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German Pages 953 [943] Year 2011
Steuerrecht im Rechtsstaat Festschrift für Wolfgang Spindler
STEUERRECHT IM
RECHTSSTAAT FESTSCHRIFT FÜR WOLFGANG SPINDLER ZUM 65. GEBURTSTAG herausgegeben von
Rudolf Mellinghoff Wolfgang Schön Hermann-Ulrich Viskorf
2011
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln TeL 02 21/9 37 38-{}1, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06045-9 ©2011 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist w:heberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen. Bearbeitungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Textfonnatierung: A Quednau, Haan Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Gennany
Vorwort Am 30. März 2011 feiert Wolfgang Spindler seinen 65. Geburtstag; am Tage darauf endet von Gesetzes wegen die Ära Spindler am Bundesfinanzhof, an dem er als Richter, bald als Präsidialrichter, dann als Vizepräsident und zuletzt als Präsident tätig war und den er in den vergangenen Jahren maßgeblich geprägt hat. Mit dieser Festschrift wollen wir ihn als herausragenden Richter und Präsidenten, wissenschaftlich interessierten Steuerrechtler und steuerpolitischen Mahner würdigen. Für dieses Werk konnten wir Freunde und Kollegen, Weggefährten und ihm beruflich verbundene Personen gewinnen, die die Verwurzelung von Wolfgang Spindler in allen Bereichen des Steuerrechts widerspiegeln. Neben aktiven und ehemaligen Richtern des Bundesfinanzhofs ist es vielen Kollegen aus der Gerichtsbarkeit ein Anliegen, ihre Anerkennung durch einen Beitrag zum Ausdruck zu bringen. Spindler pflegt den wissenschaftlichen Gedankenaustausch, den zahlreiche Hochschullehrer in diesem Band fortsetzen. Die Mitwirkung von Steuerberatern, Rechtsanwälten und Vertretern aus der Finanzverwaltung belegt das große Ansehen, das Spindler in diesen Kreisen genießt. Die Beiträge dieser Festschrift, die ganz überwiegend einen Bezug zu den Interessen und wissenschaftlichen Schwerpunkten von Wolfgang Spindler haben, spiegeln die ganze Breite seines Wirkens wider. Im Vordergrund stehen zunächst die Abhandlungen zum Steuerverfassungsrecht und zum Steuerstaat. Während seiner ganzen beruflichen Laufbahn war es Wolfgang Spindler ein Anliegen, den Vorrang des Verfassungsrechts im Steuerrecht zur Geltung zu bringen. Die unter seinem Vorsitz dem Bundesverfassungsgericht vorgelegten Verfahren haben wesentlich zur Weiterentwicklung des Steuerverfassungsrechts beigetragen. In mehreren Beiträgen wird mit dem Vertrauensschutz und dem Verbot rückwirkender Gesetze ein Grundanliegen von Wolfgang Spindler aufgenommen. Darüber hinaus greifen Autoren mit der Steuermoral, der Systembildung, der Steuervereinfachung, den Steuerrechtsprinzipien und der Steuerstaatlichkeit Themen auf, die ihn immer wieder beschäftigt haben. Der Bundesfinanzhof gehört zu denjenigen Gerichten, die besonders häufig Rechtsfragen im Vorabentscheidungsverfahren dem Europäischen Gerichtshof vorlegen. Insbesondere das Verhältnis von nationaler und europäischer Gerichtsbarkeit ist auch ein Thema gewesen, mit dem sich Wolfgang Spindler beschäftigt hat. Deshalb ist es folgerichtig, in einem zweiten Teil Steuern und Finanzen in Europa zu behandeln. Die Verfasser gehen unter anderem auf die Vorlagepflicht, das Zusammenwirken zwischen der verschiedenen Gerichtsbarkeiten und die neuere Entwicklung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ein. Das Kapitel Finanzverwaltung und Finanzgerichtsbarkeit greift zunächst das schwierige Verhältnis von Verwaltung und Rechtsprechung im Steuerrecht auf. Wolfgang Spindler hat immer wieder auf die Unsitte der Nichtanwendungserlasse im Steuerrecht hingewiesen, aber auch andere Reaktionen benannt, mit V
Vorwort
denen die Finanzverwaltung auf missliebige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs antwortete. Neben Beiträgen zur Nichtanwendung höchstrichterlicher Rechtsprechung werden mit Methoden zur Sicherung zukünftigen Verwaltungsverhaltens, dem Risikomanagement und der Kooperationsstrategie als Mittel zum gleichmäßigen Vollzug des Steuerrechts neuere Entwicklungen in der Finanzverwaltung behandelt. Nicht nur als Präsident eines obersten Bundesgerichts, sondern auch als Mitglied im Präsidium des Deutschen Richterbundes und als verantwortungsbewusster Richter sorgte sich Wolfgang Spindler um die Qualität in der Justiz, den Aufbau einer funktionierenden Gerichtsbarkeit in den neuen Bundesländern und um das Verhältnis der Finanzgerichtsbarkeit zu den anderen Gerichten. Auf diese Fragen gehen die Beiträge zum Steuerrecht im Spannungsfeld der Gerichtsbarkeiten, zur Justiz in den neuen Bundesländern und zu Führungsinstrumenten in einem obersten Bundesgericht ein. Wolfgang Spindler hat sich in seinem wissenschaftlichen Werk darüber hinaus mit zahlreichen Grundsatzfragen des materiellen Steuerrechts und speziellen steuerrechtlichen Problemen beschäftigt. Die Autoren des letzten Kapitels zum materiellen Steuerrecht greifen diese Gedanken auf und widmen sich zum einen prinzipiellen Themen wie der Auslegung des Steuerrechts nach seinem Belastungsgrund, dem Gesamtplan als Rechtsfigur des Steuerrechts, der Gewinnerzielungsabsicht, dem Rechtsmissbrauch oder der Struktur und Funktion des Steuertatbestandes. Andere Beiträge nehmen Bezug auf die Rechtsmaterien, mit denen Wolfgang Spindler als Vorsitzender des IX. Senats oder des Großen Senats besonders vertraut ist, wie der steuerlichen Behandlung der Vermietung und Verpachtung von Ferienwohnungen, den nachträglichen Schuldzinsen bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, dem Verkauf und Wiederkauf von Wertpapieren oder der Aufteilbarkeit gemischt veranlasster Aufwendungen. Der besondere Dank der Herausgeber gilt dem Verlag Dr. Otto Schmidt, der durch sein Entgegenkommen das Erscheinen dieser Festschrift erst möglich gemacht hat. Wir danken auch dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Carlo Pohlhausen für seine tatkräftige und umsichtige Hilfe bei der Umsetzung dieses Projektes. Karlsruhe/München, im Februar 2011 Rudolf Mellinghoff, Wolfgang Schön, Hermann-Ulrich Viskorf
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Inhalt Seite
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Laudatio Hermann-Ulrich Viskorf Wolfgang Spindler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
II. Steuern, Verfassung und Staat Dieter Birk Steuermoral, Steuerkultur und Rückwirkung von Steuergesetzen . . . .
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Klaus-Dieter Drüen Systembildung und Systembindung im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . .
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Iris Ebling / Klaus Ebling Die Quadratur des Gordischen Knotens im Steuerrecht . . . . . . . . . . . .
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Michael Eichberger Die Spielgerätesteuer und das Verfassungsrecht – eine unendliche Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bernd Heuermann Geltung der IFRS als Verfassungsproblem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
Johanna Hey Evidenz von Verfassungsverstößen, Budgetschutz und Unvereinbarkeitsaussprüche – Zu den Rechtsfolgen verfahrensfehlerhaft zustande gekommener Gesetze aus Anlass des BVerfG-Beschlusses zum Haushaltsbegleitgesetz 2004 vom 8.12.2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
Monika Jachmann Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs als Ausübung der dritten Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
Joachim Lang Über die Unfähigkeit deutscher Politik zur Steuervereinfachung . . . . .
139
Rudolf Mellinghoff Verfassungsbindung und weiter Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
Heide Schaumburg / Harald Schaumburg Legislativer Gehorsam im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
171 VII
Inhalt Seite
Wolfgang Schön Besteuerungsgleichheit und Subventionsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hartmut Schwab / Claudia Ende Verfassungsrechtliche Prinzipien im Steuerrecht – Anmerkungen eines Steuerberaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203
Roman Seer Finanzrichterlicher Rechtsschutz in Verfassungsfragen . . . . . . . . . . . . .
219
Heinrich Weber-Grellet Recht und Staat im Wandel – Vom Steuerstaat zur Steuer in der demokratischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231
III. Steuern und Finanzen in Europa Clemens Jabloner Rechtsschutz im österreichischen Abgabenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans-Joachim Kanzler Rechtsprechungskontinuität und -wandel – Ein Beitrag zum judiziellen Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265
Juliane Kokott / Thomas Henze Das Zusammenwirken von EuGH und nationalem Richter bei der Herstellung eines europarechtskonformen Zustands . . . . . . . . . . . . . . .
279
Michael Lang 2005 – Eine Wende in der steuerlichen Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
297
Moris Lehner Die Vorlagepflicht an den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren . . .
329
Wilfried Wagner Wie gehen EuGH und BFH mit Rückwirkung und Rückwirkungsverboten bei Änderungen im Umsatzsteuerrecht um? . . . . . . . . . . . . . .
345
Franz-Christoph Zeitler Europäische Rechtsharmonisierung in der Praxis: Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Finanzaufsicht nach den Europäischen Verträgen und der Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
363
IV. Finanzverwaltung und Finanzgerichtsbarkeit Dietmar Gosch Über das Nichtanwenden höchstrichterlicher Rechtsprechung – aufgezeigt am Beispiel der Spruchpraxis des I. Senats des BFH . . . . . . . VIII
379
Inhalt Seite
Monika Harms / Sonja Heine Causa finita? – Steuerrecht im Spannungsfeld der Gerichtsbarkeiten . .
429
Christian Herden Nichtanwendung von Entscheidungen des Bundesfinanzhofs . . . . . . . .
445
Ferdinand Kirchhof Die Methoden zur Sicherung zukünftigen Verwaltungsverhaltens – Zur unterschiedlichen Gestaltung von Zusagen und Zusicherungen in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . .
463
Claus Lambrecht Justiz in den neuen Ländern – am Beispiel des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
473
Friedrich G. Nagelmann Führungsinstrumente in einem obersten Bundesgericht . . . . . . . . . . . .
493
Ekkehart Reimer Der ungeliebte Präsident – Herbert Dorn an der Spitze des Reichsfinanzhofs (1931–1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
507
Eckehard Schmidt / Michael Schmitt Risikomanagement – Zaubermittel oder Bankrotterklärung der Verwaltung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
529
Horst Vinken Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht – die Finanzverwaltung als „Kontrollinstanz“ der Rechtsprechung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
549
Werner Widmann Die Kooperationsstrategie als Mittel zum gleichmäßigen Vollzug des Steuerrechts im Rahmen der Tax Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . .
563
V. Materielles Steuerrecht Wolfgang Ballwieser Möglichkeiten und Grenzen der Erstellung einer Einheitsbilanz – Zur Rolle und Entwicklung des Maßgeblichkeitsprinzips . . . . . . . . . . .
577
Franz Dötsch Der Begriff des Kapitalkontos im Sinne von § 15a EStG . . . . . . . . . . . .
595
Lothar Fischer Kein Gestaltungsmissbrauch bei Verkauf und Wiederkauf von Wertpapieren – Eine Nachlese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
619
Rainer Hüttemann Das Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen zwischen Folgerichtigkeitsgrundsatz und Willkürverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
627 IX
Inhalt Seite
Paul Kirchhof Recht verstehen und Recht sprechen – Zur Auslegung des Steuerrechts nach seinem Belastungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
641
Kurt-Dieter Koschmieder / Nico Herrmann Die Bewertung von Betriebsvermögen im reformierten Erbschaftsteuerrecht – Eine ökonomische Würdigung des vereinfachten Ertragswertverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
661
Klaus Offerhaus Der „Gesamtplan“ – eine zulässige Rechtsfigur im Steuerrecht? . . . . .
677
Detlev J. Piltz Zum Irrtum über Steuerfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
693
Helmut Plücker Gewinnerzielungsabsicht als Anwendungsfall des Fremdvergleichs . . .
703
Hartmut Pust Anmerkungen zur neueren Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zur „verbotswidrigen“ Privatnutzung des Dienst-Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
721
Ulrich Schallmoser Ein paar Gedanken zu nachträglichen Schuldzinsen bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
739
Silvia Schuster Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
749
Hans-Christoph Seewald Der Verlust als Gegenstand der Steuerpolitik aus Sicht der steuerberatenden Berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
775
Hartmut Söhn Aufteilbarkeit gemischt veranlasster Aufwendungen – Zum Beschluss des Großen Senats des BFH vom 21.9.2009 – GrS 1/06 . . . . . . . . . . . . .
795
Sebastian Spiegelberger Rechtsmissbräuchlicher Gesamtplan bei der Kettenschenkung . . . . . .
809
Manuel R. Theisen / Martin Raßhofer Die Erzielung nichtsteuerbarer Einnahmen – systematisiert am Beispiel von Preis- und Fördergeldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
819
Bernd Thürmer Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zur Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung bei Ferienwohnungen . . .
833
Christian Waldhoff Struktur und Funktion des Steuertatbestands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
853
X
Inhalt Seite
Michael Wendt Anschaffungsnahe Herstellungskosten – Erste Erfahrungen mit § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Johannes Wolff-Diepenbrock Einnahmen und Schneeballsystem – Überlegungen zur Forderung als Gegenstand einer Einnahme gemäß § 8 EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schriftenverzeichnis Wolfgang Spindler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XI
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Verzeichnis der Autoren BALLWIESER, WOLFGANG Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor, Seminar für Rechnungswesen und Prüfung, Fakultät für Betriebswirtschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München BIRK, DIETER Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Steuerrecht, Westfälische Wilhelms-Universität Münster DÖTSCH, FRANZ Dr., Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, Honorarprofessor an der Technischen Universität München DRÜEN, KLAUS-DIETER Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Unternehmenssteuerrecht, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf EBLING, IRIS Dr., Präsidentin des Bundesfinanzhofs a.D. EBLING, KLAUS Dr., Vizepräsident des Bundesfinanzhofs a.D. EICHBERGER, MICHAEL Dr., Richter des Bundesverfassungsgerichts, Honorarprofessor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen ENDE, CLAUDIA Rechtsanwältin, Referentin in der Steuerrechtsabteilung der Bundessteuerberaterkammer, Berlin FISCHER, LOTHAR Richter am Bundesfinanzhof GOSCH, DIETMAR Dr., Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, Honorarprofessor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel HARMS, MONIKA Generalbundesanwältin, Karlsruhe, Honorarprofessorin an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg HEINE, SONJA Dr., MJur (Oxon), Staatsanwältin, Karlsruhe
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Verzeichnis der Autoren
HENZE, THOMAS M.L.E., Leiter des Referats Vertretung der Bundesrepublik Deutschland vor den Europäischen Gerichten, Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Berlin HERDEN, CHRISTIAN Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof a.D., Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs HERRMANN, NICO Dipl.-Kfm., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre und Wirtschaftsprüfung der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der FriedrichSchiller-Universität Jena HEUERMANN, BERND Dr., Richter am Bundesfinanzhof HEY, JOHANNA Dr., Universitätsprofessorin, Direktorin des Instituts für Steuerrecht, Universität zu Köln HÜTTEMANN, RAINER Dr., Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Steuerrecht, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn JABLONER, CLEMENS Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor, Geschäftsführer des Hans Kelsen-Instituts, Präsident des Verwaltungsgerichtshofes, Wien JACHMANN, MONIKA Dr., Richterin am Bundesfinanzhof, Honorarprofessorin für Öffentliches Recht und Steuerrecht an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München KANZLER, HANS-JOACHIM Dr., Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, Honorarprofessor an der Leibniz-Universität Hannover KIRCHHOF, FERDINAND Dr., Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht – Jean-MonnetChair for European Fiscal Law, Eberhard-Karls-Universität Tübingen KIRCHHOF, PAUL Dr. Dres. h.c., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. KOKOTT, JULIANE Dr. Dr., LL.M., Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof, Luxemburg, Titularprofessorin an der Universität Sankt Gallen XIV
Verzeichnis der Autoren
KOSCHMIEDER, KURT-DIETER Dr., Universitätsprofessor, Prorektor und Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre und Wirtschaftsprüfung der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, FriedrichSchiller-Universität Jena LAMBRECHT, CLAUS Dr., LL.M., Präsident des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg, Honorarprofessor an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus LANG, JOACHIM Dr., Universitätsprofessor (em.), Institut für Steuerrecht, Universität zu Köln LANG, MICHAEL Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor, Vorstand des Instituts für Österreichisches und Internationales Steuerrecht, WU (Wirtschaftsuniversität Wien), Wissenschaftlicher Leiter des LLM-Studiums International Tax Law der WU, Chairman des Academic Committee der European Association of Tax Law Professors (EATLP) LEHNER, MORIS Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches Wirtschafts- und Steuerrecht, Forschungstelle für Europäisches und Internationales Steuerrecht, Ludwig-Maximilians-Universität München MELLINGHOFF, RUDOLF Dr. h.c., Richter des Bundesverfassungsgerichts, Honorarprofessor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. NAGELMANN, FRIEDRICH G. Dr. Dr., Regierungsdirektor a.D., Wissenschaftlicher Berater am Grönländischen Verfassungsgerichtshof, Ilulissat OFFERHAUS, KLAUS Dr., Präsident des Bundesfinanzhofs a.D., Honorarprofessor an der Universität Augsburg PILTZ, DETLEV J. Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Flick Gocke Schaumburg, Bonn, Honorarprofessor an der Universität Mannheim PLÜCKER, HELMUT Präsident des Finanzgerichts Düsseldorf PUST, HARTMUT Präsident des Niedersächsischen Finanzgerichts, Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs
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Verzeichnis der Autoren
RAßHOFER, MARTIN Dr., Mitarbeiter bei Kantenwein, Zimmermann, Fox, Kröck & Partner (bis 15.10.2010: Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre und Steuerrecht, Ludwig-Maximilians-Universität München) REIMER, EKKEHART Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Richter im Nebenamt am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg SCHALLMOSER, ULRICH Dr. phil., Richter am Bundesfinanzhof, Lehrbeauftragter an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München SCHAUMBURG, HARALD Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Partner Flick Gocke Schaumburg, Bonn, Honorarprofessor an der Universität zu Köln SCHAUMBURG, HEIDE Dr., Vizepräsidentin des Finanzgerichts a.D., Lehrbeauftragte an der Universität Siegen SCHMIDT, ECKEHARD Ministerialdirigent, Leiter der Steuerabteilung, Bayerisches Staatsministerium der Finanzen, München SCHMITT, MICHAEL Dr., Ministerialdirigent, Leiter der Steuerabteilung, Finanzministerium Baden-Württemberg, Honorarprofessor an der Universität Mannheim SCHÖN, WOLFGANG Dr. Dr. h.c., Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft, Direktor des MaxPlanck-Instituts für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, München, Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München SCHUSTER, SILVIA Richterin am Bundesfinanzhof SCHWAB, HARTMUT Dr., Dipl.-Ök., Steuerberater, Präsident der Steuerberaterkammer, München SEER, ROMAN Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Steuerrecht, Ruhr-Universität Bochum, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V. SEEWALD, HANS-CHRISTOPH Dipl.-Kfm., Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Präsident des Deutschen Steuerberaterverbandes e.V., Berlin XVI
Verzeichnis der Autoren
SÖHN, HARTMUT Dr., Universitätsprofessor (em.), Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, insbesondere Finanz- und Steuerrecht, Universität Passau SPIEGELBERGER, SEBASTIAN Dr., Notar a.D., Rosenheim THEISEN, MANUEL RENÉ Dr. Dr., Universitätsprofessor, beurlaubter Inhaber des Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre und Steuerrecht, Ludwig-Maximilians-Universität München THÜRMER, BERND Richter am Bundesfinanzhof a.D. VINKEN, HORST Dr., Dipl.-Kfm., Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Präsident der Bundessteuerberaterkammer, Berlin VISKORF, HERMANN-ULRICH Vizepräsident des Bundesfinanzhofs WAGNER, WILFRIED Dr., Vizepräsident des Bundesfinanzhofs i.R. WALDHOFF, CHRISTIAN Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Universität Bonn WEBER-GRELLET, HEINRICH Dr. habil., Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, Außerplanmäßiger Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster WENDT, MICHAEL Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof WIDMANN, WERNER Ministerialdirigent, Leiter der Abteilung Steuerrecht und Steuerverwaltung im Ministerium der Finanzen des Landes Rheinland-Pfalz, Mainz WOLFF-DIEPENBROCK, JOHANNES Dr., Richter am Bundesfinanzhof a.D. ZEITLER, FRANZ-CHRISTOPH Dr., Vizepräsident der Deutschen Bundesbank, Frankfurt am Main, Vertreter des Präsidenten der Bundesbank im EZB-Rat, Vorstand für die Zentralbereiche Recht, Banken und Finanzaufsicht, Honorarprofessor für Öffentliches Recht an der Universität Augsburg
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Hermann-Ulrich Viskorf
Wolfgang Spindler
I. Wolfgang Spindler wird am 30. März 2011 65 Jahre alt. Er scheidet deshalb mit Ablauf des März 2011 aus dem Amt des Präsidenten des Bundesfinanzhofs aus und tritt in den Ruhestand. Das ist seinen Freunden, Kollegen und Wegbegleitern Anlass, ihm diese Festschrift „Steuerrecht im Rechtsstaat“ zu widmen. Mit ihr sollen Wolfgang Spindler als herausragende Richterpersönlichkeit, sein engagiertes rechtspolitisches Wirken und seine bedeutsamen wissenschaftlichen Beiträge gewürdigt werden.
II. Wolfgang Spindler rechnet sich landsmannschaftlich selbst den Westfalen zu, was sich allerdings auf den ersten Blick nicht ohne weiteres erschließt. Denn die Stadt Essen, in der er aufgewachsen ist und aus der auch seine Eltern stammen, gehörte nur mit seinen nördlichen Stadtteilen zur alten preußischen Provinz Westfalen und wurde nach 1945 politisch insgesamt dem rheinischen Teil des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen zugeschlagen. Zweifel, ob Wolfgang Spindler aus dem „richtigen“, ursprünglich westfälischen Teil Essens stammt, kann eigentlich nur derjenige haben, der ihn mit seiner Gradlinigkeit nicht näher kennt. Seiner Persönlichkeit und seinem Charakter nach kann es sich bei ihm nur um einen Westfalen handeln. Der Verfasser weiß, wovon er spricht.
III. Wolfgang Spindler kam am 30. März 1946 als erstes Kind der Eheleute Ernst und Gerda Spindler geb. Schlemmer in Göttingen zur Welt. Ernst Spindler war Jurist und erfolgreicher Ministerialbeamter; als Ministerialdirigent leitete er die Steuerabteilung im Düsseldorfer Finanzministerium. Gerda Spindler übte bis zu ihrer Verheiratung den Beruf einer Volksschullehrerin aus. Beide Elternteile stammten aus der im Zweiten Weltkrieg besonders hart getroffenen Ruhrgebietsstadt Essen. Sie hatten sich unter den erschwerten Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit und in der Erwartung ihres ersten Kindes in die Geborgenheit und Großzügigkeit des großväterlichen landwirtschaftlichen Gutes bei Alfeld an der Leine begeben. Einige Zeit später zog die Familie zurück nach Essen. Dort wuchs Wolfgang Spindler zusammen mit seinem vier Jahre jüngeren Bruder auf, besuchte die Grundschule und von 1956 an das Gymnasium Goetheschule Essen-Bredeney. 3
Hermann-Ulrich Viskorf
Trotz neusprachlicher Ausrichtung wurde an der Goetheschule neben Englisch und Französisch damals noch in allen neun Jahrgangsstufen Latein unterrichtet. Er bestand dort am 25. Februar 1965 das Abitur. Schon während der Schulzeit machte ihm der Tennis- und Skisport besondere Freude und weckte seinen sportlichen Ehrgeiz. Später war er dann auch begeisterter Motorradfahrer. Nach dem Abitur leistete Wolfgang Spindler von 1965 bis 1967 seinen Grundwehrdienst ab. Die 18 Monate waren für ihn kein notwendiges Übel; der Dienst dort für ihn keine lästige Pflicht. Vielmehr identifizierte er sich von Beginn an mit seinen Aufgaben und nahm jede Gelegenheit wahr, seinen persönlichen Erfahrungshorizont zu erweitern und Verantwortung zu übernehmen. Es war für ihn deshalb auch keine Frage, die sich ihm bietende Möglichkeit zu ergreifen, (Reserve-)Offizier zu werden. Er blieb der Bundeswehr auch nach der Zeit seines Grundwehrdienstes in zahlreichen Wehrübungen, die er während seines Studiums und in den ersten 15 Jahren seiner beruflichen Tätigkeit bei verschiedenen Truppenteilen ableistete, verbunden und brachte es dort bis zum Oberstleutnant der Reserve. Die Zeit bei der Bundeswehr hat Wolfgang Spindler für seine weitere berufliche Entwicklung deutlich geprägt und mit zu seiner Befähigung beigetragen, Menschen zu führen und Leitungsaufgaben zu übernehmen. Auf diese Zeit zurückzuführen sind auch manche Grundsätze, nach denen er sein Handeln noch als Präsident des Bundesfinanzhofs ausgerichtet hat. So wurden schwerwiegende Entscheidung bei ihm möglichst nicht sofort getroffen, sondern stets einmal „überschlafen“, jeder Dienstposten mit einem Vertreter besetzt, der bei Ausfall sofort einspringen kann, und vor wichtigen Ereignissen und Veranstaltungen „das Gefechtsfeld“ in Augenschein genommen. Nach der Grundwehrzeit studierte Wolfgang Spindler von 1967 bis 1971 Rechtswissenschaften an den Universitäten Freiburg und Bonn. Zielstrebig und mit vollem Engagement betrieb er sein Studium. Schon als Student galt sein besonderes Interesse dem Verfassungsrecht. Bemerkenswert und auch bezeichnend für seine Einstellung war es, dass er sich von seinen Eltern den Kommentar zum Grundgesetz von „Maunz/Dürig“ als Weihnachtsgeschenk wünschte, den ein „normaler“ Student allenfalls zur Anfertigung wissenschaftlicher Arbeiten in die Hand nahm. Sein Arbeitseifer und seine volle Konzentration auf das Studium zeigten sich schließlich auch daran, dass er sich nach Ablauf der Mindeststudienzeit zum 1. Staatsexamen meldete und dieses am 21. August 1971 vor dem Justizprüfungsamt bei dem Oberlandesgericht zu Köln bestand. Er trat noch im selben Jahr, nämlich am 1. November 1971 in den juristischen Vorbereitungsdienst als Referendar bei dem Oberlandesgericht Düsseldorf ein. Am 17. Januar 1975 bestand er die 2. juristische Staatsprüfung vor dem Landesjustizprüfungsamt in Nordrhein-Westfalen – wie auch das 1. Examen – mit hervorragendem Ergebnis. Wolfgang Spindler wollte sich im Beruf möglichst nicht abhängig machen von persönlichen oder wirtschaftlichen Interessen anderer Personen. Er wollte in erster Linie dem Recht dienen. Deshalb drängte es ihn weniger in den Anwaltsberuf, zu Verbänden oder in Wirtschaftsunternehmen. Die ihm wichtige 4
Wolfgang Spindler
Unabhängigkeit erschien ihm vornehmlich der Staatsdienst zu gewährleisten. Dass seine Wahl auf die Finanzverwaltung fiel, mag wohl auf das väterliche Vorbild zurückzuführen sein. Wolfgang Spindler wurde am 15. April 1975 zum Regierungsrat z.A., 18 Monate später zum Lebenszeitbeamten und bereits ein Jahr später zum Oberregierungsrat ernannt. Seine Ausbildung für den höheren Dienst in der Finanzverwaltung absolvierte er im Bezirk der Oberfinanzdirektion Düsseldorf. Danach schloss sich eine Sachgebietsleitertätigkeit beim Finanzamt Neuss als Leiter der Rechtsbehelfsstelle an. Seine beruflichen Perspektiven in der Finanzverwaltung schienen äußerst vielversprechend. Schon in der Beurteilung aus Anlass der Beförderung zum Oberregierungsrat wurden ihm diejenigen Eigenschaften zugeschrieben, die ihn befähigen sollten, später einmal höchste Leitungsämter zu bekleiden. So wurden ihm neben gepflegten Umgangsformen ein großer Arbeitseifer, ein klares und sicheres Urteil, Zuverlässigkeit und Zielstrebigkeit, gute organisatorische Fähigkeiten, besonderes Geschick in der Führung seiner Mitarbeiter und eine sehr gewandte Verhandlungsführung bescheinigt. Dass Wolfgang Spindler trotz dieses gelungenen Starts seine berufliche Zukunft nicht in der Finanzverwaltung sah, ist maßgeblich seinem Streben nach Unabhängigkeit und Eigenverantwortung zuzuschreiben. Die Arbeitsweise in der Finanzverwaltung mit ihren hierarchischen Strukturen, Anweisungen und Vorgaben war ihm persönlich zu eng. Ein Arbeitsumfeld, welches weitgehende Unabhängigkeit ermöglichte und lediglich eine Bindung an Recht und Gesetz vorsah, konnte nur der Richterberuf bieten. So war es für Wolfgang Spindler nur konsequent, sich um eine Richterstelle am Finanzgericht Düsseldorf zu bewerben. Dies führte am 2. Januar 1978 zur Ernennung zum Richter am Finanzgericht kraft Auftrags und seine erfolgreiche Erprobung gut ein Jahr später am 22. Februar 1979 zur Ernennung zum Richter am Finanzgericht auf Lebenszeit. Schon nach kurzer Zeit hatte er sein richterliches Dezernat voll im Griff und sich als junger Finanzrichter durch sehr gute Leistungen die Anerkennung der Kollegenschaft erworben. Obwohl er nunmehr sein angestrebtes Berufsziel, das Richteramt, erreicht hatte, entsprach es auch in dieser Position seiner schon bislang deutlich gewordenen Neigung und Bereitschaft, weiter gehende Verantwortung zu übernehmen und sich neuen Herausforderungen zu stellen. Diese eröffneten sich schon knapp zwei Jahre nach seinem Wechsel zum Finanzgericht Düsseldorf mit dem Angebot, ab dem 1. Oktober 1979 als wissenschaftlicher Mitarbeiter für drei Jahre an das Bundesverfassungsgericht abgeordnet zu werden. Der Entschluss, dieses Angebot anzunehmen und nach Karlsruhe zu gehen, war für Wolfgang Spindler alternativlos. Welche andere Aufgabe hätte seinen besonderen Interessen für das Verfassungsrecht entsprochen? Dabei nahm er gerne in Kauf, seine Selbständigkeit als Richter für eine gewisse Zeit aufzugeben und in eine mehr dienende und zuarbeitende Funktion zu wechseln. Wolfgang Spindler wurde am Bundesverfassungsgericht zunächst für drei Monate als Ausschussassistent eingesetzt und dann vom 1. Januar 1980 bis zum 30. September 1982 dem Dezernat von Bundesverfassungsrichterin 5
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Dr. Gisela Niemeyer zugeteilt. Dort war er neben den laufenden Referatsaufgaben, insbesondere der Anfertigung von Kurzvoten und Beschlussentwürfen, mit der Vorbereitung von Entscheidungen über Richtervorlagen und Verfassungsbeschwerden, die das Erste Eherechtsreformgesetz und das Gesetz zur Neuregelung der elterlichen Sorge betrafen, betraut. In das für einen Finanzrichter fachfremde Familienrecht hat er sich sehr schnell und ohne Schwierigkeiten eingearbeitet. Er wurde aber auch mit steuerrechtlichen Fragestellungen befasst, nämlich dann, wenn Frau Dr. Niemeyer ihn bat, sie bei Stellungnahmen zu Voten des für das Steuerrecht zuständigen Senatsmitglieds zu unterstützen. Durch seine Überzeugungskraft und seine sorgfältig vorbereiteten Stellungnahmen und Entscheidungsentwürfe gelang es Wolfgang Spindler als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Grundsatzentscheidungen des I. Senats auf dem Gebiet des Familien- und Steuerrechts prägend zu beeinflussen. Begeistert haben ihn in dieser Zeit die Intensität der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und der verfassungsrechtliche Diskurs auf höchstem Niveau. Bei der Bewältigung des umfangreichen Arbeitspensums kamen ihm seine juristische Begabung, seine hervorragenden Kenntnisse des Verfassungsrechts und seine Einsatzfreudigkeit zu Gute. Wolfgang Spindler überzeugte auf ganzer Linie, und zwar nicht nur in fachlicher Hinsicht sondern – wie in der Abschlussbeurteilung ausdrücklich hervorgehoben wird – wegen seiner menschlichen Qualitäten. Nach drei Jahren kehrte Wolfgang Spindler an das Finanzgericht Düsseldorf zurück. Dort übernahm er wieder ein richterliches Dezernat, welches er mit der ihm eigenen Gründlichkeit und Zielstrebigkeit versorgte und bald auf den aktuellen zeitnahen Stand gebracht hatte. Noch als BFH-Präsident erinnerte er die Richterkollegen immer wieder daran, dass sich (nur) derjenige, der sein Dezernat im Griff hat, auch anderen Dingen zuwenden könne und dürfe. Diesen Grundsatz beachtend übernahm Wolfgang Spindler ab Mitte der achtziger Jahre im Deutschen Richterbund und im Finanzgericht Düsseldorf weitere Aufgaben und übergeordnete Verantwortung für die Richterschaft als Ganze. Nach mehrjähriger Ausschussarbeit wurde er 1989 als Vertreter der Finanzgerichtsbarkeit für drei Jahre in das Präsidium des Deutschen Richterbundes gewählt und gehörte danach noch für weitere sechs Jahre der Amtsrechtskommission des Deutschen Richterbundes an. Im Finanzgericht Düsseldorf bestellte ihn der damalige Präsident Dieter Rönitz zu „seinem“ Präsidialrichter. Er hatte in dieser Funktion die Aufgabe, den Präsidenten bei der Führung des Gerichts zu unterstützen. Die hierbei erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen sind Wolfgang Spindler in seiner späteren beruflichen Karriere sehr zugute gekommen. Nach seiner Wahl durch den Bundesrichterwahlausschuss wurde Wolfgang Spindler am 26. Juli 1991 zum Bundesrichter ernannt. Seine berufliche Laufbahn erreichte damit nach den Jahren der Erprobung, der Bewährung und vielfältiger Erfahrungen einen ersten Höhepunkt. Er wurde vom Präsidium dem IX. Senat des Bundesfinanzhofs zugewiesen, der seinerzeit im Wesentlichen für Rechtsstreitigkeiten über die Besteuerung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung sowie sonstige Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften 6
Wolfgang Spindler
zuständig war. Im IX. Senat wartete auf Wolfgang Spindler viel Arbeit; es galt eine erhebliche Anzahl von Altfällen abzubauen und die Verfahrenslaufzeiten zu verringern. Auch in seiner neuen Aufgabe als Revisionsrichter überzeugte Wolfgang Spindler vom ersten Tag an durch seine Tatkraft, seine Arbeitsbereitschaft und Gründlichkeit. Seine Kontaktfreudigkeit, seine offene Gesprächskultur und seine Bereitschaft zum Ausgleich verschafften ihm bei Vorgesetzten, Richterkollegen und Mitarbeitern gleichermaßen schnell Anerkennung. Durch seinen guten Ruf im Bundesfinanzhof empfahl sich Wolfgang Spindler schon recht bald für Aufgaben außerhalb der eigentlichen Senats- und Dezernatsarbeit. So übernahm er ab dem 1. Oktober 1996 auf Bitten des damaligen Präsidenten des Bundesfinanzhofs, Professor Dr. Klaus Offerhaus, die Aufgaben des Präsidialrichters, die er mit sehr viel Umsicht und großem persönlichen Einsatz erfüllte. Hierbei kamen ihm seine einschlägigen Erfahrungen in dieser Position beim Finanzgericht Düsseldorf sowie auch seine Befähigung, Menschen zu überzeugen und zu führen, sehr zu Gute. Er genoss das uneingeschränkte Vertrauen des Präsidenten sowie den großen Respekt der Richter und Bediensteten des Hauses. Es überraschte danach nicht, dass diese erfolgreiche Zeit als Präsidialrichter mit einem weiteren großen Karriereschritt abschloss. Ende Januar 2000 wurde Wolfgang Spindler zum Vorsitzenden Richter und gleichzeitig zum Vizepräsidenten des Bundesfinanzhofs ernannt. Er übernahm den Vorsitz in „seinem“, dem IX. Senat und war seitdem auch kraft Amtes Mitglied im Gerichtspräsidium und im Präsidialrat. Als Vorsitzender des IX. Senats forderte er seine Richterkollegen und spornte sie an, legte aber andererseits großen Wert auf ein gutes, respektvolles und kollegiales Miteinander. Bei Meinungsunterschieden sorgte er für eine sachliche Gesprächsatmosphäre und vermied persönliche Verletzungen. Er und seine Frau Vera erwiesen sich den Senatskollegen gegenüber als großzügige Gastgeber. Die Sorge um das Wohlergehen seiner „Mannschaft“ war stets spürbar. Was ein Senat unter solch idealen Bedingungen zu leisten im Stande ist, zeigen die vorbildlichen Arbeitsergebnisse, der Abbau sämtlicher Altfälle und die kürzesten Verfahrenslaufzeiten eines Senates im Bundesfinanzhof. Als Vizepräsident nahm Wolfgang Spindler neben seiner Vorsitzendentätigkeit zahlreiche Verwaltungs- und Repräsentationsaufgaben wahr und unterstützte so die damalige Präsidentin des Bundesfinanzhofs Dr. Iris Ebling in vorbildlicher und loyaler Weise. Er vertrat den Bundesfinanzhof in wichtigen Gremien und Institutionen. So wurde er 2001 Mitglied im Vorstand der Münchner Steuerfachtagung, die alljährlich einen der größten Kongresse auf dem Gebiet des Steuerrechts durchführt. Trotz dieser Belastungen führte er auch als Vizepräsident seine bereits 1996 begonnene Vortrags- und Lehrtätigkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena bis in das Jahr 2005 fort. Diese verlieh ihm „für sein wissenschaftliches Werk und seine herausragenden Verdienste um den Transfer wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis der Steuerrechtsprechung, um die Vernetzung wirtschaftswissenschaftlicher und rechtswissenschaftlicher For7
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schung und Lehre sowie für sein Bestreben um Planungssicherheit und Vertrauen in die höchstrichterliche Steuerrechtsprechung“ am 12. November 2004 durch die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät die Ehrendoktorwürde. Mit dem Ausscheiden der Präsidentin des Bundesfinanzhofs Dr. Iris Ebling Ende Mai 2005 rückte Wolfgang Spindler in das Präsidentenamt nach. Damit erreichte seine berufliche Laufbahn ihren Höhepunkt. Der Präsidentenwechsel erfolgte im Rahmen eines Festaktes in der Münchner Residenz, wo ihm die Ernennungsurkunde des Bundespräsidenten durch die damalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries überreicht wurde. Die Übernahme der Leitungsverantwortung im Bundesfinanzhof bereitete Wolfgang Spindler keine Schwierigkeiten. Er kannte das Gericht und alle Mitarbeiter durch seine Tätigkeiten als Präsidialrichter und Vizepräsident sehr genau. Seinen kollegialen, von Offenheit und Gradlinigkeit sowie positiver Lebenseinstellung geprägten Führungsstil behielt er bei. Auf der Hausleitungsebene schuf er eine von Vertrauen und Transparenz getragene Arbeitsumgebung. Er drängte auf die unbedingte Gleichbehandlung aller Mitarbeiter und wahrte strikte parteipolitische Neutralität. Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen wurden ausschließlich nach fachlicher und persönlicher Eignung getroffen und stießen durch die Einbindung der Mitwirkungsgremien sowie ihre Transparenz auf breite Zustimmung und Akzeptanz im Bundesfinanzhof. Dies hat dem kollegialen Miteinander über viele Jahre sehr geholfen. Wolfgang Spindler wollte das Präsidentenamt nicht nur verwalten, sondern setzte sich selbst und dem ganzen Hause konkrete Ziele. Er wollte – wie er immer wieder betonte – den Bundesfinanzhof „nach vorne bringen“. Dabei ging es ihm zum einen um eine Verbesserung des Rechtsschutzes in Steuersachen vor allem durch eine deutliche Verkürzung der Verfahrenslaufzeiten und den Abbau der beträchtlichen Anzahl sogenannter Altfälle und zum anderen um eine Verbesserung des Erscheinungsbildes des Bundesfinanzhofs in der Öffentlichkeit. Beide Ziele hat er erreicht. So sank die Zahl der beim Bundesfinanzhof anhängigen Verfahren trotz annähernd gleicher Eingangszahlen in der Zeit seiner Präsidentschaft von ca. 2900 auf 2200 Fälle. Die durchschnittliche Dauer aller erledigten Verfahren sank im selben Zeitraum von 11 auf 8 Monate. Dies konnte nur durch eine von hohem persönlichem Einsatz getragene Personalführung und Mitarbeitermotivation gelingen. Um dieses Ergebnis zu sichern, galt der Vorbereitung der Richterwahlen seine ganz besondere Aufmerksamkeit. Sein Bestreben war es, dass für den Bundesfinanzhof nur die fähigsten und besten Kräfte zur Wahl gestellt und gewählt wurden. Mit viel Geschick und Umsicht ist ihm dies in allen Richterwahlen seiner Präsidentschaft gelungen. Sein zweites Anliegen erreichte Wolfgang Spindler durch eine deutlich intensivierte, professionalisierte und den modernen Kommunikationstechniken entsprechende Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Der „Auftritt“ des Bundesfinanzhofs bei Pressekonferenzen, im Internet und bei Veranstaltungen und Empfängen im Bundesfinanzhof wurde gründlich modernisiert und verfeinert. Von großer Bedeutung waren ihm in diesem Zusammenhang die Pflege persön8
Wolfgang Spindler
licher Kontakte und die Schaffung von Gesprächsforen zwischen den Richtern des Bundesfinanzhofs und den Vertretern der Beraterschaft, des Bundesfinanzministeriums sowie anderer oberster in- und ausländischer Gerichte. In einer Vielzahl von Vorträgen an Universitäten, Vereinigungen zur Förderung des Steuerrechts und Juristischen Gesellschaften sowie Grußworten auf Kongressen, Amtseinführungen und Jubiläumsfeiern hat er „seinen“ Bundesfinanzhof in hervorragender Weise repräsentiert und den Anliegen dieser Institution Gehör verschafft. Dieses immense Pensum konnte Wolfgang Spindler nur mit entsprechender Unterstützung seiner Ehefrau Vera bewältigen. Sie hat ihm nicht nur „den Rücken frei gehalten“ und manchen Ärger und Verdruss, den es in dieser Position immer einmal gibt, ausgeglichen, sondern auch den Zusammenhalt und die Kontakte der Ehegatten und Partner der Richterinnen und Richter des Bundesfinanzhofs durch die Gestaltung des „Damenprogramms“ gefördert. Wolfgang Spindler verstand sich als Präsident des Bundesfinanzhofs gleichzeitig auch als oberster Vertreter der Finanzgerichtsbarkeit, der – wie er immer wieder betonte – kleinen aber feinen Gerichtsbarkeit. Es war für ihn deshalb selbstverständlich, die bestehende Tradition der im zweijährigen Turnus stattfindenden Finanzrichtertage im Bundesfinanzhof fortzuführen und sich in Abstimmung mit den Präsidenten der Finanzgerichte zu rechtpolitischen Fragen, die die Finanzgerichtsbarkeit betrafen, zu äußern. Die Förderung des steuerjuristischen Nachwuchses sowie die Intensivierung des steuerjuristischen wissenschaftlichen Diskurses zwischen den Richterinnen und Richtern des Bundesfinanzhofs und den steuerrechtlichen Ordinarien der deutschen und österreichischen Universitäten waren weitere Schwerpunkte seiner Präsidentschaft. So kamen am 20. März 2007 auf Initiative Wolfgang Spindlers zahlreiche Inhaber steuerrechtlicher Lehrstühle aus Deutschland und Österreich mit den Mitgliedern des Bundesfinanzhofs zu einem ersten eintägigen steuerwissenschaftlichen Symposium im Bundesfinanzhof zusammen. Zu einer Fortsetzung dieser nunmehr etablierten Gesprächsreihe kam es am 24. März 2009. Um die Nachwuchsförderung bemüht war Wolfgang Spindler auch als Mitglied des vierköpfigen Kuratoriums des jährlich verliehenen Ottmar-Bühler-Förderpreises, mit dem hervorragende Diplom- und Doktorarbeiten auf dem Gebiet des Steuerrechts ausgezeichnet werden, sowie als Gastgeber und Mitwirkender des 2007 ins Leben gerufenen so genannten Moot Court, einem simulierten Gerichtsverfahren, an dem Studententeams deutscher und österreichischer Universitäten teilnehmen. Beeindruckend und vielschichtig sind schließlich auch seine schriftstellerischen Leistungen. Eine Zusammenstellung aller Veröffentlichungen befindet sich am Ende dieser Festschrift. Schwerpunkte seines literarischen Wirkens sind verfassungsrechtliche Fragestellungen, Themen aus der vom IX. Senat zu bearbeitenden Rechtsmaterie (Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung), steuerverfahrensrechtliche Abhandlungen und Kommentierungen sowie Beiträge zu Grundsatzfragen des Steuerrechts und der Stellung des Bundesfinanz9
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hofs im gewaltengeteilten Rechtsstaat. Gerade die Themen aus dem zuletzt genannten Bereich, wie z. B. „Vertrauensschutz im Steuerrecht“, „Nichtanwendungserlass im Steuerrecht“ oder „Steuerrecht im Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung“ haben ihn in den letzten Jahren seiner Präsidentschaft besonders bewegt.
IV. Wolfgang Spindler hat schon sehr früh gesagt, er wolle nach seiner Pensionierung noch einmal etwas ganz anderes als Steuerrecht machen. Welche Träume und Wünsche ihm erfüllt werden, ist noch offen. Sicher ist aber, dass nach seinem Abschied aus dem Bundesfinanzhof in der ihm dann geschenkten freien Zeit keine Langeweile aufkommen wird. Für die schönen, Freude bereitenden Dinge, die bislang arbeitsbedingt zu kurz gekommen sind, wie das Golfspielen, das Rauchen einer guten Zigarre, das auch dem Präsidenten in den Räumen des Bundesfinanzhofs, selbst in seinem Dienstzimmer, untersagt ist, der regelmäßigere Besuch des Rotarymeetings und das unbeschwerte Zusammensein mit Verwandten und Freunden wird mehr Raum sein. Sie alle werden sicherlich mehr als bisher seine Fröhlichkeit und seine freundliche offene Ausstrahlung genießen können. Auch der Aufenthalt im warmen Südafrika zur Winterszeit sowie die Kreuzfahrten auf den Weltmeeren sind – sicherlich auch zur Freude seiner Ehefrau Vera – durchaus ausbaufähig. Zu allem sei ihm und seiner Frau Vera Glück, Gesundheit und Wohlergehen gewünscht.
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Steuermoral, Steuerkultur und Rückwirkung von Steuergesetzen Inhaltsübersicht I. Die Steuer – der gerechte Beitrag 1. Bereitschaft zur Steuerzahlung – Steuerverweigerung 2. Gefühlte Gerechtigkeit und verfassungsrechtliche Wertvorgaben 3. Gemeinsinn II. Steuerkultur 1. Vertrauen 2. Wertorientierung
3. Verständlichkeit und Steuervereinfachung III. Der klassische Vertrauensbruch: Rückwirkung von Steuergesetzen 1. Was ist Rückwirkung? 2. Der überfällige Abschied vom veranlagungsbezogenen Rückwirkungsbegriff 3. Vertrauensschutz und Fairness
In einem im Januar dieses Jahres in Berlin durchgeführten Symposion beklagte Wolfgang Spindler die geringe Akzeptanz von Steuern bei den Bürgern und verwies dabei auf zwei Ursachen, die in der Sphäre des Staates und des Bürgers zu suchen seien. Spindler nannte das Schwinden des Gemeinsinns und das zunehmende Trachten nach dem eigenen Vorteil, aber er beklagte auch die Qualität der Steuergesetze, die in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken sei. Nicht nur der Bürger müsse sich mehr an Gemeinwohlwerten orientieren, auch der Staat müsse sich beim Erlass steuerlicher Regelungen an Prinzipien halten. Die Steuermoral der Bürger könne der Staat nur zurückgewinnen, wenn er sich selbst an die Besteuerungsmoral halte1. In der Tat hat das Thema Steuermoral zwei Seiten, die zusammen gesehen werden müssen, die Seite der Geber und die Seite der Nehmer. Treten Defizite auf, so wird man den Ursachen auf beiden Seiten nachgehen müssen. Der Staat darf nicht auf die Integrität seiner Bürger pochen, wenn er selbst die elementaren Spielregeln der Fairness außer Acht lässt.
I. Die Steuer – der gerechte Beitrag Steuern sind der finanzielle Beitrag des Einzelnen zur staatlichen Gemeinschaft, ohne deren Existenz ein menschenwürdiges Leben nicht möglich ist. Wenn auch der Einzelne durch Steuern unmittelbar keine Gegenleistung erhält, so ist ihm doch bewusst, dass ohne Steuern eine staatliche Ordnung nicht möglich ist. Spätestens die Griechenlandkrise und in deren Folge die Krise des
__________ 1 Siehe den Tagungsbericht der Stiftung Marktwirtschaft, Guter Staat – böse Bürger? Schattenwirtschaft und Steuerhinterziehung, 2010, S. 9.
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Euro dürfte auch in Deutschland jedem klar gemacht haben, welch hohes Gut gesunde Staatsfinanzen sind. Gesunde Staatsfinanzen kann es aber ohne ein funktionierendes Steuersystem nicht geben. 1. Bereitschaft zur Steuerzahlung – Steuerverweigerung Man könnte meinen, dass das allgemeine Bewusstsein um die Notwendigkeit gesunder Staatsfinanzen die Bereitschaft zur Steuerzahlung fördert. Dass dies nicht der Fall ist, liegt an einem elementaren Mangel der Steuer. Das staatliche Gemeinwesen funktioniert nämlich auch, wenn der Einzelne keine Steuern zahlt, solange es nur die anderen tun. Die Bereitschaft zur Steuerzahlung ist also aus egoistischer Sicht die Bereitschaft der anderen. Wenn aber viele oder im Extremfall sogar alle auf die Bereitschaft der anderen bauen, ist der Staat seiner finanziellen Grundlagen beraubt. Die Bereitschaft zur Steuerzahlung basiert also darauf, dass eine gemeinsame Einsicht entsteht, dass jeder das Seine beizutragen hat und sich niemand aus der finanziellen Verantwortung für das Gemeinwesen verabschieden darf. In pathologischen Fällen mündet die fehlende Bereitschaft zur Steuerzahlung in die Steuerverweigerung, dem permanenten Steuerwiderstand, dem individuellen Kampf gegen den Steuerstaat und dem ständigen Bemühen, sich den steuerlichen Pflichten zu entziehen. In den Medien wurde von einem Ehepaar in den USA berichtet, die angeblich als „Helden des Widerstands gegen den gierigen Staat“ seit elf Jahren keine Einkommensteuer mehr zahlen, obwohl sie Millionen Dollar an Einkommen verdient haben. Sie haben sich bis unter die Zähne bewaffnet in ihrem Haus verschanzt und werden von sympathisierenden Widerständlern von außen versorgt. Sie halten Steuerzahlen für Sklaverei und eines Bürgers in einem freien Staate für unwürdig2. Wer aber so denkt, muss auch jede staatliche Gemeinschaft ablehnen und die Anarchie, den Kampf aller gegen alle, die Recht- und Schutzlosigkeit befürworten. Ohne Steuern kann kein Staat seine Aufgaben erfüllen, der Einzelne kann in der Gemeinschaft seine Fähigkeiten nicht entfalten, seine Rechte nicht in Anspruch nehmen. Friedliches Zusammenleben ist – wenn der Steuerwiderstand zum Massenphänomen wird – nicht gewährleistet. Steuerverweigerung ist deshalb nicht nur unsolidarisch, sie ist in einem sozialstaatlich organisierten Gemeinwesen auch eine Kampfansage gegen die Grundlagen staatlicher Ordnung3. Die staatsbürgerliche Bereitschaft zur Steuerzahlung kann sich aber nur entwickeln, wenn gemeinsame Wertvorstellungen über die staatliche Gemeinschaft und deren Aufgaben existieren, die Bürger maßvoll in ihren Ansprüchen an den Staat bleiben und die Einkommens- und Vermögensverteilung nicht zu weit auseinanderfällt. Nur in einem solchen Gefüge entsteht das Bewusstsein, dass die eigene Bereitschaft zum Steuerzahlen erst das staatliche Umfeld
__________ 2 Süddeutsche Zeitung v. 7.8.2007, S. 10; DIE WELT v. 26.7.2007, http://www.welt.de/ vermischtes/article1055440/Lieber_sterben_als_Steuern_zahlen.html. 3 Bryde in FS v. Zezschwitz, 2005, S. 321.
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schafft, in dem man leben möchte und dass man nicht alles, was einem möglicherweise zustehen könnte, auch in Anspruch nehmen muss. Ein besonders krasses Beispiel für die letztgenannte Haltung ist der jüngst entschiedene Fall eines Beamten, der vor seiner Pensionierung ein Jahr ununterbrochen dienstunfähig erkrankt war, deshalb seine Arbeit nicht verrichten, aber auch keinen Urlaub nehmen konnte. Nach Eintritt in Pension klagte er – wenn auch ohne Erfolg – auf finanzielle Abgeltung seiner „verlorenen“ Urlaubstage4. Fortzahlung der Bezüge, bezahlte Krankenversorgung, Pensionsleistungen: wenn man alles zusammen nimmt, müsste es eigentlich ausreichen, um ein Gefühl auszulösen, man sei vom Staat „gut bedient“ worden. Und es müsste eher die demütige Frage gestellt werden, ob denn der eigene Beitrag hierfür auch gerecht und ausreichend bemessen war. Aber – wie Spindler in seinem eingangs genannten Vortrag richtig feststellte – wo sich überzogenes Anspruchsdenken breit macht und das Streben nach persönlichen Vorteilen den Gemeinsinn verdrängt, kann sich eine Steuermoral nicht entwickeln. Der gebende (Versorgungs-)Staat muss immer zuerst nehmen, er kann nur das verteilen, was er vorher durch Steuern eingefordert hat5. Wer Ansprüche an den Staat stellt – und wer tut das nicht? – muss auch innerlich bereit sein, Steuern zu zahlen. 2. Gefühlte Gerechtigkeit und verfassungsrechtliche Wertvorgaben Dass Steuern gerecht verteilt werden müssen, ist nicht nur ein Verfassungsgebot6, sondern – wie es Tipke formuliert hat – auch ein Imperativ der Ethik7. Was gerecht ist, unterliegt dem Zeitgeist. Was heute mehrheitlich als gerecht gilt, kann morgen ungerecht erscheinen. Einigkeit in Gerechtigkeitsfragen wird nie vollständig erzielbar sein. Als gerecht wird bekanntlich sowohl der progressive als auch der proportionale Steuertarif angesehen. Und selbst Extrempositionen wie die Abschaffung der Steuerpflicht und Umstellung auf freiwillige Beiträge werden – wie jüngst vom Philosophen Peter Sloterdijk – im Namen der Gerechtigkeit vorgetragen8. Für den Gesetzgeber sollte es aber gar nicht so sehr darauf ankommen, das den Modeströmungen unterliegende Gerechtigkeitsgefühl zu treffen. Es mag opportun erscheinen, Nachtarbeitszuschläge geringer zu besteuern (§ 3b EStG), dennoch wird dadurch das Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung verletzt. Wie schnell sich die Stimmung im Bereich der steuerpolitischen Opportunität ändern kann, zeigt die Einführung des ermäßigten Steuersatzes für Hotelübernachtungen. Noch im Wahlkampf als steuerpolitische Notwendigkeit geprie-
__________ 4 OVG Rheinland-Pfalz v. 30.3.2010 – 2 A 11321/09, BeckRS 2010, 48568. 5 C. Schmitt in Nehmen/Teilen/Weiden (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 bis 1954, 1958, S. 503. 6 BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (70); BVerfG v. 22.2.1984 – 1 BvL 10/80, BVerfGE 66, 214 (223). 7 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band I, 1. Aufl. 1993, S. 261. 8 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13.6.2009, http://www.faz.net/s/Rub9A19C8AB8E C84EEF8640E9F05A69B915/Doc~E3E570BE344824089B6549A8283A0933B~ATpl~Eco mmon~Scontent.html.
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sen9, kam die Ernüchterung bald nach der Neuregelung, die heute fast allgemein als steuerpolitische Fehlleistung gesehen wird10. Viel wichtiger als steuerpolitischer Aktionismus ist es für den Gesetzgeber, konsequent die Wertvorgaben der Verfassung zu verwirklichen. Sie liefern als „ordnungsstiftende Grundwertungen“11 den Rahmen, innerhalb dessen der Gesetzgeber tätig werden sollte. Dazu zählen neben dem Gebot der Lastengleichheit und den einschlägigen Freiheitsrechten vor allem das Rechtsstaatsprinzip. Hätte der Gesetzgeber sich an den Grundwerten orientiert, hätte er von Anfang an erkennen müssen, dass eine steuerliche Entlastung der Hotelübernachtung nicht dem an der Lastengleichheit (Leistungsfähigkeitsprinzip) orientierten Ziel des ermäßigten USt-Steuersatzes entspricht, existenzsichernde Einkommensverwendung zu entlasten12. Die Orientierung an den verfassungsrechtlichen Wertvorgaben dient der Verwirklichung der Steuergerechtigkeit, die auch eine subjektive Seite hat. Schon Thomas Hobbes hat gesehen, dass sich die Menschen viel weniger durch die Steuerlast als solche, als durch ihre ungleichmäßige Verteilung bedrückt sähen13. Immer wenn der Gesetzgeber – häufig sogar unter Berufung auf die Gerechtigkeit – Privilegien verteilt, erzeugt er ein Gefühl der Ungerechtigkeit bei denen, die nicht unter das Privileg fallen, und immer wenn er aus Lenkungsgründen Steuerbürger bevorzugt oder benachteiligt, erzeugt er Unrechtsempfindungen bei denen, die dieser Verhaltensempfehlung aus guten Gründen nicht nachkommen oder nachkommen können. Viele Beispiele lassen sich für diese Feststellung anführen. Die bereits genannte Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit ist seit langem als sachlich und rechtspolitisch verfehltes Privileg erkannt14. Die einschlägige Norm des § 3b EStG ist Quelle ständigen Streits, da diejenigen „Nacht- und Sonntagsarbeiter“, die von der Norm ausgegrenzt werden, kaum nachvollziehen können, warum ihnen die Vergünstigung versagt bleibt. So fragen sich verständlicherweise Geschäftsführer, die entsprechende Zuschläge erhalten, warum sie die Begünstigung nicht erhalten15. Beim VI. Senat des BFH war über eine Revision gegen ein Urteil des FG Baden-Württemberg16 zu ent-
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9 Die Mitte stärken. Deutschlandprogramm 2009 – Programm der Freien Demokratischen Partei zur Bundestagswahl 2009, S. 23, http://www.deutschlandprogramm.de/ webcom/show_article.php/_c-1213/_nr-4/i.html. 10 Handelsblatt v. 18.1.2010, http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/fragenantworten-warum-die-hotel-steuer-der-fdp-auf-die-fuesse-faellt;2514452; Süddeutsche Zeitung v. 2.12.2009, http://www.sueddeutsche.de/politik/steuerhilfe-fuer-hotelswarnung-vor-dem-monster-1.144786. 11 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 11; Mellinghoff, DStR Beihefter 2003 zu Heft 20/21, S. 1. 12 Englisch, UR 2010, 400; Bielefeld in Offerhaus/Söhn/Lange, § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG Rz. 21. 13 Hobbes, Leviathan, Teil II, S. 287 (Reclam-Ausgabe, Kapitel 30). 14 V. Beckerath in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 3b EStG Rz. A 261; Spindler in Wirtschaftswoche v. 27.3.2010, http://www.wiwo.de/politik-weltwirtschaft/weg-mit-denausnahmen-im-steuerrecht-425929/#comment-new-entry. 15 BFH v. 13.12.2006 – VIII R 31/05, BStBl. II 2007, 393. 16 FG Baden-Württemberg v. 21.9.2009 – 9 K 260/06, EFG 2010, 127.
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scheiden, in dem die Begünstigung für Arbeitnehmer versagt wurde, die in wechselnden Schichten rund um die Uhr tätig waren17. Beispielhaft ist auch ein Verfahren beim BFH, welches ein anderes Privileg zum Gegenstand hat, dessen Begünstigungsdimension sich aus dem Gesetzeswortlaut zunächst gar nicht erschließt: Die Steuerfreiheit der aus öffentlichen Kassen gezahlten Aufwandsentschädigungen. Ein Steuerpflichtiger erhielt Aufwandsentschädigungen für eine Vielzahl ehrenamtlicher Betreuungen, dennoch blieb ihm die Steuerfreiheit nach § 3 Nr. 12 EStG versagt, u. a. deshalb, weil der aus öffentlichen Kassen gezahlte Aufwendungsersatz im Haushaltsplan als „Auslagen“, nicht als „Aufwandsentschädigung“ bezeichnet wurde18. Dieses Ergebnis ist deshalb so unbefriedigend, da diese Vorschrift in erheblichem Maße Abgeordnete begünstigt, denen rd. 42000 Euro im Jahr steuerfrei zufließen, unabhängig davon, ob es sich im Einzelfall um Auslagenersatz handelt. Es genügt der formale Ausweis dieser Zahlungen als im Haushaltsplan genannte „Aufwandsentschädigung“ unabhängig vom wirtschaftlichen Charakter dieser Zahlungen19. § 3 Nr. 12 EStG wird deshalb mit guten Gründen für verfassungswidrig gehalten20. Der Vorschrift, deren verfassungsrechtliche Mängel klar erkennbar sind, ist offenbar nicht beizukommen, da die Begünstigten nicht in ihren Rechten verletzt sind, und die Nichtbegünstigten keinen Anspruch auf Privilegierung geltend machen können21. Auf diese Weise hinterlassen solche Vorschriften das Gefühl, Ungerechtigkeiten durch Begünstigungen ausgeliefert zu sein, und sie schaden der Steuermoral. 3. Gemeinsinn Je deutlicher, je spürbarer das Gefühl für Gemeinschaft ist, desto mehr Gemeinsinn wird sich entwickeln. Je stärker das Trachten nach dem eigenen Vorteil die Verantwortung für die Gemeinschaft verdrängt, desto höher wird der Steuerwiderstand sein. Insofern ist die Akzeptanz des Steuerrechts nicht nur stark von der Qualität der staatlichen Regeln und Institutionen, sondern auch von der Zufriedenheit mit den gesellschaftlichen Bedingungen abhängig. Gutes, einfaches und prinzipiengeleitetes Steuerrecht fördert den Gemeinsinn. Steuerverdrossenheit schadet dem Gemeinsinn. Steuerverdrossenheit entsteht durch unverständliches Steuerrecht, durch nicht nachvollziehbare Regelungen, durch Verletzung von Prinzipien, durch fehlende Folgerichtigkeit und vor allem durch die Entwertung der gesetzlichen Vertrauensbasis infolge rückwirkender Gesetzesänderungen. Sie entsteht aber auch dadurch, dass sich Einzelne bewusst und gezielt ihren steuerlichen Verpflichtungen entziehen.
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BFH v. 17.6.2010 – VI R 50/09, BFH/NV 2010, 1913. FG Baden-Württemberg v. 24.9.2009 – 3 K 1350/08, EFG 2010, 120. Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, § 3 Nr. 12 EStG Anm. 10. Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, § 3 Nr. 12 EStG Anm. 3; Weber-Grellet in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 22 EStG Rz. 162. 21 BVerfG v. 26.7.2010 – 2 BvR 2227/08, juris; s. a. BFH v. 11.9.2008 – VI R 63/04, BFH/NV 2008, 2018. Dazu kritisch Desens, DStR 2009, 727 (730); Birk, DStR 2009, 877 (880).
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Dieter Birk
In einem Gastbeitrag „Zum Verhältnis von Besteuerungsmoral und Steuermoral“ zitiert Spindler aus einer vom Bundesfinanzministerium in Auftrag gegebenen Untersuchung, wonach lediglich 57 % der Deutschen der Auffassung sind, Steuerhinterziehung sei in keinem Fall in Ordnung. Hierfür macht Spindler einen Verlust an Solidarität und Verantwortungsgefühl gegenüber dem Gemeinwesen verantwortlich22. In der Tat zeigt auch die jüngste Debatte und Entwicklung zum Ankauf von Steuerdaten durch die Finanzverwaltung, wie wenig entwickelt das Unrechtsbewusstsein bei der Anlage von Schwarzgeldkonten im Ausland ist. Während die Steueramnestie durch das Strafbefreiungserklärungsgesetz (StraBEG)23 aus dem Jahre 2003 nur wenig Erfolg brachte (von den erwarteten 5 Mrd. Euro24 wurden tatsächlich nur 1,4 Mrd. Euro25 vereinnahmt), da die Gefahr der Entdeckung nach wie vor sehr gering war, ist der Erfolg erst durch die illegale Datenentwendung Dritter und den umstrittenen Ankauf durch die Finanzbehörden26 eingetreten. Bis April 2010 haben sich mehr als 16000 Steuersünder bei den Finanzämtern gemeldet und Selbstanzeige erstattet27. Aber auch hier gehen viele Steuersünder nicht „reumütig“ vor, sondern liefern bei den Finanzbehörden nur ungeordnete Aktenordner ab. Die OFD Koblenz sah sich deshalb zu der Klarstellung veranlasst, dass es nicht ausreiche, dem Finanzamt einfach „einen Haufen Belege und Ordner zur Auswertung hinzustellen“, und dass ohne ausreichende eigene Aufarbeitung keine Straffreiheit eintreten könne28. Die Frage, ob der Rechtsstaat, vor die Alternative gestellt, Steuerstraftäter unbehelligt zu lassen oder Steuerdaten zu kaufen und sie zu verfolgen, den Kauf ablehnen soll, wird kontrovers diskutiert29. Sicher ist, dass der Staat keine Alternativen zur Realisierung des Steueranspruchs hat, da ihm Ermittlungen im Ausland verwehrt sind. Richtig ist auch – das hat die Entwicklung gezeigt –, dass der Datenankauf den Steuerhinterziehern das Gefühl nimmt, sie seien mit ihrem kriminellen Verhalten im ermittlungssicheren Bereich. Der Staat muss abwägen. Wer ihm vorwirft, beim Datenankauf verlottere der Rechtsstaat30, sieht nicht, dass die Ablehnung des Datenkaufs dem Rechtsstaat ebenfalls schadet, da sie im Ergebnis den Steuerhinterzieher schützt, die Durchsetzung der Steuergerechtigkeit verhindert und dem Steuerehrlichen die Steuern der anderen mit bezahlen lässt31. Die Gemeinschaft der Steuerzahler ist, wie
__________ 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
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Spindler, BB 10/2010, III (Die Erste Seite). BGBl. I 2003, 2928 ff. Gesetzentwurf zur Förderung der Steuerehrlichkeit v. 1.7.2003, BT-Drucks. 15/1309. BMF, Monatsbericht September 2005, S. 41. So z. B. das Finanzministerium NRW, Pressemitteilung v. 26.2.2010, http://www.fm. nrw.de/presse/2010_02_26_CD_Ankauf.php. Siehe nwb Nachrichten v. 21.4.2010, http://www.nwb-datenbank.de. OFD Koblenz in nwb Nachrichten v. 25.5.2010, http://www.nwb-datenbank.de. Sieber, NJW 2008, 881; Kölbel, NStZ 2008, 241; Nave, BB 11/2010, III (Die Erste Seite); R. Wendt, DStZ 1998, 145. Heerspink, AO-StB 2010, 155 (160). Birk in Handelsblatt Steuerboard v. 5.5.2010, http://blog.handelsblatt.com/steuer board/2010/05/05/steuerdaten-und-steuersunder/.
Steuermoral, Steuerkultur und Rückwirkung von Steuergesetzen
Tipke immer wieder betont hat32, eine Solidargemeinschaft33. Ihre Grundlage ist der Gemeinsinn aller, das gemeinsame Bewusstsein, dass wir alle gemeinsam nach den Regeln des Rechts die staatlichen Lasten zu tragen haben.
II. Steuerkultur Jedes friedliche und sichere Zusammenleben in einer staatlichen Gemeinschaft beruht auf bestimmten kulturellen Voraussetzungen und ganz wesentlich auf der innerlichen Bereitschaft des Einzelnen, seinen finanziellen Beitrag zu leisten, mithin die geschuldeten Steuern zu zahlen. Von Steuerkultur können wir sprechen, wenn die Bürger das Besteuerungssystem als gerechte Pflichtenordnung begreifen, die Prinzipien der steuerlichen Lastenverteilung akzeptieren und jedenfalls in der großen Mehrzahl bereit sind, den vom demokratischen Gesetzgeber erlassenen steuerlichen Regelungen zu folgen34. Das Gegenteil von Steuerkultur ist Steuerchaos, prinzipienloses Regelwerk, Missbrauch des Steuerrechts für beliebige politische Gestaltungsziele und in deren Folge auch sich ausbreitender Steuerwiderstand. Vogel hat diesen Zustand mit dem „Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht“ umschrieben35. Demgegenüber hat eine Steuerrechtsordnung bestimmte Qualitätsstandards zu erfüllen. Deren wichtigste sind: Vertrauen in das Steuergesetz, Wertorientierung der Steuerrechtsordnung an Verfassungsprinzipien und Verständlichkeit des Rechts. 1. Vertrauen Vertrauen im zwischenmenschlichen Bereich beruht auf eigenen Lebenserfahrungen, Vertrauen im wirtschaftlichen und geschäftlichen Bereich beruht auf dem Recht. Recht, das sich andauernd ändert und dasselbe Verhalten immer wieder neuen Regeln unterwirft, kann keine Vertrauensgrundlage bilden36. Deshalb ist vertrauensbildendes Recht auf Kontinuität angelegt. Im Steuerrecht, das die Teilnahme des Staates am privaten wirtschaftlichen Erfolg regelt, ist das Bedürfnis nach Kontinuität besonders groß. Wie im täglichen Leben, so hat auch im Recht, insbesondere im Steuerrecht, das Vertrauen zwei Richtungen: Es zielt auf die Bewahrung und Sicherung der in der Vergangenheit getroffenen Dispositionen und es bildet die Grundlage für die Gestaltung der Zukunft, die nur gelingen kann, wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen einigermaßen vorhersehbar sind. Die Verlässlichkeit des Steuerstaates für zukünftiges Handeln ist in einer sich schnell ändernden Welt ein besonderes Problem. Recht muss stets offen sein, auf die gewandelten Verhältnisse zu reagieren und auf
__________ 32 Tipke in Vogelsang (Hrsg.), Perspektiven der Finanzverwaltung, 1992, S. 118. 33 J. Lang auf der DStJG-Sonderveranstaltung anlässlich des 65. Geburtstags von Jürgen Pelka, 2010, Tagungsband noch nicht erschienen. 34 Zum Begriff auch Drüen, DStR 2010, 2. 35 K. Vogel in DStJG 12 (1989), S. 123; dazu Birk in Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken von Klaus Vogel, 2010, S. 17. 36 Dazu Birk in Lehner (Fn. 35), S. 19; ders. in DStJG 27 (2004), S. 11.
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alte und neue Fragen neue Regelungskonzepte zu entwerfen37. Deshalb hat es das BVerfG stets abgelehnt, den Steuergesetzgeber auch für die Zukunft unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes am geltenden Recht festzuhalten38. Aber dennoch sollte sich der Gesetzgeber in seiner Regelungsaktivität zügeln, nicht nur um Fehler zu vermeiden39, sondern auch um Beständigkeit in die Rechtsordnung zu bringen und damit der Verlässlichkeit des Steuerstaats mehr Gewicht beizumessen40. Spindler hat sich immer wieder mit Fragen des Vertrauensschutzes im Steuerrecht befasst41 und sich gegen die Praxis des Gesetzgebers gewandt, mit rückwirkend verschärfenden steuerlichen Regelungen die Dispositionsgrundlagen, auf die der Steuerpflichtige in der Vergangenheit vertraut hat, zu entwerten (dazu noch unten III.). Vertrauen zu schaffen, so Spindler, sei nicht nur eine Aufgabe des Gesetzgebers, sondern auch der Verwaltung und der Rechtsprechung42. Während es im Verwaltungsvollzug dafür eigene Rechtsinstitute gibt, die die Änderung von Bescheiden beschränken (§§ 172 ff. AO) oder sogar einen bestimmten Normvollzug für die Zukunft verbindlich festschreiben (verbindliche Auskunft, § 89 AO), gibt es grundsätzlich keinen Schutz des Vertrauens auf den Bestand der Rechtsprechung43. Dennoch finden die Gerichte hier Wege, um die berechtigten Schutzinteressen des Steuerpflichtigen zu wahren, wie die Entscheidung zu der Vererblichkeit von Verlusten gezeigt hat, in der der Große Senat des BFH Übergangsregeln aus Gründen des Vertrauensschutzes vorgesehen hat44. 2. Wertorientierung Steuerrecht muss wertorientiert sein. Dieser alten Forderung Tipkes45 folgt auch Spindler. In einem auf dem Steuerberatertag 200946 gehaltenen Vortrag erläutert er die maßgeblichen Wertvorstellungen, die im Wesentlichen auf den Wertentscheidungen des Grundgesetzes beruhen und „von der Rechtsgemeinschaft allgemein als gerecht und ökonomisch vernünftig anerkannt werden“47. Aus den systemtragenden Prinzipien formaler und materieller Rechtsstaatlichkeit leitet Spindler eine Reihe von Handlungsanweisungen an die drei im Steuerrecht tätigen staatlichen Gewalten ab. Der Gesetzgeber müsse Recht
__________ 37 Mellinghoff in DStJG 27 (2004), S. 27; Birk in DStJG 27 (2004), S. 12. 38 BVerfG v. 17.7.1974 – 1 BvR 51/69, 1 BvR 160/69, 1 BvR 285/69, 1 BvL 16/72, 1 BvL 18/72, 1 BvL 26/72, BVerfGE 38, 61 (82). 39 Birk in Lehner (Fn. 35), S. 20. 40 Birk in DStJG 27 (2004), S. 11. 41 Spindler, DStR 1998, 953; ders., DStR 2001, 725; ders. in DStJG 27 (2004), S. 69; ders., DNotZ 2007, 105. 42 Spindler, DStR 2001, 725 (729). 43 Spindler, DStR 2001, 725 (730); Leisner-Egensperger in DStJG 27 (2004), S. 198. 44 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608. 45 Tipke, Die Steuerrechtsordnung (Fn. 7), S. 261; ders., Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, S. 1 ff. (9 f.). 46 Spindler, Stbg 2010, 49. 47 Spindler, Stbg 2010, 49.
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Steuermoral, Steuerkultur und Rückwirkung von Steuergesetzen
schaffen, das nachvollziehbar und handhabbar ist, das eine systematische Struktur erkennen lasse und das deshalb auch einen einwandfreien Gesetzesvollzug ermögliche. Steuerrecht, das für beliebige Ziele herhalten muss und in dem der Grundgedanke des individuellen Solidarbeitrags für die staatliche Gemeinschaft nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, weist in der Tat ein Defizit an Wertorientierung auf. Deshalb tritt auch Spindler zu Recht immer wieder dafür ein, auf Lenkungs- und Subventionsnormen im Steuerrecht so weit wie möglich zu verzichten48. Durch das Gebot der Folgerichtigkeit hat das BVerfG in den letzten Jahren verstärkt versucht, den Gesetzgeber an Prinzipien zu binden, die eigenen Grundentscheidungen konsequent umzusetzen und Abweichungen von den gesetzten Leitlinien ausreichend zu begründen49. Nur wertorientiertes Steuerrecht ist berechenbar. Berechenbares Steuerrecht ist ein Gebot des Rechtsstaats und sichert den Bürgern, die sich wirtschaftlich betätigen, den Rahmen für die Ausübung ihrer Freiheitsrechte50. Spindler ruft in dem Vortrag aus Jahre 2009 einen Aufsatz von Grabower aus dem Jahre 1933 in Erinnerung, in dem dieser die Verkehrssitte des Handelsrechts heranzieht, die den Kaufmann bindet. In gleicher Weise müsse es – so Grabower – auch eine Ethik des Steuerrechts geben, die für Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung gleichermaßen Richtschnur ist51. Tragischerweise hat das Jahr 1933 die Entwicklung dann in eine entgegengesetzte Richtung gelenkt. Die Diskussion um die Aufstellung ethischer Normen im Steuerrecht ist nach 1945 durch die aktive Rolle des BVerfG auf dem Gebiet des Steuerrechts nicht wiederbelebt worden, was nach meiner Auffassung zu begrüßen ist, da der Steuerstaat aus einer gelebten Verfassung nicht nur Grenzen, sondern auch sein kulturelles Leitbild bezieht52. 3. Verständlichkeit und Steuervereinfachung Spindler ist stets für einfaches und verständliches Steuerrecht eingetreten53. Unverständliche Gesetze werden als ungerecht empfunden, da die Steuerpflichtigen die aus ihren Handlungen resultierenden steuerlichen Belastungen nicht abschätzen können. Der Grundsatz der Normenklarheit ist also nicht nur ein rechtsstaatliches Gebot, sondern schützt auch vor Willkür beim Normenvollzug. Aus dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Normenklarheit folgt, dass der Bürger die ihn betreffenden steuerlichen Normen auch verstehen muss. Tatsächlich hat das BVerfG auch gefordert, dass der vom Steuergesetz Betroffene die
__________ 48 Spindler, Stbg 2010, 49 (51). 49 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (180 f.); BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 (120 f.). 50 Dazu Spindler in Ballwieser/Grewe (Hrsg.), Die Wirtschaftsprüfung im Wandel, 2008, S. 475; Mellinghoff in FS Bareis, 2005, S. 171. 51 Grabower, StuW 1933, 49. 52 Weber-Grellet in Weber-Grellet (Hrsg.), Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, S. 25. 53 Spindler in FS Solms, 2005, S. 53; ders., Stbg 2010, 49 (51 f.).
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Rechtslage anhand der gesetzlichen Regelung so erkennen können muss, dass er sein Verhalten danach auszurichten vermag54. Im Steuerrecht bedeute dies insbesondere, dass der Steuerpflichtige seine Steuerschuld vorausberechnen kann55. Nicht ausreichend sei es in der Regel, wenn Tatbestand und Rechtsfolgen nur einem Experten erkennbar sind56. Der BFH versteht die Normenklarheit als eine Forderung nach möglichst übersichtlichem, widerspruchsfreiem und verständlichem Recht57. Im Wesentlichen folgt der BFH dabei den vom BVerfG aufgestellten Maßstäben. So verlangt er im Einklang mit dem BVerfG, dass sich Inhalt und Systematik der Vorschrift ohne hohe Fehleranfälligkeit erschließen, unbestimmte Rechtsbegriffe verständlich und klar abgrenzbar sind, der Gesetzesaufbau übersichtlich sowie vollständig und der Satzbau klar ist. Es sollen keine Häufungen und Stufungen von Regel-AusnahmeTechniken und Mehrfachverweisungen vorkommen und die Rechtsfolgenanordnungen dürfen nicht widersprüchlich sein58. Nähme man diese Maßstäbe ernst, so müssten allein im Einkommensteuerrecht zahlreiche Vorschriften wegen Verstoßes gegen das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot verfassungswidrig sein. Das Steuerrecht hat in den letzten Jahren eine ungeheure Welle der Komplizierung erfasst, daran ist auch die Rechtsprechung, insbesondere die Rechtsprechung des EuGH nicht ganz unbeteiligt, auf die der Gesetzgeber reagieren musste (Stichworte: Gesellschafterfremdfinanzierung, Zinsschranke, Funktionsverlagerung). Tatsächlich wird man bei den Anforderungen an die Verständlichkeit bereichsspezifisch differenzieren müssen. Regelungen, die an komplexe wirtschaftliche Sachverhalte anknüpfen, können einen höheren Schwierigkeitsgrad aufweisen als Regelungen, die alltägliche Sachverhalte erfassen. Allerdings hat das BVerfG bislang noch keine Steuerrechtsnorm wegen Unverständlichkeit/Kompliziertheit verworfen, sondern es bei Mahnungen an den Gesetzgeber belassen59. Die (einzige) Richtervorlage des BFH60 wegen Unverständlichkeit/Unbestimmtheit erging zu § 2 Abs. 3 EStG i. d. F. des StEntlG 1999/2000/2001 und ist vom BVerfG bisher nicht entschieden worden. Spindler selbst hat die Norm als ein „Paradebeispiel“ bezeichnet, die den Ansprüchen der Normenklarheit nicht genüge61.
III. Der klassische Vertrauensbruch: Rückwirkung von Steuergesetzen Der klassische Bruch des Vertrauens auf das geltende Recht ist das rückwirkende Inkraftsetzen von Steuergesetzen durch den Gesetzgeber. Dadurch wird
__________ 54 55 56 57 58 59
BVerfG v. 12.4.2005 – 2 BvR 581/01, BVerfGE 112, 304 (315). BVerfG v. 23.10.1986 – 2 BvL 7/84, 2 BvL 8/84, BVerfGE 73, 388 (400). BVerfG v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33 (64). BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BFHE 214, 430 (442, 451). Spindler, Stbg 2010, 49 (54); BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BFHE 214, 430 (441 ff.). BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216 (242). 60 BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BFHE 214, 430. 61 Spindler in Birk (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht – Zur Rolle der Rechtsprechung bei der verfassungskonformen Gestaltung der Steuerrechtsordnung, 2009, S. 65.
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Steuermoral, Steuerkultur und Rückwirkung von Steuergesetzen
nicht nur das Vertrauen auf die Beständigkeit der Rechtsordnung enttäuscht, es kann auch zu einer Entwertung bereits getroffener Vermögensdispositionen kommen. Spindler hat sich mit dieser Problematik immer wieder auseinandergesetzt und eine Verbesserung rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes angemahnt62. 1. Was ist Rückwirkung? „Eine Rechtsnorm entfaltet dann Rückwirkung, wenn der Beginn ihrer zeitlichen Anwendung auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm rechtlich existent, das heißt gültig geworden ist. Grundsätzlich erlaubt die Verfassung nur ein belastendes Gesetz, dessen Rechtsfolgen frühestens mit Verkündung der Norm eintreten“63. Nach diesen Aussagen des BVerfG könnte man meinen, dass der Einzelne bei der Ausübung seiner wirtschaftlichen Freiheitsrechte grundsätzlich auf die zu diesem Zeitpunkt geltende Rechtsfolgenlage vertrauen kann. So klar die Definition auf den ersten Blick erscheint, so viele Zweifelsfragen wirft sie jedoch bei näherer Betrachtung auf. Eine im Steuerrecht regelmäßig anzutreffende Konstellation besteht nämlich darin, dass Disposition und Eintritt der Rechtsfolge auseinanderfallen, da der Steueranspruch jedenfalls bei Veranlagungssteuern immer erst mit Ablauf des Jahres entsteht. Nach formaler Betrachtung erfasst ein am 31.12. in Kraft getretenes Gesetz erst die mit Ablauf dieses Tages entstehenden Steueransprüche, wirkt also nicht zurück. Andererseits werden die während des Jahres getätigten Dispositionen doch einer anderen Rechtsfolge unterworfen, als sie zum Dispositionszeitpunkt galt. Die entscheidende Frage muss somit sein, ob in sachlicher Hinsicht in abgeschlossene Tatbestände eingegriffen wurde. Dies wird von der Rechtsprechung differenziert betrachtet64. Dabei kann sowohl auf den Lebenssachverhalt als auch auf Rechtsbeziehungen bzw. Rechtspositionen abgestellt werden. Das BVerfG folgt bekanntlich bislang dem sog. veranlagungsbezogenen Rückwirkungsbegriff65. Danach muss bei der Beurteilung, wann ein Sachverhalt
__________ 62 Spindler, Stbg 2010, 49 (51); siehe auch ders. in FS Spiegelberger, 2009, S. 479; ders. in DStJG 27 (2004), S. 69. 63 BVerfG v. 5.2.2004 – 2 BvR 2029/01, BVerfGE 109, 133 (181); siehe auch BVerfG v. 22.3.1983 – 2 BvR 475/78, BVerfGE 63, 343 (353); BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 (241); BVerfG v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 (78). 64 Siehe BVerfG v. 20.6.1978 – 2 BvR 71/76, BVerfGE 48, 403 (414); BVerfG v. 19.12.1961 – 2 BvR 1/60, BVerfGE 13, 274 (277); BVerfG v. 7.7.1964 – 2 BvL 22/63, 2 BvL 23/63, BVerfGE 18, 135 (142 f.); BVerfG v. 24.9.1965 – 1 BvR 228/65, BVerfGE 19, 119 (127); BVerfG v. 19.12.1967 – 2 BvL 4/65, BVerfGE 23, 12 (32); BVerfG v. 23.3.1971 – 2 BvL 17/69, BVerfGE 30, 392 (402 f.). Dazu Desens in Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, S. 332. Das BVerfG hat jüngst – nach Abgabe des Manuskripts – in drei Beschlüssen v. 7.7.2010 (2 BvL 14/02, 2 BvR 748/05 und 2 BvL 1/03) den sog. veranlagungsbezogenen Rückwirkungsbegriff bestätigt. 65 BVerfG v. 19.12.1961 – 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261 (272); BVerfG v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 (80); BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 (253); ebenso in den jüngsten Beschlüssen v. 7.7.2010 (s. Fn. 64).
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abgeschlossen ist, maßgeblich darauf abgestellt werden, wann die Disposition des Steuerpflichtigen die steuerlichen Rechtsfolgen auslöst. Im Steuerrecht entsteht der Steueranspruch gem. § 38 AO, „sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft.“ Daraus hat auch die Rechtsprechung gefolgert, dass grundsätzlich der maßgebliche Sachverhalt erst dann abgeschlossen ist, wenn der „Tatbestand“ i. S. d. § 38 AO verwirklicht ist66. Bei sog. Veranlagungssteuern entsteht die Steuer regelmäßig erst mit Ablauf des Veranlagungszeitraums, was die für den Steuerpflichtigen höchst unbefriedigende Konsequenz hat, dass der „rechtliche“ Abschluss des Sachverhalts zeitlich weit hinter dem „faktischen“ Abschluss liegen kann. 2. Der überfällige Abschied vom veranlagungsbezogenen Rückwirkungsbegriff Der veranlagungsbezogene Rückwirkungsbegriff wird von Spindler in Übereinstimmung mit weiten Teilen des Schrifttums67 scharf kritisiert68. Er wirft der Rechtsprechung zu Recht vor, dass der veranlagungsbezogene Rückwirkungsbegriff den Kern des Vertrauensschutzes verfehle, der darin bestehe, dass Dispositionen wirksam geschützt werden müssten. Die Frage der Verwirklichung der steuerrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen dürfte deshalb nicht mit der Frage der Steuerentstehung vermengt werden69. In der Tat wird die formale Sichtweise, die dem veranlagungsbezogenen Rückwirkungsbegriff zugrunde liegt, dem rechtsstaatlichen Grundanliegen des Vertrauens auf die Gesetzeslage in keiner Weise gerecht und befindet sich deshalb auch auf dem Rückzug. Der IV. Senat des BFH hat sich in zwei Verfahren, die allerdings nicht zu einer endgültigen Entscheidung führten70, davon distanziert. Der IX. Senat hat in einem Verfahren, in dem es um die rückwirkende Verlängerung der Spekulationsfrist für Grundstücke ging, zwar an der unechten Rückwirkung festgehalten, aber im Rahmen der Abwägung das individuelle Vertrauensschutzinteresse höher bewertet als das staatliche Interesse an einer vergangene Dispositionen erfassenden Regelung71. Selbst das BVerfG ist in der Entscheidung zu den Schiffsbausubventionen72, die sich allerdings nur mit dem Vertrauensschutz bei steuerlichen Lenkungsnormen befasst, teilweise – wenn auch nicht grundsätzlich – von der „Veranlagungsrechtsprechung“ abgerückt73.
