Überleben, Pilgern, Begegnen im orientalischen Christentum: Festschrift für Wolfgang Hage zum 85. Geburtstag 3447115327, 9783447115322

Überleben, Pilgern, Begegnen im orientalischen Christentum erschließt wichtige Aspekte christlicher Existenz im Orient.

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German Pages 266 [269] Year 2020

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Titelseiten
Inhalt
Martin Tamcke: Perspektivwechsel in der Kirchengeschichte durch den Blick auf die orientalischen Christen?
Shabo Talay: Dietrich Bonhoeffers „Von guten Mächten“ in der aramäischen Sprache des Turabdins
Bärbel Beinhauer-Köhler: Kairo als Fluchtort. Auf Spurensuche in einer arabisch geprägten Metropole
Hayk Martirosyan: Heinrich Melidonian: Die Geschichte eines Überlebenden. Ein Fallbeispiel aus dem deutschen Waisenhaus „Bethschalum“ in Marasch
Kai Merten: Helden oder Aufrührer? Erinnerungen an die armenische Stadt Zeitun während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich
Andreas Pflitsch: „Du sollst dort nicht hinsehen!“ Zum literarischen Umgang exilirakischer Autoren mit Kriegstraumata
Thomas Benner: Die Orientreise Kaiser Wilhelms II. 1898 Pilgern im Kraftfeld der Macht
Ovidiu Ioan: Umbruch und Kontinuität Ostsyrisches Pilgerverständnis in frühislamischer Zeit
Kai Merten: Pilgern in der äthiopisch-orthodoxen Kirche
Andreas Müller: Pilgern im spätantiken Christentum. Der Sinai als Pilgerziel
Cătălin-Stefan Popa: Für und Wider das Pilgern. Argumente aus dem Ethikon des Barhebraeus
Cornelia Schlarb: Pilgerinnen auf Egerias Spuren – Ökumenische Gemeinschaft und Begegnungen auf dem Weg von Spanien bis Jerusalem und Palästina
Johannes Gronemann: Interreligiöse Wechselwirkungen zwischen ostsyrischen Christen und Muslimen in frühʿabbāsidischer Zeit am Beispiel ʿAmmār al-Baṣrīs
Dagmar Heller: Orthodoxie und „versöhnte Verschiedenheit“. Zur Kompatibilität von orthodoxem und protestantischem Einheitsverständnis im ökumenischen Diskurs
Stanislau Paulau: Visions of Resettlement and Contested Belongings. Letters of Pavel Cicianov to Mar Shemʿon XVI Yoḥannan and Mar Yoḥannan of Urmia in the Context of Early Contacts between East Syriac Christianity and Imperial Russia
Martin Tamcke: Lernen in Begegnung nach einer ostsyrischen Legende aus der frühmittelalterlichen Apostolischen Kirche des Ostens
Lina Elhage-Mensching: Elements of the Maronite Christian Tradition in the Works of Gibran Khalil Gibran
Jacob Thekeparambil: Hymnal Interpretation of the Parables in the West Syriac Tradition
J. Jürgen Tubach: Zur Etymologie des Namens Elchasai
Bibliographie Wolfgang Hage
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Überleben, Pilgern, Begegnen im orientalischen Christentum: Festschrift für Wolfgang Hage zum 85. Geburtstag
 3447115327, 9783447115322

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Überleben, Pilgern, Begegnen im orientalischen Christentum Festschrift für Wolfgang Hage zum 85. Geburtstag Herausgegeben von Martin Tamcke und Egbert Schlarb

GÖTTINGER ORIENTFORSCHUNGEN

SYRIACA Band 60

© 2020, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11532-2 - ISBN E-Book: 978-3-447-39055-3

G Ö T T I N G E R   O R I E N T F O R S C H U N G E N I. R E I H E:  S Y R I A C A Herausgegeben von Martin Tamcke Band 60

2020

Harrassowitz Verlag · Wiesbaden

© 2020, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11532-2 - ISBN E-Book: 978-3-447-39055-3

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Wolfgang Hage

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Überleben, Pilgern, Begegnen im orientalischen Christentum Festschrift für Wolfgang Hage zum 85. Geburtstag Herausgegeben von Martin Tamcke und Egbert Schlarb

2020

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the internet at https://dnb.de.

Informationen zum Verlagsprogramm finden Sie unter https://www.harrassowitz-verlag.de © Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Verarbeitung: Rosch-Buch Druckerei GmbH, Scheßlitz Printed in Germany ISSN 0340-6326 ISBN 978-3-447-11532-2 e-ISBN 978-3-447-39055-2

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Inhalt Martin Tamcke Perspektivwechsel in der Kirchengeschichte durch den Blick auf die orientalischen Christen? .....................................................................................

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Shabo Talay Dietrich Bonhoeffers „Von guten Mächten“ in der aramäischen Sprache des Turabdins .....................................................................

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Bärbel Beinhauer-Köhler Kairo als Fluchtort Auf Spurensuche in einer arabisch geprägten Metropole ...............................................

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Hayk Martirosyan Heinrich Melidonian: Die Geschichte eines Überlebenden Ein Fallbeispiel aus dem deutschen Waisenhaus „Bethschalum“ in Marasch ................

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Kai Merten Helden oder Aufrührer? Erinnerungen an die armenische Stadt Zeitun während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich ...................................................................................................

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Andreas Pflitsch „Du sollst dort nicht hinsehen!“ Zum literarischen Umgang exilirakischer Autoren mit Kriegstraumata .........................

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Thomas Benner Die Orientreise Kaiser Wilhelms II. 1898 Pilgern im Kraftfeld der Macht ......................................................................................

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Ovidiu Ioan Umbruch und Kontinuität Ostsyrisches Pilgerverständnis in frühislamischer Zeit ..................................................

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Kai Merten Pilgern in der äthiopisch-orthodoxen Kirche ..................................................................

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Andreas Müller Pilgern im spätantiken Christentum Der Sinai als Pilgerziel ................................................................................................... 109

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Inhalt

Cătălin-Stefan Popa Für und Wider das Pilgern Argumente aus dem Ethikon des Barhebraeus ................................................................ 127 Cornelia Schlarb Pilgerinnen auf Egerias Spuren Ökumenische Gemeinschaft und Begegnungen auf dem Weg von Spanien bis Jerusalem und Palästina ............................................................................................ 135 Johannes Gronemann Interreligiöse Wechselwirkungen zwischen ostsyrischen Christen und Muslimen in frühʿabbāsidischer Zeit am Beispiel ʿAmmār al-Baṣrīs .............................................. 159 Dagmar Heller Orthodoxie und „versöhnte Verschiedenheit“ Zur Kompatibilität von orthodoxem und protestantischem Einheitsverständnis im ökumenischen Diskurs ............................................................................................... 191 Stanislau Paulau Visions of Resettlement and Contested Belongings Letters of Pavel Cicianov to Mar Shemʿon XVI Yoḥannan and Mar Yoḥannan of Urmia in the Context of Early Contacts between East Syriac Christianity and Imperial Russia ........................................................................................................ 201 Martin Tamcke Lernen in Begegnung nach einer ostsyrischen Legende aus der frühmittelalterlichen Apostolischen Kirche des Ostens .................................................. 211 Lina Elhage-Mensching Elements of the Maronite Christian Tradition in the Works of Gibran Khalil Gibran ............................................................................ 221 Jacob Thekeparambil Hymnal Interpretation of the Parables in the West Syriac Tradition .............................. 237 J. Jürgen Tubach Zur Etymologie des Namens Elchasai ............................................................................ 247 Egbert Schlarb Bibliographie Wolfgang Hage ........................................................................................ 257

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Perspektivwechsel in der Kirchengeschichte durch den Blick auf die orientalischen Christen? Wolfgang Hage zum 85. Geburtstag Wolfgang Hage,1 als Pastorensohn im thüringischen Römhild 1935 geboren, gehört zu jener Generation von Theologen, deren Blick sich weitete über Europa und die aus der europäischen Mission erwachsenen Kirchen hinaus. Letztere werden und wurden gern ins Feld geführt, wenn es um die Gewinnung globaler Perspektiven und Interkulturalität geht. Aber gerade das leisten sie nur bedingt. Die Gestaltungen von Kirche im Zuge der europäischen Welteroberung in Lateinamerika, Afrika oder Asien ist gerade nicht das Gegenüber zur westlichen Kultur, sondern gerade auch in ihren Antizipationsprozessen gegenüber dem Westen ohne den Westen nicht denkbar. Nun sind natürlich Kulturen immer irgendwie mit anderen Kulturen verwoben und so auch Kirchen mit anderen Kirchen, aber genuin in ihren eigenen Traditionsströmen gewachsene Kirchen, die sich anderen Kontexten als den westlichen verdankten, gab es schon immer. Da mag man heute fragen, wieviel der semitische Wurzelgrund etwa bei den syrischen Orthodoxen an deren Herkunft wirklich austrägt gegenüber griechischen oder gar römischen Einflüssen, aber im Zuge schon früher Betonung ihrer auch etwa sprachlichen Gesondertheit zeigt doch: hier sind Kirchen, deren Identität sich nicht erst im Zuge der Spaltung im Gegenüber zur Reichskirche verstanden, sondern schon in ihren Ursprüngen auf Elemente zurückgreifen konnten, die nicht einfach übergriffig für die kulturellen und kirchlichen und theologischen Phänomene der Reichskirche zu vereinnahmen waren und sind, auch wenn bis heute gerade westliche Forschung weniger auf deren eigenständige kulturelle Leistung achten, sondern versucht sind, sie stets als vom Westen abhängig erweisen zu wollen. Auch die Rezeption westlicher Theologie – ob nun aus dem Kontext Konstantinopels oder aus dem Roms – wird zu selten daraufhin betrachtet, wie hier diese Impulse in die Rahmenbedingungen der orientalischen und ostafrikanischen Welt eingepasst wurden. Demgegenüber bestand und besteht Interesse an den orientalischen Kirchen (den Kirchen der Armenier, Syrisch-Orthodoxen, Assyrern/Kirche des Ostens, den Thomaschristen Indiens, den Äthiopiern und Eritreern, den Nubiern). In Wolfgang Hage fanden sich die beiden wichtigsten Schulen dieser Forschung: die Göttinger Schule, in seiner Zeit repräsentiert besonders durch seinen Vorgänger in Göttingen, Werner Strothmann, und die Münster-Marburger Schule, repräsentiert besonders durch seinen Marburger Lehrer und Vorgänger Peter Kawerau. Nach dem Studium der evangelischen Theologie in Bonn, Tübingen und Münster (1955–1959) war er als Redaktionsassistent am Bucer-Institut der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Münster tätig, von 1962–1972 dann Assistent bei Kawerau am Marburger Lehrstuhl für Ostkirchengeschichte (wo er 1964 promovierte 1

Martin Tamcke, Mittler zwischen Orient und Okzident, Dem Theologen und Ostkirchenkundler Professor Dr. Wolfgang Hage zum 70. Geburtstag, in: Marburger UniJournal 25, Marburg 2006, 59.

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Martin Tamcke

und sich 1971 habilitierte) und wurde 1972 schließlich in Marburg zum Professor ernannt. Schon drei Jahre darauf verließ er die Philipps-Universität zu Marburg und wirkte ab 1975 als Professor für „Orientalische (insbesondere syrische) Kirchengeschichte“ an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen. Damit änderte sich die Bezeichnung des Lehrstuhles. Sein Vorgänger Werner Strothmann hatte diesen Lehrstuhl noch lediglich als Professor für syrische Kirchengeschichte inne, nun aber wurde auch die Lehrstuhlbezeichnung geweitet auf den gesamten Orient, was neben den Kirchen Ostafrikas auch die aus der byzantinischen Tradition stammenden Kirchen im Orient umfasste (auch Georgien) und auch die mit Rom unierten Kirchen (Maroniten, Chaldäer, Syrianer, katholische Armenier, katholische Kopten, katholische Äthiopier, Malabarische und Malankarische Kirche innerhalb der Thomaschristenheit), zudem die protestantischen Kirchen (darunter auch solch eigenständige Kirchbildungen wie die MarThoma-Kirche). Entsprechend änderte sich das Lehrangebot. Wolfgang Hage bot in Göttingen Sprachkurse zu fast allen christlich-orientalischen Sprachen an: West- und Ostsyrisch, Armenisch, Georgisch, Nubisch, Gә’ez (Altäthiopisch), christliches Arabisch. Die Koptologie und die Christliche Archäologie/Byzantinische Kirchengeschichte hingegen war in Göttingen ein eigenständiges Fach wie die mittlerweile dort nicht mehr existierende Byzantinistik oder die vorderasiatische Archäologie. Hage hat dieses Angebot zum Erlernen der Quellensprachen auch in Marburg aufrechterhalten. Beide Standorte kennzeichnet die Tradition des Lehrens in den christlich-orientalischen Quellensprachen bis auf den heutigen Tag. Sie verlören ihre Bedeutung, wenn die Sprachkurse fortfielen. Nun hatten die Studierenden die Möglichkeit, sich Kirchen zuzuwenden, die bis dahin völlig außerhalb des eurozentrischen Weltbildes der meisten Kirchenhistoriker lagen. 1981 ging Hage dann zurück von Göttingen nach Marburg, um den dortigen Lehrstuhl für „Kirchengeschichte mit dem Schwerpunkt Ostkirchengeschichte“ seines Lehrers Kawerau zu übernehmen. Was Hage gelang, war kaum zu glauben: Er konnte Studierende der Theologie für diese ansonsten ausgeblendeten Kirchengemeinschaften interessieren. Gerade weil er auch bewusst sich am grundlegenden Vorlesungsbetrieb zur Kirchengeschichte beteiligte, erreichte er die späteren Pastoren, die sein Forschungsgebiet alsbald zu nutzen verstanden, um der Migration der kirchlichen Gemeinschaften aus dem Orient nach Deutschland mit Offenheit, Wissen und Zugewandtheit in ihren Gemeinden und Kirchen zu begegnen. Hage hatte sich exemplarisch für sein Forschungsfeld ausgewiesen mit seiner Dissertation „Die syrisch-jakobitische Kirche in frühislamischer Zeit nach orientalischen Quellen“ (Wiesbaden 1966) und den Blick bereits auch über den Orient hinaus geweitet mit seiner Habilitationsschrift „Untersuchungen zum Leben der Christen Zentralasiens im Mittelalter“ (Marburg 1970). Er prägte das Bild vom christlichen Orient in den Folgejahrzehnten deutschlandweit mit seinen unzähligen grundlegenden Lexikonartikeln, die stets versuchten, den neuesten Kenntnisstand für Interessierte verständlich zu erschließen und dokumentierte mit seinen Rezensionen und Bücherschauen, woher dieses Wissen für Interessierte zu beziehen war. Sein Beitrag zur Kirchengeschichte als Missionsgeschichte über den Weg des syrischen Christentums bis nach China und Indien („Der Weg nach Asien“) blieb über Jahrzehnte Standard für den zentralasiatischen Bereich innerhalb des theologischen Lehrbetriebs.2 Wenn es die syrischen Kirchen überhaupt schafften, dass ihre enorme geographi2

Wolfgang Hage, Der Weg nach Asien: Die ostsyrische Missionskirche, in: Knut Schäferdiek, Die Kir-

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Perspektivwechsel

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sche Ausdehnung in mittelalterlicher Zeit von den in der Regel eurozentrisch arbeitenden Kirchenhistorikern wahrgenommen wurde, dann zunächst über solche Wortmeldungen vom Rande her, die gehört wurden auch deshalb, weil Hage der Kirchengeschichte als Disziplin bewusst treu blieb. An den in der Kirchengeschichtsschreibung bis heute marginalisierten Gestaltungen des Christentums werden Umbrüche in der gesamtwissenschaftlichen Lage stets eher fühlbar als im Zentrum, das für sich in Anspruch nimmt, auf einer Wissenschaftstradition aufzuruhen, die sich selbst für unumgehbar und oft auch für selbstverständlich zentral hält, ohne je die Gegenprobe anzutreten, so dass Studierende immer noch mit dem gleichen Kanon eurozentrischen Wissens befasst werden und von dorther ihre konfessionelle Identität klären oder geklärt bekommen, der sie zugleich von allgemeinen Entwicklungen abzukoppeln droht und in eine Isolation führen könnte, die christliche Existenz nicht mehr als auf das Ganze der Gesellschaft bezogen sieht, sondern nur noch als Ausdruck einer Bezogenheit auf Kirche und kirchliches Milieu im Gesamtgefüge der gegenwärtigen Gesellschaft. Es verwundert also nicht, dass der Sonderforschungsbereich 13 um die Arbeitsbereiche Hages erweitert wurde und Hage sich mit einem Projekt zu Zentralasien beteiligte. Später wird schon auf dem Klappentext von Hages kleinem Lehrbüchlein „Das Christentum im frühen Mittelalter (476–1054). Vom Ende des weströmischen Reiches bis zum west-östlichen Schisma“ zu lesen sein, dass es programmatisch sich vom Eurozentrismus absetzen wollte.3 Es war ein logischer nächster Schritt, dass Hage später ein umfangreiches Standardwerk vorlegte, in dem es ihm auch darum ging, die Kirchen der orientalischen Christenheit nach ihrem Selbstverständnis darzustellen.4 Hages Publikationen wiesen immer wieder darauf hin, dass sich das orientalische Christentum Asiens im Gespräch mit seinem andersreligiösen Kontext zu verstehen hatte. Hatte der Titel der Dissertation noch gelautet „Die syrisch-jakobitische Kirche in frühislamischer Zeit nach orientalischen Quellen“, so folgten Arbeiten wie „Das Nebeneinander christlicher Konfessionen im mittelalterlichen Zentralasien“,5 „Der Einfluß des orientalischen Christentums auf den werdenden Islam“,6 „Die oströmische Staatskirche und die Christenheit des Perserreiches“,7 „Christentum und Schamanismus. Zur Krise des Nestorianertums in Zentralasien“,8 „Einheimische Volkssprachen und syrische Kirchensprache in der nestorianischen Asienmission“,9 „Reliche des frühen Mittelalters (Kirchengeschichte als Missionsgeschichte 2/1), München 1978, 360-393. Wolfgang Hage, Das Christentum im frühen Mittelalter (476–1054). Vom Ende des weströmischen Reiches bis zum west-östlichen Schisma, Göttingen 1993. 4 Wolfgang Hage, Das orientalische Christentum, Stuttgart 2007. 5 Wolfgang Hage, das Nebeneinander christlicher Konfessionen im mittelalterlichen Zentralasien, in: Wolfgang Voigt, XVII. Deutscher Orientalistentag (Würzburg 1968), Vorträge Teil 2, Wiesbaden 1969, 517–525. 6 Wolfgang Hage, Der Einfluß des orientalischen Christentums auf den werdenden Islam, in: Willi Höpfner, Der Islam als nachchristliche Religion, Wiesbaden 1971, 7–19. 7 Wolfgang Hage, Die oströmische Staatskirche und die Christenheit des Perserreiches, Zeitschrift für Kirchengeschichte 84, 1973, 174–187. 8 Wolfgang Hage, Christentum und Schamanismus. Zur Krise des Nestorianertums in Zentralasien, in: Bernd Jaspert/Rudolf Mohr, Traditio – Krisis – Renovation aus theologischer Sicht. FS Winfried Zeller, Marburg 1976, 114–124. 9 Wolfgang Hage, Einheimische Volkssprachen und syrische Kirchensprache in der nestorianischen Asienmission, in. Gernot Wießner, Erkenntnisse und Meinungen 2. FS Werner Strothmann (GOF.S 17), Wiesbaden 1978, 131–160. 3

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Martin Tamcke

giöse Toleranz in der nestorianischen Asienmission“,10 „Kulturelle Kontakte des ostsyrischen Christentums in Zentralasien“,11 „Christentum und Islam im Vorderen Orient“,12 „Das Christentum in der Turfan-Oase. Zur Begegnung der Religionen in Zentralasien“13. Mit solchen Beiträgen wies Hage immer wieder aus monokulturellem Selbstverständnis heraus auf die Existenz der Christen in Bezügen, in multikulturellen Gesellschaften, im Gespräch und Austausch mit anderen Religionen. Es geht dabei um die Wahrnehmung der Kirche im religiösen Mosaik einer Landschaft. Die „Chancen wechselseitiger Bereicherung durch unterschiedliche Profile“ in der gegenwärtigen Phase der Überwindung von Konsensund Differenzökumene ist nicht erst ein Phänomen der Gegenwart. Sie täte gut dran, an die von Hage repräsentierte Wissenschaftstradition anzuknüpfen.14 Hages Ansatz wird heute von interkulturellen Theologen als ein Zwischenschritt gewürdigt hin zu der Kirchengeschichtsschreibung aus der Sicht der Missionierten. „Unter dem Einfluss der kontextuellen Theologien und später der postkolonialen Kritik entwickelten sich Projekte der Neuschreibung der Missionsgeschichte (rewriting) aus der Perspektive der Dritten Welt bzw. der Missionierten selbst. Dabei kam es zunächst zu der Entdeckung, dass es parallel mit der Westausbreitung des Christentums auch eine Missionsbewegung nach Osten entlang der Seidenstraße nach Indien und China und Süden bis nach Äthiopien gegeben hatte.“15 Das könnte nun so verstanden werden, als sei dieser Schritt etwas Vorübergehendes, das dem Eigentlichen dann Platz zu machen hätte. Es ist geradezu umgekehrt. Interkulturalität kann in diesen Feldern unbeeinträchtigter studiert werden als in Feldern, in denen von vornherein eine irreparable Fremdbestimmung durch den Westen die Begegnung zweier gleichgewichtiger Entitäten unmöglich macht. Hage widmete sich zudem immer wieder Themen der Ökumene und verfasste etwa grundlegende konfessionskundliche Artikel zu den Kirchen seines Forschungsbereiches. Viel wäre zu lernen am Beispiel der orientalischen Kirchen. Eine Mission ohne Gewalt und ohne christlichen Staat im Rücken wäre doch ein gewichtiges Alternativmodell zu all dem, was das westliche Christentum in den Zeiten postkolonialer Aufklärung vor Augen geführt bekam als Verirrung. Ein Christentum, das stets im Raum andersreligiöser Mehrheiten zu leben hatte, wäre mental geeignet, traditionelle Sichtweisen zu ändern und das Kirche-Sein im Kontext mit anderen Religionen und Konfessionen unter der Dominanz von Andersgläubigen als etwas zu bedenken, dem tiefe historische Wurzeln im Rahmen der Kirchengeschichte eigen sind. Diese Laudatio auf den nunmehr seinen 85. Geburtstag feiernden theologischen Lehrer darf sich aber nicht begnügen mit dem Blick auf dessen Leistung in der Wissenschaft in 10 Wolfgang Hage, Religiöse Toleranz in der nestorianischen Asienmission, in: Trutz Rendtorff, Glaube und Toleranz. Das theologische Erbe der Aufklärung, Gütersloh 1982, 99–112. 11 Wolfgang Hage, Kulturelle Kontakte des ostsyrischen Christentums in Zentralasien, in: René Lavenant, IIIe Symposium Syriacum (Goslar 1980), Les contacts du monde syriaque avec les autres cultures (OCA 221), Rom 1983, 143–159. 12 Wolfgang Hage, Christentum und Islam im Vorderen Orient, in: Sener Sargut, Zum Verhältnis abendländisches Christentum und Islam (Migrations-, Sprach- und Türkeiforschung 1), Frankfurt 1986, 23– 37. 13 Wolfgang Hage, Das Christentum in der Turfan-Oase. Zur Begegnung der Religionen in Zentralasien, in: Walter Heissig/Hans-Joachim Klimkeit, Synkretismus in den Religionen Zentralasiens (StOR 13), Wiesbaden 1987, 46–57. 14 Volker Küster, Einführung in die Interkulturelle Theologie, Göttingen 2011, 205. 15 A.a.O., 34.

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Perspektivwechsel

Forschung und Lehre. Wolfgang Hage hat sich den Respekt seiner Studierenden erworben, hat in der Synode seiner Kirche mitgewirkt, hat der Universitätskirche in Marburg gedient, der Kontaktgruppe zwischen der EKD und den orientalisch-orthodoxen Kirchen angehört und sie wesentlich mit seinem Wissen mitgetragen. Auf Reisen, Exkursionen, Akademietagungen hat er breiten Kreisen die Welt des christlichen Orients eröffnet. Bei all dem enormen Wissen bescheiden im Auftreten, bei aller Verbindung zu Philologien bedacht auf den kirchlichen Kontext, dem je Anderen mit Respekt begegnend, überzeugte er gerade auch durch seine Haltung, die Gegensätze auszugleichen half und Unverständnis in Verständnis zu wandeln suchte. Ich persönlich bekenne, dass mir das Bild meines Lehrers mein Leben lang vor Augen ist. Es ermutigt mich auch da, wo ich mich vielleicht anders entwickelte oder entschied, weil deutlich wurde, dass hier einer lehrt und forscht im Sinne eines Dienstes an der Allgemeinheit. Alle wollten sich gern einbringen in diese Festschrift für Wolfgang Hage. Was hier nun versammelt wurde, sind Beiträge verschiedenster Art, alle im Kontext der Arbeit des Lehrstuhles für „Ökumenische Theologie und Orientalische Kirchen- und Missionsgeschichte“ entstanden. Einige wurden ausschließlich für den Jubilar verfasst, einige verdanken sich den Ringvorlesungen (etwa der zum „Leben im und mit dem Krieg“ aus dem Sommersemester 2018 und der zum „Pilgern“ aus dem Sommersemester 2019) und anderen Aktivitäten des einst von Hage bekleideten Lehrstuhles in Göttingen. Der Sammelband beginnt mit den Arbeiten zur Kriegsthematik, gefolgt von denen zum Pilgern, und ein dritter Abschnitt versammelt Arbeiten zum Bereich von Ökumene und Vermischtem. Ein besonderer Dank gilt Egbert Schlarb, der wie bei der Festschrift zum 60. Geburtstag auch heute wieder die Redaktion und Erstellung der Druckvorlage übernahm.

Göttingen, im September 2020

Martin Tamcke

© 2020, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11532-2 - ISBN E-Book: 978-3-447-39055-3

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Dietrich Bonhoeffers „Von guten Mächten“ in der aramäischen Sprache des Turabdins Shabo Talay Das klassische Syrisch als Sprache der Liturgie in den syrischen Kirchen spielte für die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen protestantischen Gemeinden im Osten der Türkei nur eine untergeordnete Rolle. Einzelne Versuche, die Umgangssprache der syrischen Christen im Turabdin für die Gemeinden zu etablieren, schlugen fehl. Gegen das Prestige des Arabischen, das im Rahmen der sog. Nahḍa zu einer neuen Blüte gelangt war, konnte sich die aramäische Umgangssprache ohne eigene Schrifttradition nicht durchsetzen. Erst eine neue protestantische, diesmal evangelikale Bewegung innerhalb der syrisch-orthodoxen Christen aus dem Turabdin eröffnete Ende der 1960er Jahre dem Turoyo eine neue Chance. Denn den Protagonisten fehlte jeglicher Bezug zum Arabischen, und zugleich war Türkisch in den Dörfern nicht so verbreitet, als dass es dort oder unter den Dorfbewohnern für den Ausdruck des Glaubens herangezogen werden könnte. Seit Anfang der 1970er Jahre werden Gemeindelieder auf Turoyo gesungen. Da den meisten die Verwurzelung in der syrischen Sprache fehlte, wurden diese Hymnen in einer an das türkische System angelehnten Lateinschrift geschrieben. Das Liederbuch Kole Ruḥonoye „Geistliche Lieder“ umfasst rund 250 Hymnen, von denen die meisten auch im Internet u.a. unter www.afcg-bietigheim.de oder www.hubo-dlo-ko.jimdofree.com gehört werden können. Inzwischen hat das Turoyo auch im syrisch-orthodoxen Gottesdienst einen festen Platz eingenommen. Zusätzlich zu den Lesungen, die wahrscheinlich schon immer in einer für die Gemeinde verständlichen Sprache gehalten wurden, werden heute große Teile der Liturgie zwecks besseren Verständnisses in der Umgangssprache zelebriert. Früher mussten die Priester nach ihren sprachlichen Fähigkeiten die liturgischen Texte simultan ins Turoyo übertragen. Heute hingegen liegen für die meisten Texte Übersetzungen ins Neuaramäische in gedruckter Form vor. In Europa, das für die syrischen Christen des Turabdin zur neuen Heimat geworden ist, hat das Turoyo große Aufwertung erfahren. Es wurde hier zu einer der wichtigsten Säulen der aramäischen/assyrischen Identität, weshalb es mehrere Anstrengungen gibt, das Turoyo zu verschriftlichen. Dies hat zu zahlreichen Publikationen auf Turoyo geführt, darunter auch Übersetzungen aus der Weltliteratur.1 Die Übersetzung von Bonhoeffers „Von guten Mächten“, die ich am 9. April 2020 anlässlich des 75. Gedenkens seiner Hinrichtung übersetzte, soll diese Liste erweitern und damit die Turoyo-Literatur bereichern. Grundlage der Übersetzung ist der deutsche Original1

Für einen Überblick über diese Publikationen sei auf die Aufstellung in Shabo Talay, Šlomo Surayt. Einführungskurs ins Surayt-Aramäische (Turoyo), Glane 2017, oder im Internet unter www.surayt.com verwiesen.

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Shabo Talay

Text im Wikipedia-Artikel zum Gedicht Bonhoeffers, der aufgrund seiner Bekanntheit (EG 65) hier nicht abgedruckt ist. Die Übersetzung wird hier dem Usus des Aramaic Online Projects2 folgend in syrischer und lateinischer Schrift geboten. Auch die verwendete Orthographie wurde im Rahmen dieses internationalen EU-Projekts entwickelt. Wolfgang Hage, dem ich diese Übersetzung widme, hat einen großen Teil seiner Forschung dem syrischen Christentum im Orient gewidmet. Nur durch eine solide Kenntnis des klassischen Syrisch war es ihm möglich, einen tiefen Einblick in diese aus europäischer Perspektive fremde Welt zu bekommen. Aufgrund fehlender Literatur war die Kenntnis des Neuaramäischen des Turabdin für seine Arbeit nicht erforderlich. Trotzdem hoffe ich, dass er mit Hilfe des Syrischen und der deutschen Vorlage den Text mehr als nur verstehen wird. Möge Herr Hage lange an dieser Übersetzung Freude haben, und möge die Erinnerung an Bonhoeffers Wirken und Martyrium durch dieses Gedicht auch in den syrisch-christlichen Gemeinden in Deutschland und Europa wachgehalten werden. ܶ ‫ܶܡܐ ܰܚ ܶܝܐܠ ܰܛ‬ ܰ ‫ܘܘܐ‬ ‫ܡܝܢܐܝܬ ܙܒܝܛܐ‬ ‫ܐ‬ ݂ Me ḥayle ṭawwe aminoyiṯ zbiṭo Mimro d Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) 1. Me ḥayle ṭawwe aminoyiṯ zbiṭo Nṭiro w msahlo ġäläbe ṭawwo, Acmayxu ay yawmani gcoyašnanne W acmayxu gcobarno l šato ḥaṯto. 2. Heš u catiqo kobëc d macëq leban Heš ṭacno day yawme biše aclan Ax ya Moryo haw l nafšoṯan ar rhibe U furqono d hat breluxlan ele. 3. D hat mqarwët u-koso yaquro w mayiro Du ḥašo lan, malyo hul lu femo, Aḥna maškrone gmaydina dlo zucṯo Me iḏux d këtyo mqadašto w rḥëmto. 4. Hat disa këbcët obëtlan fṣiḥuṯo Bu cëlmano w baz zalge di šëmšo Këbcina madxrina d šafëc u mede Hedi gd-owën elux ḥayan kulle. 5. Ṭray šaḥune w bahure manhri šamcan Ucdo, d hat mamṭënlux li cëtmayḏan, Maqrawlan, d howe mkono, dis lë ḥḏoḏe. Kuḏcina, bahrux kmanhër bu lalyo. 2

1 ܶ ‫ܶܡܐ ܰܚ ܶܝܐܠ ܰܛ‬ ܰ ‫ܘܘܐ‬ ‫ܡܝܢܐܝܬ ܙܒܝܛܐ‬ ‫ܐ‬ ݂ ܰ ،‫ܓ ܱܠ ܶܒܐ ܰܛܘܘܐ‬ ܱ ݂ ‫ܢܛܝܪܐ ܘܡܣܗܐܠ‬ ܶ ܰ ܰ ܰ ܰ ܰ ‫ܐ‬ ܳ ܰ ܰ ‫ܥܡ ݂ܝܟܘ ܐܝ ܝܘܡܢܝ ܓܥܝܫܢܢܢܗ‬ ܰ ܰ ܰ ܰ ܳ ܰ ‫ܘܐܥܡ ݂ܝܟܘ ܓܥܒܪܢܐ ܠܫܬܐ ܚ ݂ܬܬܐ܀‬ 2 ܶ ܰ ‫ܐܒܥ‬ ‫ܕܡ ܷܥܩ ܠ ܰܒܢ‬ ܷ ‫ܶܗܫ ܐܘ ܰܥܬܝܩܐ ܳܟ‬ ܰ ܰ ܶ ‫ܘܡܐ‬ ܶ ‫ܶܗܫ ܰܛܥܢܐ ܰܕܝ ܰܝ‬ ‫ܐܥܠܢ‬ ‫ܒܝܫܐ‬ ܰ ܰ ܰ ܰ ܶ ܳ ‫ܐ ݂ܟ ܰܝܐ ܳܡܪܝܐ ܰܗܘ ܠܢܦܫ ݂ܬܢ ܐܪ ܪܗܝܒܐ‬ ܶ ܶܶ ܰ ܰ ܳ ‫ܠܘܟܠܢ ܐܠܗ܀‬ ݂ ‫ܐܘ ܦܘܪܩܢܐ ܕܗܬ ܒܪ‬ 3 ܰ ܰ ‫ܪܘܬ ܐܘ ܳܟܣܐ ܰܝܩܘܪܐ‬ ܰ ‫ܕܗܬ‬ ‫ܘܡܝـܝܪܐ‬ ܷ ‫ܡܩ‬ ܰ ‫ ܰܡܠܝܐ ܗܘܠ ܠܘ ܶܦܡܐ‬،‫ܕܘ ܰܚܫܐ ܠܢ‬ ܳ ܰ ܰ ܰ ܶ ܰ ܰ ‫ܙܘܥܬܐ‬ ‫ܐܚܢܐ ܡܫܟܪܢܐ ܓܡܝܕܝܢܐ ܕܐܠ‬ ݂ ܰ ‫ܕܟܬܝܐ‬ ݂ ‫ܐܝܕ‬ ‫ܘܪܚܡܬܐ܀‬ ݂ ‫ܶܡܐ‬ ܷ ‫ܡܩ ܰܕܫܬܐ‬ ܷ ‫ܘܟ‬ 4 ܰ ܳ ܰ ‫ܰܗܬ‬ ‫ܚܘܬܐ‬ ‫ܐܒܥܬ‬ ‫ܕܝܣܐ ܷܟ‬ ݂ ‫ܐ ܷܒܬܠܢ ܦܨܝـ‬ ܷ ܰ ‫ܠܡܢܐ‬ ܰ ‫ܒܘ ܷܥ‬ ܶ ‫ܘܒܙ ܰܙ‬ ‫ܠܓܐ ܕܝ ܷܫܡܫܐ‬ ܶ ܰ ܰ ܶ ܰ ܰ ‫ܷܟܐܒܥܝܢܐ ܡ ݂ܕܟܪܝܢܐ ܕܫ ܷܦܥ ܐܘ ܡܕܐ‬ ܶ ܶ ‫ܓܕܘܢ‬ ܳ ‫ܶܗܕܝ‬ ݂ ‫ܐ‬ ‫ܠܘܟ ܰܚ ܰܝܢ ܟܘܠܠܗ܀‬ ܷ 5 ܶ ܰ ܶ ‫ܛܪܝ ܰܫ‬ ܰ ‫ܗܘܪܐ ܰܡܢܗܪܝ‬ ܰ ‫ܚܘܢܐ‬ ܶ ‫ܐܫ ܰܫ‬ ‫ܡܥܐ‬ ‫ܘܒ‬ ܰ ݂ ‫ܬܡ‬ ܰ ܰ ‫ܢܠܘܟ ܠܝ ܷܥ‬ ݂ ،‫ܝܕܢ‬ ܷ‫ܐܘܥܕܐ ܕܗܬ ܰܡܡܛ‬ ܰ ܰ ܰ ܶ ܶ ܳ ܳ ܳ ،‫ܘܠܢ‬ ‫ܡܩܪ‬ .‫ܚܕ ݂ܕܐ‬ ݂ ‫ ܕܝܣ ܷܠ‬،‫ܕܗܘܐ ܡܟܢܐ‬ ܰ ܰ ܰ ܰ ݂ ‫ܢܗܪ ܒܘ ܠܠܝܐ܀‬ ‫ ܒ‬،‫ܟܐܘܕܥܝܢܐ‬ ݂ ܷ ‫ܗܪܘܟ ܟܡ‬

Im Internet unter www.surayt.com.

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Dietrich Bonhoeffers „Von guten Mächten“

6. Inaqla di šalyuṯo ḥḏoran zaydo, Ṭray d šëmcina u rekno basimo Dë briṯo, d kasyo kmibarbzo ḥeḏoran Zmarto d tešbuḥto dan nacimayḏux 7. Me ḥayle ṭawwe aminoyiṯ mastre knëṭrina b sabro lu mede d oṯe Aloho acmayna yo ṣafro w ramšo w bam mo mo kul yawmo d oṯe ḥaṯo.

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6 ܰܳ ܰ ܰ ܰ ،‫ܚܕܪܢ ܰܙܝܕܐ‬ ‫ܫ‬ ‫ܐ‬ ‫ܠܝܘܬ‬ ‫ܕܝ‬ ‫ܩܐܠ‬ ‫ܐܝܢ‬ ݂ ݂ ܶ ܰ ܰ ‫ܡܥܝܢܐ ܐܘ ܪܟܢܐ ܰܒܣܝܡܐ‬ ‫ܕܫ‬ ܷ ‫ܛܪܝ‬ ܰܳܶ ܰ ܰ ‫ܟܡܝܒܪܒܙܐ ܚ ݂ܕܪܢ‬ ‫ܒܪܝܬܐ ܕܟܣܝܐ‬ ݂ ‫ܷܕ‬ ܶ ‫ܙܡܪܬܐ‬ ܰ ‫ܕܬܫܒܘܚܬܐ ܰܕܢ ܰܢ‬ ܰ ݂ ‫ܥܝܡ ݂ܝܕ‬ ‫ܘܟ܀‬ 7 ܶ ܶ ܰ ܶ ܶ ܰ ܰ ‫ܡܝܢܐܝܬ ܰܡܣܬܪܐ‬ ‫ܐ‬ ‫ܐ‬ ‫ܘܘ‬ ‫ܛ‬ ‫ܝܐܠ‬ ‫ܚ‬ ‫ܐ‬ ‫ܡ‬ ݂ ܰ ‫ܟܢ‬ ܳ ‫ܒܣܒܪܐ ܠܘ ܶܡ ܶܕܐ‬ ܰ ‫ܛܪܝܢܐ‬ ‫ܕܐ ݂ ܶܬܐ‬ ܷ ܰ ܰ ܰ ܰ ܰ ‫ܐ ܳܠܗܐ ܐ‬ ‫ܥܡܝܢܐ ܝܐ ܰܨܦܪܐ ܘܪܡܫܐ‬ ܶ ܳ ܰ ‫ܘܒܡ ܡܐ ܡܐ ܟܘܠ ܰܝܘܡܐ ܕܐ ݂ܬܐ ܰܚ ݂ܬܐ‬

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Kairo als Fluchtort Auf Spurensuche in einer arabisch geprägten Metropole1 Bärbel Beinhauer-Köhler 1. Auf der Spur von „Flucht-“ und Migrationsbewegungen Der britische Islamwissenschaftler Ian Richard Netton beschreibt im Vorwort seines Sammelbandes Golden Roads. Migration, Pilgrimage and Travel (1993) die islamische Gesellschaft als durch besondere Flexibilität, Mobilität und weitreichenden Austausch gekennzeichnet: „a vibrant, dynamic, fluid, and above all an un-monolithic Islam.“ Mit ähnlichem Tenor formuliert im gleichen Band auch Ross E. Dunn: „At some level, Islamic civilization worked as an eminently international system of social links and cultural communication.”2 Tatsächlich brachten die Pilgerfahrten nach Mekka von Spanien bis in den Fernen Osten große Bevölkerungsteile ebenso in Bewegung wie der Fernhandel auf Karawanen- und Schifffahrtsrouten. Besonders Gelehrtenbiographien belegen immer wieder eine internationale Mobilität. Dies klingt nach einem Kulturraum, für den eine permanente Begegnung und auch Durchmischung von Sprach- und auch Religionsgruppen alltäglich war. Die historische Erforschung von Migration steht damit allerdings vor einer besonderen Herausforderung: Wenn sich Kultur- und Religionsgruppen nicht automatisch dauerhaft auf spezielle Regionen beschränkten und das Reisen selbstverständlicher Teil von Biographien war, wird unter Umständen nur sehr indirekt über die Perspektiven auf räumliche Veränderung berichtet. Biographien Gebildeter etwa lassen nur ahnen, dass es sich bei den Reisenden nicht immer nur um neugierige Kosmopoliten auf der Suche nach einer Ausdehnung ihres Wirkungskreises handelte, sondern dass manche besonders die Pilgerfahrt als Aufhänger nahmen, um einer Zwangslage in ihrem Heimatland zu entkommen.3 1

Dem Beitrag liegt ein im Sommer 2017 zur Semestereröffnung am Fachbereich Ev. Theologie der Philipps-Universität Marburg gehaltener Vortrag zugrunde, der hausintern 2017/18 im Mitgliederrundbrief vom „Freundeskreis Marburger Theologie“ abgedruckt wurde: Bärbel Beinhauer-Köhler, „Flucht“ – auf Spurensuche im mittelalterlichen Kairo, in: Freundeskreis Marburger Theologie. Mitgliederrundbrief 19 (2017/2918), 28–37. Anknüpfend an einen Vortrag in der Göttinger Ringvorlesung „Leben im und mit dem Krieg“ im Juni 2018 wurde dieser Text nun überarbeitet. Vgl. zwischenzeitig auch Bärbel Beinhauer-Köhler, Spielräume religiöser Pluralität. Kairo im 12. Jahrhundert (Religionswissenschaft heute 13), Stuttgart 2018, besonders 136–139. 2 Ian Richard Netton, Preface, in: Ders., Golden Roads. Migration, Pilgrimage and Travel in Mediaeval and Modern Islam, Richmond 1993, X–XV, X; Ross E. Dunn, International Migration of Literate Muslims in the Later Middle Period. The Case of Ibn Battūta, in: ebd., 75–85, 83. 3 Dies gilt für einige der im Folgenden erwähnten Reiseschriftsteller, die als Reisegrund immer wieder ein Motiv religiöser Bedrängnis an- oder vorgeben: das Bewusstwerden eigener Frömmigkeit inmitten eines höfischen Umfeldes, das sich nicht an die Vorschriften des Islams hielt, so Nāsir-i Khusrau:

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Damit klingt etwas an, das im Folgenden als heuristischer Begriff, gekennzeichnet in Anführungsstrichen, als „Flucht“ bezeichnet werden soll. Fokussiert werden Reisen und Reisende, die nicht rein freiwillig unterwegs waren. Ziel ist es, zunächst einmal sehr grundsätzlich die Formate der Berichterstattung und im Zusammenhang damit Besonderheiten solcher Bewegungen zu erfassen um dann letztendlich unter diesem bestimmten Aspekt Näheres über die Bedingungen kultureller Begegnung im klassischen Islam zu erfahren. Dabei soll vermieden werden, dass der Blick in die Vergangenheit allzu sehr von zeitgenössischen Assoziationen um Migration, Flucht, Integration etc. überlagert wird, denn diese sind durch gegenwärtige Diskurse geprägt, in denen monokulturelle Nationalstaaten als Norm geläufig sind, die erst in den letzten Jahren verstärkt hinterfragt werden. Um das umfangreiche Thema sinnvoll einzugrenzen, wird eher am Rande nach spezifischen Fluchtanlässen gefragt; es interessiert vielmehr das Ankommen, also die Immigration in eine Stadt, Kairo, hinein. Am exemplarischen Beispiel dieser damaligen Metropole, die für ihre kulturell heterogenen Bevölkerungsgruppen bekannt war, wird möglichst induktiv nach sich wiederholenden Termini, Narrativen und häufiger genannten Örtlichkeiten im Stadtgebiet gesucht. Ähnlich wie Gelehrtenbiographien vielschichtige Gründe für eine Reise eher indirekt offenlegen, wird auch in Kairo im hier betrachteten Zeitraum der Befund „Flucht“ nicht ganz offensichtlich greifbar. Weder haben solche Bewegungen viele schriftliche noch explizite bauliche Spuren hinterlassen, und dies in der im östlichen Mittelmeerraum bewegten Phase, die in der hiesigen Geschichtsschreibung als „Kreuzzüge“ geläufig ist. Dies lässt fragen: War die Migration, um mit Netton und Dunn zu sprechen, als soziales Muster derartig geläufig, dass sie kaum eigens Erwähnung finden musste? Wie funktionierte dann die Einbindung neuer Bevölkerungsteile in vorhandene Gesellschaften? Und lassen sich Konjunkturen der Aufnahme Geflüchteter ablesen?

2. Islamische Institutionen als Spiegel von Migration Bei alledem könnte paradigmatisch für „Flucht“ im Islam bereits die hijra,4 „Auswanderung“, des Propheten stehen. Im Jahr 622 verließen Muhammad und eine Schar seiner Anhänger Mekka, dessen Bevölkerung der neuen Religionsgruppe mehrheitlich feindlich gegenüberstand. Man zog in das rund 300 km nördlicher gelegene Yathrib, später Medina, das mit einem großen Anteil jüdischer Bevölkerung bereits eine monotheistische Religion kannte. In diesem besonderen Fall werden die Reise und Ankunft als organisiert und geplant geschildert. Man siedelte in kleinen Gruppen über und wurde von Sympathisanten des Wheeler M. Thackston Jr (Übers.), Nasir-i Khusraw’s Book of Travels (Safarnama), Santa Mesa 2001, 1; vgl. auch Ibn Jubair, der zum Alkoholkonsum gezwungen worden sein soll, ehe er als Buße die Pilgerfahrt wählte: Roland Broadhurst (Übers.), The Travels of Ibn Jubayr, London 1952, Repr. New Delhi 2016, 15. 4 Grundsätzlich fiel aus drucktechnischen Gründen die Entscheidung für eine vereinfachte Transkription nur mit Längenzeichen, orientiert an englischsprachigen Varianten. Dies lässt den Buchstaben jīm dem Klang entsprechend als j und nicht auf der Basis eines mit Zeichen versehenen g erscheinen, wie in der ZDMG üblich. Allein bibliographische Angaben folgen anderen Angaben des Buchstabens: als g oder auch als dsch.

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Islams oder Neubekehrten wohlwollend in deren Häusern aufgenommen. Auch über eine frühere Übersiedlung von angeblich 83 Erwachsenen nach Abessinien wird in der klassischen Quelle für diese Vorgänge, der Sīra, der Prophetenbiographie des Ibn Ishāq und Ibn Hishām um 800 n. Chr., mit einem ähnlichen positiven Tenor berichtet: Man hatte von einem gastfreundlichen christlichen Herrscher gehört, der die Schutzsuchenden mit dem neuen Bekenntnis aufnahm.5 Bei alledem ist zu beachten, dass wir diese Ereignisse nur in der Rückschau auf den frühen Islam als einer Erfolgsgeschichte, erzählt von späteren Generationen, kennen. Dass die „Auswanderer“ nicht ganz freiwillig gingen, sondern in Mekka zuvor deutlich ausgegrenzt und sogar physisch angegriffen wurden, verrät die Prophetenbiographie am Rande durchaus. Dies schlägt sich aber nicht im gewählten Terminus für die Migration von Mekka nach Medina nieder, der sich eben nicht als fremdinduzierte „Flucht“ eingeprägt hat. Dies könnte auch spätere Berichte über unfreiwillige Migration und ihre Bewältigung prägen, denn die negativen Begleiterscheinungen für die Geflüchteten werden im vorliegenden Material selten ausgeschmückt.6 Manche Konstante sozialer Neuordnung in der Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens kann für die vorliegende Betrachtung vorausgesetzt werden: So ist seit dem frühen Islam bis ins Mittelalter hinein ein offizieller Wechsel von Loyalitätsgruppen bekannt und findet nach festen Regeln statt. Vor allem im frühen Islam war dies maßgeblich, als im Zuge von Eroberungen und Konversionen ein Klientelverhältnis die neuen Muslime an ihren Patron, einen arabischen Muslim, band.7 Es bestand ein enger Verbund von Schutzherr (walī) und zur Treue verpflichteten Schutzbefohlenen (mawālī), basierend auf deren Treueschwur (baica). Solche Eide waren bereits in der Stammesgesellschaft im vorislamischen Arabien elementar, um Gruppen zusammenzubinden. Auch das Christentum hatte sich zuvor auf dem Boden des spätantiken Patronatssystems etabliert, das mit dem οἶκος als größerem Haushalt und einer dortigen Hausgemeinde eine Rolle spielte.8 Mit dem Aufkommen des Islam bekam die arabische baica eine formierende Kraft für die neue Religionsgemeinschaft. Wenige Jahrhunderte später bildete die durch Treueverhältnisse vereinte islamische umma nicht nur eine neue Religionsgruppe, sondern auch eine rechtliche Entität. Bei einer Neueingliederung in eine solche Gemeinschaft lösten sich alte Gruppenbindungen auf. Zeitweilig brachen diese Netze innerislamisch auch wieder auf, beispielsweise als nach einigen Generationen im 8. Jahrhundert im Iran ein erstarkendes Selbstbewusstsein die persischen Muslime in Konflikt mit ihren arabischen Patronen brachte. Nicht allein die 5

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Zu beiden Übersiedlungen nach Abessinien sowie Yathrib vgl. Walīd ibn Muhammad ibn Salāma/ Khālid ibn Muhammad ibn cUthmān (Hg.), Ibn Hishām, as-Sīra n-Nabawīya 1.1, Kairo 2001, 187–199, sowie 1.2, 12–14.72–85; Gernot Rotter (Übers.), Ibn Ishāq. Das Leben des Propheten, Stuttgart-Wien 3 1986, 63–68.104–108. Als Ausnahme siehe in Kapitel 5 Usāma Ibn Munqidh. Andrew Marsham, Rituals of Islamic Monarchy. Accession and Succession in the First Muslim Empire. Edinburgh 2009; P. Crone, Art. Mawlā, in: The Encyclopaedia of Islam IV, New Edition, Leiden 1991, 874a–882b. Bei allen Nuancen, die für das ost- und das weströmische Reich nachvollzogen werden können: JensUwe Krause, Spätantike Patronatsformen im Westen des Römischen Reiches (Vestigia 38), München 1987, sowie Karin Lehmeier, Oikos und Oikonomia und der Bau der Gemeinde des Paulus (MThSt 92), Marburg 2006.

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Religion oder die innerislamische Konfession, auch der Faktor der Ethnizität sowie steuerliche Benachteiligungen der Mawālī führten also zu Auffächerungen des islamischen Patronatssystems in neue Gruppen. All dies lässt vermuten, dass auch im Folgenden Loyalitätsstrukturen im Feld einer Religion oder Konfession für Neuankömmlinge existenziell waren, aber variierende ethnische und soziale Bezugssysteme weitere, und auch immer neue Differenzierung ermöglichten. Zudem gab es im Islam gleich mehrere Institutionen der Sozialfürsorge, die etwas zum vorliegenden Thema austragen dürften: Grundlegend war die jährlich zu entrichtende zakât, die klassischer Weise für die Armen und Bedürftigen (al-fuqarā’ wa-l-masākīn) und Reisenden (im Sg. ibn as-sabīl) gedacht war. Sure 9:60 lautet als Basistext islamischer Wohltätigkeit in Auszügen: „Die Almosen sind bestimmt für Arme und Bedürftige … und für den ‚Sohn des Weges‘…“9 Die letzte Formulierung weist auf die Empfehlung der Gastfreundschaft, die – unabhängig von ihrer Stereotypisierung – in nahöstlichen Gesellschaften in hohem Maße internalisiert war und sich als älteres Muster mit einer longue durée durchaus auch bereits bei Juden und Christen findet. Hier wäre nach einem Niederschlag dessen in den zu untersuchenden Texten zu fragen und danach, ob die kurzfristige, religiös anempfohlene Gastfreundschaft strukturell von einer Patronage unterschieden werden kann. Grundsätzlich liegt der Fokus bei der gesamten Untersuchung an dieser Stelle aus Raumgründen auf dem Islam, mit kleinen Exkursen zu Christen- und Judentum. Das ganze Feld sozialer Fürsorge ist im Islam, wie auch im Christen- und Judentum, sehr ausgefeilt und im Islam besonders von der Bereitstellung einer oft religiös konnotierten Infrastruktur durch Wohlhabende geprägt. In Wechselwirkung mit der byzantinischen pia causa, der frommen Stiftung, entwickelten vermögende Muslime waqf oder habs/hubs, die islamische Stiftung, die größere Anlagen wie Moscheen durch Mieteinnahmen oder Landwirtschaftserträge finanzierte und von der Besteuerung ausnahm.10 Solche Räume sind im vorliegenden Kontext von besonderem Interesse.

3. Kairo als kulturell und religiös plurale Metropole Das Augenmerk gilt nun Kairo um das 12. Jahrhundert. Diese Periode zeichnete sich durch besondere kulturelle und religiöse Dynamik aus, denn die Stadt war damals eine der ganz großen Metropolen und könnte Schätzungen zufolge bis zu 400.000 Bewohner gehabt haben. Gleichzeitig ist Kairo als Hauptstadt der Fatimiden (969–1171) in Konkurrenz zum Sitz des cabbasidischen Kalifen in Bagdad interessant – mit mancher Parallele in der Stadtentwicklung. Kairo kannte z. B. im Gegensatz zu Städten nördlich des Mittelmeeres keine

9 Hartmut Bobzin (Übers.), Der Koran, München 2010, vgl. inhaltlich ähnlich auch 2:216. 10 Bärbel Beinhauer-Köhler, Formen islamischer Wohlfahrt in Deutschland, in: Dies./Matthias Benad/ Edmund Weber, Diakonie der Religionen 2. Schwerpunkt Islam (THEION XIV), Frankfurt/M. 2005, 75–166, 110–120.

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Ghettos.11 Und bezogen auf eine Alltagskultur, angefangen bei Speisen über Wohnformen oder Bekleidung, scheinen Juden, Christen und Muslime sehr viel gemeinsam gehabt zu haben, wie schon Solomon Goitein aus den Geniza-Dokumenten schloss und etwa Paulina Lewicka in ihrer Monographie herausarbeitet.12 All dies ist relevant, will man anhand der Stadt Kairo exemplarisch Kenntnis über den Umgang mit kultureller und religiöser Vielfalt in einer islamisch geprägten Metropole gewinnen. Situationen des Zuzugs von anderswo Geflüchteter mögen dies zugespitzt auf den Punkt bringen. In Ägypten waren mit jahrhundertealter Tradition bereits diverse Herrscherfamilien eingewandert, man denke an die Ptolemäer und die Gründung Alexandrias zur Pharaonenzeit. Seit dem 10. Jahrhundert n. Chr. regierten die Fatimiden von der Hauptstadt Kairo aus mit Hilfe beduinischer, nordafrikanischer Heeresverbünde. Sie waren Nachfolger von Siebenerschiiten, die ihrerseits rund hundert Jahre zuvor als religiöse Minderheit aus Mesopotamien geflüchtet, inzwischen jedoch zur damals größten schiitischen Gemeinschaft innerhalb des Islams angewachsen waren. Das sich Ende des 12. Jahrhunderts in Ägypten etablierende neue Herrscherhaus der Aiyubiden besaß hingegen kurdische Wurzeln. Mit ihm erhielt die knappe sunnitisch-arabische Mehrheit der Stadtbevölkerung nach zwei Jahrhunderten wieder eine direkte politische Repräsentanz. Dieser Wechsel der Dynastien verstärkte die Dynamik zwischen allen Bevölkerungsgruppen, denn die unterschiedlichen Konfessionen der Herrscherhäuser führten zu andersartigen Allianzen zwischen Muslimen, Juden und Christen. Die Mehrheit der Christen waren ägyptisch-orthodoxe Kopten und Miaphysiten; hinzu kamen assimilierte griechisch-orthodoxe sogenannte Melkiten sowie als Neuankömmlinge im 11. Jahrhundert, protegiert durch zwei Wesire, womöglich bis zu 30.000 armenische Christen. Juden sind in Ägypten seit der Antike nachgewiesen, in Kairo lebten Gruppen unterschiedlichster Schulen, solche des rabbinischen Judentums mit Richtungen des Babylonischen und – als größere Gemeinde – des Jerusalemer Talmuds, ebenso wie Karäer. Die Geniza-Dokumente, ein großer Fund von Schriftstücken des Alltags aus der Ben EzraSynagoge, weisen über Handelsbeziehungen eine nahezu „babylonische“ Sprachverwirrung auf, sogar jiddische Texte wurden gefunden; aber mehrheitlich assimilierten sich die Kairiner Juden in der hier interessierenden Zeit und verwendeten zunehmend in ihren Dokumenten ebenfalls das Arabische der islamischen Herrscher.13 Die die Herrschaft sichernden stationierten Heeresteile waren stets vielfältig und stammten mehr oder weniger aus der ganzen bekannten islamischen Welt, mit Militärskla11 Mark R. Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter, München 2005, 128. 12 Vgl. Solomon D. Goitein, A Mediterranean Society. The Jewish Communities of the Arab World as Portrayed in the Documents of the Cairo Geniza 4. Daily Life, Berkeley-Los Angeles 1983; vgl. Paulina Lewicka, Food and Foodways of Medieval Cairenes. Aspects of Life in an Islamic Metropolis of the Eastern Mediterranean, Leiden-Boston 2012. 13 Überblicke zu Bevölkerungsstruktur, einzelnen Religionsgruppen und ihren Siedlungsbereichen in der Stadt: Beinhauer-Köhler, Spielräume, 16–20; Heinz Halm, Die Kalifen von Kairo 973–1074, München 2003, 30–32; Ders., Die Vielfalt religiösen Lebens zur Fatimidenzeit, in: Wilfried Seipel, Schätze der Kalifen. Islamische Kunst zur Fatimidenzeit, Wien 1998, 141–143; Neil D. MacKenzie, Ayyubid Cairo. A Topographical Study, Cairo 1992; Wolfgang Hage, Das orientalische Christentum (Die Religionen der Menschheit 29.2), Stuttgart 2007, 172–177; Johannes Pahlitzsch, The Melkites in Fatimid Egypt and Syria (1021–1171), in: Medieval Encounters 21 (2015), 485–515; Seda B. Dadoyean/Seda ParsumeanTatoyean, The Fatimid Armenians. Cultural and Political Interaction in the Near East, Leiden u.a. 1997, sowie grundlegend Goitein, Mediterranean Society, 6 Bde, Berkeley-Los Angeles 1967–1988.

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ven auch vom Balkan. Die Heeresteile waren ethnisch separiert untergebracht. Das Bild bereicherten vorzugsweise in Alexandria siedelnde italienische Händler und die in Europa so genannten Kreuzfahrer, die für die Ansässigen zunächst kaum mehr als weitere Varianten der rūm, „Byzantiner“, oder im ägyptischer Dialekt farang, „Franken“, wahrgenommen wurden.14 Die Stadt15 Misr, wie sie im Volksmund genannt wurde und wird, wuchs ausgehend von einer römischen Befestigung östlich des Nils und im Süden des Siedlungsraums, Qasr ashShamc, „Die Festung der Lichter“. Letztere war zur hier interessierenden Zeit ein stark christlich geprägter, ummauerter Siedlungskern, inmitten dessen die schon erwähnte Ben Ezra-Synagoge lag. Die Stadt breitete sich seit der Islamisierung im 7. Jahrhundert östlich des Nils sukzessive nach Norden aus, ausgehend von al-Fustāt, dem im Ursprung arabischislamischen Heerlager.16 Dieser Bereich blieb immer stark landwirtschaftlich geprägt und reichte über Lagen der sogenannten al-Hamrā’ weiter nach Norden bis zur ummauerten fatimidischen Siedlung des 10.–12. Jahrhunderts, al-Qāhira, „der Siegreichen“, die der gesamten Stadt bis heute ihren offiziellen Namen verlieh. Wurde dieser Siedlungsstreifen westlich vom Nil begrenzt, so rahmte ihn im Südosten die ausgedehnte und amorphe Friedhofsstadt al-Qarāfa, die bis an eine karge Hügelzone noch weiter östlich grenzte. Die Aiyubiden bauten dort Ende des 12. Jahrhunderts ihre Befestigung auf dem Berg Muqattam. Im Grunde handelte es sich bei Kairo um einen Großraum, der auch die Siedlung auf der anderen Nilseite bei den Pyramiden, Gīza, einschloss, mitsamt Häfen und Handelsbeziehungen in alle Welt. Mit dieser gewachsenen, strukturellen Heterogenität einzelner Stadtteile ging diejenige der Bevölkerungsgruppen einher, die sich gleichwohl zu Netzwerken von Loyalitätsgruppen zusammenbanden. Dabei spielten die Merkmale von Religionszugehörigkeit und Ethnizität eine offenbar flexible Rolle und erlaubten auch wechselseitige, manchmal überraschende politische Anknüpfungspunkte, nicht zuletzt in internationaler Dimension. Dabei waren Ägyptens christliche Gemeinschaften nicht nur konfessionell voneinander in Miaund Diaphysiten unterschieden, es handelte sich auch um unterschiedliche Sprach- und Kulturgruppen: die Kopten mit einem ägyptisch-griechischen Idiom, die zur untersuchten Zeit bereits das Hocharabische als Sprache ihrer Chroniken verwendeten, sowie die Melkiten als griechisch-orthodox und mit einer politischen Verbindung zu Byzanz, aber einer eigenen ägyptischen Kultur. Ab dem 11. Jahrhundert einwandernde Armenier, wie die Kopten Miaphysiten, brachten gleichwohl ganz eigene Liturgien und eine eigene Sprache mit. Die örtlichen Muslime waren überwiegend arabisch und sunnitisch geprägt. Die Ismācīlīya oder Siebenerschia hatte sich als Konfession der bis ins 12. Jahrhundert regierenden Fatimiden nie nachhaltig etablieren können. Wie weit bei Zugewanderten religiöse oder ethnische Anbindungsmöglichkeiten an die genannten Gruppen bestanden, wird die folgende Untersuchung zeigen. 14 Vgl. auch Alexander Schauer, Muslime und Franken. Ethnische, soziale und religiöse Gruppen im Kitāb al-Ictibār des Usāma ibn Munqid (Islamkundliche Untersuchungen 230), Berlin 2000, 98f, zu den stereotyp wahrgenommenen Franken. Zu Händlern Beinhauer-Köhler, Spielräume, 181. 15 Vgl. zur Orientierung die Karte in Beinhauer-Köhler, a.a.O., 93. 16 Vgl. auch griech. fossaton sowie den einschlägigen archäologisch geprägten Bericht über die Genese der islamischen Besiedlung durch Wladislaw Kubiak, Al Fustât. Its Foundation and Early Urban Development, Warschau 1982.

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4. Rekonstruktion des Stadtbildes Die religionswissenschaftliche Raumdebatte wendet sich in den letzten Jahren, nach einer verstärkten Reflexion soziokultureller Dynamiken und einer Konzentration auf Raum als Imagination, erneut der physischen Dimension, hier in Form von Architektur und Topographie, zu. Dies erfolgt inzwischen allerdings immer mit Blick auf die Wechselwirkungen zwischen physischem Raum und imaginierten Raumkonstruktionen sowie sozialer Praxis. Hierbei ist die französische Sozialphilosophie mit Denkern wie de Certeau und Lefebvre maßgeblich, die identitätsstiftendes Alltagshandeln, etwa beim Gang durch eine Stadt, mit Raumvorstellungen der Akteure und ihrer Erfahrung des physischen Raums in Beziehung setzen. Prägend ist ferner die Stadtsoziologie, die nach gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen innerhalb einer Stadt fragt. Um eine Stadt als auch religiös vielschichtigen Lebensraum zu erschließen, kann demnach ihre bauliche Entwicklung mit einer Platzierungspraxis17 und ihren images in den Blick kommen. Die religionswissenschaftliche Debatte führt dies zusammen und ist derzeit besonders durch Kim Knotts Studie „The Location of Religion“ geprägt: „the idea that space or rather spaces are both material and metaphorical, physical and imagined.“18 So betrachtet gestaltet sich eine Stadt wie Kairo mit all ihren Bevölkerungsgruppen und deren separat und öffentlich genutzten Bereichen als ein sehr vielschichtiges, in diachroner Perspektive umgebautes, umgenutztes und umgedeutetes sowie in synchroner Perspektive different wahrgenommenes Gebilde. Hier nur am Rande hinzuzuziehende archäologische Rekonstruktionen sollten daher stets mit deren dynamischer Dimension variierender Perspektiven auf eine Stätte zusammen gedacht werden. Daher werden die in den folgenden Texten wiedergegebenen Perspektiven auf „Fluchtorte“ jeweils in ihren Wahrnehmungsund Deutungskontexten zu reflektieren sein. Wenn eine solche Spurensuche überhaupt auf der Basis historischer Texte erfolgt, so hat dies auch mit einem fehlenden archäologischen Befund spezifischer Bauten zur Aufnahme Zugewanderter zu tun. Es gibt jedoch einen relevanten Bautypus, der überaus verbreitet und multifunktional war: die Moschee. Eine Moschee diente, unabhängig von ihrem Typus, als kleine Gebets(masjid) oder größere Freitagsmoschee (jāmic), neben dem Gebet und der Gelehrsamkeit immer auch der Beherbergung von Reisenden und Aufnahme von Armen und knüpfte damit an Sure 9:60 an.19 Eine Moschee konnte insofern mühelos auch größeren Gruppen Geflüchteter dienen, ohne dass sie verbaliter als Lebensraum für diese deklariert werden 17 S. hier etwa Martina Löw, Soziologie der Städte, Frankfurt am Main 2008. S. auch als zeitgenössisches Projekt der Untersuchung einer nur im Stereotyp „islamischen“ Stadt: Frank Eckardt, Introduction. Public Space as a Critical Concept. Adequate for Understanding Istanbul Today?, in: Ders./Kathrin Wildner (Hg.), Public Istanbul. Spaces and Spheres of the Urban, Bielefeld 2008, 13–20. 18 Kim Knott, The Location of Religion. A Spatial Analysis, Durham 2005, 13; vgl. ferner besonders 40 mit deutlichen Bezugnahmen auf De Certeau, der seinerseits zur Erschließung einer Stadt die Perspektive des Fußgängers oder Flaneurs heranzieht. Rekurriert wird ferner auf Lefebvres Vorstellung einer „Überschreibung“ eines konkreten Ortes durch die unterschiedlichen Zuschreibungen seiner variierenden Nutzer oder Betrachter. 19 Bärbel Beinhauer-Köhler, Moscheen in Deutschland und im islamischen Orient, in: Dies./Claus Leggewie, Moscheen in Deutschland. Religiöse Heimat und gesellschaftliche Herausforderung, München 2009, 9–97, 41–70.

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musste. Den umrissenen Raumdebatten entsprechend kann dies als wechselnde soziale Praxis innerhalb eines Gebäudes verstanden werden. Vor allem ab dem 12. Jahrhundert und speziell ab der Herrschaft der Aiyubiden zeichnet sich hier in Kairo ein auch überregionaler Trend ab, als Moscheevarianten Mausoleen, Sufiherbergen und Madrasen zu stiften. Von ihnen wird in noch vorzustellenden Texten die Rede sein. Sie sind zu einem Großteil in ihrer Bausubstanz erhalten. Eine erste textbezogene Annäherung an das Stadtbild wird dabei immer über die Historio- und Topographie des mamlukischen Historikers al-Maqrīzī (1364–1442) verlaufen, der in seinem opus magnum Al-Khitat wa-l-Athār, „Die Liegenschaften und Altertümer“, die Stadtentwicklung bis in den kleinsten Winkel, die kleinste Gasse hinein beschreibt. Allerdings wird bei ihm die Besiedlung stets aus dem Blickwinkel einer Eroberung geschildert: Arabische Stämme hinterließen ab dem 7. Jahrhundert ihre Namen in Lagen al-Fustāts, ähnlich wie später Viertel in al-Qāira nach der ethnischen Zugehörigkeit dort stationierter Truppenteile benannt werden: al-Kutāma, ad-Daiylam u.ä. Bei al-Maqrīzī kann man zudem über die Konstruktion von Negativräumen, die angeblich nie besiedelt waren, auf die Vertreibung von hierarchisch untergeordneten Bewohnern älterer Dörfer schließen, so im Bereich der sich mit al-Fustāt überlagernden al-Hamrā’.20 Wohin die ehemaligen Bewohner gingen, wissen wir nicht. Aber diese Vorgänge mögen einen erneuten Eindruck von der besonderen Quellenlage geben, die nicht zuletzt auf implizite Aussagen und spezielle Perspektiven der Verfasser hin untersucht werden muss.

5. Autobiographische Texte und die Rihla Die Spurensuche mündet schließlich in autobiographischen Texten, die für die vorliegende Fragestellung besonders aufschlussreich sind. Es gibt Verweise auf individuell erlebte Flucht im Werk von Usāma ibn Munqidh (gest. 1188), Kitāb al-Ictibār, „Das Buch der Beispiele“. Dabei handelt es sich um eine der Gattung Adab zuzuordnende Anekdotensammlung eines syrischen Burgherrn, den die Wirren seiner Zeit nach Damaskus, Jerusalem und Kairo führten.21 Wie weit dies als historische Quelle gesehen werden kann, muss der unterhaltsamen Färbung geschuldet ungewiss blieben. Aber Usāma schildert im Rahmen seines wechselhaften Lebens als Burgherr in Syrien und kosmopolitischer Klient unterschiedlicher adeliger Schutzherren immer wieder Fluchtsituationen. So erfahren wir – hier in der Übersetzung von Gernot Rotter mit Hinweisen der Verfasserin in eckigen Klammern –, wie der Erzähler selbst fliehen muss, nachdem seine Burg von den Franken belagert wurde: „Trotz des tapferen Widerstandes meines Sohnes hatte sich der Feind bis zu meinem Hause durchgekämpft, alle meine Zelte, Waffen und Gerätschaften fortgeschleppt,

20 Vgl. Taqī d-Dīn Abū l-cAbbās Ahmad ibn cAlī al-Maqrīzī, Kitāb al-Mawāciz wa-l-ictibār fi-l-khitat wa-lāthār, 2 Bde, Beirut o.J., hier Bd I, 359f. 21 Vgl. auch als Antrittsvorlesung in Marburg 2011: Bärbel Beinhauer-Köhler, Die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem als „multireligiöser Gebetsraum“? Perspektiven eines arabischen Ritters im 12. Jahrhundert, in: Freundeskreis Marburger Theologie. Mitglieder-Rundbrief 13 (2011/12), 30–37.

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meine Liebsten gefangen genommen und meine Gefährten in die Flucht22 geschlagen. Es war eine gewaltige, schreckliche Heimsuchung [nakba] … Die Umstände zwangen mich, nach Damaskus zu gehen [masīrī ilā dimashq].“23 Er selbst hatte stets das Glück, in einem Herrscherhaus in der Region Aufnahme zu finden. Er fand dabei, wenn auch teils nach Wirren, mitsamt Harem und Bibliothek wiederholt bei befreundeten Adeligen Obdach. Kurz vor dem Ende des fatimidischen Kalifats lebte er als Sunnit am Hof dieses siebenerschiitischen Herrscherhauses in Kairo.24 Adlige und Gebildete wie er wurden ganz offenbar in den vorhandenen Wohnräumen einer Oberschicht aufgenommen25 und werden so baulich kaum Spuren hinterlassen haben. Dennoch sind sie zur Kontextualisierung des folgenden Materials erwähnenswert, ebenso wie eine weitere Gruppe, die sich nicht über Bauten greifen lässt, die aber ebenfalls bei Usāma ibn Munqidh vorkommt. Er hat ein Auge für Einzelschicksale der Dienerschaft, bis hin zum Schicksal ganzer Dörfer zwischen den Fronten im dramatischen Ringen machtpolitischer Gruppen im Nahen Osten seiner Zeit. Solche ärmeren Geflüchteten wurden, wenn sie überlebten, nicht selten versklavt, ohne dass sie hinterher jemand freikaufte; sie lebten fortan in den Haushalten ihrer Besitzer.26 Zuvor schon fand am Fatimidenhof ein weiterer Zeuge Aufnahme, der Perser Nāsir-iKhusrau (gest. 1060), der in der Hierarchie der siebenerschiitischen Missionare Karriere machte. Er kam aus der Region des heutigen Iran, der damals noch unter der Hoheit der sunnitischen cAbbasiden stand, was vor allem für Anhänger der Ismā’īlīya mit dem Verbergen des eigenen Bekenntnisses verbunden war. Aus seinen Jahren in und um Kairo ist ein Reisebericht erhalten, in dem er am Hof in Kairo die Anwesenheit einer ganz internationalen Entourage von Verwandten diverser Herrscherhäuser schildert, die im Gegenzug bei öffentlichen Veranstaltungen dieser Patronage als Claqueure dienten.27 Ein analoges System wird an anderer Stelle auch vom Hof der politisch konkurrierenden cAbbasiden in Bagdad gezeichnet.28 Nāsir-i Khuswau führt uns nun endgültig zum Ziel der Spurensuche: Denn wiederholte Hinweise zur Situation Geflüchteter im mittelalterlichen Kairo finden sich in einer ganz eigenen autobiographischen Gattung, dem Genre der rihla, dem Reisebericht. Dass Reisende sich für Flüchtende interessierten oder ihnen begegneten, mag nun tatsächlich in der von Netton und Dunn postulierten mobilen Gesellschaft gründen. Die potenzielle Überschneidung der Kreise Gelehrter und freiwillig wie unfreiwillig Reisender wurde bereits erwähnt. Für sie alle stellte die Pilgerfahrt eine Monate und Jahre dauernde Option dar, legitim und im Rahmen der vergleichsweise guten Infrastruktur der Pilgerrouten in andere Länder zu reisen und im Zweifel andernorts eine Verdienstmöglichkeit zu suchen. Auf solchen Wegen 22 Eigentlich: „(der Feind) verfolgte meine Gefährten“ (tatabbaca ashābī). Als arabische Edition Philipp K. Hitti, Usāmah’s Memoirs entitled Kitāb al-Ictibār, Princeton 1930, 3f. 23 Gernot Rotter (Übers.), Usāma ibn Munqidh. Ein Leben im Kampf gegen Kreuzfahrerheere, Lenningen 2004, 22. 24 Usāma/Rotter, 23f.42.44.46.53f. 25 Usāma schildert das gut ausgestattete Haus, welches ihm in Kairo zur Verfügung gestellt wurde, vgl. 24. 26 Vgl. a.a.O., 22.94. 27 Vgl. Nasir-i Khusraw/Thackston, 63f. 28 Karl Emil Schabinger von Schowingen (Übers.), Das Buch der Staatskunst. Siyāsatnāma, verfasst vom Wesir Nizām ul-Mulk (gest. 1092), Zürich 1987, 300.310f.

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fanden Gebildete Aufnahme an Höfen, weil sie Interessantes aus aller Welt zu berichten hatten und nicht zuletzt nützliche Information für internationale Diplomatie und Politik brachten. Im Nachgang priesen sie die sie beherbergenden Adligen in ihren Reiseberichten – eine weitere Ausdrucksform des Patronatssystems.

6. Die Erwähnung Geflüchteter in Reiseberichten Die folgende, den Hauptteil der Untersuchung darstellende Chronologie kleiner Einblicke beginnt mit einer großen Gruppe von Migranten, die anlässlich einer anhaltenden Dürre und Hungersnot auf der Arabischen Halbinsel nach Ägypten kamen. Nāsir-i Khusrau schreibt für das Jahr 1048, hier in der englischen Übersetzung aus dem Persischen von Thackston: „This year thirty-five thousand people came to Egypt from the Hejaz [d. h. aus der Gegend um Mekka]: and, since they were all hungry and naked, they received clothing and pensions [ujra] from the sultan until the next year, when the rains came … The sultan gave them all clothing and gifts and sent them back to Hejaz.”29 Es wäre nicht überraschend, wenn sich ein Herrscher, wie hier der Fatimidenkalif alMustansir (reg. 1036–1094), der Aufgabe so großzügig annähme, falls die Erzählung die tatsächlichen Dimensionen der Versorgung der Flüchtlinge wiedergibt. Denn er verhielte sich gänzlich entsprechend den Normen seiner Religion, wenn er unter Befolgung der Sure 9:60 die in Not geratenen Reisenden gastfreundlich in seinem Herrschaftsgebiet aufnahm und, solange es notwendig war, unterstütze. Diese konkrete Unterstützung zig Tausender könnte auch religionspolitische Gründe gehabt haben. Eine solche Maßnahme war eine besondere Gelegenheit für einen Fatimiden, sich als legitimer Beschützer der Heiligen Städte Mekka und Medina sowie als potenzielles Oberhaupt der gesamten Umma zu präsentieren. Ein solches Handeln entsprach dem Ideal eines islamischen Herrschers ebenso wie dem literarischen Stereotyp, welches der Reiseschriftsteller selbstredend bedient. Demzufolge wurden die Menschen in mehrfacher Hinsicht versorgt, mit Kleidung und durch eine „Finanzierung“, wie der Terminus ujra besagt. Thackston übersetzt mit „pension“, assoziieren lässt das reine Wort auch „Miete“. Die Unterkunft ist nicht expliziert, vielleicht lebten die vielen Menschen auch in einer Zeltstadt, die unterhalten werden musste. Wo genau sie lag, wissen wir nicht, da der Terminus misr – hier übersetzt als Ägypten – wie einführend erwähnt ebenso die Stadt Kairo meinen kann. Dass die Pilger in der Nähe der Stadt unterkamen, ist nicht unwahrscheinlich, denn hier konnten sie aus der fruchtbaren Nilregion versorgt werden. Allem Anschein nach wurde in diesem Falle nicht zwischen innerislamischen Richtungen wie Sunniten oder Schiiten unterschieden, die Fatimiden selbst waren ja eine religiöse Minderheit. Bei den Kommenden handelte es sich vermutlich um Pilger aus aller Welt, die das nackte Überleben suchten, das ihnen – zeitlich befristet – gesichert wurde. Als klassisches Werk der Gattung rihla gilt der Bericht des Ibn Jubair (gest. 1217), der aus Spanien kommend auf dem Weg nach Mekka 1183 einige Wochen in Kairo pausierte. Etwa ein Jahrzehnt zuvor hatten die sunnitischen Aiyubiden die Macht übernommen. Ibn 29 Nāsir-i Khusraw/Thackston, 78.

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Jubair, selbst Sunnit, beschreibt ausgiebig die an die Stadt grenzende Friedhofsregion alQarāfa. Hier lagen zahlreiche kleinere und größere Grabstätten auch von islamischen Heilsgestalten aus der Prophetenfamilie: „Das Erstaunliche an al-Qarāfa ist, dass überall Gebetsmoscheen [masājid] und Mausoleen [mashāhid] errichtet wurden, die den Fremden [al-ghurabā’], Gelehrten, Frommen und Armen [al-fuqarā’] als Zufluchtsstätte dienten [ya’wī ilaihā]. Für jedes Gebäude steht monatlich ein Betrag [al-ijrā’] zur Verfügung, der vom Sultan festgesetzt wird. Die Medresen in Kairo werden ebenso behandelt.“30 Hier wiederholt sich das soziale Muster der Stiftung wohltätiger Institutionen. Der Sultan gibt – auch zu seinem eigenen Seelenheil – finanzielle Mittel zum Erhalt in diesem Falle wohl kleinerer, aber multifunktionaler Gebetsmoscheen oder Mausoleen, wo eine tendenziell in Wanderschaft befindliche Bevölkerung unterkommt: Religionsgelehrte auf Bildungsreisen ebenso wie Pilger und Sufis oder schlicht Heimatlose. Die Aussage ist verbal formuliert mit einer Wurzel a-w-y, in Kombination mit der Präposition ilā bedeutet dies „Zuflucht suchen“, was einen Vorgang der Migration einerseits anspricht, aber andererseits relativiert. Diese Zuflucht in einer Moschee konnte eben auch im übertragenen Sinne ein Obdach für einen freiwillig reisenden Sufi auf seiner spirituellen Suche meinen. Ein wenig weiter im Text geht Ibn Jubair auf die zweitälteste und phasenweise größte Moschee der Stadt näher ein, die Ibn Tulūn-Moschee, erbaut um 876–879: „Zwischen der Altstadt und dem neueren Teil liegt eine große Moschee, die nach Ibn Tulūn benannt ist. Sie ist eine der ältesten Hauptmoscheen von gefälliger Bauweise und enormer Ausdehnung. Der Sultan machte sie zu einem Refugium für Fremde aus dem Maghrib. Dort können diese Menschen leben und Vorträge hören. Für ihr Auskommen gewährt er eine monatliche Unterstützung. Eine merkwürdige Angelegenheit, die mir einer der angesehenen Männer dort erzählte, ist, dass der Sultan ihnen die Verwaltung selbst überlassen hat und keine anderen Vorgesetzten über sie zulässt. Sie wählen selbst ihre Führer, deren Anordnungen sie Folge leisten, die sie bei Streitigkeiten zu Rate ziehen und deren Entscheidungen sie respektieren. Sie leben in Frieden und Zufriedenheit, nur dem Gebet an Gott hingegeben, und finden durch die Güte des Sultans die bestmögliche Weise, sich auf dem Weg zum rechten Glauben zu bewegen.“31 Hier erfahren wir von einer Migrantengruppe von „Fremden aus dem Maghrib“, alghurabā’ min al-maghrib, für die der damalige Sultan Salāh ad-Dīn al-Aiyūbī, der im Deutschen als Saladin geläufig ist, die schon ältere Moschee zum Zufluchtsort bestimmte: jacalahu as-sultān ma’wan lī. Die Gruppe aus dem Maghrib wird ähnlich unbestimmt beschrieben wie die Kreise in der Gräberstadt. Sie sind Fremde und dürfen in der Moschee leben. Die hier erwähnten Maghrebiner bleiben in jedem Fall zumindest mittelfristig, entsprechend ist eine hausinterne Selbstverwaltung installiert.

30 Ibn Dschubair, Tagebuch eines Mekkapilgers, hg. u. übers. v. Regina Günther, Stuttgart 1985, 30; Ibn Gubair, Rihla, Beirut 1980, 24. 31 Ibn Dschubair/Günther, 32; Ibn Gubair, 26f.

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Die Großzügigkeit des Sultans lässt verschiedene Kontextualisierugen zu. Salāh ad-Dīn hat bekanntermaßen in der Stadt ein gewaltiges Bauprogramm religiöser und sozialer Infrastruktur initiiert, dem in der Regel zwei Motivationen zugeschrieben werden: Er könnte persönliche Gründe gehabt und versucht haben, sein Seelenheil nach der blutigen Vertreibung der Fatimiden durch fromme Werke zu retten. Oder aber er wollte aus politischen Gründen im Ringen zwischen Sunniten und Schiiten bzw. Muslimen und ägyptischen Kopten ersteren zur sichtbaren Vormachtstellung verhelfen. Auch beides zusammen wäre denkbar und könnte den Rahmen für die Aufnahme nordafrikanischer Sunniten bilden. Ein weiterer Erklärungsversuch könnte die internationale Politik mit innersunnitischen Konkurrenzen sein. In Nordafrika gelangten damals die Almohaden als rigorose sunnitische Reformbewegung zur Herrschaft und weiteten diese bis nach Spanien aus. An anderer Stelle32 schreibt Ibn Jubair, die Bevölkerung Kairos hätte Angst vor einem Vordringen der Almohaden bis nach Ägypten gehabt. Womöglich beherbergte man für den Fall der Fälle schon einmal eine anti-almohadische Klientel in der eigenen Stadt, um gegebenenfalls den Widerstand stärken zu können. Jaacov Lev geht anhand solcher und ähnlicher Passagen davon aus, dass Salāh ad-Dīn ganz grundsätzlich Sufis nach Ägypten einlud, um sich hier eine eigene Klientel aufzubauen.33 In diesem Fall wird im Verb hallaqa eine besondere religiöse Konnotation des Lebens in der Moschee manifest, die weniger auf Flüchtlinge als auf einen sufischen Zirkel oder eine Theologenschule hindeuten könnte. Günther übersetzt „sie hörten Vorträge“, was auch eine räumliche Dimension impliziert und genauer „sich (um einen Dozenten) im Kreis setzen“ bedeutet. Der Passus endet mit dem Verweis auf ihren rechten Glauben, den der Sultan mit seiner Hilfeleistung stärkt. Man ist an die eben erst abgeschafften, ausdifferenzierten Missionierungsprogramme der Fatimiden erinnert, obwohl die Maghrebiner sehr vermutlich ebenfalls Sunniten waren. In jedem Fall ist diese Art ihrer Unterbringung mit einer weltanschaulichen Dimension ihres Wohnraums verbunden – ohne Hinweis auf den Beweggrund ihrer Übersiedlung. Der berühmte Reisende Ibn Battūta (1304 – ca. 1377) kam knapp 200 Jahre später in die Stadt, als neue Moscheevarianten, finanziert von Privatleuten, errichtet worden waren. Hier wird als Bautypus die khānka erwähnt, eine Herberge besonders für reisende Sufis. Zu dieser Zeit waren im Sufismus zahlreiche Orden entstanden: „Was die Konvente [zawāyā] betrifft, so sind sie zahlreich, und man nennt sie khawāniq, im Singular khānqa. Und die Emire in Kairo [misr] wetteifern um den Bau eines Konvents. Jeder Konvent in Kairo ist einem Orden der Fakire [al-fuqarā’] gewidmet und die meisten von ihnen sind Fremde [acājim). Sie sind gebildet [ahl aladab] und stehen für einen Sufiorden. Jeder Konvent hat einen Shaikh und einen Verwalter, und die Organisation ihrer Angelegenheiten ist erstaunlich.“34

32 Ibn Dschubair/Günther, 33; Ibn Gubair, 28. 33 Vgl. Yaacov Lev, Saladin in Egypt (The Medieval Mediterranean 21), Leiden 1999, 125. 34 Übersetzung Beinhauer-Köhler; Ibn Battūta, Rihlat Ibn Battūta, Beirut 1964, 37f; vgl. auch ausführlich in der englischen Ausgabe der Rihla von H. A. R. Gibb, Travels in Asia and Africa 1325–1354, London 1929=1983, 43–45.

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Die Assoziationen der Bauten changieren zwischen sehr klein – eine zāwīya ist eigentlich eine Zelle oder Klause – und angesichts von Wohnzellen umfangreicher, wie der Begriff khānqa eigentlich erwarten lässt. Auch die Bewohner sind von andernorts gekommen, in der klassischen Übersetzung schreibt Gibb von „Persians“, was die vage wörtliche Formulierung des Plurals acājim durchaus bedeuten könnte. Der Begriff hat jedoch auch eine leicht abwertende Konnotation von befremdlicher Alterität und könnte sowohl auf Aushandlungsprozesse zwischen den sozialen Gruppen als auch auf die Sicht des Autors deuten. Für Araber waren die idealtypischen Fremden stets die Perser. Und tatsächlich sind manche heutigen Sufi-Orden Kairos iranischen Ursprungs und seit dem Ende der untersuchten Epoche verstärkt dorthin gelangt. Hier ist, unabhängig von einer im Text fehlenden Information über die im Hintergrund stehende Migrationsbewegung, die auf Ordensbildung hin angelegte Unterbringung fest und dauerhaft. Als überregionaler historischer Kontext sind die Mongolenstürme des 12. und 13. Jahrhunderts anzunehmen, die im Mittleren Osten zu breiter politischer Destabilisierung führten und bekanntermaßen ein Anwachsen des Sufismus förderten, dessen Orden eine Art soziales Sicherungssystem bei stets wechselnden und sich bekriegenden Herrscherhäusern bildeten. Besonders in Kairo förderten auch die Sultane und Emire seit den Aiyubiden und stärker noch unter den Mamluken die Orden, wohl als Versuch, einen populären Islam und damit die örtlichen Sunniten zu stärken. Intern waren diese Orden sehr hierarchisch strukturiert, auch hier gab es eine baica als Treueschwur gegenüber dem Shaikh als Ordensoberhaupt. Ebenso wie Patrone der herrschenden Oberschicht solche Sufiherbergen förderten, so stifteten sie auch Madrasen, im Kern Hochschulen für islamisches Recht als Teil der Theologie, als religionspolitischer Versuch der Stärkung der eigenen Rechtsschule. In beiden Formaten sind in erhaltenen Grundrissen Wohnzellen sichtbar. Die Sultane und Emire sicherten sich mit einem Patronat über solche Unterkünfte neue Gruppen als Klientel – und vermochten über die Beliebtheit besonders der Sufis im Volk noch weitaus größere Kreise für sich einzunehmen.35 In einer anderen Passage erwähnt Ibn Battūta ethnisch und religiös unbestimmte Milieus jugendlicher männlicher Banden, die im mittelalterlichen Kairo einen eigenen Namen erhalten haben, harāfīsh. Offenbar hat es Versuche gegeben, sie zu kontrollieren, beispielsweise durch einen Emir Tushtu, indem er sie finanziell unterstützte. Die Harāfīsh dankten es ihm, als sie zu Tausenden vor der Zitadelle und dem Sultan aufmarschierten und erfolgreich die Freilassung des dort vorübergehend festgesetzten Emirs forderten.36 Robert Irwin widmete 2004 einen ganzen Aufsatz „Futuwwa, Chivalry and Gangsterism in Medieval Cairo“ diesem Milieu, das sich wohl nicht zufällig auch in der Gräberstadt al-Qarāfa aufgehalten haben soll, wo vermehrt Khānkas und Madrasen gegründet wurden.37 Solche Unterkünfte dienten womöglich auch dazu, heteronormative, umherschweifende Milieus zu sozialisieren und als eigene Loyalitätsgruppe zu gewinnen. 35 Zu historischen Kontexten der Genese der Orden Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, München 21992, 324–342. Grundrisse bei Doris Behrens-Abouseif, Islamic Architecture in Cairo. An Introduction, Leiden 42004, 90.97.106.118 u.a. 36 Ibn Battūta, 44; Ibn Battūta/Gibb, 54. 37 Robert Irwin, Futuwwa, Chivalry and Gangsterism in Medieval Cairo, in: Muqarnas XXI (2004), 161– 170, 161.

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7. Jüdische und christliche Immigration Kleine Schlaglichter mögen ergänzend die Situation in anderen Religionsgemeinschaften erhellen. Es gibt ein prominentes Beispiel einer erfolgreichen Übersiedlung nach Kairo: Der Gelehrte Moses Maimonides (um 1135–1204), der seine Kindheit in Spanien verbrachte und dessen Familie offenbar auf der Flucht vor Zwangsislamisierung durch die Dynastie der Almohaden durch Nordafrika wanderte, kam in den 1160er Jahren gegen Ende der Fatimidenherrschaft in die Stadt. Goitein rekonstruiert in einem biographischen Aufsatz plausibel Maimonides’ Familienverhältnisse: Dieser verhielt sich, um Teil der Kairiner Gesellschaft zu werden, genauso, wie es im Rahmen eines Patronatssystems und kulturellreligiöser Netze als wesentlicher sozialer Infrastruktur sinnvoll war. Er arrangierte die Einheirat einer seiner Schwestern in eine jüdische Notabelnfamilie mit Kontakten zum Hof. Dort war er offenbar strategisch so gut platziert und sein akademischer Ruf bereits so überragend, dass er innerhalb kürzester Zeit erst einmal als Rabbiner und Jurist reüssierte und später sogar nagid, gesamtjüdischer Repräsentant am Sultanshof der Aiyubiden, wurde. Gleichzeitig etablierte er sich als Mediziner und schließlich Hofarzt. Interessanter Weise lebte er weiter in al-Fustāt, in Reichweite „seiner“, d.h. der schon erwähnten Ben EzraSynagoge, und klagt in einem Brief über sein „Pendlerschicksal“, dass ihn täglich auf einem Reittier nach al-Qāhira führte, wo er Adelige kurieren musste.38 Die umfangreichen Migrationswellen unter den armenisch-stämmigen Wesiren Badr alJamālī (gest. 1094) und seinem Sohn al-Afdal (gest. 1126) lassen sich erstaunlicher Weise trotz der angenommen hohen Anzahl von Übersiedlern kaum lokalisieren, auch dies ist symptomatisch für das vorliegende Thema. Es kamen etwa Bauleute, die unter Badr als Großprojekt eine neue Stadtbefestigung errichteten. Allein ihre religiöse Beheimatung ist in Andeutungen zu erheben. Wohl aufgrund ihrer theologischen Affinität zu den Kopten, beide waren miaphysitische Kirchen, wurden ihnen mit al-Basātīn und az-Zuhrī zuvor koptische Kirchen zugeteilt. So erwähnt ein inzwischen als koptischer Autor Abū l-Maqārim (gest. nach 1190) identifizierter Abū Sālih39 in der einschlägigen Quelle über die koptischen Kirchen und Klöster Ägyptens auch armenische Stätten der Religionsausübung, denn beide hatten eine oft wechselvolle gemeinsame Geschichte. Zwar besaßen beide miaphysitischen Kirchen eine dogmatische Affinität, sprachlich und auch im Ritus der Kirchen und im weiteren Sinne kulturell handelte es sich jedoch um völlig eigenständige Gruppen, die politisch konkurrierten. Hier liegt ein Beispiel dafür vor, dass eine Nähe religiöser Systeme nicht automatisch zu einer Annäherung von Bevölkerungsgruppen führte. Beide wurden naheliegend bei den muslimischen Herrschern zum Spielball wechselseitiger Bevorzugungen, und die genannten armenischen Kirchen wurden später in den Wirren des Übergangs von Fatimiden zu Aiyubiden erst den Kopten und später wieder den Armeniern zugesprochen. Das 38 Vgl. Shelomoh D. Goitein, Moses Maimonides, Man of Action. A Revision of the Master’s Biography in Light of the Geniza Documents, in: Gérard Nahon/Charles Touti, Hommage à George Vajda. Études d’histoire et de pensée juives, Louvain 1980, 155–167. Ismar Elbogen, Das Leben des Mosche Ben Maimon, Berlin 1935, 13, übersetzt den Brief Maimonides’, wo er über seine täglichen Wege klagt; s. Beinhauer-Köhler, Spielräume, 25f. 39 Bei Johannes den Heijer, Coptic Historiography in the Fātimid, Ayyūbid and Early Mamlūk Period, in: Medieval Encounters 2,1 (1996), 67–96; es geht um Abū Sālih, The Churches & Monasteries of Egypt and Some Neighbouring Countries, hg. u. übers. v. B.T.A. Evetts/Alfred Butler, Oxford 1895.

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inzwischen als koptisch identifizierte Geschichtswerk macht die andauernden Konkurrenzen und auch Konflikte zwischen autochthoner Bevölkerung und eingewanderten Christen erahnbar.40

8. Deutung der Spuren Die verfolgten Spuren lassen nun Züge eines Gesamtbildes erkennen: Gebildete und wohlhabende Geflüchtete kamen offenbar regelmäßig in Netzwerken und konkret in den Räumlichkeiten einer überregional miteinander verbundenen Oberschicht unter. So war man am Kalifenhof der Fatimiden wenig an konfessioneller oder ethnisch-kultureller Herkunft interessiert, siehe Usāma Ibn Munqidh als Sunnit bei den Siebenerschiiten oder die Erwähnung von Prinzen aus aller Welt am Hof, geschildert bei Nāsir-i Khusrau. Die vorliegenden Beispiele verraten dabei nichts über konkrete Treueschwüre den Kalifen gegenüber. Dennoch lassen sich Muster des Patronats erkennen; dieses war integrativ angelegt, wohl um eine möglichst breite Machtausdehnung zu erzielen. Die Unterbringung und Finanzierung der Gäste hatte im Umkehrschluss bei unseren Autoren schriftlich zum Ausdruck gebrachte Loyalität zur Folge, Usāma und Nāsir standen auch politisch im Dienst des Herrscherhauses, ebenso wie die bei Nāsir erwähnten Prinzen als Klaqueure bei Auftritten im öffentlichen Raum. Aus Einzelschilderungen können wir annehmen, dass in Katastrophenfällen wie Hungersnöten in großem Maße, ohne erkennbare Einschränkung, seitens Vermögender Hilfe geleistet wurde; wenn, wie bei Nāsir erwähnt, Mekkapilger aus dem Hijāz mit Obdach, Kleidung und Nahrung versorgt wurden. Hier wird das Muster einer vorübergehenden, aber lebensrettenden Gastfreundschaft im Hintergrund gestanden haben. Im Hintergrund wirkte die Sure 9:60. Eine mittelfristige Unterbringung größerer Bevölkerungsgruppen war potenziell in Moscheen möglich, die von Patronen als Stiftern finanziell getragen wurden. Belegt ist dies ab Beginn der Aiyubidenherrschaft auch in kleineren Mausoleen, wohlgemerkt oft in der Randlage des Siedlungsraums, nämlich der Gräberstadt al-Qarāfa, wo unbestimmte Milieus von Pilgern, Reisenden und potenziell auch Geflüchteten im Rahmen der gängigen Funktion solcher Stätten untergebracht wurden. Eine Gruppe sticht heraus: die der Nordafrikaner, die längerfristig mit eigener Organisationsstruktur in der zentral zwischen al-Fustāt und al-Qāhira gelegenen Ibn Tulūn-Moschee lebten und dabei auch eine religiöse Bildung erhielten. Auch hier wird ein Patron-KlientenVerhältnis entstanden sein, insofern als die Bewohner von der besonderen Initiative ihres Gönners Salāh ad-Dīn wussten, allerdings wieder ohne dass dies im Text mit Bezug auf einen Treueeid expliziert wird. Ähnliche Verhältnisse werden bei Ibn Battūta im 14. Jahrhundert erwähnt, wo – immer noch durch die vermögende politische Elite gesichert – zahlreiche Khānqas entstanden sind, die der Beschreibung nach oft für iranisch geprägte Sufiorden genutzt wurden.

40 Abū Sālih, 12f, zur wechselhaften Geschichte dieser Kirchen; s. Beinhauer-Köhler, Spielräume, 119– 122.

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Bärbel Beinhauer-Köhler

Insgesamt gesehen wiederholt sich ein bestimmtes Vokabular, und dabei klingt auch die von negativen Begleitumständen geprägte „Flucht“ an: deutlich im „Fluchtort“, ma’wan, über die ujra als Finanzierung der ansonsten mittellosen Bewohner und immer wieder über die Personenkreise, die Aufenthalt suchen: „die Armen“ (al-fuqarā’) und „die Fremden“ (al-ghurabā’); wobei in der hier behandelten Periode der Terminus der „Armen“ in der Bedeutung des „Wanderderwischs“, faqīr, auch einen Reisenden auf spiritueller Suche meinen kann, so dass sich die Gründe für eine Zuwanderung wieder dem Zugriff entziehen. Hinzu kommen mehrfach erwähnte „Ausländer“ (acājim), bei denen es sich aufgrund der Mehrfachkonnotation des Terminus᾿ um Perser gehandelt haben könnte. Schon früh wurden Moscheen als Stationen auf der Pilgerfahrt genutzt. Ab ca. 1200 etabliert sich die Khānqa als Herberge für Reisende mit weiteren religiösen Interessen. Alle diese Milieus vermischen sich nun in den Momentaufnahmen von Moscheen im mittelalterlichen Kairo, die dem verwendeten Vokabular zufolge häufig auch als Fluchtorte denkbar werden. Auch der Mangel an explizit erwähnten anderen Orten der Unterbringung für Zugezogene lässt dies plausibel erscheinen. Möchte man diese Räumlichkeiten verorten, war das mehrfach erwähnte Friedhofsgebiet al-Qarāfa prädestiniert, um außerhalb der etablierten Wohnviertel zahlenmäßig in größerem Umgang Zugewanderten eine Herberge oder gleich einen neuen Lebensraum zu verschaffen. Als Ergebnis lässt sich auch hier festhalten, dass wie im frühen Islam zur Zeit Muhammads die Flucht kaum in ihren negativen Seiten expliziert wird und nur leise in einem größeren Kontext von Deutungsoptionen mit anklingt. Jedenfalls die Autoren der vorliegenden Reiseberichte wählen nicht die Option, bei der Beschreibung eigener oder anderer Reisender unfreiwillige Beweggründe auszuführen, so dass die religiösen Formate wie die Pilgerfahrt oder eine sufische Reise zu Gott im Vordergrund ihrer Ausführungen zum Thema stehen. Als ein weiteres Ergebnis lässt sich im Rahmen der vorliegenden Einblicke annehmen, dass größere Gruppen, die neu ihren Aufenthalt in Kairo fanden, dies regulär in den Netzwerken ihrer Religionsgemeinschaft und spezifischen Konfession taten: Maimonides lebte trotz weitreichender Kontakte in einem jüdisch geprägten Viertel, die Armenier bekamen Kirchen und nicht etwa Moscheen zugewiesen. Einzig jüdische Geniza-Dokumente belegen noch eine andere Option, so haben sich Listen von Brotausgaben an Arme erhalten, auf denen mehrere Menschen aus rūm als Empfänger genannt werden.41 Der ethisch begründete Altruismus der Juden erstreckte sich also greifbar auch auf Menschen ganz anderer Kultur und Religion. Hier ging es um eine Sicherung des unmittelbaren Überlebens Einzelner, von Unterbringung ist nicht die Rede. Diese jüdische Gemeinde ist übrigens der einzige gefundene Hinweis auf Hilfeleistung für gestrandete Flüchtlinge im direkten zwischenmenschlichen Miteinander. Die jüdischen Gemeinden organisierten damals auf der Ebene ihrer normalen Mitglieder eine Sozialfürsorge. Für den Islam künden die erhaltenen Texte eher von den Herrschenden und Wohlhabenden, die mit komplexen, persönlichen bis politischen Interessen in größerem Umfang Hilfe leisteten. 41 Solomon D. Goitein, A Mediterranean Society. The Jewish Communities of the Arab World as Portrayed in the Documents of the Cairo Geniza 2. The Community, Berkeley u.a. 1999, 92–96.127f. rūm meinte damals das Byzantinische Reich, vgl. Beinhauer-Köhler, Spielräume, 105f.

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Kairo als Fluchtort

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Wir können inzwischen differenzierter schließen, wie sich die Bewohner Kairos im Rahmen kultureller Vielfalt miteinander ins Benehmen setzten. Dabei können wir davon ausgehen, dass sie sich sprachlich nicht automatisch verständigen konnten, wenn sich auch zur vorliegenden Zeit das Arabische als Schriftsprache der Gebildeten durchgesetzt hatte. So spielte eine Einbindung in vergleichbare Milieus, meist größere Gruppen gleicher Religion bzw. Konfession und Sprache, eine maßgebliche Rolle. Denn ein soziales System im heutigen Sinne, wo ein Individuum aufgefangen worden wäre, gab es nicht. Letztendlich bestätigt sich, dass die islamisch geprägte Gesellschaft, siehe die Eingangszitate von Netton und Dunn, damals durchaus dynamisch war. Moderne Ideen wie die Nationalität als auch räumliches Ordnungsprinzip mit kulturellen oder physischen Grenzen spielten ganz offensichtlich keinerlei Rolle. In Kairo lebten Menschen aus vielen Regionen, die sich zu größeren Loyalitätsgruppen zusammenbanden. So einte eine überregionale sunnitische Identität seit Saladin kurdische Emire und Ägypter, und ein populärer Islam wurde zunehmend durch iranischstämmige Sufis ebenso verkörpert wie durch die ansässige Bevölkerung. Allerdings zeichnete sich hiermit bereits eine Tendenz ab, die eine Dynamik immer neuer Allianzen zu behindern begann: Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts, mit den Aiyubiden, wurde eine überregionale sunnitische Einheit propagiert und mitsamt ihren Rechtsschulen gefördert.42 Dieser Trend zur Vereinheitlichung führte in den Folgejahrhunderten zu einer immer stärkeren Zunahme des sunnitischen Islams und brachte eine sich bis heute verstärkende Asymmetrie zwischen den Religions- und Bevölkerungsgruppen hervor. Wenn Knott den physischen Raum immer in Verbindung mit seinen kulturellen Konstruktionen und Imaginationen versteht, lässt dies abschließend noch einmal nach dem Blick der Reiseschriftsteller auf Kairo und seine spezifischen Fluchtorte fragen. Dann wird erkennbar, dass hier ein besonderer Ausschnitt in einem bestimmten Zeitfenster vorliegt. Die Reiseberichte von Mekkapilgern beleuchten – neben hier nicht fokussierten ganz anderen Themen – Stationen, die unter dem großen Vorzeichen des Hajj für eine gebildete Leserschaft interessant sein könnten. Die Reiseberichte stehen zudem in Wechselwirkung mit dem Patronatssystem, wozu in diesem Falle gehört, stereotyp, ganz unabhängig von der Konfession der Herrscher, deren Wohltätigkeit beim Moscheebau zu loben, aber seltener etwas über die tatsächliche Lebenssituation ärmerer, dort lebender Zugereister zu verraten. Deren Perspektive erschließt sich in den Reiseberichten nach wie vor eher implizit. Aber immerhin können wir angesichts der Überlagerung von Reiseberichterstattern, Pilgern und Geflüchteten grundlegende Informationen über Letztere gewinnen.

42 Beinhauer-Köhler, Spielräume, 204.

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Heinrich Melidonian: Die Geschichte eines Überlebenden Ein Fallbeispiel aus dem deutschen Waisenhaus „Bethschalum“ in Marasch Hayk Martirosyan Nach den großen Massakern an osmanischen Armeniern zur Zeit des Sultans Abdül Hamids II. 1894–1896 wurden in den von Armeniern bewohnten Städten eine Reihe von deutschen Stationen gegründet, um den überlebenden Armeniern, vor allem Waisenkindern und Witwen, helfen zu können. Die Stationen bestanden aus Waisenhäusern, Schulen und Werkstätten. Medizinische Versorgung wurde gewährleistet und an einigen Orten ganze Krankenhäuser gegründet. Mit der Zeit wuchs sowohl die Anzahl der Waisenkinder als auch der einheimischen und ausländischen Mitarbeitenden. In den Jahren des Völkermords an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs wurden viele Hilfsstationen aufgelöst. Nur einzelne deutsche Stationen konnten Krieg und Genozid überleben und damit hunderte von Kindern retten. Studien über diese Waisenkinder sind selten. Über sie wurde oft als eine Gruppe, aber kaum über einzelne Schicksale geschrieben. Aber es ist zu klären, welches Schicksal diese Kinder hatten. Blieben sie weiter in ihrer Heimat oder nicht? Was mussten sie tun, um am Leben zu bleiben? Unter welchen Umständen konnten sie den Völkermord überleben? Von vielen Waisenkindern gibt es keine Angaben. Über Heinrich Melidonian,1 eines der Kinder der deutschen Waisenstationen, konnte ich jedoch einige Aufsätze, Briefe und andere Materialien in deutschen Archiven finden. Einige Angaben wurden mir aus Frankreich2 zur Verfügung gestellt. Er war das jüngste ins Waisenhaus von Marasch (Kilikien) aufgenommene Kind, welches überleben konnte und viele Jahre in Deutschland verbrachte. Er hat auch einige Schriften verfasst. Er ist aber doch unbekannt geblieben. In diesem Aufsatz rekonstruiere ich anhand von Materialien des Landeskirchliches Archivs Stuttgart, des Archivs des Christlichen Hilfsbundes im Orient Bad Homburg, des Archivs der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, des Archivs des Lepsiushauses Potsdam sowie in bis jetzt überwiegend unbekannt gebliebenen Schriften von Heinrich Melidonian das Leben eines Waisenkindes im Osmanischen Reich und in Deutschland. An seinem Beispiel wird gezeigt, wie gefährlich und unvorhersehbar das Schicksal eines überlebenden armenischen Waisenkindes sowohl in den Jahren des Völkermordes als auch nach dem Verlassen des Osmanischen Reiches war. Ich gehe auf die Fragen ein, unter welchen Bedingungen ein Waisenkind der deutschen Station den Völkermord an den Armeniern überleben konnte und welche Gefahren der 1 2

In seinen Schriften steht der Name Heini Melidonian, aber da er als Heinrich Melidonian getauft worden war, wird in diesem Artikel der Vorname Heinrich benutzt. Straßburg, Union des Eglises protestantes d’Alsace et de Lorraine.

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Hayk Martirosyan

ehemalige Säugling nach dem Verlassen des Waisenhauses im Osmanischen Reich und danach in seiner zweiten Heimat überwinden musste.

Deutsche Hilfsorganisationen im Osmanischen Reich Seit Ende 1896 begannen Mitarbeiter der deutschen Missionsorganisationen unter den Armeniern des Osmanischen Reiches zu arbeiten. Die neu gegründeten Stationen hießen oft Missions- oder Waisenstationen. Außer größeren Stationen (Hauptstationen) gab es auch Nebenstationen, bei denen es entweder keine oder nur einen bis zwei deutsche (bzw. europäische) Mitarbeiter gab. Diese Nebenstationen befanden sich in der Nähe und unter der Leitung einer Hauptstation. In diesen Stationen beschäftigten sich der Deutsche Hülfsbund für Armenien (DHA)3 und die Deutsche Orient-Mission (DOM)4 mit den Waisen, Witwen und Armen. Zu Beginn benötigte man Gelder aus Deutschland und die Hilfe amerikanischer Missionare (Personal, Kontakte), um vor Ort Waisenstationen gründen zu können und dort zu arbeiten. Im Laufe der Zeit wurden die Stationen überwiegend mit deutschen Mitarbeitern besetzt und schließlich ganz in deutsche Obhut genommen. Das erste Waisenhaus für armenische Waisenkinder mit direkter deutscher Leitung eröffnete der DHA im Herbst 1896 in Konstantinopel. Am 28. August 1896 fand die zweite Konferenz des DHA in Frankfurt am Main statt, wo die Teilnehmer unter anderem entschieden, im Bezirk Skjutar (Üsküdar) in Konstantinopel ein Waisenhaus unter deutscher Leitung zu eröffnen.5 Das Kaiserswerther Diakonissenhaus besaß zwar seit 1851 Waisenhäuser im Osmanischen Reich, aber armenische Kinder wurden erst nach den hamidischen Massakern der 1890er Jahre in diesen Häusern aufgenommen. Der DHA und die DOM gründeten eine Anzahl von neuen Waisenstationen in einer Reihe von Städten des Osmanischen Reiches wie in Mezire bei Kharberd (heute Elazıǧ bei Harput), Marasch (heute Kahramanmaraş), Van, Urfa (heute Şanlıurfa), Atta-Bey bei Arabkir, später auch in Diarbekir (heute Diarbakır), Musch (heute Muş), Harunije (heute Düziçi, Malatia (heute Malatya) und Arabkir (heute Arapgir).6

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Der Deutsche Hülfsbund für Armenien (DHA) wurde am 2. Juli 1896 in Frankfurt am Main gegründet und hatte später zwei Zentralkomitees (in Frankfurt und Berlin) sowie eine Anzahl von Zweigkomitees in der Schweiz, in Elsass, Nassau, Hessen, Ostfriesland, Hinterpommern; vgl. Richard Schäfer, Geschichte der Deutschen Orient-Mission, Potsdam 1932, 9. Die Deutsche Orient-Mission (DOM) wurde am 29. September 1895 in Friesdorf gegründet. Am nächsten Tag fand das Massaker an den Armeniern in Konstantinopel statt, und das Ziel der Mission wurde geändert. Die DOM begann (vor allem) die überlebenden Armenier, speziell Waisenkinder und Witwen zu unterstützen; vgl. Jakob Künzler, Dreißig Jahre Dienst am Orient, Basel 1933, 28f. Nach der Gründung des DHA entstand die DOM aus dem Zentralkomitee in Berlin. Die Zusammenarbeit dauerte bis 1897. Danach führten die beiden Zentralkomitees ihre Tätigkeit einzeln, aber in Abstimmung weiter. Der DHA wurde als Deutscher Hülfsbund für christliches Liebeswerk im Orient (DHCLO) weitergeführt, das Zentralkomitee in Berlin nahm den Namen DOM an. Deutscher Hülfsbund für christliches Liebeswerk im Orient e.V., Skizzen und Bilder aus dem Orient, Frankfurt a. Main 1899, 54. Die Anwendung der Ortsnamen im Beitrag ist wie in den Quellen.

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Heinrich Melidonian, Geschichte eines Überlebenden

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In den Stationen des DHA nahm die Zahl der Waisenkinder ständig zu. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es in allen Missionsstationen des Hülfsbundes 1.730 Kinder. Um diese Kinder kümmerten sich 45 europäische sowie etwa 200 einheimische Mitarbeiter.7 109 Lehrer und Lehrerinnen der Stationen unterrichteten 3.361 Kinder.8 Die Anzahl in der Waisenstation Diarbekir des DOM nahm mit der Zeit ab. Im Jahre 1901 wurden etwa 400 Kinder versorgt, 10 Jahre später waren es nur noch 150.9 Einige Stationen wurden im Laufe der Zeit (auch unter dem Druck der osmanischen Regierung) aufgelöst. In der im Jahre 1909 von Ernst Jakob Christoffel10 (unabhängig von DHB und DOM) gegründeten Anstalt „Bethesda“ der Blindenmission in Malatia gab es vor dem Weltkrieg 85 Personen.11

Heinrich Melidonians Leben im deutschen Waisenhaus in Marasch Heinrich Melidonian – sein originärer armenischer Name ist unbekannt – wurde im Jahre 1901 geboren. Es gibt zwei Quellen über sein Geburtsdatum. Laut der Zeitschrift des Deutschen Hülfsbunds für Christliches Liebeswerk im Orient (DHCLO) nahm das deutsche Waisenhaus in Marasch das sechs Wochen alte Kind im Herbst 1901 auf. So dürfte er zwischen Juli und Oktober 1901 geboren sein.12 Die zweite Quelle ist der 1927 von Melidonian für die Diakonenanstalt Karlshöhe geschriebene Lebenslauf. Er bezeichnet darin den 1. Oktober 1901 in Aleppo als seinen Geburtstag13. Einige Monate nach seiner Geburt wurde Melidonian als Säugling in das Waisenhaus in Marasch aufgenommen.14 Danach kümmerte sich Schwester Marie Spieker um ihn.15 7 Wahe Hajk, Kharberd und sein goldenes Feld. Historisches, kulturelles und nationales Erinnerungsbuch (Armenisch: Xarberd ew anor oskełēn daštə. Yušamatean patmakan, mšakut‘ayin ew azgagrakan), New York 1959, 475. 8 „Übersicht über unsere Schularbeit“ in: Sonnen-Aufgang, Heft 5, Februar 1914, 69. Die Schulen des Hülfsbundes besuchten nicht nur die Waisenkinder, sondern auch die Kinder aus den armenischen Familien des Wohnortes, deswegen gab es mehr Schüler und Schülerinnen als Waisenkinder. 9 Paul Rohrbach, Bericht aus Urfa, in: Der Christliche Orient, 1911, 82. 10 Über das Leben und die Tätigkeit von Ernst Jakob-Christoffel vgl. seine Schriften (Aus dunklen Tiefen. Erlebnisse eines deutschen Missionars in türkischem Kurdistan während der Kriegsjahre 1916–1918, Berlin 1921; Zwischen Saat und Ernte, Breslau 1933; Vier deutsche Jungen in Malatia; Von des Heilandes Brüdern und Schwestern) sowie Fritz Schmidt-König, Ernst J. Christoffel. Vater der Blinden im Orient, Gießen-Basel 1976, Hedwig-Maria Winkler, Lichtspur der Liebe, Metzingen 1981, und Sabine Thüne, Ernst Jakob Christoffel. Ein Leben im Dienst Jesu, Hamburg 2007. 11 Christoffel, Aus dunklen Tiefen, 15f. 12 Paula Schäfer, Das Krankenhaus Salem in Marasch, in: Mitteilungen aus dem Orient, Heft 4, Januar 1902, 41. Siehe auch Paula Schäfer, Ich bin krank gewesen, in: a.a.O., Heft 2, November 1902, 25, und Dies. Einweihung unseres neuen Krankenhauses Salem in Marasch, in: a.a.O., Heft 10, Juli 1904, 190. 13 Landeskirchliches Archiv Stuttgart (LkAS), Bestand Karlshöhe, Nr. 898, An die verehrl. Direktion des Diakonenanstalt. Karlshöhe bei Ludwigsburg (Württ.), 18.11.1927, 1. 14 Paula Schäfer, Bilder aus dem Krankenhaus Salem, in: Mitteilungen aus dem Orient, Heft 6, März 1902, 65f. 15 Marie Spiecker, geb. Lüdecke, am 1.3.1872 in Neustettin (Pommern) geboren, arbeitete seit dem 27. Mai 1899 in Marasch (davor war sie zwei Jahre als Hilfsbund-Schwester in der Station des DHCLO in

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Der DHCLO hat in diesem Fall eine Ausnahme für Heinrich Melidonian gemacht,16 denn damals nahmen die deutschen Waisenhäuser Kinder in solch jungem Alter in der Regel nicht auf. Vermutlich war einer der Gründe dafür die hohe Sterblichkeit der Kinder im jüngsten Alter. Außerdem hatte Melidonian ernsthafte gesundheitliche Probleme. So hat er etwa zweieinhalb Jahre unter der Leitung von Schwester Paula Schäfer17 im Krankenhaus der Station zugebracht. Dort wurde er nach dem Wunsch von Paula Schäfer von Pastor Richard Brunnemann auf den Namen Ernst Heinrich Melidonian18 protestantisch getauft. Der DHCLO fand für Melidonian Pflegeväter19 in Deutschland. Die finanzielle Fürsorge haben Diakon Otto Clarenbach (*24.3.1857 Köln, †21.11.1933 Bielefeld) aus Bethel, Pflegevater von Melidonian seit 1901, und Pastor Kuhlo (*8.10.1856 Gohfeld, †16.05.1941 Gadderbaum), Mitgründer der evangelischen Posaunenchorbewegung in Deutschland und seit 1892 Pfarrer in den Bodelschwinghschen Anstalten, übernommen. Damit versorgten Otto Clarenbach und Pastor Kuhlo Heinrich bis zum Ende seines Aufenthalts im deutschen Waisenhaus Marasch finanziell. Im Herbst 1918 verließ Melidonian das Waisenhaus,20 aber die Verbindung mit den Pflegevätern und die Unterstützung von deren Seite blieben auch danach bestehen. Eine der Mitarbeiterinnen des Waisenhauses von Marasch, Auguste Skarnikat,21 hatte zuvor in Bethel gearbeitet und den Pflegevater von Heinrich Melidonian, Otto Clarenbach,

16 17 18 19

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Konstantinopel, wo sie den Lehrer Wilhelm Spiecker heiratete). Sie war im Dienste des DHCLO bis 1907, blieb aber danach auch im Orient und arbeitete in der deutschen Realschule in Aleppo. Sie war Augenzeugin des Genozides an den Armeniern und hat viele Berichte darüber geschrieben. Sie war auch eine der Augenzeuginnen beim Talaat-Pascha Prozess in Berlin 1921; vgl. Tessa Hofmann, Der Völkermord an den Armeniern. Der Prozess Talaat Pascha, zweite ergänzte Ausgabe, Göttingen-Wien 1980, 5. Mindestens bis 1929 war Marie Spiecker Lehrerin in der Schule von Rossleben und wohnte in der Schulstraße 2. Für diesen Hinweis sowie für ein beigefügtes Foto von Marie Spiecker aus 1929 bedanke ich mich ganz herzlich beim Heimatforscher aus Rossleben Ingo Heidenreich. Im Original wurde er als „erstes Flaschenkind“ bezeichnet vgl. Schäfer, Einweihung 190. Paula Schäfer (*11.10.1879 Schwelm, †13.05.1967 Bad Homburg) war seit 1901 Mitarbeiterin der Station in Marasch und blieb im Osmanischen Reich bis 1919. Sie war Augenzeugin der Massaker in Kilikien (1909) und des Genozides an den Armeniern. Heini Melidonian, Vergangen, … aber nicht vergessen! Erinnerungen und Erlebnisse eines armenischen Waisenkindes und der Missions-Station Marasch in der asiatischen Türkei, Chemnitz 1937, 9. Als Pflegevater, Pflegemutter, Pflegeeltern wurden die Leute (oder eine Gruppe von Menschen) genannt, die die finanzielle Fürsorge eines Kindes (einiger Kinder) übernommen und jährlich 150 Mark bezahlt hatten; vgl. Vorstandsitzung in Barmen, am 28. Oktober 1898, in: Mitteilungen aus dem Orient, Heft 2, November 1898, 9. Melidonian, Vergangen, 8. Seit dem 5.12.1932 befand sich Otto Clarenbach auf Grund einer Arteriosklerose in der Abteilung für Gemütskranke im Hause „Morija“ der Bethel-Anstalten bei Bielefeld in Behandlung und konnte weder selbstständig für sich sorgen noch auf die Briefe von Melidonian antworten, vgl. Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, HAB, N-PA-96, 1754. Auguste Skarnikat (*1870 im Kreis Sensburg/Ostpreußen) arbeitete am Ende des 19. Jahrhunderts in „Bethel“ bei Bielefeld. Seit dem 31.10.1903 arbeitete sie im Waisenhaus „Bethel“ in Marasch und übernahm die Leitung eines der Waisenhäuser namens „Liebe“. Am 19.11.1911 fuhr sie nach Deutschland zurück. Nach der endgültigen Rückkehr aus dem Osmanischen Reich ließ sie sich in Uchtenhagen, später im Haus „Kaiser Wilhelm“ in Nastätten nieder. Vgl. Auguste Skarnikat, Reiseerlebnisse unserer Geschwister (Teil 1), Dies., Reiseerlebnisse unserer Geschwister (Teil 2), in: Mitteilungen aus dem Orient, Heft 4, Januar 1904, 65ff; Heft 5, Februar 1904, 86f; Dies., Ein Rundgang durch das Knabenwaisenhaus in Marasch, a.a.O., Heft 11, August 1908, 161f; Dies., Nachrichten, in: a.a.O., Heft 3, 1911, 48; Richard Brunnemann, „Bethschallum“, in: a.a.O., Heft 2, November 1904, 31f; sowie Archiv Missionshaus

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Heinrich Melidonian, Geschichte eines Überlebenden

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dort persönlich kennengelernt. Sie entwickelte daher im Laufe der Jahre einen besonderen Kontakt zu Melidonian. Während der Armenier-Massaker 1909 in Adana und ganz Kilikien war auch die Stadt Marasch betroffen. Seit dem ersten Tag der Massaker führten die Ärzte des Krankenhauses der Station „Salem“ Operationen an verwundeten Armeniern durch. Eine große Anzahl der Armenier in der Umgebung floh in die Station, um sich vor weiteren Angriffen zu retten. Außerdem bildeten in den nächsten Tagen und Wochen vor allem die Mitarbeiter des Krankenhauses Gruppen, um in die von Massakern besonders betroffenen Wohnorte zu reisen, den Armeniern vor allem ärztliche Hilfe zu leisten, Lebensmittel zu geben sowie neu verwaiste Kinder aufzunehmen und in die Station zu bringen. Insgesamt nahm die Station über 300 neue Waisenkinder auf.22 Ein Teil der Waisenkinder der Knabenstation „Bethschalum“, darunter auch Melidonian, waren schon am ersten Tag der Massaker Gefahren ausgesetzt. Auf dem Weg ins Bad23 umzingelten türkische Marodeure die Kinder und schlugen den begleitenden Lehrer Inglisian. Erst nach den Bemühungen der zur Hilfe geeilten deutschen Mitarbeiter aus dem Waisenhaus konnten die Kinder befreit und schnell in die Station zurückgebracht werden.24

Das Verlassen des Waisenhauses und Lebensgefahr in Kilikien Die deutschen Missionsstationen des Osmanischen Reiches standen während des Ersten Weltkrieges vor ernsthaften Herausforderungen. 1915 wurden alle Nebenstationen sowie ein Teil der Hauptstationen aufgelöst. Die armenischen Waisenkinder und Mitarbeiter der Station in Musch erlitten das schrecklichste Schicksal. Alle armenischen Kinder und Mitarbeiter mit drei oder vier Ausnahmen wurden lebendig verbrannt. Die Station in Marasch überlebte den Ersten Weltkrieg und den Völkermord und konnte dabei das Leben hunderter Waisenkinder und Mitarbeiter retten. Die Station in Marasch bekam auch vom deutschen Konsul in Aleppo, Walter Rößler (1871–1929)25, Unterstützung, wobei er selbst von Zeit zu Zeit die Station besuchte. Trotzdem verschlechterte sich die Lage der Station immer mehr. Die osmanische Regierung beschlagnahmte ab 1916 einige Häuser. Die Station Marasch übergab die Knaben an Verwandte, und wenn jemand keine Verwandten hatte, blieben sie gegen eine finanzielle Unterstützung der Station bei einer armenischen Familie in der Stadt. Solche Kinder nannte man „Kostenkinder“. Dieser Ansatz war auch in anderen Stationen üblich. Melidonian lebte einige Zeit als „Kostenkind“ bei der Witwe Turwand. Der einzige Sohn der Witwe sowie die Ehemänner ihrer zwei Töchter wurden in die Armee einberufen und kamen nicht mehr zurück. Dann starb die 22-jährige Tochter, die selbst drei Kinder hatte. Alle am Leben gebliebenen Verwandten hatten sich in Malche, Kladde 1, 5–8, 11f. 22 Auszug aus dem Jahresbericht 1910, in: Sonnen-Aufgang, Heft 6, März 1910, 83f. 23 Das Gebäude fürs Bad befand sich neben dem Mädchenwaisenhaus „Bethel“, das entfernt vom Knabenwaisenhaus lag. Jeden Samstag wurden die Knaben unter der Leitung eines Lehrers ins Bad gebracht. 24 Melidonian, Vergangen, 16. 25 Ausführlich über Walter Rößler vgl. Kai Seyffarth, Entscheidung in Aleppo. Walter Rößler (1871– 1929), Bremen 2015.

