism: Idea and Reality. Hg. von M. E. H. N. Mout, H. Smolinsky, J. Trapman. Amsterdam u.a. 1997. S. 155-168.
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Aristoteles als Kennzeichen jeder Tugend27 betrachtetes Element zum Tragen kam. Erasmus brachte die Moderatio in das Bild, man vermeide mit ihr Skylla und Charybdis, und Cassander griff diese erasmische Aussage in einem Brief vom 16. September 1565 an Jan Hessels auf28. Mehrere Aspekte lassen sich bei ihm bezüglich der Moderatio festellen. Einmal bedeutet sie, dass man Extrempositionen vermeidet. In unserem Falle heißt das: als erstes Extrem, sich vorschnell von der Kirche zu trennen, und als zweites Extrem, jeden Missstand zu leugnen und die Reform abzulehnen. Der Moderator vermeide beide Positionen und schlage sich nicht auf die Seite einer Partei. Er gehe die via regia, den Königsweg der Mitte29, der wegen seiner Unparteilichkeit die Freiheit des Denkens gewährleiste. In einer Weiterführung dieses Gedankens sagt Cassander, dass sich die Moderatio keiner abqualifizierenden Sprache bediene, wie sie z.B. die in der Kontroverse vielgebrauchten Negativbegriffe Papisten, Antichristliche, Diener des Satans und Feinde der Lehre Christi darstellten30, da das die Feindschaft nähre. Die Moderatio beinhalte eine notwendige „Konzessionsbereitschaft"31, da die Mäßigung in der Lage sei, einander gegenüberstehende Positionen anzunähern, was ohne Konzessionen nicht möglich wäre. Cassander warnt vor dem Trugschluss, damit sei gemeint, man müsse die Wahrheit aufgeben. Vielmehr gehe es darum, sie nicht hart und ohne Rücksicht auf die konkrete Lage anzuwenden. Anders gesagt: Die Moderatio beinhalte das, was in der Rechtssprache Aequitas heißt, die den rigor des Rechts mildert und der individuellen Situation gerecht wird. In dem Gutachten zur CA, der Consultatio, hat es Cassander folgendermaßen formuliert: Die moderatio und aequitas wird viel mehr zur Befriedung der Kirche führen als mancher Unbeugsamkeit und Strenge, die eher den Hass der Partein offenbart als den Eifer für die Eintracht32.
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Henze: Erasmianisch. S. 158. Opera omnia. S. 1213. Siehe auch den Brief an den Weseler Stadtrat Theodor von Groen. Ca. 1564. In: Opera omnia. S. 1178. De officio pii viri. S. 5: Cum igitur utrique a regia via, hi quidem in dextram, illi vero in sinistram nonnihil deflexisse viderentur, ad ipsam directam regiamque viam inquirendam mandate divino me cogi et impelli putabam. Quare ut certius aliquid de hac re cognoscerem, et certum aliquod firmumque iudicium de his controversiis compararem, statui mihi ab omni partium studio abstinendum, et personarum praeiudicium seponendum, libertatemque iudicandi (quae nisi exuta partium et personarum affectione constare non potest) retinendam. Zu den Parteien siehe auch: De officio pii viri. S. 26f, wo sie näher beschrieben sind. De officio pii viri. S. 25f Henze: Erasmianisch. S. 160. Zitiert nach Henze: Erasmianisch. S. 160. Der lateinische Text der Consultatio lautet: quae moderatio et aequitas, multo plus ad Ecclesiae pacificationem conducet, quam nonnullorum rigor atque severitas, qui odium potius partium quam concordiae Studium prae se ferunt. In: Opera omnia. S. 909.
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3. Das Kirchenbild Cassanders und die Idee der Reform Grundsätzlich gilt der alte theologische Gedanke: Christus ist das Haupt, die Kirche der Leib, der mit dem Haupt verbunden sein muss. Insofern kann von der Ecclesia Christi gesprochen werden33. Das Wort Gottes und die Sakramente konstituieren diese Kirche. Die wahre Ecclesia Christi ist aber nicht die äußere Gemeinschaft, sondern die große Zahl der Erwählten in ihr34. Das schwierige Problem einer Verhältnisbestimmung zwischen beiden Größen, der äußeren und der inneren, der sichtbaren und unsichtbaren Kirche löst Cassander nicht, wohl aber hat er in seinem Gutachten zur CA bei dem Kirchenartikel die äußere Kirche mit ihren Sakramenten als notwendig bezeichnet, damit die innere „im Dienst der Liebe" bestehen kann35. Die „Erwählten" spielen in seinen weiteren Überlegungen keine Rolle mehr; vermutlich, weil sie nicht konkretes Objekt seiner Anliegen bilden können, Kirchenbegriff, Reform und Kircheneinheit zusammenzuführen. Er braucht etwas Objektivierbareres, und das ist die dem Evangelium gemäße Lehre und die Apostolische Tradition. Damit wird deutlich: Cassander orientiert sich inhaltlich am Kirchenartikel der CA36, fügt aber die Apostolische Tradition hinzu. Man trennt sich von Christus, wenn man eine falsche Lehre über ihn annimmt, man trennt sich von der Kirche, wenn die Liebe verschwindet37. Das bedeutet: Bezüglich Christus ist der Glaube entscheidend, für die Gemeinschaft die Liebe, wobei beides untrennbar miteinander verbunden ist. Eine Beschränkung auf eine einzige sichtbare Kirche nimmt Cassander nicht vor. Für seine Vorstellung, was ein wirkliches Schisma sei, ist es erhellend, folgendes zu bedenken: Bilden Lehre und Apostolische Tradition das 33 34
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Z.B. De officio pii viri. S. 19. De officio pii viri. S. 14f: Porro haec ideo huic extemae societati, quam Romanam vel Occidentalem Ecclesiam vocamus, attribuo, quod in ea Dei verbum eiusque sacramenta serventur, et ingens (ut spero) electorum multitudo, qui revera Christi Ecclesiam et sponsam constituunt, inter earn contineatur[...]. Zit. nach Henze: Erasmianisch. S. 163. Vgl. zu der ekklesiologischen Frage in der Kontroverstheologie Karlheinz Diez: „Ecclesia - non est civitas platonica". Antworten katholischer Kontroverstheologen des 16. Jahrhunderts auf Martin Luthers Anfrage an die „Sichtbarkeit" der Kirche. Frankfurt 1997. Cassander ist hier nicht behandelt. CA 7: Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta. Et ad Mercan unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum. Nec necesse est ubique similes esse traditiones humanas seu ritus aut ceremonias ab hominibus institutos; sicut inquit Paulus: Una fides, unum baptisma, unus Deus et pater omnium [Eph 5,6]. Cassander geht in der Consultatio auf diese Fragen nicht ein, sondern spricht vom Missbrauch der Kirchengewalt, die wieder auf das rechte Maß zurückzuführen sei, und vom Leben, das zu korrigieren sei. De officio pii viri. S. 19: Totus enim Christus caput est et corpus. A capite non receditur, nisi per falsam et Scripturis sacris dissentaneam de capite Christo doctrinam; a corpore vero quod est Ecclesia, non per quamvis rituum et opinionum diversitatem, sed per solam charitatis defectionem.
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charakteristische Merkmal der Kirche Christi, so finden sie sich sowohl in der römisch-katholischen als auch der evangelischen Kirche: Was nur immer also in jedem der beiden Kirchen, [...] sei es die mit dem alten Namen katholische, sei es die neulich entstandene evangelisch genannte, an Integrem, Gesundem, in Übereinkunft mit der evangelischen Lehre und der Apostolischen Tradition stehend ich finde, das verehre ich und umfange es wie das Proprium der Kirche Christi'38, schreibt er 1561. Bei einer Auseinandersetzung mit dem Löwener Theologen Jan Hessels in dem genannten Brief vom 16. September 1565 heißt es, er glaube, bei den Protestanten gebe es nicht wenige gute Männer, welche die Hauptkapitel des Glaubens bekennen39. Die Consultatio zur CA bestätigt diese Konzeption. In ihr heißt es, dass eine Trennung von der Kirche - gemeint ist wohl die römisch-katholisch - nicht heißen muss, man sei von der wahren Kirche ausgeschieden. Solange man das Band des Friedens mit ihr nicht zerschneidet, sondern mit Geist und Willen nach Einheit trachte, muss eine äußerliche Absonderung oder Exkommunikation nicht wirklich trennend sein40. Damit gewinnt Cassander die Möglichkeit, eine Vielzahl von Denominationen unter diesem Kirchenbegriff zu subsummieren. Folglich zählt er die Namen der Ostkirchen auf, die ebenfalls dazugehören41. Wenn man bedenkt, wie gerne die altgläubigen Kontroverstheologen im Kontext des Kirchenbegriffes negativ bezüglich der Protestanten sprachen, dann steht der hier gewonnene Denkfortschritt klar vor Augen. Allerdings: In der Consultatio über die CA betont Cassander, wie wir sehen werden, trotz aller Kritik stärker den Anspruch der römisch-katholischen Kirche und ihres Amtes, was seine Position relativiert. Aus diesem komplexen Kirchenbegriff lassen sich zwei Folgen ziehen. Erstens erhält er insofern einen dynamischen Aspekt, als - unter der bekannten Begrenzung auf die ersten Jahrhunderte - die Auslegung der Schrift und damit die Eruierung von Lehre und Praxis in der Geschichte geschah und ihre Richtigkeit immer neu zu gewinnen wäre. Zweitens führt die Betonung der Liebe, die sich als Relationsbegriff auf andere bezieht, zu der Haltung, dass Cassander ein ausgesprochenes Interesse an der Liturgie, also einer gemeinschaftskonstituierenden Größe hat, und dass er auf die Moral einen großen Wert legt. Bezeichnenderweise schreibt er 1558 im Vorwort zu seiner Edition über die Riten 38
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De officio pii viri. S. 25: Quicquid igitur in utraque hac Ecclesiae parte, sive ea antiquo nomine Catholica, sive nuper nato Evangelica nuncupetur [...]. Vgl. Opera omnia. S. 1213. Consultatio. In: Opera omnia.S. 930: Et dicent aliqui, se non exiisse, sed iniuste repulsos fiiisse, quod ut concedatur, non tarnen vinculum pacis cum universa Christi Ecclesia erat abrumpendum: sed animo et voluntate unitatis Studium retinendum [...] Horum modestiam et mansuetudinem si qui hodie quoque imitarentur, etiamsi ab Ecclesiae societate seclusi viderentur, et in aliquo errore per ignorantiam versarentur, non putarem tarnen ab interna illa Ecclesiae societate, quam animo et voluntate colerent, alienos esse habendos. Siehe auch De officio pii viri. S. 16. De officio pii viri. S. 25.
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der Messe, die er hier Abendmahl nennt, er sei hauptsächlich an dem Studium interessiert, das die Beobachtung der mores und der kirchlichen Riten betreffe42. Die Funktion der Liturgie in seinem Kirchenbild verdeutlicht sich noch, wenn er davon spricht, dass die Riten einen guten Teil der politia, der Ordnung der äußeren Kirche ausmachten, womit Cassander das sich im 16. Jh. immer stärker in den Vordergrund schiebende ekklesiologische Konzept mit seiner Reduktion auf das Papsttum und die Hierarchie, wie es etwa Bellarmin vertrat, deuüich relativierte43. Natürlich braucht er auf diesem Feld ebenfalls ein Reformkriterium, um festzustellen, welche Riten für alle Kirchen gelten, und wo er den Satz des 7. Artikels der CA differenziert, der sagt: Nec necesse est ubique esse similes traditiones humanas, seu ritus aut ceremonias ab hominibus instituta. Auch hier gelten die qualifizierenden Faktoren, die Schrift, Apostolische Tradition usw. darstellen, so dass es für alle und zu allen Zeiten verpflichtende Riten gibt, aber auch weitere Abstufungen. Von daher ist die Reform zu bestimmen44. Wenn man diesen Kirchenbegriff einschließlich der erarbeiteten Maßstäbe der Alten Kirche auf die Römische anwendet, entsteht nach Georg Cassander ein relativ düsteres Bild. Natürlich ist sie Kirche und in ihr gibt es viele Erwählte, aber sie ist deformiert. Eine Reform, die zur alten Einfachheit zurückführt, kann für ihn die Brücke herstellen, die mit der Evangelischen Kirche Verbindungen schafft, weil dann die Gemeinsamkeit der Lehre aufscheinen würde. Das zumindest scheint die Logik zu sein, in der Cassander denkt und die sein weiter Kirchenbegriff ihm ermöglicht. Im genannten Brief an Hessels drückt er es so aus: Die guten, rechtgläubigen Leute bei den Protestanten könnten bei einer correctio abusuum und wenn man nicht konfessionalistisch hart ihnen entgegentrete, zur Kircheneinheit zurückfinden45.
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Cassander: Litúrgica de ritu et ordine dominicae coenae celebrandae. Köln 1558. a2: [...] non quidem in id studii genus, quod argutias et subtilitates quaestionum tractat, aut latentia mysteria curióse rimatur, in quo ingenii acumen máxime cernitur, sed in illud potissimum, quod in observatione morum et rituum Ecclesiasticorum est positum. De officio pii viri. S. 4: Mox itaque cum in lectionem scriptorum huius aetatis, qui reformationem quondam et repurgationem superstitiosorum cultuum et absurdarum opinionum promittebant, inciderem, mire illorum institution placuit: qui tarnen ita superstitiones et abusiones quae nonnullis Caeremoniis Ecclesiasticis admixtae erat, exosas habe rem, ut ipsam Ecclesiasticam politiam quae his Caeremoniis fere constat, non sublatam et eversam, sed repurgatam et emendatam esse vellem [...]. Vgl. De officio pii viri. S. 9f. Zur Unterschiedlichkeit der Riten vgl. De officio pii viri. S. 16. Opera omnia. S. 1213: [...] summa capita nostrae fidei confitentes [Protestanten] et nulla animi pravitate in erroribus aliquibus persistentes, et gravibus abusibus, quos in Ecclesia toleran vident, offensos, nullo tomen odio ab illa Ecclesia separatos, sed correctionem abusuum et unitatem sententiarum unice desiderantes, quos moderatioribus his rationibus, quibus neque fidei integritas, neque Ecclesiae auctoritas violatur, ad meliorem sententiam et Ecclesiae unitatem revocari posse video, qui durioribus et asperioribus nonnullorum rixis et contentionibus absterrentur.
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Sehr harte Kritik übt Cassander am Papsttum und an der Kirche Roms. Diese seien in Lehre und Sitten von der alten Kirche weit abgewichen46. Sie sei durch Laster deformiert und durch die Tyrannis der Leiter erbärmlich unterdrückt47. Das bekannte Bild vom Fluss, der nicht mehr die Reinheit der Quelle besitzt, und eines Hauses, das zwar ein festes Fundament hat, sonst aber aus Holz und Spreu weitergebaut wurde, bringt den Gegensatz zwischen den Grundlagen von Schrift und Apostolischer Tradition und der Gegenwart zum Ausdruck. Er beobachtet [durchaus in der Linie heutiger Forschimg], dass - mit dem Kampf gegen den spätmittelalterlichen Konziliarismus - die Papstgewalt immer höher geschraubt wurde, was Cassander für illegitim hält48. Zudem sind Papst- und Bischofsamt Produkte eines historischen Prozesses in der Alten Kirche, also nicht von Christus eingesetzt49. Sie bedürfen der Reform und Reduktion auf ihre geistlichen Aufgaben. Diese hält Cassander allerdings für unverzichtbar, und für eine Trennung von der Kirche auf Grund solcher Ämter hat er keinerlei Verständnis. Richtiger scheint es für ihn zu sein, wenn man formuliert: Man schuldet der kirchlichen Obrigkeit auf jeden Fall Gehorsam, aber zugleich gilt: Hierarchia est Semper reformanda. Ein zweites Gebiet, das Reform nötig hat und für Cassander wesentlich ist als Bedingung einer Kircheneinheit, bilden die Riten und Zeremonien. Sein Vorwurf, Aberglaube habe sich im hohen Maße eingeschlichen, taucht in diesem Zusammenhang auf. Wieweit er damit den protestantisch Kampfbegriff der katholischen 'Abgötterei' auffangen und produktiv in seine Reformtheologie locieren will, wäre zu überlegen. Damit wird noch klarer, weshalb Cassander der Liturgie einen solch hohen Stellenwert zuschreibt. Wie er auf dem Feld der Riten arbeitet, belegt folgendes Beispiel: Mit Hilfe von ihm edierter alter Liturgischer Ordnungen zeigt er nicht nur die Riten einer nach seiner Meinung in den ersten Jahrhunderten und teilweise noch weitergehend einigen Kirche, die Maßstäbe setzte, sondern auch Alternativen, wie sie etwa bezüglich der Kommunionspendung im Hochmittelalter bestanden. Im Kontext der Liturgie ist ein letzter Punkt interessant, weil er einen wichtigen Aspekt von Cassanders Ekklesiologie zeigt, über rein liturgische Vollzüge hinaus nochmals das Kirchenbild ins Spiel bringt und widerlegt, dass es ihm nur um einen Sakramentalismus gehe. In einem Brief an den gewählten, aber
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Consultatiti. S. 788: Longe aliud est a puritate et sinceritate tum doctrinae tum morwn qua vetus et primitiva Ecclesia floruit, degenerasse et ab ipsa veteri Ecclesia defecisse. De officio pii viri. S. 14: [...] eandem illam Ecclesiam a prisco suo ilio decore et splendore non parum diversam, multisque morbis et vitiis deformatam, nonnunquam et gubernatorum tyrannide miserabiliter pressam. Vgl. Paula Bröder: Georg Cassanders Vermittlungsversuche zwischen Protestanten und Katholiken, Diss. Marburg 1931. S. 76. Siehe auch De officio pii viri. S. 27: Pseudokatholiken und Papisten erheben den Papst über die Schrift und über die ganze Kirche. Vgl. Bröder: Georg Cassanders Vermittlungsversuche. S. 73.
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nie amtierenden Bischof von Münster, Wilhelm Ketteler50, eventuell 1561 geschrieben, berichtet er vom Ordo Romanus und der Papstliturgie51. Dort komme noch der - wir können weiterdenken jetzt verlorengegangene - Zusammenhang zum Ausdruck, dass Volk, Ministranten und Zelebrant zusammengehörten. Das Volk bringe die Gaben zum Altar, es werde vom Zelebranten angesprochen, und es empfange die Kommunion unter beiden Gestalten. Nehmen wir hinzu, dass Cassander die Wandlungsworte laut gesprochen wissen wollte, dann kann man schließen: Liturgie ist für ihn nicht Mystifizierung des vollziehenden Klerus, sondern ein Ereignis der Gesamtgemeinschaft der Teilnehmenden, die in ihr zusammengeschlossen werden. Der Laienkelch erhält, denkt man weiter, egalisierende Funktion, verringert den Abstand zwischen Klerus und Volk und ist problemlos zu gestatten. Zwei Dinge kann Cassander auf diese Weise erreichen: sein Kirchenbild einbringen und einen Schritt in Richtung Einheit gehen.
4. Versuch einer Weitung und Einordnung Bedingt durch den Druck der Konfessionsspaltung, hat Cassander eine neue Theologie zu entwickeln versucht. Aus dem Kirchenbild und der Gewichtung der Alten Kirche, die eine Art ständigen Reformzwang erzeugt, weil sie als kritisches Element die Gegenwart relativiert, auf Besseres drängt und deren Qualität niemals voll erreicht werden kann, da die Alte Kirche nicht einfach zu wiederholen ist, entsteht eine Reformidee, die strukturell mit dem Kirchenbild verbunden zu sein scheint. Reform bedeutet aber: Änderung und damit die Möglichkeit, dass die unterschiedlichen Kirchen aufeinander zugehen können. Wenn dagegen eine der Konfessionskirchen die jeweilige eigene Form absolut setzt, kann es eine Einigung, die als Concordia gedacht ist, niemals geben. Die Weite des Kirchenbegriffs erlaubt es zudem, Einheit nicht als Zentralisierung zu verstehen. Die Einheit besteht in den Zentraldogmen und in von Christus, den Aposteln und der Gesamtkirche durch die Zeit getragenen Zeremonien, während alles andere als
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Vgl. Christian Schulte: Versuchte konfessionelle Neutralität im Reformationszeitalter. Die Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg unter Johann in. und Wilhelm V. und das Fürstbistum Münster unter Wilhelm von Ketteler. Münster 1995. Opera omnia. S. 1121f. Es wäre möglich, dass dies im Zusammenhang mit Cassanders Edition Preces ecclesiasticae, quae collectae vulgo dicuntur. Köln 1560, stand. Dort heißt es in der Widmungsepistel an den Sohn des klevischen Kanzlers, Adolph Baers, er habe die Collectae publiziert, die laut vor dem Volk gebetet würden. In: Opera omnia. S. 302: [...] has enim sacerdoti et publico ministro Ecclesiae cum ipsa sancta plebe, ex qua Ecclesia tamquarn civitas quaedam efficitur, communes esse constat. Zum Ordo Romanus vgl. Martin Klöckener: Ordo, Ordines Romanus. In: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl. Bd. 7. 1998, Sp. 1114-1116.
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Vielfalt möglich ist. Die Vorgehensweise der Moderatio ist eine Methode, auf diese Einheit zuzugehen. Versucht man, Cassander in die Theologie seiner Zeit einzuordnen, ergeben sich folgende Gedanken: 1. Eine katholische Reformtheologie im Sinne des Tridentinums bietet Cassander nicht. Aus seiner Sicht war katholisch auch nicht tridentinischer Katholizismus, sondern die Katholizität lief quer durch alle Kirchen. Nimmt man zugleich seine nicht widerspruchsfreie Betonung der römisch-katholischen Kirche hinzu, dann hätte er sich selbst mit einiger Sicherheit als katholischen Reformtheologen verstanden und dies als Voraussetzung für die Einheitsarbeit angesehen. 2. Es wäre zu prüfen, wieweit Cassander eine landesherrliche Kirchenreform theologisch begründen konnte. Immerhin arbeitete er 1564 an entsprechenden Reformordnungen in Jülich-Kleve-Berg mit, die eindeutig den Bischof und Rom ausgeschlossen hätten. Schon in Köln konnte er eventuell die Ordnung des Erzbischofs Hermann von Wied kennen, die Bucer und Melanchthon 1543 erstellten. Manche Reformideen Cassanders wären durchaus damit zu vereinbaren. 3. Ordnen wir Cassander in die zeitgenössische Theologiegeschichte ein, so gehört er bekanntlich in eine Gruppe, die man mit den verschiedensten Termini versehen hat: Kompromisskatholizismus, Mittelpartei, Erasmianer, Ireniker. Auf jeden Fall fehlt ihnen die Qualifikation, sie hätten eine konfessionalisierte Theologie erarbeitet. Es wäre wichtig, ihr Profil konfessionsübergreifend zu erarbeiten, was Kantzenbach 1957 in einem ersten Anlauf versuchte. Auf altgläubiger Seite sind Erasmus, Witzel, Julius Pflug, Michael Heiding zu nennen. Bezüglich der evangelischen Persönlichkeiten bringt Cassander gerne Bucer und Melanchthon ins Spiel52. Man könnte etwa Petrus Martyr Vermigli hinzufügen, um nur einen zusätzlichen Namen zu bringen. Die Perspektive sollte Religionsgespräche mit einschließen53 und sich der Methoden, Prinzipien und Denkformen annehmen, die wir heute noch zu wenig kennen. 4. Erstaunlich war die Wirkung Cassanders. Wenn die hier vorgebrachte These stimmt, könnte sie sich aus dieser offenen Konzeption erklären, die er vorlegte. Die Forschung der letzten Jahre ist vor allem dieser Wirkungsgeschichte 52 53
Vgl. die Defensio insontis libelli de officio pii viri. S. 33.50f.55.61. Vgl. etwa Marion Hollerbach: Das Religionsgespräch als Mittel der konfessionellen und politischen Auseinandersetzung im Deutschland des 16. Jh. Frankfurt, Bern 1982; Thomas Fuchs: Konfession und Gespräch. Typologie und Funktion der Religionsgespräche in der Reformationszeit. Köln, Wiemar, Wien 1995.
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nachgegangen und kann zeigen, wie die Niederlande und England von Cassander beeinflusst waren. Auch Frankreich mit Namen wie Hotman und den genannten François Bauduin wären zu beachten. Es scheint, dass hier weitergearbeitet werden kann. Das sollte nicht in isolierter Betrachtung einzelner Punkte geschehen, sondern komparatistisch, damit unsere Kenntnisse über die Entwicklung der christlichen Kirchen, über ihr Selbstverständnis und über ihre Probleme geweitet werden.
Staat und Kirche im Kirchenstaat: Plädoyer für einen mikropolitischen Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung Birgit Ertlich
Zwei Flugzeuge begegnen sich - in beiden sitzt Genscher. An diesen Witz über die Allgegenwart des einstigen Außenministers könnte sich erinnert fühlen, wer das Theorieangebot zur Geschichte der Frühen Neuzeit durchmustert und dabei immer wieder auf den Namen Wolfgang Reinhards stößt. Das Konfessionalisierungskonzept hat er zeitgleich mit Heinz Schilling entwickelt und in zahlreichen Beiträgen aus dem katholischen Bereich zugespitzt, wo von Verflechtung oder Mikropolitik die Rede ist, folgt unweigerlich der Hinweis auf Reinhard und seine 'Freunde und Kreaturen', der päpstliche Nepotismus konnte erst durch den mikropolitischen Zugriff Reinhardscher Prägung als Variante der frühneuzeitlichen politischen Kultur Europas identifiziert werden.1 Diese Aufzählung ließe sich mühelos erweitern. Doch da ein solcher Panegyrikus dem römischen Sujet, nicht aber Wolfgang Reinhard entspräche, sei an dieser Stelle abgebrochen und die kritische Wendung eingeleitet. Was passiert, so ist mit einer gewissen Experimentierfreude zu fragen, wenn die verschiedenen Konzepte zusammengeführt und vermischt werden? Eine Explosion steht zwar kaum zu erwarten. Schließlich ist Reinhard selbst von der tridentinischen Reform im Süden Frankreichs ausgegangen und von dort einerseits zu Nepotismus und Verflechtung, andererseits zur Konfessionalisierung gelangt.2 Eine Verfärbung 1
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Angesichts des Charakters des vorliegenden Bandes und der noch folgenden Nachweise erübrigt sich eine Auflistung sämtlicher Titel, auf die hier angespielt wird. Folgende Abkürzungen werden verwendet: ASF: Archivio di Stato Ferrara ASV: Archivio Segreto Vaticano BAV: Biblioteca Apostolica Vaticana CA: ASF, Fondo Comune: Archivio Storico Comunale, Serie H: Ambasciatori, Agenti e Procuratori di Ferrara a Roma - Corrispondenza con la Comunità CC: ASF, Fondo Comune: Archivio Storico Comunale, Serie I: Cardinali - Corrispondenza con la Comunità E: BAV, Fondo Boncompagni-Ludovisi, E: Codices, quos epistolares appello FB: ASV, Fondo Borghese HC IV: Hierarchia Catholica medii et recentioris aevi. Hg. von Konrad Eubel u.a. Bd. IV. Münster 1935 See. Brev.: ASV, Segreteria dei Brevi. Vgl. die entsprechenden Ausführungen und den Hinweis auf seine Dissertation über die Reform in der Diözese Carpentras bei Wolfgang Reinhard: Amici e creature. Politische
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könnte dieser organischen Entwicklung zum Trotz aber dennoch eintreten. Immerhin haben sich Reinhards Forschungswege in Carpentras getrennt: Weder kreuzten sich Mikropolitik und Konfessionalisierung, noch führte die Verflechtung zur katholischen Reform zurück. Daher blieb offen, ob die Kombination der Ansätze deren Klarheit eintrübt oder die Sicht auf eines der Themenfelder aufhellt. Genau dies soll hier überprüft werden, und zwar mit folgendem Versuchsaufbau: Zunächst gilt es, das Konfessionalisierungskonzept mit der mikropolitischen Perspektive zu kombinieren. Anschließend wird das methodische Resultat dieser Kreuzung auf die katholische Reform anzuwenden sein: kurz auf die Reform im allgemeinen, ausführlicher auf ihren Verlauf in Reinhards bevorzugtem wissenschaftlichen Jagdrevier, dem Kirchenstaat unter Paul V. Was am Ende herauskommen soll, kündigt bereits der Titel an: ein Plädoyer für einen mikropolitischen Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung. Was mit dieser Formel gemeint ist, dürfte ein Blick auf ihre Bausteine erhellen. Mikropolitik bezeichnet nach Reinhard den „Einsatz eines Netzes informeller persönlicher Beziehungen zu politischen Zwecken"3, wobei sich die politischen Zwecke häufig in der Besetzung einer Stelle erschöpften. Ohne informelle, d.h. verwandtschaftliche, freundschaftliche, landsmannschaftliche und vor allem klienteläre Beziehungen war in der Frühen Neuzeit kaum ein Posten zu erlangen, weder in der Kirche noch im Staat, nicht in den unteren Regionen der Hierarchie und noch weniger in den oberen Rängen. Dieses Spezifikum frühneuzeitlicher politischer Kultur hatte zwei Wurzeln: Zum einen gründete loyales Verhalten im Amt in persönlicher Dienertreue, nicht in abstrakter Diensttreue. Zum anderen galt die Versorgung von Verwandten und Klienten mit Posten und Geldquellen als soziale Pflicht. Von unten, aus der Sicht aufstiegswilliger Kandidaten betrachtet, ergeben sich aus diesem Sachverhalt die typischen Karrierewege entlang der Linien sozialer Vernetzung. Man kann das Ganze aber auch von oben mustern, und damit kommt der Etatismus ins Spiel. Dieses Wort hat sich in der Debatte um die Paradigmen Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung zum veritablen Kampfbegriff gemausert: Beide Konzepte seien etatistisch, so der Chor der Kritiker, auf den Staat fixiert und blind für Widerstände wie Eigeninitiativen des Volkes.4 Ob die mikropolitische Variante des Etatismus, die hier als
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Mikrogeschichte der römischen Kurie im 17. Jahrhundert. In: QFIAB. 76. 1996. S. 308-334, hier S. 308f. Zum Folgenden vgl. W. Reinhard: Amici (Anm.2), die zitierte Definition auf S. 312. Zu dieser Kritik vgl. z.B. den Aufsatz, auf dessen Titel sich die Überschrift des vorliegenden Beitrags bezieht: Heinrich Richard Schmidt: Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung. In: HZ. 265. 1997. S. 639-682. Eine Zusammenfassung dieser und anderer Einwände mit Hinweisen auf die entsprechende Literatur findet sich u.a. bei Andreas Holzem: Religion und Lebensform. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570-1800. Paderborn 2000. S. 3-6; Rudolf Schlögl: Differenzierung und Integration. Konfessionalisierung im
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Forschungskonzept präsentiert werden soll, tatsächlich blind ist für die Wahrnehmung der Untertanen, wird sich zeigen. Zunächst aber sei festgehalten, was Mikropolitik in etatistischer Sicht bedeutet: Auch der Staat, und das heißt in der Frühen Neuzeit die Dynastie an seiner Spitze, mußte bei der Vergabe von Posten die klienteläre Vernetzung der Bewerber beachten, mithin Mikropolitik betreiben: um verläßliches Personal zu gewinnen, um treue Diener zu belohnen und um die eigene Familie und Klientel zu versorgen. Dies aber lenkt den Blick auf Papsttum und Kirchenstaat, sind die mikropolitischen Mechanismen in Wahlmonarchien wie der päpstlichen doch am besten zu erkennen. Denn zum einen sorgte der stete Wechsel an der Spitze für den regelmäßigen Austausch des Personals, was die Pflege klientelärer Beziehungen nicht nur wichtiger, sondern auch augenfälliger machte. Und zum anderen mußte eine Familie, der nur wenig Zeit auf dem Gipfel der Macht blieb, ihre Chance zum sozioökonomischen Statusgewinn energisch nutzen, die übliche Versorgung zur planmäßigen Bereicherung ausbauen und auch die Personalpolitik für die Familie in den Dienst nehmen. Daß der päpstliche Nepotismus, d.h. die Vergabe von Ämtern und Geldquellen an die Verwandten des Pontifex, zum Inbegriff von Vetternwirtschaft und Bereicherung wurde, verwundert daher nicht. Daß er in funktionaler Hinsicht lediglich eine extreme Spielart der allgemein üblichen Herrschafts- und Versorgungstechniken darstellte, sollte jedoch deutlich geworden sein. Der Erläuterung bedarf hingegen, was Mikropolitik und Nepotismus mit der Konfessionalisierung zu tun haben. Des Rätsels Lösung liegt in der Doppelrolle, die der Frage der Stellenbesetzung im Konfessionalisierungskonzept zukommt. Dessen Schöpfer verstehen unter Konfessionalisierung bekanntlich einen mit der Reformation in Gang und im 18. Jahrhundert zum Abschluß gebrachten Prozeß, der in den neu entstandenen Konfessionen weitgehend parallel verlief, von Staat und Kirche gemeinsam betrieben wurde und die Untertanen mittels Bildung, Propaganda, Kontrolle und Repression sowohl konfessionell uniformierte als auch politisch und moralisch disziplinierte. Das Ziel war die Herstellung geschlossener territorial- konfessioneller Großgruppen, das Ergebnis ein Wachstumsschub für die Staatsgewalt, die für den Schutz 'ihrer' Kirche vor der neuen konfessionellen Konkurrenz einen hohen Preis verlangte: die Aufgabe traditioneller geistlicher Privilegien, die Übertragung kirchlicher Güter und Kompetenzen sowie - darauf kommt es hier an - den endgültigen Zugriff auf die Besetzung der hohen kirchlichen Ämter.5 Fortan, so lautet die mikropolitische Konsequenz des Befundes, wurden die geistlichen Stellen nicht anders als die weltlichen im Interesse des Staates und seiner Dynastie vergeben. Genau diese Indienstnahme der kirchlichen Personalpolitik durch den Staat und die regierende Familie ist
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friihneuzeitlichen Gesellschaftssystem. Das Beispiel der habsburgischen Vorlande. In: ARG. 91. 2000. S. 238-284, hier S. 241-243. Vgl. z.B. Wolfgang Reinhard: Was ist katholische Konfessionalisierung? In: Ders., Heinz Schilling (Hg.): Die katholische Konfessionalisierung, Gütersloh 1995. S. 419-452.
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gemeint, wenn im folgenden von „mikropolitischem Etatismus" gesprochen wird. Und genau dieser Sachverhalt will nicht recht zur zweiten Rolle passen, die das Konfessionalisierungskonzept der Besetzung kirchlicher Posten zuweist. So taucht die Personalfrage nicht nur auf der Beuteliste des Staates auf, sondern auch unter den unverzichtbaren Voraussetzungen erfolgreicher Konfessionalisierung.6 Was die Kirche für die Lösung ihrer Reformaufgaben benötigte, war nicht nur im katholischen Bereich klar erkannt, dort aber in den Trienter Beschlüssen bis ins Detail formuliert worden: Sollte die religiöse Erneuerung gelingen, bedurfte es theologisch gebildeter, spirituell motivierter und moralisch integrer Geistlicher, die den Gläubigen die neuen Normen in Leben und Lehre verdeutlichten. Damit sie dies gewährleisten konnten, hatte das Trienter Konzil die Autorität der Bischöfe gestärkt, damit sie ihrer Aufsichts- und Vorbildfunktion auch tatsächlich gerecht wurden, waren die moralisch-theologischen Anforderungen an die Hirten deutlich erhöht worden. Schaden mußten der Reform hingegen Bischöfe, die ihre Posten allein mikropolitischen Überlegungen der Dynastie verdankten und ihren geistlichen Pflichten ebensowenig zugeneigt und gewachsen waren wie die Pfründensammler alten Stils. Da nun aber der Staat für die Besetzung der kirchlichen Führungsposten zuständig war, drohten dessen mikropolitische Interessen bei der Rekrutierung des Personals mit den Idealen der Kirche zu kollidieren. Die Frage, die der mikropolitische Etatismus an die Konfessionalisierung stellt, lautet daher: Wie wirkte sich die Besetzung kirchlicher Ämter durch die Dynastie auf die Reform aus? „Fürstliche Kirchenherrschaft braucht nicht im kirchlichen Sinne dysfunktional zu sein"7, heißt es bei Reinhard, und tatsächlich finden sich auch für den katholischen Bereich unschwer Belege für diese Einschätzung. In Frankreich etwa führten nicht wenige Bischöfe vor, daß auch vom König nominierte Klienten aus dem Umfeld der Krone energische Reformer sein konnten.8 Und wie das Schicksal der Reichskirche zeigt, waren Mikropolitik samt Nepotismus nicht nur mit der Reform zu vereinbaren, sondern zuweilen auch deren Voraussetzung, ja gar der einzige Weg zur konfessionellen Bestandssicherung. Hätten die großen Dynastien des Reichs wie die Wittelsbacher und Habsburger in den geistlichen Territorien nicht ihre Sekundogenituren errichtet und dabei gleich noch einige kleinere Nachbardiözesen in Personalunion übernommen, wären diese Gebiete gewiß lange vor 1803 einem der zahlreichen Säkularisationspläne zum Opfer
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Vgl. z.B. W. Reinhard: Was ist katholische Konfessionalisierung? (wie Anm.5) S. 181. Wolfgang Reinhard: Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters. In: ZHF. 10.1983. S. 257-277, hier S. 273. Vgl. die Beispiele bei Ronnie Po-chia Hsia: Gegenreformation. Die Welt der katholischen Erneuerung 1540-1770. Frankfurt a.M. 1998. S. 153f.
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gefallen.9 Kirchenrechtlich handelte es sich hierbei um Bistumskumulation, Vernachlässigung der Residenzpflicht und andere Verstöße gegen die Trienter Beschlüsse, machtpolitisch konnte die Kirche über den eigennützigen Nepotismus der Dynastien froh sein. Aber auch im Blick auf die katholische Reform mußte man angesichts dieser Vergabetechniken nicht alle Hoffnung fahren lassen. So wurde Franz Lothar von Schönborn, dessen umfassende Patronage- oder Mikropolitik dank Alfred Schröcker hinlänglich bekannt ist, von Hubert Jedin zwar nicht gerade zum tridentinischen Idealbischof erklärt, aber doch als Priester ausdrücklich gelobt.10 Und selbst die Domkapitel, die als Wahlgremien und Versorgungsstätten des Adels unentwirrbar in das Verteilungssystem der Reichskirche verstrickt waren, haben in Sachen Reformierbarkeit und Reform unlängst gute Noten erhalten.11 Suchte man nach einem Beispiel, das die Ambivalenz im Verhältnis von Mikropolitik und Reform noch besser illustriert als die Reichskirche, man landete an der römischen Kurie. Denn gerade dort, wo die Kirche ihre eigenen Ideale ungestörter als in den weltlichen Staaten hätte verwirklichen können, lagen Verbot und Nutzen des Nepotismus als mikropolitischem Extremfall näher beieinander als irgendwo sonst.12 Die Reformpäpste des späteren 16. Jahrhunderts etwa, die mit der Konzilskongregation, neuen Nuntiaturen, dem Informativprozeß und anderen institutionellen Innovationen maßgeblich zur organisatorischen Festigung der Reform beitrugen, ließen sich von dem in Trient beschlossenen Verbot des Nepotismus ebensowenig von der Bereicherung ihrer Familie abbringen wie die Pontifices nach ihnen. Und auch ihr unmittelbarer Vorgänger Sixtus IV. hatte 1563 die Trienter Dekrete bestätigt, gleichwohl aber einen Neffen mit dem roten Hut und zahlreichen Geldquellen versehen. Dieser Neffe jedoch war kein Geringerer als Carlo Borromeo. Wenn ihn sein Onkel nicht in die kuriale Schlüsselposition des Kardinalnepoten befördert hätte, wäre es Borromeo wohl nie gelungen, den Geist der Reform an der Kurie zu verbreiten. Und wenn unter den Benefizien, die seiner Versorgung dienten, nicht auch das Erzbistum Mailand gewesen wäre, hätte dem späteren Heiligen nach dem Tod seines Onkels schlichtweg das Betätigungsfeld gefehlt. Mochte das Konzil von Trient den 9
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Vgl. Heribert Raab: Der Untergang der Reichskirche in der großen Säkularisation. In: Handbuch der Kirchengeschichte. Hg. von Hubert Jedin. Bd. 5: Die Kirche im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung. Freiburg u.a. 1970. S. 533-554, hier 537f. Vgl. Alfred Schröcker: Die Patronage des Lothar Franz von Schönborn (1655-1729). Sozialgeschichtliche Studie zum Beziehungsnetz in der Germania Sacra. Wiesbaden 1981; Hubert Jedin: Die Reichskirche der Schönbornzeit. In: Trierer Theologische Zeitschrift. 65. 1956. S. 202-216, hierS. 215. Zur sozialen Rekrutierung und Vernetzung vgl. die monumentale Studie von Peter Hersche: Die deutschen Domkapitel im 17. und 18. Jahrhundert. 3 Bde. Bern, Zürich 1984. Zum Reformaspekt vgl. A. Holzem (Anm. 4) S. 70. Zum Folgenden vgl. Wolfgang Reinhard: Reformpapsttum zwischen Renaissance und Barock (1980). In: Ders.: Ausgewählte Abhandlungen. Berlin 1997. S. 37-52.
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Nepotismus verbieten - als Versorgungstechnik gehörte er zu den unantastbaren Grundlagen des römischen Systems, und als Herrschaftstechnik war er auch und gerade in kirchenpolitischen Fragen unverzichtbar. Diese Hinweise verdeutlichen zur Genüge, daß die katholische Reformbewegung zwar Dekrete gegen den Nepotismus erlassen, ohne ihn aber nicht zum Ziel kommen konnte. Allerdings bleibt zu fragen, ob der Einsatz traditioneller Herrschafts- und Versorgungstechniken die Kirche nicht doch stärker belastete, als es aus der Vogelperspektive des Konfessionalisierungskonzeptes scheinen mag. Zu klären ist dies nur, wenn die mikropolitische Ausrichtung der Überlegungen in eine mikrohistorische Perspektive mündet. Das bedeutet zweierlei: Zum einen muß der Fokus schärfer gestellt und an einem entsprechend verkleinerten Untersuchungsgebiet ermittelt werden, wie sich die Indienstnahme der kirchlichen Personalpolitik durch Staat und Dynastie konkret auswirkte. Und zum anderen sollte es gelingen, die Verheißungen des Etiketts 'mikro' einzulösen und die Wahrnehmung der Untertanen miteinzubeziehen. Dann erst kann entschieden werden, ob der mikropolitische Etatismus nicht dysfunktional im Sinne der Kirche zu sein brauchte, wie Reinhard vermutet, oder doch, so die hier vertretene These, aus strukturellen Gründen dysfunktional sein mußte. Als Objekt für eine solche mikrohistorische Studie bietet sich der Kirchenstaat an. Schließlich hatte der Papst nur noch in seinem eigenen Territorium gänzlich freie Hand bei der Besetzung der hohen kirchlichen Positionen, und so läßt sich am Kirchenstaat überprüfen, ob das spirituelle Oberhaupt seinen steten Mahnungen an die katholischen Fürsten zu einer Personalpolitik im Sinne Trients selbst nachkam.13 Gewiß, vor übertrieben hohen Erwartungen warnen bereits die Klagen reformgesinnter Geistlicher über die Dominanz staatlicher und dynastischer Interessen: Eifrige Hirten wie der Bologneser Erzbischof Gabriele Paleotti mußten erfahren, daß Jurisdiktionskonflikte mit der weltlichen Gewalt im Land der Kirche nicht nur vorkamen, sondern hier wie allerorten zugunsten des Staates entschieden wurden.14 Und Kardinal Bellarmin provozierte mit seiner 13
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Daß es zu den Aufgaben fast aller Nuntien gehörte, die katholischen Fürsten zur Nominierung geeigneter Kandidaten zu drängen, läßt sich am Beispiel der Hauptinstruktionen Clemens' Vm. an seine diplomatischen Vertreter erkennen, vgl. Wolfgang Reinhard: Kirchendisziplin, Sozialdisziplinierung und Verfestigung der konfessionellen Fronten: Das katholische Reformprogramm und seine Auswirkungen. In: Georg Lutz (Hg.): Das Papsttum, die Christenheit und die Staaten Europas 1592-1605. Tübingen 1994. S. 1-13. Die Benefizien, die der Papst im Gebiet Neapels besetzen konnte, werden im folgenden der Kürze halber, aber nicht ganz korrekt wie Benefizien im Kirchenstaat behandelt; vgl. aber auch Anm.21. Vgl. Paolo Prodi: D Cardinale Gabriele Paleotti (1522-1597). 2 Bde. Rom 1959/1967; sowie den kurzen Abriß des Problems in Ders.: D sovrano pontefice. Un corpo e due anime: La monarchia papale nella prima età moderna. Bologna 1982. S. 249-293. Zum gleichen Ergebnis gelangt Christopher Black: Perugia and Post-Tridentine Church Reform. In: Journal of Ecclesiastical History. 35.1984. S. 429-451.
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wiederholt vorgebrachten Kritik an der nepotistischen Personalpolitik der Päpste zwar den Ärger Clemens' VIII. und Pauls V., aber keine Wende zum Besseren.15 Dennoch fühlten sich auch diese Pontífices in Fragen der Stellenbesetzung dem Trienter Reformprogramm verpflichtet: Wer in ihren Pontifikaten ein Bistum erlangen wollte, mußte nicht nur den üblich gewordenen Informativprozeß überstehen, sondern auch ein theologisches Examen vor einer eigens zu diesem Zweck gegründeten Kongregation ablegen, wer zum Bischof ernannt worden war, hatte die von beiden Päpsten eingeschärfte Residenzpflicht zu beherzigen und seine Diözese aufzusuchen.16 Wenigstens in der Theorie, muß man hinzufügen, und so bleibt zu klären, welche Wirkung diese Maßnahmen zeigten. Ob die kirchlichen Ziele gegenüber den Interessen von Staat und Dynastie Gehör fanden, soll in einem Gebiet untersucht werden, in dem gerade Clemens VIII. (15921605) und Paul V. (1605-1621) Maßstäbe hätten setzen können: in der Legation Ferrara im Norden des Kirchenstaates. Erst 1598 unter die direkte Herrschaft Roms gelangt, gestattet das mangels legitimem Erben an den Apostolischen Stuhl heimgefallene Herzogtum der Este einen Blick auf die Wandlungen, die der Übergang von einer rein weltlichen zur päpstlichen Landesherrschaft auch und gerade im kirchlichen Bereich nach sich zog. Die Meßlatte lag hoch: Dank des entschlossenen Wirkens der beiden Reformbischöfe Leoni und Fontana waren die Trienter Dekrete im Ferrara der Este und den Nachbardiözesen nicht nur umgehend promulgiert, sondern auch in weiten Teilen umgesetzt worden. Visitationen und Synoden fanden regelmäßig statt, ein Seminar unter der Leitung der Jesuiten hatte 1584 seine Pforten geöffnet, und das gespannte Verhältnis zwischen Bischof und adligem Domkapitel ließ auf energische Disziplinierungsversuche des Hirten schließen.17 Daß der amtierende Bischof Giovanni Fontana und mit ihm die Interessen des Klerus gegenüber den Laien 15
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Bellarmins Denkschrift von 1600 ist ediert und kommentiert bei Klaus Jaitner: De officio primario summi pontificis. Eine Denkschrift Kardinal Bellarmins für Papst Clemens VIE. (September - Oktober 1600). In: Römische Kurie. Kirchliche Finanzen. Vatikanisches Archiv. Studien zu Ehren von Hermann Hoberg. Hg. von Erwin Gatz. Bd. 1. Rom 1979. S. 377-403. Zur Kritik des mutigen Kardinals an Paul V. und dessen schroffen Hinweis, der Papst sei nicht an die von Bellarmin ins Feld gefühlten Trienter Beschlüsse gebunden, vgl. Antonio Menniti Ippolito: Il tramonto della Curia nepotista. Papi, nipoti e burocrazia curiale tra XVI e XVH secolo. Rom 1999. S. 72-75. Zur 1592 errichteten Congregazione per Vessarne dei Vescovi vgl. Ludwig von Pastor: Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. Bd. 11. Freiburg 1926. S. 451. Zur Einschärfung der Residenzpflicht vgl. ders. S. 449-451 sowie ders., Bd. 12. Freiburg 1927. S. 156f. Zur Durchführung der Trienter Beschlüsse in Ferrara vgl. das Standardwerk mit zahlreichen Literaturhinweisen: Enrico Peverada: La visita apostolica di Möns. G.B. Maremonti e l'applicazione dei Decreti Tridentini in Diocesi di Ferrara (1574-1611). Rom 1967, sowie: La chiesa di Ferrara nella storia della città e del suo territorio. Seculi XV-XX. Hg. von Luciano Chiappini u.a.. Ferrara 1997. Dieser Band bietet zwar die erste Gesamtdarstellung zur Geschichte der Diozäse Ferrara in der Neuzeit, blendet aber mit der Rolle Roms und des Kirchenstaats die mikropolitische Dimension konsequent aus.
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unter der Herrschaft der Päpste Auftrieb erhalten würden, war denn auch die Befürchtung der meisten Ferraresen nichtgeistlichen Standes. Diese Angst aber nahm Clemens VIII. den Bewohnern der Provinz, deren Loyalität er gewinnen mußte. Es werde keine klerikale Wende in der Politik geben, lautete die Botschaft, die der Papst den Ferraresen auf zwei Wegen übermittelte. Zum einen entschied er sich mehrmals gegen die ökonomischen Interessen der Kirche und das kanonische Recht, um den Laien ihre traditionellen Ansprüche auf bischöfliche Lehen und den Besitz verwandter Ordensgeisdicher zu sichern.18 Und zum anderen versprach er den Interessenten an einer Karriere im Dienst der Kirche, daß auch die neuen Untertanen fortan ihren Teil vom Kuchen abbekommen würden." Wenn aber der Papst bei seinem Werbefeldzug um die Gunst der Ferraresen auch kirchliche Prärogativen und Ämter feilbot, war das, was sich 1598 und danach in Ferrara abspielte, keine Klerikalisierung der Politik: Es war eine Politisierung kirchlicher Fragen. Tatsächlich ist die Dominanz politischer Überlegungen in der Personalpolitik des Papstes offenkundig. Sollte bereits die hohe Zahl kirchlicher Beförderungen die Liebe Clemens' VIII. zur neuen Provinz und seine Hoffnung auf ihre Treue signalisieren, schlugen bei der Auswahl der Begünstigten die Interessen von Staat und Dynastie voll durch. So wurden mit den je drei Kardinalshüten und Bischofstiteln, die der Pontifex den Ferraresen ab 1598 zukommen ließ, nicht nur die Este über ihren Verlust hinweggetröstet, sondern auch und vor allem führende Ferrareser Familien für die Klientel des Aldobrandini-Papstes gewonnen. Allerdings zeigte sich der Pontifex nicht nur bereit, für die Loyalität der Untertanen an der sensiblen Grenze zu Venedig zu zahlen, sondern auch gewillt, die Kirche mit diesen politisch notwendigen Geschenken nicht über Gebühr zu belasten: Von den drei neuen Kardinälen erhielt lediglich einer ein Bistum mit Seelsorgepflicht im Kirchenstaat, und bei den Bischöfen aus Ferrara leistete sich Clemens VIII. die Beförderung eines theologisch qualifizierten Ordensgeistlichen ohne familienpolitischen Hintergrund.20 Auch unter dem nächsten Papst präsentierte sich die römische Personalpolitik als staatlich-dynastisches Instrument mit kirchlicher Färbung. So hielt sich Paul V. Borghese bei der Gesamtzahl der Ferrareser Würdenträger an die Vorgaben Clemens VIII. und bei der Auswahl der Kandidaten an seine eigene Klientel. Aber auch er ernannte 18
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Vgl. Antonio Frizzi, Memorie per la storia di Ferrara. Bd. 5. Ferrara 1848. S. 41f. Dies berichtet Guido Bentivoglio, Memorie e lettere. Hg. von C. Punigadia. Bari 1934. S. 15. Von Clemens VUL zum Kardinal promoviert wurden Alessandro d'Est», Carlo Emmanuele Pio und Bonifazio Bevilacqua, der 1601 das Bistum Cervia bei Ferrara erhielt (HC IV, S. 5, 6, 8). Der in der Legation gelegenen Mini-Diözese Comacchio stand seit 1592 der Ferrarese Orazio Giraldi vor, Alife ging 1598 an den Franziskanerkonventualen Modesto Gavazzi, Carlo Trotti übernahm im gleichen Jahr Bagnorea (157, 78, 108). Mit dem politischklientelären Hintergrund dieser Ernennungen befaßt sich ausführlich Birgit Emich: Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat (in Vorbereitung). Kap. 2.2.3.
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einen verdienten Ordensgeistlichen zum Bischof, und wenn er einen Amtsträger mit Titel und Einnahmen versehen wollte, der aufgrund anderweitiger Verwendung für die Seelsorge nicht in Frage kam, verlieh der Borghese-Papst Sinekuren in partibus
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Nahmen die Päpste bei der Versorgung der Ferraresen eine gewisse Rücksicht auf die Interessen der Kirche, diente die Besetzung der Stellen innerhalb der Legation allein den Zwecken von Staat und Dynastie. Daß Clemens VIII. seinen Neffen Kardinal Pietro Aldobrandini zum ersten Verwaltungschef der Provinz ernannte, um dem Nepoten ein ansehnliches Gehalt und den neuen Untertanen eine politisch relevante Ehrung zukommen zu lassen, zeitigte zwar keine im Sinne der Kirche dysfunktionalen Effekte.22 Doch schon die erste Umbesetzung auf dem Posten des Kardinallegaten hatte ihren Preis. Kaum gewählt, sorgte Paul V. für die Ablösung Aldobrandinis, der als Neffe seines Vorgängers für diesen sensiblen Posten nicht länger in Frage kam, und entsandte als neuen Chef der Provinzverwaltung Orazio Spinola an den Po.23 Spinola aber war seit 1600 Erzbischof von Genua24, und so mußte die Republik für die Amtszeit ihres Hirten ohne Erzbischof auskommen. Daß dies der Residenzpflicht der Bischöfe widersprach, die Paul V. zu Beginn seines Pontifikats eingeschärft hatte, schien den Pontifex nicht zu stören. Wohl aber Spinola, den nicht nur zunehmende Amtsmüdigkeit, sondern auch sein bischöfliches Gewissen plagte. Er sei doch verpflichtet, seine Herde zu weiden, hielt der Legat dem Oberhaupt der katholischen Kirche entgegen, doch Paul V. zeigte sich von solchen Ausführungen nicht beeindruckt. Spinola machte seine Sache in der Staatsverwaltung schlichtweg zu gut, als daß er seinen Aufgaben im Dienst der Kirche hätte nachkommen dürfen: Der Papst blieb hart, der verzweifelte Erzbischof bis kurz vor seinem Tod am Po und das Erzbistum Genua über ein
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Guido Bentivoglio wurde 1607 zum Nuntius in Flandern sowie zum Erzbischof von Rhodos ernannt (HC IV, 296). Francesco Sacrati, der Vertreter Ferraras an der römischen Rota, erhielt 1612 als Trostpreis für das ihm knapp entgangene Dekanat des Gerichts das Erzbistum Damaskus (172). Nachdem Trotti auf Bagnorea verzichtet hatte, erhielt Camillo Mori 1612 das Bistum Termoli, Comacchio ging nach dem Tod Giraldis 1617 an Alfonso Sacrati, der Franziskaner der strengen Observanz Ireneo Brasavola übernahm 1617 als Nachrücker für den verstorbenen Gavazzi Castro (334, 157, 140). Die Ferraresen erhielten unter Paul V. mit Alfonso Giglioli zwar einen weiteren Bischof (Anglona 1619, HC IV, S. 84), aber nur einen Kardinal (Guido Bentivoglio im Januar 1621, HC IV, S. 14). Ausführlicher zum Hintergrund vgl. auch hier B. Emich: Integration (Anm. 20). Kap. 5.3.1. Sollte die bevorzugte Versorgung der Ferraresen mit Diözesen in Neapel zu den Maßnahmen der Päpste zum Schutz der Kirche in ihrem eigenen Land gehört haben? Zu Aldobrandini als Legat vgl. B. Emich: Integration (Anm. 20) Kap. 2. Zu Aldobrandinis Ablösung durch Spinola vgl. Birgit Emich, Bürokratie und Nepotismus unter Paul V. (1605-1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Rom. Stuttgart 2001 (Päpste und Papsttum. Bd. 30). S. 92-100. Vgl. HC IV, S. 207.
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Jahrzehnt verwaist.25 Ein ähnliches Schicksal hatte Paul V. für die Diözese Bertinoro im Süden Ferraras vorgesehen. Schließlich bewährte sich nicht nur Spinola im Amt, sondern auch sein Vizelegat Massimi, und da treue Diensterfüllung belohnt sein wollte, erhielt der stellvertretende Verwaltungschef das Bistum und seine Einnahmen. Auch Massimi machte sich Sorgen um die Residenzpflicht - allerdings nicht wegen der Absenz von seinem Bistum, dem er einen Antrittsbesuch von vier oder fünf Tagen abzustatten gedachte, sondern wegen seiner Abwesenheit vom Amtssitz Ferrara, die mit dieser Reise verbunden war.26 Offenkundig hatte der Vizelegat besser verstanden als sein Vorgesetzter Spinola, daß die Interessen der Staatsverwaltung auch Paul V. wichtiger waren als die Seelsorge in den zur Besoldung des Personals eingesetzten Bistümern. Dies wußte man in nahezu jeder Diözese, die das Gebiet der Legation Ferrara berührte. In Ravenna und Cervia könnte die Erinnerung während des Borghese-Pontifikats zwar etwas verblaßt sein, denn die Hirten dieser Sprengel nahm Paul V. keineswegs von der Residenzpflicht aus. Im Gegenteil: So wie Clemens VIII. seinen Neffen mit der reichen Erzdiözese Ravenna und den Ferrareser Kardinal Bevilacqua mit dem Bistum Cervia versehen hatte, um zwar ihre Einnahmen, nicht aber ihre Pflichten zu mehren, so drehte Paul V. nach seiner Wahl den Spieß um: Kein Bistum ohne Pflichterfüllung, hieß die Regel des Papstes für die Getreuen seines Vorgängers, und da weder Aldobrandini noch Bevilacqua auf ihre Einnahmen verzichten wollten, zwang die zur politischen Waffe gewordene Residenzpflicht die in Rom nicht mehr willkommenen Hirten zu ihren Schafen.27 In den Diözesen Adria, Rimini und Imola mußte man hingegen mit minderqualifizierten Mietlingen Vorlieb nehmen: Adria und Rimini dienten die längste Zeit des Borghese-Pontifikats der Versorgung eines Nuntius mit Titel und Geldern, die Erträge Imolas flössen an Kardinal Millino nach Rom.28 Millino ließe sich ebenfalls als Amtsträger mit Versorgungsanspruch bezeichnen, spielte er als Vorsitzender zahlreicher Behörden und als enger Berater Pauls V. doch eine zentrale Rolle an der Kurie. Allerdings war Millino auch mit dem Papst verwandt, der ihm ausgerechnet bei der Verwaltung der Kirche vertraute wie keinem zweiten, und so könnte man die Abschöpfung Imolas durch den fernen Kardinal mit gutem Recht als nepotistische Bereicherungspraxis der regierenden Familie
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Ausführliche Belege für Spinolas Gesuche um Ablösung bei B. Emich: Bürokratie (Anm. 23) S. 129, Anm. 195. Zu Bertinoro vgl. HC IV, S. 120. Im Oktober 1613 schrieb Massimi nach Rom, daß disegno di trasferirmi alla mia Chiesa lontana di qua solo cinquanta miglia, ne starò absente da Ferrara se non quattro, o cinque giorni (E 52,135). Zu Ravenna vgl. HC IV, S. 292, zu Aldobrandinis Abschiebung L. Pastor, Bd. 12 (Anm. 16) S. 44, zu Bevilacquas Aufenthalten in Cervia seine diesbezügliche Korrespondenz mit Borghese, z.B. E 14, 176; Biblioteca Angelica Ms. 1232, 228vf.; FB Ü 419, 415; FB IH 50 B, 143. Vgl. HC IV, 69 (Adria), 95 (Rimini), 209 (Imola).
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bezeichnen.29 Doch gemessen an dem, was sich in Ferrara selbst abspielte, war Millino mit seinem Imola ein kleiner Fisch. So gingen sämtliche Benefizien der Diözese Ferrara, die einen größeren Betrag abwarfen, schnellstmöglich an die engsten Verwandten des Papstes: Der Kardinalnepot Scipione Borghese erhielt die Abtei San Bartolo sowie das Priorat San Romano als Kommenden, und das Bistum selbst fiel nach dem Tod des Reformers Fontana im August 1611 an Scipiones Vetter Kardinal Giovanni Battista Lern.30 Borghese war als Kommendatarabt dank des in Trient offengebliebenen Schlupflochs für Praktiken dieser Art nicht zur Residenz verpflichtet.31 Leni hingegen hätte sein Bistum persönlich verwalten müssen. Tatsächlich begab sich der Bischof an den Po: dreimal im gesamten Jahrzehnt bis zum Tod Pauls V., und nie blieb er länger als einige Wochen.32 Immerhin, möchte man sagen, hatte es Scipione Borghese doch überhaupt nicht für nötig befunden, das ihm von 1610 bis 1612 unterstellte Erzbistum Bologna zu besuchen. Aber dennoch tragen Lenis Stippvisiten kaum dazu bei, das düstere Bild im Norden des Staates aufzuhellen: Ob Amtsträger im Außendienst oder Kurienkardinäle versorgt wurden, ob die Gelder der Papstfamilie zuflössen - die Diözesen in der Legation Ferrara und ihrer Nachbarschaft mußten die Dominanz staatlicher und dynastischer Interessen in der päpstlichen Personalpolitik mit der Absenz ihrer Bischöfe bezahlen. Allerdings wäre es vorschnell, von der Absenz der Bischöfe auf die Verwahrlosung des kirchlichen Lebens zu schließen. Vielleicht stritten ihre Vikare ebenso entschlossen für die Sache der Reform, wie es Hubert Jedin den Weihbischöfen der Reichskirche attestiert hat,33 und vielleicht genügten einem Absentisten wie Leni die wenigen Aufenthalte vor Ort, um das Nötige zu richten. Genau dies legen die Ferrareser Quellen nahe. So mochten die sporadischen Reisen des Kurienkardinals wie Ad limina-Besuche in verkehrter Richtung wirken. Doch sobald er seine Diözese betreten hatte, legte er einen erstaunlichen Eifer an den Tag. Eine Visitation führte er durch, Synoden wurden abgehalten, und selbst eine Statusrelation brachte der Bischof mit nach Rom.34 Gewiß, nach den Trienter Vorschriften hätte es von allem etwas mehr sein müssen. Aber für 29 30
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Zu Millino vgl. B. Emich: Bürokratie (Anm. 23) S. 250. Zur Verleihung der Ferrareser Kommenden an Borghese vgl. See. Brev. 595, 13f.; 598,465/469. Zu Leni vgl. HC IV, S. 11 und 186. Vielleicht kam Leni nur deswegen zum Zuge, weil der Nepot zum Zeitpunkt der Vakanz bereits Erzbischof von Bologna war (vgl. HC IV, S. 118) und Trient wenigstens die Kumulation von Bistümern beendet hatte. Vgl. W. Reinhard: Reformpapsttum (Anm. 12) S. 51. Leni weilte während des Borghese-Pontifikats von März bis Juni 1612 (BAV, Barberiniani latini 8760: 80v, 196v), von Dezember 1615 bis Mai 1616 (CA 9, 360; BAV, Urbinates latini 1084, 241) und von März bis Mai 1620 (FB m 41 C, 61 v; FB m 46 A, 305) in Ferrara. Vgl. H. Jedin (Anm. 10) S. 215. Für 1612 sind eine Visitation und eine Synode belegt (vgl. A. Frizzi (Anm. 18) S. 60), für 1620 eine weitere Visitation (ASV, Segreteria di Stato, Bologna 186, 214). Lenis Statusrelation in ASV, Archivio della S.Congregazione del Concilio, Ferrarien. I stammt von 1616.
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einen papstverwandten Kardinal, den man für die Verkörperung nepotistischer Versorgungstechniken halten könnte, kam Leni seinen Pflichten in überraschend hohem Maße nach. Auch das religiöse Leben in Ferrara zeigte sich von der Absenz des Bischofs unberührt. 1622 gab es in der Stadt drei Marianische Kongregationen, die sich eines regen Zulaufs erfreuten, und obwohl an Bruderschaften kein Mangel herrschte, konnte die 1611 gegründete Confraternitä di San Carlo Borromeo schon zwei Jahre später eine eigene Kirche zur Verehrung ihres Heiligen in Dienst nehmen. Für die christliche Unterweisung war ebenfalls gesorgt: Neben dem Priesterseminar und der theologischen Fakultät der Universität zählte man 1616 in der Stadt 33, im Umland einige weitere Katechismusschulen, und im gleichen Jahr eröffnete ein Seminarium nobilium unter jesuitischer Leitung seine Pforten.35 Allerdings dürften diese Erfolge im Sinne Trients weitgehend auf das Wirken des Borromeo-Schülers Fontana zurückzuführen sein. Leni selbst bewies mit der Einführung der Theatiner in Ferrara zwar ein gewisses Interesse an der katholischen Reform.36 Aber er war nur der erste in einer langen Reihe von Bischöfen, die das Bistum Ferrara primär als Geldquelle betrachteten und ihre Amtszeit lieber in Rom als vor Ort verbrachten.37 Wie sich die Personalpolitik der Päpste längerfristig auf das kirchliche Leben am Po auswirkte, bedürfte der näheren Untersuchung. Doch daß sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die Klagen über die Disziplinlosigkeit des Klerus wie der Laien häuften,38 ist wohl auch auf die Dominanz nichtkirchlicher Erwägungen bei der Bistumsvergabe zurückzuführen. Daß die im Interesse des Staates und der Dynastie ernannten Bischöfe oft absent waren und ihre Diözesen nicht immer im Geiste Trients verwalteten, muß man wohl unter den dysfunktionalen Effekten der päpstlichen Personalpolitik verbuchen. Ein weiteres, vielleicht das eigentliche Problem des mikropolitischen Etatismus liegt jedoch auf einer anderen Ebene. Zu entdecken ist es nur, wenn man die Perspektive erweitert und zu ergründen versucht, wie sich die Politisierung der kirchlichen Sach- und Personalfragen auf die Wahrnehmung der Untertanen auswirkte. Daß die Politisierung der Stellenvergabe auch die Sicht der Gläubigen auf ihre Hirten prägte, deutet bereits die Aufmerksamkeit an, mit der die Ferraresen über die Zahl der Ihren im Dienst der Kirche wachten. Schließlich 35
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Vgl. Giancarlo Angelozzi, Le scuole dei Gesuiti e il Convitto Penna. In: La rinascita del sapere. Libri e maestri dello studio ferrarese. Hg. von Patrizia Castelli. Venedig 1991. S. 355-366, hier S. 360f.; Alessandra Chiappini: Immagini di vita ferrarese nel secolo XVII. In: La Chiesa di S.Giovanni Battista e la cultura ferrarese del Seicento. Hg. von ders. u.a. Mailand 1981. S. 9-56, hier S. 27-30. Einen Eindruck von der Zahl der Bruderschaften vermitteln die von Paul V. bewilligten Bitten um die Facultas liberarteli unum carceratum singulis annis in See. Brev. 405,40; 413,341; 427,75; 445,192; 453,477; 480,616; 482,317; 483,167; 499,218; 552,369; 564,312; 574,397. Vgl. A. Chiappini (Anm. 35) S. 31. Dies belegen bereits die spärlichen Angaben in HC IV, S. 186. Vgl. A. Chiappini (Anm. 35) S. 32f.
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hielten sich die Päpste nicht zufällig an die inoffizielle Quote für Ferraresen im Bischofsamt, sondern weil die Beförderung eines Landeskindes in der Legation am Po als Ehre für die gesamte Stadt eingeklagt und gewürdigt wurde.39 Doch auch die Besetzung des Ferrareser Bischofssitzes galt als Maßstab für die politische Wertschätzung der Provinz. So hätte die Stadt nach dem Tod Fontanas im Juli 1611 zwar lieber einen Ferraresen oder den Nepoten persönlich als Nachfolger gesehen. Aber als Kardinal Borghese versicherte, Leni sei mit ihm in Blut und Geiste verwandt und daher so gut wie er selbst, freute man sich in Ferrara, den Prälaten Fontana gegen einen Kardinal dieses Kalibers getauscht zu haben.''0 Offenkundig waren die Ferraresen an einem residierenden Bischof weit weniger interessiert als an einem papstnahen Kurienkardinal. Nicht ohne Grund, denn tatsächlich hatte die Versorgung einflußreicher Absentisten mehrere Vorteile für die Provinz: In Fragen der Staatsverwaltung etwa standen die am Po mit Benefizien und Landbesitz versorgten Kardinäle immer auf der Seite Ferraras, wenn es Pläne zu Lasten der Legation und ihres Territoriums abzuwehren galt.41 Aber auch im Blick auf kirchliche Angelegenheiten kann man es den Ferraresen nicht verdenken, daß sie ihren Pastor und Protektor Leni nicht ausgerechnet gegen einen unbekannten Dominikaner eintauschen wollten und auf die entsprechenden Gerüchte über die bevorstehende Resignation spürbar erschrocken reagierten.42 So zeigte sich Leni an einer verschärften Disziplinierung von Volk und Klerus nicht interessiert und in den wenigen Konflikten mit den Laien der Diözese, die bezeichnenderweise nicht er, sondern sein übereifriger Vikar vom Zaun brach, ausgesprochen kompromißbereit.43 Profitierten die Ferraresen in diesen Fällen vom Wunsch des Bischofs, die Einnahmen seiner Diözese in Ruhe zu genießen, kam ihnen in kirchlichen Fragen anderer Art der Einfluß des Kurienkardinals zustatten. Wenn es etwa um das Engagement angesehener Prediger für die 39
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Vgl. z.B. die im Dank der Stadt an Paul V. geäußerte Einschätzung, die Ernennung Bentivoglios zum Titularerzbischof und Nuntius sei ein illustre segno dell'ottima, e santa volontà, ch'ella degna di portare alla divotione e fedeltà della nostra Patria, aber auch ein Zeichen der Hoffnung, daß Vostra Beatitudine si disporrà maggiormente ad innalzare i soggetti di questa Patria (FB HI 47 B, 240). Borghese schrieb zu dieser Beförderung an die Magistratsherren: ci ha pure havuta la parte sua il rispetto della patria et la preveduta satisfattione delli Signorie Vostre (CC 156, 124). Vgl. FB m 60 FG, 260; E 53, 42; CC 156, 365. Der Einsatz vor allem Borgheses im Interesse seiner und der Ferraresen Ländereien wird am Beispiel der römischen Wasserpolitik ausführlich geschildert bei B. Emich: Integration (Anm. 20) Kap. 3. Vgl. das Schreiben des Magistrats vom Juli 1612 über die (unbegründete) Angst der Ferraresen vor dem Verlust di così benigno Pastore e Prottettore und des splendore, che si riceve da sì gran Cardinale (CA 8, 104). Vgl. die Schilderung eines Konflikts um den Kirchenzehnten, in dem Leni zwar seine Macht vorführte und den Rechtsstreit gegen die Privilegien der Stadt nach Rom zog, dann aber doch zu einem Kompromiß bereit war, bei A. Frizzi (Anm. 18) S. 60f. und 70. Zu Lenis Milde vgl. das in Anm. 50 zitierte Urteil seiner Zeitgenossen.
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Fastenzeit ging, konnte Leni weit mehr ausrichten als die Stadt allein. Schließlich zählte das Wort eines papstverwandten Kardinals auch auf diesem ebenso prestigeträchtigen wie umkämpften Feld einiges, und so war mit Lenis Amtsantritt das Risiko gesunken, daß sich das stolze Ferrara mit einem Prediger zweiter Wahl zufriedengeben mußte.44 Allerdings konnten sich die Beziehungen des Kardinalbischofs auch gegen die Interessen seiner Schafe richten. Dies bekamen die Ferraresen in einem Streit um die Besetzung des Domkapitels zu spüren, das finanziell wie sozial attraktive Stellen zu bieten hatte und daher einen näheren Blick verdient. Der Magistrat war für einen Landsmann in die Bresche gesprungen, Leni aber, dem die Besetzung zustand, hatte den Posten schon einem Klienten des Nepoten zugesagt. Daher wandte sich die Stadt an Borghese und legte ihm dar, sein Kandidat werde das vorgeschriebene Examen wohl kaum bestehen. Der Papstneffe fiel ob dieses Angriffs auf seine und Lenis Entscheidung aus allen Wolken, seine Antwort an den Botschafter der Stadt geharnischt aus und diesem wieder ein, welche Bedeutung theologische Examina gegenüber klientelären Beziehungen hatten: Jeden Tag würden vor dem Papst persönlich Bischöfe examiniert, aber daß die Kandidaten hochgestellter Persönlichkeiten durchfielen, komme nicht vor. Die Prüfer wüßten eben, was sie zu tun hätten, und welche Rücksicht auf die Wünsche der Patrone sich gehöre.45 Daß der Protégé des Nepoten das gewünschte Kanonikat erhielt, kann im Lichte dieser Einschätzung nicht verwundern. Und doch hatten die Ferraresen keinen Grund zur Klage über diese Vergabepraxis. Schließlich war auch der Stadt und ihren Bewohnern das Examen so gleichgültig wie jede andere Vorschrift, die gegen die von ihnen bevorzugten Kandidaten sprach. So bat eine adlige Ferraresin den Nepoten um eine Aufforderung an die Kanoniker, das Kapitel um einen Platz zu erweitern und diesen an einen ihrer Schützlinge zu vergeben. Daß dem ein Dekret des Kapitels entgegenstand, wußte die Dame. Aber zum einen hätte bereits der Nepot Clemens' VIII. diese Regelung ignoriert, und zum anderen könne Borghese wie einst Aldobrandini die Kanoniker ja mit dem päpstlichen Segen von ihrem Eid entbinden.46 Kardinal Pio hielt noch weniger von den störenden Auflagen: Um seinen Landsleuten beweisen zu können, daß er in der Gunst der Borghese stehe, bat er den Papstneffen kurzerhand um das Recht, das nächste freiwerdende Kanonikat nach eigenem Belieben zu besetzen.47 Kaum anders verhielten sich die Repräsentanten der Stadt, 44
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Weil la città sa ottimamente quanto sì fatti valentuomini vengano .. procurati con mezzi gagliardi (CC 163/8 A, 1), wandte sich der Magistrat in Sachen Prediger sofort nach Lenis Wahl an den neuen Bischof und hatte im Unterschied zu früheren Bemühungen mit ihrer Bitte um einen Prediger pratico su i primi pulpiti d'Italia Erfolg (CA 138: 598, 622,660). Vgl. CA 9: 370, 372, 398, 403, 1292, v.a. aber den ausführlichen Bericht des Botschafters an den Magistrat vom 2Januar 1616 in CA 9: 379fV382. Vgl. Lavinia Tassoni an Borghese, 27.April 1607, FB m 59 A, 250. Vgl. Pio an Borghese, 16.August 1608, FB 1835,200.
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wenn sie auf Wunsch der Interessenten oder ihrer Förderer einen einzelnen Bewerber unterstützten: Der Botschafter rang dem Datar mitunter das Versprechen ab, die Suppliken der Konkurrenz abzufangen, und auch wenn der Kandidat inzwischen durchs Examen gefallen war, hielten es Magistrat wie Diplomat für eine Frage der Ehre, den Einsatz für ihren bereits empfohlenen Landsmann fortzusetzen.48 Erfolg war nur den wenigsten dieser Initiativen beschieden. Doch daß die Ferraresen dem Beispiel der Nepoten und ihrer Freunde folgten und in Personalfragen keine Rücksicht auf die Trienter Ideale nahmen, ist angesichts ihrer Vorstöße nicht zu bezweifeln. Man könnte das Feld der kirchlichen Personalpolitik weiter abschreiten: Von den kleineren Benefizien in der Legation Ferrara über die Orden, bei denen der klienteläre Aspekt in der Funktion des Ordensprotektors nachgerade institutionalisiert war49, bis hin zu den Stellen, die der Nepot als Kommendatarabt zu vergeben hatte - überall präsentiert sich das gleiche Bild. Wenn sie keinen besonderen Kandidaten im Blick hatten, verwiesen Würdenträger wie Ferraresen zuweilen auf die Vorschriften. Aber in aller Regel achteten beide Seiten eher auf soziale und klienteläre Qualifikationen als auf die theologische Eignung der Bewerber.50 Solche nichtgeistlichen Aspekte dominierten indes keineswegs nur bei der Besetzung von Ämtern, sondern auch bei der Gewährung kirchlicher Gnadenakte für einzelne Ferraresen und Ferraresinnen. So unternahmen Frauen des Stadtadels, die Verwandte oder Freundinnen in einem Nonnenkloster besuchen und die dafür notwendige Genehmigung Roms erhalten wollten, meist 48
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Vgl. die Berichte des Botschafters über die schließlich erfolgreichen Bemühungen für den am Examen gescheiterten Bewerber in CA 137, 90 und ASF, Fondo Comune, Archivio Storico Comunale, Serie Patrimoniale 61,2, Punkt 2. Dem denkbaren Einwand, die Ordensprotektoren hätten nur die Interessen 'ihres' Ordens vertreten und nicht in Personalfragen eingegriffen, sei begegnet mit der Antwort des nach Spinola amtierenden Ferrareser Legaten Kardinal Serra auf eine Personalempfehlung des Nepoten: Si come la protettione de' canonici regolari m'è stata data dalla benignità di Nostro Signore per mera gratia di V.S.Illma, così ella ne resta padrone, et io la tengo come in deposito per esseguir sempre et ubbidir a quello che da lei mi verrà commandato, come farò hora nell'occasione ch'ella m'ha accennato di far deputar Abbate a Cesena il P. Don Atanasio Storpelli (FBIU60FG, 132). Die Ferraresen empfahlen ihre Cittadini für die von Leni zu vergebenden kleineren Pfründen zwar meist mit dem Hinweis auf ihre Eignung, aber auch aus anderen Gründen, etwa weil der Vater eines Bewerbers sich als Dammwärter für die Stadt verdient gemacht hatte (CC 163/10, 14). Bezeichnend für Lenis Personalpolitik ist das Urteil seiner Zeitgenossen über ihn, hier zitiert nach Dante Balboni: I sinodi diocesani di Ferrara. In: Analecta ferrariensia. 1. 1958. S. 113-142, hier S. 123: Coi suoi modi e con le sue disposizioni moderate seppe attirarsi la simpatia del Clero, ma per poco perchè conferì i migliori benefici ecclesiastici a sacerdoti forestieri, oppure pose grosse pensioni a quelli conferiti ai Diocesani. Auf eine der Empfehlungen der Stadt für ein Benefizium in seiner Hand antwortete Borghese zwar: Io ho stimato che si debba publicare il concorso (CC 156,694), doch die Vikariate seiner Kommenden vergab er meist an verdiente Verwalter, vgl. B. Emich: Bürokratie (Anm. 23) S. 321f.
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zweierlei: Zum einen wandten sie sich an einen Fürsprecher, der ihren Wunsch in Rom vortragen und mit Hilfe seiner Beziehungen unterstützen sollte, und zum anderen verwiesen sie auf die Bewilligungen, die anderen Ferraresinnen bereits zuteil geworden waren. Daher traten die Ferrareser Kardinäle und der Botschafter, aber auch andere Personen am Hof immer wieder in Erscheinung, um den Bittstellerinnen aus ihrer Verwandtschaft oder Klientel eine möglichst umfassende Lizenz möglichst schnell zu beschaffen. Und da man auch in Rom den sozialen Status und die entsprechende Konkurrenz unter den Bewerberinnen als Argument in dieser Frage gelten ließ, durften die ranghöchsten Ferraresinnen mit den besten Beziehungen die Frauenklöster der Stadt am häufigsten betreten.51 Daß dies die Klausur in den Klöstern unterlief, um die man sich auch in Trient bemüht hatte, begann Paul V. erst nach einigen Jahren zu stören. Nach einem ersten, gänzlich wirkungslosen Anlauf im Jahre 1608 griff er 1612 endlich durch und machte dem regen Kommen und Gehen ein Ende.52 Aber selbst der strenge Spinola, der seine ferne Erzdiözese von Ferrara aus zu verwalten versuchte und den Widerruf der Lizenzen ausdrücklich begrüßt hatte, war in besonderen Fällen zu Ausnahmen bereit. So empfahl er die Bitte einer Doria, mit deren verzweigter Familie auch Spinola verwandt war, an Borghese. Dem Nepoten aber waren die Wünsche der Klienten wichtiger als die Ruhe der Nonnen, und so durfte die Genuesin trotz des päpstlichen Verbots auch weiterhin die Klausur stören.53 Was aber hat die gestörte Klausur mit der Ausgangsfrage zu tun, worin also bestehen die dysfunktionalen Effekte des mikropolitischen Etatismus für die katholische Reform? Um es auf eine Formel zu bringen, die auch für den in Rom bewilligten Klosterbesuch in Genua gilt: Der mikropolitische Etatismus der Päpste bestimmte nicht nur die Besetzung hoher kirchlicher Ämter im Land der Päpste, er durchdrang die gesamte Kirche, und er prägte deren Wahrnehmung durch die Untertanen. Kirche war Politik, in allen ihren Lebensäußerungen. Daß es nicht zu einer Klerikalisierung der Politik, sondern zur Politisierung aller kirchlichen Fragen kommen werde, hatte schon Clemens VIII. den Ferraresen angekündigt. Und genau diese Botschaft wurde ihnen auf verschiedenen Wegen 51
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Statt zahlreiche Einzelfälle zu nennen, sei auf die Supplik der bereits erwähnten Lavinia Tassoni verwiesen, die sämtliche Erfolgsfaktoren in sich vereinte: Sie gehörte nicht nur einer der vornehmsten Familien der Stadt an, sondern hatte auch 1598 während des Aufenthaltes der Kurie in Ferrara Kardinal Borghese, den späteren Papst, samt Gefolge in ihrem Haus beherbergt und konnte sich daher wenige Monate nach der Wahl Pauls V. an einen damaligen Gast und jetzigen Papstvertrauten, Luca Sempronio, wenden. Nicht ohne den Hinweis, daß eine solche Lizenz auch ha hauto la Signora Donna Violante d'Este, bat sie um ein Breve di potere con 4 donne entrare una volta al mese almeno in qualsivoglia monasterio di Monache di Ferrara und erhielt es (See. Brev. 400,17 lf.). Vgl. L. Pastor, Bd. 12 (Anm. 16) S. 192. Vgl. Spinolas Bekenntnis zum Widerruf der Lizenzen von 1613 in BAV, Barberiniani latini 8761, 241 und seine Bitte für Doria von 1614, die ein Borghese-Mitarbeiter zur Ausführung an den Brevensekretär überwies, aber mit der bezeichnenden Ermahnung an diesen versah, che non ne parli con nessuno (E 15,57f.).
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bestätigt: durch die Absenz der Bischöfe in der Region, die ihren Posten staatlichen und dynastischen Interessen zu verdanken hatten; durch die Interpretation der Amtsvergabe an einzelne Ferraresen als Zeichen politischer Wertschätzung, das der gesamten Provinz und ihrer Loyalität gegenüber Rom galt; durch die Rolle der geistlichen Würdenträger als politische Machtfaktoren, die vor allem in der Staatsverwaltung zum Tragen kam und aus nepotistischen Versorgungspraktiken politische Allianzen entstehen ließ, und durch den geringen Respekt vor den Trienter Beschlüssen, den die Amtsinhaber bei der Vergabe attraktiver Posten in ihrem Bereich an den Tag legten. Daß die Botschaft angekommen war, zeigt sich in der Argumentation und den Strategien der Ferraresen: Bei der Besetzimg des Bistums war der Stadt ein papstnaher Kardinal mit Einfluß weit lieber als ein residierender Hirte mit Reformabsichten; bei der Vergabe der Kanonikate und anderer Benefizien nahmen weder der Magistrat noch einzelne Ferraresen Rücksicht auf die Trienter Regelungen und die moralisch-theologische Qualifikation der Kandidaten, die damit sichergestellt werden sollte; und bei ihren Bemühungen um Lizenzen kirchlicher Art verließen sich die Bittsteller auf klienteläre Hilfe und politische Argumente. Offensichtlich war die Kirche auch in der Wahrnehmung der Ferraresen nicht von den Faktoren Macht, Mikropolitik und Status zu trennen, und genau dies dürfte dem Nachlassen intensiver Religiosität Vorschub geleistet haben. Vielleicht ist es vorschnell, von der Politisierung der Kirche auf die Politisierung des Religiösen zu schließen. Aber wenn der sakramentale Akt der Bischofsweihe als Ausdruck eines PatronKlient-Verhältnisses zwischen dem Weihenden und dem zu Weihenden wahrgenommen wurde; wenn selbst der tridentinische Geist Heilige bevorzugte, die in der Rolle des Fürsprechers vor dem obersten Herrn auftraten; wenn die neuen Heiligen ihre Erhebung zur Ehre der Altäre dem Einsatz eines weltlichen Förderers verdankten und somit erst durch die Kanonisation vom Klienten zum Protektor aufstiegen - könnte man da nicht von einer Klientelisierung des Spirituellen reden?54 Ganz gewiß muß man von einer Politisierung des Kirchlichen ausgehen, und da diese Politisierung auch vor der Sicht der Gläubigen auf ihre Kirche nicht haltmachte, dürfte der eigentliche dysfunktionale Effekt des mikropolitischen Etatismus in einer langfristigen Säkularisierung liegen.55 Allerdings sollte man auch den positiven Beitrag nicht vergessen, den diese Herrschaftstechnik für die Sache Trients geleistet hatte. Dementsprechend ambivalent fällt die Antwort auf die Frage aus, wie sich die Besetzung kirchlicher 54
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Vgl. Peter Burschel: 'Imitatio sanctorum'. Ovvero: quanto era moderno il cielo dei santi posttridentino? In: Paolo Prodi, Wolfgang Reinhard (Hg.): Il concilio di Trento e il moderno. Bologna 1996. S. 309-333. Zu den anderen, noch nicht hinreichend erforschten Phänomenen vgl. die knappen Hinweise bei W. Reinhard: Amici (Anm. 2) S. 328. Daß der Kirchenstaat als Vorreiter der Säkularisierung gelten kann, hat bereits Paolo Prodi in seiner epochalen Studie festgestellt (Anm. 14), dabei aber die mikropolitische Ebene nicht behandelt.