__________ 66 BFH v. 27.8.2002 – XI B 94/02, BStBl. II 2003, 18 (19); BFH v. 14.3.2000 – X R 46/99, BStBl. II 2000, 344; BFH v. 12.11.2008 – I R 77/07, BFH/NV 2009, 835. 67 Mellinghoff in DStJG 27 (2004), S. 25, 43; J. Lang in Tipke/Lang (Fn. 11), § 4 Rz. 177 m. w. N.; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 232. 68 Spindler in DStJG 27 (2004), S. 76; ders., DStR 2001, 725 (727); ders., DStR 1998, 953 (958). 69 Spindler in DStJG 27 (2004), S. 76. 70 BFH v. 30.10.2008 – IV R 4/06 und v. 19.4.2007 – IV R 59/05, DStR 2008, 2316. 71 BFH v. 16.12.2003 – IX R 46/02, BStBl. II 2004, 284. 72 BVerfG v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67. 73 Dazu Desens in Rensen/Brink (Fn. 64), S. 336.
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Steuermoral, Steuerkultur und Rückwirkung von Steuergesetzen
Eine echte Kehrtwendung hat der XI. Senat des BFH in zwei Vorlagebeschlüssen zum BVerfG v. 2.8.2006 vollzogen74. Eine echte Rückwirkung liege auch dann vor, wenn eine im Gesetz neu oder verändert vorgesehene Rechtsfolge in den Fällen gelten soll, in denen die Tatbestandsvoraussetzungen vor Verkündung des Gesetzes erfüllt worden sind75. Dabei ging es um folgende Konstellation76: Das EStG sah vor, dass Abfindungen, die aus Anlass der Kündigung/Aufhebung des Arbeitsverhältnisses erfolgten, mit dem halben Steuersatz erfasst werden. Im März des Jahres 1999 erließ der Gesetzgeber eine Regelung, wonach Abfindungen mit einem ungünstigeren Steuersatz erfasst werden sollten. Die Regelung sollte ab 1. Januar 1999 gelten. Der Gesetzentwurf hierzu ist im Januar 1999 eingebracht worden und wurde Ende Januar im Bundestag beschlossen. Der Steuerpflichtige, der im November 1998 eine Entschädigung mit seinem Arbeitgeber vereinbart hatte und sie im Februar 1999 (also zu einem Zeitpunkt, als das alte Recht noch galt) erhalten hat, sieht sich nach Erhalt der Entschädigung plötzlich einer rückwirkenden Verschlechterung der Rechtslage gegenüber, die im Zeitpunkt der schuldrechtlichen Disposition (November 1998) noch gar nicht erkennbar und im Zeitpunkt der Verfügung zwar zu erwarten war, aber noch nicht eingetreten ist. Der BFH sah in der Regelung eine echte Rückwirkung, die er konsequent für verfassungswidrig hielt77. Das Vertrauen in die zum Dispositionszeitpunkt geltende Rechtslage sei grundsätzlich bis zur Verkündung des neuen Gesetzes nach den Grundsätzen der echten Rückwirkung geschützt. 3. Vertrauensschutz und Fairness Spindler spricht sich für eine grundsätzliche Änderung der Rechtsprechung zur Zulässigkeit rückwirkender Steuergesetze aus, die sich am rechtsstaatlichen Gedanken der Verlässlichkeit der Rechtsordnung78, also letztlich am Grundsatz der Fairness orientiert. Richtschnur sollte zunächst der Verzicht auf rückwirkende Gesetze sein. Gesetze sollten also grundsätzlich mit „ex nunc“Wirkung in Kraft treten. Allerdings erkennt Spindler auch, dass dies bei Dauersachverhalten alleine nicht für eine Lösung ausreicht79. Deshalb fordert er ergänzend eine Änderung der bisherigen Rückwirkungsdogmatik80. Es seien schonende Übergangsregelungen zu schaffen81 und der Gesetzgeber habe abrupte Änderungen zu unterlassen82. Ziel der Rückwirkungsdogmatik sei der
__________ 74 BFH v. 2.8.2006 – XI R 34/02, BStBl. II 2006, 887; v. 2.8.2006 – XI R 30/03, BStBl. II 2006, 895. 75 BFH v. 2.8.2006 – XI R 34/02, DStR 2006, 1886 mit Anm. Weber-Grellet; BFH v. 2.8.2006 – X R 30/03, DStR 2006, 1879; BFH v. 1.8.2007 – XI R 26/05, DStR 2008, 395. 76 BFH v. 2.8.2006 – XI R 34/02, BStBl. II 2006, 887. 77 Dazu Hey, NJW 2007, 408. 78 Spindler in FS Spiegelberger (Fn. 62), S. 474. 79 Spindler in DStJG 27 (2004), S. 85. 80 Spindler in DStJG 27 (2004), S. 85. 81 Spindler, DStR 2001, 725 (728); ders. in FS Spiegelberger (Fn. 62), S. 474. 82 Spindler in FS Spiegelberger (Fn. 62), S. 474.
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Schutz des Vertrauens auf die zum Dispositionszeitpunkt geltende Rechtslage83. Ein solches Vertrauen wird näher beschrieben als ein „betätigtes Vertrauen“84, also eine wirtschaftliche Disposition in Kenntnis einer bestehenden steuerrechtlichen Regelung. Hierdurch solle der gebotenen Planungssicherheit Rechnung getragen werden85. Allerdings dürfe der Steuerpflichtige nicht auf den unbefristeten Bestand einer steuerlichen Regelung vertrauen86. Habe der Gesetzgeber, wie z. B. bei der Gewährung von Sonderabschreibungen, zeitliche Befristungen vorgesehen, so müsse er sich daran auch für die Zukunft festhalten lassen87. Das heißt, dass er bei Gesetzesänderungen auch für die Zukunft verpflichtet sei, entsprechende Übergangsregelungen zu schaffen, die die im Vertrauen getätigten Dispositionen nicht entwerten88. Als Beispiele nennt Spindler die Übergangsregelung bei der Abschaffung der Wohnungseigentumsbesteuerung und die Vorschläge des BFH zu einer Übergangsregelung bei der Änderung der Spekulationsfrist des § 23 EStG89. Ansatz für eine differenzierte Lösung der Vertrauensschutzproblematik im Bereich der unechten Rückwirkung ist in der Tat die Gewichtung des dem Allgemeininteresse gegenüberstehenden Individualinteresses. Maßgebliches Kriterium muss dabei der abschließende und unabänderbare Charakter der Disposition sein. Je verbindlicher diese ist, desto schutzwürdiger ist das Vertrauen und desto höher sind die Anforderungen an das Änderungsinteresse des Staates90. Dispositionen, die der Steuerpflichtige im Vertrauen auf die geltende Rechtslage abschließend getroffen und die er nicht auf die rückwirkend geltende Rechtlage anpassen kann, genießen einen wesentlich höheren Schutz als das bloße Vertrauen auf den Fortbestand der Rechtslage. Dies ergibt sich auch aus der Entscheidung zu den Sozialpfandbriefen, in der das BVerfG dem bloßen Fortbestandsvertrauen den notwendigen Dispositionsschutz gegenüberstellt: „Die allgemeine Erwartung des Bürgers, das geltende Recht werde unverändert fortbestehen, ist verfassungsrechtlich jedoch nicht geschützt (vgl. BVerfGE 68, 193 [222]; 38, 61 [83]); dies gilt auch im Bereich des Steuerrechts. […] Steuerrechtliche Dispositionsbedingungen bilden … vom Tag der Entscheidung an
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83 Spindler, Stbg 2010, 49 (51); ders. in FS Spiegelberger (Fn. 62), S. 479. Dass diese Forderungen nicht ungehört blieben, zeigen die – nach Manuskriptabgabe – ergangenen Beschlüsse des BVerfG v. 7.7.2010 (Fn. 64), in denen trotz Beibehaltung des veranlagungsbezogenen Rückwirkungsbegriffs der Vertrauensschutz im Bereich unechter Rückwirkung erheblich gestärkt wurde. 84 Spindler in DStJG 27 (2004), S. 88 mit Verweis auf BVerfG v. 5.5.1987 – 1 BvR 724/81, 1 BvR 1000/81, 1 BvR 1015/81, 1 BvL 16/82, 1 BvL 5/84, BVerfGE 75, 246 (280). 85 Spindler in Ballwieser/Grewe (Fn. 50), S. 490; ders. in DStJG 27 (2004), S. 88 f. mit Beispielen. 86 Spindler in DStJG 27 (2004), S. 89. 87 Spindler in DStJG 27 (2004), S. 88 f.; ders., DStR 2001, 725 (727). 88 Spindler in DStJG 27 (2004), S. 89; ders. in Ballwieser/Grewe (Fn. 50), S. 490. 89 BFH v. 16.12.2003 – IX R 46/02 – BStBl. II 2004, 284; Spindler in FS Spiegelberger (Fn. 62), S. 488. 90 Desens in Rensen/Brink (Fn. 64), S. 346.
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Steuermoral, Steuerkultur und Rückwirkung von Steuergesetzen
eine Vertrauensgrundlage, auf die der Steuerpflichtige sein steuerlich geregeltes Verhalten stützt (vgl. BVerfGE 97, 67 [80])“91. Wie gesichert diese Vertrauensgrundlage ist, hatte das Gericht in der Entscheidung zu den Sozialpfandbriefen nicht entschieden, da eine von der Gesetzesänderung rückwirkend erfasste Disposition nicht stattgefunden hat. Aber dass die gesetzlichen Dispositionsgrundlagen einen schützenswerten Vertrauenstatbestand auslösen, wird heute nicht mehr bestritten92. Dass Vertrauensschutz ein Gebot des fairen Umgangs mit dem Steuerpflichtigen auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Disposition geltenden Rechts ist, ergibt sich auch aus dem seit 2006 geregelten Institut der verbindlichen Auskunft (§ 89 Abs. 2 AO). Dieses Rechtsinstitut erfährt seine Rechtfertigung daraus, dass der Steuerpflichtige zum Zeitpunkt seiner Disposition ein erhebliches Interesse an der Klärung der gültigen Rechtslage hat, was dazu führt, dass sich die Verwaltung bei schwierigen Auslegungsfragen zur Sicherung des Dispositionsschutzes im Vorhinein beim Normvollzug festlegt. Zwar geht es hier nicht um Schutz vor späteren Gesetzesänderungen, aber es geht wie bei der Rückwirkungsfrage ebenfalls um Rechtssicherheit, nämlich den Schutz des Vertrauens auf das geltende Recht. Gesetzliche Regelungen der verbindlichen Auskunft gab es vor 2006 nur in Teilbereichen: Für die verbindliche Zusage nach einer Außenprüfung (§§ 204 ff. AO) sowie bei der lohnsteuerlichen Anrufungsauskunft (§ 42e EStG)93. Außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Regelungen wurde die Bindungswirkung einer Auskunft mit dem Grundsatz von Treu und Glauben94 begründet. Heute ist das Institut der verbindlichen Auskunft gesetzlich geregelt und bildet damit das wichtigste Instrument zur Erreichung von Rechtssicherheit bei unumkehrbaren Gestaltungen. Die Finanzverwaltung legt sich zum Zwecke des Dispositionsschutzes des Steuerpflichtigen fest, sie schafft Planungs- und Entscheidungssicherheit und verhindert, dass die von einer bestimmten steuerlichen Rechtsauffassung getragenen wirtschaftlichen Dispositionen und Verfügungen nachträglich entwertet werden. Denn ist die geplante Gestaltung erst einmal ins Werk gesetzt, kann die spätere steuerliche Nichtanerkennung bzw. abweichende rechtliche Neubeurteilung verheerende Folgen haben95. Mit dem Institut der verbindlichen Auskunft schafft der Gesetzgeber Rechtssicherheit auf der Ebene des Normvollzugs und erkennt an, dass der Bürger Entscheidungs- und Dispositionsschutz bedarf96, allgemeiner ausgedrückt, dass Finanzverwaltung und Steuerbürger in einem
__________ 91 BVerfG v. 5.2.2002 – 2 BvR 305/93, 2 BvR 348/93, BVerfGE 105, 17 (40). 92 Mellinghoff in DStJG 27 (2004), S. 46; Hey in Hey (Fn. 67), S. 249; Jachmann in FS Raupach, 2006, S. 31; Kirchhof, StuW 2000, 221 (224); Spindler, DStR 2001, 725 (728); ders. in DStJG 27 (2004), S. 76. 93 Siehe zur Anrufungsauskunft und zur verbindlichen Zusage nach § 204 AO: Borggreve, AO-StB 2007, 77. Im Zollrecht existiert mit der verbindlichen Zolltarifauskunft (Art. 12 Zollkodex) eine ähnliche Regelung. 94 Dazu Birk, Steuerrecht, 12. Aufl. 2009, Rz. 466. 95 Birk in Birk (Hrsg.), Transaktionen, Vermögen, Pro Bono, Festschrift zum zehnjährigen Bestehen von P+P Pöllath + Partners, 2008, S. 165; Seer in Tipke/Kruse, § 89 AO Rz. 23. 96 Birk in Birk (Fn. 95), S. 164.
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schwierigen Umfeld mit u. U. hohen wirtschaftlichen und rechtlichen Risiken fair miteinander umgehen müssen. Wird aber dem Steuerpflichtigen bei unsicherer Rechtslage durch die Verwaltung Vertrauensschutz gewährt, so muss dies erst recht gelten, wenn die Rechtslage gar nicht unsicher war, der Bürger also auf die klare Gesetzeslage (und nicht nur auf eine Auslegungsvariante) vertraut hat und im Vertrauen darauf Dispositionen getroffen hat. Spindler hat mehrfach darauf hingewiesen, dass der Staat die Steuermoral seiner Bürger nur dann zurückgewinnen könne, wenn er seine steuerrechtlichen Regelungen an Wertvorstellungen orientiert, die von der Rechtsgemeinschaft als gerecht anerkannt werden97. Über die gerechte Verteilung der Steuerlasten werden die Meinungen immer auseinandergehen, über die Frage des Vertrauensschutzes, also das Verbot, getroffene Dispositionen rückwirkend einer ungünstigeren Regelung zu unterwerfen, sollte es eigentlich keinen Dissens geben. Vertrauensschutz ist nicht nur ein Gebot der Rechtssicherheit, sondern auch ein Gebot der Fairness gegenüber dem der Besteuerungsgewalt des Staates unterworfenen Bürger.
__________ 97 Spindler, BB 10/2010, S. III (Die Erste Seite); ders. (Fn. 1).
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Systembildung und Systembindung im Steuerrecht Inhaltsübersicht I. Einleitung: Systemflucht des Steuergesetzgebers II. Systemdenken und Systembildung der Steuerrechtswissenschaft III. Systembindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat? 1. Stadien der verfassungsrechtlichen Systemdebatte 2. Abschichtung zwischen Widerspruchsfreiheit, Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit
3. Modelle der Systembindung des Gesetzgebers 4. Folgerichtigkeitsjudikatur als Minus zum Postulat der Systemgerechtigkeit IV. Nationale Systembildung und europäisches Unionsrecht 1. Kohärenz als Systemkonsequenz 2. Steuersystematik als Maßstab europäischer Beihilfekontrolle V. Schluss: Praktische Folgen systemfremder Steuergesetzgebung
I. Einleitung: Systemflucht des Steuergesetzgebers Der Ruf der Steuerrechtswissenschaft nach innerer Systematik der Steuergesetze ist alt, wird aber kaum erhört. Gerade in jüngster Zeit beklagt die Literatur einen systematischen Tiefpunkt der Steuergesetzgebung mit dem Resultat eines „steuersystematischen Scherbenhaufens“1. Exempel für Systeminkonsequenzen bietet das Steuerrecht zuhauf2. „Steuerrecht ohne System“3 beruht aber nicht allein auf systemfernem Pragmatismus, sondern auch auf erklärter Systemabsage. Denn ist der Steuergesetzgeber, wenn er sich für ein System entschieden hat, „bis zu einem gewissen Maße Gefangener der eigenen Entscheidung“4, so sucht der Gefangene manchmal, die „Fesseln“ der Folgerichtigkeit abzustreifen5. Das Mittel zur Flucht vor den Bindungen der Folgerichtigkeit ist einfach: Der Gesetzgeber vermeidet systematische Zusammen-
__________ 1 Deutlich Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 19. Aufl. 2008, Vorwort. In der Folgeauflage heißt es an gleicher Stelle „die Systembrüche bleiben bestehen“ (Lang in Tipke/ Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, Vorwort). 2 Zuletzt mit Beispielen Crezelius, Systeminkonsequenzen und Rückausnahmen, FR 2009, 881 (882 ff.). 3 So der Titel des Beitrags von Eckhoff in FS Steiner, 2009, S. 119. 4 Di Fabio, Steuern und Gerechtigkeit, JZ 2007, 749 (754). 5 Als Beispiel mag der – gescheiterte – Versuch der Bundesregierung im Verfahren zur sog. Pendlerpauschale dienen (vgl. BVerfG, Urteil v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 [223 ff.]).
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hänge und beseitigt bisher vorhandene6. Den Vorwurf der Steuerrechtswissenschaft, der Gesetzgeber handle steuerpolitisch prinzipienlos, konterte der damalige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium damit, dass Steuerrechtsprinzipien immer nur Referenzpositionen seien, die der Gesetzgeber an ökonomische und politische Veränderungen und Entwicklungen anpassen müsse7. Insbesondere beim objektiven Nettoprinzip sei durch neue gesetzliche Regelungen nur die globale Perspektive einbezogen worden8. Der Jubilar hat die Steuerrechtswissenschaft mit ihrer Entrüstung über diese Systemignoranz9 nicht alleine stehenlassen. Vielmehr sah sich Wolfgang Spindler herausgefordert, der Steuerpolitik mit seiner Autorität als Präsident des Bundesfinanzhofes „Unverrückbare Prinzipien im Steuerrecht“ entgegenzuhalten10. In zahlreichen Vorträgen und Beiträgen hat er sich zu systemtragenden Prinzipien als ordnungsstiftende Grundwertungen des Steuerrechts bekannt11. Die Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Vorgaben bei der Besteuerung war dem Jubilar nicht nur kraft Amtes aufgetragen, sondern als früherer wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts12 auch ein persönliches Anliegen13. Er sah – ganz im Sinne von Klaus Tipke14 – eine Verantwortung des Staates für die Steuermoral seiner Bürger und sorgte sich
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6 Jüngst Eckhoff in FS Steiner (Fn. 3), S. 119 (122); zuvor bereits positiv zur Möglichkeit einer „Systemflucht“ des Steuergesetzgebers Battis, Systemgerechtigkeit, in FS Ipsen, 1977, S. 11 (21): „Liegt kein System vor, kann der Gesetzgeber auch nicht zu Unrecht davon abweichen“. 7 Nawrath, Politische Leitlinien der Unternehmenssteuerreform, in JbFStR (2008/ 2009), S. 11 (17 f.); ders., Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers und gleichheitsgerechte Sicherung des Steueraufkommens, DStR 2009, 2 f. 8 So Nawrath, DStR 2009, 2 (3) am Beispiel der Zinsschranke. 9 Vgl. Birk, Verfassungsfragen im Steuerrecht – Eine Zwischenbilanz nach den jüngsten Entscheidungen des BFH und des BVerfG, DStR 2009, 877 (878); Cato, Steuerpolitische Beschwerden, FR 2008, 491; Crezelius, FR 2009, 881 Note 3; Drüen, Das Unternehmenssteuerrecht unter verfassungsgerichtlicher Kontrolle, Ubg 2009, 23 (24 f.); ders., Der Aufbruch zu einer neuen Steuerkultur?, DStR 2010, 2; Hey, Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und Sicherung des Steueraufkommens, FR 2008, 1033; dies., Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmenssteuerrecht, DStR 2009, 2561; Schulze-Osterloh, Der Umgang des Parlaments mit der Verfassungswidrigkeit des § 8c des Körperschaftsteuergesetzes, in FS Gauweiler, 2009, S. 275 (284); Tipke, Finanzpolit-Jurisprudenz des Hauses Steinbrück, DB 2008, Heft 40, I. 10 So der Titel des Eröffnungsvortrags der Jahresarbeitstagung der Fachanwälte für Steuerrecht, abgedruckt in JbFStR (2009/2010), S. 21 (22 ff.). 11 Zuletzt Spindler, Steuerrecht und Verfassungsrecht – eine Bestandsaufnahme, in FS Spiegelberger, 2009, S. 471; ders., Werte im Steuerrecht, Stbg 2010, 49 (50). 12 Vgl. Tipke, Präsidentenwechsel beim Bundesfinanzhof, StuW 2005, 289 (291), der seinerzeit bei Übernahme des Präsidentenamtes durch den Jubilar dessen Fähigkeit pries, „seit seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter des BVerfG kompetent und unbefangen mit der Verfassung umzugehen“ und daraus ableitete, dass „Wolfgang Spindler ein für die Gesetzgebung und ihre Gehilfen unbequemer Präsident werden könnte“. 13 Spindler, Der Bundesfinanzhof und das Bundesverfassungsgericht im Zusammenwirken für ein verfassungskonformes Steuerrecht, in FS Schaumburg, 2009, S. 169. 14 Tipke, Besteuerungsmoral und Steuermoral, Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Geisteswissenschaften, Vorträge G 366, 1999, S. 12 ff., 89 ff.
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unlängst um die Akzeptanz des Steuerrechts15. Die Steuerpolitik sollte – so sein Petitum – die verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht als hinderliche Einschränkung beklagen, sondern als Auftrag zu ihrer stringenten Beachtung verstehen, um auf diesem Wege wieder ein höheres Maß an Akzeptanz zu gewinnen16. Zu Ehren des Jubilars, der den Dialog zwischen Steuerrechtsprechung und Steuerrechtswissenschaft immer gepflegt und beim Bundesfinanzhof auch institutionalisiert hat17, möchte ich mit der Forderung nach Systemgerechtigkeit im Steuerrecht ein seit langem diskutiertes und bis in jüngste Zeit umstrittenes Thema aufgreifen. Ausgehend von den Systembegriffen der Rechtswissenschaft und dem Stand steuerwissenschaftlicher Systembildung (II.), steht die Kontroverse im Zentrum, ob und inwieweit Systemgerechtigkeit bzw. Systemkonsequenz verfassungskräftige Postulate für den Steuergesetzgeber sind (III.). Sodann ist der Blick auf europarechtliche Impulse für Systembildung und Systemtransparenz zu richten (IV.), bevor am Schluss die praktischen Folgen systemfremder Steuergesetzgebung für die Rechtsanwendung skizziert werden (V.).
II. Systemdenken und Systembildung der Steuerrechtswissenschaft Für die Rechtswissenschaft steht kritisches Systemdenken und konstruktive Systembildung an erster Stelle. „Rechtswissenschaft ist systematisch oder sie ist nicht“18 lautet das inzwischen geflügelte Wort von Hans Julius Wolff, das in keiner einschlägigen Abhandlung fehlen darf und auch hier pflichtschuldig zitiert wird. Es verbindet den Systematisierungs- und Ordnungsauftrag19 mit dem Prädikat der Wissenschaftlichkeit. Erst systematische Ordnung begründet den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz20. Da dieser freilich seit langem21
__________ 15 Spindler, Zum Verhältnis von Besteuerungsmoral und Steuermoral, BB 2010, Heft 10, Die Erste Seite. 16 Spindler, Stbg 2010, 49 (51). 17 Seit 2007 durch die „Steuerwissenschaftlichen Symposien im Bundesfinanzhof“, vgl. die Tagungsberichte Subjektive Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39, 3 sowie Zulässigkeit und Grenzen der Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, DStR 2009, Beihefter zu Heft 34, 78. 18 Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, Studium Generale, 1952, S. 205. 19 Zum Ordnungsauftrag bereits Tipke, Steuerrechtswissenschaft und Steuersystem, in FS Wacke, 1972, S. 211 f.; zu den einzelnen Zwecken wissenschaftlicher Systematisierung vgl. nur Stober in Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. 2007, § 2 Rz. 6. 20 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969; S. 13 ff. et passim; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 442. 21 Aus historischer Sicht Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500 bis 1800), 2001.
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in Frage gestellt wird22 und manche Juristen durchaus Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den vermeintlich strikteren Naturwissenschaften umtreiben23, überrascht die Betonung der Systemrationalität des eigenen Faches kaum. Nachvollziehbar ist auch, dass gerade in Disziplinen, deren Rechtsstoff gravierende systematische Defizite aufweist, der Systemanspruch herausgehoben wird24. Gerade die Steuerrechtswissenschaft steht vor einem besonderen Problem25. Der Zustand des geltenden Steuerrechts wird seit langem als „chaotisch“ oder als „Steuerdschungel“ beklagt und ebenso lange wird systematische Ordnung eingefordert26. Darum erstaunt nicht, dass Klaus Tipke jüngst unter dem Banner „(Steuer-)Rechtswissenschaft durch Systemrationalität“ betont hat, Systemidee und Wissenschaftlichkeit seien unlöslich miteinander verbunden27. Allerdings bedingen wissenschaftliche Systematisierungsleistungen keinen hinreichenden Systemgrad des positiven Rechts28. Ganz im Gegenteil belegt der Tipke’sche Systementwurf einer rationalen Steuerrechtsordnung29, dass herausragende wissenschaftliche Leistungen auch und gerade ohne „Vorleistungen“ des geltenden Rechts möglich sind30. Die zitierte Sentenz von Wolff bezieht sich nur auf die Rechtswissenschaften, nicht aber auf den Rechtsstoff als ihren Untersuchungsgegenstand31. Darum dürfen Steuerrecht und Steuerrechtswissenschaft nicht gleichgesetzt werden. Rechtswissenschaft, die unsystematisch ist, verdient in der Tat diesen Namen nicht. Aber auch unsystematisches Recht ist32. Es ist ein rechtliches Faktum. Die andere Frage ist, ob es
__________ 22 Jestaedt, „Öffentliches Recht“ als wissenschaftliche Disziplin, in Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 241 (242 f.); Kiesow, Rechtswissenschaft – was ist das?, JZ 2010, 585; Neumann in Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004, S. 386 ff.; Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, 5. Aufl. 2010, Rz. 280 ff. 23 Vgl. Röhl/Röhl (Fn. 20), S. 79 ff., 164. 24 Vgl. aber Battis in FS Ipsen (Fn. 6), S. 11 (20 f.), nach dem die einmütig betonte Systemlosigkeit des geltenden Steuerrechts gegen einen „rigorosen Einsatz“ der Systemgerechtigkeit spreche, weil deren Voraussetzungen im Steuerrecht nicht erfüllt seien. 25 So bereits Vogel, Steuerrechtswissenschaft als Steuergerechtigkeitswissenschaft, JZ 1993, 1121 f. 26 Prominent Tipke, Steuerrecht – Chaos, Konglomerat oder System, StuW 1971, 2; ders. in FS Wacke (Fn. 19), S. 211 (212); ders., Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981. 27 So – im mir freundlicherweise vom Autor vorab übermittelten Festschriftbeitrag für J. Lang – Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, in FS Lang, 2010, S. 21 (26 f.). 28 Deutlich gegen den Schluss vom desolaten Zustand des Steuerrechts auf den der Steuerrechtswissenschaft zuletzt Lang, Editorial, StuW 2009, 1 f. m. w. N. 29 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2000; Bd. II, 2. Aufl. 2003; Bd. III, 1993. 30 Anerkennend trotz seiner Kritik an der „Systemlehre des Steuerrechts“ auch jüngst Eckhoff in FS Steiner (Fn. 3), S. 119 (122 ff., 128). Allerdings ist beim systemvermeidenden Gesetzgeber nicht der „Wissenschaftsansatz am Ende“ (so ebenda, S. 128), vielmehr behält er seine wichtige rechtspolitische Funktion. 31 Zutreffend bereits Peine, Steuergerechtigkeit durch Steuerrechtssystem, Rechtstheorie 16 (1985), 108 (111 Note 15). 32 Das gilt selbst für ungerechtes Recht, weil die definitorische Einheit von Gerechtigkeit und Recht nicht haltbar ist (vgl. Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, JZ 2009, 969 [970 f.]).
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Systembildung und Systembindung im Steuerrecht
gegen höherrangiges Recht verstößt (dazu III. und IV.). Eine Gleichsetzung der Systemgerechtigkeit des Rechts mit seiner Wirksamkeit wäre verfehlt. Systembildung ist demnach prioritäre Aufgabe der Wissenschaft. Nur systematisches Recht ist lernbar und lehrbar33. Freilich besteht über den richtigen Systembegriff keineswegs Einigkeit. Vielfältige Verständnisse sind möglich34. Claus-Wilhelm Canaris versteht unter einem System die Ordnung von bestimmten Elementen nach bestimmten Ordnungsmerkmalen oder nach den zwischen ihnen bestehenden Zusammenhängen. Konstitutiv für die juristische Systembildung sind für ihn die Kriterien der Einheit und Ordnung35. Das erscheint eingängig, aber die Konstruktion wird rechtstheoretisch auch hinterfragt36. Auch die Rezeption des Canaris’schen Systembegriffs im Steuerrecht wirft durchaus Zweifel auf37. Weithin konsentiert scheint die Differenzierung zwischen äußerer und innerer Systematik38. Die innere Ordnung der Rechtsnormen im Sinne eines erstrebten, widerspruchsfreien Wertgefüges wird im Anschluss an Philipp Heck39 verbreitet als „inneres System“ bezeichnet40, wobei die Wurzeln weiter zurückreichen41. Aber auch diese eingängige Trennung, die Konstruktion des inneren Systems und die aus ihm abzuleitenden Folgen sind durchaus umstritten42. Geht es bei einem System trotz aller Differenzierungen stets um eine Menge von Elementen und die Relationen zwischen ihnen,
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33 Die herkömmliche Formel von der Lehr- und Lernbarkeit des Rechts gehört umgedreht, weil auch der Lehrende zuerst den Stoff lernen muss und zwar – wie das Steuerrecht anschaulich illustriert – stets von Neuem! 34 Zum Systembegriff vgl. nur Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 4 ff.; Canaris (Fn. 20), S. 11 ff., 19 ff.; Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, 1976, S. 646 ff.; näher ders., Methoden des Rechts, Bd. IV, 1977, S. 96 ff.; Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), 175 (176 f.); Röhl/Röhl (Fn. 20), S. 438 ff.; Rüthers/Fischer (Fn. 22), Rz. 139 f., 750 f.; Vesting, Rechtstheorie, 2007, § 3 Rz. 75 ff.; Molinero, Der Systembegriff im Recht, Rechtstheorie, Beiheft 10, 1986, 339; ders., System und Systembildung in Recht und Rechtswissenschaft, ARSP, Beiheft 52, 1993, 122. 35 Canaris (Fn. 20), S. 12 ff., 16 ff. 36 Vgl. bereits Fikentscher (Fn. 34), Bd. III, 1976, S. 646 ff. 37 So beruft sich Tipke seit jeher (zuletzt Tipke in FS Lang [Fn. 27], S. 21 [28 f.]) und ihm folgend Lang (vgl. nur Lang, Vordenker der Steuergerechtigkeit – Klaus Tipke zum fünfundsiebzigsten Geburtstag, StuW 2001, 78 [80 f.]; ders. in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 3, 9) auf das Systemdenken im Sinne von Canaris, obgleich früh kritisiert wurde, dass der verwendete Systembegriff gerade nicht deckungsgleich ist (so explizit die kritische Rezension von Peine, Rechtstheorie 16 (1985), 108 (110 f.); sowie ders., Systemgerechtigkeit, 1985, S. 47 f., 184, 231 f.; zustimmend Eckhoff in FS Steiner (Fn. 3), S. 119 [124 mit Note 33, 48]). Auch die Anleihen an Bydlinski erscheinen fragwürdig, zumal dieser das Rechtssystem nicht als axiomatisch-deduktives System versteht (Bydlinski, [Fn. 34], S. 27 ff.). 38 Canaris (Fn. 20), S. 19, 34 f. 40, 87, 90 f.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 474 ff.; ebenso Lang in Tipke/Lang (Fn. 37), § 4 Rz. 5 ff., 9 ff. 39 Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 139 ff. 40 Rüthers/Fischer (Fn. 22), Rz. 751. 41 Nach Schröder (Fn. 21), S. 244 f., ist der Gedanke eines „inneren Systems“ des Rechts bereits die auffälligste Neuerung, die die Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. 42 Vgl. Bydlinski (Fn. 34), S. 4 ff., 49 ff.; Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, S. 148 f.
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so definiert und konstruiert die Rechtslehre Wirkungsweisen und Zusammenspiel der das System konstituierenden Prinzipien durchaus unterschiedlich. Dienen Prinzipien und Unterprinzipien „gleichsam als Bausteine eines Systems“43, so geht der Diskurs über Rechtsprinzipien44 nahtlos über in den Diskurs zum Systembegriff. Die Pluralität des Systemverständnisses führt dabei zwangsläufig zu Irritationen. Nach einer jüngeren Minimalanforderung sind die einzelnen Regelungselemente eines Ordnungsbereiches aufeinander bezogen und bilden ein System45. Danach erfolgt eine quasi automatische Systembildung durch den Gesetzgeber bei erstmaliger Regelung eines bestimmten Ordnungsbereiches, ohne dass inhaltliche Voraussetzungen an das Zusammenwirken der einzelnen Elemente gestellt werden. Bei diesem pragmatischen Systemverständnis ist die umstrittene – und später näher zu behandelnde (s. III. 3.) – „Systemaufstellungspflicht“ allein durch den legislativen Akt erfüllt und keiner weiteren Diskussion wert. Ganz anders sieht es dagegen aus, wenn man qualifizierte materielle Anforderungen an die Systembildung anlegt. Quasi am anderen Ende des „Systems der Systeme“46 gilt Systemdenken als Gerechtigkeitsdenken47. Impuls und oberstes Ziel der Systembildung ist dabei die Steuergerechtigkeit48. Angesichts durchaus pluraler Vorstellungen von Gerechtigkeit49 fällt die zwingende und konsensfähige Ableitung konkreter Ergebnisse aus der Steuergerechtigkeit aber schwer50, selbst wenn der Gleichheitssatz mit ins Spiel gebracht wird51. Darum besteht die Versuchung, durch akademische Systembildung den Gesetzgeber an die eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen binden zu wollen52. Die Systembildung verleitet zur Annahme einer Systembindung53.
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43 Larenz (Fn. 38), S. 475. 44 Dazu instruktiv unlängst Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel (mit Schlussfolgerungen für indirekte Steuern), 2008, S. 7–69 zur Lehre von Rechtsprinzipien, S. 145 f. zum Systembegriff; nachzutragen ist die jüngste Kritik an der grundrechtlichen Prinzipientheorie von Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 78 ff., 88, von Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, JZ 2008, 756 (759 ff.) sowie die Antikritik von Sieckmann, Zum Nutzen der Prinzipientheorie für die Grundrechtsdogmatik, JZ 2009, 557. 45 So Kloepfer, Gleichheitssatz und Abgabengewalt, in FS Stober, 2008, S. 703 (713). 46 Begriff nach Fikentscher (Fn. 34), Bd. IV, 1977, S. 97. 47 Tipke (Fn. 26), S. 49; ders. (Fn. 29), Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 282 f.; ähnlich Lang in Tipke/ Lang (Fn. 37), § 4 Rz. 2 f., 26. 48 Zum Tipke’schen Verständnis der Steuergerechtigkeit näher Tipke (Fn. 29), Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 236 ff., 273 ff.; ders., Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, 201 und zuletzt ders., Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, 533 (534 ff.). 49 Vgl. zuletzt Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit – Fehldeutungen eines Begriffs, 3. Aufl. 2009; ders., JZ 2009, 969 (971 ff.). 50 Drüen, Zur Rechtsnatur des Steuerrechts und ihrem Einfluss auf die Rechtsanwendung, in FS Kruse, 2001, S. 191 (196 ff., 201 f.); ders. in Tipke/Kruse, § 3 AO Rz. 42 f. 51 Allgemein kritisch auch Rüfner in Bonner Kommentar, Art. 3 GG Rz. 2, 4; speziell zur Steuergerechtigkeit Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, S. 44, 50 f. sowie Osterloh in Sachs, 5. Aufl. 2009, Art. 3 GG Rz. 134. 52 Vgl. die jüngste Kritik an der „Systemlehre“ des Steuerrechts von Eckhoff in FS Steiner (Fn. 3), S. 119 (122 ff., 126 ff.). 53 Zur gebotenen Trennung auch Weber-Grellet (Fn. 42), S. 149.
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Die Systembindung ist aber das eigentliche Problem. Denn über Vorzüge eines bestimmten Systembegriffs und Konstruktionsvorgaben für den Systembau mag man durchaus streiten, aber die rechtlich relevante Frage gilt den Ableitungen aus der Systembildung54. Schon früh nahm Canaris eine Systembindung des Gesetzgebers an. Für ihn verstoßen systemwidrige Normen wegen des in ihnen enthaltenen Wertungswiderspruchs regelmäßig gegen den allgemeinen Gleichheitssatz55. Allerdings dürfen Systemdenken und verfassungskräftige Bindung des Gesetzgebers nicht gleichgesetzt werden. Aus der Systembildung folgt nicht eo ipso die verfassungsrechtliche Systembindung. Das Ergebnis des Systematisierungsauftrages der Steuerrechtswissenschaft darf darum nicht einfach zum verfassungsrechtlichen Postulat erhoben werden.
III. Systembindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat? 1. Stadien der verfassungsrechtlichen Systemdebatte Inwieweit das Bestreben der Steuerrechtswissenschaft, ein sachgerechtes Steuersystem zu entwickeln, zugleich eine verfassungsrechtliche Dimension hat, wird – auch unter Staatsrechtlern – seit langem diskutiert. Vor 30 Jahren schrieb Klaus Stern, „es bleibt die (ungelöste) Frage, inwieweit gerade das Steuersystem nicht auch von Verfassungs wegen wenigstens gewisse Minimalforderungen ökonomischer Sinnhaftigkeit und innerer Folgerichtigkeit erfüllen muss“56. Die verfassungsrechtliche Diskussion stand anfangs unter der Überschrift der Strukturgerechtigkeit und hatte ihren Ausgangspunkt „in versteckten Mauselöchern des Steuerrechts“57. Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde kontrovers über den Topos der Systemgerechtigkeit58 und ihre Funktion für die Gleichheitsdogmatik gestritten59. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach zur Systemgerechtigkeit Stellung genommen, sieht aber
__________ 54 Auch die Kritiker einer Systembindung des Gesetzgebers erkennen Vorzüge der Systembildung an, vgl. nur Battis in FS Ipsen (Fn. 6), S. 11 (26 f.); Kischel, AöR 124 (1999), 175 (203 f.). 55 Canaris (Fn. 20), S. 125 ff., 128: „In der Regel wird bei einem Systembruch ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz gegeben sein“; dagegen bereits Battis in FS Ipsen (Fn. 6), S. 11 (16, 30); Huster, Rechte und Ziele – Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1993, S. 390; für eine „behutsame Abwägung“ im Einzelfall Degenhardt, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 87 f. 56 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 1107 (Hervorhebung im Original), unter Hinweis insbesondere auf Schriften von Klaus Tipke. 57 So Lerche, Rechtsprobleme der wirtschaftslenkenden Verwaltung, DÖV 1961, 486 (487), allerdings mit der Tröstung für Steuerrechtler, dass die Grenzgebiete zwischen Steuerrecht und Verfassungsrecht zu den „goldhaltigsten Adern“ zählen dürften, die „wissenschaftliches Gold“ versprechen (ebenda, 487 mit Note 8). 58 Battis in FS Ipsen (Fn. 6), S. 11; Degenhardt, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976; Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, 259; Peine, Systemgerechtigkeit – Die Selbstbindung des Gesetzgebers als Maßstab der Normenkontrolle, 1985. 59 Eingehend dazu mit dem Ziel der „Rehabilitierung der Figur der Systemgerechtigkeit“ Huster (Fn. 55), S. 386 ff., 398.
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seit geraumer Zeit einen Systemverstoß allenfalls noch als Indiz für einen Gleichheitsverstoß an60. Im Laufe der Judikatur hat sich der Aufhänger der Debatte von der Systemgerechtigkeit hin zum Gebot der Folgerichtigkeit verschoben61. Seit längerem62 wird um die sog. Folgerichtigkeitsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts gerungen63, zu der sich auch der Jubilar bekannt hat64. Dabei sieht die Literatur zum Teil nuancierte Bedeutungsunterschiede65, zum Teil setzt sie Folgerichtigkeit und Systemgerechtigkeit auch heute noch gleich. Überholt ist der Rekurs auf den Grundsatz der Systemgerechtigkeit legislativen Handelns nicht66, denn noch in jüngerer Zeit betonen Autoren, dass Art. 3 Abs. 1 GG den Gedanken der Systemgerechtigkeit enthalte67. Auch Rudolf Mellinghoff bekräftigte vor einigen Jahren unter der Überschrift „Systemgerechtigkeit“, dass der Gleichheitssatz eine Systemgerechtigkeit im Binnenbereich des Gesamtsteuersystems fordere68. Andere messen dem Topos der Systemwidrigkeit69 dagegen keine unmittelbare verfassungsrechtliche Relevanz und keine eigenständige gleichheitsrechtliche Bedeutung zu70. Darum bewegt die Literatur bis heute die Frage, ob Systemgerechtigkeit ein Verfassungsmaßstab ist71.
__________ 60 Aus der Rechtsprechung BVerfG, Beschluss v. 7.11.1972 – 1 BvR 338/68, BVerfGE 34, 103, 115; Urteil v. 19.10.1982 – 1 BvL 39/80, BVerfGE 61, 138, 148; Beschluss v. 22.2.1984 – 1 BvL 10/80, BVerfGE 66, 214, 224. 61 Deutlich Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, in FS Vogel, 2000, S. 293. 62 Zur Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG zur Folgerichtigkeit vgl. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, 875 (880) und Birk, DStR 2009, 877 (881). Verfehlt ist darum die These vom „steuerrechtlichen Sonderweg“ von Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht – Gefahren eines dogmatischen Sonderwegs, in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2009, S. 175 (184). 63 Positiv zuletzt Hey, DStR 2009, 2561 (2563 ff.) m. w. N.; kritisch zur Rechtsprechung dagegen Kischel, AöR 124 (1999), 174 (179, 203 ff.); ders. in Mellinghoff/Palm (Fn. 62), S. 175 (184 f.); Lepsius, Erwerbsaufwendungen im Einkommensteuerrecht (Anmerkung), JZ 2009, 260 (263); Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, in FS Isensee, 2007, S. 949 (964). 64 Spindler in FS Spiegelberger (Fn. 11), S. 471 (478); ders. in JbFStR (2009/2010), S. 21 (29 f.). 65 Heun in Dreier, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 3 GG Rz. 36. 66 Jarass, Indienstnahme Privater und Systemgerechtigkeit im Sozialrecht, VSSR 2007, 103 (112 f.), der Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit als „eng verwandt“ bezeichnet; zuletzt Dietlein, Zur Zukunft der Sportwettenregulierung in Deutschland, ZfWG 2010, 159 (162). 67 So Kloepfer in FS Stober (Fn. 45), S. 703 (713). 68 So Mellinghoff, Verhältnis der Erbschaftsteuer zur Einkommen- und Körperschaftsteuer, in DStJG 22 (1999), S. 125 (157), mit der Schlussfolgerung, dass nach dem „Grundsatz systemgerechter Besteuerung“ die gleichzeitige Erfassung desselben Vermögenszuwachses mit Erbschaftsteuer und Einkommen- oder Körperschaftsteuer bei einem Steuerpflichtigen ausgeschlossen sei. 69 Zum Verständnis als Auslegungstopos vgl. Stober in Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 19), § 22 Rz. 67, § 28 Rz. 46. 70 So Englisch (Fn. 44), S. 153; ders. in Stern/Becker, 2010, Art. 3 GG Rz. 39 f.; ebenso zum Folgerichtigkeitsgebot Heun in Dreier (Fn. 65), Art. 3 GG Rz. 36.: „kein selbständiger Verfassungsgrundsatz“. 71 Zuletzt Eckhoff in FS Steiner (Fn. 3), S. 119.
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Systembildung und Systembindung im Steuerrecht
Die Kritik an einer verfassungsrechtlichen Systembindung des Gesetzgebers rügt die fehlende verfassungsrechtliche Herleitung eines Bindungsgrundes72. Systemgerechtigkeit, auch als allgemeine Folgerichtigkeit oder Konsequenzgebot verstanden, sei selbst unter Einschluss des Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG nicht per se verfassungsrechtlich gefordert73. Die Forderung nach System- oder Folgerichtigkeit greife in die Gestaltungsfreiheit des demokratisch legitimierten Gesetzgebers über und erhöhe rechtspolitische Argumente zu Verfassungsdirektiven. Rechtspolitisch Wünschenswertes werde unter Einsatz des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit schnell als verfassungsrechtlich Gebotenes und verfassungsgerichtlich Durchsetzbares ausgegeben74. Der Kompromiss sei aber „geradezu Wesensmerkmal demokratischer Politik“, weshalb das Bundesverfassungsgericht „keine Folgerichtigkeit und Systemreinheit einfordern dürfe, die kein demokratischer Gesetzgeber leisten kann“75. Mit dem „richterrechtlich erfundenen Gebot der Folgerichtigkeit“ werde der Steuergesetzgeber an ein System primär steuerrechtlicher Prinzipien gebunden76. Die Systembildung führe zu einer verfassungsrechtlichen Überhöhung einfachen Rechts77. Dabei sei nicht rational zu entscheiden, welche Teile der gesetzgeberischen Entscheidung zum „System“ zählen und dadurch den Gesetzgeber fortan binden würden78. Die „Konstitutionalisierung der Rechtsordnung“79 laufe auf eine Verfassungsmäßigkeit nach Maßgabe der einfachen Gesetze hinaus80. Dadurch drohe die Gefahr einer „verfassungsgerichtlichen Zementierung“ einfachrechtlicher Regelungen81 und eine Versteinerung82 oder Verkrustung des Rechts83 mit der Gefahr einer Innovationshemmung oder gar -verhinderung84. Die Systemgerechtigkeit dürfe nicht eingesetzt werden, um gesetzliche Systeme „aufzubrechen“, indem auf übergreifende Obersysteme abgehoben und damit eine „judizielle Gleichheitspolitik ins Werk gesetzt“ werde85.
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72 Eingehend Peine (Fn. 58), S. 77 ff., 180 ff., 208 ff., 230 ff., 282 ff., 299 f. sowie ders., Rechtstheorie 16 (1985), 108 (115 f.). 73 So bereits Huster (Fn. 55), S. 386 ff., 390. 74 So bereits Battis in FS Ipsen (Fn. 6), S. 11 (26) sowie ebenda, S. 28 mit dem Vorwurf, Systemgerechtigkeit erschöpfe sich im „rechtspolitischen Räsonnement“. 75 So jüngst Bryde, Sondervotum zum Rauchverbot in Gaststätten (BVerfGE 121, 317), BVerfGE 121, 378 (380 f.). 76 So Lepsius, JZ 2009, 260, der darum das Folgerichtigkeitsgebot des BVerfG auch „eher als richterrechtlichen Irrtum“ tituliert (ebenda, 263). 77 Wiederum Lepsius, JZ 2009, 260 (263); positiv demgegenüber Degenhardt (Fn. 55), S. 86 f. „Modell abgestufter Verfassungsnähe einfachen Rechts“. 78 Kischel, AöR 124 (1999), 174 (206 f.); ders. in Mellinghoff/Palm (Fn. 62), S. 175 (184). 79 Zu diesem Phänomen allgemein Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 9 ff. 80 Kischel in Mellinghoff/Palm (Fn. 62), S. 175 (185). 81 Müller-Franken, Entscheidungsanmerkung, NJW 2009, 55; ähnlich Lepsius, JZ 2009, 260 (263): „konstitutionalisierende Rechtsprechung“. 82 Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, 1973 (1978); gegen eine „Versteinerung gesetzgeberischer Strukturen über ein Hineinwachsen auf Verfassungsebene“ schon Degenhardt (Fn. 55), S. 89. 83 Kischel, AöR 124 (1999), 175 (205). 84 So Heun in Dreier (Fn. 65), Art. 3 GG Rz. 36. 85 So trotz positiver Grundhaltung zur Systemgerechtigkeit die Bedenken von Starck in von Mangoldt/Klein/Starck, 6. Aufl. 2010, Art. 3 GG Abs. 1 Rz. 44 ff., 49, 54.
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Wenn dem Gesetz kein System entnommen werden könne, sei das Ende einer methodisch gesteuerten Rechtsanwendung und der Anfang der Rechtspolitik erreicht86. Rechtspolitik als Rechtsinterpretation zu kaschieren, gehört aber zu den Todsünden der Rechtswissenschaft87. Diese Kritik an einer Systembindung des Gesetzgebers wiegt in der Summe schwer, trifft aber nicht die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, sondern alleine ein extremes Verständnis der Systembindung. Dies soll die nachfolgende Differenzierung unter Betrachtung verschiedener Systembindungsmodelle erhellen. 2. Abschichtung zwischen Widerspruchsfreiheit, Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit Ein Verstoß des Gesetzgebers gegen die Systemgerechtigkeit wird häufig gerügt, bleibt aber oftmals unerhört. Nicht selten werden dabei zur Ausfüllung des formalen Gleichheitssatzes Systemgerechtigkeit, Widerspruchsfreiheit und Folgerichtigkeit überschneidend herangezogen und verbunden angeführt. So heißt es etwa im – letztlich erfolglosen88 – Vorlagebeschluss des X. Senats des BFH zum Sonderausgabenabzug von Beiträgen zu Krankenversicherungen, dass dem Gesetzgeber die gewählte einfachgesetzliche Ausgestaltung „aus Gründen der Systemgerechtigkeit sowie der Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“ verwehrt sei89. Auch die Literatur stellt Widerspruchsfreiheit, Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit als Ausschnitte der übergreifenden Idee der Einheit der Rechtsordnung oft in eine Reihe90. Trotz greifbarer Überschneidungen lassen sich aber Differenzierungen91 und – gerade mit Blick auf verfassungsrechtliche Pflichten des Gesetzgebers – auch Stufungen ausmachen. Widerspruchsfreiheit lässt sich als sachbereichsüberspannender Maßstab begreifen, der auf die externe Konsistenz verschiedener Ordnungsbereiche abzielt92. Klassischer Anwendungsfall für die Forderung nach widerspruchsfreier Normgebung sind dabei Lenkungsabgaben93. Bei diesem Verständ-
__________ 86 So Eckhoff in FS Steiner (Fn. 3), S. 119 (127). 87 Zutreffend allgemein Schön, Quellenforscher und Pragmatiker, in Engel/Schön (Fn. 22), S. 313 (320). 88 BVerfG, Beschluss v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125. 89 BFH, Beschluss v. 14.12.2005 – X R 20/04, BStBl. II 2006, 312 (322). 90 Z. B. bei Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber?, Der Staat 41 (2002), 429 (438), aber insgesamt ablehnend, ebenda, 446 ff.; Möllers, NJW 2005, 1973 (1977): „Figuren der Folgerichtigkeit, Systemgerechtigkeit oder Widerspruchsfreiheit“. 91 Ebenfalls differenzierend zuletzt Englisch in Stern/Becker (Fn. 70), Art. 3 GG Rz. 33 ff., 36 ff. und Rz. 39 f. 92 Drüen, Über konsistente Rechtsfortbildung, GmbHR 2005, 69 (78 f.). 93 Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung – untersucht am Beispiel von Lenkungsteuern und Lenkungssonderabgaben, 2007, S. 30 ff.
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nis94 ist Widerspruchsfreiheit ein besonders weitreichender Ausschnitt aus dem Postulat der Systemgerechtigkeit95, der auf systemübergreifende Abstimmung96 gerichtet ist. Systemgerechtigkeit im engeren Sinne bezieht sich dagegen auf denselben „Ordnungskreis“97. Versteht man diese als Abweichen des Gesetzgebers von „seiner in gesetzgeberischer Freiheit gewählten Grundkonzeption“98, so deckt sich dies mit dem Folgerichtigkeitsgebot. In der Tat setzen manche Autoren beides gleich99. Das ist terminologisch nicht zu beanstanden, allerdings können die durch Systemgerechtigkeit erstrebten Bindungen des Gesetzgebers weit darüber hinausgehen. 3. Modelle der Systembindung des Gesetzgebers Innerhalb der Systemgerechtigkeit lassen sich verschiedene „Systempflichten“ (absteigend) reihen, wobei freilich divergierende Systembegriffe (s. II.) zu Missverständnissen einladen. Die intensivste Form der Systembindung trifft den Gesetzgeber, wenn er verpflichtet wäre, ein ihm vorgegebenes System zu erkennen und zu normieren. Eine derartige Pflicht zum Systemvollzug an den Gesetzgeber lässt sich indes nicht aus vorrechtlichen Ordnungen ableiten100. Das gilt gerade im Steuerrecht. Außer dem Finanzierungsbedürfnis des Staates gibt es kein originäres sachliches Regelungsbedürfnis101. Es gibt keinen Sachverhalt, der seiner Natur nach besteuert werden müsste102. Die vom Gesetzgeber vorgefundene Lebenswirklichkeit gibt kein Besteuerungssystem apriorisch vor. Auch das Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip bedarf der Konkretisierung103. Prinzipien, auch wenn sie mit den Worten des Jubilars „verfassungsgeboten“104 sind, wirken zusammen und gegenander105, so dass
__________ 94 Terminologisch anders z. B. P. Kirchhof, Die Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, 316; ders., Die Steuern, in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rz. 176 ff. sowie ders., Allgemeiner Gleichheitssatz, ebenda, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 181 Rz. 209 f. 95 Vgl. Degenhardt (Fn. 55), S. 6 ff., der von „Systemwidrigkeiten im Verhältnis verschiedener Ordnungssysteme“ spricht und dies am Beispiel des Verhältnisses von Steuerrecht und Zivilrecht illustriert. Näher zu denkbaren Abgrenzungen von Widerspruchsfreiheit und Systemgerechtigkeit Kohl (Fn. 93), S. 139 ff. 96 Vgl. Englisch in Stern/Becker (Fn. 70), Art. 3 GG Rz. 36. 97 Begriff nach Degenhardt (Fn. 55), S. 52 ff. 98 Degenhardt (Fn. 55), S. 98 f. 99 Vgl. Kischel, AöR 124 (1999), 175 (179) m. w. N. 100 Näher Degenhardt (Fn. 55), S. 36 ff.; ebenso Schön in Engel/Schön (Fn. 22), S. 313 (317): „Der Versuch, eine vorgegebene innere „Ordnung“ des Rechts gegen „unsystematische“ Eingriffe des Gesetzgebers in Stellung zu bringen, ist notwendig zum Scheitern verurteilt“. 101 Vgl. schon Flume, Der gesetzliche Steuertatbestand und die Grenztatbestände in Steuerrecht und Steuerpraxis, in StbJb. (1967/68), S. 63 (64, 66). 102 Kruse (Fn. 51), S. 46. 103 Statt aller Heun in Dreier (Fn. 65), Art. 3 GG Rz. 75 m. w. N. 104 Spindler in JbFStR (2009/2010), S. 21 (24). 105 Anschaulich Bydlinski (Fn. 34), S. 26: „Zusammen- und Gegenanderwirken fundamentaler Prinzipien“.
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der Gesetzgeber zum Ausgleich berufen ist106. Der Fiskalzweck ist dagegen konturenarm107 und gibt dem staatlichen Besteuerungszugriff weder Maß noch System vor. Darum betont das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung im Ausgangspunkt die Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers108. Eine Pflicht zur Entfaltung eines durch die Verfassung unmittelbar vorgegebenen Systems besteht im Steuerrecht darum nicht109. Ein minderer Systembindungsgrad liegt in einer gesetzgeberischen Systemaufstellungspflicht110. Dabei muss der Gesetzgeber kein vorgegebenes System normieren, sondern darf ein System wählen. Es gilt daher nicht nur negativ ein „Verbot des Systems der Systemlosigkeit“111, sondern positiv ein Gebot der Systemschaffung. Einzelne Autoren bejahen im Anschluss an Tipke einen verfassungsrechtlichen Zwang zur Systembildung im Steuerrecht. Während die Rede von der „Notwendigkeit einer steuerrechtlichen Systementscheidung“112 noch deutungsoffen ist, plädieren andere für ein „Gebot der Systembildung“113. Soweit aber mehr als ein pragmatisches Systemverständnis, das der Gesetzgeber quasi en passant erfüllt (s. II.), zur Verfassungspflicht erhoben wird, bestehen gegen die Annahme eines Systemzwangs durchgreifende Bedenken. Die verfassungsrechtliche Quelle ist unklar114. Weder aus dem Gleichheitssatz115
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106 Eingehend näher Lang, Konkretisierungen und Restriktionen des Leistungsfähigkeitsprinzips, in FS Kruse, 2001, S. 313 (320 ff., 326 ff.). 107 Ebenso jüngst G. Kirchhof, Der qualifizierte Gesetzesvorbehalt im Steuerrecht, DStR 2009, Beihefter zu Heft 49, 135 (138). 108 Zum „weitreichenden Entscheidungsspielraum“ des Steuergesetzgebers vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 (120). 109 Ebenso auch Eckhoff in FS Steiner (Fn. 3), S. 119 (121, 126, 128 f.). 110 Gegen ein „Systemaufstellungsgebot“ bereits Peine (Fn. 58), S. 230 ff.; ders., Rechtstheorie 16 (1985), 108 (112, 116). 111 Dies postulieren unter der Überschrift „Das Gebot der Systemtreue“ speziell für die Verwaltungsneugliederung Stern/Püttner, Grundfragen zur Verwaltungsreform im Stadtumland, 2. Aufl. 1969, S. 25 f., weil die Pflicht, kommunale Eigenverantwortung zu ermöglichen, der „Organisationswillkür“ des Gesetzgebers insbesondere in prinzipieller Hinsicht Grenzen setze (dazu kritisch Lange, Die Verwaltung 1971, 259 [273 f.]; positiv aus dem Prinzip der Rechtsklarheit ableitend und den Bogen zum Steuerrecht spannend dagegen Degenhardt [Fn. 55], S. 112; darauf gestützt und für ein „rechtstaatliches Verbot eines Systems der Systemlosigkeit“ jüngst Hey, DStR 2009, 2561 [2566 f.]). 112 So G. Kirchhof, DStR 2009, Beihefter zu Heft 49, 135 (144); vgl. auch Weber-Grellet (Fn. 42), S. 149: „Systembildung und Systembindung sind vorrangig Sache des Gesetzgebers“. 113 Deutlich unter dieser Überschrift formuliert Englisch (Fn. 44), S. 151, unter Hinweis auf Tipke (Fn. 26), S. 25 f., 56 f., wie folgt: „Am nachhaltigsten missachtet ist es (scil. das Postulat der Systemgerechtigkeit) … durch einen Zustand der Systemlosigkeit, in dem keinerlei bereichsspezifisch prägendes Leitprinzip ersichtlich ist oder dieses durch Ausnahmen so zersetzt wird, dass ein Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht mehr erkennbar ist“. Auch nach Hey, Verfassungsrechtliche Maßstäbe der Unternehmensbesteuerung, in FS Herzig, 2010, S. 7 (16 Note 68) kann der Gesetzgeber den gleichheitsrechtlichen Bindungen nicht durch Systemlosigkeit entgehen (vgl. bereits Note 111). 114 Kritisch bereits Lange, Die Verwaltung 1971, 259 (273 f.). 115 Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988, 2505 (2508); Hanebeltz, Der Staat 41 (2002), 429 (446, 450), und jüngst Eckhoff in FS Steiner (Fn. 3), S. 119 (134).
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noch aus der Gerechtigkeitsidee lässt sich allgemein eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Aufstellung eines Systems ableiten116. Systembildung ist keine verfassungskräftige Aufgabe der (Steuer-)Gesetzgebung117. Die pluralen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft basieren nicht auf einem feststehenden System, vielmehr ist das Parlament zur Gewichtung und Abwägung berufen118. Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi119. Auch der Gleichheitssatz bedingt nicht die vorgehende Etablierung eines Systems120, zumal die Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers nicht darauf reduziert werden darf121. Der Gleichheitssatz fordert keine Systemreinheit. Die – im Kern zutreffende122 – Folgerichtigkeitsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts bekräftigt dies. Eine Systemaufstellungspflicht darf aber nicht einfach „in die Verfassung hineingelesen“ werden123. Eine Pflicht zur Systemschaffung in einem Ordnungsbereich besteht allenfalls in Ausnahmefällen, folgt dagegen nicht allgemein aus dem Gleichheitssatz. Die letzte modellhafte Systempflicht des Gesetzgebers ist die Pflicht zur Systemerhaltung. Ein „Systemerhaltungsgebot“124 wäre die Fortsetzung der Systemaufstellungspflicht125. Letztere besteht meiner Ansicht nach allgemein nicht. Das Verfassungsrecht fordert aber auch keine absolute Systemtreue126. Das System als solches ist nicht verfassungsfest127. Das bestätigt die verfassungsgerichtliche Figur des Prinzipien- oder Systemwechsels128 als Abmilderung des strengen Folgerichtigkeitsgebots129. Das Bundesverfassungsgericht betont im Urteil zur Pendlerpauschale, dass die dem Steuergesetzgeber zustehende Gestaltungsfreiheit von Verfassungs wegen die Befugnis umfasst, neue Regeln einzuführen, ohne durch Grundsätze der Folgerichtigkeit an frühere Grundentscheidungen gebunden zu sein. Ein zulässiger Systemwechsel setzt dabei aber ein Mindestmaß an neuer Systemorientierung voraus130. Danach besteht
__________ 116 Ebenso bereits Peine (Fn. 58), S. 230 ff., 299 f.; ders., Rechtstheorie 16 (1985), 108 (112, 114 ff.). 117 Eine ganz andere Frage ist, dass Steuergesetzgebung – auch ungewollt – systembildend wirken kann. Wille und Wirkung sind aber – wie stets – zu trennen. 118 Insoweit im Ausgangspunkt ähnlich Tipke in FS Wacke (Fn. 19), S. 211 (214), wobei die nach ihm vorzunehmende „Systemprüfung“ freilich die Spielräume der Parlamentsmehrheit empfindlich beschneidet. 119 Ulpian, Corpus Iuris Civilis, Digesten 1, 1, 10. 120 Kischel, AöR 124 (1999), 175 (210 f.). 121 Zutreffend bereits Eckhoff in FS Steiner (Fn. 3), S. 119 (127). 122 Zur Entscheidungskritik vgl. Schwarz in FS Isensee (Fn. 63), S. 949 (958 ff.). 123 Dagegen schon Peine, Rechtstheorie 16 (1985), 108 (116). 124 Dagegen eingehend bereits Peine (Fn. 58), S. 208 ff. 125 So schon Peine, Rechtstheorie 16 (1985), 108 (116). 126 Ebenso Dietlein, ZfWG 2010, 159 (162); gegen eine „starre Systembindung“ und nur für eine „flexible Systembindung“ als Selbstbindung des Gesetzgebers bereits Degenhardt (Fn. 55), S. 89. 127 Huster (Fn. 55), S. 391. 128 Näher Drüen, Ubg 2009, 23 (26 ff.). 129 So Englisch in Stern/Becker (Fn. 70), Art. 3 GG Rz. 35. 130 BVerfG, Urteil v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 (242). Im Folgenden spricht das BVerfG von einem „Prinzipienoder Systemwechsel“ (ebenda, 244).
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kein striktes Systemerhaltungsgebot. Allerdings muss der Gesetzgeber den Systemwechsel konsistent und konsequent vollziehen und darf nicht Ausnahmeregeln einfach als „systemändernde neue Grundentscheidung“131 verkaufen. 4. Folgerichtigkeitsjudikatur als Minus zum Postulat der Systemgerechtigkeit Gerade der Vergleich der verschiedenen Modelle der Systembildung mit der Folgerichtigkeitsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts spricht gegen eine bisweilen anzutreffende Gleichsetzung beider Figuren. Zwar erscheint die Rechtsprechung noch nicht abgeschlossen132, zumal neue Entscheidungen durchaus andere Gewichtungen erkennen lassen133. Allerdings ist die Rechtsprechung zur Folgerichtigkeit in formaler und materieller Hinsicht ein Minus gegenüber der Forderung nach Systemgerechtigkeit. Formal liegt der Kern des Folgerichtigkeitsgebots in verschärften Rechtfertigungsanforderungen für eine Durchbrechung der gesetzgeberischen Grundentscheidung134. Der Gesetzgeber muss für Abweichungen sachliche Gründe anführen können135, dabei führt der übergreifende methodische Ansatz der Folgerichtigkeit zu erhöhten Begründungsanforderungen an Abweichungen136. Das Maß für diese Anforderungen ist damit freilich noch offen. Zu fordern ist nicht nur eine willkürfreie137, sondern eine folgerichtige Begründung für das Abgehen von der eigenen Grundentscheidung138. Dabei trifft den Gesetzgeber in Streitfällen zumindest faktisch eine Darlegungslast139. Insoweit hat sich das Postulat der Systemgerechtigkeit zu einem formellen Konsequenzgebot reduziert und wirkt als Begründungsgebot140. Es hat damit die Entwicklung ge-
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131 Vgl. aber Wernsmann, Die Einschränkungen des Werbungskosten- und Betriebsausgabenabzugs im Zusammenhang mit Pendlerpauschale, Arbeitszimmer, Alterseinkünften und Abgeltungssteuer, DStR 2008, Beihefter zu Heft 17, 37, 44, zur sog. Pendlerpauschale. 132 Ebenso unter dem Signum des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit unlängst Dietlein, ZfWG 2010, 159 (162). 133 Gegen jüngste Tendenzen einer Abschwächung verfassungsgerichtlicher Folgerichtigkeitskontrolle im Unternehmenssteuerrecht übereinstimmend Hey, DStR 2009, 2561 (2567) und Drüen, Anmerkung zum Gebot der steuerrechtlichen Folgerichtigkeit, JZ 2010, 91 (93 f.). 134 Vgl. Kischel, in Mellinghoff/Palm (Fn. 62), S. 175 (185). 135 So Di Fabio, JZ 2007, 749 (754). 136 Explizit Osterloh in Sachs (Fn. 51), Art. 3 GG Rz. 142. 137 Vgl. aber BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 (122 f.). 138 Dafür auch Osterloh in Sachs (Fn. 51), Art. 3 GG Rz. 99; Schwarz in FS Isensee (Fn. 63), S. 949 (957). 139 Weitergehend G. Kirchhof, DStR 2009, Beihefter zu Heft 49, 135 (140), der von einer Darlegungslast der konsistenten Belastungsentscheidung im Prozess als Teil des aus dem „qualifizierten Gesetzesvorbehalt“ im Steuerrecht resultierenden Auftrags an den Gesetzgeber ausgeht. 140 Vgl. Huster (Fn. 55), S. 389, der selbst ein „allgemeines, normativ nicht verankertes Konsequenzgebot“ ablehnt (ebenda, S. 394), weil er das Phänomen der Systemgerechtigkeit als Betonung der relativen Bindung des Gesetzgebers an das von ihm selbst gewählte System- oder Gerechtigkeitsprinzip begreift und so in seine Gleichheitsdogmatik integriert (ebenda, S. 392).
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nommen, die Ulrich Battis früh erwogen, aber letztlich als nicht gangbar angesehen hat141. Allerdings erschöpft sich das verfassungsgerichtliche Gebot der Folgerichtigkeit nicht darin. Das Folgerichtigkeitsgebot statuiert zwar selbst keine materiellen Vorgaben, weil Folgerichtigkeit allein ein sekundäres Gebot ist, das dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber keine absoluten Bindungen auferlegt. Vielmehr ist die im Wege der Folgerichtigkeit erzeugte Bindung des Gesetzgebers immer nur relativ zu seiner eigenen Grundentscheidung142. Der Gesetzgeber wird durch den Zwang zu folgerichtiger Gesetzgebung nicht apriorisch gebunden, sondern nur „zur Selbstdisziplin gezwungen“143. Das Folgerichtigkeitsgebot ist – je nach Sichtweise – gegenüber der Systemgerechtigkeit „von der Last des materialen Begriffsbestandteils „Gerechtigkeit“ befreit“ worden144 oder aber materiell verkümmert. Denn Folgerichtigkeit allein verbürgt weder Richtigkeit noch Gerechtigkeit145. Im Steuerrecht führt der verfassungsgerichtliche Folgerichtigkeitsansatz außerhalb der Einkommensteuer nur bedingt weiter146. Überdies ist der systemscheue Gesetzgeber mit der Forderung nach Folgerichtigkeit kaum noch zu kontrollieren147. Aus dieser Warte ist die jüngere Folgerichtigkeitsjudikatur keine „neue Hoffnung“148, aus anderer Sicht geht freilich selbst die abgeschwächte Bindung des Gesetzgebers durch bloße Folgerichtigkeit noch zu weit149. Die jahrzehntelange Diskussion belegt, dass ein abstrakter Streit über Bindung des Gesetzgebers an Systemgerechtigkeit oder Folgerichtigkeit nicht zu konsensfähigen Ergebnissen führt. Eine Lösung muss stattdessen bei der problemund bereichsspezifisch zu beantwortenden Frage ansetzen, welchen konkreten verfassungsrechtlichen Bindungen der Gesetzgeber bei der zweifelhaften Einzelregelung unterliegt. Grundbefund ist dabei die legislatorische Gestaltungsfreiheit. Das Prinzip des „Beim ersten sind sie frei, beim zweiten sind sie Knechte“150 wird freilich beschnitten durch das Verfassungsrecht, an erster Stelle durch die Grundrechte. Diese gelten unmittelbar (Art. 1 Abs. 3 GG) und bilden nicht „lediglich einen allgemeinen Rahmen für die weitgehende Ge-
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141 Battis in FS Ipsen (Fn. 6), S. 11 (28): „formales Postulat der juristischen Konsequenz und Systematik“. 142 Huster (Fn. 55), S. 391. 143 Schön, Steuerpolitik 2008 – Das Ende der Illusionen?, DStR 2008, Beihefter zu Heft 17, 10 (14); ähnlich zur Systemgerechtigkeit Kloepfer in FS Stober (Fn. 45), S. 703 (714) sowie jüngst zum Systemgedanken noch Starck in von Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 87), Art. 3 GG Abs. 1 Rz. 45. 144 So bereits Battis in FS Ipsen (Fn. 6), S. 11 (28). 145 Für eine materielle Aufladung des Folgerichtigkeitsgebots vgl. Tipke, StuW 2007, 201 (207 ff.) und dens., JZ 2009, 533 (534 ff.). 146 So Hey, Körperschaft- und Gewerbesteuer und objektives Nettoprinzip, DStR 2009, Beihefter zu Heft 34, 109 f. 147 Jüngst Eckhoff in FS Steiner (Fn. 3), S. 119 (122). 148 So aber Birk, DStR 2009, 877 (881). 149 Prononciert Lepsius, JZ 2009, 260; kritisch auch Ratschow in Blümich, EStG/KStG/ GewStG, § 2 EStG Rz. 15. 150 So schon Zeidler, Die Verwaltungsrechtsprechung in den Spannungsfeldern unserer Gesellschaft, DVBl. 1971, 565 (572).
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staltungsfreiheit des Gesetzgebers“151. Im Abgabenrecht sind namentlich die freiheitsrechtlichen Bindungen und überdies die finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben zu beachten. Bedeutet Folgerichtigkeit aber allein eine nachfolgende Bindung an die zuvor gewählte Grundentscheidung, so rückt deren Gewicht ins Zentrum152. Das Folgerichtigkeitsargument vermag umso mehr zu überzeugen, je zwingender oder verfassungsfester die gesetzgeberische Grundwertung ist, die keineswegs immer das Produkt freier gesetzgeberischer Willkür ist153. Von der verfassungsrechtlichen Vorzeichnung der gesetzgeberischen Ausgangsentscheidung hängt auch das an den Gegengrund anzulegende Maß ab: Die Durchbrechung muss bei geringem verfassungsrechtlichen Gewicht der Grundentscheidungen nur die verfassungsgerichtliche Willkürkontrolle passieren, bei höherer verfassungsrechtlicher Dignität dagegen dem Verhältnismäßigkeitsmaßstab standhalten. Darum vermittelt das Folgerichtigkeitsgebot, auch wenn es selbst substanzlos ist154, im Verbund mit der abgesicherten Grundwertung durchaus eine materielle Bindung. Es „verlängert“ insoweit den materiellen Gehalt der Grundwertung des Gesetzgebers, ohne aber eine umfassende Systembindung auszulösen. Darum ist das Folgerichtigkeitsgebot im Vergleich zur Systemgerechtigkeit materiell eine „wesentlich bescheidenere Forderung“155. Insgesamt ist die Folgerichtigkeitsjudikatur demnach nicht allein die Fortsetzung der alten Systemgerechtigkeitsdebatte unter einem neuen Etikett. Fordert das deutsche Verfassungsrecht vom Gesetzgeber nach alledem keine durchgängige Systembildung und -bindung, weil es Ausnahmen zulässt oder auch eine gänzliche Abkehr in Form eines Systemwechsels eröffnet, so ist im Folgenden nach europarechtlichen Impulsen für systemtreue Steuergesetze zu suchen.
IV. Nationale Systembildung und europäisches Unionsrecht Hat das Europarecht in seinem Einfluss auf das Steuerrecht im Laufe der letzten Jahre das Verfassungsrecht auf den zweiten Platz verwiesen156, so stellt
__________ 151 So aber die mehr als irritierende Formulierung von BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 (123) (Hervorhebung durch Verf.). 152 Hierzu und zum Folgenden Drüen, JZ 2010, 91 (94). 153 Das gilt vor allem für das umstrittene objektive Nettoprinzip (zur verfassungsrechtlichen Fundierung vgl. Drüen, Die Bruttobesteuerung von Einkommen als verfassungsrechtliches Vabanquespiel, StuW 2008, 3 [4 ff.]; Lehner, Die verfassungsrechtliche Verankerung des objektiven Nettoprinzips, DStR 2009, 185 [187 ff.]; sehr weitreichend Englisch, Verfassungsrechtliche Grundlagen und Grenzen des objektiven Nettoprinzips, DStR 2009, Beihefter zu Heft 34, 92 [93 ff.]; für eine Ableitung aus Art. 14 Abs. 1 GG zuletzt Frye, Die Eigentumsfreiheit des Grundgesetzes als Gebot des sog. objektiven Nettoprinzips, FR 2010, 603 [607]; offenlassend weiterhin BVerfG, Beschluss v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, DStR 2010, 1563 m. w. N.). 154 So Kischel, in Mellinghoff/Palm (Fn. 62), S. 175 (185). 155 Treffend Eckhoff in FS Steiner (Fn. 3), S. 119 (128). 156 So Birk, DStR 2009, 877.
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sich die Frage, ob vom europäischen Unionsrecht eine systematische Orientierung im Steuerrecht zu erwarten ist. 1. Kohärenz als Systemkonsequenz Von der Grundfreiheits-Judikatur des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) geht in seiner primär destruktiven Wirkung keine positive systembildende Kraft aus157, vielmehr scheiterten in der Vergangenheit überkommene Strukturen des Steuerrechts der Mitgliedstaaten zuhauf an ihrer die Grundfreiheiten behindernden oder diskriminierenden Wirkung158. Allerdings zeigt die jüngere Rechtsprechung des EuGH deutlich mehr Rücksichtnahme für die Mitgliedstaaten159, was auch die jüngste Anwendung des Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz belegt. Früh in der Entscheidung zur Rechtssache Bachmann anerkannt160, rettete das Ziel einer Kohärenz des nationalen Steuersystems in praxi lange Zeit keine Steuernorm mehr. Darin lag indes keine Aufgabe des Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz161. Vielmehr verfing die vielfach phrasenhafte Berufung auf die Kohärenz nicht162. Stehen für Kohärenz allgemein die Umschreibungen der Abstimmung und der Widerspruchsfreiheit163, so dient der vom EuGH entwickelte Rechtfertigungsgrund der Kohärenz vor allem der Erhaltung der Systemgerechtigkeit und der „systemgebundenen“ materiellen Geschlossenheit nationaler Regelungen164. Diese lohnt sich aus Sicht des betroffenen Mitgliedstaates. Nach der jüngeren Entscheidung zur deutschen Rechtssache Krankenheim Ruhesitz am Wannsee wird eine beschränkende nationale Vorschrift zur Verlustkompensation durch das Erfordernis gerechtfertigt, die Kohärenz des deutschen Steuersystems zu gewährleisten165. Denn der EuGH sah in der Hinzurechnung das (spiegelbildliche) logische Pendant zum vorher gewährten Abzug, so dass ein direkter, persönlicher und sachlicher Zusammenhang „zwischen den beiden Komponenten“ der deutschen Steuerregelung bestand. Der europarechtliche Rechtferti-
__________ 157 Vgl. Drüen/Kahler, Die nationale Steuerhoheit im Prozess der Europäisierung, StuW 2005, 171 (183 f.). 158 Zuletzt Birk, DStR 2009, 877; zuvor zur Deformation des nationalen Steuerrechts näher ders., Das sog. „Europäische“ Steuerrecht, FR 2005, 121. 159 Dazu pars pro toto Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, DStR 2009, 1229; Musil/Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, 1501. 160 EuGH, Urteil v. 28.1.1992 – Rs. C-204/90, Bachmann, EuGHE 1992, I-249, Rz. 21 ff. 161 Vielmehr indizierten mehrere Folgejudikate „die Bereitschaft des Gerichtshofs, bei passender Gelegenheit auf diese Rechtsprechung zu rekurrieren“ (so klarsichtig Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 973). 162 Dautzenberg, Gedanken zur Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern im Jahre 2004, BB-Special 6/2004, 8 (11 f.). 163 Vgl. nur Calliess in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 1 EUV Rz. 54. 164 Überzeugend Cordewener (Fn. 161), 2002, S. 451, 459. 165 EuGH, Urteil v. 23.10.2008 – Rs. C-157/07, Krankenheim Ruhesitz am Wannsee, EuGHE 2008, I-8061, Rz. 42 f.
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gungsgrund der Kohärenz fordert und achtet demnach nationale „Systemkonsequenz“166. 2. Steuersystematik als Maßstab europäischer Beihilfekontrolle Neben der Anerkennung systemgerechter Nachteile durch den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz tritt die „Bestrafung“ systemwidriger Steuervorteile durch das europäische Beihilferegime. Unter das Beihilfeverbot (Art. 107 AEUV) zur Sicherung des Binnenmarktes fallen nicht nur direkte Subventionen, sondern auch steuerliche Bevorzugungen167 als sog. Verschonungssubvention168. Für den europäischen Beihilfebegriff kommt es allein auf die objektive Wirkung als Beihilfe, nicht dagegen auf die Rechtsnatur der Maßnahme oder den von ihr verfolgten Zweck an169. Zur Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf Maßnahmen im Bereich der direkten Unternehmensbesteuerung hat die Europäische Kommission Leitlinien erlassen170. Diese Leitlinien wirken als Quasi-Gesetzgebung, stehen aber wegen beträchtlicher Wertungsspielräume einem beihilfepolitischen Zugriff der Kommission offen171. Die Kommission prüft danach in drei Stufen, ob eine steuerliche Maßnahme in materieller Hinsicht selektiv ist. In einem ersten, aber weichenstellenden172 Schritt ist zu bestimmen, wie das geltende Steuersystem den betreffenden steuerlichen Bereich im Allgemeinen bzw. im „Normalfall“ regelt („Referenzsystem“). In einem zweiten Schritt ist zu prüfen und festzustellen, ob ein etwaiger Vorteil, der durch die in Rede stehende Maßnahme gewährt wird, selektiven Charakter hat, wobei gegebenenfalls nachzuweisen ist, dass die Maßnahme insofern eine Ausnahme vom Referenzsystem darstellt, als sie zwischen Wirtschaftsteilnehmern differenziert, die sich im Hinblick auf das mit der Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden. Hat danach eine Maßnahme prima facie selektiven Charakter, so ist in einem dritten Schritt zu prüfen, ob die Differenzierung durch die Natur oder den inneren Aufbau des Systems173, in dessen Rahmen sie erfolgt, bedingt ist und daher gerechtfertigt sein könnte. Dabei muss der Mitgliedstaat nachweisen, dass sich die Differenzierungen aus den Grund-
__________ 166 Explizit Cordewener (Fn. 161), S. 973. 167 Vgl. nur Cremer in Calliess/Ruffert, EUV/EGV (Fn. 163), Art. 87 EGV Rz. 28. 168 Grube, Der Einfluss des EU-Beihilfenrechts auf das deutsche Steuerrecht, DStZ 2007, 371 (375) mit Beispielen. 169 Bär-Bouyssière in Schwarze, 2. Aufl. 2009, Art. 87 EGV Rz. 22 mit zahlreichen Beispielen in Rz. 23. 170 Europäische Kommission, Mitteilung v. 11.11.1998 – 98/C 384/03, ABl. EG 1998, C 384/3. 171 Ähnlich auch Kellersmann/Treisch, Europäische Unternehmensbesteuerung, 2002, S. 298, 300. 172 Vgl. Bär-Bouyssière in Schwarze (Fn. 169), Art. 87 EGV Rz. 46; Breuninger/Ernst, Der Beitritt eines rettenden Investors als (stiller) Gesellschafter und der „neue“ § 8c KStG, GmbHR 2010, 561 (564). 173 Oder der „inneren Logik des allgemeinen Steuersystems“ (vgl. Bär-Bouyssière in Schwarze [Fn. 169], Art. 87 EGV Rz. 46 m. w. N.).
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oder Leitprinzipien dieses Systems ergeben174. Letzteres setzt aber zuverlässige Aussagen über das innere System des Steuergesetzes voraus und ist mitunter schwierig zu beurteilen175. Dass sich systematische Intransparenz für den nationalen Steuergesetzgeber rächen kann, zeigt die zur Überwindung der Wirtschaftskrise eingeführte Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG176. Angesichts der rigiden und mehr als verfassungskritischen Verlusteliminierung bei Körperschaften durch § 8c Abs. 1 Sätze 1 bis 3 KStG177 wurde eine Ausnahme für Sanierungsfälle gerade wegen der Mindestbesteuerung vielfach gefordert178. Unter dem Eindruck der Krise wollte der Gesetzgeber die Sanierungsbremse des Wegfalls der Verlustvorträge einer sanierungsbedürftigen Körperschaft zunächst befristet, sodann zeitlich unbegrenzt ausräumen179. Allerdings musste schon bald die Anwendung der Sanierungsklausel bis zum Ausgang des Beihilfekontrollverfahrens suspendiert werden180. Die Europäische Kommission prüft, ob § 8c Abs. 1a KStG eine staatliche Beihilfe darstellt, die mit dem gemeinsamen Markt vereinbar ist. Sie beanstandet, dass im Falle eines Beteiligungserwerbs an einer überschuldeten oder zahlungsunfähigen Körperschaft dieser aus der Sanierungsklausel ein Vorteil erwächst, weil sie Verluste verrechnen kann und somit weniger Steuern zahlt als andere Körperschaften, bei denen es zu einem Beteiligungserwerb kommt181. Diese Auffassung der Kommission ist aus systematischer Sicht mehr als fragwürdig182. Denn das Referenzsystem ist nicht der durch § 8c Abs. 1 Sätze 1 bis 3 KStG limitierte und konditionierte Verlustabzug bei Körperschaften183, sondern die allgemeine, aus systemtragenden Prin-
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174 Zusammenfassend Europäische Kommission, Schreiben v. 24.2.2010 – 2010/C 90/08, ABl. EU 2010, C 90/11 unter 3.1.3. 175 Kellersmann/Treisch (Fn. 171), S. 300. 176 Eingeführt durch das Gesetz zur verbesserten steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen (Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung) v. 16.7.2009, BGBl. I 2009, 1959. 177 Zur Verfassungswidrigkeit vgl. nur Schulze-Osterloh in FS Gauweiler (Fn. 9), S. 275 (278 ff.) sowie zuletzt Lenz, Alternativen zu § 8c KStG – Internationaler Vergleich in FS Herzig, 2010, S. 131 (135 ff.), jeweils m. w. N. 178 Stellvertretend Eickhorst, Auswirkungen der Unternehmenssteuerreform 2008 auf Krisenunternehmen und ihre Sanierung, BB 2007, 1707 (1709); Wiese, Der Untergang des Verlust- und Zinsvortrages bei Körperschaften, DStR 2007, 741 (745). 179 Vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums, BT-Drucks. 17/15, S. 19. 180 BMF-Schreiben v. 30.4.2010, BStBl. I 2010, 488. 181 Europäische Kommission, Schreiben v. 24.2.2010 – 2010/C 90/08, ABl. EU 2010, C 90/10 unter Rz. 16. 182 Breuninger/Ernst, GmbHR 2010, 561 (564 f.); Drüen, Systemfortschritte im Unternehmenssteuerrecht durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz?, Ubg 2010, 543 (547 f.); a. A. de Weerth, Die Sanierungsklausel des § 8c KStG und europäisches Beihilferecht, DB 2010, 1205 (1206 f.). 183 So aber Europäische Kommission, Schreiben v. 24.2.2010 – 2010/C 90/08, ABl. EU 2010, C 90/11 unter Rz. 21 und 24 im Widerspruch zu Rz. 3, wo es zutreffend heißt: „Das deutsche Körperschaftsteuergesetz sieht grundsätzlich die Möglichkeit vor, in einem Steuerjahr verzeichnete Verluste auf Ebene einer Körperschaft vorzutragen, d. h. nach dem steuerlichen Leistungsfähigkeitsprinzip das steuerpflichtige Einkommen in künftigen Steuerjahren durch die Verrechnung der Verluste zu senken“.
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zipien resultierende interperiodische Verlustberücksichtigung, die über § 8 Abs. 1 KStG auch im Körperschaftsteuerrecht gilt184. Allerdings zeigt die Argumentation, dass die jüngsten Änderungen im deutschen Körperschaftsteuerrecht diesen systematischen Grundbefund verschüttet haben. Der „systematische Scherbenhaufen“ verleitet zu Fehlschlüssen. Selbst wenn es der Bundesregierung gelingt, der Europäischen Kommission das verdeckte Systemgefüge von Grundsatz, Ausnahme und Rückausnahme zu erklären, wofür auch die späteren Änderungen durch das Gesetz zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums185 sprechen186, so mahnt allein das Beihilfeverfahren zur Systemklarheit. Der Umstand, dass gerade in Krisenzeiten eine wichtige Entlastungsmaßnahme wegen des Kontrollverfahrens nicht angewendet werden darf, könnte zur systematischen Disziplinierung des Steuergesetzgebers beitragen. Die systematische Ordnung des nationalen Rechts ist nicht nur eine akademische Forderung, sondern – wie das Beispiel lehrt – zugleich Maßstab für die europäische Beihilfekontrolle187. Das europäische Beihilfenrecht akzeptiert die nationalen Steuersysteme, soll aber ein „systemwidriges Ausbrechen“188 zu Gunsten spezieller Wirtschaftsteilnehmer verhindern189. Systemtreue und -transparenz kommt darum nicht allein ein appellativer Charakter zu, sondern ihre Missachtung kann im Beihilferecht handfeste praktische Folgen haben. Damit setzt das europäische Unionsrecht auch durch die Beihilfekontrolle einen Anreiz zur Systemsensibilität des Steuergesetzgebers.
V. Schluss: Praktische Folgen systemfremder Steuergesetzgebung Nach alledem begründet höherrangiges Recht nur partiell einen Systemzwang für den Gesetzgeber, wobei das Europarecht wohl faktisch einen höheren Systemdruck aufbaut als das deutsche Verfassungsrecht. Dieser Befund sollte den Gesetzgeber aber nicht zur Systemnegation verleiten, wie der abschließende Blick auf die Folgen von Systembrüchen belegt. Denn ein Gesetzgeber, der versucht die systematische Selbstbindung abzustreifen, stellt den Rechtsanwender, aber letztlich auch sich selbst vor Herausforderungen. Systemignoranz oder gar -flucht löst greifbare Folgeprobleme für die Rechtsanwendung im Steuerrecht aus. Die Umsetzung des Willens des Gesetzgebers stößt bei systembeliebigen Gesetzen auf erhebliche Schwierigkeiten. Der
__________ 184 Vgl. nur Lang in Tipke/Lang (Fn. 37), § 9 Rz. 61 f. m. w. N. und Hey, ebenda, § 11 Rz. 57. 185 Wachstumsbeschleunigungsgesetz v. 22.12.2009, BGBl. I 2009, 3950. 186 Ebenso Breuninger/Ernst, GmbHR 2010, 561 (565). 187 Drüen, Ubg 2010, 543 (548). 188 Treffend Grube, DStZ 2007, 371 (376). 189 Näher zum konkretisierungsbedürftigen Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der mitgliedstaatlichen Normalbelastung und zur Kontrolle der Abweichung durch die Kommission anhand des Kriteriums der Folgerichtigkeit Birkenmaier, Die Vorgaben der Beihilfevorschriften des EG-Vertrages für die direkte Unternehmensbesteuerung, 2007, S. 112 ff., 118 ff.