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Turwands Haus versammelt.26 Trotzdem hielt Heinrich wie die anderen Kinder den Kontakt zur Station und besuchte die Sonntagsschule. Im Herbst 1915 nahm die Station die Kinder zurück. Danach bekamen die Armenier der Stadt den Befehl, sich für die Deportation bereit zu machen. Schon am nächsten Morgen wurde ein Teil der Bevölkerung in die Verbannung geschickt.27 1917 sollte Melidonian mit sechzehn älteren Knaben den an der Bagdad-Bahnstrecke bei Airan arbeitenden Deutschen helfen.28 Melidonian blieb allerdings nicht lange dort, denn er war an Malaria erkrankt, verbrachte dadurch einige Zeit in einem Lazarett und ging nach Marasch zurück, da er physisch nicht mehr im Stande war zu arbeiten. In seinen Schriften erinnert sich Melidonian, dass er im Lazarett so nah am Sterben war, dass er Gott versprach, im Falle der Rettung ihm sein Leben zu widmen.29 Nach großen Bemühungen der Mitarbeiter der Station blieben allerdings bis Ende des Weltkrieges die älteren Waisenknaben sowie der größte Teil der Lehrer von der Deportation verschont. Nach dem Krieg haben die älteren Knaben das Waisenhaus verlassen.30 Der 17-jährige Melidonian hatte im November 1918 die Station verlassen.31 In seinen Memoiren erinnert er sich, dass, als er Marasch verließ, seine innere Stimme ihm dabei sagte: „Die Heimat siehst du nie wieder!“32 Es ist bemerkenswert, dass Melidonian in seinen Schriften Marasch als „Heimat“ bezeichnet und nicht Kilikien oder das Osmanische Reich im Ganzen. Melidonian ging zuerst nach Osmanije.33 Hier konnte er mit Hilfe eines ehemaligen Waisenkindes der Station Marasch namens Luther (welches zum Islam hatte konvertieren müssen) am Leben bleiben und nach Adana fliehen.34 Die Tatsache, dass Melidonian in der Station groß geworden war, hatte auch Vorteile. Er konnte Armenisch, Deutsch, Türkisch, Englisch und kannte ziemlich viele Leute,35 die ihm während seiner Weiterreise helfen konnten. Noch während des Monats November kam Melidonian nach Adana, wo er gegen Übernachtung und Essen bei einem armenischen Kaufmann arbeitete. Danach war er zuerst bei an der Bahnstrecke arbeitenden Deutschen, danach monatelang bei britischen Offizieren in Adana, Eregli und Aleppo tätig.36 Im Herbst 1919 begegnete Melidonian zufällig aus den Stationen Marasch und Harunije kommenden deutschen Mitarbeitern, darunter auch Paula Schäfer, die sich über zwei Jahre seit Ende 1901 um Heinrich im Krankenhaus gekümmert hatte.37 Sie waren am 18. Septem-

26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Heini Melidonian, Wunderwege auf Reisen im Morgenland, Chemnitz 1938, 5. Melidonian, Vergangen, 39f. A.a.O., 43f. A.a.O., 45. LkAS, a.a.O., An die verehrl. Direktion des Diakonenanstalt. Karlshöhe bei Ludwigsburg (Württ.), 1. Melidonian, Vergangen, 48f. Ebd. Osmanije ist eine Stadt in Kilikien auf dem Weg nach Adana. Melidonian, Wunderwege, 11ff. Viele ehemalige Waisenkinder und Mitarbeiter der Station waren schon vorher nach Adana und Osmanije geflohen. 36 Melidonian, Wunderwege, 22ff. 37 A.a.O., 34.

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ber 1919 in Marasch aufgebrochen38 und mussten auf Verlangen Frankreichs und Großbritanniens als deutsche Bürger das besiegte Osmanische Reich verlassen. Im Januar 1920 fuhr Melidonian nach Harunije, um bei einem armenischen Kaufmann zu arbeiten. Hier lernte er den armenisch-evangelischen Pfarrer Harutiun Manuschagian (in Harunije seit 1913) sowie den Leiter der amerikanischen Station kennen. Diese Missionsstation wurde noch 1910 vom DHCLA gegründet, aber seit Herbst 1919 übernahm das amerikanische Near East Relief (NER) die Leitung der deutschen Station in Harunije. Kurz danach fand ein Angriff von Truppen der türkischen Nationalbewegung Mustafa Kemals auf Harunije statt. Melidonian sowie Hunderte von Bewohnern des Ortes und der Umgebung konnten in der Station Schutz finden. Nach dem bewaffneten Kampf gelang es den Mitarbeitern, in der Nacht die Kinder zu retten und an einen anderen Ort zu bringen (Melidonian nennt ihn Yarbaschy). Melidonian verließ Ende März 1920 mit den letzten französischen Soldaten die Stadt Harunije und floh nach Adana.39 Hier arbeitete Melidonian bei aus Harunije geflohenen amerikanischen Missionaren als Dolmetscher.40 Obwohl die deutschen Stationen in Marasch und Harunije den Ersten Weltkrieg überstehen konnten, lebten sie mitsamt ihren Waisenkindern und Mitarbeitern nach den Erfolgen der nationalistischen Bewegung unter Mustafa Kemal ständig in der Gefahr, vernichtet zu werden. Im Januar/Februar 1920 setzte bei sehr schlechtem Wetter die Verfolgung der evakuierten armenischen Bevölkerung ein. Auf dem Fluchtweg starben Tausende Armenier. Unter der in jenen Tagen außergewöhnlichen Kälte und dem vielen Schnee litten vor allem die Kinder. Auch die Mitarbeiter des Mädchenwaisenhauses in Marasch und der ganzen Station in Harunije waren auf der Flucht nach Adana. Nach einigen Monaten wurde die Situation in Adana zunehmend gefährlicher, und das NER entschied, die Kinder nach Zypern zu schicken. Melidonian sollte sie begleiten. Die Fürsorge dieser Kinder sollte ein britisches Hilfswerk übernehmen. Nach vielen Schwierigkeiten erreichte die Gruppe Limassol, wo Melidonian durch Vermittlung einer ihm aus Adana bekannten Missionarin am amerikanischen College studieren durfte. Hier bekam er zusätzlichen privaten Englischunterricht.41 Von Limassol aus nahm Melidonian Briefkontakt mit Mitarbeitern des DHCLO auf und fragte am 25. August 1920, ob es nicht möglich wäre, nach Deutschland zu kommen, da er ohne Eltern oder sonstige Verwandten sei.42 Die Leitung des britischen Hilfswerks entschied, die Waisenkinder nach Tarsus zurückzuschicken. Wieder begleitete Melidonian die Waisenkinder. In seiner Autobiographie schreibt er, dass die Reise nach Tarsus auch auf Empfehlung des Direktors des DHCLO, Friedrich Schuchardt, erfolgt sei. Das heißt, Melidonian stand weiterhin unter der Fürsorge des DHCLO.43 Am 18. September 1920 fuhr die Gruppe mit einem Schiff von Zypern nach

38 39 40 41 42

Helene Stockmann, Der alten Heimat zu, in: Sonnen-Aufgang, Heft 6, März 1920, 42–44. Melidonian, Wunderwege, 40. Heini Melidonian, An gefährlichen Klippen vorbei! Chemnitz 1937, 7. A.a.O., 8ff. Aus dem Polynesiakamp auf Cypern bittet ein früherer Waisenknabe aus Bethschallum, in: SonnenAufgang 23 (1921), Heft 5/6, 28f. 43 LkAS, a.a.O., An die verehrl. Direktion der Diakonenanstalt. Karlshöhe bei Ludwigsburg (Württ.), 1.

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Tarsus. Dort setzte Melidonian seine Ausbildung im amerikanischen St. Paulus-College fort.44 Außerdem arbeitete er täglich zwei Stunden in der Schneiderei.

Melidonian als Zivilgefangener in Smyrna und sein Überleben Nach den militärischen Erfolgen der türkischen Nationalbewegung und nach der Zusage der Franzosen, Kilikien zu verlassen, eskalierte die Situation rasch. Melidonian musste noch einmal fliehen, wobei er nur durch Zufall dem Tod entrinnen und nach Smyrna entkommen konnte. Auf dem Weg stoppten die Türken bei Antalya sämtliche Schiffe, und alle an Bord befindlichen Armenier wurden an die Küste gebracht und ermordet. „Ich versprach ihm [Gott“], schrieb Melidonian, „mein ganzes Leben ihm zu weihen, wenn er mich aus dieser Todesgefahr errettete.“45 Das Schiff blieb vier Stunden an der Küste. Trotzdem konnte sich Melidonian gemeinsam mit einem anderen Armenier verstecken und so gerettet werden. „Wir erfuhren später“, so seine Erinnerung, „dass an diesem Freitag, dem türkischen Sonntag, die maßgebenden türkischen Behörden abwesend waren, und so konnte man eine solche furchtbare Tat an unserem Schiff nicht ausführen.“46 Übrigens sind fast alle Briefe von Melidonian, sowohl während der Jahre seines Herumstreifens als auch in Deutschland, voller Worte der Dankbarkeit an Gott und der Bereitschaft, ihm zu dienen. Seit er das Waisenhaus verlassen hatte, war die von der Missionarin Auguste Skarnikat geschenkte Bibel als unzertrennlicher Begleiter immer dabei.47 In Smyrna durfte er dank seiner Diplome am 1911 gegründeten amerikanischen College studieren.48 1922 hat Pfarrer Jeranian49 Melidonian in der evangelischen Kirche von Smyrna konfirmiert. Er blieb in Smyrna vor allem deshalb, weil der Präsident des Colleges versicherte, dass es unter keinen Umständen eine Gefahr für die Studierenden gäbe. Nach dem Einzug türkischer Truppen in Smyrna am 9. September 1922 begann jedoch eine neue Phase von Massakern. Den Präsidenten des Colleges misshandelten die Türken, und er musste schon am nächsten Tag mit dem Schiff der Royal Navy nach Malta ausreisen.50 Die übrigen Amerikaner des Colleges wurden nach einigen Tagen nach Griechenland evakuiert,51 wobei eine der Lehrerinnen einige armenische Studenten als eigene Kinder ins Schiff mitnehmen konnte. Etwa vierzig Tage blieben Melidonian und andere Studenten isoliert im College und wurden am 10. Oktober 1922 als Zivilgefangene verhaftet.52 Einige der Gefangenen wurden ermordet. Schließlich brachten Gendarmen sie in eine türkische Siedlung, wo Einwohner die Gefangenen mit Messern angriffen und die begleitenden Gendarmen nichts taten, um sie zu schützen. „Dieser Vorfall zeigte uns, wie sehr die Bewohner der umliegenden Ort44 45 46 47 48 49 50 51 52

LkAS, a.a.O., 11f. Melidonian, Klippen, 14f. A.a.O., 15. Melidonian, Vergangen, 49. A.a.O., 13ff. Pfarrer Jeranian starb später in Smyrna bei der Besetzung der Stadt durch türkische Truppen. Melidonian, Klippen, 23. A.a.O., 24. A.a.O., 32.

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schaften daran gewöhnt waren, die vor uns durchgezogenen Deportations-Züge zu überfallen, sie manchmal auch gänzlich zu vernichten. Dafür zeugten auch die an unseren Wegen umherliegenden Leichen. Sie waren in der Sonne ganz schwarz geworden und stanken fürchterlich“,53 schrieb Melidonian später. Weitere Monate verbrachten sie in einem Lager der nicht weit von Smyrna gelegenen Stadt Magnesia. Am 23. Januar 1923, als sich vor der Lausanner Konferenz die Behandlung der Zivilgefangenen aus dem amerikanischen College durch die Türken verbesserte, durften Melidonian und vier Waisenkinder der ehemaligen deutschen Missionsstationen von Marasch und Harunije an die Leitung des DHCLO Briefe schreiben und über ihre eigene Situation berichten.54 Mehr als sieben Monate – seit dem 10. Oktober 1922 – befanden sie sich in dem Lager. Harte Zwangsarbeit, Hungersnot, Krankheiten, verschiedene Arbeiten für die privaten Bedürfnisse der Soldaten und Bewohner sowie Todesfälle und Demütigungen waren Teil des Alltags. Erst am 24. Mai 1923 wurden Melidonian und andere Studenten im Rahmen der Verhandlungen der Lausanner Konferenz auf Betreiben der ehemaligen Leitung des amerikanischen Colleges freigelassen. Melidonian reiste nach Griechenland.55 Hier gab es Hunderttausende Flüchtlinge. Er lebte in Griechenland einige Monate in Athen und Saloniki, ehe er auf Vorschlag des NER nach Frankreich weiterzog. „Ausgewiesen aus der Heimat für immer! Heimatlos!“56 – so fasste Heinrich Melidonian das Ende seines Lebens im Osmanischen Reich zusammen.

Heinrich Melidonians Leben und Ausbildung in Deutschland 1925–1940 Im Oktober 1923 kam Melidonian in Marseille an. Von dort aus fuhr er nach Straßburg in der Hoffnung, die Unterstützung des evangelischen Pfarrers, Leiters und Gründers von Action Chrétienne en Orient in Straßburg, Paul Berron,57 zu bekommen, welcher vorher – als das Elsass noch zum Deutschen Reich gehörte – im DHCLO gearbeitet hatte. In den nächsten Jahrzehnten unterstützte Berron durch seine Kontakte und Briefe Melidonian und versuchte oft, ihm bei der Suche nach Arbeit oder Ausbildung zu helfen.58 Im Mai 1924 zog Melidonian von Straßburg durch die Vermittlung der ihm von früher bekannten Missionarin (im Original steht ihr Name nicht59) nach England um, wo er im 53 54 55 56 57

Heini Melidonian, Licht nach dem Dunkel, Uchtenhagen 1937, 11. Beruhigende Nachrichten, in: Sonnen-Aufgang, Heft 5/6, 1922, 29. Melidonian, Licht, 39. A.a.O., 42. Dr. Paul Berron (1887–1970) war ein Mitarbeiter des DHCLO und arbeitete in verschiedenen Städten im Orient, darunter in Aleppo. Er war Augenzeuge des Genozides an den Armeniern. Ende 1922 gründete er aus dem Elsässischen Zweig des DHCLO die Mission mit dem Namen „Action Chrétienne en Orient“. Er ist Autor einer Reihe von Schriften über das Geschehen im Osmanischen Reich, wie „Als die Sterbenden“ „Und siehe, wir leben!“ „Düsteres und Lichtes aus den Leiden der Armenier“, Frankfurt/Main 21919; Der armenischen Christen. Not und Glaube, Straßburg 1925; Nach den Christenverfolgungen im Orient, Grafenstaden 1928; Erinnerungen aus dunklen Tagen, Frankfurt/Main 1929. „Missionsdienst im Orient und Okzident“, Strasbourg 1957. 58 Ausführlicher vgl. die Briefe von Paul Berron, in: LkAS, Bestand Karlshöhe, Nr. 898. 59 „Im Frühjahr 1924 schrieb eine der mir bekannte ehemalige Missionsschwester aus England, dass sie

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Rahmen eines speziellen Programms ein Jahr im Landwirtschaftsbereich arbeiten und danach nach Kanada weiterziehen sollte. Aber diese Pläne scheiterten, da nach Angaben von Melidonian die kanadische Regierung die Einreise von Armeniern, die älter als siebzehn Jahre alt waren, verboten hatte. Also ging Melidonian zurück ins Elsass.60 Dank der Vermittlung seines in Bielefeld wohnenden Pflegevaters konnte Melidonian ab Herbst 1925 in Bethel arbeiten. Dort erkrankte er aber nach einiger Zeit und musste seine Arbeit aufgeben und ins Elsass zurückkehren. Im Januar 1927 nahm ihn die Evangelistenschule Johanneum in Wuppertal-Barmen durch Vermittlung der Frau von Pastor Kuhlo auf. Am Ende des Jahres hat er sich auf Empfehlung und Vermittlung von Pfarrer Busch – ihn kannte Melidonian aus Frankfurt am Main – bei Direktor Adolf Schlitter in der Diakonenanstalt Karlshöhe in Ludwigsburg beworben. Am 6. Dezember 1927 konnte er dort seine Ausbildung beginnen, die bis zum 31. März 1929 dauerte.61 Nach seiner Ausbildung in der Diakonenanstalt Karlshöhe 1927–1929 wurde er Diakon und versuchte später auch als Pastor zu arbeiten. Allerdings gelang ihm dies in Deutschland nicht. Nach den Briefen des Direktors der Diakonenanstalt Karlshöhe wollte dieser ihm eine solche Gelegenheit aufgrund seines Alters und seines Temperamentes nicht ermöglichen. Außerdem diente immer nur eine kleine Anzahl der in der Diakonenanstalt ausgebildeten Personen nach Weiterbildung und Erfüllung bestimmter Kriterien als Pastoren. „Von rund 100 Brüdern, die diese Gemeindehelferprüfung gemacht haben, sind 8 in den Pfarramtsdienst berufen worden […] Herr Melidonian ist nur als Gemeindediakon, aber nicht als Pfarrer bei uns ausgebildet worden“ – so Direktor der Diakonenanstalt Karlshöhe (1929– 1950) Mössner (30.3.1879–4.8.1955) über die Möglichkeit, später Pfarrer zu werden.62 Nach seiner Ausbildung hat Melidonian durch Vermittlung der Anstalt Karlshöhe bis Mai 1935 mit Unterbrechungen verschiedene Einsätze63 übernommen. Danach arbeitete er einige Zeit im Christlichen Verein Junger Männer (CVJM), zuerst in Bad Cannstatt bei Ludwigsburg als Jugendsekretär, dann in Chemnitz und beim Ostbund in Berlin.64 Später übernahm er andere Arbeiten in Stuttgart und München. Die Kontakte zwischen Melidonian und dem Direktor der Diakonenanstalt Karlshöhe verschlechterten sich allerdings mit der Zeit. Diese Tatsache spielte eine negative Rolle für sein weiteres Leben und seine weitere Tätigkeit. Das ist besonders in den Briefen zu sehen, die von verschiedenen Personen (Arbeitgebern) an den Direktor geschickt worden waren, um eine Meinung über Melidonian zu erhalten (dazu war Geheimhaltung der Schreiben zugesagt worden). Nach den Briefen gab es zwei Hauptprobleme, und zwar Melidonians nicht ganz einfacher Charakter (welcher sich von Zeit zu Zeit bemerkbar machte), und dass Melidonian in den Angaben seiner Geburt angeblich nicht korrekt gewesen sei (Formulierung des Direktors Mössner). Die zweite Be-

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mir dazu helfen wolle, Aufnahme in einer christlichen Anstalt in England zu finden, wo die Jungens, nach dem sei ein Jahr im praktischen Landwirtschaft ausgebildet, nach Kanada auswanderten.“ LkAS, a.a.O., An die verehrl. Direktion der Diakonenanstalt. Karlshöhe bei Ludwigsburg (Württ.), 2. A.a.O., 3f. LkAS, a.a.O., Bescheinigung des Direktors der Anstalt Karlshöhe,18. Mai 1935, 3ff. A.a.O., Der Brief des Direktors Mössner, 7.6.1950, 1. A.a.O., Eine kurze Zusammenfassung der Biographie, 4.5.1966. A.a.O., Brief an Herrn Dekan Hermann, den 25. Oktober 1940, 1.

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hauptung „begründete“ der Direktor mit einem an ihn geschickten gedruckten Aufsatz „Zwei Schicksale in einer Kasuistik. Aus den Papieren eines Arztes“65 über die Geschichte einer armenischen Bibelfrau Namens Meiram (vermutlich sollte es Mariam heißen) und ihres Sohnes. Direktor Mössner war überzeugt, dass diese Frau – sie hatte ein schwieriges Leben, hatte psychische Probleme, wurde von einem Türken vergewaltigt, wurde schwanger und gebar ein Kind, ihre Ärztin war die Schweizerin Dr. Josefine Fallscheer-Zürcher – die Mutter von Melidonian sei und er nach dieser Vergewaltigung geboren wurde. Also habe Melidonian über seine Geburt bewusst gelogen.66 Nach den Recherchen des vollständigen Aufsatzes und den Briefen ist festzustellen, dass diese Frau nicht Melidonians Mutter sein konnte und Direktor Mössner sich irrte oder nach ablehnenden Gründen suchte. Die Bibelfrau Meiram bekam ihr Kind im Jahre 1899, und Melidonian wurde 1901 geboren.67 Melidonian schrieb in seinem Lebenslauf vor der Aufnahme in der Diakonenanstalt Karlshöhe, dass er seine Eltern nicht gekannt habe.68 Allerdings lässt sich nach den vorhandenen Quellen feststellen, dass Direktor Mössner die Angaben von Melidonian und des wirklichen Sohnes von Meiram verwechselt hat. Ein anderer – und vermutlich der wichtigste – Grund der Verschlechterung der Beziehung zwischen Melidonian und Mössner dürfte die NS-Zeit und deren rassisch-nationalistische Propaganda gewesen sein. Ein deutliches Indiz ist in einem Brief des Direktors Fritz Mössner aus dem Jahre 1940 zu lesen: „Zuerst macht er [Melidonian] immer einen guten Eindruck, aber dann hintendrein merkt man doch, dass er eben Armenier ist und bleibt. […] Ich halte es auch nicht zeitgemäß, wenn wir jetzt [er dürfte hier die NS-Zeit gemeint haben] gerade einen Armenier zu unseren Gemeinden sprechen lassen. Kurz möchte ich sagen, dass ich mir vorgenommen habe, niemals mehr einen Armenier zur Ausbildung auf die Karlshöhe zu nehmen.“69 Die rassistische Konnotation in diesen Zeilen ist unübersehbar. Melidonians Bemühungen, die Situation zu klären und zu verbessern, waren nicht erfolgreich. In diesen Jahren versuchte er oft durch Briefe (geschrieben am 20.11.1932, 13.2.1933, 14.11.1936, 20.2.1937, 19.12.1938, 25.1.1940 etc.) die Situation zu klären und zu verbessern.70 In Deutschland blieb Melidonian weiter in Kontakt mit seinen Pflegeeltern, aber auch mit den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Station Marasch. Von Zeit zu Zeit besuchte er sie. Allerdings blieben die letzten Briefe, die er an seinen Pflegevater Otto Clarenbach geschickt hatte, ohne Antwort. Erst später erfuhr er, dass sein Pflegevater wegen einer schweren Erkrankung gesundheitlich nicht mehr in der Lage war, auf seine Briefe zu antworten.71 65 Der zweite Teil des Aufsatzes ist im Archiv nicht zu finden. 66 LkAS, a.a.O., Brief von Herrn Mössner, 7.6.1950. 67 A.a.O., Zwei Schicksale in einer Kasuistik. Aus den Papieren eines Arztes. Von Dr. med. Jos. Fallscheer-Zürcher, früher in Jerusalem, zurzeit in Stuttgart, 4 (Sonderdruck aus der Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift, 1931, Nr. 31, 729). 68 LkAS, a.a.O., An die verehrl. Direktion der Diakonenanstalt. Karlshöhe bei Ludwigsburg (Württ.), 1ff. 69 A.a.O., Brief vom Direktor Mössner an Herr Prälat, Karlshöhe, den 14. Okt. 1940, 1. Ausführlicher über Direktor Fritz Mössner zu dieser Zeit vgl. Peter Reinicke, Die Ausbildungsstätten der sozialen Arbeit in Deutschland 1899–1945, Berlin 2012, 322ff. 70 Ausführlicher vgl. LkAS, a.a.O. 71 Hauptarchiv Bethel, Hauptbuch Nr. 540, Arbeitsbuch Nr. 32. Clarenbach Otto, Brief an Herrn Heini Melidonian, 29.10.1933.

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Viele Mitarbeiter der Station Marasch besuchte Melidonian in der Missionsschule Malche des DHCLO bei Bad Freienwalde, wo sich auch ein Erholungsheim für die aus den Stationen nach Deutschland zurückkehrenden Mitarbeiter befand. Einige Bilder seiner Reisen veröffentlichte Melidonian in einem seiner Bücher.72 Er stand auch im Kontakt mit der „Dr. Lepsius Deutsche Orient-Mission“ und hatte Begegnungen in Berlin und Potsdam. Außerdem „wollte ihn (so Direktor Fritz Mössner) die [Deutsche] Orientmission bei uns (in der Diakonenanstalt) ausbilden lassen.“73 Fraglich ist allerdings, ob diese Angabe stimmt. Melidonian kam aus einer DHCLO-Station und nicht einer DOM-Station. Außerdem wurde er in die Diakonenanstalt nicht durch die Dr. Lepsius Deutsche Orient-Mission aufgenommen. Ende der 1930er Jahre gab Melidonian einige Bücher heraus. In den 1937 und 1938 verfassten vier Schriften („Vergangen, … aber nicht vergessen! Erinnerungen und Erlebnisse eines armenischen Waisenkindes und der Missionsstation Marasch in der asiatischen Türkei“, „An gefährlichen Klippen vorbei!“, „Licht nach dem Dunkel“ und „Wunderwege auf Reisen im Morgenland“) stellte er sein eigenes Herumstreifen im Osmanischen Reich dar und beschrieb das schwierige Leben als ehemaliges Waisenkind und Zivilgefangener. Diese Bücher bleiben auch als Memoiren eines Augenzeugen während des Genozids an den Armeniern mit sehr detaillierten Beschreibungen und Bildern bis heute sehr wichtig. 1939 veröffentlichte Melidonian einen Bericht über eine im Frühling 1939 unternommene fünfwöchige Reise in das Heilige Land. Während dieser Reise traf er viele ehemalige Bekannte, wie den armenisch-evangelischen Pastor Samuel Melkonian (früher in Tarsus), den ehemaligen evangelischen Pfarrer in Marasch Manuschagian, einen armenisch-evangelischen Pfarrer aus Griechenland, der ein ehemaliges Waisenkind der Station Marasch war, später Demirdjian, den ehemaligen Mitarbeiter der DOM und Leiter der Station Choi in Persien, den nun im Ruhestand befindlichen Pfarrer Detwig von Oertzen,74 die ehemalige Mitarbeiterin der Stationen Marasch und Harunije Käthe Jorken75 und den langjährigen Lehrer der Station Inglisian76 sowie viele ehemalig Waisenkinder aus Marasch77 und Mitar72 Melidonian, Vergangen, 47f. Unter anderem gibt es in diesem Buch Bilder, die im Archiv des DHCLO nicht vorhanden sind. Es ist zu vermuten, dass sie mit dem Hauptteil des Archives während der Bombardierung der Stadt Frankfurt am Main während des Zweiten Weltkrieges verbrannt sind. 73 LkAS, a.a.O., Brief vom Direktor Mössner an Herr Prälat, Karlshöhe, den 14. Okt. 1940, 1. 74 Detwig von Oertzen (1876–1950) war evangelischer Pfarrer und Missionar, leitete die Station der DOM in Choi, später wirkte er in Palästina, vgl. Herman Golz/ Axel Meißner, Deutschland, Armenien und die Türkei 1895–1925. Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr. Johannes-Lepsius-Archiv 3. Thematisches Lexikon zu Personen, Institutionen, Orten, Ereignissen, München 2004, 387f. 75 Käthe Jorken wurde vom DHCLO im Sommer 1909, nach den Massakern in Kilikien, nach Marasch geschickt, wo sie im Krankenhaus „Salem“ als Hebamme arbeitete. Später arbeitet sie auch in der Station in Harunije, wo sie mit einer anderen Mitarbeiterin Grundlagen für die Krankenpflege organsierte. Während des Weltkrieges arbeitete sie im St. Joseph Hospital von Moda bei Konstantinopel, wo sie die verletzten Soldaten pflegten. Nach der Schließung des Hospitals Ende 1916 arbeitet sie im deutschen Hospital in Mardin, seit 1918 in Arghanamaden. Ende 1918 kehrte sie in die Heimat zurück. Später ließ sie sich im Bibelhaus Malche nieder. Sie war eine der deutschen Augenzeuginnen des Genozids an den Armeniern. Ausführlicher vgl. Hayk Martirosyan, Deutsche Missionstätigkeit im Osmanischen Reich: Die Station von Marasch (1896–1919) Jerewan 2016, 135ff (auf Armenisch). 76 Er war die Person, welche im April 1909 während der Metzeleien in Kilikien von den Türken attackiert und geschlagen wurde, als er die Waisenkinder, darunter auch Melidonian, ins Bad begleitete. 77 Heini Melidonian, Da gibt es ein Wiedersehen, Stuttgart 1939, 11ff.

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beiter der Karmelmission, des Syrischen Waisenhauses und ehemalige Freunde der Diakonenanstalt Karlshöhe. Während seiner Reise hielt er Vorträge über religiöse Themen in Kirchen in Jerusalem, Akko, Jaffa, Saloniki und Athen.78 Nach seiner Rückreise nach Deutschland organisierte Melidonian viele erfolgreiche Versammlungen in verschiedenen Städten Deutschlands, um über seine Reise zu berichten. Über die Erfolge der Versammlungen schreibt Direktor Mössner։ „Er hat neulich vor unseren Kindern auf der Karlshöhe auch seinen Lichtbildervortrag über seine Palästinareise gehalten. Ich muss sagen, der Vortrag war sehr nett. [․․․] und wenn ich bloß diesen Vortrag gehört hätte, dann könnte ich den Mann empfehlen.“79 In einem ganz anderen Stil hat Melidonian das im Jahre 1939 herausgegebene Buch „Gespräche mit einem armenischen Christen“ verfasst, dessen Ziel es war, die Armenier in Deutschland erkennbarer zu machen.80 Hier stellt er einfache Fragen wie „Wer sind die Armenier?“, „Wo liegt Armenien?“, „Sind die Armenier Christen?“, „Warum hat man die Armenier verfolgt?“, „Wer hat den Armeniern geholfen?“, „Wie geht es den Armeniern heute?“, „Welche Aussichten hat das armenische Volk für die Zukunft?“81 und beantwortete sie möglichst klar und verständlich. 1940 fand ein Interview in den „Mitteilungen der Dr. Lepsius Deutsche Orient-Mission“ mit Melidonian über dies Buch statt, vermutlich mit dem Ziel, die aktivere Diskussion und Verbreitung des im Buch dargestellten Themas sowie die Werbung für den Verkauf des Buches zu unterstützen82․ In den 1930er Jahren hat Melidonian mehrmals bei den Behörden versucht, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erhalten, aber immer eine Absage erhalten. 1940 war sein Aufenthalt als Armenier in Deutschland nicht mehr „zweckmäßig“. Außerdem fand er keine Arbeit in Deutschland. Im November 1940 – nach dem deutschen Feldzug gegen Frankreich – zog er wieder ins Elsass zu Paul Berron und fand dort mit dessen Hilfe Arbeit. Seine dritte und letzte Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg war und blieb dann Frankreich. Über seine Tätigkeit in Frankreich sind in Deutschland keine Schriften zu finden. Anscheinend konnte er in Frankreich als Pastor arbeiten.83 Zunächst arbeitete er seit 1944 als Helfer (Assistent) des Pastors (frz.: Aide Pastoral) in Scharrachbergheim bei Wasserlonne, dann als Pastor (wegen Abwesenheit eines Pastors vor Ort: Pasteur Auxiliaire) in den elsässischen Orten Gunsbach, Domfessel, Colmar, Bläsheim und Okerbronn. Seit 1969 war Melidonian im Ruhestand. Er starb im Elsass am 2. März 1984.84 78 Melidonian, Wiedersehen, 14ff. 79 LkAS, a.a.O., Brief des Direktors Mössner an Herrn Prälat, Karlshöhe, den 14. Okt. 1940, 1. 80 Zu dieser Zeit gab es Diskussionen über die Frage, ob die Armenier zu den arischen Rassen gehören oder nicht. Die negative Antwort auf dieser Frage könnte schlimmere Konsequenzen für die Armenier in der NS-Zeit erwecken. 81 Heini Melidonian, Gespräche mit einem armenischen Christen, Potsdam 1939, 2. 82 Gerhard Schneider, Wer sind Armenier? in: Mitteilungen der Dr. Lepsius Deutsche Orient-Mission (MLDOM), März 1940, 11–13. 83 Auf einem Brief aus Frankreich steht seine Adresse: Henry Melidonian, Pasteur, 67. Oberbronn/Unterelsaß. LkAS, a.a.O., Brief an die Geschäftsstelle (Verwaltung) der Anstalt Karlshöhe b. Ludwigsburg (Württ.), 26.04.1966. 84 Die Angaben über Melidonians Tätigkeit in Frankreich sind vom Direktor der „Union des Eglises protestantes d᾽Alsace et de Lorraine (Strasbourg)“ mitgeteilt worden, wofür ich mich herzlich bedanke. Im Archiv dieser Mission befinden sich Materialien über Melidonians Leben und Tätigkeit seit den 1940er Jahren bis zum Ende seines Lebens in Frankreich, die ausführlichere Recherche erfordern.

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Über das Leben und die Tätigkeit von Heinrich Melidonian kann zusammenfassend Folgendes gesagt werden: Bis 1917 war Melidonians Leben, als er noch im deutschen Waisenhaus in Marasch wohnte, mehr oder weniger außer Gefahr. Die Leitung der Station konnte nach vielen Bemühungen die Waisenkinder und den größten Teil des Personals retten und beschützen. Nach dem Verlassen des Waisenhauses im November 1918 musste er für sich selbst sorgen. Er hat in vielen Städten Kilikiens verschiedene Arbeiten gefunden, war oft in Todesgefahr, konnte aber immer wieder gerettet werden. Die Jahre, die er im deutschen Waisenhaus verbrachtet hatte, halfen ihm dabei sehr, vor allem durch seine guten Fremdsprachenkenntnisse und den Kontakt zu vielen Personen. Schon beim ersten Aufenthalt in Osmanije half ihm ein zum Islam konvertiertes ehemaliges Waisenkind aus der Station Marasch, rechtzeitig nach Adana zu fliehen und so dem Tod zu entgehen. Ähnliche Hilfeleistungen erfuhr er später mehrmals durch Menschen, die er vorher im Waisenhaus kennengelernt hatte. In Smyrna konnte Melidonian im Unterschied zu Zehntausenden ermordeter Griechen und Armenier als Zivilgefangener über sieben Monate in einem Lager mit anderen Studenten des amerikanischen Colleges überleben, wobei Zwangsarbeit, Hungersnot, Krankheiten und Demütigungen Teil des Alltags waren. Infolge der Verhandlungen des Lausanner Vertrags und durch die aktive Unterstützung der Collegeleitung wurde Melidonian freigelassen, musste aber das Osmanische Reich verlassen. Melidonian konnte unter sehr schwierigen Umständen den Genozid an den Armeniern und die nachfolgenden Metzeleien überleben und nach Europa auswandern. Seit 1925 wohnte Heinrich Melidonian lange Jahre in Deutschland. Hier hatte er die Unterstützung seiner ehemaligen Pflegeeltern und konnte durch deren sowie durch die Hilfe anderer Personen weitere Schritte unternehmen. Das Studium in der Diakonenanstalt in Karlshöhe diente dazu. Wenn sich auch am Anfang alles gut entwickelte, so verschlechterten sich doch die Beziehungen zwischen Melidonian und dem Direktor der Anstalt. Hauptgrund dafür war, dass Direktor Mössner die Angaben zur Geburt von Melidonian mit den Angaben eines anderen armenischen Waisenkindes verwechselte und somit auch aus diesem Grund immer schlechte Gutachten an anfragende mögliche Arbeitgeber für Melidonian abgegeben hat. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre verfasste Melidonian einige Schriften in Deutschland als Lebens- und Reiseerinnerungen. Als Augenzeuge des Genozids und der nachfolgenden Metzeleien an den Armeniern sind seine Schriften wichtige Augenzeugenberichte. Er ist eines der sehr wenigen armenischen Waisenkinder, deren Angaben in mindestens fünf Archiven Europas zur Verfügung stehen. Hunderttausende armenische Waisenkinder starben, wurden ermordet oder verschwanden spurlos. Melidonians Fallbeispiel zeigt, wie viel Mühe, oft auch Glück man brauchte, wie viel Enttäuschungen man überwinden und wie hart man kämpfen musste, um am Leben zu bleiben.

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Helden oder Aufrührer? Erinnerungen an die armenische Stadt Zeitun während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich Kai Merten „Gerade in der Aufhellung der Schuldfrage, die sich mehr und mehr als der Kernpunkt unseres künftigen Geschicks enthüllte, wußte ich mich besonders berufen, die Sache meines Volkes zu vertreten. Denn mehr wie jeder andere kann ich Zeugnis ablegen von Deutschlands Friedenswillen und von unserem reinen Gewissen.“ „Die Ziele der Entente konnten nur durch einen Krieg, die Ziele Deutschlands nur ohne einen Krieg erreicht werden. An diesem Grundgedanken muss festgehalten werden, er ist entscheidender als alles Beiwerk.“1 Diese zwei Zitate stammen aus den Lebenserinnerungen von Kaiser Wilhelm II., die er im Jahr 1922 veröffentlicht hat. Mit diesen Worten blickt er auf das Ende des Ersten Weltkriegs zurück und analysiert aus seiner Sicht, wie es zu diesem furchtbaren Krieg kommen konnte und wie die Schuldfrage in Wahrheit zu beantworten sei. Unabhängig davon, ob die Einschätzung von Wilhelm II. richtig ist, sind diese beiden Zitate bezeichnend, denn sie veranschaulichen etwas zutiefst Menschliches: Sie sind typisch für unseren Umgang mit der Vergangenheit. Denn unser Bild von der Geschichte hängt ganz wesentlich mit unserem eigenen Anteil an dieser Geschichte zusammen. Das Bild von unserer eigenen Vergangenheit, das wir uns zurechtlegen, entscheidet über die Art und Weise, wie wir uns an Ereignisse erinnern. Dadurch kann es sich ergeben, dass ein und dasselbe Ereignis teilweise völlig unterschiedlich erinnert wird. Auf diese Art können sich dann Traditionen bilden, die sich widersprechen und sogar gegenseitig ausschließen und trotzdem jeweils als wahr propagiert werden. Es gilt daher, sich dessen immer wieder neu bewusst zu werden. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn Ereignisse im kollektiven Gedächtnis einer größeren Gruppe verankert werden, weil diese kollektiven Erinnerungen nicht selten für den weiteren Gang der Geschichte entscheidend sind. Es sollte somit deutlich geworden sein, dass das, woran wir uns erinnern, nicht unbedingt das ist, was tatsächlich geschehen ist. Schon der französische Soziologe Maurice Halbfas hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich insbesondere das kollektive Gedächtnis emotional der Vergangenheit nähert und immer neue Deutungen in die Vergangenheit hineinlegt. „Mehr noch: Die Vergangenheit verändert sich, indem sie von jeder neuen Generation von neuem begriffen, verstanden und konstruiert wird. Jede Generation beschafft sich die Erinnerungen, die sie zur Bildung ihrer Identität benötigt.“2 In gleicher Weise schreibt Jan Assmann, der sich in neuerer Zeit intensiv mit diesem Phänomen befasst hat: „Wir sind, 1 2

Kaiser Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918, Leipzig-Berlin 1922, 246.265. Etienne François/Hagen Schulze, Deutsche Erinnerungsorte (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 475), Bonn 2005, 7.

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was wir erinnern, und das heißt: wir sind die Erzählungen, die wir über uns und unsere Vergangenheit geben können. […] Wir sind für ‚unsere‘ Vergangenheit verantwortlich, und wir haben ‚der‘ Vergangenheit gegenüber eine Verpflichtung.“3 Diese rückblickende Veränderung der Erinnerung geschieht ganz wesentlich mithilfe von Sprache und Symbolen, aber auch mithilfe anderer Strategien, wie etwa der Erschließung bestimmter Erinnerungsorte. Gerade in der heutigen Zeit der Massenmedien sollte uns daher mehr denn je bewusst sein, dass Erinnerungen häufig einer bestimmten und gewollten Interpretation von Vergangenheit dienen. Vor allem bei Kriegsereignissen ist dies zu beobachten, da diese zwangsläufig aus zwei oder mehr gegensätzlichen Sichtweisen bestehen. Das Schicksal der armenischen Stadt Zeitun ist ein gutes Beispiel dafür. Auch warum dies so geschehen ist, kann man an Zeitun veranschaulichen. In einer regional verorteten Kette von Ereignissen während des Ersten Weltkriegs begegnen uns hier zugleich die große Frage nach der Schuld und ein Bild von Geschichte, das ganz wesentlich von dem eigenen Schicksal und der eigenen Erinnerung abhängt. Zunächst gilt es herauszufinden, was in Zeitun in den Jahren 1914/15 tatsächlich geschehen ist, soweit das überhaupt einigermaßen objektiv rekonstruierbar ist. Zeitun lag in einer unwegsamen Region des Taurus-Gebirges im Nordosten Kilikiens und war ausschließlich von Armeniern bewohnt. Die Stadt war auf einem Berggipfel errichtet und lediglich über eine einzige Schlucht von der Bezirkshauptstadt Maraş aus erreichbar. Deshalb galt sie seit Menschengedenken als uneinnehmbar. Auch aus einem anderen Grund war Zeitun etwas Besonderes: Die Zeitunlis – also die Einwohner von Zeitun – wehrten sich erfolgreich gegen Maßnahmen der osmanischen Armee. Darüber, was damals genau vor sich ging, berichten die Quellen allerdings recht Unterschiedliches. Folgendes mag geschehen sein: Zunächst waren Gerüchte, deren Wahrheitsgehalt bis heute nicht geklärt ist, verbreitet worden, die Zeitunlis hätten der russischen Armee – also dem Feind – ihre Hilfe angeboten. Als dann das Osmanische Reich zu Beginn des Ersten Weltkriegs am 17. August 1914 die allgemeine Mobilmachung anordnete, betraf das mittlerweile auch die christlichen jungen Männer. Doch anders als zahlreiche Armenier an anderen Orten, meldete sich kein einziger Einwohner von Zeitun freiwillig zum Militärdienst. Die Stadt verweigerte im Gegenteil sogar die Auslieferung der betroffenen Personen an das zuständige osmanische Rekrutierungsbüro in Maraş. Dieser Widerstand muss kurz darauf in einen offenen Aufruhr der Zeitunlis übergegangen sein. Im November 1914 ist bereits von 20.000 aufständischen Armeniern die Rede, die den regulären Truppen schwere Verluste beigebracht hätten.4 Doch kurz darauf gingen die Zeitunlis auf einen Vorschlag des zuständigen osmanischen Gouverneurs Haidar Pascha ein und legten die Waffen nieder. Der amerikanische Missionar Steven Trowbridge, der zu diesem Zeitpunkt vor Ort war, wirft dem Gouverneur allerdings Vertragsbruch vor. Erst habe er den Zeitunlis versprochen, sie zu verschonen, wenn sie ihm die Rädelsführer des Aufstands ausliefern würden. Als diese das dann getan hätten, habe er aber sowohl die Aufrührer als auch diejenigen, die sie

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Jan Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München-Wien 1996, 23. New York Times vom 13. November 1914, 2; vgl. auch Salâhi R.Sonyel, Minorities and the Destruction of the Ottoman Empire (Publications of Turkish Historical Society, Serie VII/129), Ankara 1993, 392f.

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ausgeliefert hätten, verhaften lassen. Interessanterweise wissen die osmanischen Berichte von dieser Episode nichts. Vom Februar 1915 berichten osmanische Quellen dafür von einem armenischen Überfall auf einen Munitionstransport der osmanischen Gendarmerie von Maraş, bei dem sich aufständische Armenier mit Waffen versorgt hätten.5 Hier ergänzt der amerikanische Missionar – aber nur er – erneut, dass vornehme armenische Bürger und der Bischof von Zeitun die osmanischen Behörden vorher über den bevorstehenden Überfall informiert hätten. Damit hätten sie verhindern wollen, dass eine eventuelle Strafexpedition des osmanischen Militärs die ganze Stadt angreifen würde. Als Haidar Pascha im März 1915 dann – auch wegen dieses Überfalls – zum zweiten Mal die Rekrutierung mithilfe von 3.000 Soldaten zwangsweise durchsetzen wollte, flohen mehrere hundert betroffene junge Männer in die umliegenden Wälder und verschanzten sich in einem leicht zu verteidigenden Kloster. Dort lieferten sie sich am 7. April 1915 ein Feuergefecht mit osmanischen Truppen, bei dem rund 300 Soldaten getötet wurden. Es scheint so, dass der deutsche Missionar Karl Blank noch zu diesem Zeitpunkt – allerdings vergeblich – versucht hat, die Aufständischen zur Aufgabe zu überreden. Erst nachdem die osmanischen Soldaten Feuer an das Kloster gelegt hatten, waren die Eingeschlossenen gezwungen gewesen, einen Ausfall zu wagen. Viele von ihnen konnten dabei sogar den Belagerungsring durchbrechen und fliehen. Als dann, ebenfalls im April 1915, die flächendeckende Deportation und Ermordung der Armenier begann, war Zeitun aufgrund dieser Vorfälle die erste Stadt, deren Einwohner systematisch abtransportiert wurden. Der genaue Zeitpunkt, an dem das geschah, ist nicht einheitlich dokumentiert. Westliche Wissenschaftler gehen meist davon aus, dass die gewaltsame Räumung von ganz Zeitun durch osmanisches Militär am 8. April 1915 begann. Mitte Mai 1915 habe der letzte Armenier Zeitun verlassen.6 Eine türkische Chronologie der Ereignisse gibt ein etwas anderes Zeitfenster an. Sie spricht vom 24. April 1915 als dem Beginn der allgemeinen Deportationen und vom 9. Mai 1915 als dem Datum, an dem der Befehl der vollständigen Räumung Zeituns bei dem osmanischen Befehlshaber vor Ort angekommen sei.7 Der Historiker Justin McCarthy datiert die ersten Befehle dieser Art sogar erst auf den 26. Mai 1915.8 Wie dem auch sei, die Tatsache der vollständigen Evakuierung Zeituns bleibt davon unberührt, und das Ziel der Deportierten war seit dem 24. April 5 Aspirations et Agissements Révolutionaires des Comités Arméniens avant et après la Proclamation de la Constitution Ottomane (République de Turquie. Direction Général des Archives d´Etat du Premier Ministère. Puplication de la Direction du Département des Archices Ottomanes No: 51), Ankara 2001, 222–224; Recep Karacakaya, A Chronology of the Armenian Problem. With a Bibliography (1878– 1923) (Republic of Turkey Prime Ministry General Directorate of State Archives. Directorate of Ottoman Archives Publication No: 57), Ankara 2002, 108. Vgl. dazu auch T.C. Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü (Hg.), Osmanlı Belgelerinde Ermenilerin Sevk ve İskâni (1878–1920) (Osmanli Arşivi Daire Başkanlığı Yayın No: 91), Ankara 2007, 112f (Quellentext Nr. 44 vom 8. März 1915) und 115f (Quellentext Nr. 48 vom 13. März 1915). 6 W. Llewelyn Williams, Armenians and the Partition of Asia Minor, in: Fortnightly Review 98/587 (1915), 968–977, 971; Christopher J. Walker, Armenia. The Survival of a Nation, London-New York 1980, 203–205.210; Wolfgang Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes, Springe 2005, 168–171. 7 Müdürlüğü, Osmanlı, 133f; Karacakaya, Chronology, 110f. 8 Justin McCarthy, Death and Exile. The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims 1821–1922, Princeton 5 2004, 193.

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1915 ausdrücklich Deir-ez-Zor9 in der syrischen Wüste, was bedeutete, dass die Betroffenen, wie wir heute wissen, in den sicheren Tod geschickt wurden. Auf einer Landkarte der heutigen Türkei sucht man die Stadt Zeitun vergeblich. An ihrer Stelle steht jetzt der Ort Süleymanlı; denn die Osmanen haben dort noch im Verlauf des Ersten Weltkriegs Muslime angesiedelt, die ihrerseits zuvor von den Alliierten aus dem europäischen Teil des Osmanischen Reiches vertrieben worden waren. Der jetzige Ort ist übrigens nach einem Gendarmerieoffizier benannt, der im Jahr 1915 im Kampf gegen die Zeitunlis gefallen war.10 Bereits die zeitgenössischen Quellen, die das Schicksal der Stadt Zeitun schildern, könnten in ihrer Einschätzung dieser Ereignisse nicht unterschiedlicher sein. Das lässt sich nicht nur an der eindeutig selektiven Erinnerung ablesen, sondern gleichfalls leicht an ihrer Wortwahl verdeutlichen. So ist in den osmanischen Quellen zur gewaltsamen Räumung Zeituns von einem „Umzug“ (sevk) der Armenier die Rede, so als ob die Zeitunlis einfach ihren Wohnort wechseln würden. Etwas ausdrucksstärker sind sicherlich die Begriffe „verschicken“ (göndermek) und „Abtransport“ (ihracı). Doch auch diese Ausdrücke sind letztlich nicht wirklich außergewöhnlich; denn ihracı, also „Abtransport“, diente beim osmanischen Militär auch zur Bezeichnung von Truppentransporten. Zudem werden die Zeitunlis durchweg „Räuber“ oder „Banditen“ (eşkıyalar) genannt.11 Von Armeniern, die auf dem Weg nach Deir-ez-Zor umgekommen sind oder aktiv ermordet wurden, ist nirgendwo die Rede. Stattdessen bemüht man sich sichtlich, die ordnungsgemäße und reibungslose Abwicklung der Umsiedlung an die Hohe Pforte melden zu können. Manche Quellen sprechen z. B. davon, dass ein Vertreter des armenischen Patriarchen die abtransportierten Zeitunlis „wegen der religiösen Feiern“, wie es heißt, besuchen durfte12 oder dass ihnen ein amerikanischer Missionar habe helfen dürfen.13 Schließlich fasst ein im Jahr 1917 auf Französisch veröffentlichter, osmanischer Bericht die Ereignisse in Zeitun im Jahr 1915 zusammen. Er behauptet als Erstes, dass es die Zeitunlis gewesen seien, die den bewaffneten Konflikt begonnen hätten. Der Grund sei der Widerstand gegen die allgemeine Mobilmachung gewesen. Dieser Bericht sieht es auch als bewiesen an, dass die Aufständischen schon vorher Kontakt zu den Engländern und zu armenischen revolutionären Gruppen gehabt hätten.14 Hierzu sei nur kurz angemerkt, dass diesmal – anders als früher – nicht von den Russen die Rede ist, sondern von den Engländern und armenischen Terroristen, mit denen die Zeitunlis kollaboriert hätten. Des Weiteren 9 Müdürlüğü, Osmanlı, 124 (Quellentext Nr. 55 vom 24. April 1915); Karacakaya, Chronology, 110. 10 Gust, Völkermord, 171; Necla Günay, The Zeytun Riots, in: http://turksandarmenians.marmara.edu. tr/en/the-zeytun-riots/ (23.1.2018). 11 Zahlreiche Belege dazu finden sich in Müdürlüğü, a.a.O., dort z. B. die Quellentexte Nr. 27, 55, 66 und 75. Vgl. dazu auch Kai Merten, „Umzug und Neuansiedlung“ – Gedanken zum Sprachgebrauch osmanischer Quellen zu den Armenier-Massakern im Jahr 1915, in: Martin Tamcke, „Das ist mehr als ein Beitrag zur Völkerverständigung“. Zur Geschichte und Rezeption des Völkermordes an den Armeniern (GOF.S 52), Wiesbaden 2016, 53–62. 12 Müdürlüğü, Osmanlı, 159 (Quellentext Nr. 85 vom 8. Juni 1915). 13 A.a.O., 163 (Quellentext Nr. 91 vom 10. Juni 1915). 14 Vgl. dazu auch a.a.O., 125f (Quellentext Nr. 56); 146f (Quellentext Nr. 74).

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spricht der Bericht von einer großen Anzahl armenischer Soldaten, die in Absprache mit ihren revolutionären Komitees desertiert seien und sich mit den aufständischen Einwohnern von Zeitun zusammengetan hätten. Die nachfolgenden militärischen Aktionen seitens der osmanischen Armee seien demnach nur notwendige Reaktionen auf diesen Aufstand gewesen.15 Der ganze Text liest sich somit als eine einzige Anklage an alle Zeitunlis als den Aggressoren, die zusammen mit den Deserteuren den Aufruhr angezettelt hätten. Das osmanische Militär wiederum habe nur reagiert, um Recht und Ordnung wiederherzustellen. Die amerikanischen und deutschen Missionare hingegen betonen in ihren Briefen mehrfach, dass die Einwohner von Zeitun gerade keine gemeinsame Sache mit den Aufständischen hätten machen wollen, ja, dass sie die osmanischen Behörden um Beistand gegen die Aufrührer gebeten hätten.16 Und in einem amerikanischen Magazin vom November 1915 war zu lesen: „Seit diese Zeilen geschrieben wurden, ist Zeitun gefallen, und seine tapferen Verteidiger (gallant defenders) und ihre Familien wurden ausgerottet (wiped out).“17 Schon allein diese Wortwahl rückt die aufständischen Zeitunlis in die Nähe ritterlicher Helden und die Osmanen demgegenüber in rücksichtslose Mörder ganzer Ortschaften. Aus dieser Diskrepanz, die sich bereits in den zeitgenössischen Quellen findet, erwachsen dann fast zwangsläufig zwei sich widersprechende Erinnerungen, die den jeweils eigenen Blick auf die Ereignisse bestätigen und die Identität der eigenen kulturellen Gruppe stützen. Dazu sei vorsorglich angemerkt: Die Sekundärliteratur zu den genannten Ereignissen ist mittlerweile enorm angewachsen. Dennoch ist in den meisten Fällen eine deutliche Polarisierung zu beobachten. Die Hauptschuld an der Eskalierung der Gewalt und an den begangenen Verbrechen wird dabei entweder den Armeniern oder der osmanischen Obrigkeit zugewiesen, je nachdem, wie die einzelnen Studien die Quellen auswählen, bewerten und interpretieren. Obwohl alle Verfasser durchweg betonen, wissenschaftlich-kritisch vorzugehen, erliegen trotzdem viele der Versuchung, am Ende die jeweils eigene Erinnerungskultur begründet zu sehen. Es ist unmöglich, dies innerhalb des hier gesteckten Rahmens im Einzelnen zu belegen. Hören wir daher auf zwei Stimmen, eine deutsche und eine türkische, bei denen dies besonders hervorsticht, und achten wir dabei auf jedes einzelne Wort! Wohlgemerkt: Beide Zitate betreffen das gleiche Ereignis, nämlich den Widerstand der armenischen Stadt Zeitun gegen die osmanische Obrigkeit im Jahr 1915. Der evangelische Pfarrer Uwe Feigel, der sich hauptsächlich auf die damaligen Briefe der Missionare beruft, formuliert in seiner Dissertation: „Vorausgegangen war der Überfall einer teilweise aus jugendlichen Deserteuren bestehenden Räuberbande auf türkische Polizisten, gegen den Willen der Bevölkerung. Darauf rückte eine große Militäreinheit an, und im nahegelegenen Marasch rüstete sich der moslemische Mob, um die Zeituner niederzumetzeln.“18

15 Aspirations et Agissements, 222–226. 16 Gust, Völkermord, 170f. 17 Williams, Armenians, 971 (alle englischsprachigen Zitate wurden vom Vf. ins Deutsche übersetzt). 18 Uwe Feigel, Das evangelische Deutschland und Armenien. Die Armenierhilfe deutscher evangelischer Christen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der deutsch-türkischen Beziehungen, Göttingen 1989, 183.

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Abgesehen davon, dass es nicht türkische Polizisten, sondern osmanische Gendarmen waren, sind die Deserteure hier plötzlich „jugendlich“ geworden, und ein „moslemischer Mob“ folgt der Polizei, so dass nicht nur die Obrigkeit Gewalt angewendet haben soll, sondern genauso fanatisierte Zivilisten, die unschuldige Christen „niedergemetzelt“ haben. Der türkische Historiker Kamuran Gürün folgt dagegen voll und ganz der Argumentation der offiziellen osmanischen Berichte, wenn er schreibt: „Missionare versuchen, eine Vereinbarung mit Gesetzlosen zu erreichen in einem Land im Kriegszustand (diese waren Deserteure), und sie bezeichnen die Deportation bestimmter Familien, die die Gesetzlosen versteckt und mit Lebensmitteln versorgt haben, nach Marasch als Schlag gegen die Interessen der Missionare. Wenn diese Gesetzlosen in einer bewaffneten Konfrontation getötet werden, wird das für ein Massaker gehalten.“19 Gürün argumentiert hier demnach mit der Erlaubnis, in Kriegszeiten das eigene Land gegen Personen, die das Gesetz gebrochen haben, verteidigen zu dürfen. Außerdem sind auf einmal lediglich „bestimmte Familien“ betroffen, die zudem nur in die Bezirkshauptstadt Maraş gebracht wurden. Die anschließende endgültige Deportation ausnahmslos aller Zeitunlis hingegen erwähnt Gürün an keiner einzigen Stelle.20 Gleichzeitig bemüht er sich, die damaligen Aktivitäten der christlichen Missionare ebenfalls als untragbar darzustellen und somit ihre Briefe als tendenziöse Quellen zu entlarven. Der bereits erwähnte Justin McCarthy schreibt mit gleicher Zielrichtung dazu: „Die osmanische Antwort auf die armenische Revolution war in etwa die gleiche, die von anderen Regierungen des 20. Jahrhunderts ergriffen wurde, wenn sie mit einem Guerillakrieg konfrontiert wurden: Isolierung der Guerillas von örtlicher Unterstützung durch Entfernen der örtlichen Unterstützer.“21 Beide Arten, sich auszudrücken, sprechen für sich selber. Unterschiedlicher könnten die Einschätzungen kaum sein, und der Streit um die Deutungshoheit der Geschichte dauert bis heute unvermindert an. Die Armenier verlangen von der internationalen Gemeinschaft und insbesondere von der Republik Türkei als der Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches nach wie vor eine Anerkennung der türkischen Schuld und eine Würdigung des Völkermords an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs. Die offiziellen Verlautbarungen türkischer Politik weisen in gleicher Weise unvermindert dieses Ansinnen zurück und sprechen stattdessen von armenischer Schuld, von armenischer Kollaboration mit den damaligen Kriegsgegnern und mit Terroristen, von armenischen Massakern an der osmanischen Zivilbevölkerung und von dem Recht, in Kriegszeiten das eigene Land auch vor inneren Feinden zu schützen und die Erhaltung des inneren Friedens zu sichern. Warum diese Deutungen der Geschichte so unversöhnlich nebeneinanderstehen, ergibt sich natürlich zunächst einmal vordergründig aus dem allgemeinen Verlauf des Ersten Weltkriegs. Eine große Rolle spielt zudem mit Sicherheit auch die Unfähigkeit, sich selbst und anderen die eigene Schuld einzugestehen und zu bereuen. Doch abgesehen davon, sind die in der Geschichte verborgenen Hintergründe weitaus komplexer und sicherlich auch nicht im zeitlichen Rahmen eines Vortrags erschöpfend zu analysieren. Dennoch sei es 19 Kamuran Gürün, The Armenian File. The Myth of Innocence Exposed, Istanbul 32007, 247. 20 So auch andere türkische Autoren wie z. B. Sonyel und Günay. 21 McCarthy, Death, 193.

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erlaubt, ein paar Schlaglichter auf frühere Ereignisse zu werfen, die zumindest ergänzend erklären können, wie es zum einen zu dem geschilderten Schicksal der armenischen Stadt Zeitun kam, und warum zum anderen die Erinnerungen daran so widersprüchlich ausfallen. Drei Faktoren sind dazu unbedingt zu benennen: die Bedeutung der Stadt Zeitun für die Armenier, die frühere Vertreibung muslimischer Gruppen aus dem Zarenreich und die neue osmanische Politik seit Sultan ‘Abdülhamīd II.

1. Die Bedeutung der Stadt Zeitun für die Armenier Der heftigste und zugleich erfolgreichste Widerstand gegen die Armenierverfolgungen im Osmanischen Reich fand nicht zufällig gerade in Zeitun statt. Eine Legende besagte, die Einwohner von Zeitun seien ursprünglich die letzten Überlebenden des alten und berühmten armenischen Königreiches Ani gewesen. Dieses Königreich war im Jahr 1064 von den Seldschuken – also den Vorfahren der späteren Osmanen – erobert worden.22 Obwohl nur eine Legende, begründete sich wohl schon allein darin eine Sonderstellung Zeituns im armenischen Bewusstsein. Diese Sonderstellung sollte sich in den folgenden Jahrhunderten noch verstärken. Darüber hinaus kam folgendes hinzu: Das Osmanische Reich übte über Jahrhunderte hinweg in weiten Teilen seiner Territorien eine eher indirekte Herrschaft aus, indem lokale Fürsten nicht entmachtet, sondern lediglich der Oberhoheit des Sultans unterstellt wurden. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts versuchte die Hohe Pforte, diese lokalen Fürsten zu beseitigen. Die Stadt Zeitun war nun in diesem Teil von Anatolien eines der letzten autonomen Gebiete, die die Zentralregierung in Istanbul bisher kaum zu spüren bekommen hatten. Diese Selbstständigkeit war ihnen einst, im Jahr 1618, von Sultan Murād IV. offiziell bestätigt worden,23 und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hatte Zeitun diesen Rechtsstatus bewahren können, solange die Stadt einen jährlichen Tribut an die Hohe Pforte zahlte.24 Auch das machte Zeitun für die Armenier zu einem besonderen Ort. Seit Ende des 18. Jahrhunderts jedoch brachen mehrfach kleinere Unruhen in dem Gebiet um Zeitun aus, deren äußere Anlässe zumeist bis heute nicht wirklich geklärt sind.25 Der erste größere militärische Konflikt zwischen den Zeitunlis und osmanischem Militär fand in den Jahren 1860–62 statt. Auslöser sollen damals – laut armenischen Quellen – die Ansiedlung von Tataren oder Tscherkessen sowie die Erhöhung der Steuern gewesen sein.26 Von den Tscherkessen wird übrigens gleich noch zu reden sein. Weitere Unruhen folgten in den Jahren 1866, 1879 und 1890. 22 Gust, Völkermord, 79. 23 Walker, Armenia, 101; Louise Nalbandian, The Armenian Revolutionary Movement. The Development of Armenian Political Parties through the Nineteenth Century, Berkeley-Los Angeles-London 31975, 68; Gust, ebd. Gürün, Armenian File, 191f, hingegen bezeichnet den diesbezüglichen Fermān, der angeblich im Jahr 1884 verbrannt sei, als eine Fiktion der Armenier. 24 Walker, a.a.O., 102. 25 Gürün, a.a.O., 192; ähnlich auch Aspirations et Agissements, 21. 26 Hagop Barsoumian, The Eastern Question and the Tanzimat Era, in: Richard G. Hovannisian, The Armenian People from Ancient to Modern Times II. Foreign Dominion to Statehood. The Fifteenth Century to the Twentieth Century, New York 2004, 175–201, 200; Walker, a.a.O., 101f; Gust, a.a.O.,

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Im Jahr 1895, als die Massaker an den Armeniern zum ersten Mal größere Ausmaße annahmen, gehörte Zeitun zu den wenigen Orten, an denen die Armenier bewaffneten Widerstand geleistet haben. Die folgende Belagerung der Stadt und ihr Beschuss durch osmanische Artillerie dauerten bis Anfang Januar 1896 an. Danach wurden durch Vermittlung christlicher Staaten Bedingungen der Kapitulation von Zeitun ausgehandelt. Die osmanische Armee zog sich zurück. Die Zeitunlis legten ihre Waffen nieder, ergaben sich und lieferten die Rädelsführer an die osmanischen Behörden aus, die diese wiederum ins Exil schickten.27 Aus der Sicht der osmanischen Behörden war Zeitun damit eines der ärgerlichen Widerstandsnester, die sich weigerten, ihre bisherige Autonomie aufzugeben und die neue direkte Kontrolle des Sultans anzuerkennen. Verschärfend kam hinzu, dass mittlerweile armenische revolutionäre Komitees im ganzen Land – und auch in Zeitun – aktiv waren. Sie warben unter ihren Landsleuten für eine nationale Erweckung und strebten letztlich eine politische Unabhängigkeit Armeniens an.28 In diesem Geist schrieb z.B. der armenische Journalist Grigor Ardrzuni im Jahr 1872: „Gestern waren wir eine Glaubensgemeinschaft, heute sind wir Patrioten, und morgen werden wir eine Nation von Arbeitern und Denkern sein.“29 Natürlich ließen solche Worte die osmanische Obrigkeit aufhorchen. Für die nationalistisch gesinnten Armenier hingegen war der Kampf der Stadt Zeitun um ihre Selbstständigkeit genau das Zeichen der Hoffnung, das sie brauchten, um ihre Ziele zu verfolgen. Das Verhalten der Zeitunlis hatte insofern einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf zahlreiche Armenier im gesamten Osmanischen Reich.30 Auf diese Art wurde Zeitun zum Fanal für die revolutionäre Bewegung unter den Armeniern, die sich von den christlich-europäischen Mächten im Stich gelassen fühlten und sich zum Schluss genötigt sahen, selber zur Waffe zu greifen und ihre Interessen notfalls mit Gewalt durchzusetzen.31 Einer dieser armenischen Revolutionäre namens Avetis Nazarbek fasst im Jahr 1896 diese Gefühle zusammen, wenn er schreibt: „Dieser Name, Zeitun, ist allen Armeniern lieb und teuer. […] Zeitun ist uns lieb und teuer wegen seiner Tradition der Unabhängigkeit, die es bis zum heutigen Tage als heilig bewahrt hat.“32 „Zeitun ist das Land, in dem unser Traum von Freiheit aufgewachsen und genährt worden ist, und die Zeitunlis sind die Helden, die unseren Traum wahr werden lassen. Zeitun ist das Lied in unseren Herzen, und auf den Zeitunlis ruht unsere Hoffnung.“33 Die Einwohner von Zeitun werden sich solcher Lobeshymnen während der Vorgänge in den Jahren 1914/15 sehr wohl bewusst gewesen sein. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass sich gleichfalls viele Einwohner Zeituns 80; so auch Nalbandian, a.a.O., 69f.; Feigel, Deutschland, 27 Anm. 56. 27 Avetis Nazarbek, Zeitun, in: Contemporary Review 69 (1896), 513–528, 516f; Richard G. Hovannisian, The Armenian Question in the Ottoman Empire 1876 to 1914, in: Ders.: The Armenian People, 203– 238, 223; Walker, Armenia, 161f; Vahakn N. Dadrian, The History of the Armenian Genozide. Ethnic Conflict from the Balkans to Anatolia to the Caucasus, New York-Oxford 62003, 127–130; Gust, Völkermord, 81. 28 Walker, a.a.O., 101; Nalbandian, a. a. O., 68. 71f.; Gust, a.a.O., 80; Aspirations et Agissements, 22; Gürün, Armenian File, 192f. 29 Zitiert bei Gust, a.a.O., 78. 30 Dadrian, a.a.O., 54. 31 Nazarbek, Zeitun, 523. 32 A.a.O., 513f. 33 Nazarbek, Zeitun, 524f.

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gegen diesen Einfluss der Revolutionäre wandten und mit deren Aktivitäten nicht einverstanden waren. Trotzdem war Zeitun zu Beginn des Ersten Weltkriegs längst ein berühmter und weithin bekannter Ort geworden. Auch die Hohe Pforte wird die große Symbolkraft gerade dieser armenischen Stadt gekannt und deswegen so rigoros durchgegriffen haben, als es um die allgemeine Mobilmachung und die Rekrutierung von Armeniern für den Kriegsdienst ging. Ihr lag vor allem daran, die schon Jahrzehnte zuvor beschlossene Aufhebung der Autonomie Zeituns nun auch tatsächlich durchzusetzen und die Aktivitäten armenischer Revolutionäre einzudämmen.

2. Die Vertreibung muslimischer Gruppen aus dem Zarenreich In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg war die Grausamkeit der Tscherkessen im Osmanischen Reich fast schon sprichwörtlich geworden. Sie bedrängten, überfielen und beraubten vor allem ihre christlichen Nachbarn und waren an vielen Orten als Unruhestifter berüchtigt. Dies nahm mit der Zeit solche Ausmaße an, dass der Schutz der Armenier vor Tscherkessen und Kurden ausdrücklich in den Katalog der Forderungen der christlicheuropäischen Mächte an das Osmanische Reich aufgenommen wurde.34 Auch an den Massakern unter den Armeniern 1895/96 waren die Tscherkessen maßgeblich beteiligt. Allerdings war das nicht immer so gewesen; denn bevor die Tscherkessen zu einer Plage für die Landbevölkerung in vielen Regionen des Osmanischen Reiches wurden, sind sie selber Opfer von Krieg und Verfolgung gewesen.35 Ihr Siedlungsgebiet lag Anfang des 19. Jahrhunderts noch an der nordöstlichen Küste des Schwarzen Meeres, zwischen Georgien und Abchasien im Süden, dem Asowschen Meer und der Halbinsel Krim im Westen und dem Fluss Kuban im Norden. Doch Russland hatte auf seinem Vormarsch nach Süden ein Auge auf den Kaukasus geworfen. Die tscherkessischen Stämme, die im nördlichen Flachland lebten, mussten sich bald der russischen Übermacht unterwerfen, doch die Bergstämme leisteten seit 1830 teilweise recht erfolgreich Widerstand. Schließlich brachte Zar Alexander II. (1855–1881) im kaukasischen Krieg von 1861–1864 auch die Tscherkessen des Berglands und damit den gesamten nördlichen Kaukasus unter seine Kontrolle. Bereits in den Jahren davor hatte es immer wieder tscherkessische Flüchtlingswellen ins Osmanische Reich gegeben; denn vor allem nach dem Ende des Krimkriegs (1853–1856) bemühte sich die russische Politik immer stärker, die muslimische Bevölkerung am Nordufer des Schwarzen Meeres und im Kaukasus systematisch zu deportieren. Im Winter 1863/64 schwoll dadurch der Strom der flüchtenden Tscherkessen ins befreundete Osmanische Reich außerordentlich stark an. Der Höhepunkt der aktiven Vertreibung der Tscherkessen durch die Russen folgte im April/Mai 1864. Russische Kosaken zerstörten und 34 Hovannisian, Question, 210. 35 Vgl. zum Folgenden Kai Merten, Untereinander, nicht nebeneinander. Das Zusammenleben religiöser und kultureller Gruppen im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts (Marburger Religionsgeschichtliche Beiträge 6), Berlin 2014, 191–203; Tessa Hofmann, Völkermord als Selbstschutz oder Vergeltung? Muslimische Kriegs- und Vertreibungserfahrungen vor dem Ersten Weltkrieg, in: Tamcke, „Das ist mehr als ein Beitrag zur Völkerverständigung“, 35–52.

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plünderten tscherkessische Dörfer und transportierten das Vieh ab, so dass den Einwohnern nur die Alternative von Flucht oder Hungertod blieb. Am Ende stellte der Zar die Tscherkessen vor die Wahl, entweder innerhalb Russlands umgesiedelt zu werden oder ins Osmanische Reich auszuwandern. Da die meisten die zweite Möglichkeit wählten, trieben die russischen Soldaten die Tscherkessen wie Vieh zu den Schwarzmeerhäfen. Liest man Augenzeugenberichte dazu, standen die Grausamkeiten, die die Russen dabei den Tscherkessen antaten, in nichts den Gräueln nach, die rund 50 Jahre später die Armenier erleiden mussten. Ähnlich wie bei den Schätzungen zu den armenischen Opfern des Völkermords im Ersten Weltkrieg gehen auch hier die Angaben zu den Opferzahlen teilweise weit auseinander. Justin McCarthy rechnet mit 600.000 tscherkessischen Flüchtlingen allein in den Jahren 1856–1864 und weiteren 200.000 in den folgenden Jahren, wobei er zu bedenken gibt, dass das nur die Überlebenden waren. Eine natürlich nicht gesicherte Schätzung zählt 1,2 Millionen aus ihrer Heimat vertriebene Tscherkessen, von denen rund 400.000 auf der Flucht umkamen.36 Darüber hinaus waren von dieser ethnischen Säuberung seitens der Russen auch andere kaukasische Gruppen muslimischen Glaubens betroffen wie z. B. die Krimtataren, die Nogaier, die Abchasen und die Adscharen.37 Obwohl das Osmanische Reich alles tat, was in seinen Kräften stand, um den Vertriebenen zu helfen, war es völlig überfordert, für eine derart große Zahl von Menschen auch nur annähernd die Versorgung sicherzustellen. Mit der Zeit versuchte die osmanische Regierung deshalb, die Flüchtlinge über das Land zu verteilen und sie vor allem in bisher unbewohnten oder durch den Krimkrieg entvölkerten Regionen anzusiedeln. Die neuen Siedlungsräume lagen vor allem in Kleinasien, aber auch im europäischen Teil des Osmanischen Reiches, vornehmlich in Bulgarien, und in arabischen Ländern. Auch während dieser Transporte in verschiedene Teile des Reiches müssen aufgrund von Unterernährung, Erschöpfung und Krankheiten erneut Tausende umgekommen sein. Eine zweite Vertreibung von Tscherkessen fand schließlich nach dem Abschluss des Vertrags von Berlin im Jahr 1878 statt, als die unabhängig bzw. autonom gewordenen Gebiete auf dem Balkan ihre muslimischen Einwohner auswiesen. Das alles hatte zur Folge, dass zu Beginn des Ersten Weltkriegs mindestens ein Viertel der Bevölkerung Anatoliens aus solchen muslimischen Flüchtlingen bestand. In manchen vorher fast rein christlichen Gebieten stellten sie nun sogar die Hälfte der Einwohner.38 Dabei prägte diese Flüchtlinge das Gefühl (um nicht zu sagen: das Trauma), von Christen unter grausamsten Umständen aus ihrer Heimat vertrieben worden zu sein und seitdem kein zusammenhängendes Siedlungsgebiet mehr zu besitzen. Daraus resultierte nicht nur eine tiefe anti-russische Haltung, sondern auch ein grundlegendes Misstrauen allen Christen gegenüber. Besonders betraf dieses Gefühl diejenigen Christen, die Sympathien für Russland hegten – und diese Sympathien waren nun einmal unter den Armeniern weit verbreitet. Wo immer es möglich war, ließen die Tscherkessen deshalb ihre christlichen Nachbarn

36 McCarthy, Death, 53 Anm. 45. 37 Merten, Untereinander; Hofmann, Völkermord, 39.47; Gust, Völkermord, 73. 38 Hofmann, Völkermord, 51; Gust, Völkermord, 73.

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ihren Hass spüren, indem sie anfingen, sich an den Armeniern für das Unrecht zu rächen, das ihnen zuvor die Russen zugefügt hatten.39 Der Hohen Pforte ist dabei vorzuwerfen, dass sie diese gewaltsamen Übergriffe weder verhindert noch die christlichen Opfer geschützt hat. Vielleicht hat sie sie sogar insgeheim gutgeheißen. Doch die Flüchtlingswellen als solche hat sie nicht zu verantworten.

3. Die neue osmanische Politik seit Sultan ‘Abdülhamīd II. Die reformorientierten Sultane, die seit Ende des 18. Jahrhunderts das Osmanische Reich regierten, hatten großes Interesse am christlichen Europa, um ihr Land zu modernisieren und zukunftsfähig zu machen. Diese Phase der nach Westen hin ausgerichteten Politik endete jedoch im Jahr 1876, als Sultan ’Abdülhamīd II. (1876–1909) den Thron bestieg. Er war streng religiös erzogen, beherrschte – anders als seine Vorgänger – keine einzige europäische Sprache und wandte sich innerlich wieder von Europa ab. Stattdessen gab er dem Islam seine frühere zentrale und staatstragende Rolle zurück. So bevorzugte er z.B. Beamte arabischer Herkunft bis in die höchsten Ämter hinein und förderte die muslimischen Orden. Darüber hinaus wurde der neue Sultan gegen die zahlreichen katholischen wie evangelischen Missionsstationen in seinem Reich aktiv. Im Gegenzug schickte er seinerseits muslimische „Missionare“ zu den nicht-muslimischen Religionsgruppen, z. B. zu den Jeziden. ‘Abdülhamīd II. war es auch, der das Kalifat zu neuen Ehren brachte. Das Amt des Kalifen war zuvor über Jahrhunderte hinweg kaum beachtet worden. Nun schwebte dem neuen Sultan vor, sich nicht mehr nur als religiöses Oberhaupt der osmanischen Muslime zu präsentieren, sondern zugleich als Kalif aller Muslime. Das betraf somit eben auch diejenigen Muslime, die Untertanen des russischen Zaren oder in Indien Untertanen der britischen Krone waren. Schon im Jahr 1880 nennt ein englischer Beobachter, der lieber anonym bleiben wollte, diese Entwicklung im Osmanischen Reich einen „fanatical revival“, also eine „fanatische Erweckung“40, wobei der Begriff „revival“ damals normalerweise die christlich-pietistischen Erweckungsbewegungen bezeichnete. Folgerichtig rief ‘Abdülhamīds II. Nachfolger, Sultan Mehmed V., zu Beginn des Ersten Weltkriegs den Dschihad gegen die Ungläubigen aus. Damit wollte er alle Muslime, auch die, die zu den Alliierten gehörten, auf seine Seite ziehen. Wir haben somit im Vorfeld des Ersten Weltkriegs auf muslimischer Seite eher eine Neubelebung religiöser Gedanken vor uns als deren Abschwächung.41 Dem steht – zumindest der Auffassung des Verfassers nach – auch nicht entgegen, dass sich damals unter den muslimischen Intellektuellen dieser Zeit andere geistige Strömungen ausgebreitet hatten, die eher eine säkulare Prägung aufwiesen. Zuerst hatten die sogenannten Jungen Osmanen zu erklären versucht, dass alle Untertanen des Sultans, gleich welcher 39 McCarthy, Death, 39f; Stanford J. Shaw/Ezel Kural Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey II. Reform, Revolution, and Republic. The Rise of Modern Turkey 1808–1975, Cambridge 1977, 117.161. 40 An Eastern Statesman, The Impending Crisis in Turkey, in: Contemporary Review 38 (1880), 508–517, 510. 41 Vgl. dazu Merten, Untereinander, 344–357.

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Religion, gleichberechtigte Bürger seines Reiches seien. Deswegen sollten sich alle kulturellen Gruppen, auch die nicht-muslimischen, als Teil ein und desselben Staates verstehen und nicht nach politischer Selbständigkeit streben. Aus diesen Jungen Osmanen gingen Ende des 19. Jahrhunderts die sogenannten Jungtürken hervor, die dann im Jahr 1908 an die Macht kamen und das Osmanische Reich in den Ersten Weltkrieg führten. Sie suchten das Wohl des Staates endgültig nicht mehr in der Religion, sondern in der türkischen Nation. Doch es gelang ihnen nur sehr unzureichend, ihre säkularen Gedanken einzubringen und ein nationales Gefühl unter den Osmanen zu wecken. Die einfachen Menschen muslimischer Prägung konnten vermutlich den neuen, säkularen Gedanken zunächst wenig Positives abgewinnen. Es unterschied sich zu stark von dem, was man bisher gelernt und gehört hatte. Zudem galt vom Islam her das Althergebrachte als wahr, alles Neue wurde zunächst argwöhnisch beäugt. Die Jungtürken waren also ein Kreis von Intellektuellen, die zumeist aus dem Offizierscorps der Armee stammten und vornehmlich im Bereich der großen Städte im Westen des Landes, Istanbul, Saloniki, Edirne und Izmir, aktiv waren. Jenseits dieser elitären Kreise wird man aber weiter religiös gedacht haben. Aus diesem Grund war eine Idee, die alle Einwohner des Osmanischen Reiches als gleichberechtigt ansah, weit weg von jeder Realität. Im Umfeld der Stadt Zeitun existierte eine solche Idee vermutlich weder in den Köpfen der Muslime noch bei den Christen. Weder die osmanischen Beamten und Soldaten aus Maraş noch die Armenier aus Zeitun fühlten sich damals als Bürger ein und desselben Staates. Fassen wir zusammen: Auf beiden Seiten musste – und muss bis heute – die Erinnerung an das Schicksal der Stadt Zeitun die jeweils eigene Sicht der Dinge bestätigen und zugleich identitätsstiftend wirken. Daher rührt die widersprüchliche Deutung der Geschehnisse, die sich um diesen Ort ranken. An Zeitun ist im Kleinen abzulesen, was für Armenier bzw. Türken auch im Großen gilt: Für die Armenier war und ist die Stadt Zeitun mit ihrem Widerstand gegen die osmanische Zentralmacht ein Ort von großer Symbolkraft. Dafür zahlten die Zeitunlis den größtmöglichen Preis, indem sie ausnahmslos zu den ersten Opfern des anschließenden Völkermords gehörten. Für die Türken dagegen ist Zeitun das deutliche Beispiel armenischer Unbotmäßigkeit und Aggressivität und der fehlenden Bereitschaft, an einer friedlichen Lösung mitzuarbeiten. In der rückblickenden Deutung der Ereignisse dient diese Sicht der Republik Türkei zu einem ganz wesentlichen Teil der Rechtfertigung der Massaker an den Armeniern insgesamt. Die muslimischen Gruppen aus dem Kaukasus, die zuvor von der russischen Politik der ethnischen Säuberung und Vertreibung betroffen waren und die anschließend im Osmanischen Reich dezentral angesiedelt wurden, taten in ihrem Hass auf alles Christliche ein Weiteres, um die ohnehin brisante Situation anzuheizen. Um sich an den Freunden ihrer Feinde zu rächen, gingen sie auf eigene Faust auf Raubzüge oder stellten sich als willfährige Handlanger osmanischer Repressalien zur Verfügung. Insofern muss auch die Verantwortung Russlands in eine angemessene Gesamtsicht einbezogen werden. Schließlich beobachten wir im Vorfeld des Ersten Weltkriegs auf islamischer Seite eine Neubelebung religiöser Gedanken. Diese muslimische „Erweckung“, wie sie genannt wur-

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de, präsentierte sich dabei als Reaktion auf frühere christliche Einflüsse im Osmanischen Reich und förderte damit zusätzlich die anti-christliche Stimmung im Land. Hören wir zum Schluss noch einmal auf das eingangs erwähnte Zitat von Jan Assmann: „Wir sind, was wir erinnern, und das heißt: wir sind die Erzählungen, die wir über uns und unsere Vergangenheit geben können. […] Wir sind für ‚unsere‘ Vergangenheit verantwortlich, und wir haben ‚der‘ Vergangenheit gegenüber eine Verpflichtung.“ Dass dies richtig erkannt ist, dürfte nun am Schicksal der Stadt Zeitun deutlich geworden sein. Insofern könnte eine Versöhnung wohl nur mithilfe einer gemeinsamen historischen Kommission zustande kommen, die alle Quellen – einschließlich der Quellen der Vertreibung und der Massaker an Muslimen – sichtet und kritisch analysiert und bei der alle Seiten bereit sind, eigene Schuld einzugestehen und die Schuld anderer zu verzeihen. Nur dann wäre vielleicht eine gemeinsame Erinnerungskultur im Sinne der Aktion „Healing of Memories“ vorstellbar.

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„Du sollst dort nicht hinsehen!“ Zum literarischen Umgang exilirakischer Autoren mit Kriegstraumata Andreas Pflitsch Eine Tagung im österreichischen St. Pölten beschäftigte sich vor ein paar Jahre mit dem Thema „Krieg und Frieden in der Literatur“.1 Karl Müller und Werner Wintersteiner, die Herausgeber der Kongressakten, betonen in ihrer Einleitung die Relevanz des alten Mimesis-Poiesis-Problems für dieses Thema. Zu fragen ist: Wie positioniert sich die Literatur, wie positionieren sich die Literaten angesichts existentieller Nöte? Einfach ausgedrückt: Wie politisch darf, muss oder kann Literatur sein? Diese Frage ist ein Dauerbrenner, der die ganze Literaturgeschichte begleitet. Müller und Wintersteiner bringen das Dilemma auf den Punkt: „Soll Literatur ‚politisch tätig‘ sein? Wenn ja, verrät sie damit nicht ihren ästhetischen Anspruch? Wenn nein, verrät sie damit nicht ihre moralische Kraft?“ (9) Sie beantworten dieses Dilemma selbst. Die Frage sei falsch gestellt: „Sie geht nämlich von einer Aufteilung der Welt in die reale und die mediale Wirklichkeit aus und unterstellt, dass wir uns eigentlich in der realen Welt bewegen und die mediale Wirklichkeit eine Art Parallelwelt wäre, die wir zu unserem Vergnügen geschaffen hätten und die zwar den einzelnen, nicht aber die Gemeinschaft als ganze beträfe. Aber ist es nicht so, dass wir die ‚wirkliche Wirklichkeit‘ gerade über die mediale Wirklichkeit, die wir uns erschaffen haben, verstehen?“ (9) Am Beispiel dreier exilirakischer Autoren und ihres literarischen Umgangs mit Kriegs- und Gewalterfahrungen möchte ich im Folgenden zeigen, wie „literarische Wirklichkeit“ die „wirkliche Wirklichkeit“ transportiert und vermittelt. Dabei geht es weniger um eine faktisch-dokumentarische Beschreibung von Krieg und Kriegserfahrungen, als um die für die Lesenden nachvollziehbar gemachten, mit diesen Erfahrungen einhergehenden Effekte. Das dunkle Schiff, der 2008 erschienene und im selben Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse sowie den Deutschen Buchpreis nominierte Roman von Sherko Fatah, beginnt mit einem kurzen Prolog. An einem heißen, windigen Sommertag erlebt der namenlose kindliche Protagonist einen stimmigen, versöhnlichen Moment: „Vielleicht war es der schönste Tag seines Lebens, nicht des leichten Lichtes und des sanften Windes wegen, nein, an diesem späten, saumselig vergehenden Tag ver-

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Karl Müller/Werner Wintersteiner, „Die Erde will keinen Rauchpilz tragen“ – Krieg und Frieden in der Literatur, Innsbruck 2011. Im Folgenden werden die Seitenzahlen der Publikation direkt im Text in Klammern angegeben.

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spürte er ein erstes Mal die tiefe Ruhe, welche die Schönheit gewährt, und erfuhr zugleich ihre Vergeblichkeit.“ (5) Es ist die Szene einer Erweckung, eine Epiphanie, der Moment einer Erkenntnis – vielleicht der Moment des Erwachsenwerdens selbst –, der die Welt in anderes Licht taucht: „Er fühlte nicht mehr die Abgeschiedenheit hier draußen, nicht mehr die raue Einöde, er sah die Landschaft wie eine geöffnete Hand. Er atmete schwer. Ich bin noch ein Kind, dachte er kurz, meine Lungen sind nicht weit genug für diesen Tag. Und selbst wenn sie es wären, so ahnte er, dann könnte ich doch niemals weit genug in ihn hineingehen.“ (6) Er beobachtet in der Ferne Kräuter sammelnde Frauen, sieht dann einen Hubschrauber nahen und ist kindlich fasziniert, als dieser in der Nähe landet, zwei Soldaten aus ihm herausspringen, zu den Frauen laufen und sie in den Hubschrauber treiben. „Er stand und sah sie abheben, ruckartig erst, dann unaufhaltsam, wie in den Himmel gezogen, bis sie die Staubwolke unter sich ließen. Ganz leicht legte sich der Helikopter auf die Seite und flog erneut seine weite Kurve, schraubte sich allmählich höher und höher, bis er befreit im Himmel dahinschwamm. Er blickte ihnen nach und winkte wieder. Und tatsächlich kam die Maschine erneut heran, das Donnern wurde laut und lauter, bis er sich die Ohren zuhielt. Den Kopf im Nacken sah er die Frauen. Da fielen sie, eine nach der anderen stürzte aus der Luke, mit gebreiteten Armen glänzten sie auf im Licht, und wie um sie aufzuhalten, riss an ihren Gewändern der Wind.“ (7) So endet der Prolog. Es folgt der eigentliche Roman in fünf Teilen, der, in chronologischer Ordnung, dem Lebensweg des Protagonisten namens Kerim folgt. (Die folgende Verkürzung des Plots mag überladen wirken): Teil I schildert die Kindheit als Sohn alevitischer Eltern, die im Nordirak ein Restaurant betreiben. Die Kindheit endet abrupt, als sein Vater vom Geheimdienst getötet wird. So muss Kerim früh Verantwortung für die Familie und das Restaurant übernehmen. Er wird dann, im zweiten Teil, von „Glaubenskriegern“ entführt und in die kurdische Bergwelt verschleppt, wo er in den Bann eines ihrer charismatischen Lehrer gerät, sich in sein Schicksal ergibt und erst kurz bevor er für einen Anschlag rekrutiert werden soll flüchtet. Abgemagert kommt der Todgeglaubte nachhause. Kerim beschließt, vor der drohenden Verfolgung durch die Glaubenskrieger das Land zu verlassen. Der dritte Teil, dem der Roman seinen Titel Das dunkle Schiff verdankt, schildert die von Schleppern organisierte illegale Überfahrt als blinder Passagier in der Dunkelheit und beklemmenden Enge des Frachtraums eines Schiffes nach Europa, ständig bedroht, entdeckt zu werden. Kerim schafft es nach Berlin, wo er seinen Onkel Tarik, einen Bruder seines Vaters, aufsucht. Er beantragt Asyl und lernt schnell, was man dafür tun muss: Man muss eine Geschichte erzählen können, oder, wie es wörtlich im Roman heißt: „Es war wichtig, eine konkrete Bedrohung für Leib und Leben zu konstruieren.“ (264) Kerim durchläuft geduldig das Verfahren, lernt Deutsch, zieht aus dem Asylantenheim zu seinem Onkel, lernt eine Frau kennen und wird zusehends eingeholt von seinen Erinnerungen.

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Hier wird Das dunkle Schiff zum Migrationsroman – und der Text zugleich als Poetik seines Autors lesbar. Es geht um die Macht und die Kraft des Erzählens, um die Notwendigkeit und die Möglichkeit des Erinnerns, letztlich also ums Schreiben, um Literatur und darum, was für einen Sinn das alles macht – auch und gerade vor dem Hintergrund traumatischer Gewalterfahrungen. Immer wieder spielt der Roman auf den Topos des „Erzählens gegen den Tod“ an, den wir im arabischen Kontext natürlich mustergültig in der Person Sheherazades verkörpert finden, die gegen den eigenen, ihr durch den König Shahriyar angedrohten Tod erzählt. Als Kerim, aus dem Camp der Gotteskrieger geflüchtet, zu seiner Familie zurückkehrt, herrscht über die Notwendigkeit zu schweigen Einigkeit: „Kerim erzählte nichts über seine Erlebnisse, er deutete nur an, entführt worden zu sein, als er damals die Großeltern besuchen wollte. Seine Mutter fragte nicht weiter, sondern bestand darauf, dass er sofort etwas aß, und machte sich daran, es vorzubereiten.“ (153) Als er in Berlin von seinen Erinnerungen immer stärker bedrängt wird, entfernt er sich in einer dazu gegenläufigen Bewegung immer mehr von seiner Familie zuhause: „Mit dem neuen Handy hätte er seine Mutter, seine Brüder oder Shirin theoretisch jeden Tag, zu jeder Stunde anrufen können. Zu seiner Überraschung jedoch verspürte er immer weniger das Bedürfnis danach. Schon die wöchentlichen Anrufe vom Telefon seines Onkels begannen ihm Mühe zu bereiten, die Gespräche wurden schwerfälliger. Einfache Dinge waren umständlich zu erklären, was er erlebt hatte, musste er in kurzen Sätzen beschreiben, so dass es immer nichtssagend blieb. Es war, als würde die Entfernung zwischen ihm und diesen einstmals vertrauten Menschen spürbarer mit jeder Woche die er länger in der Fremde war, als riefe er immer lauter hinüber und könnte dabei immer weniger sagen.“ (318) Auch das Internetcafé ist keine Lösung: „Die geschriebenen Worte entfernten ihn ebenso, gerannen zu Floskeln, die ihm erschienen wie in großen Lettern auf ein Schild gemalt, die noch aus weiter Ferne erkennbar sein mussten.“ (318) Während er seine Familie aus der Ferne und aus der Fremde nicht mehr erreichen kann, zieht er seine neuen Bekannten in Berlin mit seinen Erzählungen über den Krieg und über seine Flucht derart in den Bann, dass diese „mit halboffenen Mündern“ dasitzen und vergessen, an ihren Zigaretten zu ziehen (319). „Es dunkelte bereits. Die flachen Computerbildschirme tauchten den Raum in unwirkliches Licht, auf jedem am unteren Bildrand ein kleines Gewehr, das sonst unaufhörlich durch künstliche Landschaften wanderte, nun aber, für die Zeit seiner Erzählung, stillstand.“ (319) Aber Kerims Erzählen entpuppt sich bald als zutiefst ambivalent. Amir, der sich von Kerims Geschichten besonders gefesselt zeigt und dessen Nähe sucht, gibt Kerim Rätsel auf:

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„…er fragte sich bereits, welche Wirkung das Gesagte auf Amir haben mochte, der mit undurchdringlicher Miene auf dem Sofa saß und für diesen Abend offenbar genug gehört hatte. […] Kerim sprach sich selbst gut zu. Was konnte dem jungen Mann, hier in einem fernen Land, das alles schon bedeuten außer etwas Zerstreuung.“ (346) Das Rätsel löst sich im fünften und letzten Teil des Romans, der optimistisch beginnt und in der Katastrophe endet. „Ganz neu anfangen“ werde er, nimmt sich Kerim vor, als er den positiven Bescheid bekommt und als Asylant anerkannt wird, „nichts soll mich verbinden mit der Vergangenheit außer den Menschen, die ich wirklich liebe.“ (350) Beim Abschied von den Zimmergenossen des Asylantenheims zeigt sich, dass Kerim tatsächlich den Eindruck unbeschwerter Aufgeräumtheit macht. „Wenn jemand“, bestätigt man ihm, „dann hast du eine Chance. Du bist so, so – rein, du hast keine Vergangenheit, die dich verdirbt, und jeder sieht das.“ (351) Der Leser weiß längst, dass Kerim durchaus eine Vergangenheit hat, die ihn, wenn nicht verdirbt, so doch belastet und beschäftigt. Wie sehr, das zeigt sich nur drei Seiten später, als Kerim, von seinem Onkel Tarik mit einem Brief seiner Mutter konfrontiert, „augenblicklich Heimweh und Schmerz“ (354) überfällt. Die „Begegnung mit der Vergangenheit“ (355) zeigt deutlich, wie dünn die Schutzschicht ist, unter der Kerim seine Erinnerungen verbirgt. In ihrem Brief an Tarik hatte damals die Mutter von dessen Rückkehr nach seiner Entführung berichtet: „Heute ist Kerim zu uns zurückgekommen, und ich danke Gott dafür. Er ist dünn geworden und spricht nicht mit uns. Er hat sich sehr verändert, seine Augen glühen. Aber er ist am Leben. Ich glaube, er war in großer Gefahr, er sieht viel älter aus. Ich werde ihm keine Fragen stellen. Ich werde schweigen. Ein Schaf werde ich schlachten, glücklich darüber, dass Gott ihn uns zurückgegeben hat.“ (356) Nachdem Tarik Kerim den Brief vorgelesen hat, ergänzt er: „Ich werde dich nicht drängen, es mir zu erzählen. Auch ich begnüge mich damit, froh zu sein, dass du hier bist. Du hast für dein Alter viel erlebt. Aber was immer du von dort mitgebracht hast, was immer du noch auf dem Schiff bei dir hattest, du musst es jetzt vergessen und etwas Neues beginnen.“ (356) „Ich habe nichts mitgebracht“, antwortet Kerim ihm knapp – um sich gleichzeitig an ein Selbstmordkommando zu erinnern, an dem er teilgenommen und das er gefilmt hatte. Die Szene wird in all ihren grausigen Details, aber ohne alle pathetische Ausschmückung geschildert. „Ich habe nichts mitgebracht“, wiederholt Kerim dann (361). „Ich werde dich nicht danach fragen“ [wiederholt daraufhin Tarik] „Behalte es für dich, schließe es irgendwo in dir ein, mach eine Zimmertür zu. […] Löse dich jetzt von dem was hinter dir liegt. Glaube mir, du wirst später noch viel Zeit für deine Erinnerungen haben.“ (361) Kerim schreibt, indem er verdrängt, vergisst, nicht wahrhaben will und verstummt, eine Art Familientradition fort: „In seiner Familie hatte man nicht sehr viel geredet, und wenn seine Eltern Geschichten von früher erzählten, dann blickten die Kinder irgendwohin und hörten

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still zu. Von seinem Vater kannte er eigentlich nur Anweisungen oder Belehrungen. Ebenso war es in der Schule und bei den Gotteskriegern gewesen.“ (369) Das Thema des eingangs zitierten, kurzen, atmosphärisch dichten, unwirklich-wirkenden Prologs wird an einer Stelle wieder aufgenommen. Als sein Vater mit Kerim, von der Not getrieben, wildernd auf die Jagd nach herumirrenden Eseln geplünderter Dörfer geht, fragt er ihn: „,Erinnerst du dich an unser Picknick in den Bergen, als der Helikopter kam und die alten Frauen mitnahm? Was habe ich Dir damals gesagt?‘ Kerim überlegte: ‚Wenn ich niemals darüber rede, wird es irgendwann nur noch wie ein Traum sein.‘ ‚Und war es so?‘ Kerim bejahte.“ (79) „Man vergisst es nicht“, ergänzt daraufhin der Vater, „aber es ist nicht mehr wichtig.“ Trauma soll Traum werden. Mit seinem Roman straft Sherko Fatah den Vater seines Protagonisten Lügen: Man vergisst seine Erinnerung nicht, wenn man nicht darüber redet, das ist wahr. Aber sie werden dadurch nicht weniger wichtig, sondern nehmen im Gegenteil monströse Dimensionen an. Die Flucht nach Deutschland stellt sich so weniger als Lösung denn als Teil des Problems dar, da die neue Fremde zwar eine Distanz zur Vergangenheit vorgaukelt, diese aber damit noch keineswegs verarbeitet. Im Gegenteil kann man auch in der Migration, wie es die Psychologen Léon und Rebeca Grinberg tun, eine potentiell traumatische Erfahrung sehen. Die neue, fremde Umgebung verlangt nach der Schaffung einer inneren Heimat. „In seinem Kampf um Selbsterhaltung muß sich der Immigrant an verschiedene Elemente seiner Heimat (vertraute Objekte, die Musik seines Landes, Erinnerungen und Träume, in denen sich Aspekte des Herkunftslandes ausdrücken) klammern, um die Erfahrung des „Sich-Selbst-Spürens“ aufrechterhalten zu können.“2 Und so findet Kerim Trost und Linderung im gemeinsamen Gebet „in einem neonbeleuchteten, kahlen Raum“ an der Universität. Die ihm immer wieder eingeredete vorgebliche Notwendigkeit, die Vergangenheit zu vergessen, führt er nun auf die Spitze, „will ein anderer werden“ (384) und folgt dem „Ruf des Glaubens“. Die Radikalität seines Vorhabens geht einher mit neuerlichen plastischen Erinnerungen an das traumatische Erlebnis eines Massakers. Es gibt kein Entkommen, und je stärker er sich gegen die Erinnerungen auflehnt, desto hartnäckiger scheinen sie ihn zu belagern und zu bedrängen. Jeder Fluchtversuch wird mit einer neuen Verfolgung beantwortet. Kerim kann sich weder von seinen Erinnerungen befreien noch den Verwicklungen der eigenen Biographie entkommen. Es ist dann ausgerechnet Amir, der Kerims Erzählungen so interessiert zugehört hatte, der diesem schließlich zum Verhängnis wird. Sherko Fatah wurde 1964 als Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen in OstBerlin geboren. Er wuchs in Ost-Berlin auf, 1975 übersiedelte die Familie – über Wien – nach West-Berlin. Dort studierte Fatah Philosophie und Kunstgeschichte. Für sein 2001 erschienenes Debüt Im Grenzland wurde er mit dem renommierten Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. In diesem und seinen folgenden Büchern, Donnie 2

Léon und Rebeca Grinberg, Psychoanalyse der Migration und des Exils, Stuttgart 1990, 147.

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(2002) und Onkelchen (2004), dreht sich alles um Gewalt und ihre Verarbeitung. In Donnie wird ein ehemaliger Fremdenlegionär von der Erinnerung an den Algerienkrieg heimgesucht. Der Erzähler versucht aus diesen Erinnerungen eine Geschichte zu machen, merkt aber bald, dass alles, was der alte Mann erzählt, auf unsicherem Boden steht. In Onkelchen versucht der Erzähler hinter die Geschichte der verstummten Titelgestalt, einem illegal in Deutschland lebenden Flüchtling aus dem Irak, zu kommen, indem er in den Nordirak reist, der ihm völlig fremd bleibt und ihm die Grenzen des eigenen Verstehens aufzeigt. Es geht Sherko Fatah in seinen Büchern nicht um die Gewalt „der Anderen“, die Darstellung also einer irrational agierenden, exotisch-wilden Barbarei, die der uns vertrauten Welt diametral entgegenstünde. Vielmehr sieht er – sich dabei auf das berufend, was er als die Essenz von Joseph Conrads Werk versteht – im Anderen das Eigene und umgekehrt, ohne jedoch dabei einem Relativismus das Wort zu reden, der sich aller Wertung enthält. „Indem die Zivilisation an ihren Rändern verwildert“, hat er einmal gesagt, „bringt sie zutage, was ihr zutiefst innewohnt: Barbarei.“3 Fatahs literarisches Projekt zeigt Ähnlichkeiten zu dem anderer irakischer Autoren mit ihren sehr oft durch die Situation des Exils sowohl inhaltlich als auch poetologisch geprägten Werken. Die Fluchtgeschichte Kerims auf dem „dunklen Schiff“ erinnert an Der falsche Inder, dem im selben Jahr erschienenen, ebenfalls auf Deutsch geschriebenen Roman des irakischen Dichters Abbas Khider der ebenfalls von den Zumutungen des Flüchtlingsdaseins erzählt. Damit sind allerdings die Gemeinsamkeiten der beiden Bücher schon erschöpft. Man kann dasselbe Thema wohl kaum literarisch unterschiedlicher gestalten, als Fatah und Khider es getan haben. Der falsche Inder geht so: Im ICE von Berlin nach München findet jemand einen Umschlag mit dem Manuskript der Erinnerungen eines gewissen Rasul Hamid aus Bagdad. Erzählt wird darin eine Odyssee unserer Zeit. Vor der Diktatur Saddam Husseins flieht Rasul Hamid über das jordanische Amman nach Libyen. Von Libyen gelangt er, abhängig von dubiosen Schleppern, über Tunesien, noch einmal Libyen, die Türkei und Griechenland nach Italien, von Gefängnisaufenthalten und Abschiebungen unterbrochen und der ständigen Angst vor Entdeckung begleitet. Über Bari und Rom erreicht er Bozen, versteckt sich in einem Nachtzug nach München und findet sich bald darauf in einem Asylantenheim in Passau wieder. In München, einer Stadt „schön wie eine Rose, aber eine aus Plastik“, wird er schließlich sesshaft, wenn auch nicht ganz heimisch, nicht zuletzt, weil die Gesichter der Einwohner „den Eindruck erwecken, als wären sie allesamt mit Pauken und Trompeten durch eine wichtige Prüfung gerasselt.“ Rasul Hamid wundert sich rückblickend über die Abstrusität mancher Situation, ist mal wütend, mal sentimental, kann bisweilen kaum glauben, was er schreibt, da mancher ihn rettende Zufall an ein Wunder grenzt und viele Begebenheiten so unwürdig sind, dass er sich fragen muss, wie er sie ertragen konnte. Er könne „die Welt hassen und gleichzeitig lieben und die Menschen ebenso“, schreibt er. „Ich entschied mich aber schon früh, die Welt zu nehmen, wie sie ist.“ Eher nüchtern protokolliert er darum seine Geschichte, erzählt sie dann immer wieder neu, ergänzt Details, ohne sich dabei in Ausschmückungen zu verlieren. 3

So die Wirtschaftswoche am 25.9.2008.

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„Du sollst dort nicht hinsehen!“

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Der Text ist in einer Lockerheit und Leichtigkeit erzählt, die seinem Gegenstand auf geradezu groteske Weise entgegensteht. Ähnlich verhält es sich bei den Romanen des seit einiger Zeit in Deutschland lebenden, aber im Unterschied zu Sherko Fatah und Abbas Khider auf Arabisch schreibenden Najem Wali. 1956 in Basra geboren, flüchtete Wali nach Ausbruch des Krieges zwischen Iran und Irak 1980 nach Deutschland und studierte in Hamburg und in Madrid deutsche und spanische Literatur. 2004 erschien Die Reise nach Tell al-Lahm. Der Roman gibt sich höchst rätselhaft: „Nur drei Menschen kennen die wahren Umstände dieser Geschichte. Ich war nicht darunter“, bekennt der Erzähler. Aus dem Vexierspiel zwischen Innenwelt und Außenwelt, deren Auseinanderfallen der erzwungenen Unaufrichtigkeit unter dem diktatorischen Regime geschuldet ist, bezieht der Roman seine innere Spannung. Wali stellt der drückenden Atmosphäre des Misstrauens ein atemloses Fabulieren entgegen, eine mit erzählerischer Wucht und viel Tempo erzählte, an ein Roadmovie erinnernde, komplex verschachtelte Geschichte. Es ist eine trotzige Selbstbehauptung inmitten beschädigten Lebens. Mit Fatahs Roman Das dunkle Schiff verbindet den Roman das Thema der Befreiung durch Erzählen, ja der geradezu existentiellen Notwendigkeit des Erzählens in von Diktaturen und Kriegen traumatisierten Gesellschaften wie der irakischen. Najem Wali geht es dabei nicht um eine vordergründige Anklage des Regimes von Saddam Hussein, sondern um die Mentalität, die solche Regime erst möglich macht. Der Roman trägt deutliche Züge einer Burleske mit den der Gattung eigenen, zuweilen derben Überspanntheiten. Vor dem Hintergrund dieses Panoptikums nimmt sich der Erzähler geradezu stoisch aus. Er hat „kein festes Ziel“ und erträgt, was immer kommt, darin durchaus verwandt mit Kerim. Der Reise nach Tell al-Lahm ist als Motto ein Satz Boris Vians vorangestellt: „Diese Geschichte ist wahr, weil ich sie erfunden habe.“ Die eigene Geschichte erweist sich als der letzte verbliebene Anhaltspunkt in einer aus den Fugen geratenen Welt. Walis nächster Roman Jussifs Gesichter teilt den geradezu klassisch postmodernen Ansatz des Vorgängers und treibt ihn auf die Spitze. Die Fälschung wird „zur einzigen, mein Leben bestimmenden Wahrheit“ des Erzählers. Getreu des Diktums von Max Frisch, wonach sich jeder seine eigene Geschichte erfinde, die er dann für sein Leben hält, werden wir Zeuge, wie Jussif seine Lebensgeschichte rekonstruiert, deren Kern das schwierige Verhältnis zu seinem älteren Bruder Junis darstellt. Ein die beiden Brüder verbindendes traumatisches Kindheitserlebnis steht als blinder Fleck im Zentrum des zwischen Kuwait-Krieg 1991 und amerikanischer Invasion 2003 spielenden Romans. Weil keine Information verlässlich ist, entsteht eine geradezu gespenstige Unschärfe. Die den Leser unweigerlich packende Verunsicherung angesichts eines wilden Spiels mit Namens- und Rollenwechseln, Vor- und Rückblenden vermittelt einen erschütternden Eindruck von einer innerlich ausgebrannten Gesellschaft, der alle Maßstäbe abhandengekommen sind. Wahrheiten und Identitäten sind der Tyrannei der Willkür zum Opfer gefallen. Wo Wali burlesk ist, ist Khider lakonisch. Und wo Khider ins Plaudern gerät, da diszipliniert sich Fatah, indem er schmucklos und geradezu spröde in einem „asketischen Realismus“4 mit „leisen Tönen“5 erzählt und damit den Kritiker der Süddeutschen Zeitung gar an 4 Jens Jessen in der FAZ vom 30.4.2008.

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Kafka6 erinnert. Es sind also denkbar unterschiedliche Schreibstrategien, mit denen die drei in Deutschland über die Traumata der jüngeren irakischen Geschichte schreibenden Autoren begegnen. Und sicherlich ist es nicht falsch, diese unterschiedlichen Schreibstrategien vor allem auf einen anderen Umgang der Autoren mit Nähe und Distanz zurückzuführen. Kritiker haben an allen Büchern Sherko Fatahs das besondere Verhältnis von Distanz und Nähe hervorgehoben und gelobt. Aus einem spezifischen Verhältnis von Vertrautheit und Fremde entwickelt der Autor eine Poetik des detailverliebt genauen Blicks, in der das große Ganze zugleich offen und diffus bleibt. „Ich versuche“, so hat er selbst es beschrieben, „Distanz zu schaffen zwischen mir und dieser Herkunft und diese Distanz literarisch fruchtbar zu machen.“7 Die Distanz ist also kein Manko, sondern notwendige Voraussetzung seiner Texte. „Ich sehe mich selbst als Deutschen“, hat Sherko Fatah zu Protokoll gegeben. „Meine Verbindungen in den Irak sind, was Aufenthaltsdauer und Sprachkenntnisse betrifft, eher schwach.“8 Er wehrt sich darum auch vehement gegen das Etikett „Migrantenliteratur“9. Der Irak sei – wie im Übrigen auch die DDR – für ihn ein „Land der Kindheit“, das vor allem in der Erinnerung und in der Erzählung lebe, gewissermaßen also Literatur sei, bevor man darüber geschrieben und gelesen habe.10 In seinem Erstling Im Grenzland sei es ihm vor allem darum gegangen, einen Ton zu finden, „der das Beteiligt- und das Fremdsein zugleich mitteilt“.11 Aus der hier beschriebenen Bemühung, zwischen Fremdheit und Vertrautheit die Balance zu halten, gewinnen die Werke Fatahs ihre Faszination und ihr spezifisches Gewicht. Im Gegensatz zu Najem Wali und Abbas Khider, die Selbsterlebtes literarisch verarbeiten und literarisch-sprachlich verfremden und damit zu bannen versuchen, geht es Fatah umgekehrt um eine rekonstruktive Aneignung der jüngsten irakischen Geschichte. Wo die einen Erfahrungen literarisieren, sucht er Erfahrung in der Literatur. In beiden Fällen führt uns die Literatur als „mediale Wirklichkeit“ sehr nahe heran an die „wirkliche Wirklichkeit“.

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Sabine Peters in der FR vom 25.2.2008. Hans-Peter Kunischin in der SZ vom 14.11.2001. So im Tagesspiegel vom 2.3.2008. Sherko Fatah, Ein Land der Kindheit. Bemerkungen zur sogenannten Bikulturalität, in: Alexander Haridi, West-östlicher Seiltanz. Deutsch-arabischer Kulturaustausch im Schnittpunkt Kairo, Bonn 2005, 118–121, 118. 9 Markus Fischer, Deutschsprachige Literatur arabischer Migranten und die ägyptische Germanistik, in: Haridi, a.a.O., 103–106, 106. 10 Fatah, Land, 119. 11 Ebd.

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Die Orientreise Kaiser Wilhelms II. 1898 Pilgern im Kraftfeld der Macht Thomas Benner Geht das überhaupt zusammen: Pilgern als aktives Staatsoberhaupt? Pilgern und Repräsentieren? Pilgern und Macht ausüben? Persönliches religiöses Statement und Staatsraison unter einen Hut bringen, und sei es eine Kaiserkrone? Die Orientreise Wilhelms II. 1898 steht im Fokus dieser Untersuchung. Zunächst wollen wir die politischen Rahmenbedingungen der Reise klären, um anschließend Überlegungen zu ihrer Bedeutung anzustellen; und zwar für den deutschen Protestantismus, für den deutschen Katholizismus und für die zionistische Bewegung. Wilhelm II.: Pilger, Kaiser, „Herr der Mitte“: Welche Schlussfolgerungen für die Frage nach der religionspolitischen und mentalitätsgeschichtlichen Bedeutung des deutschen Kaisertums können gezogen werden?

1. Politische Rahmenbedingungen einer politischen Pilgerfahrt „Man braucht die Palästina-Fahrt des deutschen Kaiserpaares mit den Kreuzzügen deutscher Kaiser im Mittelalter an Wichtigkeit nicht zu vergleichen; genug, daß die tiefe Sehnsucht, den heiligen Stätten andachtsvoll zu naher und dem Orient die Segnungen des von ihm ausgegangenen Evangeliums wiederzubringen, im Laufe der christlichen Zeitrechnung bei Fürsten und Pilgern immer wieder von neuem groß und ernst gewesen ist. Aber die volle, im Bewußtsein des Volkes wiederklingende, herzlich verstandene Bedeutung dieser Kaiserreise, unabhängig von jeder Vergleichung, liegt darin, daß sie, aus dem Verlangen gläubiger Seelen entsprungen, zu einem rühmlichen Bekenntnis deutscher Glaubenstreue geworden ist.“1 So beginnt die große Programmschrift zur kaiserlichen Pilgerfahrt, die den religiösen Aspekt der Reise herausstellen sollte. Am 12. Oktober brachen Kaiser Wilhelm II. und Kaiserin Auguste Victoria zu einer sechswöchigen Reise, die auch als Pilgerreise verstanden und rezipiert wurde, in den Orient auf. Reiseziele waren Konstantinopel, mit einem mehrtägigen Staatsbesuch bei Sultan Abdul Hamid II.; im Zentrum der Planung stand Palästina: Am Reformationstag sollte die neue evangelische Erlöserkirche in Jerusalem eingeweiht werden. Damaskus war das dritte Hauptziel. Vom Besuch Ägyptens wurde aus diplomatischen Gründen kurzfristig abgesehen. Nach der Rückkehr hielt Wilhelm II. am 1. Dezember 1898 seinen feierlichen Einzug in Berlin. Die Reise hatte viele Facetten. Es ging um deutsche Kirchenpolitik, um europäische Außenpolitik – und nicht zuletzt stand der Besuch im Heiligen Land. Wilhelm II. pil1 Das deutsche Kaiserpaar im Heiligen Lande im Herbst 1898. Mit Allerhöchster Ermächtigung Seiner Majestät des Kaisers und Königs, Berlin 1899, IV–V.

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gerte – aber eben im Kraftfeld der Macht, in der Fülle seiner politischen und religiösen Rollen. Zehn Jahre herrschte der Hohenzoller inzwischen über das Deutsche Reich. Die außenpolitische Situation stellte sich vorübergehend günstig dar. Großbritannien und Frankreich standen einander in einem ernsthaften Konflikt bei Faschoda am oberen Nil gegenüber, der im November zu einer internationalen Krise führte, während derer Deutschland politisch umworben wurde. Das Osmanische Reich war seit 1894/95 völlig isoliert. Pogrome an der christlichen armenischen Bevölkerung in Ostanatolien empörten die europäischen Großmächte. Die vom Berliner Kongress 1878 geforderten Maßnahmen zur Sicherung der Lebensbedingungen der Armenier waren vom Sultan ignoriert worden. Bis 1896 sind nach vorsichtigen Schätzungen mindestens 100.000 Menschen ums Leben gekommen. Es lagen Beweise für die zentrale Rolle der osmanischen Regierung für Ausbruch und Durchführung der Christenverfolgung vor, die unter dem Deckmantel der Niederschlagung einer nationalen Empörung kaschiert werden sollte. Der britische Politiker Salisbury schlug Wilhelm II. 1895 vor, die Türkei aufzuteilen und politisch aufzulösen. Obwohl der deutsche Kaiser die Pogrome persönlich verurteilte – seine Randnotizen auf Schreiben aus Konstantinopel belegen es –, verhielt er sich in der Öffentlichkeit strikt neutral. Die Versuche Martin Rades in der „Christlichen Welt“ mit äußerster Akribie die Tatsachen über die Armenierverfolgung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rufen, hatten keine Wirkung auf die deutsche Außenpolitik, auch nicht die Kritik der vierten ordentlichen Generalsynode der ev. Landeskirche Preußens (29. November 1897), des katholischen Publizisten Jörg und des Kölner Katholiken-Komitees, geschweige denn der Sozialdemokratie. Von individuellen Ausnahmen abgesehen, existierte im Deutschen Reich kein gesellschaftliches Milieu, das eine affektive positive Verbindung zur Türkei gepflegt hätte, zu fern standen islamische Prägung und despotische Herrschaftsform. Nicht zu vergessen die alte Bedrohung und Feindschaft, die der osmanische Südosten Europas jahrhundertelang für Zentraleuropa dargestellt hatte. Das Deutsche Reich hatte keine territorialen Wünsche in der Türkei, aber es war an wirtschaftlicher Durchdringung und Stabilisierung des „kranken Mannes am Bosporus“ interessiert. Mit Hilfe deutscher Technik und Wirtschaftskraft sollte die Türkei modernisiert und zu einer Aufnahmeregion für deutsche Industrieprodukte herangebildet werden. Erst nach dem Abflauen der Armenierverfolgung entschied sich Wilhelm II. im Sommer 1897, die Einweihung der Erlöserkirche für den Reformationstag 1898 vorzusehen und persönlich teilzunehmen. Am 19. November 1897 erfuhr Sultan Abdul Hamid II. vom frisch ernannten deutschen Botschafter Marschall von Bieberstein, dass Wilhelm II. beabsichtige, ihn im folgenden Jahr zu besuchen. Eine bessere Nachricht hätte der Botschafter gar nicht überbringen können, würde doch durch den Besuch des Kaisers der Ring der Isolation um das Osmanische Reich aufgebrochen. Was hat Wilhelm II. zu dieser Haltung bewogen? Die andauernde Ächtung der Türkei hätte zu Auseinandersetzungen der Großmächte um das Erbe führen können, zum Weltkrieg. Damit wären auch alle deutschen Investitionen in der Türkei bedroht gewesen. Das Auswärtige Amt war zudem der Ansicht, dass ein Besuch Palästinas nicht ohne eine Aufwartung beim Staatsoberhaupt der Region möglich sei. Nicht zuletzt aber wollte der Kaiser die Ursprungsorte des Christentums besuchen.