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Ämter durch den Staat und seine Dynastie auf die Ideale der Kirche in deren eigenem Land auswirkte: Der mikropolitische Etatismus der Päpste hat der katholischen Reform zwar zum Durchbruch verholfen. Doch längerfristig mußte er den Geist der Erneuerung ersticken und zur Säkularisierung im Staat der Kirche führen. Bleibt zu klären, wie aus diesem Befund zum Kirchenstaat das angekündigte Plädoyer für einen mikropolitischen Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung werden soll. Immerhin hat Rudolf Schlögl für die habsburgischen Vorlande unlängst eine Deutung vorgelegt, die massive Zweifel an der Übertragbarkeit der hier präsentierten Ergebnisse weckt. Aus systemtheoretischer Perspektive, so Schlögl, sei die Konfessionalisierung ein Symptom für die funktionale Ausdifferenzierung von Religion und Politik und die katholische Reform der Vorgang, der auf die Etablierung der Kirche als unabhängigem Handlungsbereich mit eigener Handlungsrationalität zielte.56 Ein Widerspruch zu den Befunden zum Kirchenstaat ist dies zwar nicht, gehörte es doch zu den Eigenheiten der weltlich-geistlichen Doppelmonarchie, daß eine funktionale Ausdifferenzierung nicht stattfand.57 Gerade dieses Spezifikum wirft aber die Frage auf, warum sich dann die Forschung zu anderen Regionen für das Land der Päpste und ihre Mikropolitik interessieren sollte. Zwei Gründe seien genannt. Zum einen strahlte der mikropolitische Etatismus der Pontífices auch auf Gebiete jenseits der Grenze aus, deren Probleme mit der Reform ohne den Blick nach Rom daher nicht gänzlich zu verstehen sind: Wenn etwa die Vertreter des spanischen Königs in Mailand in den üblichen Jurisdiktionskonflikten auf das Beispiel der Papstneffen verwiesen, die im Interesse ihrer Kommenden die kirchlichen Gerichte übergingen, wurde die nepotistische Versorgungspraxis zur Belastung für die Position Roms gegenüber Spanien. Und daß die ganze Lombardei darüber redete, wie ein von Borghese an der Mailänder Scala untergebrachter Klient einen anderen Geistlichen während der Messe mit dem Knüppel traktiert hatte, läßt die Folgen der klientelären Rekrutierung für das Ansehen des Klerus ebenso erahnen wie die von Borghese befohlene Wiedereinsetzung eines seiner Verwalter in das geistliche Amt, aus dem der im offenen Konkubinat lebende mehrfache Vater vom Nuntius in Neapel entfernt worden war.58 Zum anderen sind weder der mikropolitische Etatismus noch seine im Sinne der Kirche dysfunktionalen Effekte auf den Kirchenstaat beschränkte 56 57
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Vgl. R. Schlögl (Anm. 4) v.a. S. 244. Zur „fehlenden Ausdifferenzierung einer politischen Sphäre" vgl. Christoph Weber: Kardinäle und Prälaten in den letzten Jahrzehnten des Kirchenstaates. 2 Bde. Stuttgart 1978 (Päpste und Papsttum. Bd. 131+II). Bd. 1, S. 415. Ergänzend hinzuweisen ist auf die fehlende Ausdifferenzierung der Religion. Für diese Mitteilungen geht ein herzlicher Dank an Julia Zunckel und Guido Metzler, die in Wolfgang Reinhards Projekt Das europäische System römischer Mikropolitik im frühen 17. Jahrhundert' Mailand bzw. Neapel bearbeiten und ihre Ergebnisse demnächst veröffentlichen werden.
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Phänomene. So sollte es die Konfessionalisierungsforschung alarmieren, daß das Ansehen der Jesuiten unter ihrer mikropolitischen Raffinesse und der damit verbundenen Nähe zur Macht gelitten hat.59 Aber auch die etatistische Mikropolitik dürfte für die Erforschung von Reform und Konfessionalisierung von Bedeutung sein. So ist aus den Höhen der Systemtheorie zwar zu erkennen, daß die Kirche im Reich eine Kirche des Adels blieb und mit ihren Strukturen der Durchführung der Trienter Beschlüsse ebenso im Wege stand wie später der Ausdifferenzierung von Religion und Politik. Doch warum dem so war, ist nur unter Einsatz mikropolitischer Kategorien zu erklären.60 Insgesamt spricht also einiges dafür, den mikropolitischen Etatismus als Sachverhalt ernst zu nehmen und als Forschungsperspektive fruchtbar zu machen: Vielleicht lohnt es sich ja, das Personal der Kirche in etatistischer Manier zu mustern und nach den Interessen von Staat und Dynastie bei der Besetzung der Stellen zu fragen. Und gewiß ist es ertragreich, in den Argumentationen und Strategien der Untertanen nach dem Niederschlag der staatlichen Praxis zu suchen. Sollte dieser Weg gangbar sein, könnte sich aus dem Zusammenstoß zweier Reinhardscher Ansätze das ergeben, was sie für sich genommen ohnehin schon sind: historische Anstöße.
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Vgl. hierzu demnächst Hillard von Thiessen: Die Kapuziner zwischen Konfessionalisierung und Alltagskultur. Vergleichende Fallstudie am Beispiel Freiburgs und Hildesheims 15991750 (im Druck), v.a. das Resümee, für dessen Überlassung ich dem Autor ebenfalls herzlich danke. Vgl. R. Schlögl (Anm. 4) v.a. S. 262f.
Et si conservi sana ... Konfessionalisierung und Sprache in den Briefen der römischen Inquisition. Peter Schmidt
Wenn es um die Zuschreibimg negativer Eigenschaften geht, steht die Figur des Inquisitors innerhalb des katholischen Klerus konkurrenzlos da. Ob es sich dabei nun um die mittelalterliche Ketzerinquisition oder die Inquisition der frühen Neuzeit, um spanische, portugiesische oder römische Inquisition handelt, ist ganz nebensächlich. Die Bestandteile dieses Negativbildes - Intoleranz, Arroganz, Heuchelei, unchristliche Grausamkeit - finden sich in der schon früh einsetzenden polemischen Literatur, etwa in Philipp von Limborchs 1692 erschienener 'Historia Inquisitionis' versammelt.1 Bei Licht besehen wissen wir allerdings relativ wenig über die Inquisitoren als Einzelne und als Glieder derjenigen Gruppe innerhalb des Klerus,2 der das Wächteramt über die Glaubensreinheit und Unversehrtheit der sich als universal verstehenden römischen Kirche anvertraut war. Wir sehen hier einmal ab von bekannten Voraussetzungen für das Inquisitorenamt wie der Zugehörigkeit zum Orden der Dominikaner oder der Franziskaner und normativen Bestimmungen, die ein reiferes Alter von 40 Jahren und einen vergleichsweise hohen Ausbildungsstand in Theologie oder
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Vgl. hierzu den 65 Buchtitel aufführenden Abschnitt 'Llnquisizione "pocessata"' in dem auf den Sammlungen der Biblioteca Casanatense in Rom, seinerzeit der Handbibliothek der römischen Inquisition im Kloster Santa Maria sopra Minerva fussenden Ausstellungskatalog: Inquisizione e Indice nei secoli xvii-xviii. Controversie teologiche dalle raccolte Casanatensi. Hg. von Adriana Cavarra. Vigevano, Diakronia. 1998. S. 138-155. Zur spanischen Inquisition der Neuzeit vgl. Julio Caro Baroja: Der "Herr Inquisitor." In: Julio Caro Baroja: Der Inquisitor, der Eroberer, der Herr. Drei Berufsbilder aus der spanischen Geschichte. Berlin 1990 (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek. Bd. 25). S. 7-39. Vgl. außerdem den anregenden Versuch von Rosario Villah, über eine Sammlung von Kollektivbiographien eine Epoche zu erschließen: LUomo barocco. Hg. von Rosario Villari. Roma/Bari 1991, deutsch unter dem Titel Der Mensch des Barock, Frankfurt 1997, wo neben den Missonar, die Ordensschwester und die Hexe auch der Inquisitor zu stellen wäre.
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kanonischem Recht verlangten.3 Noch weniger wissen wir über das Selbstverständnis der Inquisitoren und das Bild, das sie von sich selbst und von ihrer Aufgabe hatten. Die 'Kultur des Inquisitors' zu erforschen, seine intellektuellen Instrumente, das Reifen und den Wandel seiner Begriffe und Kategorien innerhalb des Wissenshorizontes seiner Zeit aufzuhellen, zählt Adriano Prosperi denn auch unter die interessanteren Desiderata der Inquisitionsforschung.4 Wenn man das Bild 'des Inquisitors mit den Mitteln des Malers Arcimboldo malen wollte, - mit welchen Symbolen und Werkzeugen seines Metiers könnte dies geschehen, fragt Prosperi. In der Alternative von Folterwerkzeugen und Büchern, die Prosperi vorschlägt,5 also von Terror und Gelehrsamkeit, kommen die markantesten Aspekte von Fremdwahrnehmung und Selbstverständnis der Inquisitoren zum Ausdruck. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, über den Begriff der sanitas, der in seiner Bedeutung sowohl Gesundheit als auch Integrität, Unversehrtheit und Reinheit umfaßt,6 dem Selbstverständnis der Inquisitoren ein Stückchen näher zu kommen. In einer seinerzeit weit verbreiteten Gattung von Inquisitionsdokumenten der frühen Neuzeit, den Briefen nämlich, die von der Kongregation des Heiligen Offiziums in Rom an die örtlichen Inquisitoren geschrieben wurden, ist dieser Begriff in der Grußformel allgegenwärtig. So schreibt etwa Kardinal Millini, der Kadinalsekretär der Inquisitionskongregation, am 20. Oktober 1617 an den Inquisitor von Siena und weist diesen an, drei in Siena sich aufhaltende verdächtige deutsche studiosi diskret beobachten zu lassen. Wenn es sich um 'Häretiker' handle, also beim Vorliegen von Indizien über ihre mutmaßliche protestantische Konfession, solle er Bericht erstatten.7 Seinen Brief schließt er mit
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Adriano Prosperi: Tribunali della coscienza. Inquisitori, confessori, missionari. Torino 1996. Parte prima: LInquisizione, besonders S. 135 - 210; John Tedeschi: The Organization and Procedures of the Roman Inquisition: A Sketch. In: John Tedeschi: The Prosecution of Heresy. Collected Studies on the Inquisition in Early Modern Italy. Binghamton, New York 1991 (Medieval and Renaissance texts and studies. Bd. 78). S. 126 - 202, hier S. 128 f.; Daniel Ols: La spiritualité des Inquisiteurs. In: Angelicum. Bd. 58. 1981. S. 181-209, hier S. 195-199. Adriano Prosperi: L'arsenale degli Inquisitori. In: Inquisizione e Indice (Anm. 1). S. 6-12, hier S. 7. A. Prosperi (Anm. 4) S. 7. Bastiano De' Rossi: Vocabolario degli Accademici della Crusca. Venezia, appresso Giovanni Alberti, 1612. Vgl S. 748 den Eintrag Sano: Che ha sanità, senza malattia. Lai. sanus, integer, purus. Archivio della Congregazione per la dottrina della fede. Rom. (künftig abgekürzt ACDF). Fondo Siena. E-3 (Nr.l) L.re Sac. Congreg. Ab anno 1606 usque ad an. 1617, fol. 697: Dall 'acclusa depositione fatta in questo s.officio da Mattheo Vilibaldo vedrà V.R. quel che in essa si contiene contro li tre tedeschi, che al presente vivono in cotesto città, quali egli depone che siano heretici per le raggioni, che adduce; V.R. li farà diligentemente osservare con ogni maggior secretezza, et trovando che siano veramente heretici, ne dia avviso. Et si conservi sana.
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dem Wunsch, der Inquisitor möge gesund bleiben: Et si conservi sana} Lohnt es sich überhaupt, diesem Detail der Korrespondenzen im Hinblick auf die Frage nach der Gedankenwelt und dem Selbstbild der Inquisitoren Aufmerksamkeit zu schenken? Handelt es sich dabei nicht bloß um eine beliebige Floskel, der keine Bedeutung zuzumessen ist? Von berufener Seite, den Bearbeitern und Editoren von Nuntiaturkorrespondenzen nämlich, wurden die Grußformeln der Briefe in aller Regel als ein belangloses Element angesehen, das in den meisten Editionen Q
denn auch pauschal unterdrückt wurde. Denkbar wäre freilich auch, daß wir den Wunsch Millinis am Schluß seines Briefes ganz banal wörtlich zu verstehen hätten. Daß der Inquisitor krank gewesen ist und sein römischer Vorgesetzter Anteil an seiner Genesung nimmt, wenn auch im vorliegenden Fall nichts diese Hypothese stützt. Beispiele für solch ein wörtliches Verständnis liegen aus anderen Zusammenhängen durchaus vor. So wünschte etwa der Kardinalnepot Clemens VIII. Pietro Aldobrandini dem Nuntius Ferreri, dessen Reise zum Antritt seiner Mission in Prag im Winter des Jahres 1604 sich schwierig gestaltete, er möge bei guter Gesundheit bleiben: [...] et prego Dio, che in tante difficoltà di viaggio, et in tanta asprezza de' tempi le conceda salute, et di cuore me le raccommando.10 Auf die Nachricht von der glücklichen Ankunft des Nuntius in Prag zeigt er sich dann befriedigt: Ho inteso con gran piacere l'arrivo di V.S. a Praga con salute und schließt den Brief mit der Formel, die wir bereits kennen: Conservisi V.S. sana.11 Ohne Zweifel ist hier mit dem Wunsch: 'Bleiben Sie gesund !' die physische Gesundheit des Nuntius in einer ganz konkreten Situation gemeint. Unser Interesse dafür, daß im Falle des Briefes Kardinal Millinis nach Siena mehr dahinter stecken könnte als eine beliebige Höflichkeitsfloskel oder ein konkreter Genesungswunsch, wird vor allem durch die metaphorische Qualität der Wendung, mit der er seinen Brief schließt, geweckt. Und vollends wird es geweckt durch den Umstand, daß es sich hierbei nicht um ein Einzelbeispiel handelt, sondern - wir greifen hier vor - die Mehrzahl der Briefe aus Rom an die Inquisitoren vor Ort diese Grußformel aufweist. Gesundheit und Krankheit sind komplementär aufeinander bezogen, das eine ist nicht ohne das andere denkbar. Doch sind Krankheiten als solche keine Sinnträger. Sie erhalten Sinn und Bedeutung erst durch einen kulturellen
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Die weibliche Form "sana" statt der zu erwartenden männlichen Adjektivendung erklärt sich aus der Anredeform für den Inquisitor, V.R., = Vostra Reverenza. Für die Editionsgrundsätze der Kölner Nuntiaturberichte vgl. exemplarisch: Nuntius Pietro Francesco Montoro (1621-1624). Bearb. von Klaus Jaitner. Kölner Nuntiaturberichte VII/1, München-Paderborn-Wien 1976. Bd. 1. LXI: "[...] weggelassen werden [...] die Anrede und Grußformel." Epistulae et acta Johannis Stephani Ferreri 1604-1607. Hg. von Zdeniek Kristen. Prag 1944 (Epistolae et Acta Nuntiorum apostolicorum apud Imperatorem 1592-1628, ni, pars I, sectio 1). S. 35 f., datiert vom 13. März 1604. Epistulae et Acta (Anm. 10) S. 93, datiert vom 15. Mai 1604.
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Kontext.12 Aufschlußreich ist es deshalb, welche Reaktionen durch Krankheiten provoziert werden und auf welche Weise Krankheit kulturellen und politischen Werten zum Ausdruck verhilft. In der christlich geprägten abendländischen Kultur war lange Zeit ein Zusammenhang zwischen Gesundheit und Tugend, bzw. zwischen Krankheit und Untugend verankert. Krankheit galt in den Schriften der Kirchenväter weithin als Folge der Sünde.13 Hieraus erklärt sich auch die Tatsache, daß seit der Zeit der Frühkirche Phänomene der spirituellen, religiösen Sphäre in medizinischen Termini Ausdruck fanden. Dies hängt im wesentlichen damit zusammen, daß beide Bereiche - Religion und Medizin - auf das Heil ausgerichtet sind.14 Von daher erklären sich verbreitete Sinnbilder vom 'Christus medicus' oder auch von 'Christus als Apotheker'.15 So wie einerseits die Kirche und die Zugehörigkeit zu ihr das Heil garantierte, wurde andererseits die Trennung von ihr in Folge der Häresie als tödliche Krankheit aufgefaßt. Die Vorstellung von der Häresie als Krankheit16 beherrschte die Gedankenwelt des gesamten Mittelalters und fand ihren Niederschlag nicht nur in einer Reihe von charakteristischen sprachlichen Metaphern, sondern auch in der Ikonographie der bildenden Kunst.17 Im mittelalterlichen Häresiediskurs war es zunächst die
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Mary Lindemann: Medicine and society in early modern Europe. Cambridge 1999. S. 62. Dieter Lenzen: Krankheit und Gesundheit. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hg. von Christian Wulf. Weinheim und Basel 1997. S. 885-891. Joseph Ziegler: Medicine and religion c. 1300. The case of Arnau de Vilanova. Oxford 1998. S. 226; Roy Porter: Religion and medicine. In: Companion Encyclopedia of the History of Medicine. Hg. W.F. Bynum und Roy Porter. London und New York 1993. Bd. 2. S. 14491468, S. 1449: "Religion and medicine share a single aim, that of making whole. It is no accident that lioliness' and ^healing' have a common etymology, rooted in the idea of wholeness; as do salvation and the salutary, cure, care and charity." Hubertus Lutterbach, Der Christus medicus und die Sancti medici. Das wechselvolle Verhältnis zweier Grundmotive christlicher Frömmigkeit zwischen Spätantike und Früher Neuzeit. In: Saeculum. Bd. 47. 1996. S. 239-281; Fritz Krafft: Christus als Apotheker. Ursprung, Aussage und Geschichte eines christlichen Sinnbildes. Marburg 2001. (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg, Bd. 104). Thomas Scharff. Die Körper der Ketzer im hochmittelalterlichen Häresiediskurs. In: Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung. Hg. von Clemens Wischermann, Stefan Haas. Stuttgart 2000. S. 133-149; Robert Jan Moore: Heresy as Desease. In: The Concept of Heresy in the Middle Ages (11 th - 13 th C.). Hg. von W. Lourdaux, D. Verhelst. Leuven/Den Haag 1976. S. 1-11. Christine M. Boeckl: Plague/Pestilence. In: Encyclopedia of comparative Iconography. Hg. von Helene E. Roberts. Bd. 2. Chicago und London 1998. S. 733-738. Deutung eines von Pestbeulen entstellten Kranken an prominenter Stelle eines Altarbildes von Rubens als Versinnbildlichung der Häresie bei Christine M. Boeckl: Plague imagery as metaphor for heresy in Rubens' the Miracles of Saint Francis Xavier. In: Sixteenth Century Journal. Bd. 27. 1996. S. 979-995; Elisabeth Schröter: Raphaels Madonna di Foligno, ein Pestbild ? In: Zeitschrift für Kunstgeschichte. Bd. 50. 1987. S. 47-87; L. Kaute: Häresie, Häretiker. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Hg. von Engelbert Kirschbaum S.J.. Bd. 2. Freiburg u.a. 1970. Sp. 216-221.
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Lepra,18 die als Entsetzen auslösende, ansteckende Krankheit per se eine enge metaphorische Verbindung mit der Häresie einging. Im frühneuzeitlichen Diskurs verschoben sich die Akzente auf andere Elemente des semantischen Feldes. Jetzt sind es die Pest und die Furcht vor dem Kontakt mit dem pestbringenden Fremden, die das Bild prägen. Das beide verbindende Element, nämlich die Anschauung von der Häresie als ansteckender Krankheit, bleibt weiterhin bestimmend.19 Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, daß die genannte Akzentverschiebung gegenüber dem Mittelalter durch das gehäufte Auftreten von verheerenden Pestepidemien ab dem Anfang des 14. Jahrhunderts - der Seuche des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit schlechthin - und der Reformation als neuer Häresie andererseits bedingt gewesen ist. Die Gleichsetzung von Häresie und Pest ist im altkirchlichen Bereich auf dem Höhepunkt der 20
Konfessionalisierung Allgemeingut geworden. Ein vergleichender Blick auf die in den protestantischen Konfessionen gebräuchlichen Metaphern zur Charakterisierung des katholischen Gegners und seines Einflußes auf die jeweils eigene konfessionelle Kultur verbietet sich hier, doch scheint es dort analoge Beispiele für den Gebrauch des Bildes der ansteckenden Krankheit zu geben. 21 18
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Stefan Winkle: Geissein der Menschheit - Kulturgeschichte der Seuchen. Zürich 1997. S. 145; vertiefend speziell zu Lepra und Häresie siehe Th. Scharff: (Anm. 16) S. 139,141 und R. J. Moore (Anm. 16) S. 3-7. Im Licht der zeitgenössischen Epidemietheorien erhält das Sprechen von der Häresie als Krankheit weitere Kontur. Siehe Annemarie Kinzelbach: Seuchenkonzepte und frühneuzeitliche Gesellschaft. Deutungen von "Pestilenzen" und städtischer Alltag. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte. Bd. 20. 1997. S. 253-265; Vivian Nutton: Humoralism. S. 281-291, Caroline Hannaway: Environment and miasmata. S. 292-308, Margaret Palling: Contagion, Germ theory, specificity. S. 309-334, sämtlich in: Bynman/Porter (Anm. 14). Bd. 1.; Charles Rosenberg: Explaining epidemics and other studies in the history of medicine. Cambridge 1992. S. 295. Vor der Entdeckung der Mikroorganismen und der bakteriellen Infektion im 19. Jahrhundert waren diese Theorien zwar abwegig, aber in sich durchaus plausibel, worauf Carlo Cipolla hingewiesen hat, cf. Carlo M. Cipolla: Miasmi ed umori. Ecologia e condizioni sanitarie in Toscana nel Seicento. Bologna 1989. Kap. I. Gli Uffici di Sanità in Italia e le concezioni epidemiologiche nel tardo medioevo e agli inizi dell'età moderna, S. 11-21; Carlo M. Cipolla: Cristofano e la peste. Bologna 1976. Zu den beispielsweise in der päpstlichen Diplomatie Ende des 16. Jahrhunderts gebräuchlichen Metaphern für die Umschreibung des Feindbilds Häretiker' fmden sich aufschlußreiche Passagen bei Eckehart Stove: Häresiebekämpfung und 'ragione di stato.' Die Protestanten und das protestantische Lager in den Hauptinstruktionen Clemens VIII. In: Das Papsttum, die Christenheit und die Staaten Europas 1592-1605. Hg. von Georg Lutz. Tübingen 1994. S. 53-66; zum französischen Kulturkreis siehe Anne-Marie Brenot: La peste soit des Huguenots. Étude d'une logique d'execration au xvi siècle. In: Histoire, économie et société. Bd. 11. 1992. S. 553-570; Bernard Dompnier: Le venin de lTiérésie. Image du Protestantisme et combat catholique au xvii siècle. Paris 1985. Vgl. den in einem Mailänder Inquisitionsprozess des Jahres 1619 protokollierten Ausruf eines Basler Soldaten reformierter Konfession: Vivano i lutherani che adesso prevarranno, et i papisti saranno scacciati, i quali adulavano la casa d'Austria, et che hanno infetta tutta la Germania, e rovinato il mondo, zitiert bei Peter Schmidt: Tortur als Routine. In: Das Quälen
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Dies lässt an eine die Konfessionen übergreifende Verbreitung der medizinischen Terminologie für religiöse Sachverhalte denken. Auch die frühneuzeitliche Inquisition bewegte sich ausweislich ihrer Texte in der hier nur angedeuteten Gedankenwelt. Häresie ist wie Pest, ist eine ansteckende geistige Krankheit, die sich durch den alltäglichen Umgang der Kranken mit den Gesunden ausbreitet, so Cesare Carena in seinem offiziösen Traktat22 von 1631: Quia haeresis[...]est pestis, spiritualis morbus contagiosus,[...] est vitium infectivum,[...] est infirmitas, quae ut cancer serpit, et celeriter se spargit, ac difundit ad alios inficiendos, ergo ex communicatione diuturna, et frequenti haereticorum cum quibuscunque fidelibus indiscriminatim, imminet periculum proximum infectionis huiusmodi fidelibus[...]2i Aus der Tatsache, daß sich die Pest als Krankheit des Körpers durch Sozialkontakt verbreite, folgt im Analogieschluß, daß sich auch die Häresie als geistige Krankheit über den Kontakt der Häretiker mit den Rechtgläubigen ausbreite: Confirmatur primo ex communicatione diuturna hominis laborantis peste corporali cum hominibus sanis imminet periculum infectionis corporalis, ergo a fortiori ex communicatione diuturna et frequenti haereticorum cum hominibus fidelibus ...imminebit periculum proximum infectionis spiritualis.24 So wie jemand, der Pech berührt, schmutzig wird, so nimmt deijenige, der mit Häretikern umgeht, die Häresie auf: Qui tetigerit picem, inquinabitur ab ea, qui communicaverit superbo, induet superbiam, ergo qui diuturne et frequenter 25
communicaverit haereticis induet haeresim. Vor allem aber: die Häresie kommt von außen, bedroht das bislang dank der Wachsamkeit des Sanctum Officium unversehrt gebliebene Italien: Italia vero adeo officium hoc ab haeresibus expurgavit antiquis, ut nunc a Luteri, Calvini, et aliorum saeculipraeteriti Haereticorum immunis, et intacta evaserit.26 Und was sonst wäre das eigentliche Ziel der Inquisition, als die Häretiker von den Rechtgläubigen fernzuhalten, ihre Bekehrung und Bestrafung zu betreiben
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des Körpers. Eine historische Anthropologie der Folter. Hg. von Peter Burschel, Götz Distelrath und Sven Lembke. Köln u.a. 2000. S. 202. Anm. 5. Cesare Carena: Tractatus de Officio sanctiss[imae] inquisitionis et modo procedendi in causis fidei. Cremonae: apud M.A. Belpierum. 1631. Zahlreiche Ausgaben, vgl. Emil van der Vekene: Bibliotheca Bibliographica Historiae Sanctae Inquisitionis. Bd. 1. Vaduz 1982. S. 48-65. Hier wurde die Ausgabe von 1655 benutzt. Auf andere Definitionen Carenas wie Häresie = crimen laesae Maiestatis (s. Anteludia. § Tertius. Nr. 27) und Häresie = error intellectus voluntarius contra aliquam fidei veritatem (s. Pars Secunda. § Primus. Nr. 3) kann hier nicht eingegangen werden. Höchst bezeichnend ist aber, daß Carena das Bild von der Häresie als ansteckender Krankheit erst da gehäuft verwendet, wo es um den Aufenthalt ausländischer Protestanten in Italien geht, nämlich in den Quaestiones quindecim ad inquisitores D. Guidonis Fulcodii, S. 397 - 432. Carena (Anm. 22) Quaestio decima: De Fautoribus Haereticorum, fol. 417. Carena (Anm. 22). Carena (Anm. 22). Carena (Anm. 22) Anteludia. § Quartus. Unicum remedium adversus haereses fuisse Officium S. Inquisitionis.
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und dafür Sorge zu tragen, daß sie nicht ihr Gift verbreiten: Et che altra mira ha l'inquisitione per essentiale, e nativa, salvo che tener lontani gli heretici da catholici, procurare la conversione di quelli, et il castigo, et avertire che da essi non sia in questi sparso il veleno?1 Aus der nah verwandten Denkweise entspringt schließlich sogar eine Zusammenarbeit von weltlichen und kirchlichen Amtsstellen bei der Prophylaxe 28
von Pestepidemien. Die staatlichen Gesundheitsbehörden, die Uffici di Sanità einerseits und das organisatorische Netz der Inquisition andererseits waren ja beide mit der Kontrolle von fremden, womöglich Gefahr bringenden, 'ansteckungsverdächtigen' Personen und Gütern befaßt. Bei akutem Pestalarm konnten die Funktionäre der Inquisition quasi im Zuge der Amtshilfe zur Überwachung der Stadttore herangezogen werden: Gubernatori N. scribitur S. Cong.nem non renuere quin ofßciales S. Officii mittantur ad custodiam portarum 29 civitatis occasione sanitatis [...]. Wer anders als die Inquisitoren selbst sind nun ständig an vorderster Front mit diesen Infektionsherden konfrontiert? Wie der Pestarzt oder der Pfleger, der sich der Pestkranken annimmt, läuft er in Ausübung seines Dienstes Gefahr, selbst angesteckt zu werden. Im übertragenen Sinne besteht das Risiko, daß seine gesunden Glaubensgrundsätze, seine theologische und spirituelle Integrität in Gefahr geraten könnten. Der in der Grußformel zum Ausdruck gebrachte Wunsch et stia sana - bleiben Sie gesund! - impliziert ja auch: Wir, die Inquisitoren, sind die Gesunden, Reinen, Integren! Wir müssen uns unsere Unversehrtheit bewahren! Wenn sich herausstellte, daß diese charakteristische Formel ein typisches Element der regelmäßigen Korrespondenz der römischen Zentrale mit 27
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Brief des Inquisitors von Mailand, fra Deodato Gentile, an den Nuntius in Luzern vom 2. April 1599 in ACDF st.st. L 7-a, f. 111-112v. Über die pedantischen Quarantäneverfahren des Ufficio di Sanità in der toskanischen Hafenstadt Livorno vgl. Carlo M. Cipolla: D burocrate e il marinaio. La 'Sanità' toscana e le tribulazioni degli inglesi a Livorno nel xvii secolo. Bologna 1992. S. 41-57; zur Überwachung des transalpinen Handels im Herzogtum Mailand durch das Ufficio di Sanità und die Inquisition gleichermaßen vgl. Andreas Wendland: Der Nutzen der Pässe und die Gefährdung der Seelen. Spanien, Mailand und der Kampf ums Veltlin (1620-1641), Zürich 1995; zum Kirchenstaat vgl. Regesti di bandi, editti notificazioni e provvedimenti diversi, relativi alla città di Roma ed allo Stato Pontificio. 7 Bde. Roma, Cuggiani 1920-1976. Bd. 3 (anni 16051623), Roma 1930. S. 393 eines von zahlreichen Beispielen: der Handelsverkehr Bolognas mit auswärtigen Pestregionen wird am 28.8.1607 untersagt: Bando del cardinale legato di Bologna, Benedetto Giustiniani, con quale si vieta ogni commercio con Spagna, con Colonia, con la Sassonia, con Moravia, con Bolzano, con Praga e con Francoforte, infette di peste, (Bologna, 28. Agosto 1607). Collectio Decretorum Responsorumque S.Officii. Hg. von Félix Cadène. In: Analecta ecclesiastica. Revue romaine Bd. 2. 1894 - Bd. 4. 1896 passim, hier Nr. 1289. Das Dekret datiert vom 25. Juli 1655; vgl. außerdem ACDF st.st. 12-n: Decretorum a S. Romana & Universali Inquisitane variis temporibus emanatorum collectio. fol. 720. Nr. 11 und Nr. 18, beide Dekrete datieren vom Juni bzw. Juli 1657.
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den Inquisitoren war, läge es nahe, dies in heutigen Worten als Merkmal einer 'corporate identity', als Ausdruck einer Gruppenidentität zu interpretieren, die sich, wie bekannt, nicht zuletzt über Faktoren wie Sprache und Kommunikation 30
herausbildet, denn neben der zentral gesteuerten Personalpolitik, also der Einsetzung der örtlichen Inquisitoren durch die Kongregation in Rom, waren die Korrespondenzen das wichtigste Medium, durch welches - von ihrer Kommunikationsfunktion abgesehen - der Vorrang und die Kontrolle der römischen Zentrale über die periferen Tribunale aufrecht erhalten wurde.31 Die Vorstellungen von der schützenden, abschirmenden Aufgabe der Inquisitoren, das geradezu körperliche Verständnis von Häresie als gefährlicher ansteckender Krankheit und die beschwörende, warnende Formulierung der Grußformel gehören so deutlich der gleichen Gedankenwelt an, daß ein solcher Schluß naheliegend scheint. Um diese Fragen zu klären, muss die Praxis der Briefwechsel untersucht werden. Dazu ist in einem ersten Schritt an den Quellen zu überprüfen, ob die genannte Grußformel wirklich in näher zu bestimmender Weise repräsentativ für den Briefverkehr der Inquisition ist. Ergänzend wäre ein Blick auf die entsprechenden Merkmale anderer Briefwechsel zu werfen um zu sehen, ob sich die Briefe, die von anderen Absendern an die Inquisitoren gerichtet wurden - und umgekehrt - hinsichtlich der Grußformeln signifikant unterscheiden und ob deren Gebrauch strukturelle Besonderheiten aufweist. Daß die Gattung Brief ausgefeilten formalen Regeln unterworfen war, ist aus den zeitgenössischen Traktaten für den Gebrauch der Sekretäre, in deren Händen die Korrespondenzen zu liegen pflegten, ersichtlich.32 Panfilo Persico33 erläutert im zweiten Buch seines Traktates 'Del segretario libri quattro' die Teile, aus denen sich Briefe aufzubauen haben. Die Grußformeln kommen bei Persico jedoch nicht zur Sprache. Eine ausführliche Würdigung erfahren sie dagegen bei
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Robert Fisch: Gruppe; 1.4. definitorische Merkmale. In: Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. Hg. von Norbert Dittmar, Klaus J. Mattheier. Bd. 3.1. Berlin u.a. 1987. S. 150-157, hier S. 150. John Tedeschi: Inquisitorial Sources and Their Uses. In: J. Tedeschi (Anm. 3) S. 48-86. Grundsätzliches zu den Korrespondenzen S. 57-60; außerdem Guido Dall'Olio: I rapporti tra la Congregazione del Sant'Uffizio e gli inquisitori locali nei carteggi Bolognesi (1573-1594). In: Rivista storica italiana. Bd. 105. 1993. S. 250, und Francesco Beretta: Galilée devant le Tribunal de 1 Inquisition. Une relecture des sources. Diss. theol. Fribourg CH. 1998. S. 4042. Zur Traktatliteratur siehe Paolo Trovato: Il primo Cinquecento. Bologna 1994 (Storia della lingua italiana. Hg. von Francesco Bruni. Die Reihe ist ungezählt). S. 40 ff: Formulari di lettere, manuali di abaco e ragioneria, und S. 71 ff., La lingua delle cancellerie, sowie in der gleichen, ungezählten Reihe Claudio Marazzini: D secondo Cinquecento e il Seicento. Bologna 1992. S. 86 ff.: L'epistologia, jeweils mit Angabe von Quellen und Literatur. Persico war Sekretär und Familiar von Kardinal Francesco Barberini, vgl. Markus Völkel: Römische Kardinalshaushalte des 17. Jahrhunderts. Borghese-Barberini-Chigi. Tübingen 1993 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Bd. 74) S. 420.
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Francesco Sansovino.34 In einem eigenen Abschnitt über die Wünsche, die man ans Ende der Briefe zu setzen pflege,35 verweist er auf das Vorbild der klassischen Briefautoren und empfiehlt, die verwendeten Formulierungen zu variieren. Gewöhnlich bezögen sich die Wünsche auf das Wohlergehen des Adressaten oder seiner Kinder, auf seine Gesundheit, auf die Verehrung des jeweiligen Herrschers oder auf das Gelingen der Geschäfte.36 Gesundheit zu wünschen, ist also grundsätzlich nichts Ungewöhnliches. Die hier angesprochenen Traktate haben allerdings ganz vorwiegend den kultivierten Briefverkehr zwischen hochgestellten Persönlichkeiten im Blick. Wer Korrespondenzen aus dem kurialen Alltagsgeschäft kennt, etwa Nuntiaturkorrespondenzen, wird diese als nüchtern und knapp in Erinnerung haben. Diese Geschäftsbriefe, lettere di negozio, wie sie Pietro de Nores, der sein Leben als Sekretär an der Kurie hingebracht hat, in einer 37
unveröffentlichten Abhandlung nennt, bilden eine Gattung für sich, die in der Traktatliteratur vernachläßigt wird. Briefe der Inquisitionskongregation zeichnen sich zudem dadurch aus, daß sie als verbindliche Weisungen oder Dekrete geradewegs juridischen Charakter trugen und rhetorisches Beiwerk oder 38 persönliche Züge in ihnen fehl am Platze waren. Von den Briefwechseln der römischen Inquisition sind nur Bruchstücke auf uns gekommen. Welche Briefserien in der römischen Zentrale ursprünglich einmal vorhanden gewesen sind, ist heute nur noch aus den Beschreibungen des 34
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Francesco Sansovino: Del secretano libri VE, nel quale si mostra & insegna il modo di scriver lettere acconciamente & con arte, in qual si voglia soggetto; Con gli Epitheti che si danno nelle mansioni a tutte le persone, così di grado, come volgari; Et con molte lettere di Prencipi, & a Prencipi scritte in varii tempi, & in diverse occasioni. Venetia, appresso Bartolomeo Carampello.1596. Sansovino (Anm. 34) S. 12: Dello annuntio, o preghiere che si mettono nel fine delle lettere. In acht von den fünfzehn gebotenen Beispielen werden Gesundheit und Wohlergehen gewünscht, vgl. Sansovino (Anm. 34) S. 13: State sano, et vivete felice; Il signor Dio vi conceda lunghissiìna vita nella sua gratia; Faccia Dio, eh 'i vostri giorni siano felici per consolatione di tutti noi; Dio vi conceda gratia, eh 'ogni vostro affare vada a buon fine; Mantenetevi sano, & ricordatevi di noi; Il signor vi conservi sano, & senza fastidio; Attendete a vivere, & a conservarvi felicemente; A Dio, che non posso più scrivere; Non altro, Christo da mal vi guardi; Governatevi, & attendete e state sano; Voglia Dio che noi ci rivediamo tosto & sani; State sano, & nello specchio de vostri pensieri mirate i miei; Dio scorga le vostre operationi a lieto fine; Nostro Signore meni i vostri desideri a lieto fine; Nostro Signor vi inspiria far ciò che sia ornamento della fama vostra. Biblioteca Apostolica Vaticana (künftig abgekürzt BAV) Cod. Vat.lat. 13432. fol. 15r-34v. Pietro Nores. Avvertimenti per la segretaria. Con prefazione del nipote Giorgio Nores (Roma. 1. sett.1630), hier fol. 21. Zu Pietro de Nores, seit 1593 Mitarbeiter Minuccio Minuccis im Staatssekretariat Clemens v m . , später im Dienst Pietro Aldobrandinis, der Ludovisi und der Barberini vgl. Die Hauptinstruktionen Clemens Vin. für die Nuntien und Legaten an den europäischen Fürstenhöfen 1592-1605. Hg. von Klaus Jaitner. Tübingen 1984. Bd. 1, XLIV, Anm. 11. G. Dall'Olio (Anm. 31) S. 248-286, hier S. 254 "...le decisioni prese nelle sedute della Congregazione e comunicate agli inquisitori tramite le lettere avevano valore di decreto ed erano pertanto vincolanti; il loro insieme rappresenta parte integrante del diritto inquisitoriale."
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Archivs anlässlich der apostolischen Visitationen39 und Archivinventaren40 vom Anfang des 18. Jahrhunderts zu ersehen. Von den Briefserien der örtlichen Inquisitoren nach Rom haben sich nur wenige Bruchstücke erhalten, denn ebenso wie die Serie der Prozesse, sind auch die Briefe in Paris, wohin die vatikanischen Archive in der napoleonischen Zeit verschleppt worden waren, vor ihrer Rückführung nach Rom im Jahre 1815 vernichtet worden.41 Wichtiger für unsere Fragestellung sind jedoch die auslaufenden Briefe. Doch auch von den Registerbänden der versendeten Briefe42 sind lediglich drei Bände in der Vatikanischen Bibliothek erhalten geblieben. Sie stammen aus der Bibliothek der über Jahrzehnte mit der Inquisitionskongregation verflochtenen Barberini und enthalten Briefkopien der Jahre 1626, 1627 und 1628.43 Ein hierarchisch gegliedertes Adressatenverzeichnis gibt Aufschluß über den gesamten Kreis der Empfänger von Briefen des Sanctum Offizium. Wir ersehen daraus daß der weit überwiegende Teil an das eigene, zur Geheimhaltung verpflichtete Personal, also die Inquisitoren gerichtet war. Andere Empfänger sind die Nuntien in- und außerhalb Italiens, die Patriarchen von Venedig, Erzbischöfe und Bischöfe sowie deren Generalvikare. Unter den Empfängern der lettere a diversi figurieren die Gouverneure des Kirchenstaates und u.a. auch der Vizekönig von Neapel. Die Auslaufregister enthalten allerdings allein den Text der Briefe, dem ja 39
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ACDF. st.st. LL 5-a. Visitatio Sancti Officii Urbis 1701. Fascicolo Copia pro RPD Assessore, fol. 14: Anweisung, die bislang in der Cancellarla aufbewahrten Briefe an das Archiv zu übergeben. ACDF, st.st. P 1-a. Inventario di tutti li volumi e d'altre scritture esistenti nelle tre stanze dell'archivio del s.offizio di Roma, fatto nel mese dì ottobre 1710 [...] fol. 59-74. Im zweiten Archivraum befanden sich 127 Bände di lettere scritte dagli inquisitori e vescovi alla S.Cong., darunter acht aus Mailand, sieben aus Venedig, sieben aus Perugia, sechs aus Genua, drei aus Siena, wovon nichts erhalten geblieben ist. Zur Archivgeschichte der Zentrale der römischen Inquisition der Neuzeit jetzt grundlegend Francesco Beretta: L'archivio della Congregazione del Sant'Ufficio: bilancio provvisorio della storia e natura dei fondi d'antico regime. In: Rivista di Storia e Letteratura Religiosa. Bd. 37. 2001. S. 29-58. Über Inquisitionsquellen außerhalb des ACDF und die bisherige Forschung, vor der Archivöffnung im Januar 1998 vgl. John Tedeschi: The Dispersed Archives of the Roman Inquisition. In: J. Tedeschi (Anm. 3) S. 23-45; außerdem Silvana Seidel Menchi: LInquisizione romana. In: Schifanoia. Bd. 6. 1988. S. 210-213, und Silvana Seidel Menchi: I tribunali dell'Inquisizione in Italia: le tappe dell'esplorazione documentaria. In: L'Inquisizione romana in Italia nell'età moderna. Archivi, problemi di metodo e nuove ricerche. Atti del seminario internazionale. Trieste 18-20 maggio 1988. Roma 1991. S. 75-84. ACDF, st.st. P 1-a (Anm. 40). Im ersten von den drei Archivräumen befanden sich 99 Bände Minute di lettere della S. Congr. cominciando dal 1600 sino al 1699 (d.h. pro Jahr 1 Band), sowie 120 Bände Copie di lettere della medesima Congregatione 1577 -1708 (ebenfalls pro Jahr 1 Band). In der Visitation von 1701 (Anm. 39) fol. 13 wird die auch bei den Kardinälen der Inquisition übliche Praxis erwähnt, die in ihrer Amtszeit erstellten Briefregister privat aufzubewahren. BAV. Cod. Barb.lat. 6334, 6335, 6336. Registri delle Lettere della Sacra Congregatione Scritte a Diversi; vgl. hierzu J. Tedeschi: Inquisitorial sources and their uses. In: J. Tedeschi: The Prosecution of Heresy (Anm. 3) S. 59; F. Beretta (Anm. 31) S. 41.
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normalerweise unsere ganze Aufmerksamkeit gilt. Da die Anrede- und Grußformeln fehlen, sind sie für unsere Fragestellung jedoch unergiebig. Um uns Klarheit über die tatsächlich geübte Praxis zu verschaffen, benötigen wir Originalbriefe. Was die Inquisitoren als Empfängergruppe betrifft, hat die italienische Inquisitionsforschung mehrere Briefbestände in lokalen Archiven ausfindig gemacht und Untersuchungen dazu vorgelegt.44 Folgende Analyse stützt sich im wesentlichen auf die bisher unzugänglich gewesenen Briefe an die Sieneser Inquisitoren.45 Die hier vor allem im Hinblick auf die Grußformel näher untersuchten rund 700 Briefe der Inquisitionskongregation der Jahre 1606 bis 163346 folgen in formaler Hinsicht alle dem gleichen Muster.47 Sie beginnen mit der Anrede /?ev[erendo] Padre. Dann folgt der eigentliche Text, der selten mehr als die erste Seite des in der Mitte gefalteten Briefbogens füllt. Mit wenigen Ausnahmen endet der Text ohne Absatz in der Grußformel Et si conservi sana, oder den Varianten Intanto stia sana; fratanto si conservi sana; intanto si mantenghi sana; et ella stia sana; e stia sana. Hierauf folgen in der gleichen Zeile Ort und Datum: z.B. Di Roma Ii 21 Maggio 1606. In einem gewissen Abstand vom Text findet sich unter der Wendung Di V[ostra] Äfeverentia] come fratello dann die autographe Unterschrift, - das einzige Element des Briefes, das von der Hand des Cardinale segretario selbst stammt, etwa II Cardinale Arrigoni. Der Gebrauch der charakteristischen Grußformel ist bemerkenswert konstant und gleichartig und beherrscht zwischen 1606 und 1621 fast ausschließlich das Feld. Eingesprengte 44
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Als wichtigste seien genannt G. Dall'Olio (Anm. 31) über den Bestand in Bologna und Grazia Biondi: Le lettere della Sacra Congregazione romana del Santo Ufficio ali Inquisizione di Modena: note in margine a un regesto. In: Schifanoia. Bd. 4. 1987. S. 93-103, über die Briefe in Modena. Außerdem John Tedeschi: Fiorentine Documents for a History of the Index of Prohibited Books. In: J. Tedeschi (Anm. 3) S. 273-320, sowie Antonio Rotondò: Nuovi documenti per la storia deH"'Indice dei libri proibiti" (1572-1638). In: Rinascimento. Bd. 3. 1963. S. 145-211 über Briefbestände in Florenz bzw. Modena. Mit der Öffnung des ACDF ist auch das gesamte Archiv der Inquisition in Siena bekannt und zugänglich geworden, nachdem es um das Jahr 1910 nach Rom transportiert worden war. Noch 1972 galt es als verschollen und die Wiederauffindung als illusorisch, cf. Valerio Marchetti: L'archivio dell'inquisizione senese (Rendiconto di una ricerca in corso). In: Bollettino della società di studi valdesi. Bd 93.1972. S. 77-83, hier S. 78. ACDF fondo Siena, E-3 (Nr.l) Lre Sac. Congreg. Ab anno 1606 usque ad an. 1617, oben rechts zeitgenössisch foliiert bis f. 725; Anzahl der Briefe für 1606: 22, 1607: 23, 1608: 33, die Frequenz der folgenden Jahre (durchschnittlich 2 Briefe pro Monat) bleibt in diesem Rahmen; ACDF fondo Siena, E-3 (Nr.2) Lre Sac. Congreg. Ab anno 1618 usque ad an. 1633, ohne Foliierung, Lagen jahrgangsweise geheftet. Anzahl der Briefe für 1618: 23,1619: 23, 1620: 32, 1621: 27, 1622: 23 Briefe, usw. Diese in 11 Bänden gebundene Serie reicht bis zum Jahr 1721; eine zweite, provisorisch in 13 Schachteln gesammelte Serie umfasst die Jahre 1579 bis 1778, cf. Guida dell'archivio. Hg. Congregalo pro Doctrina Fidei. Roma 1998. Typoskript. G. Biondi (Anm. 44) S. 93 f. konstatiert für Modena eine ähnliche Frequenz des Briefwechsels. Das Faksimile eines Briefes an den Inquisitor von Modena vom Juni 1625, das den Sieneser Briefen und allen anderen, die mir bekannt geworden sind exakt entspricht, bietet A. Rotondò (Anm. 44) Tavola VII; zu den formalen Aspekten siehe auch G. Biondi (Anm.44) S. 94.
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Formulierungsvarianten etwa der Jahre 161348 und 1620/21 bestätigen das Gesamtbild mehr als daß sie es verzerren. Bei einem derart gehäuften Auftreten der Formel stia sana verbietet sich ganz von selbst die eingangs erwogene Annahme, daß ein realer Bezug auf das Befinden des Adressaten eine Rolle spielen könnte. Aber auch die Variante einer eher beliebigen Verwendung der Formeln im Sinne der Sekretärshandbücher verliert an Wahrscheinlichkeit. Um so mehr erhärtet sich unsere Vermutung, daß es sich zumindest in diesem Fall um ein dem Zufall entzogenes Element der Korrespondenz handeln muß. Das hier vorgeführte Beispiel Siena ist außerdem als repräsentativ für alle an den Kreis der lokalen Inquisitoren versendeten Briefe der Inquisitionskon^regation anzusehen. Wo immer wir auf solche Briefe stoßen, sei es im Original 9 oder als Edition,50 springt uns die charakteristische Grußformel ins Auge. Eine Möglichkeit zu systematischerer Überprüfung des Sieneser Befundes bieten die Briefe der Inquisitionskongregation nach Neapel.51 Das dortige Glaubenstribunal war allerdings nicht Teil der römischen Inquisition, sondern der bischöflichen Gerichtsbarkeit, der ein Kommissar der römischen Inquisition beigeordnet war.52 Dennoch ist die Formel si conservi sana auch hier durchgehend präsent. Sie findet sich aber von wenigen Ausnahmen abgesehen nur am Schluß der Briefe an den Vicario arcivescovile oder Vicario capitolare, niemals dagegen in denen an den Erzbischof selbst oder an den Nuntius. Die Vikare - so läßt sich folgern - sind nach Ausweis der Grußformel auf die gleiche Ebene gestellt, wie der Inquisitor in Siena und die anderen Inquisitoren im Bereich der römischen Inquisition. Die Briefe nach Neapel bieten aber noch eine weitere Überraschung. Die Überlieferung dort setzt nämlich mit Briefen Michele Ghislieris ein, jenes Dominikanermönchs aus Bosco Marengo in der Lombardei, der sein ganzes Leben mit glühendem Eifer der Inquisition gewidmet hat.53 Er war damals als cardinale Alessandrino Vorsitzender des Heiligen Offiziums in Rom und gelangte 1566 als Pius V. auf den Stuhl Petri. Von den 48 Briefen, die Ghislieri von 48
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Die Briefe des Jahres 1613 finden sich fol. 446-486; wir konstatieren folgende Varianten: et il S. Dio la guardi; et alle sue orationi mi raccommando, Dio S. nostro la salvi; N.S. Dio la salvi; et N.S.Dio la guardi; N.S. Dio la conservi, N.S.Dio la conservi sana, ... la conservi lungamente, ...la prosperi, ...la protegga, ...la contenti. Guido Dall'Olio (Bologna) danke ich Air die Übersendung von Abschriften mehrerer Briefe an die Inquisition in Bologna der Jahre 1589 und 1590. Siehe A. Rotondò (Anm. 50), sowie einen Brief Kardinal Santorios an den Inquisitor von Aquileia und Concordia, in: Domenico Scandella detto Menocchio. I processi dell'Inquisizione 1583-1599. Hg. von Andrea Del Col. Pordenone 1997. S. 241. Einen Längsschnitt durch die Korrespondenz von 1562 bis 1623 erlaubt die 1029 Dokumente umfassende Briefedition, die von Pierroberto Scaramella (Neapel) bearbeitet wird. Ich danke ihm herzlich für die Möglichkeit der Einsichtnahme ins Manuskript. Giovanni Romeo: Una città, due inquisizioni: L'anomalia del Sant'Uffizio a Napoli nel tardo '500. In: Rivista di storia e letteratura religiosa. Bd. 24.1988. S. 42-67. Vgl. Pie V. In: Dictionnaire historique de la papauté. Hg. Philippe Levillain. Paris 1994. S. 1328-1330.
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September 1563 bis Dezember 1565 als Inquisitore generale aus Rom nach Neapel schrieb, tragen 14 die Grußformel et si conservi sana. Da es niemand anders als Ghislieri war, unter dem 1564 die regelmäßigen Korrespondenzen der Kongregation etabliert wurden,54 liegt es nahe, in seiner Person den Begründer einer Tradition, eines Stils, ja den eigentlichen 'Erfinder' dieser spezifischen Grußformel der Inquisitionskongregation zu identifizieren.55 Für die anderen Empfängergruppen von Briefen der Inquisition ist die Quellenlage beim jetzigen Forschungsstand noch sehr unübersichtlich. Nach Ausweis der bereits erwähnten Auslaufregister in der Biblioteca Vaticana56 bildeten die Nuntien die zweitgrößte Gruppe von Empfängern. Gelegentlich kommen in den Nuntiaturberichtseditionen5 Briefe der Inquisitionskongregation vor und sie wurden durch die Bearbeiter oft auch als solche identifiziert. Aber in CO der Regel ließen die Editoren, wie eingangs erwähnt, die Grußformeln weg. Es 54
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Siehe G. Dall'Olio (Anm. 31) S. 250 unter Verweis auf ein Dekret vom 18.6.1564, zitiert bei Ludwig von Pastor: Allgemeine Dekrete der Römischen Inquisition aus den Jahren 15551597, nach dem Notariatsprotokoll des S.Uffizio. In: Historisches Jahrbuch. Bd. 33. 1912. S. 25 f., in welchem dem Kardinal Alexandrinus [Michele Ghislieri] die Aufgabe übertragen wird, Briefe zu empfangen und solche zu schreiben: ...curam recipiendarum literarum undecumque venientium et scribendarum habeat. Die angekommenen Briefe hat er in der jeweils nächsten Sitzung der Kongregation den Kollegen vorzutragen und entsprechend dem Willen der Kongregation zu beantworten. Daß auch Ghislieri in den eingangs geschilderten Kategorien dachte, bezeugt ein von ihm 1554 an den Vikar von Cosenza geschriebener Brief, in dem es heißt: Vostra Reverenza ha da sapere che l heresia esser tale infermitade che non così facilmente né in sì breve tempo si risana. Et chi vuol risanarla convien ritrovar bene la radice. Zitiert nach Pierroberto Scaramella: Inquisizioni, eresie, etnie nel Mezzogiorno dItalia: il peccato in moltitudine. In: L'Inquisizione e gli storici: un cantiere aperto. Tavola rotonda nell'ambito della conferenza annuale della ricerca (Roma, 24-25 giugno 1999). Roma 2000. (Atti dei convegni Lincei, Bd. 162) S. 97-108, hier S. 99. Anm. 43. Neueste Übersicht in: Kurie und Politik. Stand und Perspektiven der Nuntiaturberichtsforschung. Hg. von Alexander Koller. Tübingen 1998. Anhang. Bibliographie zur päpstlichen Politik und Diplomatie (1500-1800) I. Aktenpublikationen. Zusammengestellt von Alexander Koller. S. 415-435. Vgl. Anm 9. Walter Friedensburg bringt in NBD 1,1 (A. Koller, Anm. 57, Nr. 9) gemäß seinen Grundsätzen auch Grußformeln und Datumszeile, doch die späteren Bearbeiter gingen davon ab. Eine Ausnahme bildet die von Daniela Neri besorgte Edition der Nuntiaturberichte Giovanni Delfinos 1575-1576 (A. Koller, Anm. 57, S. 423, Nr. 37), was es uns gestatten würde, die Grußformeln der verschiedenen Absender vergleichend zu studieren; leider ist ihre Wiedergabe nicht konsequent durchgehalten sondern wird in der zweiten Hälfte der Edition aufgegeben. Lediglich Klaus Wittstatt (A. Koller, Anm. 57, S. 429, Nr. 137) hat, soweit ich sehe, den Gruß- und Anredeformeln der Nuntiaturkorrespondenzen Aufmerksamkeit geschenkt und S. LXX-LXXÜ Beispiele aus seinem Material gebracht, wobei er die kanzleiund aktenkundlichen Untersuchungen von Dörrer, Kraus und Semmler berücksichtigte; bibliographische Nachweise in: Bibliographie zur päpstlichen Politik und Diplomatie (15001800) n. Sekundärliteratur. Zusammengestellt von Peter Schmidt. In: Kurie und Politik (Anm. 57) S. 436-493, hier Nr. 272,296, 302.
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zeigt sich an diesem Beispiel, daß die Brauchbarkeit der Editionen für Fragestellungen wie die vorliegende stark eingeschränkt ist.59 Originalschreiben der Inquisition dürften sich in den Nuntiaturarchiven erhalten haben.60 Auch in Privatarchiven einzelner Nuntien liegen solche Briefe, sind aber bisher unbeachtet geblieben.61 Eine Stichprobe im Hinblick auf die im Verkehr mit den Nuntien gebräuchlichen Grußformeln ist uns ohne größeren Aufwand für das Jahr 1624 möglich gewesen durch einen Anfang des 20. Jahrhunderts über den Antiquariatshandel in den Besitz des Deutschen Historischen Instituts in Rom gelangten Band mit Originalschreiben an Carlo Carafa della Roccella, Nuntius am Kaiserhof in Wien 1621-1628.62 Der Band enthält neben den Weisungen des Staatsekretärs Francesco Barberini, die selbstverständlich den Großteil ausmachen, auch 14 Originalschreiben Kardinal Millinis, des Kardinalsekretärs der Inquisition. Diese Briefe, die ausweislich der Handschrift vom gleichen Sekretär geschrieben wurden wie jene an die Inquisitoren,63 schließen jedoch nicht mit der vertrauten Grußformel! Eine Beobachtung, die hervorgehoben zu werden verdient, denn durch sie wird unsere bereits im Falle Neapels geweckte Vermutung bestätigt, daß die Grußformel et si conservi sana lediglich für den Kreis der untergebenen Inquisitoren zum Einsatz kam. Aber die Grußformeln der Briefe Millinis an den Nuntius weisen für sich genommen wieder andere regelhafte Züge auf. In ihnen ist der Begriff der prosperità ein ständig präsentes Element, und die ebenfalls enthaltene Wendung si conservi ist die aus der Inquisitorenkorrespondenz geläufige.64 Im Blickwinkel der hier verfolgten 59
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Vgl. die Besprechung des neuesten Bandes der Kölner Nuntiaturberichte durch Markus Völkel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19.5.2001. Die von den Editoren üblicherweise angewandten 'Empfehlungen zur Edition frühneuzeitlicher Texte' in: Archiv für Reformationsgeschichte. Bd. 72. 1981. S. 299-315 ziehen eine - so Völkel unverantwortliche Zerstörung des linguistischen Befundes" nach sich. "Sprach- und rhetorikgeschichtlich sind diese unzähligen Seiten so gut wie wertlos." Bibliographische Angaben zu erhalten gebliebenen Nuntiaturarchiven finden sich in: Bibliographie zur päpstlichen Politik und Diplomatie (Anm. 58) S. 454-493 bei den einzelnen Nuntiaturen. Francesco Beretta (Fribourg) danke ich für den Hinweis auf Briefe der Inquisition an Guido Bentivoglio, Nuntius in Paris bzw. Brüssel (1607-1616), im Archivio Bentivoglio d'Aragona in Ferrara, die bereits Raffaele Belvederi in seiner Biographie des Nuntius erwähnt. Siehe Raffaele Belvederi: Guido Bentivoglio diplomatico. 2 Bde. Ferrara 1947-1948. Bd 1. S. LI: Lettere del S. Offizio a mons. Guido B. (1608-1614). 3 Bände. Deutsches Historisches Institut Rom (künftig abgekürzt DHI), Ms. 121, Lettere del Sig. Card. Barb[erini] a Mons. Caraffa, Nunzio in Germania, 1624, f. 1-434. Es ist jene aus der Sieneser Korrespondenz seit 1621 vertraute und von A. Rotondò (Anm. 44) im Faksimile veröffentlichte Hand, die unten (Anm. 81) identifiziert wird. DHI Rom (Anm. 62) f. 88: Et il S. Iddio la prosperi del continuo, et si conservi. f. 148: Et il Sig. Iddio le conceda perfine ogni felicità. f. 318: Et il S.Iddio le conceda prosperità continua et ogni bene. f. 319: Et il S.Iddio la prosperi del continuo, et conservi. f. 190: Et il S.Iddio la prosperi del continuo, et conservi.
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Hypothesen erscheinen unsere Beobachtungen ganz plausibel, denn ständigen Umgang mit Häretikern 'von Amts wegen' hatte ja nur der innere Kreis der Inquisitoren. Also war auch nur bei ihnen, die der ständigen Gefahr der 'Infektion' ausgesetzt waren, der permanente Wunsch nach Unversehrtheit angebracht. Außerdem finden sich in dem Band 32 Schreiben der 1622 gegründeten, mit der Mission beauftragten Propagandakongregation an den Wiener Nuntius. Sie tragen die Unterschrift Kardinal Bandinos und stammen aus der Feder des Sekretärs Francesco Ingoli. Die Grußformeln dieser Briefe enden - so variabel die voraufgehenden Wörter der Phrase auch immer sein mögen - in der identischen Wendung [...] offero di tutto cuore.65 Man wird auch dies kaum dem Zufall f. 191: Iddio le conceda orni prosperità maggiore. f. 226: Et il S.Iddio la prosperi del continuo, et conservi. f. 320: Et il S.Iddio le conceda prosperità continua, et ogni bene. f. 316: Et il S.Iddio la prosperi del continuo, et conservi. f. 431: Et il S.Iddio le conceda prosperità et ogni bene. f. 429: Et il S.Iddio del continuo la conservi et prosperi. f. 481: Et il S.Iddio la prosperi del continuo, et conservi. DHI Rom (Anm. 62): f. 328: Con che perfine a V.S. m'offero di tutto cuore, f. 118: Con che perfine a V.S. m 'offero di tutto cuore, f. 386: Con che per fine a V.S. m 'offero di tutto cuore, me le offero di tutto cuore, f. 363: Con che per fine a V.S. m'offero di tutto cuore, f. 245: Con che f. 305: E per fine a lei m'offero di tutto cuore, me le offero di tutto cuore, f. 385: E perfine me le offero di tutto cuore, f. 145: E perfine me le offero di tutto cuore, f. 355: E perfine me le offero di tutto cuore, f. 95: E qui perfine f. 308: Equi per fine me le offero di tutto cuore, m'offero di tutto cuore, f. 469: E qui perfine a lei m'offero di tutto cuore, f. 486.Equi me le offero di tutto cuore. f. 102: E qui f. 353: Et a V.S. perfine m'offero di tutto cuore, f. 247: Et a V.S. per fine m'offero di tutto cuore. f. 244: Et a V.S. m 'offero di tutto cuore. f. 146: Et io perfine a V.S. m'offero di tutto cuore. f. 94: Et io perfine a V.S. m'offero di tutto cuore, f . 391 : Et io perfine a lei m'offero di tutto cuore. f. 389: Et io per fine a lei m'offero di tutto cuore. f. I l i : Et io per fine me le offero di tutto cuore. f. 390: Et io per fine me le offero di tutto cuore. f. 179: Et io perfine me le offero di tutto cuore. f. 383: Et io perfine me le offero di tutto cuore. f. 103: Et io per fine me le offero di tutto cuore. f. 478: Et io me le offero di tutto cuore. f. 272: Et io a lei m'offero di tutto cuore. f. 470: Trattanto io a V.S. m'offero di tutto cuore.
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zuschreiben wollen, sondern hierin ein weiteres Indiz für den kalkulierten oder einer Art von Regelung unterworfenen Einsatz der Grußformeln auch bei anderen kurialen Amtsstellen sehen müssen. Die große Mehrzahl der Briefe, nämlich jene des Staatssekretärs an den Nuntius, läßt allerdings keinen vorherrschenden Gebrauch einer bestimmten Grußformel erkennen, sondern weist eine vergleichsweise große Variantenbreite von Formulierungen auf.66 Auf dieser hohen Ebene der diplomatischen Korrespondenzen wurde durch die verschiedenen Sekretäre offenbar jene von den Briefstellern empfohlene kaleidoskopartige Abwechslung der Formulierungen gepflegt. Hervorzuheben ist aber, daß unter den 121 Weisungen, die zwischen April 1616 und Januar 1617 im Namen des Staatsekretärs Scipione Borghese an den Nuntius Albergati in Köln hinausgingen, die Grußformel si conservi sana kein einiges Mal sich findet.67 Es bleibt schließlich noch zu fragen, ob sich auch bei den KoiTespondenzen anderer Absender als der Inquisitionskongregation an die örtlichen Inquisitoren signifikante Feststellungen im Hinblick auf die Grußformel machen lassen. Wiederum ziehen wir die Briefe nach Siena heran. Von den aus Rom gesandten Briefen der Inquisitionskongregation abgesehen, enthalten diese Bände lediglich noch solche der Indexkongregation.68 Inquisition und Index waren personell eng miteinander verflochten; eine beträchtliche Zahl von Kardinälen war in beiden Gremien vertreten. Anfang des 17. Jahrhunderts galt das für die Kardinäle Berneri (Ascoli), Sfondrati (Santa Cecilia) und Bellarmino, sowie für Arrigoni und Millini, die Kardinalsekretäre der Inquisitionskongregation. Von allen diesen Genannten liegen in den lokalen Briefsammlungen Briefe in Buchzensurangelegenheiten vor.69 Hinsichtlich der Grußformeln dieser Briefe läßt auch hier das Ergebnis an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Es sind wiederum 66
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DHI Rom (Anm. 62) fol. 284: V.S. si conservi, e me le racc[omman]do; fol. 331: EtaV.S. mi off ero di tutto cuore; fol. 411: e si conservi felice; fol. 441 : et il Sig. re la colmi delle sue grafie; fol. 451 : e pregole ogni tranquillità; fol. 456: et le prego dal Signore vere allegrezze. Ergebnis einer Stichprobe, durchgeführt anhand der vom Verfasser vorbereiteten Fortsetzung der Edition der Nuntiaturkorrespondenz Antonio Albergatis auf der Grundlage der von Wolfgang Reinhard erschlossenen, verfilmten und dem Verfasser anvertrauten Quellen dieser Nuntiatur. Weitere Stichproben an Originaldokumenten wurden durchgeführt in Archivio Vaticano (AV) Fondo Borghese II. 400 (Pubbliche dItalia, Roma 1609) 521 fol.; und AV. Segreteria di Stato. Savoia 239. 447 fol. (Register der Briefe des Staatssekretariats an den Nuntius in Turin und den spanischen Gouverneur in Mailand der Jahre 1616-1618). Auch in diesen Bänden kommt, soweit ich sehe, die für die Korrespondenz des Sanctum Officium mit den Inquisitoren charakteristische Grußformel nicht vor. Andere Absender fehlen; ein Befund, der auch für Bologna dokumentiert ist, cf. G. Dall'Olio (Anm. 31) S. 253. Zur Indexkongregation grundsätzlich F. Beretta (Anm. 31) S. 73-92 und The Italian Reformation of the Sixteenth Century and the Diffusion of Renaissance Culture: A Bibliography of the Secondary Literature (ca. 1750-1997). Compiled by John Tedeschi in association with James M.Lattis. Ferrara: Franco Cosimo Panini Editore,. 2000. Nr. 59976128.
Vgl. die von A. Rotondò (Anm. 44) S. 151-211 edierten Briefe nach Modena.
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ausschließlich die Kardinalsekretäre der Inquisition, Arrigoni und Millini, welche die charakteristische Grußformel et si conservi sana gebrauchen, auch dann, wenn sie in Sachen Buchzensur schreiben, während die Briefe der Kollegen andere 70
Grußformeln aufweisen. Die aufgeführten Beispiele haben nebenbei zu Tage gefördert, daß die Sekretäre oder Schreiber anderer kurialer Stellen einem jeweils anderen, aber gleichfalls nicht willkürlichen oder regellosen Gebrauch von Grußformeln zu folgten, wobei aber eines ganz auffällig ist. Keine andere absendende Stelle in Rom verwendete die Grußformel et si conservi sana in einer Häufigkeit, die auch nur entfernt dem Gebrauch des Hl. Offiziums in ihrer internen Korrespondenz mit den untergebenen Inquisitoren nahe gekommen wäre. Ein kurzer Blick in die Behördengeschichte71 des Hl. Offiziums soll abschließend den eigentlichen Entstehungszusammenhang der Briefe erhellen. Unter dem Vorsitz des Papstes selbst arbeiteten die die Kongregation bildenden Kardinäle einerseits, die der Kanzlei angehörenden Funktionäre Kommissar, Assessor, Notar und ihre Untergebenen andererseits. Die Briefe des Hl. Offiziums 72 fielen, wie bereits erwähnt, in den Aufgabenbereich des Cardinale segretario. Freilich konzipierte dieser die Briefe nicht selbst, sondern leistete nur die Unterschrift. Die Briefe selbst sind aus der Hand eines Sekretärs, der seiner 'famiglia' angehörte, vor der Kongregation vereidigt, und auch von dieser besoldet wurde.73 Auf seine gänzlich subalterne Tätigkeit sind die oben herangezogenen Handbücher für Sekretäre und die Literatur über die Kunst des 70
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Auch hier verdichtet sich der Eindruck, daß die verwendeten Grußformeln nicht total beliebig sind, sondern wie im Fall der Propagandakongregation (Anm. 65) einem nicht bekannten Formular folgen: N.S. le conceda ogni vero bene; ...et gli prego da Dio ogni contento; ...questi miei Ill.mi Sig.ri [...] glipregano da Dio il vero bene; ...alla quäle prego da Dio ogni bene. Vgl. ACDF. Fondo Siena. (Anm. 46) ohne Foliierung, passim. Ein signifikanter Unterschied findet sich bei näherer Betrachtung hier übrigens auch im Gebrauch der Anredeformeln. Während nämlich die Briefe der Inquisitionskongregation an die untergebenen Inquisitoren in Siena (und alle anderen Inquisitoren) mit der Anrede Äev[erendo] Padre beginnen, fangen jene der Mitglieder der Indexkongregation an dieselbigen stets mit der Anrede Molto Äfeverendo] Padre an, womit ein hierarchischer Abstand zum Ausdruck gebracht wird Auch in diesem formalen Element der Briefe liegt also eine sorgfältig beachtete Differenz zwischen den absendenden Stellen vor. Unter Einbeziehung des ACDF systematisch dargestellt bei F. Beretta (Anm. 31), besonders S. 51-72. Die römische Inquisition kannte keinen 'Großinquisitor' wie die spanische; der Papst selbst war der oberste Richter. Die der Kongregation angehörenden Kardinäle bildeten ein Gremium der 'Cardinali generali inquisitori', unter denen einer als vom Papst ernannter "primus inter pares" - eben der Cardinale segretario - gewisse Funktionen ausübte, zu denen die Führung des Siegels der Kongregation und die Abwickelung der Korrespondenzen gehörte. Vgl. oben Anm. 54. Ausweislich der Visitationsakten von 1701 wurde dieser Sekretär des Cardinale segretario auf der regulären Besoldungsliste des S.Officium Urbis geführt. Vgl. ACDF (wie Anm 39) fol. 32: Spese annue del S.Offlzio. Provisionati: Segretario del Card[inale] Segr[etario]. Das jährliche Salär betrug sc. 159:96 zuzüglich eines donativo von sc. 48, insgesamt also sc. 207:96.
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Briefschreibens nicht anwendbar. Denn ausgehend von den Notizen des Assessors, die dieser aus den Sitzungen mit den Kardinälen und dem Papst mitbrachte, bestand die Aufgabe des Sekretärs lediglich noch in der Formulierung knapper Weisungen. Aber in der Person des Sekretärs des Cardinale segretario haben wir jene Person vor uns, die letztendlich die Grußformel schrieb. Im hier eingehender analysierten Zeitabschnitt von 1606 bis 1633 lag das Amt des Cardinale segretario zunächst alternierend bei den Kardinälen Arrigoni und Millini, ab 1616 ausschließlich bei Millini, und ab 1629 bei Antonio bzw. Francesco Barberini.74 Die von diesen Kardinälen unterzeichneten Briefe sind von verschiedenen Händen geschrieben worden. Insgesamt lassen sich über charakteristische paläographische Merkmale fünf unterschiedliche Hände identifizieren,75 allerdings nur in einem Fall die dazugehörende Persönlichkeit. Da alle mit der Inquisition in Zusammenhang stehenden Personen vereidigt wurden, lernen wir aus diesen Dokumenten (soweit erhalten) zum Teil auch die Mitarbeiter des jeweiligen Cardinale segretario kennen.76 Am 14.6.1616 wird Xenophon Cherumani als Helfer für Francesco Ferentillo, Sekretär des Kardinals 77
Millini vereidigt. Seine Aufgabe bestand in der Registrierung der auslaufenden Briefe.78 Als weiterer Amanuensis, der mit dem Schließen der Briefe betraut war, wird wenig später Antoniotto Minutius, Kleriker aus Mailand vereidigt79. Wir 74
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Pierre-Noel Mayaud: Les Fuit congregatio sancii officii in...coram... de 1611 à 1642. 32 ans de la Congrégation du Saint Office. In: Archivum Historiae Pontificiae. Bd 30. 1992. S. 231289; Für mündliche Hinweise und die Überlassung eines unpublizierten prosopographischen Anhangs zur Dissertation danke ich Francesco Beretta. Darüber hinaus gab mir Herman H. Schwedt (Limburg) liebenswürdigerweise Auskünfte aus seiner umfangreichen Datensammlung. Hand A bis 6.Juli 1612 vgl. ACDF fondo Siena (Anm. 46) E-l, fol. 407, Hand B zuletzt 20.0ktober 1617 (fondo Siena E-l, fol. 697), Hand C ist nur mit ganz wenigen Schreiben vertreten, (z.B. E-l, fol. 345 vom 23.12.1611); Hand D, erstmals vertreten am 15.12.1612, (E-l fol. 379), führt die Korrespondenz Millinis bis zum 9.10.1621 (fondo Siena, E-2) und wird abgelöst von E, dessen Briefe ab dem 15.10.1621 dann den gesamten Band Fondo Siena E-2 füllen. Die oben, Anm. 48 konstatierten Formulierungsvarianten gehen im wesentlichen auf Hand "D" zurück. Als Erklärung böte sich an, daß "D" auch andere Korrespondenzen Millinis erledigte und erst ab 1616 vorwiegend mit der Inquisitionskorrespondenz betraut war. ACDF st.st. Q 1-a (1572-1574), Q 1-b (1616-1619), Q 1-c (1620-1624); Juramenta 1575 fï. ACDF st.st. Q 1-b, fol. 29r. Die 14. junii 1616 Xenophon fr. q. Latini Cherumani de loco Muterellae Status Ferentilli nullius Dioc. debens inservire RD.Francesco Ferentillo Illmi et Rmi Card. Iis Millini nec non S. Rom. et Univ. Inq. secretario per registrand. litteris Durch das Vorhandensein von Hilfskräften erklären sich die unterschiedlichen Hände in den ausgehenden Originalbriefen und den erhaltenen Registerbänden der Vatikanischen Bibliothek (cf. Anm. 43). ACDF st.st. Q 1-b, fol. 139r. Die 2.martii 1618, Antoniotti Minutii clerici Mediolanens. juramento de silentio. Coram R.P. fr e Desiderio Scaglia O.Pr. Comm. et me not.o constitutus Romae in palatio S.Inq. in mansione superiori dicti adm. Rev.Pris Commissarii. Antoniottus fil. q. Ambrosii Minutii cler. dioec. Mediolan. degens ad servitia III. D.-Cardinalis Millini secretara sacrae Congregationis sancii officii ad instantiam d. Illmi Card. Millini, qui utitur
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Et si conservi sana...
wollen nicht ausschließen, können aber auch nicht belegen, daß er identisch mit Antonio Minutoli ist, den wir wenige Jahre später als Sekretär in der 'famiglia' von Kardinal Francesco Barberini finden.80 Nach Ferentino, von dem wir nicht wissen, wann er seinen Dienst als Sekretär Millinis antrat, wird im Oktober 1621 Giacomo de Januariis (oder Giennari) mit der Aufgabe, Briefe zu schreiben und Zusammenfassungen (estratti) zu verfertigen, in Dienst genommen.81 Nur in seinem Fall ist eine Verknüpfung mit einer der fünf Schreiberhände möglich, nämlich mit der Hand 'E'. 82 Genau zum Zeitpunkt seines Dienstantrittes wechselt nämlich nicht nur die Handschrift der Briefe nach Siena, sondern dieselbe Hand schreibt auch die estratti, jene knappen Résumés des Inhalts auf der Rückseite der 83
einlaufenden Briefe. Giacomo Giennari diente Millini bis zu dessen Tod im Oktober 1629 und führte unter den Barberini dieses Amt weiter; er starb am 28.7.1642.84 Dieser wenn auch nur bruchstückhafte Einblick in die Personalsituation läßt immerhin deutlich werden, daß mehrere, zum Teil sich abwechselnde Personen aus dem Umkreis des Cardinale segretario mit der Erledigung der Korrespondenz der Inquisitionskongregation - sowohl der einlaufenden als der auslaufenden - betraut waren. Dennoch herrschte, wie wir zeigen konnten, über Jahrzehnte ein überindividueller, von den Personen der Schreiber der Briefe relativ unabhängiger Gebrauch der Grußformeln vor. Solches läßt sich eigentlich nur durch überkommene Regeln erklären, die von den verschiedenen Personen eingehalten wurden. In der Tat lassen sich solche Regeln - allerdings nur aus einer späteren Zeit - namhaft machen. Ein unscheinbares, in die Zeit um 1670 zu datierendes Konzeptblatt in einer Sammelhandschrift des Inquisitionsarchivs85 ist Beleg dafür, daß sich die vom Kommissar geleitete Kanzlei und der Schreiber des Kardinalsekretärs über die in den Korrespondenzen
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ejus opera in clauden. ep.lis. et exemplar. aliis scripturis. spectan. ad S.O. Actum Romae in Pal. S.O. pntibus Thoma de Federicis Rom.o et Joanne Bapt.a Silentio de Sancta Victoria in Picentibus subcostode huius S.O. testibus. Vgl. M. Völkel (wie Anm. 33) S. 420. Nr. 11. ACDF st.st. Q 1-c. Extensorum 1620-1624, fol. 67v: Giuramento del segretario alle lettere del card. Millini, 14 ottobre 1621, constitutus in Cancellano, coram Constantino Testi, socio comm. SO, Jacobusfil. q. Augustini de Januariis Firmanus, qui cum debeat inseruire in secretaria Ill.mi et R.mi D. Card. Millini, unius ex Inquisitoribus gnalibus, et secretarii Cong.nis Sancii Officii in describendis Iris, ac illarum summariis compilandis, certioratus per P.rem socium de fidelitate, et silentio, esercitare fedelmente. Für den Hinweis auf diesen Eintrag danke ich Francesco Beretta und Herman H.Schwedt. Vgl. Anm. 75; das Faksimile bei Rotondò (Anm. 44) gibt einen Text von Hand "E" wieder. Beobachtung von Francesco Beretta. Totenregister der Pfarrei Sant'Eustachio in Rom zum 28.Juli 1642: Jacomo Giennari secretorio del S.Offizio morí nell'infermeria dell'Em. Card. Barberini. Für die Überlassung des Zitats danke ich Herman H. Schwedt. ACDF st.st. LL 5- h, unfoliiert. Das Dokument befindet sich im letzten Viertel das Bandes. Es beginnt mit der Aufforderung: Il sig Segretario si contentará di far notare qui sotto tutti i titoli, cortesie, e sottoscrittioni, e forma di piegare cioè se colla nizza, o pure in terzo.
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einzuhaltenden Formalia abgestimmt haben, und dies vermutlich nicht erst zu diesem Zeitpunkt. Titulaturen, Anredeformen, Grußformeln, Faltung und Siegelung der Briefe stehen ausweislich dieses Dokuments in direkter Abhängigkeit von der Hierarchie der Empfanger. Die lokalen Inquisitoren rangieren dabei auf der untersten Stufe. In diesem Konzept aus der Zeit um 1670 ist die Grußformel der Briefe an die Inquisitoren nun allerdings dem Belieben des jeweiligen Schreibers überlassen. AI piacer suo ist statt der Formel selbst vermerkt. Bei den hierarchisch höher angesiedelten Empfängern war die Grußformel dagegen weiterhin festgelegt und wurde explizit benannt. Diesen Wandel können wir auch an der Korrespondenz selbst ablesen. Eine erste deutliche Veränderung war schon 1621 eingetreten. Millinis neuer Sekretär Giacomo Giennari pflegte von seinem Amtsantritt an unter wechselnden padroni mit ziemlicher Regelmäßigkeit die allgemeinere Grußformel et si conservi oder die Variante et il Signore la conservi. Ende der 1650er Jahre häuften sich dann die Anzeichen zu einer gänzlichen Auflösung der gewohnten Grußformel. Zeitgleich mit dem Auftreten anderer Schreiberhände lesen wir ab 1657 unspezifische, bisher ungebräuchliche anonyme Formeln wie e le auguro ogni bene, oder il Signore la prosperi und 1659/60 etwa durchgehend le prego contento. Läßt man die einzelnen hier referierten Beobachtungen unter der eingangs formulierten Fragestellung Revue passieren, kann man zusammenfassend vielleicht folgendes sagen. Wir können feststellen, daß im Bereich der Inquisitionsbriefe der Gebrauch der Grußformeln einerseits normiert, andererseits aber auch dem historischen Wandel unterworfen war. Die Beispiele aus den Kanzleien anderer Kongregationen haben uns gezeigt, daß auch diese Sekretäre oder Schreiber ihre Grußformeln nicht regellos einsetzten. Auch sie dürften einem Formular gefolgt sein, das hin und wieder verändert wurde. Eine Ausnahmestellung scheint das Staatssekretariat einzunehmen. Man wird darüber hinaus annehmen müssen, daß es zwischen den Kanzleien irgend eine Art von Abstimmung gegeben hat. Im Vergleich mehrerer Institutionen zeigt sich aber auch, daß sich die These von der metaphorischen Qualität der Grußformel, die für das Sanctum Officium manches für sich haben dürfte, kaum verallgemeinern läßt. Wir sind der Ansicht, daß die Floskel Et si conservi sana über einen gewissen Zeitraum als Ausdruck des Selbstverständnisses der Inquisitoren gesehen werden kann. Aller Wahrscheinlichkeit nach eingeführt durch Michele Ghislieri, den späteren emblematischen Inquisitor-Papst, hat sich im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts jene metaphorisch aufgeladenen und eine 'corporate identity' ausdrückende Grußformel etabliert, die bis in die 20er Jahre des 17. Jahrhunderts, und noch darüber hinaus in leicht veränderter Form beibehalten wurde. Diese Formel wurde in auffallender Häufung von der Inquisitionskongregation und von ihr nur in der Korrespondenz mit den Inquisitoren gebraucht. Im Begriff der 'Sanitas' konzentriert sich ein wesentliches Element des Selbstverständnisses der Inquisitoren. Dieser Begriff korrespondiert mit der übrigen von der Inquisition
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eingesetzten Metaphorik von der Häresie als gefährlicher, epidemisch auftretender, ansteckender Krankheit, die von außen kommend den 'gesunden' Binnenraum bedrohte, und den Amtsgeschäften der Inquisitoren, in deren Ausübung diese sozusagen an vorderster Front mit den 'Krankheitsträgern' in Kontakt kamen. Wir sehen in der Grußformel einen von den Zeitgenossen unbeabsichtigten, für uns aber aufschlußreichen sprachlichen Reflex der Gedankenwelt, in der die Inquisitoren lebten. Ist ihr Wandel und ihre schließliche Auflösung vielleicht in Zusammenhang zu bringen mit einer kulturellen Klimaveränderung, einem Schwinden der Phobie, daß gefährliche, von außen kommende Keime das Land bedrohten? In der Tat gibt es Hinweise darauf, daß im Pontifikat Alexanders VII.86 (1655-1667) eine gewisse Nüchternheit im Umgang mit der protestantischen Welt Fuß fasste, die mit sich gebracht haben mochte, daß das Gedankenbild der 'Infektion' durch die 'Häretiker' allmählich in den Hintergrund zu treten begann.
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Richard Krautheimer: The Rome of Alexaner VII: 1655-1667. Princeton 1985, besonders das Kapitel 10. City Planning and Politics: The illustrious foreigner. S. 131-147.