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Systembildung und Systembindung im Steuerrecht
Rechtsanwender steht im Fall systemfremder Steuergesetzgebung vor erheblichen Auslegungsproblemen190. Dabei können systematisch-teleologische Unsicherheiten nicht durch Teilkorrekturen des Gesetzgebers und Versuche nachträglicher Systemfindung durch gutwillige Rechtsanwender191 ausgeräumt werden192. Der systemwidrige oder -vergessene Steuergesetzgeber liefert überdies Anreize für steuerorientierte Gestaltungen. Die Ausdifferenzierung von Steuertatbeständen und Steuerfolgen ruft unwillkürlich Ausweich- und Optimierungsgestaltungen hervor, wie zuletzt die 40 Praxisbeispiele, die Thomas Rödder auf der Nürnberger Tagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft aufgelistet hat193, vortrefflich illustrieren. Auch die schedulenhafte Abgeltungsteuer bietet dafür vielfältige Anschauungsbeispiele. Fehlende Systemorientierung kann sich durchaus gegen den Gesetzgeber kehren, wenn Möglichkeiten gesucht und gefunden werden, systemwidrige Normen rein wortlautgetreu für eigentlich unerwünschte Gestaltungen zu nutzen. „Die Steuerumgehungskunde“ blüht nicht nur „im Normendunkel“194, sondern gerade im Systemdunkel195. Dem Gesetzgeber ist ins Stammbuch zu schreiben: „Wer Systembrüche säht, wird Gestaltungen ernten“. Zugleich schwächt systemfremde Gesetzgebung die Finanzverwaltung und die Finanzgerichte beim Kampf gegen missbräuchliche Gestaltungen. Gestaltet der Gesetzgeber das Steuerrecht nicht systematisch-folgerichtig, so entzieht er dem Rechtsanwender nämlich die Grundlage, anhand objektiver Kriterien den Verdacht eines Missbrauchs zu untermauern196. Systembrüche und Abstimmungsmängel hindern die Beurteilung des „gesetzlich vorgesehenen Steuervorteils“ im Sinne von § 42 AO und erschweren darum den Vorwurf einer missbräuchlichen Gestaltung197. Fehlt das System, lässt sich nicht mehr beurteilen, ob ein vom Steuerpflichtigen beabsichtigter günstiger steuerlicher Effekt im System des jeweiligen Steuergesetzes angelegt ist oder nicht198. Durch unsystematische Steuergesetzgebung wachsen die Möglichkeiten der
__________ 190 Deutlich Thiel, Die Verlustabzugsbeschränkung für Körperschaften (§ 8c KStG) – ein krasser Wertungswiderspruch im Körperschaftsteuerrecht, in FS Schaumburg (Fn. 13), S. 515 (523 f.). 191 Exemplarisch Eisgruber/Schaden, Vom Sinn und Zweck des § 8c KStG – Ein Beitrag zur Auslegung der Norm, Ubg 2010, 73, sowie ihnen folgend Dorenkamp, Systemgerechte Neuordnung der Verlustverrechnung, Institut Finanzen und Steuern, Schrift Nr. 461, 2010, S. 26, 76 f. 192 Näher Drüen, Ubg 2010, 543 (548 f.). 193 Rödder, Steuergestaltung aus der Sicht der Beratungspraxis, in DStJG 33 (2010), S. 93 (97 ff.). 194 So Isensee, Vom Beruf unserer Zeit für Steuervereinfachung, StuW 1994, 3 (8). 195 Treffend bereits Tipke (Fn. 29), Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 306 f.: Erst durch die konsequente Beachtung von Prinzipien durch den Gesetzgeber werden „Schlupflochsuchern und Steuerspar-Modellierern ihre Hauptbetätigungsfelder entzogen“. 196 Vgl. Drüen in Tipke/Kruse, Vor § 42 AO Rz. 23. 197 Zutreffend Wendt, § 42 AO vor dem Hintergrund der Rechtsprechung, in DStJG 33 (2010), S. 117 (130 f.). 198 Vgl. bereits Schön, DStR 2008, Beihefter zu Heft 17, 10 (18).
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Gestaltungspraxis und die (gerichtliche) Kontrollintensität nimmt ab199. Gerade wenn Steuerpolitik nicht auf staatliche Missbrauchsabwehr reduziert werden darf200, sollten der Steuergesetzgeber und seine Vordenker in der Finanzverwaltung diese Reflexwirkung der Systemignoranz bedenken. Denn prinzipienbasierte und systemgerechte Steuergesetzgebung ist die Grundlage eines wirksamen Umgehungsschutzes201.
__________ 199 Dieses Phänomen lässt sich an der Rechtsprechung zu verfassungskritischen Steuernormen belegen (vgl. Drüen in DStJG 33 [2010], S. 112 [Diskussionsbeitrag]). 200 Insoweit durchaus zutreffend Nawrath, DStR 2009, 2 f. 201 Näher bereits Drüen, Unternehmerfreiheit und Steuerumgehung, StuW 2008, 154 (159 f., 166).
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Die Quadratur des Gordischen Knotens im Steuerrecht Inhaltsübersicht I. Idealbild – Realbild II. Istzustand – Ursachen – Deutungen III. Reformbemühungen IV. Zielvorgaben 1. Das einfache Steuerrecht als Wunschbild
2. Steinige Wege zum Ziel 3. „Steuerpolitik ist an Gerechtigkeit gebundene Politik“ V. Perspektiven
I. Idealbild – Realbild „Einfachheit und Übersicht machen die Güte eines Steuersystems aus“ – so ist in einem vor rund 200 Jahren veröffentlichten Traktat zum Thema „Vereinfachung der Steuersysteme“1 zu lesen. Diesem Idealzustand kam das EStG 1925 schon recht nahe. Es galt international als eines der besten Einkommensteuergesetze2. Aber damit war es spätestens schon seit den Anfangsjahren der Bonner Republik vorbei, wie die nachstehende Äußerung des Abgeordneten Dr. Schneider (FDP) in der 52. Sitzung des 1. Deutschen Bundestages am 27.3.19503 zeigt: „Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen da nichts Neues. Lesen Sie doch nur mal Finanzgesetze wie das Einkommensteuergesetz oder wie sie sonst heißen mögen, lesen Sie mal die Durchführungsverordnungen dazu oder sehen Sie sich mal die sogenannten technischen Gesetze an, die wir neulich dazu erlassen haben. Es gehört beinahe schon eine Geheimwissenschaft dazu, ein derartiges Gesetz überhaupt zu lesen. Für einen normalen Menschen ist das gar nicht mehr möglich und selbst ein Spezialjurist ist dazu kaum in der Lage.“
Zum Besseren hat sich seitdem nichts geändert, im Gegenteil. Davon geht auch der Jubilar, der Präsident des Bundesfinanzhofs in München, Dr. Wolfgang Spindler, aus. Er weist stetig auf das Erfordernis einer an verfassungsrechtlichen Vorgaben ausgerichteten Steuervereinfachung hin4.
__________ 1 Eschenmayer, Vorschlag zu einem einfachen Steuer-Systeme, Heidelberg, 1808, S. IV f. 2 Siehe Spitaler, Reform der deutschen Einkommensteuer, DB 1949, 354. 3 Siehe Niederschrift über die 52. Sitzung des Deutschen Bundestages am 27.3.1950, S. 1873, 1922. 4 Siehe beispielsweise Spindler, Der Bundesfinanzhof und das Bundesverfassungsgericht im Zusammenwirken für ein verfassungskonformes Steuerrecht, in Steuerzentrierte Rechtsberatung, FS Schaumburg, 2009, S. 169.
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II. Istzustand – Ursachen – Deutungen „ “ – alles ist im Fluss, nichts bleibt, so wie es ist. Dieser Spruch, der bekanntermaßen auf den versokratischen Philosophen Heraklit von Ephesos zurückgeht, trifft im besonderen Maß auf das Steuerrecht zu. Allerdings ist hier leider kein stetiges, gleichmäßiges Fließen zu vermelden, sondern – um im Bild zu bleiben – eine Strömung mit unzähligen Stromschnellen und Untiefen. Es fehlen die so notwendigen, schützenden Dämme. Kein Wunder also, dass sich das Steuerrecht, insbesondere das Einkommensteuerrecht, das Gegenstand dieser Abhandlung ist, im Laufe der letzten Jahrzehnte gleichsam zu einer Art Mündungsdelta mit einer Unmenge von nicht mehr überschaubaren Verästelungen, – anders ausgedrückt – zu einem nahezu undurchdringlichen Steuerdschungel, entwickelt hat. Ebenso könnte man das deutsche Einkommensteuerrecht – in Anlehnung an die verknoteten Seile des Königs Gordios von Phrygien – als einen praktisch unentwirrbaren „Gordischen Knoten“ bezeichnen. Beidem ist gemeinsam, dass es Ideenreichtums und Schlagkraft bedarf, um das damit verbundene Problem lösen zu können. In erster Linie ist dieser Steuerwirrwarr oder – wie er auch bezeichnet wird – dieses Steuerchaos5 geprägt durch die Aktivitäten des Gesetzgebers, der das materielle Steuerrecht zunehmend aufgebläht hat. Es besteht ein Übermaß an Detailregelungen. Sie dienen vornehmlich dazu, das steuerbare Terrain möglichst umfassend und lückenlos abzugrenzen. Allein in den letzten 25 Jahren wurden etwa 150 Gesetze mit einer Vielzahl von Änderungen erlassen, die allein das Einkommensteuerrecht betrafen. Vielfach wurden auf bestehende Regelungen andere regelrecht „aufgepfropft“. Unzählige, teilweise unsystematische Sonderregelungen und Ausnahmetatbestände erschweren den ohnehin kaum noch bestehenden Durchblick6. Dabei wurden in erheblichem Umfang einzelne Vorschriften mit dem Ziel „verfeinert“, allen denkbaren Steuerschlupflöchern vorzubeugen. Das Ergebnis ist eine Vielzahl von gesetzlichen Regelungen, bei denen selbst Fachleute Schwierigkeiten haben, sie zutreffend auszulegen und anzuwenden. Dies alles hier im Einzelnen aufzuführen, würde den Rahmen der Abhandlung deutlich sprengen. Wir beschränken uns deshalb auf den Hinweis, dass in kaum einem anderen Rechtsbereich über Überregulierung und Unübersichtlichkeit so geklagt wird wie im Steuerrecht und dies zu Recht. Der Steuergesetzgeber selbst wird dagegen einwenden, für diese Entwicklung gebe es hinreichend rechtfertigende Gründe. So würden z. B. die zunehmende Komplexität und hektische Entwicklung unserer gesamten Lebensumstände sowie veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu verstärkter umfassender Regulierung zwingen. Dies trifft zwar im Grundsatz zu. Bezeichnend ist allerdings, dass gerade Regelungen, mit denen der Gesetzgeber besondere steuer-
__________ 5 Flume sprach bereits 1948 von einem „Steuerchaos“; siehe Flume, Der Weg aus dem Steuerchaos der Gegenwart, DB 1948, 502. 6 Allerdings gibt es auch Vorschriften, die kaum geändert wurden. Siehe dazu auch Heuermann, Steuern durch kompliziertes Recht, Beck-Infoline – Ausgabe 2.2010.
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politische Ziele verfolgt, regelmäßig so kompliziert ausgestaltet sind, dass die Grenze zur Bestimmtheit häufig zumindest tangiert wird7. In der richterlichen Praxis ist zudem festzustellen, dass die Steuergesetze handwerklich zunehmend weniger anspruchsvoll vorbereitet sind. Dies kann nicht verwundern, entstehen die Gesetzesänderungen doch häufig unter erheblichem Zeitdruck. So kommt es schon einmal vor, dass zum Jahresende innerhalb weniger Tage mehrere neue Gesetze geschaffen und ggf. durch den Vermittlungsausschuss gejagt werden (müssen). Dass hierbei nicht mehr sehr sorgfältig gearbeitet werden kann, liegt auf der Hand: Der Gordische Knoten wird damit zwangsläufig zunehmend dicker und gleichzeitig in sich verworrener. Ein weiteres mögliches Argument des Gesetzgebers für die „Vielfalt“ der steuerrechtlichen Regelungen ist die Einbindung Deutschlands in das Recht der Europäischen Gemeinschaften. Der im Rahmen der Gemeinschaft entstandene und sich stetig verschärfende Steuerwettbewerb erfordere auch steuerrechtliche Anpassungen. Hinzu komme, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg eine Fülle von Rechtsänderungen bedinge. Dies trifft zwar grundsätzlich zu. Hier stellt sich allerdings die Frage, wie ernsthaft die Steuerharmonisierung von deutscher Seite bisher tatsächlich vorangetrieben wurde. Im Übrigen zeigt das Beispiel des Außensteuergesetzes, dass der Gesetzgeber im Rahmen des internationalen Steuerrechts hin und wieder auch zur Überregulierung neigt. Bisweilen wird die bestehende Rechtsunsicherheit noch durch Verwaltungsanweisungen deutlich verstärkt8. Von Seiten des Gesetzgebers und der Finanzverwaltung wird zur Begründung für die Notwendigkeit eingehender Regulierungen u. a. auch geltend gemacht, die deutsche Finanzgerichtsbarkeit, einschließlich des Bundesfinanzhofs, sei – zurückhaltend ausgedrückt – nicht unbedingt ein eiserner Verfechter eines einfachen Steuerrechts. Sie würde zu häufig ihre Rechtsansicht ändern und gebe nicht selten berechtigten Anlass zum Erlass von sog. „Nichtanwendungsgesetzen“, mit denen aus der Sicht von Steuergesetzgeber und Finanzverwaltung abzulehnende Entscheidungen notwendigerweise zu neutralisieren seien9. Die Rechtsprechung sei vor allem bemüht, ein hohes Maß an Einzelgerechtigkeit zu schaffen, was notwendiger Weise zu einer weiteren Komplizierung führe. Darüber hinaus zwinge der Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht sich in den letzten Jahren zunehmend – kritisch – mit der Steuergesetzgebung
__________
7 Ein prägnantes Beispiel hierfür bildete § 2 Abs. 3 EStG i. d. F. des StEntlG 1999, 2000, 2002 v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402, der den Verlustausgleich ab dem Veranlagungszeitraum 1999 einschränkend geregelt hatte. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die kaum lösbaren Schwierigkeiten bei der Berechnung der sog. „Thesaurierungsrücklage“ des § 34a EStG; siehe dazu Wacker in Schmidt, 29. Aufl. 2010, Rz. 3 ff. zu § 34a. 8 Siehe dazu BMF-Schreiben v. 19.4.2010 – IV B 2 S 1300/09/10003, BStBl. I 2010, 354, betreffend Anwendung der Doppelbesteuerungsabkommen auf Personengesellschaften. Siehe dazu Mössner, Es war einmal …, Gastkommentar, DB Nr. 21 v. 28.5.2010, M 1. 9 Zur Problematik der sog. „Nichtanwendungserlasse“ und der sog. „Nichtanwendungsgesetze“ siehe z. B. Spindler, Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht, DStR 2007, 1061, und BFH (Hrsg.), 60 Jahre Bundesfinanzhof – Eine Chronik, 2010.
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auseinandersetzt, zu teilweise umfassenden Gesetzesänderungen10. Die Ursachen hierfür hat aber der Gesetzgeber zuvor selbst durch verfassungswidrige Regelungen geschaffen. Nach unserer Ansicht übt der Gesetzgeber ohnehin in zu starkem Umfang verfassungsrechtliches Grenzverhalten. Die zahlreichen Vorlagen der Finanzgerichte und des Bundesfinanzhofs gemäß Art. 100 Abs. 1 GG (sog. konkrete Normenkontrolle) sprechen insoweit eine deutliche Sprache11. Ein weiterer Beleg ist die den Einkommensteuerbescheiden regelmäßig beigefügte, umfangreiche Auflistung der wegen geltend gemachter Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einzelner Regelungen gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und 4 AO für vorläufig erklärten Steuerfestsetzungen. Der Vorläufigkeitsvermerk enthält zwar den Zusatz, die Vorläufigkeit werde lediglich „aus verfahrenstechnischen Gründen“ vorgenommen; dennoch wird der Steuerbürger durch diese – aus verwaltungstechnischen Gründen durchaus verständlichen – Zusätze weiter verunsichert. Aus seiner Sicht spricht allein die Tatsache, dass es so vieler Vorläufigkeitsvermerke überhaupt bedarf, nicht für ein besonders stark ausgeprägtes Feeling für Verfassungsprobleme. Ein wesentliches Argument für seine Aktivitäten sieht der Gesetzgeber auch in seiner primären Aufgabe, eine verlässliche Finanz- und Haushaltsplanung zu gewährleisten12. Dies erfordere es, durch entsprechende gesetzliche Regelungen das Vorhandensein ausreichender und stetiger Haushaltsmittel sicher zu stellen. Dazu gehöre es u. a., verstärkt dafür zu sorgen, dass Steuerschlupflöcher beseitigt würden. All diese entsprechenden, teilweise sehr komplizierten Regelungen haben es aber nicht vermocht, eine Vielzahl von Steuerpflichtigen davon abzuhalten, im Inland steuerbare und steuerpflichtige Einkünfte der inländischen Besteuerung zu entziehen. Zugegeben, bei diesen Vorgängen ist allerdings häufig kriminelles Verhalten im Spiel. Diese gesamten, nicht zu leugnenden Schwierigkeiten entbinden den Gesetzgeber jedoch nicht von seiner Verpflichtung, ein für den Steuerbürger grundsätzlich durchschaubares, verfassungsgemäßes Steuerrecht zu schaffen. Um dies zu erreichen ist gesetzgeberische Schlagkraft, verbunden mit der Bereitschaft, (politische) Widrigkeiten auf sich zu nehmen, gefordert. Nur so besteht zumindest die Chance, eine Reform des Steuerrechts zu erreichen, die diese Bezeichnung auch tatsächlich verdient. Das stetige Wiederholen von Schlagworten genügt keineswegs, mögen diese noch so eingängig sein13.
__________ 10 Siehe dazu z. B. Köppe, Bundesverfassungsgericht und Steuergesetzgebung – Politik mit Mitteln der Verfassungsrechtsprechung?, in van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2006, S. 435 ff. 11 Eine Übersicht über die steuerrechtlichen Normenkontrollverfahren enthält die als Beilage zum BStBl. II vom BMF herausgegebene Liste der beim BFH, BVerfG und EuGH anhängigen Verfahren in Steuersachen. Hinzu kommt noch eine Vielzahl von Verfassungsbeschwerden. 12 Siehe dazu auch Nawrath, Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers und gleichheitsgerechte Sicherung des Steueraufkommens, DStR 2009, 2. 13 Neuerdings wird sogar verkündet, man wolle das Steuerrecht vereinfachen, weil keine Haushaltsmittel für eine Steuerentlastung vorhanden seien.
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Um solche Schlagworde handelte es sich, als vor der letzten Bundestagswahl im Herbst 2009 für demnächst ein „einfacheres, gerechteres und niedrigeres“ Steuerrecht in Aussicht gestellt wurde.14 Bei all diesen Ankündigungen ist die Frage erlaubt, ob man vielleicht endlich nach Jahrzehnten der Reformankündigungen doch noch das Schwert zum Durchschlagen des Gordischen (Steuer-) Knotens und den (Steuer-)Alexander gefunden hat, der bereit und in der Lage ist, den Knoten zu durchschlagen mit all den sich daraus ergebenden Folgen, auch den negativen. Oder ist man neuerdings in der Lage, zumindest sog. „Näherungskonstruktionen“ für die steuerrechtliche Kreisquadratur zu schaffen? Derzeit spricht jedoch leider alles dafür, dass man es nur mit den üblichen Wahlversprechen zu tun hat, deren Ernsthaftigkeit man keiner allzu strengen Prüfung unterziehen darf. Es fehlt nach wie vor die politische Kraft zu einer durchgreifenden Reform.15 Vielmehr ist kurzfristiger Aktionismus und Klientelpolitik angesagt. Zugegeben, es ist nicht nur nicht einfach, sondern sogar fast unmöglich, ein solches grundlegendes Werk in einem überschaubaren Zeitraum zu vollenden. Es sind derzeit jedoch nicht einmal annäherungsweise Anzeichen dafür vorhanden, dass ernsthaft eine durchgreifende, strukturelle Reform des Einkommensteuerrechts in Angriff genommen wird. Alibibegründungen für dieses Zuwarten gibt es allerdings genügend. Anstelle der Strukturreform werden beispielsweise einerseits ad hoc allgemeine (tarifliche) Steuerentlastungen als steuerrechtliches Opium versprochen, andererseits aber gleichzeitig betont, wegen der dringend erforderlichen Haushaltskonsolidierung stünden derzeit keine ausreichenden Mittel für allgemeine Steuersenkungen zur Verfügung.16 Es zeigt sich auch hier wieder, dass von der Erkenntnis des Handlungsbedarfs zur Umsetzung ein sehr weiter Weg ist. So wird der Begriff „Steuerreform“ zunehmend zu einem blutleeren Schlagwort, das im politischen Raum mehr oder minder gedankenlos benutzt wird.
__________ 14 Das Plakative kommt dabei besonders in dem Hinweis auf ein „niedrigeres“ Steuerrecht zur Geltung. Man geht wohl davon aus, dass der mündige Bürger versteht, was mit dieser „griffigen“ Bezeichnung vermutlich damit gemeint ist, nämlich eine niedrigere Steuerbelastung. 15 Dies dürfte im Übrigen auch für die Umsatzsteuer gelten. Es ist zwar allgemein anerkannt ist, dass eine Reihe von ermäßigten Steuersätzen gemäß § 12 Abs. 2 UStG nicht (mehr) sachgerecht und steuersystematisch nicht korrekt sind. Dennoch sieht man von den als notwendig erkannten Korrekturen ab, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 6.10.2010 (S. 1, 2) berichtet. „Änderungen …. vorzunehmen“, so zitiert die FAZ, „sei zu kompliziert und mit Nebenwirkungen verbunden, die dem Ansehen der Koalition nicht zuträglich seien“. Sollte diese Aussage zutreffen, wäre sie ein weiterer Beleg dafür, dass es den politisch Verantwortlichen – trotz stetiger gegenteiliger Versprechungen – am erforderlichen Reformwillen fehlt. 16 Eine weitere Bremse für eine durchgreifende Strukturreform wird vorsorglich schon bereitgestellt: Nach Politikeraussage darf diese nicht zum „Ausbluten“ der Kommunen führen. Indem man auf diese Weise versucht, jeglichen Interessen Rechnung zu tragen, hofft man, sich Schritt für Schritt der Quadratur des Kreises nähern zu können.
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III. Reformbemühungen Im Laufe des vergangenen halben Jahrhunderts hat es bereits eine Fülle von Vorschlägen zur Reform des Einkommensteuerrechts gegeben, von denen jedoch keiner in wesentlichen Teilen tatsächlich realisiert wurde. So war in der Zeit nach der Großen Steuerreform des Jahres 1955 mehrfach ernsthaft und mit großem Einsatz der Versuch unternommen worden, das zunehmend unübersichtlich gewordene Ertragsteuerrecht, insbesondere das Einkommensteuerrecht, zu durchforsten und nach Wegen zu suchen, es auch im Interesse der Steuerbürger überschaubarer machen zu können. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang beispielhaft die Arbeiten der vom Bundesministerium der Finanzen 1993 eingesetzten Einkommensteuer-Kommission, der sog. „Bareis-Kommission“17, sowie der von der Bundesregierung 1996 ins Leben gerufenen Steuerreform-Kommission zur Erarbeitung der sog. „Petersberger Steuervorschläge“18. Zwei Jahre später, im Jahre 1998 hat die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft ihre Jahrestagung unter das Motto „Steuervereinfachung“ gestellt19. Auch hier wurden Reformvorschläge eingehend beraten. Als weitere Beispiele für Reformarbeiten seien genannt der vom Kölner Professor Joachim Lang u. a. 2003 erarbeitete „Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes“, die vom früheren Richter des Bundesverfassungsgerichts Paul Kirchhof im Entwurf eines „Einkommensteuergesetzbuchs“ vorgelegten Vorschläge zur Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer20, die ihrerseits auf dem sog. „Karlsruher Entwurf zur Reform des Einkommensteuergesetzes“21 beruhten, sowie die Arbeiten der von der Stiftung Marktwirtschaft eingesetzten und betreuten Kommission „Steuergesetzbuch“22. Zu nennen ist auch die sog. „Koch-SteinbrückListe“, zur Abschaffung von Steuersubventionen (2003). Daneben haben auch andere Gruppierungen, Landesfinanzministerien23 und politische Parteien24 im Laufe der Jahre Reformvorschläge erarbeitet und unterbreitet25.
__________ 17 Siehe dazu BB, Beilage 24 zu Heft 34/1994. 18 Siehe dazu Waigel, Die Erarbeitung der Petersberger Steuervorschläge durch die Steuerreformkommission, in FS Offerhaus, 1999, S. 983 ff. Der BMF hat das erarbeitete Konzept abgelehnt. 19 Siehe dazu P. Fischer (Hrsg.), Steuervereinfachung, Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V., Bd. 21, 1998. 20 P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch – Ein Vorschlag zur Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer, Schriftenreihe des Instituts für Finanz- und Steuerrecht – Forschungsgruppe Bundesteuergesetzbuch, Bd. 2, 2003. Das Modell sieht nur eine Einkunftsart und eine Einheitssteuer vor. 21 Abgedruckt in DStR 2001, 917 ff. 22 Diese Kommission erarbeitete ein vollständiges Einkommensteuer- und Verfahrensrecht. Der entsprechende Entwurf wurde 2008 vorgelegt. 23 Siehe zuletzt die Ankündigung des Bayerischen Ministerpräsidenten, er lasse ein Konzept erarbeiten, das Steuererhöhungen für Spitzenverdiener ermögliche, ohne Steuern für andere Bürger zu erhöhen, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5.7.2010. 24 Z. B. Vorschlag des Bundestagsabgeordneten Friedrich Merz (CDU), „Konzept 21“ der CSU (2003), Konzept „Die neue Einkommensteuer“ Berliner Entwurf der FDP (2003). 25 Ein Überblick über einzelne Reformvorschläge findet sich im Wochenbericht Nr. 16/2004 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, S. 201 ff.
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So unterschiedlich die einzelnen Reformvorschläge in ihrer rechtlichen Ausgestaltung teilweise auch sind, so haben sie sämtlich eines gemeinsam: Sie haben im Unterschied zu den vorbereitenden Arbeiten zur – realisierten – Großen Steuerreform 1955 über einen längeren Zeitraum wertvolle wissenschaftliche und arbeitsmäßige Ressourcen von Steuerrechtlern, Volkswirtschaftlern und Betriebswirtschaftlern aus verschiedenen Arbeitsbereichen (Gericht, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft) gebunden, ohne dass der Gesetzgeber sich letztendlich ernsthaft bemüht hat, eine Fundamentalreform durchzuführen oder zumindest die Reformvorschläge auf Dauer in einem essentiellen Umfang in seine zahlreichen Änderungsgesetze miteinzubeziehen. Es gab zwar einige rechtssystematische Änderungen von grundlegender Bedeutung. Diese waren jedoch vielfach auf vorhergehende Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zurückzuführen26. Ein Außenstehender kann bei dieser Sachlage durchaus den Eindruck gewinnen, der Steuergesetzgeber – und mit ihm die zuständige Ministerialbürokratie – würden die umfangreichen und steuerrechtlich bedeutsamen Arbeiten der zahlreichen Kommissionen zwar vordergründig stets begrüßen, sie aber de facto nicht als entscheidenden Impuls für eigene grundlegende Reformarbeiten behandeln und nutzen. Auf diese Weise werden ohne Not wertvolle intellektuelle Ressourcen regelrecht verschwendet, von den erheblichen finanziellen Aufwendungen und den entstandenen Arbeitsausfällen einmal ganz abgesehen27. Unter dieser Sachlage leidet darüber hinaus in zunehmendem Maß die Akzeptanz des Steuerrechts beim zwischenzeitlich eindeutig überforderten Steuerbürger. Sein Verständnis gegenüber den Aktivitäten des Steuergesetzgebers schwindet zunehmend28.
IV. Zielvorgaben 1. Das einfache Steuerrecht als Wunschbild Unzählige Male haben Politiker jeglicher Couleur die Schaffung eines einfachen Steuerrechts propagiert und für „demnächst“ in Aussicht gestellt. Von diesen Ankündigungen ist kaum etwas realisiert worden. Noch immer macht nur jeder dritte Steuerpflichtige seine Steuererklärung selbst. Zweifelsfrei ist Hauptursache hierfür die nach wie vor bestehende Kompliziertheit des Steuerrechts. (Wahl-)Versprechen, endlich ein einfaches Steuerrecht zu schaffen, fallen dementsprechend – wenn auch deutlich zunehmend weniger – immer noch auf fruchtbaren Boden. Populistischen Schlagworten wie denen von der
__________ 26 Siehe dazu z. B. Köppe, Bundesverfassungsgericht und Steuergesetzgebung – Politik mit Mitteln der Verfassungsrechtsprechung?, in van Ooyen/Möllers (Fn. 10), S. 435 ff. 27 Auf der anderen Seite sieht sich das eine oder andere Bundesministerium bisweilen nicht in der Lage, im eigenen Haus eine schlüssige Gesetzesvorlage zu erarbeiten und bedarf deshalb der Mithilfe von Anwaltskanzleien. 28 Siehe dazu auch Lempenau, Steuergesetzgeber contra Steuerbürger?, FD-DStR 2009, 276155, entgegen Nawrath, Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers und gleichheitsgerechte Sicherung des Steueraufkommens, DStR 2009, 2.
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Steuererklärung, die auf einem Bierdeckel unterzubringen sei29, schenkte man deshalb ursprünglich allzu gern Glauben. Zwischenzeitlich überwiegen jedoch auch hier Zweifel und Skepsis. Der Jurist ist geneigt, sich in diesem Zusammenhang des die Zeiten überdauernden Ausspruchs des Preußischen Staatsanwaltes Julius von Kirchmann in seinem Vortrag vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin anno 184730 zu erinnern, nämlich: „Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur“. Damals wie heute war und ist es aber nicht gerade sinnvoll, an den Wahrheitsgehalt derartiger Aussagen zu glauben. Es hieße, die Allmacht des Gesetzgebers zu überschätzen. Der Gesetzgeber kann eine solche Entwicklung – sofern er dazu aus Haushaltsgründen überhaupt in der Lage ist31 – nicht von heute auf morgen realisieren. Er kann – unbeschadet der Frage, ob „subjektiv“ ein entsprechender Gestaltungswille überhaupt vorhanden wäre – schon objektiv gesehen langjährige Entwicklungen, wie sie insbesondere im Einkommensteuerrecht mit seinen unzähligen Detailregelungen und Vergünstigungsvorschriften zu finden sind, nicht in kurzer Zeit grundlegend ändern32. Damals und heute war und ist die Übertreibung allerdings dazu angetan, das jeweilige Problem33 zu verdeutlichen und in besonderem Maß verstärkt in das allgemeine Bewusstsein zu bringen. Die Bezeichnung Steuerreform wird von Steuerpolitikern zunehmend selbst für marginale Rechtsänderungen oder Tarifsenkungen verwendet. Auf diese Weise lenkt man gern von den dringend reformbedürftigen Strukturproblemen des Einkommensteuerrechts ab. Man denke nur an die heftig geführte Diskussion, ob ein Stufentarif anstelle progressiver Besteuerung eingeführt werden soll, ggf. mit wieviel Stufen. So sehr die mit der Absenkung der Steuersätze und der Beseitigung des seit „alters her“34 inkriminierten „Mittelstandsbauchs“ beim progressiven Steuertarif verbundene Steuerentlastung erforderlich und wünschenswert ist, so handelt es sich hierbei jedoch nicht um eine materielle Steuervereinfachung, sondern um eine Art technische Änderung, eine laufend überfällig werdende Tarifanpassung35, die zudem das Ausfüllen der Steuererklärung nicht erleichtert.
__________ 29 Die sog. „Bierdeckelsteuer“ wurde 2003 vom damaligen Bundestagsabgeordneten Friedrich Merz propagiert. 30 Mit dem Titel „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“, zitiert nach der Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, 1956, S. 25. 31 Die sog. Bierdeckelsteuer hätte nach den damaligen Berechnungen weit über 20 Mrd. Euro pro Jahr gekostet; siehe DIW Wochenbericht 16/2004. 32 Nach Otto Meyer, einem der Väter der Verwaltungsrechtswissenschaft, ist der Gesetzgeber umgeben von „ererbten Notwendigkeiten“; siehe dazu O. Meyer, Justiz und Verwaltung, 1902, S. 3. 33 Kirchmann ging es dabei insbesondere um die Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit der Jurisprudenz; siehe dazu Sendler, Zur Makulaturproduktion des Gesetzgebers, in Sendler, Recht – Gerechtigkeit – Rechtsstaat, Beiträge zwischen 1964 und 2005, hrsg. von K. Redeker, 2006, S. 51 ff. 34 Siehe ifo-Schnelldienst v. 18.3.1954. 35 Anders wohl im politischen Bereich vertretene Ansichten; siehe dazu z. B. Süddeutsche Zeitung v. 24.6.2010, S. 6.
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Um bei der Einkommensteuererklärung zu bleiben: Sollte bestimmten Steuerpflichtigen36 – wie medienwirksam angekündigt37 – eine bereits teilweise ausgefüllte Steuererklärung zur Verfügung gestellt werden, so handelt es sich auch hierbei nicht – wie vorgegeben wird – um eine Steuerreform, sondern schlicht und einfach um eine (technische) Arbeitserleichterung für den Steuerbürger. Das Gleiche gilt hinsichtlich der neuerdings von politischer Seite wieder ins Gespräch gebrachten, für zwei Veranlagungszeiträume gelten sollenden Einkommensteuererklärung. Eine umfassende, strukturelle Steuerreform, die – was erschwerend hinzukommt – nach dem derzeitigen Stand der politischen Diskussion ohnehin nur aufkommensneutral durchgeführt werden dürfte, beginnt nicht beim Steuersatz oder beim Tarifverlauf; beide Elemente sind das – wenn auch ungemein wichtige – i-Tüpfelchen einer Reform. Eine Strukturreform könnte zudem durchaus dazu führen, dass z. B. im Hinblick auf eine Verminderung der steuerrechtlich relevanten Bemessungsgrundlage selbst bei gleichbleibenden Steuersätzen im Endergebnis eine finanzielle Entlastung eintritt. Dies zeigt, dass eine isolierte Änderung der Steuersätze oder der Tarifstruktur nur einen Notnagel oder ein Trostpflaster – wie man es auch nennen mag – darstellt, die das Fehlen der Strukturreform in gewissem Umfang vom finanziellen Ergebnis – und nur von diesem – her gesehen für den Steuerpflichtigen erträglicher machen können. Tarifsenkungen mindern allerdings deutlich den Druck auf den Gesetzgeber, ernsthaft eine grundlegende Strukturreform des Einkommensteuerrechts in Angriff zu nehmen, vor allem dann, wenn es gelingt, insbesondere die Klientel der sog. „Leistungsträger“ mit niedrigeren Steuersätzen einigermaßen zufrieden zu stellen. Man kann ohnehin den Eindruck gewinnen, die Steuerpolitik – gleich welcher Provenienz – sehe tarifbedingte Steuerentlastungen bereits als – ausreichende – Steuerreform an. Für die große Mehrheit der Steuerpflichtigen ist es in der Tat wohl regelmäßig gleichgültig, auf welcher rechtlichen Basis die finanziellen Erleichterungen gewährt werden, Hauptsache, die konkrete Steuerlast sinkt deutlich. Dass man für das Ausfüllen der Steuererklärung fremder Hilfe bedarf, nimmt man bei „ordentlicher“ finanzieller Entlastung dann als eine Art notwendigen Übels hin. Die neuerdings38 angekündigte „Radikalkur“ bei der Steuererklärung betrifft ihrem Wesensgehalt wohl nur die technische, formale Abwicklung der Besteuerung. Sie erleichtert dem Steuerpflichtigen im Wesentlichen lediglich das Ausfüllen der Erklärung. Hier wird nur an den Symptomen kuriert, nicht aber an der Krankheit selbst, der Unübersichtlichkeit des Einkommensteuerrechts.
__________ 36 Gedacht ist dabei wohl an Arbeitnehmer, die außer den Lohneinkünften keine weiteren nennenswerten steuerbaren Einkünfte beziehen; siehe dazu z. B. Süddeutsche Zeitung v. 14.4.2010, S. 5. 37 Siehe z. B. Süddeutsche Zeitung v. 14.4.2010, S. 5. 38 Vom Bayerischen Ministerpräsidenten; siehe Süddeutsche Zeitung v. 24./25.7.2010, S. R 15.
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2. Steinige Wege zum Ziel Das heutige Einkommensteuergesetz geht in seinen Grundzügen auf das EStG 193439 mit seinen sieben Einkunftsarten zurück. Am Einkommensbegriff des § 2 EStG hat sich seitdem nichts Grundlegendes geändert. Diese rechtliche Basis ist jedoch heute nicht mehr ein rocher de bronze. So hat sich beispielsweise unser gemeinsamer Doktorvater, Prof. Dr. Adolf Grass, in seinen Vorlesungen an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz bereits Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts mit Vehemenz für die Schaffung einer – wie er es nannte – „Einsteuer“ anstelle von Einkommen- und Körperschaftsteuer – folgerichtig mit entsprechenden Korrekturen bei den Einkunftsarten – eingesetzt. Nur, damals wurden seine Ideen in Fachkreisen noch belächelt. Seitdem ist fast ein halbes Jahrhundert vergangen, die Probleme sind bislang nicht kleiner geworden, im Gegenteil, sie haben sowohl an Zahl als auch an Schwierigkeiten erheblich zugenommen. Zwischenzeitlich liegt der Entwurf des „Einkommensteuergesetzbuches“ von Prof. Dr. Paul Kirchhof vor40. Nach diesem Entwurf, nach dem nicht nur natürliche, sondern auch „steuerjuristische“ Personen einkommensteuerpflichtig sind, werden die sieben Einkunftsarten des § 2 EStG durch eine einzige ersetzt, nämlich die Einkunftsart „Erwerbseinkünfte“. Die Folge ist, dass sämtliche Einkünfte gleich behandelt würden. Der vorgeschlagene Wegfall von Ausnahmetatbeständen würde das EStG zudem deutlich transparenter machen. Ob dieses Modell mit seiner gegenüber dem geltenden Einkommensteuergesetz radikal verringerten Anzahl an Vorschriften – 12 anstatt derzeit über 100 Paragrafen – in vollem Umfang als belastungsgerecht empfunden würde, ist eine Frage des Standpunkts. Die geringe Paragrafenzahl dürfte zudem für den regulierungswütigen Gesetzgeber Anlass genug sein, ergänzende Regelungen in Form von Verordnungen, ergänzt durch Verwaltungsanweisungen, zu schaffen. Dies würde aber im Ergebnis ein Weniger an Rechtssicherheit im Vergleich zu Gesetzesnormen bedeuten. Ein anderes Modell, mit dem zumindest partiell eine Vereinfachung des geltenden Einkommensteuerrechts erreicht werden könnte, besteht in der Einführung einer dualen Einkommensteuer (Dual Income Tax)41. Danach würden die steuerpflichtigen Einkünfte in Arbeits- und Kapitaleinkommen aufgeteilt und getrennt – bei unterschiedlichen Steuersätzen – besteuert werden42. Denk-
__________ 39 V. 16.10.1934, RGBl. I 1934, 1005. 40 Siehe Fn. 20. 41 Siehe dazu Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2003/2004, 2003, Rz. 570 ff. 42 Dem Arbeitseinkommen würden die bisherigen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, bestimmte Transfer- und Alterseinkünfte sowie der kalkulatorische Unternehmerlohn aus den (bisherigen) Gewinneinkünften zugerechnet. Die Kapitaleinkünfte würden die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, Kapitalvermögen sowie die Gewinne aus der Veräußerung von Privatvermögen sowie Gewinneinkünfte abzüglich Unternehmerlohn umfassen. Schwierigkeiten dürften sich hierbei vornehmlich bei der Aufteilung von Gewinneinkünften personenbezogener Unternehmen in Arbeitseinkommen (Unternehmerlohn) und Kapitaleinkommen ergeben.
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bar ist allerdings, dass die Mehrheit der Steuerpflichtigen bei dieser Konzeption nicht ent-, sondern stärker belastet würde43. Der Kölner Entwurf von Prof. Dr. Joachim Lang u. a. setzt dagegen unmittelbar bei dem geltenden Einkommensteuerrecht an und macht Vorschläge zu dessen „Sanierung“. Ziel ist dabei, insbesondere durch entsprechende Regelungen die „Streitpotenziale“ des geltenden Rechts zu minimieren. In etwa die gleiche Richtung geht der gegenüber dem geltenden EStG deutlich entschlackte Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, den die Stiftung Marktwirtschaft vorgelegt hat. Er baut auf dem Nettoprinzip auf und bejaht damit die Abziehbarkeit sämtlicher Kosten, die notwendig sind, um Erwerbseinkommen zu erzielen44. Der Großteil der Steuervergünstigungen soll ersatzlos wegfallen. Die letzteren Reformvorschläge scheinen allerdings noch nicht als „Alexander-Schwert“ geeignet. Sie könnten jedoch dazu beitragen, den Gordischen (Steuer-)Knoten etwas zu lockern. Dies wäre bereits als Erfolg zu werten, zumal es eine Illusion ist, auf ein einfaches Steuerrecht zu hoffen. Zudem tendieren die Umsetzungschancen weitreichender Reformkonzepte derzeit gegen Null. Eines gilt es jedoch zu bedenken: Je pauschaler die gesetzlichen Regelungen sind, umso stärker besteht – trotz der verfassungsrechtlich dem Grunde nach zulässigen Typisierung und Vereinfachung45 – die Gefahr einer Kollision mit dem Prinzip der „Steuergerechtigkeit“46. Unabhängig von den vorstehenden Reformvorschlägen könnte man als ersten Schritt zu einer Steuervereinfachung ganz allgemein einen Abbau von Sonderregelungen in Zusammenhang mit Steuervergünstigungen in Betracht ziehen. Diese sind vielfach mit verstärkter „Steuerknoten-Bildung“ verbunden. Zu denken ist dabei beispielsweise an die Regelungen, die es ermöglichen, „Steuersparmodelle“ der unterschiedlichsten Art zu schaffen. Gesetzgeber und Rechtsprechung haben diese Möglichkeiten zwar erfreulicher Weise bereits drastisch eingeschränkt.47 Dennoch bleibt eine Fülle von Steuervergünstigungen, deren Beseitigung aus rechtssystematischer Sicht vertretbar wäre. Allein schon ein Blick in die Liste der steuerfreien Einnahmen gemäß § 3 EStG48 zeigt, dass hier eine „Durchforstung“ vonnöten ist. Allerdings ergibt sich dabei das Problem, dass viele Vergünstigungen z. T. erhebliche sozial-, beschäftigungs-, kulturpolitische oder sonstige rechtfertigende Komponenten aufweisen. Zu nennen ist hier vornehmlich die Steuerfreiheit der gesetzlichen oder tariflichen Zuschläge
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43 Siehe dazu DIW Wochenbericht 16/2004, S. 199. 44 Weil er Steuerausfälle befürchtete, lehnte der Bundesfinanzminister der Großen Koalition, Steinbrück, den Entwurf ab. 45 Siehe dazu BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, DStR 2010, 1563 (häusliches Arbeitszimmer). 46 Siehe dazu nachstehend. 47 Siehe dazu insbesondere die hierzu ergangenen, zahlreichen einschlägigen Entscheidungen des IX. Senats des BFH. 48 Siehe dazu das sehr umfangreiche ABC der steuerfreien Einnahmen gemäß § 3 EStG bei Heinicke in Schmidt (Fn. 7), beginnend bei „Abfindungen“, über „Abwrackprämien“ und „Gesundheitsförderung“ bis hin zu „Zulagen, Zuschläge, Zuschüsse“.
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für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit (§ 3b EStG). Allein die durch diese Begünstigung entstehenden Mindereinnahmen an Einkommensteuer betragen im Jahr 2010 rd. 2 Mrd. Euro49. Die Förderung der privaten Altersvorsorge gemäß § 10a EStG/Abschnitt XI EStG schlägt mit rd. 1,3 Mrd. Euro Steuermindereinnahmen im Jahre 2010 zu Buch50. Die Steuerermäßigung für die Inanspruchnahme von Handwerkerleistungen gemäß § 35a Abs. 3 EStG führt im selben Jahr zu steuerlichen Mindereinnahmen von rd. 4,3 Mrd. Euro51. Dagegen fallen die rd. 85 Mio. Euro Einkommensteuer, auf die der Bund und die Länder im Jahr 2010 aus Gründen der Förderung des Erhalts von Baudenkmalen u.Ä. verzichtet52, im Vergleich zu der Gesamtsumme der Mindereinnahmen aufgrund der Einkommensteuervergünstigungen kaum noch ins Gewicht, zumal auch hier Gegenrechnungen aufgestellt werden könnten. Diese Beispiele zeigen, dass der Abbau einkommensteuerlicher Steuervergünstigungen rein faktisch, so sehr er auch rechtssystematisch gerechtfertigt wäre, im Hinblick auf das Förderungsziel nur in sehr eingeschränktem Umfang möglich sein wird. Das Steuerrecht bewegt sich nämlich nicht in einem „keimfreien“ isolierten Steuerrechtsraum, sondern in einem sozialen, kulturellen, gesellschaftspolitischen etc. Umfeld, das Teil unseres gesamten Gemeinwesens und für dieses mitbestimmend ist. Es gilt deshalb abzuwägen, welcher Zweck, ggf. in welchem Umfang Vorrang genießen soll. Dies wiederum ist in erster Linie eine Frage des politischen und/oder gesellschaftlichen Standorts, wobei das „im richtigen Leben“ angesiedelte Gerechtigkeitsempfinden nicht zu vernachlässigen ist. Eine andersartige Lösung wäre hier wohl nur in Verbindung mit einer radikalen Änderung des Systems der Einkommensbesteuerung zu erwarten, bei der Steuervergünstigungen nahezu ausgeschlossen sein würden. Anders verhält es sich mit der Höhe der Steuertarife. Solange diese nicht zu einer Erdrosselungssteuer führen, dabei der Grundsatz der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit gewahrt bleibt und das Gebot der Folgerichtigkeit beachtet wird53, hat der Steuergesetzgeber – rechtssystematisch gesehen – grundsätzlich Regulierungsfreiheit. 3. „Steuerpolitik ist an Gerechtigkeit gebundene Politik“54 „Steuergerechtigkeit“ ist ein weiterer Parameter einer Steuerreform, den die Parteien, gleich welcher Couleur, auf ihr Panier geschrieben haben, das sie
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49 Siehe dazu Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen für die Jahre 2007–2010 (Zweiundzwanzigster Subventionsbericht), Anlage 2, Übersicht über die Entwicklung der Steuervergünstigungen in den Jahren 2007 bis 2010, lfd. Nr. 94. 50 Siehe dazu Bericht der Bundesregierung (Fn. 48), lfd. Nr. 90. 51 Siehe dazu Bericht der Bundesregierung (Fn. 48), lfd. Nr. 41. 52 Siehe dazu Bericht der Bundesregierung (Fn. 48), lfd. Nr. 84, 85. 53 Siehe dazu BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, DStR 2010, 1563 (häusliches Arbeitszimmer). 54 So zu Recht Tipke, Steuerpolitik als Gerechtigkeitspolitik, in Steuerrecht – Verfassungsrecht – Europarecht, FS Ruppe, 2007, S. 630 ff. (643).
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deutlich sichtbar vor sich hertragen. Seit Jahrzehnten fordern sie im Zusammenklang mit der allgemeinen Meinung ein einfaches und zugleich gerechtes Steuerrecht. Aber fast jeder versteht darunter etwas Anderes, je nach seiner eigenen subjektiven Interessenlage. In den letzten Jahren ist der Ruf nach Steuergerechtigkeit allerdings ein wenig leiser geworden, die Steuerentlastung ist zum eindeutig vordringlicheren Ziel geworden. Dies mag damit zusammen hängen, dass die Belastungsdivergenzen zunehmend geringer geworden sind und damit die noch vorhandenen systembedingten „Ungerechtigkeiten“ zwar noch bestehen, sie aber infolge Absenkens der Steuersätze in ihrer finanziellen Auswirkung nicht mehr so stark ins Gewicht fallen wie zuvor. Das würde sich allerdings grundlegend ändern, wenn die im Raum stehenden Vorschläge, die Steuersätze für höhere Einkünfte deutlich zu erhöhen55, in etwa realisiert würden. Es bleibt aber in jedem Fall die Frage, was unter dem ohnehin recht schillernden Begriff der „Steuergerechtigkeit“ zu verstehen ist. Die Ansichten hierzu gehen – wie nicht anders zu erwarten – teilweise recht weit auseinander56. In der Tat, eine allgemein gültige Antwort wird es wohl nicht geben können. Zwar lässt sich eine gewisse Objektivität dadurch erreichen, dass man Steuergerechtigkeit und Steuerungerechtigkeit danach gegeneinander abgrenzt, ob sich die Steuer an der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen und an der Höhe von dessen Einkünften orientiert. Die Steuerpflichtigen müssen unter Beachtung der Gebote der Folgerichtigkeit und der steuerlichen Lastengleichheit bei gleicher Leistungsfähigkeit gleich hoch besteuert werden (horizontale Steuergerechtigkeit). Außerdem muss – in vertikaler Richtung – die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Steuerbelastung niedrigerer Einkünfte angemessen sein. Diese Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung v. 6.7.201057 zur steuerlichen Berücksichtigung eines häuslichen Arbeitszimmers erneut bestätigt. Eine rein objektivierte Begriffsbestimmung allein trägt jedoch unserer Ansicht nach dem Phänomen „Steuergerechtigkeit“ nicht ausreichend Rechnung. Es ist ohnehin schon eine Illusion, für das Anwenden von Rechtsnormen auf den Einzelfall gebe es stets die objektiv richtige Lösung, die sich rechtlich ermitteln ließe. Gerade bei der Frage nach der gerechten Besteuerung spielen subjektive Elemente, wie beispielsweise das persönliche Belastungsempfinden, eine große Rolle; sie sind nicht zu vernachlässigen. Unsere Rechtsordnung beruht auf einem empirischen Fundament. Dies schließt es ein, bestehende Rechtsnormen nicht nur logisch, sondern auch im Hinblick auf ihre Wirkung in der Bevölkerung, hier: bei den Steuerpflichtigen, zu analysieren. So kommt es wesentlich darauf an, von welchem Standpunkt aus man den Begriffsinhalt bestimmt. Deshalb wird der sog. „Leistungsträger“, der hohe Einkünfte be-
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55 Siehe dazu Frankfurter Rundschau v. 8.8.2010. 56 Teilweise wird sogar die Ansicht vertreten, ein niedriger Steuertarif trage zu mehr Steuergerechtigkeit bei, siehe dazu „Die neue Einkommensteuer“ – Berliner Entwurf der FDP, 2003, S. 29. 57 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, DStR 2010, 1563.
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zieht, häufig nicht recht nachvollziehen können, warum gerade er so progressiv besteuert wird, eine Progression, die zudem zusätzlich durch die sog. „kalte Progression“58 in ihrer Wirkung noch verstärkt wird. Die Mehrheit der Steuerbürger empfindet es aber wohl als „gerecht“, dass derjenige, der mehr verdient, aus Gründen der Solidarität steuerlich auch stärker belastet wird.59 Ein markantes Beispiel dafür, wie sehr subjektive Gesichtspunkte das Rechtsempfinden beeinflussen können, bildet die ständige und neuerdings wieder verstärkte Diskussion um das Ehegattensplitting.60 Gesichtspunkte der Steuergerechtigkeit haben auch in Zusammenhang mit der Frage einer möglichen Kürzung oder gar eines Wegfalls der Entfernungspauschale des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG, der sog. „Pendlerpauschale“ eine Rolle gespielt61. Regelmäßig werden in einem Atemzug zugleich sowohl ein gerechtes als auch ein einfaches Steuerrecht in Aussicht gestellt. Beides lässt sich jedoch nicht problemlos miteinander vereinbaren. So wünschenswert ein einfaches Steuerrecht auch sein mag, der Gedanke der Rechtsvereinfachung wird dort an seine Grenzen stoßen, wo er mit dem Streben nach Einzelfallgerechtigkeit und damit verbunden mit der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit kollidiert. Der Verlauf auch dieser Grenze lässt sich nicht genau bestimmen; es besteht ein Graubereich, der sich trotz der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts62 zur einen oder zur anderen Richtung hinbewegen kann. In Zeiten, in denen ausreichender finanzieller Spielraum besteht, wird der Gesetzgeber eher geneigt sein, bereits durch großzügige Freibeträge und Pauschalierungen zugunsten des Steuerpflichtigen dessen Wünschen nach einer aus dessen Sicht gerechten = möglichst niedrigen Steuer entgegen zu kommen. Ein Nebeneffekt dabei ist, dass insoweit die Steuerermittlung vereinfacht wird.
V. Perspektiven Die Reform des Einkommensteuerrechts wird, je länger sie aufgeschoben wird, um so mehr zu einer Art Glasperlenspiel. Es wird nichts Neues geschaffen; man „spielt“ nur noch mit dem vorhandenen Steuerrecht. Die in ihrer Viel-
__________ 58 „Heimliche Steuererhöhung“; siehe dazu Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 744. 59 Siehe dagegen die Überlegungen von Peter Sloterdijk, dargelegt im Interview mit einem Redakteur der Süddeutschen Zeitung, Süddeutsche Zeitung v. 5/6.1.2010, S. 26, die auf eine Abschaffung der „Zwangssteuern“ und auf Errichtung eines Systems „freiwilligen Schenkens“ abzielen. Zur Möglichkeit, die Steuern durch Entgelte („Äquivalenzfinanzierung“) zu ersetzen und so den „Steuerstaat“ zum „Entgeltstaat“ umzuwandeln, siehe Grossekettler, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23.4.2010, S. 14. 60 Siehe dazu: Das Steuerrecht bestraft die Geschiedenen, Süddeutsche Zeitung v. 2.8.2010, S. 4. 61 Der Vollständigkeit sei darauf verwiesen, dass das Bundesverfassungsgericht das Versagen des Steuerabzugs für Aufwendungen zu Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte für die ersten 20 Entfernungskilometer für verfassungswidrig erklärt hat, siehe BVerfG 2 BvL 1/07, 2/07, 1/08 und 2/08 v. 9.12.2008, DStR 2008, 2460. 62 Siehe vorstehend.
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zahl kaum mehr zu überblickenden Änderungsgesetze, bei denen der Gesetzgeber seiner Phantasie im Hinblick auf medientaugliche und „verkaufsfördernde“ Bezeichnungen freien Lauf lässt, werden zahlenmäßig weiter vermehrt. Die Steuergerechtigkeit – so es überhaupt eine gibt – leidet. Eine grundlegende Änderung in Richtung auf eine strukturelle Steuerreform ist unerlässlich. Dies setzt allerdings zunächst auf Seiten der Politik mehr Mut zur Verantwortung gegenüber dem Steuerbürger voraus, mehr Verzicht auf plakative Versprechungen, an die – was die Strukturreform betrifft – ohnehin kaum noch jemand glaubt. Der Gesetzgeber sollte mehr Gelassenheit an den Tag legen und sich mehr als bisher frei halten von der Hektik und der kurzatmigen Geschäftigkeit, mit der er Änderungsgesetze an Änderungsgesetze an Änderungsgesetze reiht. Die Steuergesetze sollten verstärkt nicht nur hinsichtlich ihrer Justizförmlichkeit und der Kostenseite, sondern auch daraufhin geprüft werden, ob sie unumgänglich sind, zumindest was den Umfang betrifft. Gefordert ist Mut zur Lücke, nicht jede mögliche Fallgestaltung sollte in all ihren Verästelungen mit Ausnahmen und Ausnahmen von Ausnahmen etc. in die gesetzgeberische Regelung einbezogen werden63, selbst auf die Gefahr hin, dass findige Berater eine willkommene Möglichkeit der Steuerersparnis entdecken. Dem letzteren Gedanken wird man möglicherweise entgegenhalten, derartige Lücken, die das Tor für Steuervermeidungsmodelle öffnen könnten, seien nicht nur aus fiskalischen Gründen, sondern auch im Hinblick auf die Steuergerechtigkeit nicht hinnehmbar. Mit einer solchen Argumentation könnte man allerdings weite Bereiche einer Steuervereinfachung von vornherein ausklammern. Der Steuerdschungel würde weiter blühen und gedeihen. Wäre dies die Quadratur des Kreises? Eine verlässliche Finanz- und Haushaltsplanung sollte auch möglich sein, wenn nicht jede mögliche steuerrechtliche Verästelung mit Leben erfüllt wird, wobei ohnehin fraglich ist, ob der finanzielle Ertrag einer solchen fein ziselierten Regelung von ausschlaggebender Bedeutung für das Budget sein würde. Eine absolute Steuergerechtigkeit kann und wird es nicht geben können, ebenso wenig wie das bisweilen lauthals versprochene einfache Steuerrecht. Mit einem Weniger an Einzelfallgerechtigkeit und Regulierungsintensität wäre der Steuerknoten zwar noch nicht durchgeschlagen, aber etwas dünner. Dies wäre wenigstens ein kleiner Anfang, der einen gewissen Erfolg verspricht. Man mag gegen diese Überlegungen einwenden, sie basierten allzu sehr auf der Sicht des Richters, m. a. W., sie seien ohne genaue Kenntnis der gesetzgeberischen Notwendigkeiten entstanden. Ob ein solcher Einwand berechtigt wäre, soll dahingestellt bleiben. Fakt ist jedenfalls, dass es ohne eine nachhaltige Änderung weiterhin bei einer nicht enden wollenden und wenig ertragreichen Diskussion über die Normenflut und dem als Folge hiervon immer dichter werdenden Steuerdschungel bleibt. Dies führt unweigerlich dazu, dass das Wort des Steuergesetzgebers weiter an Gewicht und Leitlinienfunktion verliert.
__________ 63 Ein anschauliches – negatives – Beispiel für eine hypertrophe Regelung ist § 15a Abs. 5 Nr. 4 EStG; siehe dazu Heuermann in Blümich, EStG, KStG, GewStG, § 15a EStG Rz. 139.
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Damit verbunden ist eine zunehmende Frustration beim Steuerbürger, der in Bezug auf das Steuerrecht zwischenzeitlich eindeutig überfordert ist. Es entsteht bei ihm ein Gefühl des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht gegenüber der Gesetzgebungsmaschinerie, die für sich in Anspruch nimmt, je nach Interessenlage ihre Machtposition zu nutzen. Die Akzeptanz des Steuerrechts schwindet progressiv. Subjektiv empfindet man zunehmend einen Verlust an Rechtssicherheit. Dies führt in letzter Konsequenz zu einem Autoritätsverlust des (Steuer-)Rechts. An einer solchen Entwicklung kann und sollte der Steuergesetzgeber kein Interesse haben. Er muss hier vielmehr nachhaltig gegensteuern, um zu vermeiden, dass eine Steuervereinfachung erneut – wie 1930 – in einer Notverordnung zu regeln sein wird64.
__________ 64 Siehe dazu Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen v. 1.12.1930, RGBl. I 1930, 517, Dritter Teil: Steuervereinfachung und Steuervereinheitlichung.
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Die Spielgerätesteuer und das Verfassungsrecht – eine unendliche Geschichte Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Was bisher geschah … 1. Die Entwicklung bis 1962 2. Wegmarken der Rechtsprechung a) Bundesverfassungsgericht b) Bundesverwaltungsgericht und Bundesfinanzhof III. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Februar 2009 1. Kernaussagen
2. Bewertung – offen gelassene Fragen IV. Wie geht es weiter? 1. Kammerbeschluss vom 3. September 2009 a) Rückwirkende „Reparatur“ verfassungswidriger Steuersatzungen b) Mindest- und Höchstsätze 2. Ausblick
I. Einleitung Trotz seiner beeindruckenden Zahl von Veröffentlichungen ist mir nicht bekannt, dass sich Wolfgang Spindler bisher dezidiert zu Fragen der Vergnügungsteuer oder gar speziell der Spielgerätesteuer geäußert hätte. Gleichwohl bin ich mir sicher, dass die folgenden Anmerkungen zur verfassungsrechtlichen Entwicklung der Spielgerätesteuer auch sein Interesse finden werden. Gewinnt diese Materie doch ihren besonderen Reiz nicht zuletzt daraus, dass sie sich in einem bemerkenswerten Überschneidungsbereich zwischen Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit bewegt. Während die Verwaltungsgerichte für Rechtsstreitigkeiten über die von den Kommunen der Flächenländer erhobene Spielgerätesteuer zuständig sind, haben die Stadtstaaten für eben diese Materie traditionell den Rechtsweg zu den Finanzgerichten eröffnet. Schon dies dürfte die Aufmerksamkeit eines der materiellen Rechtsprechungstätigkeit so zugewandten Präsidenten eines obersten Gerichtshofs des Bundes wecken, dem eine sich womöglich unkontrolliert in verschiedene Richtungen entwickelnde Rechtsprechung zweier Gerichtsbarkeiten zu ein und derselben Rechtsmaterie, die erst über den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes wieder „eingefangen“ werden könnte, sicher ein Greuel wäre. Dass dem erfreulicherweise nicht so ist, sei schon zu Beginn des Beitrags festgestellt. Inwiefern das Zusammenspiel der Rechtsprechungstätigkeit von Fachgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgericht, dem schon immer die besondere Aufmerksamkeit von Wolfgang Spindler galt, hierzu beigetragen hat, versuchen die folgenden Ausführungen zu beleuchten, die wesentliche Schritte der Entwicklung der Spielgerätesteuer aus den letzten Jahrzehnten nachverfolgen, die
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aktuelle Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 analysieren und schließlich einen Blick nach vorne wagen.
II. Was bisher geschah … 1. Die Entwicklung bis 1962 Die Verfassungsmäßigkeit der Spielgeräte- oder Spielautomatensteuer steht seit den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland in Streit. Dabei existiert der Typus der Spielgerätesteuer, beruhend auf dem Gedanken, dass demjenigen, der sich ein Vergnügen leistet, auch eine zusätzliche Abgabe für die Allgemeinheit zugemutet werden kann1, schon weitaus länger als das Grundgesetz. So ermächtigte bereits das Preußische Allgemeine Landrecht die Gemeinden, die „Belustigungen“ zu besteuern und die Erlöse zum Zwecke der Armenförderung einzusetzen; zunächst wurden Billard, Kegelbahnen, Bälle, Maskeraden, Schaustellungen, Theater, Konzerte und Ähnliches besteuert2. Die Steuergesetzgebung des Deutschen Reiches von 1919 ermächtigte und verpflichtete die Gemeinden, eine Vergnügungsteuer zu erheben3. Nähere Bestimmungen hierzu enthielten die vom Reichsrat erlassenen „Bestimmungen über die Vergnügungsteuer“, die „Veranstaltungen zum Ausspielen von Geld oder Gegenständen“ ausdrücklich als steuerpflichtige Vergnügungen bezeichneten4. Die Reichsratsbestimmungen kannten eine nach Preis und Zahl der ausgegebenen Eintrittskarten berechnete Kartensteuer sowie eine Pauschsteuer für das Halten eines Schau-, Scherz-, Spiel- oder Geschicklichkeitsapparates, die zunächst nach dem Wert der Apparate gestaffelte Beträge vorsahen, später in Höhe von einem halben Prozent des gemeinen Wertes des jeweiligen Apparates für jeden angefangenen Betriebsmonat berechnet wurde5. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg galten die Vorschriften über die Vergnügungsteuer weiter, konnten aber von den Landesgesetzgebern jederzeit geändert oder aufgehoben werden6. Ausgehend von der Ursprungsfassung des Art. 105 Abs. 2 Nr. 1 GG7, der dem Bund die konkurrierende Gesetzgebung über die Verbrauch- und Verkehrssteuern mit Ausnahme der Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis zusprach, entbrannte schon im ersten Jahrzehnt der jungen Bundesrepublik Deutschland ein heftiger Streit um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Spielgerätesteuer. Zunächst gelangte Meilicke in einem im Auftrag der Ar-
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1 Vgl. BVerfG v. 10.5.1962 – 1 BvL 31/58, BVerfGE 14, 76 (79). 2 Vgl. Schmittmann, Das Aufstellen von Spielautomaten und die Besteuerung von Vergnügen, Verwaltungsrundschau 2007, 265. 3 § 12 des Landessteuergesetzes v. 20.3.1920, RGBl., 402; § 13 Finanzausgleichsgesetz v. 23.6.1923, RGBl. I, 494; § 14 Finanzausgleichsgesetz v. 27.4.1926, RGBl. I, 203; vgl. ferner BVerfG v. 10.5.1962 – 1 BvL 31/58, BVerfGE 14, 76 (79). 4 Sogenannte „Reichsratsbestimmungen“ v. 9.6.1921, RGBl. I, 856. 5 Vgl. BVerfG v. 10.5.1962 – 1 BvL 31/58, BVerfGE 14, 76 (80). 6 Meilicke, Gutachten über die Vereinbarkeit der Vergnügungssteuerbelastung von Spielautomaten nach dem Grundgesetz, 1955, S. 2. 7 GG v. 23.5.1949, BGBl. I, 1 (14).
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beitsgemeinschaft des deutschen Automatengewerbes im Jahre 1955 erstatteten Gutachten zu dem Ergebnis, dass eine Vergnügungsteuer dann verfassungswidrig sei, wenn sie in einer Höhe erhoben werde, die das Aufstellen und Betreiben von Spielautomaten wirtschaftlich unmöglich oder nahezu unmöglich mache. Eine solche Vergnügungsteuer sei gleichartig mit der bundesrechtlich geordneten Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer und greife in das bundesrechtliche Gewerberecht ein8. Im Jahre 1959 hielt Flume im Auftrag mehrerer Gemeinden dem entgegen, den Ländern stehe nach Art. 105 Abs. 2 Nr. 1 GG die Gesetzgebungskompetenz zur Erhebung einer Automatensteuer als Verbrauchsteuer mit örtlich bedingtem Wirkungskreis zu. Zulässiger Maßstab sei ein Hundertsatz vom Anschaffungspreis der Automaten, wobei eine Mindeststeuer nach der Stückzahl der Automaten dem Charakter der Steuer als Verbrauchsteuer nicht entgegenstehe9. Wacke schließlich betonte in seinem 1960 im Auftrag des Dachverbands der Automatenwirtschaft erstellten Gutachten, dass die Spielautomatensteuer als Verbrauchsteuer notwendig auf Überwälzung auf den Verbraucher angelegt sei. Da bundesrechtliche Regelungen einer Abwälzung der Steuer auf den Verbraucher dauerhaft entgegenstünden, könne sie nicht mehr als Verbrauchsteuer angesehen werden. Auch erwiesen sich die üblichen Steuermaßstäbe der Spielautomatensteuer – Stückzahl, Erstanschaffungspreis, Wert des Automaten – als gänzlich ungeeignet10. Damit war der Rahmen der verfassungsrechtlichen Streitpunkte abgesteckt, innerhalb dessen sich in den folgenden Jahrzehnten die andauernde Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit der Spielautomatensteuer mit geradezu frappierender Hartnäckigkeit abspielte. Hauptdiskussionspunkte waren über die Jahre: – der Charakter der Spielgerätesteuer und die daraus folgenden Rückschlüsse auf die Gesetzgebungskompetenz von Bund oder Ländern; – die Frage nach dem zulässigen Maßstab, die sich zunehmend darauf konzentrierte, ob der Stückzahlmaßstab verfassungsrechtlich tragbar sei; – die Höhe des Steuersatzes und damit einhergehend die Frage nach einer möglicherweise erdrosselnden Wirkung der Steuer; – die Abwälzbarkeit der beim Automatenhalter erhobenen Steuer auf den Verbraucher verbunden mit den Restriktionen der unternehmerischen Gestaltungsmöglichkeiten durch das Spielgeräterecht und schließlich – das Verhältnis der Spielautomatensteuer zu anderen bundesrechtlichen Steuern wie insbesondere der Umsatzsteuer und der früheren Gewerbekapitalsteuer, aber auch der ehemaligen Vermögensteuer.
__________ 8 Meilicke (Fn. 6), S. 17 f., Zusammenfassung. 9 Vgl. Flume, Verfassungsmäßigkeit der Spielautomatensteuer in Hessen und NordrheinWestfalen, 1959. 10 Wacke, Zweites Rechtsgutachten über die Verfassungsmäßigkeit der Spielautomatenbesteuerung, 1960.
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2. Wegmarken der Rechtsprechung a) Bundesverfassungsgericht aa) Wegweisend für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Spielgerätesteuer über mehr als vier Jahrzehnte war das Teilurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Mai 196211 zum Gesetz des Landes Nordrhein-Westfalen über die Vergnügungsteuer12. Die zentralen Aussagen jener Entscheidung zur Gesetzgebungskompetenz für die Vergnügungsteuer, zum Besteuerungsmaßstab und zur Abwälzbarkeitsproblematik besitzen im Grundsatz auch heute noch Gültigkeit13. Wesentliche Teile jener Entscheidung konzentrieren sich darauf, herauszuarbeiten, dass die nordrhein-westfälische Vergnügungsteuer eine Verbrauch- oder Verkehrssteuer mit örtlich bedingtem Wirkungskreis im Sinne des Art. 105 Abs. 2 Nr. 1 GG in der damals geltenden Fassung war14. Maßgeblich dafür war, dass der Steuertatbestand – das Halten eines Spielapparates – dem herkömmlichen Bild der Vergnügungsteuer entsprach, die nicht unmittelbar bei dem sich Vergnügenden erhoben wird, den sie im Grunde treffen soll, sondern bei dem Veranstalter des Vergnügens. In einem zweiten Schritt erkannte das Bundesverfassungsgericht die seinerzeit im Gesetz vorgesehene Bemessungsgröße – in erster Linie den gemeinen Wert der Gewinnapparate, hilfsweise einen fester Steuersatz je Stückzahl – als zulässigen Ersatzmaßstab an. Bemerkenswerterweise wies das Bundesverfassungsgericht allerdings schon damals darauf hin, dass der „individuelle, wirkliche Vergnügungsaufwand zweifellos der sachgerechteste Maßstab für eine Vergnügungsteuer“ sei15. Da der tatsächliche Vergnügungsaufwand sich jedoch nach den damaligen Erkenntnissen bei den Spielgeräten nicht zuverlässig erfassen ließe, dürfe auch ein pauschalierender Maßstab gewählt werden, sofern er „einen bestimmten Vergnügungsaufwand wenigstens wahrscheinlich macht, weil ein anderer Maßstab dem Wesen der Vergnügungsteuer fremd, also nicht sachgerecht wäre“16. Diese Voraussetzung sah das Bundesverfassungsgericht beim Maßstab des gemeinen Werts erfüllt, weil die von jedem Aufsteller erstrebte Rentabilität eines Spielapparates vornehmlich von der Häufigkeit seiner Benutzung abhänge, weshalb teure Apparate regelmäßig nur dort aufgestellt würden, wo auch häufig gespielt werde, billige Apparate sich hingegen schon bei einer geringen Zahl von Spielern als wirtschaftlich erwiesen. Auch den Stückzahlmaßstab hielt das Bundesverfassungsgericht in jener Entscheidung für grundsätzlich geeignet, obwohl es ihm eine „gewisse Starrheit“ bescheinigte. Da indes die Erstanschaffungspreise der Spielapparate seinerzeit nur in geringem Umfang differierten, könne angenommen werden, dass an den Apparaten der verschiedenen Bauarten im Durchschnitt etwa gleich häufig
__________ 11 BVerfG v. 10.5.1962 – 1 BvL 31/58, BVerfGE 14, 76. 12 Gesetz v. 16.10.1956 (GV.NW., 295). 13 Zur Fortentwicklung der Rechtsprechung speziell zum Stückzahlmaßstab siehe allerdings u. III. 14 Vgl. BVerfG v. 10.5.1962 – 1 BvL 31/58, BVerfGE 14, 76 (90 f.). 15 Vgl. BVerfG v. 10.5.1962 – 1 BvL 31/58, BVerfGE 14, 76 (93). 16 Vgl. BVerfG v. 10.5.1962 – 1 BvL 31/58, BVerfGE 14, 76 (93).
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gespielt werde, so dass „der herkömmliche lockere Bezug zwischen dem Steuermaßstab und dem Vergnügungsaufwand noch als gewahrt angesehen werden“ könne17. Schließlich entschied das Bundesverfassungsgericht in dem Teilurteil aus dem Jahre 1962 auch die dritte, damals wie heute in Streit stehende Zweifelsfrage dahingehend, dass der Veranstalter den von ihm gezahlten Steuerbetrag entsprechend dem Sinn der herkömmlichen Vergnügungsteuer auf die Benutzer der Veranstaltung abwälzen könne, ohne dass dies durch die gewerberechtlichen Restriktionen der Gewinngestaltung grundsätzlich ausgeschlossen werde18. bb) Mit Beschluss vom 1. April 1971 knüpfte das Bundesverfassungsgericht an sein Teilurteil aus dem Jahre 1962 an, bestätigte die seinerzeitige Rechtsprechung und präzisierte die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Abwälzbarkeit der Steuer auf die Vergnügungssuchenden dahingehend, dass dafür bereits die kalkulatorische Abwälzbarkeit in dem Sinne genüge, dass sie nicht rechtlich oder tatsächlich generell ausgeschlossen sein dürfe19. An dieser Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht in den Folgejahren unbeirrt festgehalten20. Erst mit dem Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 3. Mai 200121 wurde durch die dort in einem obiter dictum zum Ausdruck gebrachten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Stückzahlmaßstabs zu dieser Frage eine Wende in der Rechtsprechung eingeleitet, die zunächst die Fachgerichte erfasste und schließlich in den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Februar 2009 mündete22. b) Bundesverwaltungsgericht und Bundesfinanzhof aa) Die Rechtsprechung der Fachgerichte – namentlich diejenige des Bundesverwaltungsgerichts23 und des Bundesfinanzhofs24 – folgte über Jahrzehnte den Grundsätzen aus der Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1962. Vor allem das Bundesverwaltungsgericht befand die in den jeweili-
__________ 17 18 19 20 21 22 23
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Vgl. BVerfG v. 10.5.1962 – 1 BvL 31/58, BVerfGE 14, 76 (95). Vgl. BVerfG v. 10.5.1962 – 1 BvL 31/58, BVerfGE 14, 76 (95 ff.). BVerfG v. 1.4.1971 – 1 BvL 22/67, BVerfGE 31, 8 (19 ff.). Vgl. etwa BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats v. 1.3.1997 – 2 BvR 1599/89 u. a., NVwZ 1997, 573 sowie BVerfG v. 18.5.1971 – 1 BvL 7, 8/69, BVerfGE 31, 119 (128) zur Besteuerung von Musikautomaten. 1 BvR 624/00 – NVwZ 2001, 1264. Näher dazu im Folgenden unter III. – vgl. BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1. Vgl. BVerwG v. 7.3.1958 – BVerwG VII C 84.57, BVerwGE 6, 247; v. 26.5.1967 – BVerwG VII C 92.65, BVerwGE 27, 146; v. 7.7.1970 – BVerwG VII C 18.68, BVerwGE 36, 16; v. 7.2.1975 – BVerwG VII C 68.72, Buchholz 401.68 Vergnügungsteuer Nr. 19; v. 17.7.1989 – VIII B 159.88, Buchholz 401.68 Vergnügungsteuer Nr. 24; v. 7.7.1993 – BVerwG 8 C 46.93, Buchholz 401.68 Vergnügungsteuer Nr. 25; v. 22.12.1999 – BVerwG 11CN 1.99, BVerwGE 110, 237; v. 22.3.1994 – BVerwG 8 NB 3.93, Buchholz 401.68 Vergnügungsteuer Nr. 26. Vgl. BFH v. 29.3.2006 – II R 59/04, BFH/NV 2006, 1354.
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gen kommunalen Satzungen zur Anwendung kommenden Ersatzmaßstäbe für die Bemessung des Vergnügungsaufwands für verfassungsgemäß25. Zuletzt mit Urteil vom 22. Dezember 1999 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht für das Steuerjahr 1997 die Verwendung eines Stückzahlmaßstabs bei der Erhebung der Spielgerätesteuer als verfassungsgemäß, sofern ein zumindest lockerer Bezug zwischen dem Vergnügungsaufwand und dem Stückzahlmaßstab gewahrt sei26. bb) Eine Wende in der Beurteilung der Zulässigkeit des Stückzahlmaßstabs vollzog die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in zwei Urteilen vom 13. April 200527. Eingeleitet wurde dieser Rechtsprechungsschwenk durch eine Reihe oberverwaltungsgerichtlicher Entscheidungen, in denen diese Gerichte aufgrund eigener Feststellungen zu der Überzeugung gelangt waren, dass die bis dahin nicht ernsthaft hinterfragte Grundannahme für die Zulässigkeit des Stückzahlmaßstabs – der zumindest lockere Bezug zwischen der Anzahl der aufgestellten Automaten und dem Vergnügungsaufwand der Spieler – nicht mehr aufrechterhalten werden könne28. Die Erhebungen der Oberverwaltungsgerichte hatten so gravierende Abweichungen der durchschnittlichen Einspielergebnisse je Spielapparat, abhängig von Aufstellungsort und Spielgerätetyp, ergeben, dass vielfach nicht mehr davon ausgegangen werden konnte, im Durchschnitt werde an allen Spielgeräten ein etwa gleich hoher Vergnügungsaufwand getrieben. Auslöser dieser geänderten Sichtweise waren technische Neuerungen an den Spielgeräten. Das Festhalten an den Gerätestückzahlen als Ersatzmaßstab war zuvor in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wie auch des Bundesverwaltungsgerichts stets auch damit gerechtfertigt worden, dass der jeweilige Vergnügungsaufwand der Spieler als die naheliegende und sachgerechteste Bemessungsgrundlage mangels entsprechender Zähl- und Kontrolleinrichtungen an den Automaten nicht zuverlässig erfasst werden könne29. Seit Ende der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hatte sich nunmehr allerdings die Möglichkeit einer neuen Beurteilungsgrundlage dadurch ergeben, dass mit Beginn des Jahres 1997 in allen Spielgeräten mit Gewinnmöglichkeit aufgrund
__________ 25 Erstanschaffungspreis: BVerwG v. 26.5.1967 – BVerwG VII C 92.65, BVerwGE 27, 146; BVerwG v. 7.2.1975 – BVerwG VII C 68.72, Buchholz 401.68 Vergnügungsteuer Nr. 19; Stückzahl: BVerwG v. 7.7.1970 – BVerwG VII C 18.68, BVerwGE 36, 16; v. 22.12.1999 – BVerwG 11CN 1.99, BVerwGE 110, 237; BVerwG v. 25.1.1995 – BVerwG 8 N 2.93, Buchholz 401.68 Vergnügungsteuer Nr. 28. 26 Vgl. BVerwG v. 22.12.1999 – BVerwG 11CN 1.99, BVerwGE 110, 237 (242). 27 BVerwG v. 13.4.2005 – BVerwG 10 C 5.04, BVerwGE 123, 218; v. 13.4.2005 – BVerwG 10 C 8.04, NVwZ 2005, 1322. 28 OVG Schleswig-Holstein v. 21.1.2004 – 2 LB 53/03, KStZ 2004, 95; OVG Bautzen v. 23.6.2004 – 5 B 278/02, SächsVBl. 2005, 94; VGH Kassel v. 12.8.2004 – 5 N 4228/98, KStZ 2004, 192; OVG Koblenz v. 4.12.2001 – 6 A 11301/99, juris; ohne Einschränkungen am Stückzahlmaßstab hielten zu jener Zeit noch fest OVG Weimar v. 31.7.2003 – OVG 4 ZEO 937/99, LKV 2004, 284; OVG Lüneburg v. 26.1.2004 – 13 LA 397/03, NVwZ-RR 2004, 781. 29 So BVerwG v. 13.4.2005 – BVerwG 10 C 5.04, BVerwGE 123, 218 (222) m. N. zur früheren Rspr.
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einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Hersteller von solchen Unterhaltungsautomaten manipulationssichere Zählwerke eingebaut sein mussten30. In seinem Grundsatzurteil vom 13. April 2005 hielt das Bundesverwaltungsgericht zwar im rechtlichen Ausgangspunkt daran fest, dass der Stückzahlmaßstab ein grundsätzlich tauglicher Ersatzmaßstab für die Bemessung der Spielgerätesteuer sein kann – allerdings nur, solange der angenommene zumindest lockere Bezug zwischen Automatenstückzahl und Vergnügungsaufwand der Spieler nicht widerlegt wird. Diesen Zusammenhang sah das Bundesverwaltungsgericht nur gewahrt, solange das durchschnittliche Einspielergebnis der Gewinnspielautomaten im Geltungsbereich einer Vergnügungsteuer den Gesamtdurchschnitt der Einspielergebnisse der einzelnen Geräte in diesem Gebiet um nicht mehr als 25 % über- oder unterschreitet (50 %Schwankungsbreite)31. Dadurch dass der Bezug zwischen Gerätezahl und Vergnügungsaufwand der Spieler danach nicht mehr nur fiktiv unterstellt, sondern im Streitfall hinterfragt wurde und gegebenenfalls auch zu widerlegen war, stellte das Bundesverwaltungsgericht das Verhältnis zwischen Ersatz- und Wirklichkeitsmaßstab wieder vom Kopf auf die Füße und revolutionierte so die über Jahrzehnte eingespielte kommunale Praxis bei der Erhebung der Spielgerätesteuer. Während das Bundesverwaltungsgericht in den Folgemonaten seine neue Rechtsprechung zur Spielgerätesteuer in weiteren Einzelpunkten ausbaute und die Oberverwaltungsgerichte sie erwartungsgemäß übernahmen32, aber auch der Bundesfinanzhof33 sich ihr rasch anschloss, erfüllte sich die wohl vielerorts gehegte Erwartung, die Kommunen würden nun ebenfalls schnell und umfassend vom Stückzahlmaßstab auf eine wirklichkeitsnähere Bemessungsgröße in ihren Vergnügungsteuersatzungen umschwenken, nicht in gleichem Maße34. Zu groß waren offenbar die Praktikabilitätsvorteile für die Kommunen bei der
__________ 30 Vgl. BVerwG v. 13.4.2005 – BVerwG 10 C 5.04, BVerwGE 123, 218 (222) m. w. N.; für Unterhaltungsgeräte galt dies nicht, was zunächst das Festhalten am alten Stückzahlmaßstab erlaubte: BVerwG v. 14.12.2005 – BVerwG 10 C 1/05, NVwZ 2006, 461. 31 So BVerwG v. 13.4.2005 – BVerwG 10 C 5.04, BVerwGE 123, 218 (226 ff.), wobei das Bundesverwaltungsgericht in diesem Urteil gleich eine Reihe von Fragen zur praktischen Umsetzung dieser neuen Grundsätze klärt – etwa welche Anforderungen an die Ermittlung aussagekräftiger Bezugsgrößen zu stellen sind, wie eine hinreichend verlässliche Datenerhebung auszusehen hat und wie etwaige „Ausreißer“ bei den Gewinnspielautomaten zu berücksichtigen sind; vgl. ferner zu dem den Tatsachengerichten in diesem Zusammenhang zugebilligten weiten Beweiswürdigungsspielraum BVerwG v. 26.9.2007 – BVerwG 9 B 12.07 u. a., NVwZ 2008, 88. 32 Vgl. dazu etwa BVerwG v. 26.9.2007 – BVerwG 9 B 12.07, NVwZ 2008, 88; OVG Bautzen v. 19.12.2006 – 5 BS 242/06, KStZ 2007, 97; OVG Münster v. 6.3.2007 – 14 A 608/05, KStZ 2007, 94 (96); VGH Kassel v. 20.2.2008 – 5 UE 82/07, KStZ 2008, 130; OVG Bautzen v. 24.2.2009 – 5 B 266/08, KStZ 2010, 115 und – 5 B 383/08, KStZ 2010, 113. 33 Vgl. nur BFH v. 1.2.2007 – II B 51/06, BFH/NV 2007, 987 und v. 26.2.2007 – II R 2/05, NVwZ-RR 2008, 55. 34 Vgl. Köster, Der Stückzahlmaßstab bei der Vergnügungssteuererhebung – ein Abschied auf Raten, KStZ 2007, 81.
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Erhebung der Spielgerätesteuer nach einem einfach zu handhabenden Stückzahlmaßstab, dass sie ihn nur gegen hinhaltenden Widerstand aufgeben mochten.
III. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Februar 200935 1. Kernaussagen a) Nahezu zeitgleich mit der Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. April 2005 legte das Finanzgericht Hamburg dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob der Stückzahlmaßstab nach dem Hamburgischen Spielgerätesteuergesetz vom 29. Juni 198836 mit dem Grundgesetz vereinbar ist. In seinem Beschluss vom 4. Februar 2009 gelangt das Bundesverfassungsgericht zu den im Wesentlichen gleichen Ergebnissen wie das Bundesverwaltungsgericht mit allerdings nicht unwichtigen Unterschieden in der verfassungsrechtlichen Begründung und einer deutlich darüber hinausgehenden Schlussfolgerung. Während das Bundesverwaltungsgericht den Stückzahlmaßstab, sofern er sich im Einzelfall wegen einer zu großen Schwankungsbreite der Einspielergebnisse als untauglich erweist, als nicht mehr durch Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG gedeckt ansah, stellt das Bundesverfassungsgericht nunmehr klar, dass die Spielgerätesteuer ausgehend von ihrem Charakter als Aufwandsteuer unabhängig vom Stückzahlmaßstab in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fällt37. Solange eine Spielgerätesteuer nach ihrer normativen Ausgestaltung dem Typus einer Aufwandsteuer im Sinne des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG entspricht, lassen Zweifel an der Tauglichkeit des Steuermaßstabs oder der Abwälzbarkeit der Steuer auf den Verbraucher als den eigentlichen Adressaten der Steuerlast die Gesetzgebungskompetenz der Länder unberührt. Ob der Landesgesetzgeber sich mit dem Erlass eines Steuergesetzes im Rahmen der finanzverfassungsrechtlichen Kompetenzgrundlage hält, hängt danach allein vom Charakter der geschaffenen Steuer ab. Von Einfluss auf die kompetenzielle Einordnung einer Steuer ist der Besteuerungsmaßstab folglich nur, soweit er deren Typus prägt38, nicht hingegen im Hinblick auf seine sonstige Eignung, den Besteuerungsgegenstand in jeder Hinsicht leistungsgerecht zu erfassen. Entsprechendes gilt für die Frage nach der Abwälzbarkeit der Steuer auf die Spieler, die sich durch die indirekte Erhebung beim Halter der Spielgeräte als Steuerschuldner stellt, wie es dem herkömmlichen Bild der Spielge-
__________ 35 BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1. 36 Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt, S. 97 in der Fassung der Änderung v. 7.12.1994 (HmbGVBl., 363). 37 BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (14 ff.). 38 Mit dieser Formulierung (BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 [17]) schließt das BVerfG einen Einfluss des Besteuerungsmaßstabs auf die Gesetzgebungskompetenz nicht völlig aus.