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Die Orientreise Kaiser Wilhelms II. 1898

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2. Welche Bedeutung hatte die Orientreise für den deutschen Protestantismus? Die deutschen evangelischen Gemeinden in Jerusalem und Haifa waren zahlenmäßig nicht bedeutend, sie umfassten etwa 500 Mitglieder. Auf etwa 1.500 Menschen belief sich die Zahl der württembergischen Templer, einer Sekte, die aus dem schwäbischen Pietismus hervorgegangen war und eschatologische Hoffnungen mit dem Heiligen Land verband, politisch mit dem Alldeutschen Verband liiert. Aber um diese 2.000 Deutschen ging es eigentlich weniger. In allen Landeskirchen hat der Jerusalems-Verein, ein Hilfswerk zur Unterstützung der Diaspora in Palästina, Mittel gesammelt und auf die religiöse Bedeutung des Heiligen Landes hingewiesen. Die Zeitschrift „Neueste Nachrichten aus dem Morgenlande“ informierte die in der Pfarrerschaft vor allem Preußens vertretenen Mitglieder über das evangelische Christentum im Orient, das sich durch das Engagement Johann Ludwig Schnellers und der Kaiserswerther Diakonissen vor allem sozialdiakonisch präsentierte. In Jerusalem selbst hatte König Wilhelm I. 1869 das Terrain des sogenannten Muristan als persönliches Geschenk von Sultan Abdülaziz erhalten. Kronprinz Friedrich Wilhelm hatte das Gelände 1869 in Besitz genommen. Das heißt, der preußische Monarch verfügte über Grundbesitz in Jerusalem, und zwar über die Stätte des alten Johanniter-PilgerHospitals und der Ruinen der Kirche Sancta Maria Latina. Es handelte sich um eine prestigeträchtige Immobilie. Neben Kaiser Konstantins Grabeskirche gelegen, hatte es älteste und beste Kreuzfahrertradition. Man muss sich vor Augen halten, dass im Zuge der Romantik im Deutschland der Mitte des 19. Jh.s die Wiederaufnahme mittelalterlicher Traditionen Hochkonjunktur hatte, wie es der Weiterbau des Kölner Domes unter Friedrich Wilhelm IV. belegt. Er war es auch, der 1841 als Summus Episcopus Preußens in Jerusalem ein gemeinsames englisch-preußisches Bistum mit der anglikanischen Kirche ins Leben rief, das bis 1886 bestand. Als Frucht der Beziehungen zwischen Wilhelm II. und Abdul Hamid II. wurde am Reformationstag 1893 auf dem Johanniterterrain der Grundstein für die ev. Erlöserkirche gelegt. Wilhelm II. wurde von manchen Protestanten in die Nähe Kaiser Friedrichs II. gerückt, der 1228 Jerusalem auf dem Vertragswege für die Kreuzfahrer zurückgewonnen hatte. Eine Vielzahl historischer Motive und Assoziationen begann sich um den Deutschen Kaiser zu verdichten. Auf Wunsch des Kaisers lud der Präsident des preußischen ev. Oberkirchenrats Barkhausen im Juni 1898 alle deutschen Landeskirchen und mehrere ausländische Kirchen der Reformation zur Teilnahme an der Einweihung der Erlöserkirche ein. Problematisch war, dass die Konsistorien und Kirchenleitungen Deutschlands in der Regel den staatlichen Kultusbehörden unterstellt waren und in ihrem Haushalt für 1898 keine Mittel für die Orientreise eingestellt hatten. In Preußen wurden die Reisegelder – man musste mit gut 1.500 Mark rechnen, also etwa zwei Jahreslöhnen eines Arbeiters oder einem Halbjahresgehalt eines Pfarrers – rasch vom Kultusministerium bewilligt. Andere Landeskirchen hatten Probleme mit der Finanzierung. Nur zwei Kirchen fehlten schließlich: MecklenburgStrelitz, da Großherzog Friedrich-Wilhelm die Hohenzollern verabscheute und als notorischer Geizhals bekannt war, sowie Lippe-Detmold, dessen Graf 1898 in einen politischen Konflikt mit Wilhelm II. geriet. Schweden-Norwegen, die Lutheraner der USA, Ungarn und die Waldenser sandten Delegierte.

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Die Einladung Wilhelms II. an die evangelischen Bundesfürsten misslang jedoch völlig. Keiner der Fürsten wollte wie ein Lehnsmann dem pilgernden Kaiser in den Orient folgen, staatsrechtlich war das Deutsche Reich ja nur ein Bund der Fürsten und Freien Städte mit dem preußischen König als Inhaber des Präsidiums. Die Vorstellung, mit dem extrovertierten Wilhelm II. mehrere Wochen zu verbringen, führte dazu, dass außer Johann Albrecht von Mecklenburg-Schwerin überhaupt niemand antwortete. Die Einladung musste zurückgenommen werden, indem das Auswärtige Amt nun behauptete, unter „Teilnahme“ hätte man nicht die Teilnahme an der Reise in persona gemeint, sondern Teilnahme im Sinne ideeller oder materieller Unterstützung. Man konnte von Glück reden, dass die Öffentlichkeit hiervon nichts erfuhr, so dass der Vorgang heute nur aus den Akten zu erarbeiten ist. Aber: Annähernd der gesamte deutsche und wesentliche Teile des ausländischen Protestantismus trafen sich in Jerusalem. Eine solch hochkarätige und zahlreiche Versammlung hatte seit der Wiedereinweihung der Wittenberger Schlosskirche 1892 nicht mehr stattgefunden, nun aber auch noch im Ausland, vor den Augen der Weltöffentlichkeit, in der Stadt, die für Juden und Christen höchsten Stellenwert einnahm. Allerdings: Der intellektuelle Protestantismus, die Professoren und Hochschullehrer fehlen in den Listen der Teilnehmer. Das konservative Milieu der „Positiven Union“ der preußischen Landeskirche überwog. Die kirchlichen Delegierten und Mitglieder des ev. Zweiges des Johanniterordens charterten unter Leitung des preußischen Evangelischen Oberkirchenrates den britischen Dampfer Midnightsun, der von Genua über Alexandria nach Jaffa fuhr. Am 25. Oktober 1898 kamen die kirchlichen Gäste in Jerusalem an. Die Reiseberichte, Briefe und Tagebücher zeigen, dass man an „Jerusalem, die hochgebaute Stadt“ gedacht hatte, an eschatologische Verklärungen einer mythischen Gottesstadt, der Pilgerstadt schlechthin. Man kam aber in Jeruschalajim bzw. Al-Quds an, einer orientalischen Mittelstadt. Einer Stadt, bewohnt von etwa 60.000 Menschen, von denen Zweidrittel Juden waren, die während der letzten Generation aus dem Zarenreich ausgewandert waren, um Pogromen zu entgehen. Einer Stadt mit einer Vielzahl orientalischer Kirchen, die sich um heilige Orte stritten, einer Stadt, die von Muslimen bewohnt war. Nicht das himmlische Jerusalem – eine heruntergekommene und halbverfallene Stadt bot sich den Protestanten, die sich durchaus als „Pilger“ verstanden. Wie erfuhren die Protestanten den christlichen Orient? Bezeichnend ist, dass es eine ganze Reihe von Bemerkungen gibt, die der Grabeskirche mit äußerster Distanz begegneten, dagegen die schlichte kühle Architektur des Felsendomes und der Al-Aqsa Moschee als spirituell verwandt wahrnahmen. Alte ikonoklastische Traditionen, Vergeistigung und Ablehnung materieller Frömmigkeitsformen teilten diese Anhänger der Reformatoren mit den Anhängern Muhammads. Wilhelm II. brachte es auf den Punkt: „The Church of the St. Sepulchre is so filled with lamps, pictures & other paraphernalia of half a dozen of different Christian faiths that it looks like something between a bazaar & a Chinese temple, but certainly not like a Church! I return to my conviction that that can not be the place of our Saviours grave.“2 2 In: Alex Carmel/Ejal Jakob Eisler, Der Kaiser reist ins Heilige Land. Die Palästinareise Wilhelms II. 1898 (Abhandlungen des Gottlieb-Schuhmacher-Instituts, Universität Haifa), Stuttgart-Berlin-Köln 1999, Abb. 141, 173f (Fotographie des Autographs).

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Der Kaiser hatte inzwischen den Sultan besucht und war mit den Vertretern des Hofes, der Diplomatie und des Militärs am 25. Oktober in Haifa gelandet. Von türkischem Militär bewacht, bewegte sich die kaiserliche Karawane von etwa 2.000 Menschen über Jaffa am 29. Oktober nach Jerusalem. „Gott aus Zion grüße dich, Sein Antlitz leuchte dir; Gesegnet, der da kommt im Namen des Herrn! Aus der Stadt der Pracht, Der Herrlichkeit Sitz, Ging nach Zion dein Verlangen. Jeruschalajim Trost zu spenden, Mahnte dein hehrer Geist; Gesegnet, der da kommt im Namen des Herrn! […] Willkommen deutscher Kaiser, Willkommen deutsche Kaiserin in Jerusalem!“3 Ein Messias-Hymnus auf den Kaiser, gesungen von Kindern einer jüdischen Schule am neu von der jüdischen Gemeinde errichteten Triumphbogen zu Ehren der deutschen Gäste! Auch der Jubel der deutschen Delegierten und Touristen war ungeheuer. Am 30. Oktober erfolgte ein Besuch von Kaiser, Hof und Kirchenvertretern in Bethlehem. Hier hielt der Leipziger Superintendent Oskar Pank eine Predigt, in welcher er diesen Kongress als „freies ökumenisch-evangelisches Konzil“4 bezeichnete, eine wichtige Feststellung, zeigt sich doch, dass die in den Landeskirchen organisierten Protestanten – gerade auch im Gegenüber zum Katholizismus – um größere innere und äußere Nähe rangen. Die Einweihung der Erlöserkirche am Reformationstag stellte zweifellos den Höhepunkt dar. Wilhelm II. verlas nach dem Segen eine sorgsam vorbereitete Ansprache, in welcher deutlich wurde, dass die Hohenzollern sich als evangelische Christen fühlten und der Kirche gegenüber völlig loyal waren. Dass der preußische Summus Episcopus in imperatorischer Gewandung, nämlich der gold-silbernen Uniform der Garde du Corps und einem Kreuzfahrerumhang unter den Klängen von „Tochter Zion“ die Kirche betrat, dass in der Apsis auf seinen Wunsch ein Christusmosaik angebracht war, das dem Christusmedaillon der konstantinischen Lateranbasilika in Rom glich, zeigte: Wilhelm II. betrat die Kirche gleichsam als neobyzantinischer Priesterkönig, der weltliche und geistliche Macht vereinigte. Oberhofprediger Dryander meinte: „Als die Trompeten und Posaunen, nun begleitet von allen Stimmen der herrlichen neuen Orgel den dritten Vers anstimmten, und die Gemeinde einfiel: ,Hosianna, Davids Sohn, seht er kommt, ein König mild‘ – da war es um mich geschehen.“5 Eine ausgezeichnete Beschreibung der religiösen Empfindungen, die der Got-

[Friedrich Wilhelm Barkhausen,] Das Deutsche Kaiserpaar im Heiligen Land im Herbst 1898. Mit Allerhöchster Ermächtigung Seiner Majestät des Kaisers und Königs bearbeitet nach authentischen Berichten und Akten, Berlin 1899, 193f. 4 Heinrich Niemöller, Hinauf gen Jerusalem. Gedenkbuch der offiziellen Festfahrt zur Einweihung der Erlöserkirche. Im Namen der beauftragten Kommission herausgegeben, Berlin 1899, 168, vollständiger Text 163–170. 5 Ernst von Dryander, Erinnerungen aus meinem Leben, Bielefeld-Leipzig 1922, 219f. 3

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tesdienst auslöste, aber auch der theatralischen Mittel musikalischer und szenischer Steigerung, die eingesetzt wurden. Man war nicht einfach ergriffen, man wollte und sollte ergriffen werden. Die klassische Formel von Thron und Altar genügt nicht, um die Rolle des Kaisers zu beschreiben. Nein: Der Thron war gewissermaßen selber zum Altar geworden. Ob Alexander Ritter von Schneider aus München, Paul Bard aus Schwerin, Friedrich Naumann oder Ernst von Dryander: Sie alle waren sich einig, dass Wilhelm II. mit seinem persönlichen Beitrag zur Einweihung der Erlöserkirche das Verhältnis der deutschen Protestanten zum Deutschen Kaiser entscheidend stabilisiert und verbessert hatte.

3. Welche Bedeutung hatte die Orientreise für den deutschen Katholizismus? Unmittelbar nach dem Sturz Bismarcks erfolgte am 12. Mai 1890 eine Eingabe des katholischen Landrats Leopold Janssen mit der Bitte, der Kaiser möge die Erwerbung des Coenaculums, des Abendmahlssaales auf dem Berg Zion fördern. Von einem solchen Versuch, der wegen der Eigentumsverhältnisse zur Verschlechterung der türkisch-deutschen Beziehungen hätte führen müssen, sah die Regierung ab. Das Coenaculum, ein Kreuzfahrerbau in unmittelbarer Nähe zur sogenannten Dormitio, dem Sterbeort Mariens, gelegen, war ein wichtiges Prestigeobjekt für den internationalen Katholizismus. Bisher war es nicht möglich gewesen, hier Terrain zu gewinnen. Im Februar 1898 erfolgte eine erneute Eingabe, diesmal von Georg Kardinal Kopp, dem Erzbischof von Breslau. Botschafter von Bieberstein erhielt im Mai 1898 von Staatssekretär von Bülow den Auftrag, in Konstantinopel vorzufühlen, ob ein Erwerb inzwischen möglich sei. Nach langwierigen Verhandlungen gelang es dem Botschafter, den Sultan zur Genehmigung des Erwerbs der Dormitio zu bewegen. Diese Geheimverhandlungen zogen sich bis zum Oktober 1898 hin. Inzwischen fand eine heftige Auseinandersetzung um die Vertretungsansprüche Frankreichs für die Katholiken im Ostteil des Osmanischen Reiches statt. Seit 1740 hatte die französische Krone die diplomatische Vertretung übernommen. Durch die Reichsgründung 1871 standen die deutschen Katholiken in Palästina aber unter dem Schutz der Reichsregierung, während Frankreich darauf beharrte, dass katholische Institutionen nicht über die individuellen Rechte von Mitgliedern, sondern über die institutionell-kollektiven Rechte der Einrichtungen vertreten werden müssten. So hatte nicht einmal der Heilige Stuhl einen Botschafter in Konstantinopel, sondern musste sich durch den republikanischen Botschafter Frankreichs vertreten lassen. Bei mehreren Auseinandersetzungen deutscher katholischer Einrichtungen in Palästina mit dem französischen Konsulat war es zu Reibereien gekommen. Wer hatte nun eigentlich das Vertretungsrecht? Das deutsche Auswärtige Amt vertrat die Position, die Reichsverfassung sei einziges Kriterium für deutsche Reichsbürger. Papst Leo XIII. lavierte zwischen den Fronten. Kardinal Kopps Vorstoß, das Auswärtige Amt in der Frage des Erwerbs heiliger Stätten um Hilfe zu bitten, war der Versuch, die kaum lösbare Rechtsfrage durch Fakten zu entscheiden. Wer den Katholiken am wirkungsvollsten half, würde in Zukunft de facto, wenn auch nicht de jure, das Protektorat über die deutschen Katholiken einnehmen.

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Wilhelm II. entschied persönlich, von jeder Brüskierung der Muslime abzusehen und nur das Terrain der Dormitio zu erwerben. Dazu musste der Sultan als Strohmann dienen. Die Dormitio hatte nach muslimischem Recht den Status einer religiösen Stiftung. Der Sultan erwarb das Grundstück in seiner Rolle als Kalif und verkaufte es an Wilhelm II. weiter. Dies alles wurde erst spruchreif, als der Kaiser auf seiner Yacht Hohenzollern nach Konstantinopel fuhr. Die Presse erfuhr nichts. Am 29. Oktober platzte die Bombe. Bei einem Empfang der Würdenträger Jerusalems teilte Wilhelm II. dem lateinischen Patriarchen Piavi und Pater Schmidt, dem deutschen Vertreter der Katholiken, mit, am 31. Oktober werde er das Terrain der Dormitio in Besitz nehmen. Nun konnten die französischen Katholiken oder Diplomaten nichts mehr ausrichten. Am Nachmittag des Reformationstages, also nur wenige Stunden nach der Einweihung der Erlöserkirche, fand die feierliche Inbesitznahme statt. Papst Leo XIII. bedankte sich herzlich für das Engagement des Kaisers in einem Telegramm, die Katholiken in Deutschland äußerten sich zufrieden, ja begeistert. Der deutsche Katholizismus entwickelte in der Folge eine deutlich loyalere Haltung gegenüber dem protestantisch dominierten Reich der Hohenzollern. 1910 konnte die Dormitio-Kirche eingeweiht werden. Warum setzte sich Wilhelm II. für die deutschen Katholiken in Palästina ein? Zum einen war das Reichsoberhaupt an einer fairen Behandlung der zweitgrößten christlichen Konfession in Deutschland interessiert. Zum anderen bedeutete die Dormitio-Affäre eine Schwächung des politischen Einflusses Frankreichs im Osmanischen Reich. Zum dritten hatte im Frühjahr die Zentrumsfraktion im Reichstag den Aufrüstungsplänen für die Reichsmarine zugestimmt. Das heißt, die kaiserliche Regierung arbeitete in wichtigen Fragen künftig mit dem Zentrum zusammen, eine spannungsvolle Arbeitsgemeinschaft, die nicht von Liebe getragen wurde, aber von gegenseitiger Akzeptanz. Die Katholiken entwickelten eine Kaiserdevotion, die der der Protestanten nur wenig nachstand.

4. Welche Bedeutung hatte die Orientreise für den Zionismus? Theodor Herzl wurde in Paris 1895 zum Zeugen der Degradierung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus, der des Landesverrats beschuldigt worden war. Die Ausschreitungen gegen französische Juden überzeugten Herzl, dass die Judenfrage in Europa nur durch Auswanderung zu lösen sei. Zwar war Herzl nicht der Erfinder des Zionismus, er wurde jedoch zum Motor der Bewegung, der er in Basel 1896 beim 1. Internationalen ZionistenKongress Ausdruck verlieh. Ziel war die Schaffung einer Heimstätte für das jüdische Volk. Bereits 1895 entschied sich Herzl, den Deutschen Kaiser zum Protektor des Zionismus gewinnen zu wollen. Warum? Der deutsche politische Antisemitismus verlor ab Mitte der 1890er Jahre an Kraft. Gegenüber dem Antisemitismus im Zarenreich und in ÖsterreichUngarn, nun auch in Frankreich, schien Deutschland unter Wilhelm II. vergleichsweise als ein Hort des Friedens. Durch Vermittlung Friedrichs I. von Baden und des deutschen Botschafters in Wien, Philipps zu Eulenburg, gelang es Herzl, den Kaiser für die Frage des Zionismus zu interessieren. In einem Brief vom 29. September 1898 an Friedrich I. zeigte sich Wilhelm davon überzeugt, dass der Zionismus eine Chance hätte. Er erklärte sich bereit, das Protektorat anzunehmen. Er schrieb: „Überall erhebt die Hydra des rohesten,

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scheußlichsten Antisemitismus ihr greuliches Haupt, und angsterfüllt blicken die Juden – bereit, die Länder, wo ihnen Gefahr droht, zu verlassen – nach einem Schützer! Nun wohlan, die ins Heilige Land zurückgekehrten sollen sich Schutzes und Sicherheit erfreuen, und beim Sultan werde ich für sie interzediren.“6 Trotz der Gegnerschaft Staatssekretärs von Bülow erreichte Herzl am 18. Oktober sein Ziel. Er traf den Kaiser in einer Geheimaudienz in Konstantinopel. Wilhelm II. und Herzl waren sich einig, daß der Kaiser den Sultan bitten solle, eine „Chartered Company“ in Palästina zuzulassen, also eine halbautonome jüdische Siedlungsbewegung. Innerhalb der nächsten vier Tage erfuhr der Kaiser zu seiner Bestürzung, dass der Sultan keinen Quadratmeter seines Reiches abtreten werde. Die Argumentation lautete, als Kalif könne er nicht Land abtreten, ohne die Integrität des islamischen Reiches zu gefährden. Herzl hatte die Zusage erhalten, in Jerusalem werde eine Begegnung zwischen Wilhelm II. und einer zionistischen Delegation stattfinden, dann solle das Projekt offen dargelegt werden. Herzl machte sich voll Hoffnung auf den Weg nach Palästina. Am 2. November fand die angekündigte Audienz statt. Der Kaiser versprach nichts, man wolle die Pläne prüfen. Die Presseverlautbarung, die von Bülow herausgab, lautete: „Auf die Ansprache des Führers der Deputation erwiderte der Kaiser, daß alle diejenigen Bestrebungen auf sein wohlwollendes Interesse zählen könnten, die auf die Hebung der Landwirtschaft in Palästina zum Besten der Wohlfahrt des türkischen Reiches unter voller Respektierung der Souveränität des Sultans abzielten.“7 Herzl wusste es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber seine Pläne waren gescheitert. Warum übernahm Wilhelm II. das Protektorat über die Zionisten schließlich doch nicht? Die Nachteile einer Destabilisierung der Türkei wogen schwerer als die Vorteile einer Lösung der Judenfrage, die in Deutschland auch nicht so brennend wie in anderen europäischen Ländern schien. Trotz persönlicher Sympathie für den Führer der Zionisten setzten sich auch bei Wilhelm II. Vorurteile gegenüber den Juden durch, wie unter anderem ein Brief an seine Mutter Victoria belegt, den der Kaiser zwei Wochen später schrieb.8

5. Schluss Wilhelm II.: Pilger, Kaiser, „Herr der Mitte“ – welche Schlussfolgerungen lassen sich zur Klärung der Frage nach der religionspolitischen und mentalitätsgeschichtlichen Bedeutung des deutschen Kaisertums ziehen? Der Titel „Herr der Mitte“ ist ein Terminus des Kultursoziologen Nicolaus Sombart, der die zentrale Bedeutung des Kaisers für die wilhelminische Gesellschaft herausgearbeitet hat.9 Sombart sieht die rituellen Abläufe des Hofzeremoniells und der kaiserlichen Reprä-

6 Brief Wilhelms II. an Friedrich I., 29. September 1898, in: Walther Peter Fuchs, Großherzog Friedrich I. von Baden und die Reichspolitik 1871–1907, Bd. 4, Stuttgart 1980, Nr. 1892. 7 Frankfurter Zeitung Nr. 304 v. 3. November 1898. Vgl. die Darstellung bei Barkhausen, Kaiserpaar, 287f mit Literaturhinweisen zum Zionismus bis 1898. Vgl. Neue Preußische Zeitung Nr. 515 v. 3. November 1898. 8 Englischer Text des Briefes in: Bernhard Fürst von Bülow, Denkwürdigkeiten 1, Berlin 1930, 235–237. 9 Nicolaus Sombart, Wilhelm II. – Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1996.

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sentationspflichten als Teil des sogenannten „Königsrituals“, eines sinnstiftenden Systems, das den Kaiser als Repräsentations- und Identifikationsmodell für den deutschen Bürger (oder Untertan) in den Mittelpunkt stellte. Leider vernachlässigt Sombart die religiöse Dimension des Kaisertums, obwohl es in einer vom Christentum geprägten Gesellschaft inkulturiert war. Es ist schon aus methodischen Gründen so gut wie unmöglich, sich mit der Person des Kaisers auseinanderzusetzen, ohne die religiöse Sprache und die religiösen Handlungen des Protestanten Wilhelm II. wahrzunehmen. Wer die religiöse Prägung des Kaisers und des Wilhelminismus nur als Oberflächenphänomen abtut, begibt sich des Verständnisses einer Tiefendimension dieser Zeit. Affekt und Ratio prägten in eigenartig schillernder Mischung den Zeitgeist. 1. These: Wilhelm II. stand im Mittelpunkt eines komplexen Rollengefüges der Konfessionen und Religionen, verschiedener Schichten und Milieus. Ein Teil dieser Rollen fußte in der preußischen und deutschen Verfassung. Andere Erwartungen wurden auf den Kaiser als dem Träger des alten europäischen Kaisermythos projiziert. Wilhelm II. nahm diese Rollen an, er wurde „Herr der Mitte“. Seine Rolle als moderner Pilger verband ihn mit der Kreuzfahrertradition. Er sah sich als Pilger im Kraftfeld der Macht. 2. These: Der pilgernde Kaiser übernahm die Rolle eines Vermittlers zwischen Gott und Untertanen, nahm hohepriesterliche, wenn nicht messianische Züge an. Eine Vielzahl panegyrischer Texte aller Konfessionen bezeugt, dass von Wilhelm II. die Funktion eines Heilsmittlers, der Vergewisserung gibt, Sinn stiftet und Hoffnung weckt, erwartet wurde. 3. These: Sein Amt führte die Energien antagonistischer Gruppierungen zusammen. Protestanten und Katholiken sowie Juden arbeiteten loyal am Aufbau des Reiches mit. In Bismarcks Ära wäre es ausgeschlossen gewesen, dass der deutsche Kaiser an einem Tag eine evangelische Kirche weiht und den Katholiken ein wichtiges Grundstück zum Kirchenbau übergibt. 4. These: Wilhelm II. hielt ein national eingefärbtes Christentum in zwei konfessionellen Spielarten für die Leitkultur, die den Nährboden für das Gedeihen Deutschlands bot. Und dies nicht nur aus politischen Gründen, sondern aus innerer Glaubensüberzeugung heraus. Das großangelegte Kirchenbauprogramm der Zeit war ein Versuch zur Re-Christianisierung der Gesellschaft. Er scheiterte jedoch an der Komplexität des sozialen Gefüges. Eine Leitkultur hat Deutschland schon in der Kaiserzeit nicht gehabt. 5. These: Wilhelm II. – der affektgeladene Romantiker, der Förderer modernster Wissenschaft und Technik, der pilgernde Christ, der Militarist, der Nationalist – war Exponent aller dieser Spannungen der deutschen Gesellschaft, er bildete sie in seiner Person ab. Die komplexe Auseinandersetzung mit der Moderne innerhalb der traditionsgeleiteten christlichen Kon-

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fessionen und die Herausforderung durch gesellschaftliche Innovationsschübe verunsicherten Menschen aller Milieus und Schichten und ließ sie im Kaiser einen Integrator und ein Spiegelbild ihrer selbst suchen. Wir lesen die hymnischen Texte der Kaiserdevotion, die mit dem biblischen Messianismus und der Pilgertradition Jerusalems wie der Kreuzzugsära so eng verbunden sind, heute mit Distanz. Aber wenn wir uns eher an Wilhelms II. Scheitern in politischen Fragen und persönlich fragwürdige Züge erinnern, dann, weil wir ihn 2019 aus der Perspektive der Zeit nach der kollektiven Katastrophe des 1. Weltkriegs betrachten. Die Kritik, die er auch schon vor 1918 erfuhr, ändert nichts an seiner Bedeutung für einen großen Teil der Bevölkerung, selbst im sozialdemokratischen Lager, dem sein Reich keine innere Heimat bot. Wir schließen mit einem Zitat Walther Rathenaus aus dem Jahre 1919, aus seiner Studie „Der Kaiser“: „Dies Volk in dieser Zeit, bewußt und unbewußt, hat ihn so gewollt, hat sich selbst in ihm so gewollt, nicht anders gewollt. In der unbeschreiblichen Dramatik ihrer Geschichtswebung hat es Klio gefallen, in einem großen Menschenschicksal den Deutschen ihr zeitliches Wesen, ihre Selbstentfremdung, ihren Abgott und ihren Sturz zu verknüpfen. Niemals zuvor hat so vollkommen ein sinnbildlicher Mensch sich in der Epoche, eine Epoche sich im Menschen gespiegelt.“10

6. Übersicht über die Forschungsgeschichte Die Literaturbasis zur Orientreise ist überraschend schmal. Grundlegend ist der Aufsatz von Horst Gründer: Die Kaiserfahrt Wilhelms II. ins Heilige Land 1898. Aspekte deutscher Palästinapolitik im Zeitalter des Imperialismus.11 Zu erwähnen ist die Monographie von Jan Stefan Richter: Die Orientreise Kaiser Wilhelms II. 1898,12 die 1997 erschien: Die politische Aufarbeitung ist gelungen, die religiöse Dimension der Reise wird hier weitestgehend ausgeblendet. Den zionistischen Aspekt bearbeitet Axel Meier, Die kaiserliche Palästinareise 1898.13 Einige Aufsätze in der von Karl-Heinz Ronecker u.a. herausgegebenen Festschrift14 zum hundertjährigen Jubiläum der Erlöserkirche sind lesenswert, unter anderem der Beitrag von Alex Carmel,15 dem Kenner deutscher Siedlungsbemühungen in Palästina. 10 Walther Rathenau, Der Kaiser. Eine Betrachtung, Berlin 1919, 24. 11 In: Heinz Dollinger u.a., Weltpolitik, Europagedanke, Regionalismus. FS für Heinz Gollwitzer zum 65. Geburtstag am 30.Januar 1982, Münster 1982, 363-388. 12 Jan Stefan Richter, Die Orientreise Kaiser Wilhelms II. 1898. Eine Studie zur deutschen Außenpolitik an der Wende zum 20. Jahrhundert (Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit 9), Hamburg 1997. 13 Axel Meier, Die kaiserliche Palästinareise 1898. Theodor Herzl, Großherzog Friedrich I. von Baden und ein deutsches Protektorat in Palästina (Konstanzer Schriften zur Schóah und Judaica 5), Konstanz 1998. 14 Karl-Heinz Ronecker/Jens Nieper/Thorsten Neubert-Preine, Dem Erlöser der Welt zur Ehre. FS zum hundertjährigen Jubiläum der Einweihung der evangelischen Erlöserkirche in Jerusalem, Leipzig 1998. 15 Alex Carmel, Der Kaiser reist ins Heilige Land. Realität und Legende, in: Ronecker u.a., Erlöser, 116– 135. Gleicher Beitrag in der reichhaltigen Bilddokumentation, Ders./Ejal Jakob Eisler: Der Kaiser reist ins Heilige Land. Die Palästinareise Wilhelms II. 1898 (Abhandlungen des Gottlieb-SchuhmacherInstituts, Universität Haifa), Stuttgart-Berlin-Köln 1999.

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Er nimmt aber die landeskirchliche Beteiligung an der Reise kaum wahr und hält Wilhelm II. für einen schlichten Pilger, der aus rein religiösen Gründen nach Palästina fuhr. Vorsichtig ausgedrückt, besteht hoher Differenzierungsbedarf. Der Bestand zeitgenössischer Quellen ist erfreulich umfangreich. Archivalien staatlicher und kirchlicher Archive stehen zur Verfügung, viele davon wurden bisher nicht veröffentlicht und sind meines Wissens auch noch nicht bearbeitet worden. Zeitgenössische Pressestimmen und stenographische Protokolle der Reichstagssitzungen zur Orientreise runden das Bild ab. Die Person Kaiser Wilhelms II. ist aus kirchengeschichtlicher Sicht bisher kaum Gegenstand der Forschung gewesen. Eine Ausnahme bietet Hans Rall mit der Untersuchung eines Bekenntnistextes des Kaisers von 1929.16 Die Klärung der persönlichen Religiosität des Kaisers und der religiösen, sinnstiftenden Bedeutung des Kaisertums als integrativem Amt über allen Milieus, Schichten und Konfessionen ist ein Desiderat der Forschung.17

16 Hans Rall: Zur persönlichen Religiosität Kaiser Wilhelms II., in: ZKG 95 (1984), S. 382–394. 17 Vgl. dazu Thomas Benner, Die Strahlen der Krone. Die religiöse Dimension des Kaisertums unter Wilhelm II. vor dem Hintergrund der Orientreise 1898, Marburg 2001 (zugl. Habil. Univ. Leipzig 2001).

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Umbruch und Kontinuität Ostsyrisches Pilgerverständnis in frühislamischer Zeit Ovidiu Ioan Es wäre eigentlich eine Plattitüde einfach zu behaupten, dass das Pilgerwesen im Orient der Spätantike ein vielfältiges Phänomen war, das im Rahmen eines einzigen Aufsatzes nicht zu behandeln ist. Und trotzdem bildet gerade die Komplexität des Themas den Ausgangspunkt meiner Untersuchung, denn sie begründet die methodischen Unterscheidungen, derer ich mich bediene, um das mir anvertraute Thema zu überblicken und daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen. Zunächst möchte ich festhalten, dass mein Fokus nicht bei der Infrastruktur dieses Phänomens liegt – also beim Netzwerk der Pilgerorte, der Reiserouten, etc. –, sondern bei den unterschiedlichen Begründungen und Ziele einer Pilgerreise und vor allem beim theologischen Verständnis einer wie auch immer gearteten Pilgerspiritualität. Die verschiedenen Quellen zum Thema bieten nur einzelne Puzzleteile eines Gesamtbildes, das es zu rekonstruieren gilt, weil im syrischen wie im griechischen Sprachraum die literarische Gattung der (Pilger)Reiseberichte, die im lateinischen Christentum als itinerarium bekannt geworden ist, nach meiner Kenntnis fehlt. Wir greifen deswegen zurück auf Chroniken spätantiker und mittelalterlicher Kirchenhistoriker, auf Biographien von denen, die Pilgerreisen unternommen, auf Beschlüsse von Kirchenversammlungen, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt, sowie auf Briefe und andere Schriftstücke christlicher Autoren, die sich u. a. auch mit dem Thema des Pilgerns oder mit verwandten Themen beschäftigt haben. Die Quellen geben nicht nur mehr oder weniger historische Fakten zu Personen oder Ereignisse früherer oder eigener Zeiten wieder, sondern auch Hinweise über diesbezügliche Erwartungen, ja sogar Anforderungen der Leserschaft. Unter diesem Druck bekam die kumulierte Tradition um eine berühmte Persönlichkeit der Kirche mit der Zeit in der Regel immer mehr Züge, die einerseits der Person selbst dazu verhalf, aktuell zu bleiben, und es andererseits den späteren Autoren ermöglichte, sich dessen Berühmtheit zu bedienen, um neue Trends im Leben der Kirche zu rechtfertigen, für die der Held literarisch als Vorbild gelten sollte.

1. Zentrales und lokales bzw. regionales Pilgern Die erste für das Thema wichtige Unterscheidung verdanken wir vor allem Brouria BittonAshkelony von der Hebrew University in Jerusalem. In ihren Veröffentlichungen zum

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Thema1 entwickelt Bitton-Ashkelony grundlegende Thesen zum Verständnis des Pilgerwesens in der Spätantike. Sie untersucht anhand patristischer und vor allem monastischer Literatur die Gründe der offensichtlichen Spannung zwischen einem von ihr als „central pilgrimage“ genannten Pilgern nach Jerusalem und in das Heilige Land einerseits und einer als lokale oder regionale Wallfahrt bezeichnete Pilgerpraxis andererseits, bei der Märtyrergräber und Klöster der bekannten Heiligen aufgesucht wurden. Die Zentralität Jerusalems in der Pilgerpraxis der Christen in der Spätantike beruht nicht unbedingt auf der Intensität des Phänomens an sich, also auf einer quantitativen Überlegenheit im Vergleich zu anderen christlichen Pilgerzielen, sondern darauf, dass Jerusalem und das Heilige Land von Pilgern aus allen Regionen des christlichen Ausbreitungsraums besucht wurden, während die lokalen Pilgerorte jeder Region sich nur einer regionalen Pilgerschaft erfreuten. Diese Unterscheidung trifft zu, wenn man sich die Pilgerziele der ostsyrischen Christen anschaut. Zwar werden bis zur islamischen Eroberung im 7. Jh. relativ wenige Berichte über Pilgerreisen nach Jerusalem in den Quellen belegt, aber die Pilger aus dem ostsyrischen Kernraum (Mesopotamien, Persien und von der arabischen Halbinsel) zeigen deutlich ihre Präsenz und ihre Teilhabe an diesem Massenphänomen der christlichen Spiritualität. Im Rahmen dieses Beitrages werde ich hier nur auf einen Aspekt, nämlich auf die Frage nach dem Einfluss der islamischen Eroberung auf die Pilgerreise nach Jerusalem eingehen. Darüber berichten nämlich die Briefe des Katholikos-Patriarchen Īšōʿjahb III. aus der ersten Hälfte des 7. Jh.s. Er erzählt von reisenden Christen „aus dem Heiligen Land und der Stadt des größten Königs“ und „Diener der heiligen Orte“, die in der „Hoffnung auf eine bessere Amtsgewalt“ eine Reise von Jerusalem nach Hīra, der ehemaligen Hauptstadt der Lakhmiden, in der Pufferzone zwischen dem persischen Großreich und der arabischen Halbinsel führten.2 Von Hīra seien sie in die Hauptstadt zum Katholikos-Patriarchen Mār Emmeh gereist. Mit ein wenig Hilfe und einem Brief des Katholikos-Patriarchen seien sie dann nach Arbela zu Īšōʿjahb gekommen. Der Metropolit schickte sie „mit leeren Händen“ und nur mit Briefen nach Nisibis weiter. Dem dortigen Metropoliten Isaak riet Īšōʿjahb, die Reisenden mit dem üblichen Reisegeld oder Brot zu unterstützen. Isaak und die Stadt würden dafür von der gesamten Kirche gelobt werden. In diesem Zusammenhang kommt Īšōʿjahb auf die Heiligkeit der Heiligen Stätte zu sprechen, die für ihn daher rührt, dass die Erde Palästinas das Blut des Erlösers aufgenommen und den Körper Christi getragen hatte, der den Tod vernichtete. In den Zeiten der persischen Herrschaft im Westen konnte sich die Kirche des Ostens in Palästina, Ägypten, Syrien und auch in Jerusalem etablieren. Möglich wäre also, dass diese Reisenden Teil dieses weitflächigen Netzwerkes ostsyrischer Kirchengemeinden gewesen sind. Der vielbeachtete wirtschaftliche Faktor des Pilgerwesens kommt hier in einer unerwarteten Perspektive zur Sprache. Nach der islamischen Eroberung, als die Glaubensbrüder aus dem Osten wahrscheinlich nicht mehr nach Jerusalem pilgern konnten, waren die dortigen Christen genötigt, selbst zu Pilgern zu werden und die Gebiete ihrer vorherigen Gäste zu bereisen, um die gewöhnliche Unterstützung zu bekommen. 1 2

Darunter auch ihr Buch: Encountering the Sacred. The Debate on Christian Pilgrimage in Late Antiquity, London u.a. 2005. Īšōʿjahb III., Liber Epistularum, ed./trans. Rubens Duval, Leipzig-Paris 1905, M.XXXII, 216 (syr.), 157 (lat.).

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Einige Jahre nach der islamischen Eroberung wird Īšō‛jahb selbst zum aksenaya, zum Pilger, wenn auch unfreiwillig. Aufgrund einer Auseinandersetzung mit dem Wali, dem islamischen Gouverneur von Seleukia-Ktesiphon muss er zunächst nach Nisibis und dann nach Edessa fliehen, wo er das Mandylion, das ἀχειροποίητος Christusbild gesehen haben soll. Unterwegs schreibt er mehrere Briefe, darunter auch einen Antwortbrief an das Volk von Jerusalem.3 Die Namen der Adressaten verraten, dass diese keine ostsyrischen Christen waren, sondern höchstwahrscheinlich zur griechisch-sprachigen chalkedonischen Gemeinde Jerusalems gehörten. Die Erinnerung an Jerusalem löste beim Katholikos eine Vision aus; die aktuelle Lage der Stadt sah er in Kontrast zu zwei alten Epochen ihrer Geschichte: die Zeit des Königs David und die Zeit nach der Ankunft Christi. Nun aber, wo die Schatten des Niedergangs auf die Welt fallen, sei auch Jerusalem von Mangel betroffen und gezwungen, sogar in der verwüsteten Gegend von Seleukia nach Unterstützung zu suchen. Īšōʿjahb lobt Gottes Vorsehung und Weisheit, denn die Gelegenheit, Jerusalem beizustehen, bedeute, dass die Kirche des Ostens in gleicher Heiligkeit dastehe. Die finanzielle Not der Heiligen Stadt und die Tatsache, dass seine eigene Kirche als Förderin der Heiligen Stätte auserwählt worden war, will der Katholikos als Bestätigung Gottes für die Gleichrangigkeit seines Patriarchats mit dem von Jerusalem verstehen. Doch die theologische Deutung des Katholikos steht in Kontrast zu seiner tatsächlichen Unterstützung. Er bot der Kirche in Jerusalem nur „eine kleine Summe aus unserer großen Kirchenprovinz an“. Theologisch bleibt das Bild Jerusalems den aktuellen Interessen des Patriarchen verhaftet und die Autorität und Ansehen des Leidensortes Christi wird stets für die Stärkung seiner eigenen Position benutzt. Im Mittelalter häufen sich die Beispiele pilgernder Christen aus dem syrischen Raum nach Jerusalem, was dafür spricht, dass nach der schwierigen Phase während der islamischen Eroberung die Praxis des Pilgerns nach Jerusalem und ins Heilige Land eine Fortsetzung erlebt und intensiviert wird.4 Damit steht sie im Zeichen der Kontinuität mit der Entwicklung in vorislamischen Zeiten.

2. Pilgern zu Reliquien und zu lebenden Heiligen Die zweite wichtige Unterscheidung machte Georgia Frank in ihrem Buch The Memory of the Eyes.5 Sie untersucht nicht nur, wie die Orte der Wirkung bedeutender Persönlichkeiten und ihrer Ruhestätte eine wichtige Rolle bei den spätantiken Pilgern spielten, sondern auch, wie die Personen selbst zeit ihres Lebens Pilger angezogen haben. Dabei war sie besonders an der Sinnenhaftigkeit der Berichte über die Begegnungen der Pilger mit asketisch lebenden Menschen sowie mit Orten der biblischen Vergangenheit interessiert. Wie ihre Kollegin aus Jerusalem, fokussiert auch sie ihre Forschung auf die Quellen monastisch-asketischer Literatur. Sie untersucht u.a. die Schriften Ephrems des Syrers und 3 4 5

Īšōʿjahb III., Liber Epistularum, K.XIII, 245–247 (syr.), 177f (lat.). Jean Maurice Fiey, Le pèlerinage des Nestoriens et Jacobites à Jérusalem, in: CCMéd 46 (1969), 113– 126. The Memory of the Eyes. Pilgrims to Living Saints in Christian Late Antiquity (Transformation of the Classical Heritage 30), Berkeley 2000.

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kommt zu dem Ergebnis, dieser habe die Voraussetzungen für ein sensibles Bewusstsein durch Nähe (a sensory awareness through proximity) geschaffen. Sie beobachtet bei einigen Autoren von Biographien monastischer Persönlichkeiten, dass für ihre Helden die Auferstehung des Leibes keine biblische Verheißung mehr ist, sondern eine sichtbare Wirklichkeit. Sie bezieht sich hierfür auch auf die Ergebnisse ihrer amerikanischen Kollegin Susan Ashbrook Harvey, die für das frühe syrische Christentum eine Tendenz feststellt, durch eine Spiritualität, die nach lebendigen Symbolen sucht, extreme Aktionen hervorzurufen (extreme action through a spirituality that called for lived symbols).6 Tatsächlich begegnen uns in den ostsyrischen Quellen sowohl Pilgerreisende zu Reliquien als auch zu lebenden monastischen Figuren. Als Beispiel für eine besondere Wallfahrt zu Reliquien möchte ich eine Reise vorstellen, die im Jahr 630 im Anschluss an die Gesandtschaft der sassanidischen Großkönigin Boran an den byzantinischen Kaiser Heraklius wegen der Verlängerung der Friedensverträge stattgefunden hat. Mitglieder der bischöflichen Delegation sollen u.a. der Bischof Īšōʿjahb von Niniveh (der zukünftige Katholikos Īšōʿjahb III., 649/650–659/660) und Sahdōnā, Bischof von Mahōzē d’Arēwan in Bēth Garmai gewesen sein. Nach dem erfolgreichen Abschluss der diplomatischen Mission ergriffen die beiden Bischöfe die Gelegenheit und unternahmen, zusammen mit ihrem Amtskollegen Johannan, dem Bischof der Zerstreuten der Region um Damaskus, eine Pilgerreise nach Antiochien und durch das Gebiet von Apamea.7 In Antiochien verbrachten die drei Bischöfe mehrere Tage und fanden Unterkunft in einer der dortigen Kirchen. Darin befand sich ein weißer, mit dem Kreuz Christi und zwei Cherubim geschmückter Heiligenschrein zur Verehrung. Den Bischof Īšōʿjahb von Niniveh faszinierte die Wirkung des Schreines auf die Gläubigen. Der Chronist Thomas, der im 9. Jh. Bischof von Marga in Adiabene war, berichtet, Īšōʿjahb habe selbst die wunderbaren Taten gesehen, die durch diesen Heiligenschrein, in welchem sich Reliquien der Apostel befanden, vollbracht wurden. Die Strahlkraft, die diese Reliquien auf die Pilger entfaltete, veranlasste Īšōʿjahb dazu, diese kurzerhand zu entwenden und sie nach Bēth ʿAbhē in sein eigenes Kloster zu transportieren. Doch nicht nur dieser ungewöhnliche Akt eines geistlich vermeintlich gerechtfertigten Raubs machte die Pilgerreise des Bischofs und seiner Begleiter zu einer bemerkenswerten Episode. Im Gebiet von Apamea führten die drei Bischöfe ein Religionsgespräch mit den Mönchen eines „häretischen“ Klosters. Der Chronist geht so weit zu behaupten, die Bischöfe hätten die Novizen zu ihrem Glauben bekehrt. Doch die Einladung des Abtes zum Gespräch lehnten die Bischöfe ab. Nur der Bischof Sahdōnā nimmt sie an und wird – so Thomas – von dem „Zauberabt“ verhext, so dass er seine Rechtgläubigkeit verliert. Obwohl der Bericht in vielem historisch unglaubwürdig ist, z. B. in Bezug auf die Pilgerreise, so zeigt er jedoch, wie schnell sich eine eigentliche Dienstreise in eine Pilgerreise und dann in einen Missionszug verwandeln konnte, und auch wie gefahrvoll und überraschungsreich eine solche Reise war. Er zeugt von der großen Anziehungskraft von Reliquien und von der interkonfessionellen Verehrung, die sie erfahren haben. Der Bericht be6 7

Susan Ashbrook Harvey, Asceticism and Society in Crisis. John of Ephesus and the Lives of the Eastern Saints, Berkeley 1990, 7. E.A. Wallis Budge, The Book of Governors: The Historia Monastica of Thomas of Marga AD 840 I–II, Piscataway/NJ 2003 (= Thomas of Margā), I, 71 (syr.), 127 (engl.).

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stätigt aber auch die Konkurrenz der dogmatischen Kontrahenten und dass die Legende über die Translation der Reliquien von der apostolischen Wirkungsstätte nach Bēth ʿAbhē ein fester und wichtiger Bestandteil der Verehrung dieser Reliquien in Adiabene war. Als Beispiel für die Wallfahrt zu lebenden Heiligen dient auch eine Person aus der Umgebung des Patriarchen Īšōʿjahb III., nämlich sein Vater Bastohmag. Die Historia Monastica des Thomas von Margā berichtet über eine Reise, die Bastohmag unternahm, um sich von Jaʿqōb von Bēth ʿAbhē segnen zu lassen und dabei auch seine dortigen Besitztümer zu inspizieren.8 Unterwegs musste er über die sogenannte „Königsbrücke“ hinübergehen. Bastohmag sah dort mehrere Frauen, die ihre Kleider wuschen und Lieder sangen. Thomas von Margā beschreibt sie als „Hexen“ und berichtete, dass die Bevölkerung der Gegend tanzte, als sie die Lieder der „Teufel“ hörte. Ein kleines Textstückchen eines von den Frauen gesungenen Verses ließ Bastohmag nicht mehr los, und er begann darüber zu grübeln. Sofort seien ihm Dämonen erschienen, die ihm ihre Dienste anboten. Aus seiner Angst heraus reagierte er den Dämonen gegenüber mit kräftiger Abwehr und befahl ihnen, einen Stapel aus Steinen zu errichten. Die Steine seien als Beweis dieses Geschehens bis in die Zeit des Thomas von Margā hinein zu sehen gewesen und erinnerten an den Kampf des Persers mit seinen Widersachern. Die Erlösung von der Bedrängung durch die „Dämonen“ fand er bei Rabban Jaʿqōb von Bēth ʿAbhē. Der Mönch schrieb das, was Bastohmag gehört hatte, mit dem Finger auf die Erde. Darüber machte er dann das Kreuzzeichen. Daraufhin habe Bastohmag den Text vergessen und die Dämonen seien verschwunden. In der Form einer Wundererzählung und im Rahmen einer Wahlfahrt wird die Konversion oder die Wiederkehr zum Christentum eines persischen Adligen festgehalten, um die Leserschaft zu ermutigen, lebende Heilige aufzusuchen und sich durch sie belehren und segnen zu lassen. Allerdings kann man diese Unterscheidung zwischen dem Pilgern zu Reliquien oder bibelhistorischen Stätten und der Wahlfahrten zu lebenden Persönlichkeiten nicht auf jede Pilgerreise anwenden, da man oft die beiden miteinander verknüpft bzw. neue Pilgerziele für sich entdeckt hat. So berichten sowohl die Chronik von Seert9 als auch ein späterer hagiographischer Text,10 dass nach dem Abschluss seiner theologischen Bildung und einer kurzen Lehrtätigkeit in Arzun und Nisibis der spätere Katholikos Mar Aba (540–552) eine lange Reise durch das byzantinische Reich unternommen habe. Der Hagiograph spricht geradezu von einem Zwang, in das römische Reich zu gehen, „einmal, um die ersehnten Stätten der Heiligen zu sehen, um den Segen ihres Gebetes zu empfangen, dann wegen eines Mannes namens Sergius, der die arianische Gesinnung mit Heidentum verband, mit dem er disputieren und den wahren Glauben befestigen wollte.“11 Wir können nicht eruieren, was der Autor mit den „ersehnten Stätten der Heiligen“ gemeint haben könnte, zumal im weiteren Verlauf der Reise Mar Aba stets als lehrender und segenspendender Kirchenvater porträtiert wird. Wir können aber Sergius in der Person des syrisch-orthodoxen Gelehrten Sergius von 8 Thomas of Margā I, 48f (syr.), 84 (engl.). 9 Chronik von Seert II, Kap. XXVII. 10 Oskar Braun, Ausgewählte Akten persischer Märtyrer, mit einem Anhang: Ostsyrisches Mönchsleben, (BKV 1.22), Kempten-München 1915, Kap. 20, Mâr Abâ. 11 A.a.O., 20, 6.

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Rešaina identifizieren. Ein Protokoll der Debatte mit diesem oder eine weitere Erwähnung einer Disputation mit ihm fehlen in dem uns erhaltenen Text, so dass beide Begründungen der Wallfahrt im Reisebericht de facto keine Rolle spielen. Jedenfalls sind sich die Quellen einig, dass Mar Aba zunächst nach Edessa ging, wo er sich von einem gewissen Thomas Griechisch beibringen ließ. In Begleitung von Thomas führte der Weg dann nach Ägypten. Die Chronik von Seert berichtet von einem Aufenthalt in Alexandria, wo er die noch erhaltenen Schriften des Theodor von Mopsuestia sammelte und mit den dortigen Miaphysiten disputierte. Daraufhin wurden sie aus der Stadt vertrieben und mussten nach Konstantinopel fliehen. Kaiser Justinian soll von ihnen in Erfahrung gebracht und versucht haben, sie zur Verwerfung der Lehre von Diodor von Tarsus, Theodor von Mopsuestia und Nestorius von Konstantinopel zu zwingen. Aufgrund ihrer Verweigerung soll Justinian sie sogar zur Verstümmelung verurteilt haben, doch die Bischöfe von Konstantinopel zeigten Respekt vor Mar Aba, und die ostsyrischen Theologen konnten fliehen. Der spätere Hagiograph (eine genaue Datierung ist nicht möglich) liefert eine andere Route der Wahlfahrt. Er weiß um Edessa und das Erlernen des Griechischen von demselben Thomas und vom Aufbruch nach Ägypten. Er erzählt zunächst von einer Station in der ägyptischen Wüste, wo Mar Aba „viele durch seine Lehre und seine Sitten“ erleuchtet haben soll, bevor er nach Alexandrien ging und dort „die heiligen Schriften Griechisch erklärte und bekehrte viele“12. Von da ging er nach Athen. Die Wahlfahrt wird zu einem Siegeszug des rechtgläubigen Theologen durch die wichtigsten Stätten theologischer und philosophischer Bildung des spätantiken römischen Reiches. Durch die nicht zu übersehende Parallele zur Missionsreise des Apostels Paulus wird Mar Aba zum Apostel der gesamten Christenheit stilisiert. Ganz Achaia hätte von seiner Gelehrsamkeit geschwärmt, noch bevor er in Konstantinopel per Schiff antraf, wo er ein Jahr lang den wahren Glauben lehrte. Der Autor beschreibt, wie die Bewohner der Reichshauptstadt zu Mar Aba geradezu pilgern, um seinem Unterricht beizuwohnen, und dabei bringen sie ihm „nicht wenig Gold und kostbare Kleider“, von denen er natürlich nichts annimmt, sondern „sich von seiner Hände Werk nährte, soweit der Lebensunterhalt es erforderte, indem sie Körbe (σπυρίς) flochten und verkauften und (davon) lebten“. Bevor er nach Nisibis zurückkehrte, durchzog Mar Aba auch noch das Gebiet von Kilikien und bekehrte Räuber in der Gegend von Thebais. Der Hagiograph vergisst nicht nachträglich zu erwähnen, dass „sogar der Kaiser des Abendlandes ihn wegen des Rufes seiner Lehre und seiner Frömmigkeit zu sehen begehrte.“ Allerdings lehnte Mar Aba die Einladung ab und ging fort nach Antiochia. Sieht man von den üblichen rhetorischen Mitteln eines hagiographischen Textes ab und vergleicht man die Ergebnisse mit dem Bericht in der Chronik von Seert, kann man daraus einige wichtige Erkenntnisse zu unserem Thema herausarbeiten. Die Reise beginnt als Studienreise nach Edessa, der ehemaligen Ausbildungsstätte der persischen Christen, wo man früher die Schriften des Theodors unterrichtet und teilweise ins Syrische übertragen hatte. Unter der Begleitung von Thomas als Kenner des Griechischen suchte er nach Schriften Theodors in Alexandria. Dieser Teil der Reise wird von Kosmas Indikopleustes bestätigt, der in seiner christlichen Topographie über die Begegnung mit Patrikios (griech. Überset-

12 Braun, Akten, 20,7.

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zung des syr. Aba) und die Gespräche mit diesem berichtet.13 Ein Besuch bei den Wüstenasketen ist nicht unwahrscheinlich, zumal Nestorius selbst in die Gegend exiliert wurde und dort starb, aber es scheint eher eine Rückprojektion aus der späteren monastischen Überlieferung über die Verbindungen der ostsyrischen Mönche zur Tradition ägyptischer Wüstenväter zu sein. Die Reise ändert wieder ihr Profil und wird zum Missionszug in die Reichshauptstadt Konstantinopel, wo Mar Aba wahrscheinlich auch das Buch Liber Heraclidis des Nestorius gefunden hat, wie es aus der Einleitung der von ihm in Auftrag gegebenen syrischen Übersetzung zu entnehmen ist. Die Wahlfahrt des Mar Aba zeigt, wie vielschichtig die Zielsetzung einer Pilgerreise zumindest in ihrer literarischen Niederschrift sein konnte und welche unerwartete Wendungen sie erfuhr. Weder Reliquien oder Pilgerorte noch berühmte Heiligen und Asketen werden ausdrücklich erwähnt, wohl aber Orte der theologischen Bildung (Edessa, Alexandria, Konstantinopel) und … Bücher!

3. Wallfahrt und Mönchtum Mit diesen allgemeinen Unterscheidungen und Ergänzungen zu den Pilgerzielen und Pilgerzwecken der ostsyrischen Christen im Hinterkopf möchte ich mich nun einer These widmen, die Brouria Bitton-Ashkelony in ihren Studien entwickelt, indem sie zwei Schwerpunkte ihrer Forschung miteinander verbindet, nämlich das Pilgern und das Mönchtum. Sie vertritt die Meinung, dass „the religious experience of pilgrimage was deeply rooted in monastic culture“14. Ihre eigene Ausgangsthese formuliert sie im Anschluss an Dupront: „I identify the essence of this practice in late antiquity as the desire of the pilgrim – steeped mainly in monastic culture – to be in a state of alienation from the world so as to be able to encounter the sacred.“15 Nicht nur als kulturelle Größe der Spätantike, sondern auch als Netzwerk von sakralen Orten habe das Mönchtum das Pilgerwesen entscheidend geprägt: „The monastic movement contributed to the dissemination of concepts concerning the sanctity of the tomb and its special powers well beyond the walls of the monasteries. This network of sacred tombs within the monasteries reinforced the practice of regional and local pilgrimage; access to the sacred became available to believers in every remotest corner of Christendom.“16 Ihre These stützt sie hauptsächlich auf zwei Argumente: das Konzept der Entfremdung (gr. ξενιτεία, syr. aksenaiutha) und die Anwendung des Topos der Pilgerreise nach Palästina, Sinai und Ägypten in den syrischen Mönchsbiographien, die sie als ein Bestandteil des asketischen Diskurses zur Gestaltung einer monastischen Identität in der west- wie in der ostsyrischen Kirche betrachtet. 13 Cosmas Indikopleustes, Topographie chrétienne II.2 (SC 141), Paris 1968, 306f. 14 Brouria Bitton-Ashkelony, Encountering the Sacred. The Debate on Christian Pilgrimage in Late Antiquity, Berkeley-Los Angeles-London 2005, 205. 15 A.a.O., 10. 16 Bitton-Ashkelonys Perspektive stimmt mit den Ergebnissen der Untersuchung von Antoine Guillaumont, Le dépaysement comme forme d’ascèse, dans le monachisme ancien, in: École pratique des hautes études. Section des sciences religieuses 76 (1967), 31–58 überein. Guillaumont untersucht die wichtigsten Zeugnisse dieses Konzeptes in der ostkirchlichen Tradition und berücksichtigt dabei einige Quellen der syrischen monastischen Literatur, allerdings geht er kaum auf die ostsyrischen Quellen ein.

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Als hermeneutische Schlüssel für die Texte werden Begriffe wie „identity“ und „encounter with the sacred“ angewendet, denn das Ziel aller Pilger sei die Erfahrung der Selbsttransformation und die Suche nach einer neuen Identität durch die Begegnung mit dem Heiligen. Noch ein drittes Beweismittel schwingt in ihrer Argumentation mit: ein vermeintlicher Machtkampf der lokalen Kirchenleitungen, mit ihren je eigenen lokalen und regionalen sakralen Landschaften, gegen die starke Anziehungskraft des Heiligen Landes und anderer Pilgerorte und implizite gegen die Pilgerfreudigkeit der Mönche. 3.1 Die Weltentfremdung (gr. ξενιτεία, syr. aksenaiutha) Dieses theologische Konzept baut sowohl auf alttestamentlichen Vorbildern wie Abraham, auf antiken paganen Parallelen im Stoizismus und im alexandrinischen Judentum bei Philon wie auf dem neutestamentlichen Bild Christi selbst auf, der als Fremder unter den Menschen dargestellt wird. Diese Ansicht – begründet mit Bibelstellen wie Mt 8,20 und 1 Pet 2,11 – wird mehrfach in der monastischen Literatur vertreten. Sie hat eine doppelte Bedeutung: einerseits körperliche und geographische Entfernung von vertrauten, komfortablen Orten, die die Menschen auch stark binden und in Anspruch nehmen; andererseits gedankliche Abtrennung von allen weltlichen Freuden, Zusammenhalten, Bräuchen und Lebensmodellen, Trost und Fürsorge etc., d.h. eine spirituelle Entfremdung von allen Bequemlichkeiten des Lebens.17 Zweifellos galt die Weltentfremdung in ihrer doppelten Bedeutung und in der Jesus-Nachfolge als genuine christlich-asketische Tugend. Das Pilgern an sich wurde allerdings nur bedingt als Konsequenz des eremitischen Weltentzuges praktiziert. Schaut man auf die in den Quellen angegebenen Gründe des Wanderns für die Mönche, dann kommt man auf folgende vier Beweggründe: 1. erprobte Traditionen von Mönchsvätern kennenlernen (das erinnert an das Pilgern zu lebendigen Heiligen); 2. Vermeidung von Gemeinschaftsbildung sprich Jüngerkreis; 3. Verlangen nach Einsamkeit; 4. Vermeidung von kirchlichen Ämtern. Doch Guillaumont unterscheidet den ersten von den übrigen Gründen: Es sei eher eine Pilgerreise als eine monastische ξενιτεία, auch wenn die beiden Motive Anbetung und Askese (dévotion et ascèse) gemischt bleiben.18 Damit trennt Guillaumont die beiden asketischen Praktiken Pilgern und Weltentfremdung voneinander aufgrund ihrer Motivation. Darüber hinaus macht Guillaumont eine wichtige Beobachtung zum Wesen der ξενιτεία und stellt fest, dass sie auch eine starke Bindung an die Sprache als Kommunikationsmittel besitzt, allerdings im Sinne des Verzichtes. Der Fremde bleibt aufgrund der sprachlichen Barriere immer fremd. Im spirituellen Sinne wird die Entfremdung auch als Zucht der Zunge gedeutet, wodurch man die Familiarität mit allen Menschen vermeidet. Wenn man dazu bedenkt, dass die eremitische Lebensweise die Gemeinschaftsbildung vermied und nach Einsamkeit strebte, dann bleibt das Ideal der Weltentfremdung fern von Ansprüchen an einer kommunikativen Identitätskonstruktion.

17 Guillaumont, Le dépaysement, 42: „personne ne le connaîtra; ce sera alors pour lui l’absence de considération, voire le mépris, et, de plus, personne ne lui venant en aide, l’indigence et le dénuement.“ 18 A.a.O., 38.

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In der syrischen Literatur wird eine weitere Unterscheidung gemacht, die relevant für das Verhältnis zwischen dem monastischen Ideal der Weltentfremdung und der Praxis des Pilgerns ist. Die zurückgezogenen aksenaye (die vor allem eine innerliche, sogar auf die eigene Zelle zentrierte Spiritualität praktizieren) werden als monastische Vorbilder dargestellt, während die meshanneyane, die Wanderasketen (die sich für ein äußerliches Leben kontinuierlichen Wandelns entschieden haben), unter dem Vorwurf der Vagabondage und der Bezichtigung als Messalianer regelrecht diskreditiert werden.19 Das Wandermönchtum als spezifische Form der Askese im syrischen Christentum war nicht missionarisch motiviert, sondern asketisch.20 Der Einfluss des Messalianismus auf das syrische Mönchtum brachte eine dezidierte Reaktion seitens der Kirchenleitung hervor, darunter die Reorganisierung des ostsyrischen Mönchtums in Anlehnung an das ägyptische Mönchtum unter der geistlichen Leitung des Abraham von Kaškar sowie eine Klostervisitation Babais des Großen im Auftrag der mesopotamischen Bischöfe, um die Einhaltung der neuen Klosterregel zu überprüfen. Obwohl keine der neuen Regeln Angaben über den Gehorsam gegenüber der bischöflichen Autorität machen, geht Florence Jullien mit Recht davon aus, dass dies nicht unbedingt als eine Distanzierung der Mönche im Hinblick auf die Hierarchie zu deuten ist.21 Die Skepsis und die leichte Kritik an der ξενιτεία mit Berufung auf Joh 4,44 führt dazu, anstatt einer örtlichen oder familiären Entfremdung ein spirituelles Verständnis der aksenaiutha zu vertreten im Sinne eines Fremdseins, wo immer man auch sich befindet. Damit lässt sich die Entfremdung mit einer gewissen Ortsgebundenheit vereinbaren, die Guillaumont in Anlehnung an das mittelalterliche lateinische Mönchtum peregrinatio in stabilitate nennt. Aus der Perspektive der Auffassung von aksenaiutha im ostsyrischen wie auch im ägyptischen Mönchtum kann diese m.E. unmöglich als die Wurzel der Pilgerpraxis gedeutet werden. 3.2 Der Wallfahrt-Topos in den hagiographischen Mönchsviten Der Prozess der Domestizierung und Verkirchlichung des syrischen Mönchtums im 6. und 7. Jh. nach dem Vorbild des ägyptischen Mönchtums führte dazu, dass Ägypten als monastischer Pilgerort par excellence in den Quellen zu finden ist. Nicht nur Abraham von Kaškar, sondern auch anderen ostsyrischen Mönchen wird eine Wallfahrt in die Sketis zugesprochen. Der Topos der Pilgerreise in die ägyptische Wüste ist eher in diesem spezifischen Kontext als Qualitätssiegel zu deuten und nicht allgemein als „a visiting card promoting the charisma and stature of the monk“ zu verstehen. Nicht Pilgern an sich verleiht dem Mönch eine charismatische Autorität, wie Bitton-Ashkelony die Absicht der syrischen Hagiographen zu erklären versucht, sondern die Sketis selbst als hochstilisierter Geburtsort des christlichen Mönchtums und Heimat berühmter Mönchsväter. Das Blatt wendet sich

19 Kanon VIII, Synode Īšōʿyahb I. (585), in: Synodicon Orientale ou Recueil des synodes nestoriens, hg. u. übers. v. Jean-B. Chabot, Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothèque Nationale 37, Paris 1902, 144f (syr.), 406f (fr.). 20 Belege bei Guillaumont, Le dépaysement, 46. 21 Florence Jullien, Le monachisme en Perse. La reforme d’Abraham le Grand, pere des moines de l’Orient (CSCO 622), 2008, 170.

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teilweise in der abbasidischen Zeit, als Bagdad zur Hauptstadt einer intensiven Übersetzungs- und Buchkultur und zum Pilgerort koptisch-ägyptischer Christen wird. Auch Jerusalem als Pilgerort erlebt in den Quellen eine gewisse Transformation. Nannte Abraham von Kaškar im 6. Jh. seine Mitmönch „die Pilgerbrüder von Izla“ und verglich das monastische Leben mit einer Wallfahrt nach Jerusalem, so antwortete einige Jahrzehnte später, wohl nach der islamischen Eroberung, der Mystiker Johannan von Dalyatha auf die Frage eines Bruders, ob er nach Jerusalem pilgern soll, mit der Ermutigung, in seiner Zelle zu bleiben und in seinem Inneren zu verweilen. Er brauche nicht nach Jerusalem zu pilgern, weil er selbst Jerusalem sei, und in seinem Inneren werde er Christus sehen, wie er darin das Pascha zelebriert. Jerusalem, als Ort der Kreuzigung Christi, vervielfältigt sich im Herzen eines jeden Christen. Das inwendige Gebet gleicht der göttlichen Liturgie, die ihrerseits den Einzug Christi in Jerusalem und sein Selbstopfer vergegenwärtigt. Der Verstand soll über die Tore der inneren Stadt wachen und die eigenen Gedanken wie Söhne einsammeln. Wie damals die Kinder Jerusalems dem Erlöser Olivenzweige und „Hosianna“-Zurufe darbrachten, so auch jetzt der Asket durch seine auf Christus gerichteten Gedanken. Wenn die wichtigsten Ereignisse der Heiligen Stadt im Verborgenen unmittelbar aktualisiert und erlebt werden können, bestehe also für den Mönch kein Grund, die Begegnung mit Gott im weltlichen Jerusalem oder an einem anderen weltlichen Ort zu suchen.22 Wenn man in den Mönchsgeschichten der ostsyrischen Literatur nach pilgernden Mönchen sucht, wird man von der Statistik nicht wenig überrascht: Von den 140 Mönchsvätern, die im Buch der Keuschheit des Īšōʿdenah von Basra (9. Jh.) vorgestellt werden, waren lediglich neun nach Jerusalem gepilgert, davon vier noch bevor sie überhaupt Mönche geworden sind. In der bereits erwähnten Chronik des Bischofs Thomas von Marga ist die Rede von einem einzigen Jerusalem-Pilger: Abba Enanischo, der griechische monastische Literatur ins Syrische übersetzt hat.23 Derselbe Abba Enanischo überliefert in seiner Sammlung asketischer Literatur die Antwort eines Altvaters auf die Frage seiner Jünger, warum einige Mönchsväter „Pilger“ (mšannyane) genannt wurden, obwohl sie ihre Zellen nie verlassen haben: Die Kraft der stillen Kontemplation, die Nachtwache und das unaufhörliche Gebet habe sie würdig gemacht, diese Welt geistlich zu verlassen und im Himmelreich zu verweilen.24 Angesichts der qualitativen wie quantitativen Untersuchung der Quellenbasis kann daraus nur geschlossen werden, dass für die ostsyrischen Mönche die Wallfahrt nach Jerusalem von geringer Bedeutung war und stattdessen eine innere, mystische Wallfahrt bevorzugt wurde. Der Pilgern-Topos ist in schwer datierbaren Quellen und mit Sicherheit erst ab dem 9. Jh. belegt. Er kann wenig über die ostsyrische Pilgerkultur der Spätantike berichten.

22 Vgl. Johannes von Dalyatha, Briefe, übers. von Matthias Binder (Paradies der Väter – Schriften syrischer Mystik), Beuron 2019; die Antwort wird auch von Gregorius Bar Ebroyo übernommen, vgl. Grégoire Bar Hebraeus, Ethicon, hrsg. von Paul Bedjan, Paris 1898, Buch 1, Kap. 9, 111f. Das Buch ist 1279 verfasst worden, aber summiert eine lange Tradition der syrischen Spiritualität und schöpft sowohl aus west- wie ostsyrischen Quellen. 23 Thomas of Margā II, 78 (syr.), 175 (engl.). 24 Paul Bedjan, Acta martyrum et sanctorum VII, Paris-Leipzig 1897, 907; vgl. auch Wallis Budge, The Book of Paradise II, London 1904, 1012. Guillaumont, der die Stelle erwähnt, spricht hier von „xeniteía intérieure“, Le dépaysement, 55.

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4. Die Stellungnahme der ostsyrischen kirchlichen Hierarchie Das Thema Pilgern wird in einem Synodalbrief des Katholikos-Patriarchen Īšōʿjahb I. (582–596) thematisiert.25 Adressat des Briefes war der Bischof Jaʿqōb von Darai (Dīrīn), einer Insel vor der nordöstlichen Küste der arabischen Halbinsel, dem heutigen Bahrain.26 Die ostsyrischen Christen waren dort bereits seit dem Ende des 3. Jh.s präsent. Zeitgleich mit der Synode des Jahres 585 wandte sich Bischof Jaʿqōb an den Katholikos mit der Bitte um eine schriftliche Antwort auf eine Liste von 33 Fragen zu kirchlichen Sitten und Gesetzen. Die nach dem Konzil verfasste Antwort Īšōʿjahbs lieferte dem Bischof zwanzig Anweisungen zum kirchlichen Leben, ging über dessen Fragen hinaus und enthielt auch eine Erörterung der synodalen Beschlüsse. Der Brief erlaubt bedingt auch einen Einblick in das Leben der Kirche des Ostens in der Region von Bēth Qatrāyē. Den Bischof Jaʿqōb beschäftigte es unter anderem, dass seine Gläubigen Klöster und Kirchen an anderen Orten aufsuchten. Die Überschrift des Kanons XV verrät bereits den Hintergrund dieses Themas: „Über diejenigen, welche nicht an ihre Kirchen und Klöster ihre Gaben geben und ihre Gelübde und Zuwendungen zur Bedeckung ihrer Sünden gemäß dem allgemeinen Gesetz erfüllen, sondern an fremde Kirchen.“ Es ist die wirtschaftliche Lage der lokalen Kirchen, die den Bischof kümmert. Die Konsequenz des Pilgerns ist der Ruin der örtlichen Gemeindekirchen und der benachbarten Klöster. Dem Katholikos war das Thema nicht fremd. Mehrere Kanones der Synode von 585 beschäftigen sich damit. Bitton-Ashkelony meint, die Synode handle vom Pilgern im Kontext der Organisierung der Ortsgemeinden und evoziere „the topic of monks traveling outside the local bishopric“. Ihre These lautet: „Pilgrimage had become an almost obligatory act of piety in monastic culture and a mark of religious identity created tensions with the local authorities that explain the panic underlying the various canons of the Synod.“27 Kanon X handelt von den heiligen Gebäuden, welche durch den Eifer der Vorfahren gebaut wurden, aber durch die Gleichgültigkeit der Nachkommen verfielen. Es handelt sich um Kirchen und Klöster, die „auf den Namen Christi zu seinem Dienste und seiner Ehre und zur Erholung der Pilger“ gebaut wurden, nun allerdings durch die Nachlässigkeit der dortigen Christen zu Gunsten anderer entfernter Pilgerstätten verkommen. Die Synode ruft 25 Der Brief des Katholikos als auch die Akten der Synode in Chabot, Synodicon Orientale, sowie im Synhados. Das Buch des Synhados oder Synodicon Orientale, übers. Oskar Braun, Stuttgart-Wien 1900, Repr. Amsterdam 1975. Im Folgenden wird die innere Zitation nach Kanones verwendet. 26 Dīrīn oder Dayrin war die wichtigste Stadt der Insel Tarūt (syr. Todōrū), vgl. Jean-M. Fiey, Pour un Oriens Christianus Novus. Répertoire des diocèses syriaques orientaux et occidentaux, Beirut 1993, 74. Fiey hielt diese erste Erwähnung des Bischofssitzes in den synodalen Akten für das Gründungszeugnis und datierte die Gründung des Bistums auf das Jahr 410. Die Insel Tarūt liegt sechs Kilometer östlich von der Stadt al-Qatīf. Ihre durchschnittliche Breite beträgt vier Kilometer; Bin Seray, The Arabian Gulf in Syriac Sources, in: New Arabian Studies 4 (1997), 205–232, 212. Nöldeke hielt es für wahrscheinlich, dass die Insel Dīrīn mit der heutigen Insel Uwāl, „der grössten der Bahrain-Inseln“, identisch sein könnte, Theodor Nöldeke, Die von Guidi herausgegebene syrische Chronik, übersetzt und commentiert (SÖAW.PH 128.9), Wien 1893, 14, Anm. 5 (er stützte sich dabei darauf, dass schon der arabische Historiker und Geograph Yaqut ibn ‘Abdallah al-Hamawi al-Rumi [1179–1229] dies für wahrscheinlich gehalten hatte); wieder aufgenommen bei Bin Seray, 212, Anm. 74. 27 Brouria Bitton-Ashkelony, From Sacred Travel to Monastic Career. The Evidence of Late Antique Syriac Hagiography, in: Adamantius 16 (2010), 353–370, 368.

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die Zeitgenossen auf, die Tempel Gottes nicht mehr verfallen zu lassen und die verfallenen Gebäude wiederaufzubauen. Gleichzeitig begrenzen die ostsyrischen Bischöfe die Möglichkeit, neue Klöster zu errichten. Im darauffolgenden Kanon heißt es: Kein Christ darf ohne Wissen des Ortsbischofs neue Klöster bauen; und wenn er es mit dessen Wissen tut, so soll er den Mönchen ein ausreichendes Einkommen zum Lebensunterhalt und zur Aufnahme der Fremden zuweisen. Die Synode betont also, dass die Stifter nicht nur den Lebensunterhalt der Mönche und der Verwaltung zu decken, sondern auch dafür Sorge zu tragen haben, dass Pilger und andere Reisende im Kloster Unterkunft bekommen. Im 6. Jh. gehörte also die Aufnahme Fremder in den Klöstern zur allgemeinen Praxis, was für das ostsyrische Mönchtum lange Zeit keine Selbstverständlichkeit war. Klöster, die über keine genügenden Mittel verfügten, sind damals offensichtlich zum Skandal geworden, weil sie ihren Zweck nicht erfüllten, darunter auch die Unterbringung und Versorgung der Pilger. Im Kanon XII wird auch das Thema Pilgern unmittelbar angesprochen, denn er handelt „über diejenigen, welche ihre Gaben und Zuweisungen nicht in nützlicher Weise an die Kirchen und Klöster ihrer Ortschaften, sondern aus Ruhmsucht an andere Orte geben“. Der Text berichtet von den „vielen, die vor der Synode darüber erzählt und geklagt“ hätten. Das beweist, dass nicht nur auf der arabischen Halbinsel, also beim Bischof Jaʿqōb, sondern auch in anderen Kirchenprovinzen Bischöfe mit diesem Umstand zu kämpfen hatten. Sie kritisieren, dass „einige Gläubige“ ihre Gaben nicht nach kirchlichen Sitten darbringen, sondern aus Ruhmsucht, zum Vergnügen oder sogar von falschen Vorstellungen getrieben. So geht der Kanon beispielsweise auf die Vorstellung ein, Gott würde erst nach einer längeren Pilgerreise dem Bitten und Flehen der Pilger entsprechen. Diese Vorstellung widerspreche der vollkommenen Lehre. Untermauert wird diese theologische Aussage mit einem Zitat aus Joh 4,24: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, sollen ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten.“ Interessant ist der Kontrast zwischen den vielen, die die herrschende Pilgerpraxis kritisieren, und einigen, die diese Praxis befürworten. Der deutliche Akzent auf dem finanziellen Aspekt des Pilgerns deutet darauf hin, dass vermögendere Christen eher Befürworter der Pilgerpraxis waren.28 Das bedeutet erstens, dass zumindest in der ostsyrischen Kirche die Pilgerreise eine kostspielige Beschäftigung der wenigen Reichen war, und zweitens, dass die Ortskirchen völlig abhängig von diesen reichen Christen waren. Die wiederholte Anklage gegen die Pilger, sie würden nur in die Ferne pilgern, um Ruhm zu erlangen, wirft ein Licht auf die gesellschaftlichen Aspekte des Pilgerns, die neben die spirituellen treten konnten und das auch taten: Schenkungen an bedeutende Pilgerzentren konnten dem Pilger soziales Ansehen verleihen.29 Über die Predigt hätten die Priester versucht, die Pilger zur Räson zu bringen, doch „sie lassen nicht ab von ihrem alten, unsteten Sinn und sind sozusagen ἀκέφαλοι (‫ )ܐܩܝܦܠܘܣ‬wie der Krebs, der keinen Kopf hat, oder αὐτοκέφαλοι (‫)ܐܘܛܝܩܝܦܠܘܣ‬, sich selbst regierend 28 Thomas von Margā überliefert eine Geschichte, die auf die finanziellen Aspekte des Pilgerns hindeutet. Er erzählt von zwei Frauen von Beth Begash, die nach Jerusalem pilgerten und davor ihr Vermögen einem Mönch anvertrauten. Würden sie zurückkehren, gehöre das Geld ihnen, würden sie unterwegs sterben, gehöre das Geld dem Kloster. Vgl. Thomas of Margā, II, 213 (syr.), 410f (engl.). 29 Yazdin hat auch Geldmittel für die Wiedererrichtung der Kirche und Klöster in Jerusalem zur Verfügung gestellt, vgl. Ignazio Guidi, Un nuovo testo Siriaco, sulla storia degli Ultimi Sassanidi, Leiden 1891, 17.22; Nöldeke, Guidi, 27.

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durch Auflehnung, nicht durch Unterweisung“. Die Synode bestätigt hiermit, dass der Brauch des Pilgerns tief verwurzelt in der persönlichen Frömmigkeit der ostsyrischen Christen war, bedauert aber ausdrücklich, dass diese Christen ihr Geld nicht an ihre eigenen Kirchen und Klöster geben, sondern an entfernte Orte. Es handelt sich also nicht um die benachbarten Klöster, die auch Ziel von Pilgerfahrten waren, sondern um bekannte Pilgerzentren in der Ferne. Zum Schluss empfiehlt die Bischofsversammlung „allen Söhnen der Lehre des Lebens […] ihre Gaben und Zuwendungen an die in ihrer Nähe befindlichen Kirchen“ zu verteilen. Verlangen sie jedoch hinzugehen und andere Orte zu besuchen, nachdem sie in ihrer Ortschaft oder Stadt so getan haben, „so hindern wir sie nicht, wenn sie es in rechter Absicht tun.“ Es wird also ein Kompromiss vorgeschlagen: Will man den Segen seiner Kirche bekommen, um Reisen zu entfernten Pilgerzentren zu unternehmen, so soll man zunächst die Ortskirche reichlich beschenken und dem Priester versichern, dass sich hinter dem Wunsch keine religiösen Vorurteile verstecken. In seiner Antwort an den Bischof Jaʿqōb fasst der Katholikos diese drei canones der Synode zusammen. Die Gläubigen seien schuldig, die heiligen Gebäude, Kirchen und Klöster in ihren Dörfern und Wohnsitzen mit geziemender Sorgfalt zu besorgen und dort zur Bedeckung ihrer Sünden ihre Zuwendungen, Gelübde und Gaben zu geben. Damit soll verhindert werden, dass „gewohnheitsmäßiges Umherziehen“ in den Gemeinden herrscht, dass „Gebäude verfallen, Sünden geschehen, die Eigenen Ärgernis nehmen, die Außenstehenden spotten und uns verlachen und die Unterweisung vieler gehindert“ werde. Das „gewohnheitsmäßige Umherziehen“ zeigt an dieser Stelle, dass im Falle der Kirchenprovinz Bēth Qatrāyē Pilgern nicht eine Tätigkeit der wenigen Reichen allein war, sondern wahrscheinlich verschiedene Bevölkerungsschichten einbezog. Es könnte sich auch darauf beziehen, dass die Mönche dieser verarmten Klöster diese verlassen und sich auf die Suche nach anderen stabileren Klöstern begeben, was angesichts der bereits erwähnten messalianischen Einflüsse nicht gerne gesehen wird. Wir begegnen hier zwei neuen Dimensionen des Pilgerwesens, die in den Synodalakten nicht zur Sprache kamen: der Vergebung der Sünden und dem Ablegen von Gelübden. Sie wurden höchstwahrscheinlich aus dem Brief des arabischen Bischofs übernommen und zeugen vom besonderen Wallfahrtsverständnis in den arabischen Bistümern. Auch die Missstände vor Ort sind vielfältiger als die canones der Synode für den Rest der Kirche des Ostens annehmen lassen: Durch „gewohnheitsmäßiges Umherziehen“ entziehen sich die Christen einer regelmäßigen Unterweisung durch die Priester. Ob dies lediglich die Christen aus den nomadischen arabischen Stämmen meint, ist aus dem Text nicht herauszulesen, denn dieser Vorwurf kann sich genauso gut auf diejenigen Christen beziehen, die in den Städten entlang der nordöstlichen Küste der arabischen Halbinsel lebten. Der Katholikos ist an diesem Aspekt besonders interessiert, weil seiner Meinung nach die kirchliche Hierarchie sowohl für die Leitung als auch für die Rechtgläubigkeit der Gemeinde verantwortlich ist: „Nicht soll die Herde Christi sein wie Schafe ohne Hirten, irrend ohne Führer, auf Felsen ohne Weide und Weidenden, voll gefährlicher Tiere.“ Er zitiert dann die Stelle aus dem Kanon XII der Synode, wo die unwissenden Pilger ἀκέφαλοι bzw. αὐτοκέφαλοι genannt wurden, und führt dazu mit Heb 13,17 einen biblischen Beleg über den Gehorsam gegenüber der kirchlichen Leitung an.

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Die Gläubigen sollen auch bedenken, dass die Priester – die sie vernachlässigen und im Stich lassen – jederzeit für sie vor Gott stehen. Wenn sie unterstützt und respektiert werden, tun sie das mit Freude, wenn nicht, zur Klage. Der Katholikos will im Sinne der Synode dafür sorgen, dass die Gläubigen ein korrektes Verständnis und Verhältnis zu Gott, zur Kirche und zur Wallfahrt haben. Deswegen begegnet auch hier die Frage: Warum und für welchen Vorteil reisen die Gläubigen in entfernte Gegenden? Die Antwort des Katholikos erinnert an Kanon XII der Synode. Wenn die Reise zum Vergnügen geschieht, ist das kindisch und trägt nur zur Freude des Leibes bei und nicht der Seele. Wenn die Pilger wegen einer vermeintlichen spirituellen Überlegenheit ihre eigenen Kirchen verlassen und in fernen Kirchen beten, weil sie meinen, dort würde Gott ihre Gebete eher erhören und ihre Wünsche eher erfüllen, so sollen sie wissen, sie irren sich. So wie die Synode, untermauert der Katholikos die Aussage mit dem Text aus Joh 4,24, doch er umschreibt den Text und verleiht seiner Meinung durch die Autorität Christi Nachdruck: „Es kommt die Stunde und jetzt ist sie auch, da man nicht auf diesem Berge Garizim, wie ihr Samariter irrt, noch in Jerusalem, wie die Juden kindisch festhalten, indem sie meinen, dass Gott dort allein wirkt, regiert, antwortet und erhört, (da man) nicht nur dort Gott anbetet. Von nun an lehre ich diejenigen, welche sich von mir in der vollkommenen Lehre unterweisen lassen: ein Geist ist Gott und die ihn anbeten, sollen ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten. Denn der Vater verlangt auch solche Anbeter, die entsprechend der Vollkommenheit und Unbegrenztheit seiner Natur überall vollkommene Anbetung darbringen.“ Das Argument ist ein theologisches: Der unendliche Gott kann nicht an bestimmte Orten gebunden werden, und dementsprechend ist er auch nicht nur an bestimmten Orten anzubeten. Er setzt diese Lehre in Kontrast zu Praktiken aus den vorchristlichen paganen Religionen und aus dem Judentum und führt mehrere Beispiele aus dem Alten Testament an. Aus den ausgewählten Beispielen ist herauszulesen, dass der Katholikos sich vor allem mit der zentralen Stellung Jerusalems in den alttestamentlichen Büchern auseinandersetzt: die Königin von Saba, Naaman der Aramäer, der Mächtige der Kandake, Königin der Kuschiten – all diese Menschen hätten nach dem Wesen Gottes und nach dem Orte, wo ihm gedient wurde, geforscht und wären dorthin geeilt, um ihn anzubeten, ihre Gelübde darzubringen und für ihre Bitten Erhörung zu suchen. Sie alle seien wie das jüdische Volk gewesen, wie ein Kind, das Muttermilch trinkt. Sie alle seien unvollkommen gewesen, weil sie geglaubt haben, Gott handelt und erhört die Gebete nur an einem bestimmten Ort. Mit deutlichen antijüdischen Tönen betont der Katholikos die Unverträglichkeit solcher Vorstellungen mit der christlichen Lehre und führt die Vertreibung der Juden aus Palästina auf Praktiken wie diese zurück. Es spricht also manches dafür, dass das übliche Ziel der Pilgerfahrten, die von den Christen in Bēth Qatrāyē unternommen wurden, das Heilige Land allgemein und Jerusalem im speziellen war. Wie die Synode, empfiehlt auch der Katholikos im Brief seinen Christen, dass sie zunächst die Kirchen und Klöster in ihrer Nähe aufsuchen sollten, und erst dann die in der Ferne. Īšōʿjahb hielt dieses gerade für die arabische Christenheit typische Verhalten nicht für tadelnswert, solange sie sich nach solchen Orten nicht so umsähen, als ob Gott dort mehr oder eher zu finden wäre als an den Kirchen und Klöstern ihrer Heimat. Den aus-

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Umbruch und Kontinuität

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drücklich vom Katholikos-Patriarchen zugestandenen Beweggrund für Wallfahrten zu anderen Kirchen und Klöstern stellt der Wunsch der Pilger dar, den aufgesuchten Kirchen und Klöstern Gaben aus dem eigenen Besitz zukommen zu lassen. Lediglich, wenn dieses Pilgern zum ziellosen Herumwandern führe, so als ob sie ihren Gott verloren hätten und ihn nicht zu finden wüssten, schädigten sich solche Pilger selbst und wendeten sich von der Lehre der Wahrheit ab. Die Schilderungen über die problematischen Auswirkungen des Pilgerns für die eigenen Kirchengebäude lassen sich auch vor dem Hintergrund interreligiöser Beziehungen deuten. Für diesen Außenposten der Kirche des Ostens spielen sowohl der innere Zusammenhang der Gemeinde als auch die Anziehungskraft der Kirche für Andersgläubige eine wichtige Rolle. Die Christen auf der arabischen Halbinsel befanden sich in einem multikulturellen und religiös pluralen Raum, also auch in Konkurrenz zu den dortigen Gruppierungen. Sie erfreuten sich allgemein eines guten Rufs, den es zu bewahren galt. Das erklärt zum Teil auch die eindeutigen antijüdischen Impulse, denn das Judentum war einer der wichtigsten Kontrahenten der christlichen Religion in der Region. Die Existenz christlicher Klöster und Kirchen auf der arabischen Halbinsel und auf den benachbarten Inseln ist ab dem 4. Jh. nachweisbar. Sie wurden oft von der arabischen Bevölkerung aufgesucht. Die Araber der vorislamischen Zeit charakterisierte eine besondere Verehrung für die geistlichen Repräsentanten des christlichen Glaubens. „Alles, was im Gewande ehrfurchtgebietender Heiligkeit einher kam, dürften sie angenommen und verehrt haben.“30 Mit diesem knappen Satz charakterisiert Müller das Verhältnis der Araber zum Christentum in vorislamischer Zeit.31 Diese Hochachtung der Priester und Heiligen durch die Araber war mit dem Auftreten des Islams nicht einfach beendet, sondern hielt über die Konversion zum Islam hinaus an. Die Attraktivität der Klöster für die Araber rührte damals auch von deren karitativer Tätigkeit her, zum Beispiel in Gestalt der Versorgung der Beduinen mit Wasser und Nahrung.32 Die überlieferte vorislamische arabische Dichtung zeugt davon. Sowohl bei den christlichen Arabern als auch bei ihren heidnischen Stammesgenossen fand kaum eine Auseinandersetzung mit theologischen Themen statt; vielmehr widmeten sie sich stattdessen „mit größtem Eifer der praktischen Frömmigkeit“33. Dazu gehörte eben auch das Aufsuchen der christlichen Heiligen und der Zentren ihrer Frömmigkeit, also die Pilgerfahrt.

30 Caspar D.G. Müller, Kirche und Mission unter den Arabern in vorislamischer Zeit (SGV 249), Tübingen 1967, 14. 31 A.a.O., 14f. „Ihre asketische Frömmigkeit war Vorbild für die christlichen Araber. Ihr suchten sie zu folgen. Selbst von den Arabern in Hiğāz kann man annehmen, dass sie unter christlichem Einfluss, ohne Christen im vollen Wortsinn zu werden, sich der Askese widmeten und zeitweise zur Meditation sich in entlegene Berggegenden begaben. Das gleiche gilt für die Christen unter den arabischen Nomaden und Halbnomaden. Auch sie praktizierten asketische Frömmigkeit. Überhaupt stand für die arabischen Christen die praktische Frömmigkeit im Vordergrund. Sie waren allgemein schriftlos und kamen mit den theologischen Fragen nur in so weit in Berührung, wie sie für jedermann sichtbare Auswirkungen auf das Gebiet der christlichen Praxis hatten. Überdies steht der Katechumenenstand bei ihnen im Vordergrund.“ 32 Generell zur karitativen Wirksamkeit der ostsyrischen Klöster vgl. Arthur Vööbus, Einiges über die karitative Tätigkeit des syrischen Mönchtums. Ein Beitrag zur Geschichte der Liebestätigkeit im Orient, Pinneberg 1947, v.a. 6–8. 33 Müller, a.a.O., 19.

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Weder die Synode noch der Brief des Katholikos beschäftigen sich mit dem Wandermönchtum oder mit der Pilgerkultur der Mönche; nicht diese, sondern ihre Besucher sind Ziel der Beschlüsse.

5. Fazit Die ostsyrische Christenheit verfügte in der frühislamischen Zeit über eine reiche Wallfahrtstradition sowohl im praktischen als auch im theologischen Sinne. Diese Komplexität konnte hier nur skizziert werden. Es gab auch hier mehrere Arten von Pilgerreisen zu unterscheiden, ob geographisch nach dem Modell einer zentralen und einer lokalen bzw. regionalen Wallfahrt, wobei die ostsyrische Theologie darauf reagiert und – manchmal auch politisch, z.B. durch die islamische Eroberung bedingt – immer mehr zu einer inneren mystischen Jerusalemreise ermutigt hat. Gepilgert sind die ostsyrischen Christen sowohl zu Reliquien als auch zu lebenden Heiligen manchmal mit solchem Eifer, dass man bei Gelegenheit die ersehnten Artefakte auch mitgenommen hat. Die Verbindung zwischen der monastischen Spiritualität und der Pilgerpraxis – wie sie in der Forschung vertreten wird – konnte einer näheren Prüfung nicht standhalten. Die Weltentfremdung der Mönche wurde, zumindest in der ostsyrischen Spiritualität, nie im Sinne eines Wanderasketentums gedeutet, sondern ganz im Gegenteil eher als asketische Übung in der eigenen Zelle verstanden und praktiziert. Die Anwendung des Topos der Pilgerreise nach Palästina, Sinai und Ägypten in den syrischen Mönchsbiographien ist qualitativ und quantitativ unzureichend, um von einem festen Bestandteil des asketischen Diskurses zur Gestaltung einer monastischen Identität in der ostsyrischen Kirche zu reden. Auch die in den Quellen dokumentierten Auseinandersetzungen der Bischofssynoden mit dem Mönchtum bzw. mit dem Thema der Wallfahrt können nicht ohne weiteres miteinander verknüpft werden. Ganz im Gegenteil, es sind die Bischöfe, die für die Stabilität der Klöster und ihrer Bewohner und gegen die Pilgertradition der reichen Laien kämpfen und dafür klare Regel erstellen. Und es sind wiederum Bischöfe und Mönche gemeinsam, die gegen rastlos unstete Mönche vorgehen, die sich nicht auf Pilgerreise begeben, sondern sich einem strukturierten monastischen Leben entziehen möchten.

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Pilgern in der äthiopisch-orthodoxen Kirche Kai Merten Wer nach Äthiopien fährt, dem fällt – zumindest in den mehrheitlich christlich geprägten Gebieten – die Fülle an Kirchen auf. Einer beliebten Legende nach haben Engel an Karfreitag die Blutstropfen, die Jesus am Kreuz vergossen hat, aufgefangen und nach Äthiopien gebracht. Mit ihnen haben sie anschließend diejenigen Stellen vermerkt, an denen später Kirchen stehen sollten. Demnach hat nach dieser Vorstellung Jesus Christus selbst alle diese Orte vorherbestimmt, sogar dann, wenn das Gotteshaus erst Jahrhunderte oder gar Jahrtausende später errichtet werden sollte.1 Daher ist die Zahl der Kirchen für die gläubigen Äthiopier weder zufällig noch verhandelbar. Eine Kirche kann deswegen auch nicht einfach abgerissen und an einem anderen Ort wieder aufgebaut werden, ohne dass Jesus Christus persönlich dies auf diese Art gutgeheißen hat. Abgesehen davon, ist die große Zahl an Gotteshäusern der Menge an Engeln und Heiligen geschuldet; denn nicht nur jede Kirchengemeinde und jedes Kloster haben – wie bei uns – ihre jeweilige Kirche, sondern umgekehrt haben auch jeder Erzengel und jeder Heilige ihre Orte der Anbetung. Daher kommt es, dass häufig mehrere Kirchen nahe beieinanderstehen. Für die äthiopischen Gläubigen gilt als Regel, am besten jeden Tag zu einer Kirche zu gehen und dort zu beten. Meistens wird das die Kirche des Wohnortes oder der eigenen Gemeinde sein. Es kann aber auch eine andere Kirche sein, in deren Umgebung man sich gerade befindet. Zum Beispiel hält man auf dem Weg von der Arbeit oder zum Einkaufen kurz bei einer Kirche an, an der man sowieso vorbeikommt, und spricht dort ein Gebet. Wenigstens, so als eine Art minimaler religiöser Übung, ist es üblich, sich dreimal zu bekreuzigen, wenn man zufällig an einem Gotteshaus vorbeikommt, sei es zu Fuß, im Auto, im Taxi oder im Bus. Sogar die allermeisten Taxi- und Bus-Fahrer tun das. Darüber hinaus ist von der kirchlichen Lehre her der regelmäßige Besuch des Sonntagsgottesdienstes vorgeschrieben. Das wird auch noch weithin praktiziert, soweit es den Menschen zeitlich und gesundheitlich möglich ist. Hat man mehr Zeit oder ist ein besonderer Festtag, geht man ansonsten gerne zu der Kirche des jeweiligen Tagesheiligen, wenn sie in erreichbarer Nähe liegt. Wie steht es nun aber mit dem Pilgern, einer noch weitergehenden, besonderen Form der religiösen Praxis? Das mittlerweile allgegenwärtige Wikipedia erklärt dazu: „Pilger, veraltet auch Pilgrim („Fremdling“), stammt von lateinisch peregrinus (oder peregrinari, „in der Fremde sein“) ab. […] Im Kirchenlatein bezeichnet [man] als Pelegrinus eine Person, die aus Glaubensgründen in die Fremde zieht, zumeist eine Wallfahrt zu einem Pilgerort unternimmt, zu Fuß oder auch unter Verwendung eines Transportmittels. […] Der Anlass

1

Vgl. Kai Merten, Das äthiopisch-orthodoxe Christentum. Ein Versuch zu verstehen, Berlin 2012, 210f.

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einer Pilgerfahrt kann eine auferlegte Buße sein, das Bemühen, einen Ablass zu gewinnen, die Erfüllung eines Gelübdes, ein bestimmtes Anliegen, geistliche Vertiefung oder die Abstattung von Dank. Ziel ist ein als heilig betrachteter Ort, etwa eine Wallfahrtskirche, ein Tempel, ein Baumheiligtum usw.“2 Das theologische Lexikon „Religion in Geschichte und Gegenwart“ formuliert den gleichen Sachverhalt etwas anders. Im Artikel zu Wallfahrten steht: „Unter W. versteht man das Verlassen der heimatlichen Umgebung und die Rückkehr aus einem religiösen Motiv. […] Daß man in die »Fremde« geht (peregrinari), gehört dazu; Entfernung und Zeitdauer spielen keine Rolle. […] Grundlage ist die […] Überzeugung, daß die Gottheit geneigt ist, besondere Hulderweise zu gewähren und sich an bevorzugten Orten in eigener Person oder durch Mittler als Helfer zu offenbaren. […] Die W.smotive sind nicht sehr zahlreich. […] [Es] stehen Heilung von Krankheit, Segenshilfe in wichtigen Anliegen (bes. Kindersegen), Einlösung von Gelübden und Erhellung der Zukunft bei wichtigen Entscheidungen im Vordergrund.“3 Im Großen und Ganzen treffen die meisten dieser insgesamt doch recht groben Verallgemeinerungen auch auf die äthiopisch-orthodoxe Kirche zu, wie ich gleich näher ausführen werde. Da in Bezug auf die äthiopisch-orthodoxe Kirche kaum Literatur zu diesem Thema existiert, soll das Pilgern in dieser Kirche ganz grundsätzlich erklärt werden, indem an den berühmten W-Fragen entlanggegangen wird: wer, weswegen, wann, wohin, wozu, wie?

Also erstens: Wer? Diese Frage ist recht leicht zu beantworten. Pilgerfahrten unternehmen so gut wie alle Gläubigen der äthiopisch-orthodoxen Kirche, obwohl das Pilgern als solches nicht offiziell vorgeschrieben ist. Anders als der Besuch des normalen Sonntagsgottesdienstes, ist das Pilgern keine religiöse Pflicht, die unbedingt zu erfüllen wäre. Trotzdem gilt es als empfohlen und vor Gott als verdienstvoll und ist daher weithin üblich.

Zweitens: Weswegen? In vielen Fällen beruht eine Pilgerfahrt auf einem Gelübde, amharisch „sälät“. Das bedeutet, dass jemand Gott, einem Erzengel, der Gottesmutter Maria oder einem Heiligen ein Versprechen gibt. Natürlich verbindet sich mit diesem „sälät“ die Hoffnung, dem eigenen Gebet dadurch größeres Gewicht zu verleihen und eine Erhörung durch Gott wahrscheinlicher zu machen. Im Grunde genommen, verbirgt sich dahinter die bewusst eingesetzte Vorstellung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs aus dem Alten Testament: Wenn jemand viel Gutes für die Kirche und damit für Gott tut, bekommt er es mit Gottes Segen und Wohlergehen vergolten. 2 3

https://de.wikipedia.org/wiki/Pilger (21.5.19). Bernhard Kötting, Art.: Wallfahrt und Wallfahrtsorte, I. Religionsgeschichtlich, in: RGG 6, 2. elektronische Ausgabe der dritten Auflage, Berlin 2000, 1537–1539.

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Eine Pilgerfahrt, sei sie einmalig, sei sie im Jahresrhythmus wiederholt, gehört nun auch zu den Dingen, die Gläubige im Rahmen eines „sälät“ versprechen können. Damit verbunden sind häufig auch Gaben an die Kirche, die man sich als Ziel der Pilgerfahrt ausgewählt hat. Diese Schenkung kann sehr unterschiedlich ausfallen und Geld, Essen für die Priester und Diakone oder für die Armen im Umfeld der Kirche, Ikonen, Kerzen, Weihrauch, liturgische Gewänder o. ä. beinhalten. Manchmal werden der Kirche sogar ganze Grundstücke und/oder Gebäude überlassen oder eine komplette neue Kirche gestiftet. Im Gegenzug, quasi als Gegenleistung, verspricht ein Priester, der an dieser Kirche tätig ist, regelmäßig für die Person, in deren Namen das Gelübde getan wird, oder für dessen Angehörige zu beten. Darüber hinaus gelten Pilgerfahrten zu ausgewählten heiligen Orten als besonders verdienstvoll. Nach der Lehre der äthiopisch-orthodoxen Kirche vergibt Gott den Gläubigen, die auf diese Art pilgern, ihre Sünden und segnet sie mit seinem Wohlwollen und mit irdischem Wohlergehen.4 Ähnlich wie bei dem Ablegen eines „sälät“ kann (nicht muss!) damit zugleich der Gedanke verbunden sein, dass Menschen, die besondere Schuld auf sich geladen haben, es in größerem Maße nötig haben als andere, Gott mithilfe solcher Pilgerfahrten um Vergebung zu bitten.5 Abgesehen davon, können es Träume sein, die jemanden bewegen, zu einem bestimmten Ort zu pilgern. Manchmal entsteht auf diese Art sogar eine völlig neue Kirche. In dem Fall träumt jemand von einem Tabot. Das ist eine Nachbildung der Gesetzestafel mit den Zehn Geboten vom Sinai, die in jeder äthiopisch-orthodoxen Kirche zu liegen hat. Im Traum sieht die Person dann diesen Tabot an einem bestimmten Ort liegen. Daraufhin sammelt diese Person Geld, um genau dort eine neue Kirche bauen zu lassen, weil sie den Traum als einen Auftrag von Gott ansieht. Dahinter steht die eingangs erwähnte Legende und der damit verbundene Wunsch, nach und nach alle Stellen zu aufzudecken, an denen die Engel einst das Blut Christi versprengt haben. Häufig bleibt der Gläubige so lange an diesem auserwählten Ort, bis das neue Gotteshaus fertig und eingeweiht ist, weil er erst dann seinen von Gott gegebenen Auftrag als erfüllt ansieht. Es mag auch sein, dass jemand von einem vergessenen oder verschollenen Tabot träumt, der an irgendeinem Ort vergraben sein soll. Dieser Tabot, so die Erzählungen, wird dann genau dort gefunden, wo der Traum es angegeben hat. Auch dies wird als ein Auftrag Gottes angesehen, genau an dieser Stelle eine Kirche zu errichten; und weil die Erfüllung des Traums als ein Wunder betrachtet wird, gilt der Ort fortan als heilig und kann sich seinerseits zu einem Pilgerziel entwickeln. Der historische Hintergrund solcher Begebenheiten könnte in der Geschichte Äthiopiens liegen; denn in zwei Phasen der äthiopischen Kirchengeschichte wurden zahlreiche Gotteshäuser im Land geplündert und zerstört, einmal, der Legende nach, Ende des 9. Jahrhunderts unter der jüdischen Fürstin Judith und einmal unter dem muslimischen Emir Ahmad Grañ in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Damals hatten die Priester versucht, wenigstens die Tabots zu retten und sie an geheimen Orten zu vergraben oder zu verstecken. Wenn nun jemand heute von einem verborgenen Tabot träumt, denkt man an diese schlimmen Zeiten und vermutet, mit Gottes Hilfe 4 5

Vgl. Beyene Chekol, Veneration and elation as proceeds of pilgrimage. A practice in exemplar orthodox churches of Addis Ababa, in: Cogent Arts & Humanities 4 (2017), 1–11, 6. Vgl. ebd.

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einen der damals in Sicherheit gebrachten Tabots wiedergefunden und damit einen in Vergessenheit geratenen Standort einer Kirche neu entdeckt zu haben. Des Weiteren mag es sein, dass der Anlass für eine erste Pilgerfahrt insbesondere in einem unerfüllten Kinderwunsch lag. Daraufhin geborene Kinder bringt man anschließend gerne bei einer weiteren Pilgerfahrt zu demjenigen Erzengel oder Heiligen, von dem man glaubt, dass er den Kindersegen bewirkt habe. Das gilt z. B. von der Kirche Qulləbi Gäbrəʼel, rund 70 km südlich von der Großstadt Dire Dawa im Osten Äthiopiens gelegen. Das Fest des Erzengels Gabriel wird dabei immer am 28. Dezember begangen. Etwa 100.000 Menschen pilgern jedes Jahr an diesem Tag zu dieser Kirche. Bis zu 1.000 Kinder werden jährlich bei dieser Gelegenheit getauft, von denen die meisten einen Namen erhalten, der irgendwie mit Gabriel zusammenhängt.6 Daneben gibt es weitere Gründe zum Pilgern, z. B. einfach der Wunsch, Gott nah zu sein, oder schlicht eine Gewohnheit, jedes Jahr einmal zu einem bestimmten Erzengel oder Heiligen an dessen besonderen Ort zu pilgern, um ihm für vergangene Wohltaten zu danken, die man auf diesen Erzengel oder Heiligen zurückführt, oder um ihn ohne besonderen Hintergedanken zu ehren, weil man sich ihm verbunden fühlt.

Drittens: Wann? Da die Pilgerfahrten nicht von der Kirche verbindlich vorgeschrieben sind, gibt es auch keine festgelegte Zeit im Jahr, wann sie stattzufinden haben – wie etwa die Wallfahrt nach Mekka für die Muslime. Vielmehr hängt der Zeitpunkt, an dem man pilgert, zum einen von den persönlichen Lebensumständen jedes Einzelnen ab, wann jemand z. B. in besonderer Not ist oder wann sich ein besonderer Wunsch – oder auch Dank – aufdrängt. Zum anderen gelten die jeweiligen Festtage für die entsprechenden Erzengel oder Heiligen als besonders wirkmächtig. Dies richtet sich nach dem äthiopischen Heiligenkalender, in dem jeder Tag des Jahres der Gottesmutter Maria, einem oder mehreren Erzengeln oder einem oder mehreren Heiligen geweiht ist. Größere Pilgerreisen an weit entfernte Orte unternimmt man in der Regel einmal im Leben, eben entsprechend dem persönlichen Anlass oder auch den eigenen Möglichkeiten. Wenn man sich einem bestimmten Erzengel oder Heiligen besonders verbunden fühlt und man es sich zeitlich und finanziell leisten kann, pilgert man auch einmal im Jahr, immer am Festtag dieses Erzengels oder Heiligen zu dessen Ort der Anbetung. Jemand, der z. B. am Tag des Heiligen Georg getauft wurde, wird sich sein Leben lang insbesondere zu diesem Erzengel halten. Erzengel oder Heilige können in dieser Art auch als Taufpaten fungieren, indem die Eltern ihr Kind unter den besonderen Schutz dieses Erzengels oder Heiligen stellen. Soweit möglich, wird dieser Gläubige dann als Erwachsener am Tag des jeweiligen Erzengels oder Heiligen zu dessen Kirche pilgern und ihm für dessen Schutz danken.

6

Vgl. Harald Suermann: Was feiert die äthiopische bzw. eritreische Kirche wann?, in: https://www. missio-hilft.de/missio/mitmachen/fluechtlingsarbeit/gebetsraum/ein-haus-fuer-alle-gebetsraumfeiertage-aethiopien-eritrea-2018.docx+&cd=5&hl=de&ct=clnk&gl=de (21.5.19).

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Abgesehen davon, sind die christlichen Hochfeste, allen voran Weihnachten, die Taufe Jesu, Palmsonntag, Karfreitag, Ostern, Christi Himmelfahrt und Pfingsten sowie die zahlreichen Marienfeste beliebte Zeitpunkte, Pilgerfahrten zu unternehmen.

Viertens: Wohin? Natürlich ist es eigentlich das Ziel jedes gläubigen Äthiopiers, einmal im Leben nach Jerusalem zu pilgern und dort zu beten. Das ist aber, nicht zuletzt wegen der dafür fehlenden Geldmittel, in der Regel nicht möglich. Daher gelten andere, inneräthiopische Ziele als bevorzugte Pilgerorte. Meistens hängen sie mit der biblischen Heilsgeschichte oder mit bestimmten Erzengeln und Heiligen zusammen; denn die Äthiopier zeigen in ihrer Geschichte die starke Tendenz, die biblischen Orte in ihrem eigenen Land neu zu verorten. So liegen z. B. Nazareth, der Berg Tabor, der Ölberg oder auch der Berg Libanon, der als Geburtsort Marias betrachtet wird, auch in Äthiopien. Auch bei den weltbekannten Felsenkirchen in Lalibela geht man davon aus, dass sie damals im 12. und 13. Jahrhundert vom gleichnamigen König Lalibela errichtet wurden, um den Menschen als neues Jerusalem eine Alternative zum Heiligen Land zu bieten, weil das „richtige“ Jerusalem zu dieser Zeit für äthiopische Christen zu gefährlich und damit unerreichbar war. Dort bekämpften sich gerade Kreuzritter und Muslime, und beide Seiten sahen die als Ketzer bzw. Ungläubige geltenden, orientalischen Christen nicht gerne in der Stadt. Heutzutage haben sich somit eine Reihe von Orten bzw. Kirchen als besonders heilig herausgebildet. Die Pilgerfahrt dorthin gilt daher als besonders wirkmächtig. Diese Kirchen sind mittlerweile so zahlreich, dass eine vollständige Aufzählung zu weit führen würde. Nur die wichtigsten sind, um einen Eindruck zu gewinnen:7 im Norden Äthiopiens: Maryam Ṣəyon in Aksum, Däbrä Damo, Abba Pänṭälewon, Gəšän Däbrä Kärbe (auch Gəšän Maryam genannt), Ḥayq Iyäsus, Lalibela; im Nordwesten Äthiopiens: Däbrä Bərhan Śəlasse in Gondär, die Klöster des ṬanaSees, Kədus Giyorgis in Baḥər Dar, Gəšän Maryam, Dima Giyorgis, Däbrä Worq, Däbrä Libanos, Abunä Habtä Maryam; im Süden Äthiopiens: Bibra Maryam, Mihur Iyäsus; im Osten Äthiopiens: Zəqᵂala, Adadai Maryam, Sama Sänbät, Šenkora Yoḥannəs, Däbrä ʽAsbo, Qulləbi Gäbrəʼel; im zentralen Äthiopien: Däbrä Bərhan Śəlasse, Abunä Marqos, Ṣadqanä Maryam, Mitaq Эmmanuʼel; in Addis Abeba: Kidanä Maryam, Qəddəst Śəlasse, Gibe Gäbrəʼel, Yeka Mikaʼel.

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Vgl. u.a. Chekol, Veneration, 7.

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Fünftens: Wozu? Welches Ziel konkret gewählt wird, hängt mit dem Anliegen zusammen, für das das erwähnte Gelübde abgelegt wurde oder welcher Wunsch oder Anlass dahintersteht. Bestimmte Erzengel oder Heilige decken dabei bestimmte Bereiche des Lebens oder des Alltags ab. Ein paar wenige Beispiele dazu: Die Gottesmutter Maria trägt ihre Fürbitte zu Jesus; denn ihr ist nach der äthiopischen Legende von ihrem sterbenden Sohn am Kreuz ein besonderes Versprechen gegeben worden, dass er immer auf sie hören werde, wenn sie ihn um etwas bitten werde.8 Deswegen gilt ihre Fürsprache als besonders stark. Daneben soll Maria insbesondere bei Augenkrankheiten helfen. Der Erzengel Uriel wird gerne wegen einer AIDSErkrankung um Hilfe gebeten und der Erzengel Michael um Frieden in der Familie. Gabriel gilt als Geber von Wohltaten im Allgemeinen und der Hl. Georg schützt vor allem Übel. Nach Təgray im Norden Äthiopiens pilgert man häufig, um Kinder zu bekommen. Der Heilige Gäbrä-Christos ist der Helfer bei Lepra, und Эmmanuʼel heilt insgesamt schwere Krankheiten. Andere Ziele von Pilgerfahrten richten sich nach dem kirchlichen Festkalender. So pilgert man an Weihnachten am liebsten nach Lalibela, weil die dortigen Felsenkirchen, insbesondere die Kirche Bete Maryam, u. a. symbolisch für die Höhle in Bethlehem stehen, in denen Jesus der orthodoxen Tradition nach geboren wurde.9 An Ostern wiederum ist Aksum das beliebteste Ziel. Von den „kleineren“ Festen ist das Kreuzfest, das an die Auffindung des wahren Kreuzes Jesu durch die Kaiserin Helena erinnert, am volkstümlichsten. Es wird immer am 27. September begangen. Zu diesem Anlass sucht man am liebsten den Ort auf, an dem ein Teil des wahren Kreuzes Christi bis heute lagern soll, nämlich die Kirche Gəšän Maryam in der Region Amhara.10 Auch besondere Festtage aus der äthiopischen Geschichte bilden beliebte Anlässe für Pilgerfahrten. Hervorzuheben ist hierbei vielleicht der Tag, an dem König Menelik I. der Legende nach die Bundeslade nach Äthiopien gebracht hat. Dieser Tag, der 29. November, wird natürlich besonders in Aksum begangen, dem Ort, an dem man nach äthiopischer Vorstellung noch heute die Bundeslade aufbewahrt. Als Beginn des äthiopischen Mönchtums wiederum wird der 24. Oktober, d. h. Tag der Gründung des ersten äthiopischen Klosters in Däbrä Damo durch den Hl. Arägawi, begangen und gefeiert.11 Wieder andere Orte werden auch ohne ein besonderes Gelübde oder einen besonderen Anlass aufgesucht. Hier möchte man sich nur einfach Gott näher fühlen. Vergleichsweise neu sind zudem spezielle Pilgerfahrten für Jugendliche. Das erklärte Ziel dieser Unternehmungen ist zum einen pädagogisch, um die Schülerinnen und Schüler an die religiöse Praxis des Pilgerns heranzuführen, und zum anderen kirchlich, indem die Jugendlichen an den Feiern an diesen heiligen Orten teilnehmen, diese bewusst erleben und im besten Fall spirituelle Erfahrungen machen.12 8 9 10 11 12

Vgl. Merten, Christentum, 167. Vgl. a.a.O., 158. 219. Vgl. a.a.O., 163–166. Vgl. a.a.O., 168f. Vgl. Chekol, Veneration, 4–6.

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Pilgern in der äthiopisch-orthodoxen Kirche

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Sechstens: Wie? Den vorgeschriebenen, täglichen Besuch einer Kirche in der näheren Umgebung unternimmt natürlich jeder Gläubige für sich, wie er Zeit dazu findet und welche Gelegenheit sich dazu bietet. Manche, die die Kirche eines bestimmten Erzengels oder Heiligen einmal im Monat aufsuchen, tun dies häufig ebenfalls alleine oder auch in einer kleinen Gruppe, z. B. mit Familienangehörigen oder mit anderen Mitgliedern ihrer Kirchengemeinde oder mit Freunden. Sowohl die jährlichen als auch die außerordentlichen, einmaligen Pilgerreisen werden in der Regel durchweg in der Gruppe unternommen und nur äußerst selten alleine, zumal sie oft aufgrund größerer Entfernungen mit einem höheren organisatorischen und finanziellen Aufwand und mit mehr Mühen verbunden sind. Früher lag es in der Verantwortung eines jeden, seine eigene Pilgerfahrt zu organisieren und durchzuführen, wobei man sich in der Gruppe gegenseitig half und sich unterwegs natürlich auch geborgener und sicherer fühlte. Dies ist auch heute oft noch so. Auch die für Äthiopien besonderen, vom Äthiopienkenner Friedrich Heyer so genannten „freien Vereinigungen“ treten mittlerweile als Organisatoren solcher Pilgerfahrten auf. Diese sozialen Institutionen sind in Äthiopien unter den Begriffen ʼədər, ʼəqub, sänbät, maḫbär oder baltəna bekannt.13 Dahinter verbergen sich unterschiedliche Formen von sozialen oder religiösen Vereinigungen, in denen sich Einzelpersonen oder Familien eines Stadtteils oder einer Kirchengemeinde zusammentun, um regelmäßige Treffen durchzuführen, der Verstorbenen zu gedenken, anstehende Probleme zu diskutieren und gegenseitige finanzielle und praktische Unterstützungen zu vereinbaren. Die Zusammenkünfte finden entweder reihum in den Privathäusern der Mitglieder oder in einem eigens zu diesem Zweck errichteten Gebäude neben der Kirche (einer Art Gemeindehaus) statt und sind immer mit einem gemeinsamen Essen verbunden. Diese „freien Vereinigungen“ sind immer an eine Kirchengemeinde angebunden, obwohl sie organisatorisch nicht Teil dieser Kirchengemeinde sind. Zur erwähnten gegenseitigen Hilfe gehört, wie erwähnt, nun ab und zu auch die Organisation und Durchführung von Pilgerfahrten. Wohin gepilgert wird, hängt von der jeweiligen Vereinigung ab. Entweder hat sie sich grundsätzlich unter den Schutz eines bestimmten Erzengels oder Heiligen gestellt und wird in dem Fall immer zum Ort dieses Erzengels oder Heiligen pilgern, oder die Mitglieder diskutieren und entscheiden von Jahr zu Jahr neu, welches Ziel angestrebt werden soll. In letzter Zeit, d. h. etwa seit den 1990er Jahren, sind es jedoch vermehrt die Kirchengemeinden, die solche Reisen für ihre Mitglieder organisieren und durchführen.14 Dabei handelt es sich entweder um Tages-Pilgerfahrten für interessierte Gemeindeglieder an etwas weiter entfernte Orte oder um mehrtägige Reisen an sehr weit entfernte Orte in Äthiopien. Ein anderes Beispiel für diese neue Form von Pilgerfahrten ist die Sonntagsschule der Kədəst Maryam Kirche in Addis Abeba. Sie organisiert einmal im Jahr für ihre Schülerinnen und Schüler im Anschluss an das Schuljahr, d. h. immer im Juni, eine Pilgertour zu vier wichtigen Kirchen der Stadt. Bis zu 500 Jugendliche nehmen jedes Jahr daran teil. Zum größten Teil finanzieren die betroffenen Familien diese Tour selbst. Sofern das einer ärme13 Vgl. Merten, Christentum, 234f. 14 Vgl. zum Folgenden Chekol, Venereation, 4–6.