Alt und Neu. Ursprung und Überwindung der Asymmetrie in der reformatorischen Erinnerungskultur und Konfessionsgeschichte Johannes Burkhardt
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In der über alle Richtungen hinweg so überaus erfolgreichen Frühneuzeitforschung hat sich der Ansatz an den neuzeitlichen Konfessionen als ein Forschungskonzept von besonderer Integrationskraft und Nachhaltigkeit erwiesen. Von Ernst Walter Zeeden 1957 als ein früh alltagsgeschichtlich unterfütterter kirchlicher Institutionalisierungsvorgang beschrieben und analysiert ist dieser Ansatz unter dem Namen Konfessionsbildung angetreten und von Zeeden und seinen Schülern, zu denen der Autor sich rechnet, verbreitet worden.1 Ein Glücksfall für die Fortsetzung der Debatte wurde es, daß Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling gerade rechtzeitig die politisch-gesellschaftliche Funktion des Vorgangs erkannten und etwas gleichzeitig unter dem Begriff der „Konfessionalisierung" pointiert herausgearbeitet haben.2 Einige glaubten hier 1
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Ernst Walter Zeeden: Die Entstehung der Konfessionen, Grundlagen und Formen der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskämpfe, München 1965; Ernst Walter Zeeden: Konfessionsbildung, Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reformation. Stuttgart 198S; vgl. Johannes Burkhardt: Konfessionsbildung und Religionskriege. In: Ders.: Frühe Neuzeit, 16.-18. Jahrhundert. Grundkurs Geschichte 3. Königstein 1985. Kap. 4. S. 84-118; Wolfgang Reinhard: Konfession und Konfessionalisierung in Europa. In: Wolfgang Reinhard (Hg.): Bekenntnis und Geschichte. München 1981. S. 165-189; ders.: Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters. In: ZHF 10 (1983), S. 257-277; ders.: Sozialdisziplinierung - Konfessionalisierung - Modernisierung. Ein historiographischer Diskurs. In: Nada BoSkovska LEIMGRUBER (Hg.): Die Frühe Neuzeit
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dann zuviel Staat und Disziplin am Werke zu sehen, rechneten beides herunter, lobten den Widerstand, schoben die Datierung hinaus und experimentierten mit einer demokratisierten Konfessionalisierung von unten oder von selbst und entdeckten besondere Spielarten in den Regionen.3 Nachdem die Konfessionsfrage auch geschlechtergeschichtlich gestellt wurde, vollzieht sie gerade die kulturalistische Wende mit, um am kommunikations- und mediengeschichtlichen Ufer zu landen.4 Die Konfessionsforschung der großen Drei aber beweist damit nur ihre kreative und diskursive Tragfähigkeit, und über ihrer Ausdifferenzierung darf der gemeinsame Grundansatz nicht übersehen werden, auf dem die Rede von der Konfessionsbildung oder der ersten neuzeitlichen „Großgruppenbildung" (Reinhard) gründet: die Anerkennung einer parallelen, weitgehend miteinander vergleichbaren oder spiegelbildlich aufeinander zugeordneten Herausbildung verschiedener Konfessionen seit Beginn der Neuzeit. Oder anders gesagt: Alle drei Konfessionen sind erst im 16. Jahrhundert entstanden. Mit diesem geschichtswissenschaftlichen Paradigmenwechsel nicht mehr vereinbar ist die asymmetrische Vorstellung einer alten bestehen bleibenden katholischen Kirche, von der zu Beginn der Neuzeit eine neue evangelische Kirche abzweigt. Ja, bereits die Epitheta „alt" und „neu" sind zur Bezeichnung des konfessionellen Gegensatzes geradezu widersinnig. Eben diese Redeweise und Vorstellung ist aber die weithin herrschende. Auch nach einem halben Jahrhundert historischer Konfessionsbildungsforschung, die gegenwärtig bereits in die dritte Generation geht, ist im allgemein gebildeten Bewußtsein die katholische Kirche die alte und die protestantische Kirche die neue. Nicht nur, daß die gegenüber den Geschichtswissenschaften erprobt beratungsresistente römische Kirchenleitung die Ergebnisse der historischen Konfessionalisierungsforschung
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in der Geschichtswissenschaft. Forschung, Tendenzen und Forschungserträge. Paderborn 1997. S. 39-55; ders.: Konfessionalisierung, in: Anette VÖLKER-RASOR (Hg.), Frühe Neuzeit, München 2000, S. 299-303; Heinz Schilling: Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe. Gütersloh 1986; ders.: Aufbruch und Krise. Deutschland 15171648. Berlin 1988; ders.: Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555-1620. In: HZ 246 (1988), S. 1-43; ders.: Literaturberichte "Konfessionsbildung", "Konfessionalisierung", "Konfessionelles Zeitalter" (Teil I-m). In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42 (1991) und 48 (1997). Heinrich Richard Schmidt: Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert, München 1992 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte. Bd. 12); ders.: Kritische Besprechung von Wolfgang Reinhard. In: ZHF 22 (1995), S. 267-269 sowie vorzüglich: Peer Frieß, Rolf Kießling (Hg.): Konfessionalisierung und Region. Konstanz 1999 (Forum Suevicum, Bd. 3). Vgl. meinen Versuch: Johannes Burkhardt: Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617. Stuttgart 2002 und hervorragend Anne Conrad (Hg.): "In christo ist weder man noch weyb". Frauen in der Reformation und der katholischen Reform. Münster 1999 (KLK, Bd. 59); Andreas Holzem: Der Konfessionsstaat 1555-1802. Geschichte des Bistums Münster. Hg. v. Arnold Augenendt. Bd. 4. Münster 1998.
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nicht zur Kenntnis nimmt, die immerhin in leicht abgefederter Form in das katholische Handbuch der Kirchengeschichte gefunden haben, stattdessen in einem Dekret der Glaubenskongregation im Jahre 2000 die vermeinte Kontinuität einer zweitausendjährigen Kirche für sich allein reserviert.5 Auch ein ökumenischer katholischer Kirchenhistoriker, der den großen Einigungsversuch der Religionsparteien auf dem Augsburger Reichstag von 1530 mit unparteiischer Anteilnahme verfolgte, sieht nach dem Scheitern einen Graben aufgerissen zwischen „Alt- und Neugläubigen", wobei er mit den Letzteren wie selbstverständlich die Lutheraner meint.6 Und selbst die Väter der Konfessionalisierungsforschung fallen, wenn es um alt und neu geht, manchmal in eine überkommene Terminologie zurück, die mit den eigenen Einsichten nicht Schritt hält. So hat denn auch ein Historiker die Abkehr vom Konfessionalisierungsparadigma und seiner Parallelitätsvoraussetzung in Worte gekleidet, die zweifellos das allgemeine Bewußtsein repräsentieren: „Denn wer sich nur ein wenig mit der konkreten Entwicklung der Reformationszeit beschäftigt hat, weiß, daß das Luthertum und der Calvinismus durch einen tiefen Bruch mit der alten Kirche entstanden sind, während die katholische Kirche auch der Neuzeit in Kontinuität zur mittelalterlichen Kirche steht."7 Diese Auffassung eines Historikers ist nicht etwa quellenfremd, sondern sie findet sich bereits im Selbstverständnis des 16. Jahrhundert. Die Bayernherzöge wollten, wie Walter Ziegler aus seiner Perspektive ganz zu recht anführt, nicht Konfessionen bilden, sondern ganz fraglos die alte Kirche fortführen. Die katholischen Reichsstände fühlten und bezeichneten sich als die Stände „alter Religion", schrieben das sogar in den Augsburger Religionsfrieden hinein und sahen in den anderen Neuerer, die von der gemeinsamen Religion abgewichen seien. Und die Katechismen der Zeit brachten es schon auf den Punkt: Wie soll man einen Catholischen von einem Ketzer, einen alten Christen von einem neuen, mit kurtzem unterscheiden? pointierte schon Petrus Canisius diese Art der Gegenüberstellung. Man muß auf die Kirche hören und richtig: der Catholische oder alte Christ tut es, ein Ketzer und neuer Christ aber nicht.8 Gegen die „neue" Lehre Luthers erhob die alte Kirche gezielt den Anspruch, die „alte" Kirche zu sein. Das katholische Kontinuitätspostulat, demzufolge man selbst „alt", der
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Erklärung Dominus Jesus über die Einzigartigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der [katholischen, J. B.] Kirche. Pressemitteilung der deutschen Bischofskonferenz vom 5.9.2000, http:/dbk.de/presse/pm2000/pm200090502. htm. Vgl. Hubert Jedin (Hg.): Handbuch der Kirchengeschichte. Freiburg i. Br. 1967, 1975, 1985. Bd. 4. Kap. 31: Die Konfessionsbildung im 16. und 17. Jahrhundert. S. 436-446. Herbert Immenkötter: Der Reichstag zu Augsburg und die Confutatio. Historische Einführung und neuhochdeutsche Übertragung. Münster 2 1981. S. 31. Walter Ziegler: Kritisches zur Konfessionalisierungsthese. In: P. Frieß, R. Kießling (Anm. 3) S. 41-53, hier S. 46. Petrus Canisius: Catechismus. Kurtze Erklärung der fürnehmsten Stuck des wahren Catholischen Glaubens. Dillingen 1569. Frage XXII.
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Gegner aber „neu" ist, das sich über alle Krisen und Wandlungen hinweg, die hier nicht besprochen werden können,9 bis in die Gegenwart hielt, entspricht also schon dem katholischen Bewußtsein des 16. Jahrhunderts. Nur - die reformatorischen Gegner sahen das umgekehrt ganz genau so. Die reformatorische Lehre selbst verstand sich explizit als die alte Lehre, als der alte Glaube und auch als die alte Kirche und lehnte den Papst und seine Kirche als „neuen Gott, Glauben und Lehr" ab.10 Die Reformtradition der Konzile, wie die weit zurückreichenden Diskussionen um Kirchen- und Reichsreformen, boten auch in der Tat genügend Anlaß, in der Reformation „nit ein neu Ding" zu sehen.11 Um das zu zeigen, hat Melanchthon die Confessio Augustana geschrieben, so daß dieses Selbstverständnis auch in die konfessionsbegründende Bekenntnisschrift eingegangen ist. Luther selbst hat zeitlebens explizit daran festgehalten, keinen neuen Glauben, sondern die wahre alte Kirche zu vertreten und seine Gegner seinerseits der Neuerung geziehen. Die altprotestantische Orthodoxie ist ihm hier bedingungslos gefolgt und hat auch in der politischen Sprache des Reiches den katholischen Kontinuitätsanspruch nicht gelten lassen. Dieser evangelische Altersanspruch, der nicht falscher oder richtiger ist als der katholische, hat sich jedoch nicht in der gleichen Weise durchgehalten und ist oft auch im evangelischen Kulturkreis nicht mehr präsent, geschweige denn zur allgemeinen Auffassung geworden. Es gehört zu den Rätseln kognitiver Dissonanz, warum zum Beispiel ein großer evangelischer Lutherforscher wie Kurt Aland, der als Editor und Übersetzer souverän über die alten Texte verfügen mußte wie kein zweiter, gleichwohl ohne Zögern in seiner eigenen Darstellung durchgehend von der „neuen Lehre" sprechen kann.12 Des Rätsels Lösung ist, daß es zwei protestantische Traditionen gibt, eine altprotestantische des 16. und 17. Jahrhunderts und eine neuprotestantische des 18 und 19. Jahrhunderts, die auch das Bild von der Reformation und der evangelischen Konfessionsbildung überformt. Ernst Troeltsch hat das zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannt und die Begriffe einander gegenübergestellt, aber noch nicht so klar analysiert.13 Denn
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Johannes Burkharde Die ideologische Begründung des neuen Katholizismus aus der Geschichte in deutschen Texten des 19. Jahrhunderts. In: Reformationsgeschichtliche Studien und Texte. Festgabe für Ernst Walter Zeeden. Münster 1976. Supplementband 2. S. 433-460. So etwa pointiert Judas Nazarei: Vom alten und nüen Gott, Glauben und Ler. Basel 1921. Titelholzschnitt und Kommentar bei Robert W. Scribner: For the Sake of Simple Folk. Populär Propaganda for German Revolution. Cambridge 1984. S. 69 f. Vgl. Konrad Hoffmann: Die reformatorische Volksbewegung im Bilderkampf. "Alte und neue Lehre". In: Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers. Veranstaltet vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg in Zusammenarbeit mit dem Verein für Reformationsgeschichte. Frankfurt/M. 1983. S. 240 f. So 1520 beim Druck der Reformatio Sigismundi, zitiert bei Michael Giesecke: Der Buchdruck in der Frühen Neuzeit. Frankfurt/M. 1991. S. 282. So noch Kurt Aland: Die Reformatoren. 4. Aufl. Gütersloh 1986. S. 95f. Emst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. München, Berlin 1906.
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dieser Neuprotestantismus steht in einem engen Zusammenhang mit einem formalen Wandel der ganzen Geschichtsauffassung und hat sich andererseits derart mit der politischen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts vermischt, daß seinen Nachwirkungen so schwer beizukommen ist, wie andererseits denen von der alten katholischen Kirche. In dieser Fortschreibung des katholischen Kontinuitätsbewußtseins des 16. Jahrhunderts und der Gegenüberstellung eines Neuprotestantismus des 18. Jahrhunderts gründet die Asymmetrie der reformatorischen Erinnerungskultur, die von der Parallelführung der Konfessionalisierungsforschung korrigiert wurde, ihr aber immer noch Probleme bereitet. Es ist auch für forschungsstrategische nötig, die Herkunft dieser Probleme zu kennen. Im folgenden sollten dazu einmal einige Beobachtungen zur Entwicklung der evangelischen Seite bis zum Umbruch in den Neuprotestantismus publiziert werden, um damit zu weiteren terminologischen Überlegungen für die Konfessionalisierungsforschung einzuladen.
II. Der Straßburger Humanist Caspar Hedio veröffentlichte in der Mitte des 16. Jahrhunderts eine Weltchronik, die sich am Ende zu einer breiten Zeitgeschichte ausweitete. Es ist eine bewegte Zeit, die er schildert, mit den Kriegen Karls V. um die Vorherrschaft in der Christenheit, dem als großes Spektakel gegebenen „Auffrur der Pauren" und der „kläglichen trennung der kirchen zu disen Zeiten", die den hochbetagten Humanistenkollegen Jakob Wimpheling so bekümmert habe, daß er darüber 1530 verstorben sei. Nichtsdestoweniger zog der Chronist, der das folgenreiche Scheitern aller Religionsgespräche und die Erschütterung des Reiches aus der Nähe miterlebt hatte, am Ende das topische Fazit: Unnd es geschieht nichts newes under der sonnen.1* Das Geschichtsbild der Frühen Neuzeit wollte von bedeutsamen historischen Veränderungen nichts wissen. Die legitime Funktion historischer Wechselfälle war es, als Exempel eine immergültige Regel zu veranschaulichen, an die man sich zu halten hatte: Historia magistra vitae.15 Der geschichtsbildliche Sinn der komplexen Maxime war der Bann alles Neuen. Vor dieser Norm, die qualitative Veränderung in der Zeit nicht zuließ, mußten sich auch die Reformation und die protestantische Orthodoxie legitimieren. Den Verdacht, daß es sich bei den Lehren der Universität Wittenberg und den 14
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Caspar Hedio: Ein Außerleißne Chronick von anfang der weit bis auff das jar nach Christi [...] Gepurt 1548. 4. Tie. Straßburg 1541-1548. Vgl. Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlicher bewegter Geschichte. In: Reinhart Koselleck (Hg.): Vergangene Zukunft. Frankfurt/M. 1979. S. 38-66.
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kirchenpolitischen Maßnahmen in Sachsen um unliebsame Neuerungen handele, gab die reformatorische Publizistik den Gegnern zurück, am pointiertesten Luther selbst, der 1541 eine ganze Schrift dem Thema widmete: Wie aber, wenn ich beweise, daß wir bey der rechten alten Kirchen blieben, ja daß wir die rechte alte Kirche sind, Ihr aber von uns, das ist, von der alten Kirchen abtrunig worden, ein newe kirchen angericht habt wider die alte Kirche}6 Dieses Programm wird tatsächlich in einer umfangreichen Abhandlung mit glanzvoller Rhethorik und argumentativer Kraft durchgeführt. Auf die Kirche hören, könne man erst, wenn man wisse, wo sie sei, und das könne doch wohl nur da sein, wo die rechte alte Lehre vertreten wäre. Die alte Lehre wird zum Kriterium für die wahre alte Kirche, während der Papstkirche scheltwortreich ihre Neuerungen vorgehalten werden. Die Sprache der Reichsinstitution ist im Hinblick auf die konfessionelle Terminologie noch nicht umfassend untersucht, doch deuten erste exemplarische Analysen auf eine größere Zurückhaltung auf dieser politisch-rechtlichen Ebene hin, auf der man für beide Seiten akzeptable Selbst- und Fremdbezeichnung brauchte.17 Die in den Augsburger Religionsfrieden geratenen Stände „alter Religion" als Bezeichnung für die katholische Seite empfanden die evangelischen Reichsstände aber keineswegs als neutral. In den Verhandlungen sprachen sie denn oft auch distanziert von Ständen, so sich der alten Religion nennen oder der angemasten alten Religion Stände und bekämpften diese Sprachregelung auf den folgenden Reichstagen.18 Der Westfälische Friede kam dann tatsächlich ohne die zwischen den Religionsparteien umstrittenen Alters-Attributierungen aus. Die protestantische Orthodoxie aber hielt gezielt an der veränderungsfeindlichen Selbstdarstellung der Reformation fest und befand noch hundert Jahre danach: Es ist hieraus offenbar, daß D. Luthers Lehre nicht eine newe Lehre sey, wie sie im Pabstumb außgeschrien wird. Denn sie hat ihren Ursprung nicht von Menschen, drum heists ein ewig Evangelium, welches allzeit im Volck Gottes erschollen. Die Päbstische Lehr aber ist new, von Menschen erdichtet, mit Menschen witz bestetiget, durch menschliche Gewalt erhaben, den Propheten vnd Aposteln gantz unbekannt, darvmb sie auch die Hl. Schrift allein nicht zum Richter leiden kann, welches ja ein gewiß Merckzeichen ist, daß was newes 16
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Martin Luther: Wider Hans Worst (1541). In: Martin Luther. Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883-1985. Hauptwerke Abt. I. Bd. 1-60. Bd. 51. S. 478 f. Die folgenden Beobachtungen verdanke ich der vorzüglichen Zulassungsarbeit von Bent Jörgensen: Zur Entwicklung der Terminologie konfessioneller Selbstund Fremdbezeichnungen auf Reichsebene im 16. Jahrhundert. Augsburg 2001 (Mskr.). Christoph Lehmann (Hg.): De pace religionis acta publica et originalia. Das ist: Reichs Handlungen, Schriften und Protokollen über die Reichs-Constitution des Religion-Friedens. Frankfurt/M. 1707. Nr. 15. S. 31 f. Beleg nach B. Jörgensen (Anm. 17) S. 70, vgl. S. 84.
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und widriges vorhanden seyn müsse, so in den Propheten und Aposteln nicht zu finden.19 In der Ablehnung des Neuen waren sich die Konfessionen einig, der Streit ging darum, wer der Neuerer war. Der Gegensatz zum Neuen war freilich, wie in dem Zitat bemerkbar, erst näherungsweise das geschichtlich Alte in unserem Sinne. Wenn hierarchische Tradition der Vergangenheit und urkirchlich-biblische der Vorvergangenheit gegeneinander ausgespielt wurden, dann wurde das Alte zur Chiffre dafür, daß die rechte, immergültige göttliche Ordnung zur Debatte stand. Zwei einander ergänzende Wege des Geschichtsbildes hielten der protestantischen Orthodoxie jeden Gedanken fern, die Reformation hätte etwas mit Neuerung zu tun. Zum einen suchte eine neue, von Melanchthon und Flacius ausgehende Kirchengeschichtsschreibung zur Glaubhaftmachung der Übereinstimmung der lutherischen Dogmatik mit der Bibel eine Reihe weiterer ,Zeugen der Wahrheit' in allen Zeiten zu ermitteln, die gleichsam die konstante Wahrheit schon vor Luther historisch exemplifizierten. Zum anderen aber suchten vor allem des Flacius Magedeburger Zenturien20 zu zeigen, wie diese bezeugte Wahrheit im Laufe der Zeit immer mehr verdunkelt, verdeckt und verunreinigt worden sei, durch das dem 16. und 17. Jahrhundert wichtige Wirken des Satans, die Schuld des Papsttums. Luthers Tat erschien so nicht als neue Lehre, sondern als Freilegung der vorhandenen: Das klare Licht verdecket war D. M. Luther bracht ins offenbar.21 Oder unter stärkerer Betonung des außergeschichtlichen Moments: Hier wird die alte Lehr frey öffentlich verlesen Die vor Luthero schon Im Paradeys gewesen.22 19
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Friedrich Balduin: Evangelische Jubelpredigt (1617). Zitiert nach dem Nachdruck im Anhang von: Predigten und Reden in deutscher Sprache bei der dritten Säcularfeier der Reformation in der Universitätsstadt Erlangen gehalten. Hg. und mit einer Vorrede versehen von Leonhard Berthold. Erlangen 1818. S. 292. Ecclesiastica Historia integram ecclesiae Christi ideam compectens, congesta per aliquod studiosos et pios viros in urbe Magdeburgica. Cent. I-XHI (1559-1574). Vgl. die Vorrede von Centuria I und Centuria H Zitiert nach Ernst Walter Zeeden: Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums. Studien zum Selbstverständnis des lutherischen Protestantismus von Luthers Tode bis zum Beginn der Goethezeit. 2 Bde. Freiburg 1950-1952. Bd. 1. S. 73. Auf einem Faltblatt von 1730. Bei Angelika Marsch: Bilder zur Augsburger Konfession und ihren Jubiläen. Weißenhorn 1980. Abb. 117.
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Der Begriff der „Reformation" hat dieses innovationsfremde Geschichtsbild des Altprotestantismus gestützt. Als Rückverwandlung in den ursprünglich richtigen Zustand oder Wiederherstellung der rechten Ordnung gegenüber eingerissenen Mißständen war der Begriff zum Schlagwort der gesamtgesellschaftlichen Reformdebatte des 15. und 16. Jahrhundert geworden, um schließlich an der Kirchenreform haften zu bleiben. Neueren Forschungen zufolge hat sich die Bindung an eine alte Norm im außerkirchlichen Gebrauch von .reformatio' fortan aufgelöst, während sich gleichzeitig die Rückorientierung im kirchlichen Reformationsbegriff des 16. und 17. Jahrhundert noch verstärkte.23 In der Tat definierte noch 1719 die lutherische Spätorthodoxie: Reformieren heisset, einer Sache, die durch Bosheit, Unachtsamkeit oder Länge der Zeit ungestalt und verderbt worden, ihre erste und rechte Gestalt wiedergeben,24 Die Gedenkmünzen des 17. Jahrhundert behandeln die Reformation vielfach geradezu als eine Wiederherstellung der christlichen Religion, ein umfassendes Restitutionsphänomen.25 Wie eine Zusammenfassung dieses altprotestantischen Geschichtsbildes lesen sich noch 1730 die Zeilen unter einer Graphik zum Jubiläum der Confessio Augustana, auf der Luther die Bibel aus dem Dunklen hervorzieht: Als Gottes reines Wort lang war versteckt geblieben Und lag meist unbekannt im Staub bey finstrer Nacht Hat LUTHER, zu dem Werck vom Himmel angetrieben Und durch den Geist entflammt/Es an das Licht gebracht. Da Andre bald nebst Ihm/durch gleichen Strahl entzündet Aus Selbiger verfaßt die heil'ge Glaubens=Lehr/ Darinn nichts Neues sich noch Menschen Ansatz findet Das Alte stellten nur gereiniget sie her.26 Wenn so die Reformation selbst nicht eigentlich etwas Neues in die Geschichte gebracht haben sollte, so galt das für die ihr nachfolgende Zeit erst recht. 23
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Eike Wolgast: Reform, Reformation. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 5. Stuttgart 1984. S. 325, S. 331. Ernst Salomon Cyprian: Eine Schutz-Schrift vor die Reformation und überzeugende Belehrung vom Ursprung, Wachsthum und Beschaffenheit des Pabstthums. In: Hilaria Evangelica: oder... Bericht vom anderen evangelischen Jubelfest. Gotha 1719. S. 132. „Memoria jubilaei primi ob divinitus restitutam per D. Maitinum Lutherum religionem Christianam. Anno Christi MDCXVII." Bei Christian Juncker: Vita D. M. Lutheri et successuum Evangelicae Reformationis Historia Nummis CXLV atque Iconibus aliquot rarissimis, confirmata et illustrata. Frankfurt/M. u. a. 1699. S. 304 f. Vgl. weitere bei E. W. Zeeden (Anm. 21) Bd. 1. S. 73 und Bd. 2, S. 69 f. A. Marsch (Anm. 22) Abb. 93.
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Nachdem Luther im protestantischen Verständnis die volle christliche Wahrheit wiederhergestellt hatte, wobei der Reformator durchgehend als ein auserwähltes Werkzeug eines korrigierenden göttlichen Eingriffs erschien, blieb der Nachwelt wenig mehr zu tun, als an der wiedererkannten Lehre festzuhalten-. „Erhalt uns,Herr, bei deinem Wort", „Halte, was du hast"27 beginnen die charakteristischerweise gesungenen, geprägten und gepredigten Maximen, die mit der barocken Zentraltugend der Constantia zusammenstimmten. Nachdem Luther die historische Dekadenz korrigiert haben sollte, blieb allein die dogmatische Konstanz: Gottes Wort ist Luthers Lehr, darum vergeht sie nimmermehr.2* Und die Handlungsanweisung für Prediger und Gemeinde lautete griffig: Was Lutherus einmahl gelehrt Bey dem bleiben wir unverkert.29 Gerade diese versuchte Stillegung aller Religionsgeschichte durch die protestantische Orthodoxie wurde fortan problematisch. Der hochgespannte altprotestantische Identitätsanspruch mußte mit zunehmendem zeitlichen Abstand seine Stringenz verlieren. In einem ersten Schub entwickelte sich innerhalb der evangelischen Theologie selbst mit dem Pietismus ein Frömmigkeitstyp, der die lebendige religiöse Erfahrung und ihre Umsetzung ins praktische Leben über die dogmatische Richtigkeit stellte und so zur Orthodoxie, bald aber auch zur Reformation selbst, in eine gewisse Distanz geriet. In einen diametralen Gegensatz zu den Denkinhalten der Reformationszeit rückte dann die Aufklärung. Zwar greift die Alternative hier religiöses, da säkulares Denken zu kurz, aber die Orientierung der Religiosität an enthusiastischen Vernunftbegriffen, Praxisorientierung und einem optimistischen Menschenbild stellte schlechterdings das Gegenteil lutherischer Dogmatik dar. Dem 18. Jahrhundert bot auch die Gestalt des Reformators keine vollgültige Ersatz als Identitätsfigur mehr, denn die heftige grobianische Polemik und Unduldsamkeit entsprach dem Urbanen bürgerlichen Umgansstil des 18. Jahrhunderts so wenig, daß bei Pietisten wie Gottfried Arnold und vielen
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Hans Düfel: Die Reformation auf Münzen und Medaillen. In: Luther 57.1986. S. 83. Juncker (Anm. 25) S. 300. Münze von 1617. Nicolaus Selneccer: Historia oratio. Vom Leben und Wandel des ehrwirdigen Herrn und theuren Mannes Gottes D. Martini Lutheri. Deutsch Leipzig 1576. Zitiert nach E. W. Zeeden (Anm. 21) Bd. 2. S. 58.
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Aufklärern eine Distanzierung bis hin zu offener Kritik einsetzte.30 Aber auch das 19. Jahrhundert, dem die Derbheit seines reformatorischen Krafthelden eher wieder eine Freude war, empfand auf der Höhe von Reichseinung und Industrialisierung den „Contrast, dem sich kein Auge verschließen kann"31, zu den religiösen Problemen des 16. Jahrhunderts, verfügte nun aber über die milderen geschichtlichen Bewältigungsformen, die im 18. Jahrhundert aufgebaut worden sind. Denn das Bestreben der deutschen Intellektuellen, die oft Pfarrhäusern entstammten, als Theologen wirkten oder sich doch ihrem Bekenntnis verpflichtet fühlten, fand einen Ausweg: das Innovations- und Entwicklungsdenken. Es ist wichtig, zu sehen, daß dieses Denken nicht allein die Religionsgeschichte einfärbte, sondern in Deutschland zu einem guten Teil aus der Auseinandersetzung mit ihr hervorging. Das Distanzerlebnis ließ sich mit einem starken Identifikationsbedürfnis vermitteln, wenn man die ferngerückte Zeit zum Anfang der eigenen Ideale erklärte. Die Reformation aber bot auch eine Handhabe dafür: die als rückwärtsgewandt überlieferte Tat Luthers konnte als vorwärts gewandte Veränderung interpretiert werden, die auf die eigene Gegenwart zu lief.
III. Den Ansatz für eine innovativ-progressive Umwertung von Reformation und evangelischer Konfession bildet die Vorstellung einer unvollendeten Reformation, die im Pietismus begegnet: Das erste anlanget/so bin ich niemahl in der Meynung gewesen/auch noch nicht/ob wäre die Reformation Lutheri zu ihrer Vollständigkeit/wie zu wünschen/gebracht worden, erklärte sein erster Wortführer Jacob Philipp Spener. Die Wiederherstellung der reinen Lehre läßt Spener noch gelten, aber in praktischer Beziehung sei „das werck zu zeitlich stecken geblieben". Die Reformation hat also hier nicht nur etwas wiedergebracht, an dem festzuhalten ist, sondern auch etwas hinterlassen, an dem weiterzuarbeiten ist: [...] aber glaube freylich/daß mit der Reformation noch bey weitem nicht alles geschehen/was hat geschehen sollen/und an dessen verfolge die Nachkömmlinge
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Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie vom Anfang des Neuen Testaments bis auf das Jahr Christi. Frankfurt/M. 1688. T1 1. Vorrede. Vgl. auch Ndr. d. Ausgabe Frankfurt/M. 1729. Weitere Hinweise bei E. W. Zeeden (Anm. 21) Bd. 1, S. 157, 162, 181, Bd. 2, S. 218 u. ö. Julius Raebiger: Luther als Reformator der Wissenschaft. In: Luther-Vorträge. Gehalten zu Breslau aus Anlaß des vierhundertjährigen Lutheijubiläums. In Druck gegeben von dem Breslauer Luther-Comité. Kom 1883. S. 149.
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zu arbeiten billig verbunden gewesen und noch sind.32 Ernst Walter Zeeden und andere haben bereits betont, daß sich an solchen Stellen die Entwicklungs- und Fortschrittsidee im geistlichen Gewände anmeldete.33 Das ist ein wenig stilisiert, weil der reformatorische Zeitrichtungssinn bei Spener genau betrachtet noch nicht eindeutig ist und die weitere Besserung eigentlich als eine jeweils individuelle Chance, nicht als ein nicht rücknehmbarer geschichtlicher Gesamtprozeß verstanden wird. Dieser Vorbehalt gilt für alle Buchungen von Entwicklungs- und Fortschrittsdenken vor der Mitte des 18. Jahrhunderts, die stets nur einzelne Aspekte einer geschichtsprogressiven Haltung vorwegnehmen. Die pietistische Einsicht aber, daß auch nach der Reformation noch etwas zu tun blieb, aber gewann in der Aufklärung eine grundsätzliche Dimension. Der Kirchenhistoriker der Aufklärung, Johann Salomo Semler, wandte sich wie Spener gegen die orthodox-populäre Vorstellung, daß Luther die Reformation volkomen vollendet34 habe, und setzte programmatisch dagegen: Ich habe aber darauf besonders gesehen, daß man sich nicht an eitler Einbildung, und ungegründeter Zuversicht gar zu grosse Vorstellungen von dieser an sich grossen Sache mache; als wäre die Reformation der öffentlichen Kirchenverfassung ein für allemal nun vorbey, und so volkommen bewerkstelliget worden, daß es unfelbar eine Versündigung und strafbare Vermessenheit seie, wenn man ihre Fortsetzung und Erweiterung hoffet und wünschet.35 In dem Nachdruck, der hier auf die Weiterführung der Reformation gelegt wird, verliert sich der Gedanke einer Rückbindung der Reformation an Altes oder Immergültiges: Sie wird selbst zu einer vorwärtsgerichteten Veränderung. Auch die Veränderungen der Lehre sind nun nicht mehr grundsätzlich suspekt: Gegen den bekannten Vorwurf Bossuets, die Protestanten hätten ihre Lehren vielfach geändert, stellt Semler in seiner Lebensbeschreibung die Auffassung, Unveränderlichkeit sei eben ein katholisches und keine protestantisches Prinzip.36 Vornehmlich hoffe ich endlich Leser davon zu überzeugen, daß es nie eine, ein üer 32
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Philipp Jacob Spener: Theologische Bedenken und andere brieffliche Antworten auf geistliche Materien. 4 Bde. Halle 1701 ff. Bd. 3. S. 179 f. In der Teiledition von E. W. Zeeden (Anm. 21) Bd. 2. S. 198 f. E. W. Zeeden (Anm. 21) Bd. 1. S. 165. Rezipiert und weiterentwickelt von Heinz-Hermann Brandhorst: Lutherrezeption und bürgerliche Emanzipation. Studien zum Luther- und Reformations Verständnis im deutschen Vormärz (1815-1848) unter besonderer Berücksichtigung Ludwig Feuerbachs. Göttingen 1981. S. 28 f. Vgl. den Fortgang des Zitats: „Daher ich freylich verlange/daß nicht nur die sache wiederum in den stand möge gebracht werden/wie sie bey Lutheri Zeiten gestanden/sondern daß auch dasjenige/was damals zurück geblieben/ersetzet würde." Johann Salomo Semler. Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchengeschichte. 3 Bde. Bd. 2. Halle 1774. Vorrede b 2. Nach E. W. Zeeden (Anm. 21) Bd. 1. S. 231 f.
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allemal abgemessene unveränderliche Vorstellung des Inhalts der christlichen Lehre und Religion gegeben habe,31 lautete nun das Allgemeinprogramm seiner Kirchengeschichte. Auf dieser Grundlage konnte sich der Neuprotestantismus am Ende auch zu einer institutionellen Neuerung bekennen. Der Historiker Eichhorn resümierte 1806 in einem beifälligen Sinne: „Indessen war nun klar, die Neuerer waren keine bloße Secte der alten Kirche, sondern eine völlig neue Kirche."38 Die Reformation wurde zum Prototyp einer positiv belegten Veränderungswahrnehmung der Geschichte. Das restitutive Verständnis von Reformation schlug in ein innovatorisches um und die evangelische Konfessionsbildung wurde zu einem gutgeheißenen Gründungsakt. Diese am reformatorischen Modell miterprobte positive Haltung zur Veränderung in der Zeit entwickelte eine Reihe von thematischen Verdichtungen, Affinitäten und Argumentationsfiguren, die auch in die politische Kultur eingingen. Auf einige sei hingewiesen: 1. Seitdem die Reformation in der Aufklärung ihre restaurative Rückbindung verloren hatte, konnte sie auch als Revolution bezeichnet werden.39 Daß Revolution einmal selbst einen zurückdrehenden Sinn haben konnte, spielte dabei keine Rolle mehr, ebensowenig aber war ursprünglich ein sozialrevolutionärer Sinn damit verknüpft. Semler setzte häufig für Luthers Reformation Revolution im Sinn einer Umwälzung, einer großen Veränderung in der Zeit.40 Auch bei Michael Ignaz Schmidt und anderen bewirkte Luther in einem neutralen vorwärtsgewandten Sinne eine .Revolution'.41 Schon den ersten deutschen Beobachtern der französischen Revolution drängten sich weitergehende Parallelen zur Reformation auf. Karl Friedrich Reinhard verglich enthusiastisch den plötzlichen Sturz der „willkürlichen Gewalt" des französischen Königtums mit derjenigen der päpsdichen Hierarchie42 im 16. Jahrhundert, und der Mainzer 37 38
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J. S. Semler (Anm. 35) Bd. 2. Vorrede, a 3. Johann Gottfried Eichhorn: Geschichte der drey letzten Jahrhunderte. 6 Bde. Göttingen 1803 ff. Bd. 3. S. 457. Vgl. allgemein Winfried Becker: Reformation und Revolution: Die Reformation als Paradigma historischer Begriffsbildung, frühneuzeitlicher Staatswerdung und moderner Sozialgeschichte. 2. Aufl. Münster 1974; Reinhart Koselleck: Revolution. In: Geschichtliche Grundbegriffe (Anm. 23) Bd. 5. Die dort bereits gegebenen Belege S. 176, 722 und 724 (Herder), bes. S. 741 für das revolutionäre Verständnis von Reformation sind hier nicht wiederholt. Vgl. E. W. Zeeden (Anm. 21) Bd. 1. S. 238 f., S. 241. Michael Ignaz Schmidt: Geschichte der Deutschen. 5 Bde. Frankenthal 1793. S. 51. Karl Friedrich Reinhard: Übersicht einiger vorbereitenden Ursachen der französischen StaatsVeränderung. In: Thalia. H. 12. 1791. S. 30-77. Zitiert in der Edition von Horst Günther: Die Französische Revolution: Berichte und Deutungen deutscher Schriftsteller und Historiker. Hg. von Reinhart Koselleck, Horst Günther. Frankfurt/M. 1985 (Bibliothek der Geschichte und Politik. Bd. 12). S. 200. Weitere Parallelen in diesem Band S. 276, S. 286 (Konrad Engelbert Oelsner).
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Klubist und ehemalige Theologieprofessor Georg Pape nannte die französische Verfassung zustimmend das „zweite Evangelium" und ein anderer Autor fügte hinzu: "Die Reihe ist jetzt nicht an Deutschland, durch eine Revolution erschüttert zu werden; es hat die Unkosten der Lutherischen Reformation getragen so wie Holland und England, jedes zu seiner Zeit, den Schritt, den sie zur sittlichen und bürgerlichen Freiheit vorwärts taten, mit einem blutigen Jahrhundert haben kaufen «¿43
müssen. Der entwicklungsgeschichtliche Zusammenhang zwischen Reformation und Revolution, der sich hier angedeutet findet, wird 1802 von Saul Ascher zu einer politisch-sozialen Fortschrittsfolge geschichtsphilosophisch ausgedeutet.44 Hegel hat dann im großen Stil die Reformation als eine revolutionäre Station im bürgerlichen Freiheitsprozeß gedeutet.45 Noch Treitschke hielt im Sinne der historisch bedeutsamen Neuerung daran fest: „Gewiß war Luther's Tat eine Revolution, und da der religiöse Glaube im innersten Kerne des Volksgemüths wurzelt, so griff sie in alles Bestehende tiefer ein, als irgend eine politische Umwälzung der neuen Geschichte."46 Noch folgenreicher aber wurde diese ursprünglich bürgerlich-liberale Deutung der Reformation durch ihre marxistische Adaption. Nachdem bereits Georg Sartorius unter dem Eindruck der französichen Revolution 1795 eine sozialgeschichtlich interessierte Bauernkriegsmonographie vorgelegt und von einer „bürgerlichen Revolution" gesprochen hatte, und seither dieses Seitenstück der Reformation bei Georg Zimmermann, Ferdinand Friedrich Oechsle und anderen viel liberale Sympathie auf sich gezogen hatte, überantwortete Friedrich Engel, nun unter dem Eindruck der Revolution von 1848, Bauernkrieg und Reformationszeit endgültig einer unter dem nämlichen Revolutionssignum geführten historischpolitischen Debatte.47 Das im Revolutionsbegriff pointierte innovatorische Verständnis der Reformation hat einen politischen Diskurs des im Sinne des Geschichtsbildes progressiven Lagers begründet, der bis an die Schwelle der Gegenwart ausgetragen wurde. 43
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Georg Forster: Parisische Umrisse (1793). Paris, den lten Wintermonats im 2ten Jahr der Republik. In: R. Koselleck, H. Günther (Anm. 42) S. 607 f.; ähnlich S. 687. Saul Ascher: Die Revolution in geschichtsphilosophischer Perspektive. In: Saul Ascher: Ideen zur natürlichen Geschichte der politischen Revolutionen. Repr. d. Ausg. von 1802. Kronberg 1975. S. 83, S. 160. Vgl. Textauszug und Analyse in: Jörn Garber (Hg.): Revolutionäre Vernunft: Texte zur jakobinischen und liberalen Revolutionsrezeption in Deutschland 1789-1810. Kronberg 1974. S. 209-213. Vgl. die zusammenfassende Analyse bei H.-H. Brandhorst (Anm. 33) S. 46 f. Heinrich von Treitschke: Luther und die deutsche Nation. In: Heinrich von Treitschke (Hg.): Historische und Politische Aufsätze. Leipzig 1897. Bd. 4. S. 377-396, zitiert S. 384. Georg Sartorius: Versuch einer Geschichte des deutschen Bauernkriegs oder der Empörung in Deutschland zu Anfang des 16. Jahrhunderts. Berlin 1795. S. 44; Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg (1850). MEW. Bd. 16; vgl. dazu Johannes Burkhardt: Das nationale Interesse am deutschen Bauernkrieg in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. In: Canadian Review of Studies in Nationalism 2.1974. S. 38-69, S. 47 f., S. 80.
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2. Ob die Reformation eine Revolution gewesen sei, war auch innerprotestantisch nach Diskreditierung der Französischen Revolution in Deutschland umstritten, umso enthusiastischer aber nahm man sie im 19. Jahrhundert zum Bürgen des Fortschritts. Aus der Distanz zur Dogmatik des 16. Jahrhundert hatte die Aufklärung befunden, daß auch „in der Lehrart manches gebessert" gehörte.48 Die Reformation war nicht einfach eine Änderung, der andere folgten, sondern zunächst eine „Kirchenverbesserung", die fortzusetzen war und selbst in der Reformationspredigt seit Anfang des 19. Jahrhundert aus der Kirche hinausdrängte: „der Kirchenbesserung des XVI . Jahrhunderts und ihrem mächtigen Einfluße verdanken wir das Licht, in welchem wir leben, die Freiheit, die wir genießen."49 Die Lichtsymbolik der Aufklärung ist direkt aus der reformatorischen hervorgegangen, aber es handelte sich nun nicht nur um die Aufdeckung mehr des vorgängig vorhandenen Glaubenslichts, sondern die Reformation erschien als eine emanzipatorische Illumination der Geschichte: ,3s brach endlich der Tag an. Je höher das Sonnengestirn über den Horizont rückte, je mehr der Nebel zerfloß, je weiter rings umher die Gegenstände ins Licht traten, desto mehr verlohr sich der nächtliche Schauer des Volks, aber zugleich die nächtliche Wichtigkeit der Priester. Muth beseelte das erwachende Volk; es fühlte sich volljährig, kündigte dem Vormunschaftsrathe der Hierarchie den Gehorsam auf."50 Das aufgeklärte Geschichtsbild, in dem die Reformation eine Schlüsselstellung gewonnen hatte, wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts popularisiert und zu den überlieferten geistlichen Melodien mit neuen Texten eingesungen: Den Erdkreis dekte Finsternis; Die Völker irrten, ungewis. Umsonst! gestärkt durch Deine Kraft, Erhellt durchs Licht der Wahrheit, rafft Ein Glaubensheld - Du warst mit ihm! Sich auf, und trozt dem Ungethüm. Es widerstrebt. Er steht und spricht In deinem Namen: Werde Licht! Dein Licht ging auf, und aus dem Staube 48 49
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J. S. Semler (Anm. 35). Franz Volkmar Reinhard: Sämmtliche zum Theil noch ungedruckte Reformationspredigten. Hg. von Leonhard Bertholdt: 3. Bde. Sulzbach 1823-1825. Bd. 2. S. 99 (Reformationsfestpredigt von 1805). Karl Dietrich Hüllmann: Über Luthers Denkmahl. Frankfurt/O. 1805. S. 9.
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Hub die zertret'ne Menschheit sich, Und Vorurtheil und Aberglaube Und jede Truggestalt entwich. Wer Menschenwürde fiihlt und ehrt Und Menschwohlfahrt liebt, Und, durch die Wahrheit aufgeklärt, Wie Luther, Tugend übt, [...].51 Besonders tat sich die aufgeklärte Kanzel hervor in der Einübüng des reformationsbezogenen Fortschrittsdenkens, das in einer gewissen inhaltlichen Leere doch gerade den progressiven Richtungssinn fixierte. So predigte man 1817 über die Reformatoren: Ihr Jahrhundert legte nur den Grund zu der Fortbildung der Reformation für künftige Jahrhunderte, zu den muthig geführten Kämpfen des siebenzehnten, zu den freieren und thatkräftigeren Fortschritten im achtzehnten Jahrhunderte, und zu den Warnungen und Hoffnungen, welche uns die begonnene neue Zeit für künftige Zeiten ertheilt.52 Und in einer gleichzeitigen anderen Revolutionspredigt kulminierte die Fortschrittshaltung in einer Ermutigung, die im Jahr des Wartburgfests auch polititsche Assoziationen erlauben mußte: Der Augenblick ist dringend, ist günstig, ist einzig: Auff! Auff.I53 Die der gesellschaftspolitischen Diskussion des 19. und 20. Jahrhundert zentrale Fortschrittsidee stützte sich nicht zuletzt auf das Reformationsbild und die Leistungen der Kanzel, wobei eine eigentümliche Inhaltsleere der Einübungsphase die Füllung mit politischen Inhalten wie deren Austauschbarkeit erleichtert haben mag. 3. Mit einer politischen Idee aber war die Fortschrittsidee im Kontext der Reformationsgeschichte fest verknüpft worden: dem Freiheitspostulat. Es gibt drei geschichtsbildliche Ursachen dafür. Die Freiheitsforderung diente zunächst der Überbrückung der Distanz zur Reformationszeit: Wenn man sich denn mit Luthers Lehre nicht mehr identifizieren konnte, so doch mit der von Luther in Anspruch genommenen Lehrfreiheit. In den Augen der aufgeklärten Theologie 51
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Gottfried Jakob Schaller: Gesänge auf das Reforamtionsfest von 1817. 2. Aufl. Hagenau o. J. Zitiert sind Einzelverse verschiedener Lieder: S. 3, S. 4, S. 6, S. 12. Gottlob Philipp Christian Kaiser: Einige Predigten mit Rücksicht auf die Ereignisse der Zeit und an den Festtagen der Jahre 1817 und 1818. Erlangen 1818. S. 213 f. Johann Heinrich Bernhard Daeseke: Predigten zur dritten Jubelfeier der evangelischen Kirche: vor der St. Ansgarii Gemeinde in Bremen gehalten. Lüneburg 1817. 7. Predigt. S. 148. Vgl. zum Wartburgfest S. 89.
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setzt Luther der päpstlichen Macht nicht mehr einfach die richtige, sondern „seine freien Einsichten, vom Inhalt der Bibel" entgegen, und analog nimmt man diese Freiheit selbst in Anspruch.54 Im Anti-Goeze hat Lessing diese Argumentationsfigur zur Verteidigung eines Theologen seiner Zeit auf die Formel gebracht: Was hatte Luther für Rechte, die nicht noch jeder Doktor der Theologie hat? Wenn es itzt keinem Doktor der Theologie erlaubt sein soll, die Bibel aufs neue und so zu übersetzen, wie er es vor Gott und seinem Gewissen verantworten kann, so war es auch Luthern nicht erlaubt.55 Dieses protestantische Formalprinzip, das sich aus der geschichtlichen Veränderbarkeit theologischer Lehre legitimierte, setzte an die Stelle inhaltlicher Übereinstimmung die Identifikation mit der innovatorischen Tat und hat so einen Teil des reformatorischen Freiheitspathos des 19. Jahrhundert getragen. Die zweite Verbindung mit dem progressiven Geschichtsbild gründet in der Abwertung des Alten. Denn das aufgeklärte Freiheitsverlangen richtete sich nicht einfach gegen Zwang, Vorurteil und Macht an sich, sondern als Macht der Vergangenheit. Das innovatorische Verständnis der Tat Luthers leistete hier Argumentationshilfe: Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöset (Lessing).56 Leicht geht die religiöse Lehrfreiheit dabei schon im 16. Jahrhundert in aufgeklärte Denkfreiheit über, so selbst in einer kirchenamtlichen Handreichung, in der es über die Reformationszeit heißt: Mehr als vorher fühlt der menschliche Geist seine Selbständigkeit; ehe er glauben soll, will er untersuchen rufen, und verschmäht die Rechte des Herkommens, die Aussprüche, die ihre Gültigkeit vor dem Richterstuhle der Vernunft oder der Schrift nicht zu erhärten vermögend sind51 Damit aber wurde die Reformation selbst nicht nur zu einem Modell des Freiheitserwerbs, sondern es stellte sich eine gewisse "Kontinuität der Freiheit" zwischen ihr und der eigenen Gegenwart her,58 die zugleich als eine progressive gedacht wurde. Mit der Überheblichkeit einer Spätzeit reimte 1839 ein Festgedicht des populäraufgeklärten neu-protestantischen Geschichtsbilds folgendermaßen zusammen: Jahrhunderte zurückfährt uns die Feier, 54 55
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J. S. Semler (Anm. 35) Bd. 2. S. 349. Gotthold Ephraim Lessing: Anti Goeze. In: Gotthold Ephraim Lessing. Werke. Tl. 23. Frankfurt/M. o. J. S. 193. G. E. Lessing (Anm. 55) S. 160. Ausschreiben des Oberconsistorial=Directoriums Augsburgischer Confession im Ober= und Nieder=Rheine die bevorstehende Saecular=Feyer des Reformations=Festes betreffend. Straßburg 1817. S. 5. Reformations=Almanach für Luthers Verechrer auf das evangelische Jubeljahr 1817. Hg. von Friedrich Keyser. 1. Jg. 2. Aufl. Erfurt 1817. Widmung.
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wo neu gestrahlt das hehre Glaubenslicht. Gleich wie zuletzt durch finst're Nebelschleier Der Sonne Glanz doch allbesiegend brach, Bald hob der Geist sich kuhner nun und freier, Da rege Forschung ward zur Heil'gen Pflicht Als Losung galt ein stetes Vorwärtsschreiten Doch liegt das Ziel uns noch in fernen Weiten.59 Die von Luther in Anspruch genommene Glaubensfreiheit wurde zur Denkund Geistesfreiheit weiterentwickelt und zu einem geschichtsphilosophischen Prozeß ausgedeutet. Hegel erläuterte seinen Berliner Hörern den Sinn der Reformation folgendermaßen: Hiermit ist das neue, das letzte Panier aufgethan, um welches die Völker sich sammeln, die Fahne des freien Geistes, der bei sich selbst und zwar in der Wahrheit ist, und nur in ihr bei sich selbst ist. Dieß ist die Fahne, der wir dienen, und die wir tragen. Die Zeit von da bis zu uns hat kein anderes Werk zu thun, als dieses Princip in die Welt hineinzubilden.60 Seit dem Wartburgfest von 1817 wurde diese sich verwirklichende Freiheit inhaltlich erweitert um die bürgerliche und politische Freiheit, die sich mit ganz konkreten liberalen Forderungen verbinden konnte: „Die Feyer der Reformation ist noch nicht ganz aufrichtig gewesen, wenn im protestantischen Deutschland noch nicht allgemein die Freiheit der Presse anerkannt ist" 61 Das Wartburgfest war freilich eine avantgardistische Besonderheit mit andersartigen Tendenzen auch zum nationalen Freiheitspathos, während die aus der Aufklärung hervorgehende liberale Öffentlichkeit die reformatorische Freiheit erst einmal zu einer konstitutionellen weiterentwickelte. In der repräsentativen Eingabe eines Leipziger Bürgervereins von 1839 zur Errichtung eines Lutherdenkmals geht vom 16. Jahrhundert an ein „Strahl der religiösen Freiheit" aus, der über die Sprache die deutsche Dichtung erreicht habe - denn die allgeliebten Meistersänger der neuen Zeit, Geliert, Lessing, Klopstock, Bürger,
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Genaue und ausführliche Beschreibung der am Reformations=Fest am 1. und 2. November 1839 in Berlin, Spandau und den übrigen Städten der Mark stattgefundenen Feierlichkeiten und Aufzüge. 2. Aufl. 1840. S. 7. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837). In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. 22 Bde. Hg. von Hermann Glockner. Bd. 11. Stuttgart 1949. S. 523. Lutz Winckler: Martin Luther als Bürger und Patriot. Das Reformationsjubiläum von 1817 und der politische Protestantismus des Wartburgfestes. Lübeck 1969 (Historische Studien. Bd. 408). S. 35 ff.
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Goethe, Wieland, Voß, Schiller, Hebel, Uhland und Rückert, sind Protestanten62 und auch in Sachsen erfreuliche Folgen gezeitigt habe. Die Adresse endet mit einem Hoch auf den König - den Begünstiger „bürgerlicher Freiheit" und „Erhalter unserer Constitution".63 Das liberale Ideensyndrom steht so in einem argumentativen, oft entwicklungsgeschichtlich gedeuteten Zusammenhang, der in der reformatorischen Innovation seinen Ursprung verehrte. Der reformationsgeschichtliche Ansatz von Aufklärung und Liberalismus band dabei die Freiheit an den Fortschritt als autoritäts- und traditionsüberwindendes Argument und am wirksamsten als Postulat eines mit dem Fortschritt zusammenfallenden freiheitsverwirklichenden Geschichtsprozesses, in dem die Reformation den Anfang bildete. 4. In dieser entwicklungsgeschichtlich-progressiven Perspektive fand schließlich auch das liberale Toleranzbedürfnis ein neues Argument. Pietistischen und frühaufgeklärten Ursprungs ist das Zugeständnis der rechten Glaubenshaltung und des Freiheitsprinzips an den Gegner, aber den entscheidenden Schub bekam die tolerant stimmende Relativierung des Wahrheitsanspruchs durch die Erkenntnis der geschichtlichen Veränderung aus der Religionsgeschichte. Aus dem protestantischen Bekenntnis zu einer neuen Kirche heraus wurde der erbitterte Streit um die einzig wahre alte Kirche gegenstandslos, ja man konnte diese nun als alte anerkannte katholische Kirche als „Mutter" gelten lassen, von den mehr akademisch bleibenden genetisch-dialektischen Deutungen des Trennungsprozesses als notwendige Fortschrittsgeschichte zu schweigen.64 Eine andere geschichtliche Argumentationslinie war es, nur die alte Kirche zu tadeln, gegen die sich Luther zu Recht gewandt habe, die selbst reformierte katholische Kirche aber davon auszunehmen. So schon Semler unter Anerkennung der Leistung der Jesuiten in populärer Fassung zum Reformationsfest: Was ich heute von dem ganz verdorbenen Zustand der Kirche vor der Reformation gesagt habe, ist erwiesene historische Thatsache, welche selbst katholische Schriftsteller und der aufrichtige Papst Adrian VI. eingestanden haben. Und dies muß gesagt werden, um die Nothwendigkeit der Reformation zu beweisen. Und das Licht der Wahrheit, das durch die Reformation 62
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Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Über den sittlichen Geist der Reformation in Beziehung auf unsere Zeit. In: Reformationsalmanach auf das Jahr 1819. Hg. von Friedrich Keyser. Erfurt 1819. 2. Jg. S. 229 f. Beschreibung der Feierlichkeiten, mit welchen das dritte Säcularfest der Einführung der Kirchen=Reformation am Pfingstfest (den 19. Mai) des Jahres 1839 in Leipzig und am 21. Mai in Zuckelhausen, Holzhausen und Eicha begangen wurde. Hg. von Karl Christian Kanis. Gietschel. Leipzig 1839. S. 6. Beide Argumente werden verknüpft bei Christian Ernst Nikolaus Kaiser: Ansichten der Reformation in ihrem Zusammenhange mit der christlichen Kultur und der Feier ihres dritten Jubiläums. Eine Vorlesung in der Synodalversammlung zu Ansbach den 9. September 1817. Ansbach 1817. S. 5 ff. Vgl. J. S. Semler (Anm. 35) Bd. 2. S. 620.
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aufgegangen ist, hat seinen Glanz auch über die katholische Kirche, wenigstens in Deutschland,verbreitet. Daß auch da die gröbsten Mißbräuche abgeschafft, die Sitten der Geistlichkeit verbessert, sie selbst mehr aufgeklärt, und die Herrschaft der Päpste mehr gemäßigt worden - das alles haben die Katholiken der Reformation zu danken, und dürfen sich also mit uns freuen.65 Diese Ausweitung des reformatorischen Fortschrittprinzips auf den konfessionellen Gegner, die zu Anfang des 19. Jahrhundert recht verbreitet war, fand jedoch bald entschiedenen Widerspruch. Und das zuallererst vom konfessionellen Gegner selbst, der sich keineswegs in alt und neu auseinanderdividieren und in seiner neuen Hälfte dem Lager des Fortschritts zurechnen lassen wollte, sondern nun ein noch umfassenderes Traditions- und Kontinuitätsbewußtsein auch politisch dagegenstellte.
IV. Im Neuprotestantismus konnte also die dem Altprotestantismus suspekte Vorstellung, etwas Neues zu sein, akzeptiert, positiv bewertet, ja von den Protestanten geradezu als eine Auszeichnung betrachtet werden. Die konstitutive Verknüpfung mit dem ganzen modernen Geschichtsbild und die politische Anreicherung mit den hier verfolgten aufgeklärt-liberalen Ideen um Innovation, Fortschritt, Freiheit und Toleranz gab ihm sein modernes Profil und eine kaum noch befragbare Geltung - und ließ den Katholizismus erst recht „alt aussehen". Dem Altkatholizismus des 16. Jahrhunderts, dessen Alters-Kontinuität und Traditionsbewußtsein zum 19. Jahrhundert hin zwar gewaltig ausgebaut, aber nicht prinzipiell geändert wurde, wurde nicht der Altprotestantismus, sondern in Wahrheit der um 180 Grad gewendete Neuprotestantismus gegenübergestellt und auf das 16. Jahrhundert zuriickprojiziert. Die Asymmetrie der reformatorischen Erinnerungskultur ist also eigentlich eine Asynchronie. Erst durch die Parallelschaltung der Konfessionalisierungsforschung ist diese auch zeitliche Asymmetrie überwunden worden. Im evangelischen Bereich konnte sie dabei an neuprotestantischen Einsichten anknüpfen, nicht gerade an den inhaltlichen Modernisierungen von gestern, aber an andersartigen Entwicklungsperspektiven in die Moderne und einer prinzipiell positiven Konnotation einer evangelischen Konfessionsbildung. Aber das neuprotestantische Innovationsmonopol wurde namentlich von Wolfgang Reinhard nun auch dem Katholizismus zugestanden, nicht immer zur Freude von 65
Philipp Jacob Engel: Die Frage: Wozu sollte dann die Jubelfeyer der Protestanten im Jahre 1817 dienen? Beantwortet am Schluß seiner den lten November 1817 gehaltenen Reformations=Predigt. Straßburg 1817. S. 4.
Alt und Neu.
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dessen Anhängern. Wir haben es also, wenn wir den in diesem Punkt von Luther nicht so verschiedenen Calvinismus einbeziehen, mit drei Konfessionen zu tun, die alle in ihrem Selbstverständnis alt und älter waren, de facto und in ihren Wirkungen aber moderne Neugründungen. Alt und neu spielten sehr wohl zusammen im 16. Jahrhundert, aber jeweils in den einzelnen Konfessionen und nicht in ihrem Gegenüber. Aus dieser Einsicht sollten wir terminologische Konsequenzen ziehen und im interkonfessionellen Kontext nicht länger von alt und neu sprechen. Wenngleich hier eine alternative Begrifflichkeit für viele Sachverhalte und Entwicklungsstadien noch gefunden werden muß, sollten 'Altgläubige' und 'Neugläubige', eine „alte" und „neue" 'Lehre', 'Religion' oder 'Kirche' und die dahinter stehenden Vorstellungen endlich aus historischen Texten verschwinden. Zum einen um der historischen Unparteilichkeit willen, um nicht dem einen zeitgenössischen Selbstverständnis gegen das genau so prononcierte andere Recht zu geben. Zum anderen, weil alle Konfessionen in der Tat jeweils ein Gemisch von Alt und Neu waren, Neugründungen des 16. Jahrhunderts, die gleichzeitig auf unterschiedliche Traditionsbestände der mittelalterlichen Christenheit zurückgriffen. Und schließlich, weil eben der in seiner Herkunft erläuterte konventionelle Gebrauch von alt und neu in der Reformationsgeschichte eine Breitenrezeption der Konfessionalisierungsparallele behindert. Es bedarf auch bei der Verbreitung von Gutem und Richtigem gegen verfestigte Geschichtsbilder einer gewissen Sprachpolitik. Der bewußtere Gebrauch oder Nichtgebrauch von „alt" und „neu" kann über die Fachgrenzen hinaus ein Forschungsparadigma besser wahrnehmbar machen, das es verdient hat.
III. Nepotismus, Papstfinanz und römische Elitenverflechtung
Einführung Volker Reinhardt
Die Arbeiten Wolfgang Reinhards zu 'diesen' Themenfeldern eröffnen eine neue Forschungsepoche. Durch Übertragung sozial- und wirtschaftshistorischer Fragestellungen und Methoden, Modelle bildender Theorie wie quantifizierender Praxis, auf das frühneuzeitliche System Rom markieren sie für das in dieser Hinsicht weitestgehend brachliegende Untersuchungsgebiet mehr als einen Austausch von Perspektiven: einen Paradigmenwechsel. Wie sehr dieser methodische Umsturz seinerzeit von repräsentativen Vertretern der Disziplin Kirchengeschichte inhaltlich und nicht zuletzt auch begrifflich und sprachlich als Zäsur, als Bruch und wohl letztlich auch als Delegitimation, ja als Profanierung im doppelten Wortsinn verstanden wurde, spiegeln frühe Rezensionen. Dazu bestand kein Anlaß - hier und in den anderen bahnbrechenden Arbeiten zu diesem Themenkomplex geht es zu keinem Zeitpunkt um affektgeladene Anklage im Geiste von Korrektheiten des späten 20. Jahrhunderts, sondern um Erklären aus Zeitnormen und Zeitbedingungen heraus, um Ent-Moralisierung und damit um den Ausgang römischer Frühneuzeitforschungen aus dem von der älteren Kirchengeschichte errichteten Ghetto der Euphemismen, Tabuisierungen und Schamhaftigkeiten. Anstößig wird römischer Seicento-Nepotismus, so Reinhard, erst durch die - unhistorische - Rückübertragung von Dezenzmaßstäben einer viel späteren Zeit. Im Gegensatz zu diesen stößt seine überwältigende Kontinuität bei gleichzeitigem Formenwandel bzw. bei Ausbildung enormer Gestaltvielfalt seit der Antike ins Auge, über das viel zu pauschal als Abschaffungsdatum in Anspruch genommene Jahr 1692 (in dem es, typisch römisches Reformverständnis, statt dessen um Standardisierung zwecks Abstellung eines disfunktional gewordenen Elements und unbezahlbar gewordenen Ärgernisses geht) hinaus - mit diskreten Hinweisen darauf, daß auch im 20. Jahrhundert aus dem reichen Sortiment päpstlicher Strategien zur Förderung von Verwandten und instrumentalen Freunden so manches fortlebt. Nepotismus nicht als Durchbrechung, sondern Erfüllung von Erwartungen, ja Erwartungsdruck - diese Einbindung in zeitgenössische Mentalitäten sieht Reinhard durch die in der Ewigen Stadt seit der republikanischen Antike verwurzelte und danach mit zahlreichen Anpassungen an veränderte historische Kontexte fortlebende Norm der pietas ge(währ)leistet. Auf das Papsttum seit der
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Mitte des 15. Jahrhunderts bezogen, bezeichnet sie eine tief internalisierte Verpflichtung des neu gewählten Pontifex, seine Verwandtschaft als Kernbestandteil eines komplexen Unterstützungsgefiiges vorrangig zu remunerieren, aber auch die übrigen, näheren wie periphereren Bestandteile dieses Beziehungsumfeldes abgestuft an diesem Aufstieg partizipieren zu lassen. So absolut bindend dieser Zwang zur ostentativen Dankabstattung, zum Teilhabenlassen ist, so flexibel läßt sich diese Norm im einzelnen umsetzen - vom (bezeichenderweise seit dem 14. Jahrhundert nicht mehr zu beobachtenden) Minimum eines päpstlichen 'Sozialhilfesatzes' bis hin zum Maximum der Errichtung von Nepotenstaaten auf kirchenstaatlichem Territorium oder auch außerhalb davon, zwischen 1471 und 1549 vorherrschend, danach redimensioniert, aber wiederum quasi standardisiert als Integration der Papstverwandten in den römischen Hochadel bis 1692 und teilweise auch danach. In gleitender Erweiterung dieses Erklärungsansatzes aus den sozialmoralischen Systemen der Zeit schreibt Reinhard dem frühen Nepotismus bis etwa 1500 neben der sehr ausgeprägten Versorgungsfunktion zugunsten der Papstverwandten, d.h. deren möglichst dauerhafter Ausstattung mit reichen Einkommensquellen und als Summe des Ganzen mit sozialem Rang und Prestige, eine durchaus ausgeprägte Herrschaftsfunktion zu. Und zwar in einem Kirchenstaat, der den zweiten Teil seiner Bezeichnimg noch kaum rechtfertigt, d.h. weit weniger als von Behörden durch personale Abhängigkeiten und Loyalitäten - locker genug zusammengehalten wird. In diesem rudimentären Entwicklungsstadium von Staatlichkeit mit zudem wenig elaborierten Rekrutierungsmustern für Gremien und Ämter bedarf der neugewählte Papst, den spezifischen Gesetzmäßigkeiten der geistlichen Wahlmonarchie mit ihrem periodischen Elitenaustausch entsprechend, seiner Blutsverwandten, um in einem potentiell indifferent oder sogar feindlich ausgerichteten kurialen Umfeld verläßlicher Exekutoren seines - ohnehin nur begrenzt durchsetzbaren - Machtanspruchs sicher sein zu können. Diese Herrschaftsfunktion geht dann, so Reinhard, konsequenterweise in dem Maße verloren, in dem in Rom selbst und seinen Provinzen Herrschaftskonkurrenten (Kommunen, die großen Baronalfamilien, das Kardinalskollegium) zurückgedrängt bzw. ausgeschaltet und an der Kurie wie ansatzweise an der Peripherie Kontroll- und Durchsetzungsinstanzen dauerhafter Art ausgebildet werden. Dadurch wird Nepotismus, auf die Um- und Durchsetzung herrscherlicher Macht bezogen, kontraproduktiv, behindert ihre Ausübung, statt sie zu fordern - als Durchbrechung von Idoneitätsprinzipien, vor allem nach dem Konzil von Trient, die nichtsdestotrotz als meritokratische Rechtfertigungsmuster gerade auch für den Nepotismus weiterhin in Kraft bleiben - jetzt mithin wenig mehr als Verschleierung des ausschlaggebenden Antriebes, die irdische Rangewigkeit der Nepotendynastie anzuvisieren, und daher in diesem Sinne Ideologie.
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Warum und wodurch die Norm der kurialen pietas ihre verbindliche Verfugungskraft gewinnt, zeigen modellhaft Reinhards äußerst explizite Studien zum Aufstieg der Familie Borghese ins Papstamt, das einer von ihnen, Camillo, von 1605 bis 1621 innehat, von dessen Segnungen aber die gens Burghesia in konzentrischen Kreisen von der Kernfamilie bis zu den marginalen Sippensegmenten in Siena als ganze profitiert, nicht nach dem Gießkannenprinzip wahlloser Pfründen- und Geldausschüttungen, sondern nach klaren strategischen Erwägungen. Diese garantieren den nächsten Blutsverwandten des Pontifex eine Maximalbegünstigung, die mit Rücksicht auf die 'öffentliche Meinung' nach Pontifikatsende immer auch an rechtlichen Basisregeln ausgerichtet bleibt und dadurch bestrebt ist, so wenig Empfindlichkeiten wie möglich zu verletzen, in diesem Rahmen aber materielle Werte und soziale Beziehungen entschlossen kumuliert und so Maßstäbe der Akzeptanz ausweitet. So kann man angesichts des Borghese-Nepotismus fast schon von Prämienausschüttung als Gewinnbeteiligung, abgestuft nach Verdienst, sprechen. Denn gebahnt wird der Weg zum Pontifikat von bedingungsloser Solidarität der engsten Verwandten, die alle nur irgend verfügbaren Ressourcen aktivieren und sich bis hin zur gemeinsamen Bankrottgefahr verschulden, um durch Ämterkauf Karriereschübe eines einzigen Familienmitglieds zu bewerkstelligen - in der Hoffnung auf kollektive Sanierung und mehr. Und genau an dieser Stelle kommt dann indirektes, wenn man so will: soziales Kapital ins Spiel - der den kurialen cursus honorum rascher durchlaufende Orazio Borghese stirbt 1590, bevor sich die in sein Amt angelegte Summe auch nur ansatzweise zugunsten der Familie amortisieren kann. Der ihr drohende Ruin aber wird durch gute Beziehungen zu Mächtigeren abgewendet, ein soziales Netz, dessen Fäden doppelt, aus Patronage einerseits, nützlichen Gegenleistungen und Ergebenheit andererseits gewirkt sind, verhindert den Absturz der Borghese ins Bodenlose. Dessen Webart im einzelnen, Ausdehnung, Tragfähigkeit, Belastbarkeit und sozial- wie behördengeschichtlichen Hervorbringungen sind weiterreichende, wiederum theoretisch unterfütterte und mit lebendigem Material unterlegte (heute würde man sagen: kultur- und sozialanthropologische) Forschungen Reinhards reichhaltig gewidmet - wobei der empirische Aspekt, gewissermaßen die Probe aufs Exempel der Ergiebigkeit und Gültigkeit der entworfenen Modelle, bewußt 'Schülerinnen' (in Anführungsstrichen, weil Reinhard den ihm wohl zu jüngerhaft spiritualisierten Begriff nicht schätzt) übertragen wird. Auf diese Weise wird der Pontifikat Pauls V. zur wahrscheinlich am dichtesten, multiperspektivischsten, sozial- und vor allem verflechtungsgeschichtlich am intensivsten untersuchten Regierungszeit des friihneuzeitlichen Europa überhaupt. Der Schlüsselbegriff 'Verflechtung' bezeichnet dabei verschiedene ineinandergreifende Ausrichtungen von Loyalitätsbeziehungen. Zum einen wird die zentrale Funktion von Klientelismus, verstanden als nützliche Freundschaft auf der Grundlage eines in verhüllende und verklärende Normen und Riten eingekleideten „do ut des",
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herausgearbeitet. Dieses System reguliert nicht nur die innere Rekrutierung der Kurie auf allen Ebenen, sondern wird bewußt als Einbindungs-, Homogenisierungs-, ja Disziplinierungsmittel zur Herstellung von Werteidentität und Verläßlichkeit im umfassenden Sinne praktiziert, aber auch verstanden, thematisiert und gerechtfertigt, etwa in 'Memoirenliteratur' aus der Feder von Kardinälen oder in regelrechten Karrieretraktaten; als Teile dieser Normenkonsens-Maschinerie agieren Patronage-broker und andere vermittelnde Instanzen. Darüber hinaus werden solche Verflechtungen, die über klienteläre Kernmotive hinaus lockerere Bindungen wie gemeinsame landsmannschaftliche Herkunft, Tätigkeit an derselben Behörde etc. einschließen können, von Reinhard als politische Organisationsprinzipien des Kirchenstaates angesetzt - womit auf andersartige Weise Herrschaftsfunktion klientelärer Strukturen wieder ins Blickfeld rückt. Nicht das Regieren und Administrieren einzelner Nepoten in Spitzenpositionen, etwa als Oberaufseher des Kirchenstaates, sondern die Vernetzung der regierenden Familie mit Klienten bzw. After-Klienten innerhalb des Kirchenstaates, aber auch im übrigen Italien, ja in Europa wird als ein Instrumentum Regnandi ersten Ranges angesehen - in einem trotz aller Ausformung von Behörden weiterhin stark auf informelle Kanäle angewiesenen, wechselseitigen Familiennutzen als Vehikel zur Durchsetzung öffentlicher Belange und Interessen nutzenden Herrschaftssystem. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnen die von den Nepoten bzw. ihren Klienten ausgesponnenen bzw. ausgeworfenen Netze nützlicher Beziehungen zu städtischen bzw. höfischen Oligarchien doppelte Bedeutung: für ein allmähliches weiteres Wachstum von Staatlichkeit wie natürlich für den post-pontifikalen Rang der Papstfamilie selbst. Wie weit diese Staatskonsolidierungs-Funktion von Verflechtung reicht und in welchem Verhältnis sie zu den gewissermaßen parallelen Instanzen kirchenstaatlicher Ämter und Gremien steht, untersucht in diesem Band, ausgehend von den Reinhardschen Modellen und Prämissen, NICOLE REINHARDT (wie der Verfasser dieser Zeilen trotz affiner Thematik mit dem zu Ehrenden weder verschwägert noch verwandt). Demgegenüber zeigt IRENE Fosi an der microstoria Fabio Chigis, von 1655 bis 1667 Papst Alexander VII., Grundelemente des kurialen Makrokosmos: die Feinverstrebung der förderlichen Freundschaften, die Dialektik von nützlicher und affektiver amicizia und vor allem die extrem ausdifferenzierte, auf dissimulazione, Verhüllung, wie dechiffrierte Kodes gleichermaßen zurückgreifende Semiotik kurialer Kommunikation mit ihren Normen des Prestigeträchtigen, noch Statthaften und schon Rufabträglichen. Über diese durch die Arbeiten von Wolfgang Reinhard eröffneten Forschungsfelder hinaus haben die von ihm ausgearbeiteten Modelle, Erklärungsmuster, Thesen und Hypothesen weitere wichtige Untersuchungshorizonte eröffnet. Besteht der Wert der Reinhardschen Arbeiten,
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über alle unumstößlichen Plattformen künftiger Beschäftigung mit der Materie im einzelnen hinaus, in hohem Maße darin, Anstöße für weiterreichende Forschungen zu liefern, so erweist sich deren nicht-epigonaler Charakter, deren Ergiebigkeit und Eigenständigkeit nicht zum geringsten an ihrem Mut, vorgebene Deutungslinien auch zu durchbrechen, neuzuordnen, querzudenken. Eine dieser Wiederaufnahmen und Hinterfragungen betrifft, nach den Reflexionen über die Verflechtungsmodelle als solche, das Spannungsverhältnis von Versorgungs- und Herrschaftsfunktion innerhalb des frühneuzeitlichen Nepotismus. Ist es angebracht, hier eine dritte Ebene, die man symbolische Etablierungsfunktion nennen könnte, einzuziehen? Mit anderen Worten: ist die Plazierung der Nepoten in höchsten Ämtern der Kurie und des Kirchenstaates, über die von Reinhard angesetzten direkten und indirekten Entlastungsaufgaben speziell des Kardinalnepoten für seinen Herren hinaus, vom Bestreben bestimmt, der italienischen wie europäischen Öffentlichkeit die Herrschaftsfähigkeit und Würdigkeit der Papstverwandten und damit ihre Nobilitierung auf oberster, souveräner Stufe vor Augen zu führen, sie auf diese Weise als ebenbürtig auszuweisen, entsprechendes Prestige zu kumulieren, ohne damit notwendigerweise Herrschaftsausübung auf diesem Niveau anzuvisieren? Oder ist die Delegierung oberster diplomatischer und kirchenstaatlicher Kompetenzen an Papstneffen zumindest in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ebenso sehr wie von Versorgungsstrategien von fehlenden Alternativen und damit doch wiederum von Herrschaftszwängen bestimmt - in dem Sinne, daß die zeitgenössischen Normen für soziopolitische Autorität den Rückgriff auf Verwandte des Souveräns notwendig machen? - Fragen, die der Beitrag von DANIEL BÜCHEL neu stellt und, von Reinhardschen Ausgangspunkten aus, re-reflektiert. Dabei kommt ein weiterer fundamentaler Fragenkomplex ins Spiel, der die jüngsten Forschungen zum frühneuzeitlichen Rom stark stimuliert hat: Wie werden die frisch 'aristokratisierten' Neuankömmlinge vom alten römischen Adel eigenüich aufgenommen bzw. angesehen: als gleichberechtigt, als Parvenüs, als Mischung von beidem? Und wie gestaltet sich die Koexistenz bzw. Konkurrenz zwischen beiden Elitensegmenten, Baronal- und Nepotenadel, wiederum real und symbolisch? - Wiederum Fragen, die von weit gediehenen, die Reinhardschen Ansätze weiterverfolgenden laufenden Forschungen untersucht werden (Daniel Büchel). Aufs engste mit solchen Fragen nach spezifischen römischen Nobilitierungskonzepten verbunden ist eine (gleichfalls in weit vorangeschrittenen Untersuchungen Marzio Bernasconis unternommene) systematische Durchsicht der reichen Nepotismus-Traktatistik, die vertieften Aufschluß über die ideologische Dimension päpstlicher Familienbegünstigung zu bieten verspricht: Welche Normen außer - der unbestritten ins Spiel kommenden - pietas regeln und rechtfertigen intensive päpstliche Verwandtenförderung, welchen Stellenwert hat dabei die in päpstlichen Dokumenten dazu so beherrschend hervortretende meritokratische Begründungsebene? Inwieweit
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verschränkt sich diese Legitimierung mittels um die Kirche erworbener Verdienste mit den angesprochenen spezifisch kurialen NobilitierungsVorstellungen? Alle diese Fragestellungen legen den Einbezug nichtverbalen Quellenmaterials, vor allem von entsprechenden Artikulierungen im Medium Kunst, genauer: der bildenden Künste zwingend nahe. Denn Rechtfertigung, Gerechtsprechung, Sakralisierung von Nepotismus findet in sehr hohem Maße visualisiert statt; Stellvertreterkriege in Farben, Marmor und Travertin spielen sich auch zwischen altem und neuem Adel ab. Eine weiterreichende Entzifferung der römischen höfischen Semiotik und damit eine vertiefte Erfassung kurialer Regeln und Werte setzt eine ganzheitliche, die hier exemplarisch obsoleten Grenzen zwischen Kunstgeschichte und historischen Disziplinen auf breiter Front überschreitende kulturgeschichtliche Perspektive voraus. Dabei deutet einiges darauf hin, daß die ungeheure Fruchtbarkeit Roms auf dem Sektor visueller Herrschafts- und Legitimitäts-Propaganda nicht nur der Dauerrivalität alter und neuer Adelsfamilien, sondern auch einem harten Kern ungelöster Spannungen zwischen nepotismusfeindlichen kirchlichen Normen und praktiziertem Nepotismus entspringt. Damit eng verbunden ist ein weiterer Aspekt von höchster Relevanz die Verstrickung und Verwicklung von Nepotismus und großer Politik. Deutet hier vieles darauf hin, daß seit der Mitte des 15. Jahrhunderts die päpstliche Diplomatie auf oberster Ebene insgesamt sehr stark in das Magnetfeld von Nepoten-Interessen gerät, so macht der Beitrag von ARNE KARSTEN deutlich, wie intensiv Nepotismus nach der Mitte des 17. Jahrhunderts auch von der anderen Seite her instrumentalisierbar, gegen das Papsttum verwendbar wurde. Bei all diesen Umrissen laufender und künftiger Forschungen bleibt, jeglicher Abstattung von Verbal-Tribut und aller Jubilars-Apologie unverdächtig, ja über solche Mutmaßungen erhaben, der innovative und stimulierende Charakter der Anstöße, der produktiven Anstößigkeit der Forschungen von Wolfgang Reinhard deutlich genug erkennbar - als Ausgangs- und immer wieder unverzichtbarer Referenzpunkt aller Bemühungen um ein vertieftes Verständnis Roms in seiner letzten wirklich europäischen Phase.
Fabio Chigi und der Hof der Barberini Beiträge zu einer vernetzten Lebensgeschichte Irene Fosi
Im Schnittpunkt von Biographie und Autobiographie Mit seinen vielfältigen diplomatischen Aktivitäten im Europa des Dreißigjährigen Krieges seit längerem Gegenstand der Forschung,1 ist Fabio Chigi, von 1655 bis 1667 Papst Alexander VII., gleichwohl bislang nicht einer seinen intellektuellen und sozialen Werdegang nachzeichnenden, individuelle Vita und historisches Ambiente verschränkenden neueren Biographie für würdig befunden worden. Diese Lücke sticht um so auffälliger ins Auge, als diese Lebensgeschichte wesentliche Aspekte Roms in einer Schlüssel- und Wendeperiode seiner Geschichte, dem einundzwanzig Jahre dauernden Pontifikat Urbans VIII. von 1623 bis 1644, zu vertiefen vermag: die weit ausstrahlende Patronage der Barberini, die durch die enge Verzahnung von Klientel, Protektion und instrumentaler Freundschaft ein ebenso unverwechselbares wie fruchtbares, zum höheren Ruhm der Nepoten tätiges kulturelles Milieu und am päpstlichen Hof selbst ein 'politisches Laboratorium'2 von beträchtlicher Innovativität und Experimentierfreudigkeit hervorbringt. Dieses zugleich stimulierende und komplexe, ja in manchem widersprüchliche Klima hat die von Chigi in der häuslichen Erziehung erfahrenen Anlagen und das von der Heimatstadt vermittelte humanistische, philophische und juristische Bildungsgut tief geprägt und vielfältig weiterentwickelt - ein kulturelles Gepäck, das sich zusammengenommen geradezu als Bündelung der von Siena gebotenen 1
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Dazu grundlegend K. Repgen, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Frieden. Studien und Quellen, Paderborn 1998. Zu dieser Thematik die Beiträge in: G. Signorotto/M.A. Visceglia (Hg.), La Corte di Roma tra Cinque e Seicento. „Teatro" della politica europea, Roma 1998.
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Bildungschancen darstellt, genutzt von einem Individuum mit eisernem Willen zur Selbstvervollkommnung und der Fähigkeit zur Ausformung eigener Interessen in Gestalt selbständiger Reflexionen in der Einsamkeit der Studierstube. Dabei bewegten sich Fabios Studien, der (nach seinen eigenen Worten) „fast alle Dichter der lateinischen Antike exzerpierte und zusammenfaßte",3 in aristotelischen Bahnen, um sich dann, wie wiederum in den Erinnerungen an seine Jugendjahre festgehalten, vor allem an den Ideen des als geistiger Lehrer bewunderten Jesuiten Francisco Suarez4 auszurichten. In seiner Bibliothek wird der spätere Papst vier vorrangig mit der Auslegung der 'Summa theologica' des Thomas von Aquin befaßte Bände des spanischen Theologen bewahren: Zeichen dafür, mit welcher Intensität Chigi nach erfolgreichem Examen beider Rechte im Jahre 1623 als Autodidakt theologische Studien in Angriff nimmt, dabei vorbereitet durch die ebenso frühe wie dauerhafte Vertrautheit mit Erbauungstexten, welche die vom tief religiösen familiären Hintergrund angelegte Frömmigkeit weiter verstärken. Speziell Franz von Sales' 'Introduzione alla vita devota', Handbuch zum frommen und gottgefälligen Leben in der Welt, wird Chigi lebenslang als 'sicherer Hafen', d.h. spirituelles Refugium vor dem aufgepeitschten und entsprechend verstörenden Meer der Diplomatie und Politik dienen, auf das ihn sein Gehorsam gegenüber den päpstlichen Befehlen durch Jahrzehnte hindurch verschlägt. Chigis autobiographische Aufzeichnungen zu seiner senesischen Ausbildung und zu seinen ersten Stufen auf der kurialen Ämterlaufbahn, zu seinem häuslichen Milieu, seinem Umgang mit Intellektuellen, Gelehrten und Klerikern der Heimatstadt wie später zu seinen römischen Erfahrungen boten nicht nur seinem ersten Biographen, dem Jesuiten Pietro Sforza Pallavicino, reiches Material, sondern dienten ihrem Verfasser selbst, durch gezielte Auswahl von Erinnerung, zur Ausbildung einer persönlichen und familiären Identität, ja mehr noch: eines der Nachwelt zu überantwortenden Bildes, eines Images, wenn man so will. Seine oft genug dürren Sätze zeichnen sehr perspektivenbewußt Umrisse einer idealen Selbstlebensbeschreibung und damit eines bis ins letzte abgestimmten KlerikerIdealbildes der Zeit, in seiner Rolle als Diplomat und dann als Papst, jeweils unverrückbar an tridentinischen Normen ausgerichtet. Dabei ist schon die Schilderung der Jugendzeit mit ihrer Hervorhebung physischer Gebrechen und Krankheit5 auf den Gegensatz zwischen der Schwäche des Fleisches und der Stärke des diese überwindenden Geistes, also auf ein spirituelles, heroisches Leitmotiv ausgerichtet: „In seiner Jugendzeit war er in seiner Lebensführung 3
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G. Incisa della Rocchetta, Gli appunti autobiografici d'Alessandro VE nell' Archivio Chigi, in: Mélanges Eugène Tisserant, VI, Città del Vaticano 1964, S. 444f. „Nella filosofia fu ammaestrato per via di Francesco Piccolomini; poi, da se stesso, mutò opinioni; gli piacque, fuor di modo la metafisica del Suarez, che studiò tutta, e compendiò": Incisa della Rocchetta (Anm. 3) S. 444. Incisa della Rocchetta (Anm. 3) S. 442.
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zurückhaltend, ja streng, doch in Gesellschaft immer leutselig". Verneinung des Körperlichen durch die obsiegende Macht des Geistes, Frömmigkeit, Gründlichkeit und Geradlinigkeit im Intellektuellen, Moralischen und vor allem Religiösen, tiefe Neigung für die klassische Antike und die Kunst - entlang dieser selektiven Erinnerungs-Linien entwirft der Papst ein amtskonformes Bild seiner eigenen Ursprünge. In dieser ebenso dynamisch wie sorgfältig konstruierten Identität kommt dem Verhältnis zur Familie wie der Geburtsstadt, beide gefiltert von einer ebenso typisierenden wie idealisierenden, einst und jetzt, senesische Anfänge und perfekte kuriale Rollenerfüllung verschmelzenden Memoria, herausragende Bedeutung zu. Das gilt speziell für das Bild der Eltern; so schildert er den Vater Flavio als Ideal „eines Edelmannes von stattlicher, schöner Gestalt, großgesinnt und tatkräftig und daher andauernd in den führenden Ämtern seiner Heimatstadt tätig",6 was, auf bescheidenerem Niveau, der Wirklichkeit entspricht, bekleidete Flavio doch in der Tat verschiedene Regierungsfunktionen, so 1606 in Valdichiana. Daß der Vater den Maler Francesco Vanni zum Paten seines Sohnes erkor, erklärt dessen Biograph Sforza Pallavicino aus einer entsprechenden Wertehierarchie: „Soweit es die von Menschen geschaffenen Gesetze der Ehre erlaubten, begünstigte er die durch eigenen Wert statt vornehme Vorfahren geadelten Personen".7 Wahrer Adel ist immer auch persönliches Verdienst - nach diesem Grundsatz modelliert Fabio das Bild des vorbildlichen, fürsorglichen Familienvaters und Magistrats, um das Wohlergehen der Stadt wie der Seinen, seines Besitzes und die Erziehung seiner Kinder gleichermaßen unermüdlich besorgt; letztere wird, einer fest herausgebildeten patrizischen Tradition entsprechend, sorgfältig ausgewählten und im Hause selbst lebenden Privatlehrern anvertraut. Abgerundet und vertieft wird dieses väterliche Idealbild durch Züge ausgeprägter Frömmigkeit, die sich in Ehrfurcht vor dem Priestertum und dem diesen eingeräumten Vorrang, durchaus auch wörtlich verstanden, niederschlägt. Analog beschrieben wird die Gestalt der Mutter Laura Marsiii, die dem Knaben Anfangsgründe literarischer und religiöser Kenntnisse vermittelte. „Fromm und zugleich in der Führung der einer Familienmutter zufallenden Geschäfte tatkräftig, war sie ihrem Sohn erste Lehrerin im Lesen und Schreiben und in elementarer Grammatik" - so vervollständigt Sforza Pallavicino8 das von Fabio in seinen Erinnerungen skizzierte Porträt der Mutter, der der spätere Papst gefühlsmäßig stets engst verbunden bleibt - bis hin zu nostalgischer Verklärung.' Der Briefwechsel Laura Marsiiis mit ihrem Sohn hingegen setzt durchaus andere, aus dessen kirchlicher Laufbahn folgende Akzente negativer Art - die räumliche und affektive Entfernung von der Heimatstadt, den Geschäften der Familie und 6 7 8 9
Incisa della Rocchetta (Anm. 3) S. 441. P. Sforza Pallavicino, Della vita di Alessandro VII, libri cinque, Prato 1839, S. 26. Sforza Pallavicino (Anm. 7) S. 27. Gespiegelt in den Briefen der Mutter an den Sohn (1633-1638): Biblioteca Apostolica Vaticana (=BAV), Archivio Chigi, Carteggi, n. 77, cc. 140r-183r.