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rätesteuer entspricht39. Es würde der auf Formenklarheit und Formenbindung angelegten und angewiesenen Finanzverfassung zuwiderlaufen, wenn Steuern dann ihre Kompetenzgrundlage verlören, wenn sie etwa überhöht oder sonst untauglich bemessen werden40. Die Tauglichkeit des Stückzahlmaßstabs diskutiert das Bundesverfassungsgericht folglich als Gleichheitsproblem. Ausgehend von seiner bisherigen Rechtsprechung, wonach die Spielgerätesteuer als Aufwandsteuer darauf zielt, die mit der Einkommensverwendung für das Vergnügen zum Ausdruck kommende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Spielers zu belasten41, bestätigt das Bundesverfassungsgericht zunächst seinen bekannten Standpunkt, dass der Normgeber statt eines Wirklichkeitsmaßstabs auch einen Ersatz- oder Wahrscheinlichkeitsmaßstab wählen kann, sofern er hierfür ausreichend tragfähige Sachgründe – etwa der Verwaltungsvereinfachung – anführen kann, und soweit dieser Ersatz- oder Wahrscheinlichkeitsmaßstab einen bestimmten Vergnügungsaufwand wenigstens wahrscheinlich macht. Denn ein anderer Maßstab wäre dem Wesen der Vergnügungsteuer fremd, also nicht sachgerecht und deshalb mit dem Grundsatz der Belastungsgleichheit nicht zu vereinbaren. Der Ersatzmaßstab einer Spielgerätesteuer muss deshalb jedenfalls einen – und hier greift das Bundesverfassungsgericht auf die schon bisher in der Rechtsprechungspraxis eingeführte Kohärenzformel zurück – zumindest lockeren Bezug zu dem Vergnügungsaufwand des Spielers aufweisen, der die Erfassung seines Vergnügungsaufwands wenigstens wahrscheinlich macht42. Was nun die Tauglichkeit des Stückzahlmaßstabs für eine gleichheitsgerechte Besteuerung der Spielgerätehalter und damit letztlich auch der Spieler betrifft, schließt sich das Bundesverfassungsgericht im Ausgangspunkt der Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts an, geht aber in seinen rechtlichen Schlussfolgerungen noch einen wesentlichen Schritt weiter. Ausgehend von den Feststellungen des Finanzgerichts Hamburg, das für die Jahre 1997 bis 1999 exorbitante Schwankungen von bis zu mehreren 100 Prozentpunkten zwischen den Einspielergebnissen zahlreicher Spielgeräte festgestellt hatte, konstatiert das Bundesverfassungsgericht eine Gleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachverhalte durch den Stückzahlmaßstab43. Ein Bezug zum Vergnügungsaufwand des einzelnen Spielers sei bei diesem Maßstab nicht mehr gewährleistet. Damit gibt das Bundesverfassungsgericht seinen insoweit ab-
__________ 39 Dies liest sich noch etwas anders in BVerfG v. 10.5.1962 – 1 BvL 31/58, BVerfGE 14, 76 (95 ff.) und BVerfG v. 1.4.1971 – 1 BvL 22/67, BVerwGE 31, 8 (19 ff.), wo das BVerfG die Frage der Abwälzbarkeit jeweils im Rahmen der Prüfung von Art. 105 Abs. 2 GG abhandelt. 40 So BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (17) unter Verweis auf BVerfGE 108, 1 (14). 41 Vgl. BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (20) m. N. zur früheren Rechtsprechung. 42 So BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (21) m. N. zur Rechtsprechung von BVerfG, BVerwG und BFH. 43 Vgl. BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (23 ff.).
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weichenden Standpunkt aus den Entscheidungen der Jahre 1962 und 197144 ausdrücklich auf und stützt sich hierbei – wie Bundesverwaltungsgericht und Bundesfinanzhof auch – auf die seit 1997 eröffneten neuen Erkenntnismöglichkeiten zu dem bei den einzelnen Spielgeräten getätigten Aufwand. Bei dieser Gelegenheit weist auch das Bundesverfassungsgericht die insbesondere von den Kommunen und der Finanzverwaltung in zahlreichen Verfahren immer wieder vorgebrachten Einwände gegen die Manipulationssicherheit der in den Gewinnspielautomaten eingebauten Zählwerke und damit gegen die Aussagekraft der hierauf gestützten neuen Erhebungen als nicht überzeugend zurück45. Neu und mutig ist die Schlussfolgerung, die das Bundesverfassungsgericht aus den Feststellungen des Finanzgerichts Hamburg und den zum Zeitpunkt seiner Entscheidung bereits zahlreichen fachgerichtlichen Erkenntnissen hierzu zieht. Es hält den Stückzahlmaßstab nicht nur im Falle des vorgelegten Vergnügungsteuergesetzes der Stadt Hamburg für verfassungswidrig, sondern für strukturell und damit auch in anderen Fällen generell ungeeignet zur Bemessung der Spielgerätesteuer, weil er allenfalls in mehr oder weniger zufälligen Einzelkonstellationen den nach dem Gebot der steuerlichen Lastengleichheit geforderten, hinreichenden Bezug zwischen der Steuerbemessung und dem Vergnügungsaufwand des Spielers sicherzustellen vermag. Dies begründet das Bundesverfassungsgericht zum einen mit den Erkenntnissen der vorliegenden Rechtsprechung, in der in keinem einzigen Fall der gebotene zumindest lockere Bezug mit dem erhobenen Zahlenmaterial positiv habe belegt werden können. Zum anderen seien die mit dem Nachweis des hinreichend engen Bezugs verbundenen Schwierigkeiten und die Unsicherheiten für den dauerhaften Bestand eines solchen Bezugs, selbst wenn er für einen bestimmten Zeitraum festgestellt werden könnte, so erheblich, dass die Verwendung eines solchen Maßstabs weder dem Steuerpflichtigen noch dem Steuerträger zugemutet werden könne und auch für die Steuerverwaltung nicht praktikabel sei46. Das Bundesverfassungsgericht verwirft schließlich sämtliche Argumente, mit denen in der Vergangenheit versucht worden war, den Ersatzmaßstab zu rechtfertigen, als nicht (mehr) tragfähig47. Insbesondere die von den Kommunen und der Finanzverwaltung angeführten Praktikabilitätsvorteile des Stückzahlmaßstabs könnten die Beeinträchtigungen des Grundsatzes der gleichen Lastenzuteilung jedenfalls nicht in dem Umfang rechtfertigen, wie er angesichts der festgestellten Schwankungen in den Einspielergebnissen zu erwarten sei48. b) Anders als zum Stückzahlmaßstab hält das Bundesverfassungsgericht in dem Beschluss vom 4. Februar 2009 an seiner Rechtsprechung zur Abwälzbarkeit der Spielgerätesteuer ausdrücklich fest. Es bekräftigt, dass die indirekt beim Spielgerätehalter erhobene Steuer, da sie ihre innere Rechtfertigung durch die
__________
44 Vgl. BVerfG v. 10.5.1962 – 1 BvL 31/58, BVerfGE 14, 76 (95); BVerfG v. 1.4.1971 – 1 BvL 22/67, BVerwGE 31, 8 (26); BVerfG v. 18.5.1971 – 1 BvL 7, 8/69, 31, 119 (127) zu Musikautomaten. 45 Vgl. BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (27 f.). 46 Vgl. BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (29 ff.). 47 Vgl. BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (32 ff.). 48 Vgl. BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (33).
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Besteuerung des Vergnügungsaufwands des Spielers erhält, auf diesen grundsätzlich abwälzbar sein muss. Es hält dafür aber nach wie vor die Möglichkeit einer kalkulatorischen Überwälzung in dem Sinne für ausreichend, dass der Steuerpflichtige den von ihm gezahlten Betrag in die Kalkulation seiner Selbstkosten einsetzen und hiernach die zur Aufrechterhaltung der Wirtschaftlichkeit seines Unternehmens geeigneten Maßnahmen treffen kann. Danach reiche es aus, wenn die Steuer auf eine Überwälzung der Steuerlast vom Steuerschuldner auf den eigentlichen Steuerträger angelegt sei, auch wenn die Überwälzung nicht in jedem Einzelfall gelinge49. Diese Voraussetzungen sieht das Bundesverfassungsgericht im Falle der Spielgerätesteuer erfüllt, ungeachtet der gewerberechtlichen, insbesondere durch die Spielverordnung festgelegten Restriktionen, die den unternehmerischen Kalkulationsmöglichkeiten des Spielgerätehalters Schranken setzen. Denn die Spielräume der Unternehmer als Steuerschuldner seien durch die konkrete Ausgestaltung der Spielgerätesteuer und die Bedingungen der Spielverordnung nicht in einer Weise begrenzt, die ihnen die Überwälzung der Steuerlast auf die Spieler, etwa auf der Grundlage einer Erhöhung des Umsatzes oder der Senkung der Selbstkosten, rechtlich oder tatsächlich unmöglich machten. Dies sei zumindest solange nicht der Fall, wie der Spieleinsatz den Steuerbetrag und die sonstigen notwendigen Unkosten für den Betrieb des Spielgerätes deckten und in der Regel noch Gewinn abwerfe. So bleibe dem Unternehmer auch unter der Geltung des Hamburgischen Spielgerätesteuergesetzes und der Spielverordnung die Möglichkeit, etwa durch die Auswahl geeigneter Standorte sowie durch eine entsprechende Gestaltung und Ausstattung der Spielhallen auf eine Umsatzsteigerung hinzuwirken und die Selbstkosten auf das unbedingt erforderliche Maß zu beschränken, um nicht nur die Steuer, sondern auch noch einen Gewinn erwirtschaften zu können50. 2. Bewertung – offen gelassene Fragen a) Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Februar 2009 bewegt sich einerseits in der Kontinuität seiner Rechtsprechung seit dem Jahre 1962, weist auf der anderen Seite aber auch deutlich darüber hinaus, indem er den Stückzahlmaßstab bei der Spielgerätesteuer generell für von Verfassungs wegen ungeeignet erklärt. Diese Schlussfolgerung des Bundesverfassungsgerichts ist erkennbar von dem Ziel geleitet und wird damit auch ausdrücklich begründet51, die mit der Rechtsprechungsänderung des Bundesverwaltungsgerichts verbundenen Ermittlungsschwierigkeiten, offenen Fragen und die zu befürchtende Rechtsunsicherheit bei Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse zu vermeiden. Durch den Ausschluss des Stückzahlmaßstabs als generell verfassungswidrig ist dies jedenfalls für die Zukunft gelungen.
__________ 49 Vgl. BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (35) unter Bezugnahme auf BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99 u. a., BVerfGE 110, 274 (295). 50 So BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (36 f.) unter Verweis auf BFH/NV 2006, 1354 (1357). 51 Vgl. BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (31 f.).
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b) Es bleibt abzuwarten, ob die Rechtsbereinigungsabsicht in gleicher Weise für die zweite Dauerbaustelle der Spielgerätesteuer von Erfolg gekrönt ist, nämlich den Streit um ihre Abwälzbarkeit. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht insoweit mit der Bestätigung eines weitgehend pauschalierenden Maßstabs versucht, die Abwälzbarkeitsdebatte von der primär rechtlichen auf die Ebene unternehmerisch erfolgreichen Wirtschaftens zu verlagern. Ob damit ein endgültiger Schlusspunkt gesetzt werden konnte, wird abzuwarten bleiben und letztlich entscheidend von der weiteren Entwicklung der Höhe der Spielgerätesteuer abhängen52, zu der sich das Bundesverfassungsgericht ebenfalls einer Aussage enthalten hat. c) Die Frage, anhand welcher Kenngrößen künftig der gebotene wirklichkeitsnähere Maßstab für die Spielgerätesteuer zu bestimmen ist, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich offen gelassen53. Es hat dem Gesetzgeber für die Aufgabe, einen sachgerechten Maßstab zur Bemessung des Vergnügungsaufwandes und der darin zum Ausdruck kommenden Leistungsfähigkeit der Spieler zu bestimmen, einen weiten Gestaltungsspielraum eingeräumt. Unter Bezugnahme auf die nach der Rechtsprechungsänderung des Bundesverwaltungsgerichts in der Diskussion befindlichen Ansätze für einen neuen Maßstab hat es sowohl die Einspielergebnisse, also die Spieleinsätze abzüglich der ausgeschütteten Gewinne, aber auch die Spieleinsätze insgesamt als grundsätzlich geeigneten Maßstab angesehen und auch offen gelassen, ob hiervon jeweils die Vergnügungsteuer selbst wiederum zum Abzug gebracht werden müsste54. d) Bewusst einer Aussage enthalten, weil für die Vorlagefrage nicht entscheidungserheblich, hat sich das Bundesverfassungsgericht schließlich zu den von der Spielgerätesteuer im Zusammenhang mit der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) aufgeworfenen Fragen55 und zu den europarechtlichen Implikationen der Spielgerätesteuer56.
__________
52 Vgl. dazu Gerhard/Brandt, Die Besteuerung von „Vergnügungen“ – ein Vergnügen für die Gemeinden?, VBlBW 2010, 302 (302 und 305 f.). 53 Vgl. BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (25 ff.); zur der Frage, in welche Richtung die kommunale Praxis nun steuert, vgl. Gerhard/Brandt, VBlBW 2010, 302 (304). 54 Vgl. BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (26). 55 Vgl. BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (37) unter Hinweis auf BVerfG v. 1.4.1971 – 1 BvL 22/67, BVerfGE 31, 8 (26 ff.); BVerfG 3. Kammer des Zweiten Senats v. 1.3.1997 – 2 BvR 1599/89 u. a., NVwZ 1997, 573 (575); 3. Kammer des Ersten Senats v. 3.5.2001 – 1 BvR 624/00, NVwZ 2001, 1264. 56 Hier geht es zum einen um die in der Rechtsprechung auch bei einem proportionalen Maßstab durchweg verneinte Frage, ob die Spielgerätesteuer den Charakter einer Umsatzsteuer aufweist und demzufolge den europarechtlichen Vorgaben für die Umsatzsteuer unterfiele (vgl. nur BVerwG v. 10.12.2009 – BVerwG 9 C 12.08, juris Rz. 37 und BFH v. 22.4.2010 – V R 26/08, juris Rz. 14) und darum, ob es mit Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, dass Geldspielautomaten in öffentlich zugelassenen Spielbanken von der Umsatzsteuer befreit waren, Automaten an anderen Aufstellorten hingegen nicht (vgl. hierzu EuGH v. 17.2.2005 – Rs. C-453/02 und C-462/02 – Linneweber und Akretidis – Slg. 2005, I-1131 sowie neuestens EuGH v. 10.6.2010 – Rs. C-58/09 – Leo-Libera, juris – zu der Frage, ob ausschließlich Wetten und Lotterien von der Umsatzsteuer befreit werden dürfen, nicht aber sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz.
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IV. Wie geht es weiter? 1. Kammerbeschluss vom 3. September 2009 Mit zwei wichtigen Folgefragen zu der Senatsentscheidung vom 4. Februar 2009 befasst sich ein Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 3. September 200957. a) Rückwirkende „Reparatur“ verfassungswidriger Steuersatzungen In diesem Beschluss bejaht das Bundesverfassungsgericht zunächst die praktisch bedeutsame Frage, ob die Gemeinde ihre Vergnügungsteuersatzung, die wegen der Wahl des nunmehr als verfassungswidrig erkannten Stückzahlmaßstabs unwirksam ist, mit echter Rückwirkung durch eine neue – hier nach dem Spieleinsatz bemessene – Vergnügungsteuersatzung ersetzen kann. Diese für die rückwirkende „Heilung“ von Beitrags- und Gebührensatzungen anerkannte Rechtsprechung erstreckt das Bundesverfassungsgericht hier auf den Bereich der kommunalen Steuern. Sofern in der Vergangenheit bereits gleichartige Regelungsversuche einer Besteuerung vorausgegangen sind, kann für den Fall, dass diese an erheblichen, vielfach auch nur formalen Fehlern leidet, ein schutzwürdiges Vertrauen darauf, von einer solchen Abgabe verschont zu werden, nicht entstehen. Der Bürger kann mit anderen Worten wegen des auch von einer letztlich als ungültig erkannten Norm regelmäßig ausgehenden Rechtsscheins ihrer Wirksamkeit und mit Rücksicht auf den in ihr zum Ausdruck gekommenen Rechtssetzungswillen des Normgebers nicht stets darauf vertrauen, von einer entsprechenden Regelung jedenfalls für den Zeitraum dieses Rechtsscheins verschont zu bleiben58. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Neuregelung den Charakter und die wesentliche Struktur der von Anfang beabsichtigten Abgabe unberührt lässt59. Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Bundesverfassungsgericht die vier Jahre in die Vergangenheit zurückreichende Inkraftsetzung einer neuen Vergnügungsteuersatzung als verfassungsgemäß angesehen, die den früheren Stückzahlmaßstab durch einen am Spieleinsatz orientierten Maßstab ersetzte, zugleich aber eine Klausel enthielt, dass es rückwirkend zu keiner finanziellen Schlechterstellung der Steuerschuldner kommen dürfe. b) Mindest- und Höchstsätze Während die Rückwirkungsproblematik beim Wechsel vom Stückzahl- zu einem wirklichkeitsnahen Maßstab aller Voraussicht nach nur für eine Übergangszeit gehäuft auftreten wird, hat die zweite im Beschluss der 1. Kammer
__________
57 BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2384/08, NVwZ 2010, 313 (im Folgenden zitiert nach juris). 58 So in Präzisierung der bekannten Fallgruppenumschreibung aus BVerfG v. 19.12.1961 – 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261 (271 f.) jetzt der Kammerbeschluss BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2384/08, NVwZ 2010, 313, Rz. 19 und 22. 59 BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2384/08, NVwZ 2010, 313, Rz. 22.
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des Ersten Senats angesprochene Frage Bedeutung weit über diesen Übergangszeitraum hinaus, denn sie betrifft die Reichweite des Maßstabwechsels insgesamt. Im Ausgangsfall hatte eine baden-württembergische Gemeinde nach der Rechtsprechungsänderung durch die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 2005 seine Vergnügungsteuersatzung in der Weise neu gefasst, dass Geldspielgeräte mit 15 % der Einspielergebnisse besteuert wurden, mindestens jedoch mit 60 Euro und höchstens 120 Euro je Gerät und Monat. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass im Grunde weder der Mindestnoch der Höchststeuersatz mit den im Senatsurteil vom 9. Februar 2009 herausgearbeiteten Grundsätzen einer gleichheitsgerechten Besteuerung vereinbar ist60. In beiden Fällen sieht das Bundesverfassungsgericht jedoch die mit den festen Steuersätzen einhergehende Ungleichbehandlung der Steuerschuldner durch hinreichend gewichtige Sachgründe gerechtfertigt. Der Mindeststeuersatz verfolge ein legitimes Lenkungsziel, indem er dadurch zur Eindämmung der Spielsucht beitragen solle, dass keine Spielgeräte mehr an schwächer frequentierten Standorten lohnend betrieben werden könnten61. Der Höchststeuersatz war nur für den Zeitraum der rückwirkenden „Reparatur“ der früher allein nach dem Stückzahlmaßstab erhobenen Steuer festgesetzt worden und dadurch gerechtfertigt, dass er aus Gründen des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes im Nachhinein eine höhere Steuerbelastung ausschließen sollte62. Zwar „hält“ das Bundesverfassungsgericht danach also beide Regelungen als verfassungsgemäß, macht zugleich aber deutlich, dass diese festen Steuersätze nur ausnahmsweise mit einem hinreichend gewichtigen Sachgrund neben einem wirklichkeitsnahen Maßstab angeordnet, diesen aber keinesfalls konterkarieren dürfen. Für den Mindeststeuersatz hat das Bundesverfassungsgericht dies wie folgt umschrieben: „Der mit der Mindeststeuer zulässigerweise erstrebte Lenkungszweck der Eindämmung der Spielsucht durch Verminderung der Zahl der aufgestellten Spielgeräte darf nicht dazu führen, dass das Ziel einer gleichheitsgerechten Erfassung des Vergnügungsaufwands des Spielers an Geldspielgeräten insgesamt nicht mehr erreicht wird. Die Mindeststeuer darf deshalb nicht den oberhalb der Mindeststeuer durch prozentuale Besteuerung des Einspielergebnisses geschaffenen Wirklichkeitsmaßstab in seiner tatsächlichen Besteuerungswirkung infrage stellen“63. Für den Höchststeuersatz war außer dem Vertrauensschutz in Rückwirkungsfällen kein sachlicher Rechtfertigungsgrund erkennbar64; daran dürfte sich auch in Zukunft wohl nichts ändern65.
__________ 60 61 62 63 64 65
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BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2384/08, NVwZ 2010, 313, Rz. 38 und 49. BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2384/08, NVwZ 2010, 313, Rz. 41 ff. BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2384/08, NVwZ 2010, 313, Rz. 50 ff. BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2384/08, NVwZ 2010, 313, Rz. 45. BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2384/08, NVwZ 2010, 313, Rz. 51 f. Großzügiger ist insoweit womöglich BVerwG v. 11.3.2010 – BVerwG 9 B 2.09, juris Rz. 19 ff.; vgl. zu dieser Frage auch Gerhard/Brandt, VBlBW 2010, 302 (306).
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2. Ausblick Die Rezeption des Grundsatzbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2009 durch die Kommunen und die Fachgerichte ist gegenwärtig noch in vollem Gange. Dies spiegelt sich in zahlreichen Gerichtsentscheidungen wieder, die sich mit verschiedenen Umstellungsfragen, dabei vor allem mit der Ausgestaltung des neuen wirklichkeitsnäheren Maßstabs für die Spielgerätesteuer befassen66. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die frühe und intensive Rechtsprechungstätigkeit der Finanzgerichte, insbesondere des Bundesfinanzhofs, die das Feld der Vergnügungsteuer in den früheren Jahrzehnten weitgehend den Verwaltungsgerichten überlassen hatten. Bemerkenswert ist freilich auch der weitgehende Gleichklang zwischen Bundesfinanzhof und Bundesverwaltungsgericht in den vom Vergnügungsteuerrecht nunmehr zum Besteuerungsmaßstab aufgeworfenen Fragen. So stimmen beide Revisionsgerichte in nahezu zeitgleich ergangenen Entscheidungen darin überein, dass der Spieleinsatz eine verfassungsrechtlich zulässige Bemessungsgrundlage ist, zu dem nicht nur die in die Spielautomaten eingeworfenen Bargeldbeträge, sondern auch Gewinne zählen, soweit sie sich der Spieler nicht auszahlen lässt, obwohl er dies könnte, sondern unmittelbar zum Weiterspielen verwendet67. Beide Revisionsgerichte stimmen auch darin überein, dass es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist, wenn weder die Vergnügungsteuer selbst noch die Umsatzsteuer aus dem Spieleinsatz als Bemessungsgröße vorab herausgerechnet werden68. Schließlich werden auch die Fragen der Abwälzbarkeit der Spielgerätesteuer und ihrer Verschiedenartigkeit zur Umsatzsteuer von beiden Revisionsgerichten in der Sache übereinstimmend beantwortet69. Dieser Gleichklang zwischen den beiden, weitgehend zeitgleich über dieselben Fragen judizierenden Revisionsgerichte spricht für sie, dient der Rechtssicherheit, spiegelt aber wohl auch die Tragfähigkeit der verfassungsrechtlichen Vorgaben durch das Bundesverfassungsgericht wieder und dürfte damit ganz im Sinne des durch diese Festschrift zu Ehrenden liegen, dem Augenmaß und
__________ 66 OVG Schleswig-Holstein v. 10.8.2009 – 2 LB 42/08, NVwZ-RR 2009, 973; v. 10.8.2009 – 2 LB 38/08, juris; OVG Nordrhein-Westfalen v. 3.12.2009 – 14 A 3281/07, ZKF 2010, 47; BVerwG v. 10.12.2009 – BVerwG 9 C 12/08, NVwZ 2010, 784; FG Hamburg v. 28.7.2009 – 2 V 90/09, juris; v. 9.10.2009 – 2 K 208/09, 142/09, 208/09, juris; BFH v. 27.11.2009 – II B 75/09 und II B 102/09, juris; FG Münster v. 16.2.2010 – 15 K 5246/06 U, EFG 2010, 988; BFH v. 19.2.2010 – II B 122/09, BFH/NV 2010, 1144 (im Folgenden zitiert nach juris); FG Hamburg v. 13.4.2010 – 2 K 11/09, juris; BFH v. 22.4.2010 – V R 26/08, juris (zur Frage, ob die Vergnügungsteuer aus der Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuer herauszurechnen ist). 67 BFH v. 27.11.2009 – II B 102/09, juris Rz. 24, und vom selben Tag – II B 75/09, juris Rz. 21 f.; v. 19.2.2010 – II B 122/09, juris Rz. 16 ff.; v. 13.4.2010 – II K 11/09 – juris Rz. 19; ebenso BVerwG v. 10.12.2009 – BVerwG 9 C 12/08, juris Rz. 24. 68 Vgl. nur BVerwG v. 10.12.2009 – BVerwG 9 C 12/08, juris Rz. 24; BFH v. 19.2.2010 – II B 122/09, jurisRz. 29 f. 69 Vgl. auch insoweit wiederum die neuesten Entscheidungen BFH v. 19.2.2010 – II B 122/09, juris Rz. 31 ff. und Rz. 44 ff. sowie BVerwG v. 10.12.2009 – BVerwG 9 C 12/08, juris, Rz. 27 ff. und Rz. 36 f.
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Praxistauglichkeit der Rechtsprechung stets gleichermaßen ein Anliegen waren wie deren verfassungsrechtliche Konsistenz. Inwieweit die Spielgerätehalter und die Automatenhersteller mit der neuen Entwicklung, die sie gezielt durch zahlreiche Klagen angestoßen haben, zufrieden sind, steht auf einem anderen Blatt. Dass ihre Gruppe insoweit heterogen zusammengesetzt ist, manche von ihnen von dem bekämpften Stückzahlmaßstab durchaus profitiert haben, wurde in den großen Prozessen der vergangenen Jahre offenkundig. Die Kommunen jedenfalls nutzen nun offenbar die erzwungene Umstellung auf eine neue Bemessungsgrundlage zur Generierung höherer Steuereinnahmen70.
__________ 70 Vgl. Gerhard/Brandt, VBlBW 2010, 302 (306).
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Geltung der IFRS als Verfassungsproblem? Inhaltsübersicht I. Rechtfertigung des Themas und Widmung II. IFRS – Begriff und Bedeutung III. Funktion und strukturelle Kopplung IV. Steuerrechtliche Geltungsanordnung? 1. Sedes materiae: Regelung über die Zinsschranke 2. Konsolidierungsrecht und Konsolidierungspflicht
V. Handelsrechtliche Geltungsanordnung 1. Europarechtliche Pflicht zum Abschluss nach IFRS 2. Originär handelsrechtliche Regelung für Abschlüsse nach den IFRS – europarechtliches Wahlrecht? a) Rechtsqualität b) Dynamische Verweisung und Kompetenz-Kompetenz c) Geteilte Zuständigkeit und europarechtliches Wahlrecht VI. Zusammenfassung und Ergebnis
I. Rechtfertigung des Themas und Widmung Diese Arbeit ist Wolfgang Spindler gewidmet, mit dem der Verfasser seit genau zwanzig Jahren zusammenarbeitet. Es war im Frühjahr 1991, als Wolfgang Spindler als frisch gewählter Bundesrichter in den IX. Senat kam, in dem der Verfasser als wissenschaftlicher Mitarbeiter bereits wirkte. Wolfgang Spindler war seinerseits am Bundesverfassungsgericht wissenschaftlicher Mitarbeiter, hatte (und hat) für die Belange dieser „Subspezies“ in der Gerichts-Hierarchie großes Verständnis und eröffnete neue Kommunikationshorizonte. Der archimedische Punkt seines Denkens liegt im Verfassungsrecht1. Bis man sich in einer Fachgerichtsbarkeit allerdings mit verfassungsrechtlichen Fragen auseinander setzen kann, muss man sich zu allererst um das „einfache“ Recht bemühen. Eine um die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung ringende Interpretation des Gesetzes ist also vorrangig und so hat auch Wolfgang Spindler ebenso wie der Verfasser in langjähriger bundesrichterlicher Tätigkeit erfahren müssen, dass eine saubere Arbeit am Gesetz selbst so manches verfassungsoder europarechtliche Problem zur Makulatur hat werden lassen, auf das z. B. Protagonisten aus der steuerrechtlichen Wissenschaft etwas „vorschnell“ ge-
__________ 1 Siehe aus dem reichhaltigen literarischem Schaffen z. B. Spindler, Steuerrecht und Verfassungsrecht, eine Bestandsaufnahme, in FS Spiegelberger, 2009, S. 471; ders., Rückwirkung von Steuergesetzen, in DStJG 28 (2004), S. 70 ff.
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sprungen sind2. Genau dies ist im Grunde genommen die Intention dieses Beitrags aus einem etwas abseitigen Themenbereich, der aber bei ständig zunehmender Bedeutung des Gemeinschaftsrechts immer stärker in den Fokus geraten wird. Triebfeder unseres Handelns ist ein prinzipiengeleitetes Recht3 und die Reduzierung von Komplexität, die wir hier mit der strukturellen Kopplung verschiedener Systeme (siehe 2.) finden. Es leitet uns ein Gedanke Friedrich Nietzsches über das Recht: „Das Logischste ist dann jedenfalls das Annehmbarste, weil es das Unparteilichste ist“4.
II. IFRS – Begriff und Bedeutung Die International Financial Reporting Standards (IFRS) finden im Zuge stetig umgreifender Globalisierung und internationaler Verflechtung wirtschaftlicher Prozesse immer größeren Zuspruch, nicht nur in Europa, sondern auch in Asien5. Sie werden durch eine private Organisation, das International Accounting Standards Board (IASB) mit dem Sitz in London, entwickelt, die sich aus Experten der wichtigsten Industriestaaten unterschiedlicher beruflicher Herkunft (z. B. Wirtschaftsprüfer, Bilanzersteller, Finanzanalysten und Hochschullehrer) zusammensetzt und die ihrerseits zu einer unabhängigen privaten Dachorganisation, der International Accounting Standard Committee Foundation (IASCF) in Delaware (USA) gehört. Weitere Untergremien dieser Dachorganisation neben der IASB sind die Treuhänder (Trustees), das International Financial Reporting Committee (IFRIC) und der Standards Advisory Council (SAC), der das IASB berät. Diese hier nur in groben Zügen dargestellte Organisationsstruktur6 lässt nun nicht gerade eine Rechtsgeltung vermuten oder gar ein Verfassungsproblem erahnen. Indes hat das, was das IASB produziert, die Rechnungslegungsstandards, die ganz unabhängig davon, wie sie selbst einzuordnen sind, normativen Charakter allein schon dadurch, dass Rechtsnormen darauf verweisen. Solche Rechtsnormen finden sich z. B. im Steuerrecht in § 4h EStG und im Handelsrecht, § 315a HGB. Evident ist auch, dass die jeweiligen Standards als solche nicht als Normen i. S. des § 4 AO anerkannt werden können. Das IASB ist ein privates Gremium und kein demokratisch legitimierter Gesetzgeber. Es repräsentiert keine pluralistischen Interessen7, nimmt aber in einem speziellen Verfahren externe Entwicklungen in der internationalen Wirtschaft auf und setzt sie in Standards um. Wo die Unterschiede zu den
__________ 2 Bedeutungsvoll hierzu etwa die Beschäftigung „unseres“ IX. Senats mit Rechtfragen im Zusammenhang mit § 3c Abs. 2 EStG, vgl. grundlegend BFH-Urteil v. 27.10.2005 – IX R 15/05, BFHE 211, 273 = BStBl. II 2006, 171; sowie BFH-Urteil v. 25.6.2009 – IX R 42/08, BFHE 225, 445 = BStBl. II 2010, 220 und BFH-Beschluss v. 18.3.2010 – IX B 227/09, BFHE 229, 177, BStBl. II 2010, 627. 3 Z. B. Spindler, Werte im Steuerrecht, Stbg 2010, 49 ff. 4 Friedrich Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches, Erster Band, Nr. 459 (kursiv im Original). 5 Max Dietrich Klein, FAZ v. 31.12.2007. 6 Einzelheiten siehe z. B. www.iasb.org oder www.ifrs-portal.com. 7 Peter M. Huber, AöR 133 (2008), 389 (391); grundlegend Kirchhof, ZGR 2000, 681 (687 ff.).
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Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung liegen, werden wir im Folgenden noch auszuführen haben.
III. Funktion und strukturelle Kopplung Wichtig für unsere weiteren Erörterungen ist aber nicht, was IFRS sind. Nicht eine rechtsontologische Frage steht also im Mittelpunkt. Vielmehr muss sich unser Interesse an der Funktion dessen ausrichten, was IFRS bedeuten. Und hier können wir zunächst beobachten, dass diese Rechnungslegungsstandards im Schnittbereich mehrerer Systeme zu verorten sind. Wir können die IFRS als strukturelle Kopplung von mindestens drei Systemen ausmachen. Da ist zunächst das System der (internationalen) Wirtschaft. Ich produziere Maschinen nicht nur im Inland, sondern über Tochtergesellschaften auch im Ausland, z. B. in Spanien oder den USA. Hier will ich einen vergleichbaren Überblick über das investierte Kapital im Inland wie auch im Ausland bekommen. Und dieses Ziel kann ich nur erreichen, wenn in den entsprechenden Bilanzen nach gleichen Maßstäben angesetzt und bewertet wird. Andererseits ist da die europäische Rechtsordnung, in welche die Standards eingebunden sind. Es mag dahinstehen, in welchem Stadium sich dieses System befindet, ob es lediglich ein Staatenbund oder ein schon entstehender (werdender) Staat ist8. Jedenfalls handelt es sich um ein eigenständiges und autopoietisches System mit originärer Systemreferenz und Innen-Außen-Betrachtung. Schließlich sind die IFRS Bestandteil unseres eigenen nationalen Systems mit dem Bundesverfassungsgericht als dem Hüter der von ihm gefundenen Verfassungsidentität und der Integrationsverantwortung als Selbstbeschreibung. Strukturelle Kopplung mit nationaler, supranationaler und internationaler Dimension. Dadurch wird Komplexität reduziert: Gleiche Rechnungslegungsstandards auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Bezügen. Aus dieser Beobachtung lässt sich zugleich erkennen, dass eine Geltung der IFRS verfassungs- und europarechtliche Fragestellungen aufwirft.
IV. Steuerrechtliche Geltungsanordnung? Aber argumentieren wir zunächst rein „einfachrechtlich“. Bevor wir nämlich Verfassungs- und Europarecht bemühen, müssen die Subsumtionsvorgänge auf der Ebene der Gesetzesanwendung „stimmen“. Hier erledigt sich – wie jeder von uns weiß oder erfahren musste – ein Großteil der Probleme. Das Steuerrecht zitiert die IFRS. Gerade – und schon – hier wird die Legitimation des Verweises in Frage gestellt. Es soll sich bei den IFRS nicht um Rechtsnormen handeln9. Ferner sieht man im Verweis auf diese Rechnungslegungsstandards eine sog. dynamische Verweisung, mit der das Besteuerungsrecht partiell,
__________ 8 Vgl. dazu die interessanten ideengeschichtlichen Ausführungen zur parallelen Entwicklung des Verfassungsrechts bei Pezzer, Zur Umsetzung von EuGH-Entscheidungen durch nationale Gerichte, in FS Herzig, 2010, S. 915 (917 ff.). 9 So z. B. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 17 Rz. 54.
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nämlich bezüglich der Ermittlung von Teilen der Bemessungsgrundlage nach London delegiert werde10. Liegt ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 3 GG vor? 1. Sedes materiae: Regelung über die Zinsschranke Konzentrieren wir uns also zunächst auf das Steuerrecht. Regelt dieses Rechtsgebiet wirklich Anwendbarkeitsbedingungen in Bezug auf die IFRS? Wir finden einen entsprechenden Verweis in der Regelung über die Zinsschranke. Rechtsgrundlage ist § 4h Abs. 2 Satz 8 EStG. Danach sind die für den Eigenkapitalvergleich maßgebenden Abschlüsse einheitlich nach den IFRS zu erstellen. Nun, das ist doch wohl eine eindeutige Geltungsanordnung, könnte man meinen, mit der Aussage: Der Normadressat muss seine Abschlüsse nach den IFRS erstellen. Indessen erschließt sich der Sinn erst aus dem folgenden Satz 9. Danach können hiervon (also von Satz 8) abweichend Abschlüsse nach dem Handelsrecht eines Mitgliedstaats der EU verwendet werden, wenn kein Konzernabschluss nach dem IFRS zu erstellen oder offen zu legen ist und für keines der letzten fünf Wirtschaftsjahre ein Konzernabschluss nach den IFRS erstellt wurde. Nur vordergründig stellt das Gesetz für die Rechnungslegungsstandards eine Rangfolge auf (IFRS, HGB, US-GAAP). Denn nach dieser Rangfolge ist nicht zu prüfen. § 4h Abs. 3 Satz 5 EStG stellt zunächst auf die tatsächliche Konsolidierung ab („konsolidiert wird“ und nicht „konsolidiert werden muss“). Wird also der Betrieb A in einem Konzernabschluss mit anderen Betrieben z. B. nach IFRS konsolidiert, so gehört er zu einem Konzern, und zwar unabhängig davon, ob eine Verpflichtung dazu besteht, einen Konzernabschluss aufzustellen. Das Steuerrecht knüpft hier zunächst an die reine Faktizität einer Konzernstruktur an11 und damit auch an die tatsächlich genutzten Rechnungslegungsstandards. 2. Konsolidierungsrecht und Konsolidierungspflicht Wird der Betrieb nicht mit anderen Betrieben tatsächlich konsolidiert, kommt es darauf an, ob er konsolidiert werden könnte und das richtet sich danach, ob eine Verpflichtung oder ein Recht dazu besteht, einen Konzernabschluss zu erstellen. Das Konzernrecht setzt beim Mutterunternehmen (so explizit § 315a HGB) an und prüft von da aus, ob ein Konzernabschluss zu erstellen ist und welche Unternehmen in die Konsolidierung einzubeziehen sind. Anders herum geht § 4h EStG vor: Von dem einzelnen Betrieb ausgehend muss geprüft werden, ob er mit anderen Betrieben konsolidiert wird oder werden könnte. Er könnte mit anderen konsolidiert werden, wenn eine Verpflichtung oder ein Recht für ihn (als Mutterunternehmen) oder seines (wenn er Tochterunternehmen ist) Mutterunternehmens besteht, eine Konsolidierung durchzufüh-
__________ 10 Z. B. Lüdenbach/Hoffmann, DStR 2007, 641; Kahler/Dahlke/Schulz, StuW 2008, 266 (274); Albert, Zur Rechtsverbindlichkeit der internationalen Rechnungslegungsstandards (IAS/IFRS), in IFSt-Schrift 448 (2008), S. 53 und passim. 11 Vgl. näher dazu Heuermann in Blümich, EStG, KStG, GewStG, § 4h EStG Rz. 57.
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Geltung der IFRS als Verfassungsproblem?
ren. Eine Konzernabschlusspflicht oder ein Abschlussrecht kann nur nationale Vorschriften begründen. Ohne eine entsprechende Rechtsgrundlage können die IFRS also nicht angewandt werden. Damit haben für den Steuerpflichtigen die IFRS-Vorschriften zur Konzernabschlusspflicht keinerlei Bedeutung. Ob eine Gesellschaft einen konsolidierten Abschluss erstellen muss oder darf, richtet sich allein nach einzelstaatlichem Recht. Besteht also eine Konzernabschlusspflicht gemäß § 290 HGB, § 11 PublG oder ein Recht nach § 296 HGB und sind die Voraussetzungen einer Befreiung wegen Größe (§ 293 HGB, § 11 Abs. 1 PublG) oder übergeordneten Konzernabschlusses (§§ 291, 292 HGB) nicht gegeben, so müsste oder könnte der Betrieb, wenn er zum Konsolidierungskreis zählt, mit anderen konsolidiert werden und gehört deshalb zu einem Konzern i. S. von § 4h Abs. 3 Satz 5 EStG. Regelt § 4h EStG also nicht die Abschlussverpflichtung, so auch nicht die maßgebenden Rechnungslegungsstandards. Eine Rechtspflicht zum Konzernabschluss nach den IFRS ergibt sich nur aus § 315a Absätze 1 und 2 HGB, ein Recht dazu aus § 315a Abs. 3 HGB. Diese Maßstäbe für die Konzernabschlusspflicht oder für ein Konzernabschlussrecht gelten auch für den jeweils anwendbaren Rechnungslegungsstandard. Davon gibt es keine Ausnahme: Selbst wenn § 4h Abs. 2 Satz 1 lit. c) Satz 9 EStG als (weitere) Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Handelsrecht darauf abstellt, ob für keines der letzten fünf Wirtschaftjahre ein Konzernabschluss nach den IFRS – tatsächlich – erstellt wurde, ist doch vorrangige Voraussetzung, dass der jeweilige Betrieb zu einem Konzern gehört (§ 4h Abs. 3 Satz 5 EStG) und dies hängt – wir wiederholen uns – wiederum davon ab, ob der Betrieb nach den IFRS mit anderen Betrieben konsolidiert wird oder werden könnte. Dies impliziert im letzteren Fall den Verweis auf eine steuerrechtsexterne Abschlusspflicht oder ein ebensolches Recht12. Das bedeutet als Zwischenfazit: Das Steuerrecht enthält in § 4h EStG keine eigenständige Verweisung auf die IFRS. Es ordnet nicht an, wann internationalen Rechnungslegungsstandards anzuwenden sind, sondern setzt deren Anwendbarkeit lediglich voraus und knüpft an Regelungen im HGB an. Nur § 315a HGB kann also daraufhin überprüft werden, ob er eine verfassungsrechtlich problematische Verweisung enthält. Genau dies wird im Schrifttum vertreten.
V. Handelsrechtliche Geltungsanordnung Das Handelsrecht und nicht das Steuerrecht gibt vor, in welchen Fällen nach IFRS abgeschlossen werden muss oder kann – und damit selbstredend auch, wann die internationalen Rechnungslegungsstandards zu verwenden sind. Wird das vornehmlich in dem steuer- und verfassungsrechtlichen Schrifttum
__________ 12 So löst sich die zirkuläre Verweisung auf, auf die im Schrifttum hingewiesen wird, vgl. z. B. Bohn, Zinsschranke und Alternativmodelle zur Beschränkung des steuerlichen Zinsabzugs, 2009, S. 271. Auch hier gilt: Zirkel oder Paradoxien lösen sich durch Unterscheidungsbildung auf.
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verfassungsrechtlich problematisiert13, so ist doch signifikant festzustellen, wenn sich fast das gesamte Fachschrifttum zum HGB dazu mitnichten äußert14, darin wohlmöglich gar kein Problem sieht. Haben sie Recht oder befinden sie sich einfach unter dem „veil of ignorance“15? 1. Europarechtliche Pflicht zum Abschluss nach IFRS § 315a Abs. 1 HGB knüpft an Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Juli 2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards16 in den jeweiligen Fassungen an (im Folgenden IAS-Verordnung). Aus dieser Bestimmung bereits ergibt sich die Verpflichtung zur Verwendung der Standards für kapitalmarktorientierte Unternehmen. Der Vermittlung durch ein Bundesgesetz bedarf es an sich nicht. Die EU-Verordnung ist unmittelbar geltendes Recht. § 315a Abs. 1 HGB regelt deshalb neben der deklaratorischen Verweisung auf die IASVerordnung konstitutiv nur, welche Vorschriften des HGB anwendbar sind. In dieser negativen Geltungsanordnung liegt die eigentliche Bedeutung des § 315a Abs. 1 HGB. § 315a Abs. 1 HGB verweist nicht auf die IFRS schlechthin, sondern auf die Standards, die nach den Artikeln 2, 3 und 6 der IAS-Verordnung übernommen worden sind. Die Rechtslage ist einigermaßen kompliziert. Denn Art. 6 der IAS-Verordnung gilt nicht mehr in seiner ursprünglichen Fassung. Das sogenannte Komitologie-Verfahren sieht die Beteiligung von Verwaltungs- und Expertenausschüssen zur Unterstützung der Kommission vor und ist durch den sogenannten Komitologie-Beschluss (1999/468/EG)17 geregelt. Im Anerkennungsverfahren zur Übernahme der IFRS wird die Kommission durch den Regelungsausschuss für Rechnungslegung unterstützt (Unterstützung oder Endorsement), Art. 6 Abs. 2 der IAS-Verordnung. Auf dieser – administrativen – Ebene verbleibt das Anerkennungsverfahren aber nicht. Vielmehr werden das Europäische Parlament und der Rat beteiligt. Rechtsgrundlage dafür ist eine Änderung des sog. Komitologie-Beschlusses durch den Beschluss des Rates
__________ 13 Siehe nur Hey in Tipke/Lang (Fn. 9), § 17 Rz. 54 sowie Peter M. Huber, AöR 133 (2008), 155 ff. und die Nachweise bei Albert, Zur Rechtsverbindlichkeit der internationalen Rechnungslegungsstandards (IAS/IFRS), in IFSt-Schrift 448 (2008), S. 53 und passim; Esterer in Die internationale Unternehmensbesteuerung im Wandel, Symposion für Otto H. Jacobs, 2005, S. 110 ff.; Herzig, ebenda, S. 131. 14 Vgl. Merkt in Baumbach/Hopt, 34. Aufl. 2010, § 315a HGB Rz. 1 und 7; Wiedmann in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 2. Aufl. 2007, § 315a HGB Rz. 1 ff.; Busse von Colbe in Münchener Kommentar zum HGB, 2. Aufl. 2008, § 315a HGB Rz. 1 ff., Rz. 28; Kozikowski/Ritter in Beck’scher Bilanzkommentar, 7. Aufl. 2010, § 315a HGB Rz. 8. 15 „Schleier des Nichtwissens“ im Sinne der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls; vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, deutsche Ausgabe übersetzt von Herrmann Vetter, 4. Aufl. 1988, Kapitel 3, Nr. 34, 159 ff. 16 ABl.EG Nr. L 243/1. 17 Beschluss des Rates v. 28.6.1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, ABl.EG Nr. L 184/23.
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Geltung der IFRS als Verfassungsproblem?
vom 17. Juli 200618. Spricht sich danach das Europäische Parlament oder der Rat innerhalb von drei Monaten nach seiner Befassung gegen den Entwurf von Maßnahmen aus, so werden diese nicht von der Kommission erlassen. Die IAS-Verordnung ist dementsprechend geändert worden19, indem nunmehr Art. 6 Abs. 2 auf den geänderten Komitologie-Beschluss Bezug nimmt20. Das ist sicherlich auch nach deutschen Maßstäben ein demokratisch legitimiertes Verfahren. Art. 4 der IAS-Verordnung hat folgenden Wortlaut: Artikel 4 Konsolidierte Abschlüsse von kapitalmarktorientierten Gesellschaften Für Geschäftsjahre, die am oder nach dem 1. Januar 2005 beginnen, stellen Gesellschaften, die dem Recht eines Mitgliedstaates unterliegen, ihre konsolidierten Abschlüsse nach den internationalen Rechnungslegungsstandards auf, die nach dem Verfahren des Artikels 6 Absatz 2 übernommen wurden, wenn am jeweiligen Bilanzstichtag ihre Wertpapiere in einem beliebigen Mitgliedstaat zum Handel in einem geregelten Markt im Sinne des Artikels 1 Absatz 13 der Richtlinie 93/22/EWG des Rates vom 10. Mai 1993 über Wertpapierdienstleistungen zugelassen sind.
Im Anwendungsbereich des Art. 4 der IAS-Verordnung besteht – gäbe es die gesetzliche Umsetzung in § 315a Abs. 1 HGB nicht – zweifellos Anwendungsvorrang gegenüber entgegen stehendem nationalem Recht. Aber wir sind nicht im Bereich des Anwendungsvorrangs, weil der deutsche Gesetzgeber ja eine dem EU-Recht entsprechende Regelung geschaffen hat, die deshalb unmittelbar anwendbar ist. Wer hier nach dem gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang fragt21, verkennt dessen Bedeutung bezogen auf entgegenstehendes nationales Recht22. In diesem Rahmen entstehen keine verfassungsrechtlichen Probleme: Wenn § 315a Abs. 1 HGB auf Art. 4 der IAS-Verordnung in der jeweiligen Fassung verweist, handelt es sich nur um eine deklaratorische Regelung, derer es an sich nicht bedarf23; konstitutiv ist – als positive Geltungsanordnung – allein Art. 4 der IAS-Verordnung. Soweit sich Art. 4 der IASVerordnung auf die übernommenen Rechnungslegungsstandards bezieht, ist eine derartige Verweisung anhand des deutschen Verfassungsrechts nur eingeschränkt zu prüfen, nämlich im Hinblick auf Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG nur kompetenziell. Die Überprüfung von sekundärem Gemeinschaftsrecht auf dessen Vereinbarkeit mit den Grundrechten ist suspendiert24. Im Übrigen handelt es sich auch bei dem oben geschilderten Übernahmeverfahren um einen Akt der (demokratisch legitimierten) Rechtssetzung. Der auf diese Weise und unter Beteiligung des Europäischen Parlaments und des Rates übernommene Stan-
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Beschluss des Rates v. 17.7.2006, 2006/512/EG, ABl.EG Nr. L 200/11. Verordnung (EG) Nr. 297/2008 v. 11.3.2008, ABl.EG Nr. L 97/62. Vgl. zur Rechtslage auch Lanfermann/Röhricht, BB 2008, 826 ff. Albert, Zur Rechtsverbindlichkeit der internationalen Rechnungslegungsstandards (IAS/IFRS), in IFSt-Schrift 448 (2008), S. 38. 22 Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 7 Rz. 12, S. 186. 23 So EuGH-Urteil v. 7.2.1973 – Rs. 39/72, EuGHE 1973, 114 ff. 24 So die Solange-Entscheidungen des BVerfG, Beschlüsse v. 29.5.1974 – 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 und v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339; vgl. dazu auch Herdegen, Europarecht, 11. Aufl. 2009, § 11 Rz. 27, S. 226.
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dard hat in Verbindung mit Art. 4 der IAS-Verordnung Normcharakter. Er gibt den Maßstab vor, anhand dessen der steuerpflichtige Adressat seinen Abschluss zu gestalten hat. Die EU bewegt sich hierbei im Bereich ihrer Zuständigkeit25. Mit der IAS-Verordnung will der europäische Gesetzgeber dazu beitragen, die Funktionsweise des Binnenmarkts respektive des Kapitalmarkts zu verbessern (so die Erwägungsgründe 1 und 2). Für den Binnenmarkt gründet sich die EU auf eine mit den Mitgliedern geteilte Zuständigkeit (Art. 4 Abs. 2 lit. a) AEUV – eine entsprechende Bestimmung im bis dahin geltenden EGV fehlt)26. Die IASVerordnung nimmt aber zugleich auf die Wettbewerbsfähigkeit der gemeinschaftlichen Kapitalmärkte Bezug (Erwägungsgrund 5), was unmittelbar einleuchtet, hängt doch von den Bilanzierungsregeln z. B. die Kreditwürdigkeit der Unternehmen („Rating“) und nicht zuletzt auch die Fragen der Überschuldung und des Eigenkapitalausweises ab27. Im Bereich der Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln ist die EU nach Art. 3 Abs. 1 lit. a) AUEV ausschließlich zuständig. Allerdings dürfte die hier gemeinte Wettbewerbsfähigkeit nicht als eigenständiges Schutzgut, sondern als Appendix zur Förderung des Binnen- und Kapitalmarktes anzusehen sein28. Da die ultra-vires-Lehre des Bundesverfassungsgerichts ersichtlich nicht zum Zuge kommt29, können wir also bei § 315a Abs. 1 HGB kein verfassungsrechtliches Problem isolieren30. 2. Originär handelsrechtliche Regelung für Abschlüsse nach den IFRS – europarechtliches Wahlrecht? Interessanter für den von uns hervorgehobenen Zusammenhang sind nun aber § 315a Absätze 2 und 3 HGB. Nach § 315a Abs. 2 HGB müssen Mutterunternehmen, die nicht unter § 315a Abs. 1 HGB fallen, ihren Konzernabschluss nach den in Absatz 1 genannten IFRS aufstellen, wenn sie unter weiteren, hier nicht bedeutsamen Voraussetzungen einen Antrag auf Zulassung ihrer Wertpapiere zum Börsenhandel gestellt haben. Gemäß § 315a Abs. 3 HGB gewährt das Gesetz Mutterunternehmen ein weitreichendes Wahlrecht, ihren Konzernabschluss nach IFRS aufzustellen31. Diese Bestimmungen sollen nach einer im Schrifttum vertretenen Auffassung verfassungswidrig sein32.
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25 Zur Prüfungskompetenz BVerfG-Urteil v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, BVerfGE 89, 155, 188, 210 – Maastricht. 26 Die Zuständigkeit ergibt sich in Verbindung mit den Art. 63 ff. AEUV über den Kapital- und Zahlungsverkehr sowie den verschiedenen Regelungen über Börsen- und Wertpapierrecht, vgl. dazu auch die RL 2001/34, ABl. S 184/1, sowie zur Rechtsentwicklung die in Erwägungsgrund 3 der IAS-Verordnung genannten bisherigen Richtlinien zur Vereinheitlichung der Rechnungslegung. 27 Vgl zur Bedeutung auch Peter M. Huber, AöR 133 (2008), 393. 28 Vgl. dazu auch Oppermann (Fn. 22), § 23 Rz. 24, S. 495. 29 Vgl. dazu BVerfG-Urteil v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., BVerfGE 123, 267, Rz. 241 – Lissabon-Vertrag. 30 So im Ergebnis auch Ekkenga, BB 2001, 2362 (2369). 31 Vgl. dazu auch aus anderem Blickwinkel Kormann, WiVerw 2009, 269 ff. 32 So z. B. Albert, Zur Rechtsverbindlichkeit der internationalen Rechnungslegungsstandards (IAS/IFRS), in IFSt-Schrift 448 (2008), S. 54; Böcking/Gros, DStR 2007, 2339 (2341).
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In der Tat lassen sich relevante Unterschiede zu § 315a Abs. 1 HGB feststellen. Zwingt nämlich schon Art. 4 der IAS-Verordnung kapitalmarktorientierte Unternehmen zur Konzernbilanzierung nach den IFRS, so gewährt Art. 5 der IASVerordnung nur ein Wahlrecht. § 315a Abs. 2 HGB hat deshalb für die Verpflichtung zum Abschluss nach den IFRS mit seiner positiven Geltungsanordnung ebenso rechtsbegründende – konstitutive – Bedeutung wie § 315a Abs. 3 HGB für das Einräumen eines Wahlrechts. Art. 5 der IAS-Verordnung hat folgenden Wortlaut: Artikel 5 Wahlrecht in Bezug auf Jahresabschlüsse und hinsichtlich nicht kapitalmarktorientierter Gesellschaften Die Mitgliedstaaten können gestatten oder vorschreiben, dass a) Gesellschaften im Sinne des Artikels 4 ihre Jahresabschlüsse, b) Gesellschaften, die nicht solche im Sinne des Artikels 4 sind, ihre konsolidierten Abschlüsse und/oder ihre Jahresabschlüsse nach den internationalen Rechnungslegungsstandards aufstellen, die nach dem Verfahren des Artikels 6 Absatz 2 angenommen wurden.
Im Einzelnen wird die Rechtsnormqualität der IFRS bezweifelt und es wird im Verweis darauf eine verfassungsrechtlich problematische dynamische Verweisung gesehen33. a) Rechtsqualität Wenn es um die Rechtsqualität der IFRS geht, ist zu unterscheiden. Die Standards selbst, wie sie vom IASB vorgeschlagen werden, haben natürlich keine Rechtsqualität. Davon zu unterscheiden sind aber die Standards, nachdem sie das Anerkennungsverfahren der EU durchlaufen haben. Nur um diese Rechnungslegungsstandards geht es hier. Denn die Absätze 2 und 3 des § 315a HGB nehmen insoweit auf Absatz 1 Bezug und damit lediglich auf solche Standards, die übernommen wurden. Diese Standards sind nun als Tatbestandsmerkmale des § 315a HGB Bestandteil der Norm. Dem entspricht Art. 5 der IAS-Verordnung. Haben die Standards aber das Verfahren durchlaufen und sind nach Art. 6 der IAS-Verordnung angenommen worden, ist an ihrer Rechtsqualität nicht zu zweifeln. Denn jetzt hat sich der europäische Gesetzgeber ihren Inhalt zu eigen gemacht. Wie sich aus Art. 5 der IAS-Verordnung ergibt, gilt dies nicht nur im Rahmen der Abschlusspflicht, sondern auch dann, wenn die Mitgliedstaaten aufgrund ihres Wahlrechts an die Standards anknüpfen. Die Mitgliedstaaten können keine anderen Rechnungslegungsstandards übernehmen. Sie sind in ihrer Entscheidung nicht frei, IFRS ohne die besondere Anerkennung durch die EU ihren Gesetzen zugrunde zu legen. Sie sind lediglich berechtigt, Abschlüsse nach den – im Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 2 der IASVerordnung angenommenen – Standards zu gestatten oder vorzuschreiben. Es kommt deshalb in Bezug auf die Rechnungslegungsstandards in keiner Weise
__________ 33 So Peter M. Huber, AöR 133 (2008), 401.
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auf das von Staatrechtslehrern diskutierte Problem an, ob eine faktische Bindungswirkung privater Regelungswerke demokratisch-rechtsstaatlichen Mindeststandards genügt34. Diese hier vertretene Auffassung wird umso deutlicher, wenn man die Rechtslage zu den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung vergleicht. Deren normativer Charakter steht ganz außer Frage, und zwar jedenfalls als unbestimmte Rechtsbegriffe35. Über ihre Erkenntnisquellen entscheidet letztlich der Richter. Verglichen damit ist der Bezug der einschlägigen Vorschriften auf die nach Art. 6 Abs. 2 der IAS-Verordnung angenommenen Rechnungslegungsstandards sehr viel bestimmter. Denn die jeweiligen Standards werden als Ergebnis des Annahmeverfahrens veröffentlicht und bekannt gemacht. Nach Art. 3 Abs. 4 der IAS-Verordnung werden übernommene internationale Rechnungslegungsstandards als Kommissionsverordnung vollständig in allen Amtssprachen der Gemeinschaft im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht. Hierfür ist der Kommission durch die IAS-Verordnung i. S. v. Art. 290 Abs. 1 AEUV die Befugnis übertragen worden, Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zu erlassen. Die Verordnung nach Art. 288 AEUV (ex-Art. 249 EGV) hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat36. Lässt sich am normativen Charakter der von der EU angenommenen Rechnungslegungsstandards nun nicht zweifeln37, stellt sich die Frage, ob mit dem Bezug auf sie nicht eine dynamische Verweisung einher geht38. b) Dynamische Verweisung und Kompetenz-Kompetenz Sog. dynamische Verweisungen können zu verfassungsrechtlichen Problemen führen. Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip sollen dynamische Verweisungen – auch auf das Unionsrecht – ausschließen39. Sie sind problematisch, wenn dem deutschen Gesetzgeber ein Einfluss auf die zukünftige Fortentwicklung bestimmter Regelungen verwehrt wird, Rechtssetzungen also außerhalb des Einflussbereichs des legitimierten Rechtssetzungsorgans stattfinden40. Was steckt dahinter? Gerade im Verhältnis zur EU-Legislative formuliert das BVerfG eine verfassungsrechtliche Spannungslage zwischen dem Prinzip der begrenz-
__________ 34 Vgl. dazu M. Schmidt-Preuß in VVDStRL 56 (1997), S. 160 (203). 35 Eingehend dazu Buciek in Blümich, § 5 EStG Rz. 204; Weber-Grellet in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 5 EStG Rz. 66. 36 Grundlegend EuGH-Urteil v. 14.12.1971 – Rs. 43/71, Slg. 1971, 1039 – Politi. 37 A. A. – aber zu pauschal ablehnend – Hey in Tipke/Lang (Fn. 9), § 17 Rz. 54, S. 759. 38 Dies bejahend z. B. Peter M. Huber, AöR 133 (2008), 401; Albert, Zur Rechtsverbindlichkeit der internationalen Rechnungslegungsstandards (IAS/IFRS), in IFSt-Schrift 448 (2008), S. 50 (54); verneinend wohl Heintzen, BB 2001, 825 ff. 39 Peter M. Huber, AöR 133 (2008), 401; Herzig in Symposion für Otto H. Jacobs (Fn. 13), S. 131. 40 BVerfG-Beschluss v. 26.1.2007 – 2 BvR 2408/06, EuGRZ 2007, 231; grundlegend zu den verfassungsrechtlichen Maßstäben BVerfG-Urteil v. 14.6.1983 – 2 BvR 488/80, BVerfGE 64, 208; vgl. auch Robbers in Bonner Kommentar zum GG, Art. 20 Abs. 1, Rz. 2081 ff.
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ten Einzelermächtigung und der verfassungsrechtlichen Integrationsverantwortung des einzelnen Mitgliedstaates. Werden Zuständigkeiten nur unbestimmt oder zur dynamischen Fortentwicklung übertragen, laufen sie Gefahr, das vorherbestimmte Integrationsprogramm zu überschreiten41. Der EU-Normgeber könnte damit die Kompetenz bekommen, über Kompetenzen zur disponieren, sich – wie das BVerfG es ausdrückt – „der Kompetenz-Kompetenz zu bemächtigen“42. So könnte es bei dem Verweis auf die Rechnungslegungsstandards liegen, wie er in den Absätzen 2 und 3 des § 315a HGB zum Ausdruck kommt. Nehmen wir § 315a Abs. 2 HGB, so müssen die dort aufgeführten, eine Börsenzulassung beanspruchenden Mutterunternehmen nach den in § 315a Abs. 1 HGB genannten internationalen Rechnungslegungsstandards abschließen. Damit bezieht sich das Gesetz auf die nach Maßgabe der Artikel 2, 3 und 6 der IAS-Verordnung jeweils angenommenen Standards, denen – wie oben ausgeführt – Verordnungs- und damit Normcharakter zukommt. Indes steht noch nicht fest, um welche einzelnen Standards es sich eigentlich handelt. Dies zu bestimmen, ist dem deutschen Gesetzgeber entzogen. Es verbleibt in der Kompetenz des EU-Gesetzgebers. Findet damit Rechtssetzung außerhalb des legitimierten – deutschen – Gesetzgebers statt? Kann dadurch der europäische Gesetzgeber jenseits des a priori bestimmten Integrationsprogramms Kompetenzen wahrnehmen? Diese Fragen wären bejahend zu beantworten, wenn wir uns bei der optionalen Rechnungslegung nach internationalen Standards allein im Bereich der deutschen Gesetzgebungszuständigkeit befänden. Das ist indes nicht der Fall. Denn wie wir ja bereits hervorgehoben haben, besteht im Bereich des Binnenmarktes gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. a) AEUV eine von der Union mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit. c) Geteilte Zuständigkeit und europarechtliches Wahlrecht Bei Regelungen des Binnenmarkts teilen sich Union und Mitgliedsstaaten die Zuständigkeit. Wird ein Komplex durch die EU geregelt, hat sie diese Kompetenz ausgenutzt. Die Subsidiaritätsfrage (Art. 13 EUV) beantwortet die IASVerordnung in ihren Erwägungsgründen, wonach dazu beigetragen werden soll, die Unternehmen in der Gemeinschaft in die Lage zu versetzten, auf den gemeinschaftlichen Kapitalmärkten und auf den Weltkapitalmärkten unter gleichen Wettbewerbsbedingungen um Finanzmittel zu konkurrieren. Dieser Telos leuchtet unmittelbar ein: Der nationale Gesetzgeber allein wäre überfordert, in dieser Weise zur Funktionsweise des Binnenmarkts beizutragen. Hieraus ergibt sich auch die Verhältnismäßigkeit einer unmittelbaren Verpflichtung der kapitalmarktorientierten Unternehmen nach Art. 4 der IAS-Verord-
__________ 41 BVerfG-Urteil v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., BVerfGE 123, 267, Rz. 238 ff. und passim – Lissabon-Vertrag. 42 BVerfG-Urteil v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., BVerfGE 123, 267, Rz. 240 – LissabonVertrag.
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nung (vgl. deren Erwägungsgrund 12). Indes beschränkt sich der europäische Gesetzgeber nicht darauf, kapitalmarktorientierte Gesellschaften zu Abschüssen nach den IFRS zu verpflichten. Die IAS-Verordnung räumt nämlich den Mitgliedstaaten explizit ein Wahlrecht ein. Es ergibt sich aus dem oben schon vorgestellten Art. 5 der IAS-Verordnung. Insofern richtet sich die Verordnung nicht mehr – wie in Art. 4 der IAS-Verordnung – nur an die natürlichen oder juristischen Personen (die kapitalmarktorientierten Gesellschaften), sondern an den jeweiligen Mitgliedstaat als Adressaten43. Es ist eigentlich unnötig zu erwähnen, dass das Einräumen dieses Wahlrechts nicht identisch ist mit einer Nichtregelung. Die Rechtslage entspricht nicht derjenigen, die gälte, wenn der EU-Gesetzgeber lediglich die kapitalmarktorientierten Gesellschaften zu IFRS-Abschlüssen verpflichtet hätte. Eine derartige Betrachtungsweise wird der rechtlichen Dimension des europarechtlichen Wahlrechts in Art. 5 der IAS-Verordnung nicht gerecht. Der EU-Gesetzgeber überlässt es nicht in vollem Umfang den Mitgliedstaaten, welche Rechnungslegungsstandards sie übernehmen. Die Mitgliedstaaten können nämlich die in Art. 5 der IAS-Verordnung genannten Gesellschaften nur verpflichten oder ihnen nur gestatten, ihre Abschlüsse nach den internationalen Rechnungslegungsstandards aufzustellen, die nach dem Verfahren des Artikels 6 Abs. 2 der nämlichen Verordnung angenommen wurden. Die Mitgliedstaaten brauchen von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen. Nehmen sie es – wie der deutsche Gesetzgeber in § 315a Absätze 2 und 3 HGB – indes in Anspruch44, sind sie an die in Art. 5 der IAS-Verordnung geregelte Rechtsfolge gebunden. Sie haben die Wahl, sind aber – wenn sie sie ausüben – an die Vorgaben in der Ermächtigungsgrundlage gebunden. Dies zeigt schon, dass die EU ihre im Rahmen der geteilten Zuständigkeit in Anspruch genommene Kompetenz ein Stück weit an die Mitgliedstaaten zurückgibt. Von daher liegt die Vorstellung nicht fern, dass es sich im Rahmen des Art. 5 der IAS-Verordnung um eine abgeleitete Zuständigkeit des sein Wahlrecht in Anspruch nehmenden Mitgliedsstaates handelt. Aber selbst dann, wenn man so weit nicht geht, hätten die EU und die Mitgliedstaaten ihre grundsätzlich gemeinsame Zuständigkeit eben in dieser Weise aufgeteilt, dass dem Mitgliedstaat ein Wahlrecht zusteht, er dieses Wahlrecht aber nur ausüben kann, indem er die mittels des besonderen Verfahrens autorisierten Standards seinen Gesetzen zugrunde legt. Was folgt aus dieser Analyse für unser verfassungsrechtliches Problem? Die Voraussetzungen, unter denen man eine verfassungsrechtlich inkriminierte dynamische Verweisung anzunehmen hat, liegen nicht vor. Denn EU wie auch der Mitgliedstaat, der sein Wahlrecht in Anspruch nimmt, bewegen sich im Rahmen ihrer geteilten Zuständigkeit. Zwar ist dem deutschen Gesetzgeber mit der Verweisung auf die jeweils autorisierten Rechnungslegungsstandards ein Einfluss auf künftige Fortentwicklungen verwehrt. Das entspricht aber
__________ 43 Zur rechtlichen Fundierung Oppermann (Fn. 22), § 6 Rz. 83, S. 165. 44 Verfassungsrechtliche Probleme im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme des Wahlrechts auch bei Unternehmen ohne Kapitalmarktorientierung sind nicht Gegenstand dieses Beitrags, vgl. dazu Kormann, WiVerw 2009, 269 ff.
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dem explizit bestimmten Integrationsprogramm und bedeutet also keinen Einstieg in die Kompetenz-Kompetenz. Der deutsche Gesetzgeber darf nur entscheiden, ob er von seinem Wahlrecht Gebrauch macht. Nur insoweit nimmt er eigene Kompetenzen in Anspruch. Entscheidet er sich dafür, Abschlusspflichten und/oder Abschlusswahlrechte weitergehend (aufgrund von Art. 5 der IAS-Verordnung) nach den IFRS zu regeln, ist er nicht mehr frei, was den Status dieser Standards anlangt. Er muss die von der EU angenommenen normativen Standards zugrunde legen und bewegt sich hier wiederum im gemeinschaftlichen Kompetenzbereich.
VI. Zusammenfassung und Ergebnis Nun können wir die Frage im Titel unserer Ausführungen eindeutig beantworten: Nein, gegen die Geltung der IFRS im deutschen Recht bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Das ist auch in der Sache gut so. Denn die Internationalisierung und Globalisierung der Märkte verlangt eine möglichst weitgehende einheitliche Rechnungslegung. Nur so lassen sich Unternehmen und Investments vergleichen. Eine nationale Regelung vermag das nicht. Jedenfalls im supranationalen System muss deshalb angefangen werden, das Recht der Unternehmens-Abschlüsse zu vereinheitlichen. So formuliert die IAS-Verordnung in ihrem Erwägungsgrund 2: „Überdies ist es von großer Bedeutung, dass an den Finanzmärkten teilnehmende Unternehmen der Gemeinschaft Rechnungslegungsstandards anwenden, die international anerkannt sind und wirkliche Weltstandards darstellen. Dazu bedarf es einer zunehmenden Konvergenz der derzeitig international angewandten Rechnungslegungsstandards, mit dem Ziel, letztlich zu einem einheitlichen Regelwerk weltweiter Rechnungslegungsstandards zu gelangen“. Dieser zutreffenden Einschätzung ist nichts hinzuzufügen. Die IFRS stellen sich auf diese Weise in der Tat als (gelungene) strukturelle Kopplung verschiedener Systeme dar. In jedem dieser Systeme führt sie zu einer Effektuierung der Verbindung mit dem jeweils anderen System und damit zur Reduzierung von Komplexität. Dies kann für künftige Entwicklungen bedeutsam sein. Die europäische Welt wartet auf die Vereinheitlichung der körperschaftssteuerlichen Bemessungsgrundlage45. Dies wären dann ein weiterer Schritt und ein anderes Thema. Wir können mit der dem IX. Senat des BFH eigentümlichen prägnanten Diktion zusammenfassen: Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn im Steuerrecht und im Handelsgesetzbuch auf die IFRS Bezug genommen wird.
__________ 45 Vgl. dazu Rödder, Wo steht und wohin entwickelt sich das Europäische Unternehmenssteuerrecht?, in FS Herzig, 2010, S. 349 (361 ff.).
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Evidenz von Verfassungsverstößen, Budgetschutz und Unvereinbarkeitsaussprüche Zu den Rechtsfolgen verfahrensfehlerhaft zustande gekommener Gesetze aus Anlass des BVerfG-Beschlusses zum Haushaltsbegleitgesetz 2004 vom 8.12.2009
Inhaltsübersicht I. Wolfgang Spindlers Grußwort anlässlich des 6. Finanzgerichtstags in Köln II. Die Entscheidung vom 8. Dezember 2009 zum Personenbeförderungsgesetz 1. Pro futuro-Reformauftrag 2. Evidenz der verfassungsrechtlichen Vorgaben als Voraussetzung für die Ungültigkeit einer verfahrensfehlerhaft zustande gekommenen Norm? 3. Bloße Unvereinbarkeit der evident verfassungswidrigen Norm mit pro futuro-Reparaturauftrag a) Kombination von Evidenzerfordernis und Unvereinbarkeitsrechtsprechung
b) „Interesse verlässlicher Finanzund Haushaltsplanung“ c) Gleichmäßiger Verwaltungsvollzug für weitgehend abgeschlossene Zeiträume d) Gesetzgeberischem Konzept darf nicht rückwirkend die Grundlage entzogen werden III. Folgerungen aus der Entscheidung vom 8. Dezember 2009 für steuerrechtliche Regelungen des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 1. Verfassungswidrigkeit weiterer Gegenfinanzierungsmaßnahmen 2. Reaktionen des Steuergesetzgebers IV. Zusammenfassung und Ausblick
I. Wolfgang Spindlers Grußwort anlässlich des 6. Finanzgerichtstags in Köln Sein Grußwort zum 6. Finanzgerichtstag hat Wolfgang Spindler genutzt, um auf die steuerrechtlichen Implikationen des damals frisch ergangenen Beschlusses des 2. Senats des BVerfG vom 8.12.20091 zu den verfahrensrechtlichen Mängeln des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 hinzuweisen2. Diese Bemerkungen möchte ich zum Anlass für eine Auseinandersetzung mit einer neuen Facette der pro futuro-Rechtsprechung des BVerfG nehmen. Die Entscheidung zum Haushaltsbegleitgesetz 2004 bildet eine Art Schlusspunkt einer Reihe von Judikaten, die sich mit den Kompetenzen des Vermittlungsausschusses befassen und Maßstäbe für ein transparentes Gesetzgebungs-
__________ 1 BFH v. 8.12.2009 – 2 BvR 758/07, DVBl. 2010, 308 ff. 2 Dazu zuvor schon Spindler in FS Spiegelberger, 2009, S. 471 (472).
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verfahren aufstellen3. Positiv ist, dass das BVerfG die Bedeutung der parlamentarischen Debatte betont und damit Steuergesetzesänderungen aus den Hinterzimmern undurchsichtiger Vermittlungsverhandlungen hervorgeholt hat. Kopfzerbrechen bereitet indes die neuerliche Weigerung des BVerfG, verfahrensfehlerhaft zustande gekommene Steuergesetze rückwirkend für verfassungswidrig zu erklären, obwohl die Vorgaben für eine ordnungsgemäße parlamentarische Beratung mittlerweile hinlänglich geklärt sind, der Gesetzgeber folglich sehenden Auges gegen das Grundgesetz verstoßen hat.
II. Die Entscheidung vom 8. Dezember 2009 zum Personenbeförderungsgesetz 1. Pro futuro-Reformauftrag Auf den ersten Blick trägt die Entscheidung des 2. Senats des BVerfG zur Kürzung des Ausgleichsbetrages für Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs gemäß § 45a Abs. 2 Satz 3 PBefG der anhaltenden Kritik am Gesetzgebungsverfahren zum Haushaltsbegleitgesetz 20044 Rechnung. Dieses enthält zahlreiche Subventionskürzungen, die aufgrund der erst im Vermittlungsverfahren vorgelegten sog. Koch-Steinbrück-Liste Eingang in das Gesetz gefunden hatten. Der Senat rügt die Überschreitung der in Art. 77 Abs. 2 GG normierten Kompetenzen des Vermittlungsausschusses5. Der Vermittlungsausschuss hat kein eigenes Gesetzesinitiativrecht. Werden erstmalig im Vermittlungsverfahren (weitere) Gesetzesänderungen eingeführt, sind diese dem Parlament nicht ohne weiteres zurechenbar. Die Verhandlung im Vermittlungsausschuss kann die parlamentarische Debatte nicht ersetzen. Dieser Verfahrensmangel begründete die (formelle) Verfassungswidrigkeit der Subventionskürzungen. Doch dann nimmt die Entscheidung eine überraschende Wendung. Obwohl der Mangel evident war – was das BVerfG bezüglich der Streichung von § 12 Abs. 2 Satz 4 UmwStG 1995 im Beschluss vom 15.1.20086 noch verneint hatte – bleibt die Norm (zunächst) gültig. Dem Gesetzgeber wird bis zum 30.6.2011 Zeit für eine Neuregelung eingeräumt. Erst wenn diese Frist ungenutzt ver-
__________ 3 Vgl. vor allem die vorgehenden Entscheidungen BVerfG v. 7.12.1999 – 2 BvR 301/98, BVerfGE 101, (297) (häusliches Arbeitszimmer) und BVerfG v. 15.1.2008 – 2 BvL 12/01, BVerfGE 120 (56) aufgrund der Vorlagen des BFH zur Streichung von § 12 Abs. 2 Satz 4 UmwStG 1995 (BFH v. 18.7.2001 – I R 38/99, BStBl. II 2002, 27) und zur Änderung von § 8 Abs. 4 KStG (BFH v. 22.8.2002 – I R 25/06, BStBl. II 2007, 793). 4 Das Schrifttum geht insbesondere hinsichtlich der Änderungen des Erbschaftsteuergesetzes und des Biersteuergesetzes ganz überwiegend von der formellen Verfassungswidrigkeit aus, vgl. Birk in Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken an Klaus Vogel, 2010, S. 17 (23); Huber/Fröhlich, DÖV 2005, 322 ff.; Höninger/Levedag, FR 2004, 739 ff.; Leisner, DStR 2004, 804 ff.; Köster, Stbg 2004, 251 ff.; Gutike, BB 2005, 190 f.; Wachter, ZErb 2008, 171 f.; ders., DB 2004, 31 f.; Palm, NVwZ 2008, 633 (635); etwas zurückhaltender, aber ebenfalls zweifelnd Schenke, FR 2004, 638 (641 ff.); a. A. BFH v. 24.4.2007 – IX B 104/06, BFH/NV 2007, 1282 f. bzgl. der Eigenheimzulage. 5 BVerfG v. 8.12.2009 – 2 BvR 758/07, DVBl. 2010, 308 ff. 6 BVerfG v. 15.1.2008 – 2 BvL 12/01, BVerfGE 120, 56.
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streicht, soll die Vorschrift nicht mehr anwendbar sein. Zu diesem Ergebnis kommt der Senat auf der Grundlage seiner gängigen Unvereinbarkeitsrechtsprechung mit pro futuro-Wirkung. Damit ist der Unterschied zum Beschluss vom 15.1.2008 zwar, dass der Gesetzgeber tätig werden muss. Der Verfahrensfehler bleibt also nicht vollständig folgenlos. Doch der Handlungsauftrag bezieht sich nur auf die Zukunft. 2. Evidenz der verfassungsrechtlichen Vorgaben als Voraussetzung für die Ungültigkeit einer verfahrensfehlerhaft zustande gekommenen Norm? Der Rechtsfolgenausspruch unterliegt im Fall der Verletzung verfassungsrechtlicher Verfahrensvorschriften zunächst der Restriktion, dass Verfahrensmängel nach ständiger Rechtsprechung nur dann zur Ungültigkeit der angegriffenen Norm führen, wenn sie evident sind7. Andernfalls bleibt die Norm ohne Einschränkungen, das heißt ohne die Notwendigkeit, das verfahrenswidrig zustande gekommene Gesetz erneut zu beschließen, gültig. Ausgehend von seiner Entscheidung vom 15.1.2008 zur Streichung von § 12 Abs. 2 Satz 4 UmwStG 1995 konnte das BVerfG nicht anders, als die Evidenz des Verfahrensverstoßes beim Zustandekommen des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 zu bejahen8. Schließlich war im Beschluss vom 15.1.2008 festgestellt worden, dass spätestens seit dem 7.12.1999, dem Tag des BVerfG-Urteils zum häuslichen Arbeitszimmer9, die Kompetenzgrenzen des Vermittlungsausschusses verfassungsgerichtlich geklärt seien. Im Beschluss zum Umwandlungssteuergesetz konnten die Karlsruher Richter die Nichtigkeit noch an der fehlenden Evidenz des Verfassungsverstoßes scheitern lassen, weil das Gesetz zur Änderung des Umwandlungssteuergesetzes, das zur Aufhebung von § 12 Abs. 2 Satz 4 UmwStG 1995 geführt hatte, am 1.1.1995 in Kraft getreten, das Verfahren also vor der Verkündung des Arbeitszimmerurteils durchgeführt worden war10. Zum Zeitpunkt der Beratung des Haushaltsbegleitgesetzes im Herbst 2003 konnte sich der Gesetzgeber dagegen nicht mehr auf Nichtwissen zurückziehen11. Unabhängig davon, dass vorliegend die Evidenz zu bejahen war, stellt sich freilich die Frage nach der dogmatischen Grundlage12 und verfassungsrechtlichen Rechtfertigung dieses zusätzlichen Erfordernisses für die Feststellung der Nichtigkeit eines Gesetzes. Schließlich kommt es zu einer empfindlichen Einschränkung, wenn nicht gar Entwertung der verfassungsrechtlichen Garantie demokratischer Verfahren13.
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BVerfG v. 8.12.2009 – 2 BvR 758/07, DVBl. 2010, 308 (312). BVerfG v. 8.12.2009 – 2 BvR 758/07, DVBl. 2010, 308 (312). BVerfG v. 7.12.1999 – 2 BvR 301/98, BVerfGE 101, 297. BVerfG v. 15.1.2008 – 2 BvL 12/01, BVerfGE 120, 56 (79 f.). Zuvor bereits Huber/Fröhlich, DÖV 2005, 322 (332). Zweifelnd Desens, NJW 2008, 2892 (2895): Der „Schuldvorwurf (vorsätzliche oder fahrlässige Nichtbeachtung offensichtlicher verfahrensrechtlicher Vorgaben)“ lasse sich „dogmatisch kaum“ rechtfertigen, dafür aber „soziologisch“. 13 Ebenso Pestke, Stbg 2010, 133, 135.
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Das BVerfG begründet seine diesbezügliche Rechtsprechung denkbar schlicht: Ein Mangel im Gesetzgebungsverfahren soll „mit Rücksicht auf die Rechtssicherheit“ nur dann zur Nichtigkeit des Gesetzes führen, wenn er evident ist14. Zur Begründung wird auf eine Entscheidung im 34. Band verwiesen15. Das Zitat ist selbstreferenziell, denn auch in der angeführten Ausgangsentscheidung im 34. Band wird nicht näher ausgeführt, warum der Bürger – auch soweit es um ihn belastende Normen, wie etwa die Streichung von Subventionen geht – aus Gründen der Rechtssicherheit ein Interesse am Bestand der in verfassungswidriger Weise zustande gekommenen Vorschriften haben könnte. Die vom BVerfG gezogene Parallele zum Verwaltungsakt16, dessen Nichtigkeit Evidenz des Fehlers voraussetzt, kann schon deshalb nicht überzeugen, weil es im Verfassungsprozessrecht an §§ 43 Abs. 2, 3; 44 Abs. 1 VwVfG entsprechenden Regelungen fehlt. Auch der in § 46 VwVfG bzw. § 127 AO zum Ausdruck kommende Aspekt der Verfahrenseffizienz17 trägt im Gesetzgebungsverfahren nicht. Die Aufhebung einer sachlich richtigen Verwaltungsentscheidung nur wegen eines Verfahrensfehlers führt nur dann zu einer unnützen Belastung der Verwaltungsbehörden und Gerichte, wenn keine andere Entscheidung möglich gewesen wäre. Sie ist damit auf gebundene Verwaltungsakte und Fälle der Ermessensreduktion auf Null beschränkt. Bei Gesetzen gibt es indes praktisch nie die Situation, dass keine andere inhaltliche Entscheidung möglich gewesen wäre und der Fehler keinerlei Einfluss auf den Ausgang des Gesetzgebungsverfahrens genommen hat, so dass nach Verwerfung des Gesetzes unmittelbar ein neues Gesetz desselben Inhalts erlassen werden müsste. Nur dann aber wäre es ein reiner Formalismus, das verfahrenswidrig zustande gekommene Gesetz zu Fall zu bringen18. Im politisch hochsensiblen Gesetzgebungsprozess kommt es nicht nur auf die Einhaltung der Beratungsrechte der Abgeordneten oder der Parlamentsöffentlichkeit19 an, vielmehr kann auch die Wahrung von Fristen und anderen Formalien den Ausgang des Verfahrens beeinflussen. Auch lässt sich gegen die Nichtigkeit nicht anführen, dem Verfahren komme geringere Bedeutung zu, solange nur der Inhalt des Gesetzes keine subjektiven Rechtspositionen der betroffenen Bürger verletzt. Brun-Otto Bryde weist zu Recht darauf hin, dass gerade im Hinblick auf die dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber zugestandene Gestaltungsfreiheit die Einhaltung des demokratischen Verfahrens kein bloßer Formalismus, sondern notwendige Kompensation gesetzgeberischer Gestaltungspielräume und Einschätzungsprärogativen ist20. Abgesehen von den durch sie geschützten Rechten der Ab-
__________ 14 BVerfG v. 15.1.2008 – 2 BvL 12/01, BVerfGE 120, 56. 15 BVerfG v. 26.7.1972 – 2 BvF 1/71, BVerfGE 34, 9 (25); ferner z. B. BVerfG v. 11.10.1994 – 1 BvR 337/92, BVerfGE 91, 148 (175). 16 BVerfG v. 26.7.1972 – 2 BvF 1/71, BVerfGE 34, 9 (25). 17 Tipke in Tipke/Kruse, § 127 AO Rz. 97. 18 Sehr restriktiv auch Bryde, JZ 1998, 115 (120); Huber/Fröhlich, DÖV 2005, 322 (332). 19 Dazu Morlok in Dreier, 2. Aufl. 2008, Art. 42 GG Rz. 28: Folge des Verstoßes muss die Nichtigkeit sein. 20 Bryde, JZ 1998, 115 (120).
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geordneten sichern die im Grundgesetz vorgesehenen Verfahren auch die Grundrechte der Bürger ab. Materiell gerechtfertigte Grundrechtseingriffe erfahren ihre Legitimität gerade durch das parlamentarische Verfahren. Deshalb ist der Bürger, was seit der Elfes-Entscheidung21 zum verfassungsrechtlichen Allgemeingut gehört, auch durch die Verfahrensverletzung subjektiv beschwert. Dieses dem Bürger früh zugebilligte Beschwerderecht hinsichtlich staatsorganisationsrechtlicher Vorschriften wird aber entwertet, wenn der Verstoß letztlich folgenlos bleibt. Erkennt man die Bedeutung des demokratischen Verfahrens an, dann lässt sich die Differenzierung zwischen den Folgen von Verstößen gegen das Gesetzgebungsverfahren gegenüber sonstigen Grundgesetzverstößen kaum noch aufrecht halten. Andererseits wäre eine Ausdehnung der „Evidenzrechtsprechung“ auch auf andere Bereiche fatal22 und macht umso deutlicher, dass es auch beim Rechtsschutz gegen Verfahrensmängel nicht auf die Erkennbarkeit ankommen kann. Das Verfassungsgerichtsverfahren würde die Funktion des Individualrechtsschutzes weitgehend verlieren, wenn man die Nichtigkeitsfolge auf evidente Verfassungsverstöße reduzieren würde. Die Offenheit der verfassungsrechtlichen Vorgaben für staatliches Handeln ist kein auf das Gesetzgebungsverfahren beschränktes Phänomen. Letztlich wären sämtliche Bereiche, in denen das Verfassungsgericht bisher nicht entschieden hat bzw. seine Rechtsprechung ändert, von der Nichtigkeitsfolge ausgenommen. Auf dieser Grundlage hätten z. B. die rückwirkenden Steuererhöhungen, über die das BVerfG kürzlich rechtsprechungsändernd entschieden hat23, gültig bleiben müssen. Zwar hat sich das BVerfG nicht dazu durchringen können, seine Veranlagungszeitraumrechtsprechung aufzugeben, es erklärt aber erstmalig unter bestimmten Voraussetzungen auch als lediglich unecht rückwirkend eingestufte Steuerrechtsänderungen für verfassungswidrig. Hier ging es noch nicht einmal um unsichere verfassungsrechtliche Vorgaben. Vielmehr konnte sich der Gesetzgeber – trotz der Kritik im Schrifttum24 – einigermaßen sicher fühlen, war doch zuvor in keinem einzigen Fall eine unechte steuergesetzliche Rückwirkung für verfassungswidrig erklärt worden. Die Beschränkung der ex-tunc-Nichtigkeit auf evidente Verfahrensverstöße birgt noch eine weitere Gefahr. Die evident verfassungswidrige Rechtslage soll den Gesetzgeber nämlich zur rückwirkenden Gesetzgebung berechtigen. Dies ist unproblematisch, soweit der Gesetzgeber – nunmehr unter Wahrung des
__________
21 BVerfG v. 6.1.1957 – 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32. 22 Sie findet sich andeutungsweise in der Praxis der sog. Appellentscheidungen, mit denen eine Änderung der verfassungsgerichtlichen Praxis eingeleitet wird. Hier wird die Nichtigerklärung vermieden, indem die Rechtslage als „noch“ verfassungskonform bezeichnet, der Gesetzgeber aber zum Handeln aufgefordert wird (so z. B. in der ersten Entscheidung zur Besteuerung von Alterseinkünften, vgl. BVerfG v. 26.3.1980 – 1 BvR 121/76, BVerfGE 54, 11; siehe auch Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, Rz. 1273). 23 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, DStR 2010, 1727; 2 BvR 748/05, DStR 2010, 1733 ff. und 2 BvL 1/03, DStR 2010, 1736 ff. 24 Vgl. z. B. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 177 mit zahlreichen Nachweisen.