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ren Familie nicht möglich sein sollte, übernimmt die Schule die Kosten. Das wird dann aus Spendengeldern finanziert. Nach beschwerlichen und oft erfolglosen Anfängen in den 1980er Jahren hat sich diese Art, Pilgerfahrten zu unternehmen, mittlerweile durchgesetzt, wie das Beispiel der erwähnten Sonntagsschule zeigt. Dies gilt zumindest von den größeren Städten in Äthiopien, insbesondere von Addis Abeba, nicht jedoch von den Dörfern bzw. dem ländlichen Raum. Auch die Erwachsenen nehmen dieses Angebot inzwischen mehr und mehr wahr. Dazu haben die Kirchengemeinden eigene Komitees gebildet, die meistens aus den genannten „freien Vereinigungen“ heraus entstanden sind, um die logistische Vorbereitung zu erledigen. Zu den weiteren Aufgaben des Komitees gehören die Organisation der Reise – heutzutage nicht mehr nur zu Fuß, sondern meistens per Bus – sowie der Unterbringung vor Ort und der Bewerbung der Reise zuhause. Der zuständige Priester sorgt dabei dafür, dass die Pilger unterwegs auch seelsorgerlich betreut sind und vor Ort ggf. andere Priester bereitstehen, um mit der Pilgergruppe Andachten zu feiern. Geschieht eine solche Pilgerreise, wie allgemein üblich, in einer Gruppe, beginnt sie in der Regel mit einem gemeinsamen Gebet in der Kirche des Wohnortes bzw. in der Kirche, die die Pilgerfahrt organisiert. Gegenstand des Gebetes sind die innere Vorbereitung der Gläubigen auf die Reise und die Bitte an Gott um sicheres Geleit. Während der Hinfahrt singt die Gruppe geistliche Lieder oder spricht miteinander über Fragen des Glaubens. Auch Informationen zu den Kirchen, die besucht werden sollen, werden weitergegeben. Für die äthiopischen Christen ist dabei völlig klar, dass dies kein Urlaub ist, sondern eine religiöse Übung. Daher ist ihre Kleidung schlicht, ihre Unterkünfte sind einfache Herbergen, oder man übernachtet sogar unter freiem Himmel – es ist ja warm –, und das Essen ist ebenfalls einfachster Art. Eine besondere Art der Kleidung ist jedoch nicht vorgeschrieben. Trotzdem tragen viele Pilger die traditionelle äthiopische Landestracht aus weißem Leinenstoff. Auch das strikte Fasten gehört nicht unbedingt zum Pilgern dazu. Es wird nur praktiziert, wenn zufälligerweise von der Kirchenjahreszeit her das Fasten vorgeschrieben ist, wie z. B. am Tag des Erzengels Gabriel am 28. Dezember, d. h. während der orthodoxen Adventszeit, wenn man nach Qulləbi Gäbrəʼel pilgert. Die Reise selbst kann mit jedem verfügbaren bzw. bezahlbaren Transportmittel vorgenommen werden. In der Regel ist das der Überlandbus oder der eigene PKW. Manche Äthiopier laufen die letzten Kilometer des Weges zu Fuß, um sich dem Ziel auf diese langsame Art zu nähern, aber Bedingung ist dies nicht, und so können an besonderen Festtagen auf den Zufahrtsstraßen zu den entsprechenden Pilgerorten längere Staus entstehen. Am Ziel angekommen, werden Gottesdienste gefeiert, man gibt Spenden an die betreffende Kirche und betet in der Gruppe oder für sich alleine. Viele übernachten auch im Freien bei der Kirche oder waschen sich an heiligen Quellen in der Nähe der Kirche. Häufig werden bei dieser Gelegenheit, wie erwähnt, auch Kinder getauft, die dann den jeweiligen Erzengel oder Heiligen, der an diesem Ort verehrt wird, zum Paten bekommen. Die übrige Zeit verbringt man mit der Lektüre der Bibel und von Heiligenlegenden oder anderem religiösem Schrifttum bzw. mit Gesprächen über religiöse Themen in der Gruppe, mit der man angereist ist. Die Pilgerfahrt endet mit der Rückkehr nach Hause und dem abschließenden Dankgebet in der Heimatkirche.15 15 Vgl. Chekol, Veneration, 6.

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Pilgern in der äthiopisch-orthodoxen Kirche

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Schließen möchte ich mit zwei Auszügen aus Erlebnisberichten von Europäern anlässlich der Pilgerfahrt nach Lalibela an Weihnachten – vermutlich der in ausländischen Augen am meisten beeindruckenden und am häufigsten beobachteten Pilgerfahrt. Nicht vergessen darf man dabei, dass dies Eindrücke von außen sind und dass sie nicht aus der Feder von Theologen stammen. Trotzdem mögen sie noch einmal einen eigenen Blick auf unser Thema werfen. Zum einen hat der österreichische Journalist Florian Rainer am Anfang dieses Jahres (2019) äthiopische Pilger in der orthodoxen Weihnachtszeit begleitet. Er schreibt dazu: „Sie pilgern in kleinen Gruppen von zwei bis zehn Personen an die 1.000 Kilometer – bei einem Tagespensum von etwa 40 Kilometern brauchen sie dafür vier Wochen. Ihr Weg, den sie mit Badeschuhen in den buntesten Farben bewältigen, führt sie über das äthiopische Hochland, über Stock und Stein. Übernachtet wird im Freien unter Zeltbahnen oder als Gäste auf den gestampften Lehmböden in den Wohnzimmern der Landbevölkerung. Die Aufnahmebereitschaft für die Wanderer ist groß, gilt das Beherbergen und Beköstigen doch genauso viel bei der Absolution für das Seelenheil wie das Pilgern selbst. […] Das äthiopische Weihnachtsfest, hier Genna genannt, ist in Lalibela ein ganz besonderes Spektakel. Wie schon erwähnt, ist Lalibela eine der wichtigsten Pilgerstätten der äthiopisch orthodoxen Christenheit. Nach Schätzungen der Regierung sind dieses Jahr ca. 200.000 Pilger aus dem ganzen Land in diese nicht wirklich grosse Stadt im Äthiopischen Hochland geströmt. Auf jeder Einwohnen [sic!] kommen 5 Pilger. Es ist einfach unglaublich zu sehen, wie viele Menschen diese kleine Stadt bevölkern. Überall sieht man Pilger in ihren traditionellen weissen Gewändern. Ein Teil kommt in überfüllten Bussen oder auf Ladeflächen von Lastwagen. Der grosse Teil, der sich solche Transportmittel nicht leisten kann, kommt jedoch zu Fuss. Sie haben mitunter wochenlange beschwerliche Märsche hinter sich, bevor sie in Neu-Jerusalem – wie Lalibela auch genannt wird – ankommen. Sie weilen hier zwei bis drei Tage und feiern Genna. Den Vorweihnachtsabend sowie den Weihnachtsmorgen verbringen sie in den Kirchen, wo über Stunden Gottesdienst gehalten wird. Daraufhin feiern sie mit ihren Familien und Freunden, trinken Tella, eine äthiopische Bierspezialität, singen und tanzen. Zu Genna organisieren sich regelmässig Jugendliche […] zu Gruppen, die die vielen Pilger nach ihrer langen Reise in Empfang nehmen. Sie waschen und pflegen ihnen die wunden Füsse und versorgen sie mit Wasser und Nahrung. Manche bieten einigen Pilgern sogar einen Schlafplatz im eigenen Zuhause an.“16 Und Felix Brentrup, ein Schweizer Abiturient, der sein Freiwilliges Soziales Jahr in Äthiopien verbrachte, schreibt im Februar 2017 zu Weihnachten in Lalibela: „Die gesamte Stadt verwandelt sich in einen Markt. Die Strassenränder sind von kleinen Ständen gesäumt, wo man von Sonnenbrillen über traditionelle Gewänder bis hin zu Kreuzen und anderen religiösen Gegenständen alles kaufen kann. […] Pilger, die keine Verwandten in Lalibela haben, bei denen sie unterkommen können, 16 https://www.zeit.de/2019/03/wallfahrt-aethiopien-pilger-lalibela-neu-jerusalem-reise (5.5.2019).

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schlafen in improvisierten Zelten oder gar unter freiem Himmel um die Kirchen herum. […] [Es ist] eben diese Gastfreundschaft, die mir am meisten in Erinnerung bleiben wird. […] Lalibela ist nur im wirtschaftlichen Sinne arm, in allen anderen Belangen, sei es nun Natur oder Kultur, ist Lalibela mehr als reich!“17

17 https://bachmann-foundation.org/2017/02/27/februar-2017-aethiopien-blog-von-felix-brentrup-teil1 (05.05.2019).

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Pilgern im spätantiken Christentum Der Sinai als Pilgerziel Andreas Müller Im Juli 1497 pilgerte Ritter Arnold von Harff (1471–1505) aus dem Rheinland während seiner fast drei Jahre langen Pilgerreise auf den Sinai.1 Arnold war vielfältig interessiert und suchte daher zahlreiche Ziele auch weit über die übrigen Pilgerrouten hinaus auf. Angeblich soll er selbst bis nach Indien und Äthiopien gekommen sein,2 und heimlich – so berichtet er – habe er sich sogar in Mekka eingeschlichen.3 Beeindruckend in dem Bericht über den Sinai ist nicht nur, dass Arnold an zahlreichen Stellen darauf verweist, wieviel Ablass man an welchen Stellen bekommen könne – und das selbst an den Stätten, die von den ostkirchlichen Mönchen betreut werden. Beindruckend ist vielmehr auch, dass Arnold ganz selbstverständlich davon berichtet, dass der Sinai nicht nur von anderen Konfessionen, sondern auch Religionen aufgesucht wird. Dabei geraten selbst die von ihm sogenannten Heiden, die Muslime, in den Fokus. Sogar die Moschee im Klosterquadrat, die seit dem 11. Jahrhundert dort steht, beschreibt er ganz selbstverständlich: „In diesem Kloster steht auch eine Moschee, das ist eine heidnische Kirche, in welche die Heiden bisweilen zum Beten kommen, die ihre Pilgerreise nach ihrer Weise dorthin gemacht haben, um die heiligen Stätten aufzusuchen, da Moses dort viele Wunder gewirkt hat.“4 Auch auf dem Berg Horeb respektive dem Mose-Berg stellt Arnold ganz lapidar fest: „15 Schritte südwestlich von dieser Kirche (scil. auf der Gipfelspitze) steht eine kleine Moschee, das ist eine heidnische Kirche, in die auch täglich Heiden und Sarazenen kommen, um ihre Pilgerreise Moses zu Ehren zu absolvieren, den sie in ihrem Glauben für einen sehr großen Propheten halten.“5 Im Rahmen seines Pilgerberichts ist es nicht erstaunlich, dass Arnold auch muslimische Gebetsplätze beschreibt. Er bietet in seinem an vielen Stellen enzyklopädisch angelegten Reisetagebuch sogar ein eigenes Kapitel über den Islam, in dem er Bräuche und z.T. auch für ihn Befremdliches in dieser Religion schildert, wie er es in Kairo beobachtet hat.6 Be1 2 3 4 5 6

Vgl. zu Arnold von Harff u. a. den kurzen Überblick von Helmut Lahrkamp, Art. Harff, Arnold von, in: NDB 7 (1966), 672f; Philippe Kohler, Arnold von Harff (1471–1505). Chevalier, pèlerin, écrivain, 2 Bde (Typoskript), Bordeaux 1974. Vgl. Helmut Brall-Tuchel/Folker Reichert, Rom – Jerusalem – Santiago. Das Pilgertagebuch des Ritters Arnold von Harff, Köln u. a. 32009, 161–166, 172f. Vgl. Pilgertagebuch, 156. A.a.O., 147. A.a.O., 148f. Vgl. a.a.O., 124–126.

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merkenswert ist vielmehr, dass das Katharinenkloster auf dem Sinai als ein Pilgerort nicht nur für unterschiedliche christliche Konfessionen, sondern auch für andere Religionen beschrieben wird. Den Sinai macht gerade auch dies in besonderer Weise aus, dass er ein Pilgerzentrum für Menschen unterschiedlicher Konfessionen und Religionen ist. Nicht alle Pilger haben dies so unproblematisch wahrgenommen wie der Ritter Arnold. Ein fast zeitgenössischer Reisebericht schildert dies in anschaulicher Weise. Der Ulmer Dominikanermönch Felix Faber bereiste etwas früher als der Ritter Arnold 1482/83 das Heilige Land. In seinem zunächst lateinisch niedergeschriebenen, 1556 dann auch in einer deutschen Kurzfassung gedruckten Pilgerbericht erwähnt Felix nicht nur, dass zahlreiche muslimische Pilger zum Sinai kamen.7 Er schreibt vielmehr auch, dass von den Juden noch viel mehr kämen als es zu seiner Zeit der Fall war, wenn diese nicht durch Gott selber von einem Pilgerbesuch auf dem Mose-Berg abgehalten würden. So sei es diesen nicht möglich, eines der Tore, das über dem Pilgerweg errichtet sei, zu durchschreiten. Wörtlich berichtet Fabri: „Vor etlichen Jahren hat sich ein Jude wie ein christlicher Pilger gegeben, mit der Kleidung und allen Dingen, und ist so unerkannt mit einer Pilgergruppe durch die Wüste bis zu diesem Tor gekommen. Und als die anderen Pilger durch das Tor gingen, da blieb der Jude stehen und erstarrte und konnte nicht durch das Tor kommen. Da fragten ihn die anderen Pilger, was mit ihm sei und was ihn befallen habe, daß er nicht weitergehe. Da sagte er ihnen: Oh liebe Pilger, ich sehe ein Kruzifix auf dem Bogen des Tores stehen, wegen dem kann ich nicht durch das Tor kommen. Ich bin ein Jude und habe bisher nicht an Christus, den Gekreuzigten, geglaubt und habe mich unter euch Christen gemischt, damit ich mit euch auf diesen heiligen Berg Horeb kommen könnte, auf dem Moses die Zehn Gebote von Gott empfing und die meinen Altvätern gab. Aber ich sehe wohl, daß ich nicht hinaus zu St. Moses kommen kann, es sei denn, daß Jesus es mir erlaubt. Deshalb will ich an Christus, den Gekreuzigten, glauben und will mich taufen lassen. Sobald der Mensch das gesagt hatte, da verschwand das Kruzifix und ohne irgendwelche Behinderung ging er durch das Tor hinaus zu den anderen Pilgern. Als nun die Juden von dem Wunder gehört hatten, da sind sie erschrocken gewesen und seitdem ist niemals mehr einer so kühn gewesen, sich den Berg hinauf zu wagen.“8 Der Geschichte bei Felix Fabri ist nicht nur zu entnehmen, dass es ein ausgeprägtes Interesse unterschiedlicher Religionen und auch „Konfessionen“ am Sinai gab. So erwähnt er u.a. auch eine lateinische Kapelle im Kloster.9 Vielmehr macht sie auch klar, dass es vor Ort 7

Vgl. die gekürzte deutsche Übersetzung bei Gerhard E. Sollbach, In Gottes Namen fahren wir. Die Pilgerfahrt des Felix Faber ins Heilige Land und zum St. Katharina-Grab auf dem Sinai A.D. 1483, Kettwig 1990, 156, bes. 160: „Es kamen auch fremde Heiden zu uns, die auch als Pilger auf den heiligen Berg gekommen waren; denen gaben wir auch Brot, denn es waren viele heidnische Pilger vor uns dagewesen. Und daran soll niemand zweifeln, wenn die Juden auf den Berg kommen könnten, so wäre er niemals leer, da würden vielmehr stets Juden sein, denn sie verehren Moses so sehr und alle Irrung kommt nur daher, daß sie ihm zu strikt folgen und seine Schriften wörtlich nehmen.“ 8 A.a.O., 159. 9 Vgl. a.a.O., 156.

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durchaus eine Art interreligiöse Konkurrenz gab und Pilgerorte durchaus auch im Sinne der Stärkung der jeweils eigenen religiösen Position genutzt werden konnten. In jedem Fall dienten die Pilgerstätten unterschiedlichen Zwecken. Neben der Stärkung eigener religiöser Identität durch den Verweis auf die Geschichte des Ortes, die an ihm gelebte Spiritualität und die mit ihm verbundenen Wunder diente die Pilgerstätte auch der interreligiösen und interkulturellen Begegnung, welche durchaus auch zu Konkurrenzsituationen und selbst Konflikten führen konnte.10 Solche Konflikte gab es keineswegs nur zwischen den einzelnen Pilgern, sondern auch zwischen diesen und den dauerhaften Bewohnern. Gehen wir den einzelnen Aspekten, die sich mit dem Pilgerzentrum am Sinai verbanden, einmal mit Blick auf die Entwicklungen in der Spätantike nach.

1. Die Anfänge des Pilgerwesens auf dem Sinai – Egeria an den Stätten der Bibel Im Folgenden konzentriere ich mich auf die christlichen Pilger bzw. Pilgerinnen auf der Sinai-Halbinsel und insbesondere am Dornbusch-Kloster. Bereits seit den Anfängen eines ausgeprägten christlichen Pilgerwesens im 4. Jahrhundert sind solche Pilgerinnen und Pilger namentlich bekannt. Der für die Entwicklung des Pilgerwesens in Palästina bedeutsame Besuch der Kaisermutter Helena taucht erst in späteren Legenden auf und dürfte historisch kaum haltbar sein.11 Die ältesten Berichte über das Pilgerwesen auf dem Sinai verweisen vielmehr in die Zeit um 360 n.Chr. Zumindest zum Mose-Berg sind namentlich bekannte erste Pilger aus Syrien gekommen. Auf diese weisen die Berichte über die Reise des Julianos Saba und Symeon des Älteren zum Sinai hin. Julianos soll bei seinem Besuch sogar eine kleine Kapelle auf dem Gipfel des Berges gebaut haben.12 Pilger haben also von Anbeginn der SinaiPilgerschaft an auch deutlich wahrnehmbare Spuren ihrer Pilgerschaft hinterlassen, selbst wenn archäologische Überreste wie Pilgerherbergen und Meilensteine – soweit sie überhaupt vorhanden waren – aus dieser Zeit vollkommen verloren gegangen sind.13 Früh müssen sich auch Mönche in der Gegend angesiedelt haben. Davon zeugt jedenfalls im letzten Viertel des 4. Jahrhunderts bereits in ausführlicher Weise der Bericht der bemerkenswertesten Pilgerin dieser Zeit, der Asketin Egeria. Der früheste ausführliche Pilgerbericht liegt um 383 aus deren Feder vor. Sie kam mit zahlreichen Mönchen auf dem

10 Vgl. u. a. meinen Beitrag: Andreas Müller, Pilgerberichte des 15. und 16. Jahrhunderts als konfessionskundliche Quellen, in: OS 42 (1993), 303–323. 11 Vgl. zu der Pilgereise der Helena u. a. Stefan Heid, Der Ursprung der Helenalegende im Pilgerbetrieb Jerusalems, in: JAC 32 (1989), 41–71; Ekkart Sauser, Cyrill von Jerusalem – Helena – und das Kreuz des Erlösers, in: EuA 71 (1995), 222–230; Sandra Ann Fortner/Andreas Rottloff, Auf den Spuren der Kaiserin Helena. Römische Aristokratinnen pilgern ins Heilige Land, Erfurt 2000. 12 Vgl. Ephraim Syr., Hymn. de Jul. Saba XIX11–18; XX tr. E. Beck, 76–79; Theodoret, hist. rel., II 13 (ed. P. Canivet, 222–224). Zu Symeon vgl. Theodoret, hist. rel. VI 12 (ed. Canivet, 362). 13 Auf die Tatsache fehlender Spuren der Pilger auf dem Sinai mit Ausnahme von Pilgerinschriften verweist Uzi Dahari, Monastic Settlements in South Sinai in the Byzantine Period. The Archaeological Remains (IAA Reports IX), Jerusalem 2000, 164.

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Sinai in Kontakt und beschrieb in anschaulicher Weise deren semi-anachoretische Lebensweise in sogenannten monasteria.14 Egerias Art und Weise zu pilgern ist an zahlreichen Stellen bereits beschrieben worden. Im Folgenden soll sie im Blick auf ihren Aufenthalt auf dem Sinai fokussiert werden. Egeria sieht sich zu der Reise dorthin durch niemand geringeren veranlasst als Christus respektive Gott selbst: iubente Christo Deo nostro respektive iubente Deo habe sie den Berg Sinai bestiegen.15 Während sie in anderen Bereichen des sogenannten Heiligen Landes auf einen bereits existierenden Katalog von Ortslagen zurückgreifen konnte, war das auf dem Sinai nur sehr eingeschränkt möglich. Der sogenannte Pilger von Bordeaux, der bereits um 330 n.Chr. die Orte des Heiligen Landes beschreibt, erwähnt den Sinai nicht.16 Im sogenannten Onomastikon des Euseb von Caesarea, einer Zusammenstellung u.a. von biblischen Ortslagen, die Egeria in einer lateinischen Übersetzung vorgelegen haben dürfte, finden sich zum Sinai nur wenige Angaben.17 Dementsprechend musste sich Egeria darum bemühen, die meisten Orte selber mithilfe des ortsansässigen Klerus respektive der Mönche zu identifizieren. In ihrer Beschreibung der Reise auf dem Sinai fällt dementsprechend zunächst auf, dass sie dort mit Führern unterwegs war, die offensichtlich aus dem Sinai-Mönchtum bzw. dem dortigen Klerus stammten. Egeria redet in diesem Zusammenhang von „heiligen Führern“ (deductores sancti), aber auch von „Gottesmännern“ (homines Dei). Letztere sollten Egeria und ihrer Gruppe „alle Orte in dem Tal, die beschrieben sind, einzeln zeigen […], wie es (dann) auch geschah“.18 Auch auf dem Gipfel des Sinais bittet sie die „Heiligen“, ihr die einzelnen Orte zu zeigen.19 Sie hält dabei fest, dass jene alle Stellen zeigten, die Egeria und die ihrigen sehen wollten, da sie sie selbst besser kannten.20 Ähnliches gilt für den Horeb, wo die Heiligen die einzelnen Orte der Elia-Tradition genau lokalisierten.21 Egeria suchte so konsequent die Orte auf, die in der Bibel genannt worden sind.22 Gelegentlich besuchte sie aber auch Orte, die ihr von „Brüdern“ bereits beschrieben worden waren, um sie dann 14 Vgl. Egeria, Itinerarium 3,1 Georg Röwekamp (Hg.), Egeria. Itinerarium. Reisebericht (FC 20), Freiburg im Br. u.a. 1995, 124. 15 Vgl. Egeria 3,2 (Röwekamp, 126). 16 Das Itinerarium des Pilgers von Bordeaux findet sich in Paulus Geyer, Itineraria Hierosyolymitana Saeculi IIII–VIII (CSEL 39), Prag u. a. 1898, 1–33. 17 Das Onomastikon ist ediert und übersetzt von Georg Röwekamp, Eusebius/Hieronymus, Liber locorum et nominum. Onomastikon der biblischen Ortsnamen (FC 68), Freiburg u. a. 2017. Im Onomastikon werden nur Orte erwähnt, die mit der Exodustradition in Verbindung stehen. Unter dem Lemma Sin (Nr. 820) geht Euseb jedenfalls auf die Wüste Sinai ein. Er erwähnt dort Refidim, den Berg Sinai und die Bezeichnung Kadesch für die Wüste Sin (298–300). Auch die Lustgräber werden bei Euseb unter dem Lemma Nr. 660 erwähnt (256). Unter dem Lemma Nr. 948 behandelt er den Horeb (332). Dort wird auch die Stadt Charan erwähnt. Euseb setzt hier den Berg Horeb mit dem Berg Sinai gleich. Ferner erwähnt er in Lemma Nr. 403 die Brandstätte nach Num 11,3 (188). 18 Egeria 2,3 (Röwekamp, 123). 19 Vgl. Egeria 3,7 (Röwekamp, 130). 20 Vgl. ebd. (quae ipsi melius noverant). Egeria hält 3,8 fest, dass die Heiligen ihr in allen Einzelheiten auch die Berge erklärten (Röwekamp, 130–132). 21 Vgl. Egeria 4,2 (Röwekamp, 132). 22 Vgl. Egeria 2,3: quae scripta sunt (Röwekamp, 122). Es wird dabei nicht ganz klar, ob Egeria die Beschreibung wirklich in der Bibel gefunden hat oder sich auf andere Quellen bezog. Letztere sind allerdings nicht mehr zu ermitteln.

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selbst zu sehen und sozusagen durch Autopsie die Angaben zu bestätigen. So schreibt sie wörtlich: „Das hatte ich schon aus den Berichten der Brüder (referentibus fratribus) erfahren, bevor wir zum Gottesberg kamen; nachdem ich nun selbst dort gewesen bin, weiß ich genau, daß es so ist.“23 In diesem Fall ging es allerdings nicht direkt um die Bestätigung eines Ortes, sondern vielmehr um die konkreten Aufstiegsmöglichkeiten auf den Gottesberg. Stellt man eine Liste der Orte zusammen, die Egeria mittels der Bibel suchte, so ist diese sehr detailliert. Sie scheint mehr oder weniger darum bemüht gewesen zu sein, alle mit dem Sinai verbundenen biblischen Ereignisse dingfest zu machen. Dazu gehörten nach den Kapiteln 1–5 u. a.: die Lustgräber (Num 11,31–35) der Aufenthaltsort der Kinder Israels (Ex 19,2; 24,18) der Ort der Anfertigung des goldenen Kalbes (Ex 32,1–6) der Ort des brennenden Dornbusches (Ex 3) der Gottesberg (mons Dei; Ex 19,18–20) die Höhle des Moses auf dem Gipfel (Ex 33,22) der Horeb mit der Eliahöhle (1 Kön 19,9.13 mit Steinaltar, an dem Elia opferte) der Ort Aarons und der 70 Ältesten (Ex 24,9–14) der Ort, an dem Mose die Gesetzestafeln zerbrach (Ex 32,19) die Fundamente der Behausungen des Lagers der Israeliten der Ort, wo Mose die Kinder Israels von Tor zu Tor laufen ließ (Ex 32,27) der Ort, wo das goldene Kalb verbrannt wurde der Bach, aus dem Mose die Kinder Israels trinken ließ (Ex 32,20) der Ort, wo die 70 Ältesten Anteil am Geist von Mose erhielten (Num 11,24) der Ort, wo die Israeliten von Gier nach Speise ergriffen wurden (Num 11,4) die „Brandstätte“, wo ein Teil des Lagers verbrannte (Num 11,1f) der Ort, wo es Manna und Wachteln regnete (Ex 16,13–26; Num 11,7–9) die Stelle, an der Mose zum ersten Mal das Bundeszelt zusammenfügte (Ex 40,1–33). Vollständigkeit ist beim Besuch demnach das oberste Ziel der Reisegruppe. Dabei konzentriert man sich nicht nur auf die biblischen Orte. Egeria betont, dass sie und ihre Mitreisenden nicht nur alle heiligen Orte, sondern auch alle Einsiedeleien sehen wollten.24 Allerdings bemerkt sie selber, dass eine Beschreibung aller Stätten kaum möglich sei: „Und so wurde uns einzeln gezeigt, was nach den heiligen Büchern Moses dort an diesem Ort geschehen sein soll – das heißt in jenem Tal, das, wie gesagt, am Fuß des Gottesberges, des heiligen Sinai liegt. Das alles im einzelnen zu beschreiben wäre zu viel, weil wir so viel nicht behalten konnten.“25

23 Egeria 2,7 (Röwekamp, 125). 24 Vgl. Egeria 4,5 (Röwekamp, 134). 25 Egeria 5,8 (Röwekamp, 141).

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In jedem Fall hält die Pilgerin stolz fest, dass sie alle heiligen Orte gesehen habe, alle Orte, „die die Kinder Israels auf dem Hin- oder Rückweg zum Gottesberg berührt hatten.“26 Egeria und ihre Gruppe hatten einen festen Verhaltenskodex an jedem von ihnen aufgesuchten Ort. Anscheinend haben sie dabei auch Anregungen ihrer Führer aufgenommen. So schreibt sie selbst, dass es bereits feste Gewohnheiten an den Pilgerorten gab – bei der Ankunft an den sogenannten „Lustgräbern“ hält sie jedenfalls fest: „Wenn man also an diesen Ort kommt, dann ‚ist es‘, wie uns die heiligen Führer, die uns begleiteten, zur Erinnerung sagten, ‚eine Gewohnheit (consuetudo), daß alle, die hierher kommen, ein Gebet sprechen, denn von hier aus kann man zum ersten Mal den Berg Gottes sehen‘ – so machten auch wir es.“27 In der Regel gehört also zumindest das Sprechen eines Gebetes zum Programm an den Pilgerorten.28 Meist sind die Gebete aber noch umfangreicher gestaltet. Auf dem Gipfel des Mose-Berges las die Pilgergruppe z.B. die entsprechende Stelle aus dem Buch Mose und feierte daraufhin die Kommunion.29 Bei der Beschreibung des Besuches am Horeb kommentiert die Asketin das inständige Gebet und die Schriftlesung an den heiligen Orten: „Das war nämlich fast (immer unsere Gewohnheit, daß überall, wenn wir zu den Orten gekommen waren, die) ich ersehnte, immer die entsprechende Stelle aus der Bibel gelesen wurde.“30 An anderen Orten erwähnt Egeria, dass nicht nur die entsprechende Bibelstelle gelesen, sondern auch ein Psalm gesungen wurde. Die ganze Handlung bezeichnet sie dann als Gebet (oratio).31 Von Gebeten berichtet Egeria auch am Dornbusch und an der nahegelegenen Kirche. Dort habe man mit den Mönchen übernachtet und erst am kommenden Tag eine Eucharistie gefeiert, weil es am Abend schon zu spät war. So habe die Zeit nur für eine Schriftlektüre gereicht.32 Egeria nimmt die Mönche vor Ort intensiv wahr und hat mit vielen von ihnen auch Kontakt. Auf dem Berg Sinai selbst berichtet sie von mehreren Einsiedeleien (monasteria), in denen Mönche wohnen, die Gastfreundschaft gewähren (prebentes nobis omnem humanitatem). Auch eine Kirche und einen Priester habe es dort gegeben. Egeria stellt also eine Art semi-anachoretisches Mönchtum u.a. auf dem Berggipfel fest. Am Sonntagfrüh erklommen die Mönche und der Priester gemeinsam mit der Reisegruppe sogar die einzelnen Gipfel.33 Auf dem Sinai-Gipfel traf Egeria dann auf andere Mönche und einen weiteren Priester, die dort in der Nähe wohnten, nicht aber auf dem Gipfel selbst, der unbewohnt war. Sie berichtet ferner von Obstgärten und selbst Ackerland, die sich am Fuße des Berges

26 27 28 29 30 31 32 33

Egeria 5,11 (Röwekamp, 143). Egeria 1,2 (Röwekamp, 119). Vgl. auch Egeria 2,4 (Röwekamp, 122). Vgl. Egeria 3,6 (Röwekamp, 128). Egeria 4,3 (Röwekamp, 133–135). Vgl. Egeria 4,4 (Röwekamp, 134). Vgl. Egeria 4,8 (Röwekamp, 136). Vgl. Egeria, 3,1 (Röwekamp, 124).

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befanden. Von dort gaben die Mönche ihr auch Früchte als „Eulogien“, als Segensgaben mit.34 Auffällig ist, dass Egeria am Dornbusch noch keine Klosteranlage beschreibt. Vielmehr scheint es zu ihrer Zeit hier nur Einsiedeleien und eine Kirche gegeben zu haben. So heißt es bei ihr wörtlich zum Dornbusch: „Er befindet sich an dem Ort am Anfang dieses Tales, wo es sehr viele Einsiedeleien gibt und eine Kirche. Vor eben dieser Kirche aber ist ein sehr anmutiger Garten mit bestem Wasser im Überfluss; in diesem Garten steht der Dornbusch.“35 Die Asketin erwähnt – anders als der Märtyrerbericht eines gewissen Ammonios – nicht, dass es zu ihrer Zeit wohl auch schon einen Fluchtturm für die Mönche gegeben hat. Diesen hat Peter Grossmann jedenfalls in der Anlage archäologisch wiederentdeckt.36 Egeria beschreibt am Sinai allerdings bereits an mehreren Orten Kirchen: So bei der semi-anachoretischen Siedlung im Bergmassiv 37 eine kleine Kirche auf dem Gipfel des Mose-Berges,38 eine „am Horeb“39 und eine auch am Dornbusch in der Nähe von sehr vielen Einsiedeleien.40 Das weist darauf hin, dass das Pilgerwesen schon in seinen Anfängen heilige Stätten auch mit entsprechenden Kirchbauten verbunden hat. Die Angaben der Pilgerin dürften in diesem Fall jedenfalls zutreffen, auch wenn die von ihr beschriebenen Anlagen heute archäologisch nicht mehr zu erheben sind. Egeria beschreibt nämlich die von ihrer Gruppe besuchten Orte in der Regel recht nüchtern und sachlich. Gleichwohl wird an einigen Stellen aber auch deutlich, dass sie mitteilt, „was sie sehen will“.41 Der Gottesberg auf dem Sinai wird dementsprechend als so hoch beschrieben, dass alle anderen Berge als ganz kleine Hügel erscheinen.42 Auffällig ist insgesamt in dieser Frühzeit des Pilgerwesens, wie stark das Mönchtum mit demselben verbunden war. Die Mönche, selbst die Einsiedler vor Ort, scheinen Pilgern und selbst Pilgerinnen gegenüber sehr aufgeschlossen gewesen zu sein. In den Quellen des 5. und 6. Jahrhunderts, insbesondere in den auf dem Sinai angesiedelten Apophthegmata, wird von solch intensiven Kontakten allerdings – von einer Ausnahme abgesehen – nichts berichtet. 43 Dies dürfte aber auch mit der grundsätzlichen Intention der Apophthegmata Patrum zusammenhängen, zwischen dem Wüstenmönchtum und „der Welt“ deutlicher zu scheiden. Im 6. Jahrhundert hingegen lassen sich grundsätzlich zwei Tendenzen auf dem 34 Vgl. Egeria 3,6 (Röwekamp, 128). 35 Egeria 4,7 (Röwekamp, 137). 36 Vgl. Peter Grossmann, Neue baugeschichtliche Untersuchungen im Katharinenkloster im Sinai, AA 1988, 543–558. Zum Bericht des Ammonius vgl. Dan Caner, History and Hagiography from Late Antique Sinai. Including Translations of Pseudo-Nilus’ Narrations, Ammonius’ Report on the Slaughther of the Monks of Sinai and Rhaithou, and Anastasius of Sinai’s Tales of the Sinai Fathers (Translated Text for Historians 53), Liverpool 2010. 37 Vgl. Egeria 3,1 (nam et aecclesia ibi est cum presbytero; Röwekamp, 124). 38 Vgl. Egeria 3,3 (ecclesia non grandis; Röwekamp, 126). 39 Vgl. Egeria 4,1 (Röwekamp, 132). 40 Vgl. Egeria 4,6f. (Röwekamp, 134). 41 So die zutreffende Formulierung von Röwekamp, Egeria, 123 Anm. 8. 42 Vgl. Egeria 2,6, (Röwekamp, 122). 43 Die einzige Ausnahme bietet das Apophthegma Bu II 420in: Lucien Regnault, Les Sentences des Pères du désert. Nouveau recueil, Solesmes 21977, 244f, vgl. auch Dahari, Monastic Settlements, 164.

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Sinai festhalten: Auf der einen Seite entwickelt sich das Kloster am Dornbusch immer stärker als Pilgerzentrum, auf der anderen Seite fliehen die Einsiedler und Semi-Anachoreten nun zunehmend in die ferner gelegenen Teile der Wüste.

2. Der Ausbau des Pilgerwesens im 6. Jahrhundert Im 6. Jahrhundert kam es zu wesentlichen Veränderungen für das Pilgerwesen auf dem Sinai. Eine entscheidende Rolle dabei spielte die Kulturpolitik des Kaisers Justinian. Der Kaiser war nicht nur darum bemüht, die Grenzen seines Reiches militärisch abzusichern und sogar auszuweiten, er hat sich innerhalb des Reiches auch massiv um die Vereinheitlichung von Religionskulturen bemüht. Dementsprechend entstanden zu seiner Zeit eine Fülle von Kirchen und Pilgerzielen, die der Hofhistoriograph Prokop in seinem Buch über die Bauten Justinians beschreibt.44 Auch der Sinai blieb von der Baupolitik des Kaisers nicht unberührt. Zur Zeit Justinians entstanden wohl eine ganze Reihe von Grenzfestungen, die bis heute archäologisch nachweisbar sind. So sind etwa am Golf von Suez, also an der westlichen Sinaiküste, solche Militärlager u.a. in Ras Raya wieder ausgegraben worden.45 Auch die für Pilger bedeutsamen Zentren in Raithou, Ort einer wichtigen Klosteranlage, und in der Bischofsstadt Pharan wurden von Justinian ausgebaut und gesichert. Pharan diente auch als Militärposten.46 Prokop, der die zuverlässigste, da zeitgenössische Quelle darstellt, lässt sich jedenfalls in diesem Sinne verstehen. Wörtlich heißt es bei ihm: „Auf dem genannten Sinai wohnen Mönche, deren Leben in einer strengen Vorbereitung auf den Tod besteht und die dabei ganz ungefährdet die von ihnen besonders geliebte Einsamkeit (ἐρημία) genießen dürfen. Diesen Mönchen – sie hatten ja kein Verlangen und wollen in ihrer Überlegenheit gegenüber allen Menschendingen weder etwas besitzen noch ihre Köper pflegen, ja nicht einmal von irgend einem anderen Ding Nutzen ziehen – baute Kaiser Justinian eine Kirche (ἐκκλησία) und weihte sie der Gottesmutter, damit sie dort dauernd dem Gebet und dem heiligen Dienst leben könnten. Diese Kirche errichtete er aber nicht auf dem Gipfel des Berges, sondern weit unten. Kein Mensch kann nämlich auf der Höhe eine Nacht zubringen, da zu dieser Zeit dauernd Donnerschläge und sonstige himmlische Laute zu vernehmen sind, welche eines Menschen Kraft und Denken erschüttern müssen. Dort soll einstmals Moses die Gebote von Gott empfangen und dann den Menschen mitgeteilt haben. Am Fuß des Berges erbaute der Kaiser auch ein sehr starkes Kastell (φρούριον ἐχυρώτατον) und errichtete einen Wachposten von Soldaten (φυλακτήριον στρατιωτῶν), damit die sarazenischen Barbaren bei der schon von mir erwähnten Menschenleere des Landes nicht in aller Heimlichkeit in die palästinensischen Gebiete einfallen könnten.“47 44 Vgl. Otto Veh, Prokop. Bauten, in: Prokop, Werke 5, Darmstadt 1977. 45 Vgl. zu den Befestigungsanlagen die seit 2003 veröffentlichten Grabungsberichte von Mutsuo Kawatoko, Archaeological survey of the Rāya/al-Ṭūr area on the Sinai peninsula, Egypt. 46 Vgl. u.a. den Anonymus (Antoninus) von Placentia, Itinerarium 40 (Geyer, Itineraria, 186), der u.a. von 80 in Pharan angesiedelten Militärposten spricht. 47 Prokop, Bauten V 9 (Veh, 275–277).

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Offenbar sicherten nicht nur die Militärposten die Wege für die Pilger ab, sondern auch eigens für die Pilger eingesetzte Repräsentanten des Heeres, die für die Sicherheit sorgten. So berichtet der Anonymus von Placentia um 560 n. Chr. von einem Herold (praeco), der den Pilgern Empfehlungen für sichere Wege nach Jerusalem gibt.48 Das Kloster am Dornbusch ist auch aufgrund der archäologischen Überreste ziemlich eindeutig in die Zeit des Kaisers Justinian zu datieren. Dies gilt insbesondere für die Kirche. Die dort erhaltenen Dachbalken verweisen auf eine Entstehungszeit zwischen 548 und 557 n.Chr. Mit diesem Kirchbau entstand nun ein repräsentatives Pilgerzentrum,49 das den Dornbusch als zentrale Pilger-Reliquie in besonderer Weise umbaute. Der Dornbusch selber wurde unmittelbar im Osten vor der Apsis der Kirche verehrt und war durch zwei seitliche Kapellen gerahmt. George Forsyth hat bei seiner im Rahmen der großen MichiganPrinceton-Alexandria-Expedition in den Jahren 1958 bis 1963 sogar die Vermutung angestellt, dass die Kirche ursprünglich eine Art Kombination von Mönchskirche und Pilgerkirche dargestellt habe. Die Pilger seien zunächst durch die Seitenkapellen wie in einer Art Umgang um den Zentralraum gepilgert, um dann schließlich am zentralen Gottesdienst der Mönche im Mittelschiff teilzunehmen. Der Blick auf das auch in justinianischer Zeit entstandene Mosaik hätte schließlich den Höhepunkt des Besuchs dargestellt. Wenn auch eine solche Nutzung der Seitenkapellen archäologisch wohl nicht haltbar ist, so wird die Nutzung der Kirche in doppelter Weise in jedem Fall stattgefunden haben. Dass die Kirche als eine Art Kyriakon für die in der Umgebung lebenden Mönche gedient hat, ist jedenfalls mehr als wahrscheinlich. Und die Nutzung durch die Pilger ist ebenfalls belegt. Auch im 6. Jahrhundert kam es also noch zu Begegnungen und wohl auch gemeinsamen Gottesdiensten von Mönchen und Pilgern. Das Klosterquadrat dürfte größtenteils auch zur Zeit Justinians entstanden sein. Mit eingebaut wurde der bereits erwähnte Fluchtturm. Die Klosteranlage diente den Mönchen50 und wohl auch den Pilgern als Schutz, den Pilgern wohl auch als Unterkunft. Es war durch eine Art Kasematten-Struktur geprägt. Das bedeutet, dass weite Teile des Innenhofes zur Zeit Justinians noch nicht bebaut waren. Auch die Mahlzeiten für größere Gruppen dürften innerhalb des Klosterquadrates stattgefunden haben. Zur Zeit Justinians dürfte auch der Pilgerweg auf den Gipfel des Mose-Berges und die dortige Kirche neu angelegt worden sein.51 Dass es eine ältere Infrastruktur und zahlreiche Einsiedeleien und semi-anachoretische Ansiedlungen in dieser Gegend gab, ist bereits bei Egeria belegt. Im 6. Jahrhundert dürften aber die beiden Torbögen und möglicherweise auch die Steinbeläge der Pilgertreppe auf den Berg hinzugekommen sein. Die sogenannte 48 Vgl. Anonymus, Itinerarium 39 (Geyer, Itineraria, 214). 49 Vgl. zu der Funktion des Dornbuschklosters und insbesondere seiner Kirche zusammenfassend Andreas Müller, Das Konzept des Geistlichen Gehorsams bei Johannes Sinaites. Zur Entwicklungsgeschichte eines Elements orthodoxer Konfessionskultur (STAC 37), Tübingen 2006, 81f. 50 Vgl. Anonymus, Itinerarium 37 (Geyer, Itineraria, 213). 51 Zur Kirche auf dem Moseberg vgl. Sophia Kalopissi-Verti/Maria Panayotidi, Excavations on the Holy Summit (Jebel Mūsā) at Mount Sinai. Preliminary Remarks on the Justinianic Basilica, in: Sharon E.J. Gerstel/Robert S. Nelson, Approaching the Holy Mountain. Art and Liturgy at St Catherine’ Monastery in the Sinai, Turnhout 2010, 73–106, und Petros Koufopoulos/Marina Myriantheos-Koufoupoulou, The Architecture of the Justinianic Basilica on the Holy Summit, in: ebd., 107–117; zum Pilgerweg vgl. Müller, Konzept, 75f.

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Büßerpforte und die Stephanos-Pforte stehen bis heute. Eine Inschrift, die sich ins 6. Jahrhundert deuten lässt, ist erhalten und verweist auf einen Hegumenos Johannes, der möglicherweise mit dem bedeutenden Autor der Klimax, der „Leiter zum Paradies“ identifiziert werden kann. Durch den Pilgerbetrieb kamen die Mönche, die am Berg Sinai bzw. in der Gegend des von ihm oft unterschiedenen, benachbarten Horebs wohnten, wohl auch intensiver mit Menschen aus verschiedensten Ländern in Kontakt. Davon zeugen vor allem Keramikfunde, die zur Zeit der israelischen Besatzung des Sinais von Israel Finkelstein systematisch ausgewertet worden sind.52 Auch hier scheint es im 6. Jahrhundert also noch Interaktionen zwischen Pilgern und Mönchen gegeben zu haben, wie sie Egeria im 4. Jahrhundert bereits beschrieben hat. Die Keramikfunde zeugen nun aber von einer enormen Zunahme des Pilgerbetriebs. Diese Pilger wurden nun auch programmatisch am Pilgerort beeinflusst.

3. Das Verklärungsmosaik als Bildprogramm auch für Pilger Das Apsis-Mosaik im Katholikon des Dornbuschklosters kann als dessen bedeutendstes erhaltenes Kunstwerk aus der Spätantike gelten. Ich habe es an anderem Ort ausführlich beschrieben und kann mich hier auf einige wenige Aspekte des Mosaiks beschränken, das bei der Michigan-Princeton-Alexandria-Expedition im Kloster 1958–1963 erstmals gründlich untersucht worden ist. 53 Das Mosaik stammt insgesamt aus derselben Zeit wie das Katholikon, wahrscheinlich aus den Jahren 565/66 n.Chr. Die Künstler stammten wohl aus der Hauptstadt und waren möglicherweise sogar vom Bauherrn Justinian noch selber in das Kloster geschickt worden. In jedem Fall lässt sich das Mosaik in gewisser Weise als Propaganda für den Pilgerort, die vom Kaiser geförderte Christologie und auch reichskirchliche Strukturen der Zeit verstehen. Bereits der Dornbusch als solcher konnte als klassisches Symbol für das christologische Dogma von Chalkedon, die Verbindung von göttlicher und kreatürlicher Natur gelten. Mit der Darstellung der Verklärung Christi wurde dieses Motiv nun christologisch ausgedeutet. Die wundersame Durchdringung menschlicher durch die göttliche Natur, ohne dabei die menschliche zu zerstören, wurde jedenfalls den Pilgern meisterhaft vor Augen gestellt. Dabei hat schon Solzbacher festgehalten, dass in dem Verklärungsmosaik eine gewisse „Asymmetrie zugunsten der göttlichen Natur Christi in Form der Divinisation seiner menschlichen“54 wahrzunehmen ist. Dies entspricht der kaiserlich geförderten, sogenannten neuchalkedonischen Christologie, wie sie auf dem Konzil von Konstantinopel 553 n.Chr. festgehalten worden ist. Letztlich hat der Auftraggeber der Klosterkirche den Ort also genutzt, um Pilgern seine Theologie ikonographisch nahezubringen. Diese ließ sich zugleich eng mit monastischen Idealen verbinden. Den Mönchen vor Ort eröffnete die Vorstellung von einer Divinisation, einer θέωις oder θεοποίησις der menschli52 Vgl. Israel Finkelstein, Byzantine Monastic Remains in the Southern Sinai, in: DOP 39 (1985), 39–75, bes. 75. 53 Zum Apsismosaik im Katholikon des Dornbuschklosters vgl. Andreas Müller, Das Verklärungsmosaik im Katharinenkloster. Zur Bedeutungsvielfalt religiöser Bilder, in: Martin Tamcke, Blicke gen Osten. FS Friedrich Heyer (StOKG 30), Münster 2004, 27–55. 54 Rudolf Solzbacher, Mönche, Pilger und Sarazenen. Studien zum Frühchristentum auf der südlichen Sinaihalbinsel von den Anfängen bis zum Beginn islamischer Herrschaft (MThA 3), Altenberg 1989, 268.

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chen Natur, durchaus auch Zukunftsperspektiven für ihre eigene monastische Existenz. Ziel des Mönchtums war jedenfalls auch an diesem Punkt die Christusnachfolge. Das Mosaik legte dementsprechend nicht nur Pilgern eine bestimmte Form von Theologie nah, sondern stellte auch Mönchen Ideale ihrer monastischen Zukunft vor Augen. Bemerkenswert ist in der Gesamtanlage des Mosaiks aber auch die Positionierung des Stifters. In einer vertikalen Achse werden den Betrachtenden unterschiedliche Existenzweisen Christi vor Augen geführt. Am untersten Punkt der Achse steht eine Person, eingereiht in Mönche und Propheten, die zwar als David beschriftet, aber mit den Gesichtszügen des Kaisers Justinian gestaltet ist. Damit stellt sich Justinian gleichsam als irdischen Vertreter Gottes vor, ein Konzept, das sich auch in zahlreichen Texten des Hofes seiner Zeit findet. Somit spiegelt das Mosaik neben der Christologie und der monastischen Theologie der Zeit auch eine Art Reichskirchenideologie wider, die Pilgern gleichsam ikonographisch ausgezwungen worden ist. Pilgerorte wie der Sinai konnten demnach auch als einen Ort ikonographischer Propaganda genutzt werden.

4. Ein Pilgerbericht aus dem 6. Jahrhundert Was haben die Pilger im 6. Jahrhundert aber am Sinai wirklich wahrgenommen? Eine Beschreibung des Mosaiks liegt aus dieser Zeit jedenfalls nicht vor. Dennoch schildern zwei zeitgenössische Berichte die Eindrücke von Pilgern in einer Epoche, in der deutlich andere Interessen als zur Zeit der Egeria verfolgt wurden. Von den zwei Berichten ist zumindest einer recht ausführlich gestaltet: Es handelt sich einerseits um das knapp gehaltene und zwischen 518 und 53055 entstandene Itinerar des Diakons Theodosios und andererseits um den etwa 560 geschriebenen Pilgerbericht des Anonymus von Placentia.56 Theodosios berichtet in seinem 27. Kapitel vom Sinai keine Details. Er verweist lediglich darauf, dass bei der Stadt Pharan die Schlacht der Israeliten gegen die Amalekiter stattgefunden habe (vgl. Ex 17,8–16) und dass Aila– so die falsche Information des Pilgers – eine Gründung Alexanders des Großen sei. Über einige Entfernungsangaben hinaus finden sich keine Hinweise auf die eigentlichen Pilgerorte am Dornbusch. Das Klosterquadrat konnte Theodosios ja ohnehin noch nicht besucht haben.57 Der Anonymus aus Placentia, dem heutigen Piacenza, berichtet hingegen viel genauer von seinen Eindrücken. Dabei lassen sich einige deutliche Veränderungen in der Darstellung gegenüber Egeria beobachten. Vor allem lässt sich gegenüber Egeria eine Konzentration auf die wesentlichen Stätten am Sinai feststellen, die durch die kaiserliche Baupolitik massiv gefördert worden waren.58

55 Zur Datierung vgl. Herbert Donner, Pilgerfahrt ins Heilige Land. Die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4.–7. Jahrhundert), Stuttgart 1979, 192. 56 Zur Datierung (zwischen 555 und 563) vgl. Dahari, Monastic Settlements, 23. 57 Vgl. die Darstellung des Theodosius in Geyer, Itineraria, 123. 58 Vgl. Dahari, Monastic Settlements, 166.

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Dass es tatsächlich zu Kontakten zwischen Mönchen und Pilgern kam, schildert der Anonymus bereits bei seiner Ankunft am Gottesberg, den die Pilger ähnlich wie Egeria als erstes besteigen wollten. Wörtlich schreibt der Pilger: „Als wir uns anschickten, den Sina zu besteigen, siehe, da kam uns eine gewaltige Schar von Mönchen und Einsiedlern entgegen, mit Kreuzen und Psalmen singend. Sie begrüßen uns voller Ehrerbietung auf den Boden hingestreckt, wie auch wir es ganz ähnlich unter Tränen taten. Dann führten sie uns in das Tal zwischen Choreb und Sina.“59 Dementsprechend gelangte die Pilgergruppe doch zunächst zum Klosterquadrat, das nach den Aussagen des Anonymus von Befestigungsmauern (muris munitis) umgeben war. 60 Dort hatte man sich inzwischen auch soweit auf den Pilgerbetrieb eingestellt, dass es Altväter gab, die als Dolmetscher für verschiedene Sprachen dienten. Der Pilger hebt drei Altväter besonders hervor, die nicht nur Latein und Griechisch, sondern auch Syrisch und Koptisch sowie selbst „Bessisch“ zu sprechen in der Lage waren. Bei letzterer Sprache ist nicht ganz geklärt, ob es sich hier um Arabisch oder Äthiopisch gehandelt hat.61 Vom Kloster aus stieg die Pilgergruppe vorbei an der sogenannten Elia-Mulde zum Gipfel des Mose-Berges, wo zu ihrer Zeit allerdings nur eine kleine Kapelle stand, die nach den Angaben des Anonymus etwa sechs Fuß breit und lang gewesen sein soll.62 Wahrscheinlich war die von Justinian geplante Kirche zur Zeit des Pilgers noch nicht fertig. Auch jetzt war es noch nicht üblich, auf dem Gipfel in der Nacht zu bleiben – man stieg vielmehr erst im Morgengrauen hinauf, um dort Gottesdienst zu halten. Diesen Aufstieg verbindet der Anonymus mit einem Brauch, der charakteristisch für seine viel stärker durch Akte sogenannter „Volksfrömmigkeit“ geprägte Schilderung ist: Die Pilger hätten sich auf dem Berg die Bärte und die Haare als Opfer (pro deuotione) geschoren63 – ein Brauch, der wohl vorislamisch-arabische Wurzeln hat. Der Anonymus hält nicht nur fest, dass viele Mönche am Berg Sinai bzw. am Horeb ihre Zellen haben. Vielmehr hat er nun – anders als Egeria – auch Interesse an nichtchristlichen Bräuchen. So beschreibt er einen vorislamisch-arabischen Kult, der keineswegs nur von den unmittelbar am Kloster wohnenden Arabern gepflegt worden zu sein scheint: „Auf diesem Berg, auf einer Seite des Berges, haben die Araber ihr marmornes, schneeweißes Kultbild aufgestellt. Dort hält sich auch ständig ihr Priester auf, bekleidet mit der Dalmatica und einem leinenen Pallium. Wenn aber der Zeitpunkt ihres Neumondfestes naht, beginnt, bevor der Mond wieder aufgeht, an ihrem Festtage der Marmor die Farbe zu wechseln. Sobald der Mond eintritt, wenn sie zu beten anfangen, wird der Marmor schwarz wie Pech. Wenn dann die Festzeit zu Ende ist, gewinnt er seine frühere Farbe wieder, worüber wir uns sehr gewundert haben (unde omnio mirati sumus).“64 59 60 61 62 63 64

Anonymus, Itinerarium 37 (Donner, Pilgerfahrt, 281). Vgl. ebd. (Geyer, Itineraria, 183f). Vgl. Donner, Pilgerfahrt, 282 Anm. 171. Vgl. Anonymus, ebd. (Geyer, Itineraria, 184). Vgl. ebd. Anonymus, Itinerarium 38 (Donner, Pilgerfahrt, 283; Geyer, Itineraria, 184f).

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Es ist nicht nur auffällig, dass der Pilger diesen Brauch ausführlicher als alles andere am Sinai beschreibt. Auch verbindet er dies nicht mit einer negativen Wertung, sondern vielmehr mit einer Art von Bewunderung. In seinem Bericht liebt er es jedenfalls, Wunder wie dieses darzustellen, offensichtlich auch unabhängig von dessen religiösem Rahmen. Der Sinai als Pilgerziel wird hier jedenfalls erstmals auch als Ort interreligiöser Begegnungen geschildert. Solche Begegnungen zwischen unterschiedlichen religiösen Kulturen nehmen in der Folgezeit noch deutlich zu. Der Pilger war nicht nur an paganen, sondern auch an christlich vereinnahmten Wundern interessiert. So schildert er schließlich noch das Sammeln von Manna in einem Tal zwischen Sinai und Horeb. Dieses Manna würde in Fässern im Kloster gesammelt und als „Eulogie“ an die Pilger gegeben.65 Während Egeria sich also noch mit Früchten aus den Gärten der Klöster als Segensgabe begnügte, bringt der Anonymus gut zweihundert Jahre später wundersame Eulogien mit nach Hause. Letztlich interessieren ihn nicht nur die heiligen Orte und selbst andere religiöse Kulturen, sondern auch die Fauna in der Wüste. Er verweist auf Löwen, Panther, Wildesel, Gazellen, Wildziegen und Maultiere, die alle friedlich zusammenleben. Der Pilger erklärt diesen Frieden mit der „Ödnis der Wüste“, mag aber auch auf Jes 11,6–9 anspielen.66 In jedem Fall ist bemerkenswert, dass von einem Aufsuchen heiliger Orte mit der Bibel, von der Bestätigung biblischer Schriften durch Autopsie und auch von entsprechenden Gebeten an den heiligen Orten fast gar nicht die Rede ist. Auch im 6. Jahrhundert scheinen nicht nur Männer, sondern auch Frauen den Sinai aufgesucht zu haben. Davon zeugt u.a. die Erzählung über einen Altvater Orentios in den Diegemata des Anastasios Sinaites.67 Nach dieser Erzählung wollte eine Patrizierin zum Altvater pilgern, um Heilung für ihre epileptische Tochter zu erlangen. Jener ließ sie aber nicht zu sich kommen, sondern heilte die Tochter durch das Übersenden einer Weintraube. Bekannt ist auch die möglicherweise sogar mit jener identischen Patrizierin Rusticiana aus dem Briefwechsel Papst Gregors des Großen. Diese hat den Sinai im Jahr 592 n.Chr. besucht, um dort geistliche Gespräche mit den Vätern zu führen.68 Es ist in jedem Fall bemerkenswert, dass auch der Sinai zu einem Reiseziel solch adeliger Frauen geworden ist, was einen gewissen Reisekomfort und auch eine ausgeprägte Sicherheit zur Voraussetzung gehabt haben dürfte.

5. Pilger hinterlassen Spuren: Inschriften, Stiftungen und Kunstschätze Die Pilger haben auf dem Sinai nicht nur Waren aus ihrer jeweiligen Heimat zurückgelassen, wie bereits zu beobachten war. Vielmehr haben sie sich auch anderweitig verewigt. So lassen sich zahlreiche Inschriften von Pilgern sowohl auf der Westroute über Pharan als auch auf der Ostroute über Aila beobachten. Noch heute zeugt u.a. der Fels der Inschriften 65 Vgl. Anonymus, Itinerarium 39 (Geyer, Itineraria, 185). 66 Vgl. ebd. 67 Vgl. Anastasios, Diegema 18 (François Nau, Le texte grec des récits du moine Anastase sur les saints pères du Sinai, in: OC 2 [1902], 58–89, 70f). 68 Vgl. Gregor Reg. IV 44 (CChr.SL 140, ed. Norberg, 264f). Zur Identifizierung der beiden Patrizierinnen vgl. u. a. Heinz Skrobucha, Sinai, Olten-Lausanne 1959, 42.

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nahe der Oase Ain Hudra davon. Diese Inschriften oder Graffiti belegen wiederum, dass die Pilger sehr international durchmischt waren. So gibt es z.B. zahlreiche Inschriften von Armeniern, die in großen Gruppen über den Sinai gepilgert sind. Michael E. Stone hat immerhin 114 ab dem 7. Jahrhundert verfasste Inschriften vor allem an der östlichen Pilgerroute69 über Aila gefunden.70 Auch die Inschriften machen deutlich, dass es im 7. Jahrhundert ein starkes Anwachsen der Pilgerströme gegeben hat. Im Dornbusch-Kloster selbst hatte der Besuch zahlreicher Pilger sicher auch ökonomische Konsequenzen. Es ist zumindest durch einen Papyrus aus den Nessana-Papyri definitiv belegt, dass es solche Konsequenzen gab. Nach dem Nessana-Papyrus 89 aus dem späten 6. bzw. 7. Jahrhundert sind jedenfalls auch Gelder durch Händler und Pilger dem SinaiMönchtum zugekommen.71 Die mit dem neuen Geldsegen verbundene Veränderung wurde von Teilen des Sinai-Mönchtums stark kritisiert. Insbesondere der der Sinai-Spiritualität nahestehende Johannes Moschos liebt Erzählungen, in denen ein falscher Umgang von Konventen mit Geld getadelt oder dessen verheerende Folgen geschildert werden.72 Das Kloster profitierte jedenfalls materiell enorm von den aufblühenden Pilgerströmen. In deren Zusammenhang unterstützte selbst Papst Gregor der Große aus dem fernen Rom den Aufbau einer Krankenstation im Kloster.73 Dabei ist nicht mehr deutlich, ob sie ausschließlich den Mönchen oder auch der Versorgung der Pilger dienen sollte. Die Herkunft vieler Kunstschätze im heutigen Katharinenkloster ist nicht endgültig geklärt. Vor allem ist wenig über den Weg z.B. der ganz frühen Ikonen bekannt, die den Bildersturm des 8. und 9. Jahrhunderts auf dem Sinai überdauert haben und aus der uns interessierenden Zeit stammen. Es gilt als sicher, dass sie in Werkstätten Konstantinopels gemalt worden sind.74 Ob sie als Gaben von Pilgern oder z. T. sogar als Geschenke zur Erstausstattung des Katholikons zu verstehen sind, ist nicht mehr zu entscheiden. Es ist aber 69 Zu den Pilgerrouten zum Dornbusch-Kloster vgl. u. a. Jean-Pierre Sodini, Les routes de pèlerinage au Nord-Sinaï et au Négev, in: D. Valbelle/C. Bonnet, Le Sïnai durant l’Antiquité et le Moyen Âge. 4000 ans d’histoire pour un désert. Actes du colloque «Sinaï» qui s’est tenu à l’Unesco du 19 au 21 septembre 1997, Paris 1998, 119–126. Philip Mayerson, The Pilgrim Routes to Mount Sinai and the Armenians, in: Monks, Martyrs, Soldiers and Saracens. Papers on the Near East in Late Antiquity (1962– 1993), Jerusalem 1994, 183–196,184f.193f.196 hat deutlich gemacht, dass die westliche Route zum Dornbuschkloster nach den Inschriftenfunden keineswegs wie bis dahin auf der Basis der Pilgerberichte u.a. Egerias und des Anonymus von Placentia angenommen als grande route ordinaire zum Sinai zu gelten habe, sondern vielmehr die Ostroute durch das Wadi Haggag. Diese Route über Aila sei im 5. und 6. Jh. nachweislich mit Hilfstruppen geschützt worden, vgl. 189f. 70 Vgl. Michael E. Stone, The Armenian Inscriptions from the Sinai (HATS 6), Cambridge/MA 1982, und zusammenfassend Ders., Holy Land Pilgrimage of Armenians before the Arab Conquest, RB 93, 1986, 93–110, hier 108f. 71 Casper J. Kraemer, Excavations at Nessana III. Non-Literary Papyri, Princeton/NJ 1958, 256, Nr. 23 u. a. Im 7. Jh. sind zwei weitere Reisen zum Sinai aus Nessana belegt, die als Pilgerreise ausgerichtet gewesen zu sein scheinen, vgl. ebd. Nr. 72 und 73, beide wahrscheinlich um 683 zu datieren. 72 Vgl. etwa zu einem Konvent bei Nisibis Johannes Moschos ed. Elpidio Mioni, Il Pratum Spirituale di Giovanni Mosco. Gli episodi inediti del Cod. Marciano greco II, 21, in: OCP 17 (1951), 61–94, 83 Nr. I. 73 Vgl. Gregor, Reg. XI 2 (CCHR.SL 140A, ed. Norberg, 860). 74 Vgl. zu den Ikonen im Katharinenkloster als kurzen Überblick u.a. Catherine Jolivet-Lévy, La collection d’icônes de Sainte-Catherine, in: Le Sïnai durant l’Antiquité et le Moyen Âge. 4000 ans d’histoire pour un désert. Actes du colloque «Sinaï» qui s’est tenu à l’Unesco du 19 au 21 septembre 1997, Paris 1998, 165–170; ferner James Trilling, Sinai Icons. Another Look, in: Byz 53 (1983), 300–311.

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deutlich, dass das Pilgerziel Sinai offensichtlich mit großem Aufwand und bedeutender Kunst auf höchstem Niveau ausgestattet worden ist. Dies diente, wie an vielen anderen herausgehobenen Pilgerzielen, nicht nur der Schönheit des Ortes, sondern auch dem Ruhm der Stifter, über die uns allerdings auf dem Sinai – abgesehen von den im Mosaik, auf den Dachbalken der Klosterkirche und wenigen Inschriften im Klosterbereich – nichts mehr bekannt ist.

6. Pilgerbetrieb im großen Stil: Die Berichte aus dem 7. Jahrhundert Deutlich größere Pilgergruppen als bisher kamen im 7. Jahrhundert auf den Sinai. Davon zeugt zumindest eine Quelle, die allerdings nicht ganz leicht zu datieren ist. Es handelt sich um die Diegemata, die Erzählungen des Anastasios Sinaites.75 Die Textsammlung wurde um die Mitte des 7. Jahrhunderts abgeschlossen, enthält aber zum Teil auch viel älteres Erzählmaterial.76 Die Sammlung muss, wie viele andere monastisch tradierte Texte, zunehmend angewachsen sein. Anastasios berichtet jedenfalls von großen Pilgergruppen, die vermutlich aus Palästina über Aila zum Gabal Musa kamen. Die Erzählung steht mit dem Hegumenos Johannes in Verbindung und ist daher möglicherweise ins ganz frühe 7. Jahrhundert, eventuell auch ins ausgehende 6. Jahrhundert zu datieren. Anastasios schreibt von 600 Fremden im Kloster, die von einer ganzen Schar von Köchen, Ökonomen und Celleraren bewirtet wurden. Wörtlich heißt es dort: „Als allerdings eines Tages ungefähr sechshundert Fremde hierher kamen und während sie saßen und aßen, bemerkte unser frommer Vater Johannes einen Kurzgeschorenen, der sich auf jüdische Weise ein Tuch umgeworfen hatte und herumlief und mit Vollmacht den Köchen und Ökonomen und Celleraren und den übrigen Mitwirkenden Anordnungen gab. Als nun das Volk fortgegangen war, und nachdem sich die Bediensteten gesetzt hatten, um zu essen, wurde jener gesucht, der überall herumgelaufen war und Dinge angeordnet hatte, und wird nicht gefunden. Daraufhin sagt der Knecht Gottes, unser frommer Vater: Lasst ihn, der Herr Moses hat nichts Fremdes getan, da er am ihm eigenen Ort diente.“ 77 Die Erzählung macht nicht nur deutlich, dass mit dem Bau des Klosters nun auch zunehmend große Gruppen an den Sinai kamen. Vielmehr gab es inzwischen auch einen ganzen Stab an Bediensteten, die sich für die Gruppen zuständig fühlen: Köche, Ökonomen und sogenannte Cellerare – gemeint sind hier möglicherweise diejenigen, die aus den Speiseund Getränkevorräten des Klosters verteilen. Bemerkenswert ist in dem Diegema aber auch die enge Anbindung des Pilgerbetriebs an die wichtigste Gestalt des Alten Testaments, die den Ort mit geprägt hat. Dadurch, dass Mose nicht nur im Apsismosaik den Pilgern exponiert vor Augen geführt wird, sondern nun auch noch als solcher dargestellt wird, der den Pilgerbetrieb aktiv mit fördert, findet endgültig eine Vereinnahmung der alttestamentlichen Gestalt für das Christentum respektive den christlichen Pilgerbetrieb statt. Dass dieser sich 75 Vgl. Nau, Texte grec. 76 Vgl. zur Datierung der Diegemata Müller, Konzept, bes. 29–32. 77 Anastasios, Diegema 7 (Nau, Texte grec, 64); Übersetzung AM.

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Andreas Müller

in den Zeiten starker christologischer Auseinandersetzungen auch für Christen anderer Konfessionskulturen öffnete, lässt sich einem zweiten Diegema des Anastasios entnehmen. Darin stellt er fest, dass zwanzig Jahre vor der Redaktion der Diegemata, also etwa Mitte der 30er Jahre des 7. Jahrhunderts, eine Gruppe von 800 Armeniern zum Gottesberg kam. Hier berichtet der Autor wörtlich: „Es ist ein Brauch bei den Armeniern, wie alle wissen, häufig zum Heiligen Berg Sinai zu kommen. Vor zwanzig Jahren also kam eine große Reisegruppe von ihnen, ungefähr 800 Seelen. Und nachdem sie auf den Heiligen Gipfel hinaufgestiegen waren, als sie den inneren heiligen Felsen erreichten, wo Moses das Gesetz empfangen hatte, ereignete sich eine Vision Gottes und eine erschreckende Wundertat an dem Heiligen Ort und für jenes Volk, wie damals zur Zeit der Gesetzgebung. Der ganze Heilige Gipfel und jenes Volk schienen nämlich mitten im Feuer zu sein. Das Paradoxe aber war, dass niemand sich selber brennend oder von Flammen ergriffen wahrnahm. Einer sah aber den anderen wie Feuer. Nachdem also das ganze Volk erschrocken war und das Kyrie eleison fast eine Stunde gerufen hatte, wich das Feuer zurück, und es hatte nicht ein Haar von ihnen noch ein Oberkleid zerstört. Lediglich aber ihre Wanderstäbe brannten auf rechte Weise wie Wachs in der Vision, erloschen dann aber. Sie blieben allerdings, indem sie das Zeichen der Verbrennungsstätte hatten, verkohlt wie von Feuer bis an ihre Spitze, um durch ein derartiges Aussehen auch in ihrem Land zu zeugen, dass eine Stimme stark ertönte: Heute wurde der Herr am Berg Sinai wiederum im Feuer gesehen. Und da nunmehr einige Sarazenen auch diese Vision gesehen hatten, glaubten die Unvernünftigen nicht, und sie ließen nicht ab, diesen heiligen Ort jener und der ehrenwerten Kreuze wegen, die darauf waren, zu schmähen. Man musste ihnen aber sagen: Wenn Gott von den Christen geschmäht worden wäre, hätte er nicht derartige Visionen in ihren Kirchen bewirkt, wie er sie niemals bewirkt hat, auch nicht bei uns, noch in einem anderen Glauben, weder in der Synagoge der Juden noch [im Glauben] der Araber.“78 An dieser Erzählung ist zum einen bemerkenswert, wie selbstverständlich die Armenier hier eingeführt werden. Christologische Spannungen werden nicht berichtet. Vielmehr haben die Fremden sogar ein Erlebnis, das für ihren wahren Glauben spricht. Dieser wird mit demjenigen der Araber, die zu dieser Zeit noch nicht unbedingt Muslime gewesen sein müssen, und demjenigen der Juden kontrastiert. Dabei wird das Wunder an der heiligen Stätte als Erweis des wahren Glaubens stilisiert. Derartige Konkurrenz um Wunder an heiligen Orten spielt im mittelalterlichen Pilgerwesen immer wieder eine Rolle. Der Topos ist hier bereits angelegt, was auch mit der Tatsache zusammenhängt, dass der Sinai eben von vielen Religionen und später auch Konfessionen aufgesucht wurde.

78 Anastasios, Diegema 38 (Nau, Texte grec 81f), Übersetzung AM.

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Pilgern im spätantiken Christentum

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7. Die Reaktion von Mönchen Die großen Pilgerströme auf den Sinai haben die Lage vor Ort durchaus verändert. Hinzu kam – eng verbunden mit dem Aufblühen des Pilgerwesens – auch ein enormer Ausbau der Infrastruktur am Dornbusch.79 Dort entstand nicht nur die große Pilgeranlage, dort waren auch massive Veränderungen innerhalb des Mönchtums zu beobachten. Dieses übernahm wohl nicht nur nun in großem Umfang Aufgaben in der Pilgerbetreuung, dieses wurde auch durch die vom Kaiser eingeleiteten monastischen Reformmaßnahmen immer stärker zu Veränderungen gedrängt. Der Kaiser hatte jedenfalls Interesse daran, das Mönchtum in die Strukturen der Reichskirche stärker einzubinden, und förderte dementsprechend den Koinobitismus, das gemeinsame Leben unter einem Abt. Eremitische und semi-anachoretische monastische Lebensformen wurden damit zunehmend verdrängt.80 Auf dem Sinai lässt sich in dieser Zeit eine verstärkte Migration in die unzugänglichen Teile der Wüste beobachten.81 Es entstanden nun Lavren ähnliche Strukturen nicht nur in der Gegend um den weit vom Kloster entfernten Gabal Umm Shomer – die semi-anachoretischen Siedlungen von Deir Rumhan und Deir Antush mögen beispielhaft dafür stehen. Es blühten vielmehr auch sehr überschaubare monastische Zentren wie jenes im Wadi Siggiliye auf, die vollkommen abgelegen vom neuen Pilgertrubel waren. Das Pilgerwesen und auch die monastischen Reformbestrebungen Kaiser Justinians haben dementsprechend eine monastische Landschaft stark verändert. Es gibt kaum einen Ort in der christlichen Welt, an dem sich auf der einen Seite das Aufblühen des Pilgerwesens, die enorme Internationalität desselben und die logistischen Rahmenbedingungen so gut beobachten lassen wie auf dem Sinai. Es gibt aber auch kaum einen Ort, an dem so deutlich wird, dass das Pilgerwesen zu Veränderungen der autochthonen Bevölkerung, in diesem Fall der monastischen Besiedlung, auf dem Sinai geführt hat.

79 Vgl. zu der Gesamtsituation am Sinai auf archäologischer Basis Dahari, Monastic Settlements; ferner Müller, Konzept, 69–83. 80 Vgl. dazu Müller, a.a.O., 96–141. 81 Vgl. dazu ausführlich a.a.O., 83–89.

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Für und Wider das Pilgern Argumente aus dem Ethikon des Barhebraeus Cătălin-Stefan Popa Dieser Beitrag konzentriert sich auf das 1. Mēmrā des Ethikons (Buch der Ethik) von Gregor Barhebraeus, einem westsyrischen Autor des 13. Jahrhunderts. Ein Kapitel dieses Mēmrās ist der Pilgerreise nach Jerusalem gewidmet. Zu allererst aber eine kurze Einführung über den Autor und sein Schreiben. Gregor Barhebraeus wurde 1226 in einer angeblich zum Christentum konvertierten jüdischen Familie aus Melitene geboren und christlich getauft. Nach einem hermetischen Leben in der Gegend von Antiochia wurde er 1246 zum Bischof von Gubbās und Lāqabbīn geweiht. Im Jahr 1253 leitete er die bedeutendere Diözese Aleppo. Später wurde er zum Maphrian, dem Haupt der syrisch-orthodoxen Kirche im ostsyrischen Gebiet, gewählt. Er ist 1286 in Maragah gestorben und wurde im Kloster Mar Mattai in Mosul begraben.1 Barhebraeus ist eine der wichtigsten Persönlichkeiten der syrischen Renaissance2 und widmete sich bis zu seinem Lebensende einer intensiven literarischen Tätigkeit.3 Er beherrschte sowohl theologische als auch philosophische, philologische und astronomische Fragen und verfasste mehr als dreißig Bücher auf Syrisch und Arabisch.4 Barhebraeus eignete ein enzyklopädischer Geist, und seine literarischen Tätigkeiten erreichten sowohl christliche als auch muslimische Gelehrte. Die Muslime forderten ihn sogar auf, seine berühmte Chronographie5 ins Arabische zu übersetzen.6 Der Text des Ethikons ist in 42 syrischen bzw. 17 arabischen Handschriften erhalten. Es gibt derzeit zwei Editionen: von Paul Bedjan7 und von Julious Yeshu‘ Çiçek8, bei der es sich um eine handgeschriebene Kopie in Sertō in der Ausgabe von Bedjan handelt. Trotz der frühen Edition von Bedjan ist das Werk wenig behandelt worden, was höchstwahr1 Anton Baumstark, Geschichte der syrischen Literatur, mit Ausschluss der christlich-palästinensischen Texte, Bonn 1922, 312f, § 51a. 2 Vgl. Herman Teule, La renaissance syriaque (1026–1318), in: Irénikon 75 (2002), 174–194; Baumstark, a.a.O., 285–290. 3 Gregorii Barhebræi, Chronicon Ecclesiasticum, ed. by Joannes Baptista Abbeloos, et Thomas Josephus Lamy, III, Parisiis-Lovanii 1874, col. 475; Biji Markose Chirathilattu, Prayers and Fasts According to Bar Ebroyo (AD 1225/6–1286). A Study on the Prayers and Fasts of the Oriental Churches (StOKG 27), Münster 2004, 11f. 4 Zur Bücherliste des Barhebraeus vgl. Chronicon Ecclesiasticum III, cols. 475–480. 5 Vgl. Lawrence I. Conrad, On the Arabic Chronicle of Barhebraeus. His Aims and Audience, in: ParOr 19 (1994), 319–378. 6 Vgl. Gregorii Barhebræi, Chronicon Eccelsiasticum III, 467–469; Georg Graf, Geschichte der christlichen arabischen Literatur II (StT 133), Città del Vaticano 1947, 274. 7 Paul Bedjan, Ethicon, seu Moralia Gregorii Barhebraei, Paris-Leipzig 1898. 8 Julious Yeshu‘ Çiçek, Ktābā d-ītīqōn d-‘al myattrūt dubbārēmen syāmē d-mār Grīgōriyōs Yōḥannān Bar ‘Ebrāyāmapryānā d-madnḥā (Monastery of St. Ephrem the Syrian Publications 8), Monastery of St. Ephrem 1985; erneut veröffentlicht in: Bar Ebroyo Kloster Publications 38, Piscataway/NJ 2015.

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scheinlich auf eine fehlende vollständige Übersetzung in eine europäische Sprache zurückzuführen ist.9 Das „Buch der Ethik“ wurde für Anfänger in asketischen Fragen und Einsiedler verfasst, ist aber auch für Laien lesbar. Es enthält vier Mēmrē. Unser Blick liegt auf dem ersten Mēmrā, das von Herman Teule neu ediert und erstmals ins Englische übersetzt wurde.10 Der Text umfasst neun Kapitel und befasst sich mit asketischen Fragen, wie zum Beispiel dem Beten, dem Lesen spiritueller Bücher, dem Psalmenrezitieren, dem Fasten, dem Einsiedlerleben und dem Pilgern. Unser Interesse konzentriert sich auf das 9. Kapitel „Über die Reise nach Jerusalem“ mit seinen fünf Abschnitten. Barhebraeus widmet sich in seiner Argumentation zur Pilgerschaft zunächst der Darstellung von zwei unterschiedlichen Meinungen: zum einen von Menschen, welche materialiter die Heilige Stadt unbedingt sehen möchten, zum anderen einer Kategorie von Individuen, denen das himmlische Jerusalem viel wichtiger ist. Diese Gruppe besteht aus „umsichtigen, gebildeten Menschen, die es nicht für wichtig halten (in die Heilige Stadt zu gehen)“. Dem gegenüber stehen die „einfachen Leuten“, die es für ,,angemessen“ halten zu pilgern.11 Die Gruppe der gebildeten Menschen sehne sich danach, das himmlische Jerusalem statt des irdischen zu erreichen. Unter diesen sind „perfekte Solitäre und auserwählte Doktoren“. Ihr Argument ist, dass sie dem biblischen Wort in Joh 4,24 (Gott ist Geist, und diejenigen, die ihn anbeten, müssen anbeten im Geist und in der Wahrheit) folgen. Aufgrund dieses Wortes sowie der vorausgehenden Worte, wonach eine Stunde kommen werde, in der der Ort der Anbetung nicht mehr auf diesem Berg noch in Jerusalem sein werde, lehnen diese Väter die Pilgerschaft zum irdischen Jerusalem ab.12 Um den Standpunkt derer zu unterstützen, die nach dem himmlischen Jerusalem streben, lässt Barhebraeus eine frühmonastische syrische Autorität sprechen, ohne deren Namen zu erwähnen. Hier scheint es sich um Johannes von Dalyatha, einen wichtigen ostsyrischen Mönch des 7. Jahrhunderts, oder einen seiner Schüler zu handeln. Laut Barhebraeus antwortet diese Autorität einem seiner Gefährten, der ihm von seinem Wunsch schrieb, nach Jerusalem zu pilgern, dass es ein Irrtum sei, wenn er sich beeilen würde, nach dem irdischen und nicht nach dem himmlischen Jerusalem zu reisen. Die Lösung, auf welche der Mönchsvater den Frager weist, lautet, in seiner Zelle zu bleiben und sich in seinem Inneren zu bemühen: ,,Denn du selbst bist Jerusalem, und wenn du mir glaubst und auf mich hörst und in deinem Inneren bleibst, wirst du in dir sehen, wie Christus ununterbrochen feiert.“13 Gemäß dieser traditionellen monastischen Ansicht, die Barhebraeus hier zitiert, beginnt das himmlische Jerusalem im Inneren eines Menschen. Der Seelenfrieden und die Konzentration auf das Geistige, das sich im Inneren des Mönchs befinden, bilden den Rahmen eines spirituellen Jerusalems, in dem man, in der asketischen Zelle lebend, eine kontinuierliche liturgische Feier erfahren könne. 9 Wensinck veröffentlichte eine englische Übersetzung von zwei Kapiteln als Anhang zu seiner Übersetzung des Buches der Taube: A. J. Wensinck, Bar Hebraeus’s Book of the Dove together with some chapters from his Ethicon, Leiden 1919. Vgl. Vgl. Herman G. W. Teule, Einführung, in: Ders., Gregory Barhebraeus, Ethicon. Mēmrā I (CSCO.S 534/35, vol. 218/19), Leuven 1993, xi–xiii. 10 Mēmrā I, a.a.O. 11 A.a.O., 121 (syr.), 104 (engl.). 12 Ebd. 13 A.a.O., 122 (syr.), 104f (engl.).

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Anders als die Gruppe von ausgesprochenen Asketen legt die erste Gruppe – zahlreiche Mönchen und christliche Laien – großen Wert auf die Pilgerschaft zum irdischen Jerusalem. Sie betrachten die Reise in die Heilige Stadt als wichtig für den spirituellen Fortschritt, um sich dort zu versammeln und am Grab des Herrn einen Segen zu erhalten. Laut Barhebraeus haben die Seelen dieser Christen den Durst, „die heiligen Orte gesehen zu haben, an denen der Herr und seine auserwählten Jünger herumgingen.“14 Für Barhebraeus ist die zweite Gruppe der ersten überlegen, doch müsse man beide wohl akzeptieren.15 Bezogen auf diejenigen, die die Heilige Stadt sehen möchten, stellt er dann einige Ansichten zum Aufenthalt in Jerusalem vor. Einige halten es für nützlich und ehrenwert, sich in der Heiligen Stadt auch niederzulassen. Eine andere Auffassung dagegen lautet, dass das Leben in Jerusalem ,,schädlich und ohne Pracht“ sei. Um dem Leser beide Meinungen verständlich zu machen, stützt sich Barhebraeus auf biblische Texte.16 So bekräftigen diejenigen, die es ablehnen, in Jerusalem zu wohnen, ihre Meinung mit zwei Argumenten: Ein dauerhafter Aufenthalt in Jerusalem kann zu einer Schwächung des Willens und der Intensität der Wahrnehmung der heiligen Stätten führen: ,,Je weiter ein Mann von dem entfernt ist, was er wünscht, desto mehr wird er es begehren […] dies zu sehen.“17 Durch solche Argumente wollten die kirchlichen Instanzen die syrischen Pilger davon überzeugen, zurückzukehren und nicht in der Heiligen Stadt zu bleiben. Dabei handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen verbreiteten Trend jener Zeit. Ein weiteres Argument für die Rückkehr ist, dass jede Sünde, die in der heiligen Stadt begangen wird, doppelt wiegt. Hier beruft sich Barhebraeus auf Ps 15,1–3: „Jeder, der sich im Zelt des Herrn aufhält, der auf seinem heiligen Berg wohnt“, solle mehr als jene, die an anderen Orten leben, „tadellos und gerecht die Wahrheit in seinem Herzen sprechen und mit seiner Zunge nicht verleumden und seinem Mitmenschen nicht schaden.“ In diesem Sinne behauptet Barhebraeus, dass das Leben in der Heiligen Stadt der Gefahr einer doppelten Bestrafung ausgesetzt ist, falls der Christ an solchen Dingen festhält.18 Nach der Diskussion dieser unterschiedlichen Ansichten wendet sich Barhebraeus in seinem Mēmrā einer Reihe von canones zu, die syrische Pilger auf ihrem Weg nach Jerusalem berücksichtigen sollen. Der erste Abschnitt enthält neun canones.19 Der Autor hinterlässt jedoch keine spezifischen Details, ob diese nur an Asketen und Mönche gerichtet sind. Es scheint jedoch, dass sie eine ziemlich breite Gruppe von in die Heilige Stadt reisenden Christen ansprachen. Der erste Kanon konzentriert sich auf eine Bewusstseinsprüfung des Pilgers vor Reiseantritt und das Bereuen seiner Missetaten. Wir erfahren hier etwas von der christlichen Grundlage der Gewissenprüfung und der Vergebung. Falls der Reisende jemandem Schaden zugefügt und Falsches getan habe, solle er den Schaden zuvor beheben. Nachdem er von Schuld befreit sei, könne er sich um seine Reise kümmern.20 Ein zweiter Schritt vor der Reise ist, seine finanzielle Lage abzusichern. Dies soll mit Hilfe von ehrlicher Arbeit geschehen, eine Voraussetzung für die Erfüllung des spirituellen 14 15 16 17 18 19 20

Mēmrā I, 122 (syr.), 105 (engl.). Ebd. A.a.O., 123 (syr.), 105f (engl.). Ebd. A.a.O., 124 (syr.), 106 (engl.). A.a.O., 125 (syr.), 106 (engl.). A.a.O., 125 (syr.), 107 (engl.).

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Zwecks der Reise. Barhebraeus erwähnt zwei Möglichkeiten für eine ehrliche finanzielle Absicherung der Pilgerfahrt: Die Ausgaben der Pilger müssen aus ehrlicher Handarbeit oder aus einem Familienerbe stammen. Völlig ausgeschlossen sind Gelder aus Diebstahl, Betrug oder Plünderung.21 Der dritte Kanon schließt jede Absicht oder Form des Handels des Pilgers auf seinem Weg nach Jerusalem aus. Das Ziel ist der ,,ewige Handel“ und nicht der weltliche, denn mit jedem weltlichen Gewinn verliere man an geistigem Gewinn.22 Auf den spirituellen Gewinn fokussiert, rät Barhebraeus den Pilgern im vierten Kanon zu Barmherzigkeit und gutem Willen. Neben der Ermutigung, unterwegs Barmherzigkeit zu üben und ihre Vorräte mit ihren Mitreisenden zu teilen, empfiehlt der Kanon den Pilgern, die Hungrigen auf dem Weg zu sättigen. Weiter schlägt er auch ein ehrenhaftes Verhalten und einen gewissen Anstand vor, so solle der Pilger z. B. unterwegs niemanden mit Betteln belästigen.23 Des Weiteren wird die Frage nach der angemessenen Zeit für die Reise behandelt. Der fünfte Kanon spezifiziert, dass der Pilger in der Großen Woche der Passion schon in Jerusalem sein soll, um dort das Fest der Auferstehung feiern zu können.24 Deutlich ist, dass Ostern die attraktivste und empfohlene Zeit für die syrischen Pilger in der Heiligen Stadt war. Auch andere syrische Literatur enthält Beispiele über Pilgerreisen nach Jerusalem zur Osterzeit, wie etwa die Reise des westsyrischen Patriarchen Michaels des Großen, welcher 1168 zur Osterfeier ins Heilige Land zog. Während seines Aufenthalts in der Heiligen Stadt besuchte der Patriarch unter anderem das St. Simon-Kloster, die Residenz des westsyrischen Erzbischofs von Jerusalem.25 Ein weiterer interessanter Aspekt dieses Kanons ist, dass die Pilger nach der Osterfeier die Heilige Stadt verlassen und nach Hause zurückkehren sollen. Dies zeigt offensichtlich die positive Einstellung der syrischen Kirchen gegenüber diesem Reiseritual, solange sie nicht von dem Phänomen bedroht wurden, dass sich die Zahl der Gläubigen in ihren eigenen Pfarreien deswegen verringerte, weil diese in Jerusalem blieben, um dort der Askese wegen weiterzuleben. Es gibt Präzedenzfälle, wie etwa zum Zeitpunkt des Besuchs von Patriarch Ignatius II., als 70 westsyrische Mönche in der Heiligen Stadt wohnten.26 Der sechste Kanon fordert die Pilger auf, sich auf dem Weg nach Jerusalem den Zweck der Reise bewusst zu machen. In der Regel gingen die syrischen Pilger zu Fuß oder ritten, wie aus der Empfehlung des Kanons ersichtlich: Wenn der Pilger zu laufen oder zu reiten anfängt, müsse er den Psalm 122,1 rezitieren: ,,Ich freute mich über die, die mir sagten: Lasset uns ins Hause des Herrn gehen!“27 21 22 23 24 25 26

Mēmrā I, 125 (syr.), 107 (engl.). Ebd. A.a.O., I, 125f (syr.), 107 (engl.). A.a.O., 126 (syr.), 107 (engl.). Vgl. Otto Meinardus, The Syrian Jacobites in the Holy City, in: OrSuec 12 (1963), 60–82, 65. A.a.O., 66. Ignatius II., Patriarch von Antiochia, führte im Jahr 1237 ein offizieller Besuch in die Heiligen Stadt, wo er von einigen Dominikanermönchen, die ihn zum jakobitischen Kloster der Heiligen Maria Magdalena brachten, mit großer Ehre empfangen wurde. 27 Mēmrā I, 126 (syr.), 107 (engl.). Für die Reiseroute über Land Richtung Jerusalem, vgl. Andrew Palmer, The History of the Syrian Orthodox in Jerusalem, in: OrChr 75 (1991), 16–43, 20. In Bezug auf die Entfernung kann angenommen werden, dass – wie schon Egeria feststellte – die Reise von Jerusalem

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Mit dem siebten Kanon kehrt Barhebraeus zur moralischen und spirituellen Haltung des Pilgers während der Reise zurück. So soll sich der Reisende auf dem Weg vor jeder unnützen Rede hüten, wie zum Beispiel zu beleidigen, zu fluchen oder zu verspotten. Das, was den Pilger auszeichnen soll, ist zarte Rede und Demut gegenüber allen.28 Obwohl im sechsten Kanon zu sehen war, dass es die beiden Möglichkeiten gab, zu Fuß oder reitend nach Jerusalem zu reisen, empfiehlt der achte Kanon die Reise zu Fuß, denn das Reiten eines Tieres sei ein Zeichen des ,,Reichtums und Luxus“. Darüber hinaus vereinbart sich die Reise zu Fuß besser mit dem bescheidenen und spirituellen Zweck einer Pilgerreise. Auf der gleichen Linie bleibt der neunte Kanon, der die Bekleidung der Pilger reguliert, indem er eine einfache und nüchterne Bekleidung empfiehlt, ohne elegante Kleidungsstücke, welche ,,Zeichen von Hochmut, Stolz und Arroganz“ sind.29 Zusätzlich zu diesen canones, die die Bedingungen für die syrische Pilgerreise nach Jerusalem normieren, findet sich in Barhebraeus’ Mēmrā eine weitere Reihe von sechs canones, die den Pilgern Empfehlungen für ihre Andachten in Jerusalem geben. Diese Vorgaben enthalten mehrere Psalmenzitate, um dem Pilger eine liturgische Unterstützung in der Heiligen Stadt anzubieten. Barhebraeus empfiehlt daher, wenn der Pilger vor der Heiligen Stadt steht, Teile aus Psalm 4830 bzw. bei seinem Einzug in Jerusalem aus Psalm 122 zu lesen.31 Der dritte Kanon legt den Akzent auf das Betreten der Heiligen Grabeskirche, wo der Pilger ein Gebet lesen soll aus den liturgischen Vorbereitungsgebeten der Priester: „In dein Haus, o Gott, bin ich eingetreten und vor deinem Altar habe ich angebetet, o himmlischer König. Vergib mir alles, was ich gesündigt habe.“32 Der vierte Kanon kehrt zu Hinweisen über die Kleidung zurück, die die Pilger in Jerusalem anziehen. Während vorher zu lesen war, wie die Pilger sich auf dem Weg kleiden sollen, erfahren wir in nun, welche Kleidung für die Osterfeier in der Heiligen Stadt empfohlen wird: ,,weiße Kleidung aus Leinen oder Baumwolle für weltliche Menschen und Kleidung aus reiner Wolle für Mönche.“ Die weiße Farbe ist die Farbe der Freude, charakteris-

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nach Edessa insgesamt „25 mansiones (Herrenhäuser)“ umfasste, was bedeutet, dass man 25 Nächte in verschiedenen Unterkünften auf dem Weg verbrachte. Anhand der Geschichte über König Abgar V. Ukamma von Edessa aus der Doctrina Addai des 5. Jh.s ergibt sich folgendes Bild: Der König sandte den Archivar Ḥenan als Boten zu Jesus nach Jerusalem, der seine Reise am 14. März von Edessa aus begann und am Mittwoch, dem 12. April, nach einer Reise von 30 Tagen in der Heiligen Stadt ankam. Vgl. Martin Illert, Doctrina Addai. De imagine Edessena – Die Abgarlegende. Das Christusbild von Edessa (FC 45), Turnhout 2007, § 3, 134; Alain Desreumaux/A. Palmer/Robert Beylot, Histoire du roi Abgar et de Jésus. Présentation et traduction du texte syriaque intégral de La Doctrine d’Addaï, Turnhout 1993, 56. Die Reisesituation hat sich im Laufe der Jahrhunderte nicht allzu sehr geändert, wie Palmer an einem Beispiel aus dem späten Mittelalter zeigt: „Wie wir sehen werden, gelang es einigen Pilgern des 15. Jahrhunderts, Ṭūr ʿAbdīn von Jerusalem in weniger als einem Monat zu erreichen, und das war beeindruckend.“ Andrew Palmer, The History of the Syrian Orthodox in Jerusalem, in: OrChr 75 (1991), 16–43, 21. Mēmrā I, 126 (syr.), 108 (engl.). Ebd. A.a.O., 127 (syr.), 108 (engl.). Ebd. Ebd.

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tisch für die Auferstehung, wie es die biblische Überlieferung belegt: Die Engel kündigten die Auferstehung des Herrn in weißen Gewändern an.33 Der fünfte Kanon stipuliert, dass der Pilger „einen Segen von allen bekannten Orten“ erhalten sollte. Empfohlen sind die von Christus, seinen Aposteln und auch von den Propheten betretenen biblischen Orten. Besonders wichtig ist das Ende dieses Kanons, wo noch einmal ausdrücklich erwähnt wird, dass am Ende der Reise zu den heiligen Stätten der Pilger nach Hause zurückkehren soll.34 Der letzte Kanon ermutigt die Pilger, den spirituellen Gewinn der Pilgerschaft wahrzunehmen und keine Reue über die Arbeitsmühe der Reise zu empfinden. Bei seiner Rückkehr solle der Pilger nicht traurig sein darüber, was er auf seinem Weg ausgegeben habe, sondern er müsse glücklich darüber sein, „das Haus seines Gottes“ besucht zu haben.35 Ein letzter Aspekt aus dem Mēmrā bezieht sich auf die Meditation des Intellekts, die der Pilger an den heiligen Orten durchführen soll und die am Ende des Mēmrās kurz vorgestellt wird. Barhebraeus empfiehlt den Pilgern, während ihres Besuchs an den heiligen Stätten sich anstelle einer kritischen Untersuchung auf eine spirituelle Meditation zu konzentrieren. Der Pilger solle kein externer Beobachter sein, sondern mit seinem Geist meditieren als ein ,,Diener des Wortes“.36 Barhebraeus erwähnt hier einige heilige Stätten und fordert den Pilger auf, wenn er sich an diesen Orten befinde, sich als Teil der biblischen Geschichten zu betrachten: Wenn er an der Geburtshöhle sei, sich als Geschenkegeber zusammen mit den Magiern zu imaginieren; zusammen mit den Hirten seine Geburt zu verkünden; dann im Tempel mit Simeon; bei seiner Taufe mit dem Täufer; in Kana bei der Hochzeit; mit der Samariterin am Brunnen; in der Wüste; im Boot; mit der Frau, die seine Füße mit Tränen wusch; bei der Waschung der Füße seiner Jünger; mit den Kindern „Hosanna in der Höhe“ schreiend; in seinen Leiden und bei der Auferstehung; an den verschlossenen Türen; am Meer, wo er Simon nach dem Fang fragt; bei seinem Aufstieg in den Himmel; im oberen Raum bei der Gabe des Heiligen Geistes.37 Diese beeindruckende Skizze biblischer Orte beweist die spirituelle Bedeutung der Pilgerfahrt für die syrischen Christen. Der Zweck der Fahrt erfüllt sich mit der Meditation des Pilgers entlang der Bibelgeschichten beim Sehen der Orte, wo das Erlösungsgeschehen seinen Anfang nahm.

Schlussfolgerung Dies Mēmrā aus Barhebraeus’ Ethikon belegt die Konstanz und das weit verbreitete Phänomen syrischer Pilgerfahrten im Mittelalter. Die in den canones gegebenen Empfehlungen zeigen, dass diese Pilgerschaften nach Jerusalem sowohl für Mönche als auch für die christlichen Laien hohe Anziehungskraft besaßen. Solche canones regeln nicht nur dieses Phänomen, sondern unterstützen auch die Schaffung klarer Bedingungen für die zur Andacht 33 Vgl. Joh 20,12. Vgl. Mēmrā I, 127 (syr.), 109 (engl.). 34 A.a.O., 128 (syr.), 109 (engl.). 35 Ebd. 36 A.a.O., 128f (syr.), 109 (engl.). 37 A.a.O., 129f (syr.), 109f (engl.).

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nach Jerusalem reisenden syrischen Christen. Unser Autor, wie viele andere syrische Kirchenführer auch, war nicht nur daran interessiert, eine optimale und geregelte Reise der Pilger nach Jerusalem zu organisieren, sondern ihnen auch einen Leitfaden für das Gebetsritual an den heiligen Stätten zu geben mittels der canones, die sich mit dem Aufenthalt der Pilger in Jerusalem befassen. Neben der liturgischen Anwendung dieser Vorschriften wird auch die Meditation gefördert, die auf biblischen Bezügen beruhte und von großem Nutzen für jeden syrischen Pilger war.

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Pilgerinnen auf Egerias Spuren – Ökumenische Gemeinschaft und Begegnungen auf dem Weg von Spanien bis Jerusalem und Palästina Cornelia Schlarb 2005 startete ein ambitioniertes Pilgerinnenprojekt, das sich über 10 Jahre erstreckte, 2015 in Jerusalem ankam und mit zusätzlichen Wegstrecken in Palästina 2018 beendet wurde. Initiiert und koordiniert wurde diese ökumenische Weggemeinschaft im gesamten Zeitraum von Pfarrerin Carola Ritter, die seit 2010 Leitende Pfarrerin der „Evangelischen Frauen in Mitteldeutschland“ ist. Fasziniert vom Reisebericht der frühchristlichen Pilgerin Egeria, die Ende des 4. Jh.s von Galicien in Nordspanien bis Jerusalem und Edessa, dem heutigen Urfa, pilgerte, entstand in Carola Ritter der Wunsch, diesen Weg mit einer Gruppe von Frauen unter heutigen Bedingungen neu zu gehen und die Weggeschichten festzuhalten.1 Im Ökumenischen Forum Christlicher Frauen in Europa (ÖFCFE), dem seit 1982 bestehenden Netzwerk christlicher Frauen auf Europaebene, fanden sich Gleichgesinnte, die in einer Arbeitsgruppe die konkrete Ausgestaltung des Projekts voranbrachten. 2001 war der Plan soweit ausgereift, dass die Mitgliederversammlung des ÖFCFE in Deutschland das Egeria-Projekt annahm und sowohl finanziell als auch konzeptionell unterstützte.2 Die weitere Untersuchung orientiert sich an folgenden Fragestellungen: Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede zeichnen Egerias Pilgerreise und das Egeria-Pilgerinnenprojekt aus?3 Welche Ziele verfolgte Egeria, und was bezweckt das Egeria-Projekt? Welche besonderen Erlebnisse auf den jeweiligen Pilgerwegen werden in den Weggeschichten festgehalten? Was bleibt für die Zukunft? 1

Vgl. die website des Egeria Projekts https://www.egeria-project.eu/ (27.3.2020); die Reisetagebücher ab Slowenien/Kroatien 2008 bis Palästina 2018 sind online gestellt; die Reisetagebücher Spanien 2005, Frankreich 2006 und Italien 2007 sind im Privatarchiv Carola Ritter vorhanden; vgl. Egeria Itinerarium Reisebericht Lateinisch-Deutsch mit Auszügen aus Petrus Diaconus de Locis Sanctis Die Heiligen Stätten, übersetzt und eingeleitet von Georg Röwekamp unter Mitarbeit von Dietmar Thönnes (FChr 20), Freiburg u.a. 1995, 12–33 (= Egeria Itinerarium). 2 Vgl. die website https://www.oekumeneforum.de/ (27.3.2020). Die Delegierte des bundesweiten Theologinnenkonvents beim Ökumenischen Forum Christlicher Frauen in Europa berichtete seit 2004 über dieses Vorhaben auf den Mitgliederversammlungen und lud zum Mitpilgern ein, vgl. Hildegund Opitz-Jäger, Ökumenischen Forum Christlicher Frauen in Europa, in: Theologinnen. Berichte aus der Arbeit des Konventes Evangelischer Theologinnen in der Bundesrepublik Deutschland 17 (2004), 63–65; Dies., Ökumenischen Forum Christlicher Frauen in Europa, in: a.a.O. 18 (2005), 97–99. Vgl. Carola Ritter/[Doris Riffelmann], Auf den Spuren einer Neugierigen. Egeria-Pilgerweg, in: Ökumene weiblich. Frauen überschreiten Grenzen, hg. v. Elisabeth Bücking/Inge Heiling/Waltraud Liekefett/Katharina Nickel (Theologie/Religionswissenschaft 9), Taucha bei Leipzig 2010, 169–178 (= Ritter, Spuren). 3 Die Pilgerinnen des Egeria-Projekts zogen gelegentlich selbst Vergleiche zwischen dem Pilgern unter heutigen und früheren Bedingungen. Angesichts der Ruinen einer Nachbildung des Heiligen Grabes in Jerusalem unweit der Abtei Sacra di San Michele schrieb Elisabeth im Reisetagebuch: „Wir ‚modernen‘

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1. Der Weg 1.1 Egerias Reisewege Als das Christentum im Römischen Reich zur begünstigten Religion aufgestiegen war, waren Pilgerreisen nach Jerusalem und Palästina nicht nur möglich, sondern in einflussreichen, höher gestellten Kreisen auch sehr beliebt.4 Egerias Reise fand sehr wahrscheinlich zwischen 381 und 384 statt. Egeria gehörte einer Frauengemeinschaft im nordspanischen Galicien an und war finanziell in der Lage, eine mehrjährige Pilgerreise nach Jerusalem zu unternehmen. Vermutlich reiste sie in einer kleinen Gruppe, die den gängigen Pilgerrouten auf dem Landweg von Nordspanien über Konstantinopel nach Jerusalem folgte, was dank des römischen Straßensystems gut möglich war. Es ist anzunehmen, dass Egeria den kaiserlichen Postweg, den cursus publicus nutzte, sich auf Pferden oder im Wagen fortbewegte, in Herbergen am Weg übernachtete und ein amtliches Diplom, eine Art Reisepass mit sich trug, der Unterstützung durch Soldaten oder kaiserliche Beamte ermöglichte. Wüsten durchquerten Pilgergruppen auf Kamelen oder Eseln, aber Berge wie den Moseberg Nebo oder Gipfel im Sinai erklomm man zu Fuß.5 Von Jerusalem aus unternahm Egeria mehrere Reisen nach Ägypten zu den Eremiten und Klöstern in der Thebais, zum Sinai, nach Samaria und Galiläa, ins Ostjordanland zum Berg Nebo, dem Sterbeort von Mose, nach Südsyrien zum Grab Hiobs. Auf der Rückreise 384 nutzte sie die Gelegenheit, von Antiochia aus nach Edessa zum Grab des Apostels Thomas und nach Haran, der Heimat Abrahams zu kommen. Nicht zuletzt besuchte Egeria in Seleukia das Grab der Heiligen Thekla.6 Egeria schrieb das überlieferte Itinerarium in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, allerdings nimmt die Forschung an, dass sie weitere Briefe an ihre Frauengemeinschaft verfasst hatte, die nicht erhalten oder noch nicht entdeckt sind.7

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Pilgerinnen haben auf dem Weg nach Jerusalem eher mit den Schwierigkeiten und Tücken unserer überzivilisierten Welt zu kämpfen, wie sich zeigen wird: Termindruck, Staus auf der Autobahn, Autopannen. Wir stellen uns gar nicht die Frage, ob unser Ziel überhaupt erreichbar ist. Die damaligen Pilger waren schon zufrieden, wenn sie eine Kopie des Hl. Grabes besuchen konnten, weil der Besuch Jerusalems nur wenigen privilegierten Pilgern vorbehalten war.“ Reisetagebuch Italien 2007 v. 24.9.2007. Beispielsweise reiste Helena, die Mutter Kaiser Konstantins bereits 326 nach Jerusalem. Melania die Ältere, Mitglied einer der wohlhabenden und mächtigen römischen Familien mit spanischen Wurzeln, ließ 377 ein Kloster auf dem Ölberg errichten. Ihre Enkelin, Melania die Jüngere, folgte den Spuren ihrer Großmutter und errichtete ebenfalls Klöster in Jerusalem zu Beginn des 5. Jh.s. Paula und ihre Tochter Eustochium, adelige Römerinnen, reisten ebenfalls nach Palästina und zuvor zu den Mönchen in der nitrischen Wüste in Ägypten. Paula gründete vier Klöster in Bethlehem, nachdem sie sich dort um 386 niedergelassen hatten. Vgl. Maribel Dietz, Wandering Monks, Virgins and Pilgrims Ascetic Travel in the Mediterranean World A.D. 300–88, Pennsylvania 2009, 8f.107–153. Röwekamp schreibt in der Einleitung zu Egerias Itinerarium: „Durch Kaiserin Helena wird das Pilgern zudem ,hoffähig‘.“ Egeria Itinerarium, 50. Vgl. Egeria Itinerarium, 12–38.148–159; Bernhard Kötting, Peregrination Religiosa. Wallfahrten in der Antike und das Pilgerwesen in der alten Kirche (Forschungen zur Volkskunde 33/34/35), Münster 21980, 343–359 (= Kötting). Vgl. Egeria Itinerarium, 21–50.119–223; Kötting, 109f.131f.138–160. Vgl. Kötting, 326f; Egerias Itinerarium ist uns nicht vollständig überliefert, es fehlen wichtige Teile wie z.B. die Beschreibung der Wegestrecke durch Europa. Der Reisebericht beginnt mit der Reise zum Sinai und beschreibt ausführlich die in Jerusalem und unterwegs gefeierten Liturgien, vgl. Egeria, Itinerarium,

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1.2 Die Wegstrecken des Egeria-Projekts Pilgerinnen im 21. Jh. können selten zwei bis drei Jahre „einfach mal weg“ sein. Daher planten die Frauen, Egerias Weg in mehreren Etappen nachzugehen. In jedem Jahr wollten sie in einem Land pilgern und sich dafür in der Regel 14 Tage Zeit nehmen. Der Weg orientierte sich an den antiken Pilgerrouten durch Europa, die im Bericht des Pilgers von Bordeaux festgehalten waren.8 Aber alte Pilgerwege waren häufig modernen Straßen gewichen, sodass die konkreten Routen und Übernachtungen anhand des vorhandenen Karten- und Informationsmaterials vorgeplant und direkt vor Ort besprochen und ausgewählt wurden.9 Manches Mal waren spontane Wegänderungen notwendig, gelegentlich erweiterte eine kleinere Zahl der Pilgerinnen ihr Tagespensum um einige Kilometer, sofern der Weg es zuließ.10 Das Egeria-Projekt sah sowohl aktive Pilgerinnen als auch „sesshafte Sympathisantinnen“ vor, die das Projekt ideell unterstützten, indem sie den Pilgerinnen beispielsweise Willkommens-Briefe in die Unterkünfte in Frankreich sandten.11 Die „sesshaften Sympathisantinnen“ Susanne Käser12 und Dr. Elisabeth Raiser13 reisten 2015 mit einigen Frauen zum Abschlusstreffen nach Jerusalem und gestalteten die dortige Feier mit. Die Gruppe der aktiv Pilgernden bestand zumeist aus 11 bis 18 Frauen, die relativ konstant über die Jahre gemeinsam unterwegs waren. Die Mehrheit der Pilgerinnen kam aus Deutschland, aber auch Frauen aus anderen europäischen Ländern schlossen sich der Gruppe an. Spätestens ab der Wegstrecke durch Slowenien und Kroatien 2008 begleiteten einheimische Frauen die Pilgergruppe und unterstützten das Projekt durch Übersetzungshilfe und ihre Landeskenntnis.14 Die Initiatorin des Projekts Carola Ritter hat als einzige den Weg von Anfang bis zum Ende begleitet.

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118–307, sowie Röwekamp in der Einleitung, a.a.O., 9–40; M. Dolores Martin Trutet, Pilgerin des Wortes. Die Rolle der Bibel und der Frauen in Egerias Itinerarium, in: Outi Lehtipuu/Silke Petersen, Antike christliche Apokryphen. Marginalisierte Texte des frühen Christentums (Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie 3.2 Pseudepigraphische und apokryphe Schriften), Stuttgart 2020, 204–209 (= Trutet); Franco Cardini, Egeria, die Pilgerin, in: Ferruccio Bertini, Heloise und ihre Schwestern. Acht Frauenporträts aus dem Mittelalter, München 1991, 31–62. Vgl. Cardini, a.a.O., 48f; Egeria-Projekt, Der Weg, siehe https://www.egeria-project.eu/de/der-weg.html, 3.5.2020. In Italien, wo die Wanderkultur nicht so ausgeprägt und der Bedarf an Karten und Material zu Wanderwegen weniger gefragt war, mussten die Pilgerinnen die „Routen mitunter mehr erahnen und erraten“. Reisebericht Italien 2007 Prolog. Vgl. Doris Riffelmann/Carola Ritter, Pilgern und Spiritualität – Frauenerfahrungen. Arbeitsgruppenergebnisse, in: Ellen Ueberschär, Pilgerschritte. Neue Spiritualität auf uralten Wegen (Loccumer Protokolle 02/05), 95–108 (= Riffelmann/Ritter, Pilgern); In Slowenien pilgerten die Frauen u.a. auf dem slowenischen „Emma-Weg“ und einem Teilstück des slowenisch-österreichischen Jakobsweges, vgl. Reisetagebuch Slowenien/Kroatien 2008 v. 25., 26.9.2008; vgl. auch Reisetagebuch Spanien 2005 v. 17., 25.9.2005; Reisetagebuch Serbien 2009 v. 22., 28.9.2009; Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 20., 24.9.2011; Reisetagebuch Türkei 2012 v. 26.9., 2.10.2012; Reisetagebuch Israel 2015 v. 17.10.2015; Reisetagebuch Palästina 2018 v. 1.10.2018. Vgl. Reisetagebuch Frankreich 2006 v. 26.9.2006. Susanne Käser war von 2002 bis 2014 im Vorstand des ÖFCFE-Deutschland tätig. Dr. Elisabeth Raiser wirkte von 1986 bis 1990 als Nationalkoordinatorin des ÖFCFE-Deutschland und war von 1990–1994 gemeinsam mit Reeta Leskinnen und Maria José Arana eine der drei Co-Präsidentinnen des Ecumenical Forum of European Christian Women (EFECW); Mitteilung Käser am 9.4.2020. Bis 2010 hatten Frauen unterschiedlicher Altersgruppen und Konfessionen aus 6 verschiedenen europäischen Ländern am Pilgerweg teilgenommen. Vgl. Annual Report 2010, 8 des EFECW, in: www.efecw.

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Mit dem Flugzeug reisten die Frauen ins Zielland. Mietwagen oder Kleinbusse transportierten Gepäck und Pilgerinnen zu den jeweiligen Ausgangs- und Begegnungsorten. Als Reisezeit bevorzugte die Planungsgruppe meist die 2. Hälfte September bis Anfang Oktober.15 Vorgesehen war, die Länder von Spanien über Südfrankreich, Italien, Slowenien und Kroatien, Serbien, Rumänien, Bulgarien, die Türkei, Syrien, Libanon und Israel zu durchwandern. Aufgrund des Krieges in Syrien entschieden sich die Frauen, eine Ausweichroute in der Südtürkei zu wählen, und anstelle der Pilgerreise im Libanon wurden Wegstrecken auf Zypern gefunden.16 2005 startete das Abenteuer mit 5 Frauen am Kap Finisterre in Spanien. Der Weg führte auf der Jakobsroute in Richtung Frankreich, was den Frauen öfters ungläubiges Staunen oder freundliche Zurechtweisung einbrachte, weil die anderen Pilger auf diesem Weg in die entgegengesetzte Richtung unterwegs waren. Im Reisetagebuch vermerkt Carola Ritter programmatisch: „Aufbruch auf dem Egeria Weg. Wir wollen einen Pilgerweg im Wort finden, keine neue Wegführung herausfinden, keinen Streckenverlauf festlegen, keine Route reorganisieren und Ausschilderungen einführen. Pilgern aus dem Wort und in das Wort hinein. … Fünf Frauen allesamt aus Deutschland machen sich auf die Spuren der Egeria und wollen ein ganz anderes Modell des Pilgerns, ein frauengemäßes, geschichtsbewusstes, weltoffenes und selbstbestimmtes Unterwegssein erproben. Insofern ist der Egeriaweg eine Expedition in die Frauengeschichte, die vergangene und gegenwärtige. Es ist eine kleine FrauenbeWEGung mit einem großen Vorhaben, eine Übung der Pfadfinderinnen, eine Schule der Geduld, ein Experiment der Gemeinschaftlichkeit, eine spirituelle (Selbst-)Ermächtigung.“17 Die Pilgerreise durch Südfrankreich 2006 konnte in Kooperation mit dem FrauenWerk Stein der Ev.-Luth. Kirche in Bayern durchgeführt werden. Die auf 16 Pilgerinnen angewachsene Gruppe nutzte alte Pilgerpfade: die Via Toulousana, den Jakobsweg in Frankreich, nur in umgekehrter Richtung, was das Lesen der Wegzeichen erschwerte.18 Auf dieser 2. Etappe „entwickelte sich vor allem die geistliche Ausgestaltung der Weggemeinschaft: Die gemeinsamen Andachten und Pilgereinstiege, das Zutrauen der Pilgerinnen sich als ,geistlich Reisende‘ zu sehen und selbst Andachten zu halten. Das schweigende Pilgern als Freiraum zur inneren Sammlung in einer großen Gruppe“19, schrieb Carola Ritter.

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net/images/files/annual-reports/Annual%20report%202010.pdf; Reisetagebücher Slowenien/Kroatien 2008 bis Palästina 2018. Vgl. Ritter, Spuren, 170f; Susanne Käser, Egeria-Frauenpilgerweg 2005–2015 des Ökumenischen Forums Christlicher Frauen in Europa (ÖFCFE), in: Theologinnen 29 (2016), 115–118; Interview Ritter am 10.2.2020; Interview mit Susanne Käser am 27.2.2020; Tagesplan Begegnungsseminar zum Ende des Egeria-Weges 21.–28.10.2015, in: Privatarchiv Susanne Käser; Reisetagebuch Frankreich 2006 v. 26.9. 2006. Vgl. Susanne Käser/Johanna Friedlein, Ökumenisches Forum Christlicher Frauen in Europa – ÖFCFE, in: Theologinnen 28 (2015), 141–143; Der Weg, in: https://www.egeria-project.eu/de/der-weg.html (28.3.2020); Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 21.9.2013. Carola Ritter, Vorwort im Reisetagebuch Spanien 2005. Vgl. Ritter, Spuren, 171; Reisetagebuch Frankreich 2006; Interview Ritter am 10.2.2020. Ritter, Spuren, 171.

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Das ÖFCFE bot die Voraussetzungen und Basis, um in vielen Ländern weitreichende Kontakte zu Frauengruppen und -initiativen zu knüpfen.20 Ab der 3. Etappe wurden regelmäßig Vorbereitungstreffen, zumeist im zentral gelegenen Kassel veranstaltet, auf denen auch die Aufgaben und Zuständigkeiten in der Gruppe verteilt wurden. Seit der Pilgerreise durch Italien 2007 gehörten geplante Besuche, Begegnungen und Austauschtreffen zu den regelmäßig stattfindenden Ereignissen auf dem Egeriaweg.21 Der glückliche Umstand, dass die 4. Etappe des Pilgerprojektes durch die Länder Slowenien und Kroatien22 führte und mit Deutschland ein drittes europäisches Land 2008 am Projekt beteiligt war, ermöglichte es, EU-Gelder für das Bildungs- und Begegnungsprogramm zu beantragen. Mit 20.000 € von der EU und den Geldern, die die EKD zur Verfügung stellte, konnten vor allem die mitpilgernden Frauen aus Slowenien und Kroatien finanziert sowie Informationsmaterial und Werbemittel hergestellt werden. Flyer zum Egeria-Projekt wurden in der jeweiligen Landessprache und in Englisch gedruckt und eine Homepage eingerichtet, auf der die Reisetagebücher veröffentlicht wurden.23 In Kroatien pilgerte die Gruppe erstmals durch ein Land, das noch nicht zur Europäischen Union gehörte und wo die Kriegsschäden der 1990er Jahre noch schmerzlich ins Auge fielen. Den nachwirkenden, verheerenden Folgen der Kriege im ehemaligen Jugoslawien begegneten die Pilgerinnen auch auf der Strecke durch Serbien 2009.24 Auf der 7. Etappe durch Bulgarien 2011 konnten die Frauen wieder auf Pilgerwegen unterwegs sein. Die Ersatzstrecke für Syrien durch die südliche Türkei 2013 pilgerten die Frauen auf der Paulus-Route25 und lernten die Initiatorin dieses Weges Kate Clow am Ende ihrer Reise in Antalya kennen. Clow konnte den Weg markieren und ein Buch mit Wanderkarte „The Lykian Way. Turkey’s First Long Distance Walking Route“ 1999 herausgeben.26 Im Reisetagebuch vermerkte Johanna: „Da der ‚Paulusweg‘ als kulturelle Route und nicht als ‚Pilgerweg‘ deklariert wird, gibt es kaum Schwierigkeiten mit der Religions-Behörde. Staatliche Förderung erfährt das Projekt allerdings auch nicht. Besucht wird der Paulusweg von Wanderern aus Mazedonien, Griechenland, Israel, Schweden, Amerikanern und einigen Deutschen.“27 Auf dem Israel-National-Trail (Schwil), einem Fernwanderweg, der als Alternative zum Jakobsweg angepriesen wird, begleitete die Frauen 2015 eine israelische Reiseführerin. Die 20 Im Annual Report 2005, 5 des EFECW ist zu lesen: „Women from all confessions, European countries and ages have a wonderful opportunity to participate to this pilgrimage through 12 countries within the Ecumenical Pilgrimage project supported by the EFECW, in 2005–2015.“, in: http://www.efecw.net/ images/files/annual-reports/Annual%20report%202005.pdf; vgl. Reisebericht Italien 2007, Prolog. 21 Ritter, Spuren, 170–175; 22 Slowenien gehört seit 2004 zur Europäischen Union, Kroatien wurde 2013 Mitgliedsland, Rumänien und Bulgarien 2007. 23 Vgl. Interview Ritter am 10.2.2020. 24 Vgl. Reisetagebuch Slowenien/Kroatien 2008 v. 26.–27., 30.9., 1.–2.10.2008; Reisetagebuch Serbien 2009 v. 21., 24.9.2009. 25 Vgl. Der Paulusweg. Trekking in der Türkei, https://www.bergzeit.de/magazin/paulusweg-trekkingwandern-tuerkei/ (4.4.2020). 26 Kate Clow, The Lykian Way. Turkey’s First Long Distance Walking Route mit Fotos von Terry Richardson, 2014 erschien eine aktualisierte Neuauflage mit iPhone-application. 27 Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 4.10.2013, in: https://www.egeria-project.eu/de/sued-tuerkei/reisetage buch.html (4.4.2020).

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abschließende Pilgerreise in Palästina 2018 verlief über weite Strecken auf dem Abrahamsweg und wurde unter bewährter Begleitung einer einheimischen Reiseleitung durchgeführt.28

2. Die Ziele 2.1 Egerias Absichten und Ziele Egeria bezeichnete sich selbst als neugierig.29 Ihre Sehnsucht, ihr Verlangen waren darauf gerichtet, religiöse und biblische Orte zum Zwecke des Gebets aufzusuchen und ihren Mitschwestern davon zu berichten.30 Egeria kannte die Schriften des Neuen und Alten Testaments31 und nutzte sie als Reiseführer. Sie interessierte sich für Märtyrergräber, religiös bedeutsame Orte und Landschaften, wo Männer und Frauen als Eremiten und Eremitinnen ein asketisches und Gott geweihtes Leben führten, wie die Mönche in der Thebais oder die religiösen Gemeinschaften beim Theklaheiligtum in Seleukia.32 Sie kannte bereits Schriften aus der Korrespondenz, die König Abgar mit Jesus geführt haben soll, und reiste zu den heiligen Stätten des Apostels Thomas nach Edessa, um vom dortigen Bischof empfangen und herumgeführt zu werden.33 Als Abschiedsgeschenk erhielt sie eine neue Abschrift des besagten Briefwechsels, den sie mit ihren Schriften zu Hause vergleichen wollte.34 Egeria war daran interessiert, die biblischen Geschichten geographisch zu verorten und in die Heilsgeschichte einzutauchen, sie zu vergegenwärtigen. An jedem lokalisierten religiösen Ort wurden die entsprechenden biblischen Texte gelesen, Gebete gesprochen, eine kleine liturgische Einheit vollzogen. Trutet schreibt: „Für Egeria ist diese geographische Lokalisierung […], dieses Erstellen einer ‚Sakraltopographie‘ zugleich auch eine vom Gebet her gelebte spirituelle Erfahrung.“35 Der biblische Text und die detaillierte Beschreibung des Jerusalemer Festkalenders stellen die zentralen Elemente in Egerias Itinerarium dar. Der Pilgerbericht diente dazu, den Mitschwestern einen „gewissen Ersatz“36 für eine eigene Pilgerreise zu bieten, um sie so an den heiligen Orten, Zeiten und Begegnungen teilhaben zu lassen.