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des Hauses mit ihrem unveränderlichen von der Liturgie, den jahreszeitlichen ländlichen Tätigkeiten, speziell der Ernte bestimmten Rhythmen. Demgegenüber sind Fabios Schreiben durchgehend verhaltener; nur gelegentlich läßt er sich zu vertraulichen Bemerkungen über seinen Status als armer Priester hinreißen. Zwecks äußerer Aufrechterhaltung seines Ranges zu beängstigend hohen Aufwendungen gezwungen ist er zugleich dauernd darum bemüht, den Seinen durch Geschenke seinen Erfolg als Prälat sichtbar vorzuweisen.10 Wenn auch in seinen Briefen die Sorge um das geistliche Wohl seiner Angehörigen überwiegt so etwa die Auswahl der richtigen Beichtväter für seine Brüder und deren richtige Lektüre, vor allem die des Franz von Sales, wie z.B. im seinem Brief vom 6. Mai 1634 - , so mangelt es andererseits auch nicht an tröstlichen Berichten über seinen Gesundheitszustand an die in dieser Hinsicht stets beunruhigte Mutter. Über die offiziellen Briefwechsel und die (einer Autobiographie von fremder Hand nahekommende) Biographie Sforza Pallavicinos hinaus muss eine den Werdegang Chigis nachzeichnende Lebensbeschreibung somit ebenso sehr die privaten Aufzeichnungen und Briefe berücksichtigen: Nur so lässt sich Chigis Laufbahn am päsptlichen Hof und an der Kurie tiefenscharf erfassen - in einem Milieu, in dem kein noch so geringer Erfolg vorgegeben, sondern nur durch sorgfältige strategische Planung zu erreichen war." Erst wenn man über die teilweise zur Wirkung nach außen, zur Unterweisung und Unterrichtung künftiger Diplomaten bestimmten und entsprechend zirkulierenden Kopien und Zusammenfassungen seiner Briefe hinaus deren originale Vorlagen heranzieht, gewinnt man einen vertieften Einblick davon, wie sorgsam Chigi Verbindungen knüpft, die sich oft genug als förderlich erweisen, wie akkurat er Strategien instrumentaler Freundschaft entwirft, verläßliche Unterstützung in seiner kurialen Karriere anvisiert und dabei vor allem auf Verwandtschaftsbande setzt. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Trennung zwischen individuellem umd familiärem, öffentlichem und privatem Handeln als widersinnig, da sie erst später ausgebildete Unterscheidungen zugrundelegt. Auch im Falle Chigis, dessen Aufstieg aus Kreisen des toskanischen Patriziats für frühneuzeitliche kuriale Karrieren als durchaus typisch gelten kann, müssen somit über alle Kriterien der Herkunft und Vernetzung mit den Mächtigen des Augenblicks hinaus die autobiographischen Aufzeichnungen ernstgenommen, gewissermaßen in ein dokumentarisches Spannungsverhältnis zur umfassenden, seine Lebenszeit und -erfahrungen abdeckenden Korrespondenz gestellt werden. Erst durch diese Kombination von außen und innen läßt sich ein über die kommunikativen Topoi der Zeit hinaus reichender, vertiefter Einblick in seinen intellektuellen Werdegang gewinnen. Und gerade aus der Untersuchung dieser Quellenschichten schließlich wird die politische Dimension von Patronage, d.h. ausgeübter Protektion, in ihrer 10 11
BAV, Chigiano A.I.3, cc. 226r-226v. Vgl. R. Ago, Carriere e clientele nella Roma barocca, Roma/Bari 1992.
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Bedeutung für die höfische Gesellschaft am Tiber, aber auch als Verständniskategorie für die Ausbildung zentraler und peripherer Regierungsapparate erfaßbar - als solche hat sie, auf frühneuzeitliche Sozialstrukturen bezogen, den alten Gegensatz zwischen 'modern' und 'rückständig' hinfällig und statt dessen die prägende Wirkung von Klientelismus für die Ausbildung von Behörden und damit frühmoderner Staatlichkeit deutlich gemacht. Betrachtet man in diesem Sinne die durch Protektion geknüpften Bande wertfrei, als frei verfüg- und verfugbare Instrumentarien, die es den Herrschenden erlauben, reibungsloser zu regieren, Zentrum und Peripherie zu verzahnen, durch Vermittlung mit Augenmaß und liberalitas principis, d.h. gezielte Gnadenerweise, Konsens zwischen lokalen Elitensegmenten zu stiften und damit Macht angemessen darzustellen, so läßt sich in diesem Austausch von Leistung und Gegenleistung sogar mehr als die Verwirklichung eines auf Gunsterweis gegründeten Systems persönlicher Beziehungen erkennen. Gehen in diese Verteilung von Ressourcen durch Patronage doch nicht nur finanzielle, sondern auch immaterielle Kapitalien ein, über welche die höfische Gesellschaft in reichem Maße gebietet: Loyalität, Dienst - nicht nur von Individuen, sondern Familien - für den Herrscher, Eignung und Kompetenz, und zwar juristischer, moralischer und sozialer Art zur Bewältigung immer stärker ausdifferenzierter, spezialisierter Regierungsfunktionen. Dabei spiegelt der Briefwechsel zwischen dem Protegierten und seinem als Karrieremakler am Hof unverzichtbaren Patron auch das andauernde Spannungsverhältnis zwischen Ist- und - im Extremfall für unerreichbar erachteten - Sollzustand - zumindest legen diesen Eindruck die allgegenwärtigen Formeln (oder vielleicht Floskeln?), nicht auf der Höhe der zugewiesenen Aufgaben zu sein, mit anderen Worten: die reich ausgebildeten Bescheidenheits- und Unterwürfigkeits-Topoi kurialer Prälaten gegenüber ihren Protektoren nahe. Entsprechend schwierig zu bestimmen, ja doppeldeutig ist das Wesen der Loyalität der Kreatur gegenüber ihrem Patron; je nach Situation und Kontext in ihrem Erscheinungsbild variabel, kann sie mit der Realität klientelärer Verhältnisse auch über Kreuz erscheinen. Von der historischen Forschung oft genug negativ, als Relikt in einer sich modernisierenden frühneuzeitlichen, auf Rationalität und bürokratische Anonymität gegründeten friihmodernen Staatlichkeit bewertet, erweisen sich klienteläre Netzwerke bei entsprechend unvoreingenommener Analyse vielmehr - gerade auch im hier untersuchten Fall als integrale Bestandteile eines Staatsbildungs-Prozesses, der nicht mit teleologischer Geradlinigkeit, sondern durch Zugeständnisse an Eliten und Kompromisse mit ihren Interessen voranschreitet, sich also notwendigerweise auf klienteläre Beziehungen, auf den Austausch von Protektion und Gegenleistung stützt. Damit aber sind diese Elemente zugleich als Kernbestandteil einer „société d'ordres et dignités", einer Stände- und Würdenordnung als Ausdruck einer
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christlichen Welt- und Gesellschaftssicht der Zeit, ausgewiesen, in welcher „Abhängigkeit mit Stolz vor der Nachwelt geltend gemacht werden konnte".12 Wenn aber, wie behauptet, Regierung in zahlreichen europäischen Staaten nichts anderes als Auswahl der Favoris, vom Herrscher aus den dichten Reihen der Klienten auserkorener Günstlinge ist, so stellt sich für Rom kategorisch die Frage, ob und in welchem Maße sich für die Protegierten persönliche Loyalitätsbindungen mit der Verpflichtung gegenüber einem zunehmend als unpersönlich, verselbständigt wahrgenommenen Amt vereinbaren ließen. Theater der großen Politik und der im Prinzip vom Papst, de facto meist von seinen Vertrauten unter Federführung des Kardinalnepoten vorgenommenen Gunst- und Güterverteilung, damit Kreuzungs- und Verknüpfungspunkt von politischen wie klientelären Banden und Ort der Austarierung eines stets prekären soziopolitischen Gleichgewichts, besitzt der römische Hof im 17. Jahrhundert hohe Bedeutung als eine Art Clearing house, Vermittlungs- und Ausgleichsplatz hauptstädtischer und kirchenstaadicher, ja gesamtitalienischer Eliten in der Neuzeit. Eine genauere Analyse der Verteilung dieser materiellen wie immateriellen Güter - Ehre, Ruf, Reputation als für vollgültigen sozialen Status unverzichtbarer Bestandteile - erweist darüber hinaus, daß nicht nur der Kardinalnepot, Protagonist und Instrument der liberalitas principis zugleich, diesen Prozeß steuert. An ihm sind nicht wenige weitere Klienten, nicht nur als Individuen, sondern als Vertreter ganzer Familienverbände, darunter auch deren weibliche Mitglieder, mit der Funktion von Patronage-Brokern beteiligt - als Karrierebeförderer im Dienste von Prälaten, denen sie durch gemeinsame geographische Herkunft, instrumentale Freundschaft, aber auch durch wirtschaftliche Partnerschaft verbunden sind. Unter dem Strich handelt es sich bei der frühneuzeitlichen Kurie also um ein integriertes System im Habermasschen Sinne, das sich in konzentrischen Kreisen ausdrückt und ausdehnt, welche die Macht vom Mittelpunkt des Systems an dessen Peripherie, aber auch in die städtischen Zentren des übrigen Italien kanalisieren.
Am Hof der Barberini Nach Abschluß seiner Studien im Jahre 1626 drängte sich für Fabio Chigi die kuriale Laufbahn geradezu auf - kulturell von schillernder Vielseitigkeit, mußte 12
Y. Durand, Clientèles et fidélités dans le temps et dans l'espace, in: Hommage à Roland Mousnier, S. 12; ausführlichere Diskussion der Thematik bei: S. Kettering, Patronage in Early Modern France, in: French Historical Studies 17 (1972) S. 839-862; dies., Patrons, Brokers, and Clients in Seventeenth-Century France, Oxford 1986, S. 3-11; A. Herman, The Language of Fidelity in early modern France, in: The Journal of Modern History 67 (1995) S. 1-24.
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die Hauptstadt der katholischen Christenheit mit ihren zahlreichen, die weltlichen wie geistlichen Herrschaftsfunktionen des Papsttums wahrnehmenden Behörden auf den jungen senesischen Patrizier geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben. Zudem hatte im Laufe der Zeit nicht nur eine ansehnliche Zahl senesischer Mitbürger, sondern auch ein Verwandter, der Bankier Agostino Chigi (1466-1520), genannt der Prächtige,13 unter den Pontifikaten Julius' II. und Leos X. dort sein Glück gemacht: Die Erinnerung an die von ihm angehäuften Reichtümer und den Glanz seines Mäzenatentums wurde im senesischen Zweig der Familie aus naheliegenden Gründen hochgehalten, auch wenn diese Herrlichkeiten nach Agostinos Tod rasch den Weg alles Irdischen gingen, Folge verfehlter Geschäftspolitik seiner Nachkommen, aber auch für das Bankgewerbe stetig ungünstigerer Geschäftsbedingungen im Rom der späten Renaissance. Doch war die senesische 'Nation', wie man damals sagte, in der Ewigen Stadt weiterhin stark vertreten: durch Juristen, nach der Eroberung Sienas dorthin ins Exil abgewanderte antimediceische bzw. republikanisch eingestellte Familien, durch Kaufleute, Handwerker, Künstler, Ärzte, aber auch Glücksritter verschiedenster Art - sie alle, obwohl durch sämtliche Stadtviertel verstreut, mit dem gemeinsamen religiösen, karitativen und sozialen Flucht- und Treffpunkt in der 'nationalen' Bruderschaft zur heiligen Katharina in der via Giulia. Von Zeitgenossen ausdrucksstark als „Welttheater" oder, mit den Worten des Kardinals und späteren Großherzogs Ferdinando de' Medici, auch „Lehrstätte aller Umtriebe dieser Welt" genannt,14 war Rom im 17. Jahrhundert das einzige höfische Zentrum Italiens mit internationaler Ausstrahlung und Geltung, weit über den vom Tridentinum machvoll verstärkten religiösen Rahmen hinaus. Die in Rom immer glanzvoller zelebrierten Feste und Riten veranschaulichten den erneuerten Anspruch, moralisch-politische Oberhoheit über die katholischen Herrscher auszuüben und als unüberwindliches Bollwerk gegen die Ketzereien der Reformation zu wirken auf das sinnfälligste, nicht nur im Inneren einzelner hervorstechender Gebäude wie des päpstlichen Palastes, sondern in der Stadt als ganzer. Zur Bühne solcher Schauspiele, ja zum Sinnbild der erneuerten Kirche war die Urbs vor allem unter Sixtus V. (1585-1590) umgestaltet worden - kühne gerade Straßen symbolisierten jetzt die von der Ecclesia gebahnten Heilswege.15 An diese triumphalistisch-symbolische Urbanistik wird Fabio Chigi als Papst Alexander VII. direkt anknüpfen,16 vor allem durch die Ausgestaltung des 13 14
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Vgl. F. Dante, Chigi Agostino, in: Dizionario Biografico degli Italiani 24 (1980) S. 735-743. E. Fasano Guarini, „Roma officina di tutte le pratiche del mondo": dalle lettere del cardinale Ferdinando de' Medici a Cosimo I e a Francesco I, in: La Corte di Roma (Anm. 2) S. 265297. Vgl. dazu M.A. Visceglia/C. Brice (Hg.), Cérémonial et rituel à Rome (XVIe-XIXe siècle), Rome 1997. Immer noch in vielem grundlegend dazu: R. Krautheimer, La Roma di Alessandro VII, Roma 1983; die Erträge der neueren Forschung zu politischen, kulturellen und künstlerischen
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Petersplatzes mit seinen gewaltigen, die Gläubigen umarmenden Kolonnaden, allerdings in einer solchen Siegesbekundungen des Papsttums weit reservierter gegenüberstehenden Zeit nach Abschluß des (gegen den Widerstand Innozenz' X . Pamphili zustandegekommenen) Westfälischen Friedens. Im dritten Jahrzehnt des Seicento aber war Rom noch viel stärker ein europäischer Mittelpunkt: durch die politisch-militärischen Bemühungen um Rückgewinnung konfessionellen Terrains und vor allem durch die einzigartige Produktivität im Bereich der bildenden Künste, die diese propagandistisch zu untermalen und zu begleiten hatten. In dieses Bild zum äußersten angespannter Anstrengungen fügen sich nahtlos die Heiligen Jahre von 1600 und 1625 ein, als Hunderttausenden katholischer Pilger aus ganz Europa in einer baulich glanzvoll erneuerten Stadt die von allen protestantischen Bestreitungen unangefochtene theologische Gültigkeit von Wallfahrt, Ablaß und den damit verbundenen Riten in eindrücklicher Sinnfälligkeit vor Augen geführt wird.17 Zugleich war Rom in dieser Zeit, wie erwähnt, ein regelrechtes politisches und kulturelles Laboratorium, aus dem innovative Ideen - etwa die von dem Jesuiten und späteren Kardinal Bellarmin erneuerte Theorie des päpstlichen Primats als potestats indirecta über die christlichen Herrscher - , aber auch erregend neue ästhetische Konzepte hervorgingen. Auch nach dem Dämpfer, den die hochfliegenden politischen Erwartungen nach der ebenso harten wie unbefriedigend endenden Auseinandersetzung mit Venedig über die staatskirchlichen Tendenzen an der Lagune 1605/06 erfuhren, bleibt die Ewige Stadt ein Magnet für Talente aller Art - durften diese doch am päpstlichen Hof auf lukrative, auch nach Trient mit Benefizien und Pensionen reichlich dotierte Anstellung, sei es als Jurist im Dienst von Kardinälen, sei es als Künstler im Auftrag der sich regelmäßig ablösenden Nepotendynastien, hoffen.18 Kulturelles Leben am Tiber konzentriert sich dabei vor allem auf den Hof der regierenden Familie, seit 1623 der Barberini, danach auf die führenden Kardinalshaushalte und schließlich auf die literarischen, gelehrten und künstlerischen Akademien. Führend unter diesen gelehrten Zirkeln,19 in die sich hinter der Fassade theologischer Diskussionen auch freidenkerische Elemente einzuschleichen vermochten, sind die 1603 von Federico Cesi gegründte Accademia dei Lincei, die 1621 bis 1623 in den Gärten des Quirinais tagende Accademia dei Virtuosi und die ebenfalls 1603 aus der
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Aspekten in: A. Angelini/M. Butzek/B. Saini (Hg.), Alessandro VII Chigi (1599-1667). H papa senese a Roma moderna (Ausstellungskatalog), Siena 2000. Dazu S. Andretta, Devozione, controversistica e politica negli anni santi. 1550-1600, in: S. Nanni/M.A. Visceglia (Hg.), La città del perdono. Pellegrinaggi e anni santi a Roma in età moderna (=Roma moderna e contemporanea, V, 2 / 3 ) Roma 1997, S. 355-376; ders., Gli anni santi del Seicento, in: A. Zuccari (Hg.), La storia dei giubilei, HI, Firenze 1999, S. 10-41. Vgl. dazu M. Rosa, Per „tenere alla futura mutatione volto il pensiero". Corte di Roma e cultura politica nella prima metà del Seicento, in: La corte di Roma (Anm. 2) S. 13-36. Zu den römischen Akademien: R. Merolla, L'Accademia dei Desiosi, in: Roma moderna e contemporanea 3 (1995) S. 121-125.
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Taufe gehobene Accademia degli Umoristi mit Chigis Freund Agostino Masnardi als Mittelpunkt, der zugleich führendes Mitglied der im Palast des Kardinals Maurizio di Savoia zusammentretenden Accademia dei Desiosi war. Nicht weniger aufmerksam wurden die erregenden naturwissenschaftlichen Entdeckungen und Probleme der Zeit verfolgt und debattiert. So drückt Chigi in einem aus seiner Zeit als Vizelegat in Ferrara stammenden Brief20 seine intellektuelle Bringschuld gegenüber einem Buch von Galilei aus - Datum der 26. Oktober 1632, als die Verurteilung des Pisaner Physikers nahe bevorsteht und seine Texte gleichwohl in kurialen Kreisen weiter zirkulieren.21 Dasselbe Interesse findet in den Briefen Niederschlag, die der in Siena zwischen 1630 und 1641 als Arzt tätige (und seinem Freund nach dessen Erhebung zum Papst nach Rom folgende) Mattia Naldi über Galileis Aufenthalt in Siena und seine dortigen Dispute mit Francesco Pelagi schreibt - nicht ohne unverhüllte Sympathie für Ideen und Methode des grossen Gelehrten zu bezeugen.22 Chigi hingegen begnügt sich in seinem Schreiben an Naldi mit einem lakonischen Epilog: Galilei hatte eine verbotene Meinung, kein weiterer Kommentar, Rom, den 3. Oktober 1633.23 Das Kulturzentrum Rom war mindestens ebenso sehr wirtschaftliche Metropole. Wie Wolfgang Reinhard in einer Arbeit aus dem Jahre 1984 nachgewiesen hat,24 wurde eine erste finanzgeschichtliche Phase des Papsttums im 16. Jahrhundert von stetig gesteigerter Besteuerung des Kirchenstaates (mit die geistlichen Einnahmen immer deutlicher übertreffenden Erträgen) und entsprechend potenzierten Ausgaben für Nepotismus und Urbanisitik markiert. Auf sie folgten weiter erhöhte Ämterkäuflichkeit und die fortschreitende Ausbildung einer Schicht finanzkräftiger Steuerpächter florentinischen und genuesischen Ursprungs, die alleine über die Mittel verfügten, gegen Einzug der Abgaben vor Ort Pauschalbeträge an die Papstfinanz zu zahlen und dieser die immer höheren Summen für Hof, Nepoten und Klienten auch als Kredit vorzuschießen. Auf diese Weise als gewissermassen vertikales Element in die kurialen Netzwerke eingeführt, bahnten sie zugleich ihren eigenen Klienten den Weg dahin. Schlüssel- und Nahtstellen auf diesem von den Finanzen gebahnten Parcours von der Peripherie zum Zentrum waren die nicht käuflichen, vom Papst besetzten Kammer-Ämter der Depositaria generale und der Tesoreria segreta. Doch erschöpft sich die Tätigkeit der toskanischen und ligurischen 20 21
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Das Schreiben Chigis an Giulio Sacchetti in BAV, Chigiano, AÜ.27, c. 6r. I. Fosi, All'ombra dei Barberini. Fedeltà e servizio nella Roma barocca, Roma 1997, S. 225 Anm. 38. Le opere di Galileo Galilei. Edizione nazionale, Bd. XV, Firenze 1904, S. 185f„ 279. Auch P. Sforza Pallavicino hatte 1629 dem damals in Ferrara weilenden Chigi zu Galilei geschrieben, dessen Lehre er als Fabel abtat; vgl. dieselbe Edition, Bd. XVm, Firenze 1906, S. 428. BAV, Chigiano, A.I.3, c. 35r. W. Reinhard, Finanza pontificia e Stato della Chiesa nel XVI e XVII secolo, in: A. De Maddalena/H. Kellenbenz (Hg.), Finanze e ragion di stato in Italia e in Germania nella prima età moderna, Bologna 1984, S. 353-387.
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Bankiersfamilien in dieser Zeit nicht in der reinen Speisung des Finanzmarktes, sondern strahlt darüber hinaus durch intensives Mäzenatentum in Kunst und Kultur aus, wo sich die von ihnen in Auftrag gegebenen Werke einerseits den tridentinischen Normen anpassen, andererseits jedoch eigene, schichtenspezifische Werte und damit die Eigenständigkeit des in die Ewige Stadt implantierten und dort weiter ausgebauten Familienstatus feiern. Für Fabio Chigis weiteren Karriereverlauf wird die Protektion eines auf diesem Wege aufgestiegenen Kardinals, Giulio Sacchetti25 aus der Familie der Bankiers Urbans VIII., ausschlaggebend; von dessen Brüdern war Marcello Depositario generale und Tesoriere segreto in Personalunion, während Giovanni Francesco heikle militärische und diplomatische Aufgaben im (zeitweise päpstlich verwalteten) Veltlin wahrnahm und Alessandro ähnliche Posten im Kirchenstaat bekleidete. Aufgrund gemeinsamer landsmannschaftlicher Herkunft wird die Familie Sacchetti für den Neuankömmling Chigi zu einer unverzichtbaren Anlaufund Orientierungsstation für die kuriale Karriere - über die so gewonnenen Unterweisungen hinaus oblag es dann dem Kandidaten selbst, die zum Fortschreiten auf dieser Laufbahn nötigen Beziehungen und Eigenschaften auszubilden. Wurden diese im 16. Jahrhundert noch sehr machiavellisch als die zum Segeln auf bewegtem Meer unverzichtbaren Elemente virtù und fortuna,26 Tatkraft und Glück, angesprochen, so bevorzugt man nach Trient zumindest in offiziellen Verlautbarungen eine sanftere Metaphorik: prudenza, d.h. Vorsicht, Zurückhaltung, Augenmaß, lautet das neue Leitbild, wie es in Traktaten, privaten und offiziellen Briefwechseln als klassisches, von christlicher Ethik und einem unter den europäischen Eliten verbreiteten Neostoizismus Lipsiusscher Prägung gehärtetes und vertieftes Leitmotiv hervortritt. Bei seiner Ankunft in Rom im Dezember 1626 wird Chigi darüber hinaus im Umkreis der Jesuiten, speziell des Ordensgenerals Muzio Vitelleschi, aber auch von weiteren an der Kurie etablierten Persönlichkeiten wärmstens willkommen geheißen, vor allem von Giovanni Ciampoli aus Florenz, unter Gregor XV. und Urban VIII. einflußreicher Literat, Freund und Protektor Galileis. Ab 1629 Referendar beider Signaturen und damit auf der ersten Stufe des kurialen cursus honorum,27 sieht Chigi durch die im Jahr zuvor erhaltene Tonsur seine 'weltliche' Identität, d.h. die Zugehörigkeit zu seiner Familie, ausgelöscht: „Nach Eintritt in den geistlichen Stand wollte er auf Familiennamen und Wappen verzichten, wurde aber von Freunden und Prälaten von diesem Vorhaben abgebracht" - auch diese Aussage der autobiographischen Aufzeichnungen ist sorgfältig auf ein geisüiches, ja entschieden antinepotistisches Image und damit auf eine gewisse Distanzierung zu den Barberiniund Pamphili-Pontifikaten hin berechnet, wobei dieser Reformeifer und dieser Purismus, in einer Zeit allmählich laut werdender Kritik am Nepotismus geschickt 25 26 27
ZÌI diesem vgl. Fosi, All'ombra dei Barberini (Anm. 21). Vgl. F. Commendone, Discorso sopra la corte di Roma (hg. von C. Mozzarelli), Roma 1996. BAV, Chigiano, A.I.43.
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plaziert, ebenso bezeichnenderweise von römischen 'Freunden' im Bewußtsein für die kuriale Karriere unverzichtbarer Familien- und Verwandtschaftsbande behutsam zurückgestuft werden.28 Nicht minder sind diese Bemerkungen als Testament für eine Nachwelt zu verstehen, der sie damit die schwierige Wahl des neu gewählten Pontifex maximus Alexander VII. - Verzicht auf Nepotismus oder dessen moderate Praxis - und damit ein moralisches Dilemma vor Augen führen. Dieses aber besteht zwischen dem integren individuellen Wollen und den Zwängen bzw. der Logik eines höfischen Ambientes, das von den ehernen Gesetzen der Dankespflicht gegenüber Heimat und Verwandten bestimmt wird.29 Gemeinsame Herkunft, Freunde, literarische und künstlerische Interessen sowie rhetorische Fähigkeiten: Diese Merkmale des von seinem Naturell her zurückhaltenden, in sich gekehrten, als gelehrter Liebhaber frommer wie klassischer Literatur und Kunst ausgewiesenen Chigi bleiben aufmerksamen Kurialen an der Seite des Papstes und selbst dem Kardinalnepoten Francesco Barberini nicht verborgen; letzterer ist von Amts wegen immer auf der Suche nach bereits ausgebildeten wie vielversprechenden Talenten und Begabungen aller Fächer, sei es Theologie, Kanonistik, Recht, Philosophie oder auch auf dem Gebiet der Künste, so die Beschreibung Giulio Cesare Mancinis, des aus Siena gebürtigen Leibarztes Urbans VIII. und Autor politischer Schriften, Freund und Förderer Chigis an der Kurie.30 Dieser ist es denn auch, der zusammen mit Ciampoli Chigi im Januar 1629 Urban VIII. vorstellt, der diese Präsentation huldvoll aufnimmt. Für karrierebewußte Sprößlinge der europäischen Eliten insgesamt und der italienischen Aristokratien und Patriziate31 insbesondere boten auch die zahlreichen römischen Gerichtshöfe vielfältige Wirkungs- und Aufstiegschancen, am stärksten zweifellos deren höchster, die Sacra Rota Romana. Im Büro des Rota-Auditors demente Merlini, dem Chigi zugeordnet wurde, traf er u.a. den einige Jahre jüngeren Andrea Mangelli, der ebenfalls juristische Tätigkeiten und diplomatische Aufgaben in Spanien, zusammen mit Jacopo Panziroli und Giulio Rospigliosi, vereinen sollte, sowie Stefano Ugolini, der in der Nachfolge Onorato Onoratis bis 1636 sein Agent und Finanzverwalter wurde, als solcher auch während seiner langen Abwesenheiten zuerst in Malta und dann in Deutschland tätig.32 So vermochte Chigi während der ihm endlos erscheinenden Absenzen im Dienst des Papstes die vitalen Kontakte zu seinen 28 29
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Incisa della Rocchetta (Anm. 3) S. 448. W. Reinhard, Nepotismus: der Funktionswandel einer papstgeschichtlichen Konstanten, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 86 (1975) S. 145-185. BAV, Barberino lat. 4315, c. 264ff„ zitiert in: A. Menniti Ippolito, H tramonto della curia nepotista. Papi, nipoti e burocrazia curiale tra XVI e XVII secolo, Roma 1999, S. 34. M. Pellegrini, Corte di Roma e aristocrazie italiane in età moderna. Per una lettura storicosociale della curia romana, in: Rivista di storia e letteratura religiosa 30 (1994) S. 543-602. K. Repgen, Die Finanzen des Nuntius Fabio Chigi. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der römischen Führungsgruppe im 17. Jahrhundert, in: ders., Dreißigjähriger Krieg (Anm. 1) S. 353-403.
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Freunden33 aufrechtzuerhalten, über höfische Parteien, Manöver, Stimmungen und Gesinnungen ihrer Protagonisten auf dem laufenden zu bleiben, ungeachtet aller enttäuschten Bekundungen seinen Briefpartnern gegenüber, von den römischen Ereignissen ausgeschlossen zu seinIn den ersten römischen Jahren geknüpfte Freundschaftsbande konnten sich dabei nach Phasen der Auflösung wieder festigen, um schließlich, vor allem während des Pontifikats, äußerst tragfähig zu werden. Sforza Pallavicino, Giulio Rospigliosi und Giovan Battista Scanaroli, Autor eines Werkes 'Vom Visitieren der Eingekerkerten', etwa treffen wir unter Alexander VII. in führenden Positionen der geistlichen und weltlichen Regierung wieder. Drei Jahre intensiver Tätigkeit am römischen Hof genügten Chigi als Lehrzeit, um die kuriale Karrieren steuerenden Gesetze und Strategien ganz zu erfassen, sich am päpstlichen Hof zu behaupten und zugleich Beziehungen zu künftigen Mitarbeitern zu knüpfen, ja eine homogene Gruppe von kompetenten Ratgebern um sich zu scharen, die auch in schwierigen Situationen um sichere Erfolgsregeln nicht verlegen war - so antwortete Chigi, wie seine autobiographischen Aufzeichnungen festhalten, in kluger Zurückhaltung 1642 auf die (Fang-?)Frage eines Kardinals, „ob er auf die flandrische Nuntiatur beim Kardinal-Infanten überzuwechseln gesonnen sei, daß ihm danach nicht der Sinn stehe".35 Am Ende aber sind es Gehorsam, Treue und Dienst der Kreatur am Patron, die Chigi in langjährige diplomatische Missionen bzw. Regierungsaufgaben und damit schweren Herzens zum Verzicht auf ein zurückgezogenes, der literarischen Muße und dem Nachdenken über Kunst gewidmeten Leben, weitab vom Lärm und Dunstkreis der politischen Arena, zwingen.
Die Vizelagetion in Ferarra in den Briefen Fabio Chigis an Giulio Sacchetti Erste Station auf diesem Weg war die Vizelegation in Ferrara, an der Seite Kardinal Giulio Sacchettis, seines frühen römischen Patrons, zu dem sich ein ausgeprägtes Freundschafts- und Vertrauensverhältnis gebildet hatte, das sich in den nachfolgenden Jahren als Folge gemeinsamer Regierungsaufgaben und geteilter zermürbender Erfahrungen an europäischen Höfen, darunter dem römischen, weiter vertiefen sollte. Als Nuntius in Madrid zwischen 1624 und 33
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So unterhielt er mit Cassiano Del Pozzo, dem berühmten Kunstkenner und -Sammler, einen intensiven brieflichen Austausch zu diplomatischen und ästhetischen Fragen: BAV, Chigiano A.m.56, c. 483r-668v. Eine Korrespondenz mit Nicio Eritreo bestand von 1641 bis 1647, der Briefwechsel mit Giulio Sacchetti in BAV, Chigiano A.m.54. BAV Chigiano A.I.3, c. 63r. Incisa della Rocchetta (Anm. 3) S. 446.
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1626 war Sacchetti mit dem ebenso allmächtigen wie unberechenbaren Minister Olivares und den von diesem vertretenen Hegemonieansprüchen Spaniens konfrontiert gewesen - und aneinander geraten, was ihn zweimal, 1644 und 1655, in Form spanischer Opposition um seine ansonsten sehr guten Chancen brachte, selbst Papst zu werden.36 In seinem Gratulationsbrief zu Chigis Ernennung zum Vizelegaten bringt Sacchetti die Grundwerte ihrer Freundschaft und der Verpflichtung gemeinsamen Protektoren gegenüber vollendet zum Ausdruck: Im Sinne guten Dienstes an unseren Patronen und im Interesse unser Freundschaft, so schrieb der Kardinal am 15. September 1629, gereicht mir Ihre Wahl zum Vizelegaten zu sehr großer Freude, um so mehr, als Sie mit Ihren Qualitäten, mit Ihrer Klugheit und Güte den Erwartungen Ihrer Heiligkeit und meinen Hoffnungen, bei dieser schwierigen Mission von Ihnen entlastet zu werden, voll und ganz entsprechen werden. Ich bin darüber des weiteren um so glücklicher, als ich Ihre überaus freundschaftliche Einstellung mir gegenüber klar erkenne, die ich zu meinen kostbarsten unter diesen Besitztümern zähle, und entbiete Ihnen daher die Bekundungen meines allerbesten Willens ....37 Zum Verständnis dieser Sätze ist zu berücksichtigen, daß die Auswahl seines Stellvertreters im wesentlichem dem - zur Erfüllung seiner Aufgaben auf einen durch Freundschafts- und Vertrautheitsbande äußerst verläßlichen Mitarbeiter essentiell angewiesenen - Legaten selbst oblag: ein Einfluß, den Sacchetti hier bewußt ausblendet, um statt dessen alles Verdienst dem gemeinsamen Protektor, dem Papst, zukommen zu lassen, von dem beider Karrieren und Geschicke abhingen. Durchgehend in Ferrara als treuer Exekutor der vom - meist in seinem Bistum Fano residierenden - Kardinal-Legaten erhaltenen Anweisungen ansässig, hatte Chigi eine durch die Nähe deutscher Truppen infolge des Mantuanischen Erbfolgekrieges schwierige Lage zu meistern. Dabei bildete er Positionen aus, die mit ihrer Distanz und Skepsis zu den bewegten politischen Ereignissen auf europäischer Bühne denen seines Protektors ähnlich ausfielen38 - eine bereits während des Aufenthalts in Madrid bezogene Haltung, die durch die Schwierigkeiten der römischen Vermittlungs- und Befriedungsmissionen wie auch aus dem Bewußtsein genährt wurde, daß die Stellung des Papsttums im Konflikt zwischen den Großmächten Spanien und Frankreich und in den reichsinternen Auseinandersetzungen stetig schwächer wurde. Bei der Wahrnehmung der Legation Ferrara wirkte Sacchetti als politischer Lehrmeister seines Schützlings, hielt es jedoch ebenfalls nicht für unter seiner Würde, dessen Qualitäten und Fähigkeiten auch zur Lösung persönlicher Probleme und zum Vorteil seiner Klientel (die, wie er Chigi permanent in Erinnerung ruft, auch dessen eigene ist) einzusetzen bzw. auszunutzen - Freundschaft gwinnt damit 36
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Zu Sacchettis spanischen Erfahrungen und der Legation in Ferrara vgl. Fosi, All'ombra dei Barberini (Anm. 21) S. 55-109. BAV, Chigiano A.m.55, c. 8r. Vgl. etwa Sacchettis Brief vom 27. Juli 1632 an Chigi: BAV, Chigiano A.m.55, c. 82r.
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über alle persönlichen Aspekte hinweg durch die Akzente Treue und Dankbarkeit einen schließlich entschieden politischen Charakter und wird so zum Band, das die Freunde zu Verbündeten in ihrem Dienst am Gemeinwohl zusammenschweißt. In seinen Briefen aus Fano oder Rom, wo er sich oft zwecks Aufrechterhaltung seiner Kontakte zum Hof, speziell Kardinal Antonio Barberini, aufhielt, zeigt sich Sacchetti durchgehend äußerst interessiert daran, wie und in welchem Maße es seinem Stellvertreter gelingt, die Ausbreitung der Pest durch Ausarbeitung von Schutzstrategien in nicht immer einfacher Zusammenarbeit mit demVizelegaten Urbinos, Gaspare Mattei, zu verhindern. Die so dringend erbetenen Nachrichten aber lieferte Chigi, wohl aufgrund seiner Auslastung mit Geschäften, aber auch seines zurückhaltenden Naturells eher sparsam - zum Leidwesen seines Protektors, der alle Erfolgsmeldungen mit Genugtuung, als Bestätigung seiner klugen Auswahl eines exemplarisch fähigen und verläßlichen Mitarbeiters aufnimmt,39 dessen Qualitäten er bei Hofe zu rühmen nicht müde wird. Dort nämlich nimmt Sacchetti nach dem Erfolg seiner Ferrareser Legation eine unbestrittene Spitzenposition ein - zu seinem, seiner Familie und seines Schützlings Nutzen.40 Zu den in seinen Briefen an Chigi in väterlichem Ton dargelegten, aus der reichen Traktatliteratur zu diesem Thema abgeleiteten und an die jeweilige Situation angepaßten Normen und Erfolgsregeln für den römischen Hof und seine Laufbahn aber fügt Sacchetti auch persönlicher eingefärbte, aus seiner eigenen Erfahrung gewonnene, immer sehr moderate Urteile über kuriale Persönlichkeiten, mit denen sein Schützling aller Voraussicht nach in näherer Zukunft zu tun haben würde. Auch hier tritt als Leitmotiv der Unterweisimg die öffentliche und private Kerntugend der prudenza hervor, deren sich Chigi zur weiteren Ausbildung und Ausrichtung der von ihm unter Beweis gestellten Fähigkeiten bei der Wahrnehmung von Regierungsaufgaben befleißigen sollte Ermahnungen, die bei ihrem Adressaten aufgrund von dessen klassischer Bildung auf um so fruchtbareren Boden fielen: Lob eines goldenen Mittelweges als Fähigkeit zur Leidenschaftslosigkeit, zum ausgewogenen Handeln, Reden und Schweigen, Vorsicht und Affektkontrolle, diktiert von einem stets unsicheren, in dauernder Bewegung befindlichen Ambiente, an dessen sämtlichen Ecken und Enden Konkurrenten und Späher lauern. Dabei genießt Chigi immer stärker auch die Protektion der Familie Sacchetti als ganzer,41 die sich andererseits nicht scheut, sich seiner guten Dienste zu versichern; so etwa bittet Giovanni Francesco 39 40 41
BAV, Chigiano A.m.55, c. 44. BAV, Chigiano A.m.55, c. 41r. So schreibt Kardinal Sacchetti bei späterer Gelegenheit an den zu Dienstgeschäften in Venedig weilenden Chigi, ironisch auf die widrigen klimatischen (und sonstigen) Bedingungen an der Lagune anspielend, er hoffe, ungeachtet der Nässe von Wetter und Ort gehe es Chigi gesundheitlich gut, zudem freue er sich über ein Lebenszeichen, um so mehr, wenn es ihm Gelegenheit gebe, sich für diesen zu verwenden: BAV, Chigiano A:IH.55, c.
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Sacchetti, der Chigi besonders eng verbunden ist und ihn nach Venedig und Malta begleiten wird, den Vizelegaten 1631 direkt, ohne den Umweg über seinen Bruder, um einen Gefallen: Als Folge seiner Ehe mit Beatrice Tassoni selbst Patrizier von Ferrara, richtet Giovanni Francesco sein Trachten auf den Erhalt eines guten vakanten Lehens in dieser Gegend - und läßt sich, um dieses gezielt beim Papst erbitten zu können, von Chigi darüber Informationen erster Hand liefern, in Ermangelung anderer Protektoren bzw. Vertrauter, wie es ausdrücklich heißt, um die Bedeutung dieses Dienstes zu unterstreichen.42 Lehrzeit war die Vizelagtion für Chigi aber auch noch in anderer Hinsicht: Unter dem Mentorat Sacchettis wird ihm Gehorsam, ja Verzicht auf den eigenen Willen - nicht hingegen auf die eigene Ehre - als Unterdrückung von Eitelkeit und Hochmut vermittelt. Zu konkreter Anwendung kamen diese Prinzipien in den zeittypischen Streitigkeiten über die Präzedenz, über Vorrang durch Vorangehen, nicht ohne Härte und Bitterkeit ausgetragen vor allem mit Jacopo Panziroli, dem künftigen Staatssekretär Innozenz' X. In diesen Auseinandersetzungen ermahnen die Briefe Sacchettis den auf die Ehre seines Amtes pochenden, sehr etikettebewußten Klienten zur nötigen Umsicht und Vorsicht, zu prudenza.43 Im erst 1598 nach jahrhundertelanger Herrschaft der Este unter die unmittelbare Hoheit des Papstes zurückgekehrten Ferrara hatte der Legat als Vertreter des neuen Souveräns hohen symbolischen und politischen Stellenwert als Vermittler und gegebenenfalls Schlichter zwischen Rom und der lokalen Aristokratie; seinem Stellvertreter Chigi oblagen dadurch - wiederum vom Gebot der prudenza diktierte - vielfältige Aufgaben, nicht zuletzt, sehr modern ausgedrückt, im Bereich public relations. Feste, Empfänge, Bankette, Geselligkeit hießen die diesbzüglichen Proben aufs Exempel, um so mehr, als solche öffendichen Lustbarkeiten unter den Este-Herzögen eine wichtige integrative, Herrscher, Hof und Untertanen verklammernde Aufgabe erfüllt hatten, die es jetzt zugleich aufrechtzuerhalten und im Sinne des Papstes, zwecks Stiftung von Konsens zwischen ihm und der Elite sowie unter deren Segmenten, umzufunktionieren galt. Und auch diese höfische Soziabilität bzw. Semiotik lernt Chigi, aller Stilisierung zum Verächter mondänen Lebens in seinen autobiographischen Skizzen zum Trotz: In Ferrara wohnte er, von den Notwendigkeiten des Amtes diktiert, öfter vom dortigen, aller Strenge so abholden Volk so geschätzten Vergnügungen wie Maskenumzügen und Komödien bei - und stellt durch diese (seinem Protektor berichtete) Anpassungsfähigkeit zugleich 42
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BAV, Chigiano A.m.55, c. 228. In diesem Fall kennzeichnend die Wechselseitigkeit im Verhältnis zwischen Klient und Patron, je nach Situation und Kontext; vgl. Kettering (Anm. 12) S. 42ff. BAV, Chigiano A.m.55, c. 75r-80r; Fosi, All'ombra dei Barberini (Anm. 21) S. 121-131. Auch bei späteren Anlässen, etwa bei den Verhandlungen des Westfälischen Friedens, zeigte sich Chigi für Protokollfragen äußerst sensibilisiert: S. Andretta, Ceremoniale e diplomazia pontificia nel XVII secolo, in: Visceglia/Brice (Anm. 15) S. 201-222.
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seine Eignung für höhere Aufgaben unter Beweis. Überhaupt sind seine Briefe sehr aussagekräftig für eine Karriere an einem Außenposten der Kurie - für die Notwendigkeit, den Patronen nicht zu mißfallen, Eignung für den päpstlichen Dienst, Fortschritte in den Geschäften, und seien sie oft noch so gering, nachzuweisen, sei es in den Verhandlungen mit Venedig, sei es im Verhältnis zum Präsidenten der Romagna, Monsignor Corsini aus einflußreicher florentinischer Familie. Dabei handelt es sich um Leitmotive, derer sich Kardinal Sacchetti zwecks weiterer Verwendung zu Chigis Gunsten beim Papst bedienen sollte, um sorgfältig einstudierte Worte und kunstvoll berechnete Sätze somit, die uneingeschränkte Dienstbereitschaft und Unwürdigkeit zu diesem Dienst zugleich rituell beteuern, von prudenza diktiert und zugleich Abspiegelung realer Erfolge und Erfahrungen am Anfang einer kurialen Karriere. Aus Unsicherheit, Eifer oder Gefälligkeit unterbreitete Chigi seinem Patron dabei Dokumente zu seinen Verhandlungen mit Venedig: Vorschläge für Abkommen, Briefe an den Nuntius an der Lagune. Dabei vergewissert er sich der Billigung von oben und hält zugleich mit seiner Kritik an der venezianischen Politik, an deren von Staatsräson diktierten aggressiven Finten und weiteren, in seinen Augen nicht weniger dubiosen Strategien in den Grenzstreitigkeiten mit Rom, nicht hinter dem Berg.44 Zu diesen Konflikten kamen, wie bereits erwähnt, die vom Mantuanischen Erbfolgekrieg aufgeworfenen Spannungen, in deren Folge Chigi auch zum militärischen Kommandanten ernannt und zur Einarbeitung in eine ihm denkbar fremde Materie gezwungen wurde. Doch vermochte er letztendlich diese wie auch die von der Pest aufgeworfenen Probleme erfolgreich zu lösen. Letztere, von den nach Mantua strömenden Söldnern eingeschleppt (und von Manzoni in den 'Promessi sposi' literarisch verewigt), wird durch einen dichten cordon sanitaire von Ferrara ferngehalten - Erfahrungen, von denen Chigi schon in seinem zweiten Pontifikatsjahr 1656/57 profitieren sollte, als die Pest diesmal bis nach Rom vordringt, doch durch seine entschlossene Quarantäne- und Hygienepolitik eingedämmt wird. Darüber hinaus vielfältig - durch Abwicklung finanzieller Transaktionen, in Stellvertretung Kardinal Antonio Barberinis als Taufpate für Sprößlinge der lokalen Aristokratie etc. - zum Vorteil seiner Sacchetti- und Barberini-Patrone tätig, scheut sich Chigi nicht, von diesen auch zählbare Gunstbeweise für seine guten Dienste zu erbitten, und zwar in äußerst verklausulierter, für beide Seiten das Gesicht wahrender Form: Er besitze, so Chigi in einem Brief vom 29. April 1633, leider nicht das für noch nützlicheren Dienst an der Kirche nötige Familienvermögen und tröste sich darüber mit der Lektüre des Franz von Sales hinweg ...45 Als erste Bekanntschaft mit Regierungsgeschäften, ihren Regeln und Mechanismen, hat Chigi seine Ferrareser Vizelegation immer als Grundstein seiner Laufbahn als Prälat in öffentlichen 44 45
BAV, Chigiano A.Ü.27, c. llv-12r. BAV, Chigiano A.Ü.27, c. 13v-14r.
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Geschäften betrachtet, wie er sich im Rückblick auf diese Zeit in seinen autobiographischen Aufzeichnungen stilisiert, dabei den Idealen der vielen am römischen Hof verbreiteten Instruktionen vollendet entsprechend: gerecht und unparteiisch, Schützer der Schwachen und vor allem, wie in seinen Briefen stark betont, Ausgleichs- und Friedensstifter im Auftrag einer höheren Macht, aktiv vor allem in Streitigkeiten der örtlichen Aristokratie. Mit der von Urban VIII. am 28. April 1634 vollzogenen Ernennung zum Inquisitor und apostolischen Delegaten in Malta wird Chigi eine neue Aufgabe übertragen, die ihn, wie er Kardinal Sacchetti brieflich mitteilt, zu intensiver Berschäftigung mit Theologie und Dogmatik bringt oder vielleicht sogar zwingt, nämlich um Zweifel an seiner diesbezüglichen Eignimg auszuräumen. Fehlende Kenntnisse auf diesem Gebiet hätten nicht nur die maltesische Mission, sondern auch Phasen des späteren Pontifikates überschattet, als sich nämlich Alexander VII. mit äußerst verzwickten Problemen dieser Art im Zusammenhang mit Jansenismus und chinesischem Ritenstreit auseinanderzusetzen hat, unter Heranziehimg von Gutachten, die teilweise von bislang vertretenen Positionen abweichen.46 So nützlich diese Einarbeitung47 also später war: 1634 war nicht nur Chigi selbst, sondern wohl auch sein römischer Freundeskreis mit Giovanni Francesco Sacchetti an der Spitze über diese Ernennung enttäuscht - man hatte sich ein prestigeträchtigeres und vor allem auch lukrativeres, Chigis allseits bekannten Finanznöten abhelfendes Amt erhofft. Dazu kamen eher beiläufige Motive: Nicht zuletzt bedauerte Chigi, auf dem Weg vom nebeligen Ferrara in die - von ihm gefürchetete - maltesische Gluthitze nicht, wie so oft versprochen, bei seiner Mutter in Siena Station machen zu können. Ebenso zerschlugen sich die Hoffnungen, durch Fürsprache Giovanni Francesco Sacchettis die Abreise aus klimatischen Gründen vorziehen zu können - Erwartungen, die in charakteristischer Kehrtwendung in seiner Korrespondenz als allzu ichbezogen der Selbstkritik anheimfallen und Beteuerungen uneingeschränkten Gehorsams gegenüber den Wünschen seiner Patrone Platz machen.48 Chigis neue Wirkungsstätte war nach den heroischen Episoden der Verteidigung gegen die Osmanen 1565 zwischenzeitlich Refugium für nachgeborene ahnenstolze und nicht selten schwer disziplinierbare junge Adelige geworden, die hier, in beruhigender Distanz zu den in Europa ausgefochtenen Kriegen, als Mitglieder eines vornehmen Ritterordens aristokratisches Prestige auszuleben hofften.49 Die somit durchaus dornenreiche Aufgabe, die da seiner harrte, verklärt Chigi wider 46
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Vgl. M. Albert, Nuntius Fabio Chigi und die Anfänge des Jansenismus 1639-1651. Ein römischer Diplomat in theologischen Auseinandersetzungen, Rom/Freiburg/Wien 1988, S. 19. Von dieser spricht Chigi in seiner Korrespondenz mit Kardinal Sacchetti: BAV, Chigiano A.Ü.27, c. 18r. BAV, Chigiano A.Ü.27, c. 18v. Zur sozialen und kulturellen Relevanz des Malteserordens für den italienischen Adel vgl. A. Spagnoletti, Stato, aristocrazie e ordine di Malta nell'Italia moderna, Roma 1988.
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besseres Wissen in einem Brief an seinen Onkel Agostino Chigi zum ehrenvollen, aus persönlicher Wertschätzung des Papstes heraus übertragenen Auftrag: Auch gute Miene zum ernüchternden Spiel machen zu können, gehört zum Kodex höfischer Verhaltensweisen, ebenso, die eigene Enttäuschung anderen zuzuschreiben. Am römischen Hof haben einige mir besonders ergebene Freunde, statt ihre Freude zu bezeugen, deutlich gemacht, daß sie mich zu Höherem berufen glauben.50 Auch die Ernennung zum Bischof von Nardö war, trotz aller wohltuenden Beteuerungen Urbans VIII. (Wir wollen ihm eine der besseren Kirchen geben), kein Trost, fürchtete er doch, wie in einem Brief an Kardinal Sacchetti ausgedrückt, eine Art 'Aus den Augen, aus dem Sinn', d.h. abseits von Hof und Herrscher in der Provinz vergessen zu werden. Doch durfte er sich bei aller Frustration der Unterstützung seiner Freunde sicher sein: Herr Giovanni Francesco Sacchetti, Monsignor Panzirolo und der cavaliere Del Pozzo werden mir helfen, sobald im Königreich Neapel eine bessere Kirche vakant ist, doch würde ich genau so gerne meine Braut im Kirchenstaat oder ausserhalb des Königreichs finden,51 schrieb er Agostino. Am Ende waren trotz günstigerer Witterungsverhältnisse52 die Beschwerden der Reise nach Malta, wie in einem Brief an Alfonso Agnelli in Ferrara beschrieben, immens: Ich esse und trinke nicht, liege andauernd im Bett und habe alle nur denkbaren Schmerzen in Kopf und Magen, dazu Schweißausbrüche, von den Qualen des Erbrechens gar nicht zu reden* Auch nach Abwicklung dieser peinvollen Mission wird die Wertschätzung des Papstes und seiner Freunde Chigi von Rom und Siena, seinen vertrauten Refugien, fernhalten - und zwar auf lange Jahre hinaus. In den aus Deutschland an Freunde und Protektoren, darunter Kardinal Sacchetti,54 gesandten Schreiben wird er nicht müde werden, mehr oder weniger offen seine fehlende Eignung, ja Unfähigkeit für die übertragenen Aufgaben und damit verbunden seinen Wunsch bekunden, sich aus diesen Verpflichtungen, in der großen Politik als Sachwalter päpstlicher Interessen zu agieren, zurückzuziehen - Gemeinplätze, mittels derer sich Patrone zur Gewährung zählbarer Gunsterweise bewegen ließen, geschickte, von den Handbüchern höfischer Lebensart nahegelegte Verstellung oder aber authentischer Hilferuf im Bewußtsein, den Lauf europäischer Geschichte nicht aufhalten zu können? Aus dem Italienischen übersetzt von Volker Reinhardt. 50
BAV, Chigiano A.I.3, c. 121r-122v. BAV, Chigiano A.I.3, c. 195r. 52 Dennoch negative Bemerkungen zum maltesischen Klima in: P. Piccolomini, Carteggio inedito di Fabio Chigi, poi papa Alessandro VII, in: Bullettàio senese di storia patria 15 (1908) S. 11 Anm. 3. 53 BAV, Chigiano I.A.3, c. 264r. Ähnliche Klagen in einem Brief an Francesco Maria Merlini: Piccolomini (Anm. 53) S. 11. 54 BAV, Chigiano A.H.27, c. 39r. 51
Raffe und regiere! Überlegungen zur Herrschaftsfunktion römischer Kardinalnepoten (1590-1655) Daniel Büchel
In seinem wegweisenden Aufsatz 'Nepotismus. Der Funktionswandel einer papstgeschichtlichen Konstante" stellt Wolfgang Reinhard drei Fragen an den Beginn seiner Abhandlung. In der zweiten und dritten Frage tauchen dabei die zwei Begriffe Herrschafts- und Versorgungsfunktion auf. Damit ist ein Leitmotiv für seine Untersuchungen gegeben: „Wenn das Papsttum als Herrschaftssystem verstanden wird, hat der Nepotismus eine nachweisbare Herrschaftsfunktion?" Die Versorgungsfunktion wird weniger fragend, sondern vielmehr feststellend als offensichtlich bezeichnet, vor allem dahingehend, dass sie für gewisse Familien einen gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichte.2 In der Folge geht Reinhard unter anderem der Frage nach, inwieweit und in welcher Form der Papst seine Verwandten im Laufe der Jahrhunderte nutzte, um seine Herrschaft zu sichern bzw. zu erleichtern und zu welchem Zeitpunkt nur von Versorgung gesprochen werden kann. Mit dem Rückgang der Geldwirtschaft und dem Aufkommen des Lehens- und Benefizienwesens im Frühmittelalter kann zwischen Herrschafts- und Versorgungsfunktion in der lateinischen Kirche kaum mehr getrennt werden, so Reinhard.3 Als Beispiele werden die Viktoriden in Churrätien und die Familienpolitik Ulrich von Augsburgs angeführt. Auch für die Päpste des Hochund Spätmittelalters hätte ein Verzicht auf Rückhalt in der eigenen Familie bedeutet, sich den Baronen schutzlos auszuliefern.4 Die angeführten Beispiele
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Reinhard Wolfgang, Nepotismus. Der Funktionswandel einer papstgeschichtlichen Konstanten, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 86 (1975) S. 145-185. Reinhard, Nepotismus (wie Anm. 1), S. 146. Reinhard, Nepotismus (wie Anm. 1), S. 151. Reinhard, Nepotismus (wie Anm. 1), S. 153.
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sind mehr als deutlich, zeigen aber auch, wie Papstfamilien in ihrer Herrschaftsfunktion reich versorgt wurden. Da diese Verbindung von Herrschaftsund Versorgungsfunktion nicht zu trennen war, stiess sie sogar in Schriften, die schonungslos mit dem Papsttum ins Gericht gingen, nicht auf grundsätzliche Opposition. Kritisiert wurde höchstens, wer über die Stränge schlug und nicht Mass hielt.5 Im 15. Jh. erreichten die Nepoten bei der Wiedergewinnung der Kontrolle über den Kirchenstaat in der Wahrnehmung von Herrschaftsfunktion ihren Höhepunkt, da es ihnen - vor allem den Borgia - gelang, den Papst aus der Abhängigkeit von römischen Adelsfraktionen zu befreien.6 Der Höhepunkt brachte aber auch gleichzeitig die Wende, denn mit dem Übergang vom Nepoten Cesare Borgia zu Papst Julius II. (1503-1513) habe der Nepotismus seine traditionelle, eben erst belebte Herrschaftsfunktion verloren und sei für das Papsttum bereits dysfunktional geworden, da er sich in Zukunft nur noch als Bedrohung des Kirchenstaates erwies.7 Dieser nach Reinhard eindeutige Befund, dass die Herrschaftsfunktion des Papstnepotismus ziemlich genau um 1500 zu Ende sei, werde kompliziert und widersprüchlich durch die gerade in dieser Zeit begründete, formal institutionalisierte Position eines Kardinalnepoten, die auf den ersten Blick auf eine höchst bedeutsame Herrschaftsfunktion hinweist. Zurecht unterstreicht Reinhard aber, dass juristische Bestimmungen nicht als Aussagen über die sozial-politische Wirklichkeit gedeutet werden dürfen,8 eine Position, die vor allem der 'Breve-gläubigen' Ansicht Laurain-Portemers entgegengehalten wird.9 Dennoch hatten die Nepoten - wenn auch gegen ihre Intention - eine neue, latente Herrschaftsfunktion erhalten, nämlich durch die Entlastung des Papstes nicht von Arbeit und Verantwortung, sondern von sozialem Druck: Durch Verfügungen „per lettere de ss.ri Card.li Nipoti" konnten die Päpste in einer zwar rechtsverbindlichen, aber doch verhältnismässig formlosen Weise agieren. Die Nepoten wurden dabei als Mitteilungsträger gebraucht, jedoch sind diese Briefe nicht eine Widerspiegelung von deren Meinungsäusserung. Wie schon in diesem administrativen Beispiel dienten Nepoten auch sonst der formalen Distanzierung des Papstes. Seiner Rolle als 'padre comune', der über den Parteien steht, verpflichtet, konnte er nicht selber die Herrschaftsklientel führen. Da jedoch Klientelbildung zur Machtausübung in der Frühneuzeit notwendig war, betraute der Pontifex den Kardinalnepot mit der 'Parteiführung' als Patron der
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Reinhard, Nepotismus (wie Anm. 1), S. 161-162. Reinhard, Nepotismus (wie Anm. 1), S. 164. Reinhard, Nepotismus (wie Anm. 1), S. 165. Reinhard, Nepotismus (wie Anm. 1), S. 172. Laurain-Portemer Madeleine, Absolutisme et népotisme. La surintendance de l'état ecclésiastique, in: Bibliothèque de l'école des chartes 132 [sic! eigentlich 131] (1973) S. 487-568.
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Papstklientel, womit der Papst mindestens nach aussen seine Unabhängigkeit und Unparteilichkeit wahrte.10 So weit die Positionen Reinhards zur Herrschaftsfunktion, die hier etwas ausführlicher und mitunter auch wortgetreu wiedergegeben werden, weil sie mancherorts völlig falsch aufgenommen und referiert wurden. Sogar Paolo Prodi hat in seinem wegweisenden Werk 'II sovrano pontefice' die beiden reinhardschen Begriffe Herrschafts- und Versorgungsfunktion nicht richtig verortet: Er sieht sie als Bezeichnungen für die verschiedenen Formen von Nepotismus und benennt mit ersterem den auf autonome Staatengründung abzielenden „Renaissance"-Nepotismus, mit letzterem aber die auf reine Reichtumsakkumulierung gerichtete Versorgungsstrategie der Papstverwandten.11 Reinhard sieht aber, wie oben bereits erläutert, die Begriffe als durchaus parallel mögliche Beschreibung der Funktion der Nepoten für den Papst. Herrschaftsfunktion meint in diesem Sinne wohl „im Dienste der Herrschaft" und Versorgungsfunktion der Nepoten „Mittel zur Versorgung der päpstlichen Verwandtschaft". Eine Unterscheidung des päpstlichen Nepotismus nach diesen Kategorien scheint nach wie vor sinnvoll, auch wenn realiter einzelne Massnahmen oder Funktionen nicht so scharf getrennt und der einen oder anderen Kategorie zugeordnet werden können. Das innovative Denkmodell von Reinhard, zwischen Mit-Regieren einerseits und Ausstattung der Verwandten andererseits zu unterscheiden, ist für die Analyse von Papstherrschaft und Nepotismus aber weiterhin ein nützliches Instrument. Trotzdem ist zu hinterfragen, ob die von Reinhard vorgenommenen zeitlichen Kategorisierungen weiterhin so haltbar sind. Ist die Herrschaftsfunktion der Papstnepoten wirklich ab ca. 1500 zu Ende? Die Reinhard-Portemer-Diskussion um die Regierungsrolle der Kardinalnepoten12 hat wohl mit einem eindeutigen Ergebnis geendet, ja man ist fast versucht zu sagen mit einem solch vernichtenden k.o.-Schlag, wie er in Wissenschaftsdebatten 10 11
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Reinhard, Nepotismus (wie Anm. 1), S. 174-175. Prodi Paolo, II sovrano Pontefice. Un corpo e due anime: La monarchia papale nella prima età moderna, Bologna 1982, S. 190. Es seien nur einige Titel genannt, die auf diesen Disput Bezug nehmen: Laurain-Portemer, Absolutisme (wie Anm. 9); Reinhard, Nepotismus (wie Anm. 1), S. 171-173; LaurainPortemer Madeleine, Ministériat, finances et papauté au temps de la Réforme Catholique, in: Bibliothèque de l'école des chartes 134 (1976) S. 396-405; Reinhard Wolfgang, Freunde und Kreaturen. 'Verflechtung' als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600, München 1979, S. 58, S. 61-62. (= Schriften der Philosophischen Fachbereiche der Universität Augsburg 14.); Reinhard Wolfgang, Papal Power and Family Strategy in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Ronald G. Asch/ Adolf M. Birke (Hg.), Princes, Patronage and the Nobility. The Court at the Beginning of the Modern Age, c. 1450-1650, London-Oxford 1991, S. 329-356, hier S. 341-342. (= Studies of the German historical Institute London.); Reinhard Wolfgang, Freunde und Kreaturen. Historische Anthropologie von Patronage-Klientel-Beziehungen, in: Freiburger Universitätsblätter 139 (1998) S. 127-141.
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selten ist. Zu einleuchtend war Reinhards Argument, dass Ernennungsbreven von Papstnepoten nicht als bare Münze für die realen Verhältnisse im Kirchenstaat genommen werden dürfen, und dass die Ausstattung der Nepoten z.B. mit Kommendatarabteien wohl wirklich der Versorgung und nicht dem Schutz des Kirchengutes vor Enteignung nützten - ansonsten hätte ja nicht soviel Sorgfalt auf eine auch nach dem Papsttod juristisch unanfechtbare Verleihung gelegt werden müssen.13 Dennoch soll es im Folgenden darum gehen, den im rauhen Wind wissenschaftlicher Disputationen gefestigten Standpunkt nochmals zu überdenken. Denn die Schlacht wurde nach unserer Ansicht auf dem falschen Feld geschlagen, dem der Diplome und Urkunden. Zu hinterfragen wäre hingegen, ob die Papstnepoten in der sozial-politischen Wirklichkeit wirklich keine herrschaftlichen Funktionen mehr bekleideten, natürlich über die von Reinhard zugestandenen (Briefkopf-Adressant und formeller Parteiführer der Klientel) hinaus. Unter diesem Blickwinkel soll im Folgenden die Realität der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts ins Auge gefasst werden, zuerst der Pontifikat Gregors XV. und sein Nepot Ludovico Ludovisi. Letzterer war schon in jungen Jahren nach Rom gekommen, im Collegio Romano erzogen, dann schon bald seinem Onkels zur Seite gegeben worden und folgte diesem - als neuem Erzbischof - 1612 nach Bologna. Auch später war er oft im Gefolge seines Onkels anzutreffen, so in Pavia und Mailand und bei dessen Reise zur Entgegennahme des Kardinalshutes nach Rom. Gegen Ende 1619 fasste der mittlerweile 24jährige den Entschluss, eine Kurienkarriere einzuschlagen und trat im Dezember als Referendar in die Prälatur ein. Von seinem Onkel beraten und gefördert, wurde Ludovico im Dezember 1620 Mitglied der Kongregation des Buon Governo und bereits einen Monat später Prälat der Consulta.14 Doch nicht kontinuierlich, sondern kometenhaft sollte sein Aufstieg sein, wie sich schon im Februar 1621 herausstellte, als sein Onkel Alessandro Ludovisi zum Papst gewählt wurde. Ludovico erhielt schon am 21. Februar die Einsetzung als Kardinalnepot15 und stürzte sich voll jugendlichen Tatendrangs in die Arbeit. Dieser Umstand entspricht wohl nicht nur einem von den Nepoten gerne gepflegten Cliché des
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Laurain-Portemer, Ministiriat (wie Anm. 12), S. 404-405; Reinhard, Freunde 1979 (wie Anm. 12), S. 62. Zur 'vorpontifikalen Karriere* Ludovisis vgl.: Jaitner Klaus, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. für die Nuntien und Gesandten an den europäischen Fürstenhöfen 1621-1623, 2. Bde., Tübingen 1997, Bd. 1, S. 113-115; Pastor Ludwig von, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, 16 Bde. in 22 Teilen, Bd. 13: Gregor XV. und Urban Vm. (16211644), Freiburg i. Br. 1928, S. 43^4. Laurain-Portemer, Absolutisme (wie Anm. 9), S. 514. Beim genannten Datum handelt es sich um das Ernennungsbreve zum Kardinalnepoten und Sopraintendente dello stato ecclesiastico, nicht um das Datum der Verleihung der Kardinalswürde.
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rastlosen Helfers im Dienste des greisen Onkels,16 sondern wird im Falle Ludovicos von vielen Seiten bestätigt. So gestehen Possevino, wie auch der Luchesische und Venezianische Gesandte dem neuen Kardinalnepoten nicht nur grossen Eifer, sondern auch ausserordentliche Fähigkeit zu.17 Ranke meint, dass Ludovico sich sogleich in den Besitz der päpstlichen Allgewalt setzte und soviel Geist und Kühnheit besass, wie die Lage der Dinge erforderte, und Albrecht sieht in ihm die eigentliche geistige Triebfeder der päpstlichen Politik.18 Wie zutreffend diese Einschätzungen sind, wird auch aus unseren später folgenden Erläuterungen ersichtlich sein. Ein Bild aus der Mitte des 17. Jahrhunderts in der Sakristei von II Gesu" illustriert die zentrale Rolle des Kardinalnepoten in denkbar eindeutiger Form. Auf einem hohen Podest am linken Bildrand ist die Figur des Papstes zu erkennen, eingefasst von zwei Kardinälen. Gregor XV. trägt liturgische Kleidung, in den Händen hält er die Bulle der Kanonisierungen, die er bei diesem Anlass vornahm. Trotz der erhöhten Anordnung des Papstes, die formal seine hierarchisch herausgehobene Stellung wahrt, handelt es sich bei ihm nicht um die Hauptfigur des Gemäldes. Vielmehr ist es der Kardinalnepot, der eindeutig im Mittelpunkt steht, nicht nur im wörtlichen Sinne, sondern auch dadurch, dass seine Figur durch die Wendung des Oberkörpers und Gesichtes zum Betrachter hin sowie durch die zum Segensgruss erhobene Rechte die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. Seine zentrale Stellung wird dadurch unterstrichen, dass sowohl zur Papstgruppe, als auch zur am rechten Bildrand knienden Gruppe der Jesuiten auf dieser vorderen Bildebene eine Lücke klafft. Im Bildmittel- und Hintergrund sind kirchliche Würdenträger zu erkennen, deren Präsenz die 16
Diese Selbstsicht wurde auch immer wieder anhand verschiedener historischer Vorbilder allegorisch in Szene gesetzt: etwa mit Aeneas, der den greisen Anchises auf dem Rücken trägt oder Herkules, der dem Atlas das Himmelsgewölbe stützen hilft. Reinhard, Nepotismus (wie Anm. 1), S. 175. 17 Pastor, Geschichte, Bd. 13 (wie Anm. 14), S. 45. Barozzi Nicolò/ Berchet Guglielmo (Hg.), Relazioni degli stati europei lette al senato dagli ambasciatori veneti nel secolo decimosettimo, Serie m (Italia), Relazioni di Roma, Bd. 1, S. 117. 18 Ranke Leopold von, Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten, 2 Bde., Frankfurt am Main 61991, Bd. 2, S. 60 (7. Buch, Kap. 2); Albrecht Dieter, Die auswärtige Politik Maximilians von Bayern, 1618-1635, Göttingen 1962, S. 63. (= Schriftenreihe der historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 6) Albrechts Einschätzung stimmt mit der des venezianischen Botschafters überein, der zu Ludovico schreibt: ...è amatissimo dal Papa, con cui tiene tale autorità, che si può dire in sue mani sij lo arbitrare della volontà del governo del Pontefice. Barozzi/Berchet, Relazioni (wie Anm. 17), Bd. 1,S. 117. " Die Inschrift im Bildrahmen informiert über das dargestellte Thema: OB RELATOS IN SANCTORUM NUMERUM IGNATIUM LOYOLAM SOCIETATIS JESU FUNDATOREM ET FRANCISCUM XAVERIUM INDIARUM APOSTOLUM GREGORII X V P. M . ET L. CARD. LUDOVISII IMMORTALIBUS MERITIS.
Für den uneigennützigen Hinweis auf diese unschätzbare Bildquelle und Hilfe bei der Auswertung bin ich Arne Karsten zu grossem Dank verpflichtet.
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Festlichkeit des Ereignisses ebenso unterstreicht, wie die Darstellung der beiden heiliggesprochenen Jesuiten auf dem Banner. Damit nicht genug: die kniende Figurengruppe im zentralen Bildmittelgrund unterstreicht durch dynamische Körpertorsionen nochmals die wesentlichen Elemente des Gemäldes. Ein kniender Priester links des Nepoten blickt zu diesem auf, wie es rechts von ihm zwei Geistliche zum erwähnten Banner tun. Demgegenüber stehen der Papst und die ihn umgebenden Gruppe in einer auffälligen Isoliertheit. Gerade im Kontext der Darstellung dieses zeremoniellen Grossereignisses gewinnt ein Detail besondere Bedeutung. Des Kardinalnepoten herausgehobene Stellung erfährt eine zusätzliche Betonung durch ihre Hinterfangung mittels zweier kannelierter Pilaster, zwischen denen eine Petrusstatue zu erkennen ist, die die Schlüssel mit demonstrativem Gestus vorweist. In einer fast schon vermessen zu nennenden Stilisierung wird Ludovico Ludovisi auf diese Weise zum eigentlichen Nachfolger Petri und Inhaber der Schlüsselgewalt. Kein Zweifel, der Maler und seine Auftraggeber hatten die herausragende Stellung des Kardinalnepoten Gregors XV. in einer Weise verinnerlicht, dass es ihnen angebracht erschien, Ludovico Ludovisi in dieser für die Kardinalnepoten des 17. Jahrhunderts einzigartigen Form darzustellen. Ludovico Ludovisi stand also - da sind sich die zeitgenössischen Quellen absolut einig - im Zentrum der römischen Politik, doch allein und unumschränkt hat er natürlich an der Kurie nicht agiert. Aus den vielen, zum Teil unterschiedlichen Beschreibungen und Bemerkungen zur Regierungsweise Gregors XV. ergibt sich ungefähr folgendes Bild: Der Papst selber war alt und kränkelte, jedoch war er von wachem Geist. Als Prälat und Kardinal hatte er sich an der Kurie den Ruf eines gewieften Juristen und hellsichtigen Diplomaten erworben, der auch heiklen Aufgaben gewachsen war. So war er an der Beilegung des Konflikts zwischen Rom und Venedig unter Paul V. beteiligt gewesen.20 Mit dem zuerst nur schwelenden Streit zwischen den Herzögen von Mantua und Savoyen-Piemont um Monferrato war er als Rotaauditor befasst. Nach Kriegsausbruch oblagen ihm dann sogar die von Paul V. anvertrauten Vermittlungsverhandlungen, die das Einhalten des 1615 geschlossenen, jedoch schon bald gebrochenen Friedens von Asti zum Ziel hatten. In komplexer Pendeldiplomatie - auch Frankreich, italienische Staaten und vor allem Spanien waren in den Krieg involviert - gelang ihm dann mit seinem Neffen Ludovico als 'Lehrling' an seiner Seite eine erfolgreiche Friedensvermittlung.21 Seine diplomatische Gewandtheit und seinen klaren Blick für eine Sache wird der neue Papst trotz schwächlicher Konstitution nicht verloren haben. Doch reichte die Kraft wohl nur, um die grossen Linien vorzugeben und eine Art Aufsichtsfunktion 20
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Zu diesem Zwist vgl.: Pastor Ludwig von, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, 16 Bde. in 22 Teilen, Bd. 12: Leo XI und Paul V. (1605-1621), Freiburg i. Br. 1927, S. 82-154. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S 76-82.
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mit Vetostimme wahrzunehmen.22 Die laufenden Geschäfte lagen hingegen in den Händen seines Kardinalnepoten Ludovico Ludovisi, der sich - nochmals zusammenfassend gesagt - durch straordinario valore et habiltä nel governcP auszeichnete und in der Praxis über die geballte Macht im Kirchenstaat verfügte.24 Der Papst, der ihm vollumfänglich vertraute, liess ihm weitgehend freie Hand bei der Durchsetzung der vorgegebenen Ziele.25 Ludovisis engste Vertraute waren die Kardinäle Aloisio Caetani, Roberto Ubaldini und Luigi Capponi.26 Vor allem aber hatte der Kadinalnepot im Staatssekretär Giovanni Battista Agucchi einen ebenso zuverlässigen wie fähigen Mitarbeiter. Dieser war nach dem Tod seines Patrons, Kardinal Pietro Aldobrandini, und angesichts päpstlicher Affinität zu den Aldobrandini27 (eine Ludovisi-Aldobrandini-Vermählung liess nicht lange auf sich warten - weiter unten wird davon noch die Rede sein), in die Klientel der herrschenden Papstfamilie übernommen worden. Bezeichnenderweise war Agucchi, aus Bologna stammend und damit Landsmann der Ludovisi, gleich mit einem Doppelmandat in die Dienste der neuen Papstfamilie getreten: Er erhielt im Februar 1621 nicht nur die Leitung des Staatssekretariats, sondern wurde auch Maggiordomo Ludovicos.28 Damit sass also im für die Korrespondenz mit den Nuntien zuständigen Staatssekretariat nicht irgendein 'Technokrat' am Chefpult, sondern ein ergebener Klient des Kardinalnepoten. Womit nicht unterstellt werden soll, dass dieser für seinen Posten nicht geeignet gewesen sein soll, im Gegenteil: Agucchi hatte, nicht zuletzt dank seine Verwandten, beste Kenntnisse über die päpstliche Diplomatie und zeichnete sich durch eine klar
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Vgl. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 100. Die eigenständige Meinung des Papstes zeigt sich z.B. darin, dass dieser Kardinalswünsche seines Neffen ablehnte oder auch den Verwandten Marcantonio Gozzadini gegen den Wunsch Ludovicos zum Kardinal machte. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 97,104. Für unsere Einschätzung spricht auch die Aussage: „Der Papst liebt es, bei Verhandlungen vorsichtig zu Werke zu gehen, dabei aber sein Ziel durchzusetzen." Zitiert bei: Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 100; Original bei: Barozzi/Berchet, Relazioni (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 117. Zitiert nach: Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 100. Eindrücklich bestätigt von den venezianischen Botschaftern (Barozzi/Berchet, Relazioni (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 117.) und dem Luccheser Gesandten Mei (Zitiert bei: Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S 100.) Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 101. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 121-122. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 107. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 194. Da die Doppelbelastung auf Dauer nicht tragbar war, gab Agucchi den Maggiordomo-Posten im Nov. 1621 wieder ab. Zu Agucchis Lebenslauf vgl. auch: Semmler Josef, Das päpstliche Staatssekretariat in den Pontifikaten Pauls V. und Gregor XV. 1605-1623, Rom/Freiburg i. Br./Wien 1969, S. 109-110. (= Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, 33. Supplementheft, Band II.)
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konzeptualisierte und kohärente Schriftenabfassung aus.29 Als treuer und kompetenter, mit der kurialen Bürokratie exzellent vertrauter Chefbeamter, der über gut geschulte Helfer verfügte,30 war Agucchi der wichtige verlängerte Arm des Kardinalnepoten. Wie gut das Team Ludovisi-Agucchi harmonierte, geht nicht zuletzt aus den Ratschlägen Gregors XV. an seinen Neffen hervor.31 Zusammenfassend sollten bei einer Beurteilung also der Papst, sein Kardinalnepot und sein Staatssekretär nicht gegeneinander ausgespielt werden nach dem Prinzip, wer war der real Mächtige und welches waren die unfähigen Sesselkleber, sondern die drei Persönlichkeiten scheinen kaum gegeneinander, sondern vor allem miteinander gearbeitet zu haben, als eine Art weitgehend harmonisches Triumvirat, bestehend aus einem erfahrenen, aber im Normalfall im Hintergrund bleibenden und kontrollierenden Weisen, einem umtriebigen und kompetenten Generalbevollmächtigten und einem mit allen Wassern gewaschenen und gleichzeitig loyalen Verwaltungsfachmann, der die detailierte Schreibarbeit sachkundig und effizient erledigte oder erledigen liess. Im Rahmen dieses Triumvirats hat Ludovico Ludovisi massgebend an den grossen Pontifikatsprojekten mitgearbeitet. Bemerkenswert ist dabei, dass die römische Zentrale in allen bedeutenden politischen Fragen ihre Ziele zu verwirklichen verstand. Am Beispiel der drei grossen Projekte Kurübertragung, Veldinfrage, englische Heirat soll in der Folge den Grundlagen für diese Erfolgsstory nachgegangen werden. Im Reich hatte zur Zeit der Wahl Gregors XV. der Kaiser gerade eben die Reichsacht über Friedrich V. von der Pfalz, den gescheiterten 'Winterkönig' von Böhmen, ausgesprochen. Damit standen prinzipiell das Territorium und der Kurfürstentitel des aufwieglerischen Calvinisten zur Disposition. Ein Bewerber musste gar nicht mehr gesucht werden, denn schon 1619 hatte Kaiser Ferdinand II. Maximilian von Bayern mündlich versprochen, im Falle einer Ächtung des Pfälzers die Kurwürde an sein Haus zu übertragen. Zudem war dem Bayernherzog Entschädigimg für seine Kriegsaufwendungen versprochen und als Pfand dafür Oberösterreich bezeichnet worden.32 Mittlerweile waren dem Kaiser jedoch Bedenken gekommen bzw. zugetragen worden. Zuerst und hauptsächlich von Seiten der spanischen Krone. Deren Botschafter in Wien, der Graf von Onate, sperrte sich gegen eine Kurübertragung an Bayern, da seiner Meinung nach dadurch der Konflikt in Deutschland fortdauern würde und die spanischen Mittel damit weiter gebunden wurden. Auch die spanisch-englischen
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Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 195. Semmler, Das päpstliche Staatssekretariat (wie Anm. 28), S. 88-92. Pastor, Geschichte, Bd. 13 (wie Anm. 14), S. 59. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 41-43.
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Verständigungsversuche33 sah er dadurch schwer belastet.34 Beides würde die spanischen Bemühungen, die Fortführung des Krieges mit den Niederlanden zu einem erfolgreichen Ende zu bringen, massiv beeinträchtigen. Onate vertrat damit mehr oder weniger getreu die Position der spanischen Regierung, hatte aber nicht immer die volle Rückendeckung Madrids. Denn die Spanier spielten ein kompliziertes Dreieckspiel, in dessen Rahmen der Wiener Gesandte manchmal offiziell gemassregelt wurde, im Geheimen aber zu verstehen bekam, er möge mit seiner Politik fortfahren.35 Neben Spanien waren auch die meisten kaiserlichen Räte eher gegen eine Kurübertragung, ebenso wie der englische König, der durch intensive diplomatische Aktivitäten Wigbys seinem Schwiegersohn Friedrich die Kurwürde zu retten versuchte. Auch ein weiterer Wittelsbacher, Wolfgang Wilhelm, Herzog von Pfalz-Neuburg, arbeitete gegen Maximilian, da er aufgrund näherer Verwandtschaft zum geächteten Kurfürsten die Kurwürde für sich beanspruchte. Der Kaiser selbst verhielt sich ziemlich unentschlossen und wollte es allen recht machen.36 Die Kurie unter Gregor XV. zeichnete sich in dieser Frage durch eine konsequentere Haltung aus, von der sie auch nicht abzuweichen bereit war: Die Kurwürde sollte auf Maximilian übertragen werden, da sich damit die einmalige Chance bot, eine komfortable katholische Mehrheit von 5 Stimmen im Kurfürstenkollegium und auf diese Weise die Wahl eines katholischen Kaisers für die Zukunft zu sichern.37 Ein solches Vorgehen musste Rom umso wichtiger erscheinen, als ja gerade vor kurzem die Mehrheitsverhältnisse dramatisch gekippt waren: Auf drei Katholiken (Mainz, Köln, Trier) kamen ein Lutheraner (Brandenburg) und drei Vertreter des reichsrechtlich nicht einmal anerkannten und von Rom als anarchisch beurteilten38 Calvinismus (Böhmen, Pfalz, Brandenburg). Eine machtpolitisch so bedeutsame Veränderung wie die von Rom verfolgte Kurübertragung musste aber mit einem entsprechend wehrfähigen Kandidaten durchgeführt werden. Deshalb setzte die Kurie nicht auf Wolfgang Wilhelm, obwohl man in Rom dessen Rechte prinzipiell anerkannte,39 sondern auf den Bayernherzog Maximilian, dem viel gewichtigere Mittel zur Verteidigung der neuen Position zur Verfügung stehen würden und dem ja auch Ferdinand schon ein entsprechendes Versprechen gemacht hatte. Zudem erachtete man 33
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Der englische König war Schwiegervater Friedrichs V. von der Pfalz und damit an der Restituierung von dessen Kurwürde interessiert. Zu dieser Zeit stand Jakob auch in Heiratsverhandlungen mit Spanien, worauf weiter unten noch detailliert eingegangen wird. Pastor, Geschichte, Bd. 13 (wie Anm. 14), S. 192. Albrecht Dieter, Die deutsche Politik Papst Gregors XV.: Die Einwirkung der päpstlichen Diplomatie auf die Politik der Häuser Habsburg und Wittelsbach 1621-1623, München 1956, S. 16 (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 53). Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 14. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 44. Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 3, 35-36. Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 88.
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Maximilians und Bayerns Verdienste um den katholischen Glauben als verdienstvoller als die zwar hochgeschätzte, aber auch gleichzeitig etwas suspekte Konversion Wolfgang Wilhelms.40 Die Kurie wurde also in ihrem Vorgehen weit mehr von politischem Kalkül als von persönlicher Sympathie bewegt.41 Der Bayernherzog sollte im katholischen Lager ein Gegengewicht zu den Habsburgern bilden und damit Rom mehr Bewegungsspielraum für eine katholische Politik geben, die nicht Gefahr lief, eher den habsburgischen Hegemonialplänen zu dienen als den Glaubensinteressen. Der Erfolg der kurialen Diplomatie in der Folge kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn zu Beginn des Ludovisi-Pontifikats war man mit seiner Meinung bezüglich der Kurübertragung ziemlich alleine. Als der Sondergesandte und Kapuziner Giacinto da Casale am 27. Juli 1621 in Wien ankam, standen die Chancen für eine Kurübertragung sehr schlecht, sogar die Liga war aufgrund der wachsenden Entfremdung zwischen Maximilian und Ferdinand ernsthaft bedroht.42 Für die päpstliche Position sprach eigentlich nur, dass Kardinal Ludovisi in Rom jederzeit gut unterrichtet war und über einen ausgeprägten diplomatischen Instinkt verfügte, dank dem er viele Äusserungen von spanischer Seite, aber auch anderer Involvierter, richtig einzuschätzen verstand und daraus die richtigen Schlussfolgerungen zog.43 Zudem schickte Rom mit Giacinto da Casale44 und anderen Sonderlegaten auch gewandte Diplomaten an die jeweiligen Brennpunkte des Geschehens. Dem Kapuziner gelang in Wien die Wende: Als erstes Etappenziel erreichte er Ende August 1621 eine geheime Belehnung Maximilians mit der Kurwürde.45 Doch erwies sich der Weg zum Ziel noch weit steiniger als angenommen. Vor allem den spanischen Widerstand galt es zu brechen: Zu all den oben genannten Gründen für deren Zurückhaltung bei der Kurübertragung kam Neid auf die Grösse Bayerns,44 das heisst: in Madrid hatte man die Gefahr durchaus erkannt, dass mit dem Aufstieg einer zweiten katholischen Grossmacht im Reiche eine Minderung des habsburgischen Einflusses ebendort und gegenüber Rom zu verzeichnen wäre. Auch die kaiserliche Einstellung zur Kurübertragung, oft stark vom spanischen Botschafter beeinflusst, wankte noch einige Mal bedrohlich. Sogar Maximilian selbst verfiel dem Zögern, da er auf seine Kräfte allein zu wenig vertraute und sich starker 40
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Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 44; Albrecht, deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 6, 8, 9. Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 8, 103. Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 21, 25. Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 16,67. Zu Giacinto da Casale und seinen diplomatischen Missionen vgl. neben Albrecht, deutsche Politik (wie Anm. 35), vor allem S. 22-31, 49-65, 76-82; auch: Jaitner, Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 260-68. Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 30-31. Die Urkunde dazu wurde 22.9.1621 ausgestellt. Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 36.
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spanischer Hilfe sicher sein wollte.47 Der von Rom meisterhaft koordinierten kurialen Diplomatie48 gelang es, all diese Steine aus dem Weg zu räumen und die Kurübertragung nach eigenem Willen durchzusetzen. Dabei hatte man vor allem die Madrider Verweigerungstaktik und das dortige Spielen auf Zeit49 richtig eingeschätzt: Die ostentativ auf englische Ohren abgestimmten Protestnoten wurden ebenso wie hauspolitisch-hegemoniale Überlegungen der Habsburger ignoriert bzw. decouvriert und ausgespielt - in feinem Gespür für die spanischen Schmerzensgrenzen und das poltisch Realisierbare.50 Sogar zu Zugeständnisssen an die Glaubensfeinde war man in Rom bereit: So instruierte man im Juli 1621 den Kölner Nuntius, die Lutheraner schonend zu behandeln, da es galt, den sächsischen Kurfürsten nicht zu brüskieren, um entschieden gegen die Kalvinisten vorgehen zu können.51 Der diplomatische Hochseilakt gelang gegen alle Widerstände und am 10. Januar 1623 verkündete der Kaiser auf dem Regensburger Deputationstag die Translation der Kurfürstenwürde auf den Bayernherzog. Allgemein wurde dieses Ereignis als Krönung einer konsequenten kurialen Politik betrachtet. Der neue Kurfürst betonte in einem Schreiben an den Papst ausdrücklich, dass er vor allem ihm die Kur verdanke.52 Das Papsttum, aber auch Gregor XV. und sein Neffe Ludovico Ludovisi persönlich konnten einen überaus prestigeträchtigen Erfolg auf europäischer Ebene verbuchen. Parallel zur Diskussion um die Kurübertragung beschäftigte die involvierten Parteien auch die Frage der Verteilung des pfälzischen Territoriums. Dabei liess 47 48
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Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 43. Die politische Meisterleistung - vor allem bzgl. Spaniens - wird umso offensichtlicher, wenn man berücksichtigt, in welchen anderen Geschäften mit erheblichem Konfliktpotenzial Rom und die Familie Ludovisi gleichzeitig auch noch aktiv waren. Vgl. dazu: Brief Ludovico Ludovisis an Carafa bei Biblioteca apostolica vaticana (=BAV), Ottob. lat. 3218 f. 462r-463v, ediert bei: Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 133-135. Die Spanische Verzögerungstaktik wird vor allem auf Seite 134 erläutert. Sogar die Ernennung des spanischen Nationalkardinals de la Cueva am 5. September 1622 erscheint in diesem Zusammenhang als kluger Schachzug Roms. Denn der zum Purpur Erhobene galt als entschiedener Vertreter eines harten und kriegerischen spanischen Kurses gegenüber den Niederlanden. Damit half er mit, die Brüsseler Friedensverhandlungen zu torpedieren, die das Kurübertragungsprojekt zum Scheitern zu bringen drohten. Zu De la Cueva und seiner politischen Einstellung: Lutz Georg, Kardinal Giovanni Francesco Guidi di Bagno. Politik und Religion im Zeitalter Richelieus und Urbans Vm, Tübingen 1971, S. 41. (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; Bd. 34) Der Zusammenhang der Kurübertragung mit den Brüsseler Friedensverhandlungen ergibt sich aus: Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 72-77. Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 7-8. Gegenüber Johann Georg von Sachsen betonte die Kurie, dass es nicht um den Kampf gegen einen Lutheraner, sondern einen Calvinisten gehe. Dieser hängt nota bene einem Bekenntnis an, das reichsrechtlich nicht anerkannt ist. Dem Vorgehen der Kurie sollte also jegliche bedrohliche Komponente für das Luthertum genommen werden. Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 92. Pastor, Geschichte, Bd. 13 (wie Anm. 14), S. 200; Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 100.