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verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Verfahrens – die gesetzlichen Grundlagen für eine Begünstigung repariert, soll aber nach Auffassung des BVerfG auch zu einer Ausnahme vom Verbot der rückwirkenden Einführung (steuer)verschärfender Normen führen25. Damit blieben nicht evidente Verfahrensverstöße ohnehin folgenlos, evidente Verfahrensverstöße könnten, auch soweit die so ergangenen Gesetze zu einer Verschärfung der Rechtslage führen, rückwirkend korrigiert werden26. In keinem Fall käme es für den Gesetzgeber zu einer spürbaren Sanktion der Nichteinhaltung des verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Verfahrens27. Festzuhalten ist, dass es an der für eine Abweichung von der Nichtigkeitsrechtsfolge erforderlichen verfassungsrechtlichen Grundlage im Fall nicht evidenter Verfahrensfehler fehlt28. Das Risiko der Verfassungswidrigkeit muss der Gesetzgeber tragen. Ihn hiervon im Fall nicht evidenter Verfassungsverstöße freizuzeichnen, im Fall evidenter Verfassungsverstöße mit Rückwirkungsmacht auszustatten, macht den Bürger weitgehend wehrlos. Da hilft es auch nichts, dass das BVerfG im Beschluss zum Haushaltsbegleitgesetz 2004 die Anforderungen der Evidenz des Verfassungsverstoßes nicht allzu hoch gehängt hat. Im Schrifttum war durchaus auch vertreten worden, die erst im Vermittlungsausschuss beschlossenen Vorschläge der Koch-Steinbrück-Liste seien noch von der Bundestagsdebatte über Subventionsabbau gedeckt29. 3. Bloße Unvereinbarkeit der evident verfassungswidrigen Norm mit pro futuro-Reparaturauftrag a) Kombination von Evidenzerfordernis und Unvereinbarkeitsrechtsprechung Wer meint, die evident unzureichende Beteiligung des Bundestages beim Zustandekommen des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 werde – ungeachtet einer eventuell möglichen rückwirkenden Korrektur – zunächst zur Nichtigkeit führen, wird enttäuscht. Denn nachdem die Evidenzhürde genommen war,
__________ 25 Vgl. BVerfG v. 16.11.1965 – 2 BvL 8/64, BVerfGE 19, 187 (198) – gewerbesteuerlicher Staffeltarif; zustimmend P. Kirchhof, StuW 2000, 221 (228); Haas, Vertrauensschutz im Steuerrecht, 1998, S. 62 f.; Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, 1998, S. 162. 26 In diesem Sinne auch Palm, NVwZ 2008, 633 (635); ebenso Axer, DStR 2010, 1057 (1061), der allerdings etwas anders dahingehend argumentiert, dass auch ein formell verfassungswidriger Gesetzesbeschluss das Vertrauen in den Bestand der geltenden Rechtslage zerstört. 27 Hierzu ausführlicher Hey in DStJG 27 (2004), S. 91 (107 f.). 28 Daher ist die wohl h. M. im Schrifttum gegen das Erfordernis der Evidenz von Verfahrensverstößen als Voraussetzung der Ungültigkeit einer Norm, vgl. Huber/ Fröhlich, DÖV 2005, 323 (332); Bryde, JZ 1998, 115 (119 f.); Morlok in Dreier (Fn. 19), Art. 42 GG Rz. 28; Enk, Die verfassungswidrige Steuernorm und ihre Folgen, 2005, 196 f. ebenso für die Einschränkung der zeitlichen Wirkungen von BVerfG-Entscheidungen Seer, NJW 1996, 285 (289); Sangmeister, StuW 2001, 168 (179); Heußner, NJW 1982, 257 (259). 29 Schenke, FR 2004, 638 (642).
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griff das Gericht nunmehr auf seine im Steuerrecht so häufig praktizierte Unvereinbarkeitsrechtsprechung mit pro futuro-Wirkung zurück30. Rechtslogisch gab es keinen Grund, sich auf einen bloßen Unvereinbarkeitsausspruch mit zukünftiger Reformpflicht zurückzuziehen. Verfassungswidrige Gesetze sind grundsätzlich ex tunc für nichtig zu erklären (§§ 78 Satz 1, 82 Satz 1, 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG)31. Der Verfassungsverstoß führt ipso iure zur Nichtigkeit. Dem Spruch des BVerfG kommt nur deklaratorische Wirkung zu32. Zwingende Ausnahmen vom Nichtigkeitsausspruch sind grundsätzlich nur in zwei33 Konstellationen denkbar: Zum einen, wenn es – wie bei Art. 3 GG-Verstößen – mehrere Möglichkeiten gibt, die verfassungswidrige Rechtslage zu beseitigen34, zum anderen, wenn die Nichtigkeit der Norm, etwa im Fall zu niedriger Existenzminima, den Verfassungsverstoß noch vertiefen würde35. In beiden Fällen hat die bloße Unvereinbarkeitserklärung ihre Berechtigung. Der Gesetzgeber muss tätig werden, wobei er nur im ersteren Fall über Gestaltungsspielräume verfügt. Die Heraufsetzung zu niedriger Freibeträge ist dagegen verfassungsrechtlich (weitgehend) determiniert36. Abgesehen von diesen beiden Fällen, kann der Verfassungsverstoß unmittelbar durch die Nichtigerklärung behoben werden, so dass einer Unvereinbarkeitserklärung die dogmatische Grundlage fehlt37. Zudem darf auch dort, wo die Unvereinbarkeitsfeststellung ihre Berechtigung hat, der Verzicht auf die Nichtigkeitsfeststellung nicht mit einer bloßen ex-nunc oder pro futuro-Wirkung gleichgesetzt werden. Die Unvereinbarkeitserklärung als solche führt zu einer umfassenden Anwendungs- und Vollstreckungssperre verbunden mit der Pflicht, rückwirkend einen verfassungskonformen Zustand herzustellen38. Inhalt und zeitlicher Anwendungsbereich der Entscheidung sind strikt voneinander zu unterscheiden. Die im Beschluss zum Haushaltsbegleitgesetz 2004 zu beantwortende Frage der Ordnungsmäßigkeit des Zustandekommens von Gesetzen ist mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten. Die Einhaltung der zwingenden verfas-
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BVerfG v. 8.12.2009 – 2 BvR 758/07, DVBl. 2010, 308 (312). Stern in Bonner Kommentar, Art. 93 GG Rz. 270 ff. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, S. 245 Rz. 380. Das Bundesverfassungsgericht zieht den Anwendungsbereich seiner Unvereinbarkeitsaussprüche mittlerweile indes sehr viel weiter. So identifizieren Benda/Klein (Fn. 22), Rz. 1267–1273 allein 5 Fallgruppen; sehr kritisch zu dieser Ausweitung Schlaich/Korioth (Fn. 32), S. 252 ff. Benda/Klein (Fn. 22), Rz. 1269. Mit Beispielen aus dem nichtsteuerlichen Bereich Benda/Klein (Fn. 22), Rz. 1268. Zutreffend Sangmeister, StuW 2001, 168 (178), wobei die DM-/Eurogenaue Ableitung von Freibeträgen aus dem Grundgesetz durchaus zweifelhaft ist, vgl. BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246 (259 ff.). Vgl. auch Seer in Tipke/Lang (Fn. 24), § 22 Rz. 285: Nichtigerklärung „findet aber dort ihre vorrangige Anwendung, wo bereits durch die Kassation der als verfassungswidrig erkannten Norm die verfassungsmäßige Lage in eindeutiger Weise wieder hergestellt wird.“ Vgl. etwa Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 358 f.; Moes, StuW 2008, 27 (29); Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2004, S. 9 f.
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sungsrechtlichen Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren birgt keine gesetzgeberischen Gestaltungsspielräume. Für eine Unvereinbarkeitserklärung war damit kein Raum. Der Verstoß gegen Verfahrensvorschriften hätte durch die Nichtigerklärung der verfahrenswidrig zustande gekommenen Normen des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 unmittelbar aus der Welt geschafft werden können. Es ging auch gar nicht um die Wahrung der Kompetenzbalance zwischen BVerfG und Gesetzgeber. Denn die Betonung lag nicht auf der Feststellung der Unvereinbarkeit, die ja grundsätzlich eine Reparaturpflicht auch für die Vergangenheit nach sich zieht, sondern auf der zeitlichen Fortgeltungsanordnung. Zur Rechtfertigung des Absehens von der Ex-tunc-Nichtigkeitsrechtsfolge führt das Gericht an, dass andernfalls „dem gesetzgeberischen Konzept des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 rückwirkend die Grundlage entzogen würde“. Die Norm müsse vorläufig anwendbar bleiben, „um dem Interesse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für weitgehend schon abgeschlossene Zeiträume Rechnung zu tragen“. Diese Argumentation ist nicht neu, auch nicht die Kritik an dieser Art von Unvereinbarkeitsaussprüchen mit pro futuro-Wirkung39. Neu ist die Kombination mit dem Erfordernis der Evidenz von Verfahrensverstößen. In dieser Kombination begegnen beide Hürden auf dem Weg zur Nichtigkeit noch mehr Bedenken als jede einzelne Beschränkung für sich genommen. b) „Interesse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung“ Kern der Unvereinbarkeitsrechtsprechung im Steuerrecht ist die Sorge vor den finanziellen Folgen der Nichtigerklärung von Steuergesetzen40. Dabei kann der bloße Steuerausfall infolge der Rückerstattung verfassungswidrig erhobener Steuern eine Ausnahme von der Rückwirkung verfassungsgerichtlicher Beanstandungen nicht rechtfertigen41. Das Fiskalargument ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG42 nicht geeignet, Grundrechtsverletzungen zu rechtfertigen. Nichts anderes kann gelten, wenn es um die zeitliche Wirkung der Beanstandung von Grundrechtsverletzungen durch das BVerfG geht43. Dem Argument „fiskalischer Rücksichtnahme“ fehlt zudem jedes erkennbare Maß44. Es bleibt völlig offen, ab wann der Budgetschutz das Interesse an Beseitigung des Verfassungsverstoßes für die Vergangenheit überwiegt. Roman
__________ 39 Vgl. insb. Seer, NJW 1996, 285 ff.; Drüen, FR 1999, 289 ff.; Sangmeister, StuW 2001, 168 ff.; Tipke, StuW 2004, 187 (188 ff.); Moes, StuW 2008, 27 ff., wenn auch mit einem vermittelnden Lösungsvorschlag. 40 Hierzu insb. Drüen, FR 1999, 289 ff. 41 So kürzlich noch einmal Moes, StuW 2008, 27 (30 ff.). 42 Vgl. BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (80) (Haushaltsbesteuerung); BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (89) (steuerfreies Existenzminimum); BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL2/99, BVerfGE 116, 164 (182) (§ 32c EStG). 43 Seer, NJW 1996, 285 (289); Drüen, FR 1999, 289 (290); Tipke, StuW 2004, 187 (188). 44 Vgl. z. B. Moes, StuW 2008, 27 (31).
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Seer weist darauf hin, dass mit dem Haushaltsargument letztlich kein Steuergesetz mehr ex tunc für nichtig erklärt werden dürfte, weil die Verfassungswidrigkeit belastender Steuernormen in offenen Veranlagungen stets die Steuereinnahmen vergangener Haushaltsperioden berührt45. Entsprechend willkürlich mutet das Verfahren an, nach dem das Gericht dem Budgetschutz Bedeutung beimisst. Die Entscheidung zum Personennahverkehr beziffert die zu befürchtenden Haushaltsausfälle gar nicht erst. In der KochSteinbrück-Liste war das Einsparpotential aus der Kürzung der Subventionen im öffentlichen Personennahverkehr mit 1,6 Mrd. Euro angegeben, durchaus ein spürbarer Betrag. Andererseits spielte in der Entscheidung zur Entfernungspauschale die Verlässlichkeit der Haushalts- und Finanzplanung keine Rolle46, obwohl die Haushaltswirkungen mit 2,5 Mrd. Euro voller Jahreswirkung noch größer waren47. Das Gericht erklärte die Einschränkung der Entfernungspauschale durch das Steueränderungsgesetz 2007 gleichwohl für nichtig und begründete dies vor allem mit dem kurzen Zeitraum zwischen Gesetzesänderung und Entscheidung von weniger als zwei Jahren. Damit käme Richtervorlagen bereits durch die Finanzgerichte als schnellstmöglicher Weg zum BVerfG große Bedeutung zu. Freilich würde dies nicht die Gefahr bannen, dass der Normenkontrollantrag beim BVerfG liegen bleibt, zumal nicht erkennbar ist, nach welchem Muster das BVerfG die Verfahren abarbeitet. Die zügige Entscheidung zur Entfernungspauschale48 hat Ausnahmecharakter. So dauerte das Erbschaftsteuerverfahren49 ab der BFH-Vorlage viereinhalb Jahre50, das Verfahren zur Verfassungsmäßigkeit der Einschränkung von Jubiläumsrückstellungen51 neuneinhalb Jahre52; die Entscheidungen zur Zulässigkeit diverser steuerverschärfender Rückwirkungen53 aufgrund der Vorlagen vom 16.7. 200254, 6.11.200255 und 16.12.200356 haben sieben bzw. acht Jahre gebraucht; die Erledigung des Normenkontrollantrags zur Bestimmtheit von § 2 Abs. 3 Satz 2 ff. EStG a. F. vom 6.9.200657 steht noch aus. Diese ungleiche Praxis in der zeitlichen Abarbeitung von Verfahren wäre rechtsstaatlich noch bedenk-
__________ 45 Seer, NJW 1996, 285 (289). 46 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (236 f.). 47 BT-Drucks. 16/1545 zum Steueränderungsgesetz 2007 ging von einer vollen Jahreswirkung von 2,5 Mrd. Euro aus. 48 Mit der weiteren Besonderheit, dass die Vorlage des FG Niedersachsen bereits im Klageverfahren auf Eintragung der Entfernungspauschale in der Lohnsteuer erfolgte, vgl. FG Niedersachsen v. 27.2.2007 – 8 K 549/06, EFG 2007, 690. 49 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (Erbschaftsteuer II). 50 Beschluss v. 22.5.2002 – II R 61/99, BStBl. II 2002, 598. 51 Auf Vorlage des BFH v. 10.11.1999 – X R 60/95, BStBl. II 2000, 131. 52 BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111. 53 Wobei allerdings eine ex-nunc-Entscheidung in den Rückwirkungsverfahren unabhängig von den Haushaltsauswirkungen schlechterdings nicht denkbar ist, zumal die haushalterischen Auswirkungen der Nichtigkeit hier von vornherein begrenzt sind, ebenso Moes, StuW 2008, 27 (33). 54 BFH v. 16.7.2002 – IX R 62/99, BStBl. II 2003, 74. 55 BFH v. 6.11.2002 – XI R 42/01, BStBl. II 2003, 257. 56 BFH v. 16.12.2003 – IX R 46/02, BStBl. II 2004, 284. 57 BFH v. 6.9.2010 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 167.
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licher, wenn der Zeitraum zwischen der inkriminierten Gesetzesänderung und der Entscheidung des BVerfG die Tenorierung beeinflussen würde58. Um mehr Konkretisierung ist der EuGH bemüht, der die Haushaltsinteressen des Staates zwar ebenfalls anerkennt, aber sehr viel restriktiver handhabt und dem Fiskalargument allenfalls zur Abwehr haushaltsrechtlicher Notlagen Bedeutung beimessen will59. Und auch dann sollen die haushalterischen Auswirkungen allein nicht ausreichen. Hinzutreten muss Unsicherheit bezüglich der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben. Es geht mithin um eine Art Vertrauensschutz zugunsten des Gesetzgebers. Mit dieser Einschränkung wird dem Argument der „verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung“ auch hinsichtlich der Rechtsprechung des BVerfG gelegentlich eine gewisse Berechtigung zugesprochen60. Indes lässt sich auch ein Schutz des Gesetzgebers vor verfassungsgerichtlichen Überraschungen dogmatisch nicht begründen61. Schließlich kann sich der Staat – wie übrigens der EuGH ohne Umschweife erkennt62 – nicht zu seinen Gunsten auf das Rechtsstaatsprinzip als Grundlage eines Anspruchs auf Vertrauensschutz berufen. Das Rechtsstaatsprinzip schützt den Staat nicht vor dem Bürger, sondern nur umgekehrt. Im Übrigen ginge es hier letztlich um einen Schutz des Staates vor sich selbst. Zudem beschränkt das BVerfG den Budgetschutz nicht auf Situationen, in denen der Gesetzgeber die Verfassungswidrigkeit nicht erkennen konnte. Im Gegenteil, im Beschluss zum Haushaltsbegleitgesetz 2004 gibt das Gericht, nachdem es festgestellt hat, dass der Verfassungsverstoß für den Gesetzgeber evident war, dem Interesse des Staates an verlässlicher Haushaltsplanung Vorrang vor der Einhaltung demokratischer Verfahren zum Schutz des Bürgers63. Hier wird überdeutlich, dass es dem BVerfG nicht darum geht, dem Gesetzgeber die Risiken der Beurteilung bisher nicht geklärter Verfassungsfragen abzunehmen. Übrig bleibt das schnöde64 Fiskalargument, wohlgemerkt ohne dass es auf das Ausmaß der Belastung der Haushalte ankäme. Damit kann der Gesetzgeber auch in Zukunft weitgehend gefahrlos gegen die verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren verstoßen. Man fragt sich,
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58 Vor dem Faktor des Zeitablaufs als Entscheidungskriterium zwischen Nichtigkeit und Unvereinbarkeit warnt Tipke, BB 2007, 1525 (1533). 59 Vgl. z. B. EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99, EuGHE 2001, I-6193 Rz. 53 – Grzelczyk; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03, EuGHE 2005, I-2119 Rz. 67 – Bidar; EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-475/03, EuGHE 2006, I-9373 – Banca Popualare di Cremona. 60 Moes, StuW 2008, 27 (32 ff.). 61 Moes, StuW 2008, 27 (32) sieht eine Möglichkeit darin, bezüglich unklarer Verfassungsrechtslagen, das Dogma der lediglich deklaratorischen Wirkung von Entscheidungen des BVerfG einzuschränken. 62 Z. B. EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-177/99 Ampafrance, EuGHE 2000, 7013, 2. Leitsatz. 63 Anders hatte das Gericht in der Entscheidung zur Entfernungspauschale geurteilt. Dort hat es dem Umstand, dass der Gesetzgeber aufgrund der massiven Kritik im Schrifttum gewarnt war, durchaus Bedeutung beigemessen, vgl. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (246 f.). 64 Damit soll die Bedeutung der Verlässlichkeit der Steuereinnahmen (s. Drüen, FR 1999, 289 [291]) keineswegs in Abrede gestellt, sondern lediglich deutlich gemacht werden, dass hier einseitig die Fiskalinteressen eines sehenden Auges gegen die Verfassung verstoßenden Gesetzgebers über den Grundrechtsschutz gestellt werden.
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warum das Gericht zuvor die Bedeutung ausreichender Beratung im Bundestag für die demokratische Kontrolle der Gesetzgebung hervorgehoben hat65. c) Gleichmäßiger Verwaltungsvollzug für weitgehend abgeschlossene Zeiträume Das Judikat zum Personennahverkehr stützt sich indes nicht allein auf das Fiskalargument, sondern führt desweiteren das Interesse an einem „gleichmäßigen Verwaltungsvollzug für weitgehend abgeschlossene Zeiträume“ an. Ohne weitere Konkretisierung kann auch dieses Argument nicht überzeugen, da die Konsequenzen der Ungültigkeit einer Norm für den Verwaltungsvollzug stark von der konkreten Verfahrenssituation abhängen66. Zutreffend ist, dass eine Entscheidung mit ex tunc-Wirkung zu einer Aufrollung von Steuerverfahren führen kann. Dabei muss unterschieden werden, ob die Bescheide bezüglich der verfassungswidrigen Regelung flächendeckend gemäß § 165 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 AO für vorläufig erklärt wurden oder ob jeder einzelne Steuerpflichtige zur Vermeidung der Rechtsfolge des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG Einspruch bzw. Klage einlegen musste. In ersterem Fall sorgt ein allgemein angeordneter Vorläufigkeitsvermerk dafür, dass alle Steuerpflichtigen gleichermaßen von der für sie positiven Entscheidung des BVerfG profitieren. Soweit es im zweiten Fall davon abhängt, ob die Steuerpflichtigen den Eintritt der Bestandskraft verhindert haben, kommt es zwar zu Ungleichheiten. Diese sind aber, wie aus § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG folgt, kein Argument gegen die Nichtigerklärung. § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG verwirklicht einen Interessenausgleich zwischen den staatlichen Praktikabilitätsinteressen und dem Grundrechtsschutz des Bürgers67, indem die Bestandskraft der Anwendung für die Vergangenheit eine Grenze zieht. Hierdurch entstehende Ungleichheiten sind gesetzgeberisch legitimiert. Diese Entscheidung des Gesetzgebers kann vom BVerfG nicht ohne triftigen Grund modifiziert und zulasten der Herstellung materieller Gerechtigkeit weiter in Richtung Rechtssicherheit und Praktikabilität verschoben werden, zumal weitergehende Vollzugsprobleme der rückwirkenden Umsetzung der Entscheidung, die über den stets mit steuerlichen Massenverfahren verbundenen Aufwand hinausgehen, nicht ersichtlich sind. Im Übrigen kann, gerade wenn der Staat – wie beim Erlass des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 – sehenden Auges gegen verfassungsrechtliche Vorgaben verstößt, dem Bürger nicht entgegengehalten werden, die Beseitigung der Folgen dieses illegalen Handelns sei zu mühsam. Sollte sich das BVerfG daran stören, dass in Fällen, in denen nicht nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO verfahren wird, nicht alle Bürger gleichermaßen von der Nichtigkeit der Norm profitie-
__________ 65 BVerfG v. 8.12.2009 – 2 BvR 758/07, DVBl. 2010, 308 (309). 66 Zu den unterschiedlichen Konstellationen ausführlich Enk, Die verfassungswidrige Steuernorm und ihre Folgen, 2005, S. 151 ff. 67 Seer, NJW 1996, 285 (289); Schlaich/Korioth (Fn. 32), S. 250 Rz. 393, die bereits § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG als durchaus problematisch einschätzen.
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ren, hätte dies zudem die Konsequenz, dass die Finanzverwaltung es in der Hand hätte, durch eine (noch) restriktivere Handhabung von § 165 AO einen Grund für eine bloße Unvereinbarkeitserklärung zu schaffen. d) Gesetzgeberischem Konzept darf nicht rückwirkend die Grundlage entzogen werden Wenig Beachtung hat in der Auseinandersetzung mit der Unvereinbarkeitsrechtsprechung bisher das Argument gefunden, die zeitliche Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm solle verhindern, dass dem gesetzgeberischen Konzept des in verfassungswidriger Weise zustande gekommenen Gesetzes rückwirkend die Grundlage entzogen werde. Diesen Gesichtspunkt hat das Gericht bereits im Kohlepfennig-Beschluss vom 11.10.199468 bemüht, freilich ohne dass weiter konkretisiert worden wäre, was unter dem „gesetzgeberischen Konzept“ zu verstehen ist bzw. inwieweit diesem durch eine Nichtigerklärung der Boden entzogen würde69. Die Frage nach der Wirkung der Nichtigkeit einzelner Vorschriften auf das Gesamtkonzept stellt sich insbesondere, wenn ein Gesetz eine Vielzahl unterschiedlicher Regelungen enthält. So bestehen insb. steuerrechtliche Änderungsgesetze („Omnibusgesetzgebung“, Jahressteuergesetze70) häufig aus einem Konglomerat von Änderungen teils belastender, teils begünstigender Natur. Hier ist zunächst zu klären, wie weit die Rechtsfolge der Nichtigkeit geht. Unproblematisch wäre es, wenn das gesamte Gesetz nichtig wäre, sobald einzelne Vorschriften nicht hinreichend im Parlament beraten wurden. Dies ist indes nicht der Fall. Selbst wenn sich ein Verfahrensfehler auf sämtliche in dem Gesetz enthaltene Regelungen bezieht, führt dies nicht automatisch zur Nichtigkeit des gesamten Gesetzes71. Denn angegriffen werden regelmäßig nur die belastenden Normen, schon weil dem Bürger für Verfahren gegen begünstigende Normen das Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Gegen eine Erstreckung der rückwirkenden Nichtigerklärung auch auf verfahrenswidrig zustande gekommene begünstigende Normen würde zudem das Gebot der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sprechen72. Hieraus kann bei einem Gesetz, das
__________ 68 BVerfG v. 11.10.1994 – 2 BvR 633/86, BVerfGE 91, 186 (207): „Eine Nichtigerklärung würde dazu führen, dass das mit der Ausgleichsabgabe nach dem Dritten Verstromungsgesetz verfolgte Konzept der Steinkohleverstromung unvermittelt seine Grundlage verlöre. Das Gemeinwohl gebietet hier aber einen schonenden Übergang von der verfassungswidrigen zu einer verfassungsgemäßen Rechtslage.“ 69 Dementsprechend berechtigt ist die Kritik von Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2004, S. 68 f. 70 So ausdrücklich Vorbemerkung zum Jahressteuergesetz 2010, BT-Drucks. 17/2249, S. 1: „Das Jahressteuergesetz enthält eine Vielzahl thematisch nicht oder nur partiell miteinander verbundener Einzelmaßnahmen“. 71 BVerfG v. 6.12.1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325 (358); Enk, Die verfassungswidrige Steuernorm und ihre Folgen, 2005, S. 51 f. 72 Ebenso Seer, NJW 1996, 285 (289). Eine Einschränkung des Vertrauens in das verfassungswidrige Gesetz ist auch bei evidenten Fehlern grundsätzlich abzulehnen, vgl. hierzu differenzierter ausführlich Hey in DStJG 27 (2004), S. 91 (103 ff.).
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sowohl belastende als auch begünstigende Normen enthält, das Dilemma entstehen, dass die begünstigenden Normen für die Vergangenheit aus Vertrauensschutzgründen aufrecht erhalten werden müssten, während die belastenden Normen für nichtig zu erklären wären. Damit können in der Tat aus Gesetzen einzelne Bausteine herausgebrochen werden. Zwar kann das BVerfG gemäß § 78 Satz 2 BVerfGG den Entscheidungsgegenstand der abstrakten Normenkontrolle erweitern, und das BVerfG hält eine Anwendung dieser – mit dem (Individual-)Rechtsschutzcharakter allerdings nur schwer vereinbaren – Norm auch auf andere Verfahren für zulässig73. Damit bestünde grundsätzlich die Möglichkeit, eine Gesamtnichtigkeit festzustellen. Die Regel ist indes die Teilnichtigkeitserklärung74. In Verfahren nach Art. 100 GG wird nur die entscheidungserhebliche Norm bzw. bei der Individualverfassungsbeschwerde nur die Norm, auf der die Grundrechtsverletzung beruht, überprüft und gegebenenfalls für nichtig erklärt. Es ist eine rein hypothetische Frage, ob das BVerfG im Beschluss vom 8.12.2009 auch die ebenfalls im Haushaltsbegleitgesetz 2004 beschlossene Absenkung des Einkommensteuertarifs hätte für nichtig erklären können, da diese in der ursprünglichen Gesetzesvorlage enthalten75 und damit ausreichend im Bundestag erörtert wurde. Die Verfahrensfehler betrafen nur die belastenden Gegenfinanzierungsmaßnahmen, ohne die die Einkommensteuertarifsenkung nicht beschlossen worden wäre. Unabhängig davon ist ein pauschaler Hinweis auf das „gesetzgeberische Konzept“ ungeeignet, die (zeitlich befristete) Fortgeltung von Grundrechtseingriffen, die nicht in dem verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfahren beschlossen wurden, zu rechtfertigen. Schon die Ausgangsannahme, der Gesetzgeber folge bei Jahressteuergesetzen und sonstigen Omnibusgesetzen einem „Konzept“, d. h. einem irgendwie gearteten Leitgedanken, der die Materie ordnet, lässt sich nicht halten. Es handelt sich vielmehr in der Regel um ein Sammelsurium von Einzeländerungen, denen allenfalls in einzelnen Bereichen ein System zugrunde liegt. Begünstigungen und Belastungen treffen, wenn überhaupt, eher zufällig in der Person eines Steuerpflichtigen zusammen. So ist ein sachlicher Zusammenhang zwischen der Kürzung von Subventionen im Bereich des Personennahverkehrs, über die das BVerfG im Beschluss vom 8.12.2009 zu befinden hatte, und dem Vorziehen der Senkung des Einkommensteuertarifs von 2004 auf 2005 nicht erkennbar und wird auch nicht näher begründet. Gegen die Figur des „Schutzes des gesetzgeberischen Gesamtkonzeptes“ spricht zudem, dass die Feststellung des Verfahrensverstoßes ja gerade auf dem Umstand fußte, dass die erst im Vermittlungsausschuss aufgenommenen Regelungen keineswegs zwingend von dem im Gesetzentwurf genannten Ziel des Subven-
__________ 73 BVerfG v. 12.3.1996 – 1 BvR 609/90, BVerfGE 94, 241 (265); BVerfG v. 10.11.1998 – 1 BvR 2296/96, BVerfGE 99, 202 (216); BVerfG v. 21.11.2001 – 1 BvL 19/93, BVerfGE 104, 126 (150); kritisch Ulsamer/Müller-Terpitz in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, § 81 BVerfGG Rz. 4. 74 Schlaich/Korioth (Fn. 32), S. 246 Rz. 384. 75 BT-Drucks. 15/1502, S. 1 (10).
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tionsabbaus umfasst waren76. Das „Konzept“ bestand allein darin – mehr oder weniger beliebig – Gegenfinanzierungsmasse zu kreieren. Politisch mag es sich dabei durchaus um ein Gesamtkonzept handeln, insbesondere wenn erst im Vermittlungsausschuss notwendige Gegenfinanzierungsmaßnahmen beschlossen bzw. Aufkommenswirkungen zwischen den einzelnen Steuergläubigern austariert werden. Würde man hierin das gesetzgeberische Konzept sehen, dem die Grundlage nicht entzogen werden darf, dann würden Verletzungen des demokratischen Verfahrens im Steuerrecht praktisch nie zur ex-tunc-Nichtigkeit führen, denn häufig steht und fällt die in Art. 105 Abs. 3 GG vorgeschriebene Zustimmung zu Steuergesetzen mit spontanen Änderungen im Vermittlungsausschuss. Eine Beschränkung der zeitlichen Wirkungen des Entscheidungsausspruchs ist aus meiner Sicht jedoch allenfalls denkbar, wenn belastende und begünstigende Normen sachlich untrennbar miteinander verbunden sind, Vor- und Nachteil bei ein und derselben Person eintreten. Nur dann könnte die ex-tuncNichtigerklärung nur des belastenden Teils der Regelung „das Gesamtkonzept“ des Gesetzes gefährden. Ein solches entsteht jedoch nicht durch einen bloßen Gegenfinanzierungszusammenhang. Dies gilt insbesondere, wenn gesetzesübergreifend z. B. eine Einkommensteuertarifsenkung mit Erhöhungen der Erbschaft- oder Biersteuer gegenfinanziert wird77. Aber auch innerhalb des Einkommensteuergesetzes fehlt es zwischen gegenfinanzierenden Verbreiterungen der Bemessungsgrundlage – z. B. wahllosen Kürzungen der Befreiungen des § 3 EStG – und einer Tarifsenkung an einer hinreichenden sachlichen Verknüpfung. Von einer allgemeinen Tarifsenkung profitieren alle Steuerpflichtigen, die Gegenfinanzierung wird aber nur einzelnen Gruppen aufgebürdet, die nicht mehr Bezug zum Tarifvorteil aufweisen als andere.
III. Folgerungen aus der Entscheidung vom 8. Dezember 2009 für steuerrechtliche Regelungen des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 1. Verfassungswidrigkeit weiterer Gegenfinanzierungsmaßnahmen Die Feststellungen des BVerfG lassen den unmittelbaren Rückschluss zu, dass auch die erst im Vermittlungsausschuss eingebrachten Kürzungen von Steuervergünstigungen an einem evidenten Verfahrensmangel leiden. So wurden erst aufgrund der sog. Koch-Steinbrück-Liste diverse Vergünstigungstatbestände78 im Erbschaftsteuerrecht „völlig überraschend“79 beschnitten. Im Gesetzesbeschluss des Bundestages waren keinerlei Änderungen der Erbschaftsteuer
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76 Huber/Fröhlich, DÖV 2005, 322 (331). 77 Vgl. Höninger/Levedag, FR 2004, 739 (744), die – m. E. noch zu weit – den Sachzusammenhang aus der „Individualperspektive des einzelnen Steuergesetzes“ herleiten wollen. 78 Kürzung des Freibetrags für Betriebsvermögen gemäß § 13a Abs. 1 ErbStG a. F., des Bewertungsabschlags gemäß § 13a Abs. 2 ErbStG a. F. und des Entlastungsbetrags gemäß § 19a ErbStG a. F. 79 Wachter, DB 2004, 31.
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enthalten gewesen. Selbiges gilt für die Änderungen von § 2 Abs. 2 S. 1 und 4 des Biersteuergesetzes sowie die Kürzung der Gewerbesteuerermäßigung für Hausgewerbetreibende in § 11 Abs. 3 GewStG. Aber auch die Ausdehnung der Kürzungen auf weitere Tatbestände in § 3 EStG80 oder die Absenkung der Abzugsgrenzen für Werbegeschenke (§ 4 Abs. 5 Nr. 1 EStG) waren nicht von der Gesetzesinitiative mit umfasst. Zwar enthielt der ursprüngliche Gesetzesbeschluss81 bereits die Kürzung einzelner einkommensteuerlicher Befreiungstatbestände. Doch Steuersubventionsabbau ist ein „weites Feld“. Auch wenn sich die Koch-Steinbrück-Vorschläge der sog „Rasenmähermethode“82 bedienten, d. h. einer prozentualen Kürzung einer Vielzahl von Vergünstigungen statt der vollständigen Abschaffung einzelner Privilegien, bleibt die Auswahl willkürlich. Bei § 4 Abs. 5 Nr. 1 EStG handelt es sich gar nicht um eine Steuervergünstigung. Zudem hätte statt in § 4 Abs. 5 Nr. 1 EStG genauso gut die Abzugsgrenze in § 4 Abs. 5 Nr. 2 EStG herabgesetzt oder andere Nummern in § 3 EStG beschnitten werden können. Die Ausweitungen im Vermittlungsausschuss waren somit nicht logische Folge der bereits beratenen Kürzungen. 2. Reaktionen des Steuergesetzgebers Dies wirft die Frage nach dem steuergesetzlichen Handlungsbedarf auf. Die BVerfG-Entscheidung vom 8.12.2009 beschränkt sich auf die Überprüfung der Gesetzesänderungen des Personenbeförderungsgesetzes. Das Gericht hat – unabhängig von der Frage, ob eine analoge Anwendung von § 78 Satz 2 BVerfGG im Rahmen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens überhaupt zulässig ist83 – von der Möglichkeit, weitere Bestimmungen des gleichen Gesetzes aus denselben Gründen für verfassungswidrig zu erklären, keinen Gebrauch gemacht. Es war daher Aufgabe des Steuergesetzgebers zu beurteilen, ob und welche Vorschriften des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 er erneut erlassen muss. Nachdem im Jahressteuergesetz 2010 zunächst nur die § 34 EStG und § 11 Abs. 3 GewStG „parlamentarisch bestätigt“ wurden84, hat der Gesetzgeber mit dem „Gesetz zur bestätigenden Regelung verschiedener steuerlicher und verkehrsrechtlicher Vorschriften des Haushaltsbegleitgesetzes 200485“ den Beratungsmangel flächendeckend „geheilt“. Ausgespart wurde dabei allerdings die verfassungswidrige Kürzung der Betriebsvermögensvergünstigungen in §§ 13a,
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80 Streichung der Steuerfreiheit von Arbeitgeberzuschüssen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (§ 3 Nr. 34 EStG); Kürzung des Freibetrags für Sachprämien (§ 3 Nr. 38 EStG). 81 Zwar benannte bereits der ursprüngliche Gesetzesentwurf als Ziele einerseits die Überwindung der konjunkturellen Stagnation und andererseits die Konsolidierung der Staatsfinanzen (vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 15/1502, S. 1 und 16). Diese durchaus disparaten Ziele sollten durch das Vorziehen der bereits 1999 beschlossenen Absenkung des Einkommensteuertarifs gegenfinanziert und durch einen verstärkten Subventionsabbau erreicht werden. 82 Vgl. Hey in Tipke/Lang (Fn. 24), § 19 Rz. 86. 83 Dies bejahen z. B. BVerfG v. 12.3.1996 – 1 BvR 609/90, BVerfGE 94, 241 (265) und BVerfG v. 10.11.1998 – 1 BvR 2296/96, BVerfGE 99, 202 (216). 84 BT-Drucks. 17/2249. 85 BR-Drucks. 583/10.
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19a ErbStG a. F. Da die Vorschriften infolge der Erbschaftsteuerreform 2008 außer Kraft getreten sind, besteht hier kein Handlungsbedarf, schließlich soll der verfassungswidrige Zustand nach dem Personennahverkehrsbeschluss für die Vergangenheit folgenlos bleiben. Zu einer Änderung von Steuerfestsetzungen wird es in keinem Fall kommen, obzwar Einkommen- und Körperschaftsteuerbescheide für Veranlagungszeiträume ab 2004 im Hinblick auf das verfassungswidrige Zustandekommen des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig ergangen sind86. Der Gesetzgeber hat die Personennahverkehrsentscheidung nicht zum Anlass genommen, die in verfassungswidriger Weise zustande gekommenen Subventionskürzungen rückwirkend zurückzunehmen. Er hätte dies durchaus gekonnt. Doch wie nicht anders zu erwarten, hat sich der Gesetzgeber nicht wirklich noch einmal in der Sache mit den damaligen Subventionskürzungen befasst, wohl auch weil sich die Gesetzgebungsberatungssituation des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 nicht nachstellen lässt. Das Reparaturgesetz kommt daher als reiner Formalismus daher.
IV. Zusammenfassung und Ausblick Die Begründung der ex-nunc-Aussprüche ist formelhaft87. Der wahre Grund dürfte, auch wenn das Gericht gleichzeitig auf Rechtssicherheit, gesetzgeberische Gesamtkonzepte und die Gleichmäßigkeit des Verwaltungsvollzugs rekurriert, letztlich – verbrämt mit vermeintlich auf einen Interessenausgleich abzielenden Argumenten – allein im Budgetschutz zu sehen sein88. Besonders kritikwürdig ist die im Beschluss vom 8.12.2009 praktizierte Kombination von Evidenzrechtsprechung und Unvereinbarkeitsauspruch. Der Gesetzgeber verletzt die verfassungsrechtlichen Vorgaben sehenden Auges und kommt doch davon. Dabei basiert die ohnehin kritikwürdige Einschränkung, dass Verfahrensfehler nur bei Evidenz zur Nichtigkeit führen, auf denselben Erwägungen, die auch der – ebenso kritikwürdigen – Unvereinbarkeitsrechtsprechung mit ex nunc- oder pro futuro-Wirkung zugrundeliegen. Die Beanstandung von Verfahrensfehlern ist ohnehin schon auf evidente Mängel beschränkt. Wie kann es dann sein, dass dem Steuergesetzgeber, nachdem die Evidenz bejaht wurde, bei der zeitlichen Wirkung zugestanden wird, er habe sich in seiner Finanz- und Haushaltsplanung auf den Bestand der Norm verlassen können? So positiv es ist, dass die Anforderungen an eine ordnungsgemäße parlamentarische Beratung vom BVerfG präzisiert wurden und Verstöße beim Namen benannt werden, die Gefahr überraschender Ergänzungen im Vermittlungsausschuss ist nicht gebannt, wenn auch evidente Verstöße nicht die Sanktion der ex-tunc-Nichtigkeit nach sich ziehen89.
__________ 86 BMF-Schreiben v. 15.2.2010, BStBl. I 2010, 74. 87 Siehe auch die Kritik von Seer, NJW 1996, 285 (290): Begründungsaufwand in umgekehrtem Verhältnis zur Signalwirkung derartiger Tenorierungen. 88 Ebenso Pestke, Stbg 2010, 135. 89 A. A. Axer, DStR 2010, 1057 (1061 f.).
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Sehr bedauerlich wäre es, wenn sich die Entscheidung negativ auf die Vorlagepraxis des BFH auswirken wird. Insgesamt ist die Finanzgerichtsbarkeit, wie die deutlich gestiegene Zahl der Richtervorlagen gemäß Art. 100 GG90 zeigt, sehr viel verfassungssensibler geworden. Doch die Vorlagebereitschaft der Finanzgerichtsbarkeit steht zweifelsohne in einem Wechselspiel mit der Rechtsprechung des BVerfG91. Denn die für einen Normenkontrollantrag erforderliche Überzeugung der Verfassungswidrigkeit92 entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern reflektiert die geltende Praxis des BVerfG und sich abzeichnende Entwicklungen. Deutlich wird dies etwa an der Vorlagepraxis zur Rückwirkung von Steuergesetzen93, die nach der erfolglosen94 Vorlage zum Außensteuergesetz95, erst wieder aufgenommen wurde96, nachdem das BVerfG mit der Entscheidung zu den Schiffsbauvergünstigungen vom 3.12.199797 ein Signal für die Möglichkeit einer Rechtsprechungsänderung gesetzt hat. BFH und Finanzgerichte sollten sich – trotz des bestehenden Risikos, dass das BVerfG nur mit Wirkung für die Zukunft entscheiden wird – nicht davon abhalten lassen, auch in Zukunft Mängel des demokratischen Verfahrens zu verfolgen und vor das BVerfG zu bringen. Dass der BFH mittlerweile wachsamer Kontrolleur des Steuergesetzgebers ist, dazu hat Wolfgang Spindler maßgeblich beigetragen98, indem er unbeugsam für ein den Prinzipien formaler und materieller Rechtsstaatlichkeit gehorchendes Steuerrechts eintritt99. Es ist den Steuerpflichtigen zu wünschen, dass der BFH diese Rolle auch in Zukunft wahrnehmen wird.
__________ 90 In den 10 Jahren 2000–2009 wurden vom BFH 23 Normenkontrollanträge gestellt; in den 20 Jahren von 1980–1999 nur 12; abzulesen ferner an der Anzahl erledigter Verfahren beim BVerfG: Während das Gericht in den 14 Jahren zwischen 1991 und 2004 lediglich über 43 konkrete Normenkontrollverfahren aus der Finanzgerichtsbarkeit entschied, d. h. im Jahresmittel über 3 Verfahren, wurden innerhalb des Fünf-Jahreszeitraums 2005–2009 34 auf Anträge aus der Finanzgerichtsbarkeit zurückzuführende Art. 100 GG-Verfahren, d. h. durchschnittlich 6,8 Verfahren pro Jahr, entschieden. 91 Spindler in FS Spiegelberger (Fn. 2), S. 471. 92 Vgl. Sturm in Sachs, 5. Aufl. 2009, Art. 100 GG Rz. 15. 93 Dazu Spindler in FS Spiegelberger (Fn. 2), S. 471 (474 ff.). 94 BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200. 95 BFH v. 8.11.1982 – I R 3/79, BStBl. II 1983, 259. 96 Siehe Fn. 23. 97 BVerfG v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 ff. 98 Hervorzuheben sind hier auch die von Wolfgang Spindler ins Leben gerufenen BFHSymposien, die den Austausch zwischen Richterschaft und Wissenschaft noch intensiviert haben, vgl. Steuerwissenschaftliches Symposium im Bundesfinanzhof 2007: Subjektive Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39, und 2009: Zulässigkeit und Grenzen der Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, DStR 2009, Beihefter zu Heft 34. 99 Z. B. Spindler in JbFfSt 60 (2009/2010), S. 21 ff.
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Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs als Ausübung der dritten Staatsgewalt Inhaltsübersicht I. Einführung II. Die judikative Aufgabe des Bundesfinanzhofs 1. Letztinstanzlicher Individualrechtsschutz 2. Rechtsschöpfung durch Rechtsfortbildung a) Rechtsfortbildung als richterliche Maßstabsbildung b) Normativität richterlicher Rechtsfortbildung? III. Der Bundesfinanzhof und die Exekutive im gewaltengeteilten Staat 1. Gewaltenteilung zwischen BFH und Finanzverwaltung
2. Bindung der Exekutive an die funktionale Rechtsetzung des BFH 3. Zur Realität von „Vermeidungsstrategien“ des BMF IV. Grenzen für Rechtsprechungsänderungen 1. Bindung des BFH an eigene Präjudizien 2. Vertrauensschutz gegenüber Rechtsprechungsänderungen V. Fazit
I. Einführung Wolfgang Spindler steht als Präsident des Bundesfinanzhofs1 für die Judikative, wie sie das Grundgesetz als dritte Staatsgewalt beschreibt. Er steht für Steuergerechtigkeit, für Sachgerechtigkeit im Einzelfall und Rechtsfortbildung, für Rechtsfrieden und Systemgerechtigkeit sowie Verfassungsadäquanz2. Dabei begreift Spindler die Steuergerechtigkeit als Aufgabe aller drei Staatsgewalten, die sie nur gemeinsam erreichen können3. In diesem Kontext sieht er die ver-
__________ 1 Im Folgenden BFH. 2 Vgl. exemplarisch Spindler, Qualität in der Justiz, in FS 50 Jahre Deutsches Anwaltsinstitut e.V., 2003, S. 145 ff.; ders., Rückwirkung von Steuergesetzen, in DStJG 27 (2004), S. 69 ff.; ders., Unverrückbare Prinzipien im Steuerrecht, in Nachhaltige Steuerpolitik (Beiträge eines Symposiums zum 60. Geburtstag von Alfons Kühn), 2008, S. 49 ff.; ders., Verfassungsrechtliche Vorgaben für ein berechenbares Steuerrecht, in Wirtschaftsprüfung im Wandel, 2008, S. 475 ff.; ders., Steuerrecht und Verfassungsrecht – eine Bestandsaufnahme, in FS Spiegelberger, 2009, S. 471 ff.; ders., Der Bundesfinanzhof und das Bundesverfassungsgericht im Zusammenwirken für ein verfassungskonformes Steuerrecht, in FS Schaumburg, 2009, S. 169 ff. 3 Spindler, Steuerrecht im Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, Stbg 2006, 1 ff.; ders., Werte im Steuerrecht, Stbg 2010, 49 (50 ff.); ders., Wer oder was ist schuld am komplizierten Steuerrecht? Bestandsaufnahme/ Änderungsbedarf und -möglichkeiten, ThürVBl. 2010, 226 ff.
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fassungsmäßigen Aufgaben „seines Gerichts“. Diese Aufgaben sollen auch Thema der folgenden Überlegungen sein, ist doch die höchstrichterliche Rechtsprechung als Ausübung der dritten Staatsgewalt, d. h. die Rolle des BFH im gewaltengeteilten Staat, gerade sub specie der Grenzen für Nichtanwendungserlasse4 wie auch eines Vertrauensschutzes gegenüber Änderungen der Rechtsprechung des BFH5 in den Blickpunkt der steuerwissenschaftlichen Diskussion gerückt.
II. Die judikative Aufgabe des Bundesfinanzhofs Die judikative Gewalt – und gerade auch der BFH als oberster Gerichtshof des Bundes i. S. v. Art. 20 Abs. 2, 92, 95 Abs. 1 GG – entfaltet im Dreiklang der Staatsgewalten eine eigenständige Rationalität gegenüber den anderen Staatsgewalten6, basierend auf dem Justizgewährungsanspruch gemäß Art. 19 Abs. 4 GG, den der Richter im Namen des Volkes erfüllt7. Den Richtern ist die Durchsetzung der rechtsstaatlichen Ordnung, die Sicherung des Rechtsfriedens, die Wahrung des Rechtsschutzes des einzelnen Bürgers und die Erhaltung der Sicherheit des Rechts als Organe der Rechtspflege „anvertraut“8. 1. Letztinstanzlicher Individualrechtsschutz Verfassungsmäßige Aufgabe des BFH ist zunächst die Gewährung von Individualrechtsschutz durch Einzelfallentscheidung, dies im zweistufigen System der Finanzgerichtsbarkeit als Rechtsmittelinstanz auf Revision und Beschwerde gegen erstinstanzliche Entscheidungen der Finanzgerichte. Dabei ist der BFH Tatsacheninstanz lediglich im Rahmen des Individualrechtsschutzes gegen Verfahrensfehler (vgl. § 118 Abs. 2 FGO). Kern der Aufgabenstellung des BFH sind Rechtsfragen, d. h. die letztverantwortliche Auslegung des einfachen Steuerrechts – dies mit dem Anspruch der Letztverbindlichkeit, indem weder Legislative noch Exekutive die Judikate des BFH aufheben können und das BVerfG bei Urteilsverfassungsbeschwerden nur die Verletzung von sog. spezifischem Verfassungsrecht9 prüft. Eine allgemeine Letztverbindlichkeit der Auslegung, vergleichbar der Wirkung von Entscheidungen des EuGH10, geht damit zwar nicht einher. Inwieweit vom BFH gebildete Rechtsakte gleichwohl
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4 Spindler, Deutsche Finanzgerichtsbarkeit – Kontrolle finanzgerichtlicher Entscheidungen durch den Bundesfinanzhof, in Holoubeck/Lang (Hrsg.), Das Senatsverfahren in Steuersachen, 2001, S. 107 (119); ders., Steuerrecht im Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, Stbg 2006, 1 (5 f.); ders., Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht, DStR 2007, 1061 ff. 5 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 ff.; Spindler, Vertrauensschutz im Steuerrecht, DStR 2001, 725 (729 f.); ders., Vertrauensschutz im Steuerrecht, DNotZ 2007, 105 (114 f.). 6 Vgl. Di Fabio in Isensee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 27 Rz. 25. 7 Spindler in FS 50 Jahre Deutsches Anwaltsinstitut e.V. (Fn. 2), S. 145 (148). 8 Spindler in FS 50 Jahre Deutsches Anwaltsinstitut e.V. (Fn. 2), S. 145 (148). 9 Vgl. dazu Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rz. 281 ff. 10 Dazu nur Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem, 2010, S. 132 ff.
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jenseits der Rechtskraft Bindungswirkung entfalten, gilt es im Folgenden zu klären. 2. Rechtsschöpfung durch Rechtsfortbildung Kernaufgabe des BFH ist neben der Gewährung von Individualrechtsschutz die Rechtsfortbildung. „Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, die (…) praktisch unerreichbar ist. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren“ – so das BVerfG11. Es gilt „im Wege der Rechtsfortbildung veränderten wirtschaftlichen Situationen Rechnung zu tragen12“. Einfachgesetzlich13 spiegelt sich diese Gestaltungsaufgabe des BFH im Revisionszulassungsgrund des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO – Rechtsfortbildungsrevision – wider, aber auch in § 11 Abs. 4 FGO – Großer Senat. Sie steht hinter der verfassungsrechtlichen Einrichtung der obersten Gerichte des Bundes und des Gemeinsamen Senats (Art. 95 Abs. 1 und 3 GG)14. a) Rechtsfortbildung als richterliche Maßstabsbildung Die Rechtsfortbildungsaufgabe des BFH erschließt sich schon methodisch15: Rechtsanwendung – täglich Brot des Richters – bedeutet Anwendung eines abstrakten Prüfungsmaßstabes auf einen konkreten Sachverhalt. Grundsätzlich ergibt sich dieser Prüfungsmaßstab aus einem Gesetz, so dass der Rechtsanwender gesetzlich vorgezeichnete Wertentscheidungen am konkreten Sachverhalt realisiert16. Bei der Feststellung des anzuwendenden abstrakten Prüfungsmaßstabes hat er aber je nach Inhalt und Art der gesetzlichen Vorgaben eigene Wertentscheidungen zu treffen. Auch wo die Rechtsanwendung eine Wertung erfordert, sind aber die vom Rechtsanwender als maßgeblich erachteten Kriterien für diese Wertung – methodologisch betrachtet – zunächst ab-
__________ 11 BVerfG v. 14.2.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (287). 12 Vgl. BVerfG v. 12.3.1985 – 1 BvR 571/81, 494/82 u. 47/83, BVerfGE 69, 188 (203); dazu Wieland, DStR 2004, 1 (4). 13 Vgl. BVerfG v. 19.10.1983 – 2 BvR 485, 486/80, BVerfGE 65, 182 (190 f.); BVerfG v. 12.3.1985 – 1 BvR 571/81, 494/82 u. 47/83, BVerfGE 69, 188 (203); v. 14.1.1986 – 1 BvR 221/79, BVerfGE 71, 354 (362); v. 6.11.2008 (Kammer) – 1 BvR 2360/07, NJW 2009, 499 (500). 14 Heyde in Benda/Maihofer/Vogel, Hdb.VerfR, 2. Aufl. 1994, § 33 Rz. 96. 15 Vgl. auch Isensee in Isensee/Kirchhof, HStR IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rz. 147. 16 Vgl. dazu Blasius, NWVBl. 2008, 325 (326).
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strakt zu definieren und dann auf den konkreten Fall zu übertragen17. Die Feststellung des Inhalts des gesetzlichen Tatbestandes erfolgt im Wege der Auslegung. Ergibt sich die normative Grundlage für die Subsumtion des zu entscheidenden Falls nicht hinreichend genau aus dem Gesetz, hat der Rechtsanwender dieses zwangsläufig zu konkretisieren, d. h. Rechtsfortbildung zu betreiben18. Der Richter kann seine Entscheidung nicht wie aus einer Tabelle aus dem Gesetz ablesen19. Gerade der Revisionsrichter fungiert in diesem Sinne „rechtsschöpferisch20“. Die inhaltlichen Anforderungen und in diesem Sinne Grenzen21 für die richterliche Rechtsfortbildung ergeben sich aus der Verfassung (insbesondere Art. 20 Abs. 2, Abs. 3, Art. 97 Abs. 1, Art. 100 Abs. 1 GG)22 sowie aus den anerkannten Methoden zur Gesetzesauslegung, insbesondere dem historischen Willen des Gesetzgebers23 sowie der ratio legis24. Maßstab für die Auslegung von Steuergesetzen ist aber nicht ihre allgemeine, letzte Zielsetzung, die Deckung des staatlichen Finanzbedarfs25, sondern die im Einzelgesetz vorgegebene, erkennbare Systementscheidung. Als Beispiel für die so vorgezeichnete Rechtsfortbildung des BFH möge die Rechtsprechung des VIII. Senats zu den sog. Finanzinnovationen dienen26. Danach ist der Gewinn oder Verlust aus der Veräußerung von sog. Reserve Floatern via teleologischer Reduktion bzw. verfassungskonformer Auslegung aus dem Anwendungsbereich des § 20 Abs. 2 Nr. 4 EStG auszuklammern. Methodisch schlussfolgert der Senat – ausgehend vom Gesetzeswortlaut – aus der Systematik der Besteuerung von Kapitaleinkünften27, dass grundsätzlich nur die Früchte des Kapitalvermögens von § 20 EStG erfasst werden sollen und Abweichungen von diesem System klar und eindeutig durch den Gesetzgeber festzulegen sind sowie einer Rechtfertigung bedürfen28. Anhand der Gesetzgebungsmaterialien stellt er fest, dass § 20 Abs. 2 Nr. 4 EStG nach seiner ratio
__________ 17 Jachmann, Die Fiktion im öffentlichen Recht, 1998, S. 83 m. w. N. 18 Der Richter kann sich angesichts des Rechtsverweigerungsverbots der Rechtsfortbildung nicht entziehen. Vgl. dazu Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504 (504); Möllers, JZ 2009, 668 (669). 19 Kirchhof, NJW 1986, 2275 (2275). 20 Vgl. Seiler, Auslegung als Normkonkretisierung, 2000, S. 39; Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 165. 21 Zur Diskussion der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung vgl. jüngst BVerfG v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248 ff. (mit den abweichenden Sondervoten Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio) zur sog. Rügeverkümmerung bei Protokollberichtigung im Strafprozessrecht. 22 Dazu Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 332 ff. m. w. N. 23 Vgl. Rüthers, NJW 2005, 2759 (2760 f.); Wenzel, NJW 2008, 345 (346 f.); Blasius, NWVBl. 2008, 325 (327 f.) m. w. N. 24 Sodan in Isensee/Kirchhof, HStR V, 3. Aufl. 2007, § 113 Rz. 35. 25 Vgl. Knobbe-Keuk in FS 75 Jahre RFH/BFH, 1993, S. 303 (305). 26 BFH v. 20.11.2006 – VIII R 97/02, BStBl. II 2007, 555 ff. zu § 20 Abs. 2 Nr. 4 EStG i. d. F. vor Einführung der Abgeltungsteuer. 27 Dazu Jachmann in DStJG 30 (2007), S. 153 (159 ff.). 28 BFH v. 20.11.2006 – VIII R 97/02, BStBl. II 2007, 555 (557 f.).
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nur solche Finanzprodukte der Besteuerung unterwerfen soll, bei denen steuerpflichtige Zinserträge als steuerfreie Wertzuwächse konstruiert werden. Eine solche Vermischung von Ertrags- und Vermögensebene lag aber bei Reserve Floatern nicht vor. b) Normativität richterlicher Rechtsfortbildung? Richterliche Rechtsfortbildung im dargelegten Sinne ist zunächst lediglich Element der Bildung des Prüfungsmaßstabes durch den Rechtsanwender, indem sich die Rechtsfolge in dem von ihm konkret zu lösenden rechtlichen Konflikt nicht aus einem rein logischen Denkvorgang im Sinne eines gesetzlich vollständig determinierten Syllogismus der Rechtsfolgenbestimmung, basierend auf einer wertungsfreien Subsumtion, ergibt29. So wird der rechtsschöpferisch tätige Revisionsrichter aber noch nicht zum Gesetzgeber, wenngleich er wie der Gesetzgeber – methodisch betrachtet – Maßstabsbildung im Sinne von funktionaler Rechtsetzung30 betreibt. Damit ist noch nichts über Form und Geltungsanspruch dieser Maßstabsbildung gesagt; insbesondere bedeutet funktionale Rechtsetzung nicht zugleich Normativwirkung des gefundenen Maßstabs. Zwar hat der BFH die Aufgabe der Lösung abstrakter Rechtsfragen. Die Revisionszulassungsgründe des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO lassen erkennen, dass der Revisionszweck nicht auf das Interesse der Streitbeteiligten an der richtigen Entscheidung im Einzelfall beschränkt ist, sondern mit der Revision auch Allgemeininteressen im Sinne von Rechtseinheitlichkeit und Rechtsfortbildung verfolgt werden31. Verfassungsrechtlich basiert dies auf dem Verfassungsauftrag der Rechtsprechungseinheit (Art. 3 Abs. 1, 95 Abs. 3 GG)32. Tritt neben die Einzelfallgerechtigkeit das Allgemeininteresse als gleichwertiges Ziel der Revision33, so ist damit jedoch nur die Abstraktheit der Rechtsfortbildung des BFH belegt. Normqualität erfordert aber nicht nur Generalität, d. h. Übertragbarkeit einer normativen Regelungsanordnung auf nicht von vornhinein exakt definierte Einzelfälle, sondern auch Verbindlichkeit für alle in Betracht kommenden Normadressaten, d. h. Bürger, Verwaltung und Gerichte34. Korrelat dieses Geltungsanspruches ist die Außenwirkung der Rechtsnorm. Diese allgemeine Bindungswirkung, d. h. Allgemeingültigkeit der Norm und damit Maßstäblichkeit im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG, erfährt die Norm aus der demokratischen Legitimation des Normgebers.
__________ 29 Vgl. Jachmann (Fn. 17), S. 88 m. w. N. 30 Jachmann (Fn. 17), S. 90 – funktionale Rechtsetzung meint Bestimmung des abstrakten Maßstabes, unter den der konkrete Einzelfall subsumiert wird. 31 Ruban in Gräber, 7. Aufl. 2010, § 115 FGO Rz. 2. 32 Classen in v. Mangoldt/Klein/Starck, 6. Aufl. 2010, Art. 97 GG Rz. 19. 33 Ruban in Gräber (Fn. 31), § 115 FGO Rz. 2. 34 Vgl. Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 1991, S. 250; Di Fabio, DVBl. 1992, 1338 (1343).
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Die Beantwortung abstrakter Rechtsfragen durch den BFH kann als Richterrecht35 bzw. Präjudiz36 bezeichnet werden, ohne dass damit aber eine Aussage zur Normqualität getroffen wäre. Gerade bei der Rechtsfortbildung praeter legem37 erscheint es zwar prima facie nahezuliegen, dem Richterrecht eine potentielle Normativität zuzuerkennen. Denkt man etwa an die Rechtsprechung des BFH zu verdeckten Gewinnausschüttungen, hinsichtlich der der Gesetzgeber lediglich die Rechtsfolge geregelt, nicht aber den Tatbestand definiert hat38, so könnte der Umstand, dass der Gesetzgeber auch nach Jahren des Bestehens von § 8 Abs. 3 KStG nicht konkretisierend tätig geworden ist, ein Indiz dafür sein, dass er die Auslegung durch den BFH in seinen Willen aufgenommen hat. Auch damit erlangt die richterliche Rechtsfortbildung aber allenfalls – via konkludenter Verweisung – Teilhabe an der Geltungskraft des gesetzgeberischen Diktums, nicht aber eigenständige Normqualität. Die demokratische Legitimation des Richters rechtfertigt die normative Wirkung seiner Judikate nicht, auch nicht in Gestalt von Rechtsnormkonkretisierungen seitens des BFH39. Gerichtliche Urteile binden unmittelbar nur die am Rechtsstreit Beteiligten bzw. deren Rechtsnachfolger (§ 110 FGO). Lediglich § 31 BVerfGG geht darüber hinaus. Richterrecht bezeichnet die im Rahmen der höchstrichterlichen Rechtsanwendung entwickelten Prüfungsmaßstäbe. Um Rechtsetzung handelt es sich nur in einem methodisch funktionellen Sinn, ohne den Anspruch einer generellen Geltungsanordnung mit Außenwirkung, dies unabhängig davon, dass auch Richterrecht in einer Vielzahl von weiteren Fällen den abstrakten Tatbestand zur Findung einer Rechtsfolge bilden kann. Es geht um Maßstabsbildung im Rahmen einer Einzelfallentscheidung. Richterrecht ist Produkt der Rechtsanwendung i. S. v. Art. 20 Abs. 3 GG
__________ 35 Zur uneinheitlichen Bestimmung dieses Begriffs vgl. nur Blasius, NWVBl. 2008, 325 (329 f.); Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, 5. Aufl. 2010, Rz. 235 ff.; Schmidt-Troje in FS Schaumburg (Fn. 2), S. 133 (144 f.). 36 Zum Begriff des Präjudiz vgl. Larenz (Fn. 34), S. 429: „Präjudizien sind Entscheidungen, in denen dieselbe Rechtsfrage, über die neuerlich zu entscheiden ist, von einem Gericht in einem anderen Fall bereits entschieden worden ist. Präjudiziell ist nicht die in Rechtskraft erwachsende Entscheidung des Einzelfalls, sondern nur die im Rahmen der Urteilsbegründung vom Gericht gegebene Antwort auf eine Rechtsfrage, die sich in dem jetzt zu entscheidenden Fall in gleicher Weise stellt.“ Vgl. auch Jachmann (Fn. 17), S. 97. 37 Gesetzesvertretendes Richterrecht, zu unterscheiden von Rechtsfortbildung contra legem als gesetzeskorrigierendem Richterrecht (dazu Wernsmann in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 170 f.). 38 Vgl. Pezzer, DStR 2004, 525 (530). 39 Gegen die Normativwirkung von Richterrecht Sommermann in v. Mangoldt/Klein/ Starck, 6. Aufl. 2010, Art. 20 GG Rz. 286; Sachs in Sachs, 5. Aufl. 2009, Art. 20 GG Rz. 107; Jarass in Jarass/Pieroth, 10. Aufl. 2009, Art. 20 GG Rz. 39, 42; Schröder (Fn. 10), S. 58 jeweils m. w. N.; a. A. etwa Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, 1971, S. 10 ff.; Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 110, der unbestimmte Gesetzesbegriffe und Generalklauseln als Stücke offener Gesetzgebung begreift, die eine Ermächtigung an den Richter zur Bildung eigener Normen darstellen – in diesem Sinne zur Normsetzung der Verwaltung Jachmann, Die Verwaltung 28 (1995), 17 (22 ff.).
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und entfaltet so nicht nach Art. 20 Abs. 3 GG Bindungswirkung für weitere Akte der Rechtsanwendung40. Nach der grundgesetzlichen Gewaltenteilung fällt die Aufgabe der Bildung abstrakt-genereller Rechtsnormen mit allgemeinem Geltungsanspruch dem parlamentarischen Gesetzgeber und nicht dem Richter zu. Gesetzgebung ist Produkt der politischen Willensbildung über Gegenstände, die infolge ihrer grundlegenden Bedeutung für die staatliche Allgemeinheit einer allgemeinverbindlichen und stabilen Regelung bedürfen. Im Gesetz manifestiert sich die politische Entscheidung der Volksvertretung. In dieses Bild passt der Richterspruch nicht – nicht nur wegen seiner methodischen Zugehörigkeit zur Rechtsanwendung, sondern auch wegen der anders gearteten demokratischen Legitimation des Richters. Jegliches Staatshandeln bedarf der demokratischen Legitimation im Sinne eines effektiven Einfluss des Souveräns auf das Handeln der einzelnen Staatsorgane41. Der Richterspruch erfährt diese Legitimation organisatorisch-personell durch die Ernennung/Wahl der Richter sowie sachlich-inhaltlich durch die strikte Bindung der Richter an das Gesetz (Art. 97 Abs. 1 GG)42. Angesichts der richterlichen Unabhängigkeit ist der Richter weder demokratisch verantwortlich noch von einem demokratisch verantwortlichen Organ weisungsabhängig43. Der Gerichtsbarkeit fehlt insbesondere die Rückbindung an eine parlamentarische Kontrolle44. Normativität von Richterrecht würde aber bedeuten, dass der neuerlich entscheidende Richter wie die Verwaltung an ein – selbst nicht entsprechend demokratisch legitimiertes – Judikat in gleicher Weise gebunden wäre wie an Gesetze. Dies führte bei dem neuerlichen Judikat zu einem Defizit an demokratischer Legitimation, welches nicht durch besondere verfassungskräftige Gesichtspunkte gerechtfertigt wäre. Der Verfassungsauftrag der Rechtsprechungseinheitlichkeit kann die Gesetzesqualität von Richterrecht nicht begründen45.
III. Der Bundesfinanzhof und die Exekutive im gewaltengeteilten Staat Entfaltet, wie dargelegt, Richterrecht keine normative Wirkung, so stehen der BFH wie auch die Steuerverwaltung unter dem Blickwinkel von Art. 20 Abs. 3 GG auf der Ebene der Rechtsanwendung. Zu fragen ist, wer im Zweifel über die richtige Auslegung und Rechtsfortbildung entscheidet, d. h. inwieweit die Judikatur des BFH die Finanzverwaltung bindet.
__________ 40 Vgl. Sachs in Sachs (Fn. 39), Art. 20 GG Rz. 107 m. w. N. 41 Sog. organisatorisch-formales Modell des BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, BVerfGE 93, 37 (66 ff.); vgl. auch van Bergen, DRiZ 2010, 100 (101). 42 Böckenförde in Isensee/Kirchhof (Fn. 6), § 24 Rz. 24. 43 Jachmann (Fn. 17), S. 997. 44 Herdegen, AöR 114 (1989), 607 (621). 45 Schröder (Fn. 10), S. 58 f.
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Aus der Perspektive des Steuerpflichtigen trifft der BFH die letztlich maßgebliche Entscheidung. Hierauf reagiert die Verwaltung bisweilen – z. T. wenig begründet, z. T. fiskalisch motiviert46 – durch Nichtanwendung der im Einzelfall gebildeten abstrakten Rechtssätze. Thema ist damit die Aufteilung von Staatsgewalt zwischen BFH und Finanzverwaltung. 1. Gewaltenteilung zwischen BFH und Finanzverwaltung Der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) setzt beim Verständnis von Staatsgewalt als einseitiger Erzeugung von Recht durch den Staat an. In diesem Sinne kreieren Legislative, Exekutive und Judikative in unterschiedlicher Konkretisierungsform Recht47. Rechtserzeugung ist insoweit ein Prozess, der bei der Rechtsetzung durch die Legislative beginnt und sich im Rahmen der Rechtsanwendung durch die anderen beiden Staatsgewalten fortsetzt. Am Ende dieses Prozesses erhebt der Staat den Anspruch, für alle seiner Staatsgewalt Unterworfenen letztverbindlich zu entscheiden48. Dieses Gewaltenmonopol des Staates, gebunden durch Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, gründet die gesamte grundgesetzliche Ordnung auf die Subjektqualität des Individuums und dessen Fähigkeit zur freien Willensbildung49. Gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ist der Staat zum einen der demokratischen Selbstbestimmung verpflichtet, zum anderen hat er nach Art. 1 Abs. 1 GG die individuelle Selbstbestimmung in Gestalt der Gesamtheit der Grundrechte anzuerkennen50. Demokratische und individuelle Selbstbestimmung legitimieren die einseitige Rechtserzeugung durch den Staat. Sie sind auf jeder Stufe staatlichen Handelns zu beachten und stehen zueinander in wechselseitiger Abhängigkeit51. Die Dreiteilung der Gewalten konkretisiert und koordiniert diese doppelte Legitimation hoheitlichen Handelns52; sie sichert Organisation und Verfahren staatlichen Handelns in einer individuelle wie demokratische Selbstbestimmung anerkennenden Weise und gleicht so Widersprüche aus53. In diesem Sinne steht Gewaltenteilung nicht nur für Mäßigung der Staatsgewalt, sondern weiter für Richtigkeit der staatlichen Entscheidung, indem die jeweils nach Organisation und Verfahren am besten geeigneten Organe tätig werden müssen (funktionale Gewaltenteilung)54.
__________ 46 Siehe dazu näher Fn. 89. 47 Vgl. Jestaedt in Ehrichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 11 Rz. 7 ff. 48 Di Fabio in Isensee/Kirchhof (Fn. 6), § 27 Rz. 3. 49 Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 40 ff. 50 Möllers (Fn. 49), S. 29 ff. 51 Vgl. dazu Möllers (Fn. 49), S. 56. 52 Möllers (Fn. 49), S. 88 f. 53 Möllers, AöR 132 (2007), 493 (504). 54 BVerfG v. 18.12.1984 – 2 BvE 13/83, BVerfGE 68, 1 (86); BVerfG v. 17.7.1996 – 2 BvF 2/93, BVerfGE 95, 1 (15); BVerfG v. 14.7.1998 – 1 BvR 1640/97, BVerfGE 98, 218 (251 f.); Di Fabio in Isensee/Kirchhof (Fn. 6), § 27 Rz. 10; Jarass in Jarass/Pieroth (Fn. 39), Art. 20 GG Rz. 23; Sachs in Sachs (Fn. 39), Art. 20 GG Rz. 81; krit. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997, S. 48 ff.
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Damit steht die Funktionsgerechtigkeit der staatlichen Gewaltausübung im Fokus der Gewaltenteilung. Gewaltenverschränkungen55 kommen nur solange in Betracht, wie nicht in den sog. Kernbereich einer Staatsgewalt durch eine andere Staatsgewalt eingegriffen wird56. Die von der Verfassung zugeschriebenen typischen Aufgaben dürfen einer Staatsgewalt nicht von einer anderen Staatsgewalt entzogen werden57. Den Kernbereich der Aufgaben des BFH bilden als ihm von der Verfassung zugewiesene typische Aufgaben58 die Gewährung von Individualrechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) einschließlich der letztverantwortlichen Auslegung des einfachen Rechts als Ausdruck der Folge der Institutionsgarantie nach Art. 95 Abs. 1 GG sowie die richterliche Rechtsfortbildung59. Kollisionen mit der Aufgabenerfüllung der Exekutive können sich sub specie Auslegung des Steuerrechts und Rechtsfortbildung ergeben – betreiben doch BFH wie Exekutive Rechtsanwendung. Die Aufgaben der Exekutive sind hierarchisch verteilt auf Regierung und Verwaltung. Im Bereich des Steuerrechts obliegt der Exekutive neben der Kernaufgabe der möglichst gleichmäßigen und einheitlichen Rechtsanwendung60 die Verantwortung für den öffentlichen Haushalt, letzteres v. a. auf den oberen Ebenen der Verwaltungshierarchie61. Beim Vollzug der Steuergesetze trifft die Finanzverwaltung als Erstinterpret des Gesetzes eigenständige und eigenverantwortliche Entscheidungen62, soweit dem Gesetz keine zwingenden und eindeutigen Vorgaben zu entnehmen sind63. Aus Art. 20 Abs. 3 GG einerseits und aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz andererseits folgt dabei das Recht der Finanzverwaltung auf eigenverantwortliche Normprüfung im Hinblick auf die zutreffende Rechtsanwendung64. Zu fragen bleibt, inwieweit die Gewaltenteilung, verstanden im dargelegten
__________ 55 Zu Gewaltenverschränkungen Hofmann in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, 11. Aufl. 2008, Art. 20 GG Rz. 55, zu deren Grenzen Di Fabio in Isensee/Kirchhof (Fn. 6), § 27 Rz. 39 f. 56 Allgemein zur sog. Kernbereichslehre Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, S. 482. 57 BVerfG v. 17.7.1996 – 2 BvF 2/93, BVerfGE 95, 1 (15). 58 Vgl. BVerfG v. 17.7.1996 – 2 BvF 2/93, BVerfGE 95, 1 (15) – die von der Verfassung typisch zugewiesenen Aufgaben bilden den Kernbereich einer Staatsgewalt; krit. Unruh (Fn. 56), S. 482 ff. 59 Vgl. sub. II. 1. und 2. 60 Lange, NJW 2002, 3657 (3659). 61 Vgl. Pezzer in Die Finanzverwaltung – Ein Ersatzgesetzgeber?, DWS-Symposium, 2005, S. 23 – indem die Spitze der Finanzverwaltung in Form des Bundesministeriums der Finanzen besondere Verantwortung für den öffentlichen Haushalt übernimmt, ist sie stark in den politischen Prozess eingebunden und insoweit ein Stück weit mehr demokratisch legitimiert. Demgegenüber beruht die Veranlagung in den Finanzämtern mehr auf einer individuellen Legitimation. 62 Vgl. Jestaedt in Ehrichsen/Ehlers (Fn. 47), § 11 Rz. 7. 63 Kirchhof in Gleichheit im Verfassungsstaat (Symposium aus Anlass des 65. Geburtstages von Paul Kirchhof), 2008, S. 1 (18). 64 Vgl. Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 341; Lang in Tipke/ Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 5 Rz. 28.
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funktionalen Sinn, verlangt, dass die Finanzverwaltung Richterrecht bzw. Präjudizien des BFH beachtet. 2. Bindung der Exekutive an die funktionale Rechtsetzung des BFH Sind staatliche Entscheidungen durch die Organe zu treffen, die nach Organisation und Verfahren am besten dazu geeignet sind, so ist höchstrichterliche Rechtsprechung nach Organisation und Verfahren besser als die Finanzverwaltung in der Lage, eine optimale Auslegung der Steuergesetze zu finden65. Angesichts seiner speziellen Funktion als Revisionsinstanz – letztverantwortliche Auslegung und Rechtsfortbildung – ist der BFH gegenüber der Finanzverwaltung die funktional vorrangig berufene Instanz für eine zutreffende Maßstabsbildung bei Anwendung der Steuergesetze66. In der Konsequenz dessen liegt die Vermutung der Richtigkeit der Judikate des BFH. Diese Richtigkeitsvermutung hat die Finanzverwaltung zu widerlegen, will sie der Judikatur des BFH nicht folgen. An diese Argumentationslast der Finanzverwaltung67 sind deshalb besonders hohe Anforderungen zu stellen, weil sie als Fiskus Rechtsanwendung mit dem funktionalen Endziel der Steuererhebung betreibt, während funktionales Endziel der höchstrichterlichen Rechtsprechung alleine die richtige Rechtsfindung ist (Art. 92 GG). Der Richter ist Treuhänder des Rechts68. Während die Finanzverwaltung stets rechtsanwendender Fiskus (und damit auch Partei eines Steuerstreits) ist, ist die richterliche Tätigkeit gerade von der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) getragen. Je höher in der Verwaltungshierarchie angesiedelt, umso mehr politische Hintergründe finden sich in den Entscheidungen der Exekutive. Gesetzesauslegung durch die Exekutive birgt somit stets die Gefahr der Aufgabenkollision, die sich durch Weisungen des Bundesministeriums der Finanzen69 und der obersten Finanzbehörden der Länder zuspitzt und dadurch letztlich zu einem Übergewicht der Haushaltsverantwortung gegenüber dem Gesetzesvollzug nach Maßgabe von Art. 20 Abs. 3 GG führen kann. Hinzu kommt die besondere Qualifikation der – nach Maßgabe des Richterwahlgesetzes gewählten (Art. 95 Abs. 2 GG, §§ 10 ff. RiWG, §§ 54 ff. DRiG)70 – BFH-Richter. Das Spannungsverhältnis zwischen Eigenverantwortung der Finanzverwaltung und Bindung an die Judikate des BFH bei der Rechtsanwendung ist danach dahingehend aufzulösen, dass ein Abweichen nur in schwerwiegenden Fällen in Betracht kommt, in denen die fraglichen Urteile die Stimmigkeit der Steuerrechtsordnung überhaupt stören71. Eine solche Störung ist anhand systemtragen-
__________ 65 Vgl. dazu demnächst Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung – Bedingungen und Grenzen für Nichtanwendungserlasse, S. 322 ff., 568. 66 Spindler, Stbg 2006, 1 (5). 67 Zur Argumentationslast vgl. auch Spindler in Holoubeck/Lang (Fn. 4), S. 107 (119). 68 Spindler in FS 50 Jahre Deutsches Anwaltsinstitut e.V. (Fn. 2), S. 145 (148). 69 Im Folgenden BMF. 70 Vgl. dazu allgemein Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2006, S. 322 ff. 71 Vgl. Seewald, SteuerConsultant 2009, 21 (22).
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der Prinzipien, insbesondere dem Leistungsfähigkeitsprinzip, zu beurteilen72. Letztlich geht es um Fehlurteile73, deren Unvertretbarkeit die abweichende Finanzverwaltung zu begründen hat. Bestätigt wird die Bindung der Finanzverwaltung an Auslegung und funktionale Rechtsetzung des BFH im Sinne der dargelegten Argumentationslast durch die weitgehende Loyalitätspflicht der Staatsgewalten untereinander74. Mit der Zuweisung betrauter Funktionen/Aufgaben zu einer Staatsgewalt im Rahmen der Gewaltenteilung geht für die anderen Staatsgewalten die grundsätzliche Bindung an den Akt der jeweiligen Gewalt einher sowie das Verbot, in den Kernbereich dieser anderen Gewalt einzugreifen75. Die positive Kompetenzeinräumung für eine Gewalt statuiert nicht nur Kompetenzgrenzen für die anderen Gewalten, sondern verpflichtet diese auch dazu, die eigene Gewalt mit Rücksicht auf die anderen Gewalten auszuüben76. Schließlich verlangt der Individualrechtsschutz die grundsätzliche Bindung der Finanzverwaltung an die Judikatur des BFH, soll doch Art. 19 Abs. 4 GG als individuelle Anspruchsnorm rechtsstaatliche Grundsätze sichern77. Art. 19 Abs. 4 GG garantiert die Effektivität des Rechtsschutzes nicht nur in jeder Instanz78, sondern verpflichtet jeden Träger öffentlicher Gewalt, d. h. auch die Exekutive79. Ein regelmäßiges oder unkontrolliertes Abweichen von Normauslegung und Normkonkretisierung des BFH durch die Finanzverwaltung hätte eine Prozessflut mit Überbeanspruchung, gegebenenfalls eine Blockade der Finanzgerichte zur Folge80. Der Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit81 wäre gefährdet. Weicht die Finanzverwaltung begründet ab, gebietet es Art. 19 Abs. 4 GG, auf die entgegenstehende Rechtsauffassung in Steuerbescheiden hinzuweisen82. Argumente gegen die Bindung der Finanzverwaltung an die Judikate des BFH ergeben sich auch nicht – wie vielfach von der Exekutive zur Rechtfertigung von Nichtanwendungserlassen vorgebracht – aus § 110 Abs. 1 FGO und § 31 BVerfGG, ebenso wenig aus der Schutzbehauptung, das BMF wolle dem BFH die Gelegenheit geben, seine Rechtsauffassung in einem neuen Verfahren zu überprüfen83. Die einfachgesetzliche Argumentation kann schon deshalb nicht Platz greifen, weil sich die Bindung der Exekutive aus dem Verfassungsgrund-
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72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83
Seewald, SteuerConsultant 2009, 21 (22). Vgl. Voß, DStR 2003, 441 (446), der von unvertretbaren Urteilen spricht. Schaumburg in DFGT I (2004), S. 73 (87). Spindler, DStR 2007, 1061 (1064); Schaumburg in DFGT I (2004), S. 73 (87). Desens (Fn. 65), S. 303. Huber in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 39), Art. 19 GG Rz. 353. Huber in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 39), Art. 19 GG Rz. 459 ff.; Sachs in Sachs (Fn. 39), Art. 19 GG Rz. 143. Jarass in Jarass/Pieroth (Fn. 39), Art. 19 GG Rz. 33, 67 ff. Desens (Fn. 65), S. 312. Hofmann in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Fn. 55), Art. 19 GG Rz. 29. Seewald, SteuerConsultant 2009, 21 (22); vgl. auch Lange in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 110 FGO Rz. 103. Vgl. BT-Drucks. 15/4614 v. 3.1.2005, abgedruckt bei Lange, DB 2005, 354 (355 f.); sowie Pressemitteilung Nr. 29 des BMF v. 6.7.2009.
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satz der Gewaltenteilung ergibt. Die Anrufung des BFH zum Überdenken seiner Rechtsauffassung kann ohne zureichende Begründungen der Abweichung nicht überzeugen. Insofern ist zwar zuzugeben, dass das Ringen um die richtige Auslegung ein fortwährender Prozess ist84 und eine erneute Überprüfung der Rechtsauffassung nicht per se abträglich ist. Jedoch wird der Rechtsfortbildungsprozess nur vorangetrieben, wenn stichhaltige neue Argumente ins Feld geführt werden. 3. Zur Realität von „Vermeidungsstrategien“ des BMF Realiter reagiert die Finanzverwaltung auf missliebige Judikatur des BFH z. T. durch Nichtanwendungserlasse, vorübergehende oder gänzliche Nichtveröffentlichung der jeweiligen Rechtsprechung im Bundessteuerblatt und schließlich in Form der sog. Nichtanwendungsprophylaxe85 durch Klaglosstellung im Vorfeld einer Entscheidung86. Dabei wird vielfach deutlich, dass die Finanzverwaltung ihre Bindung an die Rechtsprechung des BFH bislang nur unzureichend internalisiert hat87. Schon eine grobe Statistik zu den Nichtanwendungserlassen des BMF indiziert, dass diese vor allem fiskalisch motiviert sind88. Den hohen Anforderungen seiner Argumentationslast genügt das BMF in der Regel nicht89.
__________ 84 85 86 87
Pezzer, DStR 2004, 525 (531). Vgl. dazu Eggesiecker/Ellerbeck, DStR 2007, 1427 ff. Dazu Spindler, DStR, 2007, 1061 ff. m. w. N. Zur Kritik Spindler, DStR 2007, 1061 ff.; ders., ThürVBl. 2010, 226 (227); Ruppe in Herrmann/Heuer/Raupach, Einf. ESt. Rz. 612; Scholtz in FS Felix, 1994, S. 1041 ff.; Lange, NJW 2002, 3657 ff.; Voß, DStR 2003, 441 ff.; Pezzer, DStR 2004, 525 (526 ff.); Schaumburg in DFGT I (2004), S. 73 ff.; Seewald, SteuerConsultant 2009, 21 ff. jeweils m. w. N. 88 Allein 2009 wurden sieben von insgesamt acht Nichtanwendungserlassen insgesamt zuungunsten der Steuerpflichtigen veröffentlicht. Weitere Statistiken finden sich bei Desens (Fn. 65), S. 12 ff. 89 Als aktuelles Beispiel möge der Umgang mit der Rechtsprechung des BFH v. 25.6.2009 – IX R 42/08, DStR 2009, 1843 ff. zur Auslegung von § 3c Abs. 2 EStG in Fällen des § 17 EStG dienen, wonach der Abzug von Erwerbsaufwand im Zusammenhang mit Einkünften aus § 17 Abs. 1 und Abs. 4 EStG jedenfalls dann nicht nach § 3c Abs. 2 Satz 1 EStG begrenzt ist, wenn der Stpfl. keinerlei durch seine Beteiligung vermittelte Einnahmen erzielt hat. Hierauf erging ein Nichtanwendungserlass mit dem bloßen Hinweis darauf, dass eine isolierte Betrachtung des § 3c Abs. 2 EStG der Systematik des Halb- bzw. Teileinkünfteverfahrens widerspreche (BMF, Schr. v. 15.2.2010 – IV C 6 – S 2244/09/10002, DStR 2010, 331). Die systematische Argumentation des BMF hatte der IX. Senat aber genau berücksichtigt. Kurze Zeit später entschied der Senat mit Urteil v. 18.3.2010 – IX B 227/09, DStR 2010, 639 ff. gleichlautend. Der Nichtanwendungserlass wurde vom BMF zwar zwischenzeitlich wieder aufgehoben (BMF, Schr. v. 28.6.2010 – IV C 6 – S 2244/09/10002). Indem der Regierungsentwurf zum Jahressteuergesetz 2010 jedoch dahingehend geändert wurde, dass dem § 3c Abs. 2 EStG einer neuer Satz 2 beigefügt wird, der die Einkünfteerzielungsabsicht für die Anwendung des Halbabzugsverbots genügen lässt, wird die vielfach geübte Kritik an der rechtsstaatlich fragwürdigen federführenden Hand der Finanzverwaltung bei der Steuergesetzgebung relevant. Zur Kritik an den sog. Nichtanwendungsgesetzen vgl. Spindler, DStR 2007, 1061 (1062); Pezzer, DStR 2004, 525 (526) jeweils m. w. N.; Lang in Tipke/Lang (Fn. 64), § 5 Rz. 30 (bei rein fiskalischer Motivation illoyal und rechtsstaatswidrig).
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Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs als Ausübung der dritten Staatsgewalt
Eine weitere Strategie der Finanzverwaltung, missliebige Entscheidungen des BFH nicht anzuwenden, ist die vorübergehende oder gänzliche Nichtveröffentlichung im Bundessteuerblatt. Mit Inkrafttreten der Finanzgerichtsordnung am 1.1.1966 wurde § 64 AO a. F. nicht fortgeführt90. Seitdem hat das BMF die volle redaktionelle Herrschaft über die Veröffentlichung von BFH-Entscheidungen im Bundessteuerblatt91. Die Finanzämter sind angewiesen, nur solche Entscheidungen des BFH anzuwenden, die im Bundessteuerblatt Teil II veröffentlicht sind92. Die Nichtveröffentlichung wirkt damit wie ein Nichtanwendungserlass. An die Nichtveröffentlichung wären dieselben Anforderungen zu stellen wie an den Nichtanwendungserlass. Jedoch – eine argumentative Auseinandersetzung mit dem missliebigen Judikat findet hier ja gerade nicht statt, vielmehr nur „Schweigen“. Dies verletzt die dargelegten Vorgaben der funktionalen Gewaltenteilung, missachtet die von der Gewaltenloyalität geforderte Anerkennung der Akte der anderen Gewalt, unterläuft letztlich einen effektiven Rechtsschutz93. Zudem wird in der Abschaffung von § 64 AO a. F. der Wille des Gesetzgebers deutlich, die Entscheidung über die Art und Weise der Veröffentlichung von Urteilen des BFH gerade nicht der Finanzverwaltung zu überlassen. Sind die Finanzämter verpflichtet, die Judikate des BFH anzuwenden, wenn sie im Bundessteuerblatt veröffentlicht sind, muss diese Veröffentlichung auch anstandslos und unmittelbar erfolgen. Etwaige Abstimmungsschwierigkeiten zwischen Bund und Ländern bei der Beurteilung über die Bedeutung eines Judikats lassen sich rechtskonform nach § 164 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung lösen, indem eine nachträgliche Korrektur von Steuerbescheiden bei zulässiger Nichtanwendung eines Urteils möglich bleibt94.
IV. Grenzen für Rechtsprechungsänderungen Erweist sich nach dem bisherigen Befund die Judikatur des BFH als grundsätzliche Richtschnur für die Fiskalverwaltung und schon damit auch für den Steuerpflichtigen, so spricht – im Interesse einer gleichmäßigen, rechtsstaatlich kontinuierlichen Steuererhebung sowie des Vertrauensschutzes des Steuerpflichtigen – viel für eine Bindungswirkung dieser Präjudizien auch für den neuerlich einen Parallelfall entscheidenden Senat des BFH.