28 Vgl. Reisetagebuch Israel 2015 v. 10., 12., 17.10.2015; https://www.israel-trail.com/ (5.4.2020); Reisetagebuch Palästina 2018 v. 30.9., 1.10.2018. 29 Vgl. Egeria Itinerarium, 187; Trutet, 204–226. 30 Vgl. Cardini, Egeria, 31–62. 31 Egeria kannte die biblischen Texte aus der Übersetzung der Vetus Latina, vgl. Trutet, 209. 32 Vgl. Egeria Itinerarium, 19f.30; 157.215–219.312f. 33 Vgl. Egeria Itinerarium, 195–203; Trutet, 222f. 34 „Ich erhielt für mich von dem Heiligen sowohl die Briefe des Abgar an den Herrn als auch die des Herrn an Abgar, die uns der heilige Bischof dort vorgelesen hatte. Obwohl ich zu Hause davon Abschriften habe, so schien es mir doch wünschenswerter, sie dort von ihm zu bekommen, falls sie weniger komplett zu uns in die Heimat gekommen sein sollten; denn was ich hier erhielt, ist wirklich umfassender. Wenn unser Gott Jesus es befiehlt und ich nach Hause komme, werdet ihr sie lesen können, meine lieben Damen.“ Egeria Itinerarium, 203. Röwekamp vermutet, dass es sich um eine Vorstufe der Doctrina Addai handelte. 35 Trutet, 208. 36 Egeria Itinerarium, 114.

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2.2 Ziele und Pläne des Egeria Pilgerinnenweges Für das Egeria Pilgerinnenprojekt verstand es sich von selbst, dass die Ökumene im Mittelpunkt des Projektes stehen werde, das legte schon die Trägerorganisation, das Ökumenische Forum Christlicher Frauen in Europa nahe. Sowohl die Zusammensetzung der Pilgerinnen als auch die Auswahl der Begegnungen auf dem Weg standen unter dieser Prämisse. Die Öffnung zur Interreligiosität bildete eine weitere wichtige Zielvorgabe.37 2008 pilgerten die beiden Sloweninnen Corinna und Nadja mit und in Kroatien die drei kroatischen Frauen Jarmila, Bozena und Mirjana. Jarmila begleitete die Gruppe auch in Serbien 2009.38 Die beiden kroatischen Frauen Bozena und Jarmila, die dem Ökumenischen Forum Christlicher Frauen in Europa angehörten, und die ÖFCFE-Frau Margareta aus Slowenien reisten 2015 zum Abschlusstreffen nach Jerusalem.39 In Rumänien 2010 pilgerte Roxana, „eine deutsche Studentin mit rumänischen Wurzeln“40, mit, und in Bulgarien 2011 überwiegend Zoya, die über die Kontakte zum bulgarischen Ökumenischen Forum sowie die Schweizerin Ruth gewonnen wurde.41 2012 begleitete die türkische Mitpilgerin Gülçan die Frauengruppe und ließ es sich nicht nehmen, die Pilgerinnen 2013 in Antalya wiederzutreffen. Auf der Paulusroute durch die südliche Türkei 2013 führte der Bergführer Erdinç, auf Zypern 2014 unterstützte der Busfahrer Xenios die Pilgerinnen.42 Die israelische Reiseleiterin Regula begleitete 2015 die Gruppe auf dem Israel-National-Trail. Drei Jahre später 2018 in Palästina waren der Reiseleiter Anwar und die Studentin Noor mit auf dem Weg.43 Ebenso im Vordergrund stand der Europagedanke: Pilgern in einem Europa, dessen Grenzen immer durchlässiger werden; die Frauenökumene in den einzelnen Ländern kennenlernen und stärken, damit Europa nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ideell und spirituell zusammenwächst; Planung von Begegnungen mit Frauen aus anderen Konfessionen und Religionen, um zu „Brückenbauerinnen in einem multireligiösen Europa bis hinein in den Nahen Osten“44 zu werden.45 Wegweisend für diese Zielsetzung war die Charta Oecumenica, die 2001 von den 37 Vgl. Riffelmann/Ritter, Pilgern, 104–106; Ökumenische Gemeinschaft – ein Ziel des Egeria Weges, in: https://www.egeria-project.eu/de/oekumene.html (9.4.2020). 38 Vgl. Reisetagebuch Slowenien/Kroatien 2008 v. 22., 24., 27.9. und 3.10.2008; Reisetagebuch Serbien 2009 v. 21., 25.9.2009. 39 Vgl. Käser, 115; Reisetagebuch Israel 2015 v. 24., 28.10.2015. 40 Reisetagebuch Rumänien 2010 v. 21.9.2010; vgl. auch v. 26.9.2010. 41 Vgl. Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 18.–20., 27.–28., 30.9. und 1.10.2011. 42 Vgl. Reisetagebuch Türkei 2012 v. 23., 30.9., 4.10.2012; Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 22, 25.–26.9. und 1., 3., 5.10.2013; Reisetagebuch Zypern 2014 v. 20., 27.9.2014. 43 Vgl. Reisetagebuch Israel 2015 v. 10., 12.–13., 19., 21.–23.10.2015; Reisetagebuch Palästina 2018 v. 26., 28., 30.9., 1., 6., 8.10.2018. 44 Riffelmann/Ritter, Pilgern, 105f; Reisetagebuch Slowenien/Kroatien 2008 v. 22.–23., 25., 27.9. 2008. In Ljubljana im Büro des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission erfahren die Pilgerinnen etwas über die Haltung der slowenischen Bevölkerung zum EU-Beitritt, zur Stellung der Frau in Slowenien und darüber, „was das Land in der EU für die Frauenrechte tun kann.“ Reisetagebuch Slowenien/Kroatien 2008 v. 25.9.2008. 45 Der Bürgermeister von Ludberg in Kroatien zeigte beispielsweise großes Interesse am „europäischen Egeriaprojekt und dem Vortrag von Carola“, in dem es „um die Bedeutung des Pilgerns als eine Kultur und Völker verbindende Form der Begegnung [geht]. Seit Jahrhunderten sind Menschen in Zeiten auf den verschiedenen Pilgerwegen durch ganz Europa gepilgert und haben damit einen Beitrag zur europäischen Verständigung geleistet.“ Reisetagebuch Slowenien/Kroatien 2008 v. 28.9.2008. Insbesondere in Kroatien haben sich sowohl die Printmedien als auch das Fernsehen für das Egeriaprojekt interessiert, vgl.

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europäischen Kirchen verabschiedet wurde.46 Darin verpflichten sich die Kirchen, für Frieden, Verständigung, soziale Gerechtigkeit und Versöhnung in Europa einzutreten. Auch verstanden die Organisatorinnen Pilgern als eine besondere Form der Spiritualität – ein „Beten mit Füßen“ –, die für eine begrenzte Zeit gemeinsam gelebt und geteilt wurde. In den Pilgerregeln, die sich die Gruppe bis September 2009 gegeben hatte und die ab 2011 in einer überarbeiteten Form vorlagen, wird diese „geistliche Gemeinschaft auf Zeit“ folgendermaßen charakterisiert: „Pilgerinnen sind füreinander da und können fürsorgende Begleiterinnen sein. Achtsamkeit und Verbindlichkeit, Rücksichtnahme und Hilfe prägen unser Unterwegssein. Als Gesprächspartnerinnen achten wir den Schutzraum der anderen Frauen durch Verschwiegenheit gegenüber Anvertrautem, durch Respekt und durch eine frauengerechte Sprache. Für Seelsorge und geistliche Begleitung sind die erfahrenen Pilgerinnen aus dem Leitungsteam ansprechbar.“47 Nicht zuletzt wollten die Frauen Egeria und deren Weggeschichten kennenlernen. Ihr Itinerar blieb eine konstante Begleitung, woraus Carola Ritter unterwegs oder am Abend passende Passagen vorlas.48 Immer wenn das Egeria-Pilgerinnenprojekt in den Medien oder bei Besuchen vorgestellt wurde, erinnerten die Frauen natürlich auch an Egeria und deren langjährige Pilgerreise ins Heilige Land und zeigten, wie die Idee und Ideale einer antiken Pilgerin in der Moderne umgesetzt und gelebt werden können. Die Pilgerregeln notierten unter 6. „Erinnerung bewahren. Wir sind auf dem Egeria-Pilgerweg unterwegs und erinnern uns damit an die Pilgerin Egeria, die als erste christliche Frau vor ca. 1500 Jahren ihren Pilgerbericht aufgeschrieben hat. Unsere Vision ist es diesen Bericht neu zu schreiben. Jede Teilnehmerin auf dem Egeria-Weg ist eingeladen, an dem Pilgertagebuch mitzuschreiben.“49 Besonders intensiv vergegenwärtigten sich die Pilgerinnen Egerias Weg in Jerusalem: „Beginnend an der Grabeskirche hören wir Texte von Egeria, gehen die Via Dolorosa gegen den Strom als einen frühchristlichen Auferstehungsweg nach Egerias Zeugnis und durchschreiten das Löwentor hinüber zum Ölberg.“50 Am Ende der letzten Pilgeretappe in Bethlehem vermerkte das Reisetagebuch: „Abends nehmen wir innerlich Abschied von der Wüste und vom Pilgern während Carola aus dem Reisetagebuch der Egeria vorliest, wie Egeria die Taufvorbereitungen in Jerusalem erlebt und sie berichtet, wie Hieronymus und die Pilgerin Paula im 4. Jahrhundert in Bethlehem wirkten.“51

a.a.O. v. 1., 2.10.2008. 46 Vgl. Charta Oecumenica, in: http://www.ceceurope.org/wp-content/uploads/2015/07/ChartaOecumenica. pdf (2.5.2020); Zehn Jahre „Charta Oecumenica“, in: https://www.ekd.de/news_2011_04_19_2_charta_ oecumenica.htm (8.4.2020). 47 Pilgerregeln – Selbstverständnis. 48 Vgl. Reisetagebuch Frankreich 2006 v. 6.–7.10.2006; Reisetagebuch Slowenien/Kroatien 2008 v. 22., 24.–25.,28.9.2008; Reisetagebuch Serbien 2009 v. 28.9.2009; Reisetagebuch Rumänien 2010 v. 26.9. 2010; Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 18.–19., 24.9.2011; Reisetagebuch Türkei 2012 v. 6.10.2012; Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 22., 28.9., 4.10.2013; Reisetagebuch Zypern 2014 v. 1.–2.10.2014; Reisetagebuch Israel 2015 v. 13., 17.10.: „Unterwegs machen wir Halt an dem Stein, an dem auch Egeria gewesen sein soll“; Reisetagebuch Palästina 2018 v. 2., 4.7.10.2018 49 Pilgerregeln – Selbstverständnis. 50 Reisetagebuch Israel 2015 v. 25.10.2015. 51 Reisetagebuch Palästina 2018 v. 7.10.2018.

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3. Begegnungen und Austausch 3.1 Egerias Kontakte und Begegnungen Egerias wichtigste Gesprächspartner auf der Suche nach biblischen und sakralen Orten waren Bischöfe, Priester, Mönche, Nonnen, Asketinnen und Asketen, deren Lebens- und Gebetsweise sie in ihrem Itinerarium festhielt.52 Für Egeria waren dies heilige Personen, die ihr den Weg wiesen, mit ihr Andachten feierten, Segen spendeten und als starkes Vorbild dienten, dem nachzueifern es sich lohnte. Oftmals erhielt sie Pilgergeschenke, Eulogien, die an die Begegnungen und Orte erinnerten.53 Von besonderer Bedeutung waren die Kontakte und Ereignisse in Jerusalem, wohin sie immer wieder zurückkehrte. Dort erlebte sie die Liturgie an den Wochentagen und am Sonntag, die Fastenzeit, die Karwoche, Ostern und Pfingsten, Taufvorbereitung und Taufe, das Fest der Epiphanie. Von allen geistlichen Personen erwähnte Egeria nur eine Frau namentlich, die sie als zu ihren „besten Freundinnen“ gehörend beschrieb, die „sancta diaconissa Marthana“54. Ihr war Egeria in Jerusalem begegnet, und sie traf sie in Seleukia beim Theklaheiligtum wieder. Egeria stellte Marthana als Vorsteherin eines Klosters von Apotaktiten55 und Jungfrauen vor. In ihrem Reisebericht deutet nichts darauf hin, dass diese besondere Form der Askese, wie sie die Apotaktiten lebten, bereits abgelehnt oder verfolgt wurde. Marthana war des Gebetes wegen nach Jerusalem gereist, und Egeria betonte, dass „alle im Orient ein gutes Zeugnis über ihr Leben ausstellten“56. Mit diesem Leumundszeugnis könnte Egeria allerdings auch eine Häretikerschelte abgewehrt haben. 3.2 Ökumenische und interreligiöse Begegnungen des Egeria-Projektes Der ökumenische und interreligiöse Gedanke sowie die Anliegen des Projekts, für Frieden, Versöhnung und soziale Gerechtigkeit in Europa und im Nahen Osten einzutreten, spiegelten sich nicht nur in der Begleitung durch einheimische Mitpilgerinnen, sondern vor allem im Besuch ausgewählter Projekte und Institutionen wider. Doch auch unerwartete, zufällige Erlebnisse und Begegnungen bereicherten die Weggeschichten.57 52 Vgl. Egeria Itinerarium, 148–159.162–171.176–189.194–215. 53 Im Sinai schenkten ihr die Priester Äpfel, die auf dem Berg wuchsen, am Berg Horeb erhielt sie nicht näher definierte Eulogien von den Mönchen, vgl. a.a.O., 128–131.166f. Priester schenkten ihr wohl Früchte aus dem „Garten des heiligen Johannes des Täufers“ (a.a.O., 185) in Änon bei Salem, vgl. a.a.O., 180–185. Zu den Eulogien vgl. Kötting, 403–413. 54 Nam inveni ibi aliquam amicissimam michi, et cui omnes in oriente testimonium ferebant vitae ipsius, sancta diaconissa nomine Marthana, quam ego aput Ierusolimam noveram, umi illa gratia orationis ascenderat; haec autem monasteria aputactitum seu virginum regebat, Egeria Itinerarium, 216; vgl. Trutet, 224f. 55 Apotaktiten waren Asketen und galten als Ableger der Markioniten. Spätestens Ende des 4. Jh.s wurden sie per kaiserlichem Dekretgesetz als Häretiker verfolgt. Vgl. Sabine R. Hübner, Der Klerus in der Gesellschaft des spätantiken Kleinasiens, Stuttgart 2005, 205–209. 56 Egeria Itinerarium, 217. 57 Zeichen spontaner Gastfreundschaft erlebten die Pilgerinnen auf allen Reisen, staunende Neugierde über eine Gruppe Frauen, die ohne Männer durch die Gegend läuft und Dehnübungen durchführt, aber auch hilfreiche Wegweiser, vgl. Reisetagebuch Slowenien/Kroatien 2008 v. 26.9.2008; Reisetagebuch Türkei 2012 v. 30.9., 2.10.2012; Reisetagebuch Zypern 2014 v. 23.9.2014. Im Grenzgebiet Rumäniens und Bulgariens an der Donau geraten die Pilgerinnen öfters in Polizeikontrollen, bei denen sie nach dem Verbleib ihren Männern befragt wurden, vgl. Reisetagebuch Rumänien 2010 v. 24., 27., 29.9.2010. In der Türkei

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Auf allen Etappen des Egeria-Weges versuchten die Pilgerinnen, Mitglieder und Freundinnen des ÖFCFE zu treffen, deren Projekte kennenzulernen oder diese Kontakte zu nutzen, um andere Initiativen und Institutionen aufzusuchen.58 Ab der Wegstrecke durch Italien 2007 hielt jede Reise wichtige ökumenische Begegnungen bereit. In Italien übernachteten die Pilgerinnen auf dem Gelände der Waldenserkirche in Torre Pellice, wo ihnen Pfarrer Bruno Bellion die Geschichte der Waldenser nahebrachte. Die Erfahrungen der deutschen methodistischen Pfarrerin Wolters in und mit ihrer Gemeinde in Vercelli – die Waldenserkirche und methodistische Gemeinden in Italien leben in einer Kirchengemeinschaft – bereicherten die ökumenischen Kenntnisse. In Mailand besuchten die Pilgerinnen den „Frauen Buch Laden“ und führten mit den dortigen Philosophinnen Gespräche. Am Ende ihrer Reise durch Norditalien trafen sich die Egeria-Pilgerinnen zum Frauenfrühstück mit der Frauengruppe der lutherischen Gemeinde in Venedig und ihrer Pfarrerin Almut Kramm.59 In Slowenien und Kroatien 2008 waren die ökumenischen und europa-zentrierten Begegnungen besonders zahlreich. Die Pilgerinnen lernten die Weltgebetstagsarbeit60 und das Weltgebetstagskomitee in Slowenien61 kennen, erfuhren von Sozialprojekten der lutherischen Kirche in Slowenien, dem internationalen Kinder-Sommer-Camp in Jagnjedovac in Kroatien oder dem Frauenhausprojekt der Diakonie in Popovac, Kroatien. Spontan entschlossen sich die Pilgerinnen, dieses Projekt zu unterstützen.62 In Kroatien trafen sie Jadranka

werden sie häufig auf eine Tasse Tee eingeladen, vgl. Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 25.–26.,30.9.2013. 58 Bereits in Frankreich besuchten die Pilgerinnen „sesshafte Sympathisantinnen“. Auf dem Weg nach Italien machten sie Halt bei der Schweizer ÖFCFE-Koordinatorin Ruth Barmet in Luzern, die ihnen noch einige Kontakte vermitteln sollte, vgl. Reisetagebuch Frankreich 2006 v. 6.10.2006; Reisetagebuch Italien 2007 v. 21.9.2007. 59 Vgl. Ritter, Spuren, 171; Reisetagebuch Italien 2007 v. 22.–25.9., 2.10.2007. 60 Der Weltgebetstag/World Day of Prayer ist die älteste ökumenische Frauenbewegung, die seit über 100 Jahren einmal im Jahr zu einem Gottesdienst einlädt, der weltweit am ersten Freitag im März gefeiert wird. Die Länder und Themen, die für die Vorbereitung dieses Ereignisses zuständig sind, werden auf den internationalen ökumenischen Versammlungen lange im Voraus bestimmt. Bei der internationalen Tagung in Brasilien 2017 wurden die Länder, die abwechselnd alle fünf Erdteile repräsentieren, für die Jahre 2022 (England, Wales, Nordirland) bis 2026 (Nigeria) bestimmt, vgl. weltgebetstag.de/aktuelles/ news/das-sind-die-neuenlaender-und-themen/ (20.4.2020). Der Weltgebetstag in Deutschland hat das Motto „Informiert beten, betend handeln“ geprägt, unterhält eine eigene Geschäftsstelle in Stein und wird von kirchlichen Frauengruppen und -organisationen in Deutschland getragen. Die Gottesdienstkollekten und Spenden fließen in eine breit gefächerte Projektarbeit. 2018 wurden für insgesamt 58 Frauen- und Mädchenprojekte in 26 Ländern 1,868 Millionen Euro verausgabt, vgl. weltgebetstag.de/fileadmin/user_upload/downloads/webseite_downloads_ jb2018_copyright-wgt-ev.pdf, (20.4.2020); siehe auch Helga Hiller, Ökumene der Frauen. Anfänge und frühe Geschichte der Weltgebetstagsbewegung in den USA, weltweit und in Deutschland (Schriftenreihe zum Weltgebetstag 4), Stein 22006. 61 In Slowenien wird seit 2000 der Weltgebetstag gefeiert, und für 2019 erstellte das ökumenische Komitee in Slowenien die Gebetsordnung, vgl. Länderheft zur Vorbereitung. Informationen zu Slowenien. Weltgebetstag 2019, hg. v. Weltgebetstag der Frauen – Deutsches Komitee e.V., Stein 2018. Vgl. Reisetagebuch Slowenien/Kroatien 2008 v. 24.–26.9.2008; vgl. auch Carola Ritter/Julia Lersch, Informiert Pilgern – bewegt handeln. Eine Methodik für Multiplikatorinnen in der WGT-Arbeit, in: Bilder vom Pilgern. Zwischen Kirche, Kultur und Kommerz, hg. v. Julia Koll/Amélie zu Dohna, Rehburg-Loccum 2019 (Loccumer Protokolle 64, 2018), 81–85 (= Ritter/Lersch). 62 Vgl. Reisetagebuch Slowenien/Kroatien 2008 v. 24., 29.9., 3.10.2008.

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Cigelj, bosnische Kroatin, als Rechtsanwältin Nebenklägerin im Den Haager Kriegsverbrechertribunal und Politikerin, die 1992 im Konzentrationslager Omarska inhaftiert war. Darüber schrieb eine Pilgerin im Reisetagebuch: „Schonungslos offen schildert sie in ihrem Buch ‚Appartement 102 Omarska‘ das tägliche Leben und Überleben in einer entmenschlichten Welt, in der Folter, Vergewaltigung und Töten durch ehemalige Nachbarn und Kollegen zum Alltag gehörten.“63 Der ökumenische Gottesdienst am 3. Oktober in der ev.-luth. Kirche von Osijek, den die beiden Pfarrerinnen Carola Ritter und Liliane Berić aus Zagreb gemeinsam leiteten, bedeutete einen Schritt auf dem Weg in ein versöhntes Europa. „Jesus versöhnt zur Einheit“, erinnerte Ritter am Tag der deutschen Einheit, und Berić betonte, dass Versöhnung gelebt wird, „indem wir Kroaten und Deutsche miteinander singen, beten und GOTT loben.“64 In Serbien 2009 begegneten die Pilgerinnen wiederum den Spuren des Jugoslawienkrieges und hörten in der Ecumenical Humanitarian Organization (EHO) von Versöhnungsversuchen, wo deren Leiterin „über den Krieg und das Nato-Bombardement auf Novi Sad vor zehn Jahren“65 und die Tätigkeiten der Initiative informierte. In Belgrad trafen sie die designierte Nationalkoordinatorin des ÖFCFE-Serbien, die Lehrerin Marijana, besuchten die Bischofskirche und das Erzbischöfliche Ordinariat der serbischen Katholiken, anschließend auch den Sitz des serbisch-orthodoxen Patriarchen sowie das Museum der Serbisch-Orthodoxen Kirche.66 Begegnungen mit lutherischen, reformierten, katholischen, orthodoxen Geistlichen, den deutschsprachigen Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen, den Repräsentantinnen der Frauenarbeit der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien, der Besuch einer Einrichtung für geistig behinderte Kinder in Timişoara bereicherten das Pilgerinnenprogramm in Rumänien 2010.67 Die Nationalkoordinatorin des bulgarischen ÖFCFE, die Armenierin Surpi, vermittelte die Kontakte zur Mitpilgerin Zoya, den verschiedenen Projekten (Hospiz und Seniorenclub in Sofia), führte die Pilgerinnen durch die Hauptstadt und beantwortete ihre interessierten Fragen zur gesellschaftspolitischen und ökumenischen Situation in Bulgarien.68 Wie in Rumänien wurden auch in Bulgarien 2011 zahlreiche Klöster, Kirchen und die Synagoge in Sofia besucht.69 63 64 65 66 67 68

Reisetagebuch Slowenien/Kroatien 2008 v. 27.9.2008. A.a.O. v. 3.10.2008. Reisetagebuch Serbien 2009 v. 24.9.2009. Vgl. a.a.O. v. 28.9.2009. Vgl. Reisetagebuch Rumänien 2010 v. 21.–26.9., 1.–2.10.2010. Vgl. Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 18.–19.9.2011. Im Reisetagebuch notierte Uta: „Sie gibt uns einen Einblick in das gesellschaftspolitische Leben der Bulgaren, nimmt Stellung zum ‚System der Krankenversicherungen‘, zum ‚Verhältnis von Bulgarisch-Orthodoxer Kirche und Staat‘, der ‚Stellung der Frauen in der Armenischen Kirche‘ und beschrieb ihre Erfahrungen mit der Ökumene, die sie als Nationalkoordinatorin des Ökumenischen Forums Christlicher Frauen in Europa bestens kennt.“ A.a.O. v. 30.9.2011. 69 Vgl. Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 18., 20., 22.–24., 27.–30.9.2011. In der Synagoge in Sofia informierte der Gemeindeleiter über das jüdische Leben in Bulgarien. Waltraud L. hielt für den 1.10. fest: „Diese Synagoge ist eine der größten in Europa. Zur Gemeinde gehören ca. 6000 Menschen. Bulgarien war und ist ein tolerantes Land. Dies kam insbesondere während des 2. Weltkrieges zum Ausdruck – das Land hat ‚seine‘ Juden nicht nach Deutschland ausgeliefert! Die Synagoge wurde 1909 im spanisch-maurischen Stil gebaut. 2009 wurde der Gebetssaal renoviert und sieht jetzt prachtvoll aus. Zur Synagoge gehört auch ein kleines Museum und eine Mikwe.“

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Ein besonderes Erlebnis erwartete die Pilgerinnen in Istanbul gleich zu Beginn der Reise in der Türkei 2012. Sie erhielten eine Audienz beim Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel Bartholomäus I., der wie sein Vorgänger Demetrios I. als „wichtiger Promotor der innerchristlichen Ökumene und auch des interreligiösen Dialogs“70 gilt und wegen seines intensiven Engagements für die Umwelt den Beinamen der „Grüne Patriarch“ trägt. Carola Ritter stellte das Egeria-Projekt vor und betonte, dass die Pilgerinnen seit einigen Jahren den Schöpfungstag unterwegs liturgisch begehen. In Iznik, dem antiken Nicäa, besuchten die Pilgerinnen den Ort, wo 325 das erste ökumenische Glaubensbekenntnis entstand. Die im 11. Jh. erbaute Basilika wird heute als Moschee genutzt. In Ankara waren die Frauen in die Deutsche Botschaft eingeladen. Beim regen Austausch mit der Kulturreferentin und den Mitgliedern der deutschen Gemeinde erfuhren sie, wie das gottesdienstliche Leben gestaltet wird.71 Im Dorf Gölyaka genossen die Pilgerinnen die große Gastfreundschaft ihrer Mitpilgerin Gülçan, deren Mutter und ihrer Verwandtschaft und besuchten die „geräumige, schöne YazipinaMoschee“72 vor Ort. Die markanteste Begegnung auf der Ersatzroute durch die südliche Türkei 2013 war „eine Audienz“73 bei Kate Clow, die eine Fortführung der Paulusroute bis Tarsus und einen HelenaWeg von Kappadokien durch die Kilikische Pforte nach Süden plante. Auf Zypern 2014 waren die Pilgerinnen konfrontiert mit den harten Realitäten eines geteilten Landes und der letzten geteilten Hauptstadt Europas Nikosia. Beim „Stadtpilgerweg“ am 1.10., dem zypriotischen Unabhängigkeitstag, durch die multikulturelle und multireligiöse Hauptstadt erlebten sie die Teilung hautnah. Das Reisetagebuch hielt fest: „Die RömischKatholische Kirche liegt ‚reingeschoben‘ in die Stacheldrahtgrenze zwischen türkisch und griechisch kontrolliertem Teil der Stadt. Das Tor des angrenzenden Pfarrgartens ist auf einer Seite mit Stacheldrahtrollen verschlossen. Die dahinterliegenden Häuser zeigen Schießspuren und sind verlassen. So liegt der paradiesische Garten der Vatikanischen Vertretung in unmittelbarer Nähe mit unversöhnter Alltagsrealität einer geteilten Stadt. Es erinnert an jahrzehntelange deutsch-deutsche Realität und macht beklommen.“74 Beim Gespräch in der Deutschen Botschaft am folgenden Tag erfuhren die Pilgerinnen von vorsichtigen Annäherungen der verfeindeten Seiten, aber auch „Grundsätzliches zur Asylpolitik“, der „Situation der asiatischen Hausangestellten“, „den Auswirkungen der Finanzkrise auf die Wirtschaft in Zypern.“75 Betroffenheit löste die Nachricht vom Schiffbruch syrischer Flüchtlinge, die von einem Kreuzfahrtschiff in Limassol an Land gebracht wurden, aus. Davon hörten sie am letzten Abend in Limassol. Vormittags waren sie in der evangelischen Gemeinde in Limassol über Chancen und Grenzen ökumenischer Gemeinschaft auf Zypern informiert worden.76 In Nikosia trafen die Pilgerinnen die Nationalkoordinatorin des zypriotischen ÖFCFE, das seit 2009 besteht, und einige kirchliche Frauen. Eine Forumsfreundin führte sie am folgenden

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Reisetagebuch Türkei 2012 v. 24.9.2012. Vgl. a.a.O. v. 25., 27.9.2012. A.a.O. v. 4.10.2012. Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 4.10.2013. Reisetagebuch Zypern 2014 v. 1.10.2014. A.a.O. v. 2.10.2014. Vgl. Reisetagebuch Zypern 2014 v. 26.9.2014.

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Tag durch eine Tageseinrichtung für schwerstbehinderte Menschen, die seit 1988 mit viel ehrenamtlichem Engagement betrieben wird.77 Besondere Ereignisse und Begegnungen warteten am Ziel ihrer langjährigen Reise, für die 19 Tage eingeplant waren. In zwei Etappen feierten die Pilgerinnen ihren Pilgerabschluss in Jerusalem. Eine Gruppe pilgerte vom Norden Galiläas aus nach Jerusalem, und eine kleinere Gruppe „sesshafter Pilgerinnen“ traf sich ab 21.10. in Jerusalem, um die Begegnungstage vom 24.–28.10. gemeinsam zu begehen. Egerias Wege und Beschreibungen waren auf diesen Etappen ganz präsent.78 Zahlreiche Begegnungen bereicherten diesen Weg, wie Besuche im Drusendorf Pqi'in,79 Gespräche im Frauentreffpunkt Afnan Hagalil in Arrabe, das Angelika Madi, unterstützt von ihrer jüdischen Freundin Ela, aufgebaut hatte, um arabisch-palästinensischen Frauen Bildungsangebote, Diskussion und Austausch zu ermöglichen,80 und im Haifa Feminist Center Isha L’Isha, die „älteste feministische Graswurzel-Organisation in Israel und eine der führenden und einflussreichen Stimmen im Land für Frauenrechte“,81 die seit 1983 besteht.82 Von Regula erfuhren sie, dass im Industriegebiet von Nazareth „Palästinenser und Israelis gut zusammenarbeiten“,83 im liberal geltenden Haifa Juden und Araber in gutem Einvernehmen leben und Haifa das Zentrum der Baha՚i Religion darstellt.84 Regula ist Mitglied im Verein „Negev Stars“, der die Ausbildung beduinischer Jungen unterstützt, denn die unterschiedlichen Bildungssysteme von „orthodoxen, zionistischen, säkularen Juden und den Arabern“85 in Israel verstärken die Spaltung im Land.86 Regulas Informationen und Einschätzung der politischen Situation im israelisch-palästinensischen Konflikt flossen ein ins betende Pilgern.87 Ein Bad im See Genezareth und der Besuch der Ausgrabungsstätte

77 Vgl. a.a.O. v. 1.–2.10.2014. 78 Vgl. Käser, 116–118; Reisetagebuch Israel 2015 v. 12.10.2015; am 17.10.2015 notierte Ilona: „Von Magdala aus fahren wir mit dem Bus zum Berg der Seligpreisungen, besuchen die Kirche und gehen hinunter nach Tabga. Unterwegs machen wir Halt an dem Stein, an dem auch Egeria gewesen sein soll.“ 79 Vgl. a.a.O. v. 14.–15.10.2015. 80 Vgl. a.a.O. v. 16.10.2015. 81 A.a.O. v. 20.10.2015. 82 „Sie tragen ihre Themen in die öffentlichen Debatten hinein bis ins Parlament und sind Initiatorinnen von gesellschaftlichem Wandel. Viele Kampagnen (jetzt auch mit Facebook) und neue Organisationen sind aus ihr hervorgegangen, wie z.B. Häuser für geschlagene Frauen, arabische Frauenzentren, Vereine für Empowerment von Frauen und Mädchen. Aktuelle Themen sind: Fortpflanzungstechnik, Menschenhandel und Prostitution, Frauen und Behinderung, sexistische Werbung, Nuklear-Rüstung. Unterstützung gibt die deutsche Heinrich-Böll-Stiftung. Sie wünschen von uns Infos zur Debatte über das Organ-, Ei- und Samenspende-Thema in Deutschland.“ Ebd. Vgl. auch http://isha2isha.com/english/ (19.4.2020). 83 Ebd. 84 „Mit dem Staat Israel besteht ein Vertrag, dass die Baha´i im Land nicht missionieren dürfen.“ A.a.O. v. 21.10.2015. 85 A.a.O. v. 22.10.2015. 86 „Denn die Mädchen sind viel strebsamer und ehrgeiziger, sie haben erkannt, dass sie durch gute Schulbildung einer sehr frühen Heirat entgehen können. Aus jedem Gymnasium sucht ‚Negev Stars‘ die 25 begabtesten jungen Männer aus und schickt sie zur speziellen Förderung für ein Jahr auf ein Internat. Dann können sie ein akademisches Studium absolvieren, um einmal Führungspositionen zu übernehmen.“ Ebd. 87 „In einer Pause unter schattenspendenden Bäumen berichtet uns Regula über die aktuelle politische Situ-

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in Magdala durften nicht fehlen. Im spirituellen Zentrum am Seeufer wurde u.a. ein Atrium der Frauen errichtet, „ein Rundbau mit acht Säulen, von denen sieben die Namen von Frauen tragen, die Jesus gefolgt sind. Die achte Säule steht für alle Frauen, wir schreiben mit dem Finger unseren Namen auf die Säule“,88 notierte Ilona im Reisetagebuch. Die letzte Etappe von Neve Shalom bis Jerusalem pilgerte Dr. Elisabeth Raiser mit, die später den Festvortrag in Jerusalem halten sollte. Am Marienbrunnen in Ein Karem, wo der Begegnung von Maria mit ihrer Cousine Elisabeth gedacht wird, trafen sich die beiden Pilgerinnengruppen zu einer Begrüßungsandacht im Klostergarten der „franziskanischen Visitationskirche“, die Pfarrerin Susanne Käser hielt. In der Kirche war keine Andacht möglich, weil die Gruppe „ohne geweihten Priester“89 agierte. Einer der Höhepunkte des Besuchsprogramms in Jerusalem war das Treffen mit der 94jährigen Avital Ben Chorin, der in Eisenach geborenen Frau von Shalom Ben Chorin. Sie war mit einem Jugendeinwanderungsprogramm nach Israel gekommen, ihre Eltern wurden 1944 in Ausschwitz ermordet. Avital Ben Chorin begrüßte 1947 wie alle Israelis die Gründung des Staates Israel und die Zwei-Staaten Lösung, erlebte von Anfang an Unruhen in Israel, die „Schwankungen der deutsch-israelischen Beziehungen“90 und die schwierige Situation mit den palästinensischen Bürgerinnen und Bürgern. In der Auguste-Viktoria-Stiftung91 informierte die Touristen- und Pilgerseelsorgerin Gabriele Zander über die Arbeit der Stiftung, das Krankenhaus und die Sozialeinrichtungen des Lutherischen Weltbundes für palästinensische Familien.92 Trotz angespannter politischer Lage war ein Tagesbesuch in Bethlehem möglich. Im Diyar-Zentrum, dessen Leiter Reverend Dr. Mitri Raheb am Kairos-Palästina-Dokument93 von 2009 mitgearbeitet hatte, erfuhren

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ation. Die Israelis sind sehr besorgt über die Entwicklung, und es ist kaum Lösung in Sicht. … Die Situation ist festgefahren, weil die Regierungen auf beiden Seiten wenig Visionen haben, einen gemeinsamen Weg zu finden, und es auf beiden Seiten Terroristen gibt, die eine Annäherung unmöglich machen. Mit diesen bedrückenden Gedanken pilgern wir bis zum Picknick weiter und anschließend auf einem Höhenweg mit Blick auf die Autobahn Richtung Jerusalem.“ A.a.O. v. 23.10.2015. A.a.O. v. 17.10.2015. A.a.O. v. 24.10.2015. A.a.O. v. 25.10.2015. Das Hauptgebäude der Auguste-Viktoria-Stiftung, die 1910 als ein Zentrum für Jerusalem-Pilger und die deutsche Gemeinde in Jerusalem gegründet wurde, wird heute als Krankenhaus unter der Ägide des Lutherischen Weltbundes für palästinensische Familien betrieben, ebenso ein Sportplatz. Seit 1999 unterhält die EKD ein Pilger- und Begegnungszentrum in Jerusalem. Vgl. Reisetagebuch Israel 2015 v. 25.10.2020; 100 Jahre Kaiserin Auguste-Viktoria-Stiftung Jerusalem, in: www.ekd.de/pm100_2010_100_jahre_kav_ stiftung_jerusalem.htm (19.4.2020). Vgl. Reisetagebuch Israel 2015 v. 25.10.2015. Carola hielt im Reisetagebuch fest: „von ChristInnen Palästinas verfasst, beschreibt dieses Positionspapier das Jetzt und Hier der Besatzungsrealität. Auf dem Hintergrund biblischer Befreiungserfahrungen wird Besatzung als Sünde benannt und Lösungsvorschläge für einen gerechten und dauerhaften Frieden aufgezeigt. Die Verfasserinnen sehen den Kairos (griech.: Zeitpunkt) gekommen, den Ruf an die Weltgemeinschaft mit der Aufforderung zu richten ‚Kommt und seht!‘. Konkret kann das heißen: Bleibt länger als zwei Stunden in Bethlehem und Palästina, als es die meisten christlichen BesucherInnen der Geburtskirche tun. Macht euch ein Bild vom Leben der Menschen hier und nicht nur von toten Steinen. Diese Aufforderung entspricht unserem Pilgerselbstverständnis zutiefst, und sogleich werden Ideen zum Pilgern in Palästina geboren.“ A.a.O. v. 26.10.2015; siehe auch Kairos-PalästinaDokument 11. Dezember 2009 Stunde der Wahrheit: Ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der

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die Pilgerinnen von der palästinensischen Sicht auf Geschichte und Gegenwart. Das Zentrum will christlichen und muslimischen Palästinenser*innen eine Heimat und Perspektiven anbieten und sie „als Teil einer palästinensischen Zivilgesellschaft bestärken“94. Bei der Begegnung mit den Inhalten des Kairos-Palästina-Papiers wurde die Idee einer zusätzlichen Pilgerreise durch Palästina geboren. Den feierlichen Abschluss des Egeria-Projektes begingen die Pilgerinnen im Gemeinderaum der evangelischen Erlöserkirche. Dr. Elisabeth Raiser würdigte den Frauen-Pilgerweg als „‚einen kühnen Plan‘ mit vielen bereichernden Begegnungen“95 und spannte den Bogen von den biblischen Aufbruchs- und Auszugsgeschichten zum predigenden und wandernden Jesus über „die neugierige Egeria bis zu uns“96 und dem Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Pfarrerin Carola Ritter und die katholische Pastoralreferentin Karin Müller-Bauer gestalteten einen ökumenischen Mahlgottesdienst. In ihrer Dialogpredigt brachten sie die Emmausgeschichte ins Gespräch mit den Pilgerinnenerfahrungen der vergangenen Jahre: „Zwei Aspekte dieses Egeria-Weges werden deutlich. Einmal die Begegnungen mit verschiedensten Menschen, mit Kindern und ÖFCFE-Frauen, mit Polizisten und kirchlichen Würdenträgern – und das schweigende Gehen, jede für sich und doch mit anderen zu anderen Unterwegssein. … Es tut gut, bei dieser Mahlfeier das Brot, den Wein, Bibelworte und Gebetsanliegen miteinander zu teilen.“97 Alle, auch die mitgereisten sesshaften Sympathisantinnen erhielten im anschließenden geselligen Teil eine Pilgerurkunde. Was 2015 an Begegnungen und Austausch in Palästina nicht möglich war, holte die Pilgerinnengruppe 2018 nach, wo sie teilweise in privaten Unterkünften nächtigte und auf diese Weise viel von der palästinensischen Lebenswirklichkeit mitbekam.98 Auf dem Besuchsprogramm standen ökumenische, kulturelle und soziale Projekte und Einrichtungen wie das Treffen mit Volontärinnen der Organisation EAPPI99, einem „Friedensprojekt des Ökumenischen Rates der Kirchen“100. Die Freiwilligen aus verschiedenen Ländern demonstrierten „Protective Presence“ an Checkpoints, Schulen und im Grenzgebiet. Verbunden war die „schützende Anwesenheit“ mit der Hoffnung, dass die Menschenrechte in dieser konfliktreichen Region eingehalten und strukturelle Gewalt abgebaut werden. Öffentlichkeit

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Liebe aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen, in: https://www.oikoumene.org/de/resources/documents/other-ecumenical-bodies/kairos-palestine-document (21.4.2020). Reisetagebuch Israel 2015 v. 26.10.2015; vgl. Käser, 117. Reisetagebuch Israel 2015 v. 27.10.2015. Ebd. Ebd.; vgl. Käser, 117. Vgl. Reisetagebuch Palästina 2018 v. 28., 30.9., 2., 4., 5.10.2018. Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel, vgl. https://www.oikoumene.org/de/ was-wir-tun/eappi-de (19.4.2020). Reisetagebuch Palästina 2018 v. 29.9.2018: „Die Volontäre zw. 25–70 Jahren aus 21 verschiedenen Ländern sind 3 Monate an 4 Standorten in Palästina und zeigen Protective Presence, d.h. sie machen täglich ihre Runden und beobachten an Checkpoints, an Schulen oder in Grenzgebieten und zeigen Präsenz. Ziel des Einsatzes ist es, für Menschenrechte und Frieden zwischen Israel und Palästina einzutreten, zu bezeugen, was gesehen und gehört wird und davon zu berichten zum Beispiel gegenüber den Vereinten Nationen.“

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sollte durch Blogartikel, Berichte, Veranstaltungen im Heimatland hergestellt werden, aber in die Geschehnisse wurde nicht eingegriffen.101 In Jenin erfuhren die Frauen von der bewegten Geschichte eines Theaterprojekts, das 1950 von der Israelin Arna Mer Khamis im Flüchtlingscamp Jenin gegründet wurde und unter dem Namen „Stone Theater“ sogar den alternativen Friedensnobelpreis erhalten hatte. Allen Anschlägen zum Trotz lebte das Projekt in der 2017 eröffneten „Freedom Theater School“102 weiter. Ein Frauenprojekt in Jenin mit Nähstuben und Kreativräumen, eine palästinensische Behinderteneinrichtung bei Ramallah und die Organisation LIFEGATE, ein Rehabilitationszentrum mit „Wohngruppen, Werkstätten und Ausbildungsmöglichkeiten für körperbehinderte, gehörlose und lernbehinderte Jugendliche“103 standen ebenfalls auf dem Besuchsprogramm. In Bethlehem trafen die Pilgerinnen beim Erntedankgottesdienst in der Christmas Lutheran Church104 Bischof Younan, dem Carola Ritter 2017 auf der Vollversammlung des LWB in Namibia vom geplanten Egeria-Pilgerinnenweg in Palästina berichtet hatte. Abschließend in Jerusalem besuchten die Frauen das Auguste-Viktoria-Krankenhaus, das ein mobiles Mammographie-Projekt unterhält, für das die Frauen der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz eine Spende überreichten. Mit dieser Unterstützung kam das „Informiert Pilgern – bewegt handeln“105 zu einem vorläufigen Abschluss.106 Gastgeschenke wie die Egeria-Kerze, Flyer zum Egeria-Projekt in der Landessprache und in Englisch, Mitbringsel für die Gastgeber oder ab 2011 das Buch „Ökumene weiblich. Frauen überschreiten Grenzen“, die Festschrift zum 25jährigen Bestehen des ÖFCFE lagen im Reisegepäck der Pilgerinnen immer bereit, um weitergegeben zu werden. Unterwegs erhielten die Frauen gelegentlich „Eulogien“ in Form von Obst, Käse, Wein und Brot oder einer Einladung zum Tee ähnlich wie Egeria vor rund 1600 Jahren.107

101 Vgl. A.a.O. v. 29.9., 7.10.2018. 102 A.a.O. v. 2.10.2018. Arnas Sohn Juliano kam 2002 nach Jenin und drehte einen Film „Arnas children“, 2011 wurde Juliano mit seinem Kind und dem Babysitter erschossen. Siehe auch https://www.thefree domtheatre.org/who-we-are/ (21.4.2020). 103 Reisetagebuch Palästina 2018 v. 8.10.2018. Dieses Zentrum wurde 1989 „von einem CVJM-Sekretär aus Gießen“ gegründet und versteht sich „als interkonfessionelle christliche Einrichtung“. Ebd. Vgl. auch http://lifegate-reha.de/home/ (19.4.2020). 104 Vgl. hwww.bethlehemchristmaslutheran.org/wp/about-christmas-lutheran-church/history/ (19.4. 2020); Reisetagebuch Palästina 2018 v. 7.10.2018. 105 Dieses Motto zog Carola Ritter aus der langjährigen Pilgererfahrung und machte es zum Titel eines ihrer Artikel, in denen es um neue Anwendungsmöglichkeiten des Pilgerns geht: Informiert Pilgern – bewegt handeln. Eine Methodik für Multiplikatorinnen in der WGT-Arbeit, in: Ritter/Lersch, 81–85. 106 Vgl. Reisetagebuch Palästina 2018 v. 6.–9.10.2018. 107 Vgl. Reisetagebuch Spanien 2005 v. 24.9.2005; Reisetagebuch Slowenien/Kroatien 2008 v. 28.9. 2008; Reisetagebuch Serbien 2009 v. 20., 23.9., 3.10.2009; Reisetagebuch Rumänien 2010 v. 24.9., 1.10. 2010; Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 20.9., 1.10.2011; Reisetagebuch Türkei 2012 v. 24., 26.– 27.9., 4.10.2012; Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 26., 28.–30.9.2013; Reisetagebuch Zypern 2014 v. 23., 26.9., 1.–2.10.2014; Reisetagebuch Israel 2015 v. 22., 24.10.2015; Reisetagebuch Palästina 2018 v. 3.10.2018.

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4. Spiritualität 4.1 Egeria und ihr Interesse an der Liturgie Egerias Neugierde und spirituellem Interesse verdanken wir die detaillierten Beschreibungen der Jerusalemer Stundenliturgie und des Festkalenders, die großen Raum in ihrem Itinerarium beanspruchen. Aufgrund ihrer kenntnisreichen und bisher einzigen entdeckten Schrift ist Egerias Name bei Liturgiker*innen und Kirchenhistoriker*innen bis heute bekannt.108 Röwekamp schreibt in der Einleitung zur Übersetzung des Itinerariums: „… der Bericht der Egeria [ist] die älteste und wichtigste Quelle für die Frühgeschichte der Jerusalemer Liturgie und des Kirchenjahres überhaupt.“109 Die erste Kunde von einem Festzyklus und der genauen Wiedergabe des Ablaufes stammte von Egeria.110 Die Liturgie sah vor, dass am historischen Ort die passenden biblischen Texte verlesen wurden, damit die Gläubigen in das Geschehen eintauchen und entsprechend reagieren konnten. Egeria beschrieb „den dramatischen Nachvollzug der berichteten Ereignisse in der Liturgie“,111 wie zum Beispiel den Einzug Jesu in Jerusalem, der bis heute dramaturgisch begangen wird. Durch Nachahmung wurde versucht, die Heilsgeschichte wieder aufleben zu lassen. Alle späteren Passions- und Osterfestspiele folgten diesem Prinzip. Röwekamp resümierte: „Die Verkündigung und Nachahmung des Geschehens löst sozusagen ‚Furcht und Mitleid‘ bei den Gläubigen aus und führt so zu einer ‚Katharsis‘, einem reinigenden Neuanfang.“112 Die sechs liturgischen Gebetszeiten: Vigilien, Morgenlob, Terz, Sext, Non, Lucernar, die noch ohne biblische Lesung gestaltet waren, strukturierten auch in Jerusalem die Tageszeiten. Dabei wurden Hymnen, Psalmen und Antiphone rezitiert. Das Abendgebet fand als Lichtfeier (Lucernar) statt, die Egeria in dieser Form aus ihrer Heimat kannte.113 Egeria ging es darum, die Ereignisse, die im Alten und Neuen Testament erzählt werden, nachzuerleben. Deswegen trat sie diese beschwerliche Pilgerreise an und feierte an den von ihr besuchten Orten Andachten, die in der Regel aus Gebet, biblischer Lesung, Psalmlesung, Schlussgebet und Segen, sofern ein Bischof anwesend war, bestanden. Lesungen aus dem Buch der Psalmen durften bei keiner Andacht fehlen, was den hohen Stellenwert des Psalters bezeugte.114 Die Beschwernisse der Pilgerreise selbst gaben Anteil am Leiden und Mühen im 108 Vgl. Trutet, 204–212. Die Pilgerinnen des Egeria-Projekts begegneten mehreren Geistlichen, denen Egeria und ihr Itinerarium bekannt waren, wie dem ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I. oder Pater Rascha am Sitz des Serbisch-Orthodoxen Patriarchats in Belgrad, vgl. Reisetagebuch Türkei 2012 v. 24.9.2012; Reisebericht Serbien 2009 v. 28.9.2009. 109 Egeria Itinerarium, 72f. 110 Erst im 4. Jh. begann man, neben dem Osterfest auch das Geburtsfest Jesu, Weihnachten, im Westen bzw. das Fest der Epiphanie in den östlichen Teilen des Römischen Reiches zu feiern. Infolge des sich ausweitenden Festkalenders entstanden neue Ämter und neue Textgattungen wie das Lektionar. Vgl. Egeria Itinerarium, 72–76. 111 A.a.O., 75. 112 A.a.O., 111. 113 Vgl. a.a.O., 76–83. 114 Vgl. Trutet, 210f; Egeria Itinerarium, 165: „Das war nämlich immer unsere Gewohnheit, wenn wir zu den ersehnten Orten kamen, dort zuerst ein Gebet zu sprechen, dann die Lesung selbst aus dem Kodex zu lesen, auch einen die Sache betreffenden Psalm zu rezitieren und dann wieder zu beten. An dieser Gewohnheit hielten wir also auf Weisung Gottes fest, wann immer wir zu den ersehnten Orten kamen.“ In Haran führte sie der dortige Bischof zur Kirche, die aus den Fundamenten und Steinen von Abrahams

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heilsgeschichtlichen Prozess und führten dazu, durch die „Nachahmung von Mühen und Leiden Heil und Erlösung zu erfahren.“115 Die beim Lesen des Pilgerberichts erzeugte Anteilnahme, und das Nachempfinden der Reise und der Festzeiten sollten eine persönliche Pilgerfahrt, die eben nicht allen möglich war, ersetzen. 4.2 Spiritualität auf dem Egeria-Weg In den Pilgerregeln des Egeria-Projekts war fixiert, wie die Frauen „gemeinsam Spiritualität auf dem Weg“ gestalten wollten: „In Sendungsgottesdiensten, geistlichen Pilgereinstiegen und Abendbesinnungen finden wir Sammlung und Zuspruch, danken für die Bewahrung auf dem Weg und bitten um Segen und Geleit. Im Sinne des allgemeinen Priestertums aller Glaubenden ist jede Pilgerin eingeladen, Aufgaben der geistlichen Praxis zu übernehmen: wie Pilgereinstieg am Morgen, Lesungen und Gebete. Einen großen Teil des täglichen Weges gehen wir im Schweigen.“116 In der Praxis hatten sich diese Rituale während der 2. Etappe durch Frankreich 2006 verfestigt, vor allem das „schweigende Pilgern als Freiraum zur inneren Sammlung in einer großen Gruppe“117 bewährt. Die ersten beiden Sendungsgottesdienste feierten die Pilgerinnen vor Reisebeginn mit der ökumenischen Frauengruppe in „Evas Arche“118 in Berlin und gedachten der Gebetsanliegen an exponierten Orten119 oder legten sie symbolisch mit einem Stein ab. 2006 notierte Doris im Reisetagebuch: „Fürbitten geleiten uns und alten Pilgertraditionen folgend, haben wir auch Bitten und Gebetsanliegen aus der Arche im Gepäck, die wir immer mal wieder bedenken und betend vor Gott bringen werden.“120 Auf dem Weg nach Italien fand der Sendungsgottesdienst in einer Autobahnkirche statt. Pfarrerin Mett aus Memmingen erinnerte mit dem Wallfahrtspsalm 121 an die Gegenwart Gottes, die die Pilgernden überall begleitet und umfängt, sowie an die „missionarische Seite des Pilgerns, des öffentlichen Unterwegs-Seins aus der Kraft des Glaubens.“121 Jede Pilgerin erhielt ein Segenswort zugesprochen. Die folgenden Sendungsgottesdienste gestalteten die Frauen oft als ökumenische Gottesdienste in oder mit einer Gemeinde vor Ort wie 2008 in Triest mit italienischen, slowenischen und deutschen Frauen. Pfarrerin Inge Heiling, die von Spanien bis Italien 2007 mitgepilgert

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Haus erbaut sein sollte. Im Itinerarium heißt es: „Als wir also dort in der Kirche angekommen waren, beteten wir und lasen die entsprechende Stelle aus der Genesis (vgl. Gen 12, 1–9). Wir rezitierten auch einen Psalm, beteten noch einmal und gingen, nachdem der Bischof uns gesegnet hatte, hinaus.“ A.a.O., 205. A.a.O., 114. Punkt 4 der Pilgerregeln – Selbstverständnis. Ritter/Riffelmann, 171. Vgl. auch Reisetagebuch Frankreich 2006 v. 26., 27., 28.9.2006. Vgl. auch https://www.evas-arche.de/index.php?page=18 (25.4.2020). In Spanien am großen Kreuz am Kap Finisterre, dessen Sockel die Inschrift Costa da Morte trägt, gedachten die Pilgerinnen der Fürbitten, die ihnen bei der Andacht in Evas Arche mitgegeben worden waren, in Frankreich 2006 wurden die Fürbitten und Gebetsanliegen bei der Abendmeditation auf dem Kirchhof symbolisch mit einem Stein abgelegt, vgl. Reisetagebuch Spanien 2005 v. 16.9.2005 und Reisetagebuch Frankreich 2006 v. 29.9.2006. Reisetagebuch Frankreich 2006 Prolog. Reisetagebuch Italien 2007 v. 21.9.2007.

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war und durch das ÖFCFE und andere Fraueninitiativen und -organisationen mit der Gruppe verbunden war, hatte diesen Gottesdienst vorbereitet.122 Beim ökumenischen Sendungsgottesdienst 2011 in Sofia, den der evangelische Pfarrer Martin Zamel und sein Freund, der orthodoxe Priester Stefan Baschof mitfeierten, erhielten die Pilgerinnen den Reisesegen nach orthodoxem Ritus.123 Nach dem Besuch im ökumenischen Patriarchat 2012 fand der Sendungsgottesdienst am Abend mit der deutschen Gemeinde in der Kreuzkirche in Istanbul unter breiter ökumenischer Beteiligung statt. Liturgisch eingebunden waren die evangelische Pfarrerin Ulla August, der katholische Priester der deutschen Gemeinde, die mitpilgernde katholische Pastoralreferentin Karin und ein armenischer Kantor. In der Predigt über Gerhard Tersteegens Pilgerlied „Kommt, Kinder, lasst uns gehen“ flossen die Pilgererfahrungen der Gruppe ein.124 So oft die Pilgerinnen ihr Zielland mit dem Flugzeug von München oder Berlin aus anflogen, wurde in der Flughafenkapelle eine kurze Andacht gehalten und der Reisesegen von der Flughafenseelsorgerin gespendet.125 Die Etappe durch Zypern starteten die Pilgerinnen mit einem Friedensgebet für die Menschen in den derzeitigen Krisengebieten, vor allem in Syrien und im Libanon, durch die sie kriegsbedingt nicht pilgern konnten.126 An jedem Pilgertag hatte eine Frau die geistliche Tagesleitung inne und gestaltete oft die Pilgereinstiege und Abendbesinnung selbst. Konstitutiv für alle Andachten, Gottesdienste, Kirchenbesichtigungen oder den Beginn eines Weges war der Gesang, für den sogar ein Egeria-Liedblatt127 zusammengestellt war. Wenn möglich, suchten die Pilgerinnen eine Kirche, einen Garten oder einen ruhigen Ort für die Pilgereinstiege auf. Bewegende Momente für die Pilgerinnen waren, wenn sie in einer Kirche in ökumenischer Gemeinschaft mit den anwesenden Einheimischen das Vaterunser beten, gemeinsam singen oder den orthodoxen Liedruf „Hagios o Theos“ singen konnten.128 122 Vgl. Reisetagebuch Slowenien/Kroatien 2008 v. 22.9.2008. In Rumänien 2010 gestaltete Pfarrer Egon Wonner in der evangelischen Kirche in Reschitza/Reşiţa im Banat den Sendungsgottesdienst mit, vgl. Reisetagebuch Rumänien 2010 v. 23.9.2010 (dort falscher Vorname!). In Antalya 2013 feierten die Pilgerinnen den Sendungsgottesdienst mit Pfarrer Eggert in der deutschen Gemeinde vor Ort, vgl. Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 22.9.2013. 123 Vgl. Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 19.9., 1.10.2011. 124 Vgl. Reisetagebuch Türkei 2012 v. 24.9.2012. 125 Vgl. Reisetagebuch Frankreich 2006 v. 26.9.2006; Reisetagebuch Rumänien 2010 v. 21.9.2010; Reisetagebuch Türkei 2012 v. 23.9.2012; Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 21.9.2013; Reisetagebuch Zypern v. 20.9.2014; Reisetagebuch Israel 2015 v. 10.10.2015. 126 Vgl. Reisetagebuch Zypern 2014 v. 21.9.2014. 127 Vgl. Reisetagebuch Spanien 2005 v. 24.9.2005. Lieder wie „Bewahre uns Gott, behütet uns Gott“, „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft“, „Schweige und höre“, „Der Himmel geht über allen auf“, „Dass Du mich einstimmen lässt in Deinen Jubel, o Herr“, „Dass Erde und Himmel dir blühen“, „Vom Aufgang der Sonne“, „Geh aus mein Herz und suche Freud“, „Lasst uns den Weg der Gerechtigkeit gehen“, „Herr gib mir Mut zum Brückenbauen“, „Ubi caritas“, „Dona nobis pacem“, „Herr gib uns deinen Frieden“, „Wechselnde Pfade“, „Vertraut den neuen Wegen“ gehörten zum Repertoire, vgl. Reisetagebuch Spanien 2005 v. 20., 24.9.2005; Reisetagebuch Frankreich 2006 Epilog; Reisetagebuch Italien 2007 v. 26., 30.9.2007; Reisetagebuch Serbien 2009 v. 30.9.2009; Reisetagebuch Rumänien 2010 v. 30.9.2010; Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 25.9.2011; Reisetagebuch Türkei 2012 v. 29.9., 5.10.2012; Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 24., 26.9.2013; Reisetagebuch Israel 2015 v. 14.10.2015; Reisetagebuch Palästina 2018 v. 28.9., 2., 3.10.2018. 128 Vgl. Reisetagebuch Slowenien/Kroatien 2008 v. 2.10.2008; Reisetagebuch Rumänien 2010 v.

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Allerdings verweigerte man ihnen in manchen Kirchen das Halten einer Andacht mit einem geistlichen Impuls, Gesang und Gebet, wie in Ein Karem oder in der orthodoxen Kirche am Jakobsbrunnen in Nablus. Die biblische Geschichte vom barmherzigen Samariter, die Inhalt des Pilgereinstiegs am griechisch-orthodoxen St. Georgskloster in der judäischen Wüste war, wurde auf besondere Weise lebendig. Der Pförtnermönch hatte den Pilgerinnen den Eintritt verwehrt, da sie kurz vor Schließung des Klosters angekommen waren. Daraufhin hielten sie die Andacht außen vor den Toren, als eine Pilgerin einen Schwächeanfall erlitt. Aber auch dieser Notfall verschaffte den Frauen keinen Zugang zum Kloster. Zufällig kam ein Eselreiter entlang und ließ die Pilgerin auf dem Esel den steilen Weg zum Busparkplatz reiten. Im Reisetagebuch schrieb Beate: „Wir hätten nie gedacht, dass auch heute noch diese biblische Geschichte vom barmherzigen Samariter so ähnlich geschehen kann: Wir hatten die Ignoranz der ‚Heiligen Männer‘ und das Wirken des ‚Samariters‘, der zur rechten Zeit am rechten Ort war, erlebt!“129 Die thematische Bandbreite der Wegimpulse für das schweigende Gehen zu Beginn einer jeden Pilgerstrecke umfasste biblische, kirchenhistorische oder kulturelle Themen, die einen Bezug zum jeweiligen Ort aufwiesen oder mit Pilgererfahrungen zusammenhingen, wie z.B. der „weite Raum“130, „Schweigen“131, „Stille“132, „Atmen“133, „Aufbruch, unterwegs sein mit allen Sinnen, aufmerksam sein, verwandelt ankommen“134, „Wegbegleitung, Motivation“135, „solvitur ambulando (Es löst sich beim Gehen)“136, „Gottesgeschenk des Hörens“137, „relatives Glück bzw. Unglück“138, „Wenn ich ein zweites Leben hätte“139, „Wasser“140, „Schönheit der Schöpfung“141, „Fremdheitserfahrungen auf dem Weg“142, „mittelalterliche Pilgerwesen“143, „heilige Frauen der Orthodoxie“144, „Gottesmutter Maria“145, „Begegnung von Maria und Elisabeth“146, „Rahab“147, „Elia“148, „Schutzengel“149, „Misereor Hungertuch 2017/

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25.9.2010; Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 29.9.2011; Reisetagebuch Zypern 2014 v. 22.9.2014. Reisetagebuch Palästina 2018 v. 27.9.2018. Vgl. Reisetagebuch Spanien 2005 v. 18.9.2005. Vgl. Reisetagebuch Frankreich 2006 v. 27.9., 6.10.2006. Vgl. Reisetagebuch Spanien 2005 v. 23.9.2005; Reisetagebuch Palästina 2018 v. 28.9.2018. Vgl. Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 29.9.2011. Vgl. Reisetagebuch Israel 2015 v. 19.10.2015. Vgl. Reisetagebuch Frankreich 2006 v. 30.9.2006. Vgl. Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 27.9.2013. Vgl. Reisetagebuch Palästina 2018 v. 8.10.2018. Vgl. Reisetagebuch Frankreich 2006 v. 24.9.2006. Vgl. Reisetagebuch Italien 2007 v. 26.9.2007. Vgl. Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 21, 30.9.2011; Reisetagebuch Palästina 2018 v. 5.10.2018. Vgl. Reisetagebuch Frankreich 2006 v. 1.10.2006. Vgl. Reisetagebuch Israel 2015 v. 24.10.2015. Vgl. Reisetagebuch Serbien 2009 v. 23.9.2009. Vgl. Reisetagebuch Rumänien 2010 v. 24.9.2010. Vgl. Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 28.9.2013. Vgl. Reisetagebuch Israel 2015 v. 24.10.2015. Vgl. Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 23.9.2011. Vgl. Reisetagebuch Israel 2015 v. 20.10.2015. Vgl. Reisetagebuch Rumänien 2010 v. 26.9.2010.

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18“150, „Friedensfrauen in Bulgarien“151, „Brückenbauer“152, „Mitpilgerinnen, die Spuren hinterlassen haben“153, „Kraft der Liebe und Besonnenheit“154, „Gleichnislied: Reise des Seelenvogels“155, „Lied: Ihr Mächtigen, ich will nicht singen“156. Anhand einzelner Psalmen, biblischer Geschichten und Briefabschnitte, Texten von Dorothee Sölle, Madeleine Delbrêl, Nelly Sachs, Gerhard Schöne, Dom Hélder Pessoa Câmara, Augustinus, Gisela Baltes und Jörg Zink entfalteten die Pilgerinnen die geistlichen Impulse.157 Seit 2009 feierten die Pilgerinnen den Schöpfungstag unterwegs auf ihren Wegen. Die Feier eines Schöpfungstages158 zwischen dem 1. September und 4. Oktober eines jeden Jahres nimmt die orthodoxe Tradition auf, Gott in besonderer Weise für die gute Schöpfung zu loben und zu danken. Liturgisch kreativ gestalteten die Pilgerinnen den Schöpfungstag meist an verschiedenen Wegplätzen, und alle trugen durch Gesang, Lesungen, Symbolhandlungen und Austausch zum Gelingen bei.159

150 151 152 153 154 155 156 157

Vgl. Reisetagebuch Palästina 2018 v. 2.10.2018. Vgl. Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 20.9.2011. Vgl. Reisetagebuch Türkei 2012 v. 5.10.2012. Vgl. Reisetagebuch Israel 2015 v. 18.10.2015. Vgl. Reisetagebuch Palästina 2018 v. 1.10.2018. Vgl. Reisetagebuch Türkei 2012 v. 28.9.2012. Vgl. Reisetagebuch Israel 2015 v. 13.10.2015. Vgl. Reisetagebuch Spanien 2005 v. 18., 25.9.2005; Reisetagebuch Frankreich 2006 v. 1.10.2006; Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 23., 30.9.2011; Reisetagebuch Türkei 2012 v. 28.9., 3.10.2012; Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 24.9.2013; Reisetagebuch Zypern 2014 v. 25.9.2014; Reisetagebuch Israel 2015 v. 14., 20., 24.10.2015; Reisetagebuch Palästina 2018 v. 27.9., 1., 4., 6.10.2018. Der Pilgereinstieg auf dem Weg nach Bethlehem forderte zur „Ruminatio, d.h. dem wiederholten ‚Wiederkäuen‘ eines Satzes, der sich somit dem Gedächtnis vertiefend einprägt. Jede Pilgerschwester bekam einen Bibelvers, den sie im Gehen nach Belieben laut oder still wiederholte. Am Ende der Andacht nahmen wir je einen Stein aus einem Säckchen. Jeder Stein war anders, so wie auch wir untereinander verschieden sind.“ Reisetagebuch Palästina 2018 v. 6.10.2018. 158 Die Feier des Ökumenischen Schöpfungstags geht auf den Ökumenischen Patriarchen Demetrios I. zurück, der schon 1989 zum gemeinsamen Gebet für den Erhalt der Schöpfung einlud. In der Charta Oecumenica, die 2001 erschien, empfahlen die Kirchen, einen Gebetstag für die Bewahrung der Schöpfung einzuführen, und die 3. Ökumenische Versammlung in Sibiu/Hermannstadt bekräftigte diese Empfehlung. Auf dem 2. Ökumenischen Kirchentag 2010 in München wurde die Feier des Schöpfungstags eröffnet, und seither werden in Deutschland von der ACK Termin, Thema sowie Gottesdienstmaterial für die Feier in jedem Jahr empfohlen und herausgegeben. Vgl. https://www.oekumeneack.de/themen/glaubenspraxis/oekumenischer-tag-der-schoepfung/geschichte-und-anliegen/ (2.5.2020). Der Christinnenrat erarbeitet meist ergänzendes oder alternatives Material zum Thema, vgl. https://www.christinnenrat.de/projekte/7-oekumenischer-schoepfungstag (2.5.2020). 159 Heidelore beschrieb die erste Feier 2009 in Serbien: „Uta beginnt mit unserem Ritual: ‚Geist des lebendigen Gottes erfrische mich wie Tau am Morgen, öffne mich, fülle mich, bewege mich.‘ Carola spricht über das Anliegen des Schöpfungstages und bittet und (sic) alle, Dinge auf dem Weg, die uns ins Auge fallen oder ansprechen, zu sammeln. Margit liest ein indianisches Morgengebet und gemeinsam singen wir: ‚Dass du mich einstimmen lässt in Deinen Jubel, o Herr‘ So eingestimmt pilgern wir schweigend 15 km, legen auf einer Wiese unsere gesammelten und gefundenen Sachen ab: Sand vom Weg, Muscheln, Steine, Zweige, morsches Holz, Rohrkolben, Geld (!) usw. und teilen den anderen unsere Gedanken dazu mit. … Zum Abschluss dieses ‚Schöpfungstages‘ liest Uta den ‚Sonnengesang von Franz von Assisi‘ und gemeinsam singen wir das Lied ‚Ubi caritas‘.“ Reisetagebuch Serbien 2009 v. 30.9.2009.

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Am Ort der 3. Ökumenischen Versammlung in Sibiu/Hermannstadt hielten die Frauen eine Schöpfungsandacht in der Stadtpfarrkirche der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien, gingen anschließend zur Piaţa Mare/Großer Ring, wo 2007 ein Baum, „Zeichen der Hoffnung für unsere Erde, für Gottes Schöpfung“160 gepflanzt worden war und lasen die Liturgie von 2007. In Bulgarien 2011 begleitete das Thema „Wasser“ in Form eines gläsernen Wassertropfens, den jede Pilgerin geschenkt bekam, den Schöpfungstag.161 Auch in Israel 2015 kreiste der Schöpfungstag um das Thema „Wasser“, das in drei liturgischen Einheiten entfaltet wurde.162 Einen interreligiösen Schöpfungstag, strukturiert durch die fünf muslimischen Gebetszeiten und in Erinnerung an Egerias Tagesgebete, gestalteten die Pilgerinnen gemeinsam mit ihrer türkischen Mitpilgerin Gülçan 2012. Inhaltlich kreisten die Gebete um fünf Schwerpunkte: „Gottes Schöpfung mit allen Sinnen zu erfahren, in ihr achtsam zu wandeln, sich der gemeinsamen Verantwortung für ihre Bewahrung bewusst zu bleiben, uns darin gegenseitig zu bestärken und Gott zu danken.“163 Unter dem Thema: „‚Gottes Schöpfung – Lebenshaus für alle‘“164 betrachteten die Pilgerinnen 2013 die Rolle des Menschen in Gottes Schöpfung, wie sie im 1. Schöpfungsbericht in Gen 1,1–2,4 dargestellt ist, hörten mittags „die Koransure ‚Mensch‘ und Gedanken zur Dankbarkeit aus dem Koran“ und meditierten am Abend über „Fülle und Mangel im eigenen Leben“.165

160 Reisetagebuch Rumänien 2010 v. 2.10.2010. Waltraud L. erinnerte sich: „Es ist schön, dass Elfriede Dörr, die 2007 an der Gestaltung der Konferenz maßgeblich beteiligt war, unter uns sein kann, gemeinsam mit Paula, ihrer kleinen Tochter. Da ich 2007 in Hermannstadt dabei war, als dieser Baum gepflanzt wurde, ist es für mich ein bewegender Moment.“ Ebd. 161 Vgl. Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 25.9.2011. 162 „Dörte stellt das Thema ‚Wasser‘ für den Tag vor und überbringt Grüße und Inhalte vom ‚OstseeAnrainertreffen des ÖFCFE‘ 2015 in Finnland, die sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigt haben. Danach ist die Bus-Anfahrt in die Nähe des Merongipfels (460 m), der militärisches Sperrgebiet ist. Wir gehen einen vier km langen Rundweg um den Gipfel herum. Dort im Wald halten wir den zweiten Teil des Schöpfungstages: ‚Israel und sein Wasser‘ (5 ‚Bilder‘). Danach beschäftigt sich jede Pilgerin mit dem Impuls: ‚Welche Wasser-Erlebnisse in deinem Leben waren für dich bedeutsam?‘ und sucht anschließend das Gespräch mit einer Pilgerschwester beim Weitergehen. … Zum Ausklang des Schöpfungstages singen wir wieder: ‚Wasser ist ein Segen…‘ und hören eine kleine ‚Nachhaltigkeits‘-Anekdote.“ Reisetagebuch Israel 2015 v. 15.10.2015. Auch auf Zypern feierten die Pilgerinnen den Schöpfungstag in drei liturgischen Einheiten, vgl. Reisetagebuch Zypern 2014 v. 28.9.2014. 163 Reisetagebuch Türkei 2012 v. 30.9.2012. Uta beschrieb die Stationen im Reisetagebuch: „Wir treffen uns also um 6.30 Uhr auf einer der Terrassen unseres Hotels zum ersten Morgengebet. Gleichzeitig mit dem Ruf des Muezzins beten wir Teile der Sure 55 aus dem Koran und Verse aus Psalm 104, die uns den ganzen Tag begleiten werden. Um 9.45 Uhr, nach dem zweiten Morgengebet, fahren wir ab nach Uchisar und halten auf dem Burgberg die dritte Gebetszeit. … Unter einem Tunnel neben dem Wasserlauf halten wir die vierte Gebetszeit. Gülcan legt wieder ihr Kopftuch um und betet auf arabisch mit geöffneten Händen ihre Verse aus dem Koran. … Wieder zurück in Avanos beenden wir auf der Anhöhe hinter unserem Hotel den Schöpfungstag mit letzten Lesungen und einem meditativen Tanz. Die unterwegs gesammelten Schöpfungsgeschenke wie Blüten, Früchte, Holz, Steine, Erde, aber auch vom Menschen hinterlassene Dinge legen wir in einen Steinkreis zu einem Mandala um das ,e‘ des EgeriaLogos.“ Ebd. 164 Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 29.9.2013. 165 Ebd.

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Pilgerinnen auf Egerias Spuren

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Den Abschlussgottesdienst feierten die Pilgerinnen in der Regel mit einem Agape-Mahl, das Pfarrerin Carola Ritter leitete.166 Am Ende des Fußpilgerweges 2005 in einer kleinen Wegkapelle in Spanien wurde das vom Picknick übrig gebliebene Brot und der Wein vom Kloster Iraxe gesegnet und geteilt, und jede Pilgerin steuerte ihr Dankgebet bei. Den letzten Pilgerabschluss des Egeria-Weges feierten die Frauen in der Himmelfahrtskirche auf dem Ölberg mit Pfarrerin Zander, die sie 2015 kennengelernt hatten. Grundlage der Predigt war die Geschichte von Martha und Maria nach dem Johannesevangelium, und die Auslegung in der Predigt zog den Bogen bis zur Gegenwart: „Das Wirken Marthas als Christusnachfolgerin geht über Bethanien hinaus und kommt zu neuen Ufern: In Tarascon/Südfrankreich ist Martha167 Gemeindegründerin und Friedensstifterin. Hier verwebt sich das Zeugnis mutiger, glaubensstarker Frauen, wie das der Martha oder Egeria, die über Grenzen und Distanzen hinweg ihren inneren Vorahnungen nachgingen. Gestärkt durch das abschließende AgapeMahl, verlassen wir die Kirche, den Ölberg und Jerusalem.“168

5. Resümee Egeria und die Pilgerinnen des Egeria-Projekts verbanden die Neugierde auf neue Erfahrungen im Unterwegssein, die Bereitschaft, Mühen auf sich zu nehmen, um fremde Menschen und Orte kennenzulernen, und die Überzeugung, von einer Frauengemeinschaft getragen zu sein. Während Egeria auf der Suche nach „heiligen“ Orten und Menschen war, um in die heilsgeschichtlichen Ereignisse eintauchen und davon berichten zu können, war den modernen Pilgerinnen daran gelegen, ökumenische und interreligiöse Kontakte zu knüpfen, um menschliche Brücken in Europa und im Nahen Osten zu bauen, zur Versöhnung und zum Frieden beizutragen und Pilgern als „neues altes Modell … des weiblichen Pilgerns“169 zu erproben. Gemeinsam mit Egeria teilten die neuzeitlichen Pilgerinnen die Liebe zur Spiritualität. Egerias Name überdauerte die patriarchal geprägte Geschichtsschreibung, weil sie die liturgischen Ereignisse, Gebets- und Festzeiten so detailliert in ihrem Itinerarium notiert hatte. Die Frauen des Egeria-Projekts entwickelten eine eigene liturgische Struktur für ihr Tagesprogramm und den Reiseverlauf. Gemäß den Prämissen des Priestertums aller Getauften und

166 In Bulgarien 2011 fand der Gottesdienst im Klostergarten zum Thema „Erde-Luft-Wasser-Feuer“ statt und die Frauen empfingen „pilgerinnengemäß in Gottes freier Natur Zuspruch und Segen.“ Reisetagebuch Bulgarien 2011 v. 2.10.2011. Den Pilgerabschluss 2013 feierten die Frauen gemeinsam mit Gülçan im St. Paulʼs Cultural Centre, das einen Raum für türkisch- und englischsprachige Christen und Christinnen beherbergte. Carola Ritter legte das Granatapfelgleichnis von Theophilos von Antiochien aus, denn unzählige Granatapfelbäume hatten den Weg der Pilgerinnen im Taurusgebirge gesäumt, vgl. Reisetagebuch Südtürkei 2013 v. 4.10.2013. In Nikosia fand der Gottesdienst mit Agape-Feier im Garten der Erzengel-Michael-Kirche im griechischen Ortskern statt, vgl. Reisetagebuch Zypern 2014 v. 3.10.2014. 167 Siehe auch Martha in Tarascon, in: Ökumenisches Heiligenlexikon https://www.heiligenlexikon.de/ Literatur/Martha Tarascon.html (2.5.2020). 168 Reisetagebuch Palästina 2018 v. 9.10.2018. 169 Reisetagebuch Frankreich 2006 Nachwort von Carola Ritter.

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der ecclesia semper reformanda waren alle Pilgerinnen eingeladen, kreativ an der liturgischen Gestaltung mitzuwirken. Eine nachhaltige spirituelle Erfahrung bedeutete die Pilgerreise Egeria damals wie den Pilgerinnen heute. Die Pilgerexistenz als Sinnbild für das Leben als einen Weg zu Gott. Das Egeria-Projekt stellte die „Pilgerin“ Egeria in den Vordergrund und die Frauentradition, für die Egeria pilgerte und schrieb. Egerias Weggeschichten wurden erinnert und in die Gegenwart geholt. Auch das Egeria-Pilgerinnenprojekt lebt in den Reisetagebüchern und Bildern weiter, die auf der Homepage im Internet zu sehen sind. Die ehemaligen Pilgerinnen vermitteln als Multiplikatorinnen ihre Erfahrungen in den beruflichen wie persönlichen Zusammenhängen. Das Konzept des Egeria-Weges kann für andere Arbeitsfelder in der kirchlichen Frauenarbeit und Erwachsenenbildung fruchtbar gemacht werden, wie es sich im Blick auf die Weltgebetstagsarbeit bereits gezeigt hat.170

170 Vgl. Ritter/Lersch, 81–85.

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Interreligiöse Wechselwirkungen zwischen ostsyrischen Christen und Muslimen in frühʿabbāsidischer Zeit am Beispiel ʿAmmār al-Baṣrīs Johannes Gronemann 1. Einleitung Mit dem Auftreten Muḥammads auf der arabischen Halbinsel im ersten Drittel des 7. Jh.s n.Chr. und der von ihm ausgehenden Gründung eines stammesübergreifenden arabischen Gemeinwesens unter dem Banner der von ihm verkündeten letztgültigen Offenbarung Gottes wurde der Grundstein für die Konsolidierung einer arabisch-islamischen (Religions)gemeinschaft gelegt, die im Laufe des 7. und 8. Jh.s ein Reich etablieren konnte, dessen Dynamiken die Gebiete von der iberischen Halbinsel bis an den Indus für die folgenden Jahrhunderte bestimmen sollte.1 Die Entwicklungen, die mit diesem Reich einhergingen, zogen dabei nicht nur geo- und machtpolitische Veränderungen nach sich, sondern sollten auch die religiöse Landschaft in bleibender Weise verändern. Denn mit den Eroberungen und der Festigung der Herrschaft gingen auch die zunehmende Verbreitung und Institutionalisierung der islamischen Religion einher, die Auseinandersetzungen mit Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften und religionspolitische Maßnahmen zur Konsequenz hatten, die interreligiöse Wechselwirkungen ermöglichten und die Theologie der Religionen nachhaltig prägen sollten.2 In besonderer Weise waren dabei stets die ostsyrischen Christen und ihre Katholikoi als zahlenmäßig größte Religionsgemeinschaft in den interreligiösen und -kulturellen Kontakt verwoben, der sowohl die alltäglichen Lebensumstände als auch besondere Beziehungen mit den muslimischen Herrschern umfasste.3 Die frühʿabbāsidische 1 Zur Einführung in die Geschichte der islamischen Religion von ihren Anfängen bis in die Gegenwart, die die vielgestaltige Entwicklung dieser Religion in ihren multikausalen historischen Zusammenhang einzuordnen und differenziert darzustellen versucht, sei auf Gudrun Krämer, Geschichte des Islam, München 42015, verwiesen. Für einen Überblick zur theologiegeschichtlichen Entwicklung vgl. Lutz Berger, Islamische Theologie, Wien 2010. Zur historischen Person Muḥammads und seines Wirkens vgl. Krämer, 20–28; zu den Eroberungen 29–59, bes. 31–37.57–59, dazu die Karten 318ff; Heinz Halm, Der Islam. Geschichte und Gegenwart, München 82011, 24–33. 2 Vgl. Halm, a.a.O., 7f.29–33; Krämer, Geschichte, 59–66.91–102.139–156; 3 Dietmar W. Winkler, Die „Apostolische Kirche des Ostens“. Eine kurze Einleitung zur Kirchengeschichtsschreibung und zur Terminologie, in: Ders./W. Baum, Die Apostolische Kirche des Ostens. Geschichte der sogenannten Nestorianer. Einführungen in das orientalische Christentum 1, Klagenfurt 2000, 9–12, 9. Für einen Überblick speziell zu den Beziehungen von Muslimen und Christen in der islamischen Welt vgl. Martin Tamcke, Christen in der islamischen Welt. Von Mohammed bis zur Gegenwart, München 2008; zu den Ostsyrern 37–41.47–89. In spezifisch theologischer Hinsicht vgl. Seppo Rissanen, Theological Encounter of Oriental Christians with Islam during Early Abbasid Rule, Åbo

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Zeit ist für diesen Kontakt von besonderer Bedeutung, da in ihr die Weichen sowohl für einen interreligiösen Dialog zwischen ostsyrischen Christen und Muslimen als auch für die theologischen Entwicklungen der islamischen Religion gestellt wurden, die für diese bis heute prägend sind.4 Inwiefern die interreligiösen Wechselwirkungen zwischen ostsyrischen Christen und Muslimen dabei die Entwicklungen in der islamischen Theologie angeregt und auf welche Weise diese wiederum auf die christliche Theologie in der interreligiösen Debatte zurückgewirkt haben, soll im Folgenden in ihrem historischen Zusammenhang einer näheren Untersuchung unterzogen werden. Zu Beginn soll eine kurze Darstellung der Geschichte der ostsyrischen Christenheit von den Anfängen der islamischen Herrschaft bis zur frühen ʿabbāsidischen Herrschaft mit einem Schwerpunkt auf den interreligiösen Wechselwirkungen und dem Dialog zunächst in die historischen Gegebenheiten der ostsyrischen Christen und ihres Verhältnisses zu den herrschenden Dynastien einführen. Es folgt darauf eine Skizze der grundlegenden Entwicklungslinien der islamischen Theologie mit besonderer Beachtung der Muʿtaziliten, die zur Voraussetzung für eine tiefer gehende theologische Debatte mit den Christen wurde, dessen Beschreibung diesen ersten einführend-entwicklungsgeschichtlich orientierten Teil abschließt. Hernach wird ein zweiter Teil, nach einer Vorstellung des ostsyrischen Theologen ʿAmmār al-Baṣrī und seines Kitāb al-Burḥān, die theologischen Auseinandersetzungen zwischen muslimischen und christlichen Gelehrten anhand der Analyse eines Auszugs aus dem Kitāb al-Burḥān beleuchten und danach fragen, wie dieser Auszug im Kontext der interreligiösen Wechselwirkungen von ostsyrischen Christen und Muslimen in frühʿabbāsidischer Zeit zu verstehen ist und was er über die theologischen Entwicklungen sowohl der christlichen als auch der islamischen Theologie in ihrer Bezogenheit aufeinander verrät. In einem zusammenfassenden Fazit sollen dann die wichtigsten Ergebnisse in gebündelter Form präsentiert werden.

2. Die Ostsyrische Kirche unter islamischer Herrschaft Bereits im 1. Jh. n. Chr. wurde der ostsyrische Raum, v. a. die Städte Antiochia und Edessa, zum Zufluchtsort vieler Christen, die der römischen Verfolgung entgehen wollten, weshalb 1993. Eine zu den christlich-muslimischen Beziehungen in der Zeit von 600–900 grundlegende Sammlung von bibliographischen Informationen zu Autoren und Werken ist David Thomas/Barbara Roggema, Christian-Muslim Relations. A Bibliographical History 1 (600–900), (HCMR 11), Leiden 2009. 4 Vgl. Krämer, Geschichte, 91–102; Wilhelm Baum, Zeitalter der Araber (650–1258), in: Winkler/Baum, Apostolische Kirche, 43–76, 56–64; Rissanen, a.a.O., 45; Marijke Metselaar, Die Nestorianer und der frühe Islam. Wechselwirkungen zwischen den ostsyrischen Christen und ihren arabischen Nachbarn (THEION XIII), Frankfurt a.M. 2009, 53–55.67–68; Tamcke, Christen, 37–41; Hans H. Biesterfeldt, Hellenistische Wissenschaften und arabisch-islamische Kultur, in: J. Dummer/M. Vielberg, Leitbild Wissenschaft?, Stuttgart 2003, 9–37, 16–22; W. Montgomery Watt/Michael Marmura, Der Islam II. Politische Entwicklungen und theologische Konzepte (Die Religionen der Menschheit 25,2), Stuttgart 1985, 254–256. – Die frühʿabbāsidische Zeit möchte ich dabei von 750 bis etwa 900 bestimmen. Sie umfasst damit den Zeitraum vom Beginn des ʿabbāsidischen Kalifats, über seinen macht- und kulturpolitischen Höhepunkt bis hin zu seiner beginnenden Schwächung durch die Buyiden. Dazu Krämer, Geschichte, 71–111.

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Interreligiöse Wechselwirkungen

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sich dort blühende Zentren christlicher Gemeindebildung entwickelten, die ab dem 3. Jh. auch literarisch und archäologisch gut belegt sind.5 Schon im 4. Jh. hat es mehrere Bistümer der Ostsyrischen Kirche im sassanidischen Reich gegeben, die sich schließlich im 5. Jh. auf zwei eigenen Synoden 410 und 424 offiziell von der römisch-byzantinischen Kirche trennte und ihre Autokephalie als Kirche des Ostens mit ihrem Oberhaupt in Seleukia-Ktesiphon bestätigte. Sie konnte sich in den folgenden Jahrhunderten durch eine rege Missionsarbeit über die arabische Halbinsel bis nach Indien und China ausdehnen. Darüber hinaus konnte sie auch kulturgeschichtlich eine bedeutende Rolle in Diplomatie, Gelehrtentradition, Medizin und der Vermittlung von griechischer Theologie, Philosophie, Medizin und anderer Wissenschaften spielen, die in den Zentren ihrer Gelehrsamkeit und Übersetzungstätigkeit wie Edessa, Nisibis, Gundēšāpur, Seleukia-Ktesiphon, Arbela, Ḥīra und Merw neben spezifisch christlicher Literatur wie Bibelübersetzungen oder Werke der Kirchenväter eine große Bedeutung hatten und über Jahrhunderte hinweg tradiert und gelehrt wurden.6 Durch diese große territoriale Ausbreitung des ostsyrischen Christentums auch auf die arabische Halbinsel war Muḥammad (ca. 570–632), dem Begründer einer arabischen Gemeinschaft unter dem Banner einer gemeinsamen neuen Offenbarung, die sich im Laufe des 7. Jh.s als die islamische Religion konsolidieren sollte, das ostsyrische Christentum nicht unbekannt und hatte möglicherweise sogar einen prägenden Einfluss auf ihn.7 Der Koran jedenfalls, der auch Muḥammads Erfahrungen mit Nichtmuslimen spiegelt, bietet ein sehr ambivalentes Bild vom Christentum.8 Auf der einen Seite werden sie im Koran als „Leute der Schrift“ (Ahl al-kitāb) bezeichnet, die aufrecht seien und zu den Rechtschaffenen gehören sowie in Freundschaft zu den Gläubigen, resp. den Muslimen (3,113–115; 5,82ff), stehen. Auf der anderen Seite hingegen soll Gott sie bekämpfen, und sie sollen als Unterdrückte Tribut entrichten (9,29ff).9 Auch hier lässt sich allerdings nicht mehr mit Sicherheit

5 Vgl. Krämer, Geschichte, 170; Dietmar W. Winkler, I. Zeitalter der Sassaniden (bis 653), in: Ders./ Baum, Apostolische Kirche, 13–42, 14. Die Quellengrundlage für diese Zeit ist allerdings sehr spärlich, und die ersten Gemeindegründungen berufen sich auf legendarische Berichte; vgl. dazu 13. Zu den Gründungslegenden vgl. ebd. 13f sowie Christoph Baumer, Frühes Christentum zwischen Euphrat und Jangste. Eine Zeitreise entlang der Seidenstraße zur Kirche des Ostens, Stuttgart 2005, 24ff. 6 Vgl. Winkler, Sassaniden, 15f.19f.22–25.34–37.41; Baumer, Christentum, 34ff; Metselaar, Nestorinaer, 24.31–37.39.41; Tamcke, Christen, 37–41; Ders. Schatten, 247–250, betont auch noch einmal die etwas ambivalente Lage der Christen im Spiel der Großmächte; W. Hage, Art. Nestorianische Kirche, in: TRE 24 (1994), 264–276, 265–266; Sebastian Brock, From Antagonism to Assimilation. Syriac Attitudes to Greek Learning, in: Ders., Syriac Perspectives on Late Antiquity (Variorum Collected Studies Series: CS 199), London 1984, 17–34, 17.20–22; Goetze, Wurzeln, 172. 7 Vgl. Baum, Araber, 43; Krämer, Geschichte, 20–28.63f; Welche Kenntnisse allerdings Muḥammad vom Christentum und seinen Schriften genau hatte, welche Kontakte er mit Christen pflegte und was für eine Einstellung gegenüber ihnen er hatte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren; vgl. dazu Berger, Theologie, 51; Chrstine Schirrmacher, Der Islam. Geschichte, Lehre, Unterschiede zum Christentum II, Holzgerlingen 2003, 145.196; Baum, Araber, 43. 8 Vgl. Krämer, Geschichte, 60f. 9 Vgl. zu 9,29, einem in der Auslegungstradition der muslimischen Gelehrten sehr schwer zu interpretierenden Vers: Der Koran. Übersetzt und kommentiert von Adel Theodor Khoury, Gütersloh 2007, 223f. Verse solcher Art haben ihren „Sitz im Leben“ möglicherweise in einer Phase nach der Ablehnung Muḥammads und seiner Botschaft durch die Christen, die sich nicht überzeugen ließen (Sure 2,111– 115), weswegen er zum Kampf gegen sie aufrief (Sure 9,30ff). Dazu auch Tamcke, Christen, 23f.

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sagen, wie genau das Verhältnis zu den muslimischen Eroberern aussah.10 Dass es aber seit dem 7. Jh. geltende Verträge gegeben hat, die das Zusammenleben von Muslimen und Christen sicherten, ist anzunehmen.11 Die Christen wurden durch diese zu Anhängern einer degradierten Religion (3,71; 5,51.57; 9,29ff) und zu sogenannten Schutzbefohlenen (ḏimma) erklärt, die sich durch eine Kopfsteuer (ǧizya) ihre Sicherheit und Privilegien erkaufen mussten.12 Dies änderte aber zunächst nichts daran, dass die ostsyrischen Christen noch lange nach den arabischen Eroberungen in Ägypten, auf der syrisch-palästinischen Landbrücke und in Mesopotamien die Mehrheit der Bevölkerung darstellten und ihre geistigen Zentren in Nisibis, Gundēšāpur und Merw als Stätten der Gelehrsamkeit und der Ausbildung von Schreibern, Beamten, Lehrern und Übersetzern erhalten konnten. Auch der Bau von Klöstern und die Produktion von ostsyrischer Literatur konnte sogar forciert werden, um möglicherweise eine größere Konsolidierung der Ostsyrischen Kirche und eine Bewahrung der christlichen Identität in Zeiten des Umbruchs zu erreichen.13 2.1 Christen und Muslime unter ʾumayyadischer Herrschaft Nach der Konsolidierung der arabischen Herrschaft unter den ʾUmayyaden (661–750), die die rechtmäßige Herrschaft über das islamische Gemeinwesen nach der sogenannten ersten Fitna (656–661)14 für sich beanspruchten, wurde die Ostsyrische Kirche mit ihren Institutionen zunehmend für politische Zwecke instrumentalisiert und zum stellvertretenden Austragungsort innermuslimischer Konflikte, die Einfluss auf die Besetzung der Bischöfe und des Oberhauptes der Ostsyrischen Kirche, den Katholikos, nahmen, was die Kirche in eine große Bedrängnis brachte.15 Auf diese Weise versuchten die ʾUmayyaden, ihre Macht und Herrschaft zu konsolidieren, zu erweitern und zu erhalten.16 Die ʾumayyadischen Herrscher waren keine religiösen Fanatiker, die mit aller Macht eine islamische Herrschaft durchsetzen wollten, sondern waren eher vom politischen Pragmatismus angetrieben, der dem Aufbau tragfähiger Machtstrukturen galt.17 Dazu zählten auch eine Kopf-(ǧizya) und Bodensteuer (h̬ arāǧ), die den Christen in den eroberten Gebieten zwar ein gesichertes Leben zu10 11 12 13 14

Vgl. Krämer, Geschichte, 60f. Vgl. Tamcke, Christen, 26f; Baum, Araber, 43. Vgl. Tamcke, a.a.O., 23f; Baum, ebd. Vgl. Baum, a.a.O., 43–46; Tamcke, Schatten, 252. Bezeichnet wörtlich die „Versuchung“ und wird in der islamischen Geschichtsschreibung als Terminus für die Bürgerkriege um das Kalifat gebraucht. Dazu Hans Wehr, Art. fatana, in: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch-Deutsch, Wiesbaden 51985, 942f; Krämer, Geschichte, 39–42. 15 Vgl. Tamcke, Schatten, 253–256. Zu den Nachfolgekämpfen um die rechtmäßige Herrschaft über das arabisch-muslimische Gemeinwesen und die anschließende Konsolidierung der Herrschaft unter den ʾUmayyaden vgl. zur Einführung Krämer, Geschichte, 37–50. 16 Vgl. Krämer, a.a.O., 61f; Gerald R. Hawting, Art. Umayyads, in: EI X (2000), 840–847, 842. 17 Vgl. Krämer, a.a.O., 66. In der muslimischen Geschichtsschreibung und Tradition ist das Bild der ʾUmayyaden deshalb fast durchgängig negativ. Als ursprüngliche Oppositionspartei, die gegen Muḥammad kämpfte, wird ihnen oftmals nachgesagt, dass sie nicht aufgrund ihrer Legitimation die Herrschaft übernommen hätten, sondern sie politischen Schachzügen und Tricksereien verdankten, weshalb ihre Herrschaft auch nicht mehr als ein säkulares Königtum gewesen sei, deren Herrschern Willkür und Trunkenheit vorgeworfen wird. Dazu Hawting, Umayyads, 841.

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standen, aber auf kultisch, personenbezogenen und rechtlich diskriminierenden Bestimmungen basierten, die die Christen zu Bürgern zweiter Klasse machten.18 Trotz dieser Bestimmungen als Ausdruck der pragmatischen Politik der ʾUmayyaden waren viele Christen aufgrund ihrer Expertise in den Verwaltungen der eroberten Gebiete tätig, da sie als ausgebildete Beamte, Schreiber und Gelehrte unabkömmlich für die administrativen Aufgaben waren.19 Ein sozialer oder politischer Aufstieg allerdings war nur den arabischmuslimischen Bürgern der Gesellschaft vorbehalten, was in der Folge zu einer allmählichen Arabisierung und Islamisierung der Gesellschaft führte.20 Lebten Christen und Muslime nun gemeinsam unter dem Dach einer neuen Herrschaft und begegneten sich im alltäglichen Leben, so gibt es in ʾumayyadischer Zeit aufgrund der pragmatischen Führung des Gemeinwesens bis auf die Ausnahme des Johannes von Damaskus (650 – ca. 750) keine Belege für eine religiöse Auseinandersetzung oder theologische Beschäftigung zwischen Christen und Muslimen.21 Dies änderte sich mit dem Umsturz von 750, der die ʿAbbāsiden zu Herrschern über das islamische Reich machte.22 2.2 Die ʿAbbāsiden 2.2.1 Die neuen Voraussetzungen der islamischen Herrschaft Durch den Umsturz 750 gegen die ʾumayyadische Herrschaft konnte sich bis zum Sturz durch die Mongolen 1258 die Familie der Banū l-ʿAbbās an der Spitze des islamischen Reiches etablieren.23 Standen die ʾUmayyaden als „unislamische“ Herrscher in Verruf, versuchten die ʿAbbāsiden nicht nur eine „Islamisierung“ des Reiches vorzunehmen, sondern 18 Vgl. Krämer, Geschichte, 62f, zeichnet hier gegenüber Tamcke, Christen, 28f, ein wesentlich milderes Bild der Herrschaft der ʾUmayyaden gegenüber den Christen. Er konstatiert, dass die rechtlichen, kultischen und personenbezogenen Benachteiligungen und Bestimmungen für die Christen in der Realität nicht so hart gewesen sein können: „anders hätten Nichtmuslime nicht relativ schnell Wissen über den Islam erwerben und sich in wachsender Zahl zur Religion der neuen Herren bekehren können.“ Tamcke dagegen zeichnet anhand von bildhaften Beispielen das alltägliche Ausmaß der Unterdrückung – das Verbot des Glockengeläuts, des Lesens von christlichen Texten, bestimmte Kleidervorschriften, die die Christen kenntlich machen sollten, bis hin zur Bestimmung, dass Christen nur auf Mauleseln mit hölzernem Sattel anstatt auf Pferden reiten durften. Auf diese Art seien die Christen gedemütigt und zur Annahme des Islams bewegt worden. Dass Krämer von „ein[em] gewisse[n] Maß an Toleranz“ spricht, hält Tamcke deshalb für „verfehlt und anachronistisch.“ M.E. ist die ʾumayyadische Herrschaft ganz eindeutig von einer pragmatischen Herrschaftspolitik geprägt, was nicht zuletzt daran deutlich wird, dass Konversionen von Christen wegen steuerlicher Einbußen für die muslimischen Herrscher zu unterbinden versucht wurden, aber z. B. Christen in der Verwaltung der eroberten Gebiete arbeiteten. Dazu Krämer, 65f; Hawting, a.a.O., 842. Dennoch ist es aber ebenso wichtig, auf das Ausmaß der diskriminierenden Bestimmungen aufmerksam zu machen, die im kulturellen Gedächtnis der orientalischen Christen bis heute ihren Platz haben, vgl. Tamcke, 29. 19 Vgl. Krämer, a.a.O., 61.66; Rissanen, Encounter, 8. 20 Vgl. Krämer, a.a.O., 61.65–66; Hawting, a.a.O., 842.845. 21 Vgl. Rissanen, a.a.O., 8f. Zu möglichen weiteren Gründen vgl. Bertaina, Dialogues, 80f; Biesterfeldt, Wissenschaften, 16; Jan van Ess, The Beginnings of Islamic Theology, in: H.H. Biesterfeldt, Josef van Ess. Kleine Schriften. Islamic History and Civilization 137/2, Leiden 2017, 855–881, 870f. Zu Johannes von Damaskus vgl. Tamcke, Christen, 76f. 22 Vgl. Biesterfeldt, a.a.O., 8; Hawting, a.a.O., 841; Bertaina, a.a.O., 8f. 23 Vgl. Halm, Islam, 33; Zum Umsturz vgl. Krämer, Geschichte, 67–70.77–83; Einige Gründe, die einen Einfluss auf diesen Umsturz hatten, nennen Halm, 33, und Krämer, 67.

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auch die Politik der ʾUmayyaden, die stets die arabisch-muslimische Bevölkerung bevorzugt hatte, in neue Bahnen zu lenken, wodurch u. a. auch christliche Gelehrte, die aufgrund ihrer Kenntnisse in den griechischen Wissenschaften sehr geschätzt wurden, zu höchsten Ehren am Hofe der ʿAbbāsiden kamen.24 Auf diese Weise entwickelte sich eine Politik, die um die Integration aller im Reich ansässigen Kulturen und Religionen bemüht war und zugleich mit dem Anspruch einer muslimischen Herrschaft der ʿAbbāsiden vermittelt werden sollte. Bei öffentlichen Auftritten trugen die ʿabbāsidischen Kalifen den Mantel des Propheten und gaben sich messianische Thronnamen. Darüber hinaus verfolgten sie eine „Islamisierungspolitik“, die den Anspruch des Islams, eine „Weltreligion“ zu sein, offensiv vertrat, was die forcierte Auseinandersetzung mit anderen Religionen zeigte und die konservativen Kräfte der Gesellschaft ansprach.25 Als symbolischer Bruch mit der alten Herrschaft wurde die Hauptstadt von Damaskus weiter in den Osten, nach Baġdād, der sogenannten Madīnat as-Salām, und damit ins Zentrum des Reiches verlegt, was auch mit einer Zentralisierung der Verwaltung des Staates, u. a. durch die Installierung eines Postwesens sowie einer Professionalisierung der Arbeit von Sekretären und Schreibern, einherging.26 In all diesen Bereichen arbeiteten Araber, Perser, und Aramäer – Muslime, Buddhisten, Christen und Juden – auf Arabisch, Persisch und Syrisch unter- und miteinander am Hofe der ʿAbbāsiden und der Verwaltung des Reiches. Die neue Hauptstadt als Sitz der Kalifen wurde dabei zu einem multikulturellen Schmelztiegel und bedeutendstes Zentrum des Reiches sowohl in machtpolitischer als auch in kultureller Hinsicht.27 Im Gegensatz zu den ʾUmayyaden, denen eine „kulturelle Berührungsangst“28 nachgesagt wird, scheinen die Kalifen der ʿAbbāsiden eine offenere Haltung gegenüber anderen Kulturen gepflegt zu haben und setzten sich als Initiatoren der Übersetzungsbewegung, der wichtigsten Voraussetzung für die Etablierung anderer wissenschaftlicher Traditionen im Islam, maßgeblich für den kulturellen Austausch ein.29 Von besonderer Bedeutung sind hier al-Manṣūr (745–775), al-Mahdi (775–785) und al-Maʾmūn (813–833) zu nennen, die konstitutiven Anteil an der Rezeption und Integration des hellenistischen Erbes in die muslimische Gesellschaft hatten.30 24 Vgl. Krämer, Geschichte, 77–104; Rissanen, Encounter, 6–7.43–50; Dimitri Gutas, Greek Thought, Arabic Culture. The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early Abbasid Society (2nd– 4th/8th–10th centuries), New York 1998, 34–40; Metselaar, Nestorianer, 53; Ahmad Dallal, Islam, Science and the Challenge of History, New Haven/CT 2010, 15. 25 Vgl. Biesterfeldt, Wissenschaften, 16f; Krämer, a.a.O., 71; Rissanen, a.a.O., 6f.233. 26 Vgl. Ingrid Hehmeyer, Denker und Tüftler. Wissenschaft und Technik in klassisch-islamischer Zeit, in: P. Gemeinhardt/S. Günther, Von Rom nach Bagdad. Bildung und Religion von der römischen Kaiserzeit bis zum klassischen Islam, Tübingen 2013, 321–355, 322f; Jens Scheiner/Damian Janos, Baghdad. Political Metropolis and Intellectual Center, in: Dies., The Place to Go. Contexts of Learning in Baghdad, 750–1000 C.E. (Studies in Late Antiquity and Early Islam 26), New Jersey 2014, 1–45, 1–6; Krämer, a.a.O., 77–83. 27 Vgl. Hehmeyer, a.a.O., 322–323; Scheiner/Janos, a.a.O., 38; Gutas, a.a.O., 11–20; Krämer, a.a.O., 91. 28 Biesterfeldt, a.a.O., 16. 29 Vgl. a.a.O., 16f; Gutas, a.a.O., 19–51.61ff; Hehmeyer, a.a.O., 321–323; Lale Behzadi, Muslimische Intellektuelle im Gespräch. Der arabische literarische Salon im 10. Jahrhundert, in: Gemeinhardt/Günther, Von Rom nach Bagdad, 291–320, 293–296. 30 Vgl. Gutas, Thought, 28–104.; Biesterfeldt, Wissenschaften, 16–19; Rissanen, Encounter, 33–48. Neben

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2.2.2 Der interreligiöse Dialog Die Grundlage für die Überlieferung des antiken griechischen Wissens in die muslimische Gesellschaft Baġdāds bildete v. a. das Schulsystem der ostsyrischen Christen, in denen das hellenistische Erbe bewahrt, übersetzt und tradiert wurde und dazu beitrug, dass sie noch bis ins 9. Jh. das Monopol auf Bildung innehatten.31 Ihre größten Zentren waren Nisibis, Gundēšāpur, Merw, Mar Mari und später dann Baġdād.32 Die Ostsyrer kamen, wie schon am sassanidischen Hof, durch ihr Wissen bald zu Ansehen, und ihre Gelehrsamkeit und Sprachkompetenz war bei den ʿabbāsidischen Herrschern gefragt.33 Das oben beschriebene harmonische Bild eines kulturellen Austausches und Ausgleichs sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass im ʿabbāsidischen Reich abseits des Hofes und den Stätten der Gelehrsamkeit viele Christen unter marginalisierenden Bedingungen lebten.34 Einzig die Ostsyrer, die sich als christliche Konfession von der römischbyzantinischen Reichskirche getrennt hatten, bildeten zum Teil eine Ausnahme und waren unter den ʿAbbāsiden durchaus angesehen.35 Der Bezug zu den ostsyrischen Christen und die Aufarbeitung des hellenistischen Erbes durch die ʿAbbāsiden hängen deshalb sehr eng zusammen. Durch ihre hervorragende Bildung übernahmen sie schon bald hohe Ämter in der Verwaltung als Sekretäre, Ärzte und Übersetzer und befruchteten – abseits dieses pragmatischen Nutzens – im Dialog mit den muslimischen Herrschern und intellektuellen Autoritäten die Entstehung einer theologischen Debatte.36 Die christlichen Gelehrten wurden auf Grund ihres Wissens und ihrer Bildung von ihrem muslimischen Gegenüber nicht nur als Gelehrte im Dienste der Herrschaft angesehen, sondern auch als im systematisch-theologischen Denken geschulte „Gegner“ wahrgenommen, von denen es zu lernen galt, um in ebenbürtiger Weise den Anspruch des Islams als die Religion für alle Menschen behaupten zu können.37 Der oberster Vertreter des Islams, der Kalif al-Mahdi (775–785), war es deshalb, der die Übersetzung der aristotelischen τοπικά – ein Handbuch des systematischen Argumentierens – ins Arabische an den Patriar-

vermuteten ideologischen Gründen – eine Art kulturellen Ausgleichsprogramms – als Hintergrund für den Einsatz in der Übersetzungsbewegung bei Gutas, 11–16.34–51; Biesterfeldt, 16f, und Dallal, Islam, 14, gab es auch Förderer der Wissenschaften und Künste neben den Kalifen, die v. a. durch das höfische Milieu und Teile der Gesellschaft mit den nötigen finanziellen Mitteln geprägt waren: Familienangehörige des Kalifen, hohe Beamte, Fürsten oder Teile der wohlhabenden Gesellschaft Baġdāds, wodurch die Gelehrsamkeit zu einem Statussymbol avancierte und in literarischen Salons gepflegt wurde; vgl. Hehmeyer, Denker, 323; Krämer, Geschichte, 93; Behzadi, Salon, 303–320; Biesterfeldt, 20. Die weitere Tradierung von Wissensbeständen fand darüber hinaus in sog. Lehrzirkeln (ḥalqa) statt, die sich vor dem institutionalisierten Schulwesen in den ortsansässigen Moscheen etablierten, vgl. Scheiner/Janos, Baghdad, 17.29; Günter Kettermann, Atlas zur Geschichte des Islam, Darmstadt 22008, 39–42. 31 Vgl. Metselaar, Nestorianer, 66–69; Tamcke, Christen, 37–41; siehe auch Kap. 2.1. 32 Vgl. Metselaar, ebd.; Rissanen, a.a.O., 41. 33 Vgl. Rissanen, ebd., Metselaar, a.a.O., 68, Dallal, a.a.O., 15. 34 Zur ambivalenten Stellung der Christen in der muslimischen Gesellschaft in ʿabbāsidischer Zeit vgl. D. Thomas, The Open and the Closed in Early Muslim Society, in: Antii Laato/Pekka Lindqvist, Encounters of the Children of Abraham from Ancient to Modern Times, Leiden 2010, 183–197; vgl. o. Anm. 27. 35 Vgl. Rissanen, a.a.O., 41; Metselaar, a.a.O., 59; siehe auch Kap. 2.1. 36 Vgl. Rissanen, a.a.O., 45; Metselaar, a.a.O., 53–55.67–68; Tamcke, a.a.O., 37–41; Biesterfeldt, a.a.O., 16–22; Watt/Marmura, Islam, 254–256. 37 Vgl. Metselaar, Nestorianer, 69–72; Gutas, Thought, 61–69.

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chen Timotheus I. (780–823), das kirchliche Oberhaupt der Ostsyrer, in Auftrag gab.38 Um seine Fertigkeiten im Argumentieren zu schulen, suchte er anschließend den Dialog mit dem Patriarchen.39 Die Struktur der Gespräche zwischen muslimischen Autoritäten und christlichen Gelehrten, die die uns überlieferten Dialoge zeichnen, zeigen uns ein stets gleiches Bild: Eine muslimische Autorität stellt einem christlichen Gelehrten Fragen in Bezug auf die Gotteslehre, insbesondere der Trinität und der Inkarnation Gottes in Jesus von Nazareth.40 Die schwierige Aufgabe der christlichen Gelehrten bestand nun darin, die Fragen so zu beantworten, dass sie auf der einen Seite nicht dem eigenen Glauben widersprachen, aber gleichzeitig auch islamkonform waren, um den Gesprächspartner nicht zu verärgern.41 Schon bald kam es v. a. auf christlicher Seite zur regen Produktion von Literatur, die Schülern anhand fingierter oder realer Dialoge passende Antworten auf bestimmte Fragen an die Hand gegeben hat.42 Ein Frage-Antwort-Schema bildete sich heraus, das sich in der Geschichte des christlich-muslimischen Dialogs bis in die Gegenwart hinein verfolgen lässt.43 Im Gegensatz zu den vielen christlichen Überlieferungen der Dialoge sind islamische Quellen zu diesem Thema eher spärlich, da die systematische Theologie der eigenen Religion am Ende des 8. Jh.s noch in ihren ersten Zügen lag.44 Die Dialoge führten ebenso dazu, dass das logische Argumentieren, wie es in der griechischen Philosophie gepflegt wurde, Einzug in das systematisch-theologische Denken der muslimischen Gelehrten erhielt und späterhin eine eigenständige Weiterentwicklung an der eigenen Religion erfuhr, nachdem es zuvor anhand der christlichen Religion vorgeführt worden war.45 Besonders auf Seiten der Muslime hat dies dazu beigetragen, auch eigene Glaubensinhalte zunehmend mit Hilfe rationaler Argumentation zu reflektieren, was zur Profilierung einer Diskussion um die innerislamische Dogmatik und damit zur Formierung theologischer Schulen beigetragen hat.46

38 Vgl. Gutas, Thought, 61. 39 Vgl. Bertaina, Dialogues, 145–159. 40 Vgl. Rissanen, Encounter, 77f; Thomas, Society, 191f; Bertaina, a.a.O., 145–159; Tamcke, Christen, 97–103. 41 Vgl. Bertaina, a.a.O., 153. 42 Vgl. a.a.O., 133–137.158. 43 Vgl. Tamcke, a.a.O., 102f.117–121. 44 Vgl. Rissanen, a.a.O., 20–29. Besondere Beachtung gilt hierbei dem Versuch einer konsequenten Synthese griechischer Dialektik und koranischer Glaubensvorstellungen, wie diese von der sog. Muʿtazila vorgenommen und unter dem Kalifen Maʾmūn (813–833) sogar zur Staatsdoktrin erhoben wurde, vgl. Watt/Marmura, Islam, 302; Berger, Theologie, 73–79; Rissanen, 71–74; Biesterfeldt, Wissenschaften, 18f. 45 S. dazu Kap. 3. und 4. 46 Vgl. Metselaar, Nestorianer, 69–72: Berger, a.a.O., 73–84; Biesterfeldt, a.a.O., 17; Thomas, Society, 183–197; Bertaina, a.a.O., 133–165. Aber auch die Christen lernten anhand der Dialoge ihre eigene Systematik zu schärfen und die Individualität und Rechtmäßigkeit ihrer Religion gegenüber dem Islam zu behaupten; vgl. Thomas, Society, 185f; Bertaina, 165.

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3. Die islamische Theologie: ʿIlm al-Kalām Der arabische Terminus ʿIlm al-Kalām wird üblicherweise mit dem Begriff „(scholastische) Theologie“ übersetzt und wird als eine Art der systematischen Formulierung islamischtheologischer Glaubensinhalte beschrieben.47 Diese Übersetzung allerdings verfehlt m. E. den eigentlichen Kern dieser islamischen Wissenschaft, da sie bereits den Endpunkt der Entwicklung islamischer Theologie beschreibt. Eine wörtliche Übersetzung müsste den Sinn einer „Wissenschaft der Debatte“ oder „Wissenschaft der Kontroverse“ transportieren, was dem ursprünglichen Sinn von Kalām näherkommt. Damit wird ein bestimmter Stil in der theologischen Argumentation oder Debatte bezeichnet, der darauf abhebt, durch gezielte Fragestellungen die Argumentationsfiguren anderer Denkmuster zu widerlegen, um dadurch gleichzeitig seine eigenen theologischen Meinungen zu stärken.48 Die sich in der islamischen Welt entwickelnde Theologie hängt eng mit diesem Stil zusammen, der in den Bereich des religiösen und theologischen Austausches verweist.49 Dieser Austausch war dabei keineswegs, wie oben dargestellt, auf eine innermuslimische Debatte beschränkt, sondern vollzog sich vor dem Horizont einer multireligiösen Umwelt.50 47 Vgl. Louis Gardet, Art. ʿIlm al-Kalām, in: EI III (1971), 1141–1150, 1141; vgl. auch E. William Lane, Art. ʿIlm al-Kalām, in: An Arabic-English Lexicon 1,8, London 1893, 3003; Hans Wehr, Art. 1kallama, in: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache, 1116f. 48 Vgl. Gardet, a.a.O., 1141; Alexander Treiger, Origins of Kalām, in: S. Schmidtke, The Oxford Handbook of Islamic Theology, Oxford 2016, 27–43, 29, so auch al-Farabi; dazu Shlomo Pines, A Note on an early Meaning of the Term Mutakallim, in: Sara Strousma, Studies in the History of Arabic Philosophy. The Collected Works of Shlomo Pines III, Jerusalem 1996, 62–78, 64; van Ess, Beginnings, 857. 49 Vgl. Treiger, Origins, 29; Shlomo Pines, Islamic Philosophy, in: Strousma, Studies, 3–46, 12. 50 Vgl. Treiger, a.a.O., 27; Die genaue Erforschung und Entwicklung der islamischen Theologie allerdings stellt sich – abseits des Konsenses über die Prägung durch einen gewissen argumentativen Stil – aufgrund kaum verlässlicher Quellen aus der Frühzeit des Islams als äußerst kompliziert dar, weshalb auch die Forschung zu teilweise sehr unterschiedlichen Meinungen gelangt. Van Ess, Beginnings, 855–881, vertritt den Standpunkt, dass die Entwicklung der muslimischen Geistesgeschichte von Beginn an, d. h. seit dem 7. Jh., durch Kalām geprägt gewesen sei (859–860) und diese Art der Argumentation innerhalb theologischer Debatten keineswegs eine neue Entwicklung darstelle, die erst mit den Muʿtaziliten ihre Entfaltung erfahren habe (857), geschweige denn auf den Einfluss christlicher Literatur oder Gelehrter zurückgehe (869). Vielmehr belegen für van Ess bereits frühe Quellen, die er in das 1. Jh. der Higra, die frühe ʾumayyadische Zeit, datiert, dass es innermuslimische Diskussionen gegeben habe, die sich im Rahmen religionspolitischer Auseinandersetzungen – nach der Erosion des gemeinsamen politischen Gemeinwesens – einer Dialektik bedient hätten, die in ihrer Form dem Kalām entspräche, wenngleich sie noch eine sehr rohe Form des argumentativen Stils abbildet und auch noch nicht als Terminus für die islamische Theologie verwendet worden sei (860–865.868). So sei diese frühe Form des Kalām doch auch wie in der späteren Theologie als apologetisches Instrument in der Debatte genutzt worden (van Ess, Early Developement of Kalām, in: Biesterfeldt, van Ess, 882–902, 884). Aus diesen Gründen kommt er zu dem Schluss, dass die Entwicklung einer theologischen Wissenschaft auf Basis des Kalām ihre Wurzeln sowie ihre spätere Ausdifferenzierung und Verfeinerung allein in der muslimischen Geistesgeschichte, beginnend im 1. Jh. der Higra, zu finden sei (871f). – Was van Ess in seiner Genese der islamischen Theologie völlig ausspart und Treiger, Origins, 28, m. E. deshalb zurecht kritisiert, ist, dass er sich auf eine muslimische Geistesgeschichte konzentriert, die in einem Vakuum entstanden zu sein scheint. Der Kontakt und der Einfluss der nichtmuslimischen Umwelt wird bei van Ess als möglicher Faktor der Entfaltung einer islamischen Theologie völlig verneint, wobei er sich auf Quellen stützt, die mittlerweile nachgewiesenermaßen als Pseudepigraphen späterer Jahrhunderte anzusehen sind (28.38– 41), sodass es schlechterdings keine Kalām-Texte im 1. Jh. der Higra gegeben hat und die Anfänge ei-

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Ist die frühe Phase des Ursprungs und der Entwicklung der islamischen Theologie nicht mehr greifbar,51 so bleibt die Forschung auf die ersten eindeutig der islamischen Theologie zuordenbaren literarischen Quellen verwiesen, die aus frühʿabbāsidischer Zeit stammen, von eindeutig interreligiösen Beziehungen geprägt sind und in einem Zusammenhang mit den Mutakallimūn der Muʿtazila stehen, die zu dieser Zeit die einflussreichste theologische Schule bildeten und sich intensiv mit den Glaubenslehren christlicher Gelehrter auseinandersetzten.52 Dass gerade in frühʿabbāsidischer Zeit die islamische Theologie eine zunehmende Entfaltung und Blüte erlebte, scheint in Anbetracht der politischen und wissenschaftlichen Bestrebungen und Umwälzungen, die sich in dieser Zeit vollzogen haben, kein Zufall zu sein.53 Das intellektuelle Klima, das mit dem Anbruch des ʿabbāsidischen Kalifats erblühte und den Nährboden für den wissenschaftlichen und interreligiösen Austausch zwischen Christen und Muslimen bildete, beförderte das Gedeihen theologischer Entwicklungen sowohl auf muslimischer als auch auf christlicher Seite. Die christlich-muslimische Auseinandersetzung entwickelte sich von der Ebene eines interreligiösen Dialogs hin zu einer literarisch-theologischen Auseinandersetzung auf höchstem philosophischen und theologischen Niveau, die muslimischerseits v. a. von den Muʿtaziliten getragen wurde, die dem Geist der griechischen Philosophie, wie sie der christlichen Theologie von Beginn eingeschrieben war, sehr offen gegenüberstanden und – im Gegensatz zu konservativeren Strömungen wie den Ḥanbaliten – die so zur gemeinsamen Diskussionsgrundlage der theologischen Auseinandersetzung von Christen und Musner islamischen Theologie damit weiterhin im Dunkeln liegen (41); auch Gardet, ʿIlm al-Kalām, 1141. Treigers These demgegenüber verortet den Stil des Kalām in der Debattenkultur des Nahen Ostens insgesamt und habe dementsprechend auch in die muslimische Kultur Eingang gefunden (29f). Große Parallelen zu späteren Kalām-Texten der muslimischen Tradition sieht er in erhaltenen syrischen Handschriften, die Debatten über die Christologie bezeugen (30). Möglicherweise haben für Treiger die Muslime also in der Auseinandersetzung mit christlich-arabischen Stämmen gelernt, oder aber dieser Stil der Argumentation ist über christliche Konvertiten in die muslimische Kultur eingegangen (31f). Treiger betont, dass diese Annahme nur eine Hypothese bleibt, die aufgrund mangelnden Quellenmaterials nicht belegt werden kann, untermauert aber, was m. E. richtig ist, dass die Auseinandersetzung und der Einfluss christlich-theologischer Debatten bei der Erforschung der islamischen Theologie, wie bei van Ess, nicht einfach vernachlässigt werden darf (34). In der Tat gab es im 1. Jh. der Higra verschiedene politische Akteure wie etwa die Ḫāriğiten, die Sympathisanten von Ali oder die Unterstützer der ʾUmayyaden, deren unterschiedliche politische Haltungen sich auch mit verschiedenen theologischen Konzepten verbinden lassen, wie Gardet, 1142, oder Berger, Theologie, 55–59, es beschreiben. In diesen rein innermuslimischen, v. a. religionspolitisch geprägten Auseinandersetzungen allerdings die alleinige Voraussetzung für die spätere Herausbildung der ʿIlm alKalām, einer hochsystematisierten islamischen Theologie, zu sehen, kann m. E. den augenfälligen Befund, dass diese erst in frühʿabbāsidischer Zeit (dazu Rissanen, Encounter, 10f) ihre Blüte erlebt und literarisch greifbar wird sowie ihre intensive Auseinandersetzung mit anderen Religionsgemeinschaften, v.a. christlichen Gelehrten und deren Glaubensvorstellungen, die sichtlich genuiner Bestandteil dieser Wissenschaft zu sein scheint (wie Pines, Note, 64f.70, es herausstellt), nicht hinreichend erklären. Die interreligiöse Debatte mit christlichen Gelehrten, die zur Verteidigung und Ausformulierung islamischer Glaubenslehren beigetragen hat, ist deshalb m. E. ein Charakteristikum der islamischen Theologie, wie sie in frühʿabbāsidischer Zeit v. a. von den Muʿtaziliten gepflegt wurde. 51 Vgl. Anm. 59. 52 Vgl. Gardet, a.a.O., 1143; David Bennett, The Muʿtazilite Movement (II). The Early Muʿtazilites, in: Schmidtke, Oxford Handbook, 142–158, 142.144; Pines, Islamic Philosophy, 10–12. 53 Vgl. dazu Kap. 2.2.2.