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sich die Kurie nicht durch Friedensverhandlungs-Wünsche beirren. Nach ihrer Einschätzung waren die Erfolgsaussichten für eine schnelle Eroberung der Pfalz sehr hoch, weswegen es die Gunst der Stunde zu nutzen gelte. So lief parallel zu den oben genannten Gesprächen die von der Kurie mit Wohlwollen beobachtete Eroberung der Pfalz ab, die nach Ansicht Roms zu einem neuen südlichen Bollwerk des Katholizismus werden sollte. Auch in dieser militärischen Frage hatte sich die Einschätzung der Situation seitens der kurialen Zentrale also als richtig erwiesen.53 Dass man in Rom nicht einfach einer wilden Kriegstreiberei aufgesessen war, zeigt im Gegensatz dazu der schon erwähnte, fast freundliche und keineswegs gehässige oder säbelrasselnde Ton gegenüber den lutheranischen Sachsen.54 In allen Fällen - auch der Veltlinfrage, in der Rom unbedingt eine kampflose Lösung vertrat - waren Kriegs- oder Friedenspolitik nur nach profunder Einschätzung der Situation als am erfolgversprechendsten eingestufte Mittel zum Zweck und nicht Ausdruck einer Gesinnung, wie etwa: Glaubensfeinde ohne jede (politische) Rücksicht zu vernichten oder aus Barmherzigkeit jegliches menschliche Leid zu minimieren oder verhindern. In der Veltlinfrage ging es der päpstlichen Politik weitestgehend darum, die eigene Position in der italienischen Politik zu stärken und Spanien auf diesem Aktionsfeld möglichst kleinzuhalten. Ausgebrochen war der längst schwelende Konflikt mit dem Aufstand der katholischen Veltliner Untertanen gegen die sie beherrschenden, zumeist reformierten Bündner.55 Anlässlich der Beseitigung der Bündner Herrschaft gingen die katholischen Veltliner auch blutig gegen ihre reformierten Mit-Talbewohner vor. Den ersten Erfolgen der Einheimischen musste natürlich unweigerlich eine Reaktion der Bündner folgen.56 Und damit hatte die Stunde der Spanier geschlagen, die den Konflikt mitsamt dem Aufstand geschürt hatten, da sie im Veltlin das fehlende Verbindungsstück zwischen den äussersten Besitzungen der spanischen Habsburger in Italien (Herzogtum Mailand) und der österreichischen Habsburger (Tirol) erblickten, das ihnen sichere Heerestransporte aus dem Süden Europas über die Alpen bis in die spanischen Niederlande erlaubt hätte. Solche waren umso wünschenswerter, als der Waffenstillstand mit den niederländischen Generalstaaten im April 1621 auslief. Da aber die nördliche Schiffsroute von England und den Generalstaaten blockiert werden konnte, die Wege über den Mont Cenis und den Gotthard aufgrund der stark verschlechterten Beziehungen (bis zum offenen Krieg) mit 53 54 35
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Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 53. Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 7-8. Der politische Kontext und der Zusammenhang mit den antispanischen und antikatholischen Strafgerichten der Drei Bünde von Thusis und Davos, bei denen viele Veltliner Katholiken verurteilt wurden, ist in Kürze nachzulesen bei: Wendland Andreas, Der Nutzen der Pässe und die Gefährdung der Seelen. Spanien, Mailand und der Kampf ums Veltlin (1620-1641), Zürich 1995, S. 101-109; Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 14. Wendland, Der Nutzen (wie Anm. 55), S. 109-116.
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Savoyen und der für die Zukunft unsicheren und teuren Durchgangsrechte durch die Eidgenossenschaft keine Alternativen waren, liebäugelte Madrid mit der Organisation seiner Truppentransporte durchs Veltlin.57 Als die Bündner Strafexpedition nach ersten Erfolgen über die Aufständischen ins Tal einrückte, griff der spanische Gouverneur in Mailand, der Graf von Ferna ein und schickte unter dem Vorwand, der bedrängten katholischen Religion beizustehen, den Aufständischen eigene Verbände zu Hilfe. Das spanische Engagement musste infolge der Schwäche der rebellierenden Veltliner immer weiter verstärkt werden, so dass Feria schliesslich offen agierte und spanische Garnisonen im Tal einrichtete. Nach dem Misserfolg ihrer ersten Aktion tauchten die Bündner, nun durch Berner und Zürcher Kontingente verstärkt, abermals im Tal der Adda auf, mussten aber nach der Niederlage bei Tirano am 11. September 1620 wieder abziehen. Die Spanier hatten sich im Veltlin festgesetzt und begannen, dort eine neue (Tal-) Ordnung unter ihrem Schutz aufzurichten. Vorerst schien Ruhe eingekehrt. Doch mancherorts wollte man sich mit den neuen Verhältnissen nicht abfinden. Intensive diplomatische Aktivitäten wurden entwickelt.58 Vor allem Venedig und Savoyen als betroffene Nachbarn, aber auch Frankreich wollten diese Stärkung der Spanier, die Anstalten machten, sich im Veltlin nun für längere Zeit festzusetzen, nicht einfach hinnehmen. Ausser einem unbedeutenden Separatfrieden des Grauen Bundes mit Madrid, der die spanische Machtposition im Veltlin zementierte, war auf diplomatischem Parkett noch wenig Greifbares erreicht worden, als im Februar 1621 Gregor XV. den Papstthron bestieg. Sofort mischte sich die kuriale Diplomatie ungewöhnlich aktiv in die Angelegenheit ein. Rom war nicht geneigt, die spanische Politik der vollendeten Tatsachen hinzunehmen - vor allem nicht in Italien. Die Kurie betrachtete nämlich die Apennin-Halbinsel als ihr ureigenstes politisches Einflussgebiet,59 auf dem jeder spanische Erfolg mit grossem Misstrauen betrachtet wurde, so auch im Veltlinkonflikt.60 Der Status quo im Tal der Adda war für den Papst und seinen Nepoten inakzeptabel, trotz aller von Spanien angeführten religiösen Veränderungen zum Nutzen der Katholiken. Rom bekämpfte aber nicht nur jede Ausweitung des spanischen Einflusses in Italien, es hatte zudem für dessen Truppen andere Pläne. Sie sollten im Reich und zwar auch dort nach römischem Willen, wie in der Kurfrage gesehen - die im Siegeszug befindliche katholische Sache weiter befördern und nicht im Veltlin
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Wendland, Der Nutzen (wie Anm. 55), S. 79-85. Wendland, Der Nutzen (wie Anm. 55), S. 117-126; Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 13-14. Das politische Selbstverständnis der römischen Kurie innerhalb der italienischen Staatlichkeit ist noch wenig erforscht. Ansätze dazu bei: Prodi, H sovrano Pontefice (wie Anm. 11), S. 326-328. Wendland, Der Nutzen (wie Anm. 55), S. 127.
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gebunden werden.61 Um ihre Ziele zu erreichen, musste sich die päpstliche Diplomatie nach Verbündeten umschauen, die man schnell in Frankreich fand. Doch man warf sich nicht einfach Paris in die Arme, sondern versuchte französische Aktivitäten zu nutzen, ohne von den eigenen Zielen abzukommen. Diese waren unter Gregor XV. hauptsächlich: 1. Rückzug der Spanier aus dem Veltlin, jedoch unter Wahrung des Ansehens des spanischen Königs und seiner Minister. 2. Sicherung der katholischen Konfession und Beseitigung aller protestantischen Einrichtungen im Veltlin. 3. Friedliche Lösung der Angelegenheit und Fernhalten des Krieges von Italien.62 Die Ludovisi-Regierung hatte sich damit eine Aufgabe auferlegt, die nicht einfach zu lösen war und viel diplomatisches Fingerspitzengefühl erforderte. Neben den allgemeinen politischen Fähigkeiten von Papst und Nepot mag sich in dieser Angelegenheit für die beiden auch das 'Praktikum' im Monferrat-Konflikt als hilfreich erwiesen haben, da sie dadurch mit den oberitalienischen Verhältnissen gut vertraut waren. Entsprechend unbeirrt hat Rom in der Folge an seinen Zielsetzungen festgehalten und liess auch die ab Mai 1621 in Luzern stattfindenden Exekutionsverhandlungen des Madrider Vertrages platzen,63 als die katholischen Ansprüche zu wenig berücksichtigt schienen. Eine Lösung im Sinne Roms zeichnete sich erst ab, als infolge spanischer Unbeweglichkeit Frankreich, Savoyen und Venedig ein Offensiv-Bündnis abschlössen und sich die Kurie einer Gegenliga mit Spanien verschloss.64 In die Enge getrieben und an anderen Schauplätzen zur Genüge gefordert, wandten sich die Spanier Anfang 1623 mit der Bitte an den Papst, die Festungen des Veltlin zu übernehmen. Gregor XV. signalisierte sofort seine Zustimmung. Savoyen und Venedig reagierten gereizt, auch weil ihnen jede federführende Rolle des Papstes in der italienischen Politik ein Dorn im Auge war. Frankreich aber sah die Entwicklung mit Wohlwollen und versagte sich dieser Zwischenlösung nicht. Trotz dauernden diplomatischen venezianischen Sperrfeuers stand Paris auch in den folgenden Wochen hinter dem Papst, da man dort dessen Neffen Ludovico unerschütterlich vertraute und auch dessen Offenheit lobte.65 Dass an der Kurie das Verhalten in der Veltlin-Frage massgeblich von Ludovico Ludovisi und seiner Entourage bestimmt wurde, zeigt sich schlaglichtartig an der Besetzung einer 'Expertengruppe', die am 25. März das weitere Vorgehen beriet: Neben dem Papst und seinem Neffen waren der oben erwähnte Ludovisi-Vertraute Roberto Ubaldini und der eng an die 61
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Diese Meinung wird auch deutlich in der Instruktion für den Nuntius am Kaiserhof, Carlo Carafa, vom 13. April 1621 vertreten. Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 127; Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 2, S. 634. Dieses Programm ergibt sich klar aus dem kurialen Verhalten. Vgl.: Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 15-21. Teilweise werden diese Ziele auch von Jaitner auf Seite 19 formuliert. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 17. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 24-25. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 25-27.
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Papstfamilie gebundene Antonio Caetani anwesend, zudem die nahen Verwandten Ippolito Aldobrandini und Marcantonio Gozzadini, sowie die AldobrandiniKreaturen und wichtigen Ludovisi-Berater Ottavio Bandini und Carlo Emmanuele Pio.66 Die Veltliner Festungen wurden also vorläufig in päpstliche Hände deponiert. Auch bei der definitiven Lösung sollte der Papst das schlichtende Machtwort sprechen.67 Doch bevor der Konflikt vollends aus der Welt geschafft werden konnte, starb Gregor XV. Ein langes Konklave und ein politisch viel weniger auf eine 'padre commune'-Rolle bedachter neuer Papst Urban VIII. Hessen jedoch diesen (letzten) grossen diplomatischen Erfolg als Schiedsrichter zwischen den Grossmächten verpuffen. Der frankophile Barberini-Papst zog beim geringsten französischen Säbelrasseln seine Truppen aus dem Veltlin zurück und überliess das Tal der Adda dem Heer Ludwigs XIII. Die Truppen, welche der mailändische Gouverneur bereithielt, um den päpstlichen Kontingenten beizustehen, forderte der päpstliche Oberbefehlshaber zum Ärger Ferias nicht rechtzeitig an.68 Es kann füglich bezweifelt werden, ob man in Rom unter Urban VIII. überhaupt die Rolle des ehrlichen Maklers spielen wollte. In den Augen Madrids hatte dieser Papst auf jeden Fall seinen ganzen Kredit als Treuhänder verspielt. Die Parteinahme für Frankreich und vor allem gegen Spanien war zu offensichtlich.69 Wenn man im Gegensatz dazu nochmals die Ludovisi-Politik rekapituliert, so ist eindrücklich erkennbar, dass sich Rom in dieser Zeit durch eine Politik auszeichnete, die unbeirrt ihre eigenen Ziele verfolgte. Zu deren Realisierung warf man sich keiner Partei an den Hals, sondern liess geschickt die diplomatischen Initiativen anderer Seiten auf seine Mühlen laufen. Weder durch spanische Argumente, sich zum Wohle des katholischen Glaubens im Veltlin zu engagieren, liess man sich einlullen, noch durch wohlbegründete habsburgische Klagen aus der Ruhe bringen, dass der Papst einerseits den Kaiser ermahne, die Pfalz nicht zu restituieren, anderseits aber dafür eintrete, das Veltlin den Bündnern zurückzugeben, die doch ebenso Häretiker seien wie der Pfälzer 66
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Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 27. Zu Bandini und Pio vgl.: Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 105-106,442, 445; Jaitner Klaus, Die Hauptinstruktionen Clemens' Vm. für die Nuntien und Legaten an den europäischen Fürstenhöfen 1592-1605, 2 Bde., Tübingen 1984, hier: Bd. 1, S. CXXXCXXXn und CLXm (Fussnote 22); Caetanis wichtige Rolle in den GesualdoHeiratsverhandlungen wird weiter unten erläutert. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 29. Wendland, Der Nutzen (wie Anm. 55), S. 134. Wendland, Der Nutzen (wie Anm. 55), S. 134; Kraus Andreas, Die auswärtige Politik Urbans Vm. Grundzüge und Wendepunkte, in: Mélanges Eugène Tisserant, Vol. IV, Città del Vaticano 1964, S. 407-426, hier S. 411. Die im Veltlinkonflikt schon ersichtliche Frankophilie erwies sich auch später als aussenpolitischer roter Faden Urbans VHI. Besonders eindrUckliche Beispiele bei: Lutz Georg, Glaubwürdigkeit und Gehalt von Nuntiaturberichten, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 53 (1973) S. 227-275.
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Kurfürst.70 Nichts verdeutlicht die Meisterleistung der Ludovisi-Regierung mehr als die Tatsache, solche Spagate durchgestanden zu haben und dabei gleichzeitig auf dem internationalen Parkett in zwei zentralen Fragen ihren Standpunkt gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt zu haben. Zur klugen römischen Taktik gehörte es dabei auch, dass alle (katholischen) Parteien immer ihr Gesicht wahren können sollten. Wie aufmerksam man in Rom die gesamte europäische Politik verfolgte und sich auch der Verknüpfung der verschiedensten Konfliktpunkte bewusst war, zeigt zudem, dass man in der Frage der Subsidien für den Kaiser in Deutschland äusserst vorsichtig zu Werke ging. Unterstützungsgelder wurden zuerst nicht ausgezahlt, sondern zur Aufstellung eines päpstlichen Regimentes unter dem Befehl Pietro Aldobrandinis,71 eines päpstlichen Nepoten, für die kaiserliche Armee verwendet. So hatte man in Rom jederzeit die Kontrolle, wohin die päpstlichen Gelder flössen. Als dann diese Truppen bis zum August 1622 wieder aufgelöst wurden (wegen Meinungsverschiedenheiten über Besoldung und Einsatz), blieben die dadurch freiwerdenden Gelder in Rom, da man befürchtete, dass diese für die Unternehmungen der Habsburger im Tal der Adda verwendet würden.72 Denn unter keinen Umständen wollte man an der Kurie Gefahr laufen, die eigenen diplomatischen Bemühungen bezüglich des Veltlins zu torpedieren und durch einseitige Parteinahme im dortigen Konflikt allfällige Vertragspartner zu vergraulen. Der Spagat mit den spanischen Habsburgern wurde den Ludovisi noch erschwert durch die englische Heiratsfrage. Seit dem englisch-spanischen Friedensvertrag von 1604 hatte Jakob I. den Plan, einen seiner Söhne mit einer spanischen Habsburger-Prinzessin zu verbinden, nie mehr ganz aus den Augen verloren. Er versprach sich davon Partizipation an den spanischen Reichtümern73 und eine bessere Anbindung der englischen Katholiken an das Königshaus, was beides auch seine Rolle gegenüber dem immer selbstbewusster auftretenden Parlament gestärkt hätte. Zudem sollte der Pakt mit Spanien Englands aussenpolitische Position verbessern. Spanien wiederum förderte die Heiratsgedanken des Stuart-Königs, da es an einem guten Einvernehmen mit England äusserst interessiert war. Denn der englischen Parteinahme kam im Krieg der Spanier gegen die aufständischen Generalstaaten der Niederlande eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Auch in den 1618 ausgebrochenen böhmischen Konflikt waren die Briten involviert, weil Friedrich V. von der Pfalz mit einer 70 71 72
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Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 26. Die Aldobrandini-Ludovisi-Verschwägerung wird weiter unten thematisiert. Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 2, 12; Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 49-50. Ranke, Die römischen Päpste (wie Anm. 18), Bd. 2, S. 79-80 (7. Buch, Kap. 2); Pastor, Geschichte, Bd. 13 (wie Anm. 14), S. 121. Für die Mitgift der spanischen Infantin werden Beträge von bis zu 600'000 £ genannt. Davies Godfrey, The early Stuarts 1603-1660, Oxford 2 1959, S. 55 (= The Oxford History of England 9).
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Tochter Jakobs I. verheiratet war, was die Stuarts zu potenziellen Verbündeten des Winterkönigs machte. Hoffnungsvolle Kontakte des britischen Königshauses nach Madrid konnten also eine dezidiert antihabsburgische Politik der Briten verhindern helfen. 74 Während des Ludovisi-Pontifikats wurden die Eheverhandlungen parallel mit der sich zuspitzenden politischen Lage wieder intensiviert. Spanien scheint dabei vor allem auf Zeit gespielt zu haben. Es war zwar einer Verbindung prinzipiell nicht ganz abgeneigt, wollte aber die Vorteile klar ersichtlich auf dem Tisch haben. 75 Rom hatte man dabei anscheinend vor allem die Rolle des Sündenbocks zugedacht, falls, wie immer einkalkuliert, das Projekt scheitern sollte. Doch auch in dieser Angelegenheit behielt Ludovico Ludovisi die Zügel in der Hand.76 Dies vor allem, weil er auch hier wieder die Lage richtig beurteilte. Er machte sich keine Illusionen wie etwa Paul V., der von einer Rückkehr Englands in den Schoss der römischen Kirche träumte.77 Der Kardinalnepot Gregors X V . hielt Gerüchte von einer Konversion Jakobs I. und seines Sohnes für vanità. Vielmehr seien die Handlungen des Stuart-Herrschers v o m Prinzip der Staatsräson bestimmt - auch in dieser Angelegenheit, die ihn vor allem fester auf dem Thron
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Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 32. Diese Sicht der Dinge ergibt sich für uns aus den diversen, zum Teil sehr unterschiedlichen Darstellungen zum spanisch-englischen Heiratsprojekt. Pastors dezidierte Meinung, dass Olivares die Heirat auf jeden Fall zu verhindern suchte, wird zwar durch einige zeitgenössische Beobachter gestützt, jedoch spricht der Verlauf der Verhandlungen eher dafür, dass Madrid sich alle Optionen offen halten wollte. Bei Madrids grundsätzlicher Abneigung wäre es wohl kaum zu einem formell unterzeichneten Heiratsvertrag gekommen. Berichte über Geständnisse von Olivares, dass er gegen die Heirat sei, sind mit Vorsicht zu geniessen, da sie sowohl Taktik Olivares' oder Propaganda bzw. Schuldzuweisungen post festum widergeben könnten. Lezterer Verdacht trifft vor allem auf den Bericht Buckinghams über ein solches Geständnis zu. [Albion Gordon, Charles I and the court of Rome. A study in 17th Century diplomacy, Louvain 1935, S. 44. (= Université de Louvain. Recueil de travaux publiés par les membres des Conférences d'histoire et de philologie, Serie 2, 30)] Pastors Schilderung der ablehnenden Haltung von Olivares steht seine eigene Beurteilung an anderer Stelle gegenüber: Olivares sei englandfreundlich. Pastor, Geschichte, Bd. 13 (wie Anm. 14), S. 199. Auch Albrecht berichtet von Olivares' Englandfreundlichkeit und dass jener die Heiratsverhandlungen wieder in Schwung brachte. Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 69. Olivares' politisches Dilemma und sein Bemühen, sich immer wieder alle Optionen offenzuhalten, wird auch augenfällig bei: Elliott John H., Olivares (1587-1645). L'Espagne de Philippe IV, Paris 1992, S. 241-253. Dies ergibt sich aus den Erläuterungen bei: Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 33-36. Ludovisi sass jeweils in den dafür zuständigen Kardinalskongregationen. Vor allem aber geben diverse Briefe und awisi eindeutig Zeugnis davon, dass der Kardinalnepote die Frage aufmerksam verfolgte und die getroffenen Beschlüsse jeweils seine Haltung in der Sache widerspiegelten. Vgl. z.B. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 34 (Fussnoten 107 und 108). Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 43; Pastor, Geschichte, Bd. 12 (wie Anm. 20), S. 452-57.
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verankeren solle.78 In Folge dieser Einschätzung, mit der Ludovico den Nagel wohl auf den Kopf traf, die ihn aber nicht von einer grundsätzlichen Förderung der Heiratspläne abbrachte, schienen Forderungen nach Konversion Karls oder Religionsfreiheit für alle Katholiken in England - wie unter Paul V. unrealistisch. So verlegte sich Ludovisi vor allem darauf, das Ende der Unterdrückung und Verfolgung der Katholiken auf der Insel zu verlangen,79 dies aber mit Nachdruck: Rückversicherungen und Eide sollten die Zusagen besiegeln.80 Der Kardinalnepot scheint die Aktionshoheit gewonnen zu haben und den Hof in Madrid in seinem Spielraum so stark beschnitten, aber auch verärgert81 zu haben, dass Olivares im Staatsrat argumentierte, eine eventuelle Heirat sei vor allem für die Katholiken in England von Vorteil, für die spanische 'Europapolitik' aber überflüssig.82 In Madrid wollte man sich zudem mit einem englischen Heiratsprojekt auf keinen Fall gegen Wien stellen.83 In der Frage der Kurübertragimg mussten nämlich die britischen und kaiserlichen Interessen aufeinanderprallen. Der zögerlichen Haltung Madrids steht hier wiederum das entschlossene Vorgehen Roms gegenüber. Dort hielt man die Kurübertragung an Bayern und eine englisch-spanische Heirat nicht für unvereinbar. Und Ludovisi behielt recht. Auch nach dem Regensburger Deputationstag warb England weiterhin um die Hand der spanischen Prinzessin Maria. Der englische Thronfolger Karl reiste im März 1623 sogar nach Madrid ab, um die Angelegenheit endlich unter Dach und Fach zu bringen. In den nun folgenden Verhandlungen, bei denen vor allem die römischen Wünsche weitgehend durchgesetzt wurden,84 erwies sich die englische Nachgiebigkeit als sehr weitgehend, so dass es am 25. Juli 1623 trotz der zögerlichen spanischen Haltung zur Unterzeichnung und feierlichen Beeidung des Ehevertrages kam.85 Die Braut sollte dem englischen Prinzen aber erst nach England folgen, wenn ersichtlich wurde, dass England seine Zugeständnisse gegenüber den Katholiken einhalte. In Rom hatte jedoch mittlerweile ein neuer Papst den Thron bestiegen. Und Urban VIII. wollte weitere Zugeständnisse, so
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Archivio di Stato (=AS) Venezia, Roma 87 f.318-323v. Zitiert nach: Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 34. AS Venezia, Roma 87 f.318-323v. Zitiert nach: Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 34. Vgl. die Sonderinstruktion für Innocenzo de Massimi vom 12. April 1623 bei: Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 2, S. 959-971. Aus dem Begleitschreiben zur Instruktion geht hervor, dass Ludovisi nur Abstellen der Verfolgungen forderte, weil ihm die Zeit für weitergehende Schritte noch nicht reif erschien. Albion, Charles I (wie Anm. 75), S. 31. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 34. Albion, Charles I (wie Anm. 75), S. 39. Pastor, Geschichte, Bd. 13 (wie Anm. 14), S. 133. Vgl. dazu: Pastor, Geschichte, Bd. 13 (wie Anm. 14), S. 134-150. Pastor, Geschichte, Bd. 13 (wie Anm. 14), S. 149-150.
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etwa die Errichtung von öffentlichen Kirchen für Katholiken.86 Für die Stuarts aber, denen schon viele Zugeständnisse abgerungen worden waren und die sich durch die spanische Behandlung zunehmend verbittert zeigten,87 lief das Fass allmählich über. Als dann dem königlichen Schwiegersohn Friedrich V. auch noch die Pfalz entrissen wurde und Spanien keinen Finger für den geächteten Kurfürsten rührte, im Gegenteil für sich selbst sogar die Unterpfalz reservierte, war die Schmerzgrenze erreicht. Ultimativ forderte London nun, dass die Spanier mit Diplomatie oder Waffenhilfe die Restitution der Pfalz erwirkten. Madrid verweigerte sich und die vertraglich schon geschlossene Heirat fand nie statt.88 Es bleibt unklar, welche Restitutionsvorstellungen England dabei hegte. Verschiedene Hinweise deuten in die Richtung, dass der konziliante König Jakob I. mit der Herausgabe der Unterpfalz zufrieden gewesen wäre.89 Interessanterweise verfolgte die dem Pfälzer Kurfürsten ansonsten so feindlich gesonnene Kurie unter Gregor XV. gerade in diesem Punkt einen flexiblen Kurs: Für den Bayernherzog dachte sie neben der Kurfürstenwürde immer nur an die Oberpfalz, die spanischen Ansprüche aber auf die Unterpfalz hat sie nicht unterstützt. Jedoch hat man in Rom durchaus damit geliebäugelt, die Unterpfalz einem katholischen Fürsten anzuvertrauen, etwa dem Herzog von PfalzNeuburg.90 Konkrete Pläne sind jedoch nicht greifbar. Ob die Kurie im Dienste einer englisch-spanischen Heirat die Restitution der Unterpfalz betrieben hätte, ist schwer zu beurteilen, denn Gregor XV. starb, bevor die Engländer ihre ultimative Forderung stellten. Nochmals zeigte sich die Diplomatie der Ludovisi-Regierung auf der Höhe ihrer Aufgabe und zog zur Verwirklichung ihrer Pläne, die Teile einer kohärenten Europapolitik waren, alle Register. Ein wichtiges Indiz für die koordinierte Führung der päpstlichen Legaten repräsentieren dabei die Instruktionen, welche unter Gregor XV. wesentlich präziser waren als unter Paul V. oder Urban VIII., was auch von einer viel besseren Kenntniss der Verhältnisse im transalpinen Raum zeugt. Dafür wiederum ist nicht zuletzt auch die personelle Kontinuität zum
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Ranke, Die römischen Päpste (wie Anm. 18), Bd. 2, S. 120. (7. Buch, Kap. 4); Lutz, Kardinal Giovanni Francesco Guidi di Bagno (wie Anm. 50), S. 122-123. Der Umstand, dass Urban dann den Franzosen die Dispens für eine englische Heirat unter geringeren Auflagen als den Spaniern gab, ist ein Zeugnis mehr für seine Spanienfeindlichkeit und Frankophilie. Albion, Charles I (wie Anm. 75), S. 44. Albion, Charles I (wie Anm. 75), S. 47-48. Van der Essen etwa behauptet, die Ehe sei daran gescheitert, dass Spanien die Unterpfalz nicht verlieren wollte. Van der Essen Alfred, Le cardinal-infant et la politique européenne de l'Espagne 1609-1641, Louvain 1944, S. 98. (= Université de Louvain. Recueil de travaux d'histoire et de philologie, Serie 3,21) Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 9, 72-81.
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Aldobrandini-Diplomatencorps verantwortlich, für die Giovanni Battista Agucchi als ein Beispiel unter vielen steht, wenn auch als besonders herausragendes.91 Dank dieses hervorragenden Informationsgrades und der ausserordentlichen politischen Begabung der wichtigen Protagonisten, gelang es Rom zwischen 1621 und 1623, fast alle anvisierten strategischen Ziele zu realisieren.92 Und dies nicht, indem man sich an eine andere europäische Macht anlehnte, sondern dank einer konsequenten (und nicht wie unter Urban VIII. doppelbödigen) Polititk der Unparteilichkeit. Sowohl in der Veltlinfrage als auch bezüglich der Kurübertragung besass man das vollste Vertrauen der französischen Regierung.93 Spanien gegenüber trat die Kurie mehrmals, wie gesehen, sehr bestimmt und mit konträren Ansichten auf, so dass die vielen Beurteilungen Ludovisis, die von einer uneingeschränkt pro-spanischen Politik sprechen, nur weil er im 30jährigen Krieg auf der Seite der Habsburger agierte, wohl fehl gehen. Der Pontifikat Gregors XV. lässt sich nicht in dieses beliebte Schema prospanisch oder aber profranzösisch pressen. Die Ludovisi spielten auf einer anderen Klaviatur: Ihr Konzept ging davon aus, dass Rom konsequent seine Interessen verfolgen, sich dabei diplomatisch geschickt mit den europäischen, vor allem den katholischen Höfen abstimmen und diese in seine Pläne einbinden oder als Vollstrecker nutzen solle, ohne sich je in deren Abhängigkeit zu begeben. Hauptziele römischer Politik waren dabei Festigung und Kräftigung des katholischen Glaubens, besonders in Europa, aber auch darüber hinaus, sowie Ruhe und Ordnung unter päpstlicher Schirmherrschaft in Italien.94 Mit dieser Politik war man nahe an der Quadratur des Zirkels, welche die Vereinigung von geistlicher und weltlicher Macht unter der Tiara forderte, vor allem gegenüber der katholischen Vormacht und italienischen Konkurrrentin Spanien. Einer derartig komplexen Aufgabe, die es in den Jahren 1621-23 wegen der schwachen körperlichen Konstitution des Papstes
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Am deutlichsten wird die bei Jaitner immer wieder ausgesprochene Kontinuität zwischen den Pontifikaten Clemens Vin. und Gregors XV. konstatiert bei: Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 196-197. Beispiele für die wesentlich schlechtere Informationssituation in Rom unter Paul V. und Urban VIH. bei: Lutz Georg, Roma e il mondo germanico nel periodo della guerra dei Trent'Anni, in: Signorotto Gianvittorio/ Visceglia Maria Antonietta (Hgg.), La Corte di Roma tra Cinque e Seicento. „Teatro" della politica europea, Roma 1998, S. 425-460, hier: S. 442-453. (= Biblioteca del Cinquecento 84) Zur gleichen Einschätzung gelangt: Albrecht, Die deutsche Politik (wie Anm. 35), S. 2. Frankreich erhielt auch Unterstützung im Hugenottenkrieg 1621/22. Auch dem Wunsch Ludwigs XHI. auf Erhebung des Pariser Bistums zur Metropole wurde entsprochen. Pastor, Geschichte, Bd. 13 (wie Anm. 14), S. 171-173; Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1,S. 56. Letzterem Ziel diente auch die Politik, Savoyen zu einem erneuten Vorgehen gegen Genf zu bewegen und damit den unberechenbaren Herzog Carlo Emanuele von seinen oberitalienischen Expansionsgelüsten abzulenken. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 56.
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auch noch unter enormem Zeitdruck zu erledigen galt,95 konnte nur ein belastbarer Herrschaftsapparat gewachsen sein. Das Staatssekretariat allein wäre zu dieser Zeit damit völlig überfordert gewesen, da es noch zuwenig autonom war und seine Mitarbeiter vor allem in den Kongregationen kaum Einfluss geltend machen konnten. Die Impulse und Leitlinien mussten also vom Papst und seinem Nepoten selber ausgehen. In Rechnung zu stellen ist zudem, dass der Papst oftmals krank und bettlägrig war.96 Wie oben allgemein erläutert, ist nun auch in den behandelten Hauptfragen deutlich geworden, dass Ludovico Ludovisi im Zentrum der päpstlichen Politik stand. Er hielt alle Fäden in der Hand und koordinierte die diversen diplomatischen Aktivitäten. Neben Agucchi und dem Papst selber finden sich noch einige Schlüsselkardinäle an seiner Seite, die in praktisch allen wesentlichen Fragen entscheidende Ratgeber waren und immer wieder für die ausserordentlichen Kardinalskongregationen hinzugezogen wurden: Sauli, Bandini, Cobelluzzi, Ginnasi und Ubaldini.97 Die bestimmte und eigenständige Politik Roms nahm auch im kirchlichen Reformprogramm klare Züge an. Beharrlich drängte man auf die Umsetzung der Tridentiner Konzilsbeschlüsse, vor allem gegenüber den Franzosen.98 Jedoch auch die Spanier bekamen Roms Bestimmtheit zu spüren. Mit der Gründimg der ständigen Kongregation „De propaganda fide" setzte Rom eine revolutionäre Verschiebung der Kompetenzen in den Missionsgebieten durch. Die Kurie reklamierte für sich die jurisdiktioneilen Befugnisse in den aussereuropäischen Missionsgebieten und bestritt damit die von Spanien und Portugal (zu dieser Zeit in Personalunion mit Spanien) beanspruchten königlichen Patronatsrechte. Sie war nicht mehr gewillt, ihre Interessen treuhänderisch von den iberischen Kolonialisatoren wahrnehmen zu lassen, sondern wollte die Entscheidungshoheit in den Missionen erlangen.99 Einer Stärkung und ostentativen Beanspruchung der päpsüichen Hoheit in den Missionen diente sicherlich auch die intensive Förderung, welche die Jesuiten unter Gregor XV. erlebten. Dabei liessen er und sein Kardinalnepot sich zweifellos auch von ihrer persönlichen Beziehung zur Gesellschaft Jesu leiten. Beide waren am Collegio Romano in Rom erzogen 95
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Besonders in der Kurübertragung ist deutlich sichtbar, wie die kuriale Diplomatie immer wieder versuchte, die Dinge zu beschleunigen. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 95-98; Während der Behandlung des Veltlinproblems zum Beispiel ging es dem Papst in einer wichtigen Phase gesundheitlich sehr schlecht. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 28. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 105-106. Pastor, Geschichte, Bd. 13 (wie Anm. 14), S. 170. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 54-55. Zur Vorgeschichte: Delgado Mariano, Der Konflikt zweier Universalismen. Westindische Patronatskonflikte zwischen Karl V. und Papst Paul DI. und zwischen Philipp II. und Papst Pius V., in: Büchel Daniel/ Reinhardt Volker, Modell Rom? Der Kirchenstaat und Italien in der frühen Neuzeit: Ausstrahlungen, Wechselwirkungen und Antagonismen, (in Vorbereitung).
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worden. Den Höhepunkt päpstlicher Förderung erfuhr der Orden 1622, als in einer aufsehenerregenden und seit Menschengedenken nie dagewesenen Gruppenheiligsprechung neben Teresa von Avila, Filippo Neri und Isidor von Sevilla die Jesuiten Ignatius von Loyola und Franciscus Xaverius zu den Ehren der Altäre erhoben wurden. Damit wurde aber nicht nur der Jesuitenorden, sondern auch Spanien geehrt. Vier seiner Untertanen, deren Promovierung er intensivst unterstützt hatte, sah der Katholische König mit einem Schlag sanktifiziert, Klienten, die ihm im Himmel unschätzbare Dienste erweisen konnten.100 Für einmal hatte die Kurie den ansonsten arg gebeutelten Iberern Zuckerbrot vorgesetzt - dass dies in einem Moment geschah, in dem die Kurie in den oben angesprochenen Fragen in Madrid ein Einlenken auf kuriale Positionen erwartete, braucht wohl nicht speziell betont zu werden. Trotz aller Herrschaftsteilnahme und allem geschickten Agieren auf internationalem Parkett, Ludovico Ludovisi musste natürlich auch an die Zeit nach dem Papsttod denken - und diese schien angesichts des kränkelnden Onkels nie allzu fern zu sein. Deswegen war in allen Dingen Eile angesagt, in politischen Fragen wie der Kurübertragung, in mäzenatischen Angelegenheiten101 aber auch in der Rekrutierung von qualifiziertem und zugleich loyalem Personal. Eine solche Klientel war sowohl für die Wahrnehmung von Herrschaft wie auch die Sicherung einer einflussreichen Stellung nach Pontifikatsende unbedingte Notwendigkeit. Die Jesuiten bildeten innerhalb der ludovisischen Herrschafts- und Rückversicherungsplanung sicherlich eine wichtige Stütze, doch der Kardinalnepot brauchte eine breitere Anhängerbasis an der Kurie, und zwar schnell. Dies umso mehr, als der seit jeher verhasste Vorgängernepot Scipione Borghese102 einer mächtigen und einflussreichen Fraktion vorstand. Die Kurie konnte jedoch nicht binnen einiger Wochen umgekrempelt werden. Ludovisi musste also auf bestehende Klientelnetze zurückgreifen. Da traf es sich hervorragend, dass gerade im Konklave 1621 die Aldobrandini-Fraktion ihren Anführer, Kardinal Pietro, verloren hatte. Da dieser sich vor seinem Ableben massgeblich für die Wahl Alessandro Ludovisis eingesetzt hatte, seit langem gute Beziehungen zwischen den Aldobrandini und Ludovisi bestanden und zudem auch die Aldobrandini in gespannten Beziehungen zu den Borghese standen, bot sich also hier fast natürlich, um in neudeutschem Managerslang zu sprechen, ein Mega-Merger an. Die Aldobrandini-Klientel war die 'Firma', die am besten zu den Ludovisi passte, und damit der ideale Übernahmekandidat auf dem römischen 100 101
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Reinhard, Freunde 1998 (wie Anm. 12), S. 135. Das Mäzenatentum Ludovico Ludovisis wird überzeugend thematisiert in: Karsten Arne, Künstler und Kardinäle. Vom Mäzenatentum römischer Kardinalnepoten im 17. Jahrhundert, Diss. maschschr., Berlin [2000], S. 40-70 (Kap. 2.2 - 2.4). Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 107. Zur unerbittlichen Feindschaft der beiden Kardinalnepoten vgl. den zeitgenössischen Bericht bei: D'Onofrio Cesare, Roma vista da Roma, Roma 1967, S. 307f.
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Klientelmarkt. Zudem mussten sich die übernommenen ehemaligen Klienten der Familie Clemens VIII. nicht vor Stellenabbau fürchten, vielmehr standen ihnen mit einem Eintritt in die Ludovisi-Fraktion Tür und Tor zu einem mächtigen Karrieresprung offen. Die heikelste Frage war nur, welchen Platz die Aldobrandini bei dieser Fusion einnehmen sollten und mit welchem Mittel der (Firmen-) Zusammenschluss besiegelt werden sollte. Für frühneuzeitliche Verhältnisse gab es bei solchen Problemen eine bevorzugte Standardlösung: die eheliche Verbindung. Sofort nach der Wahl Gregors XV. auf den Stuhl Petri traten die beiden Familien in Verhandlungen. Ehekandidaten in akzeptablem Alter waren mit Ludovicos Schwester Ippolita und dem Neffen des verstorbenen Kardinals Pietro, Giovann Giorgio, vorhanden. Da auf beider Seite viel guter Wille bestand und alle Beteiligten sich Vorteile von einer Verbindung versprachen, wurde man schnell einig. Ippolitas Mitgift sollte 100 000 scudi betragen, Giovann Giorgio alle Rechte eines weltlichen Nepoten bekommen und sein Bruder Ippolito mit dem Purpur bedacht werden, womit die Aldobrandini kurial weiterhin eine wichtige Rolle spielen konnten. Die Kardinalsernennung fand am 19. April 1621, die Vermählung durch den Papst höchstpersönlich am 25. desselben Monats statt, womit die für den Ludovisi-Pontifikat so wichtige und nützliche Klientelfusion besiegelt war.103 Neben dieser Herrschaftsfunktion ist aber auch eine auf die postpontifikale Situation schielende, auf Rückversicherung bedachte Familienpolitik deutlich erkennbar. Eindeutiger von Versorgungsgedanken geleitet war der zweite grosse Heiratspakt, den Ludovico Ludovisi im Pontifikat seines Onkels abschliessen konnte. Es ging um seinen Bruder Niccolò. Die erstbeste Partie Hess sich der gewandte Kardinalnepote freilich nicht aufschwätzen: Die Altemps- wie auch die Colonna-Anfragen wurden vorest auf die lange Bank geschoben. Trotz aller gebotenen Eile aufgrund des voraussichtlich nicht allzu lange dauernden Pontifikats, wollte Ludovico nichts überstürzen. Das Erreichen seines anvisierten Zieles, an dem übrigens die Borghese gescheitert waren,104 verlangte etwas Geduld. Nicht weniger als eines der grössten Lehen im Königreich Neapel, das Fürstentum Venosa (jährliche Rendite: 40 000 scudi!), wollte er sich für seine Familie durch die Gesualdo-Erbtochter unter den Nagel reissen. Damit liess er sich auf ein riskantes Spiel ein, denn alles würde mit dem Einverständnis des spanischen Königs, die für eine solche Heirat, da mit Lehensübertrag verbunden, notwendig war, stehen und fallen. Madrid aber war bekannt dafür, dass es mittels solcher Köder versuchte, im europäischen Machtkampf päpstliche Unterstützung für sich zu gewinnen und dabei auch noch darauf abzielte, den Köder schliesslich für sich einzubehalten, sprich die Heirat platzen zu lassen. Der Kardinalnepote war freilich aus anderem Holz geschnitzt, als dass er die leicht zu übertölpelnde 103 104
Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 107-111. Gigli Giacinto, Diario di Roma. A cura di Manlio Barberito, 2 Bde., Roma 1994, Bd. 1, S. 68, 121.
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Kreatur abgegeben hätte, die man mit Ködern, auch noch so fetten, am Gängelband führen konnte. Ludovico aktivierte sofort den mit guten Beziehungen zum spanischen Hof ausgestatteten Antonio Caetani, von 1611 bis 1618 Nuntius in Spanien, dem gerade eben für die Vermittlung interessanter Heiratspartner und Entwicklung entsprechender diplomatischer Initiativen quasi als Vorauszahlung das Kardinalat verliehen worden war.105 Caetani wurde zusammen mit seinem Bruder, dem Principe di Sermoneta, auf die Gesualdo-Sippe angesetzt, die einer Ludovisi-Verbindung eher ablehnend gegenüber stand. Gleichzeitig erhielten die päpstlichen Diplomaten in Madrid Anweisungen, mit Hilfe von Vertrauenspersonen und Ministern eine positive Entscheidung Philipps IV. zu erwirken. Das Lobbying am spanischen Hof wurde mit voller Kraft betrieben und stellte die Politik des Kardinalnepoten in ein helles pro-spanisches Licht. Schon im Februar 1622 traf das grundsätzliche Einverständnis aus Madrid ein. Die Schlussverhandlungen übertrug man dem spanischen Vizekönig in Neapel, Kardinal Zapata. Ludovisi wusste, dass damit die Ernte noch lange nicht eingefahren war, zuviele Hindernisse konnten bei den Vertragsdetails noch auftauchen. Testamentsbestimmungen des Hauptzweiges, die bei einem solchen Erbfall eine innerfamiliäre Heirat vorschrieben, konnte der Kardinalnepote durch einen Vergleich mit grosszügigen Abfindungen für die Seitenlinien ausräumen. Die wichtigste Verzögerung ging aber von Zapata aus, der die Ludovisi hinzuhalten versuchte und die Aufgabe der päpstlichen Neutralitätspolitik im Veltlin und Absegnung der spanischen Okkupation verlangte. Ausserdem rechnete er mit dem baldigen Tod des Papstes, womit die Heirat dann wieder geplatzt wäre. Dieser Gefahr bewusst, drückte Kardinal Ludovisi erneut aufs Tempo und lancierte nochmals eine diplomatische Grossoffensive, u. a. mit den Caetani als wichtigen Helfer. Im Frühjahr 1622 hatte er schliesslich seinen Willen durchgesetzt. Am 24. April wurde der Heiratsvertrag unterzeichnet. Am 1. Mai fand dann die Trauung per procurationem, durch Stellvertreter, statt. Und damit nichts mehr schief laufen konnte, liess Ludovisi auch mit seiner Forderung nicht locker, dass die elfjährige Braut schnellstmöglich nach Rom gebracht werden sollte. Nach weiteren Störmanövern reiste Isabella Gesualdo im November endlich ab, erreichte am 23. die Ewige Stadt und wurde am 30. November 1622 in der sixtinischen Kapelle mit Niccolò vermählt.106 Die Gesualdo-Heiratsverhandlungen zeigen Ludovico Ludovisi, der auch in dieser Angelegenheit - daran lassen die Dokumente keinen Zweifel - der federführende Protagonist war, ein weiteres Mal auf der Höhe seines Geschicks. Unter schwierigsten Bedingungen Zeitdruck war nämlich bei 105
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Gigli, Diario (wie Anm. 104), Bd. 1, S. 84-85; Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 170-171, 459^60. Biogramm Caetanis, des im Jahre 1621 wohl erfahrendsten kurialen Spaniendiplomaten: Dizionario biografico degli italiani (= DBI), Bd. 16, Roma 1973, S. 120-125. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 170-177.
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Heiratsverhandlungen im 17. Jahrhundert bares Gift, da allerorts die Konditionen immer wieder sorgfältig und genau überprüft wurden. Wer also gelassen und mit Geduld zu Werke gehen konnte, war in solchen Verhandlungsspielen enorm im Vorteil - hatte Ludovisi seiner Familie eine Partie gesichert, die kaum Wünsche offen liess. Zudem hatte er sich in keiner der grossen politischen Fragen durch die Spanier nur um einen Deut von seiner, für die Iberer nicht gerade angenehmen Linie abbringen lassen. In einem Pokerspiel, das allzu oft gerade umgekehrt geendet hatte - mit päpstlichen Zugeständnissen an die Macht hinter den Heiratspartnern ohne sogar schliesslich die gewünscht Ehe zu erlangen -107 hatte der mit allen Wassern gewaschene Kardinalnepot virtuos den Sieg davon getragen. Es ist bezeichnend für die Meisterleistung Ludovico Ludovisis, dass die von ihm geleitete kuriale Politik Madrid manch schwer verdauliche Wünsche auftischte und diese dann auch durchzusetzen verstand, dass es ihm aber gelang, die Spanier trotz all dieser eingesteckten empfindlichen (Rück-)Schläge bei der Stange zu halten und sich weiterhin ihrer Unterstützimg erfreuen zu können, sei dies in den europapolitischen Fragen, den erwähnten Heiratsverhandlungen oder auch bezüglich der Getreidelieferungen, die Rom im Krisenjahr 1622 aus dem spanischen Sizilien in reichen Mengen und zu weit günstigeren Konditionen als aus anderen Regionen erhielt.108 In der nachpontifikalen Phase wurden Ludovico und seine Familie dann sogar zu den engsten spanischen Parteigängern und pflegten bis zu ihrem Aussterben exzellente Verbindungen zum madrilenischen Hof. Wohl daraus hat die Forschung bei oberflächlicher Betrachtung immer wieder geschlossen, dass der Ludovisi-Pontifikat als schlechthin philospanisch kategorisiert werden könne. Das ganze Verhalten gegenüber Spanien macht nochmals deutlich, welch starkes Gewicht im Falle Ludovico Ludovisis die Herrschaftsfunktion hatte. Hätte die Versorgung seiner selbst und diejenige der Familie, die sicherlich nicht zu kurz kam, übergeordnete Bedeutimg besessen, dann wäre Kardinal Ludovico gegenüber den Spaniern ganz anders aufgetreten, hätte sie nicht sooft diplomatisch ausgebremst. Doch er war alles andere als ein willfähriges Werkzeug in ihrer Hand und liess sich durch seine sehr wohl vorhandenen Versorgungsabsichten nicht in seiner Aussenpolitik beeinflussen. Es kann also 107
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Eines von zahlreichen Beispielen dafür ist der Fall der Ciocchi del Monte (Familie Julius IO.) und der Medici bei: Büchel Daniel, Glanz in alle Ewigkeit? Langzeitnutzen päpstlicher Verwandtenförderung am Beispiel der Ciocchi del Monte, Borghese und Albani, in: Büchel Daniel /Reinhardt Volker (Hgg.), Die Kreise der Nepoten. Neue Forschungen zu alten und neuen Eliten Roms in der frühen Neuzeit. Interdisziplinäre Forschungstagung 7. bis 10. März 1999, Istituto Svizzero di Roma, Bern u.a. 2001, S. 77-105, hier S. 81-82, 89. (= Freiburger Studien zur frühen Neuzeit 5) Reinhardt Volker, Überleben in der frühneuzeitlichen Stadt. Annona und Getreideversorgung in Rom 1563-1797, Tübingen 1991, S. 133. (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 72.)
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keine Rede davon sein - und das war der Hauptzweck unserer langen Ausführungen über die kuriale Aussenpolitik dass die herrschaftliche Komponente dieses Nepoten dysfunktional geworden ist. Im Gegenteil: Die Herrschaftsfunktion ist nicht nur ersichtlich, sondern auch für den Staat enorm nutzbringend. Schliesslich setzte Ludovisi immer wieder seine Klientel für die Durchsetzung seiner politischen Ideen ein. Dieses Exemplum zeigt auch, welches bemerkenswerte politische Potential ein Papstnepote in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch besass. Gerade unter einem Nepoten erlebt die römische (Europa-) Politik des Seicento ihre konsequenteste und kohärenteste Phase. An dieser Stelle wäre nun ein Einwand denkbar: Ludovisi als begnadetes Ausnahmetalent, das die Regel der verloren gegangenen Herrschaftsfunktion bestätigt. Das ist nicht ganz falsch. Ludovisi war ein ausserordentlich begabter Politiker und sein Erfolgsausweis wird von keinem anderen Nepoten seiner Zeit errreicht. Nur darf man sich von Ludovisis Erfolgen nicht zu falschen Schlüssen verleiten lassen. Wenn andere Nepoten nicht in solch spektakulärer und erfolgreicher Weise hervortraten, muss dies nicht heissen, dass sie keine Herrschaftsfunktionen mehr besassen. Betrachten wir einmal die anderen Pontifikate der ersten Hälfte des 17. Jahrhunders, zuerst die auf die Ludovisi folgenden Barberini. Die geistlichen Hauptnepoten Urbans VIII, die beiden Brüder Francesco und Antonio wuchsen erst nach und nach in ihre Rolle hinein, da ihr Papst-Onkel in einem unerwartet frühen Alter schon mit der Tiara gekrönt wurde. Antonio wurde überhaupt erst nach der Colonna-Heirat 1628 zum Kardinal erhoben. Aber auch Francesco, der 1623 sofort den Purpur erhielt, musste sich erst langsam mit den Grundregeln kurialer Herrschaftsorganisation vertraut machen. Noch 1625 schrieb der venezianische Sonderbotschafter in Rom: II Cardinal Barberino non ha ancora quella esperienza nei maneggi politici, che acquistano col tempo i nipoti del Papa.m Doch nicht nur an Erfahrung fehlte es Francesco, auch an politischer Virtuosität konnte er es mit Ludovico Ludovisi nicht aufnehmen.110 Den diplomatischen Manövern, die viel taktisches Geschick, feines Gespür und umfassende Informationen verlangten, war der Barberini-Nepot viel weniger gewachsen. Bei seiner Frankreich-Legation bzgl. der Veltlinfrage 1625 war er beispielsweise - in einer zugegebenermassen schwierigen Situation - nervlich einem Zusammenbruch nahe.111 Nach seiner wiederum völlig missglückten Spanienlegation - nochmals ging es um die Veltlinfrage - ging Francesco 1627 dennoch daran, sich an der Kurie einen bestimmenden Einfluss zu sichern. Dafür 109 110
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Barozzi/Berchet, Relazioni (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 235. Barberino [gemeint: Francesco, der Autorjnon ha testa per una macchina così grande: non si fida d'alcuno, presume ogni cosa di sé stesso... Testi Fulvio, Lettere. A cura di Maria Luisa Doglio, 3 Bde. (1609-1633; 1634-1637; 1638-1646), Bari 1967, Bd. 2, S. 188. (= Scrittori d'Italia 236-238). Lutz, Kardinal Giovanni Francesco Guidi di Bagno (wie Anm. 50), S. 25.
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aber musste er die bisher im Pontifikat politisch tonangebenden Ratgeber des Papstes ausschalten. Dabei handelte es sich aber nicht um irgendwelche in Diensten ergraute Kurienbeamte oder kollegiale Weggefährten Urbans VIII. Nein, ein anderes Mitglied der Sippe hatte eine zentrale Herrschaftsfunktion bekommen: Francescos Onkel Lorenzo Magalotti, der nach dem Konklave 1623 mit dem kurialen Apparat schon bestens vertraut war und sich deswegen familienintern als am geeignetsten für Herrschaftsaufgaben präsentierte. Deswegen übertrug Urban VIII. ihm zu Pontifikatsbeginn die Leitung des Staatssekretariats. Magalottis Position als einflussreichster Ratgeber des Papstes war unangefochten, bis Francesco Barberini von der Spanienlegation zurückkehrte.112 Jener ging nun konsequent daran, die Verhältnisse in Rom neu zu gestalten. Er diskreditierte Magalotti wo er nur konnte und schaltete ihn im November 1627 definitiv aus, indem er seinen Onkel auf die goldene Pfründe des Erzbistums Ferrara verbannte. Im Staatssekretariat übernahm mit Lorenzo Azzolini ein Mann von Francescos Vertrauen - er hatte ihn auf seinen Legationen nach Paris und Madrid begleitet die Leitung.113 Doch damit nicht genug: Bekanntlich höhlte der Kardinalnepot nach Azzolinis Tod 1632 die Stellung des Staatssekretariats noch mehr aus. Francesco Barberini wusste eine Neubesetzung zu verhindern und arrangierte die Übertragung der geschäftsführenden Leitung an seinen völlig von ihm abhängigen Privatsekretär Pietro Benessa. Faktisch übernahm er selber die Leitung der Behörde114 und war damit zu diesem Zeitpunkt „so mächtig, wie kein Nepote vor ihm."115 Um sich diese Macht zu sichern, vor allem auch gegenüber dem Papstonkel, baute Francesco das Proprio-Sekretariat auf, das einen wichtigen Teil der diplomatischen Korrespondenz übernahm und zu dessen wichtigstem Minutant Barberini ebenfalls Benessa machte. Die Trennung vom Staatssekretariat war natürlich rein fiktiv, solange Benessa auch dort die Leitung innehatte. Doch das Interim von Francescos Privatsekretär als Leiter des Staatssekretariats fand bald ein Ende, und der Papst versuchte seinen Einfluss wieder zu stärken, indem er seinen Vertrauten und ehemaligen Konklavista von 1623 Adriano Ceva auf den Chefsessel des Staatssekretariats setzte. Nun aber 112
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Vgl.: Barozzi/Berchet, Relazioni (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 234. Magalotti wurde täglich vom Papst zur Audienz empfangen. Kraus Andreas, Das päpstliche Staatssekretariat unter Urban Vm„ 1623-1644, Rom - Freiburg i. Br. - Wien 1964, S. 75 (=Supplementhefte Römische Quartalsschrift 29.). Der Konflikt Magalotti-Francesco Barberini wird äusserst luzide und überzeugend geschildert bei: Karsten, Künstler (wie Anm. 101), S. 90-94 (Kapitel 3.5: Der Intrigant). Viele Details bei: Kraus, Das päpstliche Staatssekretariat (wie Anm. 112). Dort wird aber ein Konflikt Magalotti-Francesco Barberini negiert. Eine Meinung, die angesichts von Karstens überzeugender Argumentation als unhaltbar erscheint. Kraus, Das päpstliche Staatssekretariat (wie Anm. 112), S. 18. Kraus Andreas, Der Kardinal-Nepote Francesco Barberini und das Staatssekretariat Urban V m „ in: Römische Quartalsschrift 64 (1969) S. 191-208, hier: S. 198.
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konnte Francescos vorausschauender Proprio-Sekretariat-Zug seine volle Wirkung entfalten. Ceva wurden bestimmte Nachrichten vorenthalten, er wurde durch gefälschte Depeschen und bewusste Fehlinformationen hinters Licht geführt und bei den Nuntien desavouiert. Vor allem aber gelang es, ihn von den wichtigen chiffrierten oder verschlüsselten Korrespondenzen fernzuhalten, da er selber nicht chiffrieren konnte und der dafür zuständige Antonio Feragalli, ein Vertrauter Francescos, alles unternahm, um Ceva wichtige Informationen zu unterschlagen.116 In dieser erbittert geführten Auseinandersetzung ging es nicht um Titel oder schöne, in Breven beschriebenen Amtskompetenzen, sondern um reale Macht, um Ausübung von Herrschaft. Die Argumentation bewegt sich also nicht mehr auf der oben erwähnten Schiene juristischer Bestimmungen wie Laurain-Portemer, sondern stützt sich auf die sozial-politische Wirklichkeit, wie Reinhard es verlangte. Und auch in diesem Falle ist der Befund eindeutig: Francesco Barberini setzte sich in diesem Ringen durch, mindestens gegenüber den Nuntien. Denn diese spielten sein Spiel mit und verhielten sich seinen Wünschen entsprechend, dass er alles wissen solle, was an Ceva geht, man ihm selbst aber Dinge mitteilte, die man Ceva vorenthielt.117 Welche Bedeutung die Nepoten in Herrschaftsfragen hatten, ist auch daraus ersichtlich, dass in der Folge Francesco eine Beschneidung seiner Macht am meisten von Seiten seines Bruders Antonio befürchtete. Es entwickelte sich eine Konkurrenz, die über den Pontifikat hinaus in den nachfolgenden Konklaven noch mächtig nachwirkte.118 Der Befund für den Pontifikat Urbans VIII. ist, wenn auch hier nicht in aller Tiefe verifiziert, ebenfalls eindeutig: Francesco und Antonio Barberini, sowie zunächst Lorenzo Magalotti haben bedeutende Herrschaftsfunktionen wahrgenommen. In den Briefen Fulvio Testis etwa wird unumstösslich dargelegt, mit wem der Gesandte des Herzogs von Modena ins Gespräch zu kommen versuchte, wenn er in Rom die politischen Anliegen seines Herrn voranbringen wollte. Non ho potuto parlare né alla Santità di Nostro Signore, né al signor cardinal [Francesco] Barberino, perché in queste congiunture egli è impossibile l'avere udienza, se non ai giorni destinati. Al Signor Cardinal però ho scritta una poliza piena di ogni maggior caldezza— Non mi sono contentato di questo. Ma con un altro biglietto a parte ho raccomandato il negozio al signor cardinal Antonio, chiamando in aiuto l'autorità sua e la sua protezione."9 Dies ist nur eine von vielen Briefstellen, die die Verhältnisse klar und unmissverständlich schildern - so verzweifelt eindeutig, ist man aus Mitleid mit Testi geneigt zu sagen. 116 117 118
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Kraus, Kardinal-Nepote (wie Anm. 115), S. 199-205. Kraus, Kardinal-Nepote (wie Anm. 115), S. 203. Karsten zeigt, wie dieser Konflikt sich bis aufs Mäzenatentum auswirkte: Karsten, Künstler (wie Anm. 101), S. 117-121. (Kapitel 3.8: Stellvertreterkriege: Pietro da Cortona gegen Andrea Sacchi) Testi, Lettere (wie Anm. 110), Bd. 2, S. 23-24.
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Offensichtlich ist nicht nur der politische Einfluss der Barberini-Nepoten, sondern auch, dass sich ihre Erfolge mit denen Ludovico Ludovisis nicht messen können. Gerade der Streit unter den drei Sippenkardinälen (bzw. vier wenn wir den weniger einflussreichen Papstbruder Antonio sen. noch dazu zählen) hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass der Pontifikat schliesslich politisch wenig erfolgreich blieb. Misserfolge sind aber unseres Erachtens kein Beweis für eine fehlende Herrschaftsfunktion. In diesem Zusammenhang muss noch auf einen grossen Forschungs-Irrtum in der Bewertung des Barberini-Pontifikats hingewiesen werden: Den Castro-Krieg. Alle Quellen, die angeführt werden, um zu beweisen, dass die Papstfamilie hier einen Privatkrieg um ein eigenes Lehen gegen die Farnese geführt hat, gehen auf antibarberinische Propaganda - vor allem nach dem Pontifikat, als die zahlreiche Feindschaft Gründe für ein Vorgehen gegen die nunmehr ihres herrscherlichen Ranges verlustig gegangenen Familie suchte - zurück. Prinzipiell versuchte die Kurie - wenngleich überaus ungeschickt - die Hoheit über ein äusserst wichtiges Getreideliefergebiet zurückzugewinnen.120 Dass die Barberini bei einer erfolgreichen Kampagne sich auch das eine oder andere Filetstück oder das ganze Territorium käuflich erworben hätten, ist durchaus möglich, doch betonte auch der Papst, dass es nicht darum gehe, sich ein eigenes souveränes Fürstentum zu sichern, ansonsten wäre die Gelegenheit beim Heimfall Urbinos viel günstiger gewesen.121 Der Kauf eines Territoriums innerhalb des Kirchenstaates aber war nichts Aussergewöhnliches und ging auch oft mit Hilfe der Baronalkongregation, die überschuldete Adelsfamilien zum Verkauf zwang, über die Bühne: Ein solches Geschäft würde in einer Reihe mit den vielen Borghese-Käufen gestanden haben oder auch mit dem Zagarolo-Erwerb der Ludovisi. Hätte man nicht sogar bei einem erfolgreichen Vorgehen, bei dem die Barberini dann einen Teil des Territoriums als Kirchenstaatslehen bekommen hätten, in der Forschung davon gesprochen, wie vorteilhaft sich in diesem Falle die Interessen von Herrscherfamilie und Staat verbanden, wie funktional der Nepotismus doch in diesem Fall gewesen sei? Versuchen wir summarisch noch drei weitere Fälle vor den Ludovisi und Barberini zu beurteilen, um so unsere Erkenntnisse für den Zeitraum von 15901644 oder gut 50 Jahre präsentieren zu können. Die Ausweitung der Probandenzahl soll dazu dienen, verlässlichere Aussagen darüber machen zu können, in welchen Fällen wir mit dem Regelszenario und in welchen mit einer Ausnahme konfrontiert werden, uns also vor einer zu übereilten 120
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Vgl. dazu die Lieferzahlen und die die Kurie störend hohen Preise, etwa 1617, 1621 und 1622, bei: Reinhardt, Überleben (wie Anm. 108), S. 132-133. Fulvio Testi zitiert Urban VIII. folgendennassen: La nostra risoluzione e la nostra integrità in ricuperare lo stato d'Urbino è stata conosciuta e noi potevamo pure, così bene come i Medici, i Farnese e come quei della Rovere, infeudare di quello stato don Taddeo nostro nipote, e forse che ce ne sono mancate le tentazioni, e forse che tutti i principi tanto italiani quanto oltramontani non ce ne hanno supplicati e scongiurati? Testi, Lettere (wie Anm. 110), Bd. 2, S. 497.
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Verallgemeinerung bewahren. Dabei werden wir die Pontifikate Urbans VII. (1590) und Innozenz IX. (1591) bewusst übergehen, nicht etwa weil sie nicht in unser Schema passen, sondern weil sich in diesen Kurzpontifikaten (circa 2 Wochen, bzw. 2 Monate Dauer) kaum reale Herrschaftsstrukturen erkennen lassen. Aus den herrscherlichen Ernennungen von Verwandten in Führungspositionen, die in beiden Fällen vorhanden sind, wollen wir aber keine Schlussfolgerungen ziehen, aus den weiter oben dargelegten Gründen. Etwas weitergehend und aufschlussreicher, wenn auch immer noch in den Grauzonen der reinen Intentionalität angesiedelt, ist der Fall Leos XI., der 1605 schon kurz nach seiner Wahl starb und dem man immer wieder eine nichtnepotische Politik unterschieben wollte. So schreibt Hammermayer: „Noch galt es als kühnes Element, als Leo XI. im Jahre 1605 in seinem nur drei Wochen währenden Pontifikat nach dem Vorbild Gregors XIII. auf einen Nepoten verzichten wollte und einen Kardinal, Roberto Ubaldini, zum Staatssekretär ernannte."122 Mit dieser Aussage bewies der in diesem Punkt unwissende Autor aber gerade das Gegenteil, war doch Ubaldini ein Grossneffe Leos XI. und sein engster Verwandter an der Kurie. Er war es dann auch, der 1634 das Grabmal für seinen Grossonkel in Auftrag gab123 und sich dabei als EX SORORE PRONEPOS auch in der Inschrift verewigte. Auch unter Leo XI. war also ein enger Verwandter für die Position des Staatssekretärs vorgesehen und es ist anzunehmen, dass Ubaldini in der Tradition der Vorgängerpäpste auch die Stelle eines offiziell ernannten Kardinalnepoten bekommen hätte. Eine klare Herrschaftsposition war für ihn vorgesehen. Unter Gregor XIV. (Dezember 1590 - Oktober 1591), der im ganzen Pontifikat von Krankheit behindert und gezeichnet war, hat Unbestrittenermassen sein Neffe Paolo Camillo124 Sfondrati die Zügel in Händen gehalten. Dieser bekam nebst vielen Ämtern sofort die Leitung des Staatssekretariats übertragen. Bald schon, im Februar 1591, wollte der Papst alle weltlichen Angelegenheiten in die Hände des Nepoten übergeben, was in der Absicht kulminierte, an seinen Neffen die Kompetenz zu übertragen, die bei der Signierung der Suppliken dem Papst ausschliesslich vorbehaltene Formel Fiat ut petitur gebrauchen zu dürfen. Gegen 122
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Hammermayer Ludwig, Grundlinien der Entwicklung des päpstlichen Staatssekretariats von Paul V. bis Innozenz X., 1605-1655, in: Römische Quartalschrift 55 (1960) S. 157-202, hier S. 166. Die kurienpolitisch äusserst interessanten Umstände dieses Auftrags erhellt der Aufsatz: Karsten Arne/ Zitzlsperger Philipp, Bilderkrieg in Neu-St. Peter. Alessandro Algardis Grabmal für Papst Leo XI. de'Medici und die 'Borgia-Krise' der Jahre 1632/34, in: StädelJahrbuch Neue Folge 18 (2001) im Druck. In der Sekundärliteratur wird als zweiter Name des Kardinalnepoten oft „Emilio" angegeben. Dies dürfte wohl Folge eines Lese-Irrtums des 17. Jahrhunderts sein. In zu Sfondratis Lebzeiten angefertigten Dokumenten findet sich nach meinem Kenntnisstand stets der zweite Name 'Camillo'. Tobias Kämpf, der sich in dieser Materie bestens auskennt, hat mir diesen Sachverhalt dankenswerterweise bestätigt.
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eine solch aussergewöhnliche Machtdelegation und die Omnipotenz Paolo Camillos erhob sich vehemente Opposition im Kardinalsgremium, so dass der Papst auf den intendierten Verleihungsakt verzichtete. Partielle Proteste der Purpurträger konnten aber nicht verhindern, dass bis zum Tode Gregors XIV. im grossen und ganzen weiterhin galt, was der Gesandte von Lucca über den Kardinalnepoten berichtete: Ha in mano il governo di tutte le cose.125 Bezüglich des weltlichen Nepoten, Ercole Sfondrati, ist immerhin zu konstatieren, dass er militärische Titel nicht nur zu höherem Prestige führte, sondern an der Spitze des päpstlichen Heeres auch nach Frankreich zog und in den dortigen (Konfessions-) Krieg eingriff.126 In der Regierungszeit Clemens VIII. (1592-1605) bestimmte eindeutig der Papst die wesentlichen Richtlinien der Politik.127 Seine Verwandten hat er aber durchaus nicht nur versorgt, sondern auch für Staatsaufgaben eingesetzt, und zwar solche, die weit über die von Reinhard als „latente Herrschaftsfunktionen" zugestanden hinausgingen. Vor allem Pietro Aldobrandini bekam äusserst wichtige politisch-diplomatische Aufgaben anvertraut, und zwar nicht nur pro forma: Am 8. November 1597 ernannte ihn der Papst, der gerade vom Tod des Este-Herzogs erfahren hatte, zum Sonderlegaten mit der Aufgabe, zusammen mit den Kardinälen Bandini und Biandrate den päpstlichen Anspruch auf Ferrara durchzusetzen. Mit der Aufstellung eines Heeres von 20 000 Mann sollte er Cesare d'Este, der durch eine Krönung vollendete Tatsachen zu schaffen versuchte, entgegentreten. Rom liess keinen Zweifel daran, seine Ansprüche notfalls mit Waffengewalt durchzusetzen,128 griff zum Mittel der Exkommunikation von Cesare d'Este und warb an den italienischen und katholischen europäischen Höfen für seine Position. Derweil der Este-Prätendent systematisch isoliert wurde, handelte Kardinal Pietro mit dessen Cousine Lucrezia d'Este einen Vertrag aus, der die Rückkehr Ferraras zum Kirchenstaat zum Inhalt hatte.129 Äusserst zufrieden mit der Leistung seines Neffen betraute der Papst 125
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Laurain-Portemer, Absolutisme (wie Anm. 9), S. 502-505; Pastor Ludwig von, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, 16 Bde. in 22 Teilen, Bd. 10: Geschichte der Päpste im Zeitalter der katholischen Reformation und Restauration: Sixtus V., Urban VII., Gregor XIV. und Innozenz IX. (1585-1591), Freiburg i. Br. 1926, S. 536-540. Bei Pastor ist auch auf Seite 536 die Aussage des Luccheser Gesandten zitiert. Pastor, Geschichte (wie Anm. 123), S. 547-548. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Clemens' Vm. (wie Anm. 66), Bd. 1, S. LXXXIX-XC. Vgl. dazu die Instruktionen für die Nuntien an den italienischen Höfen, beim Kaiser sowie beim französischen und spanischen König: Jaitner, Die Hauptinstruktionen Clemens' VHI. (wie Anm. 66), Bd. 1, S. X X m und Bd. 2, S. 524-540 (Instruktionen 60-63). Jaitner, Die Hauptinstruktionen Clemens' Vm. (wie Anm. 66), Bd. 1, S. XXm, CVII-CIX. Birgit Emich zeigt in einer Studie detailliert auf, welch wichtige herrschaftliche Rolle die Aldobrandini beim Heimfall Ferraras und dann auch bei der personellen Integration der Ferraresen in die Kirchenstaatsklientelnetze spielten. Emich Birgit, Verstaatlichung des Nepotismus: Der Heimfall Ferraras an den Kirchenstaat, in: Büchel/Reinhardt, Modell Rom (wie Anm. 99), (in Vorbereitung).
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Pietro bald mit weiteren heiklen diplomatischen Missionen. Im Anschluss an seine Legation zur Hochzeitsfeier Heinrichs IV. von Frankreich mit Maria de' Medici in Florenz, sollte Kardinal Aldobrandini im Spätherbst 1600 den Konflikt um die Markgrafschaft Saluzzo beilegen, eine äusserst heikle Aufgabe, vor der er erst zurückschreckte. Die Verhandlungen, bei denen Pietro zugegen war, mündeten am 17. Januar 1601 erfolgreich im Vertrag von Lyon, der die Rückgabe des im vorhergehenden August von den Franzosen besetzten Saluzzo an die Savoyer vorsah, freilich gegen eine Entschädigung.130 Neben diesen diplomatischen Missionen, nahm Kardinal Aldobrandini auch in vielen ad hoc Kongregationen Einsitz, wo die wichtigsten aktuellen politischen Fragen beraten wurden.131 Spätestens ab Mitte der 90er Jahre hatte Pietro gegenüber seinem Cousin Cinzio, meist Kardinal San Giorgio genannt, Oberwasser gewonnen. Trotzdem wurde die Teilung des Staatssekretariats in zwei Abteilungen, die je einem Nepoten unterstanden, aufrecht erhalten. Dass sich die Nepoten auch in diesem Fall nicht nur mit einem Titel schmückten, sondern wesentlichen Einfluss auf die Regierung nahmen, zeigt die Tatsache, dass die Nuntien aus dem Amtsbezirk Cinzios ab 1596/97 begannen, Duplikate ihrer Berichte an Pietro zu senden.132 Man richtete sich also nicht nach den Staatssekretariatsstrukturen, sondern dem Einfluss der Nepoten, was deutlich offen legt, dass die Macht von diesen und nicht den Beamten des Staatssekretariats ausging. Ein weiterer Hinweis dafür, dass Pietro grossen Einfluss auf den 'Apparat' hatte und dort nicht einfach als 'Fassaden-Chef fungierte, ist der Umstand, dass der Sekretärsposten - in Kongregationen immer eine Schlüsselposition für die Kontrolle des Arbeitsablaufes - der wichtigen Kongregation der Consulta schon 1593 durch einen Famigliare von Pietro Aldobrandini besetzt wurde.133 Summa summarum: Kardinal Aldobrandini suchte gezielt den Einfluss auf die Regierungsgeschäfte und die Teilnahme an der päpstlichen Herrschaft.134 Dass ihm dies auch gelang, unterstreichen Aussagen wie: Ma quando all'ordinarie espedizioni de' negozi, queste si vanno riducendo
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Jaitner, Die Hauptinstruktionen Clemens' V m . (wie Anm. 66), Bd. 1, S. XVI, CXIX, CXXII; Bd. 2, S. 651-652 (Instruktion für Pietros Frankreichlegation). Jaitner, Die Hauptinstruktionen Clemens' Vm. (wie Anm. 66), Bd. 1, S. XCV-XCVI. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Clemens' Vm. (wie Anm. 66), Bd. 1, S. CVEL Jaitner, Die Hauptinstruktionen Clemens' VIII. (wie Anm. 66), Bd. 1, S. CIL Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, dass Pietro sich gegen die ursprünglichen päpstlichen Pläne wehrte, ihn zu verheiraten, da er als geistlicher Nepot viel grössere Einflussmöglichkeiten und auch Prestige witterte. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Clemens'
Vm. (wie Anm. 66), Bd. 1, S. XCVH
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tutte in mano del signor cardinale Aldobrandini.m und: ...e chi non passa per questo mezzo (gemeint: Kardinal Pietro), non ottiene cosa alcuna.136 Neben Pietro hatte aber auch sein schon erwähnter Cousin Cinzio mindestens in der ersten Pontifikatshälfte bedeutenden Einfluss auf die politischen Geschäfte. Und auch der weltliche Nepote Giovanni Francesco darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden. Zwar sind die militärischen Ämter wie General der Kirche und Kastellan der Engelsburg, welche die Papstverwandten oft inne hatten, meist nicht zu Herrschaftszwecken ausgeübt worden, sondern dienten eher der Pfründensicherung und Erlangung adligen Prestiges, doch der weltliche Nepot Clemens VIII. entwickelte eine über das normale Mass hinausgehende Aktivität. Zunächst wurde er ziemlich erfolgreich im Kampf gegen das Banditenwesen im Kirchenstaat eingesetzt, dann in der Türkenkriegsfrage. Bei letzterer sollte er zuerst auf dem diplomatischen Parkett 1594 mit Madrid eine umfassende und langfristige Strategie gegen die Türken ausarbeiten (und dabei auch die päpsdiche Haltung zur Absolution Heinrichs IV. darlegen) und 1597 den Kaiser zu energischen Massnahmen und entschiedenerer Unterstützung als 1595 auffordern. Schliesslich nahm Giovanni Francesco 1595 sowie 1597 und 1601 an der Spitze einer 8 000-9 000 Mann umfassenden Truppe selbst an den Kämpfen gegen die Türken teil und fiel vor Warasdin einer tödlichen Krankheit zum Opfer. Auch wenn seine Fähigkeiten als Militär schwer zu beurteilen sind, so hat der weltliche Nepot Clemens VIII., der dem Papst auch in politischen Dingen als Ratgeber fungierte, unzweifelhaft Herrschaftsfunktionen wahrgenommen.137 Bleibt zur Schliessung der Lücke der Fall Borghese. Wir wollen hier nicht lange um den heissen Brei reden oder zur besseren Untermauerung unserer Thesen krampfhaft etwas versuchen, was nüchtern betrachtet nicht zu leisten ist. Der Befund ist hier ebenso eindeutig, wie er es für die Ludovisi war, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Von aktivem Einmischen in die grosse Politik und einer bewusst gesuchten Herrschaftsfunktion ist bei den Borghese wenig sichtbar. Auch und vor allem nicht bei Scipione, der sich jeglicher Herrschaftsfunktion schlichtweg zu verweigern suchte.'38 Zum Umstand, dass er politisch völlig 135
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Albèri Eugenio, Le relazioni degli ambasciatori veneti al senato durante il secolo decimosesto, Serie n (Italia), Tomo IV, Firenze 1857, S. 443. (Relation Parata 1595). Albèri, Le relazioni (wie Anm. 135), S. 457. (Relation Dolfin 1598).Vgl. dazu auch: Jaitner, Die Hauptinstruktionen Clemens' VIU. (wie Anm. 66), Bd. 1, S. XC. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Clemens' V m . (wie Anm. 66), Bd. 1, S. XIX, XXI, CXXXIV-CXXXVn, 278-320, 354-361, 389, 396; Bd. 2, S. 482^87 (Instruktionen 39, 40, 45,48, 58). „...tutti gli ambasciatori dopo l'udienza vanno a lui e gli communicano ogni trattazione; ma egli non risponde mai determinatamente, nè risolve da se alcuna cosa, nemmeno promette di intromettersi assolutamente per coadjuvare li negozii— " berichtet etwa der venezianische Botschafter. Barozzi/Berchet, Relazioni (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 96. Es darf spekuliert werden, ob hier der politisch äusserst schwache und unentschlossene Onkel schon in jungen Jahren auf den Neffen abgefärbt hat und das seine zu dieser Situation beigetragen hat. Allein daran, dass Paul V. seinen Neffen etwa nicht genügend an der Herrschaft teilnehmen lassen
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desinteressiert war, kam wohl die Einsicht, dass jegliche herschaftliche Aktivität seine privaten Geschäfte stören würde. Borghese muss wohl, salopp ausgedrückt, als bauernschlauer Opportunist bezeichnet werden, der den Pontifikat seines Onkels vor allem nutzen wollte, um 'Kohle' zu machen - was er dann auch reichlich tat. Als Beispiel zur Illustration sei nur erwähnt, dass Scipione bei einer Reno-Korrektur in der Nähe Bolognas beträchtliche Überschwemmungen in Kauf nahm und an diesem schädlichen Projekt eisern festhielt, weil seine Kommendatarabtei S. Bartolo von den Arbeiten Nutzen zog und die Lage sich auch im Sinne seines Günstlings Enzo Bentivoglio entwickelte. 'Dank' dieser Skrupellosigkeit standen am Ende des Pontifikats Pauls V. 26% der Bologneser Getreideanbauflächen unter Wasser.139 Scipione Borgheses Flucht vor den Pflichten und Herrschaftsmöglichkeiten seiner Ämter140 führte aber nicht etwa zur sprunghaften Machtakkumultion im Staatssekretariat. Das Machtvakuum wurde vielmehr auf informellem Wege gefüllt, indem einzelne Kardinäle, wie etwa Gian Garzia Meilini grossen, fast nepotenähnlichen Einfluss auf die päpstliche Politik gewinnen konnten.141 Zudem hat Scipione praktisch contre coeur aufgrund seiner
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wollte, kann es nicht gelegen haben, denn einem Kardinalnepoten standen genügend Möglichkeiten zur Aktivität offen. Wie wir aber in der Folge sehen werden, war Scipione von seinem Naturell her vielmehr an grossen scudi-Beträgen als Fragen der Herrschaft interessiert. Reinhardt Nicole, Macht und Ohnmacht der Verflechtung: Rom und Bologna unter Paul V. Studien zur friihneuzeitlichen Mikropolitik im Kirchenstaat, Tübingen 2000, S. 154-158. (= Frühneuzeit-Forschungen 8); Emich Birgit, Bürokratie und Nepotismus unter Paul V. (16061621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Rom, Stuttgart 2001, vor allem S. 381393. (= Päpste und Papsttum 30). Auch hier wird deutlich, dass Scipione immer dann aus seiner Lethargie erwachte, wenn es um seine Güter ging. (S. 387) Vgl.: Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 448. Viele ähnliche Aussagen auch bei: Emich, Bürokratie (wie Anm. 139). Es wird nicht nur konstatiert, dass sich Scipiones Arbeitseifer in engen Grenzen hielt (S. 246), sondern auch dass ihn weder Betätigungs- noch Einflussmöglichkeiten locken konnten. (S. 259-260). Als Beispiel sei nur das Amt des Präfekts des Brevensekretariats genannt, das Scipione vom zuvor sehr aktiven Pietro Aldobrandini übernommen hatte. Borghese streicht nur die monatlichen hundert Kammerdukaten ein, die die Stelle abwarf, den Amtspflichten hingegen verweigerte er sich (S. 225). Von enthüllender Eindeutigkeit ist auch folgende Charakterisierung Scipiones durch Fulvio Testi: Ludovisi & meglio fornito d'amici, Borghese di danari; l'un sifonda sul cervello e l'altro su la borsa, Testi, Lettere (wie Anm. 110), Bd. 1, S. 116. Das von uns gezeichnete Bild Scipiones ergibt sich auch aus: Reinhard Wolfgang, Papstfinanz und Nepotismus unter Paul V., 1605-1621. Studien und Quellen zu quantitativen Aspekten des päpstlichen Herrschaftssystems, 2 Bde., Stuttgart 1974. (= Päpste und Papsttum 6.1,2.); Reinhardt Volker, Kardinal Scipione Borghese (1605-1633). Vermögen, Finanzen und sozialer Aufstieg eines Papstnepoten, Tübingen 1984. (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 58.); Semmler, Das päpstliche Staatssekretariat (wie Anm. 28), S. 50-51. Jaitner, Die Hauptinstruktionen Gregors XV. (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 447, 454. Die höchst bedeutende Rolle Mellinis an der Kurie unter Paul V. bei: Emich, Bürokratie (wie Anm. 139), S. 250-255 (neben vielen anderen Stellen).
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patrimonialen Rolle trotzdem eine wichtige Herrschaftsfunktion innegehabt.142 Die Zeit für eine Etablierung des Staatssekretariats zur wichtigsten Behörde der Kurie war zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch nicht reif. Noch war Herrschaft eine stark personalisierte Angelegenheit und Machtpartizipation nur an die Spitzen im Klietelnetz der regierenden Sippe zu delegieren. Machtübertragung an eine Institution (oder an einen verdienstvollen kenntnisreichen Einzelkämpfer) war schwer denkbar, denn deren Entscheide wären immer wieder durch Intervention an höherer Stelle im regierenden Patronagenetzwerk ausgehebelt worden. Erst wenn die Herrscherfamilie kein Oberhaupt für die Spitze des regierenden Netzwerkes stellte oder stellen konnte, war eine Ablösung durch eine andere vom Papst als alter ego akzeptierte Amtsperson möglich. Neben dieser besonderen personellen Konstellation, die dann im Pamphili-Pontifikat eintraf,143 musste sich der bürokratisch-kuriale Apparat auch erst noch um einiges entwickeln und ein Mentalitätswandel von personaler zu abstrakter Diensttreue einsetzen,144 bis sich eine Herrschaftsalternative zum Nepotismus präsentierte. Es bleibt unbestreitbar: Scipione Borghese war weder aktiv um grösstmögliche Herrschaftsteilnahme bemüht, noch waren seine herrschaftlichen Interventionen dem Staat von grösserem Nutzen - eher im Gegenteil. Ebensowenig ist die enorme Versorgungsfunktion aller oben abgehandelter Nepoten zweifelhaft. Trotzdem, diese beiden Argumente reichen bei weitem nicht, um unsere erzielten Ergebnisse umzuwerfen. Vielmehr zeigt eine Bilanz unserer Untersuchung, dass die Kurie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts so strukturiert war, dass für einen geistlichen Nepoten ein beträchtliches Herrschaftspotential vorhanden war. Um es mit der Grabinschrift von Hadrian VI. „WIE SEHR HÄNGT DER ERTRAG DES TÜCHTIGEN MANNES VON DER ZEIT AB, IN DER ER AGIERT" leicht paraphrasiert auszudrücken: Das grösste Talent kann nichts bewegen, wenn ihm in der Position, die ihm zufällt, die Möglichkeiten zur Entfaltung fehlen! Dass die meisten Nepoten dieses Herrschaftspotential auch genutzt haben, kann nicht verwundern, einerseits weil Macht per se zu allen Zeiten eine enorme Anziehungskraft besass, andererseits weil über Herrschaft auch Klientelnetze erweitert werden konnten, was den Nepoten in der kritischen nachpontifikalen Phase wieder zu Gute kam. 142
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Diese Sichtweise ergibt sich in aller Klarheit aus der brillanten Studie von Birgit Emich, ersichtlich übers ganze Werk, konzentriert bei: Emich, Bürokratie (wie Anm. 139), S. 396401. Zuzugestehen bleibt aber, dass im Falle Scipiones die Herrschaftsfunktion des Kardinalnepoten für den Staat eher schädliche Folgen zeitigte. Eine kurze Beschreibung der Situation unter Innozenz X. folgt weiter unten. Die Wahl der Staatssekretäre in den zwei dann folgenden Konklaven von 1655 und 1667 verdeutlicht die gewonnene Autorität des Amtes und ermöglichte den Siegeszug einer Alternative zum Nepotismus, die sich im Rahmen der langsam sich entwickelnden Behördenstruktur herauskristallisiert hatte. Wie langsam diese Entwicklung auch danach vonstatten ging, zeigt die Tatsache, dass auch im ganzen 18. Jahrhundert kaum ein Papst ohne einen Favoriten auskam, der ausserhalb der Bürokratie stand. Vgl.: Reinhard, Freunde 1998 (wie Anm. 12), S. 141.