__________ 90 § 64 AO a. F. lautete: „Der Bundesfinanzhof veröffentlicht seine Entscheidungen, soweit sie grundsätzliche Bedeutung haben. Der Bundesminister der Finanzen bestimmt die Art der Veröffentlichung.“ 91 Vgl. dazu Desens (Fn. 65), S. 62. 92 Lange, NJW 2002, 3657 (3658); Voß, DStR 2003, 441 (441); Pezzer, DStR 2004, 525 (531); Seewald, SteuerConsultant 2009, 21 (22). 93 Spindler, DStR 2007, 1061 (1062); Pezzer, DStR 2004, 525 (531 f.); Schaumburg in DFGT I (2004), S. 73 (87); Seewald, SteuerConsultant 2009, 21 (23). 94 Pezzer (Fn. 61), S. 23 (31); Seewald, SteuerConsultant 2009, 21 (23).
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Der Grundsatz des Vertrauensschutzes – besonderes Anliegen von Wolfgang Spindler95 – wurde ursprünglich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitet und wird zunehmend vor allem auch auf die Freiheitsgrundrechte, insbesondere Art. 14 Abs. 1, 12 Abs. 1 sowie auf Art. 2 Abs. 1 GG gestützt96. Danach haben Vertrauensschutz alle drei Staatsgewalten zu gewähren97, dies entsprechend ihrer jeweiligen spezifischen Funktion98. Vertrauensschutz durch den BFH bedeutet nicht nur, dass der BFH in seinen Judikaten die zu beurteilenden Exekutivakte an Vertrauensschutzanforderungen zu messen (Art. 20 Abs. 3 GG) und gegebenenfalls verfassungswidrig rückwirkende Gesetze dem BVerfG zur Überprüfung vorzulegen hat (Art. 100 Abs. 1 GG), sondern auch Schutz vor – insbesondere rückwirkenden – Rechtsprechungsänderungen. Das Vertrauen des Bürgers in die Kontinuität der Rechtsprechung als Ausübung der dritten Staatsgewalt wird zum einen durch die Bindung der Finanzgerichtsbarkeit, v. a. des BFH selbst, an seine eigenen Präjudizien, zum anderen durch die Anwendung von – zu Recht – geänderter Rechtsprechung ex nunc geschützt. 1. Bindung des BFH an eigene Präjudizien In der Realität der Finanzgerichtsbarkeit wird Präjudizien des BFH jedenfalls faktische Verbindlichkeit zugesprochen99. Sie tragen dazu bei, die Vielzahl von Prozessen möglichst zügig im Sinne der Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG zum Abschluss zu bringen100. Präjudizien erleichtern dem Richter die Bildung der eigenen Überzeugung101. Gerade veröffentlichte Urteile der obersten Bundesgerichte nehmen Bezug auf ältere Rechtsprechung, das Zitat dient als partieller Begründungsersatz102. Die Finanzgerichte halten sich schon deshalb an die Rechtsprechung des BFH, um die Aufhebung ihrer Urteile zu vermeiden. In diesem Sinne geht auch die FGO (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO) davon aus, dass die Finanzgerichte regelmäßig der Rechtsprechung
__________ 95 Unter Spindlers Vorsitz hat der IX. Senat den Vertrauensschutz gegenüber dem Steuergesetzgeber dogmatisch entfaltet (BFH v. 16.7.2002 – IX R 62/99, BStBl. II 2003, 74 ff. [entschieden durch BVerfG v. 7.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 ff.]; BFH v. 16.12.2003 – IX R 46/02, BStBl. II 2004, 284 ff. [nunmehr entschieden durch BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, 2/04 u. 13/05, DStR 2010, 1727 ff.]; dazu auch Spindler in Nachhaltige Steuerpolitik [Fn. 2], S. 49 [57]; ders. in FS Spiegelberger [Fn. 2], S. 471 [478]) und der Große Senat Vertrauensschutzanforderungen auch an eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung gestellt (BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 ff.). 96 Spindler, DStR 2001, 725 (725); Spindler in DStJG (Fn. 2), S. 69 (72). 97 Spindler, DStR 2001, 725 (725). 98 Waldhoff in DStJG 27 (2004), S. 129 (132); Schmidt-Troje in FS Schaumburg (Fn. 2), S. 133 (139). 99 Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 605. 100 Sub. III. 2.; siehe auch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 262 ff. 101 Hey (Fn. 99), S. 605. 102 Jestaedt in FS Bethge, 2009, S. 513 (522).
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Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs als Ausübung der dritten Staatsgewalt
des BFH folgen, da dieser nur so den Verfassungsauftrag der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung gewährleisten kann103. Dem korrespondierend orientiert sich auch der Steuerpflichtige an den Urteilen des BFH; für ihn ist der BFH der Garant für Planungssicherheit. Dies wirft die Frage nach einer Selbstbindung der Finanzgerichtsbarkeit an Präjudizien des BFH mit rechtlicher Qualität auf. Eine Selbstbindung des BFH folgt – mangels Normqualität von Richterrecht104 – weder aus Art. 20 Abs. 3 GG, noch aus § 31 Abs. 2 BVerfGG, Spezialnorm für verfassungsgerichtliche Präjudizien105. Seiner spezifischen Aufgabenstellung – letztverantwortliche Auslegung des Steuerrechts und Rechtsfortbildung – hat der BFH jedoch gemäß Art. 3 Abs. 1 GG unter Wahrung von Rechtseinheitlichkeit zu genügen. Diese ist auch rechtsstaatlich fundiert106. Rechtsanwendungsgleichheit107 wie rechtsstaatliche Kontinuität und subjektivrechtlicher Vertrauensschutz verlangen grundsätzlich ein Festhalten an höchstrichterlichen Präjudizien. Nach Art. 3 Abs. 1 GG sind die Gerichte allgemein verpflichtet, die Gesetze gleich auszulegen und anzuwenden. Rechtsanwendungsgleichheit wird gerade durch die wiederholte Beachtung von – insbesondere höchstrichterlichen – Präjudizien erreicht. Ein judikatives Abweichen ist danach grundsätzlich nur aus zureichendem Grund zulässig108. Art. 3 Abs. 1 GG weist dem Richter eine besondere Argumentationslast zu, wenn er von einer gefestigten – insbesondere höchstrichterlichen – Rechtsprechung abweicht. Fragt man nach den formalen Grenzen der aus Art. 3 Abs. 1 GG resultierenden Präjudizienbindung, so kommen zunächst die Gerichte des Bundes bzw. eines Landes als jeweilige Träger öffentlicher Gewalt in Betracht. Korrigierend wirkt die Kompetenzverteilung innerhalb der Judikative. Ist ein Gericht allgemein im Instanzenzug zur Überprüfung der Judikate eines anderen Gerichts berufen, scheidet eine Bindung an Präjudizien des nachrangigen Gerichts aus. Im Verhältnis verschiedener Spruchkörper desselben Gerichts tritt zu Art. 3 Abs. 1 GG die Organtreue zur Begründung der Verpflichtung, die Rechtsprechung anderer Spruchkörper zur Kenntnis zu nehmen, ihre Maximen für den zu entscheidenden Fall sorgfältig zu erwägen und eine Abweichung speziell zu rechtfertigen109. Im Verhältnis der obersten Gerichtshöfe des Bundes zueinander (Art. 95 Abs. 1 GG) ist Art. 95 Abs. 3 GG lex specialis gegenüber der sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ergebenden Präjudizienbindung: die Bindung eines Gerichtshofs an ein Präjudiz eines anderen nach Art. 3 Abs. 1 GG entfällt.
__________ 103 So allgemein Heusch in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Fn. 55), Art. 95 GG Rz. 9. 104 Siehe sub II. 2. b). 105 Zu § 31 BVerfGG vgl. Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 566 f.; Schlaich/Korioth (Fn. 9), Rz. 495 ff. 106 Vgl. Schröder (Fn. 10), S. 58. 107 So insbesondere Gusy, DÖV 1992, 461 (467 ff.). 108 Kriele (Fn. 100), S. 246. 109 Vgl. Kirchhof, DStR 1989, 263 (267) m. w. N.
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Insgesamt steht die Präjudizienbindung des Richters nach Art. 3 Abs. 1 GG im Spannungsfeld zu Gesetzesbindung und richterlicher Unabhängigkeit (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG)110. Zum einen resultiert aus Art. 3 Abs. 1 GG keine Pflicht zur Gleichbehandlung im Unrecht111. Zum anderen folgt Rechtsanwendungsgleichheit schon allein aus der Wahrung zwingender normativer Vorgaben112. Sie geht insoweit in der Wahrung des Gesetzesmäßigkeitsprinzips auf. Eine selbständig aus Art. 3 Abs. 1 GG resultierende Präjudizienbindung besteht jedoch, sobald der Richter – und hierzu ist ja gerade der Revisionsrichter berufen – Zweifelsfragen der Auslegung zu entscheiden und Rechtsfortbildung zu betreiben hat113. Diese Rechtsfortbildung geschieht – im Rahmen der richterlichen Bindung an Gesetz und Verfassung – insbesondere durch rechtsdogmatische Ableitung aus den vorhandenen normativen Vorgaben. Man könnte nun freilich auch diese dogmatische Ableitung allein dem Gesetzmäßigkeitsprinzip zuordnen, so dass sich eine Präjudizienbindung nach dem Grundsatz der Rechtsanwendungsgleichheit erübrigte114. Hiergegen spricht jedoch die Offenheit der Rechtsdogmatik für neue Entwicklungen115. Die Rechtsprechung leistet einen erheblichen Beitrag zur steuerrechtlichen Systembildung. Derartige Rechtsdogmatik ist nicht statisch, sondern hat den sich wandelnden Anforderungen an ein wirksames Steuerrechtssystem Rechnung zu tragen. Diese Entwicklungsoffenheit erfordert trotz rechtsdogmatisch vorgezeichneter Rechtmäßigkeitskontrolle die Beurteilung einer Präjudizienabweichung am Maßstab der Rechtsanwendungsgleichheit. Die Bedeutung der Rechtsanwendungsgleichheit als das Gesetzesmäßigkeitsprinzip ergänzender, mit diesem aber nicht deckungsgleicher Maßstab für die Beurteilung der Maßgeblichkeit vorhandender Präjudizien durch den aktuell entscheidenden Richter steigt dabei in dem Maße, in dem die jeweiligen normativen Vorgaben Raum für dogmatische Entwicklungen lassen. Führt nunmehr eine neue dogmatische Erkenntnis zur Beurteilung eines Präjudizes als rechtswidrig, scheidet eine Präjudizienbindung sowohl nach dem Gesetzesmäßigkeitsprinzip als auch nach Art. 3 Abs. 1 GG (keine Gleichheit im Unrecht) aus. Der Grundsatz der Rechtsanwendungsgleichheit zwingt jedoch schon im Vorfeld dieser Einordnung des vorhandenen Präjudizes als rechtswidrig zur sachlichen Begründung. Fragt man nach der Qualität, die ein zureichender Grund haben muss, um ein Abgehen von einer gefestigten, höchstrichterlichen Rechtsprechung zu rechtfertigen, so bedarf es jedenfalls mehr als irgendeines nachvollziehbaren Gesichtspunktes, der lediglich den Vorwurf der Willkür vermeiden könnte. Vielmehr muss der Grund ein solches Gewicht haben, dass es gerechtfertigt ist, die
__________ 110 Vgl. Seiler (Fn. 20), S. 42. 111 Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), 1993, S. 68. 112 Jachmann (Fn. 17), S. 1002. 113 Vgl. auch Riggert (Fn. 111), S. 18 ff.; Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, 2005, S. 147 f. 114 In diese Richtung M. Fischer, DStR 2008, 697 (699); vgl. auch Krauss, Der Umfang der Prüfung von Zivilurteilen durch das Bundesverfassungsgericht, 1987, S. 255 f. 115 Riggert (Fn. 111), S. 72 f.
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an das Präjudiz anknüpfende Rechtskontinuität und das mit dieser verbundene allgemeine Vertrauen der Normadressaten auf eine ständige höchstrichterliche Handhabung der Norm zu enttäuschen116. Dieser Aspekt gilt insbesondere für das Steuerrecht, ist es doch in sehr hohem Maße durch höchstrichterliche Judikate geprägt. Insgesamt kann die rechtliche Relevanz von Präjudizien im Sinne von Krieles „Theorie der präsumtiven Verbindlichkeit“117 verstanden werden. Diese präsumtive Verbindlichkeit von Präjudizien für den neuerlich entscheidenden BFH-Richter ist von der Argumentationslast der Finanzverwaltung bei Nichtanwendung von Judikaten des BFH zu unterscheiden. Zwar führen auch Nichtanwendungserlasse zu Rechtsunsicherheit beim Steuerpflichtigen, doch ist dies nicht die dogmatische Grundlage der Bindung an die Rechtsprechung. Dogmatischer Anknüpfungspunkt für die Argumentationslast der Exekutive ist vielmehr die Gewaltenteilung. Hieraus rechtfertigt sich wiederum, dass das Abgehen von einer Entscheidung des BFH durch die Finanzverwaltung für diese zu einer wesentlichen höheren Argumentationslast führen muss als für den BFH selbst. Insbesondere kann sich der abweichende Richter bei Darlegung seiner Gründe für ein Abgehen vom Präjudiz ebenfalls auf die Vermutung der Richtigkeit seiner Entscheidung berufen, während eine solche Vermutung für die Rechtsanwendung des Fiskus fehlt. 2. Vertrauensschutz gegenüber Rechtsprechungsänderungen Die dargelegte Präjudizienbindung qua Rechtsanwendungsgleichheit ist eng verwoben mit rechtsstaatlichen Kontinuitätserwartungen. Zwar sind dogmatische Grundlage der Argumentationslast für Rechtsprechungsänderungen nicht unmittelbar Rechtssicherheit und Vertrauensschutz. Rechtssicherheitsaspekte erlangen jedoch im Rahmen der Bewertung des Grundes für die Rechtsprechungsänderung erhebliche Bedeutung118. Aus Sicht des Steuerpflichtigen ist das Abrücken von höchstrichterlichen Präjudizien durch ein Gericht einer rückwirkenden Änderung eines Steuergesetzes vergleichbar, indem die Rechtsauffassung des Gerichts in Form der neu entwickelten rechtlichen Maßstäbe auf den Streitfall und damit auf einen Fall angewandt wird, dessen Sachverhalt zu einem Zeitpunkt verwirklicht wurde, in dem diese Maßstäbe noch nicht existierten. Das Prinzip der Rechtssicherheit, intertemporal ausgeprägt als rechtsstaatliche Kontinuität, verlangt Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns119. Subjektivrechtlich zielt dies auf individuelle Erwartungssicherheit, d. h. auf Schutz vor Ent-
__________ 116 Vgl. dazu u. a. BFH v. 13.11.1963 – GrS 1/63 S, BFHE 78, 315 (320): „schwerwiegende sachliche Erwägungen“; so auch BFH v. 15.7.1968 – GrS 2/67, BFHE 93, 75 (81); demgegenüber sprechen BFH v. 26.11.1973 – GrS 5/71, BFHE 111, 242 (253) und BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BFHE 141, 405 (430 f.) von „wichtigen Gründen“. 117 Kriele (Fn. 100), S. 243 ff. 118 Vgl. etwa Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 39), Art. 3 GG Rz. 287: „Vertrauensschutz als Differenzierungsgesichtspunkt“. 119 Englisch/Plum, StuW 2004, 342 (358).
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wertung von Dispositionen durch Rechtsänderung120, insbesondere vor Nachteilen, die aus staatlich provoziertem Verhalten erwachsen (Fälle eines venire contra factum proprium des Staates)121. Jenseits dieser rechtsstaatlichen Komponente basiert Vertrauensschutz als Aspekt der Verhältnismäßigkeit auf grundrechtlich geschützten Positionen122. Im Ergebnis bedeutet dies für den Senat des BFH, der von einer Vorjudikatur abweichen will, dass seine Argumentationslast umso höher ist, d. h. seine materiell-rechtlichen Argumente gegen die bisherige Rechtsprechung umso schlagkräftiger sein müssen, je schutzwürdiger das Vertrauen des Steuerpflichtigen – zunächst der Partei des Rechtsstreits – auf die Anwendung der bisherigen Rechtsprechung auch auf den Streitfall erscheint. Sedes materiae der Eigenbindung des BFH an Präjudizien ist dabei aber stets – entsprechend Art. 3 Abs. 1 GG – die materielle Gerechtigkeit123. Die Präjudizienbindung im Sinne einer präsumtiven Verbindlichkeit, einer Richtigkeitsvermutung mit Argumentationslast des abweichenden Richters, zielt letztlich auf die sachliche Richtigkeit der Judikatur. Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz hindern den Richter nicht, gemäß der seiner Meinung nach – innerhalb der Grenzen der Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG gefundenen – richtigen Auslegung zu entscheiden124. Die nach Überzeugung des Richters gefundene Rechtsrichtigkeit ist keiner Abwägung mit Rechtssicherheitsaspekten zugänglich125. Eine präjudizielle Wirkung von Judikaten contra legem kann es nicht geben126. Dies bedeutet andererseits nicht, dass bei einer sachlich gerechtfertigten (Art. 3 Abs. 1 GG) Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung der Vertrauensschutz des betroffenen Steuerpflichtigen gänzlich auf der Strecke bliebe. In Parallele zu den Grundsätzen des Dispositionsschutzes gegenüber rückwirkenden Gesetzen127 ist dann, wenn eine Abweichung des BFH vom eigenen Präjudiz nach den dargelegten Grundsätzen sachlich gerechtfertigt und nach der Überzeugung des neuerlich entscheidenden Richters von der materiellen Richtigkeit seines Urteils geschuldet ist, zu fragen, inwieweit rechtsstaatlicher Vertrauensschutz diese Abweichung nicht schon für den zu entscheidenden
__________ 120 Vgl. Schulze-Fielitz in Dreier, 2. Aufl. 2006, Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 147. 121 Jachmann, ThürVBl. 1999, 269 (274). 122 Im Ergebnis nicht fruchtbar zu machen ist in diesem Zusammenhang der Anspruch auf Justizgewährung, gestützt auf Art. 19 Abs. 4 GG bzw. das Rechtsstaatsprinzip. Dieser Anspruch ist auf eine Entscheidung des konkreten Falls nach Maßgabe des hierfür geltenden Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) gerichtet. Es wäre ein Zirkelschluss, wollte man diesen als materielle Basis des Vertrauensschutzes des potentiell Rechtssuchenden auf eine bestimmte Art der Justizgewährung heranziehen (a. A. Robbers, JZ 1988, 481 [482, 486 f.]). 123 Vgl. dazu Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 118. 124 Vgl. Birk in DStJG 27 (2004), S. 9 (22); Maurer in Isensee/Kirchhof (Fn. 15), § 79 Rz. 143. 125 Desens (Fn. 65), S. 365. 126 Vgl. Desens (Fn. 65), S. 364. 127 Vgl. BFH v. 16.12.2003 – IX R 46/02, BStBl. II 2004, 284 (289 ff.); BVerfG v. 3.12. 1978 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 (78 ff.); siehe auch Schmidt-Troje in FS Schaumburg (Fn. 2), S. 133 (147).
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Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs als Ausübung der dritten Staatsgewalt
Fall, sondern erst in künftigen Parallelfällen gestattet, in denen die Steuerpflichtigen ihr Verhalten schon auf die neue Rechtsauffassung des BFH einstellen konnten128. In diesem Sinne hat der Große Senat bei der Abkehr von seiner mehr als vier Jahrzehnte währenden Rechtsprechung zur Vererblichkeit des Verlustabzugs nach § 10d EStG129 in typisierender Weise Vertrauensschutz gegenüber der zu Lasten des Steuerpflichtigen geänderten Rechtsprechung in allen Erbfällen gewährt, die bis zum Ablauf des Tages der Veröffentlichung des Beschlusses eingetreten waren130. Die Steuerpflichtigen dürften auf den Fortbestand der Rechtsprechung – ungeachtet der im Schrifttum erhobenen Gegenstimmen131 – umso mehr vertrauen, als die Rechtsprechung in Jahrzehnte andauernder Verwaltungsübung von den Finanzbehörden angewandt wurde, obwohl die Vererblichkeit des Verlustabzugs für den Fiskus nachteilige Wirkung hätte132. Entscheidend sei darüber hinaus, dass sich die Beantwortung der Frage angesichts der lückenhaften gesetzlichen Regelungen nicht im Wege einfacher Subsumtion des Sachverhalts unter einen gesetzlichen Tatbestand und durch schlichte Deduktion aus den einschlägigen Rechtsnormen, insbesondere § 10d EStG, erschließen würde, sondern nur durch Rückgriff auf abstrakte Rechtsprinzipien, Wertungen und Abwägungen, so dass der Große Senat des BFH funktionale Rechtsetzung zu betreiben hatte – mit den Worten des Großen Senats „de facto (…) ähnlich einem Normgeber tätig“ wird133. Einem solchen Vertrauensschutz steht nicht etwa eine nicht hinreichende Publizität der Entscheidungen des BFH entgegen134. Der BFH selbst veröffentlicht seine Entscheidungen auf seiner Homepage, in seiner Entscheidungssammlung BFHE sowie in der Sammlung amtlicher nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH (BFH/NV). Darüber hinaus werden sie im Bundessteu-
__________ 128 Soweit gegen einen Vertrauensschutz gegenüber Präjudizienabweichungen vorgebracht wird, dass zwischen der Änderung von Rechtsprechung und Gesetz funktionelle Unterschiede bestünden (so insb. Maurer in Isensee/Kirchhof [Fn. 15], § 79 Rz. 149; M. Fischer, DStR 2008, 697 [699]), betreffen diese Strukturunterschiede den vorliegend zu analysierenden Aspekt nicht (siehe dazu BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 [617]). 129 Die Vorlage betraf die Frage, ob der Erbe einen vom Erblasser nicht ausgenutzten Verlustvortrag bei seiner eigenen Veranlagung zur Einkommensteuer geltend machen kann (BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 [609]). 130 Zust. Kanzler, FR 2008, 465 f.; Dötsch, DStR 2009, 409 (410 f.); Schmidt-Troje in FS Schaumburg (Fn. 2), S. 133 (149); Seer in Tipke/Kruse, § 110 FGO Rz. 5; Kirchhof in Kirchhof, 9. Aufl. 2010, Einl. zum EStG Rz. 61; abl. M. Fischer, DStR 2008, 697 (698 ff.); Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 191; Rüsken in Klein, 10. Aufl. 2009, § 163 AO Rz. 59; krit. P. Fischer, NWB Fach 3 (2008), 15045 (15052 ff.); Witt, BB 2008, 1199 (1202 f.). 131 Zur Kritik an der bisherigen Rechtsprechung vgl. nur Müller-Franken, StuW 2004, 606 ff. m. w. N. 132 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 (617). 133 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 (617); so auch Kirchhof (Fn. 130), Einl. zum EStG Rz. 61; abl. Rüsken in Klein (Fn. 130), § 163 AO Rz. 58. 134 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 (617); a. A. wohl Maurer in Isensee/Kirchhof (Fn. 15), § 79 Rz. 148.
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erblatt veröffentlicht, in die Steuerrichtlinien (Art. 108 Abs. 7 GG) aufgenommen135 und in diversen Fachzeitschriften136 vorgestellt. Dass einzelne Entscheidungen vom BMF nicht zur Veröffentlichung bestimmt werden, ist – abgesehen von der Unzulässigkeit dieses Vorgehens137 – für die vor allem Vertrauensschutz begründende ständige Rechtsprechung allenfalls von geringem Belang, da Nichtveröffentlichungen sich vornehmlich auf erstmalige Judikatur beziehen. Im Übrigen könnte eine im Einzelfall fehlende Publizität eines Judikats allenfalls das Maß der Schutzwürdigkeit des Vertrauens darauf beeinflussen. Analysiert man die dogmatische Basis eines eine Rechtsprechungsänderung begleitenden Vertrauensschutzes, so ist zunächst zu konstatieren, dass die dritte Staatsgewalt naturgemäß retrospektiv agiert. Indem sie ausschließlich Sachverhalte beurteilt, die in der Vergangenheit wurzeln, ist ihr eine rückwirkende Rechtsanwendung systemimmanent138. Zur rückwirkenden Anwendung von geänderter Rechtsprechung kommt es, indem das Gericht bei der Entscheidung des in der Vergangenheit liegenden Sachverhaltes rechtliche Maßstäbe anwendet, die zum damaligen Zeitpunkt noch nicht existierten139. Dadurch wird der Disposition des im zu entscheidenden Einzelfall betroffenen Steuerpflichtigen, an die sich die Besteuerung knüpfte, die Grundlage entzogen. Das steuerliche Kalkül des Steuerpflichtigen, das er mit seiner Disposition verfolgt hat, geht, ohne dass er irgendwie reagieren konnte, ins Leere. Gleiches gilt angesichts der Bindung von Finanzverwaltung und Finanzgerichten an die Präjudizien des BFH aber auch für alle anderen noch nicht bestandskräftig abgeschlossenen Steuerfälle. Nicht nur der Steuerpflichtige, dessen Fall vom BFH entschieden wird, sondern auch alle anderen von der fraglichen Gesetzesauslegung bzw. Rechtsfortbildung betroffenen Steuerpflichtigen erfahren für ihre in der Vergangenheit getroffenen Dispositionen eine andere Dispositionsgrundlage in Gestalt des geänderten Präjudizes140. Ist danach ein geändertes Präjudiz Dispositionsgrundlage für ein besteuertes Verhalten und ist das Vertrauen auf den Fortbestand des Präjudizes schutzwürdig, so darf eine Rechtsprechungsänderung nur ex nunc gelten. Den so umschriebenen Maßstab für einen eine Rechtsprechungsänderung begleitenden Vertrauensschutz gilt es, jeweils nach den Besonderheiten des Einzelfalls zu konkretisieren. Die Schutzwürdigkeit des Vertrauens bestimmt sich dabei nicht nach den sachlichen Kriterien, die es schon für die Rechtfertigung der Abweichung von dem jeweiligen Präjudiz im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG abzuwägen galt.
__________ 135 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 (617). 136 Zu allgemein insoweit die Aussage von Maurer in Isensee/Kirchhof (Fn. 15), § 79 Rz. 148. 137 Vgl. sub. III. 2. und 3. 138 Uffmann, Das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion, 2010, S. 72. 139 Uffmann (Fn. 138), S. 73 m. w. N. 140 Auch § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 2 AO trägt dem gebotenen Vertrauensschutz einer uneingeschränkt rückwirkenden Anwendung von zu Lasten des Stpfl. geänderter Rechtsprechung nicht hinreichend Rechnung, da vorausgesetzt wird, dass bereits ein Steuerbescheid ergangen ist (vgl. Hey, DStR 2004, 1897 [1899]).
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Gleiches gilt für die Möglichkeit etwaiger Billigkeitsmaßnahmen im Einzelfall141. Ein potentielles Billigkeitsverfahren kann nicht den Prüfungsmaßstab für die sachliche Steuerpflicht bestimmen142. Das Vertrauen auf die Anwendung eines in dem Zeitpunkt, als der Steuerpflichtige durch seine Dispositionen die Weichen für seine sachliche Steuerpflicht gestellt hat, anerkannten Präjudizes ist aber umso schutzwürdiger143, je konkretisierungsbedürftiger das ausgelegte Gesetz ist144 und je häufiger der BFH ein Präjudiz im Sinne ständiger Rechtsprechung bestätigt hat145. Gleichwohl begründet auch die erstmalige Klärung einer abstrakten Rechtsfrage durch den BFH bereits Schutzwürdigkeit des Vertrauens, solange keine anderen BFH-Urteile entgegenstehen146. Dies gilt vor allem, wenn der Große Senat des BFH erstmalig zu einer abstrakten Rechtsfrage Stellung bezieht, da seinen Entscheidungen angesichts seiner Aufgabe, Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu klären (§ 11 Abs. 4 FGO), eine besondere Autorität zukommt. In diesem Zusammenhang wird das Vertrauen des Steuerpflichtigen auch nicht geschmälert, wenn andere Senate des BFH zögern, die Rechtsprechung anzuwenden147. Es reicht aus, wenn die mit
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141 Auf Vertrauensschutz hat der nachteilig betroffene Bürger einen unabhängig von „Billigkeit und Ermessen“ zu gewährenden rechtsstaatlich begründeten Anspruch (siehe dazu BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 [617 f.]; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 174 f.; anders Hey [Fn. 99], S. 646 f., die Übergangsrichtlinien der Verwaltung den Vorrang einräumt). 142 Beim Billigkeitsverfahren handelt es sich um ein selbständiges Verwaltungsverfahren, so dass der BFH im Anfechtungsverfahren gegen die Steuerfestsetzung grds. nicht über einen Billigkeitsantrag entscheiden kann (vgl. dazu BFH v. 21.9.2000 – IV R 54/99, BStBl. II 2001, 178 [182]; Rüsken in Klein [Fn. 130], § 163 AO Rz. 2 m. w. N.; ähnlich auch Felix in FS Tipke, 1995, S. 71 [91]). 143 Für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens ist aber in jedem Fall zu verlangen, dass der Stpfl. überhaupt die Möglichkeit zur Gestaltung hatte, d. h. dass er im Hinblick auf eine Rechtsprechung überhaupt Dispositionen tätigen konnte. So halten Kritiker dem Großen Senat entgegen, dass die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des/der Stpfl. bei der zu entscheidenden Frage zumindest zweifelhaft sei, weil das Versterben des Erblassers nicht legal gestaltet werden könne (dazu M. Fischer, DStR 2008, 697 [701]; Witt, BB 2008, 1199 [1202]). Die maßgebliche Gestaltungsmöglichkeit ergibt sich hier jedoch daraus, dass im Zusammenhang mit einem Erbfall der Erbe die Entscheidung zu treffen hat, ob er die Erbschaft annimmt oder ausschlägt (§§ 1942 ff. BGB) und es hierfür ausschlaggebend sein kann, ob eine mögliche Überschuldung durch Steuervorteile, d. h. vorliegend der Vererblichkeit des Verlustabzugs, kompensiert werden können (so zu Recht Schmidt-Troje in FS Schaumburg [Fn. 2], S. 133 [148]). Dass der einzelne Stpfl. bei seiner Disposition tatsächlich auf den Fortbestand einer Rechtsprechung vertraut hat, ist für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens nicht zu verlangen: hierfür sprechen Praktikabilitätsgründe und der Umstand, dass sich solche inneren Tatsachen kaum zuverlässig ermitteln lassen (dazu BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 [618]; zust. Seer in Tipke/ Kruse, § 110 FGO Rz. 8: „Schutz des abstrakten Vertrauens“; vgl. auch Hey [Fn. 99], S. 634). Es ist typisierend darauf abzustellen, dass der rationale Stpfl. regelmäßig in seinem Verhalten durch die für ihn günstigste Steuergestaltung im Sinne einer möglichst niedrigen Steuerlast gelenkt wird. 144 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 (617 f.). 145 So allgemein Effer-Uhe, Die Bindungswirkung von Präjudizien, 2008, Rz. 97. 146 Tipke (Fn. 141), S. 176; a. A. Schmidt-Troje in FS Schaumburg (Fn. 2), S. 133 (149); Seer in Tipke/Kruse, § 110 FGO Rz. 8. 147 So aber Witt, BB 2008, 1199 (1202 f.).
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der Rechtsfrage befassten Senate des BFH die Rechtsprechung des Großen Senates im Ergebnis mittragen148.
V. Fazit Die höchstrichterliche Rechtsprechung des BFH als Ausübung der dritten Staatsgewalt wird durch die Kernaufgabe der Rechtsfortbildung determiniert. Die Notwendigkeit der rechtsschöpferischen Tätigkeit des BFH folgt methodisch daraus, dass der Richter im Rahmen seiner Rechtsanwendung stets einen abstrakt-generellen Maßstab auf den zu entscheidenden Sachverhalt zu übertragen hat, welchen er, soweit er sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergibt, selbst bilden muss. Gebunden ist diese funktionale Rechtsetzung an die ratio des einschlägigen Gesetzes. Die durch den BFH betriebene Rechtsfortbildung bzw. Klärung abstrakter Rechtsfragen entfaltet keine normative Wirkung. Zum einen zählt auch die funktionale Rechtsetzung zur Rechtsanwendung i. S. v. Art. 20 Abs. 3 GG, zum anderen fehlt dem Richter eine entsprechende – der des Gesetzgebers vergleichbare – demokratische Legitimation. Gleichwohl hat die Finanzverwaltung rechtskräftige Entscheidungen des BFH nicht nur im Einzelfall, sondern grundsätzlich auch auf alle Parallelfälle anzuwenden. Die Gewaltenloyalität im Zusammenspiel mit der Individualrechtsschutzgarantie einerseits sowie die spezifischen Funktionen des BFH andererseits setzen der Kompetenz der Finanzverwaltung zur eigenverantwortlichen Prüfung ihrer Rechtsanwendung dergestalt Schranken, dass sie an die Rechtsauffassung des BFH grundsätzlich gebunden ist. Entscheidungen des BFH schlicht nicht zur Kenntnis zu nehmen, sie ohne Begründung oder ohne neue – vom BFH noch nicht erwogene – Argumente zu übergehen, ist verfassungswidrig149. Diese grundsätzliche Bindung findet dort ihre Grenzen, wo die Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofes offenkundig rechtsfehlerhaft ist150. Aus Art. 20 Abs. 3 GG folgt insofern die Pflicht der Verwaltung, einem Urteil des BFH die Gefolgschaft zu versagen, dessen offenkundige Rechtsfehlerhaftigkeit sie hinreichend begründen kann151. Auch die Rechtsanwendung der Finanzgerichtsbarkeit prägen die Präjudizien des BFH. Schon mit Blick auf § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO sind die Finanzgerichte grundsätzlich gehalten, ihre Entscheidungen an der Rechtsauffassung des BFH auszurichten. Jenseits dessen entfalten Präjudizen des BFH für den neuerlich zu entscheidenden BFH-Richter Bindungswirkung im Sinne einer präsumtiven Verbindlichkeit; auch er hat die Abkehr von einem Präjudiz sub specie des Gebotes der Rechtsanwendungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) zu be-
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148 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 (618). Will ein Senat von einer entsprechenden Entscheidung abweichen, begründet dies die Zuständigkeit des Großen Senats nach § 11 Abs. 2 FGO. 149 Lange, NJW 2002, 3657 (3659). 150 Spindler, DStR 2007, 1061 (1064). 151 Seewald, SteuerConsultant 2009, 21 (22).
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gründen. Ist eine Rechtsprechungsänderung danach sachlich gerechtfertigt, zieht der Grundsatz des Vertrauensschutzes einer rückwirkenden Anwendung von zu Lasten des Steuerpflichtigen geänderter Rechtsprechung Grenzen. Nachteilig geänderte Rechtsprechung ist gegebenenfalls erst mit Wirkung ex nunc, d. h. auf all diejenigen Fälle, die nach dem Tage der Veröffentlichung der Entscheidung eintreten, anzuwenden – dies, soweit Rechtsfragen geklärt werden, welche die steuerrechtlichen Gestaltungen des Bürgers determinieren. Dabei steigt die Intensität des Vertrauensschutzes durch den BFH in dem Maße, in dem sich die betriebene Rechtsfortbildung funktional der Rechtsetzung152 annähert. Maßgeblich hierfür sind insbesondere ein langjähriger Bestand der Rechtsprechung und eine damit einhergehende dauernde Verwaltungsübung.
__________ 152 Vgl. BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 (617).
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Über die Unfähigkeit deutscher Politik zur Steuervereinfachung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Historischer Rückblick III. Wer ist für die Komplizierung deutscher Steuergesetze verantwortlich?
IV. Entwürfe zur Steuervereinfachung durch Rechtsreform V. Politische Bedingungen für die vereinfachende Steuerrechtsreform VI. Resümee
I. Einleitung Auf dem Deutschen Finanzgerichtstag am 25.1.2010 in Köln forderte der Präsident des Deutschen Finanzgerichtstags Jürgen Brandt die Bundesregierung auf, die im Koalitionsvertrag versprochene Steuervereinfachung „ohne Wenn und Aber“ möglichst schnell umzusetzen1. Auf der Pressekonferenz erinnerte der Jubilar an den Beschluss des BFH v. 6.9.20062, mit dem der Bundesfinanzhof die Regelung der Mindestbesteuerung3 wegen Verstoßes gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz der Normenklarheit dem Bundesverfassungsgericht vorlegte. Der Vorlagebeschluss griff die einhellige Auffassung des Schrifttums auf, dass „die Mindeststeuerregelung unverständlich, widersprüchlich, unpraktikabel und nicht mehr justiziabel“ sei. Der „chaotische“ Wortlaut sei ein „Paradebeispiel“ für die Verletzung des Gebots der Normenklarheit, eine „Meisterleistung an Verschleierungskunst“4. Das Beispiel der Mindestbesteuerung zeigt exemplarisch, dass sich das Steuerrecht jenseits des üblicherweise registrierten Spannungsverhältnisses von Ein-
__________ 1 Brandt, Erwartungen an die Steuerrechtsentwicklung nach der Bundestagswahl, in Deutscher Finanzgerichtstag 2010, 2011, S. 11. 2 BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 167. Das BVerfG hat über die Vorlage noch nicht entschieden. 3 Gegenstand des Vorlagebeschlusses war die bis zum Veranlagungszeitraum 2004 geltende Regelung der §§ 2 Abs. 3 Sätze 2 ff., 10d Abs. 1 Sätze 2 ff., Abs. 2 Sätze 2 ff., Abs. 3 EStG i. d. F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 v. 24.3.1999 (BGBl. I, 402). Ab dem VZ 2004 wurde die Regelung vereinfacht, weil sie sich computertechnisch nicht mehr verarbeiten ließ. Das gilt insb. für die aufgehobenen Vorschriften des § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8 EStG 1999. 4 Siehe BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, 167 (172).
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fachheit und Gerechtigkeit einer Norm5 bewegt. Die Steuergesetze befinden sich in einem Zustand, dass durch ihre Vereinfachung nicht weniger, sondern mehr Gerechtigkeit zu erreichen ist. Die Komplexität der Steuergesetze geht sogar einher mit der Verfassungswidrigkeit der Norm, wie sie der Beschluss des XI. Senats eindrucksvoll aufgedeckt hat. Die Regelung der Mindestbesteuerung ist nicht nur verfassungswidrig normenunklar; sie verletzt auch das vom Bundesverfassungsgericht hoch angesiedelte Nettoprinzip6. Während der Amtszeit des Jubilars als Präsident des Bundesfinanzhofs hat die Zahl der Vorlagen des Bundesfinanzhofs an das Bundesverfassungsgericht deutlich zugenommen. Diese Zunahme deckt sich mit dem Engagement des Jubilars für eine bessere Qualität der Steuergesetze. Hervorzuheben ist hier vor allem der Einsatz für mehr Vertrauensschutz und Steuerplanungssicherheit7. So erscheint diese Festschrift ein geeigneter Anlass, die politischen Möglichkeiten der Qualitätsverbesserung von deutschen Steuergesetzen zu reflektieren.
II. Historischer Rückblick Klaus Tipke8 hat nachgewiesen, dass in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch keine das Steuerrecht strukturell vereinfachende Rechtsreform geglückt ist. Im Gegenteil: Der Trend einer stetigen Verkomplizierung des Steuerrechts durch Steueränderungsgesetze konnte trotz aller Reformvorschläge9 seit den 1950er Jahren nicht beendet, geschweige denn umgekehrt werden. Es gibt wohl eine stattliche Reihe von Reformgesetzen, deren Titel populistisch auf Steuerentlastungen10 hinweisen, tatsächlich jedoch infolge der Gegenfinanzierung tariflicher Entlastungen verfassungswidrige Mehrbelastun-
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5 Vgl. dazu J. Lang, Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung, in FS Meyding, Steuervereinfachung versus Steuergerechtigkeit?, 1994, S. 33, (34 f.). Die These, dass durch Verzicht auf sog. Einzelfallgerechtigkeit das Recht vereinfacht wird, gilt wegen „ungerechter“, besonders verfassungswidriger Differenzierungen der Steuergesetze nicht im gegenwärtigen Steuerrecht. 6 Siehe zuletzt der Beschluss des BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09 zur Berücksichtigung der Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer im Steuerrecht. Zur gleichheitswidrigen Verletzung des Nettoprinzips durch die Mindestbesteuerung J. Lang/ Englisch, StuW 2005, 3 (5 ff.); J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 66 f. (m. w. N.), sowie zum haushaltsverträglichen Ausstieg aus der Mindestbesteuerung Dorenkamp, Systemgerechte Neuordnung der Verlustverrechnung, IFStSchrift Nr. 461, 2010. 7 Spindler, Vertrauensschutz im Steuerrecht, DStR 2001, 725; ders., Rückwirkung von Steuergesetzen, in DStJG 27 (2004), S. 96; Hey, Vom Eintreten des Bundesfinanzhofs für mehr Steuerplanungssicherheit, DStR 2007, 1; dies., Wird die Gesetzesverkündung wieder zum Maß des Vertrauensschutzes? – BFH wendet sich gegen Vorhersehbarkeitsrechtsprechung des BVerfG, NJW 2007, 408. 8 Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr!?, Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, 2006, S. 22 ff. 9 Tipke, (Fn. 8); J. Lang in Tipke/Lang (Fn. 6), § 8 Rz. 70 ff. Die lange Reihe von Reformvorschlägen begann mit dem 1953 veröffentlichen Gutachten des Wiss. Beirats beim BMF über eine „organische Steuerreform“. Es folgte Troeger (Hrsg.), Diskussionsbeiträge des Arbeitsausschusses für die Große Steuerreform, 1954. 10 So z. B. das in Fn. 3 zitierte Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002.
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gen wie die erwähnte Mindestbesteuerung einführten und das Steuerrecht weiter verkomplizierten. Klaus Tipke11 fordert nachdrücklich Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, die in erster Linie auf Tarifentlastungen gerichtet ist. Die Einführung eines linear-progressiven Tarifs durch das Steuerreformgesetz 199012 wurde als „Jahrhundert-Steuerreform“13 gefeiert. Zwei Jahrzehnte später versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung vom 10.11.2009, dass sich Leistung wieder lohnen werde. Das sei der Grund, „warum wir unser Steuersystem spürbar vereinfachen wollen. Den Einkommensteuertarif wollen wir zu einem Stufentarif umbauen. Einfach, niedrig und gerecht …“ Durch den Umbau des linear-progressiven Tarifs in einen Stufentarif wird das Einkommensteuerrecht nicht vereinfacht. Es wird nur ein einziger Paragraph des Einkommensteuergesetzes technisch umgestaltet. Die Tarifbelastung des „zu versteuernden Einkommens“ rechnet der Computer aus. Hochkomplex und ungleich belastend ist die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, die dem Tarif zugrunde liegt. Die Bemessungsgrundlage ist der eigentliche Gegenstand des Steuerrechts, Gegenstand von Steuererklärungen, der Sachaufklärung und rechtlicher Streitfragen. Die historische Erfahrung lehrt, dass Tarifreformen das Steuerrecht wegen der Gegenfinanzierung stets komplizierter machen und nicht, wie Angela Merkel meint, vereinfachen. Die Regierungsparteien haben sich bis heute von einer Stimmenfangpolitik, die ihnen die Fähigkeit zur Rechtsreform raubt, bis heute nicht distanzieren können. In dem Koalitionsvertrag vom 26.10.2009 vereinbaren CDU, CSU und FDP ein vages „Mehr Netto vom Brutto“ mit steuerlichen Entlastungen von 24 Mrd. Euro14 und auf einen Katalog von Einzelmaßnahmen der „Steuervereinfachung“15, der die konzeptionelle Unfähigkeit zu strukturellen Vereinfachungsreformen belegt. Ganz anders stellt sich die Steuergeschichte vor dem zweiten Weltkrieg dar. Es gab zwei Fundamentalreformen16, mit denen der Durchbruch zu einem dogmatisch ausgeformten Steuerrecht gelang: Mit der preußischen Steuerreform von 1891/93 wurde die progressive Besteuerung von Einkommen auf deutschem Boden nachhaltig institutionalisiert. Dazu erklärte der Namensträger dieser
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Tipke (Fn. 8). Steuerreformgesetz 1990 v. 25.7.1988 (BGBl. I, 1093). Tipke (Fn. 8), S. 36. Koalitionsvertrag „Wachstum, Bildung, Zusammenhalt“ v. 26.10.2009 zwischen CDU, CSU und FDP, 17. Legislaturperiode, Zeilen 62 ff. 15 Koalitionsvertrag (Fn. 14), Zeilen 158 ff. 16 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, 1993, S. 1460, bezeichnet die Miquelsche Steuerreform von 1891/93 und die Erzbergersche Steuerreform von 1919/1920 als die einzigen geglückten Steuerreformen. Besonders fortschrittlich war auch das sächsische EStG 1874/78: Es postulierte u. a. einen Generalbegriff des Einkommens (§ 15 Nr. 1 sEStG 1878), der die später (1896) publizierte v. Schanzsche Reinvermögenszugangstheorie antizipierte, und die Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Rechnungslegung für die steuerliche Gewinnermittlung (§ 21 Nr. 1 sEStG 1878). Dazu Mathiak, Das sächsische Einkommensteuergesetz von 1874/78, Entstehung und Durchführung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes, 2005.
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Fundamentalreform, der preußische Finanzminister Johannes von Miquel, im Preußischen Herrenhaus: Die „günstige Stimmung“ für eine progressive Einkommensteuer liege „vor allem in unserem deutschen Gerechtigkeitsgefühl. Man beschwert sich nicht so sehr über hohe Steuern, wenn man sie nur gerecht findet, wohl aber, wenn sie ungleich sind“17. Die zweite Fundamentalreform18 leistete Reichsfinanzminister Matthias Erzberger. Vom September 1919 bis März 1920 wurden 16 Steuergesetze verkündet, darunter das von Enno Becker geschaffene Meisterwerk der Reichsabgabenordnung19 und das die v. Schanzsche Reinvermögenszugangstheorie vollziehende EStG 192020. RAO 1919 und EStG 1920 dienten in vielen Ländern als hervorragende Vorbilder für Steuergesetze. Die Erzbergersche Steuerreform wurde in einer Zeit großer Finanznot auf den Weg gebracht. Die Lasten des verlorenen Weltkriegs zwangen dazu, das Steueraufkommen um das Fünffache zu steigern. Die Erzbergersche Steuerreform zeigt, dass sich Krisenzeiten für Strukturreformen besser eignen als Zeiten der Wirtschaftsblüte, in denen Bürger weniger opferbereit sind. Die gegenwärtig dramatische Verschuldung der öffentlichen Haushalte hat die allgemeine Überzeugung begründet, dass Steuerentlastungen nicht verantwortbar sind. Selbst die Gruppe der Spitzenverdiener akzeptiert den Verzicht auf Steuerentlastungen21. Die gegenwärtigen Regierungsparteien sind weit entfernt davon, die Chancen einer Strukturreform in Krisenzeiten nutzen zu können. Die Visitenkarte des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes vom 22.12.200922 dokumentiert steuerpolitische Konzeptionslosigkeit. Mit der Umsatzsteuerermäßigung für Beherbergungsleistungen nach § 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG kehrt der Geist lobbyistischer Subventionspolitik zurück, den man schon überwunden glaubte und der sich nun zur Unzeit notleidender Budgets wieder einnistet. Die Steuerpolitik der gegenwärtigen Bundesregierung steht im Kontrast zur Aufbruchstimmung in 2004. Die damaligen Oppositionsparteien CDU, CSU und FDP übten Druck auf den Bundesgesetzgeber aus. Sie forderten eine grundlegende Vereinfachung des Steuerrechts, besonders ein neues Einkommensteuergesetz23. Dementsprechend hoch waren die steuerpolitischen Erwartungen nach dem Wahlsieg von
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17 Zitat nach Pausch, Johannes von Miquel, Sein Leben und Werk, 1964, S. 33. 18 Zu dieser Reform ausführlich Pausch, Matthias Erzberger, Sein Leben und Werk, 1965; ders., Persönlichkeiten der Steuerkultur, 1992, S. 35 ff.; Huchatz/Daenner in Herrmann/Heuer/Raupach, Dok. 1, Anm. 4 ff. 19 Dazu Cordes, Untersuchungen über die Grundlagen und Entstehung der Reichsabgabenordnung vom 23.12.1919, 1971; Pausch, Persönlichkeiten (Fn. 18), S. 44 ff. 20 Dazu J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, S. 36 ff. 21 In der seit mehr als 20 Jahren durchgeführten Umfrage im Auftrag der Zeitschrift „Capital“ („Capital-Elite-Panel“) unter 550 deutschen Führungskräften forderte im Dezember 2009 erstmals nur eine Minderheit Steuerentlastungen. 49 Prozent sprachen sich dagegen und 48 Prozent dafür aus. 22 BGBl. I 2009, 3950. 23 So die sog. Bierdeckelsteuer von Friedrich Merz (CDU/CSU, Ein modernes Steuerrecht für Deutschland – Konzept 21, BT-Drucks. 15/2349 v. 23.3.2004) und der in BTDrucks. 15/2349 v. 14.1.2004 veröffentlichte Entwurf der FDP.
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Union und Liberalen. Doch bereits der Koalitionsvertrag vom 26.10.2009 zeigte klar, dass die gegenwärtige Bundesregierung keine strukturelle Vereinfachungsreform leisten wird.
III. Wer ist für die Komplizierung deutscher Steuergesetze verantwortlich? Die bittere Enttäuschung darüber, dass Parteien, die in der Opposition überzeugend ihren Willen zu der von Klaus Tipke geforderten Steuerrechtsreform bekundeten, nunmehr in der Regierungsverantwortung die Unordnung des Steuerrechts klientelpolitisch ausbauen, wirft die Frage auf, warum eine Steuerrechtsreform in der Geschichte der Bundesrepublik nicht gelingen will und wer hierfür verantwortlich ist. 1. Die Antwort auf die Frage, wer für den Zustand der deutschen Steuergesetze verantwortlich ist, geht von der Legislative aus. Die Steuergesetzgebung ist von einer einzigartigen Vielfalt wohlorganisierter Gruppeninteressen beherrscht. Die Demokratie leidet allgemein unter einer Durchsetzungsschwäche allgemeiner Interessen24. Zudem fächert der Föderalismus den demokratieimmanenten Interessenpluralismus aus: a) Die Steuerzahler leisten Widerstand nach dem Sankt-Florians-Prinzip, das vornehmlich von Verbänden, aber auch von Politikern instrumentalisiert wird, um ihre Klientel zu erfreuen. Es ist ein Teufelskreis: Je mehr die Steuerlasten drücken, desto kraftvoller werden Gruppeninteressen geltend gemacht, Ausnahmen von der Besteuerung eingefordert, Besitzstände verteidigt. Und je mehr Ausnahmen der Steuergesetzgeber konzidiert, desto höher geraten die Steuersätze. Eine Rechtsreform hat diesen Teufelskreis zu durchbrechen, indem Steuervergünstigungen konsequent eliminiert und dadurch niedrige Steuersätze realisiert werden. Die Lobby ist für die Komplizierung der Steuergesetze verantwortlich, wenn sie sich damit von Steuerbelastung freikaufen kann. So ist z. B. die Sondertarifierung nicht entnommener Gewinne nach § 34a EStG der Lobby ertragstarker Personenunternehmen zu verdanken25. Die Sondertarifierung ist hochkompliziert geregelt. Jedoch vereinigt sie das „Beste aus zwei Welten“26, einerseits die
__________ 24 Dazu grundlegend von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, Die Durchsetzungsschwäche allgemeiner Interessen in der pluralistischen Demokratie, 1977. 25 § 34a EStG ist Teil der Unternehmensteuerreform 2008 und soll die Gewinne von Personenunternehmen „in vergleichbarer Weise wie das Einkommen einer Kapitalgesellschaft“ belasten (BT-Drucks. 16/4841 v. 27.3.2007, S. 62). Die Kommission „Steuergesetzbuch“ hat das von Vertretern ertragstarker Personenunternehmen entwickelte Modell (Fechner/Lethaus, Die Tarifrücklage, IFSt-Schrift Nr. 437, 2006) nach einer Expertentagung am 15.6.2005 (Stiftung Marktwirtschaft, Tagungsbericht, Berlin 2005) als zu kompliziert verworfen und entschied sich für eine allgemeine Unternehmensteuer. Belastungsgleichheit gewährleistet auch die im Ausland vielfach anzutreffende und von der Personenunternehmenslobby erfolgreich abgewehrte Körperschaftsteuerpflicht von Personengesellschaften. 26 So Englisch auf der in Fn. 25 zit. Expertentagung der Stiftung Marktwirtschaft.
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Teilhabe an der günstigen Belastung von Kapitalgesellschaften und andererseits die Vorteile transparenter Besteuerung. Die Einmalbelastung mit Einkommensteuer auf Unternehmerebene hat z. B. zur Folge, dass der sehr niedrig besteuerte Gewinn einer ausländischen Betriebsstätte trotz Progressionsvorbehalts (§ 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG) niedrig belastet bleibt. Weitere jüngste Beispiele sind die erbschaftsteuerliche Verschonung von Unternehmenserben (§§ 13a, 13b, 19a ErbStG)27 und die erwähnte Umsatzsteuerermäßigung für Beherbergungsleistungen nach § 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG28. Die Unternehmen akzeptieren den Verwaltungsaufwand dieser Steuervergünstigungen29, solange dieser die Steuerentlastung nicht übersteigt. Zudem lädt § 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG zur Steuerunehrlichkeit ein, indem von mehreren Hoteldienstleistungen (insb. das Frühstück) nur die Hotelübernachtung in Rechnung gestellt wird30. b) Wohlorganisierte Gruppeninteressen verhindern auch auf der Seite des Staates die vereinfachende Rechtsreform. Der Fiskalismus einer Vielzahl von Steuergläubigern trägt wesentlich zur Verunstaltung des Steuerrechts bei. Der Fiskalismus hat insbesondere die komplizierten und verfassungswidrigen Beschränkungen des Nettoprinzips zu verantworten wie das eingangs zitierte Beispiel der Mindestbesteuerung. Der Fiskalismus agiert auf Bundes-, Landes- und auf kommunaler Ebene. Teils kooperieren die steuerberechtigten Gebietskörperschaften, teils konkurrieren und teils kollidieren ihre fiskalischen Interessen, was stets zu Lasten der Steuerrechtsordnung geht. Das eindringlichste Beispiel liefert die Gewerbesteuer. Seit langem gilt sie wegen ihrer rechtlichen und ökonomischen Mängel31 als die reformbedürftigste Steuer: Sie ist weder nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip noch nach dem Äquivalenzprinzip zu rechtfertigen, weil sie nur die Gewerbetreibenden und
__________ 27 Ausgebaut durch Art. 6 Wachstumsbeschleunigungsgesetz v. 22.12.2009 (Fn. 22). Dazu J. Lang, Gleichheitswidrigkeit und gleichheitsrechtliche Ausgestaltung der erbschaftsteuerlichen Verschonuung, FR 2010, 49. 28 Eingeführt durch Art. 6 Wachstumsbeschleunigungsgesetz (Fn. 22). 29 Besonders hohe Kosten verursacht die permanente Bewertung von Unternehmen, um sicherzustellen, dass das erbschaftsteuerlich nicht begünstigte Verwaltungsvermögen nicht überwiegt (vgl. § 13b Abs. 2 ErbStG sowie J. Lang, FR 2010, 49 [55 f.]). 30 Hierüber berichtete das hessische Fernsehen mit versteckter Kamera. Der Hotelier sagte Übernachtung mit Frühstück zu einem Preis zu, den er nur für die Übernachtung berechnete. Dadurch wird nicht nur die Umsatzsteuerbelastung illegal reduziert; es entfällt auch die Kürzung um die Frühstückspauschale (4,80 Euro). 31 Schon Zitzelsberger (als Staatssekretär unter Hans Eichel für die rot-grüne Steuerreform von 2000 zuständig) konstatiert im Vorwort zu seiner Regensburger Habilitationsschrift (Grundlagen der Gewerbesteuer, Eine steuergeschichtliche, rechtsvergleichende, steuersystematische und verfassungsrechtliche Untersuchung, 1990): Die Gewerbesteuer sei „doch ohne jeden Zweifel, so wie sie im Gesetz steht, mit einer Fülle von Konstruktionsfehlern behaftet. Es findet sich kaum ein Hauch gesetzgeberischer Systemkonsequenz.“ Pars pro toto zu den Mängeln der Gewerbesteuer m. w. N. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl. 2003, S. 1131 ff.; Schemmel, Kommunale Steuerautonomie und Gewerbesteuerabbau, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, 2002, S. 99 ff.
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nicht alle steuerlich Leistungsfähigen belastet, die kommunale Infrastruktur in Anspruch nehmen. Deshalb verletzt sie den Gleichheitssatz32. Ihr Steueraufkommen ist unstetig, in hohem Maße konjunkturreagibel, wie die jüngste Wirtschaftskrise belegt. Sie beeinträchtigt die kommunale Finanzplanung und verleitet die Gemeinden zu einem prozyklischen Haushaltsgebaren, das Konjunkturschwankungen verstärkt und zur Instabilität der Wirtschaft beiträgt33. Sogar den fiskalischen Einwänden zum Trotz ist es bisher nicht gelungen, die Kommunen zu einer Reform zu bewegen. Alle Entwürfe und Vorschläge zu einer Reform der Kommunalsteuern sind bisher gescheitert34, und die gegenwärtigen Reaktionen auf die ersten Äußerungen der von der Bundesregierung im Februar 2010 eingesetzten Gemeindefinanzkommission deuten nicht gerade auf ein Gelingen des Projekts hin. An der kommunalen Steuerfront begegnen die Reformer dem härtesten Widerstand, weil Tausende von Steuergläubigern Reformgewinner und keinesfalls Reformverlierer sein wollen. Die Reformszene ist von nacktem Kämmererdenken beherrscht. Grundsätzlich bewilligen die Kommunen nur einen Ausbau der Steuertatbestände, der für die Front der Steuerzahler inakzeptabel ist. c) Nimmt man die Gesamtheit von Gruppeninteressen in das Blickfeld, so ergibt sich ein äußerst diffuses Bild der Steuergesetzgebung. Konkrete Verantwortlichkeiten für die letztendlich verkündeten legislativen Produkte lassen sich kaum ausmachen. Die vielfältigen Gruppeninteressen von Steuerzahlern und Steuergläubigern werden von den politischen Organisationen in den breiten Strom der Steuerpolitik mit ungewissem Schicksal eingespeist. Es geht jetzt darum, an den Schaltstellen der Steuerpolitik Überzeugungsarbeit zu leisten, Netzwerke und politische Beziehungen zu aktivieren. Den Willen, dem Gemeinwohl zu dienen und dieses auch durchzusetzen, sollte den politischen Entscheidungsträgern (Abgeordneten, Ministern, Staatssekretären etc.) nicht abgesprochen werden. Das Problem ist die Einbindung in parteipolitische Gruppeninteressen, von denen sich Politiker nicht freimachen
__________ 32 Überzeugend Nds. FG, EFG 1997, 1456; 1998, 1428; Jachmann in DStJG 25 (2002), S. 195, 231 ff.; Tipke, Steuerrechtsordnung (Fn. 31), S. 1139. Hingegen bejaht der Erste Senat des BVerfG in dem Beschluss v. 15.1.2008, BVerfG 120, 1 (29 ff.), die Vereinbarkeit der Gewerbesteuer mit dem Gleichheitssatz. Es stützt sich wesentlich auf „Unterschiede in der Typik“ von Gewerbebetrieben einerseits und freien Berufen, Land- und Forstwirtschaft andererseits (BVerfGE 120, 31 f.). Ein Vergleichsmaßstab (Leistungsfähigkeits- bzw. Äquivalenzprinzip) wird nicht herangezogen. Im Gegenteil: Die Abschaffung von Lohnsummen- und Gewerbekapitalsteuer mag „die äquivalenztheoretische Rechtfertigung der Gewerbesteuer weiter gemindert haben […]. Den grundlegenden Typusunterschied zwischen Gewerbetreibenden und freien Berufen hat dies jedoch nicht berührt“ (BVerfGE 120, 40). 33 Dazu Schemmel (Fn. 31), S. 131 f. 34 Siehe J. Lang (Fn. 6), § 8 Rz. 97, sowie Tipke (Fn. 31), S. 1158 ff. mit Resümee auf S. 1161: „Keine andere Steuer ist in den letzten Jahrzehnten so massiv kritisiert worden wie die Gewerbesteuer. Dass sie noch existiert, verdankt sie vor allem ihrer vehementen Verteidigung durch Kommunen, Kommunalverbände und Kommunalpolitiker sowie durch den I. Senat des Bundesverfassungsgerichts.“
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können, weil sie in der Partei mit ihren persönlichen Überzeugungen ihre Heimat gefunden haben. Für die Steueränderungsgesetzgebung ist es geradezu typisch, dass die legislative Grundentscheidung bereits gefällt ist, bevor der parlamentarische Entscheidungsprozess begonnen hat. Wichtige Vorentscheidungen werden zumeist schon bei der Entwicklung ministerialer Entwürfe (sog. Referentenentwürfe) getroffen, wo die Pluralität der Gruppeninteressen (Verbands-, Partei- und fiskalische Interessen) mit aller verfügbarer Macht agiert. In einem nur für Insider erschließbaren Netzwerk föderaler politischer Strukturen werden Konsensmöglichkeiten diskutiert, Fronten geklärt und Absprachen getroffen. Kabinettsbeschlüsse, Regierungs- und Fraktionsentwürfe vollziehen häufig nur noch das, was längst schon in anderen politisch machtvollen Gremien und Partnerschaften diskutiert und gestaltet worden ist. Der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages erscheint dann in den öffentlichen Anhörungen wie das Vollzugsorgan vorparlamentarischer Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse35. Sachverständige und andere Teilnehmer der Hearings verlassen häufig enttäuscht das parlamentarische Fachforum, weil sie umsonst argumentiert haben oder nur zur Bestätigung einer parteipolitischen Position eingeladen worden sind36. 2. Maßgeblichen Einfluss auf die Steuergesetzgebung haben die Finanzministerien des Bundes und der Länder, weil sie den vorparlamentarischen Entscheidungsprozess organisieren und beherrschend mitgestalten. Sodann ist die Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums das wichtigste Beratungsorgan des Finanzausschusses37. Ihren Auftrag erblickt sie nicht in einer systematischen Verbesserung des Steuerrechts oder gar in einer Steuerrechtsreform38. Dem ministerialen Spezialistentum entspricht es, Probleme einzelner Vorschriften zu bewältigen. Dabei wird die steuergesetzliche Komplexität regelmäßig gesteigert. Die fiskalischen Auswirkungen von Gesetzesänderungen genießen die
__________ 35 Vgl. dazu Gattermann, Aufgaben und Arbeitsstil des Finanzausschusses, StuW 1988, 170 (172) (wegen der parteipolitischen Divergenz in Grundsatzfragen steige der Finanzausschuss „meist sofort in wichtige Einzelfragen der Vorlagen ein, problematisiert sie und lässt sie von der Ministerialbürokratie erläutern“) sowie (173): „Durchgängige, von allen Fraktionen akzeptierte Beurteilungsmaßstäbe kann es in einem Ausschuss, der für ein so kontroverses Gebiet wie die Finanz- und Steuerpolitik zuständig ist, bei politisch wichtigen Vorlagen von der Natur der Dinge her nur in Ausnahmefällen geben.“). Zum Finanzausschuss des Deutschen Bundestages siehe auch Tipke (Fn. 8), S. 83 f. 36 Gattermann, StuW 1988, 170 (172): Es sei nicht von der Hand zu weisen, „dass die Anhörungen auch als politisches Kampfmittel eingesetzt werden – ein Vorgang, der schon daran deutlich wird, dass die Fraktionen zu den Anhörungen gern solche Experten aus Verbänden und Wissenschaft einladen, deren die jeweilige Fraktionsmeinung unterstützende Auffassung man schon vorher zu kennen glaubt …“. 37 Gattermann, StuW 1988, 170 173: „Wichtiges Element der Ausschussberatungen ist die Mitwirkung der Bundesregierung, vor allem der Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums, an den Ausschusssitzungen. Die Ministerialbürokratie vertritt ihre Vorlagen im Ausschuss und steht diesem dazu Rede und Antwort, wie sie überhaupt dem Ausschuss für Stellungnahmen zu allen Vorlagen zur Verfügung steht.“ 38 Folglich sehr kritisch Tipke (Fn. 8), S. 78 ff.
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höchste Aufmerksamkeit. Der Fiskalismus rangiert hier klar vor Steuerrechtsdogmatik. Dies belegen zahlreiche sog. Nichtanwendungsgesetze, die das Bundesfinanzministerium gegen fiskalisch zu teure dogmatische Fortschritte der Rechtsprechung durchsetzt39. Der Vorwurf, die Beamten des BMF seien „Systemverderber“, erscheint mir allerdings zu hart40. Das BMF ist kein Organ der Legislative, sondern der Exekutive. Dementsprechend sind die Zuständigkeiten strukturiert, auf Spezialisten eines Fachgebiets verteilt. Die Gesetzgebungsberatung bildet eigentlich einen Fremdkörper in einem Exekutivorgan. Daher kann man nicht erwarten, dass die Beamten des BMF initiativ, systematisch oder gar rechtsdogmatisch agieren. Das BMF administriert vielmehr die Vielfalt legislativer Aktionen. Es ist aber durchaus auch offen für Steuerrechtsreformen, wenn solche auf die politische Tagesordnung gesetzt werden. Ein Beispiel hierfür ist die rot-grüne Reform der Unternehmensbesteuerung von 200041. Der Bundesfinanzminister erteilte der sog. Brühler Kommission42 den Auftrag, ein Konzept für eine grundlegende Reform der Unternehmensbesteuerung mit dem Ziel der Rechtsformneutralität43 auszuarbeiten. Der Auftrag zur Konzeptionierung einer „rechtsformneutralen Unternehmensteuer“ war wesentlich dem Steuerabteilungsleiter Gerhard Juchum44 zu verdanken, der Chancen für die Verwirklichung einer Steuerrechtsreform ausmachte45. Die Brühler Empfehlungen blieben hin-
__________ 39 Klassisches Beispiel ist die Einführung eines Abzugsverbots für die erstmalige Ausbildung und für ein Erststudium (§ 12 Nr. 5 EStG) durch das Gesetz zur Änderung der AO u. weiterer Gesetze (typisches Tarntitelgesetz!) v. 21.7.2004, BGBl. I 2004, 1753. Dazu m. w. N. J. Lang in Tipke/Lang (Fn. 6), § 9 Rz. 265 ff., und allgemein: § 5 Rz. 30 (Beispiele u. krit. Schrifttum). 40 Tipke (Fn. 8), S. 81: Den Spezialisten in der Steuerabteilung des BMF fehle „jedoch nur zu oft die Breite systematischen Denkens und die Anleitung zum Verständnis für die systematische Gesamtordnung des Steuerrechts als Wertordnung. Sie bedürfen der Kontrolle durch Generalisten, dürfen das Generelle aber für den Bereich ihres Spezialgebietes auf die Probe stellen. Die spezialisierten Techniker, die auf Grund der Impulse von Parteien und Verbänden tätig werden, sind immer in Gefahr, unbewusst die Systematik oder Prinzipienordnung des Gesetzes zu entwerten und zu desorganisieren. So werden sie zu Systemverderbern.“ 41 Umgesetzt durch Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung (Steuersenkungsgesetz) v. 23.10.2000, BGBl. I 2000, 1433. 42 Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung, Brühler Empfehlungen, BMF-Schriftenreihe, Bd. 66, 1999. 43 Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung (Fn. 42), S. 11: „Aufgabe der Kommission ist es, ein Konzept für eine grundlegende Reform der Unternehmensbesteuerung zu erarbeiten. Ziel ist eine rechtsformneutrale Unternehmensteuer, nach der alle Unternehmenseinkünfte mit höchstens 35 Prozent besteuert werden.“ 44 Tipke (Fn. 8), S. 82: „Fairerweise muss hier erwähnt werden, dass Ministerialdirektor Juchum seit Jahren ein offenes Ohr für die legislativen Anliegen der Steuerrechtswissenschaft hatte und sich auch in diesem Sinne engagiert hat, allerdings kaum mit Erfolg.“ 45 Gerhard Juchum vermittelte mir den spannendsten Auftrag meines Lebens, für die Beratung mittel- und osteuropäischer Staaten Mustersteuergesetze auszuarbeiten (siehe J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, BMF-Schriftenreihe, Bd. 49, 1993). Die §§ 150 ff. dieses Entwurfs regelten eine allgemeine Unternehmensteuer.
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ter ihrem Auftrag zurück46 und schlugen u. a. das Halbeinkünfteverfahren vor. Dies schmälert nicht das Verdienst des BMF, in die Richtung einer fundamentalen Vereinfachungsreform des Unternehmenssteuerrechts gewiesen zu haben. 3. Auch die Rechtsprechung wird für die Komplizierung des Steuerrechts verantwortlich gemacht47. Tatsächlich leidet die Rechtsprechung unter der Kompliziertheit der Steuergesetze und unter einer weltweit einzigartigen Flut der Steuerprozesse. Die Rechtsprechung schafft keine Gesetze; sie wendet Gesetze an und ist für die sog. Einzelfallgerechtigkeit zuständig. Das sog. Richterrecht trägt gewiss zur „Regelungsdichte“ bei. Damit ist aber nicht notwendig die Komplizierung des Steuerrechts verknüpft. Bei entsprechender dogmatischer Qualität, Prinzipientreue und Folgerichtigkeit48 vermag die Rechtsprechung zu vereinfachen, indem die Rechtslage geklärt, transparent und verständlich gemacht wird. Zum Richterrecht stellt sich die Grundfrage, worin das Ziel einer Steuervereinfachung zu bestehen hat, die Anreicherung des Steuerrechts mit Pauschalierungen und Typisierungen, oder das Anliegen einer Rechtsreform, durch Prinzipientreue, Folgerichtigkeit, Reduktion von Ausnahmen und Sondervorschriften das Steuerrecht transparenter, verständlicher, weniger komplex zu machen. Für die Rechtsreform ist das Richterrecht unentbehrlich. Das gesprochene und verfestigte Recht bildet das Gerüst für eine Ordnung des Rechts, das im Gesetz hinreichend Ausdruck gefunden hat.
IV. Entwürfe zur Steuervereinfachung durch Rechtsreform 1. Mit dem Anliegen einer Steuervereinfachung durch Rechtsreform haben zwei Entwürfe die Politik erreicht49, der Entwurf von Paul Kirchhof50 und die Entwürfe der Kommission „Steuergesetzbuch“51. Bereits 1986 erregte der Ent-
__________
46 Immerhin wurde mein Vorschlag einer allgemeinen Unternehmensteuer in Gestalt der „Inhabersteuer“ im Anhang des Kommissionsberichts publiziert (siehe J. Lang, Perspektiven der Unternehmensteuerreform, Anhang 1 der Brühler Empfehlungen [Fn. 42]). 47 So etwa Schäuble, Steuerpolitik als gesetzgeberische Aufgabe, in FS F. Klein, 1994, S. 241, 246 („Auch die Rechtsprechung trägt zur Regelungsdichte bei“), 247 („Ich schließe mich auch Herzog und Klein an, wenn sie sagen, dass sie froh sind über jede Gerichtsentscheidung, die nicht ergeht“). 48 In diese Richtung hat das Bundesverfassungsgericht seine Judikatur deutlich verschärft. Siehe insb. BVerfG v. 9.12.2008, BVerfGE 122, 210 (230 ff., 234) (zu den Anforderungen an eine folgerichtige Abgrenzung von Erwerbsaufwendungen im Einkommensteuerrecht), sowie zuletzt BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09 betr. häusliches Arbeitszimmer. Siehe Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebot, StuW 2007, 201; ders., Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, 533. 49 So Tipke (Fn. 8), S. 166 ff. 50 P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch – Ein Vorschlag der Einkommen- und Körperschaftsteuer, 2003. 51 Siehe Stiftung Marktwirtschaft (Hrsg.), Steuerpolitisches Programm, 2006; Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2008. Der abschließende Bericht über die Arbeit und Entwürfe der unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft eingerichteten Kommission „Steuergesetzbuch“ wird Ende diesen Jahres veröffentlicht werden.
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wurf von Johann Wilhelm Gaddum mit dem schlichten Streichen von Texten des Einkommensteuergesetzes politisches Aufsehen52. In diese Zeit fällt das „Münsteraner Symposion“ über „Niedergang oder Neuordnung des Einkommensteuerrechts“53, mit dem die Reihe von rechtsreformerischen Gesetzentwürfen eingeleitet wurde54. 2001 veröffentlichte eine von Paul Kirchhof geleitete Arbeitsgruppe den „Karlsruher Entwurf zur Reform des Einkommensteuergesetzes“55. Ab 2004 nahm das politische Interesse an Reformentwürfen deutlich zu. Der „Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes“56 beeinflusste schon vor seiner Veröffentlichung das Reformkonzept der CDU/CSU57 und die FDP formulierte einen auf Grundregeln des Einkommensteuerrechts reduzierten Entwurf58. Die konsumsteuertheoretischen Radikalentwürfe59 von M. Elicker, J. Mitschke und M. Rose wurden von der deutschen Steuerpolitik nicht wahrgenommen. 2. Im August 2005 wurde Paul Kirchhof in die Wahlkampfmannschaft (sog. „Kompetenzteam“) der Kanzlerkandidatin Angela Merkel berufen und erlitt die bekannt unfairen Angriffe durch Gerhard Schröder, der ihn als „Professor aus Heidelberg“ desavouierte60. Es war politisch unklug, mit dem visionären „Einkommensteuergesetzbuch“61 in die Wahlkampfarena zu treten. Der Erfolg dieser Angriffe beruhte auf der Kombination eines Einheitssatzes von 25 Prozent, der die höchsten Einkommen am stärksten entlastete, und dem Streichen von Steuervergünstigungen, mit denen eine Umverteilung von unten nach oben plausibel gemacht werden konnte. Das Erste, was die Koalition von CDU, CSU und SPD vereinbarte, war die Beibehaltung der Steuerfreiheit von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen62.
__________ 52 Gaddum, Steuerreform: einfach und gerecht! – Für ein besseres Einkommensteuerrecht, 1986. 53 Raupach/Tipke/Uelner, Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts?, Münsteraner Symposion, Bd. I, 1985. 54 J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, Münsteraner Symposion, Bd. II, 1985. In diesem Entwurf formulierte ich die wesentlich richterrechtlich entwickelten Grundregeln des Einkommensteuerrechts (z. B. zur Steuerbarkeit und Zurechnung von Einkünften), die von einer dicken „Schale des politisch gestalteten Rechts“ umschlossen sind (siehe S. 2/3). Dieser Entwurf veranlasste Gerhard Juchum, mich für die Ausarbeitung der in Fn. 45 zit. Mustergesetze zu empfehlen. 55 P. Kirchhof u. a., Karlsruher Entwurf zur Reform des Einkommensteuergesetzes, 2001. 56 J. Lang (Sprecher), Herzig/Hey/Horlemann/Pelka/Pezzer/Seer/Tipke (beratend), Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2005, ausgehend von dem in Fn. 54 zit. Reformentwurf und fortgeführt von der Kommission „Steuergesetzbuch“ (Fn. 51). 57 CDU/CSU, Ein modernes Steuerrecht für Deutschland – Konzept 21 (Fn. 23). 58 BT-Drucks. 15/2349 (Fn. 23). 59 Cash-Flow-Steuer: Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, 2004; Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, 2004; Zinsbereinigung: Rose (Hrsg.), Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, 2002. 60 Dazu K. Tipke (Fn. 8), S. 168 ff. 61 P. Kirchhof (Fn. 50). 62 Siehe Koalitionsvertrag CDU, CSU, SPD v. 11.11.2005, Zeile 3469.
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Mit der Unternehmensteuerreform 200863 wurde ab 200964 eine Abgeltungsteuer von 25 Prozent eingeführt, also unter dem Druck des Steuerwettbewerbs ein Stück des Kirchhof’schen Konzepts verwirklicht. Die Abgeltungsteuer verwirklicht auch ein Stück der vom Sachverständigenrat empfohlenen dualen Einkommensteuer65. Mit solchem Stückwerk bewies der Steuergesetzgeber erneut seine Unfähigkeit zur Steuervereinfachung. Anstelle einer konsistenten Lösung zerbrach der Gesetzgeber das synthetische Einkommensteuersystem mit den Folgen erheblicher Belastungsverzerrungen und einer weiteren extremen Verkomplizierung des Einkommensteuerrechts66. 3. Die Kommission „Steuergesetzbuch“ hinterließ wohl programmatische Spuren im Koalitionsvertrag von 200567, verlor jedoch während der Amtszeit von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück zusehends an Einfluss. Peer Steinbrück konzentrierte seine politische Kraft darauf, das deutsche Ertragsteuerrecht im Steuersubstratwettbewerb besser zu positionieren und scherte sich bei der Senkung der Ertragsteuerbelastung wenig um die Verletzung fundamentaler Besteuerungsprinzipien68 oder gar um Steuervereinfachung, wie exemplarisch die Regelung der Funktionsverlagerungen (§ 1 Abs. 3 AStG) zeigt. Nunmehr hat die von der Bundesregierung im Februar 2010 eingesetzte Gemeindefinanzkommission das von der Kommission „Steuergesetzbuch“ entwickelte Vier-Säulen-Modell69 in ihre Überlegungen einbezogen. Indessen ist der Erfolg der Gemeindefinanzkommission höchst ungewiss70. Gleichwohl ist mit der Kommission „Steuergesetzbuch“ ein nachhaltiges Ergebnis erzielt worden, nämlich die Erfahrung einer engagierten Zusammenarbeit aller Kräfte, die üblicherweise unkoordiniert in dem oben (III. 1.c) geschilderten Prozess der Steuergesetzgebung agieren. Es ist geglückt, Politiker, Wissenschaftler, Richter, Ministerialbeamte, Berater und Unternehmensjuristen in der schlagkräftigen Organisation eines sog. think tank zusammenzubringen, um praktisch umsetzbare Entwürfe zu erarbeiten. Das von der Kommission „Steuergesetzbuch“ in Angriff genommene Vorhaben einer Steuerrechtsreform ohne den Vorschlag von Steuersätzen erwies sich als parteipolitisch erstaunlich neutral, das personale Netzwerk als effizient für die legis-
__________ 63 Art. 1 Unternehmensteuerreformgesetz 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912. 64 Siehe i. E. die hochkomplexe Regelung des § 52a EStG. 65 Sachverständigenrat zu Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung/ Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht/ Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung durch die Duale Einkommensteuer, BMF-Schriftenreihe, Bd. 79, 2006. 66 Dies verdeutlicht das BMF-Schreiben v. 22.12.2009, BStBl. I 2010, 94–137 (44 Seiten!). 67 Koalitionsvertrag CDU, CSU, SPD (Fn. 62), Zeilen 3397 ff. 68 Dazu eindringlich Hey, Verletzung fundamentaler Besteuerungsprinzipien durch die Gegenfinanzierungsmaßnahmen des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BB 2007, 1303. 69 Dazu Jachmann, Eine neue Qualität der kommunalen Steuerfinanzierung: Das VierSäulen-Modell der Kommission Steuergesetzbuch, StuW 2006, 115. 70 Dazu bereits oben III. 1.b.
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lative Lösung einer Vielzahl von Detailproblemen, in denen bekanntlich der Teufel steckt.
V. Politische Bedingungen für die vereinfachende Steuerrechtsreform Im Hinblick auf den oben (III. 1.) geschilderten Interessenpluralismus erscheint mir die Zusammenarbeit in einer solchen Kommission für eine erfolgreiche Steuerrechtsreform unverzichtbar. Doch wann liegen alle politischen Bedingungen für die Vereinfachung von Steuergesetzen vor? Diese Frage erinnert mich an die einzigartige Entstehungsgeschichte unseres blauen Planeten Erde. Allein die Existenz und Größe des Mondes war notwendig für die Atmosphäre und das Klima, das irdisches Leben ermöglichte. Mit welcher Wahrscheinlichkeit ergibt sich die für die Steuerrechtsreform notwendige Konstellation der politischen Bedingungen? In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist eine vereinfachende Steuerrechtsreform noch nicht gelungen. Eine lange Reihe von Änderungsgesetzen hat die Steuergesetze geradezu unaufhaltsam verkompliziert. So ist das Einkommensteuergesetz von den ursprünglich 53 Paragraphen des EStG 1934 auf über 200 Paragraphen aufgebläht worden. Schon seit Längerem ist die Zeit für eine vereinfachende Steuerrechtsreform überreif. Die Erfahrung der Kommission „Steuergesetzbuch“ zeigte eindrucksvoll die Bereitschaft und Kompetenz zur Steuerrechtsreform von Steuerrechtlern aus allen Bereichen des Steuerwesens. Dabei stand das bewahrende Element durchaus im Vordergrund. Die Rechtsgeschichte lehrt nämlich, dass der von Kontinuität geprägte Charakter des Rechts keine Radikalreform zulässt71. Erfolgreiche Rechtsreformen wie die Ordnung des Zivilrechts im BGB wollen „ein Anknüpfen an das bestehende Recht anstelle einer Tabula-rasa-Kodifikation, zugleich aber auch die konsequente Fortentwicklung des bestehenden Rechts nach Maßgabe der gegenwärtigen Bedürfnisse“72. Bei der Neuformulierung des Einkommensteuergesetzes ging es zunächst einmal um die Verfassungsfestigkeit des Gesetzes73, sodann darum, das richterrechtliche Kernsteuerrecht insb. zur Bestimmung, Zurechnung und Ermittlung von Einkünften im Gesetzestext zu verankern, was die tagespolitisch orientierten Steueränderungsgesetze nicht geleistet haben. Beispiele für die institutionelle Fortentwicklung des Einkommensteuerrechts sind die Vorschläge von Einkünften aus Zu-
__________ 71 Dazu Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen, Theorie und Praxis der Gesetzgebungstechnik aus historisch-vergleichender Sicht, 2004, S. 18 ff., 33 ff. 72 Mertens (Fn. 71), S. 35/36. 73 Aktuelles Beispiel der Abzug von „Ausgaben für einen Arbeitsraum und seine Ausstattung, wenn der Raum ausschließlich für die Erwerbstätigkeit genutzt wird und dafür kein anderer Arbeitsplatz vorhanden ist“ (so § 14 Abs. 2 Nr. 3 des in Fn. 51 zit. EStG-Entwurfs in Übereinstimmung mit dem in Fn. 6 zit. Beschluss des BVerfG).
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kunftssicherung74 und das Familienrealsplitting zur realitätsgerechten Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen75. Als die Kommission „Steuergesetzbuch“ im Juli 2004 von der unabhängigen und überparteilichen Stiftung Marktwirtschaft einberufen wurde, war das Projekt von einem allgemeinen politischen Konsens über die Notwendigkeit einer vereinfachenden Steuerrechtsreform getragen. Es fehlte nurmehr ein letzter Mosaikstein, der für die Überwindung der Vielfalt von Gruppeninteressen unabdingbar ist: die politisch starke Persönlichkeit, die von dem Willen beseelt ist, die Steuerrechtsreform zu leisten. Diese letzte Bedingung fehlte bisher in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Alle Finanzminister waren bisher mehr oder weniger Haushaltsminister, die Rechtsreformen nur bei verfassungs- bzw. europarechtlicher Notwendigkeit leisteten. Ich bin tief davon überzeugt, dass einem Finanzminister Friedrich Merz die Steuerrechtsreform mit einem neuen, weitgehend auf Grundregeln reduzierten Einkommensteuergesetz geglückt wäre. Dabei hätte man die politisch sensiblen Steuervergünstigungen in einem besonderen Abschnitt untergebracht und zeitlich befristet. Doch verhinderte das Verhältnis zwischen Friedrich Merz und Angela Merkel, dass Friedrich Merz in das „Kompetenzteam“ berufen und Bundesfinanzminister wurde.
VI. Resümee Das Steuerrecht wird nur nachhaltig vereinfacht, wenn die längst überfällige Steuerrechtsreform geleistet wird. Die im Koalitionsvertrag vom 26.10.200976 vereinbarte Steuervereinfachung besteht aus einer Liste einzelner Maßnahmen, die das Steuerrecht nicht strukturell vereinfachen. Eine durchgreifende Vereinfachung wird nur durch ein prinzipientreu und folgerichtig gestaltetes Steuerrecht erreicht, in dem auf lenkungspolitische Ausnahmen möglichst verzichtet wird. Das Richterrecht gehört zum Kern eines prinzipientreuen Steuerrechts. Es sollte in den Gesetzestexten klar zum Ausdruck gebracht werden.
__________ 74 Die §§ 8, 23, 24 EStG-E (Fn. 51) sollen das Regelungschaos der nachgelagerten Besteuerung im geltenden EStG ersetzen. 75 So § 30 EStG-E (Fn. 51) im Anschluss an die Rspr. des BVerfG (dazu J. Lang in Tipke/ Lang [Fn. 6], § 4 Rz. 249; § 9 Rz. 74 ff., 88 ff.). 76 Koalitionsvertrag (Fn. 14).
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Verfassungsbindung und weiter Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung 1. Spannungsverhältnis 2. Legitimation der Befugnisse des Verfassungsgerichts 3. Grenzen der Normenkontrolle
III. Die Prüfung des Gleichheitsgrundsatzes im Steuerrecht 1. Maßstab für die Prüfung eines Gleichheitsverstoßes a) Allgemeine Maßstäbe des Art. 3 GG b) Konkretisierung für das Steuerrecht 2. Rechtsfolgen IV. Ausblick
I. Einleitung Wolfgang Spindler hat sich in seinen zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträgen insbesondere den verfassungsrechtlichen Maßstäben für eine gerechte Besteuerung gewidmet. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesverfassungsgericht hat er an wegweisenden Entscheidungen zur Familienbesteuerung mitgewirkt. Seine ersten Veröffentlichungen sind Verfassungsrechtsfragen im Steuerrecht gewidmet1. Seither hat er sich immer wieder zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Steuerrecht geäußert. In diesem Zusammenhang hat ihn auch die Frage des Spannungsverhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber beschäftigt2. Gerade im Steuerrecht ist das Zusammenwirken von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber umstritten. Einerseits wird dem Bundesverfassungsgericht vorgeworfen, das Gericht greife in schwerwiegender, folgenreicher und vor allem kostenträchtiger Weise in die Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers über3. Im Zusammenhang mit der Pendlerpauschale wurde geltend gemacht, durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts würden grundlegende Reformen des Steuerrechts unmöglich gemacht4. Selbst Abweichungen wegen
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1 Spindler, Offensichtlich unhaltbar – oder: Von der Kunst einer zulässigen Richtervorlage, in Umbach (Hrsg.), Das wahre Verfassungsrecht, 1984, S. 329; ders., Verfassungsrechtliche Fragen zur Besteuerung der Kapitaleinkünfte, DB 1987, 2536. 2 Spindler, Das Steuerrecht zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, in FS Solms, 2005, S. 53; ders., Steuerrecht im Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, Stbg 2006, 1. 3 H.-P. Schneider, NJW 1999, 1303. 4 Vgl. BVerfGE 122, 210 (224).