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limen wurde.54 Bevor also die theologischen Kontroversen an sich näher erläutert werden sollen, zunächst ein Blick auf die theologische Schule der Muʿtazila. 3.1 Die Muʿtaziliten Die Anfänge der Muʿtazila liegen fast vollkommen im Dunkeln, da es aus der formativen Periode der theologischen Entwicklung im Islam kaum verlässliche Quellen gibt und spätere Zeugnisse oftmals aus der Feder von theologischen Gegnern der Muʿtaziliten stammen, weshalb die kritische Auswertung der Quellen mit äußerster Vorsicht geschehen muss.55 Sehr wahrscheinlich entwickelten auch sie sich aus der politischen und religiösen Gemengelage des 7. und 8. Jh.s heraus und unterschieden sich dabei von anderen Strömungen durch ihren streng rationalistischen Ansatz, der Theologie, Vernunft und Offenbarung zusammenzudenken versuchte, indem die Glaubensinhalte auch mit den Mitteln der vernunftbasierten Argumentation, die mit dem Wissen der griechischen Philosophie und Wissenschaften unterfüttert war, plausibilisiert werden sollten.56 Fest steht, dass die Muʿtaziliten als geschlossene Bewegung erst ab der 2. Hälfte des 8. Jh.s greifbar werden und als diese Zeit maßgeblich prägenden theologischen Akteure auftraten, die die einzigartige intellektuelle Atmosphäre des frühʿabbāsidischen Kalifats mitgestalteten und zur Entwicklung einer systematischen islamischen Theologie beitrugen.57 Der Aufstieg der Muʿtaziliten unter den ʿAbbāsiden und die Formulierung theologischer Lehrgehalte auf Basis eines reflektierten, vernunftbasierten Denkens im Anschluss an die griechische Philosophie hängen daher eng

54 Vgl. Rissanen, Encounter, 72–77; Racha El-Omari, The Muʿtazilite Movement (I). The Origins of the Muʿtazila, in: Schmidtke, Oxford Handbook, 130–141, 130; Bennett, Movement, 142.145–147; Sidney H. Griffith, Excursus I. Christian Theological Thought during the First ʿAbbāsid Century, in: Schmidtke, Oxford Handbook, 91–102, 93f. – Zur Quellengrundlage vgl. El-Omari, 132; Bennett, Movement, 143. Dass christlicherseits hierbei v. a. die ostsyrischen Christen eine tragende Rolle spielten, ist hinreichend belegt, vgl. Rissanen, Encounter, 35–42.45–47. Zwar sind nun auch eine große Zahl an theologischen Werken aus der 2. Hälfte des 8. und der ersten Hälfte des 9. Jh.s. zumindest dem Titel nach auf muslimischer, v. a. muʿtazilitischer Seite durch Fremdbezeugungen bekannt, viele allerdings sind nicht mehr überliefert, da ein Großteil muʿtazilitischer Literatur, der einflussreichsten theologischen Strömung dieser Zeit, vernichtet wurde, als ihre Blüte vorüber war; vgl. Thomas/Roggema, Relations, 371–374, 532–534, 544–549 und weitere. 55 Zur kompakten Analyse der Frage nach der Herkunft und frühen Entwicklung der Muʿtaziliten vgl. ElOmari, Movement, 130–140, der die drei in der Forschung vertreten Herleitungen entweder über den Namen, die rekonstruierte Geschichte der Bewegung oder aber über die Entwicklungslinie der frühen Dogmen hin zu den fünf Prinzipien der Muʿtaziliten vorstellt und analysiert; zum Versuch einer sehr detaillierten Darstellung der Anfänge der Muʿtazilia vgl. Jan van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam 3, Berlin 1992, 233–342, der El-Omari aufgrund seiner eher skeptischeren Beurteilung der Quellen teilweise sehr kritisch gegenübersteht. 56 Vgl. El-Omari, a.a.O., 130. Unter dem Kalifen al-Maʾmūn wurde ihre theologische Lehre sogar zur Staatsdoktrin erhoben, die mit Verfolgungen anderer theologischer Schulen und Lehrmeinungen einherging, mit dem Kalifat von al-Mutawakkil jedoch ihr Ende fand; vgl. Krämer, Geschichte, 100–102; Berger, Theologie, 73f. 57 Vgl. El-Omari, a.a.O., 137; Bennett, Movement, 142.144f; David Thomas, Christan Doctrines in Islamic Theology (HCMR 10), Leiden 2008, 5f; Ders., A Muʿtazilī Response to Christianity. Abū ʿAlī alJubbāʾīʾs Attack on the Trinity and Incarnation, in: Studies on the Christian Arabic Heritage, FS Father Prof. Dr. Samir Khalil Samir S.I. (Eastern Christian Studies 5), Leuven 2004, 279–313, 279.

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miteinander zusammen.58 Die beiden Grundprinzipen der muʿtazilitischen Lehre sind die absolute Einheit Gottes (tawḥīd) und seine Gerechtigkeit (ʿadl), die die Basis für das theologische Denken der Muʿtazila und dessen Entfaltung bildeten.59 Diese Prinzipen sind an sich keine besonderen Kennzeichen einer bestimmten muslimischen Glaubenslehre, erfuhren aber in der muʿtazilitischen Synthese mit der griechischen Philosophie – etwa dem Atomismus oder der Attributenlehre Gottes – eine bis dahin unbekannte Transformation, die eine gänzlich neue Art des theologischen Denkens bedeutete.60 Neben den Muʿtaziliten begannen sich in der zweiten Hälfte des 8. Jh.s aber auch noch andere muslimische Gruppierungen zu geschlossen Bewegungen zu formieren, wie etwa die Ḥanbaliten, die im Gegensatz zu den Muʿtaziliten deren rationalistische Methoden ablehnten und demgegenüber nur den Koran und die Ḥadīṯe als Maßstab für die Erkenntnis Gottes und theologischer Lehren gelten ließen und auch um Einfluss in der Gesellschaft kämpften.61 In der ständigen Auseinandersetzung mit und in gegenseitiger Abgrenzung von anderen theologischen Lehren – dem zentralen Moment der werdenden islamischen Theologie, die hier ganz eindeutig in der Tradition des Kalām steht – entstand ein intellektuelles Klima, das den Hintergrund für die Formierung einer islamischen Theologie bildete.62 Die Debatte mit den Gelehrten anderer theologischer Lehrmeinungen auch über die Grenzen der Religionen hinweg war für die Schärfung der eigenen Lehrgehalte unerlässlich und stellte ein Charakteristikum der werdenden islamischen Theologie, ʿIlm al-Kalām, dar.63 Die Muʿtaziliten stiegen dabei, der religionspolitisch Agenda der ʿabbāsidischen Kalifen folgend, an deren Hofe zu höchsten Ehren auf und wurden die offiziellen Ideologen des ʿabbāsidischen Kalifats, die sich auch in der Kontroverse mit nicht-muslimischen Theologen als die Verfechter der islamischen Religion hervortaten.64 Auf diese Weise hatten sie großen Anteil an der Systematisierung der eigenen Glaubensinhalte und der sich entwickelnden islamischen Theologie, die christlicherseits immer mehr auch als eine intellektuelle Herausforderung wahrgenommen wurde, was die Anfänge einer christlichen Theologie in arabischer Sprache seit dem Ende des 8. Jh.s eindrucksvoll beweisen.65 Das sich anschließende 9. Jh. führte sodann zu einer Blüte der christlich-muslimischen Auseinander58 Vgl. Bennett, Movement, 145–156; Pines, Philosophy, 10–12; Sidney H. Griffith, The Syriac Letters of Patriarch Timothy I and the Birth of Christian Kalām in the Muʿtazilite Milieu of Baghdad and Baṣra in Early Islamic Times, in: W.J. van Bekkum/J.W. Drijvers/A.C. Klugkist, Syriac Polemics. Studies in Honour of Gerrit Jan Reinink (OLA 170), Leuven 2007, 103–132, 108. 59 Vgl. Bennett, a.a.O., 146f; Thomas, Response, 280; für einen kompakten Überblick über die Prinzipien vgl. Berger, Theologie, 75–79. 60 Vgl. Bennett, a.a.O., 146–150.152f; Claude Gilliot, Art. Attributes of God, in: EI3 (2007), 176–182, 176–178. 61 Vgl. Berger, a.a.O., 79–81; Pines, Note, 64–66; Ders., Philosophy, 12; Krämer, Geschichte, 93–102. 62 Vgl. Pines, Note, 64f.72; Ders., Philosophy, 12; Thomas, Doctrines, 6f. 63 Vgl. Pines, Philosophy, 12. 64 Vgl. Pines, Note, 67f. Als herausragendster muʿtazilitischer Denker der frühʿabbāsidischen Zeit gilt Abū Huḍayl, vgl. u. Anm. 110 sowie 5. 65 Vgl. Pines, a.a.O., 71–75; Ders., Some Traits of Christian Theololgical Writing in Relation to Moslem Kalām and to Jewish Thought, in: Strousma, Studies, 79–99, 91; Thomas, Doctrines, 6; Ders., Response, 279; Griffith, Theological Thought, 91–93; Ders., Comparative Religion in the Apologetics of the First Christian Arabic Theologicans, in: Ders., The Beginnings of Christian Theology in Arabic. Muslim-Christian Encounters in the Early Islamic Period (Variorum Collected Studies Series: CS 746), Aldershot 2002, 63–87, 64.

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setzung in der Theologie, die christlicherseits maßgeblich von der Ostsyrischen Kirche und muslimischerseits von den Muʿtaziliten geprägt wurde.66

4. Die theologische Auseinandersetzung von Christen und Muslimen Das besondere Interesse und die Förderung der hellenistischen Wissenschaften durch die ʿabbāsidischen Kalifen und Notabeln schufen einen Raum der Begegnung zwischen Christen und Muslimen, die über die Vermittlung von Wissen hinaus in eine theologische Auseinandersetzung um die Legitimation der je eigenen Religion traten und vom Geist der griechischen Philosophie durchdrungen waren.67 Die gegenseitige Befruchtung der unterschiedlichen Denktraditionen, durch die Dialoge angestoßen, führte zu einer ersten Annäherung, die den gemeinsamen Boden für eine theologische Debatte bereitete, die in den christlichen Traktaten und Apologien für die eigene Glaubensgemeinschaft ab der 2. Hälfte des 8. Jh.s zu greifen ist und die wahrgenommene Herausforderung des Christentums gegenüber dem Islam spiegelt.68 Mit der Verbreitung des Arabischen als alltäglicher Verkehrssprache zusammenhängend, erschienen sodann auch die ersten christlich-theologischen Schriften in arabischer Sprache, die sich mit dem theologischen Denken der Muslime und den Positionen des Qurʾāns auseinandersetzen, wie es ein apologetisches Werk über die Trinität eines unbekannten Autoren erkennen lässt.69 Mit dem Aufstieg der Muʿtaziliten im ausgehenden 8. Jh. schließlich ist eine Zunahme philosophischer Argumentationsfiguren und Dialektik in der Erläuterung christlicher Glaubensinhalte in den Werken der christlichen Gelehrten verbunden, wie es etwa das Scholion des Ostsyrers Theodor bar Koni (8. Jh.) offenbart.70 Das Niveau der Auseinandersetzung christlicher Gelehrter mit den zunehmenden Herausforderungen einer wachsenden theologischen Professionalisierung auf Seiten der Muslime hat sich bis hierhin merklich gesteigert. Blieb das Werk bar Konis auf Arabisch am Ende des 8. Jh.s noch eine Ausnahme, so schrieben die christlichen Gelehrten, die die theologische Debatte mit den Muslimen im 9. Jh. prägen sollten – der Melkit Theodor Abū Qurra (ca. Mitte 8. Jh. bis nach 816)71, der Westsyrer Ḥabīb ibn Ḫidma Abū Rāʾiṭa l-Takrītī (ca. spätes 8. Jh. bis nach 830)72 und der Ostsyrer ʿAmmār al-Baṣrī (ca. spätes 8. Jh. bis ca. Mitte 9. Jh.)73 –, bereits allesamt regulär auf Arabisch, und ihre Werke, die uns teilweise überliefert sind, zeigen, dass sich innerhalb der theologischen Debatte zwischen Christen und Muslimen zu Beginn des 9. Jh.s bereits eine gemeinsame Grundlage an theologischer Debattenführung etabliert hat.74

66 67 68 69 70 71

Vgl. Thomas, Response, 279; Griffith, Syriac Letters, 108f.114. Vgl. Rissanen, Encounter, 75–77; s. dazu auch Kap. 2.2.2. Vgl. u. Anm. 74. Vgl. Griffith, Theological Thought, 93. Vgl. Griffith, ebd.; Tamcke, Christen, 87. Vgl. John C. Lamoreaux, Theodore Abū Qurra, in: Thomas/Roggema, Christian-Muslim Relations, 439–492, 439–441; Rissanen, Encounter, 21. 72 Vgl. S. Tonies Keating, Abū Rāʾiṭa l-Takrītī, in: Thomas/Roggema, a.a.O., 567–581, 567–569. 73 S. Kap. 3.3.1. 74 Vgl. Griffith, Theological Thought, 94–97; Thomas, Doctrines, 3.

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Waren bis hierhin die Werke der christlichen Autoren vornehmlich in apologetischem Stil an die eigene Glaubensgemeinschaft adressiert worden, so bringen diese Werke durch ihre Orientierung der christlichen Gelehrten an der Tradition des Kalām-Stils und an der griechischen Philosophie zum einen die ungeheure Bedeutungssteigerung der islamischen Theologie und deren zunehmende Verwurzelung in der griechischen Philosophie zum Ausdruck. Zum anderen lässt es erkennen, dass es nun einen literarischen Austausch gibt, der wenigstens implizit an die jeweils andere Seite adressiert ist, im Falle von ʿAmmār al-Baṣrī sogar mehr oder weniger explizit.75 Auch die diskutierten Themen, in der Hauptsache die Trinitätslehre oder die Christologie, zeigen an, dass sich eine Debatte auf Augenhöhe entwickelt hatte, die nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung der islamischen Theologie mit den christlichen Lehren und deren Darstellung eine geeignete arabische Terminologie hervorgebracht hat und diskussionsfähig geworden war.76 Die Themen allerdings lassen auch erkennen, dass der Rechtfertigungsdruck und Beweiszwang deutlich auf Seiten der Christen lag, die – um im Anschluss an die islamische Theologie zu formulieren – die christlichen Erläuterungen zur Trinität, dem am meisten angegriffenen Topos der christlichen Lehre, in die Lehre vom Wesen Gottes und seiner Attribute überführten.77 Die Sprache und Denkweise des ehemals fremden Glaubens wurde in der theologischen Auseinandersetzung der christlichen Gelehrten mit muslimischen Theologen im 9. Jh. zum Horizont des eigenen Denkens und Glaubens, wie ebenso für die muslimischen Theologen, namentlich die muʿtazilitisch geprägten, die Erschließung der christlichen Lehrgehalte zur Entwicklung der eigenen Theologie und deren Systematik beigetragen hat.78 Der ehemals je fremde Glaube mitsamt seinen Lehren wurde auf Grundlage einer gemeinsamen Sprache und eines gemeinsamen Systems theologischer sowie philosophischer Geisteshaltung vom reinen Objekt der Verwerfung auch zum Subjekt der eigenen theologischen Reflexion. Die andere Glaubenslehre wurde selbstverständlich weiterhin zu widerlegen und die eigene Lehre zu bestätigen versucht, jene nun aber an der Stichhaltigkeit ihrer Argumentation innerhalb der Debatte gemessen, woran sich die Systematik des eigenen Glaubens schärfte.79 Die Widerlegung der Dogmen des anderen Glaubens war zugleich die 75 Vgl. Griffith, Theological Thought; Thomas, Doctrines. 76 Vgl. Griffith, a.a.O., 96; Thomas, Response, 279; 77 Vgl. Thomas, Doctrines, 4f.8f; Rissanen, Encounter, 78f; Thomas macht noch darauf aufmerksam, dass die christlichen Theologen dadurch, dass sie sich auf den muslimischen Diskurs über die Attribute Gottes eingelassen haben und innerhalb dieser Debatte ihre Glaubenslehren der Christologie und Trinität erläutern mussten, die ursprünglich nicht in dieser Debatte verortet waren, es sehr schwer hatten, diese Lehren noch so artikulieren zu können, dass sie auf der einen Seite das christliche Verständnis dieser angemessen widerspiegeln und zum anderen innerhalb der muslimischen Theologie verstanden werden konnten. Durch diese Gratwanderung innerhalb der Theologien war es für die muslimischen Gelehrten oftmals leicht, aus ihrer Position heraus entsprechend kritische Einwände zu erheben, da die christliche Lehre in der Sprache und Denkweise der islamischen Theologie nicht stichhaltig und präzise genug wiedergegeben werden konnte; vgl. Response, 283f, und Ders., Early Muslim Responses to Christianity, in: Ders., Christians at the Heart of Islamic Rule – Churchlife and Scholarship in ʿAbbasid Iraq (HCMR 1), Leiden 2003, 231–254, 233–239. 78 Vgl. Thomas, Christianity, 251f; nicht zuletzt kann es christlicherseits aber auch immer als Versuch angesehen werden, den stärker zunehmenden Verlust der Kulturvermittlerposition auszugleichen. Dazu Tamcke, Christen, 37. 79 Vgl. Thomas, Doctrines, 4–9; Ders., Christianity, ebd.

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Wiege der eigenen theologischen Position.80 Besonders am Beispiel von ʿAmmār al-Baṣrī wird deutlich, wie eng die Verflechtungen von christlichen und muslimischen Theologen in der ersten Hälfte des 9. Jh.s sein konnten.

5. ʿAmmār al-Baṣrī und sein Kitāb al-Burḥān 5.1 Biographie Über das Leben ʿAmmār al-Baṣrīs ist so gut wie nichts bekannt.81 Lediglich, dass er wahrscheinlich in irgendeiner Art und Weise mit der Stadt Basra in Verbindung stand, wie es sein Name impliziert, und ein Angehöriger der Ostsyrische Kirche war, wie es aus den theologischen Positionen seiner Werke herauszulesen ist, können als Informationen zu seinem Leben herangezogen werden.82 Dass er im 9. Jh. lebte und als christlicher Gelehrter wirkte, geht zum einen aus einer Notiz von Ibn al-Nadīm (10. Jh.) hervor und zum anderen aus der Datierung seines Kitāb al-Burḥān, das aufgrund einer Anspielung auf den Feldzug des alMuʿtaṣim gegen Amorium 838 nach 838 datiert werden muss.83 5.2 Werke 5.2.1 Kitāb al-masāʾil wa-l-aǧwiba Im Ganzen sind von ʿAmmār al-Baṣrī zwei Werke überliefert: sein Kitāb al-masāʾil wa-laǧwiba (Das Buch der Fragen und Antworten)84 und sein Kitāb al-Burḥān (Das Buch des Beweises).85 Das Kitāb al-masāʾil wa-l-aǧwiba stammt vermutlich aus dem frühen 9. Jh. und ist eine Apologie des christlichen Glaubens, in der er 102 Fragen an die christliche Glaubenslehre formuliert, die allesamt kritische Einwände der islamischen Theologie an dieser darstellen, und jeweils durch seine Argumentation zu entkräften versucht.86 Der Adressat dieses Werkes ist ein nicht näher bestimmter Kalif, der möglicherweise al-Maʾmūn sein könnte, was aber unsicher ist.87 In der Reihe der christlich-arabisch theologischen Literatur des 9. Jh.s gilt dieses Werk als die gründlichste und sorgfältigste Verteidigung christlicher Lehren gegenüber der islamischen Theologie, was an der ausgesprochen profunden Kenntnis ʿAmmārs über dieselbe liegt, von der das Kitāb al-masāʾil wa-l-aǧwiba zeugt.88

80 Vgl. Thomas, Doctrines, 9. 81 Vgl. Mark Beaumont, ʿAmmār al-Baṣrī, in: Thomas/Roggem, Christian-Muslim Relations, 604–610, 604; Sidney H. Griffith, Art. ʿAmmār al-Baṣrī, in: EI3 (2009), 39. 82 Vgl. Beaumont, a.a.O., 604f. 83 Vgl. Michel Hayek, ʿAmmār al-Baṣrī. Apologie et Controverses, Buḥūṯ wa-dirāsāt maǧmūʿat dirāsāt šarqīya tunšaru bi-idārat Maʿhad al-Ādāb aš-Šarqīya 5, Beirut 1977, 19f. 84 Vgl. Beaumont, a.a.O., 604–607; Hayek, Apologie, 56–83; ʿAmmār al-Baṣrī, Kitāb al-masāʾil wa-laǧwiba, in: Hayek, ʿAmmār al-Baṣrī, 91–265. 85 Vgl. Beaumont, a.a.O., 607–609; Kap. 5.2.2. 86 Vgl. a.a.O., 605; Griffith, ʿAmmār al-Baṣrī, 39, vermutet sogar, dass im Hintergrund dieser Apologie die Lehren des Abū Huḍayl stehen, die ʿAmmār hier widerlegt. 87 Vgl. Beaumont, a.a.O., 605. 88 Vgl. a.a.O., 606.

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5.2.2 Kitāb al-Burḥān Das Kitāb al-Burḥān, dessen Titel in der ältesten Handschrift MS BL – Add. 1899889 von 1297/98 fehlt, aber von dem koptischen Gelehrten Abū l-Barakāt b. Kabar († 1324/25) mit der Erweiterung „[…] ʿalā siyāqat at-tadbīr al-ilāhī“ überliefert wird, ist ähnlich wie das Kitāb al-masāʾil wa-l-aǧwiba eine Apologie des christlichen Glaubens.90 Im Unterschied zum Kitāb al-masāʾil wa-l-aǧwiba ist es allerdings nicht in Form von FragenAntworten verfasst, sondern in Form einer systematisierten Darstellung des christlichen Glaubens in zwölf Kapiteln.91 Angefangen mit eher abstrakten Themen wie der Erläuterung der Existenz des einen Gottes (1) sowie der Darstellung der Kriterien zur Bestimmung der wahren Religion (2), folgen in den Kapiteln (3) die Verteidigung des Christentums als wahre Religion und (4) die Erörterung der Authentizität der christlichen Schriften etwas konkretere Zuspitzungen auf das Christentum hin.92 Die Kapitel (5) Trinität, (6) Einheit von Göttlichkeit und Menschlichkeit in Jesus Christus, (7) Beweis der Inkarnati89 Die einzige Edition dieser Handschrift stammt von Hayek und harrt noch einer Übersetzung, 19–90. 90 Vgl. Sidney H. Griffith, ʿAmmār al-Baṣrīʼs Kitāb al-Burḥān. Christian Kalām in the First Abbasid Century, in: Ders., Beginnings, 145–181, 146f.155; Hayek, ʿAmmār al-Baṣrī, 47f; Beaumont, ʿAmmār alBaṣrī, 609. Beaumont allerdings datiert die Handschrift im Gegensatz zu Hayek und Griffith in das Jahr 1297 und nicht 1298. Im Gegensatz zu ihnen nimmt Griffith, 157, an, dass es sich bei der Wendung „ʿalā siyāqat at-tadbīr al-ilāhī“, wie Abū l-Barakāt b. Kabar ihn überliefert, um eine Ergänzung des Titels handelt. Wann eine solche Ergänzung allerdings stattgefunden haben könnte und wer diese dort eingefügt hat, klärt Griffith nicht. Dass es sich aber um einen Zusatz handelt, der das Leitthema des Werkes zum Ausdruck bringen möchte, wie Griffith ebd. vermutet, ist m. E. sehr plausibel, wenn in Betracht gezogen wird, dass der Titel Kitāb al-Burḥān, möglicherweise in Anspielung auf Sure 2,111, für christlich-arabische Traktate ohne Zusatz häufig belegt ist, wie Griffith, 155f, es beschreibt. Wenn der Zusatz also zum ursprünglichen Titel dazugehören sollte, müsste die Frage geklärt werden, warum ʿAmmār al-Baṣrī gegen die Regel hätte verstoßen sollen, wofür es m. E. keine Gründe gibt. Der Begriff at-tadbīr al-ilāhī, der von Hayek, 86, m.E. treffenderweise mit „die göttliche Ökonomie“ wiedergegeben wird, bezeichnet in der systematischen Theologie die sog. „Opera trinitatis ad extra“. Mit diesen Werken der göttlichen Trinität sind diejenigen gemeint, die deren heilshaftes Handeln in Schöpfung und Geschichte offenbaren. Der Begriff οἰκονομία, der ursprünglich die Verwaltung des Hauses (Walter Bauer, Art. οἰκονομία, in: ThWNT 6, 1988, 1134f mit Verweis auf οἰκονόμος) bezeichnet und damit dem arabischen‫( ﺩﺑّﺮ‬planen, führen, inf. ‫ﺗﺪْﺑﻴﺮ‬, Führung, Planung, Wirtschaftsführung, davgl.zu Wehr, Handwörterbuch, 375f) sehr nahe kommt, verweist in diesem Zusammenhang auf den Heilsplan Gottes für seine Schöpfung, die in der Erlösung der Menschen in der Inkarnation Gottes liegt (vgl. dazu auch Eph 1,10). Vgl. dazu Rufus Leonhardt, Grundinformation Dogmatik (UTB 2214), Göttingen 42009, 225–228. Folgt man dem Aufbau des Kitāb al-Burḥān, so wird m. E. deutlich, dass alBaṣrī auf dem Höhepunkt seines Werkes versucht, dieses in der Schöpfung begonnene und mit der Sendung des Sohnes vollendete Wirken Gottes in der Welt zum Ausdruck zu bringen. Vgl. dazu Kitāb alBurḥān, 62–67; auch Griffith, Kitāb al-Burḥān, 175f. 91 Vgl. zu einer kurzen Einführung in die jeweiligen Kapitel Hayek, a.a.O., 50–56, oder Griffith, a.a.O., 160–181. Die Überschriften der einzelnen Kapitel sind darüber hinaus auch nicht zum Original gehörig, sondern Nachträge verschiedener Editoren, dazu Griffith, 158, und Hayek, 48. Daneben betonen Beaumont, ʿAmmār al-Baṣrī, 609; Ders., ʿAmmār al-Baṣrī on the Incarnation, in: Thomas, Christians at the Heart, 55–62, 55f, und Thomas, Christianity, 248; Ders., Cultural and religious Supremacy in the Fourteenth Century. The Letter from Cyprus as interreligous Apologetic, in: ParOr 30 (2005), 297–322, 307, die Systematik der Darstellung al-Baṣrīs als eine wichtige Entwicklung in der christlich-arabischen Theologie, die in diesem Kapitel zur Geltung gebracht werden soll und sowohl von Griffith als auch von Hayek m. E. nur unzureichend resp. in keinerlei Hinsicht als eine solche gewürdigt wird. 92 Vgl. dazu Hayek, a.a.O., 50–52; ʿAmmār al-Baṣrī, Kitāb al-Burḥān, 21–46. Griffith, a.a.O., 160–167.

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on und (8) Kreuzigung behandeln sodann zentrale Themen der christlichen Dogmatik, die in der Geschichte der Auseinandersetzung mit den muslimischen Gelehrten – sei es im Dialog oder im Rahmen einer theologischen Debatte – die Schwerpunkte derselben ausgemacht haben, was im Kitāb al-Burḥān durch ihre zentrale Stellung m. E. auch im Aufbau der Schrift zur Geltung kommt. Mit der Ausführung zum „Beweis der Inkarnation“ – dem mit Abstand längsten Kapitel des Werkes – wird der Höhepunkt der Schrift erreicht, indem ʿAmmar die zentrale Bedeutung der Inkarnation als Gottes vollkommenste Wohltat für die Menschen entfaltet.93 Die folgenden Kapitel (9) Taufe, (10) Eucharistie, (11) Symbol des Kreuzes sowie (12) Essen und Trinken im Nachleben behandeln hernach eher Themen, die in der alltäglichen Glaubenspraxis und im herkömmlichen Kontakt von Christen und Muslimen eine Rolle spielen. Hier wird insgesamt noch einmal der Impetus dieses Buches deutlich, das seinen Fokus eindeutig auf eine Verständigung von christlicher und islamischer Theologie, von Christen und Muslimen legt, damit Muslime den christlichen Glauben in seiner Bedeutung für den Menschen verstehen und bestenfalls akzeptieren lernen.94 Damit wird ein Bogen zu den ersten vier Kapiteln des Buches geschlagen, die zum einen die gemeinsame Berufung von Christen und Muslimen auf den einen Gott zum Ausdruck bringen, zugleich aber deutlich machen, dass nur das Christentum den Anspruch, die wahre Religion zu sein, erfüllt. Auf diese Weise lässt ʿAmmār al-Baṣrī einen Rahmen entstehen, der sich in der Dialektik von gemeinsamer Verständigung unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Superiorität des Christentums bewegt, in dessen Mitte die Hauptstücke der christlichen Lehre mit dem Höhepunkt der Inkarnation Gottes vor dem Hintergrund der islamischen Theologie verständlich und zugleich unbestreitbar entfaltet werden. So ergibt sich für das Kitāb alBurḥān eine von Beginn an durchdachte, dreiteilige Konzeption, die die eigene Glaubenslehre vor dem Hintergrund der geistesgeschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit zu reflektieren versucht und damit m. E. zurecht als die erste christliche systematische Theologie in arabischer Sprache gelten kann, wie Thomas es formuliert.95 5.2.2.1 Adressatenkreis Im Vergleich zum sichtbar längeren Kitāb al-masāʾil wa-l-aǧwiba, stellt das Kitāb alBurḥān zum einen eine kompakte Zusammenfassung der christlichen Lehren desselben dar, erweitert dieses aber zum anderen um die letzten vier, sehr praxisorientierten und damit alltagsnahen Kapitel, was nicht nur in die Konzeption des Buches passt, sondern darüber hinaus auch einen Hinweis auf seine implizierten Adressaten gibt.96 Die Erweiterung des Themenfeldes gegenüber dem Kitāb al-masāʾil wa-l-aǧwiba, die wahrscheinlich dem alltäglichen Kontakt und den daraus resultierenden Anfragen an die Christen entsprungen ist, zeigt, dass das Kitāb al-Burḥān nicht nur für eine intellektuelle, theologisch gebildete Elite geschrieben wurde, sondern eher einen breiteren Adressaten93 Vgl. Thomas, Christianity, 236–240.248f; Griffith, Syriac Letters, 114f; zur kurzen Einführung in die einzelnen Kapitel vgl. ʿAmmār al-Baṣrī, Kitāb al-Burḥān, 46–81, 62–79; Hayek, ʿAmmār al-Baṣrī, 52– 54; Griffith, Kitāb al-Burḥān, 168–178, 174–177. 94 Vgl. ʿAmmār al-Baṣrī, Kitāb al-Burḥān, 81–90; Hayek, a.a.O., 54–56. 95 Vgl. Thomas, Christianity, 248. 96 Vgl. Beaumont, ʿAmmār al-Baṣrī, 608f.

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kreis im Blick hat, wofür auch die im Gegensatz zum Kitāb al-masāʾil wa-l-aǧwiba weniger formale Sprache spricht.97 Wer dieser Adressatenkreis aber nun im Einzelnen gewesen sein mochte, ist eine Frage, die auch in der Forschung umstritten ist, da die Schrift keinen expliziten Adressaten nennt. Sieht Thomas im Kitāb al-Burḥān die erste christlich-systematische Theologie in arabischer Sprache, die sich neben einer christlichen dediziert auch an einen muslimischen Adressatenkreis wendet, spricht sich Griffith – und im Anschluss an ihn auch Beaumont – dafür aus, dass das Kitāb al-Burḥān in erster Linie ausschließlich eine christliche Hörer- und Leserschaft impliziert, nur im Kapitel über die Inkarnation sei die Adresse ausdrücklich auch an Muslime gerichtet.98 Die Prägnanz der Schrift und ihre Alltagsbezogenheit sprechen für Griffith dafür, dass die Intention dieses Werkes darauf abzielte, einen knappen Ratgeber für Christen im Umgang mit Muslimen zu schaffen.99 Diese Erklärung allerdings beantwortet nicht, warum ʿAmmār al-Baṣrī im gesamten Werk darauf setzt, sich in der Sprache und Denkweise der islamischen Theologie zu bewegen, wenn es doch in erster Linie christliche Adressaten ansprechen soll. Sie ignoriert zudem die Tatsache, dass das Kitāb al-Burḥān im Ganzen darauf abzielt, den christlichen Glauben so darzustellen, dass die Muslime den Grund des Christentums – das Heil der Menschen in Jesus Christus als die vollkommenste Tat Gottes an den Menschen – verstehen lernen und schlechterdings nicht mehr anders können, als die Wahrheit des Christentums anzuerkennen und so zugleich sehen, dass die daraus resultierenden Glaubenspraktiken des Christentums ihren Sinn haben, den sie zuvor nicht erkannt haben.100 Ein solches Unterfangen, das im Zuge seiner Abhandlung noch einmal die basalen Fragen der christlichen Heilsgeschichte im Anschluss an die islamische Theologie zu klären versucht, kommt m. E. nur in Frage, wenn es einen Kreis von Adressaten gibt, der mit der Sprache und Denkweise derselben vertraut ist und dem die Bedeutung des Heilsgeschehens Christi für die Menschen nicht bekannt zu sein scheint, weshalb m. E. mit Sicherheit auch Muslime die impliziten Adressaten dieser Schrift waren. Als christliche Apologie soll sie dazu dienen, den muslimischen Lesern, die sich hier ganz nah an den Vorstellungen der muʿtazilitischen Lehre zu bewegen scheinen – an einigen Stellen lässt sich sogar ganz konkret der muʿtazilitische Gelehrte Abū Huḍayl (ca. 750– 850) im Hintergrund erkennen –, in ihrer Art des theologischen Denkens die Notwendigkeit der christlichen Heilsgeschichte aufzuzeigen, die ihren Höhepunkt in der Inkarnation Gottes in einem Menschen, Jesus von Nazareth, hatte.101 Wie ʿAmmār al-Baṣrī christliche Heilsge97 Vgl. Griffith, Kitāb al-Burḥān, 155.159; Ders., Comparative Religion in the Apologetics of the First Christian Arabic Theologicans, in: Ders., Beginnings, 63–87, 70f. 98 Vgl. Thomas, Christianity, 248; Griffith, Kitāb al-Burḥān, 155.174; Mark Beaumont, Christology in Dialogue with Muslims. A Critical Analysis of Christian Presentations of Christ for Muslims from the Ninth and Twentieth Centuries, Oxford 2005, 68.101. 99 Vgl. Griffith, Kitāb al-Burḥān, 155.160f. 100 Vgl. Thomas, Mutazilite Response, 281f; Griffith, Comparative Religion, 71f; Ders., Kitāb alBurḥān, 156–157; auch Hayek, ʿAmmār al-Baṣrī, 45f. 101 Zu Abū Huḍayl, der als einer der größten und einflussreichsten Gelehrten der muʿtazilitischen Theologie gilt, vgl. David Thomas, Abū Huḍayl al-ʿAllāf, in: Thomas/Roggema, Christian-Muslim Relations, 544–549; van Ess, Theologie, 209–296. Von seinen 56 bei Ibn al-Nadīm aufgelisteten Werken ist leider keines erhalten geblieben. Die Titel allerdings zeigen zum einen, dass er sich mit den großen theologischen Fragen seiner Zeit, wie etwa dem Wesen Gottes und seiner Attribute, als auch mit zeitgenössischen Theologen und theologischen Entwürfen muslimischer wie auch jüdischer, zoroastri-

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schichte vor der muʿtazilitischen Theologie zu formulieren und plausibilisieren versucht, soll anhand der folgenden Analyse eines Auszugs aus dem Kapitel „Der Beweis der Inkarnation“ dargestellt werden. 5.2.2.2 „Der Beweis der Inkarnation“ Das Kapitel über den „Beweis der Inkarnation“ (‫ )ﺍﺛﺒﺎﺕ ﺍﻟﺘﺠﺴﺪ‬ist das längste im gesamten Kitāb al-Burḥān und nimmt in der Edition von Hayek die Seiten 62.15 bis 79.8 ein. Zu Beginn des Kapitels ruft Ammar im Zusammenhang des Offenbarwerdens (im Sinne des tatsächlich Sichtbarwerdens) Gottes in einem Menschen (‫ )ﺗﺠﻠّﻴﺎﻟﺨﺎﻟﻖ ﻟﺨﻼﺋﻘﻪ ﻓﻲ ﺑﺸﺮ‬noch einmal Gottes Hochherzigkeit in Erinnerung, die anhand seiner Schöpfung erkennbar sein sollte, aber nicht erkannt wurde, und schließt damit einen Kreis zum Beginn seiner Schrift, an dem er erläuterte, dass Gott seine Geschöpfe nicht schuf, weil er sie brauchte, sondern weil er hochherzig ist.102 Mit diesen Zeilen, die den Bogen von der hochherzigen Schöpfung Gottes hin zu seinem Offenbarwerden in einem Menschen schlagen, markiert ʿAmmār al-Baṣrī den Höhepunkt der Ökonomie Gottes ( ّ ‫)ﺗﺪﺑﻴﺮ‬103 und zugleich den Einstieg in den Höhepunkt seines Werkes. An dieses Konzept anknüpfend, fährt ʿAmmār dann zunächst damit fort, die in der Schöpfung Gottes offenbargewordene Hochherzigkeit und Freundlichkeit des Schöpfers zu belegen, die er gerade gegenüber dem Menschen als Krone derselben erwiesen hat, um daraus zu deduzieren, dass Gott in seiner Weisheit dieses am Menschen begonnene Werk der Hochherzigkeit schließlich auch vollenden wird.104 Seine Intention dabei ist, „denen, die im Widerspruch zu uns stehen“ (‫)ﻣﺨﺎﻟﻔﻮﻥ ﻣﻌﻨﺎ‬105 – resp. den Muslimen, die hier als implizite Adressaten angesprochen werden –, die Ökonomie Gottes, d. h. sein heilvolles Handeln am Menschen, vorab in einer Weise darzustellen, der auch sie zustimmen können, sodass sie diesem Plan Gottes folgend letztendlich nicht mehr anders können, als auch die Inkarnation anzuerkennen, „die sie verneinen“ (‫)ﺑﻠﻠﺘﻤﺎﻡ ﺍﻟﺬﻱ ﻳﻨﻜﺮﻭﻧﻪ‬.106 Um dies zu erreichen, stellt er sodann vier Gründe vor, die die Inkarnation Gottes in einem Menschen als heilshaften Höhepunkt des Handelns Gottes am Menschen für eine muslimische Adressatenschaft nachvollziehbar machen sollen.107 5.2.2.2.1 Der erste Grund für den Beweis der Inkarnation Der für die Übersetzung und Textanalyse ausgewählte Auszug stellt das erste und längste von Ammars insgesamt vier Argumenten einer Beweiskette dar, die die Gründe für die Inkarnation Gottes in einem Menschen begreifbar machen sollen, und reicht dabei von Seite

102 103 104 105 106 107

scher und christlicher Couleur kontrovers auseinandergesetzt hat. Auch eine konkrete Auseinandersetzung mit ʿAmmār al-Baṣrī hat offenbar stattgefunden, wie es der Titel des Werkes Kitāb ʿalā ʿAmmār al-Naṣrānī fī l-radd ʿalā l-Naṣārā anzeigt, was die enge Verbindung von muslimischen und christlichen Theologen im 9. Jh., wie sie oben dargestellt wurde, eindrücklich unterstreicht. Vgl. ʿAmmār al-Baṣrī, Kitāb al-Burḥān, 24,9ff; 62.15–18. Vgl. a.a.O., 62.17. Vgl. a.a.O., 63.4–64.14, besonders 64.12–14; dazu auch Griffith, Kitāb al-Burḥān, 174f. ʿAmmār al-Baṣrī, a.a.O., 63.6. ʿAmmār al-Baṣrī, a.a.O., 63.8. ‫ ﺑﻤﺎ ﻳُﻌﺮﻑ ﻣﻦ ﺍﻻﺳﺒﺎﺏ ﻓﻲ ﺗﺠﻠّﻲ ﺍﻟﺨﺎﻟﻖ ﻟﺨﻠﻘﻪ ﻟﻤﺎ ﻳﺘﻤﻢ ﺑﻪ ﻣﺎ ﺍﺑﺘﺪﺃ ﺍﻻﻧﺴﺎﻥَ ﻣﻦ ﺟﻮﺩﻩ ﻭﻛﺮﻣﻪ ﻭﻳُﻈﻬﺮ ﺑﻪ‬-‫ﻓﻨﺬﻛﺮ ﻋﻨﺪ ﺫﻟﻚ ﺑﺎﺧﺘﺼﺎﺭ‬ ‫ ﺍﺭﺑﻌﺔ ﺍﺳﺒﺎﺏ‬- ‫ﺣﻜﻤﺘ َﻪ ﻭﻋﺪﻟﻪ‬

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64.15 bis 67.8.108 Am Beispiel dieses Argumentes lassen sich m. E. in präziser Deutlichkeit die in dieser Arbeit beschriebenen Wechselwirkungen der christlich-muslimischen Auseinandersetzungen in der Theologie, wie sie kurz nach dem Beginn des ʿabbāsidischen Kalifats und dem damit einhergehenden geistesgeschichtlich äußerst bedeutsamen Vermittlungsprozess zweier Kulturen erblüht sind, in ihrer Tragweite sowohl für die die islamische, aber vor allem für die christliche Theologie wahrnehmen.109 Deshalb gilt die Analyse des folgenden Abschnitts dem ersten der vier Argumente dieser Beweiskette. 5.2.2.2.1.1 Analyse und Auslegung Die Verse 64.15–17 fungieren als eine kurze Einleitung, in der ʿAmmār al-Baṣrī Gottes Eigenschaften beschreibt, die anhand seiner Schöpfung zu erkennen sind und deswegen notwendigerweise auf die Existenz des Schöpfers hinweisen.110 Dennoch ist es offenbar so, dass dieser Weg der Erkenntnis Gottes nicht von allen erkannt wurde. ʿAmmār nennt hier zwar keine bestimmte Gruppe von Menschen, aufgrund der Ausführungen in seiner Einführung in dieses Kapitel allerdings legt es sich nahe, hier eine muslimische Adressatenschaft zu vermuten. Sie wird darauf hingewiesen, dass die Schöpfung neben den erkennbaren Verweisen auf die Eigenschaften Gottes auch direkter Schauplatz seines heilshaften Handelns ist, das in der Inkarnation eines Menschen für alle sichtbar geworden ist, womit implizit gesagt ist, dass diese Offenbarung von keinem Menschen mehr geleugnet oder nicht erkannt werden kann.111 ʿAmmār Al-Baṣrī vertritt hier als christlicher Theologe das Bild eines Gottes, der sich als ein in der Geschichte der Menschen handelnder Gott offenbart hat, wie ihn die Schriften des Alten und Neuen Testamentes bezeugen, und steht damit dem muʿtazilitischen Gottesbild, das in erster Linie dessen absolute Transzendenz und den Gegensatz Gottes zur Welt betont, diametral gegenüber.112 Anhand des Aufbaus seines Argumentes, das aus vier Teilen besteht, wird allerdings deutlich, dass al-Baṣrī sich dieses Unterschiedes bewusst ist und deshalb versucht – unter Anschluss an die islamische, v. a. muʿtazilitisch geprägte Theolo-

108 Zur Übersetzung des Abschnitts s. Kap. 7.1. 109 In der ersten Hälfte des 9. Jh.s hat sich mit ʿAmmār al-Baṣrī ein christlicher Gelehrter um die Verständigung von Christen und Muslimen bemüht, der das erste Mal in arabischer Sprache eine christliche Theologie formuliert, die in systematischer Weise den Versuch unternimmt – im Anschluss an die zu der Zeit v. a. muʿtazilitisch geprägte islamische Theologie – den christlichen Glauben in seiner Notwendigkeit für eine muslimische Hörer- und Leserschaft zu erklären. Er lenkt damit den theologischen Austausch, der schon seit der zweiten Hälfte des 8. Jh.s besteht, weg von der rein denkerischen Durchdringung und logischen Plausibilisierung der jeweiligen Glaubenslehren hin auf den eigentlichen Kern des Glaubens – das Heil des Menschen –, der bis dahin keinen Raum in einer Debatte einnahm, die ihren Sieger nur nach der Überzeugungskraft der logischen Schlüssigkeit der Argumente gesucht hat. 110 Es scheint plausibel, dass für diese Argumentation Röm 1,19ff im Hintergrund stand. 111 Hier merkt man deutlich, dass ʿAmmār in seiner Theologie in der Tradition Theodors von Mopsuestia steht, der die ostsyrische Theologie mit seinem Denken maßgeblich beeinflusst hat, vgl. Wolf-Dieter Hauschild/Volker H. Drecoll, Alte Kirche und Mittelalter. Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte 1, Gütersloh 52016, 309–311. 112 Vgl. Berger, Theologie, 173–175; van Ess, Theologie und Gesellschaft, 270–276.

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gie und die dort geführten Diskussionen um die Transzendenz –, die Inkarnation Gottes als Heil der Menschen nachvollziehbar zu machen.113 An erster Stelle seiner Argumentationsreihe (64.18–65.9) stehen dabei die Diskussion und Erläuterung der Erkenntnistheorie, an der sich eindeutig zeigt, dass sich ʿAmmār alBaṣrī mit den Lehren des muʿtazilitischen Gelehrten Abū Huḍayl auseinandergesetzt hat.114 ʿAmmār vertritt hier die Auffassung, dass Gott seine Erkenntnis nur denjenigen Wesen eingeprägt hat, die keine Vernunft besitzen und nicht über ihn reflektieren können, wie er es am Beispiel der Biene und der Spinne, in bewusster Anspielung auf die Suren 16,68–69 und 29,41–44 aufzeigt, die ohne eine tiefere Erkenntnis des Weltzusammenhanges dennoch instinktiv ihrem Wesen nach handeln.115 So hält ʿAmmār zunächst fest, dass der Mensch hingegen keine Erkenntnis Gottes und der Dinge von sich aus hat. Denn wenn dem Menschen tatsächlich die Erkenntnis Gottes von Beginn an eingeprägt wäre, so gäbe es niemanden mehr, der sich einer anderen Erkenntnis zuwenden würde. Allerdings gab es eine Zeit, in der der Mensch ein ungeteiltes Wesen in Bezug auf Gott hatte, das aus Gottes direkter Offenbarung an die Menschen (und die Engel) hervorgegangen ist, da der Mensch noch bei Gott war und ihn mit seinen Sinnen wahrnehmen konnte, die die Quelle des Verstehens und der Erkenntnis des Menschen für ʿAmmār bilden, der damit einem erkenntnistheoretisch-empirischen Ansatz folgt.116 Über die Reflexion der Sinneswahrnehmung wird Erkenntnis gewonnen, wodurch der Vernunft des Menschen bei der Erkenntnis Gottes eine große Rolle zugeschrieben wird und auch in der Auslegung der Schrift eine bedeutende Rolle zukommt, die für ʿAmmār interpretiert werden muss und nicht einfach die Erkenntnis Gottes vorgeben kann. Die Berufung auf eine heilige Schrift, die die alleinige Wahrheit über Gott zu besitzen beansprucht, reicht für ʿAmmār als Argument nicht mehr aus. Nur eine im Verstand und den Gedanken nachvollziehbare Sache kann das Innerste des Menschen, seine Seele, berühren und starken Glauben hervorbringen. Nur ein reflektierter, auch durch die Kontroverse (‫ )ﻛﻼﻡ‬gegangener Glaube ist für al-Baṣrī ein standhafter Glaube.117 Mit dieser Position schließt ʿAmmār al-Baṣrī seine Ausführungen zur Erkenntnis Gottes und der Erlangung derselben ab, die im Ganzen auf der rationalen Reflexion des Weltzusammenhanges wie auch der Schriften beruht: dem den Menschen von Gott zugedachten

113 Zu den Diskussionen des Gottesbildes der islamischen Theologie, die sich intensiv mit der Einheit und Transzendenz Gottes vor dem Hintergrund der zahlreichen anthropomorphen Darstellungen Gottes im Koran auseinandergesetzt hat, vgl. Berger, Theologie, 171–178; Gilliot, Attributes, 176–182. 114 Das Wissen um Abū Huḍayls Lehre und Theologie beruht in erster Linie auf den Zeugnissen späterer Autoren, die ihn als maßgebliche Instanz der muʿtazilitischen Lehre zitieren, vgl. Thomas, Abū Huḍayl, 545. Zur Erkenntnistheorie Abū Huḍayls vgl. van Ess, Theologie, 250ff. 115 Über diesen Bezug zu den Tieren hinaus sind die Suren 16 und 29 auch von den Themen der wohlgeordneten Schöpfung Gottes (u. a. 16,1–21.65–69.77–83) und seinen vorangegangenen Offenbarungen (29,14–40) geprägt, womit al-Baṣrī seine Argumentation von 64.15–17, Gottes erkennbares Handeln in der Geschichte, unterstreicht und auf dem Boden des Korans verankert. 116 Vermutlich meint ʿAmmār al-Baṣrī hier den Schöpfungszustand, in dem der Mensch noch ungetrennt von Gott im Paradies lebte (Gen 1,1–3,24; auch Sure 2,30–39). 117 Diese Reflexionen über die in Bezug auf Gott ungeteilte Menschheit und die spätere Uneinigkeit derselben in Bezug auf die schriftliche Offenbarung Gottes, über die die Menschen stritten, findet sich auch in Sure 2,213.

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Mittel zu seiner Erkenntnis und damit zu wahrem Glauben. Wahrer Glaube muss sich für ʿAmmār vor der Vernunft verantworten können. Im Diskurs der Religionen, die alle ihre Offenbarungen haben, braucht es die Debatte, die auf dem Boden der vernunftbasierten Argumentation zu einem Verständnis des jeweiligen Glaubens führt, der sich vor der Vernunft und in der Auseinandersetzung mit den anderen Religionen bewähren kann. Damit ist ʿAmmār voll und ganz Teil der oben beschriebenen intellektuellen Umgebung seiner Zeit, geht aber in seinem Anschluss an die islamische Theologie und deren Offenbarungsverständnis durch seine unverkennbaren Anspielungen auf den Koran und die Lehre von der eingeprägten Gotteserkenntnis, wie sie von Abū Huḍayl vertreten wurde, weit über die ansonsten bekannten christlich-arabischen Schriften der Theologie hinaus. Abū Huḍayl ging davon aus, dass dem Menschen als Geschöpf qua seines Geschaffenseins eine inhärente Erkenntnis eingeschrieben ist, die den Menschen an seinen Schöpfer und dessen Gesetz (‫ )ﺃﻣﺮ‬in der Welt verweist, worauf der Mensch ausgerichtet ist.118 In ʿAmmār al-Baṣrīs Beispiel stünde der Mensch damit auf einer Stufe mit der Biene oder der Spinne, und alle Menschen müssten in der Theorie demselben Gesetz Gottes für die Welt folgen. Das dies nicht der Fall sein kann, hat ʿAmmār gezeigt und dem eine Erkenntnistheorie entgegengestellt, die auf der vernunftbasierten Reflexion der Sinneswahrnehmungen beruht, die nicht wie bei Abū Huḍayl dem Wirken Gottes im Menschen zugeschrieben werden. Der Kern der Auseinandersetzung dreht sich schließlich um die Frage, inwiefern der Mensch an der Erkenntnis Gottes, die zum Glauben führt, selbst teilhat oder nur geleitet wird. Dass Abū Huḍayl denjenigen Menschen als vor Gottes Gesetz schuldig beschreibt, wenn er nicht die richtige Erkenntnis Gottes hat, war auch seinen muʿtazilitischen Gefährten etwas zu radikal, die sich deshalb auch für eine dem Menschen eher zurechenbare Erkenntnistheorie aussprachen.119 Die Frage nach Prädestination und Selbstverantwortung, die hier mitschwingt, wird von ʿAmmār eher zugunsten einer Selbstverantwortung des Menschen gegenüber einer eingeschriebenen Gotteserkenntnis aufgelöst. Was die Schriften wie Bibel oder Koran betrifft, darin sind sich ʿAmmār al-Baṣrī und Abū Huḍayl einig, so können zwar auch sie Erkenntnis von Gott vermitteln, aber die Verantwortung dafür liegt in der Interpretation der Menschen.120 Hat ʿAmmār al-Baṣrī im ersten Abschnitt die Grundlagen seiner Erkenntnistheorie dargelegt, so stellt er im nächsten Abschnitt (65.10–15), der sich hauptsächlich dem Thema der Seele widmet, noch einmal fest, dass die Wahrheit des an der Vernunft geprüften Glaubens ihren Sitz explizit in der Seele des Menschen hat und immer neu auf dem Prüfstand steht. Die Wahrheit ist für ʿAmmār offenbar keine unumstößliche Größe, die, wenn sie einmal erlangt wurde, immer bleibt, sondern etwas Flüchtiges und Fragiles, das stets neu der intensiven Auseinandersetzung mit sich bedarf. Ansonsten geht die Wahrheit des Glaubens verloren. Es ist ein stets neuer, in der Seele ausgetragener Kampf um die Wahrheit der eigenen Überzeugung. Und so wie der Glaube ein ständiges Objekt des Streites ist, so auch die Vorstellung der Seele, deren Existenz aufgrund ihrer Unsichtbarkeit von vielen Menschen, die

118 Vgl. van Ess, Theologie, 251. 119 Vgl. a.a.O., 251f. 120 Vgl. a.a.O., 265.

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hier nicht näher charakterisiert werden, aber wohl die muslimische Vorstellung betrifft,121 geleugnet wird, obwohl es, so ʿAmmār, doch offensichtlich sei, dass es eine vernunftbegabte Seele gibt, die im Inneren des Körpers auch eine eigene Art der Führung und Leitung zu besitzen scheint. Mit diesen knappen Überlegungen zur Vorstellungen der Seele, mit der sich ʿAmmār alBaṣrī von Abū Huḍayl abgrenzt, hat er eine Überleitung zum Thema der Offenbarung, dem dritten Abschnitt (65.16–66.8), geschaffen, die genau das eben skizzierte Problem auf die Erkenntnis Gottes überträgt. Gott wird zum einen als ein dem Menschen entzogenes, transzendentes Wesen vorgestellt, das aber dem Menschen zugleich als durch dessen Offenbarung erkennbar gedacht wird. Gott bewegt sich zwischen Transzendenz und Immanenz, die beide gleichermaßen die Vorstellungen von Gott für ʿAmmār prägen. Die Transzendenz Gottes ist der Grund für nur eine unvollkommene Erkenntnis Gottes, da dieser nie richtig erkannt werden konnte, bis er sich schließlich in einer Offenbarung konkret an die Menschen wandte, die ihn nun mit ihren Sinnen wahrnehmen und Gewissheit über sein Wesen und seine Existenz erlangen konnten. Die Menschen hörten die Stimme des sich ihnen zuwendenden Gottes als eine menschliche. ʿAmmār erinnert in diesem Zusammenhang an Persönlichkeiten und Erzählungen, wie sie aus der hebräischen Bibel bekannt sind und auch in den Koran Eingang gefunden haben, und unterstreicht so die gemeinsame Grundlage der Offenbarung Gottes für Christen wie auch für Muslime.122 Die Offenbarung des einen Gottes wurde zur Überlieferungsgeschichte und schriftlichen Tradition von Juden, Christen und Muslimen gleichermaßen. Diese Offenbarungen Gottes an Israel als Wort und Anwesenheit in ihrem Heiligtum bei den Israeliten hat aber für eine vollkommene Gotteserkenntnis bei den Menschen nicht gereicht, die, so al-Baṣrī, eine konkretere Vorstellung ihres Gottes brauchen, um daran glauben zu können, weshalb die Menschen wieder vom Glauben an Gott abfielen.123 Die Offenbarung des transzendenten Gottes, der mit den Menschen durch seine Stimme und unkonkrete Anschauung in Kontakt tritt und auf diese Weise in der Geschichte der Menschen immanent wird, so die Aussage ʿAmmār al-Baṣrīs, reicht nicht aus, um die Menschen von der Erkenntnis des Wesens Gottes zu überzeugen. Hat ʿAmmār al-Baṣrī bis hierin in allgemeiner Weise unter Aufnahme sowohl biblischer als auch koranischer Motive das Thema der Offenbarung Gottes berührt und auf einem ge121 So zumindest Abū Huḍayl, a.a.O., 245. 122 Zu den Figuren der biblischen Urgeschichte Adam, Abel, Kain und Noah vgl. Gen 1–12 sowie die Suren 2,30–37 zu Adam; 5,27–30 zu Kain und Abel; 11,25–48 u. ö. zu Noah. Zu Abraham Gen 12– 25 (en passim) sowie die Suren 2,124–13; 3,33.65–68.84.95.97 u. ö. Bei Mose wird gegenüber dem allgemeinen Verweis auf die anderen biblischen Figuren auf die konkrete Offenbarung Gottes an Mose hingewiesen. Vgl. dazu Ex 3,1–4,17 und Sure 20,9–16 zur Berufung von Mose und Ex 33,7–11 und Sure 4,164, in denen ausdrücklich erwähnt wird, dass Gott mit Mose von Angesicht zu Angesicht gesprochen hat, was im Koran nur für Mose belegt ist. ʿAmmār al-Baṣrī unterstreicht diese besondere Anerkennung Moses im Koran mit dem ausdrücklichen Hinweis darauf, dass auch die Muslime diese Bedeutung Moses kennen, an dem die direkte Offenbarung Gottes an die Menschen deutlich wird. 123 Die weitere Geschichte der Israeliten mit Gott, der sich, so beschreibt es ʿAmmār al-Baṣrī, in ihrer Mitte durch die sog. Bundeslade (Ex 25,10–22; Num 10,35f u. ö.) und sein Heiligtum (Ex 35–40, bes. 40,34–38) vergegenwärtigt hat, ist vom Abfall von Gott und vom Unglauben geprägt. Im Hintergrund steht hier die Geschichte vom goldenen Kalb Ex 32 und das ständige Murren und der Abfall der Israeliten gegenüber Gott (Num 11; 25), wie es auch in Sure 2,47–59 geschildert wird.

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meinsamen Boden vorbereitet, so folgt in Abschnitt vier (66.9–22) eine ganz konkrete Auseinandersetzung mit der islamischen Theologie und den Inhalten des Korans, in denen alBaṣrī nichts Anderes erkennt als das Bedürfnis der Menschen nach einer Offenbarung Gottes, die eine vollkommene Erkenntnis des Wesens Gottes erlaubt. Die Ausführungen zur islamischen Gotteslehre sollen hier nur dazu dienen, aufzuzeigen, dass auch diese nichts anderes als das Bedürfnis der Menschen nach einer vollkommenen Offenbarung Gottes beweisen. Nennt ʿAmmār al-Baṣrī „denjenigen, der unserer Meinung (nach dem Bedürfnis der Erkenntnis Gottes, wie ʿAmmār es präsentiert hat) widerspricht“ (‫)ﻣﻦ ﺧﺎﻟﻒ ﻗﻮﻟﻨﺎ‬, zwar nicht, so wird doch anhand der Ausführungen zur Attributenlehre Gottes dieses unbekannten Adressaten schnell klar, dass es sich um einen Gelehrten der Muʿtazila, möglicherweise sogar Abū Huḍayl selbst handeln muss, der als erster Muʿtazilit über eine negative Theologie in der Beschreibung Gottes hinausgegangen ist.124 Die Attributenlehre, wie ʿAmmār sie hier präsentiert, zielt darauf ab, die Gott zugeschriebenen Eigenschaften des Hörens und Sehens, wie sie auch von Abū Huḍayl und im Koran genannt werden, als Gottes wesenseigene, mit ihm identische, aber zugleich nicht mit menschlichen Maßstäben vergleichbare Attribute zu beschreiben. Damit wahrt er die Einheit (‫ )ﺗﻮﺣﻴﺪ‬Gottes und seine Transzendenz und liegt genau in der Fluchtlinie der Gotteslehre von Abū Huḍayl, die Gott als den „ganz Anderen“ gegenüber der Welt beschreibt, der somit als nicht mehr für den Menschen begreifbar erscheint.125 Dass dieses Gottesbild des Abū Huḍayl für ʿAmmār nicht im Einklang mit der koranischen Überlieferung und damit der islamischen Theologie stehen kann, zeigt er, indem er eine Reihe von Aussagen des Korans über Gott auflistet, die, so al-Baṣrī, dessen Wesen mit eindeutig menschlichen Prädikaten beschreiben.126 Dieses Übergewicht an Anthropomorphismen Gottes ist für al-Baṣrī unvereinbar mit der Gotteslehre Huḍayls. Mit einem weiteren Verweis auf Sure 2,144, in der Gott die Gebetsrichtung der Muslime zur „heiligen Kultstätte“ – der Kaʿbah in Mekka – festlegt, unterstreicht er seine Argumentation zusätzlich, da für ihn diese Verse von nichts anderem als dem Ausdruck des menschlichen Bedürfnisses nach einem Ort der Manifestation Gottes zeugen, was er anschließend in etwas polemischer Weise näher ausführt. Weist der Koran als Wort Gottes an Muḥammad eindeutig jenen als den Urheber der Gebetsrichtung aus, beschreibt ʿAmmār al-Baṣrī hingegen, dass es allein Muḥammad war, der diesen Ort allererst als Ort Gottes ausgewiesen und den Menschen versichert habe, dass hier die Anwesenheit Gottes sei. Nicht hat Gott sich dort den Menschen erwiesen und so diesen Ort zu seinem Ort gemacht, sondern Muḥammad hat diesen Ort zum Ort Gottes erklärt. Damit beschreibt der Koran, resp. die sich auch darauf begründende islamische Theologie, für ʿAmmār – so die implizite Aussage – das Bedürfnis eines einzelnen Menschen, die konkrete Anwesenheit Gottes bei den Menschen erfahrbar zu machen. Denn im Gegensatz zur jüdisch-christlichen Offenbarung, in der Gott sich tatsächlich selbst – etwa in einem Strauch als Stimme – dem Mose offenbart hat, bleibt eine direkte Offenba124 Vgl. van Ess, Theologie, 272–276. 125 Vgl. ebd. Zum Hören Gottes, mit dem gleichzeitig auch immer seine Allwissenheit betont wird: Sure 2,127.224.244; 4,85 u. ö.; zum Sehen Gottes: Sure 2,96.110.233.237.265; 3,15.20 u. ö. 126 Allwissenheit (s. Anm. 134), Unvergesslichkeit im Sinne eines ewigen Gedenkens (19,64), Bürgschaft (16,91), Zorn (1,7; 8,16 u. ö.) und Wohlgefallen (5,119 u. ö.) Gottes.

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rung Gottes im Koran in der Geschichte der Menschen aus, weshalb die koranische Offenbarung Gottes im Gegensatz zur jüdisch-christlichen weniger glaubwürdig für die Menschen sei. Hätte Gott sich auch nach dem Koran in der Weise offenbart, so gesteht ʿAmmār zu, wäre der Unterschied in der Vorstellung Gottes nicht vorhanden. Dieser Unterschied allerdings ist so zentral, weil er das Wesen eines Gottes hervorhebt, der sich nicht scheut, sich den Menschen in Niedrigkeit zu offenbaren, wie er es in einem Strauch gegenüber Mose getan hat, was auch der Koran bezeugt und die Muslime deswegen eigentlich erkennen müssten. Durch den Hinweis auf die Niedrigkeit Gottes hat ʿAmmār sodann indirekt die Parallele zur Inkarnation Gottes in Jesus von Nazareth, der am Kreuz gestorben ist, aufgezeigt: Im letzten Abschnitt (67.1–8), einer Art Zusammenfassung seines Argumentes, ist sie die vollkommenste Offenbarung von Gottes Wesen und der stärkste Beweis seiner Existenz und seines Handelns in der Geschichte der Menschen. ʿAmmār Al-Baṣrī fasst zusammen, dass seine Ausführungen das Bedürfnis der Menschen nach der Offenbarung Gottes bei ihnen und seiner heilshaften Zuwendung für sie gezeigt haben. Und zwar sowohl auf Basis der vernunftgemäßen Argumentation als auch auf der Grundlage des jüdisch-christlichen sowie des koranischen Schrifttums. Daher muss nun anerkannt werden, dass die Offenbarung Gottes und sein Heilshandeln in Christus unumstößlich die vollkommenste Offenbarung Gottes darstellt, da es dem Bedürfnis der Menschen am besten gerecht wird und Gott deshalb aus Güte gegenüber ihnen diese Offenbarung in sich vollzogen hat, womit er Abū Huḍayls Idee der stets heilvollsten Tat Gottes aufgreift.127 Dennoch sagt ʿAmmār, dass seine Gegner, die Muslime, diese Offenbarung beständig auch auf Grundlage der Schriften und der Vernunft anzweifelten und Gottes Güte gegenüber ihnen, wie sie in Jesus Christus offenbar geworden ist, nicht anerkennen wollen. Die Tragweite dieses Ereignisses und dessen Notwendigkeit für die Menschen aufzuzeigen, war das Anliegen, das ʿAmmār in diesem Argument auf Grundlage der Schriften des Christentums wie des Islams und der Vernunft im Anschluss an die islamische Theologie zu verteidigen und zu plausibilisieren versucht hat. Diese Beweisführung aus ʿAmmār al-Baṣrīs Kitāb al-Burḥān veranschaulicht sehr gut, dass christliche wie muslimische Theologen im Denken der anderen religiösen Tradition sich bestens auskannten und in ihr argumentativ bewegen konnten, was zeigt, dass sich bis in die erste Hälfte des 9. Jh.s hinein zwischen christlichen und muslimischen Theologen bereits eine systematisch-theologische Debatte entwickelt hat, in die ʿAmmār mit seiner Herangehensweise eine neue Dimension eingetragen hat.128 Am ersten und längsten Argument des „Beweises der Inkarnation“ kommt die herausragende Bedeutung des gesamten Kitāb al-Burḥān besonders zur Geltung. Vor dem Hintergrund der islamischen Theologie wird die Inkarnationslehre der christlichen Dogmatik nicht nur durchdacht, um diese zu reflektieren und zu verteidigen, sondern darüber hinaus wird der Versuch unternommen, im Anschluss an die Sprache und die Denkweise der islamischen Theologie den christlichen Glauben für die muslimische Umwelt zu plausibilisieren.129 Und zwar so, dass die Bedingungen der Möglichkeit des christlichen Glaubens ar127 Vgl. van Ess, Theologie, 277f. 128 Vgl. Griffith, Theological Thought, 97; Thomas, Response, 281; Ders., Christianity, 240f. 129 Thomas, Christianity, 249, ist m. E. der einzige, der diese besondere Art der Darstellung ʿAmmār alBaṣrīs wenigstens anzudeuten scheint. Griffith, Kitāb al-Burḥān, 155–181, hingegen ordnet sein

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gumentativ begründet werden, also erst einmal versucht wird, zu erörtern, warum bestimmte christliche Lehren überhaupt formuliert werden und worin ihr tieferer Sinn liegt.130 Es geht nicht darum, die Möglichkeiten der argumentativen Darlegung der Lehre auszuloten, die an sich keinen Bezug mehr zum tieferen Sinn der Lehre an sich haben, sondern gerade um die Plausibilisierung ihres Grundes, der in der Heilsbedeutung der Inkarnation Gottes in Jesus von Nazareth verborgen liegt und den ʿAmmār al-Baṣrī in der Diskussion offensichtlich vermisst hat. ʿAmmār lässt sich darauf ein, in der Sprache und der theologischen Denkweise der islamischen Theologie die Inkarnationslehre so zu erläutern, dass das Gegenüber den Sinn dieser Lehren für den Menschen verstehen lernt und auf diese Weise – so die Idee ʿAmmār – nicht anders kann, als die Wahrheit der christlichen Religion letztendlich anzuerkennen.131 In dieser Ausrichtung liegt m. E. der Kern des Werkes verborgen, wie es der Auszug aus dem „Beweis der Inkarnation“ eindrücklich darstellt und damit den Höhepunkt des gesamten Kitāb al-Burḥān bildet.

6. Fazit Die Entwicklung zu einer eigenständigen, vom römisch-byzantinischen Reich unabhängigen Kirche der ostsyrischen Christenheit unter sassanidischer Herrschaft im Laufe des 4. und 5. Jh.s hat den Grundstein für eine weitestgehend friedliche Existenz der sich konsolidierenden ostsyrischen Kirche unter Aufbau einer einmaligen Gelehrtentradition und umfassenden Missionsarbeit gelegt, die die ostsyrischen Christen zur größten und einflussreichsten christlichen Konfession machen sollten. Als Tradenten des antiken griechischen Erbes und Gelehrte waren sie unter sassanidischer Herrschaft als Beamte und Diplomaten geschätzt und erwarben sich auch z.T. großes Ansehen bei der sassanidischen Elite. Diese Expertise in der Verwaltung und Beratung der Reichsangelegenheiten sollte ihnen auch unter der Herrschaft der arabischen Eroberer zu Gute kommen, die das sassanidische Reich im 7. Jh. ablösten. Zugleich ergaben sich durch die damit einhergehende Verbreitung des Islams auch gesellschaftliche Umbrüche, die maßgeblich in Form sogenannter Schutzverträge – zum Teil von der koranischen Überlieferung inspiriert – durchgesetzt wurden und die Christen zu Bürgern zweiter Klasse in einer von der arabischmuslimischen Elite dominierten Gesellschaft machten. Allerdings blühte – möglicherweise durch den äußeren Druck zu einer stärkeren inneren Konsolidierung veranlasst – unter der neuen Herrschaft das Missions- und Klosterwesen der Ostsyrer auf, und viele Christen waren auch unter ʾumayyadischer Herrschaft auf Grund ihrer Bildung als Schreiber, Beamte und Berater in der Verwaltung des Reiches unerlässlich. Aus diesem Kitāb al-Burḥān in die Reihe der christlichen Apologien arabischer Sprache ein, wie sie neben seinem Kitāb al-masāʾil wa-l-aǧwiba u. a. auch von Abū Qurra und Abū Rāʾiṭa formuliert wurden. 130 Dazu ʿAmmār al-Baṣrī, Kitāb al-Burḥān, 67.1–8. 131 Im Unterschied zur Argumentation ʿAmmār al-Baṣrīs vgl. Rissanen, Encounter, 61–70.179–190 u. ö., der hier die streng auf die Richtigkeit der formal-logischen Argumentation bedachten Traktate Abū Qurras und Abū Rāʾiṭas behandelt, die im Gegensatz zu ʿAmmār den ersten Grund der christlichen Lehre, das geschehene Heil der Menschheit in Jesus von Nazareth, in keiner Weise thematisieren. Diese Herangehensweise, die Plausibilisierung der christlichen Lehre von Grund auf, unterscheidet ʿAmmār in seiner Argumentation grundlegend von der seiner Zeitgenossen.

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Neben- und Miteinander von Christen und Muslimen entwickelten sich – von Ausnahmen abgesehen – unter ʾumayyadischer Herrschaft allerdings noch keine wechselseitigen interreligiösen Kontakte. Dies ist möglicherweise auf die vorrangig rein pragmatisch ausgerichtete Politik der ʾUmayyaden wie auch auf eine noch in ihren Anfängen steckende islamische Theologie zurückzuführen. Dies änderte sich jedoch mit dem Machtantritt der ʿAbbāsiden 750 n. Chr. Unter ihrer Führung kam es noch in der zweiten Hälfte des 8. Jh.s zu einer zentralisierten Reorganisation des Reiches, die zu einer wissenschaftlichen und kulturellen Blüte führte. Die ʿabbāsidischen Herrscher und das höfische Milieu, v. a. Baġdāds, forcierten die interkulturellen und -religiösen Kontakte im Bemühen um die Tradierung der wissenschaftlichen und kulturellen Schätze der anderen Religionen und Kulturen in ihrem Reich, was nicht zuletzt die von den Kalifen initiierte Übersetzungsbewegung eindrücklich beweist. Im Zuge dessen stiegen auch die Ostsyrer als Gelehrte und Überlieferer des antiken Wissens zu hohen Ehren am Hofe der ʿabbāsidischen Kalifen und bei den wohlhabenden Teilen der Gesellschaft auf: nicht nur als Schreiber, Ärzte und Beamte im Dienste des Herrscherhauses und der Verwaltung, sondern ebenso als Gelehrte und Theologen, wodurch sie eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung von Religion und Kultur gespielt haben. Das Interesse an den Christen lag nun nicht mehr allein in ihrem pragmatischen Nutzen verborgen, sondern die muslimischen Eliten wollten selbst an dem Wissen und der Bildung, das über Jahrhunderte hinweg in den Schulen der Ostsyrer tradiert wurde, teilhaben. Dieses verstärkte Interesse an den Bildungsgütern der Ostsyrer führte auch dazu, dass der interreligiöse Kontakt in Form von Dialogveranstaltungen von christlichen und muslimischen Gelehrten am Hof der Kalifen oder in Salons forciert wurde, wodurch die philosophisch-theologische Bildung der Ostsyrer zunehmend auch in die islamische Theologie Einzug erhielt und eine regelrechte Debattenkultur förderte, in der es v. a. die christliche Religion war, die sich in argumentativer Weise vor den Fragen der muslimischen Gelehrten rechtfertigen musste. Hiervon zeugen die vielen überlieferten Lehrdialoge der Ostsyrer aus dem 8. Jh. Über diese Dialoge fanden die Denk- und Argumentationsstrukturen der griechischen Philosophie und christlichen Theologie ihren Weg in das systematisch-theologische Denken der islamischen Theologie und hatte somit keinen geringen Anteil an der zunehmenden Profilierung der islamischen Dogmatik und der Entwicklung theologischer Schulen. Nicht zufällig sind gerade in frühʿabbāsidischer Zeit erste literarische Zeugnisse aus dem Umfeld der vom ʿabbāsidischen Kalifat gestützten Muʿtazila belegt, die mit ihrem streng rationalistischen Ansatz die Entwicklung einer systematischen Theologie maßgeblich beeinflusst hat und als einflussreichste theologische Schule der Zeit zu den größten Herausforderern der christlichen Theologie avancierte. Dass die Muʿtaziliten dann christlicherseits immer mehr als eine ernste theologische Herausforderung wahrgenommen wurden, zeigen die Anfänge der christlichen Theologie in arabischer Sprache am Ende des 8. Jh.s und die Zunahme der philosophischen Argumentationsfiguren und Dialektik in der Erläuterung christlicher Glaubensinhalte. Auf dem Boden der Dialoge und der griechischen Philosophie hat sich so eine gemeinsame Kultur der theologischen Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen entwickelt, die im 9. Jh. aber immer deutlicher vom Rechtfertigungsdruck der christlichen gegenüber den muslimischen Theologen geprägt war, die v. a. die Trinitäts- und Inkarnationslehre angriffen. Theologisches Schrifttum in arabischer Sprache wurde nun zur Regel und

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hatte damit nicht mehr nur die eigene Glaubensgemeinschaft im Blick, sondern war wenigstens implizit auch an die Adresse der muslimischen Gelehrten gerichtet. Eine theologische Debatte auf Augenhöhe war entstanden, in der nun nicht mehr die Christen den argumentativen Diskurs vorgaben, sondern die Muslime die christlichen Theologen vor die Aufgabe stellten, sich im Denken der islamischen Theologie bewegen und rechtfertigen zu müssen. In besonderer Weise hat dies der ostsyrische Theologe ʿAmmār al-Baṣrī (9. Jh.) in seinem Kitāb al-Burḥān getan mit dem Versuch, die Topoi der christlichen Dogmatik in die Sprache und Denkweise islamischer Theologie zu überführen. Über die Richtigkeit der rein formal-logisch korrekten Argumentationskette hinaus, die die Plausibilität der eigenen Religion verbürgt (und worauf auch Theodor Abū Qurras und Abū Rāʾiṭas Apologien maßgeblich aufbauen), versucht er das im Menschen Jesus von Nazareth geschehene Heilsereignis der Offenbarung Gottes, das allererst den Grund für die christliche Religion gelegt hat, als die von Gott größte je gegenüber den Menschen erwiesene Güte zu beweisen. Damit geht ʿAmmār al-Baṣrī in seinem „Beweis der Inkarnation“, dem Höhepunkt seines Kitāb al-Burḥān, hinter das reine formal-logische, apologetische Plausibilisieren von Trinitäts- und Inkarnationslehre im Gewand der griechischen Philosophie zurück und argumentiert mit den Denkfiguren der islamischen Theologie, v. a. unter Bezug auf den muʿtazilitischen Gelehrten Abū Huḍayl und der koranischen Überlieferung, gegen deren eigene Intention für die Heilsrelevanz des Christentums. Damit trägt ʿAmmār al-Baṣrī in die theologische Auseinandersetzung eine neue Dimension ein, die eindrücklich zeigt, wie sich aus dem beginnenden Interesse der Muslime an Bildung und Wissen der Ostsyrer in frühʿabbāsidischer Zeit über den interreligiösen Dialog eine eigenständige systematische islamische Theologie entwickelt hat. Diese hat in der theologischen Debatte mit den christlichen Theologen mehr und mehr auf jene selbst zurückgewirkt und mündete letztendlich im zu der Zeit singulären Versuch ʿAmmārs, im Modus der islamischen Theologie und koranischen Überlieferung für die Heilsrelevanz des Christentums zu argumentieren. Dieser Versuch stellt den vorläufigen Höhepunkt dar der vielschichtigen interreligiösen Wechselwirkungen zwischen ostsyrischen Christen und Muslimen in frühʿabbāsidischer Zeit, die den unabdingbaren Hintergrund für die weitere Entwicklung der islamischen wie christlichen Theologie im ʿabbāsidischen Reich bilden. Sie stehen darüber hinaus auch für ein die Zeiten überdauerndes Wagnis, sich je neu von der Denkweise der anderen Religionsgemeinschaft inspirieren und zum Dialog und theologischen Austausch anregen zu lassen, auch wenn dies bedeutet, sich dem Denken des Anderen auszusetzen und sich damit auch ein Stück weit verwundbar zu machen.

7. Übersetzung Übersetzung von ʿAmmār al-Baṣrīs Kitāb al-Burḥān in: M. Hayek, ʿAmmār al-Baṣrī. Apologie et Controverses, Buḥūṯ wa-dirāsāt maǧmūʿat dirāsāt šarqīya tunšaru bi-idārat Maʿhad al-Ādāb aš-Šarqīya 5, Beirut 1977, 64.15–67.8.

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64.15–17 „Der erste von ihnen.132 Es ist ihnen seine Weisheit und seine Gerechtigkeit und seine Liebe für seine Schöpfung in ihrer Beschaffenheit zu seiner Erkenntnis und zu seinem Beweis seiner Existenz bei ihnen offenbar. Doch wurde stets nicht erkannt, woher man erkennen und wie man verstehen sollte. Dabei zeugt jene [Gottes Schöpfung] ebenso von seiner Ökonomie133, aufgrund derer wir von seiner letztgültigen Offenbarwerdung im Leib unter uns berichten. Und ich sage: 64.18–65.9 Wahrlich, Gott ist mächtig und gewaltig. Er hat unserem Wesen seine Erkenntnis nicht eingeprägt, wie er in das, was kein Wort für ihn hat, eine Erkenntnis der Dinge eingeprägt hat, ohne ein Lernen von ihnen für sie. Das Beispiel der Biene, der eingeprägt wurde die Erkenntnis zur Sammlung des Honigs und die Herstellung ihrer Bienenstöcke, und sie veranlasst zu werden in ihnen.134 Und das Beispiel der Spinne, der eingeprägt wurde die Erkenntnis zum Bau ihres Hauses. Dieses135 ist, damit unser Lobpreis für seine Erkenntnis nicht wertlos wird, so wie der Lobpreis des Schafes für seine Sanftmut und seine Schweigsamkeit nichtig ist, weil es seine Natur ist. Und nichtig ist der Tadel des Schakalwolfs für seine Schlechtigkeit und (bösen) Absichten, weil es seine Beschaffenheit ist. Und hätte er unserem Wesen seine Erkenntnis eingeprägt, so würde er in uns gefunden werden, auch wenn einer nicht von ihm wüsste und ihn nicht erkennte, sodass es nicht einmal einen gäbe, der nicht von ihm wüsste und sich hinwenden würde zu anderer Erkenntnis. Damals war unser Wesen eines, und wir berufen uns hierbei darauf, dass unser Schöpfer sich selbst uns mitteilte, dadurch dass er uns zu seiner Erkenntnis rief und uns seinen Gottesdienst gebot, sodass er unbeschränkt an einem Ort, nein, vielmehr einem jeden Ort allumfassend war. Und er war (bei) sowohl allen Engeln als auch allen Menschen, wodurch unsere Sinne ihn geistig erfassen konnten. Da wir die Dinge üblicherweise außer durch sie nicht verstehen können und unser Verstand nur dasjenige erkennen kann, wohin sie ihn führen. Es haben sich aber viele über ein literarisches Werk gestritten, das ihn [den Verstand] auch führen soll. Jedoch ist es (so), dass wir es136 durch ihn erkannt haben. Denn für uns ist das richtiger, was sich unserem Verstand erschließt, wodurch nicht ein Ding unklar bleibt, auf das unsere Sinne stoßen. Denn wahrlich, das, was nicht in der Phantasie vorgestellt werden kann, wird in der Seele nicht eingeschrieben, und der Glaube daran ist eine große Bürde. Kaum existiert er, außer durch Kalām und den Zwang der Argumente, zu dem die Sinne ihn geführt haben.

132 133 134 135 136

‫ ﺍﺣﺪﻫﻤﺎ‬geht wahrscheinlich auf einen Editionsfehler zurück. Der Dual mag in Anbetracht der vier folgenden Gründe, die ʿAmmār al-Baṣrī aufzählt, keinen rechten Sinn ergeben, weshalb ich anstelle der Dualendung die Pluralendung ‫ ﺍﺣﺪﻫﻢ‬vorschlagen würde. Vgl. Anm. 99. Entweder meint es, dass die Bienen in den Bienenstöcken „werden“, also geboren werden, oder der Honig dort hergestellt wird. Beides ist grammatikalisch möglich. Diese Beispiele. Die Erschließung des Buches, der Offenbarung Gottes, funktioniert mittels des Verstandes, dessen sich der Mensch bedient. Nicht ist es umgekehrt, dass das Buch automatisch den Verstand leiten würde.

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65.10–15 Und wenn sie zu dem gelangt sind, woraus er Aufschluss erhalten hat und er [der Verstand] hat seine Wahrheit in deiner Seele angestrebt, und Du hast dich nicht um sie bemüht, wird sie in deiner Vorstellung zerfallen. Ihre Existenz bei Dir ist vernichtet. So kommt es vor, dass wir sehen, wie die Menschen über die Feststellung ihrer Körper bezüglich ihrer Wahrnehmung dieser durch ihre Sinne alle einer Meinung sind, doch streiten sie über ihre Seelen. Denn trotz der Erkennbarkeit ihrer Logik und ihrer zugrundeliegenden Ratio und ihrer Ökonomie und ihrer Nähe zu ihnen aufgrund ihrer Einwohnung in ihren Körpern können ihre Sinne sie nicht erfassen. Schließlich machte ein großer Teil von Menschen sie nichtig, da sie sie nicht identifizieren konnten, und formulierten eine Logik zugunsten ihrer Nichtigkeit. So stritten sich viele über ihre Angelegenheit, indem sie Verschiedenes über sie sagten, deren Nennung lang ist. 65.16–66.8 Und wahrlich, Gott, er ist gewaltig, Lob sei ihm, hat gewusst, dass ihn unsere Erkenntnis in unseren Seelen nicht begreifen kann und unser Gottesdienst weder lauter für ihn noch gefällig bei uns ist. Unsere Wahrnehmungen pflegten ihn nicht zu begreifen und unsere Vorstellungen pflegten ihn nicht zu erfassen, bis unsere Seelen Beruhigung finden in seiner Botschaft und der Zweifel an ihm in unseren Herzen verschwindet. Nur dadurch, dass er sich uns offenbart und zu uns spricht, können unsere Sinne ihn erfassen. Und er kann uns gebieten und verbieten und uns aufsuchen in seiner Hingabe an einem Ort, an dem nichts außer ihm ist. Unversehens pflegten wir nicht mehr imstande zu sein, ihn an einem jeden Ort zu verehren. Er sprach zu Adam und zu Abel und zu Kain und zu Noah und zu Abraham wie ein Mensch, gemäß dem, was die Tora berichtet. Und er gebot und verbot ihnen, und sie richteten sich nach ihm. Und er sprach zu Mose aus dem Strauch – ebenso berichten die, die anderer Meinung sind –, und er sprach zu ihm aus den Wolken, wie ein Mann mit seinem Freund spricht, wie es die Tora berichtet. Dann befahl er den Söhnen Israels außerdem die Errichtung eines Hauses aus Stein und einer Lade aus Holz, um in ihm Wohnung zu nehmen und zu ihnen aus ihm zu sprechen und um ihre Schlachtopfer zu empfangen, als ob er in ihm enthalten wäre. Und er nannte es sein Haus, weil es das Haus seines Eigentums war, (was) bekannt ist durch seine Mitteilung durch es, durch seine Einwohnung137 in jenem, damit ihre Blicke und ihre Vorstellungen und ihr Gottesdienst zu ihm streben können und ihre demütige Bitte bei ihm an dem einen Ort ist, so als ob er ein ihn Erfüllender wäre. Damit ihr Nachsuchen nicht an jedem Ort umherstreift, wie er es gefordert hat. Doch wurde es nicht verstanden. Da er nicht gesehen wurde und weder die Vorstellungen ihn greifen konnten, sodass er völlig erfasst und festgestellt werden konnte, noch sich etwas ereignete, worauf sie sich verlassen konnten, kehrten seine Nichtigkeit und der Unglaube an ihn zurück.138

137

Mit „Gottes Einwohnung“, der sog. šəchīnāh, wird Gottes Anwesenheit im Tempel, resp. zur Zeit des Mose im Zelt der Begegnung, ausgedrückt; vgl. Bertram Schmitz, Von der einen Religion des Alten Israel zu den drei Religionen Judentum, Christentum und Islam, Stuttgart 2009, 47. 138 Zur Rekapitulation der biblischen Geschichte vgl. Anm. 132.

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66.9–22 Wir aber haben einen wahrgenommen, der unserer Meinung widerspricht, der ihnen auf Autorität seiner Schrift von der Ökonomie Gottes in ihm berichtete – wodurch sie etwas Ähnliches machten –, durch das wir ihnen das Bedürfnis der Menschen nach jenem und die Ökonomie Gottes beschreiben. Nach ihrer Aussage: Gott sprach, dass er hörend ist, sehend ist und jenes nicht, weil er ein Gehör und Augenlicht hätte! Jedoch weil er zu den Menschen sprach, wodurch sie verstehen. Er hat sich selbst zugeschrieben die beiden Organe des Hörens und des Sehens, wobei er hoch erhaben ist über sie beide.139 Und ebenso ist jenes seine Aussage,140 dass er ein jedes Ding Kennender ist, dass ihm Vergessen und Bürgschaft und Zorn und Wohlgefallen und dergleichen mehr ist, von dem, was den Geschöpfen und des Schöpfers nicht würdig ist. Und ebenso ist jenes seine Aussage:141 Wahrlich, er hat ein Haus, von dem er ihnen befohlen hat, dass sie sich zu ihm hinwenden sollen, von jedem Ort, so als ob er in ihm wäre und kein anderer. Doch wurde das Haus erst durch die Einkehr seines Anhängers in es erkannt und (durch) sein Verständnis von ihm. Und er machte sie glauben, dass das Haus ihn umfasst, ja, dass er sich selbst bei ihnen erweist! So hat er das Bedürfnis der Menschen nach einem Orte, zu dem sie sich hinwenden können, der zu ihm in Beziehung setzt, sichtbar gemacht. Und hätte er zu ihnen geredet von jenem Haus aus oder zu ihrem Propheten (von jenem Haus aus) – wie er geredet hat zu Mose aus dem Strauch und geredet hat zu den Priestern der Israeliten aus der Lade –, wäre die Bezeugung seiner Gewissheit bei ihnen stärker und würde seine Güte und dass das Haus sein Haus ist bei ihnen besser beweisen. Oder hätte er sich in ihm offenbart und hätte durch es geredet, so wie er geredet hat ohne es, so gäbe es zwischen uns und zwischen ihnen, was unsere Vorstellung Gottes betrifft, keinen Unterschied, und es gäbe über es in jenem keine Mangelhaftigkeit. Und er hat zu Mose gesprochen, in dem er geringer war als jener, d.h. ein verächtlicher Strauch, unachtbar und unfruchtbar. 67.1–8 So haben wir ihnen durch es (dieses) das Bedürfnis der Menschen nach jenem und der Ökonomie Gottes deutlich gemacht, gemäß dem, was wir von ihm und der Angelegenheit derer, die uns widersprechen, durch jenes Beispiel beschrieben haben. Und es ist unentbehrlich für sie und unentbehrlich für alle Anhänger der Vernunft, die auf den Büchern ruhen, zu erkennen, dass die Offenbarung Gottes für die Menschen in einem Menschen von ihnen war (geschah), was am ehesten zu vergleichen ist mit seiner Güte, seinem Großmut und seinem Edelmut und am stärksten für die Bezeugung seiner Gewissheit und seiner Existenz bei ihnen ist und am klarsten für seine Wohltaten und seine Vertrauenswürdigkeit gegenüber ihnen durch seine Offenbarung in Gleichartigkeit eines Menschen und Gestalt eines menschlichen Wesens, und eines steinernen Hauses und einer hölzernen Lade und einem verächtlichen Strauch und Wolken und anderem als jenem ist (spricht). Und wahrlich, er hat beständig das getan, was am vorzüglichsten und am ehesten mit ihm zu vergleichen ist. 139 Im Zusammenhang des folgenden Textes handelt es sich hierbei wahrscheinlich um die Attributenlehre des Abū Huḍayl. Dazu oben S. 182f. 140 Es folgen Attribute Gottes aus der koranischen Überlieferung; vgl. dazu o. Anm. 134. 141 Dazu oben S. 183.

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Aber sie fragen uns nach der Gewissheit jener für sie anhand seiner Bücher und durch das, was für die Vernunft ersichtlich ist, obwohl er es getan hat, ohne sie zu tadeln. Ja, vielmehr hat er es getan zur Anerkennung dadurch, dass die Gnade in ihm war. So ist jenes für sie bewiesen, so dass für sie seine Annahme und der Glaube an ihn unentbehrlich sind.

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Orthodoxie und „versöhnte Verschiedenheit“ Zur Kompatibilität von orthodoxem und protestantischem Einheitsverständnis im ökumenischen Diskurs Dagmar Heller Einleitung Im ökumenischen Dialog spielt bekanntermaßen die Frage nach der Einheit der Kirchen eine zentrale Rolle. Es ist aber z.B. im deutschsprachigen Kontext unübersehbar, dass die Einheitsvorstellungen der römisch-katholischen Kirche und die Einheitsvorstellungen der evangelischen Kirchen landeskirchlicher Prägung1 unvereinbare Unterschiede aufweisen, die sich zum einen am Papstamt bzw. am Primat des Papstes und an der Frage der Konziliarität festmachen lassen. Beide Punkte wiederum rücken – auf einen ersten Blick hin jedenfalls – die evangelischen Kirchen in die Nähe der orthodoxen Kirchen, die ebenfalls den Jurisdiktionsprimat des Papstes ablehnen und Konziliarität ins Zentrum ihrer Ekklesiologie stellen.2 Im internationalen ökumenischen Dialog trat in den 1970er Jahren die Vorstellung von der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ als Einheitsmodell in den Vordergrund, das 1974 auf zwei Konsultationen durch die konfessionellen Weltbünde erarbeitet wurde.3 Dieses Modell versteht sich auf der Grundlage der „Einheitsformel“, die vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) auf seiner Vollversammlung 1961 in Neu-Delhi formuliert worden war. Dort sind als Eckpunkte für die Einheit der Kirchen das Bekenntnis des einen apostolischen Glaubens, die Verkündigung des einen Evangeliums, die Gemeinschaft in der einen Eucharistie, im geistlichen Amt, im Gebet und im Leben genannt.4 In Neu-Delhi war zwar 1

Ähnliches gilt auch für evangelische Kirchen freikirchlicher Prägung. In den hier nur kurz skizzierten Eingangsüberlegungen stehen jedoch die evangelischen Kirchen der lutherischen, reformierten und unierten Tradition im Vordergrund. 2 Vgl. dazu „Botschaft des Heiligen und Großen Konzils der Orthodoxen Kirche“ in: Synodos. Die offiziellen Dokumente des heiligen und Großen Konzils der Orthodoxen Kirche (Kreta, 18.–26. Juni 2016), Bonn 2018, 42–49, insbesondere Par. 1, 42f. 3 Vgl. Harding Meyer, „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. Hintergrund, Entstehung und Bedeutung des Gedankens, in: Ders., Versöhnte Verschiedenheit. Aufsätze zur ökumenischen Theologie I, Frankfurt/M.-Paderborn 1998, 101–119, 102. 4 Der gesamte Wortlaut der Einheitsformel von Neu Delhi: „Wir glauben, dass die Einheit, die zugleich Gottes Wille und seine Gabe an seine Kirche ist, sichtbar gemacht wird, indem alle an jedem Ort, die in Jesus Christus getauft sind und ihn als Herrn und Heiland bekennen, durch den Heiligen Geist in eine völlig verpflichtete Gemeinschaft geführt werden, die sich zu dem einen apostolischen Glauben bekennt, das eine Evangelium verkündigt, das eine Brot bricht, sich im gemeinsamen Gebet vereint und ein gemeinsames Leben führt, das sich in Zeugnis und Dienst an alle wendet. Sie sind zugleich vereint

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die überwiegende Mehrzahl der orthodoxen Kirchen5 mit beteiligt, hatte aber in einer Sondererklärung6 bereits angedeutet, dass sie das Problem der bestehenden Trennungen innerhalb der Christenheit und damit auch die Vorstellung von der Einheit anders verstehen, als die protestantischen Kirchen. Daher legt sich die Frage nahe, ob und inwieweit das Modell der versöhnten Verschiedenheit mit dem orthodoxen Verständnis von Einheit kompatibel ist. Ich werde im Folgenden zunächst kurz das Modell von der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ vorstellen, bevor ich in einem zweiten Schritt das orthodoxe Einheitsverständnis skizziere, wie es vor allem in einem Text der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) im Jahr 2000 dargelegt wurde, aber auch auf dem pan-orthodoxen Konzil 2016 in Kreta. In einem dritten Schritt werde ich zusammenfassend einen Vergleich zwischen beiden anstellen und der Frage genauer nachgehen, ob und inwieweit beide Vorstellungen kompatibel sind.

1. Das Einheitsmodell der „versöhnten Verschiedenheit“ Das Modell von der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ wurde in einem Diskussionspapier mit dem Titel „Die ökumenische Rolle der Konfessionellen Weltbünde in der einen ökumenischen Bewegung“7 dargelegt. Man nahm hier einen Fokus auf, der bei der Vollversammlung des ÖRK 1968 in Uppsala zum ersten Mal in den Blick gekommen war: Die Bedeutung der Verschiedenheit (diversity) für die Katholizität der Kirche.8 Harding Meyer nennt die dort auftretende Formulierung „Quest for Diversity“ (Ringen um Verschiedenheit) eine „geradezu revolutionäre Forderung“, weil hier deutlich werde, dass es „beim Bemühen um Einheit und Katholizität der Kirche nicht einfach um Überwindung der Verschiedenheiten“9 geht, sondern dass Einheit und Verschiedenheit zusammen gehören. Im mit der gesamten Christenheit an allen Orten und zu allen Zeiten in der Weise, dass Amt und Glieder von allen anerkannt werden und dass alle gemeinsam so handeln und sprechen können, wie es die gegebene Lage im Hinblick auf die Aufgaben erfordert, zu denen Gott sein Volk ruft.“, in: Willem A. Visser ‘t Hooft, Neu-Delhi 1961. Dokumentarbericht über die Dritte Vollversammlung des ÖRK, Stuttgart 1962, 130. 5 Bei der Vollversammlung 1961 traten die meisten orthodoxen Kirchen aus den Ländern des damaligen Ostblocks (Russische Orthodoxe Kirche, Rumänische Orthodoxe Kirche, Bulgarische Orthodoxe Kirche, Orthodoxe Kirche in Polen) dem ÖRK bei, nachdem die griechisch-sprachige Orthodoxie (Ökumenisches Patriarchat, Patriarchat von Jerusalem, Antiochien, Alexandrien, Zypern und die Kirche von Griechenland) Gründungsmitglieder gewesen waren. Die noch fehlenden autokephalen orthodoxen Kirchen traten 1962 (Georgien), 1965 (Serbien), 1966 (Slowakei und Tschechien) und 1994 (Albanien) dem ÖRK bei. 6 Orthodox Contribution to New Delhi Assembly, https://www.oikoumene.org/en/resources/documents/ wcc-programmes/ecumenical-movement-in-the-21st-century/member-churches/special-commission-onparticipation-of-orthodox-churches/first-plenary-meeting-documents-december-1999/orthodoxcontribution-to-new-delhi-assembly. 7 Veröffentlicht in Günther Gaßmann/Harding Meyer, Die Einheit der Kirche. Voraussetzungen und Gestalt, LWB-Report Nr. 15, Juni 1983, Genf, 29-34. 8 Bericht aus Uppsala 1968 – Offizieller Bericht über die vierte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Genf 1968, Bericht der Sektion I, Nr. 12f. 9 Meyer, Hintergrund, 105 (Hervorhebung im Original).

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genannten Diskussionspapier heißt es daher an der zentralen Stelle: „Wir erachten das vielgestaltige konfessionelle Erbe für legitim, weil sich die Wahrheit des einen Glaubens in der Geschichte in einer Vielzahl von Ausdruckformen äußert. Wir übersehen dabei nicht, dass solche Ausdrucksformen des Glaubens auch durch Irrtümer gekennzeichnet sind, die die Einheit der Kirche bedroht haben. Andererseits muss man sehen, dass ein Erbe legitim bleibt und bewahrt werden kann, wenn es in angemessener Weise in neue geschichtliche Situationen übertragen wird… In der offenen Begegnung mit dem Erbe anderer kann der Beitrag einer bestimmten Denomination seinen exklusiven Charakter verlieren.“10 Was an diesem Modell – laut Harding Meyer – neu ist im Gegensatz zu den bis dahin diskutierten Modellen wie der „organischen Union“11 und der Vorstellung von einer „konziliaren Gemeinschaft vereinigter Ortskirchen“12, ist die Tatsache, dass hier konfessionelle Verschiedenheiten explizit als legitim verstanden werden.13 Das heißt: „Auch wenn diese konfessionellen Verschiedenheiten in vergangenen geschichtlichen Situationen entstanden sind, sind sie doch in neue geschichtliche Situationen übertragbar und erweisen damit ihre Lebendigkeit. Auch wenn sie zumeist deutlich auf einen bestimmten geographischen, kulturellen und völkischen Ursprungsort bezogen sind, erweisen sie ihre Relevanz auch an anderen Orten und in anderen Kulturen und Völkern.“14 Die „Versöhnung“ der Konfessionen ist allerdings nur möglich, wenn sich die einzelnen Konfessionen wandeln und ändern. Meyer spricht hier von einer „Redefinition der Konfessionen im Gespräch“, „in der die Konfessionen ihre durch wechselseitige Abgrenzung und Polemik verursachten Verengungen und Einseitigkeiten verlieren und füreinander als legitime Ausprägungen christlichen Glaubens, Zeugnisses und Lebens erkennbar und anerkennbar werden.“15 Dieses Modell ist nicht nur eine Theorie geblieben, sondern hat in der Leuenberger Gemeinschaft, die inzwischen zur „Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa“ (GEKE) geworden ist, einen konkreten Ausdruck gefunden.

10 Diskussionspapier, in: Gaßmann/Meyer, Einheit, 33. 11 Die Einheitsvorstellung der „organischen Union“ stammt aus den Anfängen der ökumenischen Bewegung des 20. Jh.s und wurde lange als „Ideal“ der Einheitsmodelle (so z. B. auf der Zweiten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung 1937 in Edinburgh) verstanden. Es geht dabei um die Vereinigung der Kirchen in einen gemeinsamen „Organismus“, der nicht Uniformität bedeutet, sondern einem gesunden Körper mit seinen unterschiedlichen Gliedern vergleichbar ist. Vgl. dazu: „The Church’s Unity in Life and Worship“ aus dem Bericht der Zweiten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung 1937 in Edinburgh, in: Lukas Vischer (Hg.), A Documentary History of the Faith & Order Movement, St. Louis 1963, 63. 12 Das Modell der „konziliaren Gemeinschaft vereinigter Ortskirchen“ wurde 1973 von der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK entwickelt und von der Vollversammlung des ÖRK in Nairobi 1975 rezipiert. 13 Vgl. Meyer, Hintergrund, 110. Bei den Modellen der „organischen Union“ und der „konziliaren Gemeinschaft“ sind nur kontextbezogene Unterschiede legitim. 14 Meyer, Hintergrund, 112. 15 A.a.O., 113.

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2. Die orthodoxe Vorstellung von Einheit Auf der orthodoxen Seite gibt es nur wenige Überlegungen zur Einheit, die die verschiedenen Kirchen als Gegenstand dieser Einheit in den Blick nehmen und konkret darlegen würden, was die Erlangung der Einheit für die verschiedenen Kirchen bedeuten würde. Dies liegt an der Natur der orthodoxen Vorstellung von Einheit, wie im Folgenden deutlich wird. Diese Vorstellung wurde in jüngerer Zeit auf offizieller Ebene praktisch zum ersten Mal in einem Dokument der ROK aus dem Jahr 2000 deutlich, das unter dem Titel „Grundprinzipien der Beziehung der Russischen Orthodoxen Kirche zu Andersgläubigen“16 veröffentlicht wurde. Darin wird Einheit folgendermaßen begründet: „Die Einheit der Kirche – des Leibes Christi – gründet darin, dass sie ein Haupt hat, den Herrn Jesus Christus (Eph 5,23), und dass ein Heiliger Geist in ihr wirkt, der den Leib der Kirche belebt und all ihre Glieder mit Christus, ihrem Haupt, vereint.“17 Dieser Aussage geht die Feststellung voraus: „Die orthodoxe Kirche ist die wahre Kirche Christi, die von unserem Herrn und Retter selbst geschaffen ist, die Kirche, die vom Heiligen Geist gefestigt und erfüllt ist, die Kirche, über die der Retter selbst gesagt hat: ‚Ich werde meine Kirche bauen, und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen‘ (Mt 16,18). Sie ist die eine, heilige, allumfassende (katholische) und apostolische Kirche, Hüterin und Spenderin der Heiligen Sakramente in der ganzen Welt, ‚Säule und Feste der Wahrheit‘ (1 Tim 3,15).“ Dementsprechend wird die vorfindliche Situation der gleichzeitigen Existenz verschiedener Kirchen so verstanden: „Im Verlauf der christlichen Geschichte haben sich von der Einheit mit der orthodoxen Kirche nicht nur einzelne Christen, sondern auch ganze christliche Gemeinschaften abgespalten.“18 Gleichwohl wird festgestellt, dass abgespaltene Gruppen nicht vollständig der Gnade Gottes verlustig gegangen sind. Elemente, die bei den nicht-orthodoxen Kirchen auffindbar sind und diese Tatsache zeigen, sind „das Wort Gottes, der Glaube an Christus als Gott und Retter, der im Fleisch gekommen ist (1 Joh 1,1–2; 4,2.9), und aufrichtige Frömmigkeit“. Damit wird deutlich, dass die orthodoxe Kirche sich als die eine, von Jesus Christus gegründete Kirche versteht, während alle anderen Kirchen als Abspaltungen gesehen werden. Indirekt bedeutet dies für die Einheit der Kirchen, dass sie letztlich nur dann möglich ist, wenn alle Kirchen ‚orthodox‘ sind bzw. werden. Deutlicher wird dies noch im zweiten Kapitel des Dokuments, in dem dargestellt wird, wie die Einheit wiederhergestellt werden kann: Es handelt sich bei der Trennung der Kirchen um „eine Spaltung in der Glaubenserfahrung selbst, nicht nur in Lehrformulierungen“. Einheit ist deshalb erst dann wieder hergestellt, wenn „eine volle und aufrichtige Übereinstimmung in der eigentlichen Glaubenserfahrung und nicht nur in ihrem formalen Ausdruck erlangt ist.“19 Zur Einheit gehören daher „vor allem Einheit und Gemeinschaft in den Sakramenten.“ Und diese „kann nur verwirklicht werden in der Übereinstimmung der Gna-

16 17 18 19

Deutsche Fassung online unter: https://www.oki-regensburg.de/rok_oek.htm. Grundprinzipien, 1.2. A.a.O., 1.13. A.a.O., 2.11.

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denerfahrung und des Lebens, im Glauben der Kirche, in der Fülle des sakramentalen Lebens im Heiligen Geist.“20 Ähnlich wird im Dokument „Die Beziehungen der Orthodoxen Kirche zur übrigen christlichen Welt“21, das vom pan-orthodoxen Konzil in Kreta 2016 verabschiedet wurde, von der Einheit gesprochen. Dort werden als Kriterien für die Einheit die apostolische Sukzession und die patristische Tradition genannt: „Die Orthodoxe Kirche hat das Fundament ihrer Einheit in ihrer Gründung durch unseren Herrn Jesus Christus, in der Gemeinschaft der Heiligen Dreieinigkeit und in den Mysterien (Sakramenten). Diese Einheit drückt sich in der apostolischen Sukzession und in der patristischen Tradition aus und wird bis heute in ihr gelebt.“22 Auf dieser Grundlage ist es für die Orthodoxie unabdingbar für die Wiederherstellung der Einheit, dass die ekklesiologischen Fragen – d. h. die Sakramentenlehre, die Lehre von der Gnade, dem Priestertum und die Frage der apostolischen Sukzession – mit den anderen Kirchen einer „Klärung“23 zugeführt werden müssen. Hier bleibt zwar unklar, was mit dem Begriff „Klärung“ genau gemeint ist, aber im gesamten Zusammenhang legt sich die Interpretation nahe, dass es hier darum gehen soll, Übereinstimmung in den genannten Fragen herzustellen.

3. Überlegungen zur Kompatibilität beider Vorstellungen 3.1 Vordergründige Unvereinbarkeit Wenn man diese beiden skizzierten Auffassungen von kirchlicher Einheit miteinander vergleicht, wird relativ schnell deutlich, dass hier Positionen aufeinandertreffen, die nur schwer miteinander in Einklang zu bringen scheinen. Wenn man die orthodoxe Auffassung von Einheit mit dem „Diskussionspapier“ der konfessionellen Weltbünde von 1974 vergleicht, dann fällt in letzterem z.B. eine Stelle ins Auge, die dem orthodoxen Verständnis diametral gegenüber zu stehen scheint: „Darum bedürfen Einheit und Gemeinschaft unter den Kirchen nicht notwendig der Einheitlichkeit des Glaubens und der Kirchenverfassung, sondern können und müssen der Pluralität oder Verschiedenheit der Überzeugungen und Traditionen Raum geben…“24 Umgekehrt werden von orthodoxer Seite sämtliche Einheitsmodelle, die sich nicht auf die Einheit der orthodoxen Kirche beziehen, als unannehmbar bezeichnet. So bekennt sich z.B. die ROK zwar dazu, dass die Bemühung um eine Wiederherstellung der Einheit zu ihren Grundaufgaben gehört, bekräftigt aber, „dass die wahre Einheit nur im Schoß der einen, heiligen, allumfassenden und apostolischen Kirche möglich ist. Alle anderen ‚Modelle‘ der Einheit sind unannehmbar.“25 Der skizzierten evangelischen Position geht es darum, die konfessionellen Eigenarten zu bewahren, nicht nur die jeweils eigene, sondern auch gleichzeitig die der anderen Konfessi20 21 22 23 24 25

Grundprinzipien, 2.12. Abgedruckt in: Synodos, 57–66. A.a.O., Par. 2, 57. A.a.O., Par. 6, 58. Vgl. Meyer, Hintergrund, 108. Grundprinzipien 2.3, Wie oben gezeigt wurde, ist aber die „eine, heilige, allumfassende und apostolische Kirche“ die Orthodoxe Kirche.

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onen. Auf der orthodoxen Seite scheint es nur eine gültige Auffassung in Glaubensfragen zu geben. Dies bestätigt der rumänisch-orthodoxe Theologe Nicolae Manole, wenn er schreibt: „Nach orthodoxem Verständnis muss … die Übereinstimmung in den Dogmen und in der gemeinsamen Christuserfahrung hinzukommen (gemeint: zur Verbundenheit der Christen mit Christus und untereinander auf der Grundlage Christi selbst, DH) … Dementsprechend ist der volle dogmatische Konsens zur Voraussetzung der kirchlichen Einheit geworden.“26 3.2 Genauere Analyse der beiden Einheitsverständnisse Um genauer zu verstehen, inwieweit diese Beobachtungen tatsächlich eine absolute Inkompatibilität zum Ausdruck bringen oder ob nicht doch Annäherungen möglich sind, müssen die beiden Einheitskonzeptionen im Folgenden noch näher analysiert werden. Dazu ist zunächst die Entstehungsgeschichte des Modells der „versöhnten Verschiedenheit“ aufschlussreich: Dass Unterschiede in der einen Kirche möglich sind, darüber gab es eigentlich unter den Kirchen von Anfang der modernen Ökumenischen Bewegung an keinen Dissens. 1927 wurde z.B. auf der ersten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Lausanne formuliert: „Zur Einheit der Kirche gehört die Einheit im Glauben und in der Kirchenverfassung, aber Einheit bedeutet keine Gleichförmigkeit. Es muss Raum für verschiedene Typen der Gestaltung geben vorausgesetzt, dass die Dinge, welche die Einheit in dem garantieren, was wesentlich ist, unangetastet bleiben.“27 Die Frage ist deshalb, was wesentlich ist und in welchen Bereichen Unterschiede zugelassen sind. In der ökumenischen Diskussion der darauf folgenden Jahrzehnte schien man sich darauf zu einigen, dass „kontextuelle2 Unterschiede legitim sind, d.h. „kulturelle, geschichtliche, völkische oder gesellschaftliche Unterschiede“28, nicht aber Unterschiede im Glauben bzw. in der Lehre. Dementsprechend stand in der Arbeit der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK lange das Einheitsmodell einer „organischen Union“29 im Vordergrund. Dies war auch in der bereits genannten Einheitsformel von Neu-Delhi 1961 die Grundlage, wenn dort von der „Einheit aller Kirchen an einem Ort“ die Rede war. Hier war an eine „organische Union“ auf Ortsebene gedacht. Dabei war klar: „Die Einheit zu gewinnen bedeutet nichts Geringeres, als daß viele Formen des kirchlichen Lebens, wie wir sie kennen, sterben und wiedergeboren werden müssen.“30 Ähnlich wurde auf der Vollversammlung 1975 in Nairobi die „organische Union“ charakterisiert als „eine Art Tod, der die denominationelle Identität ihrer Mitglieder bedroht, aber sie ist ein Sterben, um reicheres Leben zu empfangen.“31 Gerade diese Vorstellung wurde von den konfessionellen Weltbünden, insbesondere dem Lutherischen Weltbund, als Bedrohung verstanden. Das Modell der „versöhnten Verschiedenheit“ ist daher in seinen Ursprüngen der Versuch, ein Gegenmodell zu den Überle26 Nicolae Manole, Ekklesiologische Perspektiven im Dialog zwischen den orthodoxen und reformatorischen Kirchen, Münster 2005, 14 (Hervorhebung DH). 27 Hermann Sasse (Hg.), Die Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung. Weltkonferenz in Lausanne, Berlin 1929, 544ff. 28 Vgl. Harding Meyer‚ „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. Eine Ökumenische Zielvorstellung. Ihre Absicht, Entstehung und Bedeutung, in: KuD 61/2015, 83–106, 86. 29 Vgl. Anm. 11. 30 Visser ‘t Hooft, Neu-Delhi 1961, 131. 31 Bericht aus Nairobi 1975. Offizieller Bericht, Frankfurt a.M. 1976, 30.

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gungen des ÖRK aufzustellen. Es geht den Weltbünden letztlich darum, dass konfessionelle Unterschiede nicht trennend sein müssen und deshalb konfessionelle, d.h. glaubens- und lehrmäßige Eigenarten nicht aufgegeben werden müssen. An dieser Stelle gibt es eine interessante Parallele auf orthodoxer Seite. Der rumänischorthodoxe Theologe Razvan Porumb hat in der Veröffentlichung seines Promotionsprojektes 2019 als Ansatz für eine ökumenische Theologie den Begriff „Koinonia of diversities“32 weiter entwickelt, der auf den ebenfalls rumänisch-orthodoxen Theologen Ioan Sauca33 zurückgeht. Aus seinen Ausführungen wird deutlich, dass die orthodoxe Reaktion auf die Einheitserklärung von Neu Delhi34 an derselben Stelle ansetzt wie das eben benannte Unbehagen der Konfessionellen Weltbünde, das die Entwicklung des Modells der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ in Gang setzte: Die Orthodoxen können die Vorstellung von einem „Tod“ ihres kirchlichen Lebens bzw. einer „Wiedergeburt“ der Kirche auf neue Weise nicht akzeptieren. Für sie geht es bei der Einheit der Kirchen um eine „Gemeinschaft ‚geheilter‘ Trennungen“35. Und ähnlich wie den evangelischen konfessionellen Weltbünden geht es, laut Porumb, den Orthodoxen darum, „dass alle Beteiligten – die Orthodoxen aber auch die anderen Christen, die ,zur Orthodoxie gerufen sind‘ – ihre Identität und Autonomie behalten.“36 Porumb macht deutlich, dass der Grund für eine solche Auffassung in der Idee der Komplementarität der verschiedenen vom Heiligen Geist der christlichen Welt verliehenen Gaben liegt, die in der orthodoxen Ekklesiologie angelegt ist.37 Er möchte dadurch die Orthodoxie dazu bringen, sich zu öffnen für weitere Gemeinschaften, und spricht in diesem Zusammenhang von einer möglichen „Versöhnung auf der Basis einer gemeinsamen Lehre“38. Die dabei bestehen bleibenden Unterschiede betreffen den „historischen, kulturellen, nationalen und lokalen Charakter der vielen kirchlichen Gemeinschaften, während sie erfolgreich eine volle Gemeinschaft in Christus erlangen, die in der sakramentalen Wirklichkeit der Eucharistie ihren Höhepunkt findet.“39 Hier deutet sich allerdings auch sofort ein Unterschied zwischen der evangelischen und der orthodoxen Auffassung von versöhnter Verschiedenheit an, der auch bereits im Unterschied zwischen dem frühen Einheitsverständnis im ÖRK und der Auffassung der konfessionellen Weltbünde aufgetreten war. Denn was bei Porumb bewahrt wird, ist der „historische, nationale und lokale Charakter“ der Kirchen, aber die „Lehre“ muss übereinstimmen. Mit anderen Worten: Aus evangelischer Sicht hält die Orthodoxe Kirche damit letztlich am Modell der „organischen Union“ fest.

32 Razvan Porumb, Orthodoxy and Ecumenism. Towards an Active Metanoia, Oxford et al. 2019, 202ff. 33 Ioan Sauca, ‚The Church Beyond our Boundaries‘, unveröffentlichte Vorlesung in Cambridge 2012, zitiert bei Porumb, 218f. 34 Vgl. Anm. 6. 35 Porumb, 221: „disversity within a communion ‚healed‘ of divisions‘“ (Übers. DH). 36 Ebd.: „an ecumenical reality where all actors – the Orthodox but also the other Christians ‚called to Orthodoxy‘ – retain their identity and autonomy“ (Übers. DH). 37 Ebd. 38 A.a.O., 222: „reconciliation on the basis of a common doctrine“ (Übers. DH). 39 Ebd.: „This diversity will preserve intact the historical, cultural, national and local character of the many Church communities, while succeeding to attain a plenary communion in Christ, ultimately around the sacramental reality of the Eucharist.“ (Übers. DH).

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3.3 Das Modell der „konziliaren Einheit“ Dieser grundlegende Unterschied wird noch einmal deutlicher in den Überlegungen des bereits zitierten orthodoxen Theologen Nicolae Manole, der sich speziell mit dem evangelischen Modell der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ aus orthodoxer Sicht befasst hat. Er kann zwar der Idee zustimmen, dass „jede Konfession ihre Eigenart behaupten“ darf,40 aber er vermisst eine Aussage darüber, wie die Versöhnung in Verschiedenheit geschehen soll: „…woran soll die Vielfalt gemessen werden? Oder soll die Einheit dem Zufall überlassen werden?“ Für das orthodoxe Denken ist – laut Manole – wichtig, dass „die Einheit der Kirche durch sichtbare ‚Instanzen‘ repräsentiert“ wird und „nicht strukturlos bleibt“41. Die Institution des altkirchlichen Bischofsamtes wird dabei von ihm hervorgehoben: Der Bischof „bringt …die quantitativ verstandene Einheit der Kirche (lokal wie universal) zum Ausdruck, auf der anderen Seite sorgt er als Hüter des Glaubens für die qualitative Dimension der Einheit.“42 Von Manole wird daher das Modell der „konziliaren Einheit“ bevorzugt. Dies entspricht der Tatsache, dass auch die orthodoxen Kirchen unter Einheit nicht eine Uniformität verstehen oder eine solche in ihrer inner-orthodoxen Einheit leben. Wir haben es hier mit 14 (15)43 autokephalen Kirchen zu tun, die sich selbst verwalten und eigenständig sind, jeweils ihr eigenes Oberhaupt bestimmen und in ihrer äußeren Erscheinung an verschiedenen Stellen durchaus unterschiedlich sind: in Sprache, Musik und manchen örtlichen Gepflogenheiten. Was sie eint, ist derselbe Glaube und damit dieselbe Lehre, die sich auf die Konzilsbeschlüsse der Alten Kirche und die Lehren der Kirchenväter beruft. Zentral ist dabei für das Verständnis der Einheit dieser selbstständigen Kirchen der Gedanke der Synodalität oder Konziliarität. Das heißt: Veränderungen, die die Einheit der Kirche betreffen, können nur durch gemeinsame Beschlüsse durchgeführt werden. Damit stellt sich als Rückfrage an die evangelische Seite, wie sie sich gegenüber dem Modell der „konziliaren Einheit“ positioniert. Von der Vollversammlung des ÖRK 1975 in Nairobi stammt die Idee der „konziliaren Gemeinschaft“44, die als eine Weiterentwicklung der Einheitsformel des ÖRK von Neu-Delhi verstanden wird.45 Laut Harding Meyer versteht sich die „versöhnte Verschiedenheit“ nicht „als ‚Gegenkonzept‘ zum Gedanken der ‚konziliaren‘ Gemeinschaft …, sondern vielmehr als dessen Korrektur oder Erweiterung an einem ganz bestimmten Punkte, nämlich dort, wo dieser Gedanke sich exklusiv an das Konzept der ‚organischen Union‘ zu binden scheint und darum nur in diesem Sinne ‚unierte Kirchen‘ …, nicht aber Konfessionskirchen als zu ‚konziliarer Gemeinschaft‘ fähig betrachtet.“46 40 41 42 43

Manole, Perspektiven, 380. Ebd. A.a.O., 381. Seit der Verleihung der Autokephalie an die neu gegründete Orthodoxe Kirche der Ukraine im Jahr 2019 durch den Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus gibt es innerhalb der Orthodoxie unterschiedliche Zählungen, da die neue Kirche der Ukraine (bisher) nicht von allen anderen orthodoxen Kirchen anerkannt wird. 44 Wenn auch die Terminologie hier nicht völlig übereinstimmt („konziliare Einheit“ bzw. „konziliare Gemeinschaft“), sind beide Konzeptionen m.E. vergleichbar in ihren Grundanliegen. 45 1973 von F&O entwickelt und in Nairobi 1975 rezipiert. 46 Meyer, Hintergrund, 117.