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Auch diesbezüglich ist Scipione Borghese wieder ein überzeugendes Beispiel ex negativo: Trotz übermächtiger Gefolgschaft in den beiden Konklaven von 1621 und 1623 gelang es ihm kaum, den Wahlvorgang nach seinen Wünschen zu steuern, da seine Klientel viel zu schwach an ihn gebunden war. Unsere Beispiele sind auch kaum mit dem Argument eines krank darniederliegenden oder schwachen Papstes auszuheblen, was die Nepoten zur Regierungswahrnehmung zwinge.145 Denn theoretisch könnten für einen angeschlagenen Pontifex auch andere in die Lücke preschen als die Verwandten. Zudem gibt es für den aufgezeigten Zeitraum genügend Beispiele eines herrschaftlich agierenden Nepoten, auch wenn der Papst bei voller Gesundheit war (Aldobrandini, Ubaldini-Plan, Magalotti, 'früher' Francesco Barberini). Gerade der Pontifikat Clemens VIII. zeigt ja auch, dass ein mit fester Hand regierender Papst und ein herrschaftlich aktiver Kardinalnepote sich keineswegs ausschliessen. Ein schlechter wie ein guter Gesundheitszustand des Papstes stellt also per se keine Weichenstellung für eine stärkere Tendenz zur Herrschaft mittels Verwandten oder kurialem Apparat dar, sondern begünstigt tendenziell eine stärkere Machtdelegation, in welche Richtung auch immer. Bei einer Lektüre im Detail ist nun überraschenderweise die Differenz zu Reinhards geäusserter Meinung im 'Nepotismus'-Aufsatz gar nicht so gross. Reinhard lässt durchaus einige Ausnahmen bezüglich seiner allgemeinen Aussage einer zu Ende gegangenen Herrschaftsfunktion gelten. Explizit werden genannt: Francesco Barberini, Sfondrati, Pietro Aldobrandini, Ludovisi. Damit sind schon die meisten der von uns herangezogenen Beispiele von Reinhard selbst legitimiert.146 Wir haben nur versucht, durch ein konretes Beispiel eines animal politique (Ludovisi) und eine flächendeckende und konkrete Analyse ab 1590 (mit Ergänzung Ubaldinis und Magalottis zu den von Reinhard schon genannten) die systematische Herrschaftsteilnahme der Nepoten aufzuzeigen. Ohne Zweifel lässt sich also behaupten, dass Reinhard viele hier zitierte Beispiele in ihrer Herrschaftskonstellation richtig gesehen hat, nur hat er aus seinen Analysen andere, nach den hier vorgetragenen Argumentationen unzutreffende Schlüsse gezogen und das einzige Beispiel für fehlende Herrschaftsfunktion als Paradigma genommen, statt in ihm die Ausnahme zu erkennen - vielleicht weil er wegen seiner äusserst profunden Forschungen zum Borghese-Pontifikat zu sehr standpunktgebunden war. In aller Bescheidenheit und in Anerkennung der reinhardschen Thesen, die hier genaugenommen nicht zerstört, sondern in kritischer Auseinandersetzung weitergedacht wurden - wobei auch unser unschätzbarer Vorteil vieler neuer, äusserst aufschlussreicher Studien seit dem 'Nepotismus-Aufsatz' erwähnt werden muss - wäre also anzumerken, dass die Herrschaftsfunktion der Nepoten 145 144
So argumentiert: Reinhard, Nepotismus (wie Anm. 1), S. 173. Reinhard, Nepotismus (wie Anm. 1), S. 173.
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in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch stark lebendig war, zum Teil sogar spektakuläre Erfolge vorweisen konnte, und sich damit auch nicht prinzipiell dysfunktional präsentierte. Als Ausblick einige verortende Bemerkungen zur Zeit vor und nach unserem Betrachtungsraum: Es erscheint nicht ganz einfach, ein definitives Urteil für das 15. und 16. Jahrhundert zu sprechen. Die Dysfunktionalität nepotistischer souväner Staatsprojekte alla Parma-Piacenza, Urbino oder Camerino wollen wir gar nicht in Abrede stellen. Auf einem anderen Blatt stünde aber, ob nicht auch die Piccolomini- Deila Rovere-Riario- und die Borgia-Nepotenpläne (unter Pius II, Sixtus IV. bzw. Julius II.) in ihrer Absicht sehr schädlich für den Kirchenstaat waren und damit der von Reinhard postulierte Schnitt nicht um 1500 gemacht werden dürfte.147 Stadt eines Schnittes um 1500 neigen wir für die Zeit von ca. 1450-1565 eher zur Postulierung eines Jahrhunderts in Wellenbewegungen, in dem nepotistische Herrschaftsbeteiligung mal nützlichere, mal bedrohlichere Züge für den Kirchenstaat annahm.148 Die Gefahrenanfälligkeit der Herrschaftsfunktion nahm dann sicherlich ab dem Pontifikat Pius V. rapide ab, vor allem dank der Bulle „Admonet nos" von 1567, die ein für allemal jeglichen nepotistischen Grossprojekten einen Riegel schob. Damit setzte allmälich nochmals eine Phase für den Kirchenstaat ergiebiger Herrschaftsbeteiligung von Nepoten ein, die wir oben zum Teil umfangreich beschrieben haben. Der Anfang vom Ende dieses Abschnitts scheint dann ziemlich genau festeilbar zu sein: Mit dem Pamphili-Pontifikat begann die HeiTschaftsfunktion der Nepoten wohl ziemlich definitiv auszulaufen. Mit dazu beigetragen hat sicherlich - wie schon von Reinhard festgestellt, die Schieflage der Papstfinanz.149 Auslösendes Moment war aber vielmehr die schwierige familienpolitische Situation im PamphiliPontifikat. Camillo Pamphili wurde 1644 nur zum Kardinalnepoten gemacht, um 147
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Wenn man allein aufgrund der Ergebnisse post mortem pontificis (und nicht der Absichten der Nepoten zu seinen Lebzeiten) argumentieren wollte, müsste man dennoch die antibaronalen Umtriebe Cesare Borgias und die Colonna-Enteignung durch die Carafa auf die gleiche Ebene stellen. Dies zeigt auch, dass die Gefahr, die von den Baronalfamilien des Kirchenstaates ausging, um 1500 noch längst nicht gebannt war. Bis weit ins 16. Jahrhundert musste immer wieder mit aufständischen Baronen im römischen Umland gerechnet werden, erinnert sei nur an den Salzaufstand der Colonna unter Paul IE. Pastor Ludwig von, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, 16 Bde. in 22 Teilen, Bd. 5: Paul m. (1534-1549), Freiburg i. Br. 1909, S. 237-243. Als Beispiel für eine solche Ambivalenz nach 1500 kann etwa der Pontifikat Julius m. (Ciocchi del Monte) angefügt werden, in dem sowohl Projekte von Verleihungen souveräner Territorien an die Papstverwandten, wie auch entschiedene militärische Aktivitäten der Nepoten im Dienste des Kirchenstaates festzumachen sind. Vgl.: Büchel, Glanz in alle Ewigkeit (wie Anm. 107), S. 79-88. Unbezweifelbar stellten aber die Erfolge Julius n., der (erstmals) ohne Nepoten erfolgreiche Expansion betrieben hatte, zuvor einen wichtigen Einschnitt dar, da diese die Hinterfragung der Nepoten-Rolle auf eine ganz neue Ebene stellten. Reinhard, Nepotismus (wie Anm. 1), S. 177.
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einer Heirat mit den Barberini, die sich für die nachpontifikale Zeit absichern wollten, aus dem Weg gehen zu können.150 Als die Familie Urbans VIII. dann entmachtet war, liess man die Fassade fallen und Camillo angelte sich die reiche Aldobrandini-Erbtochter Olimpia. Das entstandene Machtvakuum konnte dann nicht mehr gefüllt werden. Der Clan legte sich durch seine internen Streitereien mit den Beteiligten Papst Innozenz X., Camillo Pamphili, Olimpia Maidaichini und der verschwägerten Ludovisi-Fraktion lahm, die präsentierten ErsatzKardinalnepoten Maidaichini und Astalli waren ihrer Aufgabe keineswegs gewachsen und stellten vielmehr Spielbälle der familieninternen Fraktionen dar. In dieser Situation schlug die Stunde des Staatssekretariats, an dessen Spitze Innozenz X. mit Giangiacomo Panziroli einen erfahrenen Diplomaten und schon kreierten Kardinal (ein Novum!) geholt hatte, der zwar Giambattista Pamphili einst als Nuntiaturauditor in Neapel und Spanien gedient hatte, aber mit diesem nicht verwandt war. Doch der neue Amtsinhaber liess die Zügel bald bedenklich schleifen, hatte aber immerhin mit Francesco Nerli und Decio Azzolini Helfer, die um die Stärkung ihrer Amtsstelle bemüht waren. Nach Panzirolis Tod 1651 berief der Papst Fabio Chigi, der sofort das Kommando übernahm und das entstandene Machtvakuum im Pamphilipontifikat für sich und das Staatssekretariat zu nutzen verstand.151 Nach Chigis Papstwahl musste seine ehemalige Amtsstelle kaum um eine Machtbeschneidung fürchten - im Gegenteil, das Staatssekretariat hob zu seinem Siegeszug an und die Nepoten waren in ihren Herrschaftsfunktionen auf Dauer beschnitten worden.152 Auch wenn in künftigen Pontifikaten immer wieder Papstverwandte Einfluss gewannen, eine dauerhafte Reinstallation mit ebensolchen weitgehenden und konkret-politischen Kompetenzen wie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts liess sich nicht mehr durchsetzen.
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Dazu: BAV, Mss. Chigi N m 69, S. 306r-312r, hier vor allem: S. 308r/v. Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Arne Karsten. Hammermayer, Grundlinien (wie Anm. 122), S. 171-177; Laurain-Portemer, Absolutisme (wie Anm. 9), S. 520; Panzirolis Biogramm bei: Moroni Gaetano, Dizionario di erudizione storico-ecclesiastica, 109 Bde., Venezia 1840-79, Bd. 51, S. 93-94. Wie wenig Einfluss Alexander VII. seiner Familie auf die Herrschaft gab, ist aus dem in dieser Festschrift ebenfalls publizierten Aufsatz von Arne Karsten ersichtlich.
Verflechtung" - ein Blick zurück nach vorn Nicole Reinhardt
Today some historians seem to be looking towards anthropology with the same sort of impatient longing as a fairy-tale captive maiden waited for her liberating prince David Gaunts scherzhaftes Resümee der Beziehungen zwischen Geschichte und Anthropologie scheint auf die historische Forschungspraxis seit den 60er Jahren in zweifacher Hinsicht zuzutreffen. Die Historiker haben sich von historistischer Orthodoxie verabschiedet und sich neugierig und nach Anregung begierig den Nachbardisziplinen - besonders der Soziologie und der Anthropologie - zugewandt2, um deren Theorien und Methoden für ihre Forschung fruchtbar zu machen. Zugleich verlor sich im Eifer des Theorieimports jedoch häufig deren forschungsgeschichtlicher Kontext oder gar die Frage nach dem „wie" und den Folgen ihrer Applikation auf die Arbeit des Historikers.3
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Für Anregungen und Kritik danke ich Marietta Horster und Christian Wieland. David Gaunt: Memoir on History and Anthropology. Gotab (The Swedish Research Councils) 1982. S. 9. Vgl. hierzu Peter Burke: Soziologie und Geschichte. Hamburg 1989. S. 9-36; Ute Daniel: Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. 48.1997. S. 195-218 und S. 259-278. Thomas Mergel, Thomas Welskopp: Geschichtswissenschaft und Gesellschaftstheorie. In: Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zu einer Theoriedebatte. Hg. von Thomas Mergel, Thomas Welskopp. München 1997. S. 9-35, S. 20f; Thomas Sokoll: Kulturanthropologie und Historische Sozialwissenschaft. In: Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zu einer Theoriedebatte. Hg. von T. Mergel, T. Welskopp. München 1997. S. 233-272.
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I.
Ein wesentlicher theoretischer Anstoß Wolfgang Reinhards4 für die Geschichtswissenschaft ist das Ergebnis eines solchen Methodentransfers. Um Umstände und Bedeutung des Vorgangs selbst herauszuarbeiten sowie die Folgen für die historische Praxis deutlich zu machen, sei ein historiographischer Rückblick an dieser Stelle erlaubt. Anschließend sollen erste Ergebnisse und Fragen, die sich aus der Arbeit mit dem Reinhardschen „Verflechtungs"-Ansatz ergeben, skizziert werden. Diese Ausführungen sind geboten, da Reinhards eigene Erläuterungen zur Entstehung des von ihm aus der Sozialanthropologie entlehnten Instrumentariums in 'Freunde und Kreaturen'5 nur teilweise zur „Spurensicherung" beitragen und zugleich die nur zögerliche Rezeption seines Konzeptes6 in der deutschen Geschichtswissenschaft erst durch die Rekontextualisierung verstehbar wird. Beginnen wir mit dem zentralen Begriff der „Verflechtung". Weder Klassentheorien noch Elitemodelle erklärten die Konstitution von Führungsgruppen hinreichend, so Reinhard, sondern Verflechtung als Ergebnis und Basis sozialer Interaktion.7 Die wichtigsten Beziehungen, die Personen eines „networks" miteinander verbinden, sind Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft und Patronage. Welcher Beziehungstyp vorherrscht, hängt vom sozialen Kontext und der Rolle ab, die der einzelne in einem bestimmten Aktionsfeld einnimmt. Für die Analyse relevant ist der Inhalt, mit dem die Beziehungen angefüllt werden sowie die handlungspraktischen Fragen des Austausches innerhalb eines Netzwerkes. Ob und wie die untersuchten Beziehungen der Reziprozität unterliegen, ist vornehmlich kulturell bestimmt. Ritualisierte Verbindungen wie Blutsbrüderschaft, Patenschaft usw. unterwerfen die Beteiligten konkreten Erwartungen bezüglich der im Austausch zu erbringenden Leistungen. Diese Erwartungen und Verpflichtungen halten die sich hierdurch konstituierte Gruppe in innerer und äußerer Spannung.8 Art und Qualität des Austausches verändern das Kräftegleichgewicht der verbundenen Personen ständig. Die Bedeutung des individuellen Handelns für Aufbau, Erhalt und 4
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Wolfgang Reinhard: Freunde und Kreaturen. „Verflechtung" als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600. München 1979. W. Reinhard (Anm. 4) S. 19-32. Wolfgang Reinhard: Amici e creature. Politische Mikrogeschichte der römischen Kurie im 17. Jahrhundert. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken. 76. 1996. S. 308-334, S. 308f. W. Reinhard (Anm. 4) S. 14-19. S. N. Eisenstadt: Ritualized Personal Relations. Blood Brotherhood, Best Friends, Compadre, etc.: some comparative Hypotheses and Suggestions. In: Man. 96.1956. S. 90-95, S. 90f.
Verflechtung" - ein Blick zurück nach vom
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Veränderung der Beziehungen einerseits als auch die Determinierung des Handelns durch Struktur und Position innerhalb des Beziehungsgeflechtes andererseits können dabei zum Gegenstand der Untersuchimg werden. Die Teilhabe des Individuums an verschiedenen Beziehungsnetzwerken lenkt den Blick auf die Möglichkeiten vertikaler und dynamischer Verbindungen jenseits einer horizontalen Einteilung der Menschen in Schichten oder Klassen. Aus sprachästhetischen Gründen schlägt Reinhard den Begriff der „Verflechtung" als begriffliches Äquivalent des in der sozialanthropologischen Forschung benutzten Terminus des „networks" für die Gesamtheit der Beziehungen vor und verwirft die direktere Übersetzung „Netzwerk".9 Der sachlich und begrifflich naheliegende Verflechtungsbegriff von Norbert Elias wird nicht aufgenommen. Elias gebraucht den Begriff der Verflechtung im Zusammenhang mit der „Höfischen Gesellschaft" in zweifacher Hinsicht. Zum einen sieht er das spezifische Wertesystem - die scheinbar wenig rationale Praxis des Prestigeverbrauchs und dessen Folge für Auf- und Abstieg innerhalb der Elite - als das Ergebnis der höfisch-aristokratischen Verflechtung,10 zum anderen ist die Verflechtung der Individuen bei Hofe ein wesentliches Element der Selbstwahrnehmung der Beteiligten, die alle Mitglieder gleichermaßen bindet, den König als Gipfel der Status- und Machtpyramide ebenso wie den einfachen Höfling.11 Elias begreift den Hof als eine von vielen menschlichen „Figurationen", die sich dynamisch durch die „Interdependenzen" der Menschen konstituieren. Die systematische Interdependenzuntersuchung steht damit für Elias im Zentrum einer „realistischen" Soziologie, die nicht zuletzt die Entfremdung zwischen Forscher und Forschungsgegenstand aufhebt: „Wenn man die Interdependenzen aufdeckt, in die Menschen versponnen sind, gewinnt man mit anderen Worten die Möglichkeit jene letztliche Identifizierung von Mensch und Mensch wiederherzustellen, ohne die an jedem Umgang von Menschen miteinander, auch am Umgang der Forscher mit dem Erforschten, der Lebenden mit den Toten, eine Note aus der wilderen Frühzeit der Menschheitsentwicklung, aus der Barbarei, haften bleibt, in der Menschen anderer Gesellschaften oft nur sonderbare Fremde und zuweilen nicht einmal als Menschen aufgefasst wurden."12
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W. Reinhard (Anm. 4) S. 19. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft. 2. Aufl. Frankfurt 1983. S. 102-119. Reinhard thematisiert Elias jedoch im Zusammenhang mit dem Hof, vgl. W. Reinhard (Anm. 4) S. 53 (Fußnote 112). N. Elias (Anm. 10) S. 159, 178 und 217f. N. Elias (Anm. 10) S. 312-315.
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Damit setzt sich Elias deutlich von der vorherrschenden funktionalistischen Systemtheorie in der Soziologie ab, die seines Erachtens von rigidem Determinismus gekennzeichnet weder in der Lage war, menschliche Interaktion kontextgerecht zu interpretieren, noch die aus den Interdependenzen erwachsende, dauernde „funkensprühende" Spannung zu erkennen.13 Die von Elias vorgeschlagenen Interdependenzanalyse bedurfte jedoch, wie er selbst eingestand, noch der Entwicklung geeigneter Analyseinstrumente. Elias ist keineswegs der Vater der „network-analysis", doch ist die Affinität seiner Gedanken zu jenen der Kritiker des Funktionalismus in Soziologie und Anthropologie, die diese schließlich auf den Weg brachten, nicht zu übersehen. Die Vertreter der „network-analysis" wandten sich bewußt von der Makrosoziologie ab, nicht um dieser eine neue umfassende Theorie entgegenzustellen, sondern um neue Analysemethoden zu entwickeln, die genauer die Beziehung zwischen individuellem Verhalten und sozialem System zu erhellen vermochten. Sie erlaubten es, den starren Rahmen der soziologischen Gruppenzuschreibungen aufzubrechen und Sozialbeziehungen und menschliche Interaktion als neue dynamische Komponenten mikrosoziologisch in den Mittelpunkt ihrer Forschungen zu stellen.14 Die Betonung vertikaler Beziehungen anstelle horizontaler Schichtungsmodelle ging zudem einher mit einer radikalen Kritik am vorherrschenden Modernisierungsparadigma.15 Die Modernisierungstheorie behandelte Großgruppen und Gesellschaften nicht im Hinblick auf: „was diese wollten, sondern was mit ihnen geschah"16 und glaubte an eine zwangsläufige und irreversible Evolution von traditionellen Gesellschaften, die durch geringe soziale Differenzierung, geringe Mobilität und durch personale Herrschaft definiert waren, hin zu einer positiv begriffenen modernen Gesellschaft westlicher Prägung, die sich durch ein hohes Maß an sozialer Differenzierung sowie zentralistische und anonyme Herrschaftsstrukturen auszeichnete. Dieser theoretische Zugriff, der implizit das westliche Gesellschaftsmodell zum universalen Modell erhob, war vor dem Hintergrund der Entkolonialisierung und allgemeiner Modernisierungskritik besonders fragwürdig geworden, und er blendete fortbestehende gegenläufige Strukturen und 13 14
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N. Elias (Anm. 10) S. 53-56. Vgl. S. N. Eisenstadt, Louis Roniger: Patron-Client Relations as a Model of Structuring Social Exchange. In: Comparative Studies in Society and History. 22.1980. S. 42-77; M. Noble: Social Network: its use and its conceptual framework in family analysis. In: Network Analysis: Studies in Human Interaction. Hg. von Jeremy Boissevain, J. Clyde Mitchell. The Hague 1973. S. 3-14; Jeremy Boissevain: Friends of Friends: Networks, Manipulators and Coalitions. Oxford 1974. S. 25. S. N. Eisenstadt, L. Roniger (Anm. 14) S. 4 2 ^ 9 und S. 64-67; S. N. Eisenstadt: Studies of Modernization and Sociological Theory. In: History and Theory. 13. 1974. S. 225-252. T. Mergel: Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne. In: Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zu einer Theoriedebatte (Anm. 3) S. 203-231, S. 214.
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Wertvorstellungen (auch in der westlichen Hemisphäre) als negativ retardierende Randerscheinungen aus, anstatt sie zum Forschungsgegenstand zu erheben. Der Zweifel an der Modernisierungstheorie sowie der zugrundeliegende individualisierende Ansatz machten das Konzept für den (Frühneuzeit-) Historiker besonders attraktiv17 und bedingten zugleich die Rezeptionsschwierigkeiten in der deutschen Geschichtswissenschaft. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, prägte doch eine ausgesprochene Theoriefreudigkeit die jungen Historiker der 70er Jahre, die vehement gegen die ungebrochene Dominanz des historistischen Paradigmas und der Politikgeschichte Sturm liefen.18 Das Lamprecht-Trauma schien überwunden, und man bemühte sich, das historische Theoriedefizit abzubauen und mit Hilfe soziologischer Kategorien und Methoden Geschichte als Gesellschaftsgeschichte zu erklären. Die Hinwendung zur Soziologie war eine Hinwendung zur Makrosoziologie, welche jedoch die zeitgleich stattfindende innerdisziplinäre Kritik derselben nicht wahrnahm. Überindividuelle Strukturen und Prozesse sollten sichtbar gemacht werden, und wer sich nicht auf Marx, sondern den „Allzweck-Theorienspender"19 Max Weber berief, tat auch dies häufig im Lichte des Parsonsschen Funktionalismus.20 Wie in der Annales-Schule das Ereignis, so war in der Sozialgeschichte das Handeln, als Verkörperung historistischer Tradition des Individuellen und Zufälligen, mit dem Anathema belegt. Diese Disposition paarte sich mit einem optimistischen Glauben an die Moderne und die Modernisierungstheorie überhaupt, was in Form der deutschen „Sonderwegsthese" auch hieß, sich mit unvollständiger Modernisierung zu befassen.21 Der historische Betrachtungszeitraum reduzierte sich bewußt auf die nach-revolutionäre Epoche, dem unwidersprochenen Beginn der 'eigentlichen' Moderne. Trotz Reinhards ganz dem Zeitgeist verpflichteten sozialwissenschaftlichen Ausführungen zur „network-analysis"22 stieß seine Anregung im bundesdeutschen Panorama so zunächst kaum auf Resonanz.23 Daß die Rezeption der Anregungen 17 18
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W. Reinhard (Anm. 4) S. 19. Hans Ulrich Wehler: Zur Lage der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik 1949-1979. In: Hans Ulrich Wehler: Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung. Studien zu Aufgaben und Traditionen deutscher Geschichtswissenschaft. Göttingen 1980. S. 13-41; vgl. hierzu im Rückblick Thomas Welskopp: Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Probleme der Historischen Sozialwissenschaft. In: GG. 24.1998. S. 173-198, S. 173f. Otto Ulbricht: Mikrogeschichte: Versuch einer Vorstellung. In: GWU. 45. 1994. S. 347-365, S. 360. T. Mergel, T. Welskopp (Arnn.3) S. 17-21. T. Welskopp (Anm. 18) S. 188f. W. Reinhard (Anm. 4) S. 22-29. Dies wirkte m. E. stärker als die von Reinhard selbst gern angeführte Erklärung „Italiana non leguntur. Catholica non leguntur", in: Wolfgang Reinhard: Nuntiaturberichte für die deutsche Geschichtswissenschaft? Wert und Verwertung eines Editionsunternehmens. In: Kurie und Politik. Stand und Perspektiven der Nuntiaturberichtsforschung. Hg. von Alexander Koller.
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aus der Sozialanthropologie allerdings in England und Frankreich problemloser verlief und zum Zeitpunkt der Entstehung von 'Freunde und Kreaturen' zum Teil schon im Gange war,24 hängt sicherlich mit den anderen historiographischen Voraussetzungen zusammen. So hatte die französische Geschichtswissenschaft schon in den 20er und 30er Jahren sich intensiv mit soziologischen Modellen auseinandergesetzt,25 was in der Folge auch die Rezeption sozialanthropologischer Modelle erleichterte, während die angelsächsische Geschichtswissenschaft gerade in den 70er Jahren unter dem Stichwort der „social anthropology" auf breiter Front ethnologische Ergebnisse vergleichend heranzog.26 Doch eine weitere Besonderheit der Reinhardschen „Verflechtungsanalyse" behinderte die Integration z.B. in die in den 80er Jahren auch in der Bundesrepublik bedeutsame Richtung der Historischen Anthropologie.27 Trotz der mikrosoziologischen und sozialanthropologischen Basis führt der Ansatz die damit verbundenen thematisch-'ideologischen' Konnotationen nicht durch: Der Untersuchungsbereich wird zwar bewußt verkleinert, doch eben nicht 'alltagsgeschichtlich' gewendet. Reinhard interessieren weder das Dorf noch die Lebenswelt der Unterschichten, wie dies z.B. in der „Microstoria" der Fall ist,28 sondern von Anfang an Führungsgruppen.29 Ebenso findet eine „kulturalistische"
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Tübingen 1998 ( Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 87). S. 208-225, hier S. 212. Wie sich aus den von Reinhard angeführten historischen Anwendungsbeispielen ergibt, die vornehmlich Frankreich betreffen, W. Reinhard (Anm. 4) S. 42-45. Dennis Smith: The Rise of Historical Sociology. Cambridge 1991. S. 41^7. Bourdieu relativiert zwar die Bedeutung der Soziologie für die französische Geschichtswissenschaft, doch kann hier nicht übersehen werden, daß es für die Entwicklung der „Annales"-Schule in Deutschland in den 20er und 30er Jahren kein Pendant gibt, sondern daß vielmehr die dogmatisch verhärtete Grenzziehung zwischen der Soziologie und einer sich historistisch begreifenden Geschichtswissenschaft bis weit nach dem zweiten Weltkrieg ungebrochen blieb; vgl. Pierre Bourdieu, Lutz Raphael: Über die Beziehungen zwischen Geschichte und Soziologie in Frankreich und Deutschland. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Lutz Raphael. In: GG. 22. 1996. S. 62-89. Vgl. zur Bilanz der „anthropologie historique" zu Beginn der 80er Jahre D. Gaunt (Anm. 1) S. 35-42. T. Sokoll (Anm. 3) S. 250f. Vgl. wiederum D. Gaunt (Anm. 1) S. 4 3 ^ 9 (USA) und S. 50-54 (Großbritannien). Vgl. Bilanz für die 80er Jahre in D. Gaunt (Anm. 1) S. 54-59. Typische Beispiele sind hier, Giovanni Levi: L'eredità immateriale. Camera di un esorcista nel Piemonte del Seicento. Torino 1985; Osvaldo Raggio: Faide e parentele: lo stato genovese visto dalla Fontabuona. Torino 1990. Einen Versuch, das Reinhardsche Konzept kulturgeschichtlich im Sinne einer „microstoria" diplomatischer Beziehungen zu wenden, unternimmt hingegen einer seiner Schüler: Christian Wieland: Fürsten, Freunde, Diplomaten. Die römisch-florentinischen Beziehungen unter Paul V. (1605-1621) zwischen Bürokratie und Klientelismus. Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Italien. Diss. phil. Freiburg i. Br. 2000, bes. die methodischen Überlegungen S. 5-14. W. Reinhard (Anm. 4) S. 45-77.
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Wende im Sinne der „thick description"30 nicht statt. Reinhards Verflechtungsbegriff ist nicht mikro-historisch, sondern bleibt stark politikwissenschaftlich geprägt.31 Er ist durchweg mikro-politisch zu verstehen, und zwar als der „mehr oder weniger planmäßige Einsatz eines Netzes informeller persönlicher Beziehungen zu politischen Zwecken".32 Nicht zuletzt wird diese „Mikropolitik" wiederum funktionalistisch in ein Modernisierungsmodell eingebaut als „Entwicklungsstufe zum modernen Staat,"33 was den theoretischen Überlegungen der klassischen „network-analysis" diametral entgegenläuft. Inhaltlich am nächsten steht er damit der Klientelismusforschung,34 die der Herausbildung herrschaftlicher Patronage- und Klientelbindungen einen wesentlichen Impuls für die Modernisierung des Staatsapparates in der Frühen Neuzeit zuschreibt.35 Wenn Reinhard am Begriff der „Verflechtung" festhält, so deshalb, weil für ihn Patronage und Klientel nur einen Teil der Beziehungen ausmachen, zu denen noch Verwandtschaft, Landsmannschaft und Freundschaft als hiervon getrennte Beziehungstypen hinzutreten.36 Dennoch möchte ich hier dafür plädieren, den Begriff der „Verflechtung" jenseits der Metaphorik aufzugeben und stattdessen lieber von Klientelismus oder Patronage zu sprechen. Hierfür gibt es zwei pragmatische und einen inhaltlichen Grund. Der Begriff der „Verflechtung" hat sich nicht durchgesetzt,37 und er bereitet größte Schwierigkeiten bei der Übersetzung ins Französische, Italienische und Englische. Gerade in Italien, wo Reinhards Konzept vielleicht am breitesten rezipiert wurde, ist durchweg von „patronage" und „clientele" die Rede.38 Bei einer 30
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Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. In: Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. 1983. S. 10. G. A. Blanck: Network Analysis and Social Theory. In: Network Analysis (Anm. 14) S. 3744, hier S. 37. W. Reinhard (Anm. 6) S. 312, wobei Reinhard seinen Begriff der Mikropolitik nicht von anderen Verwendungen des Begriffes abgrenzt, z.B. bei Foucault oder Joan Scott: Weapons of the Weak. New Häven 1985, vgl. P. Burke (Anm. 2) S. 165. W. Reinhard (Anm. 6) S. 309-311, Zitat S. 333. Vgl. Nadja Lupke-Niederich: Habsburgische Klientel im 16. Jahrhunderts: Hugo von Montfort im Dienste des Hauses Habsburg. In: Karl V. Politik und politisches System. Berichte und Studien aus der Arbeit an der Korrespondenz des Kaisers. Hg. von Horst Rabe. Konstanz 1996. S. 137-161, hierS. 137. Am eindrücklichsten hierzu Sharon Kettering: Patrons, Brokers and Clients in 17th Century France. Oxford 1986; Victor Morgan: Some Types of Patronage, mainly in Sixteenth and Seventeenth Century England. In: Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit. Hg. von Antoni Maczak. München 1988. S. 91-115. W. Reinhard (Anm. 4) S. 35. Wie Reinhard selbst zugibt; W. Reinhard (Anm. 6) S. 312. Vgl. Irene Fosi: All'ombra dei Barberini. Fedeltà e servizio nella Roma barocca. Roma 1997 (Biblioteca del Cinquecento 73). S. 10; Maria Antonietta Visceglia: Burocrazia, mobilità sociale e patronage alla corte di Roma tra Cinque e Seicento. Alcuni aspetti del recente dibattito storiografico e prospettive di ricerca. In: Roma moderna e contemporanea. Rivista interdisciplinare di storia, m/ 1. 1995. S. 11-55; Renata Ago: Carriere e clientele nella Roma barocca. Bari 1990.
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Rückübersetzung ins Englische schließlich ergeben sich zwangsläufige Mißverständnisse, da hier „network" eben „network" im Sinne der „networkanalysis" bedeutet, mit allen damit einhergehenden ideologischen Konnotationen.39 Inhaltlich wiederum decken die Begriffe von Patronage und Klientelismus alle von Reinhard aufgeführten Beziehungstypen ab, da der Patronagediskurs alle vorhandenen Beziehungen überwuchert.40 Ohne Zweifel muß ein analytischer Begriff keineswegs den Zeithorizont treffen, das ist hiermit auch nicht intendiert. Allerdings zeigt sich auf der Grundlage eigener Forschung, daß Verwandtschaft, Freundschaft, Landsmannschaft in der Regel nur dann relevant sind, wenn sie in einem Klientelzusammenhang aktualisiert werden. Aus Landsmännern können, aber müssen keine Klienten werden, aus Freundschaft wird eine Klientelbeziehung, indem sich durch das Kräftegleichgewicht verschiebt, und nicht zuletzt Verwandtschaftsbeziehungen können, aber müssen nicht, in einen Klientelverband einbezogen werden. Kurzum, die Gesamtheit der Beziehungen einer Person interessieren gerade unter dem Blickpunkt der Mikropolitik nicht, sondern nur jene, die durch Interaktion aktualisiert und instrumentalisiert werden. Durch den Blick 'von oben' wiederum handelt es sich konsequenterweise zumeist um hierarchische Beziehungen zwischen einem Patron und seinen Klienten. „Verflechtung" beschreibt hier eher metaphorisch das Handlungsmuster, den Vorgang, nicht jedoch das System. Die Frage nach den Valenzen und Einsatzbereichen der verschiedenen Beziehungstypen ist bislang nur unzureichend geklärt, etwa, ob Kameradschaft, Verwandtschaft und Landsmannschaft grundsätzlich unterschiedlich behandelt werden, oder ob sie jeweils nur für bestimmte Einsatzgebiete in Frage kommen. Reinhards Überlegungen fußten wesentlich auf den Eindrücken, die er an der Arbeit zum päpstlichen Nepotismus41 gewonnen hatte, die ihn zu der Vermutung veranlassten, daß Kurie und Kirchenstaat von konzentrisch um das Zentrum gelegten Verflechtungskreisen zusammengehalten wurden, und daß die Außenbeziehungen des Staates von ebensolchen Beziehungen geprägt seien. Während Patronage und Klientel im Machtzentrum vornehmlich Struktur und 39
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Dieses vornehmlich auf der Übersetzung beruhende Missverständnis begegnet im Kontakt mit angelsächsichen Anthropologen: man versteht das Reinhardsche Konzept des „networks" (im Sinne der Verflechtung) nicht, wie aus eigener Erfahrung bezeugt werden kann. Für die Schwierigkeiten des „network"-Begriffes spricht auch, daß in der Regel in Reinhards englischsprachigen Beiträgen der Begriff rein metaphorisch gebraucht wird oder von „patronclient-relations" die Rede ist; siehe W. Reinhard: Papal Power and Family Strategy in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. In: Princes, Patronage and the Nobility. The Court at the Beginning of the Modern Age, c. 1450-1650. Hg. von Ronald G. Asch, Adolf. M. Birke. Oxford 1991. S. 329-356. W. Reinhard (Anm. 6) S. 314-317. W. Reinhard: Papstfinanz und Nepotismus unter Paul V. (1605-1621). Studien und Quellen zur Struktur und zu quantitativen Aspekten des päpstlichen Herrschaftssystems. 2 Bände. Stuttgart 1974.
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Aufbau individueller Karrieren bedingten und ein hohes Maß an sozialer Mobilität erzeugten, dienten Klientelbeziehungen an der Peripherie - so die Hypothese - als Herrschaftsinstrument zur Durchsetzung des politischen Willens der Zentrale.42 Als besonderer Vorteil des römischen Beispiels galt, daß durch den wahlmonarchischen Charakter der päpstlichen Monarchie ein ständiger Herrscherund Elitenaustausch stattfand, der es erlaubte, die Mechanismen der „Verflechtung" deutlicher nachzuzeichnen und freizulegen als dies in einer Erbmonarchie der Fall war, in der nicht nur die Krone, sondern auch Beziehungen vererbt und damit nicht ständig neu thematisiert werden mußten.43 Nun ließen ausgerechnet Kurie und Kirchenstaat in den 1970er Jahren nicht unbedingt das historische Blut pulsieren, weniger noch legten sie die Assoziation mit Staatsbildung und Modernisierung nahe. Dies hat sich seit der bahnbrechenden Studie Paolo Prodis grundlegend geändert. Als die Modernisierungstheorien längst in der Krise waren, legte er zu Beginn der 80er Jahre ein Werk vor, das nicht nur die modernen, rationalisierenden Triebkräfte der päpstlichen Monarchie zu Tage förderte, sondern den Papst in eine Reihe mit modernen absolutistischen Herrschern stellte.44 Prodis Einschätzung blieb nicht unwidersprochen,45 doch er hatte den Fall theoretisch neu aufgerollt und damit für die historische Forschung - nicht nur in Italien - wieder intellektuell attraktiv gemacht. Dennoch kann nicht übersehen werden, daß gerade der wahlmonarchische Charakter des Papsttums sowie der ambigue weltlich-spirituelle Charakter päpstlicher Herrschaft über die Weltkirche einerseits und den Kirchenstaat andererseits die Komplexität des Systems erhöhen. Die Universalität der Kirche bedingte die über die Staatsgrenzen des Kirchenstaates hinausgehende Rekrutierung von Personal für Kirchen- und Staatsämter, d.h. die Grenzen des Staates stimmten nicht mit den Grenzen der Rekrutierung der Staatsverwaltung überein, die Staatsgrenzen waren weich.46 Die vorwiegende Besetzung von Staatsämtern mit Geistlichen47 machte dabei die Universalkirche zum materiellen 42 43 44
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W. Reinhard (Anm. 4) S. 59-76; W. Reinhard (Anm. 39) S. 331. W. Reinhard (Ann. 6) S. 309. Paolo Prodi: Il sovrano pontefice. Un corpo e due anime: la monarchia papale nella prima età moderna. Bologna 1982. Am prägnantesten Antonio Caracciolo: Sovrano pontefice e sovrani assoluti. In: Quaderni storici. 52.1983. S. 279-286. Dies ist in weltlichen Monarchien nur in Ausnahmefällen so und führt dort häufig zu Aggressionen gegen „die Ausländer", wie am Beispiel Concini unter Maria de Medici und am Beispiel Mazarin unter Ludwig XIV. zu beobachten ist, vgl. John H. Elliott, Laurence W. B. Brockliss (Hg.): The World of the Favourite. New Haven, London 1999. Kleriker spielten auch in weltlichen Monarchien bis weit in die Neuzeit wegen ihrer gehobenen Ausbildung eine wichtige Rolle im staatlichen Verwaltungsapparat, allerdings kam dies kaum dem „Quasi-Monopol" im Kirchenstaat gleich; vgl. Hélène Millet, Peter Moraw: Clerics in the State. In: Power Elites and State Building. Hg. von W. Reinhard.
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Versorgungsreservoir des Staates und generierte hierdurch innerkirchliche Dysfunktionalität, die der Stärkung der spirituellen Legitimation des Papsttums im Sinne der tridentinischen Reform entgegenstand. Ein Teil der von Reinhard konstatierten Dynamik der römischen Verhältnisse ist zurückzuführen auf die Unvererblichkeit der kirchlichen Ämter und Pfründen, weshalb alternative Strategien zu Erwerb und Bestandssicherung der begehrten Ressourcen entwickelt wurden, vor allem eine Rekrutierung von Neffen (oder anderen männlichen Verwandten), aber eben auch von Landsleuten und Klienten. Diese Bedingungen wiederum wirkten prägend zurück auf Familienstrategien und Karrieremuster inner- und außerhalb des Kirchenstaates sowie auf die katholischen Eliten in Europa überhaupt.48 Wenn gerade diese Besonderheiten den römischen Fall zum heuristisch „außergewöhnlichen Normalen"49 machen: „Rome is an ideal example to study, not because it was typical, but precisely because it was different, in the sense that there the general social and political structures of Europe had been carried to extremes",50 so sind doch der Verallgemeinerung der an diesem Beispiel gemachten Beobachtungen Grenzen gesetzt oder nur in Ableitung von der Ausnahme möglich. Will man nicht für jede historische Realität einen eigenen 'Sonderweg' konstruieren, so sind die meist implizit in die Betrachtung einfließenden Kategorien ständig zu thematisieren: was ist normal, funktional, oder modern im 17. Jahrhundert? Nicht zuletzt gilt es sich selbst zu befragen, inwiefern eigene Vorstellungen rationalen Denkens und Handelns den Zugang zum historischen Objekt verstellen, wir, um mit Elias zu sprechen, unsere menschlichen Untersuchungsobjekte gerade hierdurch nur als sonderbare Fremde erkennen können. Inwiefern sind wir in der Lage, die ethischen, sozialen und kulturellen Grundlagen des Klientelismus zu verstehen, inwiefern sind nicht einfach nur ethnologische Beobachtungen51 zurück projeziert, die Borghese, Barberini etc. gewissermaßen zu den Corleones des 17.
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Oxford 1996. S. 173-187; W. Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999. S. 186-189. Verwiesen sei hier auf die vorbildlichen Arbeiten von R. Ago (Anm. 38); I. Fosi (Anm. 38); als besonders gelungene Darstellung für den außeritalienischen Bereich vgl. Christophe Duhamelle: L'Héritage collectif: la noblesse d'église rhénane, 17e-18e siècles. Paris 1998. Carlo Ginzburg: Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß. In: Historische Anthropologie. 1. 1993. S. 169-192, hier S. 191. Das Oxymoron stammt eigentlich von Edoardo Grendi. W. Reinhard (Anm. 39) S. 330. Als ethnologische Vorlagen dienen besonders gerne Studien zur mediterranen Gesellschaft oder Beobachtungen „primitiver" Völker z.B. Anton Blok: The Mafia of a Sicilian Village 1860-1960: a Study of Violent Peasant Entrepreneurs. New York 1974; Clifford Geertz: Negara: the theatre state in nineteenth-century Bali. Princeton 1980; Ernest Gellner, John Waterbury (Hg.): Patrons and Clients in Mediterranean Societies. London 1977; John G. Peristiany: Honour and Shame in Mediterranean Society. Chicago 1966.
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Jahrhunderts gemacht? War klientelares Handeln und Verhalten indiziert, weil es funktionierte, oder obwohl es nicht oder nur teilweise funktionierte? Und was heißt funktionieren?52 Genügte es, wenn eine klientelarem Ethos entsprechende Kommunikation zustandekam, indem einem Klienten ein entsprechend formulierter Auftrag zukam, oder war es erforderlich, daß dieser Auftrag auch wirklich in der intendierten Form ausgeführt wurde?
II. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen sollen nun erste Arbeitsergebnisse vorgestellt werden, die angeregt von den in 'Freunde und Kreaturen' formulierten Hypothesen entstanden sind. Auf der Grundlage von Verwaltungs- und Privatkorrespondenzen wurde in den vergangen Jahren die Bedeutung der informellen Beziehungen während des Pontifikats Pauls V. (1605-1621) für die Verwaltung der kirchenstaatlichen Provinz (Bologna und Perugia) sowie auch für die diplomatischen Kontakte zum Großherzogtum Toskana genauer untersucht." Die institutionellen Gegebenheiten sind für die innerstaatlichen Beziehungen von grundlegender Bedeutung, weshalb einige kursorisch und knapp gehaltene Ausführungen hierzu vorauszuschicken sind. Das beginnende 17. Jahrhundert kann als vorläufiger End- und Höhepunkt der Arrondierung des kirchenstaatlichen Territoriums sowie des Ausbaus der zentralstaatlichen Strukturen angesehen werden.54 Die Verwaltung der Provinzen des Kirchenstaates erfolgte entweder 52
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Vgl. hierzu in bezug auf Normdurchsetzung in der Frühen Neuzeit: Jürgen Schlumbohm: Gesetze, die nicht durchgesetzt werden - ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates. In: GG. 23.1997. S. 647-663. Ich beziehe mich dabei auf folgende Arbeiten: Ingo Staden Herrschaft durch Verflechtung. Perugia unter Paul V. (1605-1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik im Kirchenstaat. Frankfurt a.M. 1997 (Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte, Band 5); Nicole Reinhardt: Macht und Ohnmacht der Verflechtung. Rom und Bologna unter Paul V. Studien zur friihneuzeitlichen Mikropolitik im Kirchenstaat. Tübingen 2000 (FriihneuzeitForschungen, Band 8); Christian Wieland: Fürsten, Freunde, Diplomaten. Die römischflorentinischen Beziehungen unter Paul V. (1605-1621) zwischen Bürokratie und Klientelismus. Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Italien. Diss. phil. Freiburg i. Br. 2000; Birgit Emich: Potere del discorso, discorsi del potere: Ferrara e Roma verso il 1600. In: Dimensioni e problemi della ricerca storica 2001 (im Druck). Emich arbeitet an einer umfassenden Studie zu Ferrara, die mir noch nicht vorliegt, weshalb dieser Fall nur kursorisch behandelt wird. Vgl. Jean Delumeau: Les progrès de la centralisation dans l'Etat pontificai au XVIe siècle. In: Revue historique. CCXXVI. 1961. S. 399-410; Andrea Gardi: Lo stato in provincia. L'amministrazione della Legazione di Bologna durante il regno di Sisto V (1585-1590). Bologna 1994; Peter Partner: The Papal State: 1417-1600. In: Conquest and Coalescence. The Shaping of the State in Early Modern Europe. Hg. von Mark Greengrass. London 1991. S. 17-62; Irene Polverini Fosi: La società violenta. Il banditismo dello Stato pontificio nella se-
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durch Kardinallegaten (Romagna, Bologna, Ferrara), die direkt mit dem römischen Staatssekretariat55 korrespondierten, oder durch Gouverneure und Prälaten, die den im 16. Jahrhundert entwickelten Kongregationen des Buon Governo und der Consulta unterstanden. Beiden Kongregationen und dem Staatssekretariat saß der Papstnepot als Präfekt vor. Die aus fünf Kardinälen und acht Prälaten (sogenannte ponenti) gebildete Consulta befaßte sich wie eine Art Innenministerium mit den jurisdiktionellen Fragen und ernannte einen Teil des Verwaltungspersonals (governi di Consulta).56 Ahnlich aufgebaut, doch vornehmlich mit der Finanzveraltung betraut, war die Kongregation des Buon Governo,51 der die Kommunen des Kirchenstaates ihre Haushaltspläne zur Prüfung und Kontrolle vorlegen mussten. Die Kompetenzen von Consulta und Buon Governo erstreckten sich im Regelfall nicht auf die Legationen. Die herausgehobene Stellung der Legationen zeigte sich auch darin, daß diese das Recht hatten, einen ständigen Botschafter nach Rom zu entsenden. Die einfacheren Governi bedeuteten also eine enger an Rom angebundene Verwaltung durch 'bürokratische' Institutionen, die Legationen hingegen eine stärkere 'Delegation' von Herrschaft an Einzelpersonen mit bedeutender Machtfülle, die wiederum mit einer stärkeren lokalen Autonomie korrespondierte. Sie ging im Fall Bologna besonders weit, denn die Stadt wurde als einzige nie der Finanzverwaltung der Apostolischen Kammer unterstellt.58 Die Unterscheidung der Verwaltung in Governi und Legationen ist durchaus Indiz einer innerstaatlichen Hierarchie sowie eines unterschiedlich gepflegten lokalen Autonomiebewußtseins, dem der Papst durch die Entsendung höchster Würdenträger, i.e. von Kardinälen, entsprach. In Bologna entspann sich auch hierdurch die Vorstellung einer mit dem Papst in ebenbürtiger Würde und auf höchstem Niveau über Legat, Nepot und Botschafter korrespondierenden Stadt.59
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conda metà del Cinquecento. Roma 1985; Giacomo Bandino Zenobi: Le "ben regolate città". Modelli politici nel governo delle periferie pontificie in età moderna. Roma 1994; eher skeptisch Mario Caravale, Antonio Caracciolo: Lo stato pontificio da Martino V a Gregorio XIII. Torino 1978 ( Storia d'Italia, Band XIV. Hg. von Giuseppe Galasso). Ansonsten widmete sich das Staatssekretariat vornehmlich der außenpolitischen Korrespondenz. Vgl. Christoph Weber: Legati e governatori dello Stato pontificio (1550-1809). Roma 1994. S. 33-39. Hier agierten zwölf ponenti, vgl. Nicolò Del Re: La curia romana. Lineamenti storicogiuridici. Roma 1970. S. 351-355. Allerdings trug die Kommune die Ausgaben der päpstlichen Verwaltung in voller Höhe und war stark in das komplexe System des römischen Anleihenmarktes eingebunden, vgl. hierzu Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 139-148; ausführlich zum Anleihewesen Mauro Carboni: Il debito della città. Mercato del credito, fisco e società a Bologna fra Cinque e Seicento. Bologna 1995. Dies ist aufgearbeitet in Angela De Benedictis: Repubblica per contratto. Bologna: una città europea nello Stato della Chiesa. Bologna 1995; kritische Anmerkungen hierzu Nicole Reinhardt: 1447 oder 1506: Bolognas libertà im Zeitalter des päpstlichen Zentralismus. In: Jubiläumsjahre - Historische Erinnerung - Historische Forschungen. Festgabe für Kersten
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Perugia, die einstige Hochburg des Widerstands gegen den römischen Zentralismus hingegen,60 wurde zunehmend von Gouverneuren verwaltet, wobei die Zu- oder Unterordnung der Provinz Umbrien schwankte und unsicher war, gleichsam Ausdruck der 'beliebigen' Behandlung und des gebrochenen Eigenbewußtseins.61 Trotz dieser Unterschiede ist festzuhalten, daß der zentralstaatliche Druck insgesamt im 16. Jahrhundert in allen Provinzen gestiegen war und unter Paul V. zum Teil noch verstärkt wurde.62 Hatte Reinhards Hypothese 1979 noch gelautet, daß Klientel Verbindungen in der Provinz die geringe „Dichte der Staatlichkeit" kompensierten,63 so lautet die neu formulierte Frage eher, warum Klientelverbindungen trotz des gesteigerten Zentralismus eine Rolle spielten und in welchen Bereichen und Richtungen sie wirkten. War die Schwächung der Provinz das Ergebnis klientelarer Durchdringung, wie ein Bologneser Professor im Jahr 1600 vermutete,64 oder war Klientelismus die letzte Ressource unterworfener Provinzen, sich zentralstaatlicher Durchdringung zu entziehen?65 Im Folgenden möchte ich daher zeigen, wie informelle Verbindungen aufgebaut wurden und wo sie wirkten, welche Förderung päpstliche Klienten erfuhren, welche Dienste sie erfüllten und schließlich, wie sich die Provinzen informeller Kontakte bemächtigten, um ihre Interessen durchzusetzen. Der Aufbau von persönlichen und institutionellen Kontakten von und nach Rom unterlag durch den der Wahlmonarchie inhärenten häufigen Personenaustausch einer besonderen Kontingenz. Anknüpfungspunkte für Kontakte bezogen sich auf Personen, deren Position im Machtgefüge sich durch den Herrschaftswechsel an der Spitze des Staates ständig verändern konnte. Die dem Pontifikat in der Regel vorausgehenden Jahre im (bürokratischen) Dienst an Staat und Kirche66 hatten den Papst zwar mit zahlreichen Menschen in Kontakt gebracht, doch das gewissenhaft gepflegte Amtsverständnis des Papstes als ein
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Krüger zum 60. Geburtstag. Hg. von Wolf D. Gruner. Rostock 1999 (Rostocker Beiträge zur Deutschen und Europäischen Geschichte, Band 7). S. 5-29. Vgl. Christopher F. Black: Perugia and Papal Absolutism in the Sixteenth Century. In: English Historical Review. 96. 1981. S. 509-539; I. Stader (Anm. 53) S. 28-33. Vgl. I. Stader (Anm. 53) S. 81-108. Für Bologna vgl. A. Gardi (Anm. 54); Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 102-130 und S. 149199. W. Reinhard (Anm. 4) S. 74. Es handelte sich um den Bologneser Medizinprofessor Camillo Baldi (1551-1637), zu Baldis politischer Stellungnahme vgl. Mario Fanti: Le classi sociali e il governo di Bologna all'inizio del secolo XVII in un'opera inedita di Camillo Baldi. In: Strenna storica bolognese. IX. 1961. S. 133-179, hier S. 159-161 zu Baldi vgl. Mario Tronti: Camillo Baldi. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Band 5. S. 465-467. Andrea Gardi: D cardinale legato come rettore provinciale. Enrico Caetano a Bologna. In: Società e Storia. 27.1985. S. 1-36, hier S. 31. Zur BUrokratisierung der Papstbiographien in der Frühen Neuzeit, vgl. W. Reinhard: Herkunft und Karriere der Päpste. Beiträge zu einer historischen Soziologie der römischen Kurie. In: Mededelingen van het Nederlands Instituut te Rome. 38.1976. S. 87-108.
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über den Parteien stehender 'Padre comune' hob ihn zugleich aus den menschlichen Sphären seiner eigenen Biographie wieder heraus.67 Wie ein Vater liebte der Papst offiziell alle seine Untertanen gleich, lediglich die seiner Familie entgegengebrachte liebevolle Bevorzugung, die sich vor allem in einem warmen Finanzregen zugunsten derselben niederschlug, galt allgemein nicht nur als das Recht, sondern geradezu als die christliche Pflicht des Pontifex. Zur Pflege von Sozialkontakten und als zumindest nominelles Haupt der wichtigsten administrativen Einheiten wie Staatssekretariat, Consulta und Buon Governo setzte er daher einen noch meist jungen Neffen als Kardinalnepoten ein.68 Im gewählten Beispiel bedeutet dies, daß Paul V. zwar als Camillo Borghese einen Teil seiner Karriere als Vizelegat von Bologna zugebracht hatte,69 doch die hier geknüpften persönlichen Bekanntschaften nicht als direkte Anknüpfungspunkte dienen konnten, sondern an seinen in Bologna völlig unbekannten Nepoten übergehen mussten. Doch nicht nur die Papstfamilie war neu, auch die wichtigsten Entscheidimgsträger wie Legaten, Gouverneure und Nuntien wurden nach Pontifikatsbeginn ausgewechselt, wobei sich die neue Papstfamilie von der vorhergehenden deutlich abzugrenzen versuchte, ja sich eine Gegnerschaft zum Vorgängernepoten und dessen Klientel aufbaute.70 Die große Mehrheit des bürokratischen Personals blieb jedoch im Amt. Es wurde offensichtlich aus Sachgründen nicht ausgetauscht und mußte in die neue politische Landschaft integriert werden.71 Das römische System glich einem Krater,72 den die päpstlichen Herrscher immer füllen mußten, um mit den sie umgebenden bestehenden Beziehungssysteme zu verwachsen. Die Frage nach der spezifischen Bedeutung dieses auf den ersten Blick ausgesprochen dysfunktionalen Aufbaus eines Gegensatzes zur vorhergehenden Dynastie werden wir am Ende noch zu thematisieren haben. Die gängige Begründung, daß effektive Dienstausübimg auf 67
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Vgl. Volker Reinhardt: Der päpstliche Hof um 1600, In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, Band 3. Hg. von August Buck. Hamburg 1981 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 8). S. 709-716; Ronald K. Delph: Polishing the Papal Image in the CounterReformation: The Case of Agostino Steuco. In: The Sixteenth Century Journal. 23. 1992. S. 35-47. Ich möchte hier nicht näher auf den Streit um die Funktion des Nepotismus eingehen, vgl. W. Reinhard: Nepotismus. Der Funktionswandel einer papstgeschichtlichen Konstanten. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte. II. 1975. S. 145-185, hier S. 161-163; Antonio Menniti Ippolito: Il tramonto della curia nepotista. Papi, nipoti e burocrazia curiale tra XVI e XVII secolo. Roma 1999 (La corte dei papi, a cura di A. Paravicini Bagliani, 5). S. 71-117. Vgl. Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 207-213. Vgl. W.Reinhard (Anm. 39) S. 351-353. Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 323-325; ähnlich auch die Einschätzung bei A. Menniti Ippolito (Anm. 68) S. 18. Dieses Bild benutzt Lind in bezug auf die ebenfalls wahlmonarchischen Verhältnisse Polens, vgl. Gunnar Lind: Great Friends and Small Friends: Clientelism and the Power Elite. In: Power Elites and State Building (Anm. 47) S. 123-147, hier S. 143.
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Grund des teilweise noch patrimonialen Herrschaftscharakters der klientelaren Rückkoppelung bedurfte,73 erscheint gerade im Hinblick auf den Kirchenstaat nicht völlig überzeugend. Aus dem bisher Gesagten geht deutlich hervor, daß die Papstfamilie bei Herrschaftsantritt nicht auf ein eigenes Klientelnetzwerk zurückgreifen konnte, sondern daß dieses erst im Laufe des Pontifikates entstehen konnte. Wie langsam und vorsichtig sich dies gestaltete, zeigt sich deutlich am Bologneser Beispiel.74 Eine Auswertung der Zusammensetzung der Bologneser Korrespondenz des Nepoten ergibt, daß in den ersten Jahren kaum direkte Kontakte zu Mitgliedern der lokalen Senatorenschicht bestanden oder initiiert wurden. Zwar hatten diese größtenteils versucht, durch Gratulationsbriefe und Versicherung ihrer untertänigsten Dienstbereitschaft oder Protektionsgesuche einen Kontakt nach Rom herzustellen, doch wurde dies nicht zügig aufgenommen. Vielmehr standen bis 1614 Schreiben an den Kardinallegaten bezüglich der Verwaltung der Provinz im Vordergrund. Bezeichnenderweise erhielten diese zu Beginn keinerlei Hinweise auf eventuelle Klienten der Papstfamilie vor Ort. Die Initiative ging eher von den Legaten selbst aus, die versuchten, ihre Kontakte von der Provinz in die Kapitale zu 'makein'. Die naheliegende Vorstellung, daß die neu eingesetzten Legaten zugleich und vor allem auch als 'Broker', d.h. als gesteuerte Vermittler für eine lokale Klientel dienten, trifft anfangs nicht zu. Nach 1611 kam es erstmals zu direkten klientelaren Anweisungen an den Legaten, die in eine Endphase direkten Kontaktes zwischen dem Nepoten und einigen Mitgliedern der Bologneser Elite einmündeten.75 Gleichzeitig ist ein Rückgang des Volumens administrativer Korrespondenz mit den Legaten festzustellen. Nachdem die administrative Herrschaft über die Stadt fest etabliert schien, konnten die informellen Kontakte ausgebaut werden. Zumindest für Bologna liegt daher der Schluß nahe, daß Klienten hier keine administrativen Defizite behoben, sondern daß klientelare Bedürfnisse erst größere Rücksichtnahme erfuhren, nachdem man den administrativen Zugriff auf die Provinz sichergestellt hatte.76 Untersucht man die Beziehungen der Borghese zu den jeweiligen Führungsschichten vor Ort, so ergibt sich ein widersprüchliches Bild. Im 50köpfigen Bologneser Senat konzentrierte sich die innere Machtverteilung vor allem auf 'alte' Familien mit kommunaler Tradition, während die großen 73 74 75
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W. Reinhard (Anm. 39) S. 345. Zum folgenden vgl. Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 265-273. Die Zunahme klientelarer Bedürfnisse in der zweiten Hälfte des Pontifikats scheint nicht nur für Bologna zuzutreffen, wie die Beschäftigung des ausschließlich für Klientel- und Patrongeangelegenheiten zuständigen Sekretärs Ottavio Bacci ab 1616 vermuten lässt, vgl. W. Reinhard (Anm. 6) S. 319. Auch die Legaten vor Ort agierten in der zweiten Hälfte des Pontifikats weniger streng, vgl. Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 130-138, damit scheint sich ein Gegensatz zwischen staatlichen und klientelaren Interessen schon anzudeuten, der im folgenden noch deutlicher werden wird.
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Faktionsfiihrer sich aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen hatten und lediglich indirekt wirkten.77 Für beide Gruppen gilt jedoch, daß Beziehungen zur gerade herrschenden Papstfamilie nicht im Vordergrund standen. Während die Faktionsführer versuchten, sich an italienische Dynastien außerhalb des Kirchenstaates anzulehnen, waren die tonangebenden Kreise im Senat quasi ein Negativbild der aktuellen politischen Konstellation.78 Hier hatte das Sagen, wer entweder im Ruf stand, ein Anhänger des Vorgängerpapstes zu sein, oder wer sich prinzipiell distanziert gegenüber Rom verhielt. Ein anti-römischer Diskurs und Habitus waren ein wesentliches Element zur Herstellung von Konsens in einem sozial und politisch ausgesprochen zerrissenen Gremium, und dies implizierte daher auch, daß Senatoren mit besonderen persönlichen Verbindungen zur herrschenden Papstfamilie in Bologna zeitweise politisch kalt gestellt wurden. Ganz anders hingegen das Bild in Perugia. Hier spielten die reichsten und mächtigsten Familien nach wie vor eine herausragende Rolle in den kommunalen Organen, und genau diese Familien gehörten zu den intensivsten Peruginer Korrespondenzpartnern der Borghese und teilweise zu deren Klientel.79 Ahnlich auch in Ferrara, wo sich die neue tagespolitische Situation schnell im Consiglio Comunale abbildete und fortan ein herausragender Klient der Papstfamilie die lokalen Verhältnisse wesentlich beeinflusste.80 Der Einsatz von Klientel war also ein komplexes Vorgehen, das wesentlich auch 'von unten' mit bestimmt wurde. Als Ursachen vermute ich, daß Art und Umfang der klientelaren Durchdringung der Provinz abhängig sind vom Stadium der Integration des Gebietes in den Kirchenstaat, was sich auch in unterschiedlich ausgeprägten politischen Verhaltensmustern niederschlug. Im ferraresischen Fall liegt es nahe, daß die Plazierung von Klienten ein Gebot der Stunde war und wahrscheinlich durchaus als Herrschaftsinstrument in einer noch jungen - erst seit 1598 hinzugekommenen - Provinz diente. Ahnliches wurde in Bologna, gleichsam der fille aînée de l'état de l'église, nicht versucht und wäre wohl auch nicht gelungen. Statt sich lange um die Durchsetzung von Klienten im Senat zu bemühen, reizte man hier allen lokalen Privilegien zum Trotz die vorhandenen administrativen Möglichkeiten des Staates aus. Die legendäre libertà der Stadt war in erster Linie ein politischer Mythos, doch ein durchaus handlungsrelevanter, der Verhältnisse wie in Perugia verhinderte. Dort kann langfristig von einer Auflösung lokalen Eigenbewußtseins gesprochen werden. Der bürokratisch administrativen Durchdringimg durch Rom entspricht ein lokal in vorauseilendem Gehorsam hergestellter klientelarer 77
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Vgl. Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 75-86; zur Art und Weise, aus dem Hintergrund zu wirken vgl. John F. Padgett, Christopher K. Ansell: Robust Action and the Rise of the Medici, 1400-1434. In: American Journal of Sociology. 98. 1993. S. 1259-1319. Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 199-206 und S. 261-263. I. Stader (Anm. 53) S. 43-62 und S. 231-255. Dies mag auch durch den schon vor dem Pontifikat existierenden direkten Kontakt zu Scipione Borghese, dem nunmehrigen Nepoten begünstigt worden sein. B. Emich (Anm. 53).
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Konsens, quasi eine Doppelung formeller wie informeller Beziehungen. Verschiedene lokale Verhältnisse bedingten also durchaus differenzierte Antworten, dabei war der Einsatz von Klienten kein universelles 'passe-partout'. Ein politischer Einsatz von Klienten war in Bologna nicht möglich und in Perugia nicht mehr nötig. Die direkte politische Nützlichkeit von Klienten blieb zwar vornehmlich auf hohe Verwaltungsposten beschränkt, bedeutete aber keineswegs einen Verzicht darauf, die zugefallene Macht auch klientelar zu überformen, wie es dem Status und Prestige eines sich absolut verstehenden Herrschers entsprach. Die Beteiligung von Klienten an den durch den Pontifikat zugänglich gemachten Ressourcen besaß auch strategischen und sozialen Sinn, nicht zuletzt weil die Zeit der päpsdichen Herrschaft beschränkt und daher die Akkumulation sowohl von materiellem als auch von sozialem Kapital notwendig war. Mehr als Herrschaftsabsicherung für die Gegenwart bedeuteten Klienten eine Absicherung für die Zukunft. Die „finanzielle Ausweidung des Staates"81 zugunsten der eigenen Familie ließ sich leichter praktizieren, war gewissermaßen sozial verträglicher, wenn man andere - und durch die Wahlmonarchie bedingt auch immer wieder andere als vorher - am Profit beteiligte.82 Die Förderung von Klienten aus der Provinz stellte den Austausch zwischen Zentrum und Peripherie her. Die päpstliche Klientelpolitik wirkte in diesem Zusammenhang als wesentlicher Motor sozialer Mobilität.83 Die Förderung des Papstes konzentrierte sich in besonderem Maße auf Familien, die noch nicht (oder nicht mehr) zu den ersten Kreisen der Stadt zählten. Päpstliche Klientelpolitik schuf so ein alternatives Human-Reservoir zur senatorialen Oligarchie und beförderte langfristig die Integration neuer Familien in die alte lokale Elite. Die grazie wurden dabei keineswegs beliebig ausgeschüttet. In kultureller und sozialer Hinsicht glichen diese Familien den Papstfamilien selbst, d.h. es handelte sich um Mitglieder des städtischen Patriziats mit universitärer - zumeist juristischer Ausbildung. Diese kamen in den Genuß finanzieller Privilegien, juristischer Protektion und Standeserhebungen sowie karrierefördernder Maßnahmen zugunsten ihrer Mitglieder, die mit Posten in Staats- und Kirchenverwaltung betraut wurden. Damit entstand überall im Kirchenstaat langfristig eine zum alten Feudaladel alternative Elite, die sich zunehmend aus sich selbst heraus rekrutierte.
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W. Reinhard: Bemerkungen zu „Dynastie" und „Staat" im Papsttum. In: Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates. Hg. von Johannes Kunisch. Berlin 1982. S. 157-161, S. 159. Dieses „karitative" und zugleich volkswirtschaftliche Argument spielt z.B. auch bei den Befürwortern des Nepotismus eine große Rolle, vgl. A. Menniti Ippolito (Anm. 68) S. 142f. Zum Konsenscharakter des staatlichen Steuer- und Finanzsystems auch Andrea Gardi: La fiscalità pontificia tra medioevo ed età moderna. In: Società e Storia. 33. 1986. S. 509-557, hier S. 546. Für das Folgende vgl. Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 274-312.
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Die Dienste, die Klienten für ihre padroni ausführten, konnten naturgemäß nicht das quantitative Ausmaß der päpstlichen Förderungsmaßnahmen überschreiten - die Asymmetrie zwischen Leistungen des Patrons und Dienst des Klienten bedingte ja gerade das Patron-Klientverhältnis. Qualitativ ist auch hier in zweifacher Hinsicht von unpolitischen Dienstleistungen zu sprechen. Zum einen verhielten die Klienten sich politisch ruhig,84 zum anderen wurden sie in erster Linie zugunsten der finanziellen Interessen der Papstfamilie tätig. Über ihre Klienten erwarben die Borghese einen prächtigen Palast in Rom zu einem Spottpreis,85 Klienten 'managten' Kommendatarabteien und Pfründen86, besorgten dem Ästheten Scipione Borghese - zuweilen auch auf nicht ganz legalem Wege87 - begehrte Kunstschätze oder stellten Kontakte zu Künstlern her.88 Die Klientel arbeitete so maßgeblich an der Akkumulation des kulturell-symbolischen Kapitals mit.89 Ja es steht zu vermuten, daß das Gesamtkunstwerk der Villa Borghese logistisch ohne den Einsatz von Klienten nicht hätte zustandegebracht werden können. Nicht zuletzt standen die Klienten immer wieder auch mit Informationen aus erster Hand zur Verfügung, was wiederum den finanziellen Interessen der Papstfamilie zugute kam und zugleich eine umsichtigere und zügigere Versorgung der klientelaren Bedürfnisse sicherstellte.90 Effizienzsteigerung durch Klienteleinsatz kann meist nur im Bereich der Befriedigung von privaten Anliegen, nicht aber bei objektiven Staatsinteressen beobachtet werden. Klientelbeziehungen wirkten nicht nur von Rom in die Peripherie. Die umgekehrte Frage, wie Familien aus der Provinz Klientelverbindungen nach Rom aufbauten auf der einen Seite, sowie nach ihrem Einsatz zugunsten lokaler Anliegen andererseits, gehört zu einem vollständigen Verständnis des Systems 84
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Im Bologneser Fall war diese Abstinenz auch durch die Ausgrenzung dieser Familien in den kommunalen Gremien erzeugt. Vgl. hierzu Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 320-322. Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 295. Vgl. zur Affäre um den Raub eines Gemäldes von Raffael aus Perugia, I. Stader (Anm. 53) S. 270-276. Der Bologneser Legat Luigi Capponi brachte Scipione Borghese in Kontakt mit dem „Malerstar" Guido Reni aus Bologna: ASV. Fondo Borghese I 940. fol. 353r: 7H.1615 Scipione Borghese an Luigi Capponi. Guido Bentivoglio wählte sachkundig in Brüssel die Gobelins für Scipione Borghese aus, vgl. B. Emich (Anm. 53). In dem Sinne, daß die materielle Anhäufung von Kunstobjekten die Familie mit kulturellen Attributen ausstattete, die eine von außen herangetragene ehrenhafte Gleichstellung mit traditionellen Fürstenfamilien ermöglichte, bei der dieses kulturelle Kapital wieder in symbolisches Kapital umgewandelt werden konnte; Pierre Bourdieu: Un acte désintéressé est-il possible? In: P. Bourdieu: Raisons pratiques. Sur la théorie de l'action. Paris 1994. S. 149-171, S. 160f: .J'appelle capital symbolique n'importe quel espèce de capital (économique, culturel, scolaire, social) lorsqu'elle est perçue selon les catégories de perception, des principes de vision et de division ... qui sont... le produit de l'incorporation des structures objectives du champ considéré. ... Le capital symbolique est un capital à base cognitive qui repose sur la connaissance et la reconnaissance." Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 313-319.
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und gibt Aufschluß über die Qualität der informellen Beziehungen. Hierbei lohnt es sich, den Betrachtungszeitraum auszuweiten und auch Indizien jenseits der Korrespondenzen nachzugehen. Für den Bologneser Fall können Aussagen über die Patenschaftsbeziehungen der Senatorenschicht gemacht werden, die zwei interessante Schlussfolgerungen erlauben.'1 Zum einen waren Beziehungen zu Papstfamilien weich, d.h. sie waren weniger von Treuekriterien geprägt als Beziehungen zu den Familien italienischer Fürstenhäuser. Es existierte eine kuriale Klientel, die sich recht beliebig und den politischen Tagesanforderungen entsprechend an Rom orientierte. Bei diesen bildete die Popularitätskurve der Paten genau die sich verändernde Personalzusammensetzung der Kurie ab.92 Allerdings rekrutierte sich die kurial ausgerichtete Patenschaftsklientel in erster Linie aus den Familien des städtischen Patriziats, z.T. auch aus nicht-senatorialen Familien sowie aus jenen Familien, die immer wieder aus den lokalen Entscheidungsprozessen ausgeschaltet wurden. Eine über die Jahre hinweg feste Stammklientel existierte nur für die italienischen Fürstenhäuser, die vorwiegend die großen Faktionsführer bedienten, die an einer römischen Karriere kein Interesse hatten, aber auch Familien, die den Weg über Florenz oder Parma wählten, um Kontakte in Rom herzustellen. Hier kommt die zweite Schlußfolgerung zum Tragen: Mehrfach- und Doppelbindungen erweisen sich als ein wesentliches Merkmal der Klientelverbindungen im Kirchenstaat. Die Ursachen liegen wohl im wahlmonarchisch bedingten regelmäßigen Wechsel an der Staatsspitze. Wer sich ausschließlich auf die Kontakte zur gerade herrschenden Papstfamilie verließ, hatte meist sozial keine andere Wahl und konnte bei einem Pontifikatswechsel leicht verlieren. Die Doppelbindung an eine Fürsten- und eine Papstfamilie war die sicherere und erfolgsversprechendere Antwort auf das politische System. Treue scheint demnach in bezug auf die Papstfamilie ein eher nachrangiges Kriterium für Aufbau und Bestand der Klientelverbindung darzustellen.93 Gerade der Rückgang an Treuebindung und der Vorrang materialistischer Interessen wird in der Regel mit der Rationalisierung und Modernisierung politischer Systeme 91
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In der Korrespondenz des Papstnepoten finden sich in erster Linie Spuren der Klienten, auch solcher, die es erst werden wollen. Da für ein Verständnis der Familienstrategien, die Frage nach Alternativen zentral ist, können die Patenschaftsbeziehungen einen Eindruck der sozialen Möglichkeiten der lokalen Elite vermitteln. Hierfür wurden die in den Taufregister eingetragenen Patenschaften untersucht (Archivio Arcivescovile di Bologna, Registri battesimali 1587-1621), vgl. zum Folgenden Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 221-261. Vgl. Nicole Reinhardt (Anm. 53) Anhang X, S. 378. Vgl. Roland Mousnier: Les fidélités et les clientèles en France au XVIe, XVIIe et XVIIIe siècles. In: Histoire sociale - Social History. 15. 1982. S. 35-46, der noch von der zentralen Bedeutung persönlicher Treue für Klientelbindungen ausgegangen war. Diese emotionale Qualität ist inzwischen auch im Fall der Erbmonarchie Frankreich erheblich eingeschränkt worden. Für den Kirchenstaat ist dieser Befund wohl noch zu radikalisieren, vgl. S. Kettering (Anm. 35) S. 185.
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gleichgesetzt.94 Der z.T. hypertroph wirkende Einsatz von Klientelbeziehungen im Kirchenstaat könnte auch hierin begründet hegen. Die Familien der Provinz bedienten sich also vielfältiger Strategien, um ihre eigenen Interessen und Karrierewünsche ihrer Mitglieder in die Tat umzusetzen. Jenseits der variabel gehandhabten Klientelverbindungen in und außerhalb Roms, spielten gerade hier Verwandtschaftsbeziehungen eine tragende Rolle. Hinzu traten die landsmannschaftlichen Kontakte, mit denen sie sich teilweise überlappten. Die Präsenz von Mitgliedern der lokalen Oligarchie im Getriebe der römischen Bürokratie und der staatlichen Verwaltung barg reichen Konfliktstoff für widerstrebende päpstliche und lokale Interessen. Die finanzielle Privilegierung der päpstlichen Klienten vor allem in Steuerfragen schädigte die Finanzen der Kommunen und des Gesamtstaates beträchtlich und wurde immer wieder zum Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen Rom und den kirchenstaatlichen Provinzen.95 Gleichzeitig waren sie ein wesentliches Mittel, Klienten zu gewinnen. Das Anliegen der Provinzen, sich der Protektion der eigenen Landsleute an der Kurie zu bedienen, damit lokale Anliegen in ihrem Sinne entschieden wurden, funktionierte daher nur sehr eingeschränkt. Zur Vertretung ihrer Interessen standen den Legationen die ständigen Botschafter in der Hauptstadt zur Verfügung.96 Doch deren Einfluß reichte bei weitem nicht aus, weshalb die Botschafter sich immer wieder bemühten, ihre Landsleute an der Kurie zum Handeln für das bene comune zu motivieren. Die gewichtigsten Ansprechpartner waren heimische Kardinäle. Im Bologneser Fall gab es derer jedoch immer weniger, da der Papst die verstorbenen Bologneser Kardinäle nicht mit Landsleuten ersetzte.97 Damit fehlte einer effektiven Artikulation ihrer „nazione" der organisatorische Überbau. Das Ausschalten lokaler 'Häuptlinge' kann als indirekte Wirkungsweise des Klientelismus verstanden werden, bzw. als Klientelismus unter umgekehrten Vorzeichen: nämlich Kappen von informellen Banden. Die Abwesenheit einer hochrangigen „pressure group" verwies die Botschafter auf die Prälaten und Sekretäre. Deren Einfluß in Sachfragen konnte durchaus erheblich sein, doch ihre finanzielle Abhängigkeit bewirkte, daß sie sich lieber zurückhielten, als sich für eine patria, die zudem regelmäßig an ihren Steuerprivilegien herummäkelte, den Unwillen des Herrschers zuzuziehen. Hier kam es durchaus zu Diensttreue, allerdings nicht aus persönlicher Treue zum Dienstherrn, sondern aus Eigeninteresse. Vielleicht mehr noch als Klientelbindung zum Pontifex wirkte die Verpflichtung gegenüber der eigenen 94 95 96 97
S. Kettering (Anm. 35) S. 209. I. Stader (Anm. 53) S. 169-182 und S. 187-190; Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 296-300. Zum folgenden Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 86-102 und S. 355-361. Auch für Ferrara fällt auf, daß Guido Bentivoglio der einzige Ferrareser Kardinal bleibt. Sollte es sich hier ebenfalls um eine „Trockenlegung" Ferrareser Einflußmöglickeiten handeln? Vgl. B. Emich (Anm. 53).
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Verwandtschaft, die mitunter kräftig in die Kurienkarriere des Sprößlings investiert hatte und davon Profit erwartete.98 „Familismo" vor „campanilismo" lautete hier die Devise. Auch in Ferrara machte man die Erfahrung, daß die eigenen Landsleute in erster Linie ihre persönlichen Anliegen verfolgten und man auf die Durchsetzung des „bene comune" nur hoffen konnte, wenn dieses zugleich das „bene del nipote" mit beinhaltete." Perugia war in Ermangelung eines eigenen Botschafters von vornherein auf die informelle Interessenvertretung durch Landsleute in Rom angewiesen. Hinzu kamen „künstliche Landsleute", d.h. von der Stadt gewählte Protektoren.100 Beide wurden häufig kontaktiert, doch ihre Wirksamkeit ist mit Fragezeichen zu versehen. Die bürokratische Verwaltung der Provinz durch die kollegial organisierten Instanzen der Kongregationen bot allerdings zahlreiche Angriffsflächen für kommunale Einflußnahme. Der weit gefächerte Zugriff von oben eröffnete eben auch von unten viele kleine Kanäle. Das mehr an Bürokratie wurde mit einem mehr an informellen Interferenzen erkauft. Dagegen scheint der Bologneser Fall eher ein Beispiel für staatliches 'Outsourcing' gewesen zu sein. Geringere Durchdringung von oben - sowohl bürokratisch als auch klientelar schränkte auch die Wirkungsmöglichkeiten der Provinz in der Zentrale ein. Dies bedeutete damit langfristig eine Reduzierung und Eingrenzung der Problemlösung auf die Peripherie. Sie ist vielleicht weniger modern, in dem Sinne, daß sie nicht die völlige administrative Erfassung der Peripherie ermöglicht oder anstrebt, jedoch vielleicht gerade deswegen effizienter und zukunftsweisender. Die moderne These von der Funktionalität des Klientelismus für den Staatsausbau ist also nicht uneingeschränkt zutreffend. Starke, aus heutiger Sicht dysfunktional erscheinende Komponenten mussten hierbei in Kauf genommen werden, die ein Wachsen der Staatsgewalt über bestimmte Grenzen hinaus nicht zuließen. Er versagte völlig bei der Herstellung eines dauerhaften Klientelverbands in Staatsdiensten und konnte die Strukturschwäche der Wahlmonarchie nicht kompensieren. Ausgesprochen erfolgreich jedoch gelang es, sozialen Konsens herzustellen und soziale Mobilität zu fördern, wodurch sich das Klientelsystem selbst bis zum Schluß alimentierte. Hierdurch entstand langfristig eine gesamtitalienische Elite. Ihre Kennzeichen waren juristische Bildung, stadtadlige Abstammung und Katholizität. Sie beförderten ein für ganz Italien verbindliches Sozialmodell, dessen mentale Folgeprägungen die Lebensdauer des Kirchenstaates überdauern sollten. Die in der klassischen „network analysis" vorherrschende These, daß Klientelbeziehungen dauerhaft vertikale Mobilität begünstigten, weshalb Fragen der sozialen Schichtung von untergeordneten Rang 98
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Für die Borghese vgl. W. Reinhard: Ämterlaufbahn und Familienstatus. Der Aufstieg des Hauses Borghese 1537-1621. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken. 54.1974. S. 329-427. B. Emich (Anm. 53). I. Stader (Anm. 53) S. 70-81.
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seien, ist höchst fragwürdig, denn die Möglichkeit und Chance am System des Klientelismus zu partizipieren, war nicht zuletzt auch sozial und ökonomisch bedingt und vereinheitlichte zugleich das soziale Gesicht der Klienten. Der dritte von Reinhard postulierte konzentrische Ring informeller Beziehungen (nach dem römischen und kirchenstaatlichen) bezeichnet die Außenkontakte des Staates zu den katholischen Fürsten in und außerhalb Italiens. Wenn für diesen Bereich die Bedeutung des Klientelismus für die Zentralisierung und Modernisierung des staatlichen Systems untersucht werden sollen, so müssen die Kriterien hierfür nach außen gewendet werden. Sie können unter drei Stichworten zusammengefasst werden: Abgrenzung101, Integration und Vermittlung. Abgrenzung zwischen Staat und Kirche sowie Abgrenzung von Untertanen als Spiegelbild der Abgrenzung eines Staatsterritoriums und der Trennung von Staat und Kirche zugleich; Integration auf der Ebene der Familie im Sinne der Einordnung der päpstlichen Aufsteiger in die Landschaft der italienischen Fürstenfamilien und schließlich Vermittlung als Möglichkeit durch die Mittel der informellen Beziehungen, Personen und Konzepte im jeweils anderen System zu verankern.102 Anders als nach innen standen im Kontakt nach außen die zwei Funktionen des Papstes als weltlicher Herrscher über ein Staatsgebiet und universales Oberhaupt der katholischen Kirche in weit höherem Maße in Konkurrenz zueinander. Nach außen wurde das dem Kirchenstaat inhärente Problem der grundsätzlich internationalen Rekrutierung des Verwaltungspersonals in besonderem Maße virulent. Die Tatsache, daß päpstliche Diplomaten mehr als nur einem Herrn dienen konnten oder auch wollten - ihrer angestammten patria und ihrem päpstlichen Dienstherrn - schwächte eine effektive Interessenvertretung. Die klientelare Bindung des päpstlichen Diplomaten an seinen Dienstherrn hatte in der Regel eine kurze Vorgeschichte, meist stellte das Amt selbst ja erst das Mittel der klientelaren Rekrutierung dar. Angesichts der Kontingenz des kirchenstaatlichen Systems konnte es für den Diplomaten daher durchaus rational sein, neben dem Dienst für den päpstlichen Vorgesetzten, die eigene Karriereplanung nicht zu vernachlässigen und die Kontakte zur angestammten „patria" nicht abreißen zu lassen. Dies war besonders bedenklich, wenn diese „patria" außerhalb des Kirchenstaates lag, oder aber - und hier wurde der Sinn des Amtes völlig ausgehöhlt - wenn mit Rücksicht auf die eigene Zukunft versucht wurde, sich in ein Abhängigkeitsverhältnis am Akkreditierungsort zu begeben.103 Letzteres 101
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Die schrittweise Abgrenzung von Territorium und Bevölkerung kann als wesentliches Element der Entwicklung der Staatsvorstellung angesehen werden, vgl. W. Reinhard (Anm. 47) S. 16 und S. 370-379, wobei die Entstehung von Diplomatie schon auf der Voraussetzung einer zumindest gedachten Differenz zweier Gebiete oder Interessensphären beruht. Die folgenden Ausführungen basieren auf C. Wieland (Anm. 28). Für Camillo Borgheses Spanienmission hat Reinhard dies deutlich nachgewiesen, vgl. W. Reinhard (Anm. 99) S. 368; zu diesem Problem C. Wieland (Anm. 28) S. 546 und S. 554f.
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wurde begünstigt durch die Tatsache, daß die inneritalienischen Verhältnisse in hohem Maße von den beiden Supermächten Frankreich und Spanien konditioniert waren.104 Die informellen Kontakte konnten zwar durchaus für den eigentlichen Dienstherrn fruchtbar gemacht werden, indem man sich als „broker" zur Implementierung römischer Interessen betätigte, doch die Trennung zwischen Amtspflicht und Eigeninteresse konnte sich als schwierig erweisen und stellte eine dysfunktionale Komponente dar, die eindeutiger Abgrenzung entgegenstand. Die Grenze zwischen Staat und Kirche schließlich ließ sich nicht territorial fassen und verlief bisweilen durch das Individuum. Als Oberhaupt der Kirche war der Papst der natürliche „Padrone" der kirchlichen Würdenträger in Territorien, die nicht seinem Staatsgebiet zuzurechnen waren, ein Umstand, den auch katholische Herrscher als zunehmend hinderlich für die Abgrenzung ihres eigenen Staates ansahen.105 Zwar waren die direkten Zugriffsmöglichkeiten des Papstes auf die verschiedenen Staatskirchen in der Frühen Neuzeit stark beschränkt, doch die zahlreichen Kirchendiener, die zugleich Untertanen anderer Herrscher waren, gerieten durch die wachsenden Ansprüche der sich abgrenzenden Territorial- und Nationalstaaten zunehmend unter Druck. Waren Doppel- und Mehrfachbindungen im Kirchenstaat die Normalität, so verlangten die Staatsoberhäupter auch von ihren Untertanen geistlichen Standes zunehmend ein eindeutiges Verhalten.106 Der Dienst für die Kirche durfte der Pflicht des Untertans gegenüber seinem Souverän nicht entgegenstehen. Die Monarchen erwarteten, daß sich ihre Priester als Franzosen, Spanier und Toskaner und nicht vorrangig als Diener eines Herren verstanden, der zwar spirituelles Oberhaupt aber zugleich auch ein weltlicher Herrscher war. Die Pflicht, die landsmannschaftliche Zugehörigkeit nach außen darzustellen und zu leben, verlangte Entscheidungen des Individuums, die eine ausschließliche Indienstnahme für den Papst und seine Familie zunehmend einschränkten. In der Konkurrenz um die Abgrenzung der Menschen mußte das Papsttum in spiritueller und weltlicher Hinsicht verlieren - auch weil es sich in der zunehmend monopolistisch geprägten Konkurrenz um Klienten nicht behaupten konnte. Dies zeigt deutlich, von welch unterschiedlicher Qualität wahlmonarchische und erbmonarchische Klientelbindungen waren. Wie der christliche Gott war auch der (katholische) Monarch ein eifersüchtiges Wesen. Integration ist das zweite Stichwort, unter welches sich die Außenbeziehungen fassen lassen. Ausgangspunkt war dabei die paradoxe Situation, daß der Papst als geistliches Haupt der Kirche zwar über den katholischen Fürsten stand, die ihm in 104
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Vgl. Maria Antonietta Visceglia: Fazioni e lotta politica nel Sacro Collegio nella prima metà del Seicento. In: La Corte di Roma tra Cinque e Seicento. "Teatro" della politica europea. Hg. von Gianvittorio Signorotto, M.A. Visceglia. Roma 1998. S. 37-91; Gianvittorio Signorotto: Lo squadrone volante. I cardinali "liberi" e la politica europea nella seconda metà del XVH secolo. In: La Corte di Roma tra Cinque e Seicento. 'Teatro" della politica europea. S. 93-137. W. Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt (Anm. 47) S. 263-271. Vgl. hierzu die Ausführungen bei C. Wieland (Anm. 28) S. 236-251 und S. 290f.