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Geringfügigkeit oder die Möglichkeit der Pauschalierung wären damit dem Gesetzgeber faktisch genommen5. Es wird kritisiert, die Entscheidung sei weder politisch sinnvoll noch verfassungsrechtlich geboten. Das Bundesverfassungsgericht habe den Konsens der Selbstkontrolle aufgegeben und begebe sich zu sehr auf die Ebene des Steuergesetzgebers6. Auch innerhalb des Gerichts ist die Rechtsprechung zum Steuerrecht nicht unumstritten. Insbesondere in jüngerer Zeit werden die unterschiedlichen Sichtweisen durch die Angabe des Stimmverhältnisses deutlich gemacht7. In seinem Sondervotum zum Vermögensteuerbeschluss hat Böckenförde dem Bundesverfassungsgericht sogar vorgeworfen, es lasse den gebotenen judicial self-restraint außer Acht, der dem Verfassungsgericht gegenüber dem Gesetzgeber obliegt. Das Verfassungsgericht sei nicht als fürsorglicher Praeceptor des Gesetzgebers, sondern als nachträglich punktuell kontrollierendes Gericht konstituiert und organisiert. Er sieht den Einstieg in eine Verfassungsdogmatik der Besteuerung, die den Gesetzgeber bis hin zu Details anleite und ihn in ein Prokrustesbett zwinge8. Auf der anderen Seite wird dem Bundesverfassungsgericht bis in die jüngste Zeit hinein vorgehalten, die Verfassungsmäßigkeit der Steuergesetze nicht hinreichend ernsthaft zu prüfen. Soweit es um die Bewältigung der meisten aktuellen steuerrechtlichen Reformfragen gehe, erweise sich die Verfassungsjudikatur als wenig hilfreich. Es fehle ein klares Bekenntnis des Bundesverfassungsgerichts zu einer gleichheitsrechtlich gebotenen Ausgestaltung des Einkommensbegriffs, die den Gesetzgeber zwinge, korrespondierend mit allen Erwerbseinnahmen auch alle Erwerbsausgaben steuerlich zu berücksichtigen. Das Gericht scheine in seiner jüngeren Judikatur zu einer wenig spürbaren Kontrolle am allgemeinen Sachlichkeitsgebot zurückzufinden9. Insbesondere bei der Unternehmensbesteuerung wird dem Gericht vorgehalten, die verfassungsrechtlichen Maßstäbe seien unterentwickelt und das Schutzniveau müsse gesteigert werden10. Das Bundesverfassungsgericht zeige eine Zurückhaltung, die der Bedeutung der Materie in keiner Weise angemessen sei11. Bei der Ökosteuerentscheidung habe das Gericht den Grundrechtsschutz problematisch verkürzt und sei über die verfassungsrechtlich erheblichen Mängel allzu harmonisierend und glättend hinweggegangen12. Diese teilweise sehr unterschiedlichen Einschätzungen des Verhältnisses von Verfassungsgericht und Gesetzgebung im Steuerrecht veranlassen die Frage, welchen verfassungsrechtlichen Bindungen der Gesetzgeber unterliegt, und ob das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber jenseits seiner Kompetenzen
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5 So Koch/Steinbrück, SZ v. 2.9.2009. 6 Lepsius, JZ 2009, 260. 7 Davon zeugen in jüngerer Zeit die Wiedergabe von Entscheidungsmehrheiten: vgl. z. B. BVerfGE 122, 210 (248); BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, FR 2010, 804 (808). 8 BVerfGE 93, 121 (149 f.). 9 Schön, DStR 2008, Beihefter zu Heft 17, 10 (13). 10 Hey in FS Herzig, 2010, S. 7 (22). 11 Schulze-Osterloh in FS Raupach, 2006, S. 531 (541). 12 Selmer in Gedächtnisschrift Trzaskalik, 2005, S. 411 (429).
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verfassungsrechtliche Bindungen auferlegt, die das Gericht als praeceptor legislatoris erscheinen lassen und ob es durch eine Verfassungsdogmatik der Besteuerung zu einer Zementierung der Steuerrechtsordnung beiträgt.
II. Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung 1. Spannungsverhältnis In einem Staat, in dem ein Verfassungsgericht die Macht hat, Gesetze für verfassungswidrig oder nichtig zu erklären und das Parlament an die Grenzen der Verfassung zu erinnern, kommt es zwangsläufig zu einem Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgeber und Gericht. Dementsprechend ist auch das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht einerseits und Bundesgesetzgeber sowie Bundesregierung andererseits selten völlig reibungslos gewesen. Häufig wird der Vorwurf erhoben, das Bundesverfassungsgericht wildere in den Gefilden der Politik. Seit jeher sind Kritiker des Gerichts davon überzeugt, der richterliche Aktivismus nehme bedrohlich zu, das Bundesverfassungsgericht überschreite seine Kompetenzen und enge den Gestaltungsspielraum der Politik zu sehr ein. Es ist die Rede vom „Karlsruher Götterrat“, dem „Übergesetzgeber“ oder den Sittenwächtern der Nation; und es wurde schon gefordert, dass die Verfassungstreue der Karlsruher Richter überprüft werden müsse13. In den fast sechzig Jahren seines Bestehens hat das Bundesverfassungsgericht mehr als 440 Gesetze des Bundes als verfassungswidrig beanstandet14. Im Hinblick auf über 180000 Verfahren erscheint eine Beanstandung von nicht einmal 2,5 % zwar nicht allzu hoch. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass es sich häufig um politisch bedeutsame Gesetzesvorhaben handelte, die vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand hatten. Die Spannungslage zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber zeigt sich aber nicht nur an ihren tatsächlichen Auswirkungen. Sie ist im Gefüge der Staatsfunktionen angelegt15. Die Gesetzgebung ist nach Art. 20 Abs. 3 GG an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden. Die Verfassung bindet nach Art. 1 Abs. 3 GG den Gesetzgeber als unmittelbar geltendes Recht. Die Verfassungsauslegung durch das Bundesverfassungsgericht, die die Grenzen des politischen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers aufzeigt, schränkt damit den politischen Gestaltungswillen ein und bindet den demokratisch legitimierten Gesetzgeber an seine Auslegung. Zu Überschneidungen kommt es auch deshalb, weil die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Gesetzen funktionell durchaus etwas mit Gesetzgebung zu tun hat16. Soweit das Bundesverfassungsgericht Gesetze für nichtig oder verfassungs-
__________ 13 Vgl. Oldiges, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise, 1996, S. 1. 14 Bundesverfassungsgericht, Jahresstatistik 2009 (http://www.bundesverfassungsgericht. de/organisation/gb2009/A-VI.html). 15 Vgl. dazu schon Korinek in VVDStRL 39 (1981), S. 7 (31); Schlaich in VVDStRL 39 (1981), S. 99 (106 ff.). 16 Ausführlich Starck in FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 1 (9 ff.).
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widrig erklärt, kann man von negativer Gesetzgebung sprechen. In den Fällen, in denen das Verfassungsgericht Schutzpflichten entwickelt und den Gesetzgeber zu Regelungen verpflichtet, wirkt das Gericht positiv an der Gesetzgebung mit. Wenn das Bundesverfassungsgericht gemäß § 35 BVerfGG für eine Übergangszeit einen Zustand verfassungsgerichtlich regelt, um bei der Nichtigerklärung ein rechtliches Vakuum zu vermeiden17 oder um den Übergriff in das gesetzgeberische Konzept so gering wie möglich zu halten18, handelt es sich um positive Rechtssetzung. Schließlich kann auch eine verfassungskonforme Auslegung zu einer Normgeltung führen, die vom Gestaltungswillen des Gesetzgebers nicht umfasst war. 2. Legitimation der Befugnisse des Verfassungsgerichts Das Prüfungsrecht des Verfassungsgerichts verändert die Gewaltenbalance und schränkt die Souveränität des Parlaments, dem einzigen unmittelbar von den Bürgern gewählten Verfassungsorgan des Bundes, ein. Der Einfluss auf die politische Machtbalance zwischen den Verfassungsorganen ist weitreichend. Denn schließlich überprüfen die Richterinnen und Richter Gesetze, die mehrheitlich oder sogar einstimmig durch den Bundestag und damit von dem vom Volke gewählten Gesetzgeber verabschiedet worden sind. Das Gericht kann sich in diesen Fällen über die Mehrheitsregel hinwegsetzen und ein vom Parlament mehrheitlich beschlossenes Gesetz für nichtig erklären. Selbst wenn in parteiübergreifendem Konsens wichtige Fragen mit großer Mehrheit beschlossen werden, wird das Gesetz vom Bundesverfassungsgericht überprüft und bei einem Verstoß gegen die Verfassung für nichtig erklärt. Daher stellt sich die Frage nach der Legitimation dieser Machtbefugnis des Bundesverfassungsgerichts. Carlo Schmid hat diese Frage schon beim Herrenchiemseer Konvent angesprochen und darauf hingewiesen, dass das Problem der Verfügungsgewalt von Gerichten über die staatlichen Organe in die Tiefe der Staatsauffassung führe, nämlich die Unterscheidung von Machtstaat und Rechtsstaat. Die bitteren Erfahrungen mit dem totalitären Naziregime haben die Schöpfer des Grundgesetzes nicht nur veranlasst, die Menschen- und Freiheitsrechte als einklagbare subjektive Rechte zu formulieren. Sie haben ausdrücklich Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung unmittelbar an die Verfassung gebunden. Damit wird dem Rechtsstaat zum Durchbruch verholfen. Die eigentliche Legitimation der Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht ergibt sich damit aus dem Vorrang der Verfassung. Alle Staatsgewalt ist an das Grundgesetz gebunden. Das Parlament darf sich nicht über die Verfassung hinwegsetzen, selbst wenn es die hierfür erforderlich Mehrheit hat. Die Legitimation des Bundesverfassungsgerichts als Kontrollorgan des Gesetzgebers liegt damit in der Logik des Verfassungsstaates19. Wenn die Politik in
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17 Vgl. BVerfGE 73, 40 (101 f.). 18 Vgl. BVerfGE 88, 203 (336 f.). 19 Ossenbühl in FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht (Fn. 16), S. 33 (34).
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einem Verfassungsstaat an die Verfassung gebunden ist, dann muss eine Instanz existieren, die in einem sachgerechten Verfahren der Normauslegung und Normanwendung diese Bindung aktualisiert. Erst durch eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit, die die anderen Verfassungsorgane kontrolliert und auf die Einhaltung der Verfassung verpflichtet, kann sich der Verfassungsstaat durchsetzen. In der Einsetzung des Bundesverfassungsgerichts als Kontrollinstanz für den Gesetzgeber wird der Verfassungsstaat vollendet20. Dennoch wäre es falsch, von einem prinzipiellen Vorrang des Bundesverfassungsgerichts vor den anderen klassischen Gewalten auszugehen. In einem gewaltengeteilten Verfassungsstaat stehen alle Staatsgewalten in der Verantwortung die Verfassung zu beachten, sie bei der Wahrnehmung der eigenen Kompetenzen zu befolgen und damit notwendigerweise sie auch auszulegen und anzuwenden. Theoretisch kommt dabei keinem Verfassungsorgan von vornherein eine höhere Kompetenz oder Erkenntnisfähigkeit zu. Gelangt aber eine Verfassungsfrage vor das Bundesverfassungsgericht, steht ihm die letztverbindliche Interpretationsmacht über die Auslegung der Verfassung zu. Die Verfassung selber ist zudem im spezifischen Sinne des Wortes politisches Recht, indem es den Kampf der wichtigen staatlichen und gesellschaftlichen Akteure um das Gemeinwohl dirigiert und Grenzen setzt21. Verfassungsauslegung obliegt insbesondere auch dem Gesetzgeber. Berührt der Gesetzgeber mit seinen Regelungen die Verfassung inhaltlich, so wirkt er zugleich als Verfassungsinterpret. Das Verfassungsgericht hat dies zu achten und tut es auch. Lässt nämlich die Verfassung mehrere Auslegungs- und Konkretisierungsmöglichkeiten zu, so steht die Deutungskompetenz dem Gesetzgeber zu. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen der Erstinterpret, das Bundesverfassungsgericht der kontrollierende Zweitinterpret der Verfassung22. 3. Grenzen der Normenkontrolle Die weitreichenden Befugnisse und die Macht des Bundesverfassungsgerichts veranlasst die Frage nach den Grenzen der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle. Die strukturell unauflösbare Spannungslage zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung haben Rechtsprechung und Wissenschaft seit jeher beschäftigt. Zahlreiche Versuche sind unternommen worden, rationale Kriterien für eine verfassungsgerechte Abgrenzung zu finden23. Im Rahmen dieses Beitrags kann nur auf einige Aspekte hingewiesen werden. Mit Blick auf die Rechtsprechung des US Supreme Court wird gelegentlich der Grundsatz der richterlichen Selbstbeschränkung (judicial self-restraint) be-
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20 Voßkuhle in Würtenberger (Hrsg.), Rechtsreform in Deutschland und Korea im Vergleich, 2006, S. 215. 21 Voßkuhle in v. Mangoldt/Klein/Starck, 6. Aufl. 2010, Art. 93 GG Rz. 32. 22 Vgl. P. Kirchhof in Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung – Symposion aus Anlass des 70. Geburtstages von P. Lerche, 1998, S. 5. 23 Vgl. nur die Nachweise bei Voßkuhle in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 21), Art. 93 GG Rz. 35 ff. und bei Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 7. Aufl. 2007, Rz. 500 ff.
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nannt, um die Gefahr eines „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates“24 zu bannen. Der pauschale und konturenlose Begriff des judicial self-restraint kennzeichnet jedoch allenfalls eine Problemlage, ermöglicht aber keine Abgrenzung der Aufgaben von Gerichtsbarkeit und Gesetzgebung. Das Gebot richterlicher Selbstbeschränkung ist inhaltsleer und dient häufig nur dazu, missliebige Entscheidungen als Grenzüberschreitung zu charakterisieren25. Eine selbstauferlegte Zurückhaltung, die in der Verfassung keine Grundlage hat, entspricht auch nicht dem Auftrag eines Verfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht hat die ihm in der Verfassung übertragenen Aufgaben wahrzunehmen und kann nicht aus eigener Machtbefugnis auf eine Prüfung schwieriger Verfassungsfragen verzichten26. Gleiches gilt auch für die in der amerikanischen Rechtsprechung bekannte „political question-doctrine“, nach der der US Supreme Court auf die Entscheidung hochpolitischer Streitigkeiten verzichtet. Nach geltender Verfassungslage ist es weder zulässig noch wünschenswert, dass das Bundesverfassungsgericht einer Prüfung eines Gesetzes unter Hinweis auf die politische Natur der Streitsache aus dem Weg geht27. Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit müssen daher aus der Verfassung selber entwickelt werden. Das Bundesverfassungsgericht darf nur in dem Umfang entscheiden, in dem ihm durch die Verfassung Kompetenzen übertragen worden sind und wenn die Verfassung selber Vorgaben und Maßstäbe enthält, an denen sich das Gericht orientieren kann. „Alleine dort, wo verfassungsrechtliche Maßstäbe für politisches Verhalten normiert sind, kann das Bundesverfassungsgericht ihrer Verletzung entgegentreten“28. Jenseits der verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäbe darf das Gericht nicht entscheiden. Auch der Umfang der verfassungsgerichtlichen Überprüfung hängt von den verfassungsrechtlichen Regelungen ab. Die Kontrolldichte der verfassungsgerichtlichen Überprüfung entspricht der Regelungsdichte des verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstabs29. Im Hinblick darauf, dass das Bundesverfassungsgericht bei diesem materiellrechtlichen Ansatz über die Weite des Kontrollmaßstabes durch Auslegung der Verfassung selbst bestimmt und daher den Umfang seiner Kompetenzen in seiner Hand liegt, werden in der Wissenschaft überwiegend funktionell-rechtliche Überlegungen angestellt, um die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit dogmatisch präziser zu bestimmen30. Dazu wird auf den „Zusammenhang von materiellem Verfassungsrecht und verfassungsrechtlicher Funktionenordnung“31 abgestellt. Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird als Teil des arbeits-
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24 Vgl. Voßkuhle in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 21), Art. 93 GG Rz. 35. 25 So auch in einigen abweichenden Meinungen von Richtern des BVerfG: vgl. BVerfGE 115, 320 (381); 93, 121 (151); 48, 127 (201). 26 Vgl. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 7. Aufl. 2007, Rz. 500 m. w. N. 27 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, Rz. 24. 28 BVerfGE 62, 1 (51). 29 Korinek in VVDStRL 39 (1981), S. 7 (40 ff.). 30 Ausführlich H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103 (2111); Voßkuhle in v. Mangoldt/ Klein/Starck (Fn. 21), Art. 93 GG Rz. 40 ff. m. w. N. 31 So Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 1.
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teiligen Funktionengefüges des Grundgesetzes gesehen. Es wird von einer sachgerechten, effizienten Rollenverteilung zwischen den Staatsorganen gesprochen, wobei weniger auf das Endprodukt (Gesetz, Exekutivakt, Urteil) abgestellt wird, sondern auf den Entscheidungsprozess, also das Verfahren und seine spezifische Ausgestaltung in der Verfassung. Entscheidender Ausgangspunkt für die Bestimmung der Befugnisse des Bundesverfassungsgerichts ist nach diesem Ansatz die Stellung des Gerichts als spezifisches Fachgericht für Verfassungsfragen und die Entscheidungsfindung in einem justiziellen „neutralen“ Verfahren32. Aus der Gerichtsförmigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit ergeben sich zwar wesentliche funktionelle Begrenzungen für die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts. Das Gericht kann nur im Rahmen der abschließend im Grundgesetz aufgeführten Verfahrensarten tätig werden, ist an das Verfassungsprozessrecht gebunden, und es hat insbesondere kein Initiativrecht, sondern kann nur entscheiden, wenn es angerufen wird. Diese funktionell-rechtlichen Grenzen sind aber ebenso wie die materiell-rechtlichen Grenzen aus der Verfassung selbst abgeleitet. Der Grundsatz der Gewaltenteilung, aus dem sich ebenfalls funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit ableiten lassen, bietet nur eine abstrakte Leitlinie für die Abgrenzung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung33. Maßstab für eine sachgerechte Abgrenzung der Befugnisse von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber bleibt damit die Verfassung selber. Soweit das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht Prüfungsbefugnisse verleiht, hat das Gericht diese wahrzunehmen. Dass es über die Grenzen der eigenen Befugnisse im Rahmen der Auslegung von Verfassungsnormen selber entscheidet, ist ein Dilemma, das dem modernen Verfassungsstaat immanent ist. Insoweit bleibt es Aufgabe von Wissenschaft und Praxis, die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu beobachten und die Suche nach einer sachgerechten Grenzziehung zu unterstützen. Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber dem Gesetzgeber lassen sich weniger an dogmatischen Konstruktionen, denn an verschiedenen Problemfeldern zeigen. Dabei ist grundsätzlich von einem prinzipiell weiten Spielraum des Gesetzgebers auszugehen. Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts zu prüfen, ob der Gesetzgeber im Einzelfall die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat34. Wie weit der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im konkreten Einzelfall ist, richtet sich nach dem jeweiligen Prüfungsgegenstand, der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs und der Reichweite der vorhandenen verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäbe35. Insbesondere bei Tatsachenfeststellungen und Prognosen prüft das Bundesverfassungsgericht, ob sie auf hinreichend gesicherter Grundlage beruhen. In Ab-
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32 Ausführlich Voßkuhle in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 21), Art. 93 GG Rz. 40 ff. m. w. N. 33 Schlaich/Korioth (Fn. 26), Rz. 513. 34 St. Rspr., z. B. BVerfGE 123, 1 (21). 35 Vgl. z. B. BVerfGE 57, 139 (159); 83, 130 (141).
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hängigkeit von dem zu regelnden Sachbereich und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter können hierbei differenzierte Maßstäbe zur Anwendung kommen, die von einer Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen36. In der Regel beschränkt sich das Gericht bei Prognosen aber auf eine Evidenzkontrolle. Erweist sich die Prognose allerdings später als fehlerhaft, muss der Gesetzgeber gegebenenfalls nachbessern37.
III. Die Prüfung des Gleichheitsgrundsatzes im Steuerrecht Die aktuelle Rechtsprechung zum Steuerrecht belegt das Bemühen des Bundesverfassungsgerichts, einerseits die Grundrechte der Bürger gegenüber dem Staat zur Geltung zu bringen und andererseits, dem Gesetzgeber einen hinreichenden Gestaltungsspielraum zu belassen. Das Bundesverfassungsgericht betont die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, stellt jedoch die Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen fest, wenn die verfassungsrechtliche Prüfung zu einem entsprechenden Ergebnis führt. Insbesondere die Entscheidungen zum allgemeinen Gleichheitssatz im Steuerrecht belegen den Zusammenhang zwischen materiellem Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts einerseits und der Weite des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers andererseits. Für die Besteuerung spielt der allgemeine Gleichheitssatz eine herausragende Rolle. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat den Gleichheitssatz als die Magna Charta des Steuerrechts bezeichnet. Er gilt als Hauptprüfungsmaßstab zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von Steuergesetzen. Eine sachgerechte Verteilung der Steuerlast und die Gleichmäßigkeit der Besteuerung sind zentrales Anliegen jeder Steuerrechtsordnung. Die allgemeine Lastengleichheit ist für den Steuerpflichtigen auch wichtiger, als die Höhe der steuerlichen Belastung im Einzelfall. Schon Th. Hobbes äußerte, dass die Menschen sich weniger durch die Steuerlast als solche bedrückt fühlten, als durch ihre ungleichmäßige Verteilung. Mit der Gleichheit der Belastung steht und fällt die Akzeptanz der Besteuerung. Da sich die Steuer nicht aus individuellem Interesse des Betroffenen rechtfertigen lässt, sondern allein aus dem Interesse der Allgemeinheit, akzeptiert der Bürger sie nur, wenn die Last alle nach gleichen Bedingungen trifft. 1. Maßstab für die Prüfung eines Gleichheitsverstoßes Das Bundesverfassungsgericht hat in gefestigter Rechtsprechung Maßstäbe entwickelt, die eine differenzierte Beurteilung steuerrechtlicher Regelungen fordern. Die Rechtsprechung wahrt einerseits die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers auf dem Gebiet des Steuerrechts, setzt aber andererseits auch Grenzen im Interesse einer gerechten Besteuerung des Bürgers.
__________ 36 BVerfGE 123, 186 (241), grundlegend BVerfGE 50, 290 (332). 37 Vgl. zu gesetzgeberischen Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten: BVerfGE 88, 203 (269, 309 ff.); 110, 141 (166, 169); 111, 10 (42).
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a) Allgemeine Maßstäbe des Art. 3 GG Art. 3 Abs. 1 GG fordert zunächst ganz allgemein, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln38. Dies gilt sowohl für ungleiche Belastungen wie auch für ungleiche Begünstigungen39. In der Rechtsprechung des Gerichts ist anerkannt, dass sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen aus dem Gleichheitssatz unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber ergeben, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengeren Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen40. Für die Anforderungen an Rechtfertigungsgründe für gesetzliche Differenzierungen kommt es wesentlich darauf an, in welchem Maß sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken kann41. Dabei lassen sich die Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, nicht abstrakt und allgemein definieren. Es kommt vielmehr entscheidend auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche an42. Die Abstufung der Anforderungen folgt aus dem Wortlaut und dem Sinn des Art. 3 Abs. 1 GG sowie aus seinem Zusammenhang mit anderen Verfassungsnormen43. Die aus dem Gleichheitssatz sich ergebende sach- und regelungsbereichsspezifische Abwägung44 hat unmittelbare Auswirkungen auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Eine reine Willkürkontrolle führt in der Regel nicht zu einer Beanstandung eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht. Vertretbare Gründe für eine gesetzliche Regelung lassen sich fast immer finden. Dass ein Differenzierungskriterium völlig sachfremd ist, kommt kaum vor. b) Konkretisierung für das Steuerrecht In den vergangenen Jahren hat das Bundesverfassungsgericht die Maßstäbe und Kriterien für den Bereich des Steuerrechts konkretisiert. In den Entscheidungen finden sich weitgehend wortidentisch die Obersätze, die den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers definieren. Bei der Regelung des Steuerrechts hat der Gesetzgeber bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum45. Die grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers, diejenigen Sachverhalte zu bestimmen, an die das Gesetz dieselben Rechtsfolgen knüpft und die es so als rechtlich gleich qualifiziert, wird hier, insbesondere im Bereich des Einkommensteuerrechts, vor allem durch zwei eng
__________ 38 39 40 41 42 43 44 45
Vgl. BVerfGE 116, 164 (180), st. Rspr. Vgl. BVerfGE 110, 412 (431); 116, 164 (180). St. Rspr., vgl. BVerfGE 110, 274 (291); 112, 164 (174); 116, 164 (180). St. Rspr., vgl. BVerfGE 112, 164 (174). St. Rspr., vgl. BVerfGE 105, 73 (111); 107, 27 (45 f.); 112, 268 (279). Vgl. z. B. BVerfGE 88, 87 (96). Osterloh in Sachs, 5. Aufl. 2009, Art. 3 GG Rz. 37. Vgl. BVerfGE 93, 121 (136); 107, 27 (47); 117, 1 (30).
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miteinander verbundene Leitlinien begrenzt: durch das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit und durch das Gebot der Folgerichtigkeit46. Danach muss im Interesse verfassungsrechtlich gebotener steuerlicher Lastengleichheit47 darauf abgezielt werden, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern (horizontale Steuergerechtigkeit), während (in vertikaler Richtung) die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Steuerbelastung niedrigerer Einkommen angemessen sein muss48. Bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands muss die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden. Ausnahmen von einer solchen folgerichtigen Umsetzung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes49. aa) Leistungsfähigkeitsprinzip Im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht hat das Bundesverfassungsgericht vielfach die Berücksichtigung existenzsichernder und erwerbssichernder Aufwendungen zu prüfen. Insbesondere bei den existenzsichernden Aufwendungen hat das Gericht zahlreiche Gesetze beanstandet, weil der Gesetzgeber die Steuerfreiheit des Existenzminimums des Steuerpflichtigen und seiner Familie nicht berücksichtigt hat. Die Verfassung gebietet die steuerliche Verschonung des Existenzminimums des Steuerpflichtigen und seiner unterhaltsberechtigten Familie zu beachten50. Dem der Einkommensteuer unterworfenen Steuerpflichtigen muss nach Erfüllung seiner Einkommensteuerschuld von seinem Erworbenen so viel verbleiben, als er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts und – unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG – desjenigen seiner Familie bedarf („Existenzminimum“). Der existenznotwendige Bedarf bildet die Untergrenze für den Steuerzugriff. Insoweit werden die Freiheitsgarantie durch die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsgrundsatz (Art. 20 Abs. 1 GG) ergänzt51. Grundsätzlich steht das verfassungsrechtlich angeleitete Steuerrecht vor dem Problem, die im Grundgesetz vorgegebenen Wertungen zu quantifizieren, um diese im Alltag handhabbar zu machen. Das Bundesverfassungsgericht verzichtet darauf, dem Gesetzgeber konkrete Zahlen vorzugeben. Es greift vielmehr auf Parallelwertungen des Sozialhilferechts zurück. Das Existenzminimum des einzelnen Einkommensempfängers bemisst sich zumindest nach dem, was dem
__________ 46 47 48 49
Vgl. BVerfGE 105, 73 (125); 107, 27 (46 f.); 116, 164 (180); 117, 1 (30). Vgl. BVerfGE 84, 239 (268 ff.). Vgl. BVerfGE 82, 60 (89); 99, 246 (260), 107, 27 (46 f.); 116, 164 (180). Vgl. BVerfGE 99, 88 (95); 99, 280 (290); 105, 73 (126); 107, 27 (47); 116, 164 (180 f.); 117, 1 (31). 50 St. Rspr., vgl. BVerfGE 82, 60; 87, 153; 107, 27 (48); 112, 268 (281); BVerfGE 120, 125 (154 ff.). 51 Vgl. BVerfGE 82, 60, 85; vgl. im Übrigen auch ausführlich Tipke, Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 420 ff.
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Sozialhilfeempfänger als existenznotwendiger Bedarf aus öffentlichen Mitteln zugewendet wird52. In den Entscheidungen zur Steuerfreiheit des Existenzminimums hat der Gesetzgeber grundsätzlich einen weiten Gestaltungsspielraum, wie er das Existenzminimum sicherstellen will. So bleibt es ihm überlassen, ob und inwieweit er das Existenzminimum durch staatliche Leistungen oder durch Freibeträge gewährleistet.53 Auch in seiner Entscheidung zur Berücksichtigung von Beiträgen zur Krankenund Pflegeversicherung bei der Berechnung des einkommensteuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimums verzichtet das Gericht darauf, dem Gesetzgeber konkrete Zahlen vorzugeben. Auch hier verweist das Gericht nur darauf, dass Beiträge zu einer privaten Krankheitskostenversicherung (Vollversicherung) und einer privaten Pflegepflichtversicherung soweit berücksichtigt werden müssen, wie sie dem Umfang nach erforderlich sind, um dem Steuerpflichtigen und seiner Familie eine sozialhilfegleiche Kranken- und Pflegeversorgung zu gewährleisten54. Anders als der BFH in seiner Vorlage55, stellt das Gericht damit nicht auf den Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung ab, sondern orientiert sich am sozialhilferechtlichen Existenzminimum. Die Berücksichtigung erwerbssichernder Aufwendungen prüft das Gericht nicht in erster Linie am Maßstab der Leistungsfähigkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat bisher insbesondere offen gelassen, ob das objektive Nettoprinzip, wie es in § 2 Abs. 2 EStG zum Ausdruck kommt, Verfassungsrang hat. Auch wenn in der Literatur vertreten wird, das objektive Nettoprinzip habe Verfassungsrang56, bestand bisher für das Gericht keine Veranlassung, darüber zu entscheiden, ob gesetzliche Regelungen gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip verstoßen, weil bestimmte Aufwendungen nicht zum Abzug zugelassen worden sind. Das Gericht hat sich bisher darauf beschränkt, festzustellen, dass der Gesetzgeber dieses Prinzip beim Vorliegen gewichtiger Gründe durchbrechen und sich dabei generalisierender, typisierender und pauschalierender Regelungen bedienen kann57. Das einfachrechtliche objektive Nettoprinzip hat damit Bedeutung vor allem im Zusammenhang mit den Anforderungen an hinreichende Folgerichtigkeit bei der näheren Ausgestaltung der gesetzgeberischen Grundentscheidungen. Die Beschränkung des steuerlichen Zugriffs nach Maßgabe des objektiven Nettoprinzips als Ausgangstatbestand der Einkommensteuer gehört zu diesen Grundentscheidungen, so dass Ausnahmen von der folgerichtigen Umsetzung der mit dem objektiven Nettoprinzip getroffenen
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52 Vgl. BVerfGE 99, 273 (277); BVerfGE 99, 268 (271); BVerfGE 99, 246 (259); BVerfGE 87, 153 (170). 53 Zur Möglichkeit der Anrechnung staatlicher Zuwendungen bei der Bemessung der Freibeträge: BVerfGE 99, 246 (260); BVerfGE 87, 153 (175 ff.); BVerfGE 82, 60 (88 f.). 54 BVerfGE 120, 125. 55 BFH v. 14.12.2005 – X R 20/04, BStBl. II 2006, 312. 56 Vgl. z. B. Englisch, DStR 2009, Beihefter zu Heft 34, 92; Tipke, BB 2007, 1525 (1527); vgl. auch Lehner, DStR 2009, 185; Drüen, StuW 2008, 3 (4 f.). 57 Vgl. BVerfGE 81, 228 (237); 107, 27 (48) m. w. N.
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Rudolf Mellinghoff
Belastungsentscheidung eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes bedürfen58. Das Gericht lässt dem Gesetzgeber damit einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Frage, ob ein bestimmtes für das Leistungsfähigkeitsprinzip entscheidendes finanzielles Ereignis als Abzugstatbestand bei den Ertragsteuern berücksichtigt werden muss59. Wichtiger ist die Unterscheidung zwischen freier oder beliebiger Einkommensverwendung einerseits und zwangsläufigem, pflichtbestimmtem Aufwand andererseits. Die Berücksichtigung privat veranlassten Aufwands steht nicht ohne weiteres zur Disposition des Gesetzgebers. Dieser hat die unterschiedlichen Gründe, die den Aufwand veranlassen, auch dann im Lichte betroffener Grundrechte differenzierend zu würdigen, wenn solche Gründe ganz oder teilweise der Sphäre der allgemeinen (privaten) Lebensführung zuzuordnen sind60. bb) Grundsatz der Folgerichtigkeit Der Vergleichsmaßstab der Leistungsfähigkeit lässt dem Gesetzgeber die politische Freiheit, welche Vorgänge und welche Sachverhalte steuerlich belastet werden sollen und welche nicht. Der Gesetzgeber hat bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Spielraum und ist in der Gestaltung hinsichtlich der Erschließung von Steuerquellen weitgehend frei61. Will er eine bestimmte Steuerquelle erschließen, andere hingegen nicht, dann ist der allgemeine Gleichheitssatz solange nicht verletzt, wie die Differenzierung auf sachgerechten Erwägungen, insbesondere finanzpolitischer, volkswirtschaftlicher, sozialpolitischer oder steuertechnischer Natur, beruht62. Wenn der Gesetzgeber eine bestimmte Grundentscheidung getroffen hat, fordert der allgemeine Gleichheitssatz jedoch, dass der Gesetzgeber die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig und widerspruchsfrei umsetzt63. Ausnahmen von einer solchen folgerichtigen Umsetzung der einmal getroffenen Belastungsentscheidung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes64. Das Gebot der Folgerichtigkeit ist in den vergangenen Jahren ein immer bedeutsamerer Maßstab für die Prüfung der Belastungsgleichheit. Dies liegt einerseits daran, dass die Steuergerechtigkeit weniger in der Wirklichkeit vorgefunden wird und mehr in einer gleichheitsgerechten Ausgestaltung durch den Gesetzgeber entwickelt werden muss65. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber sich
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Vgl. BVerfGE 99, 280 (290); 107, 27 (48). Vgl. auch Osterloh in Sachs (Fn. 44), Art. 3 GG Rz. 162. Vgl. BVerfGE 107, 27 (49); 112, 268 (280). BVerfGE 81, 108 (117 f.). BVerfGE 105, 17; BVerfGE 65, 325 (354). BVerfGE 101, 151 (155); BVerfGE 101, 132 (138); BVerfGE 99, 280 (290); BVerfGE 99, 88 (95); BVerfGE 93, 121 (136); BVerfGE 84, 239 (271); vgl. auch P. Kirchhof, StuW 2000, 316 ff. 64 BVerfGE 99, 280 (290); BVerfGE 99, 88 (95). 65 P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, S. 44; ders., AöR 128 (2003), 1, 44.
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Verfassungsbindung und weiter Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers
weniger einer systematisierenden Ausgestaltung grundlegender Belastungsentscheidungen widmet, sondern in kleinlicher Flickarbeit durch ständiges Einfügen, Abändern und Wiederaufheben steuerliche Grundideen verfälscht und sich widersprechende Regelungen in das bestehende Steuerrecht aufnimmt. Nicht jeder Verstoß gegen den Grundsatz der Folgerichtigkeit steuergesetzlicher Wertungen führt jedoch zu einer Beanstandung durch das Bundesverfassungsgericht. Besondere sachliche Gründe rechtfertigen eine Ausnahme von einer folgerichtigen Umsetzung und Konkretisierung steuergesetzlicher Belastungsentscheidungen. Solche besonderen Gründe ergeben sich vor allem aus außerfiskalischen Förderungs- und Lenkungszwecken sowie aus Typisierungsund Vereinfachungserfordernissen. Der rein fiskalische Zweck staatlicher Einnahmenerhöhung genügt aber nicht. Zusammenfassend hat das Bundesverfassungsgericht dies in seiner Entscheidung zur Pendlerpauschale näher ausgeführt: „aa) Der Steuergesetzgeber ist grundsätzlich nicht gehindert, außerfiskalische Förderungs- und Lenkungsziele aus Gründen des Gemeinwohls zu verfolgen (stRspr; vgl. BVerfGE 93, 121 [147]; 99, 280 [296]; 105, 73 [112]; 110, 274 [292]; 116, 164 [182]; 117, 1 [31]). Er darf nicht nur durch Ge- und Verbote, sondern ebenso durch mittelbare Verhaltenssteuerung auf Wirtschaft und Gesellschaft gestaltend Einfluss nehmen. Der Bürger wird dann nicht rechtsverbindlich zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet, erhält aber durch Sonderbelastung eines unerwünschten Verhaltens oder durch steuerliche Verschonung eines erwünschten Verhaltens ein finanzwirtschaftliches Motiv, sich für ein bestimmtes Tun oder Unterlassen zu entscheiden (vgl. BVerfGE 98, 106 [117]; 117, 1 [31 f.]). Nur dann jedoch, wenn solche Förderungs- und Lenkungsziele von erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidungen getragen werden, sind sie auch geeignet, rechtfertigende Gründe für steuerliche Belastungen oder Entlastungen zu liefern (BVerfGE 105, 73 [112 f.]; vgl. auch BVerfGE 110, 274 [293]; 116, 164 [182]; 117, 1 [32]; vorangehend BVerfGE 93, 121 [147 f.]; 99, 280 [296]). Weiterhin muss der Förderungs- und Lenkungszweck gleichheitsgerecht ausgestaltet sein (vgl. BVerfGE 93, 121 [148]; 99, 280 [296]; 110, 274 [293]; 116, 164 [182]; 117, 1 [32]), und auch Vergünstigungstatbestände müssen jedenfalls ein Mindestmaß an zweckgerechter Ausgestaltung aufweisen (vgl. BVerfGE 105, 73 [113]; 117, 1 [33]). bb) Unabhängig davon, ob mit einer Steuernorm allein Fiskalzwecke oder auch Förderungs- und Lenkungsziele verfolgt werden, ist die Befugnis des Gesetzgebers zur Vereinfachung und Typisierung zu beachten: Jede gesetzliche Regelung muss verallgemeinern. Bei der Ordnung von Massenerscheinungen ist der Gesetzgeber berechtigt, die Vielzahl der Einzelfälle in dem Gesamtbild zu erfassen, das nach den ihm vorliegenden Erfahrungen die regelungsbedürftigen Sachverhalte zutreffend wiedergibt (vgl. BVerfGE 11, 245 [254]; 78, 214 [227]; 84, 348 [359]). Auf dieser Grundlage darf er grundsätzlich generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne allein schon wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen (vgl. BVerfGE 84, 348 [359]; 113, 167 [236]; stRspr). Typisierung bedeutet, bestimmte in wesentlichen Elementen gleich geartete Lebenssachverhalte normativ zusammenzufassen. Besonderheiten, die im Tatsächlichen durchaus bekannt sind, können generalisierend vernachlässigt werden. Der Gesetzgeber darf sich grundsätzlich am Regelfall orientieren und ist nicht gehalten, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 82, 159 [185 f.]; 96, 1 [6]). Die gesetzlichen Verallgemeinerungen müssen allerdings auf eine möglichst breite, alle betroffenen Gruppen und Regelungsgegenstände einschließende Beobachtung aufbauen (vgl. BVerfGE 84, 348
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Rudolf Mellinghoff [359]; 87, 234 [255]; 96, 1 [6]). Insbesondere darf der Gesetzgeber für eine gesetzliche Typisierung keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss realitätsgerecht den typischen Fall als Maßstab zugrunde legen (BVerfGE 116, 164 [182 f.]; stRspr). cc) Nicht als besonderer sachlicher Grund für Ausnahmen von einer folgerichtigen Umsetzung und Konkretisierung steuergesetzlicher Belastungsentscheidungen anerkannt ist demgegenüber der rein fiskalische Zweck staatlicher Einnahmenerhöhung. Der Finanzbedarf des Staates oder eine knappe Haushaltslage reichen für sich allein nicht aus, um ungleiche Belastungen durch konkretisierende Ausgestaltung der steuerrechtlichen Grundentscheidungen zu rechtfertigen. Auch wenn der Staat auf Einsparungsmaßnahmen angewiesen ist, muss er auf eine gleichheitsgerechte Verteilung der Lasten achten (vgl. BVerfGE 116, 164 [182], im Anschluss an BVerfGE 6, 55 [80]; 19, 76 [84 f.]; 82, 60 [89]; vgl. auch BVerfGE 105, 17 [45])“66.
Diese Maßstäbe erlauben dem Bundesverfassungsgericht, sowohl die Grundrechte des Steuerpflichtigen durchzusetzen, als auch den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu berücksichtigen. Die aktuelle Rechtsprechung belegt, dass einerseits dem Gleichheitssatz im Steuerrecht Geltung verschafft wird, andererseits aber der Gesetzgeber einen hinreichenden Spielraum hat, um seine steuerpolitischen Ziele durchzusetzen. In der Entscheidung zur Besteuerung von Geldgewinnspielautomaten wird zwar eine Verletzung des Gleichheitssatzes bei der Konkretisierung des Wirklichkeitsmaßstabes festgestellt, gleichzeitig aber darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber bei der Wahl des Besteuerungsmaßstabes selber weitgehend frei ist67. Abweichungen von der Maßgeblichkeit des handelsrechtlichen Vorsichtsprinzips auch für die steuerrechtliche Gewinnermittlung verletzen nur dann das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Gebot folgerichtiger Ausgestaltung steuergesetzlicher Belastungsentscheidungen, wenn sich kein sachlicher Grund für diese Abweichung finden lässt, die einfachgesetzliche „Ausnahmevorschrift“ also als willkürlich zu bewerten ist. Daher liegt jedenfalls die Berücksichtigung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten im Gestaltungsermessen des Gesetzgebers68. In seiner Entscheidung zur Pendlerpauschale untersucht das Bundesverfassungsgericht ausführlich die möglichen Rechtfertigungsgründe für die Begrenzung der Abzugsfähigkeit der Fahrtaufwendungen ab dem 20. Kilometer. Verfassungsrechtlich hinreichende sachliche Gründe für die Abweichung von einkommensteuerlichen Belastungsentscheidungen ergaben sich aber weder aus denkbaren, jedoch vom Gesetzgeber nicht erkennbar verfolgten Lenkungs- und Förderungszielen, noch im Rahmen gesetzgeberischer Typisierungsbefugnisse unter dem Aspekt gemischt veranlasster Aufwendungen69. Da es an einem Mindestmaß an folgerichtiger Ausgestaltung der Berücksichtigung von Fahrtaufwendungen bei der Einkommensteuer fehlte, verstieß die gesetzliche Regelung gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Diese Entscheidung bedeutet jedoch nicht, dass
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BVerfGE 122, 210 (231 f.). BVerfGE 123, 1 (20). BVerfGE 123, 111 (122 f.). BVerfGE 122, 210 (235 ff.).
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Verfassungsbindung und weiter Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers
der Gesetzgeber auch in Zukunft Fahrtaufwendungen in der jetzt geregelten Höhe berücksichtigen muss. Das Grundgesetz fordert nur eine hinreichend gleichheitsgerechte Ausgestaltung dieses Abzugstatbestandes. 2. Rechtsfolgen Auch bei der Anordnung der Rechtsfolgen in seinen Entscheidungen achtet das Bundesverfassungsgericht darauf, dass der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gewahrt ist. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis kommt, dass eine Norm gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt. Kommt das Bundesverfassungsgericht zu der Überzeugung, dass ein Bundesgesetz gegen das Grundgesetz verstößt, so erklärt es das Gesetz grundsätzlich für nichtig (§ 78 Satz 1, § 82 Abs. 1, § 95 Abs. 3 BVerfGG). Das Gericht kann aber auch nur die mit der Verfassungswidrigkeit gegebene Unvereinbarkeit der Norm mit dem Grundgesetz feststellen (vgl. § 31 Abs. 2, § 79 Abs. 1 BVerfGG)70. Eine Erklärung nur der Unvereinbarkeit ist insbesondere geboten, wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Das ist regelmäßig bei Verletzungen des Gleichheitssatzes der Fall71. Der Gesetzgeber, und nicht das Bundesverfassungsgericht, hat zu entscheiden, ob er die gleichheitswidrig ausgeschlossene Gruppe in die Regelung einbezieht, die Regelung insgesamt abschafft oder den Kreis der Betroffenen gänzlich neu definiert72. Zum Schutz der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit ist daher schon aus diesem Grund die bloße Unvereinbarerklärung bei Verletzungen des allgemeinen Gleichheitssatzes geboten73. Die Unvereinbarerklärung führt in der Regel dazu, dass die verfassungswidrige Norm nicht mehr angewendet werden darf. Alle Verfahren, in denen die für unvereinbar erklärte Norm entscheidungserheblich ist, sind so lange auszusetzen, bis der Gesetzgeber eine verfassungskonforme Neuregelung vorgenommen hat74. Grundsätzlich ist der Gesetzgeber verpflichtet, rückwirkend, bezogen auf den in der gerichtlichen Feststellung genannten Zeitpunkt, die Rechtslage verfassungsgemäß umzugestalten. Gerichte und Verwaltungsbehörden dürfen die Norm im Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit nicht mehr anwenden, laufende Verfahren sind auszusetzen75. Der Gesetzgeber ist insbesondere bei steuerlichen Begünstigungsnormen von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, diese Begünstigung auf andere Steuerpflichtige auszudehnen. Derjenige, der zur Gruppe der gleichheitswidrig Be-
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70 Zu den verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts vgl. M. Graßhof in Umbach/Clemens/Dollinger, 2. Aufl. 2005, § 78 BVerfGG Rz. 32 ff. 71 St. Rspr., vgl. BVerfGE 99, 280 (298); 105, 73 (133); 117, 1 (69); 122, 210 (245 f.). 72 Für steuerliche Begünstigungen vgl. BVerfGE 73, 40 (101); BVerfGE 78, 350 (363); BVerfGE 121, 108 (131). 73 BVerfGE 121, 108 (132); vgl. auch M. Graßhof (Fn. 70), § 78 BVerfGG Rz. 57. 74 Vgl. z. B. BVerfGE 37, 217 (261); BVerfGE 100, 59 (103); BVerfGE 105, 73 (133); BVerfGE 107, 27 (58); BVerfGE 121, 108 (132). 75 Vgl. BVerfGE 122, 210 (247).
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günstigten gehört, muss nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts damit rechnen, dass der Gesetzgeber die gleichheitswidrige Steuerbegünstigung aufhebt und den Begünstigten der Regelbesteuerung unterwirft76. In den Fällen, in denen der Wegfall eines verfassungswidrigen Gesetzes zu erheblichen Folgeproblemen führen kann, ordnet das Bundesverfassungsgericht die weitere Anwendbarkeit des für verfassungswidrig erkannten Gesetzes an. Dies hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere in den Fällen entschieden, in denen haushaltswirtschaftlich bedeutsame steuerrechtliche Normen betroffen waren. Im Interesse einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs hat es für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung die weitere Anwendbarkeit verfassungswidriger Normen für gerechtfertigt erklärt und den Gleichheitsverstoß für eine Übergangszeit hingenommen77. In einigen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht Regelungen für verfassungswidrig erklärt und zugleich für die Übergangszeit bis zu einer gesetzlichen Neuregelung eine eigene Regelung mit gesetzesvertretendem Charakter angeordnet. So hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Ausschluss von in ehelicher Gemeinschaft lebenden Eltern vom Abzug der Kinderbetreuungskosten wegen Erwerbstätigkeit als außergewöhnliche Belastung und von der Gewährung eines Haushaltsfreibetrags angeordnet, dass Kinderbetreuungskosten entsprechend § 33c EStG vom Einkommen abgezogen werden könnten, soweit der Gesetzgeber seiner Verpflichtung zur Neuregelung bis zum 1. Januar 2000 nicht nachkommen würde78. In derartigen Fällen besteht eine große Gefahr, dass das Bundesverfassungsgericht in den Bereich der Gesetzgebung übergreift79. Sie ist daher nur in seltenen Ausnahmefällen zulässig80. Insbesondere bei steuerlichen Begünstigungsnormen erwarten die Steuerpflichtigen häufig, das Bundesverfassungsgericht werde die Begünstigung auf die benachteiligte Gruppe ausdehnen. Diese Kompetenz steht dem Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht zu. Es ist allein Aufgabe des Gesetzgebers, darüber zu entscheiden, ob er eine steuerliche Begünstigung gewährt und wie diese auszugestalten ist. Aus diesem Grund enthalten z. B. die Entscheidungen zur doppelten Haushaltsführung81 oder zur Pendlerpauschale82 keine Vorgaben, in welcher Höhe die entsprechenden Aufwendungen zum Abzug zuzulassen sind. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in einem seltenen Ausnahmefall für eine Übergangszeit eine steuerliche Begünstigung auf eine benachteiligte
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BVerfGE 121, 108 (132). Vgl. BVerfGE 87, 153 (178 ff.); 93, 121 (148 f.); BVerfGE 117, 1 (69 f.). BVerfGE 99, 216 (219, 244 f.). Kritisch deshalb z. B. K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane, 1988, S. 242. 80 Vgl. zu den ausführlicher: M. Graßhof (Fn. 70), § 78 BVerfGG Rz. 72 ff. 81 BVerfGE 107, 27. 82 BVerfGE 122, 210.
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Gruppe ausgedehnt. In den Fällen, in denen die mit der Unvereinbarerklärung verbundenen Unsicherheiten für die Betroffenen gravierende Auswirkungen haben, die Ausdehnung der steuerlichen Begünstigung durch den Gesetzgeber sehr wahrscheinlich ist und die fiskalischen Auswirkungen überschaubar sind, kommt ausnahmsweise die weitere Anwendbarkeit der gleichheitswidrigen Begünstigungsnorm unter gleichzeitiger Ausdehnung der Begünstigung auf die benachteiligte Gruppe für eine Übergangszeit in Betracht. Dies war der Fall bei der Erbschaftsteuerbefreiung von Zuwendungen an politische Parteien gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 18 ErbStG. Das Bundesverfassungsgericht hat hier angeordnet, dass die Steuerbefreiung auf Zuwendungen an kommunale Wählervereinigungen bis zu einer gesetzlichen Neuregelung ausgedehnt werden musste. Dabei hat das Gericht auf die erheblichen nachteiligen Auswirkungen abgestellt, wenn die Regelung lediglich für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden wäre, und es hat berücksichtigt, dass die Ausdehnung der Steuerbefreiung nur zu geringfügigen Steuerausfällen führen würde83.
IV. Ausblick Die Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung und die Anerkennung des verfassungsgerichtlichen Prüfungsrechts haben zu einem „labilen Gleichgewicht“ von Gesetzgebung und Verfassungsrechtsprechung geführt84. Das Bundesverfassungsgericht hat die Aufgabe, die Grundrechte des Steuerpflichtigen auch gegenüber dem Gesetzgeber zur Geltung zu bringen. Auf der anderen Seite kann der demokratisch legitimierte Gesetzgeber seiner Verantwortung zu einer zukunftsgerichteten Steuer-, Finanz- und Haushaltspolitik nur nachkommen, wenn er auch im Steuerrecht einen hinreichenden Gestaltungsspielraum hat. Das Bundesverfassungsgericht ist weder dazu berufen, noch in der Lage, Steuerpolitik zu betreiben. Das Gericht wird aber auch in Zukunft bei steuerrechtlichen Verfahren darauf achten, dass der Gesetzgeber den Gleichheitssatz achtet, das Existenzminimum des Bürgers verschont, die Freiheitsrechte des handelnden und wirtschaftenden Steuerpflichtigen ausreichend berücksichtigt, das Vertrauen in wirtschaftliche Dispositionen gewährleistet und das in der Verfassung geregelte Gesetzgebungsverfahren einhält.
__________ 83 BVerfGE 121, 108 (133 f.). 84 Badura in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 2. Aufl. 2001, § 163 Rz. 35.
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Legislativer Gehorsam im Steuerrecht Inhaltsübersicht I. Einführung II. Verfassungsrechtliche Vorgaben 1. Grundrechte a) Gleichheitssatz b) Berufsfreiheit c) Eigentumsgarantie
d) Konkretisierungen 2. Rechtsstaatsprinzip a) Bestimmtheitsgebot b) Rückwirkungsverbot III. Ausblick
I. Einführung Wolfgang Spindler hat in der Vergangenheit wiederholt nachdrücklich darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber an unverrückbare Prinzipien im Steuerrecht gebunden sei, gegenüber einem rechtsethischen Wertekanon Respekt zu bezeugen habe und somit konkret in der Pflicht stehe, bindende verfassungsrechtliche aber auch europarechtliche Vorgaben zu berücksichtigen1. Dass dem Steuergesetzgeber in zunehmendem Maße die Orientierung an diesen unverrückbaren Prinzipien verloren geht, zeigen Entscheidungen des BVerfG2, des BFH3 und des EuGH4. Darüber hinaus sieht sich auch das wissenschaftliche Schrifttum vermehrt der Aufgabe ausgesetzt, den Steuergesetzgeber an seine gegenüber dem Verfassungsrecht und Europarecht bestehende Gehorsamspflicht zu erinnern5.
__________ 1 Spindler, Stbg 2010, 49 ff.; ders. in DIHK, Nachhaltige Steuerpolitik, 2008, 49 ff.; ders. in JbFSt (2009/2010), S. 21 ff.; ders. in FS Spiegelberger, 2009, S. 471 ff. 2 Zuletzt BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1,2/07, 1,2/08, BVerfGE 122, 210 (Pendlerpauschale); BVerfG v. 8.12.2009 – 2 BvR 758/07, – 2 BvR 758/07, DStR 2010, 1057 (Koch/Steinbrück-Papier); BVerfG v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, DStR 2010, 434 (KSt-Umgliederungsverluste). 3 Z. B. BFH v. 27.8.2008 – I R 33/05, BStBl. II 2010, 63 (Vermittlungsausschuss); BVerfG v. 13.6.2007 – 1 BvR 1550/03, 1 BvR 2357/04, 1 BvR 603/05, BStBl. II 2007, 896; BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 167 und BFH v. 2.8.2007 – IX B 92/07, BFH/NV 2007, 2270 (Normenklarheit). 4 Z. B. EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-386/04, EuGHE 2006, I-8203 (Stauffer) (keine Steuerbefreiung für ausländische gemeinnützige Rechtsträger); EuGH v. 27.1.2009 – Rs. C-318/07, BStBl. II 2010, 440 (Hein Persche) (kein Spendenabzug bei Spenden an ausländische gemeinnützige Rechtsträger); EuGH v. 29.3.2007 – Rs. C-437/04, EuGHE 2007, I-2647 (Rewe Zentralfinanz) zu § 2a Abs. 1, 2 EStG (Verlustausgleichsbeschränkung). 5 Vgl. nur die Beiträge von Schneider, Englisch, Wernsmann, Görke, Hey, Heger, Reimer und Jachmann im Rahmen des Steuerrechtswissenschaftlichen Symposiums im Bundesfinanzhof am 24.3.2009, DStR 2009, Beihefter zu Heft 34, 87 ff.
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Der legislative Gehorsam ergibt sich unmittelbar aus Art. 20 Abs. 3 Halbs. 1 GG, wonach die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden ist. Das bedeutet primär die Verpflichtung der jeweils zuständigen Gesetzgebungsorgane, die Vorgaben der verfassungsmäßigen Ordnung zu beachten6. Diese Bindungswirkung verlangt gleichermaßen eine förmliche und materielle Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, verbietet also überhaupt verfassungswidrige Gesetze7. Darüber hinaus besteht aber auch eine legislative Bindung an das mit Vorrang ausgestattete Unionsrecht8. Damit wird im Ergebnis sowohl gegenüber dem Verfassungsrecht als auch dem Unionsrecht legislativer Gehorsam geschuldet. Die Reichweite dieser Gehorsamspflicht erfährt eine Konkretisierung insbesondere durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grundrechten sowie des Europäischen Gerichtshofs zu den europarechtlich verbürgten Grundfreiheiten und für das Steuerrecht vor allem durch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs. Hieraus folgt eine weit reichende Loyalitätspflicht der Legislative gegenüber der Judikative, die in besonderer Weise für das Steuerrecht Bedeutung erlangt9. Diese Loyalitätspflicht gegenüber dem BVerfG ist unmittelbar durch § 31 Abs. 2 BVerfG insoweit normativ abgesichert, als seinen Entscheidungen Gesetzeskraft zukommt. Entsprechende primär- oder sekundärrechtliche Regelungen, die eine Bindung an Entscheidungen des EuGH vorschreiben, gibt es zwar nicht, es entspricht aber dem durchweg10 akzeptierten eigenen Verständnis des EuGH, dass seine Entscheidungen Bindungswirkung für die betreffenden nationalen Gesetzgeber auslösen11. Die legislative Loyalitätspflicht beinhaltet zugleich ein Mäßigungsgebot dahingehend, dass auch in den Fällen, in denen eine Bindungswirkung nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist, nur in Ausnahmefällen von Gerichtsentscheidungen etwa des BFH abgewichen werden darf12. Eine derart rechtsprechungsbrechende Gesetzgebung wird etwa dann legitimiert sein, wenn es darum geht, erhebliche Steuerausfälle zu verhindern13 oder aber bei einer zu Lasten des Steuerpflichtigen veränderten Rechtsprechung Rechtssicherheit zu gewähren.
__________ 6 Sachs, 5. Aufl. 2009, Art. 20 GG Rz. 94; H. H. Klein in FS Franz Klein, 1994, S. 511 ff. 7 Grzeszick in Maunz/Dürig, Art. 20 VI GG Rz. 40, 41; dort auch zum Verbot verfassungswidriger Unterlassungen. 8 Grundlegend EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64, EuGHE 1964, 1251 (1253) (Costa/ENEL); EuGH v. 17.12.1970 – Rs. 11/70, EuGHE 1970, 1125 (Internationale Handelsgesellschaft); EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77, EuGHE 1978, 6219 (Simmenthal); vgl. auch BFH v. 29.1.2008 – I R 85/06, BStBl. II 2008, 671; BFH v. 18.11.2008 – VIII R 2/06, BFH/NV 2009, 731; ferner Nettesheim in Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. 2009, § 11 Rz. 1 ff. 9 Offerhaus in StbJb. (1995/96), S. 7 ff., 15; Crezelius in FG Felix, 1989, S. 37 ff. (46 f.); Felix, StuW 1979, 65 ff. (65); Schaumburg in DFGT 1 (2004), S. 73 ff. (94 f.). 10 Kritisch z. B. Forsthoff, IStR 2006, 698 ff. 11 EuGH v. 27.3.1980 – Rs 66, 127 u. 128/79, EuGHE 1980, 1237 Rz. 9 (Stato/Salumi); EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, EuGHE 1982, 3415 Rz. 21 (C.I.L.V.I.T.). 12 Zu Einzelheiten Schaumburg in DFGT 1 (2004), S. 73 ff. (92 ff.). 13 So z. B. Offerhaus in StbJb. (1995/96), S. 7 ff. (15); Huber in FS Offerhaus, 1999, S. 241 ff. (247).
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Das vom Grundgesetz unterstellte ausbalancierte Gewaltenteilungssystem ist in der Verfassungswirklichkeit in zunehmendem Maße Verwerfungen ausgesetzt, worauf Wolfgang Spindler ebenfalls hingewiesen hat14. Diese Verwerfungen artikulieren sich insbesondere in Nichtanwendungsgesetzen, die nicht selten ein Ergebnis einer antijustiziellen Kooperation von Verwaltung und Gesetzgebung15 sind. Durch die faktische Abhängigkeit der Legislative von der Exekutive ist die auf gegenseitige Beschränkung und Kontrolle gerichtete Gewaltenteilungsidee in der Verfassungswirklichkeit auf dem Gebiet des Steuerrechts nicht mehr prägend. Das Ergebnis sind mitunter Gesetze, die mit verfassungsrechtlichen Vorgaben unvereinbar sind. Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben sind abzuleiten aus der in Art. 20 Abs. 3 Halbs. 1 GG verankerten Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung. Sie betreffen sämtliche im Grundgesetz enthaltenen Bestimmungen16, wobei auf Grund der Besonderheiten des Steuerrechts die Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzip im Vordergrund stehen.
II. Verfassungsrechtliche Vorgaben 1. Grundrechte Die Bindung der Gesetzgebung an die Grundrechte gewährleistet eine Beschränkung der Besteuerung mit unterschiedlicher Reichweite. So lässt sich aus der durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde das Postulat ableiten, das Existenzminimum steuerfrei zu halten17, das für direkte und indirekte Steuern gleichermaßen Geltung beansprucht18. Art. 2 Abs. 1 GG garantiert unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung, der im Steuerverfahrensrecht, etwa bei Außenprüfungen und Steuerfahndungen Bedeutung erlangt19. Hierzu gehört auch der Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch das in § 30 AO verankerte Steuergeheimnis, ohne dass hierdurch selbst § 30 AO Grundrechtscharakter erlangt20. Dementsprechend sind auch die Regelungen zum automatisierten Abruf von Kontoinformationen (§§ 93 Abs. 7, 8; 93b AO) unter dem vorgenannten Gesichtspunkt verfassungsrechtlich nicht beanstandet worden21. Innerhalb der Grundrechte des Grundgesetzes (Art. 1–19 GG) haben der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1
__________ 14 15 16 17 18
Spindler, DStR 2007, 1061 ff. So die Formulierung von Lang, StuW 1992, 14 ff. (15). Grzeszick in Maunz/Dürig, Art. 20 VI GG Rz. 30. BVerfG v. 21.5.1990 – 1 BvL 20, 26, 184 und 4/86, BVerfGE 82, 60 ff. (84). Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 197; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl. 2003, S. 1003 ff.; Englisch, Wettbewerbsgleichheit in grenzüberschreitendem Handel mit Schlussfolgerungen für indirekte Steuern, 2008, S. 600. 19 P. Kirchhof in FS Tipke, 1995, S. 27. 20 BVerfG v. 17.7.1984 – 2 BvE 11, 15/83, BVerfGE 67, 100 ff. (142 ff.). 21 BVerfG v. 13.6.2007– 1 BvR 1550/03, 1 BvR 2357/04, 1 BvR 603/05, BStBl. II 2007, 896.
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GG) und die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) besondere Bedeutung erlangt. a) Gleichheitssatz Der Gleichheitssatz hat in der Rechtsprechung des BVerfG unterschiedliche Interpretationen erfahren. Überwiegend wird der Gleichheitssatz als Willkürverbot verstanden. Die „Willkür“-Formel des BVerfG lautet: Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Ungleichbehandlung nicht finden lässt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muss22. In anderen Entscheidungen entnimmt das BVerfG dem Gleichheitssatz das Gebot der Gerechtigkeit und stellt darauf ab, ob für eine am Gerechtigkeitsdenken orientierte Betrachtungsweise die tatsächlichen Ungleichheiten in dem jeweils in Betracht kommenden Zusammenhang so bedeutsam sind, dass der Gesetzgeber sie bei seiner Regelung beachten muss23. Schließlich verwendet das BVerfG eine „neue“ Formel, nach der der Gleichheitssatz vor allem dann verletzt ist, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten24. Den vorstehenden Formeln entspricht eine abgestufte Dichte der verfassungsrechtlichen Prüfung, die sich letztlich an der unterschiedlichen Weite des gesetzgeberischen Spielraums orientiert. Hieraus folgt: Bei Regelungen, die Personengruppen verschieden behandeln oder die sich auf die Wahrnehmung von Grundrechten nachteilig auswirken, wendet das BVerfG die „neue Formel“ an25. Liegt keine dieser Voraussetzungen vor, kommt nur die Willkürformel in Betracht26. Unabhängig von der Verwendung der einen oder anderen Formel, gesteht das BVerfG dem Gesetzgeber stets eine weite Beurteilungs- und Gestaltungsfrei-
__________ 22 Ständige Rechtsprechung des BVerfG; hierzu die Übersicht bei Drüen in Tipke/ Kruse, § 3 AO Rz. 45; zu dieser Rechtsprechung Hesse, AöR 109 (1984), 174 ff.; der Rechtsprechung des BVerfG folgt auch der BFH z. B. BFH v. 12.12.1990 – I R 43/89, BStBl. II 1991, 427; v. 15.1.1993 – VI R 32/92, BStBl. II 1993, 356. 23 Zu dieser „Gerechtigkeits“-Formel die Entscheidungsübersicht bei Lang in Tipke/ Lang (Fn. 18), § 4 Rz. 73; zur Kritik Drüen in Tipke/Kruse, § 3 AO Rz. 42, der darauf hinweist, dass Gerechtigkeit nicht aus dem Gleichheitssatz folge, sondern umgekehrt der Gleichheitssatz einen Ausfluss der Gerechtigkeit darstelle. 24 Diese „neue“ Formel wird verwendet seit BVerfG v. 7.10.1980 – 1 BvL 50/79, 1 BvL 89/79, 1 BvR 240/79, BVerfGE 55, 72 (88); hierzu die Rechtsprechungsübersicht bei Lang in Tipke/Lang (Fn. 18), § 4 Rz. 73; zu dieser „neuen“ Formel im Einzelnen Maaß, NVwZ 1988, 14 ff.; der BFH verwendet diese neue Formel ebenfalls, z. B. BFH v. 17.10.1990 – I R 182/87, BStBl. II 1991, 136. 25 BVerfG v. 26.1.1993 – 1 BvL 38/92, 1 BvL 40/92, 1 BvL 43/92, BVerfGE 88, 87 (96 f.); weitere Rechtsprechungsnachweise bei Lang in Tipke/Lang (Fn. 18), § 4 Rz. 73. 26 Hierzu BVerfG v. 8.6.1993 – 1 BvL 20/85, BStBl. II 1994, 59.
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heit zu, die sich u. a. auch von finanzpolitischen, volkswirtschaftlichen, sozialpolitischen oder steuertechnischen Erwägungen leiten lassen dürfe27. Darüber hinaus räumt das BVerfG dem Gesetzgeber das Recht ein, sich bei der Ausgestaltung seiner Normen generalisierender, typisierender und pauschalierender Regelungen zu bedienen28. Damit hat der Gesetzgeber zwar bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weit reichenden Entscheidungsspielraum29, einmal getroffene Belastungsentscheidungen sind dann aber folgerichtig im Sinne einer Belastungsgleichheit umzusetzen30. Dieses Folgerichtigkeitsgebot bedeutet, dass vom Gesetzgeber selbst gesetzte Wertungen und Sachgesetzlichkeiten system- und wertungskonsequent vollzogen werden müssen31. Zu dieser System- und Wertungskonsequenz gehört auch die Ableitung von Folgeprinzipien aus Primärprinzipien, etwa des Nettoprinzips aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip32. Dass diese Prinzipien unverrückbar sind, hat Wolfgang Spindler immer wieder betont33. b) Berufsfreiheit Obwohl die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG weit zu verstehen ist und daher nicht nur die freie Berufswahl, sondern auch die Berufsausübung selbst in den Schutzbereich einbezogen wird, hat das Grundrecht der Berufsfreiheit im Steuerrecht bislang kaum Wirkkraft entfalten können. Dies beruht im Wesentlichen auf der restriktiven Rechtsprechung des BVerfG, wonach die Erhebung von Steuern überhaupt nur dann in den Schutzbereich der Berufsfreiheit eingreift, wenn sie in engem Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufs steht und „eine berufsregelnde Tendenz deutlich erkennen lässt“34. Ein Eingriff in die Freiheit der Berufswahl bzw. der Berufsausübung ist danach nur dann anzunehmen, wenn die Besteuerung es unmöglich machen würde, den gewählten Beruf ganz oder teilweise zur wirtschaftlichen Grundlage der Le-
__________ 27 Z. B. BVerfG v. 29.11.1989 – 1 BvR 1402/87, 1 BvR 1528/87, BStBl. II 1990, 479; ihm folgend der BFH, z. B. BFH v. 17.10.1990 – I R 182/87, BStBl. II 1991, 136. 28 BVerfG v. 31.5.1988 – 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214 (226 f.); auch hier folgt der BFH, z. B. BFH v. 17.10.1990 – I R 182/87, BStBl. II 1991, 136. 29 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (136), 165 (172); v. 4.12.1001 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 (47); v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (30 f.). 30 Zu dieser zweistufigen Prüfung des Gleichheitssatzes Hey, DStR 2009, 2561 (2562 ff.). 31 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (271); v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 (231); ferner P. Kirchhof, StuW 2006, 14 ff.; Lang, StuW 2007, 3 ff.; Tipke, StuW 2007, 201 (205 ff.). 32 Von Tipke, JZ 2009, 533 (535) als vertikale Folgerichtigkeit bezeichnet. 33 Spindler in JbFSt (2009/2010), S. 21 ff. 34 BVerfG v. 30.10.1961 – 1 BvR 833/59, BVerfGE 13, 181 (186) (Schankerlaubnis); BVerfG v. 22.5.1963 – 1 BvR 78/56, BVerfGE 16, 147 (162) (Sonderbesteuerung Werkfernverkehr); BVerfG v. 5.3.1974 – 1 BvL 27/72, BVerfGE 37, 1 (17) (Weinwirtschaftsabgabe); v. 11.10.1977 – 1 BvR 343/73 u. a., BVerfGE 47, 1 (21) (Kinderbetreuungskosten I); v. 19.6.1985 – 1 BvL 57/79, BVerfGE 70, 191 (214) (Fischereigesetz NW); zuletzt BVerfG v. 7.5.1988 – 2 BvR 1876/91 u. a., BVerfGE 98, 83 (97) (Abfallabgaben); v. 7.5.1988 – 2 BvR 1991, 2004/95, BVerfGE 98, 106 (117) (kommunale Verpackungsteuer).
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bensführung zu machen35. Diese restriktive Rechtsprechung des BVerfG ist bis heute aktuell36 und daher keine wirksame Schranke gegenüber der Steuergesetzgebung37. Dies deshalb nicht, weil im Schutzbereich der Berufsfreiheit nicht auf die materielle Betroffenheit des Grundrechtsträgers im Sinne eines Individualrechtschutzes abgestellt wird, sondern auf die „berufsregelnde Tendenz“ der betreffenden Steuernorm38. Somit vermag die in Art. 12 Abs. 1 GG verankerte Berufsfreiheit gegen das Steuerrecht gerichtete Grundrechtsschranken allenfalls im Zusammenhang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) oder der Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) zu entfalten. c) Eigentumsgarantie Zwar wird die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) als elementares Grundrecht mit einer Wertentscheidung von besonderer Bedeutung aufgefasst39, dieses Grundrecht hat aber im Steuerrecht bislang dennoch keine sonderlich bedeutsame Wirkkraft erzeugt40. Dies beruht im Wesentlichen auf dem bis heute fortwirkenden Dogma41 insbesondere des 1. Senats, wonach Art. 14 Abs. 1 GG nicht das Vermögen als Ganzes gegen die Auferlegung von Steuern schütze42. Diese apodiktisch sehr frühzeitig formulierte Begrenzung der Reichweite der Eigentumsgarantie, die vom 2. Senat des BVerfG so nicht geteilt wird43, hat dazu geführt, dass dem Gesetzgeber bis heute eine verfassungsrechtliche Orientierung für eine Belastungsobergrenze fehlt. Zwar hat das BVerfG in der Folgezeit eine Verletzung der Eigentumsgarantie im Falle einer konfiskatorischen Besteuerung angenommen44 und danach für die Vermögensteuer eine Belastungsobergrenze im Sinne des Halbteilungsgrundsatzes postuliert45, in der Zwischenzeit hat es indessen „klar gestellt“, dass es eine allgemein wirkende
__________ 35 BVerfG v. 1.4.1971 – 1 BvL 52/67, BVerfGE 31, 8 ff. (29); BVerfG v. 17.7.1974 – 1 BvR 51, 160, 285/69, 1 BvL 16/18/26/72, BVerfGE 38, 61 ff. (85 f.) (Sonderbesteuerung Straßengüterverkehr); BVerfG v. 1.3.1997 – 2 BvR 1599/89 u. a., NVWZ 1997, 573 ff. (575) (Spielautomatensteuer); BVerfG v. 3.5.2001 – 1 BvR 624/00, NVWZ 2001, 1264 (Vergnügungsteuer bei Gewaltspielautomaten). 36 BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 ff. (37). 37 Zur Kritik hieran z. B. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 431 f.; Seer in DStJG 23 (2000), S. 87 ff. (93 f.); Arndt/Schumacher, AöR 118 (1993), 513 ff. (582); Jachmann, StuW 1996, 97 ff. (101). 38 Zur Kritik Seer in DStJG 23 (2000), S. 87 ff. (94). 39 BVerfG v. 7.8.1962 – 1 BvL 16/60, BVerfGE 14, 263 ff. (277); BVerfG v. 16.2.2000 – 1 BvR 242/91, 315/99, BVerfGE 102, 1 ff. (14). 40 Zu Einzelheiten Tipke (Fn. 37), S. 437 ff. 41 Vgl. Seer in DStJG 23 (2000), S. 87 ff. (96). 42 BVerfG v. 20.7.1954 – 1 BvR 459/54, BVerfGE 4, 7 ff. (17) (Investitionshilfeabgabe); ferner zuletzt BVerfG v. 8.4.1997 – 1 BvR 48/94, BVerfGE 95, 267 (300); BVerfG v. 12.1.1997 – 1 BvR 479/92 u. 307/94, BVerfGE 96, 375 ff. (397). 43 Vgl. nur BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 ff. (112 f.), wo eine etwaige Divergenz zur Rechtsprechung des 1. Senats offen gelassen wird. 44 Z. B. BVerfG v. 14.5.1968 – 2 BvR 544/63, BVerfGE 23, 288 ff. (315) (Vermögensabgabe); BVerfG v. 31.5.1990 – 2 BvR 1436/87 u. a., BVerfGE 82, 159 ff. (190) (Absatzfondsgesetz). 45 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (Vermögensteuer).
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Belastungsobergrenze nicht gibt46. Im Hinblick darauf, dass der Halbteilungsgrundsatz aus verfassungsrechtlicher Sicht für Steuern keine Bedeutung mehr hat, ist (nur) auf die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit abzustellen. Allenfalls im Rahmen einer Gesamtabwägung zur Angemessenheit und Zumutbarkeit der Steuerbelastung können sich daher (vage) Obergrenzen für eine Steuerbelastung ergeben47. Das bedeutet nur, dass die steuerliche Belastung nicht so weit gehen darf, „dass der wirtschaftliche Erfolg grundlegend beeinträchtigt wird und damit nicht mehr angemessen zum Ausdruck kommt“48. Konkret: Auch nach Abzug von Einkommen- und Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer muss ein bedeutender Ertrag erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit verbleiben49. Im Ergebnis wird die Eigentumsgarantie daher jedenfalls dann tangiert sein, wenn eine Erdrosselungssteuer vorliegt50. Hierbei kommt es indessen nicht nur auf die von einer Steuer insgesamt ausgehende Belastungswirkung an, abzustellen ist vielmehr auch auf diejenige einzelner Normen. d) Konkretisierungen Die Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung fordert nicht nur beim Erlass neuer Steuergesetze eine Orientierung insbesondere an den Gleichheitssatz, die Berufsfreiheit und die Eigentumsgarantie, sondern enthält auch das Gebot, bereits erlassene Gesetze einer entsprechenden Überprüfung zu unterziehen. Zwar ist vor allem auch das Bundesverfassungsgericht dazu aufgerufen, über die materielle und formelle Verfassungsmäßigkeit von erlassenen Gesetzen zu entscheiden, hierdurch wird der Gesetzgeber selbst aber nicht aus der Pflicht entlassen, bestehende Gesetze zu ändern, wenn er selbst zu dem Ergebnis kommt, dass eine Verfassungsmäßigkeit nicht (mehr) gegeben ist51. Es handelt sich hierbei zwar um eine Aufgabe in Permanenz, der Gesetzgeber hat bislang aber nur wenig Anlass gesehen, dementsprechend Gesetze zu ändern. Dies beruht im Wesentlichen darauf, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum zugebilligt hat52, auf Grund dessen sich der Gesetzgeber bislang nicht in der Disziplin sieht, Steuergesetze auf Grund einer einheitlichen systematischen Konzeption möglichst frei von Wertungswidersprüchen zu schaffen. Ein legislativer Gehorsam wird nur dann aktiviert werden können, wenn der Gesetzgeber ernsthaft von einer
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46 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 21/94/99, BVerfGE 115, 97 ff. (109); BVerfG v. 18.2.2009 – I BvR 1334/07, NJW 2009, 1868. 47 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 ff. (115). 48 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 ff. (117). 49 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 ff. (117 f.). 50 BVerfG v. 31.5.1988 – 1 BvL 22/85, BVerfGE 78, 233 ff. (243); BVerfG v. 8.4.1977 – 1 BvR 48/94, BVerfGE 95, 267 ff. (300); BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 ff. (115); zum Widerspruch zur These des 1. Senats des BVerfG, wonach Art. 14 Abs. 1 GG nicht vor der Auferlegung von Steuern schütze z. B. Friauf in DStJG 12 (1989), S. 3 ff. (22) und Seer, FR 1999, 1280 ff. (1283) einerseits und Wernsmann, NJW 2006, 1169 ff. (1172 f.) andererseits. 51 Zur sog. Nachbesserungspflicht Sachs (Fn. 6), Art. 20 GG Rz. 94, 151. 52 Hierzu Lang in Tipke/Lang (Fn. 18), § 4 Rz. 47; Tipke, JZ 2009, 533 (533 f.); Friauf in DStJG 12 (1989), S. 3 (27); Schoch, DVBl. 1988, 863 (881 f.).
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effizienten judikativen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht ausgehen muss53. Es stehen nicht nur vereinzelte Normen, sondern auch ganze Normenkomplexe auf dem Prüfstand54, wobei vor allem bei Wirtschaftskrisen die vielfältigen Verlustverrechnungsbeschränkungen55 von besonderer Bedeutung sind. Hierzu nur zwei Beispiele zu § 2a EStG und § 8c KStG: Dass der Verlustausgleich auf allen drei Ebenen, also als horizontaler, vertikaler und als interperiodischer Verlustausgleich im Grundsatz gewährleistet ist, gehört zu den Grundentscheidungen insbesondere des Einkommensteuerrechts und beruht auf dem dem Ertragsteuerrecht insgesamt zu Grunde liegenden Nettoprinzip56. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar (bislang) nur dem subjektiven Nettoprinzip Verfassungsrang57 zugewiesen58, im Ergebnis erweist sich aber auch das objektive Nettoprinzip unter dem Gesichtspunkt des Folgerichtigkeitsgebots als verfassungsfest: Hat sich nämlich der Gesetzgeber konzeptionell für das objektive Nettoprinzip entschieden, so muss das gesamte Normengefüge in Orientierung an die selbst gesetzten Wertungen und Sachgesetzlichkeiten system- und wertungskonsequent umgesetzt werden59. Ausnahmen hiervon bedürfen stets eines sachlich rechtfertigenden Grundes60, zu denen bloß fiskalische Ziele, insbesondere Haushaltserwägungen nicht gehören61. Gemessen hieran vermögen sich z. B. weder die Verlustausgleichsbeschränkungen des § 2a Abs. 1 EStG noch diejenige des § 8c KStG verfassungsrechtlich zu legitimieren. Soweit es um die Verlustausgleichsbeschränkung des § 2a Abs. 1, 2 EStG geht, führt diese zu einer Durchbrechung sowohl des objektiven Nettoprinzips als auch des dem Einkommensteuergesetz ebenfalls als Konzeption zu Grunde
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53 So eindrucksvoll geschehen durch die beiden Beschlüsse des BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 165 ff. zur VSt und ErbSt und zuletzt durch den Erbschaftsteuerbeschluss v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 ff., das Urteil zur Pendlerpauschale v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 123, 211 ff. und das Urteil v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, DStR 2010, 434 zu KSt-Umgliederungsverlusten. 54 Zum Unternehmenssteuerrecht Drüen, Ubg 2009, 23 ff. 55 Hierzu Lüdicke/Kempf/Brink, Verluste im Steuerrecht, 2010; Lüdicke, DStR 2010, 434 ff. 56 Tipke in FS Raupach, 2006, S. 177 ff. (179); ders., BB 2007, 1525 ff. (1528); Drüen, StuW 2008, 3 ff. (11 f.). 57 Ableitung u. a. aus Art. 3 Abs. 1, 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG; so die Aufzählung von Lang in Tipke/Lang (Fn. 18), § 9 Rz. 73. 58 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20, 26, 184 und 4/86, BVerfGE 82/60; BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5, 8, 14/91, BVerfGE 87, 153; BVerfG v. 14.12.2002 – 2 BvR 400/98, 1735/00, BVerfGE 107, 27 ff. (49); BVerfG v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 ff. (281); BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 ff. (154). 59 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 ff. (271); BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1, 2/07, 1, 2/08, BVerfGE 122, 210 ff. (231); ferner P. Kirchhof, StuW 2006, 14 ff.; Lang, StuW 2007, 3 ff., Tipke, StuW 2007, 201 ff. (205 ff.). 60 BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 ff. (290); BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27 ff. (48); BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1, 2/07, 2/08, BVerfGE 122, 210 ff. (234). 61 Zu Einzelheiten Drüen, StuW 2008, 3 ff. (11 f.).
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liegenden Welteinkommensprinzips62. Die vom Gesetzgeber seinerzeit63 angeführten Gründe, unerwünschte Steuersparmöglichkeiten, die sich aus Verlustzuweisungsmodellen im Ausland ergeben hätten, zu verhindern, waren bereits zum Zeitpunkt der Einführung dieser Verlustausgleichsbeschränkung nicht tragfähig64. Hierauf kommt es letztlich aber auch nicht an, weil jedenfalls aufgrund zwischenzeitlicher Änderungen insbesondere des EStG65 den inkriminierten Verlustzuweisungsmodellen die steuerliche Wirkung genommen worden ist. Im Hinblick darauf ist es geboten, § 2a Abs. 1 und 2 EStG zu suspendieren, zumal die Vorschrift ohnehin wegen des seitens des EuGH beanstandeten Verstoßes gegen die Niederlassungsfreiheit66 geändert werden musste. Die vom EuGH angeführte Begründung, die seinerzeitige Regelung des § 2a Abs. 1, 2 EStG gehe über das hinaus, was zur Bekämpfung von Steuerumgehung überhaupt erforderlich sei67, gilt auch für den verbliebenen Anwendungsbereich, der Berücksichtigung von Drittlandsverlusten. § 8c KStG ist auf einen quotalen bzw. totalen Verlustuntergang bei schädlichem Beteiligungserwerb gerichtet. Dieser führt dazu, dass die bis zum schädlichen Beteiligungserwerb nicht genutzten Verluste nicht mehr abziehbar sind. Betroffen sind damit der Verlustausgleich und -vortrag68 der Körperschaft, deren Anteile übertragen werden. Während die dem § 8c KStG bis 2007 entsprechende Regelung des § 8 Abs. 4 KStG noch unter Missbrauchsgesichtspunkten gerechtfertigt wurde69, bleibt eine derartige Rechtfertigung dem § 8c KStG versagt, was insbesondere durch die neutral gefasste Vorschrift belegt wird, wonach im Grundsatz jedweder Gesellschafterwechsel schädlich sein kann70, auch wenn kein Gestaltungshintergrund erkennbar ist71. § 8c KStG ist in mehrfacher Hinsicht verfassungsrechtlichen Zweifeln ausgesetzt. So ver-
__________ 62 Schaumburg in FS Lang, 2010, S. 1099. 63 Vgl. die Hinweise bei Probst in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, Außensteuerrecht, § 2a EStG Anm. 13 ff. 64 Akzeptiert aber von BFH v. 17.10.1990 – I R 182/87, BStBl. II 1991, 136; BFH v. 12.12.1990 – I R 176/87, BFH/NV 1991, 820; BFH v. 26.3.1991 – IX R 162/85, BStBl. II 1991, 704; BFH v. 5.9.1991 – IV R 40/90, BStBl. II 1992, 192; BFH v. 13.5.1993 – IV R 69/92, BFH/NV 1994, 100; BFH v. 29.5.2001 – VIII R 43/00, BFH/NV 2002, 14; vgl. auch BVerfG v. 22.5.1963 – 1 BvR 78/56, BVerfGE 16, 147 ff. (161); BVerfG v. 27.3.1998 – 2 BvR 220/92, 2058/92, IStR 1998, 344, 376; der Rechtsprechung folgend z. B. Probst in Flick/Wassermeyer/Baumhoff (Fn. 63), § 2a EStG Anm. 42; Mössner in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 2a EStG Rz. A 55 ff.; ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dagegen annehmend Gosch in Kirchhof, 9. Aufl. 2010, § 2a EStG Rz. 2; Kaminski in Korn, § 2a EStG Rz. 16.1; Vogel in Vogel/Lehner, 5. Aufl. 2008, Art. 23 DBA Rz. 76. 65 Z. B. §§ 2 Abs. 4, 2b EStG a. F., §§ 15 Abs. 4, 15b EStG. 66 EuGH v. 29.3.2007 – Rs. C-347/04, EuGHE 2007, I-2647 (Rewe Zentralfinanz). 67 EuGH v. 29.3.2007 – Rs. C-347/04, EuGHE 2007, I-2668 Rz. 53 (Rewe Zentralfinanz). 68 Nach Auffassung der Finanzverwaltung auch der Verlustrücktrag; BMF v. 4.7.2008, BStBl. I 2008, 736, Tz. 2. 69 Mantelkaufregelung: vgl. zu Einzelheiten Roser in Gosch, 2. Aufl. 2009, § 8 KStG Rz. 1396 ff. 70 Vgl. allerdings die Lockerung durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. 71 Frotscher in Frotscher/Maaß, § 8c KStG Rz. 4; dagegen als Missbrauchsregelung qualifizierend van Lishaut, FR 2008, 789 (790).
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stößt die Regelung gegen das Gebot der Normenklarheit72, gegen das objektive Nettoprinzip73, gegen das Übermaßverbot im Sinne einer Übermaßbesteuerung (Erdrosselungssteuer)74 und schließlich gegen das Trennungsprinzip75. Von diesen verfassungsrechtlichen Zweifeln abgesehen verstößt § 8c KStG insbesondere gegen das Folgerichtigkeitsgebot76: Das objektive Nettoprinzip liegt auch dem Körperschaftsteuergesetz als Konzeption zugrunde mit der Folge, dass die dahingehende Belastungsentscheidung konsequent normativ umgesetzt werden muss. Abweichungen hiervon bedürfen einer besonderen Rechtfertigung, wozu etwa fiskalpolitische Überlegungen nicht gehören77. Dass der Gesetzgeber mit § 8c KStG weit über das Ziel hinausgeschossen ist, hat er inzwischen selbst gesehen. Indessen hat er nicht § 8c KStG suspendiert, sondern lediglich die sich zum Teil desaströs auswirkenden Rechtsfolgen im Zuge des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes entschärft78. Geboten ist indessen die Aufhebung des § 8c KStG, der im geltenden Körperschaftsteuerrecht ein Fremdkörper ohne Beispiel ist79. 2. Rechtsstaatsprinzip Das Rechtsstaatsprinzip, das seine eigentliche Wirkkraft zumeist nur im Zusammenhang mit Grundrechten entfaltet, hat im Steuerrecht unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebotes und des Rückwirkungsverbotes besondere Bedeutung erlangt. In beiden Fällen geht es um Steuerplanungssicherheit80. a) Bestimmtheitsgebot Wolfgang Spindler hat immer wieder den Gesetzgeber aufgerufen81, entsprechend dem aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgenden Be-
__________ 72 Brandis in Blümich, EStG, KStG, GewStG, § 8c KStG Rz. 22; Hans, FR 2007, 775 (780); zum Prinzip der Normenklarheit und deren verfassungsrechtlichen Verankerung; BFH v. 2.8.2007 – X B 92/07, BFH/NV 2007, 2270. 73 Dörfler/Wittkowski, GmbHR 2007, 513 ff. (514); Hans, FR 2007, 775 ff. (779); Hey, BB 2007, 1303 ff. (1306); Lenz/Rebrock, BB 2007, 587 ff. (589); Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40, 13; Wiese, DStR 2007, 741 ff. (744). 74 Vgl. Roser in Gosch (Fn. 69), § 8c KStG Rz. 26. 75 Hey in Tipke/Lang (Fn. 18), § 11 Rz. 58; von Freeden in Schaumburg/Rödder (Hrsg.), Unternehmensteuerreform 2008, 2007, S. 520 ff. (522), Drüen, Ubg 2009, 23 ff. (28); Beußer, DB 2007, 1549 f. (1549); Dörfler/Wittkowski, GmbHR 2007, 513 ff. (514); Hey, BB 2007, 1303 ff. (1306); Wiese, DStR 2007, 741 ff. (744). 76 Zum Folgerichtigkeitsgebot Tipke, StuW 2007, 201 ff.; ders., JZ 2009, 533 ff.; Drüen, Ubg 2009, 23 ff.; Hey, DStR 2009, 2561 ff. 77 Drüen, StuW 2008, 3 ff. (11 f.). 78 Zu Einzelheiten Ortmann-Babel/Zipfel, Ubg 2009, 813 ff. 79 Hey in Tipke/Lang (Fn. 18), § 11 Rz. 58. 80 Vgl. nur Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, 103 ff.; ferner die Beiträge von P. Kirchhof, Birk, Mellinghoff, Spindler, Hey, Waldhoff, Achatz, LeisnerEgensperger und Ruppe in DStJG 27 (2004). 81 Zuletzt Spindler, BB 2010, Nr. 10, III; ders. in FS Spiegelberger (Fn. 1), S. 471 ff. (473); ders. in FS Solms, 2005, S. 53 ff.