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Das heißt zusammengefasst: Für die orthodoxe Seite schließt das Modell der „konziliaren Einheit“ an die altkirchliche Auffassung von den Konzilien als wesentliches Strukturelement für die Einheit der Kirche an und ist damit auch verknüpft mit der Institution des Bischofsamtes. Für die evangelische Seite wird das Modell der „konziliaren Gemeinschaft“ korrekturbedürftig, weil es dem Modell der „organischen Union“ verhaftet bleibt.47 3.4 Die Frage nach der für die Einheit notwendigen Gemeinsamkeit Von orthodoxer Seite wird dem evangelischen Modell der „versöhnten Verschiedenheit“ vorgeworfen, darin bedürfe es zur Erlangung der Einheit keiner Veränderungen der Kirchen.48 An dieser Stelle muss das evangelische Konzept jedoch differenzierter betrachtet werden: Laut Harding Meyer muss man unterscheiden zwischen den „konfessionellen Affirmationen“ und den Verurteilungen der Lehren der jeweils anderen Konfessionen. „Alle Konfessionen [teilen] die grundlegenden Glaubensüberzeugungen der Gesamtchristenheit.“49 Die „konfessionellen Affirmationen“ „richten sich … an die ganze Christenheit, also an die ‚Ökumene‘ und möchten von ihr gehört und beherzigt werden“,50 sind also nicht als Abgrenzungen zu verstehen. Die Lehrverurteilungen hingegen, die einen abgrenzenden Charakter haben, können überprüft und „entkräftet“ werden,51 da sie viel stärker geschichtlich bedingt sind als die Lehraffirmationen. Die konfessionellen Unterschiede, die sich aus den Affirmationen, d.h. den positiven Glaubensformulierungen ergeben, werden auf die bereits im Neuen Testament festzustellenden Unterschiede einer paulinischen oder johanneischen oder lukanischen Theologie z.B. zurückgeführt. Die evangelische Seite kennt also einen allen Kirchen gemeinsamen Grund in den Glaubensüberzeugungen, die allerdings in einer unterschiedlichen Schwerpunktsetzung zu äußerlich unterschiedlichen Lehren führen. Aus den obigen Ausführungen ist deutlich, dass sich die orthodoxe Seite dieser Auffassung im Hinblick auf die evangelischen Kirchen nicht anschließen kann. Es gibt aber im orthodoxen Bereich ein interessantes Beispiel, welches an das Modell der „versöhnten Verschiedenheit“ erinnert und welches zeigt, dass es von orthodoxer Seite möglich ist, den gemeinsamen Glaubensgrund mit anderen Kirchen zu finden und anzuerkennen, ohne dass beide Seiten ihre Eigenarten aufgeben müssten. Ich spreche vom Dialog zwischen den orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition und den orientalisch-orthodoxen Kirchen Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre.52 Hier kamen die beteiligten Repräsentanten der betreffenden Kirchen zu dem Schluss: „Von unseren Vätern in Christus haben wir den einen Glauben und die eine apostolische Tradition geerbt, obwohl wir als Kirchen jahrhun47 48 49 50 51 52

Vgl. Meyer, Einheit, 87/88. So z.B. Manole, Perspektiven, 380. Meyer, a.a.O., 91. Ebd. A.a.O., 92. Die Vereinbarungen sind zu finden in: Kommuniqué der Gemischten Kommission für den theologischen Dialog zwischen der Orthodoxen Kirche und den Orientalisch-Orthodoxen (Vorchalkedonensischen) Kirchen Wadi-el-Natrun, 20.–24. Juni 1989, in: Harding Meyer/Damaskinos Papandreou/HansJörg Urban/Lukas Vischer (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 2 1982–1990, Paderborn/Frankfurt a.M. 1992 (= DWÜ 2), 298–301, und: Erklärung und Empfehlungen der Gemischten Kommission für den theologischen Dialog zwischen der Orthodoxen Kirche und den OrientalischOrthodoxen (Vorchalkedonensischen) Kirchen, Chambésy, 23.–28. September, 302–305.

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dertelang voneinander getrennt waren.“53 Oder noch deutlicher: „Im Licht unserer verabschiedeten Erklärung über die Christologie wie auch der oben aufgeführten gemeinsamen Aussagen haben wir nun klar verstanden, dass die beiden Familien stets denselben authentischen orthodoxen christologischen Glauben und die ungebrochene Kontinuität der apostolischen Tradition treu bewahrt haben, auch wenn christologische Termini in unterschiedlicher Weise angewandt wurden.“54 Im Hinblick auf die Unterschiede in der Christologie, die im 4. Jahrhundert zur gegenseitigen Verurteilung geführt hatten, stellt das Kommuniqué von 1989 fest: „Diejenigen unter uns, die von zwei Naturen in Christus sprechen, leugnen dadurch nicht deren ungetrennte und ungesonderte Einigung; und diejenigen unter uns, die von einer in Christus geeinten gott-menschlichen Natur sprechen, leugnen dadurch nicht die fortwährend dynamische Gegenwart des Göttlichen und des Menschlichen in Christus, unverwandelt und unvermischt.“55 Mit anderen Worten: In diesem Dialog wurde erkannt, dass die unterschiedlichen Lehren, die in der Vergangenheit zur Trennung beider Kirchenfamilien geführt hatten, sich nicht im Inhalt unterscheiden, sondern unterschiedliche Sprachregelungen für eine und dieselbe Sache sind. Es wurde erkannt, dass es sich um ein hermeneutisches Problem handelt. Deshalb konnte dann auch festgestellt werden, dass die Einheit zwischen diesen Kirchen wieder hergestellt werden könnte,56 ohne dass irgendeine Seite ihre dogmatischen Grundaussagen aufgeben müsste.57 Das ist ein Ansatz zu „versöhnter Verschiedenheit“ in der Hinsicht, dass – ähnlich wie im protestantischen Modell – beide Seiten ihre Glaubensaussagen behalten, aber sich gegenseitig anerkennen und in Gemeinschaft miteinander stehen. Überträgt man dieses Vorgehen auf den evangelisch-orthodoxen Dialog, dann wird deutlich: Es muss letztlich darum gehen, zu erkennen, inwieweit beide Seiten denselben Glauben haben, ihn aber in unterschiedlichen Kategorien oder Sprach- und Denkformen zum Ausdruck bringen. Daraus ergibt sich die konkrete Frage: Wie kann es gelingen, die „konfessionellen Affirmationen“ der evangelischen Kirchen als kompatibel mit den Lehren der Alten Kirche verständlich zu machen? Dabei stehen allerdings – im Gegensatz zum Dialog der Orthodoxen Kirche mit den Orientalisch-orthodoxen Kirchen – die Frage nach dem Bischofsamt und das Problem des Verständnisses der apostolischen Sukzession im Zentrum und stellen das zentrale, bis heute unüberwindbare Hindernis dar. Dennoch scheint mir, dass weiteres Nachdenken über die Einheit im Paradigma eines Modells der „versöhnten Verschiedenheit“ hilfreich sein könnte, da es – wie gezeigt – sowohl auf evangelischer als auch auf orthodoxer Seite parallele Ansätze dazu gibt.

53 54 55 56 57

Kommuniqué von 1989, DWÜ 2, 299 (Hervorhebung DH). Kommuniqué von 1990, DWÜ 2, 304. Kommuniqué von 1989, DWÜ 2, 300f. Vgl. die praktischen Schritte in „Erklärungen und Empfehlungen“ von 1990, DWÜ 2, 304. Meine Formulierungen stehen hier im Konjunktiv, weil bis heute die erwähnten Vorschläge zur Einheit zwischen beiden Kirchenfamilien nicht in die Praxis umgesetzt sind.

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Visions of Resettlement and Contested Belongings. Letters of Pavel Cicianov to Mar Shemʿon XVI Yoḥannan and Mar Yoḥannan of Urmia in the Context of Early Contacts between East Syriac Christianity and Imperial Russia Stanislau Paulau 1. Introduction The History of East Syriac Christianity in modern times is not least the history of migration and resettlement. One of the main landmarks of the history of transnational mobility of the East Syriac Christians in modern times was the establishment of contacts with the Russia Empire. In the course of the nineteenth and the early twentieth century, imperial Russia did not only actively engage – both politically and militarily – in northwestern Iran and the eastern Ottoman Empire, the region inhabited by the adherents of the Church of the East, but also become one of the principal destinations of migration of the East Syriac Christians. Thus, the nineteenth century witnessed the beginning of East Syrian migration from their ancestral regions as well as the advent of the idea of resettlement of the entire community, a precursor of the mass movement that would occur during and after World War I. The contribution begins with a discussion of the first encounters between East Syriac Christianity and imperial Russia in the late eighteenth century and highlights its importance for the ongoing debate about the emergence of modern Assyrianism, a concept that perceives the East Syriac Christians (or even all Syriac Christians) as descendants of the Assyrians of the ancient Near East. It then looks at the emergence of the vision of resettlement of the East Syriac community to imperial Russia in the early nineteenth century and analyzes how the competing ideas of belonging had been negotiated in this context. Special attention is given to the historical sources, namely the letters of Pavel Cicianov (1754–1806),1 the imperial Governor General of Georgia, addressed to the Head of the Church of the East, Mar Shemʿon XVI Yoḥannan (r. 1780–1820), and bishop of Urmia Mar Yoḥannan. These letters, written in 1805, are of considerable interest not least because they give a glimpse of the life of the Church of the East in a period about which information is very scarce.2 Therefore, one of the aims of this contribution is to make these historical documents available by publishing them along with an English translation. 1

In publications in the English language, his name is often being transliterated as “Tsitsianov”. However, in this paper the scholarly system for transliterating Russian is adopted. The same applies to all other Russian names in this contribution. 2 Cf. David Wilmshurst, The Ecclesiastical Organization of the Church of the East, 1318–1913, Leuven 2000, 6.

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2. Assyrianism and the First Encounters in the Aftermath of the Treaty of Georgievsk The initial contacts between the Russian state and the official representatives of the Church of the East can be traced back to the late eighteenth century, when the political landscape of the Caucasian region was shaken by a series of far-reaching transformations. As central authority in Iran collapsed in the eighteenth century, the ruler of the east Georgian kingdom of Kartli-Kakheti, Erekle II (r. 1744–1798), who had been a vassal of the Iranian shahs, began a diplomatic effort to put himself under Russian protection. The bilateral Treaty of Georgievsk signed on 24 July 1783 was the culmination of this process.3 The Russian Empire guaranteed eastern Georgia its territorial integrity and the continuation of its reigning Bagrationi dynasty in return for prerogatives in the conduct of Georgian foreign affairs. The presence of a Christian power directly to the north, in particular one that claimed a right of protection over Orthodox Christians in the Ottoman Empire, exerted a powerful attraction for East Syriac Christians living in Muslim-ruled territories. It was in the aftermath of the Treaty of Georgievsk that the first contacts between the East Syrians and imperial Russia took place. A remarkable source in this regard is the report of the Russian plenipotentiary in eastern Georgia, Prince Grigorij Potëmkin (1739– 1791), sent to Ekaterina II (r. 1762–1796) on 22 June 1874. Among other things, Potëmkin informs the Russian Empress about a request recently received from the Christians of “Nestorian confession”. According to his report, a certain Ilija, son of Sargošev, former malik in the Urmia Khanate, traveled to Tiflis, in order to ask for Russian protection for the members of the Church of the East: Полковник Бурнашов доносит о явшемся [sic!] у него в Тифлисе одном ассирианине, сыне бавшаго начальника потомков сея нации разсеянных в землях владениях хана Урумийскаго. Число деревень их тамо простирается до ста. А сверх того внутри границ турецких считается их семей до двадцати тысяч, которыя все будучи исповедания несторианскаго и имея собственнаго епископа, ищут избавления от ига настоящаго в сильной деснице Вашего И.[мператорскаго] В.[еличества].4 Colonel Burnašov reports about an Assyrian, who came to him in Tiflis, son of a former chief of the descendants of this nation scattered in the lands of the Urmian khan. The number of their villages there extends to one hundred. And besides that, within the Turkish borders there are up to twenty thousand families, all of whom, being of the Nestorian confession and having their own bishop, seek deliverance from the present yoke in the strong hand of your Imperial Majesty.5 3

Muriel Atkin, Russia and Iran, 1740–1829, Minneapolis 1980, 10–13; Maziar Behrooz, From Confidence to Apprehension. Early Iranian interaction with Russia, in: Stephanie Cronin, Iranian-Russian Encounters. Empires and Revolutions since 1800, London 2013, 49–67. 4 Russian State Military Historical Archive (Российский государственный военно-исторический архив), ф. 52. Г.А. Потемкин-Таврический, оп. 2, № 29, лл. 56–57 об. Published in: Anatoly Sazonov et al., Под стягом России. Сборник архивных документов, Moscow 1992, 253s. 5 Translation SP.

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The ambassador of the East Syriac Christians approached both the King Erekle II and the Colonel Stepan Burnašov (1743–1824), the official representative of the Russian imperial government in Georgia.6 On behalf of the Urmian community, he demanded either military aid to guard them within the Urmia Khanate or a permission for the entire community to resettle to Georgia. Although Potëmkin promised the Russian Empress to arrange further investigation on this matter, apparently no tangible results followed. A remarkable phenomenon that manifested itself in the context of this first encounter was the fact that the East Syriac Christians were perceived by the Russian officials as “Assyrians”. Whereas Potëmkin designated the ambassador of the East Syriac Christians from Urmia as an “Assyrian” (assirianin, “ассирианин”), Burnašov referred to the Urmian community of the East Syrians as to “the remaining descendants of the Assyrian empire” (“оставших [sic!] потомков ассирийской империи”).7 The fact that the idea of Assyrian lineage of the East Syrians can be found in the letters of the Russian officials in the late eighteenth century is of significant importance for the ongoing debate about the development of Assyrianism, a concept that holds that the East Syriac Christians (or even all Syriac Christians) are descendants of the Assyrians of the ancient Near East.8 So far, the emergence of the name “Assyrian” as designation of the East Syriac Christians in modern times had been linked with the Western missionaries, travelers and archeologists, who repeatedly expressed the idea of Assyrian origin of the East Syriac Christians starting from the midnineteenth century. Thus, summing up the research on this issue, Aaron M. Butts has recently pointed out9 that the first instances of the articulation of the connections of Syriac Christians with the ancient Assyrians can be found in such publications as the Narrative of a Residence in Koordistan, and on the Site of Ancient Nineveh (1836) by the British traveler Claudius James Rich (1787–1821),10 the Narrative of a Visit to the Syrian Jacobite Church 6 Nikolaj Dubrovin, Исторiя войн и владычества русскихъ на Кавказѣ, vol. 2, Saint Petersburg 1886, 33s. 7 Mkrtič Nersisjan (ed.), Армяно-русские отношения в XVIII веке. Сборник документов, vol. 4, Erevan 1990, 309. 8 For the current debate, see first of all: Adam H. Becker, Revival and Awakening. American Evangelical Missionaries in Iran and the Origins of Assyrian Nationalism, Chicago 2015; Heleen Murre-van den Berg, Syriac Identity in the Modern Era, in: Daniel King, The Syriac World, London 2019, 770–782; Aaron Butts, Assyrian Christians, in: Eckart Frahm, A Companion to Assyria, New York 2017, 599– 612; Jean Maurice Fiey, ‘Assyriens’ ou Araméens?, in: L’orient syrien 10 (1965), 141–160; Rudolf Macuch, Assyrians in Iran. I. The Assyrian Community (Āšūrīān) in Iran, in: Ehsan Yarshater, Encyclopædia Iranica, vol. 2.5, Berlin 1976, 817–822; Heleen L. Murre-van den Berg, From a Spoken to a Written Language. The Introduction and Development of Literary Urmia Aramaic in the Nineteenth Century (Leiden 1999), 35–38; John Joseph, The Modern Assyrians of the Middle East (Leiden 2000), 1–31; John Joseph, “Assyria and Syria: Synonyms?”, in: Journal of Assyrian Academic Studies 11 (1997), 37–43; Wolfhart Heinrichs, The Modern Assyrians – Name and Nation, in: Riccardo Contini, Semitica. Serta philological Constantino Tseretli dicata, Turin 1993, 99–114; James F. Coakley, Assyrians, in: Sebastian P. Brock et al., Gorgias Encyclopedic Dictionary of the Syriac Heritage. Electronic Edition, https://gedsh.bethmardutho.org/Assyrians. 9 Butts, Assyrian Christians, 602. 10 Claudius James Rich, Narrative of a Residence in Koordistan, and on the Site of Ancient Nineveh. With journal of a voyage down the Tigris to Bagdad and an account of a visit to Shirauz and Persepolis, vol. 1, London 1836, 120. However, in this case the term “Assyrian Christians” may refer solely to the geographic location.

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of Mesopotamia (1844) by the missionary Horatio Southgate (1812–1894),11 and the Nineveh and its Remains (1849) by the British traveler and archeologist Austen Henry Layard (1817–1894).12 The adoption of the name “Assyrian” by the East Syriac Christians themselves occurred only in the course of the second half of the nineteenth century, not least as a response to Western missionaries’, travelers’ and archeologists’ introduction of orientalist forms of knowledge.13 The fact that among Russian officials imaginatively the link between the East Syrian Christians and ancient Assyria already existed in the late eighteenth century suggests that the genealogy of Assyrianism is more complex than it has been envisioned until now. It is unclear whether Burnašov’s designation of the Urmian Christians as “Assyrians” (later repeated also by Potëmkin) was based upon his own speculations or whether it was malik’s son Ilija who claimed the Assyrian lineage of his community in his conversation with the representative of imperial Russia. At any rate, this episode demonstrates that the sources in the Russian language that so far have been neglected in the discussion about the emergence of Assyrianism can provide important insights into the matter and require further investigation.

3. Pavel Cicianov and the Unrealized Project of Resettlement The next stage of development of Russian relations between the East Syriac Christians and authorities of the Russian Empire took place in the reign of Aleksandr I (r. 1801–1825), who in September 1801 proclaimed the annexation of the kingdom of Kartli-Kakheti, transforming it into the Georgian Governorate of the Russian Empire, topping the Bagrationi dynasty and shipping most of the family off to Russia. The Russian Emperor named General Pavel Cicianov the Governor General of Georgia and Inspector of the Caucasian Line the following year.14 Cicianov descended from Georgian noble family of Ciciishvili who had fled to Russia in the time of Peter the Great. Thus, he could see himself as both a servant of the Russian Emperor and a Georgian patriot, holding that only Russian power could protect Georgia from Persians, Turks, mountain raiders and internal disunity. During 1804 and 1805 the Russian troops under Cicianov invaded Iran and secured the submission of several khans of the region, the most significant of whom was Ibrahim Khalil Khan (1732– 1806) of Qarabagh.15 The commenced Russo-Iranian War triggered the persecution of

11 Horatio Southgate, Narrative of a visit to the Syrian Jacobite church of Mesopotamia. With statements and reflections upon the present state of Christianity in Turkey, and the character and prospects of the eastern churches, New York 1844, 80. 12 Austen Henry Layard, Nineveh and its Remains. With an Account of a Visit to the Chaldaean Christians of Kurdistan, and the Yezidis, or Devil-warshippers; and an Enquiry into the Manners and Arts of the Ancient Assyrians, vol. 1, London 1849, 215s. 13 Becker, Revival, 300. 14 About the role of Cicianov in the consolidation of imperial power in Georgia, see Nikolas Gvosdev, Imperial Policies and Perspectives towards Georgia, 1760–1819, Basingstoke 2000, 99–116. 15 Behrooz, From Confidence to Apprehension, 56.

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Christians on the Iranian territories and hence also affected the East Syriac Christians living in the Urmia Khanate.16 It was against this background that the next encounter between East Syriac Christianity and Imperial Russia took place. Three documents from the Archive of the Main Directorate of the Caucasian Governorate provide information about the encounter of Pavel Cicianov with a representative of the East Syriac Christians that took place in March 1805.17 The first document is a dispatch of migdis Hurmuzis, son of Urmia’s malik Junus [Yonan],18 to Prince Cicianov.19 Hurmuzis was commissioned by all three Urmian maliks to travel to Tiflis and to plea for aid to Cicianov as the Russian imperial governor, since after the unsuccessful attempt to conquer Yerevan, undertaken by the Russian troops in summer 1804,20 Iranian persecution of the Urmian Christians increased dramatically, so that they had to fear for their very survival. The East Syriac Christians expressed the desire to resettle from Urmia to Georgia and asked for the permission to do so, as well as for protection through the Russian army during the process of resettlement. According to the vision of Hurmuzis, Cicianov was to send 300 Russian soldiers to Khoy, the city that was at one day’s distance from Urmia. In Khoy they would reunite with the Urmian Christians – their estimated number was 4000 families – and escort them with all their property and livestock to Georgia. Special attention is due for the idea of belonging expressed in the dispatch of migdis Hurmuzis. Remarkably, he refers to the Urmian Christians as belonging to the “Georgian faith”. Obviously, the notion of the “Georgian” – and hence “Orthodox” – faith was used in order to avoid unwanted associations with “Nestorianism” and as a consequence to suggest that the Urmian Christians and the Russians share the same faith. Another element that aimed at constructing the sense of the shared belonging in the Hurmuzis’ dispatch was assertion that the Urmian Christians pray to God in their churches, of which they have 120, for the Russian Emperor. Pavel Cicianov fully supported the idea of the resettlement of the East Syriac Christians to Georgia and wrote two letters in order to coordinate this process. The first one was addressed to “bishop Ioann, honorable maliks, as well as to the Ajsor people”, the second one to “the Ajsor Patriarch Pëtr”.21 The identification of “bishop Ioann” does not pose any obstacles – he was Mar Yoḥannan, one of the Urmian bishops of the Church of the East.22 Most probably he was the bishop of the Anzel diocese in the northeastern part of the Urmia

16 Atkin, Russia, 13. 17 These documents have been published by the Caucasian Archeographic Commission: Adolʹf Berže, Акты собранные Кавказскою Археографическою Коммиссiею, vol. 2, Tiflis 1868, 279–280. 18 The names are provided in accordance with the forms used in the sources reporting about this occurrence, all of which had been written in the Russian language. The Syriac forms of the names may have differed. 19 See the text of this document along with an English translation at the end of this contribution. 20 Atkin, Russia, 74–77. 21 See the text of these letters along with an English translation at the end of this contribution. 22 He is mentioned in a manuscript colophon of 1803 from Yangija. MS Cambridge Add. 2035. Wilmshurst, Ecclesiastical Organization, 319.

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plain, one of three large dioceses in the Urmian region in the early nineteenth century. Bishops of this large diocese traditionally took the name Yoḥannan.23 The question about “the Ajsor Patriarch Pëtr” is a bit more dubious, because the Church of the East had no Patriarch with such a name.24 Evidently, we are dealing with an instance of intercultural misunderstanding here. Since the acting Catholicos-Patriarch of the Church of the East, Yoḥannan, was from the Mar Shem‘on dynastic line on succession of office in 1780 he adopted the name Mar Shemʿon XVI Yoḥannan. This name change was attributed to the fact that the patriarch was thought to be the successor of Shem‘on Kepha— that is, the apostle Peter.25 Accordingly, Pavel Cicianov took the titular name of the East Syriac Patriarch Mar Shemʿon XVI Yoḥannan for his proper name and translated it into Russian, which resulted in the form “Pëtr”. The necessity to write two separate letters can be explained by the fact that it was only the East Syriac Christians living within the Urmia Khanate who expressed the wish to resettle to Georgia. Assuming that the resettlement of the Urmian Christians to Russia may lead to a way of persecutions of the remaining Christians, Cicianov offered to the head of the Church of the East to follow the same path and to move to Georgia along with the remaining East Syriac population of the region, whose estimated number was 16000 families. For a long period, there were two rival patriarchal lines within the Church of the East, the senior Eliya line with the residence in Alqosh and the junior Shemʿon line with the residence in Qudshanis in the mountains of Hakkari.26 However, when the last patriarch of the Eliya line died without successor in 1804, Mar Shemʿon XVI Yoḥannan became the sole Catholicos-Patriarch of the Church of the East.27 Thus, he had spiritual authority over the whole community of the East Syriac Christians and his endorsement of the resettlement project would undoubtedly be of high importance. Interestingly, Cicianov does not use the term “Assyrians” in order to designate the East Syriac Christians as it was the case among the Russian officials in the 1790s, but rather refers to them as to Ajsors (“айсоры”). As it appears, the Russian form Ajsor derives from the Armenian designation of Syriac Christians, Asori (ասորի). Another difference from the previously documented Russian attitude towards the East Syrians consists of the fact that Cicianov does not mark them as heterodox and does not use the term “Nestorians”. On the contrary, his letters highlight the idea of the shared religious belief of the East Syriac Christianity and Russian Orthodoxy. Nevertheless, the project of resettlement of the East Syriac Christians to Georgia was not carried out either in 1805, or in the next few years. Several factors might have prevented the realization of this vision. Firstly, Pavel Cicianov, the central figure on the side of the Russian imperial government behind the plan of the resettlement, was killed on 8 February 1806 during the ceremony of transferring the city of Baku to Russian rule after a successful

23 Wilmshurst, Ecclesiastical Organization, 312.318. 24 Cf. Heleen L. Murre-van den Berg, The Patriarchs of the Church of the East from the Fifteenth to Eighteenth Centuries, in: Hugoye. Journal of Syriac Studies 2 (1999), 235–264; David Wilmshurst, The Patriarchs of the Church of the East, in: David King, The Syriac World, London 2019, 799–805. 25 Becker, Revival, 55. 26 On patriarchal lines, see Murre-van den Berg, Patriarchs. 27 Wilmshurst, Ecclesiastical Organization, 316–319.

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siege.28 Secondly, in 1806 an outbreak of a plague epidemic struck the Caucasus, which could be a key reason for postponing the plan of migration. Finally, the ongoing military actions of the Russo-Iranian War could have made the implementation of such a large-scale project difficult.

4. Documents 4.1 Dispatch of migdis Hurmuzis, son of Urmia’s malik Junus [Yonan], to Prince Cicianov, 10 March chronicon 493 (1805) Georgian text29 ჩვენ ხოიზედ ერთის დღის სავალი იქითა ვდგევართ, ოთხი ათასი კომლი ქრისტიანენი ქართველთ სარწმუნოებისაგანნი ვართ; რა რომ ყოვლად მოწყალის ჴელმწიფის საფარველი საქართველოს მოეფინა, ჩვენში ას ოცი ეკკლესია არის, მარადის ყოვლად მოწყალეს ჴელმწიფეს ვავედრებთ ღმერთსა, ეგების ჩვენზედაც მოწყალება მოიღოს და გჳხსნას თათართაგან. თქვენ რომ ერევანს მობრძანდით და ყიზილ-ბაშთ თქვენი ძალ-გულ-მხნეობა ნახეს, ჩვენზედ უსასონი შეიქმნენ, მას დღეს აქეთ უარესი ცეცხლი მოგვიკიდეს, ქალსა გვართმევენ, სჯულსა, სარწმუნოებას გვაგინებენ და მუდამ სიკუდილსა და ავათ მოპყრობას გვექადებიან. იქ ურმულში სამი მელიქი არის. ერთი მელიქ ისაყა, მეორე მელიქ ისახან, მესამეც მამა ჩემია მელიქ იუნუზი. მოგეხსენებათ, იქიდამ წიგნის წარმოღება არ იქნება და ვერ შევიძლებთ, - თუ გამოგვიცხადდა, ერთიან ყალთანს გვიზმენ, იმ მელიქებმა ამისთჳს წიგნი ვერ გაახლეს და ჩემი თავი გაახლესთ და დიდის ვედრებითა გევედრებიან გვიშველეთ და ამდენი ქრისტიანნი დაგვიხსენით; აქ რომ ურუმელი ფაშა გახლავსთ, ისა_ხანის დის_წულია; თუ ეს ჩემი მოხსენება სიცრუითა იყოს, ჩვენ აქ შეგვინახეთ და ლუკმა-ლუკმა დაგვჭერით. Russian text30 Мы живемъ отъ Хоя въ разстоянiи одного дня; насъ 4,000 дымовъ христiанъ Грузинскаго исповѣданiя; съ тѣхъ поръ какъ надъ Грузiею распростерся покровъ всемилостиваго Государя, мы молимся о немъ Богу въ нашихъ церквахъ, коихъ у нас 120; какъ бы Онъ и намъ сдѣлалъ милость, избавивъ насъ отъ Татаръ. Когда вы изволили прибыть въ Эривань и красно-головые (Персiяне) извѣдали вашу силу и твердость, они стали къ намъ подозрительны и съ того дня мучатъ насъ жесточайшимъ огнемъ, отнимаютъ у насъ женъ и дочерей, ругаютъ нашу вѣру и постоянно угрожаютъ намъ смертiю и злымъ обращенiемъ. Въ Урмiи есть 3 мелика первый меликъ Исаакъ, второй меликъ Иса-ханъ, а третiй мой отецъ, меликъ Юнусъ. Сами изволите знать, письма оттуда нельзя отправить и не можемъ; если узнаютъ, раззорятъ насъ въ конецъ; оттого-то мелики тѣ не послали вамъ письма, а отправили меня; они съ великою мольбою умоляютъ васъ. Помогите и избавьте столько 28 Atkin, Russia, 129–130. 29 Berže, Акты, 279. 30 Ibid.

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Христiанъ. Находящiйся здѣcь нынѣ Урмiйскiй паша есть племянникъ Иса-хана; если этотъ мой докладъ окажется ложнымъ, то задержите насъ здѣсь и изрубите въ куски. English translation31 We live at one day’s distance from Khoy; we are 4,000 Christian families belonging to the Georgian confession. Since the protective cloak of the all-merciful Emperor spread over Georgia, we pray to God for him in our churches, of which we have 120, so that he would show mercy to us, delivering us from the Tatars. When you deigned to come to Erivan and the red-headed (Persians) experienced your strength and firmness, they became suspicious of us and from that day they torment us with the most severe fire, take away our wives and daughters, scold our faith and constantly threaten us with death and evil treatment. In Urmia there are three maliks, the first malik Isaac, the second malik Isa-khan, and the third, my father, malik Junus [Yonan]. As you might know, letters cannot be sent from there; if they find out, they will ruin us completely; that is why those maliks did not send you letters, but rather commissioned me. They appeal to you with a great plea, ‘Help and rescue so many Christians’. The pasha of Urmia who is now here is khan Isa’s nephew. If this report of mine turns out to be false, then detain us here and chop us into pieces. 4.2 Letter of Prince Cicianov to bishop Ioann [Yoḥannan], honorable maliks, as well as to the Ajsor people, 18 March 1805 Russian text32 Почтеннаго мелика Юнуса сынъ объявилъ мнѣ, главнокомандующему высокославными Россiйскими войсками и главноуправляющему отъ Каспiйскаго до Чернаго моря и отъ р. Волги до Аракса и Куры, что ваше преосвященство, вы, почтенные мелики и весь во Христа Спасителя исповѣдуемый Айсорскiй народъ просите меня, яко христiанскихъ войскъ начальника, дать вамъ помощь на освобожденiе изъ рукъ невѣрныхъ и дабы поселиться въ Грузiи, яко землѣ Россiи и ангелоподобному, всесильному, небесамъ равному Государю государей и христiанскому Императору принадлежащей; что помощь ciя состоять должна въ томъ, чтобъ 300 человѣкъ Россiйскаго войска пришли въ Хой, куда вы придете совсѣмъ своимъ семействомъ, имуществом и скотомъ. Да будетъ воля Всемогущаго Бога, единароднаго и прежде всѣхъ рожденнаго Его сына Христа Спасителя въ семъ дѣлѣ и намѣренiи вашихъ, но не словесное, а письменное объявленiе отъ всѣхъ васъ на Армянскомъ или Татарскомъ языкѣ о вашихъ нуждахъ потребно, – какъ и о томъ, сколько на помощь вашу въ Хой привести войска надлежитъ и о всемъ подробно; потомъ не излишне мнѣ здѣсь помянуть и о томъ, что по объявленiю сказаннаго меликова сына въ 4,000 домахъ состоящихъ, остающiеся Айсорскаго народа люди съ святымъ патрiархомъ и въ 16,000 домахъ состоящiе потерпятъ гоненiе и муки, чего для прилично-бы и ихъ призвать въ сообщество свое, тѣмъ паче, что большое число Урмiйскаго ханства освобождающихся удобнѣе могутъ себя защитить до соединенiя съ Россiйсимъ войскомъ въ Хоѣ. Жду отвѣта отъ братiй моихъ о Христѣ и прошу Его

31 Translation SP. The translation is done from the Russian version of the text. 32 Berže, Акты, 279–280.

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всесильную благость, да покроетъ васъ до преселленiя въ христiанскую землю щитомъ силы Своея святой, къ коему никакая рука не коснется. English translation33 Son of honorable malik Junus [Yonan] announced to me, the commander-in-chief of the glorious Russian troops and the main administrator of the realm from the Caspian Sea to the Black Sea and from the river Volga to the rivers Aras and Kura, that your Eminence, you, venerable maliks, as well as the whole Ajsor people, professing Christ the Savior, ask me, as the commander of a Christian army, to provide you with assistance to be released from the hands of the unwary and to settle down in Georgia, as the land belonging to Russia and to the angel-like, omnipotent, heaven’s equal sovereign of sovereigns and Christian Emperor; and that this assistance should consist in the fact that 300 men of the Russian army would come to Khoy, where you would come with all your families, property and livestock. May be done the will of the Almighty God, His only-begotten, begotten before all Son Christ the Saviour, concerning this matter and your intention. Required is a written, and not oral, message from all of you in the Armenian or Tatar language regarding your needs. Write how many troops should be led to your aid to Khoy, and how, and about all this in detail. Further, it would not be superfluously for me to mention here also the fact that according to the statement of the said malik’s son who represented 4,000 families, the remaining rest of the Ajsor people, 16,000 families together with the holy Patriarch, will suffer persecution and torment. Thus, it would be appropriate to invite them to join your group, all the more so because a large number of people fleeing the Urmia Khanate can better defend themselves until joining the Russian troops in Khoy. I am awaiting an answer from my brothers in Christ and ask His all-mighty goodness, may he protect you with the shield of His holy power, which no hand will touch, until you are resettled to the Christian land. 4.3 Letter of Prince Cicianov to the Ajsor Patriarch Pëtr [Mar Shemʿon XVI Yoḥannan], 20 March 1805 Russian text34 Зная, что в. святѣйшество со всею духовною паствою вашею претерпѣваете утѣсненiе отъ невѣрныхъ Персiянъ, не сомнѣваюсь я, чтобы вы не восхотѣли освободиться изъ ихъ невѣрныхъ рукъ и войти подъ покровъ всесильнаго и всемогущаго Государя государей христiанскаго Императора, вамъ единовѣрнаго, и буде в. Святѣйшество согласны со всею своею паствою поселиться въ Грузiи, яко землѣ Россiи и ея ангелоподобному Государю принадлежащей, то предлагаю вамъ со всѣмъ Айсорскимъ народомъ, паствѣ вашей ввѣреннымъ и въ 16 т[ысяч] домовъ состоящимъ, соединиться съ преосвященнымъ Iоанномъ, просившимъ меня чрезъ сына почтеннаго мелика Юнуса объ освобожденiи его съ 4,000 Айсоръ отъ ига невѣрныхъ. Къ сему я для того васъ призываю, что по единовѣрiю моему съ вами опасаюсь, дабы по уходѣ преосвященнаго Iоанна в. Преосвященство съ остающимся Айсорскимъ народомъ не потерпѣли отъ Персiянъ еще больше, и большее число изъ Урмiйскаго ханства освобождающихся удобнѣе могутъ себя защитить до соединенiя 33 Translation SP. 34 Berže, Акты, 280.

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съ Россiйскими войсками въ Хоѣ, коихъ я туда вышлю для принятiя в. святѣйшества и безопаснаго со всѣмъ народомъ препровожденiя въ Грузiю. На ciе ожидаю я письменнаго отъ васъ отвѣта и прошу всемогущаго Бога, да вселитъ въ васъ сiю мысль и, утвердивъ въ ономъ намѣренiи, да покроетъ васъ до преселенiя въ христiанскую землю щитомъ силы Своея святой, къ коему никакая рука не коснется. English translation35 Knowing that Your Holiness, with all your spiritual flock, endure oppression from the infidel Persians, I have no doubt that you would want to liberate yourself from their unfaithful hands and enter under the protection of the all-powerful and almighty sovereign of the sovereigns Christian Emperor, your coreligionist. Should your Holiness agree to settle with all the flock in Georgia, as the land belonging to Russia and to its angel-like sovereign, then I would propose you with all the Ajsor people, entrusted to your pastoral ministry and comprising 16,000 families, to join the Right Reverend Ioann [Yoḥannan], who asked me through the son of honorable malik Junus [Yonan] to release him with 4,000 Ajsors from the yoke of the infidels. I urge you to that because as your coreligionist I fear that upon the departure of the Right Reverend Ioann [Yoḥannan], your Holiness with the remaining Ajsor people might suffer from the Persians even more. Furthermore, a larger number of people fleeing the Urmia Khanate can better defend themselves until joining the Russian troops in Khoy, whom I will send there to receive your Holiness and to escort you safely with all the people to Georgia. Thereupon I am awaiting a written answer from you and ask the almighty God, may he imbue in you this thought and, having affirmed this intention, may he cover you with the shield of His holy power, which no hand will touch, until your resettlement into the Christian land.

35 Translation SP.

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Lernen in Begegnung nach einer ostsyrischen Legende aus der frühmittelalterlichen Apostolischen Kirche des Ostens1 Martin Tamcke Begegnung ist ein Schlüsselelement jeder Ökumene. Aber die Folgen solcher Begegnungen sind stets offen. Begegnung kann nicht nur Verstehen befördern, es kann auch Gräben des Missverstehens aufreißen. Oft sind die historischen Zeugnisse, fiktive wie faktische, zu den Begegnungen zwischen Vertretern der Kirchen nur sehr unzureichend erforscht, was auch darin begründet sein mag, dass sie fast immer Ausnahmegeschehen blieben. Tatsächlich fasziniert die Kenner der Theologiegeschichte immer wieder, was einer theologischen Tradition zugeschrieben wird und was nicht. Wer weiß schon, dass es bereits in den frühen Zeiten des Protestantismus bedeutende protestantische Theologen gab, die mit Überzeugung zölibatär lebten und bewusst ein monastisches Selbstverständnis pflegten (etwa Johann Georg Gichtel)?2 Wer nachsinnt über die Sophiologie in der orthodoxen Theologiegeschichte (Bulgakov, Solowjow)3, könnte dazu ebenso kommen, indem er über die Sophio1

In den 1970er Jahren während seiner Lehrtätigkeit als Professor in Göttingen (zuletzt auch Dekan, bevor er 1981 nach Marburg ging) hielt Wolfgang Hage Lehrveranstaltungen zu syrischen Texten ab, teilweise auch als Oberseminare. In einer dieser Lehrveranstaltungen brachte ich damals den hier vorliegenden Text zur gemeinsamen Lektüre und Übersetzung ein. Den Text aus meinen frühen Jahren in diesem Forschungsfeld möchte ich mehr als 40 Jahre später meinem Lehrer in dieser Festschrift nochmals vorlegen. Wolfgang Hage war mir nicht nur ein geduldiger Lehrer in den Sprachen, sondern auch jemand, der Verständnis für meine kirchliche Sozialisation und mein Interesse an Spiritualität aufbrachte. Er öffnete mir die Türen in die wissenschaftliche Gemeinschaft (Symposium Syriacum 1980 in Göttingen; World Syriac Conference). Und schließlich führte er mich auch auf das Feld der Ökumene (besonders in die Konsultationsgruppe der EKD mit den orientalisch-orthodoxen Kirchen). Der kleine Text hat mich dabei begleitet von den Anfängen damals bis heute – eine wohl typische Erfahrung mit ersten Schritten und Erfahrungen im Bereich der Wissenschaft. Möglich war dies aber nur, weil Wolfgang Hage so bereitwillig immer wieder unsere Anregungen in seinen Lehrveranstaltungen aufnahm und sich nicht scheute, Lehrveranstaltungen ganz den uns interessierenden Themen zu widmen. 2 Vgl. dazu erste Hinweise zur vielgestaltigen monastischen Tradition bei den Protestanten bei Walter Nigg, Heimliche Weisheit. Mystisches Leben in der evangelischen Christenheit, Zürich 1959=1992, beispielsweise zu Gichtels einschlägigen Gedanken dazu 206–213. 3 Zu Bulgakovs Konzeption kurz Leo Zander, Die Welt als Offenbarung der Weisheit Gottes. Die Sophiologie von Sergius Bulgakov, http://www.borisogleb.de/bulg11.htm (19.4.2020). Zur Kontroverse um seine Lehre vgl. https://www3.unifr.ch/sergij bulgakov/de/dokumentation/haeresievorwurf.html, die umfangreiche Materialsammlung bei der Forschungsstelle in Freiburg in der Schweiz, die freilich nicht mehr den Sichtweisen so sehr verpflichtet ist, die bis in die 1990er Jahre weithin aus dem Westen erfolgte und nun von der neueren russischen Forschung abgelöst wurde (es ist weiterhin lohnend, die ältere Forschung gegenzulesen); zu Wladimir Solowjow vgl. Martin George, Mystische und religiöse Erfahrung im Denken Vladimir Solov’evs, Göttingen 1988; Martin Tamcke, „Denn Glanz hat dieses verfälschte Gute übergenug“. Wladimir Solowjews Weg mit den Kirchen und der Kirche, in: Mariano

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logie Gichtels4 ins Nachdenken gerät. Fast immer findet sich das, was zur eigenen Tradition gerechnet wird, in irgendeiner Weise auch in der Tradition anderer Kirchen und Konfessionen. Damit wird nicht die Relativierung befördert, die alles zu verwaschen droht, was starke Impulse des je Eigenen sind. Als einen historischen Beleg solch konfessioneller Begegnung möchte ich einen Text der ostsyrischen Tradition vorstellen, der in Gestalt einer Legende byzantinische und ostsyrische – gemeint ist hier die Assyrische Apostolische Kirche des Ostens, also die Kirche östlich des Römischen Reiches bis hin nach China und Korea – Kirche auf eine Art und Weise miteinander ins Gespräch kommen lässt, die oberflächlich betrachtet weniger ein Austausch von theologischen Argumenten als vielmehr von religiösen Lebensentwürfen zu sein scheint. Und natürlich ist dieser Text aus ostsyrischer Perspektive geschrieben und hält daran fest, dass deren Wahrheitsgehalt höher sei als der der Reichskirche im Westen, in Byzanz. Diese Perspektive nehmen viele Texte der miteinander im Widerstreit liegenden Kirchen ein. Immerhin ist der Text der hier vorzustellenden Legende insofern darüberhinausgehend, als er dennoch immerhin ein Interaktionsgeschehen nachvollzieht, was einen eher seltenen Fall in den Texten zur interkonfessionellen Begegnung darstellt. Wie bei Legenden üblich, so geht es hier nicht um faktisches Geschehen, sondern um die Charakterisierung von historischen Gegebenheiten.5 Eine forschungsgeschichtliche Orientierung zum Text sei nur knapp angedeutet: Für die Erforschung der syrischsprachigen Literatur war Joseph Simon Assemanis epochales Werk „Bibliotheca Orientalis Clementino-Vaticana“ der Auslöser eines enthusiastischen Aufschwunges.6 Aber schon Zeitgenossen begannen mit der Kritik, der Verifikation und Falsifikation von Texten, Meinungen und Hypothesen, die das Werk enthielt.7 Im Band 3,2 – „De Syris Nestorianis“ – machte Assemani eine Mitteilung, die zu schönsten Hoffnungen unter historisch interessierten Forschern zu berechtigen schien, weil sie einem herausragenDelgado/Gotthard Fuchs, Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung III: Von der Aufklärung bis zur Gegenwart (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 4), Basel 99– 118; Ders., Art. Solovev, Vladimir Sergeevic, in: BBKL 10, 1995, 763–768. 4 Vgl. Nigg, Weisheit, 200–220; der Abschnitt trägt bei Nigg bezeichnenderweise den Titel „Das Geheimnis der göttlichen Sophia“. Gichtel ist hier nur exemplarisch für die Vertreter der monastischen Idee im Protestantismus zu nehmen, deren bekannteste Figur in der jüngeren Zeit ohne Frage Roger Schutz war, vgl. Andreas Stökl, Taizé. Geschichte und Leben der Brüder von Taizé, Hamburg 1975; Yves Chiron, Frère Roger – Gründer von Taizé. Eine Biografie, Regensburg 2009. 5 Grundsätzliche Orientierung zur Legendenforschung bietet auch die mittlerweile klassische Forschungsliteratur: Heinrich Günter, Psychologie der Legende, Freiburg 1949; Hellmut Rosenfeld, Legenden (Sammlung Metzler 9), Stuttgart 41982; Gerhard Haas, Legenden, Stuttgart 1986; Felix Karlinger, Legendenforschung. Aufgaben und Ergebnisse, Darmstadt 1986. Zu den historischen Hintergründen und dem Text ausführlicher vgl. Martin Tamcke, Eine Legende zum konfessionellen Selbstverständnis der Nestorianer, in: Wolfgang Röllig, XXII. Deutscher Orientalistentag vom 21. bis 25. März 1983 in Tübingen, Ausgewählte Vorträge, ZDMG.Suppl. VI 1985, 137–140. 6 Dazu fand in Rom 2019 ein internationales Symposium statt (The Christian East in the Latin West. Assemani’s Bibliotheca Orientalis [1719–2019] 300th Anniversary), dessen Beiträge in einem Sammelband bei Parole de l’Orient erscheinen werden; vgl. https://orientale.it/it/wp-content/uploads/2019/ 07/LOCAN-DINA_ASSEMANI_19_LUGLIO_2019_FINALE.pdf (19.4.2020). 7 Darum geht es auch in meinem Beitrag auf dem Symposium in Rom “How and Why German Protestant Theologians used Assemani’s Bibliotheca Orientalis”, der ebenfalls im Sammelband zum römischen Symposium erscheinen wird.

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den Katholikos-Patriarchen der Apostolischen Kirche des Ostens, Sabrischo‘ I. (596–604),8 die Abfassung einer Kirchengeschichte zuschrieb „Scripsit Historiam Ecclesiasticam“.9 Doch 158 Jahre nach Erscheinen des Bandes mit dieser aufhorchen lassenden Information desillusionierte der italienische Gelehrte Ignatius Guidi die Erwartungshaltungen mit der Veröffentlichung des von Assemani zitierten Textstückes (nur syrischer Text, ohne Übersetzung von Guidi). Der Text war alles andere als ein Teilstück einer Kirchengeschichte. Es war lediglich ein Text mit einer Geschichte zu Sabrischo‘, besser: Es handelte sich um eine Legende zu dem geschichtenumrankten Katholikos-Patriarchen der Apostolischen Kirche des Ostens. Guidi vermutete schlicht einen Lesefehler Assemanis.10 Das kann noch mit der späteren Auskunft Addai Schers differenziert werden, der für seine Annahme, Assemanis Fehlangabe resultiere aus der Überschrift des Textstückes, einige Plausibilität in Anspruch nehmen konnte.11 Der Text liegt in mehreren Handschriften vor und fand Eingang auch in die arabischsprachigen Texte der Apostolischen Kirche des Ostens.12 Was mag dazu geführt haben, dass dieser doch relativ kurze Text auch selbstständig überliefert wurde? Der Text berichtet von einer Begegnung, die auf historischen Fakten beruhen kann, aber nicht muss. Beeindruckend nimmt einen der Text in den Verlauf einer interkulturellen und interkonfessionellen Begegnung mit. Um die Dynamik des Textes zu markieren, setze ich die inhaltlichen Fortschritte in der Begegnung in der folgenden Übersetzung voneinander ab. „Es schickte Maurikios, der König der Römer, zu Mar Sabrischo‘, dem Katholikos, einen Bischof, einen vortrefflichen Mann, der Gott fürchtete. Und als er zu ihm hineinging, sah er ihn, während er auf einer Decke aus Ziegenhaar sich niedergelassen hatte und mit einem schlechten Rock und einer Kapuze auf seinem Kopf bekleidet war. // Und der Bischof sah ihn und glaubte ihn betreffend überhaupt nicht, dass er Katholikos sei. // Es sprachen zu ihm die Versammelten: ‚Siehe, dieser ist der Patriarch.‘ // Der Bischof aber war erstaunt und sagte: ‚Das ist der Patriarch?‘ // Und der Katholikos stellte sich auf seine Füße und erheiterte sich und sagte zum Bischof: ‚Gesegnet sei, mein Herr, großer Bischof, der das Vorsteheramt ehrenvoll ausführt in ansehnlichen und weichen Kleidern. Nun, so ziemt es sich, dass wir zitieren, wenn ihr befehlt, dass die ganze Ehre der Königstochter äußerlich ist und jene, die Seidenstoffe anziehen, in der Kirche sind?‘ // Und als der Bischof jenes hörte, bereute er, und sein Gesicht wurde rot vor Beschämung. // Und sie wünschten einander: ‚Frieden!‘ // ‚Ich will zufriedenstellen den Willen Deiner Heiligkeit: Nicht ist schön, dass dieser ganz unansehnliche Rock das Schema des Patriarchen ist.‘ // Es antwortete der Patriarch und sprach zu ihm: ‚Lass mich, mein Herr; ich bin keineswegs Patriarch!‘ // Und sie brachten zu ihm einen Knaben, dem eine Versuchung widerfahren war. Und des Kindes Rede war stumm. Und der Katholikos bezeichnete 8 Vgl. Martin Tamcke, Der Katholikos-Patriarch Sabrīšōꜥ I. (596–604) und das Mönchtum (EHS.T, 302), Frankfurt a.M. 1988, 9f. 9 Joseph Simon Assemani, Bibliotheca Orientalis Clementino-Vaticana 3,2 (De scriptoribus Syris Nestorianis), Rom 1728, 448. 10 Ignatius Guidi, Die Kirchengeschichte des Catholikos Sabriso I., in: ZDMG 1886, 559–561. 11 Addai Scher (Hg.), Histoire nestorienne inédite, in: PO V,2, 1908, 494, Anm. 5. 12 Arabische Version in der Chronik von Seert: Scher, ebd.

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es mit dem Kreuzeszeichen – mit seiner rechten Hand – und in dem Moment redete es deutlich. // Der Bischof aber war erschüttert und er war in Furcht und erhob seine Stimme und sprach zum Patriarchen: ‚Wahrhaftig, alle Herrlichkeit der Königstochter ist inwendig. Und jene, die Seidenstoffe anziehen, sind im Palast der Könige. Vergib mir!‘“13 Ehe wir dem Text mit historisch-kritischem Abstand und auf der Ebene möglicher Diskurse folgen, schreiten wir ihn einmal inhaltlich so ab, als wäre er ein Zeitdokument. Tatsächlich enthält der Text zahllose Hinweise, die eine historische Verortung erlauben. Immer wieder hatten die Herrscher des Römischen und des Persischen Reiches, die Kaiser der Byzantiner und die Schah-in-Schahs (Großkönige) der Sassaniden christliche Bischöfe genutzt, um auf diplomatischem Wege in politische Verhandlungen einzutreten.14 Das war auch zu Zeiten des Katholikos-Patriarchen Sabrischo‘ I. so. Normalerweise entsandten die oströmischen Kaiser Bischöfe zum sassanidischen Großkönig. In diesem Fall aber scheint es sich entweder um eine gesondert an den Kirchenführer auf iranischem Boden gerichtete Delegation gehandelt zu haben oder aber um eine Mission, die sich zwar an den Großkönig gerichtet hatte, zugleich aber auch die Chance zur Kontaktaufnahme mit dem KatholikosPatriarchen der Apostolischen Kirche des Ostens gesucht hatte oder gar zugleich auch Aufträge zu erfüllen hatte, die im ökumenischen, interkonfessionellen Kontakt zu verhandeln waren. Während der ostsyrische Katholikos-Patriarch eindeutig benannt wird, bleibt der oströmische Bischof namenlos. Was ihn auszeichnet, ist nicht sein Name oder sein Bistum. Ihm wird lediglich sein vorzüglicher Charakter bescheinigt, unterstrichen durch seine Frömmigkeit als einer gelebten Gottesfurcht. Mit Namen genannt hingegen wird der Herrscher der Byzantiner, der die Entsendung des Bischofs veranlasste: Maurikios.15 Während Sabrischo‘ in der späteren Hagiographie besonders durch seine schlichte Frömmigkeit und Innerlichkeit gekennzeichnet ist, die ihn politisch in schwere Zerreißproben führten, so ist der Hinweis für die Koexistenz der beiden spätantiken Supermächte ein Türöffner in den Bereich der Annäherung der beiden seit Jahrhunderten um den Vorderen Orient ringenden Mächte. Maurikios hatte den sassanidischen Großkönig unterstützt, als der von einem Usurpator seines Thrones ins Exil nach Byzanz gedrängt worden war, und ihm bei der Rückgewinnung seiner Macht im Sassanidenreich geholfen.16 Die Legende will zudem wissen, dass er dem Perser eine seiner Töchter zur Frau gab.17 Als dann Maurikios seinerseits 13 Text folgt hier der Veröffentlichung der Vatikanischen Handschrift bei Guidi, wurde aber mit den anderen Handschriften verglichen (Ms. Berl. 60/Sachau 132, Blatt 394b und Ms.or.fol. 3120, Blatt 323), vgl. Tamcke, Katholikos-Patriarch, 14f und 123. 14 Louis Sako, Le rôle de la hiérarchie Syriaque orientale dans les rapports diplomatiques entre la Perse et Byzance aux Ve–VIIe siècles, Paris 1986. 15 Franziska E. Shlosser, The Reign of the Emperor Maurikios (582–602). A reassessment (Historical Monographs 14), Athen 1994; Michael Whitby, The Emperor Maurice and his Historian. Theophylact Simocatta on Persian and Balkan Warfare, Oxford 1988. 16 Peter Riedlberger, Die Restauration von Chosroes II, in: Electrum 2, Krakau 1998, 161–175; James Howard-Johnston, Witnesses to a World Crisis. Historians and Histories of the Middle East in the Seventh Century, Oxford 2010; Geoffrey B. Greatrex, Khusro II and the Christians of his empire, in: Journal of the Canadian Society for Syriac Studies 3 (2003), 78–88. 17 Gegen diese Berichte der Quellen wendet sich: Wilhelm Baum, Schirin. Christin, Königin, Liebesmythos. Eine spätantike Frauengestalt; historische Realität und literarische Wirkung, Klagenfurt 2003.

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durch einen Usurpator gestürzt und grausam getötet wurde, führte das zum Feldzug der Perser gegen das Oströmische Reich, und fast der gesamte Vordere Orient, einschließlich Ägyptens und Palästinas, geriet unter persische Herrschaft. Die Angaben, die eine Datierung des Geschehens vorgeben, führen also in eine der turbulentesten Perioden spätantiker Weltgeschichte. Doch davon spricht der Text im Folgenden nicht. Stattdessen schrumpft die Perspektive auf ein Geschehen zwischen den beiden Kirchenmännern. Dabei beginnt er mit einem Kulturschock. Der integre Gesandte der Oströmer stößt auf einen für ihn befremdlichen Anblick. Gehören prachtvolle Gewänder zum Selbstverständnis der byzantinischen Kirche und des byzantinischen Hofes, so sieht sich der Oströmer hier mit dem Gegenteil konfrontiert. Da thront das Kirchenoberhaupt nicht während des Empfanges, sondern liegt. Und er liegt nicht auf wertvollen Fellen oder Teppichen, sondern auf einer ärmlichen Decke aus Ziegenhaar. Zu allem Überfluss ist er einerseits eindeutig monastisch gekleidet. Das aber nicht wenigstens in einem gepflegten Mönchsgewand, sondern in einem „schlechten Rock“. Ist das nun eine öffentliche Zurschaustellung der Geringschätzung des Byzantiners? Handelt es sich hier um einen bewusst herbeigeführten Affront? Tatsächlich gab es immer wieder Kirchenführer in der Kirche des Ostens, die in die Geschichte eingingen als geradezu verschwendungssüchtig. Im Blick auf Sabrischo‘ hingegen sind sich die historischen Quellen einig: Er lebte lange als Einsiedler, betont arm, bedürfnislos, wenig bedacht auf Zurschaustellung seiner Macht, die er eher erfolglos bei Befriedungsaktionen einzusetzen versuchte. Der Bischof kommt im Text zu einer verständlichen Schlussfolgerung: Er kann nicht glauben, dass dieser seinen kulturellen Gepflogenheiten so wenig entsprechende Empfang und die sich so wenig ihrem hohen Amt entsprechend darbietende Person das Oberhaupt der Kirche im Sassanidenreich ist. Seine Umgebung nimmt wahr, was ihn bewegt, und versichert ihm, dass es sich hierbei um den Patriarchen handele. Der Hinweis ist gut gemeint, aber er vermag nicht, die kulturellen Abgründe zu überbrücken. Jedenfalls muss der Oströmer nun einfach aussprechen, was ihn bewegte. Eine ungläubige Rückfrage seinerseits manifestiert seine Unfähigkeit, mit der Situation angemessen und taktvoll umzugehen. Ließe sich das Verhalten des Katholikos als wenig empathisch verstehen, so zeigt sich nun, dass das Verhalten des Oströmers nicht minder unempathisch ist. Die Begegnung scheint zum Scheitern verurteilt. Der Katholikos erkennt seine Chance. Jetzt ist er es, der die Initiative hat. Er zeigt sich amüsiert über die Orientierungslosigkeit seines Gegenübers. Als wolle er die veränderten Rollen auch äußerlich zur Darstellung bringen, so stellt der Katholikos sich nun aufrecht hin zum üblichen Segensgruß. Aber dabei belässt er es nicht. Er nimmt die in seiner byzantinischen Kultur befangene Haltung des Bischofs auf, indem er ihm zwar zugesteht, sein geistliches Amt ehrenvoll auszuführen, andererseits charakterisiert er die äußere Erscheinung des Oströmers anhand von dessen weichen und ansehnlichen Kleidern. Müsse er nun also auf äußere Schönheit setzen? Sind also diejenigen die rechten Repräsentanten der Kirche, deren Kleider aus Seidenstoffen gefertigt sind? Die rhetorischen Fragen zielen auf die innere Zustimmung des Angesprochenen. Und tatsächlich: Die Güte des oströmischen Bischofs und seine Ansprechbarkeit auf den Glauben hin erweisen sich in seiner Reaktion als nicht nur äußerlich. Schon als er die versteckte und nicht ganz faire Argumentation des Ostsyrers hört, empfindet er Reue. Er weiß also um den Widerspruch zwischen dem in seiner Kultur Üblichen und einem schlichten Glauben, der sich nahe am biblischen Urmodell

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empfand. Er empfindet den Widerspruch seines eigenen Frömmigkeitsentwurfes so stark, dass sein rotwerdendes Gesicht spricht, wofür er noch gar nicht Worte gefunden hatte. Doch die erneute Schieflage in der Begegnung wird aufgefangen durch das Ritual des gegenseitigen Friedenswunsches. Hier könnte nun die Geschichte enden. Gleichstand ist erreicht. Da entfährt dem Bischof das Angebot eines, der zu helfen sich in der Lage sieht. Ungebremst bleibt seine kulturelle Befangenheit wirksam. Obwohl der innere Gleichstand beider erreicht ist, stellt sich der Bischof erneut außerhalb, beurteilt das Gewand des Katholikos als unzureichend und bietet ihm das in Byzanz übliche Kleidergeschenk an. Dabei projiziert er sein Empfinden auf den anderen, dem er Unzufriedenheit mit dem ärmlichen Gewand unterstellt. Er könne nun dieses Empfinden beseitigen und den Willen des Katholikos befriedigen. Als ob der auch nur im Geringsten mit seiner äußeren Erscheinung unzufrieden war und sich gesehnt hätte nach schönerer und prachtvollerer Erscheinung, geht nun der Vertreter der Welt im Westen zu einem aktiven Hilfsangebot für den Hierarchen aus der Welt des Ostens über. Solche materielle Hilfe zerstört die Balance. Es gibt wieder ein oben und ein unten. Der Oströmer hat nichts gelernt. Die Situation erscheint erneut hoffnungslos. Nun ist der Katholikos als Vertreter des Ostens nicht mehr zur Verständigung bereit. Verärgert weist er zurück, der Patriarch zu sein. Das kann so gedeutet werden, dass ihm dieses Amt mehr eine äußere Zutat zu seinem Sein als Mönch war, es kann aber auch schlicht die Verweigerung sein, dem Bild eines Kirchenoberhauptes äußerlich entsprechen zu sollen, das sein Gegenüber an ihn heranträgt. Hier nun hilft nichts mehr. Das Spiel ist aus. Nach menschlichem Vermögen ist das Verhältnis nicht mehr zu heilen zwischen dem blinden Hilfsangebot des scheinbar Überlegenen und den leeren Händen seines Gegenübers. Tatsächlich wird diese Kluft nicht mehr in der beiderseitigen Interaktion überwunden, sondern durch der Legende liebstes Kind, dem Wunder, das der Glaube des Katholikos als Machterweis an einem stummen Knaben zu vollbringen vermag. Erst jetzt zeigt sich die Güte des Oströmers in voller Größe. Dieses klare Zeichen des die Wirklichkeit außer Kraft setzenden Glaubens trifft ihn ins Mark. Nun hat er nichts mehr vorzuweisen als seine Empfänglichkeit für das Glaubensgeschehen. Nun ist er nicht nur beschämt, nun ist er erschüttert. Aber er ist zugleich auch frei zum Eingeständnis, dass die Umwertung der Werte vornimmt. Und er zieht sich nicht zurück darauf, dass sein Verfehlen kontextgebunden war, dass seine Sicht und seine Werte nicht seine persönliche, individuelle Entscheidung waren, sondern seiner Kultur zuzuschreiben seien. Nein, anstatt sich hinter den Gebräuchen seiner Kultur zu verstecken, erhebt er gar seine Stimme und übernimmt die Schuld, die durch ihn geschah, ohne dass er sich ihrer bewusst gewesen war. Seine letzten Worte sind seine Bitte um Vergebung. Der Text ist ein Lehrstück der Interkulturalität und für die volkstümliche Verankerung konfessionellen Selbstverständnisses abseits der theologischen Streitfragen, die in beiden Kirchen identitätsstiftend wirkten. Der Text gehört zu jenen Versuchen der Ostsyrer, mit denen sie ihre Gleichrangigkeit gegenüber dem Westen, Byzanz vor allem, zu erweisen suchten. Sein Aussagegehalt zielt nicht auf historische Korrektheit, aber auf eine allgemeine Charakterisierung ökumenischer Begegnung. Die Wahrheitsfrage erscheint als Frage nach dem Lebensstil. Der Text hat, wie schon eingangs erwähnt, fortgewirkt in die christlich-arabische Literatur hinein und kann selbst bestenfalls kurz vor der islamischen Eroberung ent-

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standen sein. Das zwingt, ihn auch unter diesem Gesichtspunkt neu zu lesen. Auf Synoden musste die Apostolische Kirche des Ostens etwa gegen die Zurschaustellung des Reichtums ihrer Gläubigen im nunmehr muslimischen Kontext Maßnahmen ergreifen.18 So wurden etwa zu prachtvolle Trauergewänder verboten.19 Es galt, weder die Begehrlichkeiten der Muslime zu wecken noch unnötig mit äußeren Prozessionen den Glauben in herausfordernder oder gar selbstgefälliger Weise den Muslimen vor Augen zu stellen. Die gesamte christliche Bevölkerung von Metropolien konvertierte, wenn Steuerforderungen der Muslime zu einer untragbaren Belastung wurden.20 Statt hier im offenen Kampf mit den militärischen Siegern unterzugehen, arrangierten sich die Christen. Die Verinnerlichung schien der Weg, den äußerlich aussichtslosen Herausforderungen nicht zu erliegen, wenn auch da zuweilen deutlich wurde, dass sich mit der Verinnerlichung der Anspruch darauf einstellte, feiner und edler zu sein als die äußerlich robusteren Muslime.21 Und die ostsyrischen Christen, die mit solchen Texten den historischen Herausforderungen zu begegnen suchten, konnten die ihnen sich durch die Situation aufdrängenden Verhaltensweisen nutzen, um deutlich ihre Andersartigkeit im Blick auf die mit dem islamischen Weltreich im Krieg stehenden Byzantiner zu unterstreichen. Dazu wurden eben nicht nur theologische Argumente genutzt, bei denen jede der christlichen Konfessionen meinte, sich in ein den Muslimen besonders günstig erscheinendes Licht zu setzen mit dem Anspruch, den Muslimen besonders nahe zu sein.22 Der ohnehin beim abbasidischen Kalifen zum Vater der Christenheit avancierte Katholikos der Kirche des Ostens konnte zurückgreifen auf Argumentationsmuster, Mentalitäten und Verhaltensweisen, die den Muslimen in ihrem Streben nach Macht und Pracht zeigen sollten: Wir sind keine Gefahr für solches Streben. Wir sind anders. Wir setzen auf Innerlichkeit, setzen auf Wunder, setzen auf Schlichtheit, Armut, Demut und Entsagung. Dass ihre Kritik an den Byzantinern dabei auch einen geheimen Code transportierte, der in dieser Kritik an den Byzantinern Kritik an den Muslimen übte, gehört zu den versteckten Gewürzen mehrdeutiger Erzählungen, die im Gewand schlichter Eindeutigkeit daherkommen. Diese Art der Verarbeitung interreligiöser Spannungen erhielt den Christen den Anspruch auf Wahrheit, den sie äußerlich in ihrer Anpassung vielfach schon fahren gelassen zu haben schienen. Verheißung und Bürde für die künftige interreligiöse und interkonfessionelle Koexistenz zeigen sich hier. Was alte Annahmen zur Nähe von Protestanten und der Kirche des Ostens zu bestätigen scheint, ist hier aber die Art und Weise, in der die Argumentation sich als eine biblische 18 Knapper Hinweis: Herman G.B. Teule, Ghiwarghis I, in: David R. Thomas u.a., Christian Muslim Relations. A Bibliographical History 1 (690–900) (History of Christian-Muslim Relations 11), Leiden u. a. 2009, 151–153; vgl. Martin Tamcke, The Catholicos Ischo’jahb III and Giwargis and the Arabs, in: Ray Jabre Mouawad, Les Syriaques transmetteurs de civilisations. L’expérience de Bilad el-Sham à l’époque omeyyade. Patrimoine Syriaque, Actes du Colloque IX, Antélias u. a. 2005, 199–210. 19 So auf der Synode von Dirin. Zu ihr vgl. Catalin Popa, Giwargis I. (660–680). Ostsyrische Christologie in frühislamischer Zeit (GOF.S 50), Wiesbaden 2016, 45–53. 20 Vgl. Ovidiu Ioan, Muslime und Araber bei Iso’jahb III. (549–659) (GOF.S 37), Wiesbaden 2019, 100– 103. 21 Vgl. Martin Tamcke, „Wir sind nicht von Abrahams Samen“. Deutungen Abrahams in der ostsyrischen Literatur, in: Reinhard G. Kratz u. a. (hg. im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen), „Abraham, unser Vater“. Die gemeinsamen Wurzeln von Judentum, Christentum und Islam, Göttingen 2003, 112–132, hier 124–131. 22 Vgl. Ioan, Muslime und Araber, 114–122.

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versteht und ausweist. Biblischer Text kommt explizit an den Kernstellen des Geschehens zu Sprache. Dass biblischer Text nicht einfach zitiert wird, sondern dass selbst der Umstand, dass hier zitiert wird, Eingang in die wörtliche Rede eines der beiden Kirchenmänner findet, unterstreicht: Es geht nicht nur um Illustration anhand biblischer Textstellen, es geht vielmehr darum, auf die Schrift als entscheidend dafür zu verweisen, welcher der beiden Wege christlichen Lebens hier beanspruchen darf, sich in der rechten „Nachfolge“ zu befinden. Nachfolge und die Rechtmäßigkeit christlicher Lebensentwürfe erweisen sich an der Schrift, soll das heißen. Das Schriftargument wird vom Katholikos eingeführt, sozusagen als besonders gewichtig. Mittels des Schriftargumentes gelingt ihm, die kulturelle Überlegenheit des Oströmers zu entkräften. In bewusster Verkehrung des Sinngehaltes der biblischen Textstellen mokiert er sich über das Schriftverständnis des Oströmers, das hinter dessen Lebensweise zu stehen hätte. Dem Oströmer unterstellt er, er befehle ihm eine sinnverdrehende Zitation der Bibel, der gemäß die Herrlichkeit der Königstochter äußerlich sei und die, die Seidenstoffe trügen, in der Kirche seien. Der biblische Text zu den Zitaten findet sich in Ps 45,14 bzw. in Mt 11,8.23 Dieser Befehl wurde nicht ausgesprochen und findet sich nicht im Text der Geschichte. Er ist wortlos erteilt, wenn ein Anspruch auf Richtigkeit der Lebensführung die Richtigkeit eines anderen weder erkennt noch billigt. Stattdessen setzt er voraus, dass der andere Ansatz sich zu verändern habe gemäß dem an ihn herangetragenen. Zur Strukturierung des Textes gedeiht solche Zitierweise biblischen Textes dann aber erst dadurch, dass auch die weitere Textpassage in dieselben biblischen Worte mündet, hier nun korrekt auf die Innerlichkeit abhebend. Und dieses Mal ist es nicht der KatholikosPatriarch, der zitiert, sondern der oströmische Bischof. Er hat seine Lektion gelernt. Wie ein Schüler beim Erlernen biblischer Texte sie mündlich wiederholte, bis er sie richtig zu zitieren verstand, so besiegelt das zweite Zitieren der Bibelstellen den Lernerfolg des Schülers ebenso wie die erfolgreiche Lehre des Lehrers. Die innerlichen Weichenstellungen im Text erfolgen also anhand der Bibelzitate, des pervertierten ebenso wie des korrekten. Das korrekte Zitat lässt keinen Raum für eine weitere Dramaturgie als nur die zwei Worte umfassende Bitte um Vergebung, geäußert vom oströmischen Bischof in der 1. Person Singular, was in dieser Pointiertheit nur letzte Worte nach dem eigentlichen Erzählvorgang erlaubt. Spätere Leser sahen eben darin nicht nur den oströmischen Bischof sich aussprechen, sondern entweder auch sich selbst oder auch die als bedrängend empfundenen Menschen andersreligiöser oder anderskonfessioneller Gebundenheit. Jeder Satz des Textes hat seinen wohlbedachten Platz in der Dramaturgie, die beiden biblischen Zitate aber bilden die Struktur und den Grund für die im Text gestellte Wahrheitsfrage christlicher Lebensentwürfe. Es verwundert nicht, dass in der Heiligen Synode der Russischen Orthodoxen Kirche die bilderlosen und zu schlichten Kirchen der frisch mit ihnen unierten Ostsyrer in der UrmiaRegion nicht nur Befremden hervorriefen, sondern auch den Wunsch, diese Kirchen mit Ikonen auszustatten, sie prächtiger zu gestalten und umzubauen, damit sich Christentum hier nicht im Gewand der Ärmlichkeit im Erscheinungsbild der Städte im Nordwestiran zeige, sondern in den vermeintlich überzeugenderen Bauweisen der russischen Orthodo-

23 Tamcke, Katholikos-Patriarch, 55.

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xie.24 Dass entsprechende Bau- und Verschönerungsmaßnahmen dann auf wachsenden Widerstand der Ostsyrer stießen, die sich schließlich nach wenigen Jahrzehnten wieder von der russischen Orthodoxie abwandten, verwundert nicht. Dass aber russisch-orthodoxe Theologen in dieser Zeit erfolgreich Brücken für die Integration der Kernstücke der Theologie der Kirche des Ostens in die Theologie der Russischen Orthodoxen Kirche bauten, obwohl die in der Folge von Chalcedon Inbegriff dessen geworden war, was nicht akzeptabel erschien, scheint von heute her gesehen schwer zu glauben und dokumentiert: Die Gegensätze werden nie nur von einer Seite her überbrückt. Stets bedarf es da beider im Gespräch stehender Traditionen, um zu einem spirituell gegenseitig bereichernden Austausch und zu Gemeinsamkeiten zu kommen. Ohne Frage ist die Legende einseitig Partei ergreifend. Ohne Frage nimmt sie für sich in Wahrheitsfragen die Askese in Anspruch als Zeichen höherer Geistigkeit. Ohne Frage wird dies der byzantinischen Kirche in ihrer Prachtentfaltung hier abgesprochen. Anders als der byzantinische Bischof jedoch, der bis zuletzt offen bleibt für eine Korrektur seiner Lebensweise, ist dies für die assyrische Seite in der Begegnung keine Möglichkeit, weil ihre Armut ihr hier Grenzen setzte. Es darf trotz der eindeutigen Bezüge auf historische Größen gefragt werden, ob der Reiz des Textes nicht gerade in seiner Verallgemeinerungsfähigkeit liegt, ob also die vermutlich fiktive Interaktion nicht in vielfältiger Weise übertragbar ist auch in Kontexte hinein, die nicht in ihren narrativen oder historischen Details dem entsprechen, was der Text dazu gibt. Die in neueren Diskursen erörterte Frage nach der Realität des Fiktionalen und der Fiktionalität des Realen mag hier mit zu bedenken sein.25 Lehre in diesem Text auf der Ebene des Textes geschieht in Beziehung. Wolfgang Hage hat darum gewusst in Zeiten, als Theologie noch ein Massenstudienfach war.

24 Ernst Christoph Suttner, Die Union der sogenannten Nestorianer aus der Gegend von Urmia (Persien) mit der Russischen Orthodoxen Kirche, in: Ders., Kirche und Nationen, Würzburg 1997, 581–590 (zuerst: OstKSt 44, Würzburg 1995, 33-40); S.G. Wilson, Conversion of the Nestorians of Persia to the Russian Church, in: Missionary Review of the World NS 12, New York 1899, 745–752; David F. Abramtsov, The Assyrians of Persia and the Russian Orthodox Church, in: One Church 14 (1960), 155– 169; Martin Tamcke, Die Union der Apostolischen Kirche des Ostens mit der Russischen Orthodoxen Kirche aus der Sicht der „lutherischen Nestorianer“, in: ParOr 31 (2006), 411–421; Ders., Die Ambivalenz der Präsenz der Russen in Urmia. Anmerkungen zu einem neu aufgefundenen Brief des Lazarus Jaure aus dem Jahr 1912, in: FS Rev. Dr. Jacob Thekeparambil, The Harp XX, Kottayam 2006, 65–72. 25 Elena Esposito, Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Berlin 2007.

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Elements of the Maronite Christian Tradition in the Works of Gibran Khalil Gibran Lina Elhage-Mensching 1. Introduction Almost ninety-five years have elapsed since the publication of Gibran Khalil Gibran’s The Prophet,1 the work that would build his fame in the English-speaking world. At that time, the Lebanese-born Gibran Khalil Gibran (1883–1931), who had emigrated to the USA at the age of 12, was already known in Arabic-speaking regions for his works written in Arabic.2 This short book was the author’s third work written in English, following The Madman3 and The Forerunner4. Regarded as his masterpiece, The Prophet soon became a cult book with millions of copies sold since its publication and numerous translations into more than fifty languages,5 notably into Arabic,6 French,7 and German8 as early as 1925. Today it 1 2

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Kahlil Gibran, The Prophet, New York 1923. Eight works in Arabic had been published between 1905 and 1923, namely Nabḏah fī fann al-Mūsīqa (A small piece on the Art of Music), New York 1905; ʻArāʼis al-murūǧ (Nymphs of the Valley), New York 1906; Al-arwāḥ al-mutamarridah (Spirits Rebellious), New York 1908; Al-aǧniḥah al-mutakassirah (Broken Wings), New York 1912; Damʻah wa Ibtisāmah (A Tear and a Smile), New York 1914, Al-mawākib (The Processions), Cairo 1919; Al-ʻawāṣef (The Tempests), Cairo 1920; and Al-badāʼiʻ wal-ṭarāʼif (The New and The Marvelous), Cairo 1923. See among others Jean-Pierre Dahdah, Khalil Gibran. Une biographie, Paris 1994; Jean Gibran/ Kahlil Gibran, Kahlil Gibran. His Life and World, New York 1998; Suheil Bushrui/Joe Jenkins, Kahlil Gibran, Man and Poet. A New Biography, London 2008. Kahlil Gibran, The Madman. His Parables and Poems, New York 1918. Kahlil Gibran, The Forerunner, New York 1920. Cf. Sobhi Habchi, The Prophet [Le Prophète]: de la parole poétique à l'œuvre illustrée: une contribution à l’étude de l’imaginaire de G.K. Gibran, in: Revue de littérature comparée 315 (2005), 347–362, 347; Wail Hassan, Immigrant Narratives. Orientalism and Cultural Translation in Arab America and Arab British Literature, Oxford 2011, 60. Gibran Khalil Gibran, An-nabī, transl. by Archimandrite Anṭōnios Bašīr, Cairo 1926, was the first translation into Arabic, cf. Francesco Medici, Tracing Gibran’s footsteps. Unpublished and rare material, in: Henri Zoghaib/May Rihani, Gibran in the 21st Century Lebanon Message to the World. Papers of the 3rd International Conference held in Beirut, Lebanon, Beirut 2018, 93–145, 128. See also Aida Imangulieva, Gibran, Rihani & Naimy. East-West Interactions in Early Twentieth-Century Arab Literature, transl. by Robin Thomson, Oxford 2009, 76; Elizabeth Boosahda, Arab/American Faces and Voices. The Origins of an Immigrant Community, Austin 2010, 218. Le Prophète, transl. by Madeline Mason-Manheim, Paris 1926. Cf. Habchi, The Prophet, 347. Der Prophet, Deutsch von Georg-Eduard Freiherr von Stietencron, München 1925. Cf. Joachim Kügler, Perspektivenwechsel! Bibeltheologische Randbemerkungen zu einem pastoral-empirischen Projekt, in: Johannes Först/Joachim Kugler, Die unbekannte Mehrheit. Mit Taufe, Trauung und Bestattung durchs Leben?, Berlin 2010, 209–236, 218.

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even boasts more than a dozen different translations in some of these languages.9 Gibran’s life, work, and vision have been the subject of innumerable anthologies and studies, starting during his lifetime,10 intensifying in the 1970s and the 1980s with the publication of previously unknown letters and manuscripts by the author,11 and this interest in the author has continued to this day.12 In several publications, Gibran is referred to as a “Maronite author”, in scholarly work13 as well as in popular publications and media.14 This could simply refer to the fact that he was born into a Maronite family and baptized as a Maronite (chap. 2 will provide a “religious biography” of Gibran). But since his writings (as well as his paintings) are full of religious content, it could also mean that his Œuvre contains elements that are specific to the Maronite rite. Yet there is not much literature on this issue. It is mostly Daniel Larangé15 who supports this idea, as will be discussed in chap. 3. I will argue that this author fails to show such specific elements. In fact, studies of Gibran’s religious thinking16 do not seem to 9 Only into French, I counted sixteen different translations since the first one in 1926 by Madeline MasonManheim; see note 7. 10 Cf. Bushrui/Jenkins, Kahlil Gibran, 287. 11 Cf. Virginia Hilu, Beloved Prophet. The Love Letters of Kahlil Gibran and Mary Haskell and her private Journal, New York 1972; Suheil Bushrui/Salma al-Kuzbari (ed. and trans.), Blue Flame. The Love Letters of Kahlil Gibran and May Ziadah, Harlow 1983. 12 Cf. Paul-Gordon Chandler, In Search of a Prophet. A Spiritual Journey with Kahlil Gibran, Maryland 2017. 13 E.g., Mara Leichtman, From the cross (and crescent) to the cedar and back again. Transnational religion and politics among Lebanese Christians in Senegal, in: Anthropological Quarterly 86 (2013), 35–75, 55: “Maronite author, poet, artist, and philosopher Gibran Khalil Gibran”; Robert Fisk, Pity the Nation. Lebanon at War, Oxford 32003, 59: “[T]he Lebanese Maronite poet Khalil Gibran”; John Myhill, Language, Religion and National Identity in Europe and the Middle East, Amsterdam-Philadelphia 2006, as source of a quotation in the front matter of his book: “Khalil Gibran, Maronite poet”; Stefan Helmreich, Alien Ocean. Anthropological Voyages in Microbial Seas, Berkley-Los Angeles-London 2009, 172: “Maronite poet Khalil Gibran”; Xavier Baron, Histoire du Liban des origines à nos jours, Paris 2017, 104: “Il s’agit d’un écrivain maronite de l’émigration.” 14 E.g., the description of the film “The Crucified, written on the Holy Friday” from the book Al-ʻawāṣef written in Arabic by Khalil Gibran (https://www.youtube.com/watch?v=PLkRz9hyLvI, last consulted Oct. 13, 2019): “Lebanese Maronite writer”; Wikipedia entry of Khalil Gibran International Academy, an EnglishArabic public school in Brooklyn, New York City en.wikipedia.org/wiki/Khalil_Gibran _International_Academy (Oct. 14, 2019): “Lebanese-American Christian Maronite poet”; Shail Mayaram, Beirut: time for another requiem? in: The Hindu, August 11, 2006 www.thehindu.com/todays-paper/tpopinion/beirut-time-for-another-requiem/ article 18457620.ece (July 25, 2019): “[t]he Maronite poet, Khalil Gibran.” 15 Daniel Larangé, Poétique de la fable chez Khalil Gibran (1883–1931). Les avatars d’un genre littéraire et musical: le maqām, Paris 2005; Daniel Larangé, Écriture de la double culture et culture de la double écriture: The Madman (1918) de Khalil Gibran, in: Gibran K. Gibran. Pionnier de la Renaissance à venir (10 avril 1931–10 avril 2006), Beirut-Kaslik 2006, 175–193; Daniel Larangé, Modernité de la tradition et formation d’une tradition de la modernité. A partir de The Madman (1918) de Khalil Gibran, in: Caroline Andriot-Saillant, Paroles, langues et silences en héritage, Clermont-Ferrand 2009, 53–70; idem, Les Noces mystiques de l’Orient et de l’Occident selon l’évangile de Khalil Gibran, in: Studii şi cercetǎri filologice. Seria limbi romanice 15 (2014), 26–49. 16 E.g., Mechthild Kraemer, Die Gütekraft bei Khalil Gibran als Brücke zwischen Orient und Okzident, Marburg 2010; Jad Hatem, La mystique de Gibran et le supra-confessionnalisme religieux des chrétiens d’Orient, Paris 1999; Hussein Kneiber, L’Homme-Dieu vu par Gibran Khalil Gibran, Paris 1999; Afifa Ghaith, La pensée religieuse chez Gubran Halil Gubran et Mihail Nuayma, Leuven 1990. Especially see the following quotation from the summary of the thesis by Kneiber at www.theses.fr/1999PA030023 (Oct.

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suggest that such elements exist. The most methodical of his biographers, Jean-Pierre Dahdah, even states that Gibran himself had said in Boston, at 15 years of age, after having read the Classical Dictionary by Lemprière (1812): “I am no longer a Maronite: I am a pagan.”17 Furthermore, he defined himself as “Christian, Levantine, Oriental and Syro-Lebanese”.18 Should we therefore say that Gibran is wrongly classified as a Maronite author? My answer will be that this is not the case. I will argue that while some elements showing the influence of the Maronite rite can be found in his work (see chap. 4 on the person of Jesus), the epithet Maronite as applied to Gibran Khalil Gibran makes more sense from a sociocultural point of view. His birthplace Bšarri, overlooking the Qadīša Holy Valley,19 is the very nucleus of the Maronite faith, where it is difficult to separate religion from general life and culture. In the same line of thinking, most of Gibran’s characters are typical Maronite characters, as are many motifs that appear throughout his work (chap. 5). Yet another aspect: Gibran’s anticlerical criticism is first and foremost a criticism of the Maronite Church (chap. 6). But before going any further, a brief presentation of the Maronites is due. The Maronites owe their name to the patron saint of their Church, St Maron (ca. 350 – 410) or ‫( ﻣﺎﺭ ﻣﺎﺭﻭﻥ‬Mār Mārūn),20 an anchorite who led an ascetic life in the region of Cyr in Northern Syria and is commonly recognized as the founder of an original kind of eremitical life, based on living in the open air (hypethritic).21 Mārūn is first mentioned in Theodoret of Cyr’s Religious History,22 where Theodoret praised the godliness of the anchorite who lived on a hill and soon attracted a group of disciples. While there is no indication of the dates of birth or death of Mār Mārūn, scholars estimate that he lived at the turn of the fifth century CE.23 According to Paul Naaman, who researched primary and contemporary sources, Theodoret founded a monastery named after Mārūn in Apamea, under the emperor Marcian in 452 to support the decisions of the Council of Chalcedon (451).24 In the same period, Chris-

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14, 2019): “Etant donné l’impossibilité de classer la pensée de Gibran dans une catégorie précise, nous avons réservé la troisième partie pour déceler l’influence de la bible, de philosophes musulmans du moyen âge et enfin de penseurs européens des deux derniers siècles sur l’écrivain libanais.” Dahdah, Khalil Gibran, 81. Translated from the French “Je ne suis plus maronite, dorénavant je suis un païen” (L. E.-M.). Here, Dahdah cites Gibran/Gibran, Kahlil Gibran, 57, where the English version reads “I am no longer a Catholic: I am a pagan.” Khalil Gibran, Mon Liban followed by Satan, transl. by Anne Juni, Rennes 2000, 13. For details on the Qadīša Valley, which is listed on the Unesco World Heritage List as “one of the most important early Christian monastic settlements in the world,” see Paul Sfeir/Guida Hourani, The Maronite Hermits: from the fourth to the twentieth century, in: Journal of Maronite Studies 3 (1999), see http://maronite-institute.org/MARI/JMS/october99/The_Maronite_ Hermits.htm (Oct. 14, 2019); Guida Hourani/Antoine Habchi, The Maronite eremitical tradition: A contemporary revival, in: Heythrop Journal 45 (2004), 451–465; and the article by Rania Raad Tawk, Liban: sur les traces des premiers chrétiens d’Orient à Qannoubine, in: L’Orient-Le Jour, May 27, 2015, see www.lorientlejour.com/ article/926823/sur-les-traces-des-premiers-chretiens-dorient-a-qannoubine.html (Oct. 14, 2019). Mār being the word in Syriac for Lord, and the word used by the Maronite Church for bishops and saints. Cf. Louis Hage, Preface, in: Karam Rizk, The Maronite Encyclopedia I, Kaslik 1992, xiv. Cf. Paul Naaman, The Maronites. The Origins of an Antiochene Church. A Historical and Geographical Study of the Fifth to Seventh Centuries, Minnesota 2009, 36–37. Cf. ibid., 53. Cf. ibid., 152.

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tological controversies divided the Christians. The Jacobite persecutions25 and the Arab conquest of Syria in 634 finally forced the Maronites to seek refuge in the relatively inaccessible valleys and mountains of Lebanon, where they mixed with the natives and established a single community.26 They appointed their own patriarch in 685, thereafter establishing the Maronite Church.27 Since that time and despite its union with Rome in 1182, this oriental Antiochene Church has succeeded in remaining autocephalous, preserving its identity, refusing to abandon its Syriac language along with the local language of the faithful,28 and contributing to the creation of the Lebanese nation.29 In the same spirit, historian Kamal Salibi wrote: “It is the Maronites, this small people, who have been able to preserve their historical identity throughout the centuries, by persevering in their position, permanently struggling against injustice, learning from mistakes, having wisdom in the choice of friends and allies, being available to understand the others, remaining faithful to those who once helped them, and showing them comprehension and compassion. They have been able, at the same time and without forethought or premeditation, to preserve the right of man to freedom and honourable life, and to contribute to the creation of a nation which guarantees this right to its sons.”30 It is in the very heart of this community, in the village of Bšarri, that Gibran Khalil Gibran was born in 1883.

2. A “Religious Biography” of Gibran Khalil Gibran At the end of the nineteenth century, Mount Lebanon was a mutaṣarrifīyah, a province under Ottoman rule enjoying some degree of local autonomy.31 In Mount Lebanon, at an altitude of almost two thousand meters, the village of Bšarri lies at the feet of the Cedar Mountains, overlooking the Qadīša holy valley, described as the sacred Maronite valley par excellence, with monasteries and hermitages nestled on its flanks and cliffs.32 The setting in which Gibran was born and amidst which he spent the first twelve years of his life had led Lamartine to write in 1833: 25 The conflicts between the Maronites, who defended Chalcedonism, and the Miaphysite Jacobites named after their main organizer Yaʻqūb al-Barādʻi (ca. 500–578) escalated further and culminated in 517 CE, when 350 monks were slain by the Jacobites; cf. ibid., 152–156. 26 Cf. Hage, Preface, xvii. 27 Cf. Pierre Dib, Histoire des Maronites I–III, Beirut 1962–1973, repr. 2001, I, 60. 28 Cf. Paul Naaman, La Maronité entre la religion et l’état, Kaslik 1970, 11. 29 Today, of the eighteen religious denominations officially recognized in Lebanon, the Maronites represent the largest Christian group estimated at 21% of the population, while the Maronite Church in Lebanon and abroad has approximately 3,5 million members. Cf. Statistics of the papal agency for humanitarian and pastoral support for 2017, www.cnewa.org/source-images/ Roberson-eastcath-statistics/eastcatholic-stat17.pdf (July 25, 2019). 30 Kamal Salibi, Al-mawārinah, Beirut 2011, 96f; transl. L. E.-M. 31 Cf. Elie Fawaz, What makes Lebanon a distinctive country?, in: Barry Rubin, Lebanon. Liberation, Conflict, and Crisis, New York 2009, 25–34, 27. 32 Cf. Alexandre Najjar, Khalil Gibran: L’auteur du Prophète, Paris 2002, 20.

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“All the images of Biblical poetry are engraved in capital letters on the furrowed surface of Lebanon, its gilded summits, and its streaming valleys. This country must have been the primitive land, the land of tragic poetry and human lamentations; the pathetic and lofty strain of prophecies is felt here in its wild, pathetic, and spectacular nature.”33 In Al-ağniḥa al-mutakassira (Broken Wings) Gibran writes: “I, too, remember that beautiful spot in northern Lebanon. As soon as I close my eyes to these surroundings, I see those valleys filled with magic and awe, and those mountains striving in glory and greatness towards the heights.”34 Gibran was the eldest child of Khalil Gibran, a landowner and tax collector, and Kāmleh Raḥmeh by her third marriage. His half-brother Buṭros from Kāmleh’s first husband was six years older. Kāmleh was the daughter of a Maronite priest whom Gibran describes as an exemplary priest, passionate about justice as well as about liturgical and secular music. A polyglot and cultured person, he had handed down to his daughter his love for music and art.35 At home, Gibran was pampered by a mother who sang beautifully, told Levantine stories and recited poems. As for schooling, the only education available in the villages of Mount Lebanon at that time was provided by the Maronite clergy, who used the Psalms of David to teach the Arabic language and the Maronite breviary to teach the Syriac language. Thus, Gibran joined the teachings of Father Semʻān, father superior of the Maronite Mār Līša monastery,36 in a dependency of the monastery. There he learned how to serve the Holy Mass according to the Maronite rite with all prayers and liturgical hymns in Syriac and Arabic. Discovering life through the religious books and the liturgical hymns of the Maronite Church, growing up amidst religious principles, daily mass and religious ceremonies, soon he knew the Psalms of David by heart, which were taught in those schools and the style of which he would use in his The Prophet.37 This spiritual background was strengthened by the mysticism of a landscape rich with monasteries, grottos and caves under the towering presence of the cedars.38 Gibran was eight years old when this peaceful life was turned upside down. His father was accused of tax evasion and arrested, and the family house and property were confiscated.39 Kāmleh, Buṭros, Gibran and his two sisters – Mariana (*1885) and Sultaneh (*1887) –

33 Alphonse de Lamartine, Œuvres Complètes, Bruxelles 1836, 63. Translated from the French “Toutes les images de la poésie biblique sont gravées en lettres majuscules sur la face sillonnée du Liban, de ces cimes dorées et de ces vallées ruisselantes. Cette terre a dû être la première, la terre de la poésie terrible et des lamentations humaines; l’accent pathétique et grandiose des prophètes s’y fait sentir dans sa sauvage, pathétique et grandiose nature.” (L. E.-M.). 34 Gibran, Broken Wings, 11f; transl. L. E.-M. 35 Cf. Dahdah, Khalil Gibran, 41f. 36 This monastery had witnessed the foundation of the Lebanese Maronite Order of Monks between 1695 and 1700 CE; cf. Dib, Histoire I, 292. 37 Cf. Dahdah, ibid., 56s. 38 Cf. Bushrui/Jenkins, Kahlil Gibran, 35. 39 Cf. Dahdah, ibid., 37–39.

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had to move into a small house. Three years went by before his father was released from jail. By that time, Kāmleh had sold everything she possessed and had decided to emigrate.40 In the westward journey undertaken in 1895 by the mother and her four children, Gibran was accompanied by his memories not only of sacred places and incense, religious ceremonies and oriental flute music but also of the feudalism of the Ottoman administration and the injustice that had led to his father’s imprisonment and the family’s impoverishment.41 In Boston, the family settles in a neighbourhood inhabited mostly by Chinese immigrants. The influence of their beliefs, notably in reincarnation, would appear in Gibran’s work later.42 It is in Boston that Gibran’s name is altered from Gibran Khalil Gibran into Kahlil Gibran, the name that he will use to sign his works in English. It is also in Boston that he learns the English language and is initiated into the world of the arts and letters, discovering works including The Treasure of the Humble by the Belgian symbolist writer Maurice Maeterlinck, whose mystical essays would affect and inspire Gibran, who recalled later “From fourteen to eighteen he was my idol”.43 Concerned with the influence of the mundanities on the adolescent, Gibran’s mother and older brother decided to send him back to Lebanon to complete his studies.44 Three years after having left his country, Gibran travels back to Lebanon, taking with him a few books, one of which was The Age of the Fable or Beauties of Mythology: Stories of Gods and Heroes45 including themes that would influence him in his subsequent work, namely the drama of Prometheus, the philosophy of Pythagoras, Zoroaster, Indian mythology, and the mythical centaur. He also had with him a single book in Arabic, the Gospels translated from Greek and published in Beirut in 1873.46 In Beirut, Gibran enrolled at Madrasat-al-Ḥikmah, a college founded in 1874 by the Maronite bishop Mgr. Joseph Dibs47 and considered as “the foremost Christian secondary school in the Arab World”.48 There, he learned Arabic and French, the natural sciences and history. Among his readings, worth noting are the books that would later influence his way of thought, such as Kalilah wa Dimna,49 the Muqaddimah by Ibn Ḫaldūn,50 the Maqāmāt by Badīʾ al-Zamān Al-Hamadhānī,51 the poems of al-Mutanabbī52 and the Torah.53 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49

Cf. Bushrui/Jenkins, ibid., 35–37; Dahdah, ibid., 66–70; Chandler, Search, 25–27, among others. Cf. Dahdah, ibid., 55. Cf. Ghaith, La pensée religieuse, xxvii. Gibran/Gibran, Kahlil Gibran, 57. Cf. Dahdah, Khalil Gibran, 87. Thomas Bulfinch, The Age of Fable or Stories of Gods and Heroes, Boston 1855. Cf. Dahdah, ibid., 90f. Cf. the website of the college at www.sagessesja.edu.lb/le-college/historique (Oct. 14, 2019). Bushrui/Jenkins, Kahlil Gibran, 49. Originally called Panchatantra, written in Sanskrit in the fourth century CE and translated into Pehlavi in the sixth century CE, this collection of animal fables full of wisdom was further translated into Arabic in the ninth century CE by Ibn al-Muqaffaʾ under the title Kalila wa Dimna. It was to enjoy great popularity in the centuries that followed; cf. Paul Lunde, Kalila Wa Dimna, in: Saudi Aramco World 23 (1972), 18–21. 50 Described as “a monument to the achievements of Arab Muslim Culture”, cf. Stephen Dale, The Orange Trees of Marrakesh. Ibn Khaldun and the Science of Man, Cambridge 2015, 3, and the interview with Dale at www.worldreligionnews.com/religion-news/islam/stephen-frederic-dales-biography-on-ibn-khaldunmuslim-historian-praised-by-mark-zuckerberg-interview (July 25, 2019). 51 Gibran would later use the maqāmāt technique in his first Arabic works.

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The course of study also allowed him to discover “the great Sufi poets, such as Avicenna, and the soaring ideas of al-Ghazālī, Ibn ‘Arabī, and al-Farābī, all of whom would have a profound effect on his spiritual and literary development.”54 He also became acquainted with the nineteenth-century reform writers of Lebanon who were raising their voices against injustice and whom he would later join, setting his writings in Lebanon and conceiving his heroes as challengers of the “ecclesiastical and political status quo.”55 This aspect will be considered in more detail in chap. 6. When Gibran graduated from the Maronite college four years later and returned to Boston, his religious education had as much involved Christian as Jewish and Muslim writings and philosophies, and his social education had unveiled the “spiritual disease”56 nurtured by those in power. All the above would have a profound impact on his œuvre. “By the time The Madman was reviewed, Gibran had been introduced to Americans as a mysterious hero.”57 When Jesus the Son of Man was published, it was described as “The Gospel according to Gibran.”58 When Gibran died, “A prophet is dead” was one of the headlines in the New York Sun on the next morning.59 When Gibran’s body was brought back to Lebanon a few months later, an official delegation awaited at the port, the coffin was opened, and a decoration was pinned on Gibran’s breast. A ceremony attended by the head of state and representatives of all the religious authorities was given in honour of the deceased, “who had spent his entire life challenging the status quo.”60 Then the procession started along the route to Gibran’s native village, where he was laid to rest in the grotto of the monastery of Mar Sarkis, according to his wishes. The builders of the tomb wrote on the rock above it: “Here lies our prophet Gibran”, an inscription successfully transformed by the clergy into: “Here lies among us Gibran” (see photo).61 Next to his grave, The traces of the engraving and the correction behind the Statue located above Gibran’s grave. 52 The 10th-century poet Aḥmad bin al-Ḥusayn, whose nickname al-Mutanabbī means “he who would be a prophet” and who became known for his aphorisms. 53 Cf. Bushrui/Jenkins, ibid., 50. 54 Cf. ibid., 56. 55 Cf. ibid., 59. 56 Gibran, Broken Wings, 82. 57 Gibran/Gibran, Kahlil Gibran, 326. 58 Barbara Young, This Man from Lebanon. A Study of Kahlil Gibran, Author of The Prophet and other works, New York 1945, 33. 59 Cf. Najjar, Khalil Gibran, 213. 60 Bushrui/Jenkins, ibid., 285. 61 It only takes a change of dotting in Arabic to transform “our prophet” (‫ ﻧﺒﻴﻨﺎ‬nabīyuna) into “among us” (‫ﺑﻴﻨﻨﺎ‬ baynana). I took the picture in September 2017.

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one can read ‘I am alive like you, and I am standing beside you. Close your eyes and look around, you will see me in front of you’.”

3. Gibran Khalil Gibran as a Maronite Author: State of the Art In the numerous publications about Gibran and his works, the use of the qualifier “Maronite” does not usually lead to an investigation of the Maronite elements in such works. Worth noting are the attempts of Daniel Larangé in four publications to closely link Gibran’s Maronite Syriac origin to his writings while mainly focusing on the genres and styles used by Gibran to express his philosophy. Labelling Gibran as a Maronite writer eager to preserve his Syriac origins and prolonging in his own way the sacerdotal work of his ancestors,62 Larangé claims that Gibran was one of the last representatives of Maronite literature in Arabic and one of the first representatives of that literature in the English language.63 He first investigates the style of the Arabic texts by Gibran identifying in those texts a democratization of literary Arabic through the use of dialectal expressions. According to Larangé, the resulting “concatenation of sequences” finds its source in Syriac literature and can also be found in the homilies of the Maronite patriarch Stephan Douayhi (1670–1704).64 Yet Larangé fails to provide relevant examples either in Gibran or in the Syriac literature. Moreover, the use of literary Arabic and dialectal expressions may be considered as typical for Christian authors but not necessarily as a specifically Maronite Syriac feature. Larangé goes further, qualifying the use of aphorisms and parables as inherited by Gibran from the Maronite tradition,65 adding that Gibran is inviting the reader originating from his community to recognize reading attitudes that the latter may have forgotten upon contact of Western culture. But aphorisms and parables are not the prerogative of Maronite Syriac texts. From an early age,66 Gibran’s readings included the fables and Maqāmāt,67 which go back to Homeric times.68 But Larangé argues that the fable, referred to in Syriac as mimrāb, also belonged to the Semitic heritage that had an impact on the Maronite sensitivity and becomes homiletic in Gibran’s work.69 Yet this does not make the fable and its objectives specific to Maronites. Larangé goes on to qualify Gibran’s work as structured according to the Syriac tradition.70 Here again, no specific examples are given, and the argument remains vague while the author delves into an exposition of oriental cultures, having recourse 62 Cf. Larangé, Modernité de la tradition, 67. 63 Cf. Larangé, Poétique de la fable, 21. 64 Stephan Douayhi, The Syriac Strophes and their Poetic Meters, transl. by Louis Hage, Kaslik 1987. Cf. Larangé, Modernité de la tradition, 62. 65 Cf. Larangé, ibid., 64. 66 Cf. chap. 2. 67 The maqāma, plural maqāmāt, from the Arabic verb qāma primarily referred to the practice of standing to speak in an assembly and goes back to Homeric times, and it later acquired the meaning of discourses meant to amuse, to interest, and to instruct, as consecrated by Hamadhani, cf. William J. Prendergast, The Maqāmāt of Badīʻ al-zamān al-hamadhānī, transl. from the Arabic with an Introduction and Notes Historical and Grammatical, London-New York 2015, 11–17. 68 Cf. Larangé Poétique de la fable, 27; Prendergast, Maqāmāt, 12. 69 Cf. Larangé, ibid, 48. 70 Cf. ibid., 78.

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to a long succession of quotations. His readings of some of Gibran’s texts only ascertain the presence of elements that can be found as much in the oriental thought as in the religious and other texts that led to the development of Gibran’s philosophical work.71 A totally different approach that does not focus on the literary genres and techniques used by Gibran in his works is adopted by other scholars who have endeavoured to study Gibran’s religious thought. Acknowledging the importance of the Christian Maronite surroundings in which Gibran was born and the contribution made by his primary education, mainly focused on the Gospels and on religious texts used in the Maronite liturgy,72 Afifa Ghaith, however, makes clear that Gibran is far from being a theologian or a metaphysician.73 Growing up in what could be qualified as a mystical setting between the sacred valley and the cedars, Gibran saw nature as the spiritual gift of God to Lebanon and religion as much more than the Maronite religion to which he belonged and the representatives of which he would later criticize.74 Before the family emigrated to Boston, and although his place of birth was essentially inhabited by Maronite Christians, Gibran had been aware of the other faiths coexisting in his country.75 Later, on the eve of World War I, he had expressed himself against the dangers of sectarianism. To the man who had once declared that he “kept Jesus in one half of his bosom and Muhammad in the other”,76 religion had a more general meaning that encompassed cult, respect for life, and love of God’s creatures. He writes: “I love you worshipping in your church, kneeling in your temple, and praying in your mosque. You and I and all are children of one religion, for the varied paths of religion are but the fingers of the loving hand of the Supreme Being, extended to all, offering completeness of spirit to all, anxious to receive all.”77 In The Prophet, when the old priest asks Almustafa to speak about religion, the latter replies “Have I spoken this day of ought else? Is not religion all deeds and all reflection?”78 71 A rough scrutiny of Gibran’s personal library during my visit to the Gibran Museum in Bšarri in September 2017 showed that he owned The Holy Bible in Arabic along with The Complete Analysis of the Holy Bible by the Jewish author Nathaniel West, The Gospel of Buddha by Paul Carus, The Kingdom of Happiness and Life in Freedom by Jiddu Krishnamurti, Esoteric Christianity of the Lesser Mysteries by Annie Besant, Mohammed and the Rise of Islam by David Samuel Margoliouth, The Life of Jesus by Ernest Renan, The Quest of the Historical Jesus by Albert Schweitzer, God the Invisible King by Herbert George Wells, Faust by Goethe, La Divina Comedia by Dante, as well as the four books of The Dialogues of Saint Gregory the Great and The Works of Flavius Josephus translated by William Whiston. Responding to my request, as it was not possible to make an inventory of all the books related to religion in Gibran’s personal library, Mr. Joseph Geagea, the director of the Museum indicated the following additional titles: The Marriage of Heaven and Hell by William Blake, The Pilgrim’s Progress by John Bunyan, Nature of the Gods by Marcus Julius Cicero, Babel and Bible by Friedrich Delitzsch, The Journey of Jesus by Ellen Conger Goodyear, Prophet of a Nameless God by Joseph Hart, The Christ of the Indian Road by Eli Stanley Jones, A Catechism of Natural Theology by Ichabod Nichols, The Architecture of the Heavens by John Nichol, and A History of the Jews by Abram Leon Sachar. 72 Cf. Ghaith, La pensée religieuse, xxvi. 73 Cf. ibid., 48. 74 Cf. ibid., 50. 75 Cf. note 29 and Bushrui/Jenkins, Kahlil Gibran, 6. 76 Ibid. 77 Kahlil Gibran, Tears and Laughter, transl. by Anthony Ferris, New York 1949, 107s. 78 Gibran, The Prophet, 31.

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According to Ghaith, reflecting on the religions that he had known, and more specifically the one he was brought up into, Gibran goes beyond the confessional frames to open his thought towards universality, towards a Christianity built on a personal interpretation of the Gospels.79 The Gospels, the first books Gibran discovered, would greatly influence him in his writings80 long before he wrote his own version of the Gospels, namely Jesus, the Son of Man. Yet drawing equally on his religious readings and on the texts of the mystic authors he first discovered in Boston, at the Maronite college (see chap. 2) in Paris81 and finally during his stay in New York,82 his texts develop a supra-confessionalism aimed at transcending time and space,83 and rendering them universally accessible to Christians, Jews, Muslims, or Buddhists.

4. Jesus Christ at the Centre of Maronite Spirituality and Gibran’s Depiction of Jesus Notwithstanding the above and the supra-confessional message expressed by Gibran in his works, he considers Jesus Christ as the model of wisdom and perfection and the greatest figure of all times.84 Quite similarly, and in the same way nations celebrate their heroes as part of their heritage, Lebanese Maronite Christians celebrate Jesus Christ as a leader and a symbol of peace.85 Grandson of a lineage of Maronite priests, son of a pious and practicing mother, Gibran grew up in a home where the Psalms of David announcing the coming of Jesus Christ were an inherent part of the daily prayers.86 For Gibran “Jesus was the supreme figure of all ages and in him we shall always find mystery, passion, love, imagination, tragedy, romance and truth.”87 In his letters to Mary, Gibran mentions his visions of Christ and his feelings of joy during such visions.88 He goes further describing Jesus physically,89 long before he crystallized his visions in his work Jesus, the Son of Man. In Gibran’s works, “Jesus struggles for

79 Cf. Ghaith, La pensée religieuse, 104. 80 As an example, Ghaith counted sixteen verses in Nymphs of the Valley, six verses in Broken Wings, and thirty in a Tear and a Smile, cf. ibid., 193. 81 It was in Paris that Gibran discovered William Blake and his works, as well as Nietzsche’s Thus Spoke Zarathustra, cf. Bushrui/Jenkins, Kahlil Gibran, 4.101. 82 His meetings in New York with ʻAbdul-Bahāʼ, the Baha’i leader, would impress him so much that they inspired his portrayal of Jesus. Cf. Bushrui/Jenkins, ibid., 9. 83 Cf. Ghaith, ibid., 128. 84 Cf. Kahlil Gibran, Jesus the Son of Man. His Words and His Deeds as Told and Recorded by Those who Knew Him, New York 1978 (1st edition, 1928), 209–216; Khalil Chalfoun, La Figure de Jésus-Christ dans la vie et l’œuvre de Gibran, Paris 1986; Ghaith, ibid., 151f. 85 Cf. Bushrui/Jenkins, ibid., 9. 86 Cf. Ghaith, La pensée religieuse, 155. 87 Hilu, Beloved Prophet, 17. 88 Cf. ibid., 171–205. 89 Cf. ibid., 64.

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the high ideals of goodness and love.”90 His heroes are icons of Christ, preaching in his name,91 his heroines kneel before the cross and pray to find strength and consolation. While most of the Maronite religious beliefs are shared with Catholics and other Christians and Jesus is revered by all, the cross is at the centre of Maronite spirituality. For the Maronites, the crucified Christ “allows them to understand and internalize the persecutions they have endured. It gives meaning to their suffering, transforming their weakness into strength, persecution into victory and death into Resurrection.”92 On Good Friday, the Maronites go into the mountains to suffer with Christ before bringing back flowers to be put in the tomb of Christ.93 Fascinated by the figure of Christ since his childhood,94 Gibran had a tapestry representing the crucifixion covering one of the walls of his study.95 For Gibran, Jesus is the advocate of justice and true humanity, and the profundity of Gibran’s veneration is best expressed in the text he wrote on Good Friday entitled “The Crucified”.96 Gibran’s depiction of Jesus expresses his vision of the Crucified while at the same time denouncing the injustices witnessed in his home country. Gibran describes Jesus as a leader who “never lived a life of fear” and says that humanity should stop worshipping “weakness in the person of the saviour” for: “Jesus was not a bird with broken wings; He was a raging tempest who broke all crooked wings. He feared not His persecutors nor His enemies. He suffered not before His killers […] Jesus came not from the heart of the circle of Light to destroy the homes and build upon their ruins the convents and monasteries. He did not persuade the strong man to become a monk or a priest, but He came to send forth upon this earth a new spirit, with power to crumble the foundation of any monarchy built upon human bones and skulls […] He came to demolish the majestic palaces, constructed upon the graves of the weak, and crush the idols, erected upon the bodies of the poor. Jesus was not sent here to teach the people to build magnificent churches and temples amidst the cold wretched huts and dismal hovels […] He came to make the human heart a temple, and the soul and altar, and the mind a priest.”97 Drawing upon his childhood memories and native religion as well as upon his readings, Gibran celebrated the figure and the mission of Jesus Christ in many of his writings,98 “eventually producing his own unique and powerful portrait Jesus, the Son of Man.”99 90 91 92 93

94 95 96 97 98

Cf. Imangulieva, Gibran, Rihani & Naimy, 82. Cf. Ghaith, ibid., 156. Hourani/Habchi, The Maronite eremitical tradition, 453. For details on the Maronite’s Adoration of the Cross, see Naji Kiwan, Holy Week in the Maronite Church, in: The Maronite Voice IV (2008), 10f.20. My thanks go to Father Hany Tawk, who brought my attention to Gibran’s use of characters and elements of nature influenced by his childhood and the Maronite tradition, such as the flowers used during the Adoration of the Cross. Gibran was only five when he went alone into the fields to suffer with Christ, picked flowers, and went back to the church, which he found closed, so he went to the cemetery to look for Christ’s grave, and was found there crying, cf. Dahdah, Khalil Gibran, 61. Now in Gibran’s Museum in Bšarri, Lebanon. Transl. by Anthony Ferris from the Arabic original Gibran, Al-ʻawāṣef (The Tempests), 19–22, in: Kahlil Gibran, Secrets of the Heart, New York 1992, 212–215. Gibran, Secrets, ibid. Cf. Gibran, Nymphs; idem, Tears; idem, Secrets.

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5. The Socio-cultural “Maronity” of Gibran Even though Gibran had chosen his own personal interpretation of the Bible and his own understanding of a universal Christianism with an essential place for Christ, the influence of the Maronite world within which he was born remains palpable throughout his works from the very beginning. Most of his characters originate from Northern Lebanon. His The Madman is closely linked to the cavern of the Monastery of St Antony where the Maronites used to intern the insane,100 and near which Gibran used to play as a child. Several of his characters are hermits (The Tempests, The Madman, The Forerunner) like the patron saint of the Maronites and many of the inhabitants of the sacred valley (cf. chap. 2). He called his studio in New York, which smelled of incense and was adorned with sacred images, “The Hermitage”. His characters bear commonly used Maronite names such as Yūḥannā (Nymphs of the Valley), Ḫalīl (Spirits Rebellious), Selma (The Broken Wings), and Semʻān (The Tempests), to mention only a few, and they live in the vicinity of the monasteries that were so familiar to Gibran.101 They all have a privileged relation with nature, the beauty of which Gibran had discovered in his surroundings. To Gibran, perfection can only be achieved when man feels united to space, light, the clouds, the rivers, the trees, and the fields, all of which are elements that can be found in Gibran’s mystic birthplace.102 Gibran also reminds his readers that it is nature that teaches us the real meaning of generosity, and there again, his examples are directly taken from the valley of his youth: “They give as in yonder valley the myrtle breathes its fragrance into space.”103 The oriental flute music played by the shepherds around his village as well as by his grandfather inspires The Procession, which he published at his own expense in 1919104 and the verses of which could be considered as the precursors of The Prophet. Born in the heart of Mount Lebanon, Gibran remained geographically anchored in a space marked by the cedars and the sacred valley, both closely related to the Bible and to his native religion. This space became a place of meditation on human nature, truth, death, nature, and God. In his writings, the elements that once filled his youth are inseparable from life in Mount Lebanon: The cedars appear in numerous works, and throughout the various periods of the writer’s life, from his first articles to Jesus, the Son of Man, the elements of Gibran’s native landscape are omnipresent, such as the sycamore and almond trees, the pomegranate, the vineyards, the lilies, and the ears of grain.

99 Bushrui/Jenkins, Kahlil Gibran, 229. 100 Cf. Géraldine Chatelard, Liban, Paris 2002, 83. Until lately, it was the custom to confine the insane in monasteries, hoping for a cure from the patron saint. I had the opportunity to see the chains still there during my visit at the Monastery of Qozḥayā in September 2017. 101 The monastery of Mar Lisha: Yūḥannā the Mad one, the monastery of Qozḥayā: Ḫalil the Heretic. 102 Cf. Bushrui/Jenkins, Kahlil Gibran, 178f. 103 Gibran, The Prophet, 10. 104 Cf. Gibran, Al-mawākib, transl. from the Arabic original in: Kahlil Gibran, The Procession, New York 1958, 53.

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6. Gibran’s Criticism of the Maronite Church However, Gibran’s memories were not restricted to a majestic landscape. They also collided with the harsh reality that he had already sensed when his father had been wrongly accused of embezzlement. Like other villages of the mountain, his was overburdened by heavy taxes and mired in the direst poverty. To Gibran, the situation was the result of the selfishness and neglect on the part of both the church and the state. Back in Boston after his sojourn in Lebanon from 1898 to 1902, Gibran was determined to denounce the political tyranny and the religious hypocrisy he witnessed during his stay in Lebanon. Gibran’s criticism finds its inspiration in the Gospels105 and in the behaviour of the Maronite Church in his native region. In Nymphs of the Valleys, Gibran’s character Yūḥannā the Mad is imprisoned because his sheep grazed on the land of the Maronite monastery Mār Līša. Gibran calls out through his character: “These people, O Jesus, have raised temples and tabernacles to the glory of Thy name and adorned them with woven silk and molten gold. They have left naked the bodies of Thy chosen poor in the cold streets; yet do they fill the air with the smoke of incense and candles.”106 In Spirits Rebellious, the protagonist Ḫalīl becomes a monk in a wealthy monastery in Northern Lebanon and becomes conscious of the fact that the other monks are violating the teachings of Christ. Using the protagonist as his mouthpiece, Gibran vehemently attacks the oppressor “a hypocrite wearing a cross and using it as a sword to cut your veins”107 and urges the people to remember the message of the Gospels. Both characters address the crowd denouncing the contradiction between the message of Christ and the life and behaviour of certain representatives of the clergy108 who “ask for charity” although they have “plenty to give” and who “sell [their] prayers, and he who does not buy is an infidel, excommunicated from Paradise.”109 Gibran’s main complaint against the religious leaders of his people is that they have joined the political authorities to oppress the people. His character cries out: “Your souls are in the grip of the priests and your bodies are in the closing jaws of the rulers.”110 Tormented and an expatriate, Gibran would fight his whole life for freedom and justice against all kinds of tyranny. While his article Lakum lubnānukum wa lī lubnānī (You have your Lebanon and I have my Lebanon),111 in which he writes: “Your Lebanon is a chess game between a religious leader and a military leader. My Lebanon is the temple that I enter with my soul […] Your Lebanon is confessions

105 106 107 108 109 110 111

Ghaith, La pensée religieuse, 322. Transl. from the Arabic original Gibran, ʻArāʼis al-murūǧ in: Gibran, Nymphs, 49f. Transl. from the Arabic original Gibran, Al-arwāḥ al-mutamarridah in: Gibran, Spirits, 98. Cf. Ghaith, La pensée religieuse, 336 and 341. Gibran, Spirits, 100. Ibid., 98. Gibran Khalil Gibran, Lakum lubnānukum wa lī lubnānī, in: Al-Hilāl, November 8, 1920. It was republished three years later in Gibran, Al-badāʼiʻ, 29–31.

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and parties. My Lebanon is young boys climbing rocks and running with the streams […] You have your Lebanon and I have my Lebanon […].”112 is a strike at political and religious authorities of his native country, his hymn to freedom is another supra-confessional prayer expressed in a style characteristic of the Psalms learned in his childhood: “Hear us, Oh Liberty; Bring mercy, Oh Daughter of Athens; Rescue us, Oh Sister of Rome; Advise us, Oh Companion of Moses; Help us, Oh Beloved of Mohammed; Teach us, Oh Bride of Jesus; Strengthen our hearts so we may live; Or harden our enemies so we may perish And live in peace eternally.”113 In summary, Gibran’s anti-clerical stance dictated by the behaviour of the leading religious authorities of his native country, namely the Maronite clergy, must clearly be considered as an element linking his work to his native community.

7. Conclusions Gibran was neither a theologian nor a metaphysician. The journey that took him from East to West, from his birthplace, early environment and traditions, the inspirations that accompanied his education and evolution, and the events that had an impact on his perception of life eventually allowed him to convey through his writings a message of hope equally appreciated by believers of all religions. Drawing as much upon aspects of his own Maronite Christian heritage as upon the other traditions he came to be acquainted with, he dreamt of a religion of justice that “makes us all brothers equal before the sun.”114 He expressed his credo as “In my thought there is only one universal religion, whose varied paths are but the fingers of the loving hand of the Supreme Being.”115 In this article, I have tried to show that previous attempts to identify Maronite elements in Gibran’s work were too vague and unsubstantial. In fact, specific Maronite elements are not easy to find. However, as I tried to show in Section 4, the strong impact of Jesus Christ and the crucifixion on his work is a striking parallel to the Maronite cult of Jesus and, having studied his childhood experiences, is a direct influence of his Maronite origin. Beyond religion in its proper sense, I have tried to show in Section 5 that many characters, names, and motifs directly reflect the world in Lebanon that the Maronite Christians live in. The most palpable influence of the Maronite faith is probably his anticlerical stance which was directly triggered by the behaviour of the Maronite clergy that he experienced or witnessed. 112 113 114 115

Kahlil Gibran, Mirrors of the Soul, transl. by Joseph Sheban, New York 1965, 30f. Gibran, Spirits, 116. Gibran, Tears, 98. Bushrui/Jenkins, Kahlil Gibran, 85.

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While qualifying him as a Maronite writer would not testify to the breadth of his legacy, his works are nevertheless rich in elements that can be traced back to his Maronite origin and education. However, growing up in a traditional Maronite environment, and drawing upon the memories and the teachings of his childhood as discussed above, did not prevent the thinker, who has been called “founder of a Church of Love”,116 to go beyond the elements of his native community only retaining the teachings that corresponded to his own religion of love.