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dieser Funktion eher als Klienten gegenübertraten, um von ihm spirituelle Gaben zu erlangen,107 er als Individuum jedoch sozial weit unter denselben Fürsten angesiedelt war. Ziel der Beziehungen nach außen mußte daher sein, für die Zeit nach dem Pontifikat diese Differenz auszugleichen und sich durch das Knüpfen von Verwandtschaftsbeziehungen, in die fürstliche Landschaft zu einzureihen.108 Hierbei war die päpstliche Familie nicht in der Position der Patrone, sondern selbst Klientin gegenüber den europäischen Monarchen und italienischen Fürsten. Die Integration durch Heirat war eine der sichersten Formen der Absicherung für die Zukunft. Es ist bezeichnend, daß diese Form der Verknüpfung nur auf höchster Ebene, also jener der Papstfamilie relevant war. Die Absicherung des Klientelverbandes z. B. durch Heiraten mit Borghese-Vewandten stand nicht zur Debatte. Stabilität für die Zukunft der eigenen Familie konnte nur durch eine Heirat nach 'oben' geschehen, und hier standen trotz des päpstlichen Oberhauptes die ersten Familien Italiens nicht zur Disposition. Die Integration als Familie war nur möglich durch die Verbindung in die Reihen einer Familie mittleren Ranges, die ihrerseits zum weiteren Verwandtschaftsverband höher gestellter Fürsten zählte.109 Trotz der zwischenstaatlich ausgetauschten Diplomaten war die Frage der Vermittlung nicht das alleinige Feld der eigentlich professionell dafür bestimmten Diplomaten. Die Begegnung auf der Ebene einer von Gleichrangigkeit geprägten Freundschaft zwischen dem päpstlichen Monarchen und einem katholischen Fürsten konnte auf der Ebene der Diener nur unzureichend formuliert werden. Auch die den Fürstenfamilien zur Verfügung stehenden Familienkardinäle wurden bezeichnenderweise hierfür nicht genutzt. Stattdessen bedienten sich die Fürsten anderer kardinalizischer Würdenträger, die als Ratgeber und Freunde im römischen System die Verankerung von fürstlichen Interessen an der Kurie unterstützen.110
III. Abschließend sollen zwei Probleme diskutiert werden, die bei der Untersuchung von Klientelbeziehungen generell eine Rolle spielen: Sprache und Ethos. Die Untersuchung von Klientelbeziehungen in der Frühen Neuzeit wird erschwert durch die Omnipräsenz klientelarer Rhetorik und Topik in den Korrespondenzen. Alle scheinen sich ihrer zu bedienen: wahre Klienten, solche,
107 108 109 110
C. Wieland (Anm. 28) S. 387-391. Vgl. auch Lucien Bély: La société des princes, XVIe-XVme siècle. Paris 1999, S. 369ff. C. Wieland (Anm. 28) S. 461-479. C. Wieland (Anm. 28) S. 550.
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die es werden wollen, oder Mitglieder des Verwaltungsapparates."1 Die Vorstellung, daß es keinen Unterschied zwischen Worten und Taten gegeben haben soll, überzeugt nicht.112 Ein entsprechend abgefasster Brief oder stilgerechter Vortrag mochten zwar eine Klientelbindung einleiten oder die Zeit überbrücken, in denen tatsächliche Leistungen nicht möglich waren, doch selbst die schönsten Worte konnten nicht ohne konkrete Taten auskommen.113 Auch wenn 'Kreaturen' wie Patrone aus Eigeninteresse handelten, das sie in einen klientelaren Treuediskurs einbetteten, so kam der Diskurs nicht ohne eine Bestätigung durch die Tat aus, die als Ansatz und Beweis des Behaupteten dienen konnte. Zugleich enthielt diese Sprache ihre subtilen Abstufungen und wurde z.T. bewusst bedient, um bestimmte Anliegen zu Gehör zu bringen, während sie in einem anderen Kontext nicht als wirkungsvoll erachtet wurde.114 Auch die zahllosen Empfehlungsschreiben scheinen bisweilen nicht unbedingt von einem Klientelverhältnis zwischen Empfohlenem und Empfehlendem zu sprechen, sondern können durchaus Ausdruck einer Bindung zwischen Empfehlendem und Empfänger der raccomandazione sein. Gleichsam als aktive Bestätigung des zwischen ihnen existierenden Kontaktes, der so über einen Dritten zur Geltung kam. Das hypertrophe Empfehlungswesen mag z.T. in solchen Handlungszwängen begründet liegen. Erst der Einsatz der richtigen Sprache traf einen Wertehorizont, der sachgerechtes Handeln möglich machte. Das dem Klientelsystem zugrundeliegende Ethos gehört zu den m. E. wichtigsten Desideraten der Forschung. Handeln in einem Klientelzusammenhang bedarf der Motivierung und Rationalisierung. Die Aufteilung der Welt in binäre Konstruktionen von 'Freund und Feind' könnte ein wesentliches Movens für den Zusammenhalt von Klientelverbänden einerseits und gemeinsames Handeln andererseits gewesen sein.115 Die Konstruktion einer gemeinsamen Handlungsgrundlage, eines in Opposition zum Selbst begriffenen Anderen schuf eine gemeinsame Identität, gewissermaßen eine werte- und normenrelevante Handlungsbasis. Unter diesem Gesichtspunkt könnte auch der in Rom verifizierbare Gegensatz zum 111 112 113 114
115
Vgl. W. Reinhard (Anm. 6) S. 314f. Vgl. K. Neuschel: Words of Honor. Interpreting Noble Culture in Sixteenth Century France. Ithaca 1989. S. 72-76. Hierzu Arthur L. Herman: The Language of Fidelity in Early Modern France. In: The Journal of Modern History. 67.1995. S. 1-24, hier S. 6 und S. 20. B. Emich (Anm. 53); vgl. auch Irene Fosi: Sovranità, patronage e giustizia: suppliche e lettere alla corte romana nel primo Seicento: La Corte di Roma tra Cinque e Seicento (Anm. 105) S. 207-241. Diese Überlegungen sind wesentlich angeregt von C. Wieland (Anm. 28) S. 437-439 und S. 541-543, der die Konstruktion eines gemeinsamen Feindbildes für die Entente zwischen den Medici und den Borghese aufzeigt. Eine ähnliche Konstruktion wurde auch im Falle des Bologneser Senates beobachtet, wo ein „Stadtmythos" wesentlich als kollektives Handlungsmuster diente, vgl. Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 199-206.
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Vorgängerpapst und seiner Klientel andere Gründe gehabt haben, als lediglich die unterstellte Illoyalität fremder Klienten. Angesichts dessen, was wir über den wenig exklusiven Charakter von Klientelverbindungen im Kirchenstaat wissen, erscheint diese Einschätzung nicht überzeugend. Der Kirchenstaat war geradezu ein Musterbeispiel ständiger Klientenkooptation aus verschiedensten Einflußsphären. Warum also wurde der Gegensatz zum Vorgänger aufgebaut, anstatt ihn mit der Macht der allgegenwärtigen Eigeninteressen gar nicht erst entstehen zu lassen? Gerade die durch den ständigen Machtwechsel bedingten Diskontinuität des Systems waren in Hinblick auf die Staatsbildung störend und in klientelarer Hinsicht ein wesentliches Defizit. Die Rationalität dieses Handlungsmusters116 muß daher auf einer anderen Ebene zu suchen sein. In Ermangelung dynastischer Identität und Kontinuität ermöglichte das römische 'spoil system' die Konstruktion einer Identität der neuen Herrscherfamilie, die der Alterität der Vorgänger bedurfte. Zugleich schuf die Feindschaft zu anderen das Kriterium für eine 'Treue', die sich nicht durch Jahrhunderte bewährte, sondern durch Abgrenzung bestätigen konnte. So ließ sich die Welt aufteilen, in solche die dazu gehörten, und in 'die Anderen', denen es per definitionem an Treue gebrach, ohne daß diese schon in den eigenen Reihen hergestellt worden wäre. Die Gegnerschaft zu den anderen schließlich, verlieh den entstehenden Kontakten eine gleichsam ideologische Basis, an der sich normkonformes Handeln ausrichten ließ. Welche Aussagen können sowohl über das Konzept als auch über das Fallbeispiel Kirchenstaat gemacht werden? Die Anwendung der „networkanalysis" in historischem Kontext führte bislang nicht zu der in der Sozialanthropologie erreichten systematischen und abstrakten Darstellung der Beziehungen. Dies ist offensichtlich am historischen Beispiel nur eingeschränkt möglich,117 doch dürfte eine Präzisierung der jeweils untersuchten Beziehungsformen nach ihrer Typologie hier allgemeinere Aussagen im Hinblick auf eine Hierarchisierung der Beziehungen innerhalb des Klientelsystems zulassen. An der Spitze scheinen künstliche und natürliche Verwandtschaftsbeziehungen zu stehen, die im Zentrum dominieren und beim Aufstieg von unten nach oben an Bedeutung gewinnen. Die Rolle der Heiratsstrategien können im Hinblick auf den Kirchenstaat noch eingehender in die Analyse einbezogen werden.118 Außen und unten sind vornehmlich Landsmannschaft und ausgesprochen selten Freundschaft die vorherrschenden
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Einschränkungen bezüglich der Durchgängigkeit des Musters bei M.A. Visceglia (Anm. 105) S. 78 und S. 88f. Vgl. Nicole Reinhardt (Anm. 53) S. 47-49. Vgl. hierzu Christoph Weber: Senatus Divinus: verborgene Strukturen im Kardinalskollegium der frühen Neuzeit (1500-1800). Frankfurt a. M. 1996; Christoph Weber: Genealogien zur Papstgeschichte. 2 Bände. Stuttgart 1999.
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Beziehungstypen. Alle Beziehungen sind grundsätzlich latent vorhanden und werden auf unterschiedlichen Ebenen zu verschiedenen Zwecken aktiviert. Der an Stelle der Verflechtung in den letzten Jahren deutlicher akzentuierte Begriff der 'Mikropolitik' bedarf ebenfalls noch gründlicherer inhaltlicher Füllung und Abgrenzung. Will man es nicht einfach bei der Feststellung der Existenz von Patronage und Klientelbeziehungen bewenden lassen,119 muß auch Mikropolitik mehr sein als nur die Unterstellung ihres planmäßigen Einsatzes. Das wann, wo und wozu der Klientelbeziehungen muß eingegrenzt werden, will man nicht letztlich eine neue 'Verschwörungstheorie' befördern, die sämtliche ungelösten Fragen mit dem Hinweis auf mögliche informelle Kontakte löst und zugleich individuelles Handeln auf 'mikropolitische' Motivationen reduziert. Das Fallbeispiel des Kirchenstaates schließlich hat sich nicht als uneingeschränkt thesenerhärtend erwiesen. Zum einen mußten durch die (italienischen) Forschungsergebnisse der letzten Jahre die Ausgangsfragen teilweise neu formuliert werden. Die „staatliche Dichte" erscheint gerade durch den wahlmonarchischen Charakter nicht defizitärer, sondern bisweilen stärker entwickelt, weshalb den Klientelverbindungen im Hinblick auf staatliche Rationalisierung nur eingeschränkt funktionaler Charakter zukommt. Der Grad staatlicher Verdichtung und der Nutzen klientelarer Herrschaftsmittel ist lokal deutlich zu differenzieren. Das kirchenstaatliche Beispiel hat die Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen Beziehungsqualitäten zu lenken vermocht, die wiederum interessante Rückschlüsse auf den 'Normalfall' erlauben. Kompensation von Staatlichkeit durch Klientelismus kann am Kirchenstaat jedoch nicht direkt idealtypisch vorgeführt werden. Allerdings ließe sich das langfristige Zurückfallen des Kirchenstaates bei der Steigerung des erreichten Maßes an staatlicher Durchdringimg u. U. mit den begrenzten klientelaren Mittel in Verbindung bringen. Hinter die Frage nach der Funktionalität der informellen Beziehungen für die Außenpolitik muß ein deutliches Fragezeichen gesetzt werden. Zumindest für das inneritalienische Beispiel der römisch-toskanischen Beziehungen ist kaum eine Durchsetzung der Außenpolitik mit mikropolitischen Mitteln durch Rom nachzuweisen. In der außenpolitischen Perspektive, die durch Arbeiten zu Frankreich, Spanien, Genua, Venedig und Savoyen erweitert werden soll, ist Rom weniger bestimmendes Zentrum, als von außen bestimmte Peripherie.120 Der Bedeutungsverlust des Papsttums im Mächtekonzert sowie in geistlicher Hinsicht ließ sich wohl kaum mit klientelaren Mitteln beheben. Vielmehr dürfte Rom hier selbst als materielles Reservoir fremder Klientelsysteme gedient haben. Der Ort
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Antoni Maczak: From Aristocratic Household to Princely Court. Restructuring Patronage in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. In: Princes, Patronage and the Nobility (Anm. 35) S. 316. Vgl. G. Signorotto (Anm. 105) S. 103.
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der Freunde und Kreaturen darf dabei eher im Bereich der Vermittlung als auf dem zunehmend konfliktträchtigen Spielfeld der Abgrenzung vermutet werden.
'Nepotismum discussurus' - Die Korsenaffäre 1662 und ihre Auswirkungen auf die Nepotismus-Diskussion an der Kurie Arne Karsten
[...] Quantus tremor estfuturus Quando Gallus est venturus Nepotismum discussurus [...]'
In den Abendstunden des 20. August 1662 kam es im sommerlich heißen Rom zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen einigen Angehörigen der famiglia des französischen Botschafters und korsischen Söldnern im Dienst des Papstes. Was als Schlägerei begann, endete mit bürgerkriegsähnlichen Szenen. Die Soldaten des Papstes riefen nach Verstärkung. Wenig später umstellten die Scharen der Korsengarde den Dienstsitz des Duc de Crequi im Palazzo Farnese und begannen mit einer ungeordneten Beschießung. Ernsthaft verletzt wurde zunächst niemand, doch als die Frau des Botschafters mit ihrem Gefolge vom 1
Anonymes Spottgedicht nach dem „Dies irae" anläßlich der Korsenaffäre, Titel: „Roma supplex", in: BAV, Fondo Chigi C II 43, fol. 191r-192r; der tiefe Eindruck, den die Ereignisse des 20. August 1662 und der dadurch verursachte Skandal in Rom machten, geht nicht zuletzt aus der kaum Überschaubaren Menge der erhaltenen Schriftstücke aller Art zu diesem Thema hervor. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige weitere wichtige Sammlungen genannt: ASV, Segr. Stato, Fondo Soldati, voll. 32-37; BAV, Fondo Chigi C II 44 und 45; BAV, Ottob. lat. 1382; Ottob. lat. 2468; Vat. lat. 8335. Zur Korsenaffäre aus Sicht der französischen Diplomatie vgl. die älteren Arbeiten von C. de Moüy, Louis XIV et le Saint-Siège. L'ambassade du Duc de Créqui. 1662-1665, 2 Bde., Paris 1893; Ch. Gérin, Louis XIV et le Saint-Siège, Paris 1894; sowie in jüngerer Zeit B. Neveu, „Regia fortuna": le Palais Farnèse durant la seconde moitié du XVIIe siècle, in: Le Palais Famèse, Bd. 1/2, Rom 1982, S. 475-507.
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Kirchgang zurückkehrte, wurde einer der französischen Pagen auf der Piazza di San Carlo ai Catenari, nicht weit vom Botschaftssitz entfernt, durch Musketenschüsse getötet.2 Sofort war klar, daß dieser Tumult als diplomatischer Skandal ersten Ranges gelten mußte, und die französische Reaktion ließ denn auch nicht auf sich warten. Am 30. August sandte Ludwig XIV. einen Brief an den Papst, der wegen seines außergewöhnlich scharfen Tones in extenso zitiert sei: Heiligster Vater Unser Cousin, der Duc de Crequi, unser außerordentlicher Botschafter hat uns in Kenntnis gesetzt von dem Mordanschlag, der an seiner Person, an unserer Botschafterin und allen Franzosen, die sich auf den Straßen Roms befunden haben verübt worden ist, von der Beleidigung durch die Korsenmiliz Eurer Heiligkeit. Wir haben daraufhin sofort unserem Cousin befohlen, den Kirchenstaat zu verlassen, damit seine Person und seine Würde nicht länger den Anschlägen ausgesetzt seien, für die es kein Beispiel gibt, nicht einmal bei den Barbaren sogar, und zugleich haben wir Signor de Bourlemont, Auditor an der Rota, befohlen, daß er von Eurer Heiligkeit die Mitteilung entgegennehme, ob Ihr gesonnen seid oder nicht, uns Genugtuung zu schaffen, die dem Ausmaß dieser Beleidigung angemessen ist, einer Beleidigung, die das Völkerrecht nicht nur verletzt, sondern mit Füßen getreten hat. Wir verlangen nichts von Eurer Heiligkeit für diesen Insult, weil Ihr seit so langem schon gewohnt seid, uns jeden Gefallen zu verweigern, und uns bisher eine solche Abneigung gezeigt habt in allen Dingen, die unsere Person betreffen, und unsere Krone, daß es besser sein wird, allein Eurer Klugheit die Entscheidung über die zu ergreifenden Maßnahmen zu überlassen, nach denen wir die unsrigen richten werden, wobei wir einzig und allein hoffen, daß diejenigen Eurer Heiligkeit so beschaffen sein mögen, uns zu verpflichten, weiterhin Gott zu bitten, daß er Eure Heiligkeit als Herr unserer Allerheiligsten Kirche erhalte. Louis3 In Form und Inhalt eine Beleidigung für den Papst, schließt der Brief mit einer unüberhörbaren Drohung. Denn, so läßt sich zwischen den Zeilen lesen, wenn sich Ludwig nicht mehr verpflichtet fühlen sollte, Gott um den Erhalt Papst Alexanders VII. zu bitten, wäre es für ihn da nicht naheliegend, als französischer König, nächst Gott ohnehin der mächtigste Mann des Universums, selbst dafür zu sorgen, daß ein anderer Papst die Leitung der Kirche übernimmt?
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Bei dem Tumult kam auch ein römischer Buchhändler ums Leben, vgl. den Bericht über die Ereignisse in: BAV, Ottob. lat.1382: „Memorie del Secolo XVIJ, raccolte dal Padre Antonio Baruchi, Penitentiere nel Duomo di Bologna", S. 10. Der Originaltext in: BAY, Fondo Chigi C H 43, fol. 8 r/v.
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An der Kurie war man empört, und zwar nicht ganz zu Unrecht. Denn so unangenehm der Zusammenstoß war, vor allem durch die nicht zu leugnende Bedrohung des Botschafters und seiner Frau, ungewöhnlich waren derartige Straßenschlachten im Rom der frühen Neuzeit durchaus nicht. Im Tagebuch des zeitgenössischen Chronisten Giacinto Gigli finden sich zahllose Notizen bezüglich der alltäglichen Gewalttätigkeit in der frühneuzeitlichen Stadt, an denen gerade korsische Söldner nicht selten beteiligt waren. Im Rahmen der päpstlichen Rüstungen zur Vorbereitung des Castro-Krieges im Jahre 1642 etwa berichtet Gigli von Auseinandersetzungen zwischen bologneser Kürassieren und Angehörigen der Korsenmiliz. Die Tatsache, daß beide Einheiten im Dienst des Papstes standen, hinderte sie nicht, mit ihren mörderischen Schlägereien halb Rom in Angst und Schrecken zu versetzen; am Ende gab es auf beiden Seiten Tote und Verletzte, acht Korsen wurden öffentlich hingerichtet, der Rest aus dem päpsdichen Dienst entlassen.4 Bei einem anderen Zusammenstoß zwischen Angehörigen der 'famiglia' des Fürsten Colonna und Pagen des venezianischen Botschafters kam 1677 einer der Diener des Botschafters ums Leben, was ebenfalls Anlaß zu Beschwerden gab, die jedoch im Sande verliefen.5 Der internationale Charakter Roms trug nicht wenig dazu bei, daß im 17. Jahrhundert gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen verschiedener Nationen fast an der Tagesordnung waren, die von den Päpsten in aller Regel nicht allzu ernst genommen wurden, schon aus politischen Rücksichten. In Rom selbst scheinen auch die Vorfälle des 20. August keine besondere Aufmerksamkeit erregt zu haben. Ein awiso vom 26. dieses Monats erwähnt sie jedenfalls mit keiner Silbe.6 Um zu verstehen, warum die Ereignisse im August 1662 dennoch einen unerhörten diplomatischen Skandal mit weitreichenden Folgen für das Ansehen des Papsttums verursachten, wird man deswegen versuchen müssen, die besondere politische Konstellation zu rekonstruieren, in der sie geschahen, zunächst also das Verhältnis zwischen Frankreich und seinem jungen, ehrgeizigen König Ludwig XIV. und Papst Alexander VII. Chigi. Als erster Anhaltspunkt bietet sich dafür eine der schneidenden Bemerkungen im zitierten Brief des Königs. Ludwig war vor allem so aufgebracht, [...] weil Ihr seit so langem schon 4 5
Giacinto Gigli, Diario Romano, hg. v. Giuseppe Ricciotti, Rom 1958, S. 204-206. Archivio Odescalchi IcF 2, Avvisi di Roma, 22. Mai 1677: Lunedi notte lo schiavo moro dell'Ambasciatore Veneto per rissa a cagione d'una femina nel Quartiere medesimo di S. Eccelenza colpito d'un sasso in capo, abbandonato da suoi Compagni, benche si diffendesse con un gran bastone ferrato fu mortalmente ferito di più toccate da Don Federico Colonna, e Caetano de Anibali con loro discoli seguaci, che poi si ritirororno nel Quartiere di Spagna, dove il Contestabile ha ottenuto dall'Ambasciatore, che vi possino stare, e hora si procura di placare detto Ambasciatore Veneto, che mostra volerfar risarcimento, tanto più che detti Signori hanno commessi altri eccessi nella sua giurisditione. Vgl. den Avviso Roma vom 26. August 1662 ini A.SV, Segr. di Stato, Fondo Avvisi 111, fol. 132r.
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gewohnt seid, uns jeden Gefallen zu verweigern, und uns bisher eine solche Abneigung gezeigt habt in allen Dingen, die unsere Person betreffen, und unsere Krone [...]. Er hatte seine Gründe für diese Ansicht, wo nicht objektiv richtige, so doch nachvollziehbare. Im Konklave des Jahres 1655 war Fabio Chigi gegen den Widerstand Kardinal Mazarins, der als Nachfolger Richelieus die französische Politik für den noch unmündigen Ludwig XTV. leitete, gewählt worden.7 Der bevorzugte Kandidat Frankreichs war damals Giulio Sacchetti gewesen, dessen Wahl jedoch wie schon im vorhergehenden Konklave von 1644 die spanische Exklusive verhindert hatte. Daraufhin sprach Mazarin seinerseits das französische Veto für die nächst Sacchetti aussichtsreichsten Bewerber, die Kardinäle Chigi und Rapaccioli aus. Die Folge war ein Patt, das aufzulösen erst gelang, als sich Sacchetti am 13. Februar 1655 in einem ausführlichen Brief an Mazarin dafür einsetzte, die Exklusive gegen Chigi aufzuheben. Sacchetti betonte darin den guten Willen Chigis Frankreich gegenüber; wenn man in Frankreich zur Zeit von Chigis Tätigkeit als päpstlicher Gesandter bei den Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück8 irritiert gewesen sei über seine geringe Bereitschaft, der französischen Verhandlungsposition entgegenzukommen, so mache man den Botschafter für die Botschaft verantwortlich. Von Chigi sei jederlei guter Wille zu erwarten im Umgang mit jenen Kronen, die von Gott zum Schutze des Heiligen Stuhls bestimmt worden seien.9 Es blieb nun abzuwarten, ob Sacchettis Argumente in Paris Gehör finden würden. Erst Wochen später, während derer sich das Konklave aussichts- und ereignislos hinzog, traf am 20. März die Antwort Mazarins ein, in der den Kardinälen freigestellt wurde, Chigi zu wählen, wenn denn Sacchetti unter keinen Umständen durchzubringen sei. Damit war der Weg frei, und am 7. April, nach einer letzten, erfolglosen Initiative für Sacchetti wurde Fabio Chigi zum Papst erhoben, als der er aus pietas gegenüber seinem Sieneser Landsmann Alexander III. den Namen Alexander VII. annahm.10
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Mazarin hatte in seinen Anweisungen für das Konklave ausdrücklich verlangt, non trascurare cosa alcuna per chiuderli (i. e. Chigi) affatto la strada., A. Cheruel (Hg.), Lettres du Cardinal Mazarin pendant son ministère, Bd. 6, Paris 1890, S. 349. Sacchetti hatte schon damals versucht, seine gute Beziehungen zu Mazarin zu benutzen, um zwischen ihm und Chigi auszugleichen, der wenig Entgegenkommen zeigte bei den französischen Anstrengungen um eine möglichst starke Position im Reich, vgl. Irene Fosi, All'Ombra dei Barberini. Fedeltà e servizio nella Roma barocca, Rom 1997, S. 133; dort auch eine umfassende Darstellung des Verhältnisses zwischen Sacchetti und seinem langjährigen Protegé Fabio Chigi. Der Brief Sacchettis abgedruckt in: Alexander Eisler, Das Veto der katholischen Staaten bei der Papstwahl seit dem Ende des 16. Jahrhunderts, Wien 1907, S. 304f. Zur pietas als zentraler moralischer Kategorie moralischen Handelns im Rom der frühen Neuzeit vgl. Wolfgang Reinhard, Papa Pius. Prolegomena zu einer Sozialgeschichte des Papsttums, in: Remigius Bäumer (Hg.), Von Konstanz nach Trient. Beiträge zur
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Die Zustimmung Frankreichs zur Wahl Chigis war allerdings nicht mehr als ein Nachgeben. Von Beginn des Pontifikats an waren die Beziehungen zwischen Paris und Rom gespannt. Weil der neue Papst die traditionelle Rolle des Heiligen Stuhls als 'padre comune' der katholischen Fürsten Europas beanspruchte, mußte er sich vom demonstrativen Ausschluß seiner Diplomaten von den Friedensverhandlungen zwischen den Großmächten Frankreich und Spanien, die schließlich 1659 im Pyrenäenfiieden mündeten, provoziert fühlen. Umgekehrt betrachtete man in Paris das päpstliche Insistieren auf einer seit langem anachronistischen Rolle schlichtweg als Anmaßung. Schon dreißig Jahre zuvor hatte die päpstliche Diplomatie bei den Verhandlungen um die Beilegung des Veltlin-Konfliktes eine bittere Demütigung hinnehmen müssen, als sich 1626 Spanien und Frankreich im Frieden von Monzon ohne Beteiligung von Vertretern des Papstes geeinigt hatten, obwohl diese zuvor über Jahre hinweg versucht hatten, zu vermitteln.11 Ganz offensichtlich waren schon damals die Zeiten vorbei gewesen, in denen das politische Gewicht und die Autorität des Papstes ausreichten, um die Rolle des 'padre comune' wirkungsvoll zu spielen. Seitdem hatte der unglückliche Castro-Krieg am Ende des Barberinipontifikates das Ansehen des Papsttums weiter erschüttert: Zum einen in militärischer Hinsicht, weil der Verlauf des Feldzugs hatte überdeutlich werden lassen, wie schlecht motiviert und mangelhaft gefuhrt die Truppen des Kirchenstaats waren, zum anderen aber auch unter moralischen Gesichtspunkten, hatte doch Urban VIII. mit der militärischen Intervention endgültig die Neutralitätspolitik aufgegeben, die seinen Vorgängern über Jahrzehnte gestattet hatte, die Rolle des unparteiischen Schiedsrichters zumindest formal zu wahren. Die Friedensverhandlungen zur Beendigung des Dreißigjährigen Krieges hatten schließlich trotz allen diplomatischen Geschicks des damaligen Nuntius Fabio Chigi neue, schwere Niederlagen und den daraus folgenden Ansehensverlust für Rom gezeitigt.12 Für Chigi war die Erfahrung des realen Bedeutungsverlustes des Papsttums und die daraus resultierende Diskrepanz zwischen seinen weltpolitischen Ansprüchen und den tatsächlichen Möglichkeiten
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Kirchengeschichte von den Reformkonzilien bis zum Tridentinum, Paderborn 1972, S. 261299. Vgl. hierzu Georg Lutz, Kardinal Giovanni Francesco Guidi di Bagno. Politik und Religion im Zeitalter Richelieus und Urbans VHI., Tübingen 1971 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd. 34), S. 19-26. J. H. Elliott, The Count-Duke of Olivares: The Statesman in an Age of Decline, New Häven-London 1986, S. 62f., zum Veltlin-Konflikt aus spanischer Perspektive; Andreas Wendland, Der Nutzen der Pässe und die Gefährdung der Seelen. Spanien, Mailand und der Kampf ums Veltlin, Zürich 1995, mit umfassenden bibliographischen Hinweisen; Agostino Borromeo (Hg.), La Valtellina crocevia dell'Europa: politica e religione nell'età della guerra dei trent'anni, Mailand 1998. Zur diplomatischen Aktivität Fabio Chigis während der Friedensverhandlungen vgl. Konrad Repgen, Die römische Kurie und der Westfälische Friede. Idee und Wirklichkeit des Papsttums im 16. und 17. Jahrhundert. Papst, Kaiser und Reich 1521-1644,2 Bde., Tübingen 1962 und 1965 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bde. 24/25).
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eine geradezu traumatische Erfahrung gewesen. Von der Würde des Papstamtes zutiefst durchdrungen, weigerte sich Chigi, wie ganz generell die Kurie in dieser Epoche, Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, daß die wirtschaftlichen und politischen Kräfte des Kirchenstaats nicht hatten Schritt halten können mit der Entwicklung der großen europäischen Staaten. Zum Verständnis der Ereignisse in den Jahren 1662 bis 1664 ist es nötig, sich vor Augen zu halten, daß in ihnen zwei fundamental unterschiedliche politische Konzepte aufeinanderprallten. Entgegen Ludwigs XIV. Auffassung seines Königtums als eines vom Papst in allen außerreligiösen Fragen unabhängigen Souveräns - und selbst im Bereich des Religiösen hatten sich ja in der französischen Politik, längst unübersehbar, gegenreformatorische mit staatskirchlichen Tendenzen verbunden - vertrat Alexander VII. jene Idee vom Papsttum als übergeordneter Vermittlungsinstanz, die es seinem Selbstverständnis nach immer gewesen war, die aber angesichts des realen politischen Gewichts eines italienischen Mittelstaates seine Möglichkeiten bei weitem überforderten. Unter diesen Umständen war es nur eine Frage der Zeit, bis es zum Zusammenstoß kommen würde. Die Ausschließung des Papstes von den dem Pyrenäenfrieden vorausgehenden spanisch-französischen Verhandlungen hatte Alexander VII. einmal mehr brüskiert. Hinzu kam, daß die beiden Großmächte sich darin verpflichteten, die Ansprüche des Herzogs von Modena auf Comacchio, diejenigen des Herzogs von Parma auf Castro gegen den Heiligen Stuhl zu unterstützen.13 Verständlicherweise sah man in Rom darin nicht nur eine Bedrohung, sondern eine provokative Einmischung in inneritalienische Angelegenheiten, die, ebenso verständlicherweise, Ludwig XIV. glaubte, sich angesichts der Schwäche des Kirchenstaates erlauben zu können. Das Verhalten des französischen Königs war in der Folgezeit darauf ausgerichtet, keine Möglichkeit ungenutzt zu lassen, die Spannungen zu verstärken. Nachdem lange Zeit, entgegen allen Gepflogenheiten, kein französischer Botschafter nach Rom gesandt worden war, erfolgte schließlich im Juni des Jahres 1662 die Ankunft des Herzogs von Crequi, der seine Mission mit einem demonstrativen Affront begann, indem er es unterließ, den weltlichen Verwandten des Papstes seinen Antrittsbesuch zu machen. Ludwig XIV. forderte statt dessen, daß umgekehrt zunächst die Familie Chigi den Botschafter zu besuchen habe. Die Bedeutung des 'Entgegenkommens' ist in dieser Zeit kaum zu überschätzen, und so zeigte Alexander VII. sich empört, waren doch seinem Verständnis nach die Mitglieder der Familie des regierenden Papstes für die Dauer des Pontifikates Angehörige eines Herrscherhauses und genossen deswegen die gleichen Privilegien wie die übrigen Dynastien Europas.14 Gerade dieser Punkt einer dem Nepotismus als 13 14
Vgl. Pastor, Bd. 15/1, S. 360f. Tatsächlich gab Créqui in diesem Punkt schließlich nach und ließ sich zum Besuch bei Don Mario und Don Agostino Chigi herab, vgl. den Avviso di Roma vom 12. August 1662 in:
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integralem Bestandteil päpstlicher Herrschaftsorganisation in der Frühneuzeit zugrunde liegenden Rechtfertigung durch die 'anthropologische Konstante' der Beteiligung von Verwandten an den Macht- und Prestigechancen der Herrschaft sollte im weiteren Verlauf der Ereignisse noch eine entscheidende Rolle spielen.15 Nach diesem Auftakt der Gesandtentätigkeit Créquis stand nicht zu erwarten, daß seine Anwesenheit in Rom zu einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen Papst und König fuhren würde. In den folgenden Wochen lag eine drückende Spannung über der Stadt, die von gegenseitigen Provokationen genährt wurde. Als es am 20. August schließlich zum offenen Ausbruch der Gewalt kam, war für Ludwig XIV. die Gelegenheit da, den Papst über seine tatsächlichen politischen Möglichkeiten aufzuklären.16 Wie entschlossen er war, diese Gelegenheit zu nutzen, läßt nicht nur der Ton seines eingangs zitierten Briefes erkennen. Darüber hinaus setzte nämlich eine breit gefächerte Großoffensive der französischen Diplomatie ein. Zugleich mit dem Brief an den Papst wurde auch ein Schreiben an das Kardinalskollegium verfaßt, in dem die Ereignisse des 20. August ebenfalls als ein unerhörtes, bisher nie gesehenes Verbrechen deklariert wurden, durch die das Völkerrecht mit Füßen getreten worden sei. Ludwig XIV. bat die Kardinäle deswegen um ihre Unterstützung seiner Forderungen an den Papst und sichert ihnen im Falle positiver Reaktion seinen königlichen Schutz zu.17 An die französischen Parteigänger unter den Kardinälen ergingen eigene Weisungen. Die Reaktion des Papstes auf diesen Brief gegenüber dem Abbé Bourlemont läßt vermuten, daß Alexander VII. zu diesem Zeitpunkt der Ernst der Lage noch nicht recht bewußt war, oder daß er ihn zumindest nicht sehen wollte. Natürlich sei die Angelegenheit unangenehm, aber der Herzog von Créqui solle sich nicht so anstellen, schließlich handele es sich nicht um einen geplanten Anschlag, sondern um einen zufälligen Vorfall. Der Botschafter möge sich doch mit angemessenen Genugtuungen (sodifazioni ragionevoli) zufrieden geben.18 Immerhin versuchte man in Rom, die Wogen zu glätten. Eine Kardinalskongregation unter dem Vorsitz des frankreichfreundlichen Giulio
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ASV, Segr. Stato, Fondo Avvisi 111, fol. 124r; der Gegenbesuch erfolgte bereits wenige Tage später, vgl. ebd., fol. 128r, Avviso di Roma vom 19. August 1662. Zur zeitgenössischen Diskussion des Phänomens „Nepotismus" und der gegenwärtigen Debatte vgl. die zusammenfassende Studie von Antonio Menitti Ippolito, Il tramonto della Curia nepotista. Papi, nipoti e burocrazia curiale tra XVI e XVII secolo, Rom 1999 (La corte dei Papi, Bd. 5); ferner M.-L. Rodén, Cardinal Decio Azzolini and the Problem of Papal Nepotism, in: AHP 34 (1996), S. 127-157. Rodén schließt aus dem positiven Votum selbst des Reformers Azzolini bei der Kardinalsbefragung von 16S8: „There was thus a broad consense on the role of nepotism in papal government at mid-17th century." S. 140. Zur Rolle Créquis vgl. Charles Gérin, L'Ambassade de Créquy à Rome et le traité de Pise 1662-1664, in: Revue des Questions historiques (1880), S. 5-77. BAV, Fondo Chigi CH 43, fol. 9r. BAV, Fondo Chigi C H 43, fol. 1 7r.
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Sacchetti wurde zur Untersuchung des Vorfalls eingesetzt.19 Sacchetti bemühte sich redlich, den Konflikt zu entschärfen, indem er der diplomatischen Korrespondenz mit den Franzosen einen äußerst entgegenkommenden Ton zu geben suchte.20 Auch der Dekan des Kardinalskollegiums, Giovan Carlo de Medici, bat den französischen König, sich doch mit den vom Papst angebotenen Entschuldigungen und Strafmaßnahmen zufrieden zu geben,21 und auch das Kardinalskollegium in corpore betonte in einem beschwichtigenden Schreiben an Ludwig, daß überall, besonders aber auf Seiten des Papstes Bedauern herrsche, der an nichts anderes denke, als auf welche Weise dem König Genugtuung zu verschaffen sei.22 Den gleichen Tenor enthielten schließlich die Briefe der Kardinäle Aldobrandini und Borromeo vom 18. bzw. 24. September.23 Schöne Worte, die jedoch ihre Wirkung schon deshalb verfehlen mußten, weil Ludwig XTV. fest entschlossen war, die Gelegenheit zu einer politischen Demütigung des Papsttums nicht ungenutzt zu lassen.24 Die empörten Berichte Crequis, der seine Rolle in diesem Spiel offensichtlich verinnerlicht hatte, waren deswegen in Paris hochwillkommen, auch wenn Cr6qui sich darin als nicht sehr begabter Logiker erwies: in seinem Brief vom 2. September aus Montefiascone betont er, in diese Stadt an der Grenze des Kirchenstaats gereist zu sein, weil der Papst verboten habe, Boten aus Rom herauszulassen. Wenige Zeilen weiter hat sich das Problem allerdings bereits grundsätzlich gewandelt: ständige neue Anschläge hätten ihn aus Rücksicht auf seine und des Königs Würde zum Verlassen Roms gezwungen.25 Seine Schilderung der Ereignisse stellt sie als sorgfältig geplanten Anschlag durch den Papst und seine engsten Mitarbeiter dar, die nun auch nicht die geringste Aktivität an den Tag legen würden, um die Schuldigen festzunehmen und zu bestrafen. Trotz dieser skandalösen Situation hatte es sich der Botschafter allerdings nicht nehmen lassen, noch am 24. August einen Höflichkeitsbesuch bei der Fürstin Borghese zu absolvieren.26 Kurze Zeit später trafen in Rom jene Forderungen ein, die Ludwig in seinem Brief vom 30. August angekündigt hatte, nicht stellen zu wollen. Der Schachzug, 19
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Die übrigen Mitglieder waren die Kardinäle Franciotti, Imperiali, Chigi, Farnese, Rospigliosi, Pio und Azzolini, femer der Abbate Salvetti als Sekretär, ASV, Segr. Stato, Soldati 33, fol. 152r. Gegenüber dem Kongregationssekretär Salvetti äußerte der Kardinal: Lodato il pensiero et la istanza della lettera, ardirei di mettere in consideratione l'uso delle parole più dolci et sempre lontane da ogni ombra di rimprovero, zit. nach Fosi, All'ombra (1997), S. 162. BAV, Fondo Chigi C II 43, fol. 15r/v, Brief Kardinal Giovan Carlo de Medicis an Ludwig XIV., Florenz, 15. September 1662. Ebda., fol. 16v/17r. Ebda., fol. 35r/v; 39r/v. Zu den Absichten und der Strategie Ludwigs XTV. bei der Behandlung der Korsenaffäre vgl. Charles Gérin, L'affaire des Corse 1662-1664, in: Revue des questions historiques (1871), S. 5-86. BAV, Fondo Chigi C II 43, fol. 25r-27v. ASV, Segr. Stato, Fondo Avvisi 111, Avviso di Roma vom 26. August 1662.
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III
erst jetzt mit ihnen hervorzutreten, nachdem man das Terrain diplomatisch vorbereitet hatte, war angesichts ihres Charakters wohl angebracht, ließen sie doch keinen Zweifel mehr an der Absicht des Königs, aus der Affäre politischen Profit zu schlagen. Wie sicher man sich in Paris seiner Sache war, läßt die Tatsache erkennen, daß gleich die erste Forderung des Kataloges kurz, knapp und konzis lautete: „Daß man den Forderungen der Herzöge von Parma und Modena nachgebe." Mit anderen Worten, ihnen Castro respektive Comacchio überließ, wie Frankreich und Spanien es bereits im Pyrenäenfrieden vereinbart hatten.27 Mit dem Nachgeben des Kirchenstaates in dieser Frage wäre für Frankreich unter den gegebenen Umständen ein doppelter Nutzen verbunden gewesen. Zum einen wäre das Prestige des Papstes in Italien erneut schwer erschüttert worden, zum anderen konnte man die zunehmend schwächeren und anlehnungsbedürftigen kleinen Herzogtümer der Farnese und d'Este auf diese Weise Frankreich gegenüber verpflichten und auf diese Weise den französischen Spielraum in der inneritalienischen Politik nachhaltig ausdehnen. Erst Punkt zwei der französischen Forderungen läßt sich überhaupt in Verbindung mit den Ereignissen des 20. August bringen, insofern er verlangt: „Daß man den Kardinal [Lorenzo] Imperiali seiner Ämter enthebt, und aus dem Kirchenstaat ausweist, und ihm die Kardinalswürde aberkennt (gli levi il Capello). Daß man den Herrn Mario [Chigi] aller Ämter enthebt, und ihn nach Siena schickt für sechs Jahre, noch darf man ihn zurückrufen ohne die Zustimmung des Allerchristlichsten Königs." Ging es in Punkt eins um die außenpolitische Schwächung des Kirchenstaates, so waren Entlassung und Verbannung des Kardinals Imperiali, zu dieser Zeit governatore di Roma, und Don Mario Chigis, Bruder des Papstes und Chef des Hauses Chigi, dazu geeignet, den Papst auf dem Gebiet der inneren Politik zu demütigen. Unabhängig von der Frage - die auch im folgenden nicht untersucht werden soll - , ob Imperiali und Don Mario in irgendeiner Weise an der Affare beteiligt waren, wurde von Alexander VII. verlangt, einen seiner engsten Mitarbeiter und den eigenen Bruder in aller Öffentlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen. Die Auswirkungen einer solchen Handlung sind leicht vorzustellen. Wenn der Papst nicht einmal in der Lage ist, diese nächsten Vertrauten vor dem Zorn der Franzosen zu schützen - was konnte man dann eigentlich noch von ihm erwarten? Das eingangs zitierte Spottgedicht faßt das Problem in unübertrefflicher Prägnanz zusammen:
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An den französischen Gesandten in Madrid erging denn auch folgerichtig die Weisung, die spanische Regierung zu drängen, ihrerseits gegenüber dem Papst auf der Ausfuhrung dieser Artikel des Pyrenäenfriedens zu bestehen, vgl. Pastor, Bd. XTV, 1, S. 374.
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Quid est Marius? nunc dicturus Imperialis? Rogaturus Dum vix Papa sit securus.2t Gerade das Papsttum als Wahlmonarchie mußte von einer solchen Diskreditierung seiner Führungselite empfindlich getroffen werden. Angesichts der alle paar Jahre wechselnden Herrschaft fiel es den aktuellen Inhabern der politischen Schlüsselfunktionen ohnehin schwer genug, ihre Autorität durchzusetzen, denn nach dem Tod des jeweils regierenden Papstes würden sie ersetzt werden, mit nicht geringen Aussichten, in Ungnade zu fallen.29 Von daher konnte es geradezu geraten sein, ihre Entscheidungen zu unterlaufen, um beim folgenden Pontifikat um so günstiger dazustehen. Wenn nun aber ohnehin der französische König mächtig genug war, um die Entlassung selbst der Spitzen der gegenwärtig herrschenden Klientel zu erzwingen, war es dann nicht am klügsten, sich ganz an ihn zu halten, auf seine Weisungen zu hören? Um ähnlich geartete Überlegungen bei den Einwohnern Roms und des Kirchenstaats, nicht zuletzt aber wohl auch bei den päpstlichen Söldnern in Gang zu setzen, war auch der dritte Punkt der französischen Forderungen geeignet: „Daß man die Offiziere der Korsen und 50 Soldaten an Galgen aufhänge, und die anderen im ganzen Kirchenstaat entläßt; und einen Stein errichtet zu ewigem Angedenken an diese Sache." Die Absicht, die hinter dieser für unsere Ohren recht rustikal klingenden Forderung steckt, ist dieselbe wie in Punkt zwei: die Diskreditierung des Papstes, diesmal als Oberbefehlshaber der Truppen; während aber die Entlassung Kardinal Imperialis und Don Mario Chigis eher die gesellschaftliche und kuriale Führungsschicht beeindrucken sollte, war es mit solch summarischer Gruppenexekution wohl eher darum zu tun, dem einfachen Volk einen Eindruck von der Macht des Allerchristlichsten Königs zu vermitteln. Punkt vier fordert die Einrichtung eines Immunitätsbereiches um die ausländischen Botschaften und die Exemption der famiglie der Botschafter von der päpstlichen Gerichtshoheit. Nur die Botschafter selbst und das Kardinalskollegium sollten über sie richten können: angesichts der Tatsache, daß alle größeren katholischen Staaten in Rom Botschafter unterhielten und ihre Vertretung im Kardinalskollegium hatten, eine sichere Methode, die Autorität des Papstes als Gerichtsherr wirksam zu unterhöhlen.
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BAV, Fondo Chigi C II 43, fol. 191v. Zu diesem strukturellen Grundproblem des Kirchenstaates, daß sich aus seiner doppelt einzigartigen Verfassung als geistlicher Wahlmonarchie ergab vgl. Paolo Prodi, Il sovrano pontefice. Un corpo e due anime: la monarchia papale nella prima età moderna, Bologna 1982, passim.
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Schließlich wird in einer fünften Forderung verlangt, einen Legaten nach Frankreich zum König zu schicken, der um drei Audienzen bittet. In der ersten versichert er Seine Majestät, daß der Papst an den Ereignissen keinerlei Anteil gehabt hat, in der zweiten bittet er um Vergebung für alle Verwandten des Papstes, und in der dritten för die Rückkehr Don Marios, der, för den Fall, daß sie ihm gestattet wird, dem [französischen] Botschafter drei Tagesreisen von Rom entgegenkommen und ihn begrüßen muß.30 Es dürfte deutlich geworden sein, daß die französischen Forderungen wohldurchdacht darauf abzielten, die Autorität des päpstlichen Landesherren auf allen Gebieten, die für die frühneuzeitlichen Staaten von besonderer Bedeutung waren,31 gründlich zu erschüttern: in der Außenpolitik durch das Nachgeben gegenüber Parma und Modena; in der Innenpolitik durch Entlassung und Verbannung Kardinal Imperialis und Don Mario Chigis; im Militärwesen durch
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BAV, Fondo Chigi C II 43, fol. 51 r/v: Sodisfazioni che domandono i Francesi - Risposte per parte del Papa: Che si dia sesto atti interessi dei Ser.mi Duchi di Parma, e di Modena. Che gli interessi di Modena stanno in punto d'ultimarsi, che di ciò ne ha l'incumbenza la congregatione deputata per i sudetti interessi. Che inquellli di Parma non s'è fatto in questo Pontificato altro, che dare essecutione alla determinatione di Papa Innocentio, e che essendo hora sotto il vincolo della Bolla di Pio non vi è che poterfare, ma che se al Signor Duca paresse di haver qualche motivo di ragione, sarà sentito volentieri. Che si rimova dalla Carica del Governo il Card. Imperiali, gli si dia lo sfratto dallo Stato Ecclesiastico, e gli levi il Capello. Che si privi il Sig. Mario di tutte le cariche, e si mandi relegato à Siena per sei anni, ne sì possa richiamare à Roma senza il consenso del Rè Christianissimo. Nostro Signore non vuole dichiarare rei nè Imperiali, nè il Signor Don Mario d'un delitto, che non hanno comesso, con rimuoverli, e privarli della loro Carica. Che si facciano morire su le forche gli offitiali dei Corsi con 50 soldati, et agli altri si dia lo sfratto da tutto lo stato ecclasiastico; e che si ponga una lapida ad perpetuam rei memoriam. Che si faranno morire i rei, e si darà l'Esilio a'gli altri, e che in vece della lapida si farà sopra di ciò un Breve. Che si ponga per l'Esenzione dell 'Ambasciatori il termine di Circonferenza intorno al Palazzo loro, e che la famiglia di essi Ambasciatori non deve essere soggetto al giudizio d'altri, che degli Ambasciatori medesimi e del Sacro Collegio. Che si fara tutto quello, che si userà in Francia col Nuntio, ma si pone in consideratione, che di tanta lunghezza dèsentione nè potrà resultare danno, e pregiudizio à Prencipi. Che si mandi un Legato in Francia al Rè, il quale domandi tre audienze. Nella prima Assicura Sua Maesta che il Papa non ha havuto parte alcuna nel successo, nella seconda chiede il perdono per tutti i Parenti di S. S.; e nella terza la gratia per il ritorno del Sign. Don Mario, il quale in caso gli sia conceduto, deve andare ad incontrare, e pigliare l'Ambasciatore tré giornate in distanza di Roma. Che si manderà il Legato, ma solo affine di riverire il Rè, et assicurarlo de ' buoni sentimenti del Papa verso la persona di Sua Maesta e non per altro. Eine Abschrift des Textes mit einigen leichten Abweichungen in ASV, Segr. Stato, Soldati 33, fo. 428r-430r. Vgl. hierzu W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999.
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die summarische Hinrichtung des gesamten Offizierskorps und 50 Soldaten einer in Rom stationierten Einheit;32 in der Jurisdiktion durch die Ausdehnung der Immunität für die ausländischen Botschafter und schließlich im Bereich des diplomatisch-protokollarischen Zeremoniells, dessen Bedeutung für die höfische Gesellschaft des ancien régime gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann,33 mittels der offiziellen Entschuldigungsreise eines päpstlichen Gesandten, der sich nach einem von der Gegenseite streng vorgeschriebenen Protokoll zu bewegen hatte. Die römische Reaktion auf diese Forderungen läßt erkennen, daß man an der Kurie durchaus zu moderaten Zugeständnissen bereit war. Im Falle der Ansprüche des Herzogs von Modena auf Comacchio sei die entsprechende Kardinalskongregation zuständig, was Castro betreffe, so habe man in diesem Pontifikat nichts anderes getan, als die Beschlüsse aus der Zeit Innozenz X. umzusetzen; im übrigen sei man durch die Bulle Pius V. De non infeudando daran gehindert, Castro ohne weiteres den Farnese zurückzugeben, doch sei man gerne bereit, die Argumente des Herzogs nochmals geduldig zu prüfen. Eine Entlassung Kardinal Imperialis und Don Marios käme allerdings nicht in Frage, da beide an den Vorfällen unbeteiligt gewesen seien; was die Korsen betreffe, so werde man die Schuldigen natürlich hinrichten, die übrigen entlassen und ein Breve zu dieser Angelegenheit veröffentlichen. Die Immunität der ausländischen Botschafter wolle man so handhaben, wie man es in Paris gegenüber dem päpstlichen Nuntius tue, und einen Legaten zu schicken sei man bereit, allerdings nur, um dem König seine Aufwartung zu machen und ihn des päpstlichen Wohlwollens zu versichern. Ein zweiter französischer Forderungskatalog als Reaktion auf diese Antwort des Papstes wies zwar einige Milderungen auf, blieb aber in der Substanz unverändert, ja, in einem Punkt enthielt er sogar eine Verschärfung, die in Rom besondere Verbitterung erregen mußte: an Stelle des zunächst verlangten Gedenksteins sollte es nun gleich eine Pyramide sein, die an die Vorfälle erinnerte; der Kommentar, den man an der Kurie zu den französischen Forderungen verfaßte, bemerkt hierzu, das könne man unmöglich zugestehen, denn es wäre eine große Feigheit.34
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Ein Avviso di Roma vom 21. April 1663 berichtet denn auch: Di ordine dell'Eccelentissimo Sig. Don Mario Chigi Generale dell'armi di Santa Chiesa, è stato pubblicato bando in stampa, in ordine all'impedire la fuga de Soldati sotto varie pene anco per quelli, che li alloggiaranno, ò daranno in qualsivoglia ricetto. Desertation war ein chronisches Problem frühneuzeitlicher Armeen, dennoch ist bemerkenswert, daß deswegen ein Erlaß veröffentlicht wurde und der Awiso-Schreiber ihn für mitteilenswert hält. Vgl. hierzu Stefano Andretta, Cerimoniale e diplomazia pontificia nel XVII secolo, in: M. A. Visceglia, und C. Brice (Hg.), Cérémonial e rituels à Rome (XVIe-XXe siècles), Ecole Française de Rome, Rom, Paris 1997. BAV, Fondo Chigi CII 43, fol. 52r/v.
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Während die Briefe Ludwig XTV. in ganz Europa die französische Sicht der Dinge propagierten,35 bemühte sich nun auch Alexander VII., Verbündete zu finden, die den König zur Mäßigung anhalten mochten. Es dürfte bezeichnend sein, daß er dafür lediglich die Unterstützung Christina von Schwedens gewinnen konnte, sowie unter den regierenden Fürsten der katholischen Christenheit König Johann Kasimirs von Polen, der in einem Schreiben vom 28. November 1662, nicht ganz uneigennützig, Ludwig vor einem Krieg mit dem Papst warnte: daraus zögen nur die Türken Vorteile.36 Bereits zu Beginn des Septembers 1662 besuchte der Kardinalnepot Flavio Chigi innerhalb weniger Tage den Kardinal von Aragon als Vertreter Spaniens, den Herzog von Bracciano, sowie die Botschafter der Toskana, Venedigs und Maltas,37 um Bundesgenossen zu suchen; seine Bemühungen waren vergeblich, wie sich bald zeigen sollte. Beide Seiten versuchten also, ihre Position nach Möglichkeit zu stärken, da auf dem diplomatischen Weg keine Lösung möglich erschien. In dieser Situation begann man in Rom darüber nachzudenken, wie man auf die Krise reagieren sollte. Daß die Möglichkeit eines Krieges mit der Großmacht Frankreich an der Kurie offensichtlich ins Auge gefaßt wurde, lassen nicht nur die Maßnahmen erkennen, die schon während des Winters 1662/63 in die Wege geleitet wurden, um die Festungen des Kirchenstaates in Stand zu setzen,38 sondern auch mehrere der damals an der Kurie verfaßten Denkschriften. Aufschlußreich für die Bahnen, in denen sich die Gedanken der päpstlichen Ratgeber bewegten, ist die Schrift: Riflessioni
Cattolici,
e Politici sopra VAffare dell'Anno
1663.39 Der anonyme
Autor stellt seinen Überlegungen die Feststellung voran, man müsse, um für die Gegenwart zu lernen, auf die Geschichte zurückblicken, und führt die beiden großen außenpolitischen Krisen des Kirchenstaats im 17. Jahrhundert an, um aus der Reaktion der damals regierenden Päpste seine Schlüsse im Hinblick auf das angemessene Verhalten Alexanders VII. zu ziehen: Die Auseinandersetzung Pauls V. Borghese zu Beginn des Jahrhunderts mit der Republik Venedig und der Castro-Krieg Urbans VIII. gegen den Herzog Odoardo II. Farnese. Paul V., so wird betont, habe in einer politisch und wirtschaftlich wesentlich günstigeren Position für den Kirchenstaat auf einen Krieg gegen Venedig verzichtet, obwohl
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Vgl. etwa die Briefe an die Botschafter Savoyens und Venedigs in Paris, BAV Fondo Chigi C II 43, fol. 57r-58v, oder an die Schweizer Kantone, in dem Ludwig die Eidgenossen auffordert, nicht dem Wunsch des Papstes nach Aushebung eines Regimentes von 1.600 Schweizern nachzukommen, ebd., 344r-345r, vom 26. Februar 1663. C 1143, fol. 173r-174r. ASV, Segr. Stato, Avvisi 111, fol. 140r: Avviso di Roma vom 9. September 1662. Vgl. die Berichte des Kardinallegaten Giacomo Franzoni aus Ferrara von Januar bis April 1663, in: ASV, Segr. Stato, Soldati 33, fol. 263r-291r; ein Kostenvoranschlag für in Ferrara anzulegende neue Wallanlagen vom 11. Februar 1663 ebd., fol. 276r. BAV, Fondo Chigi C II 43, fol. 146v-164v.
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es in den Streitpunkten um religiöse Fragen gegangen war.40 Um wieviel mehr müsste Seine Heiligkeit unser Herr Alexander VII. in einer rein weltlichen Angelegenheit, wo doch zudem die Staatskassen wirklich leer sind und der ganze Staat bis zu einem Punkt beschwert ist, daß er die [Steuer]/asi nicht mehr tragen kann und man nicht auf die Unterstützung irgendeines Fürsten hoffen kann in der gegenwärtigen Affäre dem König von Frankreich jene Genugtuungen gewähren, die er so dringend verlangt.*1 Frankreich sei zur Zeit die stärkste Macht der Christenheit, Spanien dagegen geschwächt und vor allem wenig geneigt, sich für den Papst zu engagieren. Aber selbst wenn es gelänge, Spanien zu einem Bündnis zu bewegen, würde das lediglich einen Krieg um der Kirche willen zur Folge haben, die stets für den Frieden beten lasse - welche Freude für die Häretiker und die Türken! Demgegenüber wird nochmals an den Borghese-Papst erinnert: Es ist wahr, daß der Kompromiß Pauls V. in der Sache nicht gelobt wurde, aber welche Segnungen zeitigte er später, als sich die Folge größter Ruhe einstellte und eines Überflusses an allen Lebensmitteln, so daß sein Pontifikat mit gutem Grund das goldene Zeitalter genannt wurde.42 Auf der anderen Seite habe man doch noch frisch genug die Erinnerung an die katastrophalen Folgen des Castro-Krieges im Kopf. Das Resultat aller vernünftigen Überlegungen könne nur das Ergebnis haben, dem Papst dringend zum Nachgeben zu raten. Alexander VII. dachte über diese Frage freilich zunächst anders. In einem Brief an Ludwig XIV. äußerte er seine Enttäuschung darüber, daß der König mit den von ihm veranlaßten Maßnahmen immer noch nicht zufrieden sei, darunter die Entlassung und Verbannung Imperialis (gewissermaßen dem schwächsten Glied in der kurialen Führungskette), der nun in Genua darauf warte, vom König zur Audienz nach Paris befohlen zu werden.43 Man sei sogar bereit, einen Prozeß 40
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Daß diese religiösen Streitfragen nur die eine Seite des Konfliktes mit Venedig waren, und womöglich nicht einmal die realiter wichtigere, betont zu recht Prodi, Il sovrano pontefice (1982), S. 326f. BAV, Fondo Chigi C II 43, fol. 156v: Quanto più dovrebbe la Santità di Nostro Signore Alessandro VII. in una causa meramente profana quando l'Errano Apostolico è affatto esausto e tutto lo stato aggravato a segno che non può più assistere a tutti i pesi e quando non si può compromettere dell'assistenza di alcun Prencipe cedere ne gli affari correnti al Rè di Francia quelle sodisfattioni che con tanti impegni domanda? Ebd.: Non fu applaudito è vero l'accordo di Paolo nel punto istesso, che si concluse, ma quali benedittioni non ne riportò dopo, che ne fumo privati gli effetti di una tranquililità immensa di una abbondanza di tutti li viveri di un bene universale, si ché il suo Pontificato fu chiamato con ogni ragione il secolo d'oro. 157r. Noch in Rom hatte Imperiali am 20. November einen Brief an Ludwig XIV. verfasst, in dem er nachdrücklich seine Unschuld beteuert und um Audienz bittet [...] a ratificarle la mia ossequionissima devotione [...], ASV, Segr. Stato, Soldati 33, fol. 235r; kurz darauf machte er seine Abschiedsvisiten, vgl. den Avviso di Roma vom 25. November 1662, in: ASV, Segr. Stato, Avvisi 111, fol. 184r: Il Sig. Cardinal Imperiali stà facendo le visite del Sacro Collegio, e Corte, per passarsene a Genoa per suoi particolari affari[\~\.
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gegen den Kardinal anzustrengen und ihn gegebenenfalls zu verurteilen. Der Schlußsatz des Schreibens enthielt dann eine sorgfältig verklausulierte Warnung vor dem göttlichen Zorn: Er, Alexander VII., habe mit Bedauern vom Tod der Tochter des Königs gehört, und bitte Gott, daß er Eure Person, und das Haus Eurer Majestät mit all jenem Wachstum bedenke, von dem wir sicher sind, daß ihr Euch seiner in immer größerem Maße würdig erweisen werdet,44 indem er sich, mit seinen Vorfahren wetteifernd, als treuer und folgsamer Sohn der Heiligen Kirche auszeichne. Währenddessen bemühte sich der päpstliche Nuntius Carlo Bonelli in Madrid darum, den spanischen König Philipp IV. zu einem Bündnis gegen Frankreich zu überreden.45 Wahrlich keine leichte Aufgabe unter den gegebenen Umständen, so daß auch ein geschickterer Unterhändler wohl kaum Erfolg gehabt hätte. Bonelli allerdings ging seinen Auftrag mit besonderer Unbeholfenheit an; schon die einleitende Bemerkung seines Vortrags, der Widerstand des Papstes gegen die Erfüllung der französischen Forderungen gründe vor allem auf der Einsicht, daß dahinter die Absicht stehe, Spanien zu demütigen, dürfte auf Seiten der Spanier eher Widerwillen gegen eine solche Verdrehung der offensichtlichen Sachverhalte erregt haben. Die französischen Rüstungen, so der Nuntius weiter, ließen keinen anderen Schluß zu, als daß sie [...] siano semplicemente contro la [Chiesa, gestrichen!] Cosa Chigi per ottenere la riparatione della pretesta Ingiuria da Don Mario (secondo dicono) ricevuta,46 Nachdem auf diese Weise überaus schlagend bewiesen war, daß Ludwig einen Krieg gegen Don Mario Chigi vom Zaun brechen wolle, fragte der Nuntius, rhetorisch wirksam, über welche Land- und Seestreitkräfte die Casa Chigi im Vergleich zu Frankreich verfüge? Es müsse doch geradezu lächerlich erscheinen, wenn eine Großmacht wie Frankreich nach den gerade glücklich beendeten langen Kriegen gegen eine Privatperson, die 44 45
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BAV, Fondo Chigi C II 43, fol. 177r-179r: Copia della Lettera scritta da S. S.tà al Re di Francia, 27. Januar 1663. Discorso di Monsignore Bonelli Nuntio Apostolico in Madrid fatto al Rè Cattolico (...) sopra la Lega proposta dal Papa alla Maestà Cattolica contro la Francia, tradotto dal Spagnolo con la sua Risposta, in: BAV, Fondo Chigi CII43, fol. 206r-257v; eine weitere Abschrift in Vat. lat. 13409, fol. 203r-218r. Bonelli, Neffe Kardinal Imperialis, war bereits Anfang 1657 als außerordentlicher Nuntius in Spanien eingetroffen und hatte sehr bald nach seiner Ankunft diplomatischen Konfliktstoff geschaffen, indem er den bisherigen ordentlichen Nuntius De Massimi zur unverzüglichen Rückkehr nach Rom aufforderte, ohne die spanische Krone davon in Kenntnis gesetzt zu haben, vgl. Georg Lutz, s. v. Bonelli, Carlo, in: DBI. Daß Bonelli nicht viel mehr als eine willenlose Marionette in den Händen seines Onkels Imperiali war, betont auch Gregorio Leti, Il Cardinalismo di Santa Chiesa, 3 Bde., o. O., 1668, Bd. II, S. 296f.: [Bonelli] particolarmente ha un gran difetto, ed è che si lascia volentieri tirar per naso, nelle cose di gran conseguenza; ed al contrario nelle leggiere, e di niun sostanza, s'indura a segno che cinquanta para di Bovi non possono rimoverlo. Bemerkenswerterweise enthält die Inschrift auf Bonellis Grabmal in S. Maria sopra Minerva den ausdrücklichen Hinweise auf seine so wenig erfolgreiche Nuntiatur am spanischen Hof. BAY, Fondo Chigi CD 43, fol. 210v.
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nichts anderes von Bedeutung besitzt als die Huld des Papstes antrete.47 Und wenn sie erst den Kirchenstaat(!) gedemütigt hätten, würden die Franzosen weiter gehen, womit Bonelli auf die Gefährdung der spanischen Besitzungen in Italien anspielte. Nach dieser etwas verworrenen Einleitung kam der Nuntius zum Kernpunkt seiner Ausführungen: Dem Angebot einer Confederatione strettissima mit Spanien zum Schutze des Heiligen Stuhls, wobei alle Macht und aller Einfluß des Kirchenstaates zum Schutz der spanischen Besitzungen in Italien zur Verfügung gestellt würden.48 Bei Abschluß eines solchen Bündnisses habe der französische König immer noch die Möglichkeit, sich mit den ihm vom Papst angebotenen Genugtuungen zufrieden zu geben. Bestehe er dagegen weiterhin auf seinen maßlosen Forderungen, werde er im Falle eines Krieges die öffentliche Meinung ganz Europas gegen sich haben. Darüber hinaus, so Bonelli weiter, biete die Confederatione eine Reihe von Vorteilen für die spanische Krone. Zunächst und vor allem könne auf diese Weise der beabsichtigten französischen Expansion in Italien ein Riegel vorgeschoben werden. Zweitens hindere das Bündnis zwischen Spanien und dem Papst Ludwig XIV. an seinem geplanten Krieg gegen den Kaiser, dem dadurch der Rücken für den Türkenkrieg freigehalten werde. Schließlich sei der Papst bereit, nicht nur die Privilegien der französischen Kirchen auf Spanien zu übertragen, sondern biete dem König auch noch den überaus ehrenvollen Titel eine Prottetore della Chiesa an. Es war also wahrlich nicht viel, was der Nuntius Bonelli im Auftrag Alexanders VII. den Spaniern versprechen konnte, um sie, kaum drei Jahre nach Abschluß des Pyrenäenfriedens, der das Ende der spanischen Großmachtstellung endgültig besiegelt hatte, zur Wiederaufnahme des risikoreichen, wenn nicht hoffnungslosen Krieges gegen Frankreich zu bewegen; und es war deswegen absehbar, daß das päpstliche Angebot - wenn man nicht besser von einem Hilferuf sprechen will - abgelehnt werden würde. Als jedoch Don Stefano di Gamarra mit seiner Antwort für den König begann, wurde rasch deutlich, daß es nicht bei der Ablehnung eines Angebotes von sehr zweifelhafter Güte bleiben würde, sondern die spanische Krone gesonnen war, ihrerseits dem Papst eine Belehrung über seine realen politischen Möglichkeiten zuteil werden zu lassen. Don Stefano ging dabei so weit, schon zu Beginn seiner Rede die Satisfaktions-Forderungen Ludwigs XTV. als völlig berechtigt, ja, sogar ziemlich mild (piuttosto leggere) zu bezeichnen, um sodann in seiner Rekapitulation der Ereignisse fast vollständig die französische Darstellung zu übernehmen, einschließlich der Ansicht, die
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Ebd.: [...] una Persona privata, la quale non possiede altro considerabile se non la buona gratia del Papa. Ebd: [...] ofrendogli tutte le forze, e faccoltà dello Stato Ecclesiastico per la conservatione delli suoi Stati d'Italia.
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Übergriffe der Korsen seien von Don Mario befohlen und vom Papst gebilligt worden. An eine Liga mit dem Kirchenstaat sei nicht zu denken, erstens, weil der Frieden unbedingt nötig sei, und zweitens, weil der Kirchenstaat gar nicht bedroht werde; der französische König lasse deutlich erkennen, daß er sich ausschließlich gegen die Casa Chigi wende, die er aber nun einmal nur über den Kirchenstaat treffen könne, da sie „im Schatten des Papstes und umgeben von seinen Garden" sei.49 Zukünftige Papstverwandte mögen daraus lernen, so der spanische Aristokrat. Bereits hier wird deutlich, wie sehr der Nepotismus als Strukturmerkmal der päpstlichen Herrschaftsorganisation nicht nur innerhalb des Kirchenstaates, sondern auch an den Höfen der katholischen Staaten Europas in die Kritik geraten war; doch führte Don Stefano diesen Punkt noch deutlicher aus. Nachdem er dargelegt hatte, in welchem Maße die Einschätzungen des Nuntius im Hinblick auf die politische Lage verfehlt seien und auch die Angebote des Papstes seinen König kaum befriedigen könnten, kam er zu folgenden Schlüssen: Die spanische Krone werde sich mit allem Nachdruck dafür einsetzen, daß Ludwigs XIV. Forderungen erfüllt würden; nur im Hinblick auf die Bestrafung des Kardinals Imperiali seien einige Mäßigungen zu befürworten. Spanien sei jederzeit bereit, die Kirche und ihr Oberhaupt zu schützen, nicht jedoch Don Mario, der weder zur Kirche gehört, noch ihr dient, sondern nur der Bruder des Papstes ist, und die Kirche hat weder Interesse an ihm, noch ist sie zu seiner Verteidigung und seinem Schutz verpflichtet, und wenn sie diesen gewährt, dann ungerechtfertigterweise, so daß der Allerchristlichste König Recht haben wird und allen Grund, den Kirchenstaat als Feind zu behandeln [...].50 Unter den nicht eben wenigen Niederlagen und Demütigungen, die päpstliche Diplomaten im Laufe des 17. Jahrhunderts erfahren haben, dürfte diese Rede eines Vertreters der spanischen Krone eine besonders schwarze Stunde markieren. Bonelli reagierte entsprechend bitter: Nachdem Don Stefano seinen Vortrag beendet hatte, sagte ihm der Nuntius, er habe eher wie ein guter Franzose gesprochen, als wie ein guter Spanier, was Don Stefano zu der Replik veranlaßte, der Nuntius seinerseits habe eher als guter Türke gesprochen, denn als guter Priester, da er die Zerstörung der Kirche vorgeschlagen hat.51 Er, Don Stefano, sei ohne weiteres bereit, seine Rede 49
Ebd.: [...] sotto l'ombra del Papa, e circondata dalle sue Guardie [...]. Ebd., fol. 253v: [...] detto Mario non essendo, nè appartenenza, ne dependenza della Chiesa, benche sia fratello del Papa, e la Chiesa non havendo interesse in lui ella non è obligata di pigliare la sua difesa, e protettione, e se lo farà, ingiustamente, et il Rè Christianissimo haverà retta, e legittima ragione di trattare lo Stato Ecclesiastico da Nemico [...]. 51 Ebd., fol. 257r: Finito il discorso Don Stefano, Monsignor Nuntio, gli disse, che haveva parlato più tosto, come buon francese, che come buon spagnolo, al che Don Stefano rispose, che sua signoria ancora haveva parlato più tosto come buon Turco, che come buon Prete, havendo proposto la distruttione della Chiesa [...]. Trotz dieses Debakels unternahm Bonelli einige 50
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drucken zu lassen, damit sich die Öffentlichkeit ein Bild von den Verhandlungen machen könne, wenn denn der Nuntius genug Mut habe, auch seine Vorschläge zu veröffentlichen. An diesem Punkte griff Philipp IV. ein, der befahl, die Angelegenheit mit äußerster Zurückhaltung zu behandeln. Die glatte Absage, die der Vertreter des Papstes unter Verzicht auf alle zeitüblichen Höflichkeitsformen erhielt, ist besonders interessant in ihrer unverhüllten Kritik des Nepotismus. Zweifellos war die Berufung auf die Trennung zwischen der Kirche und ihrem Oberhaupt einerseits, den Verwandten Alexanders andererseits eine bequeme Lösung für das krisengeschüttelte Spanien, das sich zu allem Überfluß auch noch in einem aufreibenden Krieg gegen die portugiesischen Unabhängigkeitsbestrebungen befand, um einem hoffnungslosen Konflikt mit Frankreich aus dem Weg zu gehen. Bemerkenswert ist aber vor allem, daß diese Argumentationsebene überhaupt zur Verfügung stand, der Nepotismus also auch in Spanien nicht mehr als gewissermaßen natürliches Phänomen betrachtet wurde, sondern als ein Problem. Den Nepoten, bisher wichtige Ansprechpartner für die Botschafter der katholischen Staaten Europas, wird in der Krise der Jahre 1662/64 zum ersten Mal, soweit ich sehe, implizit ihre Existenzberechtigung bestritten, und zwar auch von spanischer Seite, die gegen die Franzosen auszuspielen es dem Papsttum bis zu diesem Zeitpunkt in aller Regel noch ermöglicht hatte, eine politische Bedeutung vorzutäuschen, die es seinen tatsächlichen Möglichkeiten nach längst nicht mehr hatte. Die diplomatische Niederlage hinter den Kulissen des spanischen Hofes fand bald auch ihren öffentlich-demonstrativen Ausdruck: Anläßlich des mit großem Pomp begangenen Festes des Heiligen Ludwig von Frankreich erschien der spanische Kardinal von Aragon, um an der feierlichen Messe in San Luigi dei Francesi teilzunehmen. Eine politische Geste, die an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig ließ.52 War man in Spanien nicht bereit, sich für den Papst respektive seine Familie ernsthaft zu engagieren, so herrschte in Frankreich gegenüber dem Gegner nurmehr grenzenlose Verachtung. Der Verschleppungstaktik, die Alexander VII. in den Verhandlungen des Jahres 1663 anwandte, war es zu verdanken, daß der zunehmend gereizte Ludwig XIV. seinen Kriegsrat einberufen ließ, um über einen Feldzug nach Italien zu beraten. Die Stellungnahme des Marschalls Turenne ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Es gäbe Wichtigeres zu tun, als sich mit dem Kirchenstaat zu schlagen, und [...] es ist unter der Würde des Löwen sein Auge zu bewegen, oder gar die Krallen zu zeigen gegenüber einem Hündchen. [...]
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Zeit später nochmals den Versuch, die Spanier zu einem Bündnis zu bewegen, vgl. die „Replica fatta dal Nuntio di Spagna al Re Cattolico, per ordine di S. S. intorno la Lega, e Pace con Portogallo", fol. 261r-282v. Vgl. den Avviso di Roma vom 1. September 1663, in: ASV, Segr. Stato 112, fol. 138: [...] essendo detta Chiesa (San Luigi) stata visitata da alcuni Eminentissimi, et in particolare dall'Em.mo d'Aragona.
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Wenn man die Waffen bewegt, und sogar benutzt gegen einen einfachen Edelmann, um nicht zu sagen gegen einen einfachen Bürger Sienas, wer sähe da nicht, daß dies bedeuten würde, das Haus Chigi so zu behandeln wie das Haus Habsburg? und eine Erhebung Don Marios zum Rang eines Monarchen, oder die Herabwürdigung des Königs auf die Stufe eines Privatmannes?53 Man tue, so Turenne, den Chigi mit einem Krieg einfach zu viel Ehre an, den sie im übrigen nur dazu benutzen würden, um sich zu bereichern. Das Geld, das aus dem ohnehin schon erschöpften Kirchenstaat im Falle eines Krieges herausgepreßt werde, bleibe doch zum größten Teil der Familie Chigi.54 Die Abneigung des Marschalls gegen den Italienfeldzug setzte sich durch. Obwohl die Diplomatie Ludwig XTV. für seine Truppen das Durchzugsrecht durch Mailand, Venedig und Florenz erlangt hatte, beschränkte er sich darauf, am 27. Juli 1663 die päpstliche Exklave Avignon besetzen zu lassen.55 Die Verhandlungen stockten, obwohl sich Philipp IV. von Spanien um Ausgleich bemühte, da er aus naheliegenden Gründen an einem Krieg in Italien und dem daraus mit Gewißheit folgenden größeren Einfluß Frankreichs auf der ApenninenHalbinsel nicht im mindesten interessiert war. Unter diesen Umständen wurde die Situation Alexanders VII. immer bedrohlicher. In Frankreich stand ein Heer von etwa 20 000 Mann bereit, das ohne Widerstand die oberitalienischen Territorien würde durchqueren können. Bundesgenossen waren nicht zu finden, und der wirtschaftlich erschöpfte Kirchenstaat allein war nicht entfernt in der Lage, den französischen Truppen ernsthaften Widerstand zu leisten. Fast tragikomisch wirkt deswegen eine Denkschrift, in der die anzuwendende militärische Strategie zum Schutz des Kirchenstaats erörtert wurde,56 und die höchst überflüssigerweise dringend zur Defensive rät. Wünschenswert wäre zunächst ein Entlastungsangriff durch den Herzog von Lothringen - mit dem allerdings keinerlei Bündnis bestand weiterhin sei Ferrara zu befestigen und mit je 2 000 Schweizern, italienischen 53
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BAV, Fondo Chigi C II 43, fol. 310r-317v: Consulto del S. Maresciallo di Turena nell 'Assemblea di guerra tenuta dal Rè di Francia circa li correnti affari di Roma', fol. 315v: [...] si sdegna il Leone di volger l'occhio, non che di muover le unghie verso il vii cagnolo [...]. Avanti a movere, et a dirsi bene impiegare l'armi contro la casa di semplice Gentilhuomo per non dir semplice Cittadino di Siena, chi non vede che questo è un qualificar la Casa Chigi al paro di quella d'Austria? et un avanzare Don Mario alla conditione di Monarca, o abbassare il Re a quello di privato ? Ebd., fol. 317r: [...] che per la neccessitosa guerra difensiva dello Stato Ecclesiastico, sarà necessario smongere dall hormai esangue Cadavere del Popolo soggetto alla Sede Apostolica è certo che la maggiorparte restarà in Casa Chigi con titolo legitimo di dovitiosi sipendij dovuti alle cariche militari [...]. Zur Besetzung Avignons vgl. die „Relatione di quanto è successo per la riunione della Città, e Contado d'Avignone alla Corona di Francia scritta d'Avignone li 29 luglio 1663, in: BAV, Fondo Chigi CII43, fol. 472r-477v. Ebd., fol. 358r-366v: Discorso della Guerra, che si tiene possa havere la Santità di Nostro Signore Papa Alessandro VII° con il Re Christianissimo.
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Söldnern und Einwohnermiliz zu besetzen; ebenso sei in der Fortezza Urbana bei Castelfranco (Bologna) zu verfahren. Das Hauptheer, bestehend aus stolzen 16 000 Mann Infanterie und 4 000 Berittenen wäre am besten in der Nähe Bolognas zu postieren, ein zweites, fast ebenso starkes Armeekorps solle zur Deckung der Küste aufgestellt werden. Auf diese Weise könne man den Nachschub der Franzosen bedrohen; zögen sie auf Rom, so befänden sie sich in sehr bedenklicher Stellung zwischen den beiden Armeekorps. Woher der Papst die über 40 000 Soldaten nehmen sollte, und wie sie angesichts der ohnehin schon zerrütteten päpstlichen Finanzen zu bezahlen wären, erfahren wir leider nicht. Gegenüber solchen irrealen Gedankenspielen rieten alle ernst gemeinten Vorschläge Alexander dringend dazu, den Frieden zu wahren, etwa der Giulio Sacchetti zugeschriebene Brief, den der todkranke Kardinal vom Sterbebett aus verfaßt haben soll.57 Der Papst wird darin ausdrücklich davor gewarnt, sich in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit einem weltlichen Machthaber nach dem Vorbild seiner mittelalterlichen Vorgänger auf dem Stuhl Petri zu verhalten, denn er sei allein, gegen einen außerordentlich mächtigen Herrscher, siegreich, wohlhabend, glücklich und der sich angegriffen föhlt,58 Nicht nur bestehe keine Aussicht, mächtige Bundesgenossen zu finden, die Kassen seien leer und Einwohner des Kirchenstaates vom Steuerdruck schon jetzt erschöpft und unzufrieden. Noch deutlicher sprach die Denkschrift eines gewissen Signor Francesco Medoca die bittere Wahrheit aus: Es sei einfach hoffnungslos, gegen die auf allen Gebieten überlegenen Franzosen Krieg zu führen. Nach langen Gedankenspielen über den möglichen Verlauf dieses Krieges kommt der Autor zu dem Schluß: Frieden brauchen wir, und nur Frieden, doch wie ist er zu bekommen? Machen wir uns auf, die Mittel zu suchen,59 die dann, kaum überraschend, im Nachgeben des Papstes gefunden werden. Weitere Reflexionen gestatten es Medoca am Ende seines Traktates sogar, Alexander VII. ein Feigenblatt zur Bemäntelung dieser Kapitulation vorzuschlagen: schließlich würden Beispiele aus der römischen Geschichte belegen, daß ein solches Verhalten nicht feige, sondern klug sei. Der an den Papst gerichtete Rat, den französischen Forderungen nachzugeben und den Einwohnern des Kirchenstaats einen sinnlosen Krieg zu ersparen ist das eine; darüber hinaus findet sich in den zeitgenössischen Kommentaren zur Korsenaffäre auch immer wieder die Frage nach den Ursachen des Konfliktes. Dabei sind zwei Erklärungsmodelle, mitunter kombiniert, auszumachen: einerseits 57
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Die „Lettera scritta dal card. Sacchetti al Papa poco avanti della sua morte" abgedruckt in: Pieter A. J. N. Rietbergen, Pausen, Prelaten, Bureucraten. Aspecten van de geschiedenis van het Pausschap en de Pauselijke Staat in de 17e Eeuw., Nijmwegen 1983, S. 41-50. Ebd., S. 42: Vostra Beatitudine è sola contro un monarca potentissimo, vittorioso, ricco, fortunato e che si sente offeso. BAV, Fondo Chigi C II43, fol. 392r-448v: „La Pace necessaria. Discorso politico del Signor Francesco Medoca"; die zitierte Stelle fol. 427r: Pace conviene e sola pace, ma come potrà haversi questa? Andiamo a cercarne i mezzi.
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wird der französische Hochmut, die beabsichtigte Provokation des Skandals und seine politische Ausnutzung60 durch Ludwig XIV. und seine Minister angeklagt, andererseits gibt es Stimmen, die darin allenfalls die eine Seite der Medaille sehen. Wenn die Franzosen die augenblickliche Situation für ihre Zwecke ausbeuteten, so sei man in Rom daran nicht schuldlos, da man ihnen den Vorwand geliefert habe. Dafür aber sei die kuriale Führungsspitze verantwortlich, und in besonderem Maße die Verwandten des Papstes, so ließe sich eine Sicht der Dinge zusammenfassen, wie sie am prononciertesten und in ihrer unverhüllten Nepotismuskritik am radikalsten in der anonymen Schrift La Verità svelata ne ' correnti disturbi del Duca di Crequì, Ambasciatore di Francia61 entwickelt wird. Der Autor beklagt darin zunächst, daß der Papst von seinen Verwandten bewußt falsch informiert werde und aus diesem Grund keinen Einblick in den beklagenswerten - Zustand des Kirchenstaates habe.62 Sicherlich sei das Verhältnis Alexanders VII. zur französischen Krone von Anfang an belastet gewesen, und als Ludwig XIV. schließlich mit dem Due de Crequi einen Botschafter schickte, habe der den Papst sogleich erbittert, indem er entgegen dem Herkommen den Antrittsbesuch bei den Verwandten unterlassen habe. An dieser Stelle betont der Autor, nach dem Urteil vieler sei diese Verbitterung ein Skandal (und nicht das Verhalten Crequis!); man sehe heute (...) allzu eng vermischt das Geistliche mit dem kurzfristig Weltlichen [temporale temporaneo, womit die Nepoten gemeint sind], das in seinem Bestreben, mit den größten Mächten Europas zu wetteifern beweist, daß es sich keine Gedanken macht über den
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Beispiele für derartige Stellungnahmen bieten etwa der „Disinganno di Roma affascinata delle male passioni nel fatto seguito fra li Corsi e Francesi", in: BAV, Fondo Chigi C II 43, fol. 105r-119v, oder, ebd., fol. 332r-335r: Discolpa de Ministri del Papa sopra l'accidente del 20 Agosto trà li Corsi e Francesi, in dem die Vorwürfe der Franzosen systematisch aufgelistet und Punkt für Punkt zurückgewiesen werden. Ebd., fol. 318r-320v. Ebd., fol. 319r: Si rende veramente compassionevole lo stato di un Pontefice, quando egli è circondato da Parenti, poiché ristretto in quattro mure, tenuto lontano dalle audienze privato, non che publiche, tanto necessarie per ben governare, bene spesso sinistramente informato, non può, se non considerarsi prigioniero dei suoi, che preferendo la cura della salute privata, et ipropij interessi a quelli del Pubblico, et all'osservanza del Pasce oves meas ardiscono ancora di chiudere con le loro preghiere la bocca agli Ambasciatori per nascondere con interessato zelo al Pastore il bisogno delle sue pecorelle, et il vero stato degli affari, privandolo in questa forma di quelle notitie, che ben usate potrebbono tanto contribuire alla gloria del Pontificato. Der Vorwurf, der Papst lasse sich von seinen Verwandten von der Außenwelt abschotten und habe kaum mehr Einblick in die realen Verhältnisse ist kein Einzelfall. Auch der Kardinal Sacchetti zugeschriebene Brief enthält die Bitte an Alexander, er solle nicht [...] lasciarsi restringere frà quattro mure, e tenere lontana dalle notizie dell'occorrenze del suo stato, e de bisogni de suoi suditti, perche in un Prencipe questo è il sommo de mali, in: BAV, Fondo Chigi CII44, fol. 82v.