116 Ghaith, La pensée religieuse, 355.

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Hymnal Interpretation of the Parables in the West Syriac Tradition1 Jacob Thekeparambil 1. Introduction On the topic of Hymns, Sebastian Brock wrote: “The hymns are Treasure house of mysteries.”2 For they contain interpretation of the biblical passages. They unfold the various aspects of God’s Kingdom. There are a considerable number of hymns that contain interpretations of the parables. And in this presentation I will be concentrating on some of the hymns containing hymnological commentaries on the parables. Only a few examples will be provided in this article. “A good melody supports the text, interprets it and gives it wings; more than spoken texts, hymns and instrumental music keep churchgoers moving. Music and singing are not ‘accompaniment’ or ‘background’ of the service, but an essential part of it, a pivotal liturgical source.”3 1

Thanks for the kind invitation to contribute an article for the Festschrift of Prof. Dr. Wolfgang Hage who was our Dekan when I was together with Martin Tamcke in Theologicum, Göttingen from 1978 to 1982. To offer an article for Prof. Hage’s Festschrift is more than an obligation for me because he accepted gladly our invitation to come here and offer a series of lectures in 1986. He accepted our invitation as mentioned by him in the Preface to Moran Etho No. 1 (1987): “When St. Ephrem Ecumenical Research Institute was founded on Sept. 14, 1985 I was privileged to be admitted to the body of Consultants from abroad. So I felt it an honour, as well as an opportunity, to fulfil an obligation when I was invited by the Chairman of SEERI Advisory Committee, the most rev. Isaac Mar Yuhanon (Bishop of Tiruvalla) to give a lecture series on some topics of Syrian Church history. When I delivered these lectures in March 1986, I was well aware of the risk involved in a westerner like me talking on Eastern Christian Topics to people living this tradition themselves. Therefore, I had to understand my responsibility not as one advising the Syrian Christian people on their own heritage, but as one interpreting some items of Syrian Church history to a critical audience. The lecture series pertains to a field of research to which I have devoted myself for many years; history of East Syrian Christianity, especially its missionary enterprise in central Asia.” These lectures gave shape to No. 1 of our first monograph series “Moran Etho” in 1987. After this, we were assured of a dependable collaboration from Göttingen and from Marburg with SEERI. Through Prof. Hage’s mediation, Prof. G.G. Blum also came here from Marburg for the second lecture series, which was published later as the 2nd vol. of our Moran Etho series. 2 Sebastian P. Brock, A Treasure-House of Mysteries. Explorations of the sacred text through poetry in the Syriac tradition, New York 2012. 3 Basilius J. Groen, The Harp 23 (2013), 360. – Ktobo da-Sluto d-Sawmo, 4th Edition, Pampakuda 1955; Jules Jeannin OSB, Melodies Liturgiques Syriennes et Chaldeennes, Paris 1925–28, Alep 1995; Philip Vysanethu, Musicality makes the Malankara Liturgy Mystical, Moran Etho 22 (2004); id., Syriac Music

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2. Exposition 2.1 Parable of the Vineyard In the West Syriac Breviary for the ordinary days of the week, one finds a considerable number of hymns and stanzas, commenting on the parable of the vineyard. It is a short meditation on the parable. It explains to the faithful, who the “true vineyard” is. It is our Lord; the farmer “Palho” is the Father. And we are the vines, producing the fruits (gupne). Our “first fruits” (rishito) are: Šhahro, Sawmo, sluto, ‘abode d-zadiquto (fasting, prayer and works of justice). Qolo d-botar pirmo, Tune: ‘shlomeh d-Abo… Incipit: Moran karma hw ba-shroro… Eshta’o lan gayoso… Translation “Our Lord is the true vineyard [karmo ba-shroro] and his Father is the husbandman [paloho]; my brothers, let us be vines [gupne] within it and let first fruits [rishito] ascend from us: watching , fasting, prayer and deeds of righteousness. ܳ ܳ ܰ ܽ ܶ ‫ܦܢܐ‬ ܳ ‫ܝܫ‬ ܰ ‫ܐ‬ ܶ ̈‫ܓܘ‬ ܶ ‫ܐ ܰܚܝ̈ ܶܢ‬ ܺ ‫ܐܒܐ‬ ܰ .‫ܝܬܘܗܝ ܰܦ ܳܠ ܳܚܐ‬ ܺ ‫ܘܬ ܰܣܩܝ ܶܡ ܰܢܢ ܺܪ‬ ܽ ‫ܗܘܐ ܶܒܗ‬ ܳ ‫ܫܪ ܳܪܐ ܰܘ‬ ܳ ‫ܳܡ ܰܪܢ ܰܟ‬ ‫ ܰܫܗܪܐ‬.‫ܝܬܐ‬ ‫ܪܡܐ ܗܘ ܒ‬ ܽ ܰ ܳ ܰ ܳ ܳ ܺ ܶ ܰ ܰ ܽ ܳ ‫ܘܨܘܡܐ ܘܨܠܘܬܐ ܘܥ̈ܒܕܐ ܕܐܕܝܩܘܬܐ܀‬ O thief, tell us [Eshta’olan] about the beauty of Paradise and show us the tree of life [ilon haye] that we may pluck first fruits [rishito] from it, watching, fasting and prayer and sacrifices [qurbone] of righteousness.”4 ܳ ܶ ‫ܐܝ‬ ܳ ‫ܝܫ‬ ܰ ‫ܐ‬ ܰ ‫ܘܬܗ‬ ܽ ‫ܕܢ‬ ܶ ‫ܐ ܳܝܠܢ ܰܚܝ̈ ܶ◌ܐ‬ ܺ ‫ܘܚ ܳܘܐ ܰܠܢ‬ ܶ ܰ ‫ܕܦ‬ ܺ ‫ܩܛܘܦ ܶܡ ܶܢܗ ܺܪ‬ ܳ ‫ܪܕ‬ ܰ ‫ܫܬ ܳܥܐ ܰܠܢ‬ ܰ .‫ܝܣܐ‬ ܽ ‫ܓ ܳܝ ܳܣܐ ܰܥܠ ܰܦ‬ ‫ ܰܫܗܪܐ‬.‫ܝܬܐ‬ ܽ ܰ ܳ ܰ ܳ ܳ ܶ ܺ ܰ ܽ ܽ ܳ ‫ܘܨܘܡܐ ܘܨܠܘܬܐ ܘܩܘܪ̈ܒܢܐ ܕܙܕܝܩܘܬܐ܀‬ 2.2 Parables, a favoured topic for Hymns The hymn for the Terce on Tuesday groups together a few parables. The parables offer to the Hymnographers a cherished theme. The parables that are treated here are: The parable of the Virgins (Mt 25:1–13), the parable of the wedding banquet (Mt 22:2–14) and the parable of the rich man and Lazarus (Lk 16:19–31). Qolo da-Mshiho Tune: Mshiho natreh l-idtok… Incipit: b-Matle Malel Porukan… In Parables spoke our Saviour and in allegories and in veiled sayings and he said: the kingdom of heaven is like those virgins who took lamps and went forth to meet the Compared to Indian Music, in: ParOr 31 (2006), 381–391; Gerasimos Koutsoura, Koinonikon: The Hymnological Context of Holy Communion (Phronema 21), Redfern/Australia 2006, 61–83. Johann von Gardner, Orthodox Worship and Hymnography, Russian Church Singing 1, New York 1980. 4 Awsar Slawoto (= Shimo), The Book of Common Prayer, Kottayam 2006, 426s.

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Hymnal Interpretation of the Parables

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bridegroom and the bride; and they slumbered and slept together. And there was a great cry: behold the bridegroom comes. The wise entered with him and the foolish remained at the door in great sorrow and with unutterable sighs. ܶ ܳ ‫ܠܥ‬ ܺ ܺ ̇ ܳ ‫ܡܫ‬ .‫ܝܬܟ‬ ‫ܝܚܐ ܰܢܛܪܝܗ‬ ܽ ܶ ܶ ܳ ܶ ܳ ܳ ܳ ܽ ܰ ܳ ܰ ܰ ܰ .‫ ܘܒ̈ܦܐܠܬܐ ܘܐܘ̈ܚܕܬܐ‬.‫ܒܡܬ̈ܐܠ ܡܠܠ ܦܪܘܩܢ‬ ܳ ܰ ܳ ‫ܠܟ‬ ܳ ‫ܐܡܪ‬ ܽ ‫ܡܝܐ ܰܡ‬ ܰ ‫ ܰܕ‬.‫ܘܬܐ‬ ܰ ‫ܶܘ‬ ܳ ‫ܕܕ‬ .‫ܫܡ ܳܝܐ ܠܒ̈ ܽܬܘܠ ܳܬܐ‬ ܽ ܰ ܺ ܳ ܰ ̈ ܰ ܳ ܰ ܶ ܰ ܰ ܰ ܰ ܶ ܰ .‫ܳܗ ܶܢܝ̈ܢ ܕܢܣܒ̈ܝ ܠܡ̈ܦܕܝܕܐ ܘܢܦܩܝ ܐܠܘܪܥܗ ܕܚܬܢܐ ܘܕܟܠܬܐ‬ ܳ ܳ ‫ܐ‬ ܰ ‫ܕܡܟ̈ܝ‬ ܶ ‫ܘܢܡ̈ܝ ܽܟ‬ ܶ ‫ܠܗܝܢ ܰܘ‬ .‫ܟܚܕܐ‬ ܳ ܳ ܳ ݀ ܰ ܺ ܳ .‫ܰܘܗܘܬ ܩܥܬܐ ܣܓܝܐܬܐ‬ ܳ ܳ ‫ܕܗܐ ܰܚ‬ ܳ ‫ܬܢܐ‬ ܶ ܳ ܳ ܰ ܰ .‫ ܰܚ ܺܟܝ̈ܡܬܐ ܥܠ̈ܝ ܥܡܗ‬:‫ܐ ܶܬܐ‬ ܰ ܳ ܶ ܳ ܰ ܳ ܳ ܰ ܳ ܳ ‫ܘܣܟ̈ܠܬܐ ܦܫ̈ܝ ܰܥܠ ܬ‬ .‫ܪܥܐ ܒܒܟܝܐ ܪܒܐ‬ ܳ ܰ ܶ ܳ ܶ ‫ܬܡܠ̈ܠܢ ܀‬ ‫ܘܬܢ̈ ܳܚ ܳܬܐ ܕܐܠ ܡ‬ The Parable of the wedding banquet: The kingdom on high is like a man who made a feast and invited the people to come to it; and they would not come and enjoy it. And he sent his servants to summon all the peoples that they should rejoice with him; and they assembled from all parts and the house was filled with guests. And he went out to see them and found among them a man clothed in soiled garments not befitting the house of feasting. And he commanded them to cast him out into the darkness. ܳ ܰ ܳ ܰ ܳ ܳ ܽ ‫ܥܒܕ ܶܡ‬ ܶ ‫ܕܢ‬ ܳ ‫ܫܬ‬ ܺ ‫ܠܥ ܳܡܐ‬ ܶ ܰ ‫ܐ‬ ܽ ‫ܡܝܬ ܰܡ‬ ܳ ܰ ‫ܒܪܐ ܰܕ‬ ܳ ‫ܠܟܘܬ ܰܪ‬ ܰ ‫ܩܪܐ‬ ܰ ‫ܬܕ‬ ‫ ܘܐܠ ܨܒܐ‬.̇ ‫ܐܬܐ ܠܗ‬ ‫ ܘ‬.‫ܘܬܐ‬ ‫ ܠܓ‬.‫ܘܡܐ‬ ܺ ‫ܕܢ‬ ܶ ‫ܢܟ‬ ܽ ‫ܠܥܒ̈ ܰܕܘܗܝ ܰܕ ܰܢܙ‬ ܶ ‫ܠܗܘܢ ܰܥܡ̈ ܶܡܐ‬ ܶ ‫ܐܬܐ‬ ܺ ܽ ‫ܘܡ‬ ܽ ‫ܡܢܘܢ‬ ܽ ‫ܠܟ‬ ܶ .‫ܬܚ ܽܕܘܢ ܰܥ ܶܡܗ‬ ܰ .‫ܬܒ ܰܣܡ‬ ܰ ‫ܘܢ‬ ܰ ‫ܘܫ ܰܕܪ‬ ܰ ‫ܕܢ‬ ܳ‫ܠܦܢ̈ܝܢ‬ ܳ ܰ ܺ ܳ ܰ ܽ ܶ ܶ ܳ ܰ ܳ ܰ ܶ ܽ ܶ ܰ ܺ ܰ ܰ ‫ ܘܐܫܟܚ ܒܗܘܢ ܓܒܪܐ‬.‫ ܘܢܦܩ ܚܙܐ ܐܢܘܢ‬.‫ ܘܐܬܡܠܝ ܗܘܐ ܒܝܬܐ ܣܡܝ̈ܟܐ‬.‫ܐܬܘܥܕܘ‬ ܽ ‫ܠܒܝܬ ܶܡ‬ ܳ ‫ܫܬ‬ ܽ ‫ܫܕ‬ ܶ ‫ ܳܡ‬.‫ܠܒܝܫ‬ ܶ ̈‫ܐܢܐ ܨ‬ ܰ ‫ܦܩܕ‬ ܳ ‫ܒܚ ܽܫ‬ ܶ ‫ܫܚܝܢ‬ ܺ ‫ܰܕ‬ ܰ ‫ ܰܘ‬.‫ܘܬܐ‬ ܶ ‫ܐܘܗܝ‬ ܺ ‫ܐܐ ܳܕܐܠ ܳܚ‬ ‫ܘܟܐ܀‬ The parable of the rich man who did not see Lazarus: “The only begotten Word of the Father composed parables for our help, and he said: There was a rich man who lived luxuriously in pleasure and a poor man Lazarus desired to be satisfied with food; and when he died the angels carried him to the bosom of our father Abraham. And the rich man also died and went to torment and inherited woe forever in Gehenna, because he had not compassion on his own flesh.”5 ܳ ܽ ܳ ܺ ܰ ܶ ܶ ‫ܝܕܐ ܶܡ‬ ܳ ‫ܐܐ‬ ܶ ‫ܬܓ‬ ܳ ‫ܐܡܪ ܺܕܐܝܬ‬ ܳ ‫ܝܚ‬ ܶ .‫ܝܪܐ‬ ܰ ‫ ܶܘ‬.‫ܘܕܪ ܰܢܢ‬ ܳ ‫ܠܬܗ ܰܕ‬ ܰ ‫ܕܡ‬ ܺ ‫ܺܝ‬ ‫ܗܘܐ‬ ‫ܗܘܐ ܥܬ‬ ‫ ܰܕ ܶܟܒ ܰܡܬ̈ܐܠ ܠܥ‬.‫ܐܒܐ‬ ܳ ܽ ܳ ܽ ܶ ܳ ܰ ܳ ܰ ܰ ܽ ܺ ܰ ܺ ܶ ܶ ܶ ܳ ‫ܬܝܐܒ ܗܘܐ ܕܢ‬ ܰ .‫ܒܦܘܢ̈ ܳ◌ ܶܩܐ‬ ܰ ‫ܘܚܕ ܡܣܟܢܐ ܠ ܳܥܙܪ ܡ‬ ‫ ܘܟܕ ܡܝܬ ܐܘܒܠܘܗܝ‬.‫ܣܒܥ ܡܐܟܘܠܬܐ‬ ܶ ܺ ܳ ܺ ܰ ܳ ܰ ܶ ܰ ܶ ܰܰ ܰ ܺ ܳ ܰ ܶ ܽ ܺ ܰ ܳ ܶ ܳ ܽ ‫ ܘܝܪܬ‬.‫ ܘܐܦ ܗܘ ܥܬܝܪܐ؛ ܡܝܬ ܘܐܙܠ ܠܗ ܠܬܫܢܝܩܐ‬.‫ ܠܥܘܒܗ ܕܐܒܘܢ ܐܒܪܗܡ‬.‫ܡ̈◌ܐܠܟܐ‬ ܶ ܳ ‫ ܰܥܠ ܳܕܐܠ ܰܚܢ‬.‫ܓ ܰܗ ܳܢܐ‬ ܰ ‫ܗܘܐ‬ ܺ ‫ܒܓܘ‬ ܰ ‫ܠܥ ܰܠܡ‬ ܳ ‫ܳܘ ܳܝܐ ܰܕ‬ ‫ܠܒܪ ܶܒܣܪܗ܀‬ 2.3 Parable of the Treasure in the Field The Qolo d-Ramsho [hymn of the evening] of the fifth Sunday of Lent comments on the parable of the treasure in the farm, which, according to the explanation of the hymnologist, is the Son of God Himself.

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Shimo, 439–441.

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Tune: “Mshiho natreh l’idtok…” Incipit: badmut simto d-ba qritomta lnapshe h bar Aloho… Translation “The Son of God compared himself to the treasure of the farm (simto d ba-qrito), which a certain man found, and bought, selling all of his wealth. He did not mind losing all his riches, because he found the wealth that cannot be pillaged. Glory be to the Son of God, who takes delight in the life of us, the humans [literally our humanity], so that we may ascend from the depth to the glorious heights of His Majesty and inherit, instead of the passing world, with Him the heavenly kingdom.”6 ܶ ܳ ‫ܠܥ‬ ܺ ̇ ܳ ‫ܡ ܺܫ‬ ‫ܝܬܟ‬ ‫ܝܚܐ ܰܢܛܪܝܗ‬ ܺ ܰ ܳ ܰ ܶܽ ܶ ܳ ܳܰ ܰ ܳ ܳ ܶ ܳ ܰ ܰ ܺ ܶ ܽ ‫ܰܒ‬ ܳ ܳ ܰ ܳ ‫̇ ܘܙܒܢ ܟܠܗ‬ ‫̇ ܓܒܪܐ ܘܙܒܢܗ‬ ‫ ܗܝ ܕܐܫܟܚܗ‬.‫ܕܡܘܬ ܣܝܡܬܐ ܕܒܩܪܝܬܐ ܡܬܠ ܢܦܫܗ ܒܪ ܐܠܗܐ‬ ܳ ܽ ܰܰ ܶ ܳ ܶ ܶ ܶ ܳ ܳ ܰ ܰ ܰ ܶ ܰ ܶ . ‫ ܕܐܫܟܚܝ ܥܘܬܪܐ ܕܐܠ ܡܨܐ ܡܬܚܠܨ‬: ‫ ܘܐܠ ܚܫܒ ܕܐܘܒܕ ܗܘܐ ܢܟ̈ܣܘܗܝ‬.‫ܶܩ ܳܢܝܢܗ‬ ܰ ܳ ‫ܕܐܢ ܽܫ‬ ܶ .‫ܘܬܢ‬ ܳ ܰ ‫ܠܒܪ‬ ܺ ‫ܘܡܐ‬ ܳ ‫ܠܪ‬ ܳ ‫ܕܢ ܰܣܩ ܶܡܢ ܽܥ‬ ܰ ‫ܘܒܚܐ ܶܠܗ‬ ܳ ܰ ‫ܕܨ ܶܒܐ‬ ܳ ‫ܽܫ‬ ܳ ‫ܐ ܳܠ ܳܗܐ‬ ‫ܫܒܝܚܐ‬ : ‫ܘܡܩܐ‬ ‫ܒܚܝ̈ ܶ◌ܐ‬ ܰ ܳ ܰ ܳ ܰ ܶ ‫ܕܪ ܽܒ‬ ܳ ܳ ܺ ܺ ܽ ܰ ܳ ‫ܚܠܦ ܳܥ‬ ‫ܫܡ ܳܝܢܝܬܐ܀‬ ‫ܠܡܐ ܳܥ ܽܒܘܪܐ ܢܐܪܬ ܰܥ ܶܡܗ ܰܡܠܟܘܬܐ‬ ‫ ܘ‬:‫ܘܬܗ‬ 2.4 The Parable of the Rich man and Lazarus The parables were composed by the unique Word of the Father for our help. The Hymnographers therefore took them and shaped them in such a way that corresponded to the melodies required by the liturgical occasions. In doing this they also cared for the responses of those who pray. It is with such an introduction that the parable of the rich man and the poor Lazarus (Lk 16:19–31) is proposed in a stanza for the Ramsho of the fifth Sunday of the Lent: “The unique Son of the Father composed parables for our help. And He said: There was a rich man, who enjoyed his luxuries, and a poor Lazar, who was longing for the crumbs from this one. When he died, the angels carried him to the bosom of Abraham. Also the rich man died and went to the [place of] torment and inherited the eternal damnation also Gehenna, because he did not have compassion to his fellow being.” ܳ ܽ ܰ ܶ ܶ ‫ܝܕ ܳܝܐ ܶܡ‬ ܳ ‫ܺܝ ܺܚ‬ ܳ ‫ܠܬܗ ܰܕ‬ .‫ܠܥܘܕܪ ܰܢܢ‬ ‫ ܪ ܶܟܒ ܰܡܬ̈ܐܠ‬.‫ܐܒܐ‬ ܳ ܺ ܰ ܽ ܺ ܳ ܳ ܶ ܳ ܶ ܶ ܰ ܰ .‫ ܕܡܬܓܐܐ ܗܘܐ ܒܦܘ̈ܢܩܐ‬.‫ܶܘܐܡܪ ܕܐܝܬ ܗܘܐ ܥܬܝܪܐ‬ ܳ ‫ܐܟ‬ ܶ ‫ܗܘܐ‬ ܳ ‫ܐܒ‬ ܰ ‫ܬܝ‬ ܽ ‫ܣܒܥ ܶܡ‬ ܺ ‫ܘܚܕ ܶܡ‬ ܰ ‫ܕܢ‬ ܰ ܰ ‫ܣܟ ܳܢܐ ܳܠ ܳܥ ܰܙܪ ܶܡ‬ .‫ܘܠܬܐ‬ ܽ ܰ ܰ ܶ ܰ ܺ .‫ܘܟܕ ܡܝܬ ܐܘܒܠܘܗܝ ܡ̈ ܱ◌ܐܐܠܟܐ‬ ܳ ܰ ܽ ‫ܘܒܗ ܰܕ‬ ܶ ‫ܠܥ‬ ܽ .‫ܐܒܪ ܳܗܡ‬ ‫ܐܒܘܢ‬ ܳ ܺ ܰ ܶ ܰ ܶ ܰ ܺ ܺ ܰ ܳ .‫ܳܘܐܦ ܗܘ ܥܬܝܪܐ؛ ܡܝܬ ܘܐܙܠ ܠܗ ܠܬܫܢܝܩܐ‬ ܶ ܶ ܺ ܳ ‫ܓ ܰܗ ܳܢܐ ܰܥܠ ܳܕܐܠ ܰܚܢ‬ ܰ ‫ܗܘܐ‬ ܺ ‫ܒܓܘ‬ ܰ ‫ܠܥ ܰܠܡ‬ ܳ ‫ܝܪܬ ܳܘ ܳܝܐ ܰܕ‬ ‫ܠܒܪ ܶܒܣܪܗ ܀‬ ‫ܘ‬ This lyrical text, reduced to the essentials of the parable to accommodate the melody, succeeds in moving the readers to compassion.

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Penqito d-Hudrosha[n]tonoyo, Part II (From the beginning of the Great Lent until the Feast of Resurrection), Pampakuda 1963, 251.

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Hymnal Interpretation of the Parables

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2.5 The Parable of the Prodigal Son The parable of the prodigal son (Lk 15:11–32) was likewise a rich source for for Hymnographers. One finds several stanzas interpreting this parable for the spiritual benefit of the faithful, especially for leading them to repentance. The Ramsho (the evening prayer) on Monday begins with a short eqbo, which is an excellent summary of the whole parable, inviting all to repeat the confession of the prodigal son. [Htit ba-shmayo wa-qdomayk…] “I have sinned against heaven and in your sight, and I am not worthy to be called your son; take me as a hired servant and let me be a servant in your house, because I have sinned”7 .‫ܥܩܒܐ‬ ܶ ܶ ܳ ܺ ܰ ܳ ܳ ܳ ‫ܒܒ‬ ܺ ܶ ܳ ‫ܘܐܠ ܳܫ ܶܘܐ‬ ܳ ‫ܝܬܟ ܰܥ‬ ܰ ‫ ܰܩ ܶܒ ܰܠܝܢܝ‬.‫ܬܩܪܐ‬ ܳ ‫ܫܡ ܳܝܐ ܰܘ‬ ܰ ‫ܐܗܘܐ‬ ܰ ‫ܚܛܝܬ ܰܒ‬ ‫ܒܕܐ‬ ‫ܓܝܪܐ ܶܘ‬ ‫ܐܝܟ ܐ‬ ‫ܐܢܐ ܰܕܒܪܟ ܐ‬ ‫ܩܕ ܰܡܝܟ‬ ܺ ܰ ‫ܰܥܠ ܕܚܛܝܬ ܀‬ A longer hymn on the same parable is found in the Ramsho for the Fifth Thursday of Lent: “Our Lord said: A certain man had two sons. The younger son said to him: Give me my share of your household. I will go where I want. And the father gave it to him, and he went out as he wanted. And he was living prodigally. He sat down weeping to himself: who will persuade my father on account of my foolishness to receive me like a servant in his house”. The next stanza of the same hymn proceeds to the confession of the lost son, but it ends up in the imagery of the lost sheep of another parable. [The parable of the ‘Lost Sheep’ (Mt 18:12–14; Lk 15: 4–7)]. ‫ܛܘܒܝܟܝ ܥܕܬܐ‬ ܶ ܳ ܰ ܰ ܺ ‫ܬܪܝܢ‬ ܰ ܺ ‫ܒܢܝ̈ܢ‬ ܶ ܰ ‫ܗܘܘ‬ .‫ܓܒܪܐ‬ ‫ܠܚܕ‬ ‫ܐܝܬ‬ ‫ܐ ܰܡܪ ܳܡܪܢ‬ ܳ ܽ ܶ ܶ ܰ ܶ ܰ .‫ܘܐܡܪ ܠܗ ܗܘ ܒܪܗ ܙܥܘܪܐ‬ ܽ ‫ܰܗܒ ܺܠܝ ܳܝ‬ ܳ ‫ܪܬܘܬܝ ܶܡܢ ܰܒ‬ .‫ܝܬܟ‬ ܳ ܺ ܰ ‫ܐ ܰܙܠ‬ ܳ ‫ܐ‬ ܶ ܳ ‫ܝܟܐ‬ .‫ܕܨܒܐ ܐܢܐ‬ ܶ ܰ ܰ ܰ ܰ ܳ ܰ .‫ܘܝܗܒ ܠܗ ܘܢܦܩ ܐܝܟ ܕܨܒܐ‬ ܺ ‫ܗܘܐ ܰܦ ܳܪ ܳܚ‬ ܳ ‫ܚܝܐ‬ ܳ ‫ܰܘ‬ .‫ܐܝܬ‬ ܰ ܶ ܳ ܽ ܶ ܺ .‫ܘܝ ܶܬܒ ܒܟܐ ܠܩܢܘܡܗ‬ ܽ ܰ ܳ ܺ ‫ܕܡ ܽܢܘ‬ ܰ .‫ܢܦܝܣ ܐܠܒܝ ܰܥܠ ܣܟܠܘܬܝ‬ ܰ ܰ ܶ ‫ܒܒ‬ ܳ ‫ܰܕܐܝܟ ܰܥ‬ ܰ ‫ܒܕܐ‬ ‫ܢܩܒܠܢܝ ܀‬ ‫ܝܬܗ‬ In the melody of ‘tubayky ‘idto…, Men menyono da-m’o `erbinkashire… “From the hundred diligent sheep I am the miserably lost (one); the Evil One captured me in his envy, and behold, he leads me by his force. Oh Good Shepherd, go out in search of me, take me on your shoulders, and may the height and the depth rejoice over me and the holy faithful church [as well], so that I may perfect the garland of the hundred.”8

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Shimo, 178s. Penqito, 251s.

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‫ܛܘܒܝܟܝ ܥܕܬܐ‬ .‫ܶܡܢ ܶܡ ܳܢܝ ܳܢܐ ܰܕ ܳܡܐܐ ܶܥܪ̈ ܺܒܝܢ ܰܟ ܺܫܝܪ̈ ܶ◌ܐ‬ ܳ ܶ ܳ ‫ܐ ܳܢܐ ܳܕ‬ .‫ܐܢܐ‬ ‫ܘܝܐ ܳܛ ܶܥܐ‬ ܳ ܶ ܳ ܺ ܰ ܳ .‫ܰܕܫܒܢܝ ܒܝܫܐ ܒܚܣܡܗ‬ ܳ ܺ ܰ ܺ ܰ ܳ ܳ .‫ܩܛܝܪܐ‬ ‫ܘܗܐ ܕܒܪ ܠܝ ܒ‬ ܽ ܳ ܰ ܳ ܳ ܳ ‫ܳܪ‬ .‫ܥܝܐ ܛܒܐ ܦܘܩ ܒܒܥܬܝ‬ ܰ ܽ ܰ ܳ ܳ ܰ ܰ .‫ܘܫܩܘܠܝܢܝ ܥܠ ܟܬ̈ܦܬܟ‬ ܶ ‫ܘܡܩܐ ܶܢ‬ ܳ ‫ܘܥ‬ ܳ ‫ܰܪ‬ ܽ ‫ܘܡܐ‬ .‫ܚܕܐ ܺܒܝ‬ ܳ ܰ ܽ ܰ ܳ ܰ ܺ .‫ܘܥܕܬ ܩܘܕܫܐ ܡܗܝܡܢܬܐ‬ ܺ ܰ ܳ ܺ ܰ ܰ ܳ ‫ܕܠܟܠܝܐܠ ܕܡܐܐ ܫܡܠܝܬ ܀‬ 2.6 The Parable of the Good Samaritan The Fifth Sunday of Lent is, according to Pampakuda Penqito, based mainly on the parable of the man who descended from Jerusalem to Jericho, which is known also as the Parable of the Good Samaritan (Lk 10:30–37). In one of its hymns for Lilyo, the man who went down from Jerusalem to Jericho and was attacked by thieves refers to Adam, the head of our race, who descended from Paradise to the earth of curses. The thieves who attacked him are the Evil One (bisho) and the greedy Death (mawto ya’no). And the Good Samaritan is Christ himself. Tesmesto Qadmoyto d-Lilyo: In the tune of ‘b-qul medem etbaqit …’. “When the head of our race descended from the Paradise of delights to the earth of curses, because he broke the commandment, behold the Evil One and the greedy death fell upon him as thieves, stripped off his beauties, crushing and ruining him. Moses came and did not heal him. Aaron did not help him with his sacrifices. Christ who is named Samaritan bandaged his ulcers with his body and his blood and through baptism Christ renewed him and raised him up.”9 ‫ܒܟܠܡܕܡ ܐܬܒܩܝܬ‬ ܳ ‫ܰܟܕ ܳܢ ܶܚܬ‬ ܰ ‫ܓ‬ ܶ ‫ܗܘܐ ܺܪܝܫ‬ .‫ܢܣܢ‬ ܰ ‫ܶܡܢ ܰܦ‬ ܳ ܳ ‫ܪܕ‬ ܽ ܶ .‫ܝܣܐ ܕܒܘ̈ܣܡܐ‬ ܰ ܽ ܳ ܳ ܳ ܳ ܳ ܰ ܳ ‫ܰܐܠ‬ .‫ܪܥܐ ܕܠܘ̈ܛܬܐ ܥܠ ܕܕܫ ܦܘܩܕܢܐ‬ ܳ ܳ ܳ ܶ ܽ ܳ ܺ ܳ ܰ ܰ ܰ ܰ .‫ܘܗܐ ܒܝܫܐ ܘܡܘܬܐ ܝܥܢܐ ܒܕܡܘܬ ܓܝ̈◌ܣܐ‬ ܰ ܰ ܰ ܽ ܰ ܰ ܰ ܳ ܰ ܽ ܰ .‫ܢܦܠܘ ܥܠܘܗܝ ܘܫܠܚܘ ܒܘܦܪ̈◌ܗܝ ܘܛܒܚ ܐܦ ܣܚܦܘܗܝ‬ ܳ ܳ ܰ ܶ ܽ ܶ .‫ܶܘܐܬܐ ܡܘܫܐ ܘܐܠ ܐܣܝܗ‬ ܽ ܶ ܰ ܳ ܶ ‫ܐܗܪܘܢ‬ .‫ܒܕܒ̈ ܰܚܘܗܝ ܐܠ ܥܕܪܗ‬ ‫ܰܘ‬ ܳܳ ܳ ܺ ܶ ܺ ܳ ‫ܡܫ‬ .‫ܝܚܐ ܕܐܬܩܪܝ ܫܡܪܝܐ‬ ܶ ܰ ܶ ‫ܓܪܗ ܰܘ‬ ܰ ‫ܕܡܗ‬ .‫ܥܨܒ ܽܫܘܚ̈ ܰܢܘܗܝ‬ ‫ܒܦ‬ ܶ ‫ܝܬܐ ܰܚ‬ ܳ ‫ܘܕ‬ ܺ ‫ܥܡ‬ ܽ ‫ܒܡ‬ ܶ ‫ܐܩ‬ ܺ ‫ܕܬܗ ܰܘ‬ ܰ ‫ܰܘ‬ ‫ܝܡܗ ܀‬ Another Hymn narrates the same parable and states towards the end that the Lord alone, unlike the Priest and the Levite, cared for the man attacked by thieves. Qolo hrino: Thar Gabriel... “A certain man descended from Jerusalem to wearisome Jericho: thieves fell upon him, without mercy they struck him down, bruised him, plundered him, striped him 9

Ibid., 253.

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off and left him, who was abandoned on the ground, when he was like a dead person. The Priest saw him and did not help him. Also the Levite [saw him] and he did not bandage him. And the Lord alone cared for him.”10 ‫ܬܗܪ ܓܒܪܐܝܠ‬ ܳ ܰ ܶ ܺ ܽ ܳ ‫ܒܪܐ ܰܠܡ ܰܚܕ ܳܢ ܶܚܬ‬ ‫ܐܘܪܝܫܠܡ‬ ‫ܗܘܐ ܶܡܢ‬ ‫ܓ‬ ܺ ܺ ܳ ܰ ܳ ܰ ܽ ‫ܠܘܬ ܐܝܪܝܚܘ ܡܫܦܠܬܐ‬ ܰ ܳ ܰ ܶ ܰ ‫ܰܘܢܦܠܘ ܥܠܘܗܝ ܓܝ̈◌ܣܐ‬ ܽ ܰ ܶ ◌ܰ ̈‫ܰܘ ܳܕܐܠ ܪ‬ ܰ ‫ܚܡܐ ܰܛ ܰܒܚܘ ܘܡܚܐܘܘܗܝ‬ ܽ ‫ܰܨ‬ ܽ ܳ ܰ ܰ ‫ܠܦܘܗܝ‬ ܽ ‫ܘܒܙܘܗܝ ܐܦ ܫܠܚܘܗܝ‬ ܰ ܰ ܳ ܽ ܰ ܳ ‫ܘܫܒܩܘܗܝ ܕܫܕܐ ܰܥܠ ܐ‬ ‫ܪܥܐ‬ ܳ ܳ ܰ ܺ ‫ܰܟܕ ܐܝܟ ܡܝܬܐ ܗܘܐ‬ ܶ ܰ ܳ ܳ ‫ܚܙܝܗܝ ܳܟ‬ ܳ ‫ܰܘ‬ ‫ܗܢܐ ܘܐܠ ܥܕܪܗ‬ ܶ ܳ ܳ ܶ ܰ ܳ ‫ܘܠ ܳܘܝܐ ܘܐܠ ܥܨܒܗ ܗܘܐ‬ ܶ ܰ ܰ ‫ܠܚ‬ ܳ ܽ ‫ܪܝܐ ܰܒ‬ ܳ ‫ܘܡ‬ ‫ܘܕܗܝ ܣܥܪܗ ܀‬ This stanza leaves out the name of the Good Samaritan. In his place the name of the Lord is given. It clearly states that Christ is the Good Samaritan. According to another hymn (Madrosho), Christ is named the “Samaritan” (Shomroyo) who dressed up the wounds of the victim with wine and oil. Tune: Honaw yarho… “The priest passed by and saw him and left him without healing. And also the Levite did not help him. And you who is called ‘Samaritan’, you wanted and you bandaged with oil his wounds and healed his infirmities.”11 ‫ܗܢܘ ܝܪܚܐ‬ ܶ ܰ ܶ ܳ ܳ ‫ܣܝ‬ ܳ ‫ܕܪܗ‬ ܳ ‫ܗܢܐ ܰܘ‬ ܳ ‫ܗܘܐ ܳܟ‬ ܳ ‫ܥܒܪ‬ ܰ ‫ܒܩܗ ܳܕܐܠ‬ ܶ ‫ܘܫ‬ ܰ ‫ܚܙܝܗܝ‬ ܰ ܽ ‫ܐ‬ ‫ܗܘܐ؛ ܰܘܐܢܬ‬ ‫ ܳܘܐܦ ܠ ܳܘ ܳܝܐ ܘܐܠ ܥ‬.‫ܘܬܐ‬ ܺ ܳ ܳ ܺ ܰ ܳ ܶ ܰ ܺ ܽ ܶ ܳ ܰ ܰ ܰ ܳ ܰ ܳ ܰ ‫ܕܫܡܪܝܐ ܐܬܩܪܝܬ ܕܨܒܝܬ ؛ ܒܚܡܪܐ ܘܡܫܚܐ‬ ‫ܥܨܒܬ ܡܚ̈ܘܬܗ ܘܐܣܝܬ ܡܘܡܘܗܝ܀‬ In another poem one finds more details of the compassionate handling of the wounded one by the Good Samaritan: Tune: Hdaw ‘amme… “The Samaritan man indeed saw him [the victim] while he was passing through the way. He stopped his journey in his love for him, pouring on him his compassion. He poured wine on his wounds and made them tender by oil. Blessed is he who carried our pains.”12 ‫ܚܕܘ ܥܡܡܗ‬ ܳ ܳ ܶ ܳ ܳ ‫ܚܙܝܗܝ‬ ܳ ‫ܡܪ ܳܝܐ‬ .‫ܗܘܐ‬ ‫ܐܢܫ ܕܝܢ ܫ‬ ܳ ‫ܰܟܕ ܳܥ ܰܒܪ‬ ܳ .‫ܐܘܪܚܐ‬ ‫ܗܘܐ ܽܒ‬ ܳ ܶ ‫ܪܕ‬ ܺ ‫ܟܐܠ ܰܡ‬ ܶ ‫ܒܚ‬ ܽ ‫ܝܬܗ‬ .‫ܘܒܗ‬ ܰ ܰ ܶ ܳ ܶ .‫ܘܪܣܣ ܥܠܘܗܝ ܚܢܢܗ‬ ܳ ܰ :‫ܢܨܠ ܰܥܠ ܰܡܚ̈ ܳܘ ܶܬܗ ܰܚܡܪܐ‬ 10 Penqito, 253. 11 Ibid., 254. 12 Ibid.

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ܶ ‫ܫܚܐ ܰܪ ܶܟܟ‬ ܶ ‫ܰܘ‬ ܳ ‫ܒܡ‬ :‫ܐ ܶܢܝ̈ܢ‬ ܺ ܰ ܺ ܽ ܰ ܶ ‫ܒܪܝܟ ܗܘ ܕܛܥܢ ܠܟܐܒܝ̈ܢ ܀‬ There is a clearer text that expounds the purpose of this parable. It was to teach the faithful that the so called Samaritan is the Lord of Natures [More qyone] who dressed and healed the wounds of abandoned Adam and led him back to his inheritance. A Qolo of the 2nd Service [teshmeshto] of the Lilyo of the Monday in the 5th Week of the Lent runs as follows: Melody: Mo rhimindukronaykun… “Our Lord said while teaching that a certain man went down from the heights of Eden to the earth filled with curses like the wearisome Jericho. Figurative thieves attacked him; cast him down, leaving him in contempt. Glory to the Son of God, who showed to the Jews through imageries that He, whom they named ‘Samaritan’ is the Lord of Natures and He dressed and healed the wounds of abandoned Adam and made him return to his heritage.”13 ‫ܡܐ ̈ܪܚܝܡܝܢ‬ ܳ ܳܰ ܰ ‫ܘܒܚܐ ܶܠܗ‬ ܳ ‫ܽܫ‬ .‫ܐܠ ܳܗܐ ܰܕܒ̈ ܶܦܐܠ ܳܬܐ‬ ‫ܠܒܪ‬ ܳ ܳ ܶ ܳ ܳ ܰ ܽ ܽ ܶ ܳ :‫ ܕܐܦܢ ܫܡܪܝܐ ܟܢܝܘܗܝ‬.‫ܰܚ ܺܘܝ ܠܝܘ̈ܕܝܐ‬ ܶ ܰ ‫ܐ‬ ܺ ‫ܽܗܘ‬ :‫ܝܬܘܗܝ ܳܡܪܐ ܟܝ̈ ܳ◌ ܶܢܐ‬ ܰ ܶ ܳ ܰ ܳ ܳ ܺ ܽ ܰ ܳ ܰ .‫ܘܗܘ ܥܨܒ ܘܐܣܝ ܡܚ̈ܘܬܗ ܕܐܕܡ ܪܡܝܐ‬ ܽ ܶ ܶ ܳ ‫ܰܘܐܦܢܝܗ ܠܝܪܬܘܬܗ‬ The next stanza of the same hymn clearly indicates the identity of the man who was attacked by the thieves on the way from Jerusalem to Jericho: he is Adam. “This victim was Adam, who sinned and broke the command. When he descended from Paradise Death and Satan ruined him.”14 ‫ܗܢܘ ܝܪܚܐ‬ ܳ ‫ܣܝ‬ ܳ ‫ܗܢܐ ܰܘ‬ ܳ ‫ܗܘܐ ܳܟ‬ ܳ ‫ܥ ܰܒܪ‬ ܳ ‫ܒܩܗ ܳܕܐܠ‬ ܶ ‫ܘܫ‬ ܰ ‫ܚܙܝܗܝ‬ ܽ ‫ܐ‬ ‫ܘܬܐ‬ ܶ ܰ ܶ ܳ ܳ ܳ ܳ ‫ܳܘܐܦ ܠܘܝܐ ܘܐܠ ܥܕܪܗ ܗܘܐ‬ ܺ ܶ ܳ ܳ ܰ ܰ ܳ ‫ܰܘܐܢܬ ܕܫܡܪܝܐ ܐܬܩܪܝܬ ܕܨܒܝܬ‬ ܶ ܰ ܺ ܽ ܶ ‫ܚܡ ܳܪܐ‬ ܰ ܳ ‫ܰܒ‬ ܳ ‫ܘܡ‬ ܰ ‫ܫܚܐ‬ ‫ܥܨܒܬ ܰܡܚ̈ ܳܘܬܗ ܘܐܣܝܬ ܡܘ̈ܡܘܗܝ ܀‬

3 Conclusion The distinction of Syriac liturgy consists of the fact that the Psalms take a comparatively small place. “They are replaced by songs in the form of antiphons known as Qolos and Bo’uthos (Petitions). Their origin is traced back to Mar Ephrem and Mar Balai, who lived in the fourth century and James of Sarug in Mesopotamia (which the liturgy describes as a 13 Penqito, 256s. 14 Ibid., 260.

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Hymnal Interpretation of the Parables

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‘sea of wise men’), who lived in the fifth century. The shorter antiphons known as Eqbos and Enionos are not unlike the short antiphons, which accompany the Psalms in the Latin rite, while the Qolos and Bo’uthos are more like the long antiphons such as are found in the liturgy of Holy Week. It is in these songs that the genius of the Syrian rite is found. They are poetic in form, being based on a regular syllabic pattern, but still more in spirit. They are in fact, one of the most authentic expressions of the Christian spirit. All the mysteries of the Christian faith, the Trinity and the Incarnation, the Cross and the Redemption, the Resurrection and the Second Coming, the Church as the Bride of Christ, Mary the Mother of God and the saints of the Old and New Testament, the dead in ‘Sheol’ and the expectation of the return to Paradise, all those themes are treated with a wealth of poetic beauty which has never been equalled. The meditation on the mysteries of faith seems to awake in these writers (who were mostly monks) an inexhaustible flow of poetry, which is both profoundly theological and astonishingly original. It is hoped that this rendering of them into English will not have emptied them of this rare poetic beauty.”15 Liturgical theology of the Syriac churches is oriented towards poetry and mysticism. This is all the more certain because the ultimate roots of Syriac Christian theology are scriptural in character.16 Syriac Christianity is a continuation of a culture, which produced the Old and the New Testaments. Unfortunately, this historical fact is very much neglected by many Christian theologians. A theology apart from revelation and sacred scripture is a contradiction in terms according to Syriac sources. The canonical scriptures are complemented, explained, and interpreted through the apocryphal writings. When the Syriac theologians interpreted scriptural passages, they do not neglect the socio-cultural background in which the revelation took place. So there is no strict boundary between scripture, interpretations, and the overall cultural background. The sacred is underpinned with the secular and social. The Puritanism of the modern scriptural scholarship is entirely absent in the early Syriac exegetical tradition. Syriac Fathers are eminent experts of scripture. Aphrahat calls himself the disciple of the Holy Scripture. It is equally true of his contemporary Ephrem. Almost all the Syriac writers before and after them follow their example. They meditate on various narrations, personalities, and events portrayed in the Bible. They use their imagination and intuition in clarifying the message of scripture. A sense of humour penetrates their understanding of various passages of the Bible. This makes their interpretations lively and enjoyable. Ordinary people could profit from this. Even minute points are taken up in this sort of biblical interpretation. The curiosity of the readers is taken care of. Sometimes details that are absent in scripture are fished out from oral traditions, Targumic and Rabbinic interpretations etc.17 As a result the readers come across a very fruitful way of approaching the world of revelation in the context of 15 Bede Griffiths, The Book of Common Prayer of the Syrian Church (translated into English), Wagamon 1960, xi–xii. 16 See Etudes Syriaques 2; Les apocryphes syriaques, Paris 2005; Margaret Beirne, Scripture in the Works of St. Gregory the Theologian (Phronema 26.2), Redfern/ Australia 2011, 47–63. 17 William Wright, Catalogue of the Syriac Manuscripts in the British Museum acquired since the Year 1838, London 1870 (Vol. 1), 1871 (Vol. 2) and 1872 (Vol. 3) = Part I: Gorgias Press 2002: Sections on: Psalters 116–145; Choral Books 240–329; Hymns, 330–382. Robert D Miller II, OFS, The Psalms as Israel’s Prayer and Our Own (Christians Heritage Rediscovered 2), New Delhi 2013.

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meditation and prayer rather than soul-less intellectual scrutiny. The homiletic purpose of the authors is self-evident. Liturgical poetry is for a pedagogical motive that takes the readers to the presence of a self-revealing God. Vivid imagination, incredible insights into inner psychology, intriguing details of biblical presentation, vibrant dialogue of various biblical figures, lively narratives, dramatic tensions etc. appear here and there, making their scriptural interpretation very arresting to the reader. In a way, the Syriac Fathers try to explain the message of salvation with the help of psychological, typological, and symbolic methods of interpretation. They are not limited to verbalism, historical details, and insignificant elements of scripture. They take the scripture as if it is presently alive. It is not a dead letter of the past. Intellectual scrutiny is not their key of interpretation. Human elements in scriptures attract their attention. Syriac liturgy is very much enriched by these sorts of patristic literature, out of which Syriac Christian theology and mysticism flourished into what it is now.

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Zur Etymologie des Namens Elchasai J. Jürgen Tubach Den Namen des Stifters der hemerobaptistischen Gemeinschaft der Elchasaïten1 ist in diversen orthographischen Varianten überliefert. In Hippolyts Refutatio omnium haeresium erscheint der Name als Ἠλχασαΐ,2 was der älteste Beleg ist. Der gelehrte Hippolyt, ein Schüler von Irenäus von Lyon († ca. 200 n. Chr.), schrieb seine Widerlegung von 32 ihm bekannten Häresien um 230, ehe er 235 nach Sardinien verbannt wurde, wo er bald darauf starb. In Methodiosʼ von Olympos (Olympos in Lykien)3 Opus mit dem Titel Συμπόσιον ἢ περὶ ἁγνείας (Convivium virginum)4 wird an einer Stelle einmal Elchasai als Ἐλχασαῖος (zusammen mit Markion und Valentin) erwähnt (VIII.10).5 Das Werk lehnt sich zwar an Platons Gastmahl an, Methodios lässt aber 10 Jungfrauen im Garten der Arete (ἀρετή) über die Keuschheit als oberste Tugend diskutieren bzw. sie preisen. Die Orthographie des Namens Elchasai ist leicht verändert. Statt des Langvokals am Wortanfang erscheint ein kurzer Vokal und am Wortende die griechische Maskulinendung -ος. Der Vokal in der ersten Silbe wurde wohl absichtlich abgewandelt, um eine itazistische Aussprache zu verhindern. Methodios verfasste sein Gastmahl vermutlich in der zweiten Hälfte des 3. Jh.s. Sein Tod 1

Zu den Elchasaïten vgl. Gerard P. Luttikhuizen, The Revelation of Elchasai. Investigations into the Evidence for a Mesopotamian Jewish Apocalypse of the Second Century and its Reception by JudeoChristian Propagandists (Texte und Studien zum Antiken Judentum 8), Tübingen 1985; F. Stanley Jones, Pseudoclementina Elchasaiticaque inter Judaeochristiana. Collected Studies (OLA 203), Leuven 2012, 239ff. 2 IX.4/IX.131.152.172 /X.29, vgl. Hippolytus Werke III. Refutatio omnium Haeresium, hg. v. Paul Wendland (GCS 26), Leipzig 1916; Refutatio omnium Haeresium edited by Miroslav Marcovich (PTS 25), Berlin-New York 1986, Repr. 2014; Luttikhuizen, Revelation, 42.44.48.52. – Man könnte den Namen auch mit einem spiritus asper lesen, was aber explizit nur bei Euseb vorkommt (Historia ecclesiastica VI.38, vgl. Luttikhuizen, a.a.O., 89.179: Ἑλκεσαϊταί). 3 Zu Leben und Werk vgl. Methodius of Olympus. State of the Art and New Perspectives, edited by Katharina Bracht (TU 178), Berlin 2017; Katharina Bracht, Vollkommenheit und Vollendung. Zur Anthropologie des Methodius von Olympus (STAC 2), Tübingen 1999; Lloyd George Patterson, Methodius of Olympus. Divine Sovereignty, Human Freedom, and Life in Christ, Washington 1997. 4 Vgl. dazu Dawn LaValle Norman, The Aesthetics of Hope in Late Greek Imperial Literature. Methodius of Olympusʼ Symposium and the Crisis of the Third Century (Greek culture in the Roman world), Cambridge-New York u.a. 2019. 5 Methode d’Olympe. Le banquet. Introduction et texte critique par Herbert A. Musurillo. Traduction et notes par Victor-Henry Debidour (SC 95), Paris 1963, 226; Luttikhuizen, Revelation, 143; St. Methodius. The symposium, a Treatise on Chastity translated and annotated by Herbert A. Musurillo (ACW 27), London 1958, 116.224: Elchasai; anders MPG 18, 153C: Ἐλκεσαῖος; desgl. S. Methodii Opera et S. Methodius Platonizans edidit Albertus Jahnius, Halle 1865, 37; Leonhardt Fendt, Des heiligen Methodius von Olympus Gastmahl oder die Jungfräulichkeit (BKV R. 1, Bd 2,3), Kempten-München 1911, 85: Elkesaios.

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fällt entweder ans Ende der diokletianischen Verfolgung in die Zeit von Maximinus Daia (311–313) oder in die Zeit von Kaiser Decius (249–251). In der Regel nimmt man an, dass Methodios um 311/12 n. Chr. starb. Ins letzte Drittel des 3. Jh. n. Chr. gehört vermutlich die Namensform, die der Kölner Mani-Kodex (Cologne Mani Codex) bietet. Mani wuchs bekanntlich in einer elchasaïtischen Täufergemeinschaft im südlichen Babylonien auf, die sich auf Ἀλχασαῖος als Stifter zurückführte und der im Text mehrmals genannt wird.6 Bis auf den Vokal am Wortanfang stimmt die Namensform mit Hippolyt und Methodios überein. Während ein Wechsel der Vokale ε und η im Griechischen durchaus vorkommt,7 ist ein Wandel von ε/η zu α nicht möglich.8 Die parthische Tradition der Manichäer gab den Namen als ʾlxsʾ wieder, was als Alxasā zu vokalisieren wäre9 und bei Ibn an-Nadīm († 995 oder 998) in seinem langen Bericht über die Manichäer in seinem Kitāb al-Fihrist als al-Ḥasīḥ (‫ )ﺍﻟﺤﺴﻴﺢ‬erscheint,10 6 Der Kölner Mani-Kodex. Über das Werden seines Leibes. Kritische Edition aufgrund der von A. Henrichs und L. Koenen besorgten Erstedition hg. v. Ludwig Koenen und Cornelia Römer (ARWAW, Sonderreihe Papyrologia Coloniensia XIV), Opladen 1988, 94 u. ö.; Luttikhuizen, Revelation, 156 u. ö.; vgl. noch Karl M. Woschitz, Das Urdrama des Lichtes. Zum gnostischen Lehrgebäude Manis, in: Johannes B. Bauer/Hannes D. Galter, steirischer herbst. Gnosis. Vorträge der Veranstaltungsfolge des Steirischen Herbstes und der Österreichischen URANIA für Steiermark vom Oktober und November 1993 (GrTS 16), Graz 1994, 121–154, 127: Alhkasa, wohl für Alkhasa. 7 Francis Thomas Gignac, A Grammar of the Greek Papyri of the Roman and Byzantine Periods I. Phonology (Testi e documenti per lo studio dell'antichità 55,1), Milano 1976, 235.242–249. 8 Reinhold Merkelbach, Die Täufer bei denen Mani aufwuchs, in: Peter Bryder, Manichaean Studies. Proceedings of the First International Conference on Manichaeism, (Lund Studies in African and Asian Religion 1), Lund 1988, 105–133, 108 Anm.8, = Philologica. Ausgewählte kleine Schriften, StuttgartLeipzig 1997, Repr. Berlin 2012, 401-430, 404, hatte gewisse Zweifel an den Sprachkenntnissen von Epiphanios. Daher teilte er zwar die von Epiphanios vorgenommene Etymologie mit, hatte aber anscheinend Bedenken, ob das richtig ist. Die erste Silbe des Namens Alchasaios hielt er für den Artikel, was er aber nicht näher erklärt („nun mit Αλ-, was nach dem Artikel aussieht“). 9 Desmond Durkin-Meisterernst, Dictionary of Manichaean Texts III. Texts from Central Asia and China, Part 1 (CFM.S), Turnhout 2004, 36; sowie Werner Sundermann, Mitteliranische manichäische Texte kirchengeschichtlichen Inhalts mit einem Appendix von Nicholas [John] Sims-Williams (Schriften zur Geschichte und Kultur des Alten Orients, Berliner Turfantexte 11), Berlin 1981,19 Z. 26; Ders., Iranische Lebensbeschreibungen Manis, in: AcOr 36 (1974), 125–149, 148f. 10 Daniel Chwolsohn, Die Ssabier und der Ssabismus Bd. I: Die Entwicklung der Begriffe Ssabier und Ssabismus und die Geschichte der harrânischen Ssabier oder der syrohellenistischen Heiden im nördlichen Mesopotamien und in Bagdâd zur Zeit des Chalifats; Bd. II: Orientalische Quellen zur Geschichte der Ssabier und des Ssabismus, St. Petersburg-Leipzig 1856, Repr. Amsterdam 1965, Bd. II, 543 Z. 2: ‫ﺍﻟﺤﺴﻴﺢ‬, Var.im App.: ‫ﺍﻟﺤﺴﺢ‬, ‫ﺍﻟﺤﯨﺢ‬, ‫ ;ﺍﻟﺤﺴﺞ‬Gustav Leberecht Flügel, Mani, seine Lehre und seine Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte des Manichäismus. Aus dem Fihrist des Abû'lfaradsch Muḥammad ben Isḥaḳ al-Warrâḳ, bekannt unter dem Namen Ibn Abî Jaʿḳûb an-Nadîm, im Text nebst Uebersetzung, Commentar und Index zum ersten Mal herausgeben, Leipzig 1862, Repr. Osnabrück 1969, 132–134; Kitâb al-Fihrist mit Anmerkungen herausgegeben von Gustav Flügel. Nach dessen Tode besorgt von Johannes Roediger und August Mueller, I. den Text enthaltend von Johannes Roediger, II. die Anmerkungen und Indices enthaltend von August Mueller, Leipzig 1871f, I 340 Z. 26 /1, II, 177f: handschriftl. Var.: ʾl-Ḥsǧ, ‫ﺍﻟﺤﺴﺞ‬, ʾl-Ḥsḥ, ‫ﺍﻟﺤﺴﺢ‬, besser wäre jedoch: ‫ ﺍﻟﺤﺴﺞ‬oder ‫ ;ﺍﻟﺨﺴﺞ‬Kitāb al-Fihrist li'n-Nadīm. Taḥqīq Riḍā Taǧaddud [Reza Tajaddod], Tihrān 1971, 21973, 403–404; Bayard Dodge, The Fihrist of al-Nadīm. A Tenth-Century Survey of Muslim Culture I.II (Records of civilization. Sources and studies 83), New York-London 1970/Chicago 1998, II, 811, François de Blois, The ‘Sabians’ (sābiʾūn) in PreIslamic Arabia, in: AcOr 56 (1995), 39–61, 55f. – Die Identifikation mit Elchasai geht auf Chwolsohn zurück, Bd. I, 112–120, 112: „einen gewissen ‫ﺍﻟﺤﺴﻴﺢ‬, El’hasai’h (spr. Elchasaich)“, sowie 114-116.

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Zur Etymologie des Namens Elchasai

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sofern die Orthographie richtig ist.11 Sieht man vom Endkonsonanten ab, entspräche das Schriftbild dem Parthischen.12 Für eine identische Aussprache müsste man im Arabischen den diakritischen Punkt ändern.13 Einer befriedigenden Erklärung entzieht sich allerdings der Endkonsonant, der etymologisch sinnlos ist, aber offenbar eine orthographische Funktion hat, eventuell analog zu griechischen Transkriptionen aramäischer Wörter, wo am Wortende ein χ oder κ verwandt wird, das im Original keine Vorlage hat.14 Träfe das zu, würde das arabische ‫( ﺥ‬oder ‫ )ﺡ‬am Wortende andeuten, dass der vorhergehende Konsonant mit einem langen Vokal a zu lesen ist, aber keine Deklination besitzt. Im 11. Scholion seines 791/92 n. Chr. verfassten Scholienbuches, eines Kommentars zum Alten Testament, behandelt Theodor bar Konai diverse gnostische Gruppen (abgesehen von den Manichäern) aus seiner babylonischen Heimat. Er selbst stammte aus Kaškar

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119.133. Die Etymologie von Epiphanios, der den Namen Elchasai als „die verborgene Kraft“ deutete, hielt Chwolsohn für falsch (117), da bei ihm eine „Sucht“ vorliege, alles aus dem Hebräischen zu erklären (119). Daher müsste man „bei seinen Etymologien sehr auf der Huth sein.“ Die einfachste Lösung der rätselhaften Orthographie stellt die Annahme eines Fehlers dar. Nach Schaeder „läßt sich zeigen, daß die Schreibung ʾlḥsḥ (so! vgl. die Varianten zu Fihr. 340 n. 12) verdorben ist aus ʾlhsj.“ Das sei aber nur ein Versuch, Hippolyts ηλχασαι zu transkribieren. Dasselbe gilt für Theodor bar Konais ‫”אלכסא‬, Hans Heinrich Schaeder, Urform und Fortbildung des manichäischen Systems, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 4, Vorträge 1924/25, Leipzig-Berlin 1927, 65–157, 70 Anm. = Studien zur orientalischen Religionsgeschichte. Hrsg. mit einem Nachwort von Carsten Colpe, Darmstadt 1968, 15-107, 20. Leider gibt es in der Anm., die schon auf der vorhergehenden Seite beginnt, keine näheren Details zur Etymologie. Ähnlich Richard N. Frye, The Cologne Greek Codex about Mani, in: Ex orbe Religionum. Studia Geo Widengren XXIV mense apr. MCMLXXII quo die lustra tredecim feliciter explevit oblata ab collegis, discipulis, amicis, collegae magistro amico congratulantibus I (SHR 21,1), Leiden 1972, 424–429, 427: “There the founder of Manisʼ baptism was called al-Ḥasiḥ (alKsai).” Nach Wilhelm Brandt, Elchasai, ein Religionsstifter und sein Werk, Leipzig 1912, Repr. Amsterdam 1971, 8, würde die Deutung des Namens ηλχασαι als ‫„( אל כסי‬verborgener Gott“) besser zu ‫ﺍﻟﺤﺴﺢ‬ passen. Wegen der Unsicherheit bei der Setzung der diakritischen Punkte in der handschriftlichen Überlieferung, der eine gewisse Unschärfe anhafte, nahm Brandt davon Abstand. Der aus dem Reichsaramäischen stammende Buchstabe Ḥet (‫ )ח‬wird im iranischen Hochland wie das arabische ḫa (‫ )ﺥ‬ausgesprochen und in der Regel als x transkribiert. Unter mittelpersischem Einfluss wandelt sich im Ostsyrischen der gleiche Buchstabe (‫ )ܚ‬in der Aussprache zu ḫ, was aber in der Umschrift aus semitistischen Gründen in der Regel unberücksichtigt bleibt, um Verwechselungen zu vermeiden. In der Aussprache gibt es keinen Unterschied zwischen dem arabischen ḫa (‫ )ﺥ‬und dem mittelpersischen oder mittelparthischen Ḥet. Das Syrische kennt sekundär diesen Laut ebenfalls, wenn der Konsonant k spiriert ausgesprochen wird. Ἁκελδαμάχ, Ακελδαμακ, Αχελδαμαχ neben Ακελδαμα < ‫( חקל דמא‬Bauer-Aland, Griechisch-deutsches Wörterbuch, Berlin-New York 61988, 58, weitere Beispiele bei Gustaf Dalman, Grammatik des jüdischpalästinischen Aramäisch nach den Idiomen des palästinischen Talmud, des Onkelostargum und Prophetentargum und der jerusalemischen Targume. Aramäische Dialektproben, Leipzig 21905/21927, Repr. Darmstadt 1960 u. ö., 202 Anm. 3; Friedrich Blass/Albert Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, rev. Ausgabe, Göttingen 111961, 28 § 39,3. – Nach Dalman zeigt der Schlusskonsonant χ an, dass das Wort indeklinabel ist. Bei Friedrich Blass/Albert Debrunner/Friedrich Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, rev. Ausgabe, Göttingen 182001, 32 Anm. 4 § 39, heißt es dazu etwas lapidar: „Befremdlich χ für ‫ א‬in Ἁκελδαμάχ“; desgl. Blass/Debrunner, 28. Die Umschrift Αχελδαμαχ setzt ein aramäisches ‫ חכל דמא‬voraus, was zwar orthographisch ein Fehler ist, aber der späteren Aussprache in Palästina entspricht. Als Reibelaut wird χ ab dem 4. Jh. n. Chr. ausgesprochen und entspricht dann dem arabischen ‫ﺥ‬.

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(arab. Kaskar am Duǧayla gegenüber von al-Wāsiṭ).15 Ein kurzer Abschnitt16 ist den Sampsāyē (‫)ܣܐܡܦܣܝܐ‬17, die auch ʾElksāyē/ʾAlksāyē (‫)ܐܠܟܣܝܐ‬18 genannt werden, und ihrem Stifter, dem „Lügenpropheten (nḇīyā ḏaggālā)“ ‫( ܐܠܟܣܐ‬ʾElksā oder ʾAlksā),19 gewidmet. Als ihr Verbreitungsgebiet gibt Theodor die Küsten des Erythräischen Meeres (yammā summāḵā) an, was auch in manichäischen Quellen belegt ist. Lehrmäßig würden sie sich von den Ebioniten (ʾEḇyōnē) nicht unterscheiden. Da obendrein auch Mārtūs (‫ )ܡܐܪܬܘܣ‬und Mārtānā (‫[ ܡܐܪܬܐܢܐ‬unsere Herrin]20), zwei Frauen aus der Familie des Propheten, erwähnt werden, die auch bei Epiphanios (als Μαρθοῦς und Μαρθάνα) vorkommen, besteht keinerlei Zweifel, dass es sich um den aus dem Kölner Mani-Kodex bekannten Ἀλχασαῖος handelt bzw. um Alxasā aus der manichäisch-iranischen Tradition. Theodors Quelle ist jedoch nicht unmittelbar Epiphanios, wie manchmal angenommen wird,21 sondern eine Tradition, die letztlich irgendwie auf Epiphanios zurückgeht, aber wegen der Orthographie der Namen eine babylonische Tradition widerspiegelt, sonst hätte man nicht nach typisch mandäischer Manier ‫ ܐ‬als Vokalbuchstabe benutzt.22 Ausführlich über die Elchasaiten berichtet Epiphanios von Salamis (= Constantia, 368– 403) in seinem Panarion (Arzneikasten [gegen alle Irrlehren]) anlässlich der Behandlung der Ossäer, Ebioniten (Ἐβιωναῖοι, hebr. ‫ )אֱבְ יוֹנׅ ים‬und Sampsäer (Σαμπσαῖοι = Ἡλιακοί23). Epiphanios stammte aus einem Dorf bei Eleutheropolis (aram. Bēṯ Guḇrīn [im Talmud, 15 In sassanidischer Zeit hieß die Stadt offiziell Xosrau Šābuhr und lag am Westufer des „kleinen Tigris“. Kirchlich gehörte sie als Bischofssitz zur Hyparchie Bēṯ ʾArāmāyē, die in der staatlichen Verwaltung Sūristān oder Asūristān hieß. Daran änderte sich auch nichts, als der Duǧayla (oder Šatt-ʾAnadar) seinen Lauf verlagerte und die Stadt am Ostufer lag. Am Westufer ließ al-Ḥaǧǧāǧ ibn Yūsuf (661–714) ab 702 das heutige al-Wāsiṭ errichten. Nach Yāqūt besaß al-Wāsiṭ einen Vorgänger und hieß ursprünglich Afruniyya (= Apollonia), vgl. Ernst Herzfeld, Die Ausgrabungen von Samarra VI. Geschichte der Stadt Samarra (Forschungen zur Islamischen Kunst 2), Hamburg 1948, 20; d.h. die ansonsten unbekannte griechische Gründung war in der Nähe des alten Kaškar angelegt worden. 16 Henri Pognon, Inscriptions mandaïtes des coupes de Khouabir. Texte, traduction et commentaire philologique avec quatre appendices et un glossaire, Paris 1899, Repr. Amsterdam 1979, 122 Z. 1–7/176; Addai Scher (Šēr), Theodorus bar Koni. Liber Scholiorum II (CSCO.S 69/26) Louvain 1954, 307 Z. 1– 7; Robert Hespel/René Draguet, Théodore bar Koni. Livre des scolies (recension de Séert) II. Mimrè VI–XI (CSCO.S 432/188), Louvain 1982, 229 17 Im Text ohne die Nisbe (‫)ܣܐܡܦܣܐ‬, was aber ein Fehler ist. 18 Das ‫ ܐܩܠܣܝܐ‬des syrischen Textes ist ein Fehler. Es müsste analog zum Stifter ‫ ܐܠܟܣܝܐ‬heißen; vgl. Pognon, Inscriptions, 176. 19 Pognon, a.a.O., 122 Z. 3/176; Scher, a.a.O., 307 Z. 3f; Hespel/Draguet, a.a.O., 229: „du nom dʼ[Elqasaï].“ 20 Abenteuerliche Etymologie bei Christoph Elsas, Neuplatonische und gnostische Weltablehnung in der Schule Plotins (RGVV 34), Berlin-New York-Boston 1975, 201,536f. 21 Kurt Rudolph, Die Mandäer I. Prolegomena: Das Mandäerproblem (FRLANT 74, NF 56), Göttingen 1960, 238 Anm. 3; Pognon, a.a.O., 106f. 22 Im klassischen Syrisch wird ‫ ܐ‬gelegentlich in Lehnwörtern aus dem Griechischen für α verwendet, selten in syrischen Wörtern für ein kurzes a. Als Vokalzeichen kommt ‫ א‬auch im jüdischen Mittelbabylonisch vor, in Dura Europos (Klaus Beyer, Die aramäischen Texte vom Toten Meer samt den Inschriften aus Palästina, dem Testament Levis aus der Kairoer Genisa, der Fastenrolle und den alten talmudischen Zitaten, Göttingen 1984, 411), sowie im manichäischen Mittelpersisch/Mittelparthischen, wo es allerdings ein langes a bezeichnet. 23 Epiphanios erklärt den aramaisierten Namen – ‫( ﺷﻤﺲ‬šams) und die aramäische Nisbe – in Panarion LIII.2.2 richtig mit Ἡλιακοί.

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Zur Etymologie des Namens Elchasai

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„Haus der {freien} Männer, Mannshausen“] in Idumaea, Βαιτογαβρα bei Klaudios Ptolemaios), dem Verwaltungssitz von Palaestina prima im 4. Jh., und war mit dem mittelwestaramäischen Dialekt seiner Heimat vertraut, worauf er aber nicht eigens hinweist. Er ist der einzige Autor, der den Namen Elchasai einer etymologischen Erklärung unterzieht (XIX.2.10),24 die zudem im Großen und Ganzen richtig ist. Von Hippolyt weicht Ephiphaniosʼ Orthographie des Namens insofern ab, als die zweite Silbe verkürzt, aber den auslautenden Diphthong mit oder ohne die griechische Endung beibehält. Er zitiert den Namen „des falschen Propheten“ entweder als Ἠλξαΐ25 oder als Ἠλξαῖος,26 was ein Ἠλκσαῖος/ Ἠλκσαῖος ergäbe, wenn man die Doppelkonsonanz auflösen würde. Bei dem zugehörigen nomen relationis fügte Epiphanios noch dem Vokal ε hinzu und kürzte die Vokallänge am Wortanfang (Ἐλκεσαῖοι). In der Anakephalaiosis, einer Kurzfassung des Panarion, heißt der Stifter Ἐλκεσαῖος (oder Ἑλκεσαῖος). Die adjektivische Form lautet Ἐλκεσαῖοι (oder Ἑλκεσαῖοι). Īlksai(os), wie der Name Ἠλξαῖος im 4. Jh. auszusprechen wäre, bedeutet nach Ephiphanios „verborgene Kraft“ (δύναμις κεκαλυμμένη), was er dann näher erläutert, ἤλ gibt griechisches δύναμις wieder und ξαΐ entspricht κεκαλυμμένος. Reste dieser Gruppe(n) existieren noch in der Nabatitis (Nabataea) und in Peraia (lat. Perea/Peraea) in der Nähe der Moabitis, d.h. im östlichen Jordanland. Aus seiner Namenserklärung ist ersichtlich, dass ihm das Aramäische oder eventuell auch das Hebräische nicht ganz fremd waren, obwohl er das nicht eigens thematisiert. Vielleicht beruht seine Deutung auf einer elchasaïtischen Quelle. Nach Luttikhuizen läge dem Namen Elchasai/Elksai eher ein aramäisches ḥylʾ ksyʾ (hidden power) oder ein ʾl-ksyʾ (hidden God) im status emphaticus zugrunde als ḥyl ksy oder ʾl ksy im status absolutus. Eine andere Möglichkeit, den Namen zu erklären, wäre Ἠλχασαΐ bzw. Ἠλξαΐ als status constructus-Verbindung im Sinne von ḥyl ksyʾ, was als „the power of the Hidden One“ zu übersetzen wäre. Der letzteren Variante geht Luttikhuizen nicht näher nach, er entscheidet sich letztlich für die Deutung „hidden power“ analog zur Deutung von Epiphanios.27 Diese Ansicht wird auch in der Sekundärliteratur vertreten, 24 Epiphanius, Ancoratus und Panarion I, haer. 1–33 (GCS 25 [NF 10]), hg. v. Karl Holl, Leipzig 1915. Zweite, erw. Aufl. hg. v. Marc Bergermann/Christian-Friedrich Collatz, Berlin-Boston 2013; Teilband 2. Addenda & Corrigenda mit einem Anhang zu den Randbemerkungen Melanchthons im Jenensis Ms. Bos. f. 1 von Jürgen Dummer und Christoph Markschies, Berlin-Boston 2013 (= Holl I), 219; Luttikhuizen, Revelation, 98. 25 Panarion XIX.1.4 u. ö.: Holl I, 218 u. ö., Luttikhuizen, a.a.O., 96 u. ö. 26 LIII.1.2/2.1: Epiphanius, Ancoratus und Panarion II, hg. v. Karl Holl, Panarion haer. 34–64 (GCS 52 [NF 31]), Leipzig 1922; 2. bearb. Aufl., hg. v. Jürgen Dummer, Berlin 1980, Repr. Berlin-Boston 2010 (= Holl II), 315f; Luttikhuizen, a.a.O., 110.112. 27 Luttikhuizen, a.a.O., 182–185; Ders., The Book of Elchasai: a Jewish Apocalypse, in: Aula Orientalis. Revista de estudios del Próximo Oriente Antiguo 5 (1987), 101–106, 103f: “ḥyl ksy or ḥylʾ ksyʾ means ‘Hidden Power’“/,“‘Hidden Power’, ḥyl ksy (corrupted to ‘Elchasai’/‘Elxai’”; Ders., Art. Elkasites, in: The Coptic Encyclopedia III, New York-Toronto 1991, 953f, 954: “Elchasai (ḥayil kesai, Aramaic for ‘hidden power’)”; Ders., Elchasaites and Their Book, in: Antti Marjanen/Petri Luomanen, A Companion to Second-Century Christian “Heretics” (VigChr.Suppl. 76), Leiden-Boston 2005, 335–364, 344: “It is possible indeed to recognize in the name Elxai/Elchasai the Aramaic ḥayil kesai, ‘hidden power’.”; Ders., The Baptists of Mani’s Youth and the Elchasaites, in: Ders., Gnostic Revisions of Genesis Stories and Early Jesus Traditions (NHMS 58), Leiden-Boston 2006, 170–184, 182 Anm.51: hayil kesai “Hidden Power”. – An einen status absolutus, bestehend aus Substantiv (ḥēl) und einem als Adjektiv gebrauchten Partizip Passiv (kasī/kasē), hängt man kein Hypokoristikon an. Solche Formen werden auch

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wo in der Regel der Name mit dem erklärenden Zusatz „verborgene Kraft“ versehen wird,28 als wäre diese Etymologie über jeden Zweifel erhaben. Auf Epiphanios als Urheber dieser Deutung wird selten verwiesen. Ab und zu wird auch postuliert, dass es sich bei dem ersten nicht als Namen benutzt. Das hebräische ‫( חַ יׅ ל‬cstr. ‫ ) חֵ יל‬käme nur dann in Frage, wenn es sich um eine status constructus-Verbindung handeln würde, sofern man das folgende Partizip Passivs – es müsste das hebräische ‫ כָּסוּי‬sein – substantivisch auffasst. Der Langvokal der ersten Silbe fällt allerdings nie aus, weshalb diese Möglichkeit mehr oder weniger ausscheidet Der status absolutus ‫ חַ יׅ ל‬kommt nicht in Frage, da im Griechischen keine der Namensvarianten die hebräische Vokalisation widerspiegelt. 28 Luigi Cirillo, Judenchristliche Strömungen, in: Luce Pietri, Geschichte des Christentums. Religion – Politik – Kultur I. Die Zeit des Anfangs (bis 250), Freiburg-Basel-Wien 2003, 462–517, 502; Johannes van Oort, Art. Elkesaïten, in: RGG II, 41999, 1227–1228, 1227: „verborgene Kraft oder verborgener Gott“; Jürgen Wehnert, Art. Elkesaïten, in: LThK III, 31995, 605f, 605; KBL3 298b/464b: Elkesai = *‫ חֵ יל כְּ סַ י‬verborgene Kraft/Elkesai ‫„ חיל כסי‬verborgene Kraft“; Woschitz, Urdrama, 126 Anm.11: “Elkesai (abgeleitet von dem semitischen ḥjl ksj = ‘verborgene Kraft’”; Samuel N. C. Lieu, Manichaeism in the Later Roman Empire and Medieval China (WUNT 63), Tübingen 21992, 40.42f: hidden power, ḥyl ksy; Jes Peter Asmussen, Art. Alchasai, in: Encyclopædia Iranica I, London-New York 1985, Repr. 2001, 824f, 824: ḥayl(ā) kasyā = “Hidden Power” oder ʾalāhā kasyā = “Hidden God“; Rudolph, Mandäer I, 233 Anm. 4: „bedeutet ‚verborgene Kraft (Gottes)‛, aram. ḥail kesai“; Ders., Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, Göttingen 21980, Repr. 42005, 351: «verborgene (Gottes-)Kraft»; Ders., Die Bedeutung des Kölner Mani-Codex für die Manichäismusforschung. Vorläufige Anmerkungen, in: Mélanges dʼhistoire des religions offerts à Henri-Charles Puech, Paris 1974, 471–486, 476 Anm. 26 = Gnosis und spätantike Religionsgeschichte. Gesammelte Aufsätze (NHMS 42), Leiden-New York-Köln 1996, 667–685, 673: ḥail[ā] ḵs[a]jā[i] „verborgene Macht“; Ders., Antike Baptisten. Zu den Überlieferungen über frühjüdische und christliche Taufsekten (SSSAW.PH 121, H. 4), Berlin 1981 = Gnosis und spätantike Religionsgeschichte, 569–606, 582: „verborgene Kraft“ (aram. ḥail[a]-kas[a]jā); Ders., Das Verhältnis der Mandäer zum Manichäismus in: Bauer/Galter, sterischer herbst, 155, bzw. in: Gnosis und spätantike Religionsgeschichte, 607: Alchasaios (und Elchasai oder Elxai, d.h. „verborgene Kraft“); Ders., Mani und seine Religion, in: Gnosis und spätantike Religionsgeschichte, 742–772, 749: aram. ḥail-kasjā “verborgene Kraft”; Johannes Irmscher, Das Buch des Elchasai, in: Edgar Hennecke/Wilhelm Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung II. Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 31964, 529–532, 529: „Zurück gehen … auf das aramäische ‫אלכסי‬, das Epiphanius … richtig als ‚verborgenen Kraft‛ übersetzt“; Georg Strecker, Art. Elkesai, in: RAC IV, 1959, 1171–1186, 1171: „auf das semitische hjl ksj (,verborgene Kraft‘) zurückzuführen“; Jehoschua Gutmann, Art. Elkesaiter, in: Encyclopaedia Judaica VI, Berlin 1930, 539f, 539: „aus den aram. Worten (= verborgene Kraft) gebildet ist“; Louis Ginzberg, Art. Elcesaites, in: The Jewish Encyclopedia, New York 1965 u. ö., 89f, 89: „Epiphanius … explains the name as being derived from the Hebrew [Aramaic] ‫‘ = חל‬strength’ and ‫‘ = כסיא‬hidden’; “hidden power”; Max Joseph, Art. Elkesaïten, in: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens II, Berlin 1928, Repr. Frankfurt/M. 1982.1987, 370f, 370: „aram. ‫ חֵ יל כּ ְַסיָא‬chel kassja, verborgene Kraft“; Wilhelm Brandt, Elchasai, ein Religionsstifter und sein Werk. Beiträge zur jüdischen, christlichen und allgemeinen Religionsgeschichte in späthellenistischer Zeit, Leipzig 1912, Repr. Amsterdam 1971 u. ö., 7/8 „verborgene Kraft”/„Die Transkriptionen ηλχασαι und ηλξαι passen zu der durch sie vorausgesetzten semitischen Schreibung ‫ ;”חיל כסי‬Ders., Art. Elkesaites, in: Encyclopaedia of Religion and Ethics V, Edinburgh-New York 1912, Repr. 1937 u. ö., 262–269, 262: „may quite likely be a transliteration of Aram. ‫‘ כסי‬hidden.’ The first syllable, according to Epiphanius corresponds to ‫‘ חיל‬power.’ The name as a whole would thus mean ‘hidden power’”, Ders., Die jüdischen Baptismen oder das religiöse Waschen und Baden im Judentum mit Einschluß des Judenchristentums (BZAW 18), Gießen 1910, 99f.109: „verborgene Kraft = ‫ ;“חיל כסי‬Ders., Die mandäische Religion. Ihre Entwicklung und geschichtliche Bedeutung erforscht, dargestellt und beleuchtet, Leipzig 1889/Amsterdam 1973, 178: “‫ ;”?אלחזי ??חיל כסי‬John Henry Blunt, Dictionary of Sects, Heresies, Ecclesiastical Parties and Schools of Religious Thought, LondonOxford-Cambridge 1874 u. ö., Ann Arbor 1971, Detroit 1974 u. ö., Piscataway/NJ 2008, 141: “ rightly interpretes it δύναμις κεκαλυμμένη“; Yuri Stoyanov, The Other God. Dualist Religions from Antiquity to the Cathar Heresy (Yale Nota Bene) New Haven-London 2000, 102: Hidden Power.

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Namensbestandteil um ‫ אל‬29 oder das syrische ʾalāhā30 handelt und der Name „verborgener Gott bedeutet. Gelegentlich wird auch die Ansicht vertreten, dass das griechische Elkesai eine leicht veränderte Variante des epigraphisch belegten Namens ‫ אלכסי‬ist und eigentlich dem Namen Ἀλέξιος entspricht.31 Selten wird angenommen, dass die elchasaitische Täufergemeinschaft nach dem Ort benannt ist, in dem sie entstanden ist. Dafür bietet sich der Heimatort des Propheten Nahum an, der nach den Vitae Prophetarum von (Pseudo-)Epiphanios Ἐλκισεί und bei Hieronymus Helceseï (in Nordgaliläa, wohl al-Quza) genannt wird. In der Masora ist ‫ ‒ אֶ לְ קֹ שׁ‬in der LXX müsste das Ελκες sein ‒ der Herkunftsort des Propheten oder der Name der Sippe, was aber beides auch zusammenfallen könnte. Belegt ist aber nur das Gentilicium ‫( אֶ לְ קֹ ִשׁי‬LXX: Ἐλκεσαῖος/Vulgata: Elcesaeus) „aus Elkos, Elkositer“.32 Für die Lokalisierung gibt es mehrere Möglichkeiten. Nach Schoeps wäre die Täufergemeinschaft nach dem Ort Elkisei benannt, den er ins östliche Jordanland verlegt. Den angeblichen Stifter der Gemeinschaft hielt er für eine Fiktion.33 Die von Epiphanios im Panarion überlieferten Namensformen Ἠλξαΐ oder Ἠλξαῖος stammen aus dem 4. Jh. und setzen voraus, dass die kurzen unbetonten Vokale in offener Silbe längst ausgefallen sind. Das nomen relationis Ἐλκεσαῖος und die Namensvarianten des Stifters in der Anakephalaiosis, die Ἐλκεσαῖος (oder Ἑλκεσαῖος) lauten, ändern daran nicht. Das kurzvokalige Epsilon (ε) anstelle eines Alpha (α) drückt den Ausfall des Vokals der aramäischen Ausgangsform aus. Für die Rekonstruktion des Namens ist daher nur die älteste Namensform verwertbar, wie sie bei Hippolyt und Methodios überliefert ist, nämlich Ἠλχασαΐ (oder Ἡλχασαΐ) bzw. Ἐλχασαῖος (Ἑλχασαῖος), wobei der ersteren Form wegen des Langvokals der Vorzug zu geben ist. Den Namensbestandteil -χασαῖος bietet auch der Kölner Mani-Kodex, während das Ἀλ des Wortanfangs einige Schwierigkeiten für eine befriedigende Erklärung mit sich bringt. Der griechische Konsonant χ wird wegen Epi29 Rudolf Macuch, Alter und Heimat des Mandäismus nach neuerschlossenen Quelle, in: ThLZ 82 (1957), 401–408, 404 = in: Geo Widengren, Der Mandäismus (WdF 167), Darmstadt 1982, 452–461.466f u. 462–465 [Nachtrag], 454: ‫„ אֵ ל כ ְַסיָא‬der verborgene Gott“. Kombination beider Lösungsvorschläge bei Elsas, Weltablehung, 35: „einer Zusammensetzung aus aramäisch (ḥ)ajl (Kraft) oder dem inhaltlich damit identischen ēl (Gott) und kasiā (verborgen).“ 30 Albert Henrichs, Mani and the Babylonian Baptists. A Historical Confrontation, in: HSCP 77 (1973), 23–59, 45 Anm.77: ʾalāhā kasyā (“Hidden God”); Ders., The Cologne Mani Codex Reconsidered, in: HSCP 83 (1979), 339–367, 362: “a transliteration of the Aramaic for ‘Hidden God’”. 31 Erwin Preuschen/Gustav Krüger, Handbuch der Kirchengeschichte für Studierende I. Altertum Mittelalter. Erster Teil. Das Altertum, Tübingen 21923, 75 § 12,6, nahmen als gesichert an, dass der Name Elkesai dem ‫ אלכסי‬aus CIS I.1 (1887) Nr. 197,2 entspricht. Nach Hans Lietzmann, Geschichte der alten Kirche I. Die Anfänge, Berlin 1932, 41961 u. ö., 193f, „trat im Ostjordanland ein Prophet Alexis auf, den man später mit syrischer Umformung seines Namens Elxai = Chel-ksai ‚die geheime Kraft‛ nannte.“ Lietzmann verweist als Beleg dafür auf Mark Lidzbarski, Handbuch der nordsemitischen Epigraphik nebst ausgewählten Inschriften I. Text, Weimar 1898, Repr. Hildesheim 1962, Boston 2006, München 2012, Norderstedt 2017, 217a. Dort findet man aber nur den Vermerk, dass in der Inschrift CIS Nr. 197 ‫ אלכסי‬eine Wiedergabe des griechischen Alexios ist. Der inschriftlich belegte Personenname ist als ʾAleksī zu vokalisieren und gibt Ἀλέξιος als Hypokoristikon (auf -ī) wieder. 32 Wilhelm Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Berlin u.a. 18 1987, Repr. 2013, 69. 33 Hans-Joachim Schoeps, Theologie und Geschichte des Judenchristentums, Tübingen 1949, 326 Anm. 4 = Gesammelte Schriften I.2, Hildesheim u.a. 1998/2007; Ders. Art. Elkesaiten, in: RGG II, 31958, 435.

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phaniosʼ Deutung des Namens und der bei ihm überlieferten Namensformen, die anstelle des χ ein Kappa (κ) aufweisen, stets einem semitischen k gleichgesetzt, was sich sprachgeschichtlich sinnvoll erklären lässt. Zu Hippolyts Lebzeiten hatte χ noch nicht seine Aspiration verloren und war zu einem Reibelaut mutiert. Ehe sich die semitischen Konsonanten k, p und t zu Aspiratae wandelten (kh, ph, th), waren sie stimmlose Laute. Der Einschub eines h (wie im Englischen und Deutschen) erfolgte Mitte des 3. Jh.s v. Chr. In den späteren nabatäischen und palmyrenischen Inschriften entsprechen die Konsonanten k (‫כ‬, ‫)ܟ‬, p (‫פ‬, ‫)ܦ‬ und t (‫ת‬, ‫ )ܬ‬einem griechischen χ, φ und θ.34 In palmyrenischen Personennamen griechischer Herkunft wird das χ des Originals stets durch Ka (‫ )כ‬ersetzt.35 Das gleiche Transkriptionsmuster erscheint bei palmyrenischen Namen mit ‫כ‬, wenn sie mit griechischen Buchstaben transliteriert werden.36 Erst als χ sich zu einem frikativen Laut wandelte, kann Ka (‫ )כ‬auch mit Kappa wiedergegeben werden, wie das bei Epiphaniosʼ Namensformen der Fall ist. Ehe der aramäische Konsonant k Mitte des 3. Jh.s v. Chr. aspiriert wurde, entsprach er einem griechischen Kappa (κ), wie das Beispiel des alten Ortsnamen des heutigen ܰ 37 zeigt. Die von Seleukos I. Nikator (312–281 v. Chr.) in der Nähe Kirkūk (‫ ﻛﺮﻛﻮﻙ‬/‫)ܟܪܟܘܟ‬ von Arrapḫa gegründete und nach ihm Σελεύκεια genannte Stadt hieß auf Aramäisch Karakā dīBēt Selōk (Karaḵā ḏīḆēṯ Selōḵ). Später war die Stadt Sitz des Metropoliten von Bēṯ Garmai (parth./mittelpers. Garmakan/lat. Garamaea) und hieß im Syrischen nach wie vor Karḵā ḏīḆēṯ Selōḵ (‫ )ܟܪܟܐ ܕܒܝܬ ܣܠܘܟ‬ohne orthographische Aktualisierung. Wegen der Entsprechung κ/‫ )ܟ( כ‬muss die Orthographie auf die Zeit von Seleukos zurückgehen. Als Ka aspiriert wurde, erscheint in griechischen Transkriptionen als Äquivalent von Kappa der Konsonant Qo (‫ܩ‬/‫)ק‬. Σέλευκος und Σελεύκεια (ἡ ἐπὶ τῷ Τίγρει) werden nun Slōq (‫ )ܣܠܘܩ‬und Slīq (‫ )ܣܠܝܩ‬geschrieben. Durch die Endung -ος wurde Methodios’ Ἐλχασαῖος gräzisiert. Ersetzt man den kurzen Vokal (ε) durch einen langen (η) und lässt die griechische Endung weg, ergibt sich Hippolyts’ Ἠλχασαΐ. Die Endung -ai kann nur das häufig vorkommende aramäische Hypokoristikon -ai sein. Mit -ai oder -ā bildete man im Aramäischen gern zwei- oder dreisilbige Formen, indem man den Namen an irgendeiner Stelle kürzt und die hypokoristische Endung anfügt. Bei χας bzw. aram. ks muss es sich um ein Substantiv oder substantiviertes Adjektiv handeln, das mit dem Konsonanten ‫ כ‬beginnt. Die Zahl der mit Ka beginnenden Wörter, die einen passenden Sinn ergeben, ist begrenzt. In Frage kommt eigentlich nur kasyā „verborgen“ (oder eventuell kasyūṯā „Verborgenheit“). Das entsprechende Verbum kann ausgeschlossen werden. Ob man den Namensanfang Ἠλ/Ἡλ (oder Ἐλ/Ἑλ) mit spiritus lenis oder spiritus asper schreibt, spielt im Prinzip keine Rolle. Man könnte dabei an das hebräische ‫אֵ ל‬ 34 Klaus Beyer, Die aramäischen Texte vom Toten Meer samt den Inschriften aus Palästina, dem Testament Levis aus der Kairoer Genisa, der Fastenrolle und den alten talmudischen Zitaten, Göttingen 1984, 125f; Sebastian P. Brock, Greek and Latin Words in Palmyrene Inscriptions. A Comparison with Syriac, in: Eleonora Cussini, A Journey to Palmyra. Collected Essays to Remember Delbert R. Hillers (Culture and History of the Ancient Near East 22), Leiden-Boston 2005, 11–25, 23. ‒ Das gleiche Muster wird in akkadischen Transkriptionen griechischer Namen und Wörter verwendet: Wolfgang Röllig, Griechische Eigennamen in Texten der babylonischen Spätzeit, in: Or NS 29 (1960), 376–391, 377f. 35 Jürgen Kurt Stark, Personal Names in Palmyrene Inscriptions, Oxford 1971, 92. 36 A.a.O., 133. 37 Dem Namen liegt das syrische karḵā „Stadt“ zugrunde, was mit einer persischen Deminutivendung versehen ist.

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denken, was aber in einem aramäischen Kontext eigenartig wäre, da ein solches mixtum compositum nicht vorkommt. Näherliegend ist an den Ausfall eines Gutturals in der Transkription zu denken. Gutturale werden in griechischen Umschriften semitischer Wörter in der Regel weggelassen, da es im griechischen Alphabet keinen entsprechenden Konsonanten gibt. Man kann sich dadurch behelfen, dass der Vokal nach dem Guttural doppelt gesetzt wird oder man zusätzlich einen ähnlich lautenden Vokal benutzt. In Frage kommt ܳ ܰ eigentlich nur der status constructus ḥēl des aramäischen Substantivs ḥaylā (‫חַ ילׇא‬/‫)ܚܝܐܠ‬, was mit Epiphanios’ Erklärung des Namens übereinstimmt. Der status emphaticus kommt nicht in Frage, da in keiner der überlieferten Formen auf λ ein Vokal folgt, der die Determination anzeigt. Ḥēl entspräche dann dem griechischen Ἠλ/Ἡλ (mit spiritus asper oder lenis). In griechischen Transkriptionen wird nicht streng zwischen langen und kurzen Vokalen unterschieden. Korrekt wäre der Langvokal bei Ἠλχασαΐ. Langer Rede kurzer Sinn: Ḥēlkasai „die Kraft des verborgenen [Gottes]“ oder „die Kraft der Verborgenheit“ ist ein Hypokoristikon zu einem aramäischen Ḥēlkasyā oder Ḥēlkasyūṯā. Ob man den zweiten Teil der status constructus-Verbindung als Substantiv (kasyūṯā) oder Adjektiv (kasyā) rekonstruiert, ist letztlich irrelevant. Gemeint ist stets die Dynamis des deus absconditus. Ḥēlkasai ist kein Personenname, sondern ein Würdetitel für eine charismatische Persönlichkeit, deren eigentlicher Name nicht bekannt ist. Als eine Art Vorläufer kann man Simon Magus aus Gitta in Samaria ansehen, den seine Anhänger als ἡ δύναμις τοῦ θεοῦ (Act 8,10) titulierten. Hätte man den Namen θεός vermeiden wollen, war das leicht möglich: Man musste nur den Genetiv τοῦ θεοῦ durch einen Terminus wie kasyā/kasyūṯā ersetzen, was einem Trend im nachbiblischen Judentum entspräche, das den Gottesnamen vermied und das Tetragramm (‫ )יהוה‬im Bibeltext gleich einem Logogramm als ‫ אֲדֹ נָי‬aussprach oder in der LXX durch κύριος ersetzte. Beliebt waren auch die zahlreichen verhüllenden Ausdrücke wie z.B. ‫הַ שֵּׁ ם‬, ‫הַ שָּׁ מַ יִ ם‬, ‫הַ קָּ דוֹשׁ‬, sofern man nicht Gottes Handeln durch das passivum divinum umschrieb.38 Kasyā/kasyūṯā erscheint auch in dem Würdetitel Μανιχαῖος. Hier ist Ḥēl durch Mān („Gefäß, Instrument“) ersetzt worden. Zusätzlich würde ein Yod compaginis eingefügt, das quasi vermittelnd zwischen das Nomen regens und das Nomen rectum in der status constructus-Verbindung tritt, weshalb der Name durch den Antritt des Hypokoristikons stärker als bei Ἠλχασαΐ verkürzt wurde.

38 Vgl. Joachim Jeremias, Neutestamentliche Theologie. Erster Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 4 1987, 20ff.

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Bibliographie Wolfgang Hage 1965 Rez.: Ernst Hammerschmidt/Peter Hauptmann/Paul Krüger/Léonide Ouspensky/Hans-Joachim Schulz, Symbolik des orthodoxen und orientalischen Christentums (Symbolik der Religionen 10), Stuttgart 1962, in: Kyrios 5 (1965) 124f. 1966 - Die syrisch-jakobitische Kirche in frühislamischer Zeit nach orientalischen Quellen, Wiesbaden 1966. - Rez.: Farag Rofail Farag, Sociological and Moral Studies in the Field of Coptic Monasticism (Annual of Leeds University Oriental Society, Suppl. 1), Leiden 1964, in: ZRGG 18 (1966) 283f. 1967 Rez.: Wilhelm Kewenig, Die Koexistenz der Religionsgemeinschaften im Libanon (Neue Kölner rechtswissenschaftliche Abhandlungen 30), Berlin 1965, in: OLZ 62 (1967) 269f. 1968 - Rez.: Albert Lampart, Ein Märtyrer der Union mit Rom. Joseph I. 1681–1696, Patriarch der Chaldäer, Einsiedeln-Köln 1966, in: ZKG 79 (1968) 131f. - Rez.: Keetje Rozemond, Archimandrite Hierotheos Abbatios, 1599–1664 (Leidse Historische Reeks 11), Leiden 1966, in: ARG 59 (1968), 286. - Rez. Han J. W. Drijvers, Bardaisan of Edessa (Studia Semitica Neerlandica 6), Assen 1966, in: OLZ 63 (1968) 366f. 1969 - Martin Bucer, Abendmahlsgutachten bis zum Augsburger Reichstag (1530), in: Robert Stupperich, Martin Bucers Deutsche Schriften Bd. 3, Gütersloh 1969, 399–471 (hierin Gutachten Nr. 5 in Zusammenarbeit mit Martin Greschat). - Das Nebeneinander christlicher Konfessionen im mittelalterlichen Zentralasien, in: Wolfgang Voigt, XVII. Deutscher Orientalistentag Würzburg 1968. Vorträge Teil 2 (ZDMG.S 1/2), Wiesbaden 1969, 517–525. - Rez.: Conrad Willem Mönnich, Geding der Vrijheid. De Betrekkingen der oosterse en westerse Kerken tot de val van Constantinopel (1453), Zwolle 1967, in: ThLZ 94 (1969) 213–215. - Rez.: Friedrich-Wilhelm Fernau, Patriarchen am Goldenen Horn. Gegenwart und Tradition des orthodoxen Orients (SDOI.M), Opladen 1967, in: KO 12 (1969) 195f. 1970 - Untersuchungen zum Leben der Christen Zentralasiens im Mittelalter, Marburg 1970 (ungedr. Habilitationsschrift).

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- Karten zu: „Das orientalische Christentum in Asien bis zum 14. Jh.“ – „Das römisch- katholische Christentum im Machtbereich der Mongolen (13.–14. Jh.)“, in: Hubert Jedin/Kenneth Scott Latourette/Jochen Martin, Atlas zur Kirchengeschichte. Die christlichen Kirchen in Geschichte und Gegenwart, Freiburg 1970 (Sonderausgabe 2004), 27.63/Kommentare 24.47. 1971 - Die kirchliche Situation in der frühislamischen Zeit, in: Willi Höpfner, Christentum und Islam, Heft 1: Die Kirchen im Raum des Islam, Wiesbaden-Breklum 1971, 9–29. - Der Einfluß des orientalischen Christentums auf den werdenden Islam, in: Willi Höpfner, Der Islam als nachchristliche Religion, Wiesbaden-Breklum 1971, 7–19. 1973 - Die oströmische Staatskirche und die Christenheit des Perserreiches, in: ZKG 84 (1973) 174–187. - Armenisches Christentum in Zentral- und Ostasien, in: Armenisch-Deutsche Korrespondenz 3 (1973) 1–4. 1974 Die griechische Baruch-Apokalypse (JSHRZ 5/1), Gütersloh 1974 (21979) 15–44. 1975 Art.: „Abbasiden“ – „Bibelkanon“ – Bibelübersetzungen“ – „Dimmi“ – „Geschichtsschreibung“ – „Hephthaliten“ – „Mandschurei“ – „Maphrian“ – „Michael I. der Große“ – „Mongolei, Christentum in der“ – „Protestantismus bei den orientalischen Christen“ – „Timur“ – „Umaiyaden“ – Zeittafel „Syrische Christenheit“ – Karte „Syrisch-jakobitische Bistümer im 7. und 8. Jahrhundert“, in: Julius Aßfalg/Paul Krüger, Kleines Wörterbuch des Christlichen Orients, Wiesbaden 1975, 1.76–80.103.140–142.146f.248f.251.269f.271f.304f.354f. 358.400.402–406. 1976 - Christentum und Schamanismus. Zur Krise des Nestorianertums in Zentralasien, in: Bernd Jaspert/Rudolf Mohr, Traditio – Krisis – Renovatio aus theologischer Sicht. FS Winfried Zeller zum 65. Geburtstag, Marburg 1976, 114–124. - Rez.: Hubert Kaufhold, Syrische Texte zum islamischen Recht. Das dem nestorianischen Katholikos Johannes V. bar Abgare zugeschriebene Rechtsbuch (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch- historische Abteilung 74), München 1971, in: OLZ 71 (1976), 63–65. - Rez.: Anna-Dorothee v. den Brincken, Die „Nationes Christianorum Orientalium“ im Verständnis der lateinischen Historiographie von der Mitte des 12. bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts (Kölner Historische Abhandlungen 22), Köln-Wien 1973, in: OrChr 60 (1976), 183–186. 1977 Apostolische Kirche des Ostens (Nestorianer), in: Friedrich Heyer, Konfessionskunde, Berlin-New York 1977, 202–214.

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1978 - Martin Bucer, Furbereytung zum Concilio (1533), in: Robert Stupperich, Martin Bucers Deutsche Schriften 5, Gütersloh 1978, 259–362. - Der Weg nach Asien. Die ostsyrische Missionskirche, in: Knut Schäferdiek, Die Kirche des früheren Mittelalters 1 (Kirchengeschichte als Missionsgeschichte 2/1), München 1978, 360–393. - Einheimische Volkssprachen und syrische Kirchensprache in der nestorianischen Asienmission, in: Gernot Wießner, Erkenntnisse und Meinungen, Teil 2: Werner Strothmann septuagenario (GOF.S 17), Wiesbaden 1978, 131–160. - Glaubensgewißheit in der syrisch-jakobitischen Kirche, in: Willi Höpfner, Christentum und Islam, Heft 10: Glaubensgewißheit im Islam und im Evangelium, Breklum-Wiesbaden 1978, 28–40. 1979 - Art.: Armenien I. Alte Kirche und Mittelalter, in: TRE 4, 1979 40–57. - Rez.: Ludger Bernhard, Die Chronologie der syrischen Handschriften (Verzeichnis der orientalischen Handschriften in Deutschland, Supplement 14), Wiesbaden 1971, in: OLZ 74 (1979) 45–47. - Rez.: Stephen Gero, Byzantine Iconoclasm during the Reign of Leo III, with Particular Attention to the Oriental Sources – Byzantine Iconoclasm during the Reign of Constantine V, with Particular Attention to the Oriental Sources (CSCO 346.384, Sub. 41.52), Leuven 1973–1977, in: OrCh 63 (1979) 207–209. 1980 Rez.: Friedrich Heyer, Die Kirche Armeniens. Eine Volkskirche zwischen Ost und West (Kirchen der Welt 18), Stuttgart 1978, in: ZDMG 130 (1980) 186f. 1982 Religiöse Toleranz in der nestorianischen Asienmission, in: Trutz Rendtorff, Glaube und Toleranz. Das theologische Erbe der Aufklärung, Gütersloh 1982, 99–112. 1983 - Kulturelle Kontakte des ostsyrischen Christentums in Zentralasien, in: René Lavenant, III° Symposium Syriacum Goslar 1980. Les contacts du monde syriaque avec les autres cultures (OCA 221), Rom 1983, 143–159. - Gregorius Barhebräus, in: Martin Greschat, Gestalten der Kirchengeschichte 4, Mittelalter II, Stuttgart-Berlin-Köln 1983, 63–72. - Yahballaha III., ebd., 92–101. 1984 Rez.: Alfred Schlicht, Frankreich und die syrischen Christen 1799–1861. Minoritäten und europäischer Imperialismus im Vorderen Orient (Islamkundliche Untersuchungen 61), Berlin 1981, in: OrChr 68 (1984), 236f. 1985 - Die nestorianische „Kirche des Ostens“, in: Historicum. Zeitung der Aktionsgemeinschaft

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für die historischen Institute an den österreichischen Universitäten sowie für die Lehrer an höheren Schulen (Sommer 1985), 16–18. - Art.: Gregor Barhebräus (1225/26–1286), in: TRE 14, 1985, 158–164. - Rez.: Albert Frey, Petite grammaire syriaque (OBO.Sub.did. 3), Fribourg-Göttingen 984, in: ZAW 97 (1985), 279. 1986 - Christentum und Islam im Vorderen Orient., in: Sener Sargut, Zum Verhältnis abendländisches Christentum und Islam (Migrations-, Sprach- und Türkeiforschung, Schriftenreihe 1), Frankfurt 1986, 23–37. - Herausgeberschaft, zus. m. Wolfgang Bienert in Verbindung mit Iris Geyer und Uwe Kühneweg: Heinz Liebing, Humanismus – Reformation – Konfession. Beiträge zur Kirchengeschichte (MThSt 20), Marburg 1986. 1987 - Das Christentum in der Turfan-Oase. Zur Begegnung der Religionen in Zentralasien, in: Walther Heissig/Hans-Joachim Klimkeit, Synkretismus in den Religionen Zentralasiens. Ergebnisse eines Kolloquiums St. Augustin bei Bonn 1983 (StOR 13), Wiesbaden 1987, 46–57. - Art.: Jakob von Sarug (ca. 450–520/21), in: TRE 16, 1987, 470–474. - Art.: Jakobitische Kirche, a.a.O., 474–485. - Rez.: Carl Andresen, Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte 1–3, Göttingen 1980–1984, in: ZKG 98 (1987), 392–395. 1988 - Syriac Christianity in the East. Lectures given at the St. Ephrem Ecumenical Research Institute Kottayam 1986 (Moran Etho 1), Kottayam/India 1988 (21997). - Early Christianity in Mesopotamia. Some Remarks concerning Authenticity of the Chronicle of Arbela, in: The Harp 1 (1988), 39–46. 1989 - Kirche und Israel. Entwicklungen in der frühen Geschichte der Kirche, in: Werner Dettmar, Kirche und Israel. Sechs Bibelarbeiten und Vorträge vor der Landessynode der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck Hofgeismar 1987 (Didaskalia 34), Kassel 1989, 45–63. - Literatur zur Geschichte und gegenwärtigen Situation der Thomaschristenheit Indiens, in: TRE 54, 1989, 169–189. - Rez.: Jad Hatem, Éthique chrétienne et révélation. Études sur la spiritualité de l’Église d’Antioche (Antioche chrétienne 1), Paris 1987: ZDMG 139 (1989), 494f. - Rez.: Stephen Gero, Barsauma of Nisibis and Persian Christianity in the Fifth Century (CSCO.Sub. 426.63), Leuven 1981, in: OrChr 73 (1989), 235–237. 1990 Die Taufe Rußlands aus byzantinischer Sicht, in: Adolf Martin Ritter, Die Anfänge des Christentums unter den Völkern Ost- und Südosteuropas. Referate und Materialien des IX. Theologischen Südosteuropaseminars Heidelberg 1989, Heidelberg 1990, 21–31.

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1991 - Die Syrisch-Orthodoxe Kirche. Geschichte und Bekenntnis, in: Georg Richter, Heimatlose Christen. Die syrisch-orthodoxe Kirche im Orient und Okzident (Hofgeismarer Protokolle 286), Hofgeismar 1991, 8–21. - Ecumenical Aspects of Barhebraeus’ Christology, in: The Harp 4 (1991), 103–109. - Art.: „Abbassides“ – „Canons bibliques“ – „Christianisme dans l’empire mongol“ – „Dimmis“ – „Hephtalites“ – „Historiographie“ – „Mandchourie“ – „Maphrian“ – „Michel Ier le Grand“ – „Ommeyyades“ – „Protestantisme et Chrétiens d’Orient“ – „Tamerlan“ – „Versions bibliques“ – Table chronologique „Églises syriaques“ – Carte „Évêchés syriens jacobites aux 7e et 8e siècles“, in: Julius Assfalg/Paul Krüger (Éd.), Petit Dictionnaire de l’orient chrétien. Traduction et adaption Centre Informatique et Bible, Turnhout 1991, 1.82–85.92– 95.127f.242f.249–252.352.366.375f.408f.427–429.452.463–467.489f.491–496. - Rez.: Walter Selb, Orientalisches Kirchenrecht 1: Die Geschichte des Kirchenrechts der Nestorianer (von den Anfängen bis zur Mongolenzeit); 2: Die Geschichte des Kirchenrechts der Westsyrer (von den Anfängen bis zur Mongolenzeit) (SÖAW.PH 388.543), Wien 1981–1989, in: ZDMG 141 (1991), 432. 1992 - Die Syrisch-Orthodoxe Kirche und die Apostolische Kirche des Ostens. Aspekte ihrer Geschichte, in: Communio 21 (1992), 209–218. - Die Gültigkeit der Taufe bei Gregorius Barhebräus, in: Kolo Soryoyo Magazine. Zeitschrift der Syrisch-Orthodoxen Diözese von Europa 83/84 (1992), 15–20.51–55. - Geschichte und Gegenwart der orientalischen Kirchen, in: ThR 57 (1992), 254–276. - Art.: Michael der Syrer (1126/27–1199), in: TRE 22 (1992), 710–712. - Art.: Nestorianische Kirche, in: EKL 3 (31992), 668f. - Rez. Andrew Palmer, Monk and Mason on the Tigris Frontier. The Early History of Tur ‘Abdin (University of Cambridge Oriental Publication 39), Cambridge 1990, in: ZDMG 142 (1992), 437f. - Rez.: Walter Selb, Sententiae Syriacae. Eingeleitet, hrsg., deutsch übersetzt, mit einem syrischen und griechischen Glossar versehen und kommentiert (SÖAW.PH 567), Wien 1990, in: a.a.O., 438. - Rez.: Michael E. Stone, A Textual Commentary on the Armenian Version of IV Ezra (Septuagint and cognate studies 34), Atlanta 1990, in: ZAW 104 (1992), 161. 1993 Das Christentum im frühen Mittelalter (476–1054). Vom Ende des weströmischen Reiches bis zum west-östlichen Schisma (Zugänge zur Kirchengeschichte 4), Göttingen 1993. 1994 - Kirche und Gesellschaft am Beispiel der syrischen Christenheit, in: Michael Kohlbacher/ Markus Lesinski, Horizonte der Christenheit. FS für Friedrich Heyer zu seinem 85. Geburtstag (Oikonomia 34), Erlangen 1994, 218–223. - Die kirchliche Vielfalt des Christentums im Orient, in: Christen zwischen Wüsten und Oasen. Jordanien – Syrien, hg. v. der Evangelischen Mittelost-Kommission, Stuttgart 1994, 56–59; kürzere Fassung in: Welt und Umwelt der Bibel 2/3 (1997), 33f. - Art.: Nestorianische Kirche, in: TRE 24, 1994, 264–276.

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- Rez.: Kanon. Jahrbuch der Gesellschaft für das Recht der Ostkirchen 9 (1989) (Der „Protos“ und seine Jurisdiktion), in: ZevKR 39 (1994), 481–484. 1995 - Christsein im Orient. Ein Streifzug durch die Geschichte, in: Klaus Schwarz, Überleben in schwieriger Zeit. 4. Evangelisch/orientalisch-orthodoxe Konsultation Herrenberg 1994, Hannover 1995, 15–22. - Crosses with Epigraphs in Mediaeval Central and East Asian Christianity, in: The Harp 8/9 (1995/96) 375–382. - Rez.: Samir Khalil Samir/Jørgen S. Nielsen, Christian Arabic Apologetics during the Abbasid Period (750–1258) (SHR 63), Leiden 1994, in: OLZ 90 (1995), 415–417. - Rez.: Paul Khoury, Paul d’Antioche, Traités théologiques. Édition critique, traduction, introduction (Corpus Islamo-Christianum A 1), Würzburg-Altenberge 1994, in: ÖR 44 (1995) 537f. 1996 - Zwischen Konstantinopel und Tübingen. Ein abgebrochener Dialog zwischen dem Ökumenischen Patriarchat und Tübinger evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert, in: Quat. 60 (1996), 94–101. - Art.: Säulenheilige, in: EKL 4, 31996, 63. - Art.: Syrisch-orthodoxe Kirche, a.a.O., 619f. - Art.: Kirche des Ostens, Ostsyrisches Christentum I: Kirchengeschichte, in: LThK 5, 3 1996, 1493f. 1997 - Het christendom onder de heerschappij van de islam (7e tot 13e eeuw), in: Herman Teule/ Anton Wessels, Oosterse christenen binnen de wereld van de islam (Open Theologisch Onderwijs), Kampen 1997, 72–82. - Rez.: Peter W. Haider/Manfred Hutter/Siegfried Kreuzer, Religionsgeschichte Syriens. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart 1996, in: ThLZ 122 (1997), 428–430. - Rez.: Siegbert Uhlig/Gernot Bühring, Damian de Góis’ Schrift über Glaube und Sitten der Äthiopier (Äthiopistische Forschungen 39), Wiesbaden 1994, in: OLZ 92 (1997), 271–274. 1998 - Geschichte und Gegenwart der orientalischen Kirchen (Teil II), in: ThR 63 (1998) 403– 433. - Art.: Antiochien. III. Patriarchat, in: RGG 1, 41998, 552f; - Art.: Apostolische Kirche des Ostens, in: a.a.O., 651f; - Art.: Bar Sauma von Nisibis, in: a.a.O., 1104f; - Art.: Barhebraeus, in: a.a.O., 1108. - Rez.: Dietmar W. Winkler, Koptische Kirche und Reichskirche. Altes Schisma und neuer Dialog (Innsbrucker theologische Studien 48), Innsbruck-Wien 1997, in: ThLZ 123 (1998) 923f. 1999 - Die Kirche „des Ostens“. Kirchliche Selbständigkeit und kirchliche Gemeinsamkeit im

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fünften Jahrhundert, in: G.J. Reinink/A.C. Klugkist, After Bardaisan. Studies on Continuity and Change in Syriac Christianity in Honour of Professor Han J.W. Drijvers (OLA 89), Leuven 1999, 141–148. - Die christlichen Konfessionsfamilien in Syrien. Ihre historischen und theologischen Wurzeln, in: Georg Richter, Religion und Religionen in Syrien (Hofgeismarer Protokolle 318), Hofgeismar 1999, 59–73. - Rez.: Ernst Christoph Suttner, Kirche und Nationen. Beiträge zur Frage nach dem Verhältnis der Kirche zu den Völkern und der Völker zur Religion 1–2 (Das östliche Christentum, NF 46/1–2), Würzburg 1997, in: ThLZ 124 (1999), 575–577. - Rez.: Konkordanz zur syrischen Bibel. Die Mautbê, bearb. v. Werner Strothmann unter Mitarbeit von Kurt Johannes und Manfred Zumpe, Teil 1–6 (GOF.S 33), Wiesbaden 1995, in: OrChr 83 (1999), 254f. 2000 Rez.: Friedrich Heyer, Die Heiligen der Äthiopischen Erde (Oikonomia 37), Erlangen 1998, in: ZKG 111 (2000), 96f. 2001 - Chambésy 1990 und zwei syrische Stimmen aus dem Mittelalter, in: Jobst Reller/Martin Tamcke, Trinitäts- und Christusdogma. Ihre Bedeutung für Beten und Handeln der Kirche. FS für Jouko Martikainen (StOKG 12), Münster 2001, 9–20. - Kalifenthron und Patriarchenstuhl. Zum Verhältnis von Staat und Kirche im Mittelalter, in: Wolfgang Breul-Kunkel/Lothar Vogel, Rezeption und Reform. FS für Hans Schneider zu seinem 60. Geburtstag (QSHK 5), Darmstadt-Kassel 2001, 3–17. - Von der Einheit zur Vielfalt. Das bunte Bild der östlichen Christenheit, in: Thomas Benner/Wolfgang Hage/Martin Tamcke/Jens Dirk Frömming, Die Orthodoxen Kirchen. Wesen, Geschichte und Gegenwart (Informationsblatt der Theologiestudierenden der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Sonderheft), Kassel-Marburg 2001, 21–33. - Art.: Jakob Baradaeus, in: RGG 4, 42001, 355. - Rez.: Harald Suermann, Die Gründungsgeschichte der Maronitischen Kirche (OBC 10), Wiesbaden 1998, in: OrChr 85 (2001), 263–265. 2002 - Synodicon orientale und Chronik von Arbela. Die Synode von 497 und die zwei Metropoliten der Adiabene, in: Martin Tamcke, Syriaca. Zur Geschichte, Theologie, Liturgie und Gegenwartslage der syrischen Kirchen. 2. Deutsches Syrologen-Symposium Wittenberg 2000 (StOKG 17), Hamburg 2002, 19–28. - Die Syrisch-Orthodoxe Kirche im Gegenüber zu „Griechen“ und „Franken“ – in der Sicht Michaels des Syrers, in: Walter Beltz/Jürgen Tubach, Regionale Systeme koexistierender Religionsgemeinschaften. Leucorea Kolloquium Wittenberg 2001 (HBO 34), Halle/Saale 2002, 177–185. - Marcion bei Eznik von Kolb, in: Gerhard May/Katharina Greschat, Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung. Vorträge der Internationalen Fachkonferenz zu Marcion Mainz 2001 (TU 150), Berlin-New York 2002, 29–37. - Art.: Maphrian, in: RGG 5, 42002, 775; - Art.: Maroniten, in: a.a.O., 849–851;

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- Art.: Marouta von Tagrit, in: a.a.O., 851f; - Art.: Melkiten, in: a.a.O., 1023f. - Rez. Ian Gillman/Hans-Joachim Klimkeit, Christians in Asia before 1500, Richmond 1999, in: OrChr 86 (2002), 250–253. - Rez.: Wassilios Klein, Das nestorianische Christentum an den Handelswegen durch Kyrgyzstan bis zum 14. Jh. (Silk Road Studies 3), Turnhout 2000, in: OS 51 (2002), 296f. 2003 - Die orientalischen Kirchen in Europa, in: Sabine Gralla, Oriens Christianus. Geschichte und Gegenwart des nahöstlichen Christentums (Villigst Profile 1), Münster-HamburgLondon 2003, 111–122. - Die christlichen Kirchen im Nahen Osten, in: Jens Haupt, Ex Oriente Lux. Licht aus dem Osten. Theologische Wissenschaft und ökumenische Freundschaft (Hofgeismarer Protokolle 328), Hofgeismar 2003, 39–50. - Rez.: Wilhelm Baum, Die Verwandlungen des Mythos vom Reich des Priesterkönigs Johannes. Rom, Byzanz und die Christen des Orients im Mittelalter (Tangenten), Klagenfurt 1999, in: ZKG 114 (2003), 416f. 2004 - Die Thomas-Tradition in Indien, in: Martin Tamcke, Blicke gen Osten. FS für Friedrich Heyer zum 95. Geburtstag (StOKG 30), Münster 2004, 227–232. - Athanasios Gammala und sein Treffen mit Kaiser Herakleios in Mabbug, in: Martin Tamcke, Syriaca II. Beiträge zum 3. deutschen Syrologen-Symposium Vierzehnheiligen 2002 (StOKG 33), Münster 2004, 165–174. - Reformatorisches Christentum in orientalischem Gewand. Die Mar-Thoma-Kirche in Indien, in: Peter Gemeinhardt/Uwe Kühneweg, Patristica et Oecumenica. FS Wolfgang A. Bienert zum 65. Geburtstag (MThSt 85), Marburg 2004, 193–202. - Yahballaha III., † 1317, in: Wassilios Klein, Syrische Kirchenväter, Stuttgart 2004, 168– 179. - Rez.: Richard P. H. Greenfield, The Life of Lazaros of Mt. Galesion. An Eleventh-Century Pillar Saint. Introduction, Translation, and Notes (Byzantine Saints’ Lives in Translation 3), Washington/D.C. 2000, in: ZKG 115 (2004), 235f. 2005 - Art.: Timotheus I. (Katholikos), in: RGG 8, 42005, 414f. - Rez.: Dorothea Weltecke, Die „Beschreibung der Zeiten“ von Mor Michael dem Grossen (1126–1199). Eine Studie zu ihrem historischen und historiographiegeschichtlichen Kontext (CSCO.Sub 594.110), Leuven 2003, in: OrChr 89 (2005), 238–240. 2006 Die Armenisch-Apostolische Kirche. Ein historischer Überblick, in: Martin Tamcke, „Dich, Ararat, vergesse ich nie!“ Neue Beiträge zum Schicksal Armeniens und der Armenier (StOKG 40), Berlin 2006, 11–23. 2007 - Das orientalische Christentum (Die Religionen der Menschheit 29/2), Stuttgart 2007. - Die Anfänge der Apostolischen Kirche des Ostens nach Gregorius Barhebräus, in: Arafa

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Mustafa/Jürgen Tubach, Inkulturation des Christentums im Sasanidenreich, Wiesbaden 2007, 13–19. - Das Christentum im vorislamischen Orient in seiner kirchlichen Vielfalt, in: Detlev Kreikenbom/Franz-Christoph Muth/Jörn Thielmann, Arabische Christen – Christen in Arabien (Nordostafrikanische/Westafrikanische Studien 6), Frankfurt a.M. 2007, 1–10. - Geschichte und Gegenwart der orientalischen Kirchen (Teil III), in: ThR 72 (2007), 36– 82. - Art.: „Bibelkanon“ – „Bibelübersetzungen“ – „Geschichtsschreibung“ – „Hephthaliten“ – „Islam und orientalisches Christentum“ – „Mandschurei“ – „Maphrian“ – „Michael I. der Große“ – „Mongolei, Christentum in der“ – „Protestantismus“ – Zeittafel „Syrische Christenheit“, in: Hubert Kaufhold, Kleines Lexikon des Christlichen Orients, Wiesbaden 2007, 99–104.190–193.197.205–208.331f.334f.357–359.417–419.553.554–558. - Rez.: Jürgen Tubach/G. Sophia Vashalomidze, Studien zu den Thomas-Christen in Indien (HBO 33), Halle/Saale 2006, in: OLZ 102 (2007), 363f. 2011 - Carolus Dadichi in Marburg (1718). Bittgesuch eines rum-orthodoxen Studenten im Universitäts-Archiv, in: OrChr 95 (2011), 16–31. - Rez.: M. Tamcke/A. Manukyan, Kulturbegegnung zwischen Imagination und Realität, Würzburg 2010, in: OrChr 95 (2011), 284–285; - Rez.: R. Wagner, Protestantisch-westliche Mission und syrisch-orthodoxe Kirche in Kerala, Wiesbaden 2011, in: a.a.O., 286f; - Rez.: A. Manukyan, Konstantinopel und Kairo. Die Herrnhuter Brüdergemeine im Kontakt zum Ökumenischen Patriarchat und zur Koptischen Kirche, Würzburg 2010, in: a.a.O., 287–289; - Rez.: A. Meißner, Martin Rades „Christliche Welt“ und Armenien. Bausteine für eine internationale Ethik des Protestantismus, Berlin 2010, in: a.a.O., 289–291. 2015 Die Mongolen im orientalischen Christentum. Ein Beispiel für Sinn und Zweck einer den eigenen Horizont sprengenden Perspektive, in: Sidney H. Griffith/Sven Grebenstein, Christsein in der islamischen Welt. FS für Martin Tamcke zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 2015, 323–330. 2016 - Kirche und Nation im orientalischen Christentum, in: Volker Mammitzsch/Sabine Föllinger u.a., Die Marburger Gelehrten-Gesellschaft. Universitas litterarum nach 1968, BerlinBoston 2016, 301–312. - Nachruf auf Georg Günter Blum (1930–2015), in: OrChr 99 (2016), 243. 2018 - Das Wissenschaftliche Kränzchen an der Universität Marburg (1903–1937). Der Blick auf einen Gelehrtenkreis anhand seines Protokollbuches, in: Wolfgang Hage/Volker Mammitzsch, Festgabe zum fünfzigjährigen Jubiläum der Marburger Gelehrten-Gesellschaft am 21. Mai 2019, Marburg 2018, 35–69.

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2020 - Nachhaltige Eindrücke aus Florenz. Hermann Korb – Baumeister des Herzogs Anton Ulrich, in: Neue Wernigeröder Zeitung 31/3 v. 12.2.2020, 24. - Herzogssohn – Sportler – Pädagoge: Dr. Georg-Wilhelm, Prinz von Hannover, ein Blankenburger auf Zeit, in: a.a.O. 31/8 v. 22.4.2020, 23. Bearb.: E. Schlarb

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