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unsicheren Ausgang der Komödie.61 In diesem Satz ist ein Kernproblem des Kirchenstaats, die Überschätzung des eigenen politischen Gewichtes in seiner nepotismusspezifischen Ausprägung prägnant formuliert: Die Gewohnheit, sich selbst für die Dauer des Pontifikates des päpstlichen Onkels als Angehörige eines regierenden europäischen Herrscherhauses zu betrachten war durch Herkommen und Tradition sanktioniert.64 Nach diesem Selbstverständnis gehörte es zu den Aufgaben eines Botschafters, seinen Antrittsbesuch bei den weltlichen Verwandten des Papstes zu machen, wie es seinerseits auch der päpstliche Nuntius etwa bei den engeren Verwandten des französischen Königs handhabte. Die politisch-gesellschaftliche Realität in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mußte freilich ein solches Selbstverständnis der Nepoten immer mehr ins Zentrum der Kritik rücken. Angesichts der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Schwäche des Kirchenstaates, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts immer unübersehbarer geworden war, zeigte man in Paris, aber auch, wie gesehen, zur gleichen Zeit sogar in Madrid, keine Bereitschaft mehr, die Familie des gerade regierenden Papstes als prinzipiell sozial gleichrangig anzusehen. Dieser außenpolitische Prestigeverlust war natürlich für die Nepoten bitter, zumal er auch höchst negative Rückwirkungen auf ihre Position innerhalb der römischen Gesellschaft haben mußte. Hier hatte die Notwendigkeit, alle paar Jahre eine neue Nepotengeneration ausstatten zu müssen, bereits zu einer grundsätzlichen Kritik des Phänomens geführt.65 Eben das inzwischen als hypertrophiert erscheinende Selbstverständnis der päpstlichen Verwandten und die daraus resultierende Notwendigkeit, sie mit den wirtschaftlichen Mitteln auszustatten, wie sie einem Fürstenhause zukamen, hatte in wesentlichem Maße zur Zerrüttung der päpstlichen Finanzen beigetragen; kein Wunder also, wenn man mit der von außen kommenden Zurückstutzung des Anspruches der Familie Chigi in Rom sehr einverstanden war. Der Autor der Verità svelata jedenfalls verkennt nicht, daß die Verwandten Alexanders an der weiteren Eskalation der Ereignisse durchaus ihren Anteil hatten. Nachdem Crequi schließlich doch zumindest die Frauen von Don Mario und dessen Neffen Don Agostino Chigi gleich zweimal besucht habe, hätten diese geglaubt, immer noch auf einen Gegenbesuch verzichten zu können; am 20. August schließlich habe man nichts getan, um sein Bedauern zu zeigen oder gar durchzugreifen, im Gegenteil hätten sich Don Mario und Kardinal Imperiali nach dem Attentat gewissermaßen gratuliert, als hätte man einen Sieg über die Türken errungen.
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BAV, Fondo Chigi C II 43, fol. 320v: [...] troppo strettamente confondere lo spirituale con un temporale temporaneo, quale nel pretendere di competere con le maggiori potenze di Europa mostra di non riflettere all'incerto termine della Comedia [...]. Vgl. Renata Ago, Carriere e clientele nella Roma barocca, Roma-Bari 1990, S. 67f. Vgl. Wolfgang Reinhard, Nepotismus. Der Funktionswandel einer papstgeschichtlichen Konstante, in: Zeitschrift fur Kirchengeschichte 86 (1975), S. 145-185.
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Das alles klingt plausibel; unwillig, sich in den Bedeutungsverlust des Kirchenstaates zu fügen und die Konsequenzen daraus zu ziehen, fühlte man sich im Umfeld des Papstes vom Verhalten der Franzosen zweifellos provoziert, und hatte damit ja nicht einmal unrecht. Nur gestatteten es eben die Verhältnisse nicht mehr, in einer ebenfalls provozierenden Weise zu reagieren; wie verhaßt sich die Chigi nicht zuletzt durch diese Fehleinschätzung ihrer tatsächlichen Position gemacht hatten, läßt der Verfasser der Verità svelata erkennen, wenn er die Forderungen Ludwigs XIV. aufzählt, darunter [...] die Entfernung Don Marios, über die die Stadt Rom in höchstem Maße jubelte.66 Eine andere, ebenfalls anonyme Schrift mit dem schlichten Titel Consiglio Politico al Papa nelli presenti tempi bringt ebenfalls den Nepotismus mit dem drohenden Krieg gegen Frankreich in Verbindung, allerdings in gänzlich anderer Manier. Sie entwickelt eine extreme Nepotismus-Apologie, um den Papst zum Einlenken zu bringen. Dem Autor zufolge dürfe das Interesse des Papstes am Staat nicht über die Erhebung der eigenen Familie hinausgehen, denn: Seine Herrschaft wird nicht vererbt, deshalb muß er den Verwandten die Menge jener Besitztümer erhalten, die er nur verwaltet; sterben die Päpste, so sind ihre Nachfolger häufig Feinde ihres Namens [des Vorgängers], feindlich in ihren Handlungen und Zerstörer ihres Ruhmes [...]. Die Herrschaft eines Papstes ist also nicht diejenige zu seinen Lebzeiten, sondern das, was nach seinem Tode bleibt; seine Macht, solange er lebt, nichts anderes als die Hand, die den Samen sät für jenes Glück, das eine reiche Ernte bringt auf der Asche seines Grabes.61 Unter diesen Umständen ist ein Krieg, der vor allem auf die Casa Chigi zurückfallen würde, unbedingt zu vermeiden. Sieht man von der Möglichkeit ab, daß es sich bei der Schrift um eine Satire handelt, so bleibt als Erklärung für diese Ausführungen, die in rein pragmatischer Weise argumentierend alle ideologischen Fundamente des päpstlichen Selbstverständnisses außer Acht lassen, nur, daß hier ein Kriegsgegner, aus durchaus begründeter Besorgnis um den Frieden, einen auf die Spitze getriebenen Appell an den Familiensinn Alexanders VII. richtet. Die Krise des Phänomens 'Nepotismus' als einem bisher integralen Element päpstlicher Herrschaftsorganisation geht im übrigen aus einer solchen Argumentation nicht weniger klar hervor, als aus der schärfsten Kritik. Es zeigt sich nämlich, daß die Verwandtenforderung dem Autor nicht mehr - auch nicht in idealisierter Form 66
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BAV, Fondo Chigi C II43, fol. 326r/v: L'allontanamento di Don Mario, di che sommamente giubilava la Città di Roma. Ebd., fol. 167r-169r: L'interesse di stato di un Pontefice non deve dilatarsi fuori dei confini della propria Casa; il suo Principato non e di successione, onde debba conservare ai Parenti la vastità di quei possessi, de ' quali egli e semplice amministratore; Muorono i Papi, e gli altri gli succedono bene spesso inimici del suo nome, avversi nelle sue azioni e destruttori della sua gloria.[...] Il Principato dunque d'un Papa non è quello del suo vivere, ma quello, che resto doppo la sua morte; la sua vivente autorità non è altro, che la mano, che sparge il seme di quella fortuna, che tocca la sua fruttuosa messe nelle sue Ceneri del suo sepolcro.
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als eine Maßnahme zur Gewährleistung der 'guten Herrschaft' erscheint, sondern als reiner Selbstzweck, den unser Autor zwar (vermutlich aus taktischen Gründen) gut heißt. Dennoch dürfte ihm, wie jedem denkenden Menschen klar gewesen sein, daß eine solche Reduktion des Papstamtes auf eine Versorgungsinstitution zur Familienforderung für niemanden, am wenigsten die Päpste selbst akzeptabel sein konnte. Mit anderen Worten: indem der Consiglio politico deutlich macht, bis zu welchem Punkt die gedankliche Isolierung der Verwandtenförderung aus dem sie einbettenden Kontext sozialer und politischer Normen68 zu dieser Zeit möglich war, läßt die Schrift trotz ihrer positiven Haltung erkennen, daß der Nepotismus grundsätzlich zur Disposition stand. Der Sinn für Pragmatismus des Verfassers dieses Consiglio politico bewährt sich noch in einem anderen Punkt. Am Ende der Ausfuhrungen nämlich wird dem Papst vorgeschlagen, wie über die durch das Nachgeben verursachte diplomatische Niederlage, die immer noch weniger schlimm als eine militärische sei, am besten hinwegzukommen wäre: Es reicht doch, vier marmorne Inschriften anzubringen an den prominentesten Orten, um fiir kommende Jahrhunderte den Ruhm des päpstlichen Namens zu verewigen; und in der Gegenwart läßt man die murmeln, die das wollen; denn so haben es die anderen weisen Päpste gemacht.69 Genau so wurde dann schließlich auch verfahren. Die prachtvolle Neugestaltung, die Rom unter Alexander VII., dem letzten wirklich großen päpstlichen Bauherren, erfuhr, ist letztlich vor allem durch das Bemühen motiviert gewesen, den realen Bedeutungsverlust des Kirchenstaats und seine negativen Auswirkungen auf das Ansehen des Papsttums im Medium der Kunst zu kompensieren.70 In diesem Zusammenhang dürfte es sich kaum um einen Zufall handeln, wenn der erste Band des berühmtem Nuovo Teatro delle Fabriche et edificij in prospettiva di Roma moderna sotto il felice Ponificato di N. S. Papa Alessandro VII bereits ein Jahr nach dem Ende der KorsenafFäre erschien. Auf dreiunddreißig Kupferstichen Giovanni Battista Faldas wurden die Baumaßnahmen des sovrano pontefice Alexander VII. den Zeitgenossen vor Augen gefuhrt; kurze Bildunterschriften informierten über die vom Papst veranlaßten Veränderungen. Nicht nur das Erscheinungsdatum 1665 legt einen direkten Zusammenhang mit der Korsenaffäre nahe, sondern auch die Widmung des Bandes gerade an Don Mario Chigi, der in den Auseinandersetzungen mit Ludwig XIV. in den
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Zur zeitgenössischen moralischen Rechtfertigung der Verwandtenforderung und der ihr zugrunde liegendenpietas-ldee vgl. Reinhard, Papa Pius (1972), S. 261-299. BAV, Fondo Chigi C II 43, fol. 169r: Bastino poi quattro marmoree Inscrittioni aggiustate ne 'luoghi più cospicui per eternare il nome nei secoli à venire con qualche attione Papale; e si lasci mormorare nel presente a chi vuole; che così hanno fatto gli altri Papi prudenti. Auf diesen Aspekt der Kunstpatronage Alexanders VII. hat Richard Krautheimer, Roma di Alessandro VII., 1655-1667, Rom 1987, nachdrücklich hingewiesen.
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Mittelpunkt der Kritik geraten war.71 Indem das Werk einerseits den Ruhm des päpstlichen Auftraggebers verkündete, andererseits aber auch den Bezug zum weltlichen Oberhaupt des Hauses Chigi herstellte, läßt es sich als Versuch erkennen, die segensreichen Auswirkungen der Herrschaft des Papstes und seiner Familie über den unmittelbar sinnlichen Eindruck jedem Zweifel zu entziehen. Die seit dem Mittelalter von den Päpsten intensiv genutzte Propagandastrategie vermittels Kunstforderung war jedoch in diesen Jahren ebenfalls nicht mehr unumstritten. Der zeitgenössische Publizist Gregorio Leti formulierte die Kritik folgendermaßen: Wahrhaftig, mein lieber Pasquino, unsere braven Päpste sind kaum in den Vatikan eingezogen, schon geben sie Befehl, die Kapelle eines Heiligen zu renovieren, oder eine ihrer Titularkirchen, einen Altar in S. Maria del Popolo oder in S. Giovanni in Laterano, und sobald das geschehen ist, lassen sie ihr Wappen darüber anbringen; das beste Beispiel dafür ist der Nachfolger des sechsten Alexander [also Alexander VII., d. Vf.], der der Großmeister dieser Kunst war, indem er fast alle Altäre, Kirchen, Kapellen und Winkel Roms renoviert und ausgeschmückt hat, und er weigerte sich, seine Verwandten im Vatikan zu empfangen, um ihnen die Leitung der Heiligen Kirche zu überlassen, bevor er sich nicht entschlossen in diese Arbeit gestürzt hatte, um die Augen des armen Volkes mit so viel Glanz zu blenden, auf daß sie nicht aus der Nähe die Erpressungen Don Marios beobachten können, und die Plünderungen des Nepotismus.72
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Die Widmung lautet: All'Ill.mo et Ecc.mo Signore Padrone Colend.mo II Sig.r Principe D. Mario Chigi Fratello di N. S. Alessandro VII e Generale di S. Chiesa S'altri si dolse, fra le antiche ruine, di non ravvisar Roma in mezzo a Roma; ben hoggi, dal Vaticano, dal Campidoglio, e da tutti i sette Colli risuonano applausi festivi in vedersi con nuovo pompe risorta Roma agli honoriprimi; onde ciascuno l'ammira le Basiliche, i Tempij, gli Altari, i Simolacri, le Piazze, le Vie, i Palagi, e le moli erette, e rinuovate sono opere immortali della Pontificia Pietà, e munificenza di ALESSANDRO. Ne appresento a V. E. le imagini nelle ombre delle mie carte; perchè quelle venendo irradiate dalla CHIGIA STELLA, queste ancora riflettono nel lume se stesso, consecrate a lei suo unico Fratello, che con le heroiche sue virtù segue i santi vestigi. Gregorio Leti, Il Vaticano languente. Dopo la morte di Clemente X., 3 Bde., o. O., 1677, S. 145f: Veramente Pasquino caro, (riprese Marforio) i nostri buoni Papi subito che entrano nel Vaticano, danno gli ordini perfar'imbianchire qualche Cappella di Santo, qualche Chiesa di loro titolo, qualche Altare della Madonna del Popolo, o di San Govanni in Laterano, e cose si fatte, ponendo poi la loro Arma di sopra; e ne sia testimonio Alesandro Successore del sesto, il quale fu Protomaestro di questa arte, hauendo lustrato e bianchito quasi tutti gli Altari, Chiese, Capelle, et Angoli della Città di Roma, nè mai volle ricevere i suoi Parenti nel Vaticano al governo di Santa Chiese, prima di ingolfiarsi gagliardamente à questa opera, per abbagliar gli occhi del misero Popolo con tali lustri, acciò non potesse poi osseruare da vicino le storsioni di Don Mario, et i Ladronecci del Nipotismo. Zur anfänglichen Weigerung Alexanders VII., seine Verwandten nach Rom zu rufen und mit dem Nepotismus zu brechen, auf die Leti hier anspielt, sowie die damit verbundene intensive Diskussion des Nepotismus in diesen Jahren vgl. Menitti Ippolito, Il tramonto, wie Anm. 14, S. 80-94.
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Mit den „vier marmornen Inschriften" war es eben nicht mehr getan - ein unübersehbarer Hinweis, wie laut das Gemurmel war, das übertönt werden musste,73 und das doch auf diese altbewährte Weise nicht mehr zu übertönen war, ja, nur noch lauter, nur noch bedrohlicher wurde. Doch selbst wenn die päpstliche Kunstpropaganda in dieser Zeit nicht auf so grundsätzliche Kritik gestoßen wäre, hätte sie es schwer gehabt, die Krise zu übertünchen. Denn tatsächlich endete die Korsenaffare mit der fast bedingungslosen Kapitulation Alexanders VII. Nachdem die Verhandlungen des Jahres 1663 keine Ergebnisse gezeitigt hatten, stellte Ludwig XIV. am 4. Januar 1664 dem Papst ein Ultimatum. Man werde sich nicht länger hinhalten lassen, sobald das Wetter es gestatte, würden die französischen Truppen in Marsch gesetzt. Bis zum 15. Februar sei noch Zeit für die Vetreter des Papstes, die 'ausgehandelten' Bedingungen zu unterzeichnen. Daraufhin sah man sich in Rom bemüßigt, am 26. Januar Monsignore Cesare Rasponi, Auditor des Kardinalnepoten Flavio Chigi, mit umfassenden Vollmachten nach Pisa zu senden, das als Verhandlungsort gewählt worden war.74 Am 12. Februar unterzeichneten Rasponi und der französische Verhandlungsführer Bourlemont den Vertrag von Pisa, in dem die wesentlichen Forderungen der französischen Krone erfüllt wurden.75 Den Herzögen von Parma wurde das Recht eingeräumt, Castro und Ronciglione innerhalb von acht Jahren um die allerdings gewaltige Summe von 1 629 750 scudi, zahlbar in zwei Raten, zurückzukaufen. Der Herzog von Modena verzichtete zwar auf Comacchio, wurde aber dadurch entschädigt, daß die Camera Apostolica die Schulden des Monte estense in Höhe von 300 000 plus inzwischen aufgelaufener Zinsen von 50 000 scudi übernahm. Außerdem sollten 40 000 scudi oder ein Palazzo in Rom in diesem Wert an die d'Este
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Zu diesem Aspekt der Kunstförderung Alexanders VII. vgl. Krautheimer, Roma di Alessandro VII (1987), besonders Kapitel 10: Urbanistica e Politica: il „Forestiere illustre", S. 141156; „Nel disporre i suoi 'nuovi teatri' Alessandro ebbe dunque lo sguardo rivolto ai personaggi più importanti: bisognava che sovrani, nobili, grandi artisti e scienziati, cattolici o no, fossero impressionati dalla Roma da luiristrutturatae abbelita.", S. 155; ebenfalls aufschlußreich die Ausführungen zur Baugeschichte des Petersplatzes unter Alexander VII. bei Rietbergen, Pausen (1983), S. 295-358. Rasponi war darüber hinaus auch Sekretär an der Consulta, vgl. den Avviso di Roma vom 31. März 1663, in: ASV, Segr. Stato, Avvisi 112, fol. 50v: Mancando da questa corte Monsignore Rasponi Segretario della Sacra Consulta, la di lui carica è stata pro interim affidata à Monsignore Cennino. Der Vertrag ist vielfach überliefert, eine offizielle, am 23. April 1664 von Alexander VII. in Auftrag gegebene Kopie in: ASV, Segr. Stato, Soldati 33, fol. 405r-410r. Von einiger Aussagekraft ist weiterhin die Mitteilung Domenico Berninis, der Vertrag von Pisa habe ein geheimes Zusatzprotokoll enthalten, in dem der Papst zugestand, Gianlorenzo Bernini für drei Monate nach Paris reisen zu lassen (Domenico Bemini, Vita del Cavaliere Giovanni Lorenzo Bernini, Rom 1713, S. 116). Obwohl dieses Protokoll verschollen ist, spricht einiges für die Richtigkeit dieser Nachricht Domenico Berninis.
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gehen.76 Alle Mitglieder des Hauses Chigi sollten sich bei Ludwig XTV. in der einen oder anderen Form öffentlich entschuldigen, der Kardinalnepot Flavio Chigi deswegen eigens als Legat nach Paris reisen, um dem König auch die Entschuldigung des Papstes zu überbringen. Außer ihm, doch nicht in seinem Gefolge, sondern allein sollte auch Kardinal Imperiali nach Paris kommen, um sich zu rechtfertigen. Die korsischen Söldner waren zu entlassen, ein päpstliches Breve musste sie für alle Zeiten als unwürdig, dem Papst zu dienen erklären. Das einzige Entgegenkommen, das der päpstliche Delegationsleiter Rasponi erreichen konnte,77 war die Zusage der Franzosen, nach Erfüllung aller Bedingungen durch den Papst und seine Familie die Exklave Avignon wieder zurückzuerstatten, wobei der Papst freilich eine umfassende Amnestie für alle während der französischen Besetzung vorgekommenen Straftaten zu gewähren hatte.78 Besonders mußte Alexander, der so viel Sinn für die Bedeutung architektonischer Gesten hatte, schmerzen, daß die Errichtung einer Pyramide zur 'ewigen' Erinnerung an die Vorfalle des 20. August 1662 festgeschrieben wurde - ein weithin sichtbarer Meilenstein des Macht- und Prestigeverlustes, den das Papsttum im 17. Jahrhundert erlitten hatte.79 Nepotismum discussurus - der anonyme Verfasser des Spottgedichtes zur Korsenaffare wußte wohl kaum, wie recht er mit seiner Prophezeihung hatte. Das 17. Jahrhundert brachte eine wachsende Kritik des Nepotismus, oder, um es mit den Worten Wolfgang Reinhards zu sagen: „Man könnte also vermuten, daß die Krise des Nepotismus im 17. Jahrhundert und seine .Abschaffung' durch Innozenz XII. im Jahre 1692 Ergebnis eines tiefgreifenden Strukturwandels der Gesellschaft gewesen sei."80 Innerhalb dieses Prozesses spielte der Pontifikat Alexanders VII. eine besondere Rolle: zunächst durch die Berufung der 76
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In einem Handschreiben vom 2. Februar 1664 hatte Alexander VII. Rasponi ausdrücklich ermächtigt, auch über diese politisch besonders brisanten Punkte zu verhandeln, die man bisher immer versucht hatte auszuklammern; das Dokument in: BAV, Fondo Chigi E I 14, fol. 151r; zur vorhergehenden Diskussion über Castro an der Kurie vgl. die Dokumente in BAV, Fondo Chigi C II 37: „Voti di Cardinali e Congregazioni per il Ducato di Castro Vertenza con la Francia per la zuffa fra alcuni soldati Corsi e i famiglieri del Duca di Créquy." Dennoch wurde die Leistung Rasponis bei den Verhandlungen in Pisa vom Papst und seiner Entourage offensichtlich positiv bewertet, denn fast auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Abschluß des Vertrags von Pisa wurde Rasponi am 15. Februar 1666 zum Kardinal ernannt, vgl. Christoph Weber (Hg.), Legati e Governatori dello Stato Pontificio (1550-1809), Rom 1994, S. 857f. Die Generalamnestie Alexanders VII. (2. Mai 1664) für alle etwaigen Vergehen, die von Franzosen „in conseguenza del successo in questa nostra Città di Roma à 20 d'Agosto 1662" in Avignon begangen worden waren in: BAV, Fondo Chigi E114, fol. 145r-146v. Zur Geschichte und Bedeutung dieser „Schandpyramide" vgl. die luzide Untersuchung von Dietrich Erben, Die Pyramide Ludwigs XIV. in Rom. Ein Schandmal im Dienst diplomatischer Vorherrschaft, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 31 (1996), S. 427-458. Reinhard, Nepotismus (1975), S. 175.
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Verwandten des Papstes nach anfänglicher, vielfach bejubelter Ankündigung, darauf verzichten zu wollen, dann, wenige Jahre später, durch die Korsenaffäre. Nicht nur in der römischen Bevölkerung, auch im kurialen Zentrum der päpstlichen Herrschaft intensivierte die außenpolitische Krise der Jahre 1662 bis 1664 die Diskussion des Phänomens 'Nepotismus', die seiner Abschaffung unter den Reformpäpsten Innozenz XI. Odescalchi und Innozenz XII. Pignatelli vorausging und sie vorbereitete.
IV. Staatsgewalt, Politische Ideen und Humanismus
Einführung Wolfgang E. J. Weber
Die Arbeiten Wolfgang Reinhards zu diesen Themenfeldern liegen hinsichtlich ihrer Entstehungs- und Publikationszeit zum Teil weit auseinander.1 Inhaltlich besteht jedoch ein enger Zusammenhang: Zu den Determinanten des menschlichen Verhaltens, die den Jubilar entscheidend interessieren, gehören zentral Machtorganisation und Machtverhältnisse bzw. der Gehorsam als umfassend zu erklärende Form menschlichen Verhaltens2, die kulturell für die Neuzeit maßgeblich nicht nur durch die Reformation bzw. Glaubensspaltung, sondern auch durch die Bewegung des Renaissance-Humanismus und dessen Nachläufern mit bestimmt worden sind und werden. Von allen Veröffentlichungen Wolfgang Reinhards hat bisher die 1999 vorgelegte 'Geschichte der Staatsgewalt' die breiteste, u.a. an der Publikation einer Buchgesellschaftsausgabe ablesbare Beachtung gefunden3. Die positive Wertung überwiegt bei weitem. Besondere Würdigung hat die Verbindung der historischgenetischen mit der Strukturperspektive erfahren, die eine Wirtschafts-, Sozial-, Kultur-, Politik- und Verfassungsgeschichte optimal integrierende historische Prozessanalyse, die auch für die Sozialwissenschaften von hoher Relevanz sei, ermöglicht habe. Im Vordergrund der Wahrnehmung scheint jedenfalls im deutschen Raum allerdings die bereits im Untertitel signalisierte Anknüpfung an das Konzept einer vergleichenden Verfassungsgeschichte Otto Hintzes zu stehen. Mit Wolfgang Reinhards Buch gebe es „jetzt gewissermaßen einen 'neuen Hintze' auf der Höhe des gegenwärtigen Theorie- und Reflexionsniveaus, weitläufig komparativ angelegt und in einer straffen Synthese gebändigt"4. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß Wolfgang Reinhard in seiner nüchternen Skepsis und Kritik 1
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Vgl. das Schriftenverzeichnis in: Wolfgang Reinhard: Ausgewählte Abhandlungen, Berlin 1997, S. 437-463. W. Reinhard: Macht und Menschlichkeit. Autobibliographisches Vorwort. In: Ders., Ausgewählte Abhandlungen (Anm. 1), S. 7. W. Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999. Hans-Ulrich Wehler: Das Unikat Europas. Ein großer Wurf: Wolfgang Reinhards vergleichende Verfassungsgeschichte in der Nachfolge Otto Hintzes. In: DIE ZEIT Nr. 42 vom 14. Oktober 1999, S. 34.
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von einer Staatsverehrung unseligen borussianisch-protestantischen Zuschnitts, die auch bei dem großen Berliner Historiker des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch vorhanden war, weit entfernt ist. Seine Darstellung ist nicht zufallig eine Analyse der Staatsgewalt und nicht des Staates. Nur teilweise in der bisherigen Rezeption vermerkt, sind zahlreiche äußerst staatskritische Wertungen aufgenommen, die sich keineswegs lediglich auf weit zurück liegende Erscheinungsformen staatlicher Gewalt beziehen.5 Durchgehend ist ferner die aus nüchterner Interessen- und Verhaltensanalyse entspringende Elitenkritik, die sich keiner politisch-ideologischen Richtung zuordnen läßt. Fast als Aufkündigung jeglicher political correctness lassen sich sogar einige Passagen zur vorherrschenden Europapolitik der nationalen Eliten lesen. So ist es kein Wunder, wenn studentische Teilnehmer eines Augsburger Kolloquiums, welches sich im Rahmen der Diskussion wichtiger Neuerscheinungen den Band kritisch vornahm, gar gelegentiiche anarchistische Tendenzen zu spüren vermeinten. An einer der Grundannahmen der Auffassung Reinhards setzt die bisher stärkste kritische Rezeptionsrichtung an, nämlich derjenigen, daß entscheidender Betreiber und Träger der Entstehung des europäischen Staates (!) die dynastische Monarchie gewesen sei. Demgegenüber wird auf die Relevanz kommunaler Akteure und Modelle verwiesen, die deutlicher hervorgehoben werden müsse.6 Im Hinblick auf das Mittelalter vertritt auch JANET COLEMAN in ihrem nachstehenden Beitrag diese Argumentation. Ihre Auffassung ist, daß sowohl empirisch als auch politisch-ideengeschichtlich für das ausgehende 14. bzw. beginnende 15. Jahrhundert ein grundlegender Wandel in den politischen Organisationsformen und Organisationsauffassungen der (über hinreichende Selbstgestaltungsmöglichkeiten verfügenden) europäischen Städte angesetzt werden müsse, der einen Abbruch älterer, für die Entfaltung des modernen Staates hinderlicher Traditionen bedeutete. Es liegt auf der Hand, daß sich diese These durchaus noch in die übergreifende Perspektive Wolfgang Reinhards einbauen ließe, weil sie sich auf eine bestimmte, wenn auch später noch nachklingende Entwicklungsetappe bezieht. Anders verhält es sich mit denjenigen Ansätzen, welche Kommunalismus und Republikanismus als durchgehende Komponente europäischer Staatsbildung konzipieren und unübersehbar gleichzeitig zur 'besseren Alternative' zu stilisieren unternehmen. In dieser sich abzeichnenden Kontroverse wird es darauf ankommen, methodisch und theoretisch eine gemeinsame Basis zu finden, von der aus Komparatistik empirisch plausibel veranstaltet werden kann. 5
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Vgl. für eine entsprechend kritische Rezension jetzt Andreas Weigl. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 109 (2000) 188-190; sowie Gerhard Dilchers Rezension. In: Historische Zeitschrift 271 (2000), S. 385-390, der den Band folgerichtig ebenfalls als "etwas gewaltsam" bewertet (S. 389). Peter Blickle: Der Staat und seine Richter. Wolfgang Reinhard schreibt eine europäische Verfassungsgeschichte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung voml2.10.1999, S. L 44.
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Mit Wolfgang Reinhards Sichtweisen und Befunden sehr wohl zu vereinbaren ist dagegen der Ansatz und das ambivalente Ergebnis des Beitrags von ROBERT BLRELEY SJ. zur Wahrnehmung und Bewertung des Verhältnisses von Politik und Religion durch europäische Jesuiten um 1645/46. Der Orden des Ignatius war sich keineswegs in einem - heute würde man vielleicht sagen: - fundamentalistischen Verständnis einig. Er setzte sich keineswegs ausschließlich aus Zeloten zusammen. Vielmehr verfügte auch diejenige Richtung über bedeutende Anhänger, die Religion bzw. Konfession und Politik trennte, damit den Kompromiß ermöglichte und demzufolge den Friedensschluß 1648 vorbereitete. Die Problemlage dieser Analyse zum Denken und Handeln einer einflußreichen europäischen Teilelite führt unmittelbar in das Feld der Politischen Ideengeschichte. Wolfgang Reinhards konsequente Rückbindung der politischen Ideen der Frühen Neuzeit an deren empirisch-politische Entstehungs- und Geltungsumstände, die vor allem in einer mittlerweile als Taschenbuch verbreiteten Kollektion entwickelt worden ist,7 hat bislang - soweit absehbar - keine spezifische Kritik gefunden. Sie ordnet sich ja auch parallelen Ansätzen z.B. der Politikwissenschaft (Herfried Münkler u.a.) zu. Daß insbesondere philosophisch ausgerichtete Ideenhistoriker dennoch ihre Perspektive bewahren wollen, nämlich Politische Ideengeschichte als Element einer gerade nicht zeitgebundenen, also im Gegenteil zeitenthobenen philosophia perennis zu betreiben, versteht sich. Umso interessanter erscheint ROBERT DESCIMONS Darlegung, daß die Erörterungen des französischen Juristen Charles Loyseau zur Dignität des Gemeinwesens und der Politik zentral auf die Problematik des - von Wolfgang Reinhard empirisch-strukturgeschichtlich maßgebend 1974 untersuchten8 - Ämterverkaufs bezogen waren und die Konzeption dieser Dignität römisch-rechtlich und - was weniger bekannt ist unter Rekurs auf christlich-heiligengeschichtliche Wissensbestände erfolgte, deren Überzeugungskraft allerdings schon bald dramatisch schrumpfte. Zu den Arbeitsgebieten des Jubilars im Bereich der Humanismusforschung zählt neben der Politischen Ideengeschichte - und darunter der provokanten Gegenüberstellung von erasmianischem Pazifismus und machiavellisch-lipsianischem Militarismus - die Bildimgsgeschichte und die Geschichte der humanistischen Rezeption der Neuen Welt.9 Im Schnittbereich derartiger Bildungs- sowie von politischer Ideen- und Kulturgeschichte ist der Beitrag von MARKUS VÖLKEL angesiedelt. Untersucht wird in einem komparatistisch-europäischen Zugriff, ob und in welchem Maße exilierte Italiener die nationalhistorischen Traditionen übriger europäischer Länder begründeten, und welche Bedeutung dem Einsatz der lateinischen Sprache dabei zuzusprechen ist. Abgesehen davon, daß dieser Ansatz 7
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Hans Fenske, Dieter Mertens, W. Reinhard, Klaus Rosen: Geschichte der politischen Ideen von Homer bis zur Gegenwart, 3. Auflage Frankfurt a.M. 1996 (Fischer Taschenbuch). Vgl. Schriftenverzeichnis a.a. O. Nr. 42. Vgl. Schriftenverzeichnis a.a. O. Nr. 19, 20,21,24, 79, 81 und 88.
Einflihrung
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die Annahme einer besonders hohen Relevanz gerade des Humanismus für die moderne Nations- und Staatsbildung auf neue Weise unterstreicht: Nicht nur der eigenartige Wechselbezug zwischen Kosmopolitismus, Europäismus und gegebenenfalls nationalem Patriotismus, sondern auch die Frage nach der Akkulturations- und Alteritätsleistung von Sprache10 kennzeichnen Reinhardsche, in der deutschen Geschichtswissenschaft vollständig oder weitgehend vernachlässigte Problemstellungen. Zu konstatieren ist allerdings, daß eine Rezeption insbesondere der Perspektive der kulturhistorischen Linguistik bisher nur teilweise erfolgt ist, nämlich im Hinblick auf die kulturellen Prozesse der europäischen Begegnung mit der außereuropäischen Welt. Der innereuropäische Bereich, die Frage der Voraussetzungen, Formen und Folgen sprachlich-kultureller Integration und Differenzierung in Europa selbst, ist noch kaum in den Blick getreten.
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W. Reinhard: Sprachbeherrschung und Weltherrschaft. Sprache und Sprachwissenschaft in der Europäischen Expansion [1987]. In: Ders., Ausgewählte Abhandlungen (FN 1), S. 401433; W. Reinhard: Die lateinische Variante von Religion und ihre Bedeutung für die politische Kultur Europas. Ein Versuch in historischer Anthropologie. In: Saeculum 43 (1992) 231-255.
Urban experiences: some critical observations on contemporary scholarship concerning the relation between medieval political theories and practices. Janet Coleman
Wolfgang Reinhard has contributed impressively and with lasting influence to analyses of the social realities of power. He has examined the promoters of European state power, those ruling classes or shifting elites who were not necessarily office holders but who contributed to the emergence of what is often called the absolutist state as the model of the modern or contemporary state. He has observed that from the high Middle Ages until the present day the power and the institutions of certain central governments in Europe have been growing continuously at the expense of other autonomous holders of political power and at the expense of subjects. The modern state, over and above its subjects or citizens, has come to claim competence to decide the limits of its own competence. Indeed, in the end, the administrative annihilation of the subject by the state has become not a possibility, but a reality.1 My aim in what follows, however, is to highlight another theory and practice of social power with a different and distinctly non-modern understanding of the 'state'. It was a theory and practice of governance that was defeated and replaced precisely by the theories and practices Reinhard has so successfully shown to have been victorious during the 16th and 17th centuries. My aim here is to examine theories and practices of urban governance in a period in which the identity of rulers and ruled was far less a fiction than it came to be in the modern state's ideology of the sovereignty of the people. This paper is about medieval political theorising and political practices in European cities, but it is also about modern prejudices both within and outside the 1
W. Reinhard (Ed): Power Elites and State Building (Clarendon, Oxford, 1996) pp. 1-18, here pp. 1-2.
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academy. It seeks to highlight some of the very distinctive ways in which theorists and citizens reconstructed and passed on the ancient philosophical legacy of the polis and respublica. In the process, the middle ages undoubtedly established its own agenda and a collection of different political discourses and a range of institutions and practices which could never have developed either in ancient Greece or Rome. These were either absorbed, transformed or argued against until and beyond the early-modern period. The practices of the ancient Athenians- for instance, direct democracy where the polis was its men and not the modern state and its governing bureaucracy- came to be forgotten or rejected.2 The Greek notion, found in Aristotle, that man is by nature a political animal would be revived in the middle ages but rejected by many of Europe's early moderns who thought that politics was the consequence of man's fear of death and aversion to pain rather than of man's capacity for public deliberation and co-operative agency. If early moderns sought an ancient society to emulate they often chose Sparta - almost never Athens. Rome, however, would play a larger role in the self-conscious construction of Europe's future. Not only did the middle ages emerge out of a late and declining Roman imperial reality; early medieval institutions and practices would be selectively saturated with the law of imperial Rome. But when the self-conscious, comprehensive revival of Roman law was undertaken in the 12th century, it would be to the 6th-century Christian emperor Justinian's codification of Roman law that they would turn. Very little of Cicero's republican Rome survives there and they did not possess the text of his De re publico although they had various extracts and critical commentaries, not least in the writings of the 5th-century St. Augustine. Therefore, even when during the middle ages and thereafter Europeans thought themselves to be the heirs of Rome, we actually find them to have pieced together from disparate and fragmentary sources what they thought the Roman republic to have been, and they reconstructed the Romans' republicanism in order to open up in practice something that might be seen as akin to a representative commercial 'democracy' where 'the people', when gathered together, constituted the sovereign and made law by voluntarily and explicitly consenting to it. Medieval political theorists and practitioners were to take literally and then transform the maxim of late Roman law that what touches all should be approved by all (quod omnes tangit ab omnibus tractari et approbari debet), wrenching it out of the context in Justinian's Codex where they found it and thereby emphasizing, as Justinian never did, a deliberative participation by 'the people' in consenting to the laws. Furthermore, 'the people' would be declared capable of electing removable public officials as the executive government. Medieval governors would 2
For an extensive discussion of ancient Greek, Roman and early Christian political theories and their historical contexts see J. Coleman: A History of Political Thought From Ancient Greece to Early Christianity (Blackwell, Oxford, 2000).
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come to be described as directive functionaries, public administrators of a collective good which was interpreted as a peaceful, law-governed and self-sufficient life of which all men were equally aware, including those not considered experts in the law and who had few possessions. This was something of which the ancient Romans would never have approved because 'the people' for them were never to be considered a deliberative body. Deliberation was the role of the Senate. But 'the people' were such a deliberative multitude during a period in the middle ages especially in cities with varying measures of self-government all around Europe. To what did terms like 'republic', 'deliberation' and 'consent' refer in medieval political theory and practice? To seek an answer requires an attempt to match what theorists said with practice on the ground. For those of us who work on the various theories of legitimate governance that were produced from the 13th to 16th centuries, works like Marsilius of Padua's Defensor Pads and Machiavelli's II principe (de principatibus) have come to rep-
resent exemplary but different messages that emerged respectively from, on the one hand, a medieval and, on the other, a Renaissance Italian experience. I happen to agree with this but not for the reasons normally given. One might ask whether either of these political theories tells us about the political and administrative institutions of cities not only in Italy but elsewhere in Europe at the different times in which these two tracts were written. Do either of these theoretical tracts reflect not only local but more generally experienced practices of government? Do lesser known theorists concerned with the structure, function and legitimacy of governance in church or 'state' reflect the experiences and practices of local governance? This is not the innocous and rather straightforwardly boring question it may appear to be because it is mined with historical prejudices harboured by medievalists and modern historians alike that need to be cleared, with some considerable risk to professional life and limb. There has long been a tendency for scholarship to focus on Italy and what might be called political theorists of the Italian city-states as though the rest of Europe lagged behind in some inarticulate medieval rural and feudal fog. I want to show that customs and practices in certain well-known Italian city-states could also be confirmed in other European cities. There has also been a widely held presumption, especially on the part of mainly English-speaking medieval historians themselves, that medieval political theory, except perhaps for that produced in Italy, was an exercise in a kind of theorising that never reflected practices of government. Some medieval historians are still saying that medieval political theory seemed unaware of the importance of local communities although in practice, the English Crown, for instance, was taking notice of them. The blame is laid on the Aristotelian tradition which, we are told, did not envisage a theory by which the part might control the centre through local communities. Instead, we are told that it was left to the Church during the Great Schism of 1378-1417 to evolve conciliar theories, but that the Church never made such conciliarism a practical reality and
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we are told that we can thank the papacy for that.3 To my mind nearly everything stated here is historically incorrect. Unfortunately, such views about the irrelevance of medieval political theories to medieval practice are still common amongst medievalists who are neither specialists in medieval political and legal theory or in 'urban studies'. It is also an attitude that goes beyond medievalists. It reflects a tradition of scholarship in which some historians, especially in Britain, think that those colleagues who work in intellectual history in general and medieval political theory in particular, have little to tell them about the workings of society 'on the ground' as it were. Until, perhaps, we reach the Renaissance and especially, Machiavelli whose so-called realism makes him and men of his times, the first modems and very much like us and for this reason Machiavelli can be treated as a normative theorist, not specifically dealing with the contingencies of his Renaissance Florence but with universal dilemmas to serve a new and modern way of understanding politics. I disagree with this too. 4 1 think one better understands Machiavelli's Prince by seeing it as a continuation of medieval political theories and practices, but of course, one has to know what they were. He is not the first modern political theorist as political scientist, nor does he foreshadow the political theory of Hobbes and the Hobbesian state. Rather, he should be understood as owing much more to a long-enduring medieval discourse on a people's liberty, preserved through ordered representative structures and practices of self-government under law, backed by coercive force, which medieval theorists and practitioners would well have understood. In many ways, he is the end of a tradition rather than the beginning of another.5 Hence, we need to begin with what historians have discovered about the realities of organised medieval political life and its myriad of corporate, consensual practices. Representative institutions of all kinds - and not least local communities - were recognised as constitutive of, for instance, the English Parliament, 3
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See especially the Introduction by Highfield to J.R.L.HighfieId and R. Jeffs, (Eds): The Crown and Local Communities in England and France in the Fifteenth Century (Alan Sutton, Gloucester, 1981) pp.10-18. For further discussion see J. Coleman, A History of Political Thought From the Middle Ages to the Renaissance, ch.6, pp. 199-276. There is, of course, a larger issue at stake here. To say that a given political theory does not coincide with practices current at the time in which it was written gives the modern reader a certain licence to ignore history and instead to look for what he or she takes to be logically coherent arguments and then read over these elements that look a bit too local, thereby eliminating embedded, past historical prejudices from their reading in order to make a text intelligible, even relevant, to a modern mind and its circumstances and prejudices. In the process, one is prevented from discovering something very distinctive about, in this case, medieval political discourse and its confidence in 'the people's' deliberative participation in the civic life. One of the consequences is that Renaissance humanism gets highlighted as positively progressive in comparison. There is an unacknowledged Enlightenment progressivism here which unfortunately 1 dc not think is borne out by the facts of European history or theory as we move from the 13th to the 16th centuries across Europe.
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where, by the 14th century knights of the shire and borough members were meant to represent with plena potestas the communities which elected them, and local communities were themselves governed by some sort of representative body. In practice, then, the king in a monarchy like England's was seen as a man of dialogue who had to take into account the opinions of representative officials, their will. He did not, because he could not, rule with the kind of absolutism with which Europe would become familiar by the 17 th century. One need only add that England's 14th-century monarch Edward Ill's coronation medal was inscribed voluntaspopuli dat jura - the people's will is law. But some historians tell us that no contemporary theory reflects any of this.6 Indeed, it is asserted that in being tied to traditional vocabularies, especially that of Aristotle on kingship, and given what is taken to be a fact (which it is not) that most theorists in monarchies wrote 'mirrors for princes' and their princely courts, we are told that there were no vocabularies for inserting local communities into their arguments. Ignoring local communities and representative institutions, we are told that medieval political theorists favoured either the ideal and unreal good prince or they wrote commentaries on the conflict between the popes and German emperors. Implicitly, not only are we being told that medieval political theory can be reduced to the 'mirror for princes' genre, but that the exercise of composing a political theory text was, during the middle ages and uniquely then, nothing more than reproducing vocabularies found in authoritative texts, themselves written for and in other (ancient Greek) times. Even if all we had for the middle ages were 'mirrors for princes', no examination of any such work is usually offered; indeed, were we to read one of the most distinguished and influential examples, such as Giles of Rome's De regimine principum7 it would reveal lengthy discussions of precisely how local communities, divided up into craft guild regions and other localised allegiances in 14th-century French cities - since it was written for the French king of the time - are ruled by reasonable law to which citizens consent, rather than by despotic whim.8 Furthermore, there is overwhelming evidence that 6
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See J.-Ph. Genet: 'Political Theory and Local Communities in Later Medieval France and England. In Highfield and Jeffs (Eds.): The Crown and Local Communities, pp. 1 9-32. Rome, 1607, repr. Aalen, 1967, and see discussion in Coleman, A History of Political Thought From the Middle Ages to the Renaissance, pp. 64-5,69-71. The problem seems to be that medieval historians themselves de not know where to look for what we could now recognise as 'political theory'. They leave the medieval legal texts to the historians of law, the commentaries on Aristotle's works translated into Latin to those who specialise on the medieval university curriculum, the summae theologiae to the theologians. As historians they narrow themselves to documents reflecting public administration or taxation, or to texts with titles De regimine principum or De regno. But should the title of a tract also include a reference to the papacy and its power, they set these texts aside presumably to be studied by church historians. However, the sources for medieval political thought are very varied: they are the productions of theologians with teaching posts in universities or in the schools associated with different religious orders, philosophers who taught in the arts faculties of medieval universities, historians, often attached to monastic centres, bureaucrats in the
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the use of Aristotle's Ethics and Politics in Latin translations from the mid 13th century helped them to find ways of speaking about what they meant by the common good and its achievement through the mutual, indeed contractual, ties of a king to the whole communitas and to whom the populus in turn owed allegiance. The Aristotelian tradition was an extraordinarily flexible discourse, reinterpreted and mixed as it was with selected Ciceronian insights, and grafted on to the evolving languages of Roman and customary law, precisely when used by 13th and 14th-century political theorists in order to justify their own communities' histories, customs and defacto legal practices. The increasing penetration of Roman civil law language assured that the maxim quod omnes tangit (what touches all should be approved by all) appeared in all justifications of representative assemblies, so that the workings and attributes of local assemblies and the means by which such assemblies were elected, were indeed the concerns of medieval theorists, and especially Marsilius of Padua. A reading of aspects of Marsilius's Defensor Pads9 can help to explain why this work could only have emerged from and indeed, reflect, idealised corporative Italian city-state practices when it did - the first quarter of the 14th century. I also want to indicate that the practices and principles Marsilius describes and the philosophical ways in which he justifies them could have applied to urban practices of self-governance more generally, even within monarchies like that in France and England, prior to the 15th century.10 Marsilius is intent on showing that his principles of sovereign government, founded in 'the people', whom he calls the human legislator, are applicable to all kinds of constitutional regimes across Europe in his day, be they monarchies or city-states. Neither he nor anyone else was interested in privileging a republican constitution over a monarchical constitution. He and nearly everyone else, right into the Renaissance, was interested in the characteristics of limited good government and either a constitutional monarchy or a republic could achieve this vivere politico. Which constitutional organisation of the execu-
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service of temporal or spiritual institutions, and jurists specialising in Roman and customary or in church (canon) law. Such literate men did not all have the same agenda, not least because their patrons varied as did the circumstances in and for which they were asked to write. However, there are virtually no professionals whom we could call with any historical accuracy 'political theorists', because what is currently considered the autonomous discourse of politics is a development of the emergence of the early-modem state in Europe. Prior to the 17th century politics was not a distinctive discipline with its own subject matter and methodology as Hobbes wished it to be because it had not yet disengaged itself either from the dominance of practical moral philosophy and theology or from ancient rhetorical and ethical discourse as studied in medieval universities. See J. Coleman: The Individual and the medieval State. In J. Coleman (Ed.): The Individual in Political Theory and Practice (Clarendon, Oxford, 1996), pp. 1-34. Ed., C.W. Previté-Orton (Cambridge, 1928); also R. Scholz (Ed.): Monumenta Germaniae Histórica, Fontes iuris Germanici Antiqui,7, (Hanover, 1932-3). For a fuller analysis of Defensor Pacis see J. Coleman, A History of Political Thought From the Middle Ages to the Renaissance, ch.4, pp. 134-68.
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tive was actually in place depended on what suited a given people, its history, customs and its circumstances. For Marsilius, in any good constitution it was the human legislator, 'the people', who served as the locus of sovereign power, and the human legislator is conceived of as separate from the executive functional parts or offices of the state. The function of the executive, the pars principans, be it a prince, an aristocracy or a more popular representative government, always must do the will of the corporate whole people. Let me first paint a picture of urban society based on recent research done on English sources to provide some idea of what we know about political practice in medieval English cities - which bears comparison with what we know of practices in self-governing Italian city-states. My aim is to show that across Europe the urban experience was remarkably similar whether such cities and towns were parts of kingdoms or were more independent self-governing units of the Holy Roman Empire which was forced more or less to leave such cities in northern Italy to their own devices. Furthermore, the concept of citizen (civis) in the middle ages had a much wider conceptual spectrum than what we often mean by the citizen in our modern states.11 There was a practical ranking of citizens according to their respective status and this classification reveals degrees of expected activity within self-governing wholes, degrees of activity which are reflected in contemporary political theory, not least in that of Marsilius. My aim is to show their emphasis to be on citizen participation in power which is itself somewhat distinct from ruling as an executive function. Office, in other words, is understood as a public authority which derives its power to act from citizens, all of whom despite their status or rank are considered sufficiently rational actively to come together in assemblies to deliberate about laws, elect their representatives and have the capacity to judge and act together when representatives do not do their collective will. In neither England nor in Italy are we dealing with democratic practice where every citizen is expected to take turns in executive ruling. Likewise, Marsilius' political theory 11
See M. Grignaschi: La definition du civis dans la scolastique. In: Anciens Pays et Assemblées d'Etats, 35 (1966) pp. 71-100; on Bartolus' understanding of citizenship as a convention of civil law of the civitas based on the ius gentium and not on natural law see the text edited in J. Kirschner: Civitas sibifaciat civem: Bartolus of Sassoferrato's doctrine on the making of a citizen. In: Speculum 48 (1973) pp. 694-713; Bartolus, Tractatus de regimine civitatis, ed. D. Quaglioni, in: Pensiero Politico 9 (1976) pp. 70-93, and In: Politica e diritto nel Trecento italiano (Florence, 1983); H. Walther: Die Legitimität der Herrschaftsordnung bei Bartolus von Sassoferrato und Baldus de Ubaldis. In E. Mock and G. Wieland (Eds.): Rechts- und Sozialphilosophie des Mittelalters (Frankfurt, 1991) pp. 115-39; on Baldus de Ubaldis' understanding of political agency as a product of incorporation into a civitas or regnum, see J. Canning: The Political Thought of Baldus de Ubaldis (Cambridge, 1987); D. Quaglioni: The legal definition of citizenship in the late middle ages. In: A. Molho, K. Raaflaub and J. Emlen (Eds.): City-States in Classical Antiquity and Medieval Italy (Ann Arbor/Stuttgart, 1991) pp. 155-67; J. Kirschner: Paolo di Castro on 'civis ex privilegio': a controversy over the legal qualifications for public office in early fifteenth-century Florence. In: A. Molho and J.A. Tedeschi (Eds.): Renaissance Studies in Honor of Hans Baron (Florence, 1971) pp. 227-46.
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is not democratic either. Instead we are dealing with what they thought conformed to Aristotle's polity with a mixture of democratic and oligarchic practices which ensured that citizens of all degrees consented to being ruled by law and played a part in determining whether or not their collective, corporate will was done by those elected to represent it. That citizen participation in sovereign power is somewhat different from, and indeed more important than, ruling as an executive office or function, operated everywhere because hierarchies in citizen status were recognised everywhere. The real key to the changes one sees across Europe especially during the 15th and early 16th centuries is the emphasis on an increasingly restricted eligibility to office with a concommitant downplaying of the deliberative sovereignty of 'the people' and their rationality. And with a changed rote for the people and a decreasing rote of corporate representative government everywhere in the 15th century church and 'state' the contractual genesis of the commune in theory and practice altered as well. Marsilius describes the earlier corporate experience, and Machiavelli, the later experience, where 'the people' need to be led by these more rational than they. What would it have been like to live in a medieval English town or city?12 Although leading English towns had often enjoyed some degree of self-government since the 12th and 13th centuries, and had generated administrative records to cope with the bureaucracy, it was often only in the later 14th and especially 15th century that they compiled self-conscious records which codified their liberties and reflected on how they should be governed.13 The urge to codification came precisely at a time when corporate self-government was increasingly being threatened, as it was elsewhere in Europe, by forces antipathetic to popular representative mechanisms of self-governance. Similarly in central and north Italy there were no legislative codifications in cities prior to the emergence of the signori like the Visconti and Sforza, bent on retrieving their feudal powers and when their princely decrees (decreti) successfully interfered with urban, civic customs and statutes. 12
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The literature is vast: See especially S. Reynolds: An Introduction to the History of English Medieval Towns (Oxford, 1977); S. Reynolds: Kingdoms and Communities in Western Europe,900-1300 (Oxford, 1984); M. Kowaleski: The history of urban families in medieval England. In: Journal o/Medieval History 14 (1988); R. Horrox: 'The urban gentry in the fifteenth century. In: J.A.F Thomson (Ed.): Towns and Townspeople in the Fifteenth Century (Gloucester, 1988); R. Herrox (Ed.): Fifteenth-Century Attitudes: perceptions of society in late medieval England (Cambridge, 1994); C. Phythian-Adams: Desolation of a City: Coventry and the Urban Crisis of the Late Middle Ages (Cambridge, 1979); J. Barry (Ed.): The Tudor and Stuart Town (London, 1990); R. Holt and G. Resser (Eds.): The Medieval Town: a Reader in English Urban History 1200-1549 (London, 1990); J. Rosenthal and C. Richmond (Eds.): People, Politics and Community in the Later Middle Ages (Gloucester, 1987); H. Swanson: Medieval Artisans: an Urban Class in late Medieval England (Oxford, 1989); C. Dyer: Standards of Living in the Later Middle Ages (Cambridge, 1989). Examples are London's Liber Albus, Ricart's Kalendar at Bristol, Northampton's Liber Custumarum.
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Towns in England varied considerably in their government, size and economy but by 1400 most of the larger centres had acquired some measure of selfgovernment, usually involving a privileged class of burgesses or freemen who chose annually elected officers and councillors. A common pattern was a mayor and twelve aldermen, usually assisted by a junior council. In late medieval England there were around 600 towns called boroughs. Most were distinguished by a privileged group of inhabitants called burgesses- in cities they were called citizens. They held their dwellings by what is called burgage tenure which was a fixed money rent and the right to bequeath or sell them freely. In self-governing towns, the burgesses usually had exclusive political and economic power and were usually called freemen. They had a monopoly of running businesses as merchants or as master craftsmen and they alone could take part in elections and in borough government. All other inhabitants, as well as countryfolk immigrants were called foreigners or 'foreigns' and were restricted in their trade and in their political participation. At Canterbury for instance, only freemen could, by custom, come to the council of the City and there speak and be heard. But this freeman class was not some tiny minority dominating an unfree majority. Freemen in London and York, for instance, numbered perhaps one in three of all adult males. And freemen also had additional loyalties to craft guilds or companies which were often involved in factional divisions. Furthermore, they were divided into the powerful, the middling and the lesser citizens14 with the larger towns being controlled in town councils by a large minority of merchants. Other citizens could and did often take part in decision-making on special occasions. In London, the assemblies of citizens met in the Guildhall, the largest attendance recorded being 528 in 1349 which appears to have been the maximum number capable of getting into the hall. Larger cities, like London, were further geographically divided into numerous parishes with their own guilds and fraternities. Urban populations were further integrated through numerous other corporate craft fellowships, religious confraternities and economic or occupational groups. There were even poor people's guilds and guilds for common and middling folk, each of which only admitted members of the same status or rank. In short, urban life was a life dominated by membership in collectivities of all kinds. Some of the most important towns received royal grants of incorporation and a few were made counties corporate which meant they were exempted completely from interference by the sheriff and justices of the peace of the surrounding county. But some large cities did not always have jurisdictions which coincided with their built up areas so that some had areas within their walls that were exempt from the jurisdiction of their urban corporations- that is, they could have a 14
Potentiores, mediores, interiores or menes comunes against the potentiores or bones gentz. Lynn's municipal records; also see A.F. Leach (Ed.): Beverly Town Documents (Seiden Society 14 (1900)).
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castle controlled by the county sheriff and a cathedral close controlled by the priory or chapter while monasteries and friaries were also exempt from city jurisdiction. All of these varied jurisdictions affected social life and loyalties. Numerous rival factions existed with separate jurisdictions or exemptions from more local, urban controls. But urban communities of all kinds were bonded together in all kinds of ways which made them more than simply a product of individual identities summed to create a whole. The corporate identity was more than and other than the sum of its individual parts. Documents show that they were aware of themselves as urban communities, corporative unities, and in important ways separate from the rural hinterland. The evidence of this pride and self-awareness is abundant in documents especially from larger towns with self-government and chartered rights. They advertised themselves through their public building of town halls and town walls as well as in charters and chronicles. In London, the mayor was, within the city, second only to the king. It is important to realise that borough law and custom developed separately from English common law and most boroughs became corporate in fact if not always in legal theory. Because borough law deviated considerably from national common law, often over what today we would call family law such as inheritance customs and widows' rights, property could be freely devised by will and did not have to pass to the eldest son, or partible inheritance in some boroughs gave daughters equal rights of inheritance with sons. Corporateness, as Maitland long ago observed, came from urban life. Corporateness means constitutional unity. Maidand noted that „when there is no longer any hope of continuous agreement, then comes the demand for and the possibility of an organic union, a permanent [but acquired] habit of agreeing to differ and yet be permanently one... .There are some thoughts (he wrote) which will not come to men who are not tightly packed."15 Such thoughts emerged out of densely populated urban settlements that generated quarrelling and disorder and the realisation that some means must be implemented to avert factionalism and maintain peace and security. Rudimentary policing, complex constitutions with arrangements for legislative councils and procedures for election to office emerged. Urban communities had special problems to solve and hence, in English towns borough law and custom, that is, City law, developed separately to supervise daily life.16 Towns therefore, legislated for 15 16
F.W.Maitland: Township and Borough (Cambridge 1898) pp. 18,22-4. In short, the aim of borough law was to ensure peace - pacificare - and they developed their own laws to this end. Royal privileges in England, for instance, confirmed their capacity to develop their own law for this purpose. It can even be argued that in some places in Europe, royal privileges and legal collections with commentaries were themselves either based on or influenced local solutions to experiences. In other cities, the collective voice was communicated to the king, where there was one, by a conciliarius or chancellor. But it can also be argued that for many places, and by the 15th century, local practices and customs, what might be called ius commune principles and practices, were increasingly not fundamental to jurists'
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the regulation of buying and selling, for price controls, for the carrying of weapons. If towns had to submit to legal control, then it was they themselves who had to do it, and urban wealth became a corollary of increased duties of participation in public office and administration. In practice, they were realising what political theorists everywhere describe as the legal and institutional arrangements to achieve a concordia civium. The pressure for close regulation to prevent disorder also came from the king who was ready to threaten towns and cities with the withdrawal of civil liberties if the basic conditions for peace and order were not met.17 From an urban experience of membership in collectivities of all kinds emerged a language of obligation, functional office and consent to serve a common, collective good. Everywhere there is a concern to define citizenship or freemen with powers granted by city or borough law, and it is clear that according to rank and condition, certain more powerful and wealthy citizens were expected to put themselves up for election and take up public office. They represented the collective will of all these freemen, themselves with different corporate and guild allegiances, who participated by consenting to obey laws made in their name but who never would themselves occupy high office. In 13th-century Italian city-states contemporary political theorists, the dictatores like Brunetto Latini could put forth a theory of communal governance which was meant to minimise factionalism through concord, drawing on Roman moralists and Aristotle, in order to insist that citizens are meant to rule and be ruled in turn under one law. He was not describing a democracy but a ranked society of local guild corporations coming together to consent to the laws, which were themselves an expression of a corporate will. Manuals like his were written and addressed to city officials. Where the Italians addressed the podestà and referred to
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thinking and that civil lawyers were increasingly seen as doing no more than the prince's will, leading to their arguments being these that favoured tyrants. If a higher 'academic' legal justification were needed those trained in the law could turn to Isidore of Seville as cited in Gratian's Decretum where it was said: ius civile est quod quisque populus vel civitas sibi proprium divine humanaque causa constituit. Decretum 2b (D.l c.8). See S. Mochi Onory: Fonti canonistiche dell'idea moderna dello stato (Imperium spiritualiiurisdictio divisa-sovranità) (Milan, 1951). Or they could look to Glossators of the Corpus Iuris Civilis. Azo (Summa super Codicem) wrote: civitas est hominum multitudo seu collectio ad iure vivendum; and Cino da Pistoia wrote: Nam si populus Romanus faceret legem vel consuetudinem de facto, scio quod non servaretur extra urbem (In Codicem, fol. 29rb: ad C. 1.14.12:1. Si imperialis, C. De legibus). Most famously, of course, was Bartolus: Solutio: dicerem cum quelibet civitas Italiae hodie, et praecipue in Tuscia, dominum non recognoscat in seipsa habet liberum populum, et habet merum imperium in seipsa, et tantam potestatem habet in populo, quantam Imperator in universo (In secundum Digesti novi partem, fol. 141vb: ad D. 48.1.7, no. 14:1. Infamen, D. De puplicis iudicis)... et idem intelligo in istis civitatibus Italie, quia ipse sunt principes, sibi ipsis, quia possunt exuli dare licentiam revertendi (fol. 184va: ad D.48.19.4, no.4.I. Relegati, D. De poenis). Hence, as a matter of custom and observation, 'cities which do not recognise a superior' must, for the purposes of public law, be considered independent, self-governing bodies with sovereign power.
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seignors or sires, the English adapted the same message but altered the official titles to soverain, governour or meire (mayor). It seems that what the Italian dictatores had to say about good government and the ways in which it could be achieved in self-governing communities, through civic concord, struck a chord with contemporary Englishmen living in towns. When Brunetto Latini returned to Florence he observed: The city is a gathering of people formed to live justly. Thus they are not called citizens of the same commune because they were accepted together inside the same walls but rather citizens are these who have agreed to live under one law}* And if Latini intended his work for an exclusively Florentine socalled republican audience, his early fourteenth-century readers in England, a monarchy rather than a republic, thought his views applicable to their own situation too. Excerpts from his Li livres dou trésor, written in French which the literate English could read, were copied into the Liber Customarum of London, the administrative heart of the English monarchy and a city with its own laws. One particularly interesting excerpt from Latini in the London text notes that the mayor in London or the magistrate in Florence is the head of the City's citizens and he is to be chosen by them according to right reason and justice." The implication is that during the 13th and early 14th centuries there was a general understanding of the ways in which a corporate collective will of a people could be realised in cities all over Europe. Likewise during what is called the golden age of Florentine republicanism, from 1282 until the 1340s, the attitude to holding office in general was one which was inclusive and it appears, as in England, to have emerged from a corporate expectation that what touches all should be agreed to by all. Hence, membership in guilds entailed the right to hold office and be represented. The object of elections to office was not to give individuals the right to express their private opinions but to represent the whole community. From the acclamations in open assemblies to the co-options of councils, the methods of voting were designed to express the will of the community as a corporate whole in conformity with city law and custom. It was the Florentine guild community by the end of the thirteenth century which had imposed its own definition of republican government on the institutions of electoral politics and this definition owed little indeed to ancient republican Rome. But this understanding of collective self-government was to be defeated by an oppositional oligarchy at the end of the 14th century so that by the early 15th century the scope of governmental authority and the size and composition of the class of citizens allowed to exercise this authority had changed, across
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P. Chabaille ed., (Brunetto Latini], Li Livres dou Trésor, (Paris, 1863) iii,72-3. Munimenta Gildhallae Londoniensis, vol.2, ed. H.T. Riley (London, 1859-62) pp. 16-24 the London text referring to Latini, ed. Chabaille, at pp. 575-81, 611-14, 608-11. See S. Reynolds: Medieval urban history and the history of political thought. In: Urban History Yearbook, Leicester (1982), pp. 14-23.
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Europe.20 By the 15th century in England, town government became the preserve of a restricted mercantile oligarchy. Similarly, in 15th-century Florence, the great international merchant and banking families, the landed and entrepreneurial interests of an oligarchical elite, rejected the idea of corporate guild equality, seeing themselves as a class apart that was united by business, patronage and family ties. If the 13th-century corporatist image was one based on guild principles, city governance based on a federation of autonomous corporations, where members were equals, where there was a collective rule of the full membership, a delegated quality of ascending executive authority and a theory of consent recognising the right of either direct participation or representation of each of the constituent parts of the civic corporation, by the fifteenth century the image was different.21 The corporate ideal where the rational multitude was the sovereign human legislator, as Marsilius would have called it, had not lasted for long, either in England or Italy, and this in itself is reflected in the political theorising that starts to emerge later in the 14th and 15th centuries, everywhere. Although popular consent remained the legitimating principle of government there was none of the earlier notion of representatives of corporations, each with a collective will of its own, establishing through deliberative debate the expression of consent. Instead, the people were to be convened rarely and only to approve constitutional reforms or to grant full powers to specially elected councils for them to decide on such reforms, or to hear proposals, expressing a unified consent as a single sovereign entity, with the executive authority depending now only in the last resort on the will of the people. If we turn to Marsilius' Defensor Pads we realise that what he means by a civil community is not what we should call a sovereign state. The modern concept of the sovereign state is completely different from the ancient Greek polis, the ancient Roman respublica and the medieval civitas, which is the Latin word that William of Moerbeke c. 1265 chose to translate Aristotle's polis when he did not just leave the word transliterated as 'polis' in his Latin Version of Aristotle's Politics. We will have to wait at least until the 17th century for the emergence of truly absolutist notions of sovereignty over and above a contractual civil society whose members could be described as capable of alienating their sovereignty to this overarching third party, the State, with its monopoly of legislative authority and 20
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For Italy see J. Najemy: Corporatism and Consensus in Florentine Electoral Politics, 12801400 (Chapel Hill, 1982) and G. Brucker: The Ciompi Revolution. In: N. Rubinstein (Ed.): Florentine Studies, politics and society in Renaissance Florence (London, 1968) pp. 314-56; D. Herlihy: The rulers of Florence 1282-1530, and J. Najemy: The Dialogue of Power in Florentine Politics. In: A. Molho, K. Raaflaub and J. Emlen (Eds.): City-States in Classical Antiquity and Medieval Italy (Ann Arbor/Stuttgart, 1991) pp. 197-222 and pp. 269-88. Compare studies of Flemish cities in the 13th and 14th centuries: W. Blockmans: Vers une societé urbanisée. In: Histoire de Fiandre, ed. R. Doehaerd (Brussels, 1983); D. Nicholas: Town and Countryside. Social, Economic and Political Tensions in Fourteenth-Century Flanders (Bruges, 1971); D. Nicholas: The Van Arteveldes of Ghent (Ithaca, 1988). Najemy, Corporatism and Consensus, p.9.
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coercive force. Indeed, it is well after Machiavelli that we begin to see the kinds of arguments that separated the sovereign state from the civil community or civil society, a notion of State that is akin to the modern 'state' of which the ancient Greeks, Romans and medievals were completely unaware. Embedded in the development of that early-modern notion of absolute State sovereignty is a negative attitude to 'the people' as a bestial, irrational multitude rather than one that the 14th-century Italian Marsilius of Padua and the 14th- century French commentator on Aristotle's Politics, Nicole Oresme, believed to be a multitude raisonable et honorable. Nicole Oresme, for instance, noted that in a monarchy like that of France, such a reasonable and honourable multitude need not involve itself in daily government regarding the distribution of offices and specific judgements but there must be a sovereign or several who maintain the kingdom and exercise government according to the laws. He asserts that the reasonable and honourable multitude is to have ultimate power, 'domination', regarding three things: to elect the prince; to correct the prince in cases where he abuses their dignity and when he destroys the public good; and thirdly with regard to the constitution or change and acceptance of the laws, for it is said: what touches all is to be approved by all. These three things is what Aristotle meant by 'policeme', good governance in any regime, writes Nicole Oresme.22 The answers to the questions: 'Who may be considered to constitute the reasonable multitude?', that is, 'who constitutes the citizen body?', or, 'how does one become a citizen?, and what are the methods by which their will may be represented?' are precisely what often distinguish one medieval political theory from another, and the differences reflected local practices of making a citizen.23 But even more, it distinguishes medieval from humanist political theory even of the republican variety, reflecting practices with which their respective authors were familiar. Nicole Oresme was familiar with the mid-14th century French monarchy
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Oresme, Politiques 111.17,142a: Item se la multitude est raisonnable et honorable, encor me semble que il ne entent pas qu'elle doie tenir le princey et le gouvernement cotidian quant a distribution d'offices et quant as jugemens, mes doit estre un souverain ou plusiers qui tiennent le princey et l'exercent selon les lays... Mes tele multitude peut avoiur domination quant a iii. choses, ce est assavoir quant a I'election dez princes toutes foiz que tele election a lieu. Item, quant a la correction des princes ou cas que il abuseroient de leur dignité et que il dissiperaient et destruiroient le bien publique... Tiercement, quant a la constitution ou mutation et acceptation des lays...Car l'en dit que ce que touche tous doit estre approuve de tous [quod omnes tangit]. Et par aventure, Aristote par 'policeme' entent ces iii. choses. Further on N. Oresme, see Ulrich Meier: Mensch und Bürger, Die Stadt im Denken spätmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen (Oldenbourg, Munich 1994) pp. 101 f. Ulrich Meier has shown, Mensch und Bürger, pp. 15-6 how German authors linked the Aristotelian definition of an animal politicum with the medieval Bürgerstadt. In the 15th-century bock by Johann von Soest entitled: Wy men wol ein statt regyrn sel he links communitas und civitas mit communitett und statt, civitas und unitas civium mit bürgerlich vereynung, vivere civiliter mit bürgerlich leben, bene et virtuose mit eerbar, animal polliticum mit burgher.
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and indeed, he wrote this commentary on Aristotle's Politics, in French, for his king. Marsilius' defence of the reasonable multitude which constitutes his human legislator likewise draws on the Roman maxim, quod omnes tangit. He argues that men found states, that is, they came together naturally to form the civil community in order to attain what was beneficial for the sufficiency of life and to avoid the opposite. These who live the civil life (viventes civiliter) do not live like beasts or slaves but live well (1,4.1). Hence, those matters which can affect the collective benefit or harm of all ought to be known and heard by all. Such matters are the laws. If one asks to whom belongs the authority to make laws which command coercively he answers: the human legislator, that is, the people or the whole body of citizens or the weightier part thereof which represents that whole body, commanding or determining publicly that something be done or omitted with regard to human civil acts under temporal pain or punishment{\, 12,3). The common utility of a certain law is better noted by the entire multitude because no one knowingly seeks to harm himself. Anyone can look to see whether a proposed law leans towards the benefit of one or a few, rather than the community. And the authority to make the law belongs to these men whose making of it will cause the law to be observed and such men are the whole body of citizens.24 Marsilius draws on a passage in Ecclesiastes 1,15 where it says that the number of fools is infinite. Marsilius, however thinks that men are not so foolish. Since all citizens knew that they must be measured by the law according to due proportion and no one knowingly harms or wishes injustice to himself, Marsilius argues that it follows that all or most men wish to have law conducing to the common benefit of all the citizens. The Ciceronian assertion that men naturally know that each ought to be given his due and the common advantage served underlies his observations here. Indeed, Marsilius notes that if some part or office of the state could dissolve by its own authority what had been established by the whole, then the part would be greater than the whole or at least equal to it which is, he thinks, selfevidently absurd (I, 12,8). He notes that these who object to the notion that the whole body of people is rightly the human legislator tend to use the passage from Ecclesiastes to argue for the stupidity of common men who they say 24
See Michael Wilks: Corporation and Representation in the Defensor Paris. In: Studia Gratiana 15 (1972) pp. 251-92 esp. 262-78: Wilks rightly saw that the common interest is susceptible to judgements of right and wrong so that statutes have a truth value. But Wilks overemphasized that in the truth value overriding the readiness of any particular person to assent to it leads to the conclusion that consent to law in Marsilius is essentially passive. Wilks was correct in his observation that Marsilius thought that anyone who dissents from or refuses to recognise the common benefit withdraws himself from the status of citizen. Instead of a tacit recognition, however, Marsilius seems to follow contemporary civil law whereby the recognition of the common advantage must issue in active, explicit and voluntary consent, in public, by each and every citizen to this civic purpose. This was also the view of the civilians Bartolus and Baldus.
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are vicious, unintelligent and undiscerning. This is precisely the argument that would be used by later civic humanists. But Marsilius believes he has logically demonstrated that all men desire sufficiency of life and seek to avoid the opposite, and that is the reason they form themselves into communities. Since the civil community results from the natural impulse in all men, and is not simply an instinct in the educated, then that part of the community that wishes the association to endure must be the weightier multitude. This multitude is not a simple majority but a near unanimity. For, he says, these who do not wish the polity to endure are slaves not citizens, and it is impossible for there to be so many persons who do not care to live a civil life that they could even constitute a majority. If this were the case, then nature would have erred, as Aristotle said and Marsilius cites. Since the multitude of men and not simply the majority wish the civil community to endure, he says that they also wish that without which the civil community cannot endure- the law, which is the standard of the just and beneficial, handed down with a command. The vast majority of men in a rational multitude, wishes to have law and they learn this not from experts but from experience and logical inferences based on their own experiences as well as from principles that are selfevident to all men (1,13,2-6). While not every citizen may be a discoverer of the law, yet every citizen can judge what has been discovered and proposed to him by someone else and, he adds, thereby discern what must be added, substracted or changed. Every man is a deliberator and capable of deliberative judgement. When we speak of the multitude, he says that the wise are included in it. Citing Aristotle, he notes that the few could never discern or desire the common benefit equally as well as would the entire multitude of citizens. The few would consult their own private benefit and they would be open to oligarchy. Even when the multitude cannot discern or discover specific laws as means to an agreed end, even when they cannot discover true and useful measures themselves, Marsilius says they can understand what is proposed and in addition, whether something should be added, subtracted, changed or completely rejected. They should be numbered among good men (1,13,7). In short, one of the major themes of medieval political theory and practice, in both church and state, is the role of consensual, corporative practices of selfgoverning communities made up of citizens and with representative institutions. At the heart of these theories is a conception of the people as individually and collectively reasonable and of the civitas er respublica er regnum as the sovereign civil community. It is precisely this presumed rationality of all citizens of whatever rank, in both Marsilius and in Nicole Oresme, that would come to be denied in humanist political discourse and thereafter. By the mid 15th century humanists would insist that a republic could only be governed by a select, more virtuous and rational few or if they wrote for the signori- the despotic feudal princes who had regained power nearly everywhere in Italy except for Venice and Florence - that successful government required a prince who was more virtuous and rational than
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his people, along Platonic models of the philosopher-king. Any examination of Machiavelli's Discorsi will similarly indicate that his understanding of a governo largo was within the frame of the humanist debate concerning the role of the people in a narrow or more extended republic, a governo stretto (like that in Venice) or a governo largo as Machiavelli prefers for his Florence. But what he meant by this governo largo was not the Marsilian optimism of a rational people structured corporatively to express their will in an explicit manner by deliberating in an assembly about proposed laws and consenting to these thought to be useful to the community. Rather, he always insisted that the people needed to be led. We can discover the degree to which Machiavelli trusted the people by examining what he says in both the Prince and the Discourses an LivyIn both works he praises popular judgement but his confidence is always in these who can manipulate that judgement for the good of the stato. A multitude without a head is useless (Disc. 1,44). He notes that these who have been present at any assemblies of men will have observed how erroneous their opinions often are, and in fact, unless they are directed by superior men, they are apt to be contrary to all reason (Disc. 11,22). The strength of the people comes from their being led and thereby united, and 'states', be they monarchies or republics, need skilled rhetoricians who can persuade men into seeing what is right in the circumstances and for the salus populi (Disc. 1, 58). To elevate popular judgement is to elevate the skill of the leaders in manipulating that judgement. The people's skill is limited to maintaining the state, not founding it as in Marsilius, and to judging good proposals not inventing or finding them. The people's skill is the skill of a good audience judging. But he observes that the people form their judgement of the men to be appointed to public office, being guided in their choice either by what is said of a man by the public voice and fame, even if by his open acts he appears different, or by the preconceptions or opinions which they may have formed of him themselves. They are impressed by a man's family or the company he keeps, or by his extraordinary action. They judge by appearances and common opinions. And they can be deceived by all. Machiavelli reflects the increasingly negative opinion of 'the people' and their rationality. Furthermore, he advised that his prince read Plutarch (Princ. xiv) where he could see that Plato's ideal state was borrowed from Sparta, emphasizing the irreversibility of the hierarchy of rulers over ruled and where a citizen elite were not philosophical rulers but warrior guardians. Machiavelli, like his humanist contemporaries, in being enamoured of their version of republican Rome was, in effect, a laconomane, a pro-Spartan, where an elite leads the led and for whom morality, instilled through good laws backed by military discipline, must be the
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S. Bertelli (Ed.): Il principe e Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (Milan, 1973).
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foundation of politics. Like his contemporary humanists, Machiavelli read history in ways that could be made useful to his own urban experiences and society.26 None the less, Machiavelli develops an argument that can also be found in most medieval political theories devoted to successful governance of communities, be they cities or monarchies. It is an argument about communal liberty. Machiavelli had written at a time in which it was still possible to speak of the undisputed aim of governing power. The choice was between securing already practised individual and collective liberties. Or, as in the Prince, which deals for the most part with communities that have forgotten their liberty because, being corrupt, they no longer engage in self-governing practices, the aim was to begin a process of establishing such liberties anew. Constitutional government, where there are good laws backed by good arms was, for him, a vivere civile. This, he said, was man's healthy condition. This is the reason that the story of individual and collective liberties as preserved in the administration of self-governing local communities into the 16th century actually begins in the 13th. It was at this time when, on the one hand, strong monarchs and their city allies, or on the other, self-governing city-state republics, began their respective engagement in attempting to curtail the territorial power of aristocratic magnates in the name of the various liberties of the members of their respective communities, be it called the community of the realm or of the city-state republic. The languages they used to defend such liberties were the languages of the ancients, modified to suit innumerable de facto corporate practices as these emerged during the middle ages and continued, but with less and less vigour, during the Renaissance. The Opposition in the earlier period and, as it still would be presented in both of Machiavelli's works, the Prince and Discourses on Livy, was not between monarchies and republics, but between the liberty of the whole community and the licence of magnates, be these magnates ecclesiastical, e.g., the papacy and the episcopacy, or secular lay lords, the signori, who still ex26
The emphasis was increasingly on Sparta's Lycurgus as mythical lawgiver and Rome's Scipio imitating the Persian Cyrus. The political systems of Sparta and republican Rome were sometimes assimilated to the point where Rome was considered not merely influenced politically by, but directly or indirectly descended genetically from, Sparta which was ruled by a Gerousia, a senate of 30 members including two kings and an oligarchically-determined citizen body. See A. Powell and S. Hodkinson (Eds.): The Shadow of Sparta (London, 1994). Similarly, see W. Nippel: Republik, Kleinstaat, Biirgergemeinde. Der antike Stadtstaat in der neuzeitlichen Theorie. In: P. Blickle (Ed.) Theorien kommunaler Ordnung in Europa (Munich, 1996) pp. 225-47. Similarly, Guicciardini argued in favour of small elites to establish stability at the expense of the people's role in government or that kings and princes were better protectors of the people than a patrician nobility or representatives of the people. F. Guicciardini: Dialogo del Reggemento di Firenze, ed. R. Palmarocchi (Ban, 1932) pp.43, 150-6, 219; against the protection of guild status in his 'Del mode di ordinare il governo popolare', (Dialogo del Reggemento), 222. See A. Brown: City and Citizen: changing perceptions in the Fifteenth and Sixteenth Centuries. In: Molho, Raaflaub and Emlen, (Eds.): City-States in Classical Antiquity and Medieval Italy, pp.93-111.
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ercised or tried to recover old feudal liberties over and against the liberties of the community which the 'state', whatever its constitutional form, was meant to serve. Marsilius of Padua's corporate vision did not last. I have argued that it was not applicable even in Italy to practices that began to emerge before the beginning of the 15 th century and which increasingly replaced corporative politics and an explicitly expressed popular will with another kind of consensus politics where the people were led by a self-selecting elite whom the humanists sought to educate. At the beginning of the 16th century, that is, at the time of the Reformation, a trust in the people underwent further deterioration so that it has been argued27 that we can perhaps see the Reformation as that moment which marked the beginning of the end for many of the common cultural assumptions which bound together the late medieval urban community with its corporative practices. Another kind of political theorising would come to tell the truth about practices of governance which were increasingly, and across Europe, becoming less representative, in both city-states and kingdoms. Once we get to the 17th century and in particular to Hobbes's theory of the sovereign state, we have left Marsilius and Machiavelli and the self-governing practices they respectively described, far behind. Marsilius could not have written his Defensor pads in and for Machiavelli's early 16thcentury Florence, and Machiavelli's Prince and even more so his Discorsi could not have been written either for Marsilius's world of urban corporations or for the experiences of many, if not most, 17th-century cities or states.
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C. Phythian-Adams: Desolation of a City: Coventry and the Urban Crisis of the Late Middle Ages (Cambridge, 1979) p. 275.
The Jesuits and Politics: self-appraisal at papal behest 1645/46 Robert Bireley, S.J.
A major issue in the history of Western Civilization has been the relationship, in both the ideal and the real order, between religion and politics. The issue became more central than ever during the early modern period with the growth of the state and the Reformation. The Society of Jesus or Jesuits were significant players during this confessional age, and it is instructive to investigate how at a certain point in their history they envisioned this relationship. On November 21, 1645 there assembled in Rome the ninety-two Jesuits elected to the Eighth General Congregation of the Society of Jesus. From all over Europe they arrived, from England to Sardinia, from Spain to Lithuania, and they included six representatives from across the seas, one each from India, China, Japan, Mexico, New Granada, and Peru who were already in Europe on other business. This was the first general congregation since 1615, which had elected the first non-Spanish subject, the native Roman Muzio Vitelleschi, to serve as superior general. Principally because of the Thirty Years War, no congregation had convened since then, and the occasion for the present assembly was the death of Vitelleschi on February 9, 1645, and the need to elect his successor. The Eighth General Congregation was to sit longer than any other general congregation until the 1960's, 145 days.1 One of the principal issues with which it dealt was the participation of Jesuits in politics, or as the documents often read, matters of 'reason of state.' The congregation promulgated no new legislation on the matter, but a look at its deliberations reveal ambiguity and internal tensions that long characterized the Society's policy. The general congregation constituted the highest authority within the Society, but it did not meet on a regular basis. A principal task of a congregation was to 1
John W. Padberg, S.J. Martin D. OTCeefe, S.J., and John L. McCarthy, S.J.: For Matters of Greater Moment: The First Thirty Jesuit General Congregations: A Brief History and a Translation of the Decrees (St. Louis, 1994), xv-xvi, 719-20.
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elect a superior general, who then served for life. Otherwise a general congregation convened as the result of a complicated process which involved the triennial meeting in Rome of delegates, or procurators, from the various provinces of the Society who determined whether there were grounds for a general congregation. The superior general himself could also summon a general congregation, as had Vitelleschi's predecessor, Claudio Acquaviva, twice in his long tenure of thirtyfour years. Should a general congregation convene, the senior professed fathers of each province met in a provincial congregation to elect two delegates who would accompany the provincial superior to Rome. In this way the membership of the general congregation was determined. The provincial congregations also drew up a list of issues and questions that they wanted the general congregation to consider. Only a litde more than a year before the opening of the general congregation, the cardinals had elected pope Giovanni Battista Pamphili, who took the name Innocent X, to succeed the Barberini Pope Urban VIII. The new pope took an unprecedented action as the congregation assembled. Even before the traditional dispatch of the Society's vicar general to seek the pope's blessing upon the general congregation, Innocent summoned him and presented him with a list of eighteen questions that the delegates were to take up before proceeding to the election of the new general.2 This was a sharp break with the normal procedure, which called for the election of the new superior general as the first item of business at a congregation. Francisco Aguado, delegate from the province of Toledo, persuaded the fathers to remonstrate with the pope, but Innocent refused to alter his directives.3Who was behind this papal initiative is not completely clear. One person who was obviously involved was the Jesuit Melchior Inchofer, who had taught for many years at the Roman College and who had connections in the Vatican. He had served on the ad hoc commission that recommended the rigorous action taken against Galileo back in 1633.4 Drafts of his letters to the pope highly critical of Vitelleschi and of the vicar general and questioning the life term of the superior general are found in the Jesuit Archives in Rome.5 Innocent's questions forced the Jesuits to reevaluate elements of the Jesuit Constitutions themselves, such as the life term of the superior general and the manner of selecting local and provincial superiors. Our concern is the second item on the list. The congregation was to consider whether the Fathers of the Society did not involve themselves in secular matters and business more than the sacred 2
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For this list, see Antonio Astrain: Historia de la Compagnia de Jesus 5 (Madrid, 1916): 266, n.2. Ibid., 264-71. Giorgio di Santillana: The Crime of Galileo (Chicago, 1955), 235,245-7. Archivum Romanum Societatis Jesu (henceforth ARSJ), Congregationes (henceforth Cong.) 20d.
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canons and their own Constitutions permitted. The delegates then frequently distinguished as did many of the documents between secular affairs which involved more properly political activity and other secular matters such as assisting family or friends in legal matters or interceding with princes on behalf of family or benefactors. Mingling in political affairs was considered the more serious offense though the two types of activity often shaded into each other. The congregation dutifully appointed committees to take up each of the pope's questions. Back in early 1617, in his first circular letter to all Jesuits, Vitelleschi had declared that he found the Society to be in essentially sound health, robust, as he put it. But one concern was the complaint often heard that Jesuits were more prudent men, politicians (voliticos) rather than solidly spiritual.6 Not mentioned directly in the letter was Jesuit involvement in politics, but this had become an issue by then. The first Jesuit to serve as confessor to a prince had taken up his task at the command of Ignatius himself. In 1552 King John III of Portugal requested a regular confessor. In spite of their reluctance, Ignatius directed one of two Portuguese Jesuits to assume the responsibility. He gave two reasons. First, the Society ought to administer the sacraments to those of high as well as low station, and especially in this case, since King John was an unusually generous benefactor of the Society. Secondly, and more significantly, the greater good and service of God called for acceptance of the position. All members of the body participate in the welfare of the head, and all subjects in the welfare of the prince, and so we ought to esteem the spiritual assistance that we give to these [princes] more highly than the assistance that we provide others.1 Ignatius subsequently wrote a similar idea into the Constitutions of the Society, recognizing that normally a prince's approval was needed to undertake apostolic activity in his lands.8 Yet the Constitutions also summoned Jesuits to abstain as far as possible from all secular employments, so that they might devote themselves more fully to the spiritual pursuits of their vocation.9 What was to happen when princes, benefactors, or family members pressed Jesuits to engage in secular and especially political matters? Problems arose as more Jesuits became confessors of princes, especially in Germany. The Fifth General Congregation of 1593/94 issued a general decree on Jesuit involvement in politics. By now a few members of the Society had figured in the French Religious Wars and in the mounting of the Spanish Armada.10 No Jesuit, the decree read, was for any reason to dare or presume to become involved 6 7
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Jan. 2,1617, Epistolae Quattuor Adm. R.P.N. Mutii Vitelleschi (n.p., n.d.), 1-24. Ignatius Loyola to Diego Mir