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stimmtheitsgebot Vorschriften so genau zu fassen, dass der Betroffene die Rechtslage anhand der gesetzlichen Regelung erkennen kann und hieran sein Verhalten auszurichten vermag. Dies setzt im Kern die Verständlichkeit der anzuwendenden Rechtsnorm voraus, wobei für Eingriffsnormen gilt: Je schwerwiegender die Auswirkungen eines Gesetzes sind, desto höher sind die an die Gesetzesbestimmtheit und -klarheit zu stellenden Anforderungen82. Für das Steuerrecht folgt daraus, dass die steuerbegründenden Tatbestände so bestimmt sein müssen, dass der Steuerpflichtige die auf ihn entfallende Steuerlast vorausberechnen kann83. Abzustellen ist hierbei auf den Steuerpflichtigen selbst und nicht etwa auf dessen Berater oder sonstige etwa hoch spezialisierte Fachleute84. Das Gebot der Normenklarheit und -bestimmtheit, das sowohl für den Tatbestand als auch für die Rechtsfolge Geltung hat,85 ist in der Vergangenheit in der wissenschaftlichen Diskussion zwar immer wieder hervorgehoben worden, es ist aber nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber hieraus Folgerungen gezogen hätte. Die Liste der kaum noch verständlichen und allenfalls hoch spezialisierten Steuerfachleuten zugänglichen Steuernormen wird immer länger. Hierzu gehören insbesondere jene Vorschriften, die folgende Merkmale aufweisen: Eine gehäufte Verwendung sprachlich kaum abgrenzbarer unbestimmter Rechtsbegriffe, eine umfangreiche Textlänge, ein unübersichtlicher Gesetzesaufbau, ein unklarer Satzbau, eine Häufung und Stufung von RegelAusnahme-Techniken, Mehrfachverweisungen und widersprüchliche Rechtsfolgenanordnungen86. Die Rechtsprechung war bislang sehr zurückhaltend und hat nur in wenigen Fällen eine Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes gesehen. Zu den beanstandeten Normen gehören etwa der inzwischen geänderte § 93 Abs. 8 AO, wegen des Abrufs von Kontostammdaten87, die inzwischen geänderten Regelungen zur Mindestbesteuerung88 und die Verlustausgleichsbeschränkung des am 11. November 2005 außer Kraft getretenen § 2b EStG89. Darüber hinaus sind aber auch noch andere Normen und Normenkomplexe mit dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Bestimmtheitsgrundsatz unvereinbar. Nur ein Beispiel:
__________ 82 BVerfG v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33, 53 ff.; BVerfG v. 9.4.2003 – 1 BvL 1/01, 1 BvR 1749/01, BVerfGE 108, 52 ff. (75); BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9, 10, 11, 12/98, BVerfGE 108, 1 ff. (20). 83 BVerfG v. 23.10.1986 – 2 BvL 7, 8/84, BVerfGE 73, 388 ff. (400); BVerfG v. 12.10.1978 – 2 BvR 154/74, BVerfGE 49, 343 ff. (362). 84 BVerfG v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33 ff. (52 f.); BVerfG v. 27.7.2005 – 1 BvR 668/04, BVerfGE 113, 348 ff. (375 f.); BVerfG v. 13.6.2007 – 1 BvR 1550/03, 1 BvR 2375/04, 1 BvR 603/05, BStBl. II 2007, 896. 85 Papier in DStJG 12 (1989), S. 61 ff. (63). 86 BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 167 zu § 2 Abs. 3 Satz 2 ff., 10d Abs. 1 Satz 2 ff., Abs. 2 Satz 2 ff., Abs. 3 EStG i. d. F. des StEntlG 1999/2000/2002. 87 BVerfG v. 13.6.2007 – 1 BvR 1550/03, 1 BvR 2375/04, 1 BvR 603/05, BStBl. II 2007, 896. 88 BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 167 (Vorlagebeschluss). 89 BFH v. 2.8.2007– XI B 92/07, BFH/NV 2007, 2270.
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§ 1 Abs. 3 AStG und die hierzu ergangene Funktionsverlagerungsverordnung (FVerlV) regeln eine im Übrigen weltweit so nicht bekannte Funktionsverlagerungsbesteuerung, deren Reichweite weit gehend unklar ist und demzufolge im Schrifttum auf zum Teil heftige Kritik gestoßen ist90. Auch die Änderungen durch das EU-Umsetzungsgesetz haben keine weitergehenden Klarheiten gebracht91. Im Dunkeln bleibt vor allen Dingen insbesondere im Hinblick auf die zum Teil gravierenden Rechtsfolgen, was überhaupt unter einer Funktion zu verstehen ist92. Im Gesetz selbst heißt es in dem hier interessierenden Zusammenhang lediglich: „Wird eine Funktion einschließlich der dazugehörigen Chancen und Risiken und der mit übertragenen und überlassenen Wirtschaftsgüter und sonstigen Vorteile verlagert (Funktionsverlagerung) …“. Dass diese Tautologie93 nicht weiter führt, liegt auf der Hand. Hieran ändert auch nichts der Umstand, dass auf Grund der in § 1 Abs. 3 Satz 13 AStG verankerten Ermächtigung in § 1 Abs. 1 Satz 2 FVerlV eine Konkretisierung des Begriffs der Funktion versucht wird. Davon abgesehen, dass die Ermächtigung nur zur Regelung von Einzelheiten zur Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes nicht aber zur Begriffsausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe legitimiert94, ist es ohnehin verfassungsrechtlich95 unzulässig, wesentliche Tatbestandsvoraussetzungen nicht im Gesetz selbst, sondern in einer Rechtsverordnung zu regeln96. In der Praxis ist von besonderer Bedeutung die Regelung zur Gesamtbewertung einer Funktionsverlagerung. § 1 Abs. 3 Satz 9 AStG in der Fassung vor Inkrafttreten des EU-Umsetzungsgesetzes verlangte von seinem Wortlaut her die Gesamtbewertung erst dann, wenn die Voraussetzungen des in Bezug genommenen § 1 Abs. 3 Satz 5 AStG vorliegen, wenn also keine uneingeschränkt oder eingeschränkt vergleichbaren Fremdvergleichswerte vorliegen97. Damit wurde jedenfalls nach der bislang geltenden Regelung der an sich vom Gesetzgeber gewollte Regelfall der Gesamtbewertung zur Ausnahme, weil zumeist eingeschränkt vergleichbare Fremdvergleichswerte feststellbar sein
__________ 90 Vgl. nur Wassermeyer, DB 2007, 535 ff.; ders., FR 2008, 67 ff.; Hey, BB 2007, 1303 ff.; Kaminski, RIW 2007, 594 ff.; Wulf, DB 2007, 2280 ff.; Frischmuth, IStR 2007, 485 ff.; Kroppen/Nientimp, IWB 2008, F. 3, Gr. 1, 2355 ff.; Frischmuth in FS Schaumburg, 2009, S. 647 ff. (665). 91 Vgl. Lenz/Rautenstrauch, DB 2010, 696 ff.; Baumhoff/Ditz/Greinert, DStR 2010, 1309 ff.; Frischmuth, IWB 2010, 432 ff. 92 Vgl. aus dem Schrifttum nur Greinert in Schaumburg/Rödder (Fn. 75), S. 558 ff.; Haas in FS Schaumburg (Fn. 90), S. 715 ff. (720 f.); Baumhoff/Ditz/Greinert, DStR 2007, 1649 ff.; Jahndorf, FR 2008, 101 ff.; Frotscher, FR 2008, 49 ff. (50); Pohl in JbFSt (2007/2008), S. 433 ff.; Looks/Scholz, BB 2007, 2541 ff. 93 Baumhoff/Ditz/Greinert, DStR 2007, 1649 ff. (1650); Haas, Ubg 2008, 517 ff. (518); Wassermeyer, FR 2008, 67 ff.; Jahndorf, FR 2008, 101 ff. (104). 94 Kroppen in FS Schaumburg (Fn. 90), S. 857 ff. (859); Schreiber in Kroppen (Hrsg.), Handbuch Internationale Verrechnungspreise, VFerlV, Rz. 12. 95 Hierzu Tipke (Fn. 37), S. 128 ff. 96 Kroppen in FS Schaumburg (Fn. 90), S. 857 ff. (859); Kaminski, RIW 2007, 594 ff. (597). 97 Hierzu Kroppen/Rasch/Eigelshoven, IWB 2007, F. 3, GR. 1, 2201 ff. (2209 f.); Haas, Ubg 2008, 517 ff. (518); Frotscher, FR 2008, 49 f.; Wassermeyer, DB 2007, 535 ff. (535).
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werden98. Um „möglichen Missverständnissen vorzubeugen“99 wurde § 1 Abs. 3 AStG geändert100, ergibt sich insgesamt nunmehr als neue Rechtslage im Ergebnis, dass auf Grund einer weiteren (dritten) Escape-Klausel tastsächlich die Einzelbewertung die Regel und die Gesamtbewertung der Funktionsverlagerung die Ausnahme sein wird101. Im Übrigen enthält auch die neue Regelung eine Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe, die sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenseite miteinander verknüpft werden. So ist in § 1 Abs. 3 Satz 9 AStG die Rede vom „Transferpaket als Ganzes“, vom „Transferpaket“, ohne dass klar ist, wo hier die Unterschiede bestehen sollen, von „Wirtschaftsgüter und sonstige Vorteile“, ohne dass klar ist, was unter „sonstige Vorteile“ zu verstehen ist, zumal in § 1 Abs. 3 Satz 10 AStG nur von „Vorteile“ die Rede ist102. Dass die zunehmende Chaotisierung des Steuerrechts zu unverständlichen, zu einer Geheimsprache verkommenen Gesetzesformulierungen geführt hat, ist immer wieder beklagt worden. Dennoch hat sich der Gesetzgeber bis heute nicht veranlasst gesehen, durchgreifende Änderungen herbeizuführen, um so dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit zu entsprechen. Orientierungspunkt kann hier die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gebührenrecht103 sein104, wonach der Betroffene seine Normenunterworfenheit und die Rechtslage so konkret erkennen können muss, dass er sein Verhalten daran auszurichten vermag. b) Rückwirkungsverbot Das insbesondere aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abzuleitende Gebot des Vertrauensschutzes105 betrifft im Anwendungsbereich des Steuerrechts die zeitliche Rückwirkung von Gesetzen im Sinne von Rechtsnormen106. Dass dieses Rückwirkungsverbot im Steuerrecht besondere Bedeutung hat, ist von Wolfgang Spindler wiederholt betont worden107 und ist auch weit gehend unstreitig. Umstritten ist allerdings dessen Reichweite. Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet üblicherweise zwischen echter und unechter Rück-
__________ 98 Kroppen/Rasch/Eigelshoven, IWB 2007, F. 3, GR. 1, 2201 ff. (2209 f.); Schwenke in StbJb (2007/2008), S. 137 ff. (145); Haas, Ubg 2008, 517 ff. (518); Kroppen in FS Schaumburg (Fn. 90), S. 857 ff. (861). 99 So die Gesetzesbegründung zur Neufassung des § 1 Abs. 3 Satz 9 durch das EUUmsetzungsG. 100 Zu der immer mehr um sich greifenden Experimentalgesetzgebung Kanzler in FS Raupach, 2006, S. 49 ff.; Seer in JbFSt (2007/2008), S. 9 ff. 101 Hierzu Baumhoff/Ditz/Greinert, DStR 2010, 1309 ff. (1313 f.). 102 Baumhoff/Ditz/Greinert, DStR 2010, 1309 ff. (1310). 103 BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9, 10, 11, 12/98, BVerfGE 108, 1; BVerfG v. 9.4.2003 – 1 BvL 1/01, 1 BvR 1749/01, BVerfGE 108, 52. 104 Birk in DStJG 27 (2004), S. 9 ff. (15 f.). 105 Grundlegend BVerfG v. 19.12.1961 – 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261 ff. (271); BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 ff. (257). 106 Zur Typologie Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 50 ff. 107 Spindler in FS Spiegelberger (Fn. 1), S. 471 ff. (474); ders., DNotZ 2007, 105 ff.; ders. in DStJG 27 (2004), S. 69 ff.; ders., DStR 1998, 953 ff.; ders., DStR 2001, 725 ff.
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wirkung108 bzw. zwischen Rückbewirkung von Rechtsfolgen und tatbestandlicher Rückanknüpfung109. Trotz dieser unterschiedlichen Terminologie der beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts gibt es keine sachliche Divergenz110. Das bedeutet111: Eine echte Rückwirkung, die dann gegeben ist, wenn eine Rechtsnorm nachträglich ändernd in abgewickelte, in der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift, ist grundsätzlich unzulässig, es sei denn, das Vertrauen der Bürger ist nicht als durchgreifend schutzwürdig anzusehen. Demgegenüber ist die unechte Rückwirkung, wenn also die Rechtsnormen nur auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirken, grundsätzlich zulässig, es sei denn, bei Abwägung im Einzelfall ist das Vertrauen des Einzelnen auf den Fortbestand einer bestimmten Regelung gegenüber dem Wohl der Allgemeinheit höher einzuschätzen112. Die vorgenannte Differenzierung spielt im Hinblick auf die überkommene Veranlagungszeitraumrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Steuerrecht keine besondere Rolle, weil bei jährlich neu zu veranlagenden Steuern (Jahressteuern) darauf abgestellt wird, dass der Sachverhalt erst mit der Entstehung des Steueranspruchs am Ende der jeweiligen Besteuerungsperiode113 abgeschlossen ist. Dies hat zur Folge, dass unterjährige Änderungen auf den Beginn des laufenden Jahres stets als unechte Rückwirkungen eingestuft werden114. In den vorgenannten Fällen ist zudem die traditionelle Vorhersehbarkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von Bedeutung, wonach Rückwirkungen auf den Tag des endgültigen Bundestagsbeschlusses unproblematisch sind, weil der Steuerpflichtige ab diesem Zeitpunkt mit der Änderung rechnen müsse115. Darüber hinaus wird aber nicht selten auch an einen noch früheren Zeitpunkt, wie etwa an den Kabinettsbeschluss, angeknüpft116. Die traditionelle Rückwirkungsdoktrin des Bundesverfassungsgerichts hat insbesondere in der durch die Veranlagungszeitraumrechtsprechung gefundenen Ausprägung dem Gebot des Vertrauensschutzes nicht immer ausreichend Rechnung tragen können117. Anstelle der tatbestandstechnischen Abgrenzung zwischen echter und unechter Rückwirkung bzw. zwischen Rückbewirkung von Rechtsfolgen und der tatbestandlichen Rückanknüpfung ist daher eine dispositionsbezogene Betrachtung geboten, wonach die vom Steuerpflichtigen
__________ 108 So der 1. Senat des BVerfG, z. B. BVerfG v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 ff. 109 So der 2. Senat des BVerfG, z. B. BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72/200 ff. (242). 110 Hey (Fn. 80), S. 207 f.; Spindler in DStJG 27 (2004), S. 69 ff. (75). 111 Im Sinne der Terminologie des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts. 112 Zu Einzelheiten Drüen, StuW 2006, 358 ff. (360 f.). 113 Z. B. § 36 Abs. 1 EStG, § 30 Nr. 3 KStG, § 18 GewStG. 114 Grundlegend BVerfG v. 19.12.1961 – 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261 ff. (272); BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 ff. (252 f.); zu weiteren Einzelheiten Hey, DStR 2007, 1 ff. (2). 115 BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 ff. (257). 116 Vgl. zu Fällen aus der Gesetzgebungspraxis Hey, DStR 2007, 1 ff. (6). 117 Vgl. zur Kritik die Nachweise bei Lang in Tipke/Lang (Fn. 18), § 4 Rz. 177.
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getätigten Dispositionen in den Schutzbereich einbezogen werden118. Der zu Gunsten des Steuerpflichtigen wirkende Dispositionsschutz ist danach stets dann tangiert, wenn eine Gesetzesänderung die steuerrechtlichen Rahmenbedingungen für in der Vergangenheit getätigte Handlungen verändert. So gesehen hat etwa der Entstehungszeitpunkt der Einkommen- oder Körperschaftsteuer zum Ende des Veranlagungszeitraums keinerlei Auswirkungen auf den Vertrauenstatbestand, weil es allein darauf ankommt, dass der Steuerpflichtige wirtschaftliche Dispositionen mit Rücksicht auf das geltende Steuerrecht getätigt hat119. Die Reichweite des Dispositionsschutzes ist nicht etwa auf Verschonungssubventionsnormen120 beschränkt, sondern gilt grundsätzlich für alle Steuerrechtsnormen121, soweit sie dispositionsbezogen sind122. Nach Maßgabe der vorgenannten Orientierungspunkte sind somit für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit rückwirkender Rechtsnormen nur zwei Zeitpunkte maßgeblich, nämlich der Zeitpunkt, in dem die Disposition des Steuerpflichtigen wirtschaftlich und rechtsverbindlich abgeschlossen ist, und der Zeitpunkt, in dem der Vertrauensschutz infolge legislatorischer Maßnahmen entfällt123. So weit auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem die Disposition des Steuerpflichtigen abgeschlossen ist, kommt es auf den Abschluss des obligatorischen Vertrages an, ab dem der Steuerpflichtige rechtlich in einer Weise gebunden ist, die sich wegen einer Änderung der steuerlichen Rahmendaten nicht mehr abändern lässt124. Der andere für die Wirkung des Vertrauensschutzes maßgebliche Zeitpunkt ist derjenige, zu dem legislatorische Maßnahmen getroffen werden. Unter Vertrauensschutzgründen ist das weder der Tag des endgültigen Bundestagsbeschlusses125 noch etwa der Tag des Kabinettsbeschlusses, sondern allein der Zeitpunkt der Verkündung des neuen Gesetzes im Bundesgesetzblatt126. Dies im Wesentlichen deshalb, weil bis zur Verkündung der maßgebliche Gesetzentwurf ein rechtliches Nullum ist und dieser darüber hinaus nicht selten im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens geändert oder ganz oder teilweise aufgehoben wird127. Eine Abweichung von dem vorgenannten Grundsatz bedarf stets einer besonderen Rechtfertigung, die allein in den Gründen des gemeinen Wohls zu finden ist. Hierbei hat eine Abwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu erfolgen128. Rückwirkung
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118 BVerfG v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67; BVerfG v. 5.2.2002 – 2 BvR 305, 348/93, BVerfGE 105, 17. 119 Mellinghoff in DStJG 27 (2004), S. 25 ff. (39, 43); ders., Stbg 2005, 1 ff. (8). 120 So der Fall des BVerfG v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67. 121 Vgl. BFH v. 5.3.2001 – IX B 90/00, BStBl. II 2001, 405; BFH v. 16.12.2003 – IX R 46/02, BStBl. II 2004, 284; BFH v. 2.8.2006 – XI R 34/02, BStBl. II 2006, 887; Mellinghoff in DStJG 27 (2004), S. 25 ff. (37, 48); Osterloh in DStJG 24 (2001), S. 383 ff. (404); ferner Drüen, StuW 2006, 358 (362) m. w. N. 122 Zu Einzelheiten Heide Schaumburg, DB 2000, 1884 ff. (1889 f.). 123 Lang in Tipke/Lang (Fn. 18), § 4 Rz. 170 ff.; Drüen, StuW 2006, 358 ff. (361). 124 Hey (Fn. 80), S. 271, 389 f., 444, 456 f.; Lang, WPg 1998, 163 ff. (170 f.); Heide Schaumburg, DB 2000, 1884 ff. (1888); Seer/Drüen, GmbHR 2002, 1093 ff. (1097). 125 So aber BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 72, 200 ff. (257). 126 BFH v. 2.8.2006 – XI R 34/02, BStBl. II 2006, 887. 127 Zu weiteren Gesichtspunkten Hey, DStR 2007, 1 ff. (6). 128 Vgl. BVerfG v. 5.2.2002 – 2 BvR 305, 348/93, BVerfGE 105, 17 ff. (34); so ausdrücklich auch Spindler in DStJG 27 (2004), S. 69 ff. (89).
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Heide Schaumburg / Harald Schaumburg
muss also stets ein geeignetes erforderliches und angemessenes Mittel sein, um ein legitimes Ziel zu erreichen. Hierbei geht es insbesondere um die Dringlichkeit öffentlicher Interessen an der Rückwirkung129. Dem Problem des Rückwirkungsverbotes versucht der Gesetzgeber mitunter dadurch zu begegnen, dass eine an sich belastende Änderung der Steuerrechtsnorm als „klarstellend“ deklariert wird. In den Fällen nämlich, in denen eine bisher praktizierte Rechtsüberzeugung festgeschrieben wird, handelt es sich nicht um rückwirkend geänderte belastende Gesetze130. Indessen lässt sich nicht selten feststellen, dass Gesetzesänderungen, die in der Regierungsbegründung als klarstellend dargestellt werden, tatsächlich konstitutive Wirkung erzeugen. Hierzu nur ein Beispiel: Gemäß § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG wird eine abkommensrechtlich gebotene Steuerfreistellung nicht gewährt, wenn der andere Vertragsstaat das Abkommen so anwendet, dass die in diesem Staat erzielten Einkünfte dort von der Besteuerung auszunehmen sind. Diese Vorschrift, der eine treaty overridingWirkung zukommt131, ist im Zuge des Jahressteuergesetzes 2007 geschaffen worden. Dieses Gesetz ist am 14. Dezember 2006 in Kraft getreten (Art. 20 Abs. 1 JStG 2007) allerdings mit der Maßgabe, dass § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG für alle Veranlagungszeiträume anzuwenden sein soll, soweit Steuerbescheide noch nicht bestandskräftig sind. Hierzu ist in den Gesetzesmaterialien132 nachzulesen, dass die getroffene Regelung lediglich klarstellender Natur sei, also nur verdeutliche, was ohnehin aus den einzelnen Doppelbesteuerungsabkommen abzuleiten sei. Dieser Hinweis ist mehr als überraschend, weil in der Zeit vor der Geltung des § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG Rechtsprechung und Schrifttum stets davon ausgegangen sind, dass eine abkommensrechtliche Steuerfreistellung regelmäßig auch dann eingreift, wenn die in Deutschland freigestellten Einkünfte im anderen Vertragsstaat nicht besteuert werden, weil die Doppelbesteuerungsabkommen im Grundsatz auf ein Verbot der virtuellen Doppelbesteuerung ausgerichtet sind133. Im Hinblick darauf handelt es sich daher tatsächlich um eine konstitutiv wirkende Regelung, die mit dem Rückwirkungsverbot unvereinbar ist134. In den vorgenannten Fällen, in denen in der Gesetzesbegründung vorgegeben wird, die Rechtslage werde lediglich durch die Gesetzesänderung klargestellt,
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129 Osterloh in DStJG 24 (2001), S. 383 (404). 130 BFH v. 14.4.1986 – IV R 260/84, BStBl. II 1986, 518; BFH v. 22.7.1986 – VIII R 93/85, BStBl. II 1986, 845. 131 Gosch in Kirchhof (Fn. 64), § 50d EStG Rz. 40; Suchanek/Herbst, FR 2006, 1112 ff. (1198); Rosenthal, IStR 2007, 610 ff. (612); a. A. Vogel, IStR 2007, 225 ff. (227). 132 BT-Drs. 16/2712, 61. 133 BFH v. 14.12.1988 – I R 148/87, BStBl. II 1989, 319; BFH v. 17.12.2003 – I R 14/02, BStBl. II 2004, 260; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2010, Rz. 16.250. 134 BFH v. 19.5.2010 – I B 191/09, DStR 2010, 1232; Gosch in Kirchhof (Fn. 64), § 50d EStG Rz. 40; Schönfeld in Flick/Wassermeyer/Baumhoff (Fn. 63), § 50d Abs. 9 EStG Rz. 33; Loschelder in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 50d EStG Rz. 56; Suchanek/Herbst, FR 2006, 1112 ff. (1118); Rosenthal, IStR 2007, 610 ff. (612); Gosch, IStR 2008, 413 ff. (416).
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Legislativer Gehorsam im Steuerrecht
handelt es sich nicht selten um rechtsprechungsbrechende Normen, bei denen es darum geht, die Rechtslage zumeist im Sinne der Finanzverwaltung lediglich klarzustellen. Hierbei handelt es sich häufig um sog. Nichtanwendungsgesetze, die fast ausschließlich auf die Initiative der Finanzverwaltung zurückgehen135. Die in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG auf der Grundlage des dort verankerten Gewaltenteilungsprinzips verankerte Loyalitätspflicht der Staatsgewalten zueinander verlangt demgegenüber eine strikte Zurückhaltung der Finanzverwaltung bei der Initiative derart rechtsprechungsbrechender Gesetze und der Legislative bei dem Erlass derselben. So weit ausnahmsweise rechtsprechungsbrechende Gesetze erforderlich erscheinen, gebietet es wiederum der Respekt gegenüber der rechtsprechenden Gewalt, in der Gesetzesbegründung auf nachvollziehbare Weise darzulegen, aus welchen Gründen die Rechtsprechung normativ suspendiert werden soll136. Im Hinblick darauf sind Gesetzesbegründungen, die sich darin erschöpfen, rechtsprechungsbrechende Normen stellten die Rechtslage (im Sinne der Finanzverwaltung) lediglich klar, mit dem vorgenannten Loyalitätsprinzip unvereinbar137. Das gilt insbesondere in den Fällen der für den Steuerpflichtigen steuerlich nachteiligen Rückwirkung.
III. Ausblick Es besteht Hoffnung, dass die an den Gesetzgeber gerichteten Appelle von Wolfgang Spindler, die im Steuerrecht maßgeblichen unverrückbaren Prinzipien zu beachten, Wirkung zeigen. Diese Hoffnung beruht vor allem auf dem Bemühen der Rechtsprechung, die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Steuergesetzgebung deutlich zu machen138. Denn nur die Rechtsprechung ist in der Lage, den Steuergesetzgeber zu veranlassen, Steuergesetze auf Grund einer einheitlichen systematischen Konzeption möglichst frei von Wertungswidersprüchen zu schaffen. Der Weg dorthin ist geebnet: das Bundesverfassungsgericht hat die in der Vergangenheit auf der formal-rechtsstaatlichen Gewaltenteilung beruhende richterliche Zurückhaltung zum Teil aufgegeben. Dementsprechend hat der Bundesfinanzhof vermehrt von Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG durch Vorlagen zum Bundesverfassungsgericht Gebrauch gemacht139. Es gehört zweifellos zu den Verdiensten von Wolfgang Spindler, diese Entwicklung gefördert zu haben. Es ist zu wünschen, dass er auch in Zukunft seine Stimme im vorgenannten Sinne erheben wird, so dass die verfassungsrechtliche Sensibilität im Bereich des Steuerrechts weiterhin zunehmen wird.
__________ 135 Vgl. hierzu nur § 3c Abs. 2 EStG i. d. F. des JStG 2010 gegen das Urteil des BFH v. 25.6.2009 – IX R 42/08, BStBl. II 2010, 220 und den Beschluss des BFH v. 18.3.2010 – IX B 227/09, DStR 2010, 639 zum Teilabzugsverbot; vgl. Nichtanwendungsschreiben des BMF v. 15.2.2010, BStBl. I 2010, 181 und dessen Aufhebung im Hinblick auf die gesetzliche Neuregelung BMF v. 28.6.2010, DStR 2010, 1337. 136 Vgl. Spindler in FS Solms, 2005, S. 53 ff. (56 ff.); ders., Stbg 2006, 1 ff. (4); Schaumburg in DFGT 1 (2004), S. 73 ff. (95). 137 Schaumburg in DFGT 1 (2004), S. 73 ff. (95). 138 Hierzu Spindler in FS Schaumburg (Fn. 90), S. 169 ff. 139 Hierzu Spindler in FS Schaumburg (Fn. 90), S. 169 ff. (171 ff.).
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Wolfgang Schön
Besteuerungsgleichheit und Subventionsgleichheit Inhaltsübersicht I. Gleichheitskontrolle für Finanzhilfen und Steuersubventionen II. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Die Rechtsprechung des 1. Senats 2. Die Rechtsprechung des 2. Senats III. Steuern und Subventionen in der Sicht der Nationalökonomie IV. Kompetenz und parlamentarisches Verfahren im Steuer- und Subventionsrecht 1. Verfremdung steuerlicher Kompetenzen
2. Einstufiges und zweistufiges Gesetzgebungsverfahren 3. Besteuerungsgleichheit und demokratischer Prozess V. Lenkungszweck und Verhältnismäßigkeitsprüfung 1. Das methodische Problem 2. Eignung und Erforderlichkeit 3. Lenkungszweck versus Belastungsgleichheit VI. Schluss
I. Gleichheitskontrolle für Finanzhilfen und Steuersubventionen Der Staat, der subventioniert, vermag das Ziel der finanziellen Förderung bestimmter Personen oder Produkte auf zwei Weisen zu erreichen: Er leistet aus dem staatlichen Haushalt offene Finanzhilfen oder er verzichtet auf die Erhebung von Abgaben, welche die begünstigten Steuerpflichtigen andernfalls an den Staat entrichten müssten. Im wirtschaftlichen Ergebnis zeigt sich weder für den staatlichen Haushalt noch für die geförderten privaten Empfänger ein Unterschied: Es handelt sich um einen Transfer von Vermögen zwischen der öffentlichen Hand und dem privaten Sektor1. Gleichartig erscheint auch die verfassungsrechtliche Thematik, die mit diesem Vorzug verbunden ist: Jede öffentliche Subvention und jeder staatliche Steuerverzicht berühren die Stellung der Wirtschaftssubjekte unter dem Grundgesetz; die Förderung des Einen bedingt die Zurücksetzung des Anderen. Nicht nur der allgemeine Gleichheitssatz, sondern auch seine speziellen verfassungsgerichtlichen Ausprägungen in den Gedanken der „Besteuerungsgleichheit“ oder der „Wettbewerbsgleichheit“ plädieren daher in ihrer Grundtendenz gegen beide Instrumente: gegen die offene Subvention und gegen das steuerliche Privileg.
__________ 1 Zur Subsumtion von Steuerregeln unter den Beihilfenbegriff des Europäischen Steuerrechts siehe zuletzt den Bericht über die Verhandlungen des 17. ÖJT 2009, Bd. IV/1 (Gutachten von M. Lang) und Bd. IV/2 (Referate von W. Schön, T. Ehrke-Rabel und N. Zorn).
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Nicht eindeutig erscheint jedoch die Antwort auf die Frage, mit welcher Schärfe die Kontrolle eines Gleichheitsverstoßes im Bereich steuerlicher Subventionen zu erfolgen hat. Zwar ist die grundsätzliche Zulässigkeit lenkender Steuernormen akzeptiert2, wenn und soweit dieser Lenkung eine „erkennbare Entscheidung des Gesetzgebers zugrunde liegt“3. Zu den weitergehenden verfassungsrechtlichen Ansprüchen an Subventionen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten indessen zwei unterschiedliche Maßstäbe außerhalb und innerhalb des Steuerrechts entwickelt, die am Beispiel steuerlicher Beihilfen in Konflikt geraten: – Einerseits ist anerkannt, dass finanzielle Zuschüsse der öffentlichen Hand aus den staatlichen Haushalten bis zur Grenze des Willkürverbots der freien politischen Gestaltung der zuständigen Organe, namentlich des Haushaltsgesetzgebers und der ausführenden Verwaltung, unterliegen, ohne dass Dritte eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG rügen können4. Vor allem die grundsätzliche Auswahl des Subventionszwecks und das Ausmaß des gewährten finanziellen Vorteils sind der grundrechtlichen Kontrolle weitgehend entzogen5. Lediglich auf einer zweiten Stufe, nämlich bei der zweckgerechten Ausgestaltung des Subventionsverhältnisses, ergibt sich Raum für strengere materielle Prüfungsmaßstäbe. – Andererseits hat sich im Sachbereich des Steuerrechts in den vergangenen Jahrzehnten ein Verständnis der Besteuerungsgleichheit entwickelt, das neben der Heraushebung des Leistungsfähigkeitsprinzips vor allem den Gedanken der Folgerichtigkeit der Steuergesetzgebung in den Mittelpunkt stellt6: Der Gesetzgeber ist im Grundsatz frei, welchen „Belastungsgrund“ er für eine Abgabe wählt; doch benötigen Abweichungen von der einmal gewählten Regelbesteuerung vor dem Hintergrund des Grundrechts der Steuerpflichtigen auf Belastungsgleichheit einer besonderen Rechtfertigung durch einen gewichtigen Sachgrund. Welcher Maßstab gilt nun für die Gewährung von steuerlichen Subventionen? Vor allem: Bedarf die steuerrechtliche Subvention bereits als solche einer be-
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2 Grundlegend: BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (147) (Vermögensteuer); BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274 (292 f.) (Ökosteuer). 3 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (147); BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (112 ff.) (Alterseinkünfte); BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274 (293). 4 BVerfGE v. 12.2.1964 – 1 BvL 12/62, BVerfGE 17, 210 (216) (Wohnungsbauprämie); ausführlich Rodi, Die Subventionsrechtsordnung, 2000; Kämmerer in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V., 3. Aufl. 2007, § 124 Rz. 40 ff.; NiederEichholz, Die Subventionsordnung, 1995, S. 120. 5 Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 398 ff. („Gleichheitssatz in ‚systemlosen‘ Bereichen“). 6 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (136); BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (112 ff.); BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1, 2/07, 1, 2/08, BVerfGE 122, 210 (230 ff.) (Pendler-Pauschale); BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 (120 f.) (Jubiläumsrückstellungen); näher P. Kirchhof, StuW 2006, 3 (14 f.); ders. in FS Trzaskalik, 2005, S. 395 ff.; ders. in Isensee/Kirchhof (Fn. 4), § 118 Rz. 25, Rz. 50 ff.; Tipke, StuW 2007, 201 (205 ff.); Mellinghoff (S. 153 ff. in dieser Festschrift).
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Besteuerungsgleichheit und Subventionsgleichheit
sonderen Legitimation oder steht lediglich die nähere Ausgestaltung des Steuervorteils unter der Kontrolle einer streng gleichheitsorientierten Betrachtung?
II. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts7 1. Die Rechtsprechung des 1. Senats Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts hat – exemplarisch in seinem Urteil zur Ökosteuer aus dem Jahre 20048 und in seinem Erbschaftsteuerbeschluss aus dem Jahre 20069 – für die Rechtfertigung steuerlicher Subventionen den Grundsatz der Steuergerechtigkeit in den Hintergrund gedrängt und das großzügige Prüfungsmaß des allgemeinen Subventionsrechts zur Anwendung gebracht10. Auch für steuerliche Subventionen soll gelten, dass der Gesetzgeber Voraussetzungen, Art und Umfang dieser Begünstigungen bis zur Grenze des Willkürverbots gestalten darf. Die steuerliche Subvention als solche bedarf keiner substanziellen Rechtfertigung; sie ist dem Gesetzgeber freigestellt, wenn und soweit sie auf einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung und nachvollziehbaren Sachgründen beruht. Sachbezogene Gesichtspunkte stehen dem Gesetzgeber „in weitem Umfang zu Gebote, solange die Regelung sich nicht auf eine der Lebenserfahrung geradezu widersprechende Würdigung der jeweiligen Lebenssachverhalte stützt“. Das Folgerichtigkeitsgebot und das Gebot einer leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung treten gegenüber diesem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers deutlich zurück11. Eine strenge Gleichheitsprüfung erfolgt unter dieser Prämisse erst dann, wenn es um die nähere Ausgestaltung der steuerlichen Subventionsentscheidung geht, namentlich bei der Definition des begünstigten Personenkreises und der Gleichmäßigkeit der Begünstigungswirkung. Zu den Wirkungen begnügt sich der 1. Senat mit einem „Mindestmaß an Zweckgerechtheit der Ausgestaltung des Vergünstigungstatbestandes“12. Auf den ersten Blick erscheint diese Gleichstellung offener Finanzhilfen und steuerlicher Subventionen einleuchtend. Und doch bewegt sich der 1. Senat in
__________ 7 Siehe dazu auch die Analyse bei Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 219 ff. 8 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274 (293); siehe die kritische Besprechung des Urteils durch Haas in FS Mußgnug, 2005, S. 205 ff., insbesondere S. 209 ff.; kritisch auch Wernsmann (Fn. 7), S. 219 ff. 9 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (31 ff. und 69 f.) (Erbschaftsteuer); siehe die Kritik bei Hey, JZ 2007, 564 (568 f.). 10 Ebenso Trzaskalik, Inwieweit ist die Verfolgung ökonomischer, ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts zu empfehlen?, Gutachten E für den 63. DJT Leipzig, 2000, S. E 81 ff.; Kischel in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 ff., 181 ff.; Heun in Dreier, 2. Aufl. 2004, Art. 3 GG Rz. 85; Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck, 6. Aufl. 2010, Art. 3 Abs. 1 GG Rz. 57; wohl auch Kube, Finanzgewalt in der Kompetenzordnung, 2004, S. 237 ff. 11 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (31 f.). 12 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (32 f.).
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seiner eigenen Judikatur auf unsicherem Terrain. Denn die genannten Entscheidungen, in denen der gleiche weite Gestaltungsspielraum für den offen subventionierenden und den steuerlich begünstigenden Gesetzgeber gefordert wird, berufen sich sämtlich auf den Beschluss des 1. Senats v. 12.2.1964 zur Gewährung von Wohnungsbauprämien, in welcher die großzügige Rechtsprechung zum Gestaltungsspielraum bei Finanzhilfen eingeleitet wurde. Die ratio decidendi dieser Ausgangsentscheidung liegt allerdings in dem Satz begründet, dass „der Gesetzgeber im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit größere Gestaltungsfreiheit besitzt als innerhalb der Eingriffsverwaltung“13. Erkennt man im Steuerzugriff den wichtigsten, flächendeckend angelegten Eingriff des Staates in Freiheit und Eigentum seiner Bürger, so wird unmittelbar deutlich, dass die simple Gleichstellung von freier Finanzhilfe und steuerlichem Privileg durch die nachfolgende Judikatur des 1. Senats einen verfassungsrechtlichen „Kurzschluss“ bildet, der die Grundrechtsrelevanz der Steuererhebung nicht hinreichend in den Blick nimmt14. 2. Die Rechtsprechung des 2. Senats Während sich der 1. Senat klar für einen weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Einführung steuerlicher Vergünstigungsnormen ausspricht, erscheint die Rechtsprechung des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts weniger einheitlich. Besonders scharf äußerte sich der Senat zu dieser Themenstellung in seinem Beschluss zur Steuerfreiheit der „Zulage Ost“ nach § 3 Nr. 12 EStG (a. F.). Hier hat der 2. Senat die Gewährung einer solchen Steuervergünstigung am strengen Maßstab des Folgerichtigkeitsgebots gemessen und für verfassungswidrig erklärt. Das Gericht verlangt von dem Gesetzgeber nämlich „für diese Privilegierung der Empfänger einen besonderen, die Ausnahme sachlich rechtfertigenden Grund“15. Die Steuerfreiheit für Stellenzulagen als Lohnbestandteile widerspreche dem „gesetzlichen Belastungsprinzip“ und schaffe damit „bereits grundsätzlich ein gleichheitswidriges Steuerprivileg“16. Der Gegensatz zu der oben geschilderten Redeweise des 1. Senats könnte nicht größer sein: Der 1. Senat sieht den Gesetzgeber im Grundsatz in der Auswahl von Steuervergünstigungen frei – der 2. Senat verlangt im Grundsatz eine besondere sachliche Rechtfertigung für diese Einführung eines solchen systemwidrigen Privilegs17. Diese Formulierungen hat der Senat in der Mehrzahl seiner Entscheidungen allerdings nicht wiederholt. Vielmehr nähert sich der 2. Senat in seinen For-
__________ 13 14 15 16 17
BVerfG v. 12.2.1964 – 1 BvL 12/62, BVerfGE 17, 210 (216). Siehe bereits Schaden, Die Steuervergünstigung als staatliche Leistung, 1998, S. 120 f. BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (294) (Zulage Ost). BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (296). So auch Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, S. 232 ff.; Vogel in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 2. Aufl. 1999, § 87 Rz. 86; P. Kirchhof, StuW 2006, 3 (16 ff.); Tipke, StuW 2007, 201 (210 f.).
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mulierungen häufig der Position des 1. Senats an18. Eine steuerliche Verschonung, „die einer gleichmäßigen Belastung innerhalb einer Einkunftsart widerspricht“, kann danach immer dann gerechtfertigt sein, „wenn der Gesetzgeber das Verhalten des Steuerpflichtigen aus Gründen des Gemeinwohls lenken will […]. Neben der Orientierung einer steuerlichen Förderung am Gemeinwohl muss der Lenkungszweck von einer erkennbaren gesetzgeberischen Grundentscheidung getragen […] und seinerseits wiederum gleichheitsgerecht ausgestaltet sein […]“19. Die im Beschluss zur „Zulage Ost“ formulierte grundsätzliche Charakterisierung der Steuersubvention als Gleichheitsverstoß und die daraus folgende besondere Legitimationsbedürftigkeit des Sachzwecks scheinen in diesen Passagen nicht mehr auf. Die Ambivalenz dieser Rechtsprechungslinie findet schließlich ihren Ausdruck in dem Beschluss des 2. Senats zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der einkommensteuerrechtlichen Tarifbegrenzung für gewerbliche Einkünfte nach § 32c EStG (a. F.)20. Zunächst repetiert der Senat in den einleitenden Passagen der Entscheidung die Rechtsprechungslinie des 1. Senats zur Gleichstellung von freien Finanzhilfen und steuerlichen Subventionen21; in den konkret ausgeführten Gründen des Beschlusses werden allerdings hohe Ansprüche an die Legitimation der Begünstigung gewerblicher Einkünfte vor dem Hintergrund des geschilderten Folgerichtigkeitsgebots gestellt22. Man hat den Eindruck, dass sich der Senat im „Obersatz“ der verfassungsrechtlichen Subsumtion um Gleichklang mit dem 1. Senat bemüht, in der Sachprüfung dann aber doch eine schärfere Kontrolle auszuüben versucht.
III. Steuern und Subventionen in der Sicht der Nationalökonomie Vor diesem Hintergrund lässt ein Beitrag aus den Wirtschaftswissenschaften aufhorchen, der sich mit den Effizienz- und Verteilungswirkungen von Staatsverfassungen befasst, die an Besteuerungsgleichheit und Subventionsgleichheit unterschiedliche Anforderungen stellen23. Die Schweizer Autoren erwarten tendenziell höhere Effizienzgewinne, wenn eine Verfassung bei der Erhebung von Steuern strenge Gleichheit verlangt, bei der nachfolgenden Subventionierung hingegen dem politischen Prozess weitgehend Freiheit lässt. Die Begründung zielt auf die Wirkungen der Verfassungsregeln auf das Entscheidungsverhalten von Politikern und Wählern. Eine offene Subvention, die aus dem allgemeinen Staatshaushalt nach Maßgabe einer allgemeinen Steuer finanziert werden muss, stellt – so die Autoren – im politischen Prozess hohe Anforderungen an die Überzeugungskraft der politischen Amtsträger gegenüber dem Wahl-
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18 Früher bereits BVerfG v. 7.11.1995 – 2 BvR 413/88 und 1300/93, BVerfGE 93, 319 (Wasserabgabe). 19 BVerfG v. 17.4.2008 – 2 BvL 4/05, BVerfGE 121, 108 (120) (kommunale Wählervereinigungen); BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1,2/07, 1,2/08, BVerfGE 122, 210 (231 f.). 20 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 ff. (§ 32c EStG). 21 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182). 22 BVerfG v. 21.6.2002 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (187 ff.). 23 Gersbach/Hahn/Imhof, Tax Rules, CEPR Discussion Paper No. DP7831, Juli 2010.
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volk, dessen Angehörige sämtlich mit höheren Steuern zur Finanzierung des jeweiligen Anliegens beitragen müssen. Demgegenüber reicht für eine Subvention, die durch eine gleichheitswidrige Besteuerung finanziert wird, dass sich eine Mehrheit finden lässt, deren Angehörige entweder von der gleichheitswidrigen Besteuerung nicht betroffen sind oder gar von der Subvention profitieren. Andererseits erscheint es den Autoren sinnvoll, die Subvention als solche nicht dem Gebot einer strengen Gleichheitskonformität zu unterwerfen, um die gezielte Förderung sozial gewünschter Einzelprojekte zu ermöglichen und einen künstlichen Zwang zu einer Ausweitung des begünstigten Personenkreises zu vermeiden. Das in dieser Abhandlung verwendete Modell abstrahiert stark und es ist in seiner Bezugnahme auf den erheblichen Einfluss des „Wahlvolks“ deutlich vom Schweizer Modell der direkten Demokratie geprägt. Dennoch geben diese Überlegungen Anlass, einen frischen Blick auf das deutsche Verfassungsrecht und seine Implikationen für die Besteuerungs- und Subventionsgleichheit zu nehmen; dabei muss die grundrechtliche Betrachtung mit dem institutionellen Rahmen so verschränkt werden, dass ein überzeugendes Gesamtbild entsteht.
IV. Kompetenz und parlamentarisches Verfahren im Steuer- und Subventionsrecht Der Unterschied zwischen steuerlichen Vergünstigungen und offenen Finanzhilfen zeigt sich bei genauem Hinsehen nicht in ihren wirtschaftlichen Wirkungen, sondern in ihren institutionellen Grundlagen in Hinsicht auf die Gesetzgebungskompetenz und das parlamentarische Verfahren. 1. Verfremdung steuerlicher Kompetenzen Im Kompetenzverhältnis zwischen Bund und Ländern beruhen Finanzhilfen auf allgemeinen sachlichen Kompetenztiteln, z. B. dem „Recht der Wirtschaft“ nach Art. 74 Nr. 11 GG, während steuerliche Subventionen im Kontext der Finanzverfassung nach Art. 105 ff. GG ausgereicht werden24. Eine Finanzhilfe des Bundes wird daher schlicht aus dem Bundeshaushalt finanziert, während eine Steuervergünstigung im Bereich des Einkommensteuerrechts oder des Umsatzsteuerrechts auch auf der Grundlage eines Bundesgesetzes zugleich die Haushalte des Bundes, der Länder und der Gemeinden berührt. Aus der Sicht eines Gesetzgebers, der für Sachgesetzgebung, Steuervorschriften und Haushaltspläne verantwortlich zeichnet, stellen sich Steuersubventionen und Finanzhilfen daher gerade nicht als austauschbare Instrumente dar. Vielmehr sind die institutionellen Voraussetzungen (Mitwirkung des Bundesrats?) und die finanzielle Auswirkungen auf die jeweiligen Haushalte von ganz unterschiedlicher
__________ 24 Dazu bereits kritisch Vogel (Fn. 17), Rz. 86; P. Kirchhof in Isensee/Kirchhof (Fn. 4), § 118 Rz. 53 ff.
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Qualität. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht von jeher die steuergesetzgeberische Kompetenz für Lenkungssteuern akzeptiert25. 2. Einstufiges und zweistufiges Gesetzgebungsverfahren Der wesentliche Unterschied im Gesetzgebungsverfahren liegt vor allem darin, dass Steuervergünstigungen – anders als offene Finanzhilfen – einen integralen Bestandteil der Steuergesetzgebung bilden. Der Steuervorteil ist in das Steuergesetz und damit in das Rechtsverhältnis zum Steuerbürger fest eingebaut. Sein Tatbestand und seine Höhe sind durch das Gesetz vorprogrammiert. Daher sind weder der Haushaltsgesetzgeber noch die vollziehende Verwaltung in der Lage, gestaltend, mäßigend oder verweigernd einzuwirken; dem Bürger steht kraft Gesetzesbefehls ein Anspruch auf finanzielle Entlastung zu, der anderen Bürgern mit derselben gesetzlichen Klarheit nicht eingeräumt wird. Man kann sagen, dass die Gewährung einer steuerlichen Subvention gleichsam „einstufig“ vollzogen wird: es ist ein- und dasselbe Steuergesetz, in dem die Regelbelastung für die eine Gruppe und die Sondervorteile für die andere Gruppe der Steuerpflichtigen festgelegt werden. Demgegenüber ist bei offenen Finanzhilfen ein zweistufiges Verfahren zu befolgen: die Erhebung von Steuern zur Finanzierung der öffentlichen Haushalte vollzieht sich vor und unabhängig von der nachfolgenden Festlegung von Finanzhilfen, die auf der Grundlage des Haushaltsgesetzes, spezieller Leistungsgesetze oder in Verwaltungsvorschriften geschieht. Das auf der Grundlage der Steuergesetze erzielte Steueraufkommen wird bei diesem Verfahren daher zunächst in vollem Umfang der freien Verfügung der staatlichen Institutionen überantwortet; erst in einem zweiten Schritt – auf den der einzelne Bürger keinen Einfluss besitzt und der auch nicht mehr als Eingriff in die Grundrechte des allgemeinen Steuerzahlers qualifiziert werden kann26 – entscheiden Parlament und Exekutive über die Verausgabung dieser Mittel. Diese Differenz zwischen der „Einstufigkeit“ der steuerlichen Vergünstigung und der „Zweistufigkeit“ von Steuererhebung und Finanzhilfe hat erhebliche Auswirkungen auf die öffentliche politische Diskussion und das Verhalten der Akteure auf der Ebene des „Wahlvolks“ und des parlamentarischen Gesetzgebers. – Aus der Sicht der Gesamtheit der Steuerbürger wird bei der Vergabe einer steuerlichen Subvention im „einstufigen Verfahren“ der Charakter der steuerlichen Subvention als Transfer von Verfügungsmacht auf den Staat und als anschließende Rückgabe an privilegierte Steuerpflichtige nicht hinreichend verdeutlicht. Der Umfang der wahren Steuererhöhung wird nicht transparent; vielmehr wird vielfach die lenkende Subvention in der politi-
__________ 25 Siehe die ausführlichen kritischen Analysen bei Kube (Fn. 10), S. 216 ff.; Schaden (Fn. 14), S. 61 ff.; Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 138 ff.; Wernsmann (Fn. 7), S. 176 ff. 26 Siehe aber die Überlegungen bei Hummel, Verfassungsrechtsfragen der Verwendung staatlicher Einnahmen, 2008, S. 327 ff.
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schen Diskussion sogar als Steuerermäßigung angeboten und wahrgenommen. Entsprechend einfach können auf der Grundlage von steuerpolitisch geprägten Wahlprogrammen Mehrheiten bei Bundestags- und Landtagswahlen schlicht danach erreicht werden, ob und in welchem Umfang die Parteien einen Vorzug für ihre Klientel erzielen können. Anders gewendet: Für eine Steuererhöhung, von der 51 % aller Wahlbürger ausgenommen werden, kann zu Lasten der übrigen 49 % sowohl auf der Ebene der Parlamentswahlen als auch auf der nachfolgenden Ebene des Gesetzesbeschlusses ohne weiteres eine Mehrheit gefunden werden, die verfahrensrechtlich das Steuerprivileg legitimiert27. – Demgegenüber erkennt der Steuerbürger bei der Finanzierung einer offenen Finanzhilfe aus dem Haushalt im ersten Schritt das ganze Ausmaß der Verlagerung von Geldmitteln auf die öffentliche Hand. Sämtliche Steuerpflichtige werden für deren Finanzierung zur Kasse gebeten; anschließend wird im Haushaltsgesetz oder in anderer Weise über die Vergabe der Subvention entschieden. Es müssen in diesem Fall daher sowohl bei der Würdigung von Wahlprogrammen der Parteien als auch im Gesetzgebungsverfahren mehrere kritische Diskussionen geführt werden: zunächst über die Notwendigkeit der breitflächigen Steuererhöhung zu Lasten aller Steuerpflichtigen, anschließend über die Notwendigkeit der aus dem Haushalt gewährten Finanzhilfe für begünstigte Unternehmen oder Produkte. Die institutionellen und politischen Hürden für die offene Subvention sind damit höher angesetzt als für die steuerliche Subvention. – Diese politisch-institutionelle Problematik setzt sich bei späteren Änderungen der staatlichen Willensbildung fort. Aus der Sicht des Gesetzgebers bietet die Steuervergünstigung zwar einen eleganten Einstieg in Lenkung und Finanzierung bestimmter Verhaltensweisen, weil dem Parlament zunächst eine generelle Steuererhöhungsdiskussion erspart bleibt und vielfach sogar scheinbare Steuersenkungen ausgewiesen werden können. Die institutionellen Probleme stellen sich indessen später ein: Steuervergünstigungen können – anders als freie Finanzhilfen – nicht durch einfachen Beschluss des Haushaltsgesetzgebers beendet, der Kreis der Begünstigten und das Ausmaß der Förderung können nicht ohne weiteres im Verwaltungswege nachjustiert werden28. Das Verfassungsrecht verlangt für die Aufhebung einer Steuervergünstigung vielmehr eine Modifikation der Gesetzeslage (regelmäßig mit Zustimmung des Bundesrates); die notwendige politische Diskussion über die Abschaffung einer steuerlichen Subvention wird dann – wie sich gegenwärtig an den Beispielen der Ökosteuer-Ausnahmen oder der ermäßigten Umsatzsteuersätze zeigt – typischerweise unter dem Vorzeichen einer Steuererhöhung geführt.
__________ 27 Für eine grundlegende ökonomische Analyse der Mehrheitsregel siehe Buchanan/ Tullock, The Calculus of Consent, The Collected Works of James M. Buchanan, Vol. III, 1962/1999, S. 119 ff. 28 Kritisch auch Kube (Fn. 10), S. 249 ff.
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– Demgegenüber gestaltet sich bei der offenen Finanzhilfe das Verfahren umgekehrt: Das primäre Einwerben der erforderlichen Mittel erfolgt durch eine Erhöhung des allgemeinen Steueraufkommens und muss daher mit Rücksicht auf das allgemeine Verhältnis zwischen öffentlichem und privaten Sektor offen verteidigt werden; dabei wird auch die Erforderlichkeit von (zusätzlichen) Fördermaßnahmen für begünstigte Personengruppen auf den Prüfstand gestellt. Diesen Personen wird allerdings kein abstrakter Rechtsanspruch eingeräumt, vielmehr sind der Haushaltsgesetzgeber und die nachfolgend tätigen Verwaltungsbehörden im Grundsatz frei, ob und in welchem Umfang Subventionen vergeben werden. Es fällt später leichter, Finanzhilfen abzubauen und die frei werdenden Beträge entweder anderen Gemeinwohlzwecken zuzuwenden oder im Haushalt einzusparen. Finanzhilfen und Steuersubventionen beruhen daher auf unterschiedlichen institutionellen Voraussetzungen; sie erzeugen unterschiedliche Bindungen der staatlichen Organe und zeitigen für den Charakter und Verlauf der politischen Diskussion daher ganz unterschiedliche Effekte. Das Bundesverfassungsgericht unterschätzt diese staatsorganisationsrechtlichen Differenzen, wenn es die Gleichbehandlung von Finanzhilfen und Steuervergünstigungen aus der Sicht des Gleichheitssatzes damit zu erklären versucht, dass der Gesetzgeber lediglich „eine Subvention steuerrechtlich überbringt, statt sie direkt finanziell zuzuwenden“29. Aus der Sicht unserer Themenstellung ist die maßgebliche Frage vor diesem Hintergrund darauf gerichtet, ob diese institutionellen und politischen Divergenzen auch Bedeutung für den Prüfmaßstab des Gleichheitssatzes haben können. 3. Besteuerungsgleichheit und demokratischer Prozess Die zunehmende Bedeutung des Gleichheitssatzes und der übrigen Grundrechte für das Steuerrecht wird in der verfassungsrechtlichen Betrachtung zutreffend auf eine bereits im 20. Jahrhundert vollzogene Veränderung im Grundverhältnis zwischen Steuerbürger und parlamentarischem Gesetzgeber zurückgeführt30. Verstand noch das 19. Jahrhundert den Parlamentsvorbehalt für Steuergesetze als wesentlichen Schutz der Bürger vor übermäßiger oder gleichheitswidriger Besteuerung, so sind es heute die Grundrechte, die der Übermacht des Parlaments Grenzen setzen sollen. Die parlamentarische Kompetenz zur Steuergesetzgebung ermächtigt die Mehrheit im Deutschen Bundestag und in anderen gesetzgebenden Körperschaften, zu Lasten der Gesamtheit der Steuerbürger, aber auch zu Lasten von bestimmten Personengruppen Abgaben zu erheben. Der finanzrechtliche Gesetzesvorbehalt als solcher vermag nicht, den Schutz einzelner Personengruppen vor übermäßiger oder gleichheitswidriger Belastung zu gewährleisten31. Hier setzt die Funktion der Grundrechte als Schranke der Majoritätsherrschaft ein. Sie sollen verhindern, dass
__________ 29 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274 (293). 30 P. Kirchhof in Isensee/Kirchhof (Fn. 4), § 118 Rz. 90 ff. 31 G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 529 f.
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eine von der Mehrheit des Wahlvolkes benannte Mehrheit im Parlament zu Lasten einer Minderheit qualifizierte Steuerlasten beschließt. Steuerlicher Grundrechtsschutz und steuerlicher Gesetzesvorbehalt ergänzen einander daher in dialektischer Weise: Die Grundrechte ersetzen nicht den Mehrheitsbeschluss im demokratisch legitimierten Parlament für die Steuergesetzgebung, aber sie setzen der parlamentarischen Mehrheit dort Grenzen, wo sie in gleichheitswidriger oder übermäßig belastender Weise Abgabepflichten anordnet. Welche Bedeutung hat dieser Befund für die grundrechtliche Kontrolle von Steuervergünstigungen? Diese erschließt sich, wenn man erkennt, dass die höhere demokratische Legitimation für Finanzhilfen eine geringere grundrechtliche Kontrolle erlaubt, während die geringere demokratische Legitimation auf dem Feld der Steuervergünstigungen durch eine anspruchsvolle gleichheitsrechtliche Prüfung kompensiert werden muss. Mehrheitsprinzip und grundrechtliche Rechtfertigung verhalten sich damit zueinander wie „kommunizierende Röhren“. Weil zudem nur die einmal „bewilligte“ offene Subvention einer laufenden Kontrolle und Aufhebbarkeit durch den Haushaltsgesetzgeber oder die vollziehende Verwaltung unterliegt, muss für die Steuervergünstigung ein Gegengewicht in Form einer verstärkten rechtsstaatlichen Prüfungsdichte gebildet werden. Mit anderen Worten: Die Steuervergünstigung ist in erster Linie Bestandteil der Steuergesetzgebung und den dort etablierten Kontrollmaßstäben unterworfen32. Sie bedarf einer gewichtigen Legitimation gegenüber dem Gleichheitssatz, namentlich für Ausnahmen von einer „folgerichtigen“ Steuergesetzgebung. Ein Gesetzgeber, der dies vermeiden will, muss eine generelle Steuererhöhung einführen und ist dann relativ frei, die eingeworbenen Haushaltsmittel zu verausgaben33. Allerdings stellt dies sowohl an die Zustimmung durch das Wahlvolk als auch an die Transparenz und Kontrolle parlamentarischen Verhaltens höhere Anforderungen. Daher ist die öffentliche Hand bei der Vergabe von offenen Finanzhilfen frei: Das verfügbare Haushaltsvolumen ist durch die Gesamtheit der Steuerzahler aufgebracht; die anschließende Subventionsentscheidung durchbricht keine „Ordnungsprinzipien“, wie sie das Steuerrecht anleiten.
V. Lenkungszweck und Verhältnismäßigkeitsprüfung 1. Das methodische Problem Das Postulat, lenkenden Eingriffen in die Folgerichtigkeit der Steuergesetzgebung eine gesteigerte Legitimation abzufordern, führt in eine methodische Problematik hinein, die in der deutschen Staatsrechtslehre noch keine abschließende Lösung gefunden hat: die Anwendung des Übermaßverbots im
__________ 32 Huster (Fn. 5), S. 404 f. 33 So wohl auch Vogel (Fn. 17), Rz. 86.
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Bereich der Gleichheitsrechte34. Wenn nämlich einerseits die Nutzung des Steuerrechts (und zwar auch auf dem Gebiet der allgemeinen Fiskalsteuern) für subventive Zwecke nicht grundsätzlich für unzulässig gehalten werden kann und andererseits nicht jeder beliebige Zweck Durchbrechungen der Belastungsgleichheit rechtfertigen darf, muss ein Maßstab gefunden werden, der verfassungsrechtlich erlaubte von unerlaubten Steuersubventionen unterscheiden hilft. Dafür erweist es sich als notwendig, die aus dem Gebiet der Freiheitsrechte bekannte dogmatische Struktur der Prüfung von Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit des „Eingriffs“ auf das Gebiet der Gleichheitsrechte zu übertragen. Diese Übertragung fällt auf dem Sachgebiet des Steuerrechts deshalb besonders schwer, weil einerseits der Finanzierungszweck der Steuer als solcher keinen verlässlichen Grund bietet und andererseits das allgemeine Interesse der Steuerpflichtigen an der Belastungsgleichheit der Steuerzahler nur schwer mit den „externen Zielen“ staatlicher Lenkung in ein wertendes Verhältnis gesetzt werden kann. Im wissenschaftlichen Schrifttum werden daher unterschiedliche Gesichtspunkte in den Vordergrund gestellt, mit denen versucht wird, diese problematische Situation zu bewältigen. 2. Eignung und Erforderlichkeit Eine erste Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung liegt darin, die Auswahl des Lenkungszwecks durch den Gesetzgeber als solche einer verfassungsrechtlichen Kontrolle und Bewertung weitgehend zu entziehen und lediglich die nähere Ausgestaltung der Lenkungsnormen einer strengen Prüfung auf Eignung und Verhältnismäßigkeit zu unterwerfen35. Dabei wird zunächst der vom Gesetzgeber gewählte sachliche Differenzierungsgrund akzeptiert, allerdings wird die Eignung der gewählten Lenkungsnorm für die gewünschte Förderungswirkung streng geprüft, der Zuschnitt des begünstigten Personenkreises scharf kontrolliert und die Erforderlichkeit der gewählten Subvention in ihrem Ausmaß betrachtet. Hinzu kommen Ansprüche an die innere Stimmigkeit der Begünstigungswirkungen, z. B. an die Auswirkungen der Steuerprogression auf das individuelle Förderungsmaß36. Für die Anwendung dieser Prüfungsmaßstäbe lässt sich schnell ein Konsens formulieren. Allerdings löst dieser nicht das geschilderte Grundproblem: Soll wirklich jeder nicht willkürliche Sachzweck eine steuerliche Ungleichbehandlung legitimieren, wenn er nur zur Verfolgung des externen Ziels geeignet und im Rahmen der Erforderlichkeit sauber konturiert wird? 3. Lenkungszweck versus Belastungsgleichheit Bei näherer Betrachtung gibt es zwei Möglichkeiten, Lenkungszweck und Belastungsgleichheit zueinander in ein Verhältnis zu bringen: Man kann einer-
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34 Grundlegend Huster (Fn. 5), S. 164 ff. 35 Wernsmann (Fn. 7), S. 242 ff. 36 Kube (Fn. 10), S. 239 ff.; Wernsmann (Fn. 7), S. 244.
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seits den Kreis der zulässigen Lenkungszwecke von vornherein einschränken und auf diese Weise einen absoluten Vorrang der Belastungsgleichheit gegenüber bestimmten öffentlichen Zielsetzungen formulieren. Man kann andererseits versuchen, Zweck und Eingriff zu gewichten und auf diese Weise einen relativen Vorrang der Belastungsgleichheit durchzusetzen, die indessen im wohlbegründeten Einzelfall in den Hintergrund treten muss. Die meisten Stellungnahmen im Schrifttum lassen es für die materielle Zulässigkeit eines steuerlichen Lenkungszwecks bereits ausreichen, dass dieser Zweck „verfassungsrechtlich zulässig“37, „für sich genommen legitim“38 und auf einen „Gemeinwohlbelang“39 ausgerichtet sein müsse. Damit ist nicht viel gewonnen. Denn – wie Udo di Fabio treffend bemerkt – „sachliche Gründe für die Differenzierung lassen sich beinah immer finden“40, und auch das „Gemeinwohl“ bietet in seiner umfassenden Gestalt keine substanzielle Differenzierung zwischen zulässigen und unzulässigen Lenkungszwecken. Der Steuergerechtigkeit muss demgegenüber ein bestimmtes „Schwellengewicht“ zukommen, die „nicht vollständig durch Differenzierungen, die der Verfolgung externer Zwecke dienen, überspielt werden darf“41. Eine höhere Messlatte hat namentlich Dieter Birk in seiner Habilitationsschrift angelegt, der vor dem Hintergrund des „verfassungsrechtlichen Eigenwerts“42 des Prinzips der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nur solche Lenkungszwecke für Durchbrechungen akzeptiert, die „verfassungsrechtlich geboten“ oder zumindest „verfassungsrechtlich bevorzugt“ erscheinen43. Dazu muss es sich (neben den eigentlichen Staatszielen des Grundgesetzes) um „Gemeinwohlwerte handeln, die nicht nur politischen Tagesbedürfnissen entstammen, sondern deren Gewichtigkeit sich aus verfassungsrechtlichen Bestimmungen ‚rückschließen‘ lässt“44. Diese These korreliert mit dem Anspruch, dass Verfassungsgüter nur durch Verfassungsgüter beeinträchtigt werden dürfen; sie leidet jedoch an der inhaltlichen Weite der Verfassung, die – in Grundrechten, Staatszielbestimmungen und Kompetenznormen – eine Fülle verfassungsrechtlich bevorzugter Zwecke impliziert. Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG), Umweltschutz (Art. 20a GG) und Völkerverständigung (Art. 24 Abs. 2 und Art. 26 Abs. 1 GG) – um nur wenige zu nennen – lassen dem Gesetzgeber weiten Raum für steuerliche Vorzugsbehandlungen. Der verfassungsrechtliche Rahmen kann daher nur schwer dafür eingesetzt werden, von vornherein zwischen zulässigen und unzulässigen Sachzwecken zu unterscheiden – aber er kann eine erhebliche Rolle spielen, wenn es um die Gewichtung dieser Sachzwecke im eigentlichen Abwägungsprozess kommt.
__________ 37 38 39 40 41 42 43 44
Huster (Fn. 5), S. 239/381; Wernsmann (Fn. 7), S. 249 f. Wernsmann (Fn. 7), S. 244. Kube (Fn. 10), S. 238. di Fabio, JZ 2007, 749 (751). Huster (Fn. 5), S. 372. Birk (Fn. 17), S. 240. Birk (Fn. 17), S. 244 ff. Birk (Fn. 17), S. 249.
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Man wird daher nicht umhin kommen, in jedem Einzelfall „die Ungleichbehandlung und das kollektive Ziel, das mit ihr verfolgt wird“45, in eine konkrete Abwägung bringen zu müssen. Dabei ergibt sich kein automatisches Übergewicht in der einen oder der anderen Waagschale. Doch kann man sich von folgenden Grundsätzen leiten lassen: – Die Steuergleichheit ist verfassungsrechtlich geschützt; ihr gegenüber muss der Eingriff durch das externe Ziel legitimiert werden; im Zweifel ist für die Belastungsgerechtigkeit zu entscheiden. – Das Ausmaß des „Eingriffs“ in die Belastungsgleichheit der Steuerpflichtigen lässt sich am Verhältnis zwischen begünstigten und nicht begünstigten Steuerpflichtigen (Anteil der begünstigten Personen an der Gesamtheit der Steuerpflichtigen; quantitatives Ausmaß der Begünstigungswirkung) ablesen. – Der Wert des externen Ziels kann durch verfassungsrechtliche Vorgaben indiziert sein; namentlich explizite und konkrete grundrechtliche Vorgaben (Schutz von Ehe und Familie) oder Staatszielbestimmungen (Umweltschutz) wiegen schwerer als Förderziele, die sich aus allgemeinen Kompetenznormen ergeben (Wirtschaftsförderung). – Der Gesetzgeber muss (im parlamentarischen Gang, aber auch im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht) die besondere Bedeutung einer fördernden Zielsetzung konkret begründen. Dabei muss ein überzeugender Zusammenhang zwischen einem allgemeinen Staatsziel (Umweltschutz) und dem konkreten Förderzweck (Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produkte) hergestellt werden. Das Gewicht des konkreten Förderzwecks bestimmt sich nach der sachlichen Nähe zwischen der gesetzlichen Maßnahme und dem übergreifenden Staatsziel. – Letztlich verbleibt in dieser Abwägung – wie bei allen Abwägungsprozessen im Grundrechtsbereich – ein dezisionistisches Element. Dieses verbietet jedoch nicht die Abwägung als solche, sondern gebietet lediglich einen vorsichtigen Umgang mit den genannten Kriterien. Dass „im Zweifel“ für die Belastungsgleichheit zu entscheiden ist, sollte ausreichen, um willkürlicher Anwendung der Abwägungsparameter in bestimmtem Umfang entgegentreten zu können.
VI. Schluss Die Ergebnisse der Untersuchung lassen sich in zwei Thesen zusammenfassen: 1. Die steuerliche Subvention unterliegt einer schärferen verfassungsrechtlichen Kontrolle als die freie Finanzhilfe. Dies wird durch die Gleichartigkeit der wirtschaftlichen Wirkungen von Steuervergünstigung und staatlichem Zuschuss nicht widerlegt. Maßgeblich ist die institutionelle Überlegung, dass Steuervergünstigungen leichter eine parlamentarische Mehrheit finden als Steuererhöhungen mit anschließender Vergabe der Haushalts-
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45 Huster (Fn. 5), S. 459.
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mittel als Subvention. Diese Schwächung demokratischer Legitimation muss grundrechtlich kompensiert werden. 2. Die steuerliche Subvention bedarf als Ausnahme von der Regelbesteuerung einer besonderen Rechtfertigung. Dafür sind nicht nur Eignung und Erforderlichkeit des Steuervorteils zu prüfen. Hinzu treten muss eine verfassungsrechtliche Abwägung, in der das Sachziel der lenkenden Gesetzgebung anhand der Wertentscheidungen des Grundgesetzes bewertet und in ein Verhältnis zum Ausmaß des „Eingriffs in die Belastungsgleichheit“ gesetzt wird. Dabei ist der konkrete Eingriff nach Art und Umfang der Privilegierung zu bemessen; der konkrete Förderzweck muss nach seiner Sachnähe zu übergeordneten Staatszielen bewertet werden. Im Zweifel ist zugunsten der Steuergerechtigkeit zu entscheiden.
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Verfassungsrechtliche Prinzipien im Steuerrecht – Anmerkungen eines Steuerberaters Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Leistungsfähigkeitsgebot – Steuergerechtigkeit 1. Abzugsfähigkeit der Gewerbesteuer 2. Private Steuerberatungskosten
2. Organschaften mit einer Personengesellschaft als Organträger IV. Bestimmtheitsgebot – Praktikabilität V. Fazit
III. Rückwirkung – Planungssicherheit 1. Verluste im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen
I. Einleitung Verfassungsrecht und Steuerrecht – leider nicht nur eine wissenschaftliche Diskussion, sondern eine Diskussion mit immenser Ausstrahlung in die tägliche Beratungspraxis. Es gehört heute nahezu zum guten Ton bei Kongressen, Symposien oder ähnlichen Veranstaltungen den Zustand des deutschen Steuerrechts zu beklagen: Neben den Attributen „Chaos“, „Dschungel“, „unübersichtlich“ und „kompliziert“ begegnet uns auch regelmäßig der Vorwurf – aus Theorie und Praxis – einer möglichen Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen und der Verletzung von verfassungsrechtlichen Prinzipien. Aus der täglichen Beratungspraxis und unzähligen Gesprächen mit Mandanten ist festzuhalten, dass die überwiegende Mehrheit der Mandanten, Unternehmer und Steuerbürger ein Gespür für die subjektiv empfundene Qualität von Steuergesetzen entwickelt hat. Die Prinzipien anhand derer steuerliche Normen gemessen werden, sind „Steuergerechtigkeit, Planungssicherheit und Praktikabilität“. Die Bundessteuerberaterkammer (BStBK) hat deshalb in den im Frühjahr 2010 veröffentlichten „Empfehlungen an den Steuergesetzgeber“ diese drei Attribute in den Vordergrund gestellt1. Auf diese einfachen, trivialen, oft als selbstverständlich erachteten Prinzipien explizit hinzuweisen, war dem Berufsstand ein Anliegen, da die letzten Jahre gezeigt haben, dass diese Prinzipien im Gesetzgebungsverfahren immer weniger Beachtung finden und allein fiskalische Überlegungen im Vordergrund stehen oder ein politischer Kompromiss alle qualitativen Argumente in den Hintergrund treten lässt.
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1 Bundessteuerberaterkammer (Hrsg.), Steuergerechtigkeit, Planungssicherheit, Praktikabilität – Empfehlungen an den Steuergesetzgeber, 2010.
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Steuergerechtigkeit, Planungssicherheit und Praktikabilität sind aber nicht nur subjektive Kriterien, anhand derer der Rechtsanwender die Qualität eines Gesetzes misst, sondern im Regelfall unmittelbar Ausfluss einer verfassungsrechtlich konformen, einer an verfassungsrechtlichen Prinzipien orientierten Steuergesetzgebung. Der einfache Steuerbürger befasst sich somit viel öfter und intensiver mit dem Verfassungsrecht, als ihm bewusst ist. Dies sind nicht nur die spektakulären, verfassungsrechtlichen Fragen, die auch in der Tagespresse diskutiert werden, sondern die vielen Randthemen, die nicht nur die Fachwelt, sondern auch den Steuerbürger beschäftigen. Das Thema verfassungsrechtliche Prinzipien im Steuerrecht wirft jedoch zuerst die Frage auf, warum wir überhaupt Prinzipien im Steuerrecht brauchen. Warum ist es notwendig, sich bei der Steuerrechtsanwendung und auch schon in der Steuergesetzgebung an verfassungsrechtlichen Prinzipien zu orientieren? Diese Frage ist in der Theorie leicht zu beantworten: Ergebnis der Gesetzgebung sollten insbesondere in der Eingriffsverwaltung Regelungen sein, die vom Steuerpflichtigen akzeptiert werden. Die Akzeptanz von Regelungen erfordert aber immer ein allgemeines Vertrauen in das System des geltenden Rechts. Dieses System wiederum muss auf der Werteordnung einer Gesellschaft beruhen, der Verfassung. In der Praxis führt allerdings die Umsetzung oft zu Schwierigkeiten. Die Aktualität des Themas „Steuerrecht und Verfassungsrecht“ zeigt die Vielzahl von wissenschaftlichen Veranstaltungen, die sich mit den vielseitigen Problematiken beschäftigen. Der Berufsstand der Steuerberater wird nicht müde, dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen, so hat sich beispielsweise der Wissenschaftliche Arbeitskreis „Steuerrecht“ des Deutschen wissenschaftlichen Instituts der Steuerberater e.V. (DWS-Institut)2 in der Vergangenheit mehrfach mit dieser Thematik befasst. Auf dem jährlichen Symposium des DWS-Instituts hat dieser Wissenschaftliche Arbeitskreis „Steuerrecht“ verschiedene Aspekte beleuchtet – die Rückwirkung, die Familienbesteuerung, das Nettoprinzip. Dies waren immer Themen, die aus der täglichen Beratungspraxis des Berufsstands in die wissenschaftlichen Gremien des Berufsstands hineingetragen wurden. Fazit dieser Veranstaltungen war unter anderem, dass die Verfassung den Steuergesetzgeber nicht einschränkt; der Steuergesetzgeber hat vielmehr die Aufgabe, die Verfassung im Steuerrecht zu konkretisieren. Verfassungsprinzipien sind dabei die elementaren Bestandteile des Gerechtigkeitsempfindens des Rechtsanwenders und sind damit die tragenden Säulen der Akzeptanz dieser Gesetze. Der Präsident des BFH, Wolfgang Spindler, hat im Rahmen des DWS-Symposiums 2008 zum Nettoprinzip ausgeführt, dass systemtragende Prinzipien, die unmittelbar aus der Verfassung hergeleitet werden, „feststehend, unverrückbar
__________ 2 Siehe unter www.dws-institut.de.
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und nicht zur Disposition des Gesetzgebers“ stehen3. Dazu gehören beispielsweise das Grundprinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und daraus abgeleitet die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nach Art. 3 GG, das Verbot der Übermaßbesteuerung nach Art. 14 GG oder auch die rechtsstaatlichen Prinzipien, wie das Bestimmtheitsgebot oder der Vertrauensschutzgrundsatz. In der Praxis ist allerdings festzustellen, dass sich der Gesetzgeber nicht immer an diese Prinzipien hält oder bewusst austestet, wie weit die Grenze zwischen Verfassungsgemäßheit und Verfassungswidrigkeit verwischt werden kann. Neben diesen Grundprinzipien gibt es verfassungsrechtliche Prinzipien, die nicht dieselbe verfassungsrechtliche Wirkkraft haben, wie die systemtragenden Prinzipien. Sie können im Einzelfall durchbrochen werden, stehen aber auch nicht zur freien Disposition des Gesetzgebers. Spindler nennt sie verfassungskräftige oder -wirksame Subprinzipien4. Diese Subprinzipien werden aus den übergeordneten substantiellen Grundprinzipien abgeleitet. Dazu gehört beispielsweise das Nettoprinzip. Die jüngste Rechtsprechung zur Pendlerpauschale mit ihren weitreichenden Konsequenzen für die Praxis hat deutlich gezeigt, dass auch die Verletzung des Nettoprinzips zur Verfassungswidrigkeit führen kann. Aus dem politischen Raum hört man häufig, das Bundesverfassungsgericht hindere den Steuergesetzgeber daran, die für den Haushalt erforderlichen Mittel zu erheben. Der frühere Staatssekretär Axel Nawrath formulierte es so: „Alle diese […] Prinzipien des Steuerrechts werden im Lichte von politischen und ökonomischen Veränderungen und Entwicklungen über die Zeit immer wieder neue Ausprägungen erhalten“5. Die Soziologin Sibylle Tönnies hat sich wie folgt kritisch zum Pendlerpauschale-Urteil geäußert: „Die Karlsruher Richter haben mal wieder einen Übergriff in die Kompetenzen des Parlaments vorgenommen. Sie sind der demokratisch gewählten Legislative, die eigentlich das letzte Wort haben sollte, mal wieder über den Mund gefahren“6. Diese Stimmen verkennen, dass die Beachtung verfassungsrechtlicher Prinzipien Grundlage jeglicher Gesetzgebung sein muss. Dies ist ureigenste Aufgabe des Gesetzgebers, eine Abweichung davon ist ihm nicht gestattet. Der Gesetzgeber hat die Mittel für den Finanzbedarf des Staates so zu erheben, dass die Steuerlast verfassungsgemäß auf die Steuerpflichtigen verteilt wird. Die verfassungsrechtlichen Prinzipien orientieren sich dabei an den Grundwertvorstellungen der Gesellschaft, die die Werteordnung des Grundgesetzes prägen7.
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3 Spindler in Deutsches wissenschaftliches Institut der Steuerberater e.V. (Hrsg.), Nettoprinzip – Grundelement einer sachgerechten Besteuerung, DWS-Symposium 2008, S. 30, mehr unter www.dws-institut.de. 4 Spindler (Fn. 3). 5 Nawrath, DStR 2009, 1 (3). 6 Tönnies, Gastkommentar in Der Tagesspiegel v. 11.12.2008. 7 Vgl. Mössner in Deutsches wissenschaftliches Institut der Steuerberater e.V. (Hrsg.), Verfassungsrecht und Steuerrecht – Verfassungsrechtlicher Rahmen für den Steuergesetzgeber, DWS-Symposium 2009, 2010, S. 13 ff.
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Obwohl der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zur Sicherung des Finanzbedarfs des Staates sehr weitreichend ist, kollidiert der Gesetzgeber in dieser Freiheit zunehmend oft mit verfassungsrechtlichen Grundprinzipien. In der steuerlichen Beratungspraxis werden diese Verfassungsverstöße subjektiv oftmals ganz unterschiedlich wahrgenommen. Das hängt damit zusammen, dass der Steuerbürger die verfassungsrechtlichen Prinzipien anders als in der wissenschaftlichen Diskussion wahrnimmt. Der Steuerlaie empfindet seine Situation vor dem Hintergrund seiner Vorstellung von Steuergerechtigkeit, seiner individuellen Vorstellung von Planungssicherheit und der für seine individuelle Situation gegebenen Praktikabilität, ganz unterschiedlich stark von Verfassungsverstößen tangiert und damit die verfassungsrechtlichen Prinzipien mehr oder weniger stark verletzt. Im Regelfall besteht eine stark ausgeprägte Korrelation zwischen der individuell empfundenen Beeinträchtigung und der Verletzung verfassungsrechtlicher Prinzipien. Dieser Zusammenhang ist aber keineswegs zwangsläufig. Dieser Aspekt soll explizit an Beispielen zu drei verfassungsrechtlichen Prinzipien erläutert werden.
II. Leistungsfähigkeitsgebot – Steuergerechtigkeit Nach ständiger Rechtsprechung fordert der im allgemeinen Gleichheitssatz verankerte Grundsatz der Steuergerechtigkeit eine Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip8. Dieser Grundsatz wird aus Art. 3 GG, dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleitet9. Danach unterliegt der Einkommensteuer grundsätzlich nur das Nettoeinkommen, nämlich der Saldo aus den Erwerbseinnahmen einerseits und den (betrieblichen/beruflichen) Erwerbsaufwendungen sowie den (privaten) existenzsichernden Aufwendungen andererseits10. Das Nettoprinzip ist nicht nur ein wissenschaftliches Modell, sondern der Steuergesetzgeber selbst hat dieses Prinzip immer wieder zur Gewährleistung einer gleichmäßigen Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit den Steuergesetzen zugrunde gelegt11. Es ist sowohl in der Steuerrechtswissenschaft als auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit langem als Maßstab zur gleichmäßigen Lastenverteilung anerkannt. Dennoch hat der Gesetzgeber in der Vergangenheit das Nettoprinzip oft außer Acht gelassen12. Insbesondere hat er – aus fiskalischen Gründen – Einschrän-
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8 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BStBl. II 1990, 653; BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, 1 BvR 1335/78, 1 BvR 1104/79, 1 BvR 363/80, BVerfGE 61, 319 (343 f.) m. w. N. 9 BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (70); BVerfG v. 3.12.1958 – 1 BvR488/57, BVerfGE 9, 3 (9); 9, 237 (243). 10 BVerfG v. 9.12.2007 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210. 11 BT-Drucks. 7/1470, 211 f., wonach es als „das Prinzip der Steuergerechtigkeit“ bezeichnet worden ist, „jeden Bürger nach Maßgabe seiner finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit mit Steuern zu belasten“. 12 Exemplarisch BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210.
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kungen bei Betriebsausgaben und Werbungskosten umgesetzt und damit gegen das objektive Nettoprinzip verstoßen. Der Steuerbürger hat diese Verstöße bei seiner individuellen Beurteilung von Steuergerechtigkeit ganz unterschiedlich bewertet. Im Regelfall wird ein Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip in der Praxis als ungerecht wahrgenommen. Prominentestes Beispiel ist sicherlich die zwischenzeitlich gelöste Problematik zur Pendlerpauschale13: Hier wurde eine verfassungswidrige Regelung eingeführt, die in der Praxis als besonders ungerecht und unpraktikabel empfunden wurde. Ein weiteres aktuelles Beispiel bietet das nunmehr entschiedene Verfahren zur Frage, ob durch die im Steueränderungsgesetz 200714 erfolgte Änderung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 b Satz 2 EStG eine Regelung getroffen worden ist, die insoweit gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt, als der Abzug von Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer auch dann nicht mehr möglich ist, wenn für die betriebliche oder berufliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 6. Juli 2010 festgestellt, dass dieser Abzugsausschluss verfassungswidrig ist, und dem Gesetzgeber aufgegeben, rückwirkend zum 1. Januar 2007 den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen15. In diesen Fällen besteht eine starke Korrelation zwischen wissenschaftlicher Diskussion und praktischen Auswirkungen bzw. dem Rechtsempfinden der Steuerbürger. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen eine solche Korrelation nicht besteht, sei es weil sich die theoretischen Diskussionen in der Praxis nicht auswirken oder weil Rechtsprobleme wissenschaftlich geklärt scheinen, diese aber in der Praxis tatsächlich zu großen Problemen führen. Beispiele dafür sind die Abzugsfähigkeit der Gewerbesteuer und die Abzugsfähigkeit der privaten Steuerberatungskosten. 1. Abzugsfähigkeit der Gewerbesteuer Seit der Unternehmensteuerreform 2008 ist die Gewerbesteuer nicht mehr als Betriebsausgabe abzugsfähig16. Nach der Gesetzesbegründung soll dadurch auch die Verbesserung der Steuerbelastungstransparenz erreicht werden17. Vor der Änderung durch das Unternehmensteuerreformgesetz 2008 verminderte die Gewerbesteuer ihre eigene Bemessungsgrundlage ebenso wie die der Einkommen- und Körperschaftsteuer. Dadurch wurde dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit Rechnung getragen. Nach der neuen Rechtslage entfällt der Gewerbesteuerabzug bei allen drei genannten Steuerarten18. Es ist allerdings unzweifelhaft, dass es sich bei der Gewerbesteuer um eine betrieblich veranlasste Ausgabe handelt. Die Streichung wurde daher bereits im
__________ 13 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210. 14 Steueränderungsgesetz 2007 v. 19.7.2006, BGBl. I 2006, 1652. 15 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09. 16 § 4 Abs. 5 b i. V. m. § 8 Abs. 1 KStG und § 7 Satz 1 GewStG. 17 BT-Drucks. 16/4841, 47. 18 § 4 Abs. 5 b EStG i. V. m. § 8 Abs. 1 KStG und § 7 Satz 1 GewStG.
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Gesetzgebungsverfahren erheblich kritisiert. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist diese Streichung bedenklich, da eine ausreichende Rechtfertigung für die gegebene Einschränkung des objektiven Nettoprinzips nicht erkennbar ist und somit ein Verstoß gegen das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nahe liegt. Aus der Sicht der steuerlichen Beratungspraxis führen diese verfassungsrechtlichen Bedenken allerdings kaum zu Problemen und die Änderung stößt auch nicht auf Akzeptanzschwierigkeiten bei den betroffenen Steuerbürgern. Dies gilt in den Standardfällen sowohl für die Gewerbesteuer bei Kapitalgesellschaften, als auch für die Gewerbesteuerbelastung bei Personengesellschaften und Einzelunternehmen. Für Kapitalgesellschaften mag – abgesehen von den Branchen, die von den erweiterten Hinzurechnungen betroffen sind – für die prinzipielle Akzeptanz der Umstand mitverantwortlich sein, dass die Nichtabzugsfähigkeit der Gewerbesteuer mit einer Senkung des Körperschaftsteuersatzes und einer Absenkung der Gewerbesteuermesszahl verbunden war und so insgesamt eine spürbare Steuerentlastung gegeben war. Für den Bereich der Personengesellschaften und Einzelunternehmer kommt hinzu, dass gerade die Nichtabziehbarkeit der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe die Transparenz des Besteuerungssystems für den Bürger erhöht hat. Das Ziel, eine höhere Belastungstransparenz herzustellen, hat der Gesetzgeber damit erreicht; die Tatsache, dass unter alter Rechtslage die Gewerbesteuer als absetzbare Betriebsausgabe sowohl ihre eigene Bemessungsgrundlage als auch die Bemessungsgrundlage für die Einkommensteuer gemindert hat, haben die wenigsten Unternehmer durchschaut und die Entlastung auf der Einkommensteuerebene nicht als Entlastung begriffen. Unter der neuen Rechtslage ist ein direkter Vergleich zwischen der Aufwandsposition Gewerbesteuer in der GuVRechnung und der Entlastung bei der Einkommensteuerberechnung möglich. Die vollständige bzw. teilweise Entlastung bei der Einkommensteuer wird nachvollziehbar und führt deshalb in der täglichen Beratungspraxis kaum zu Problemen. 2. Private Steuerberatungskosten Zum 1. Januar 2006 ist der Sonderausgabenabzug für private Steuerberatungskosten aufgehoben worden19. Laut Gesetzesbegründung sollte dies zu einer Rechtsvereinfachung, einem Abbau von Ausnahmetatbeständen und einer Ver-
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19 Der Sonderausgabenabzug für Steuerberatungskosten wurde im Jahr 1965 eingeführt. Die bis zu diesem Zeitpunkt geltende Rechtslage sah einen Abzug von Steuerberatungskosten lediglich dann vor, wenn es sich um Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten handelte. Der Bundestags-Finanzausschuss der 4. Legislaturperiode hielt dies für unbefriedigend; Steuerpflichtige sollten in allen Fällen die Möglichkeit haben, die ihnen durch eine Steuerberatung entstandenen Kosten bei der Ermittlung des Einkommens abzuziehen (BT-Drucks. IV/3189, 6). Der Sonderausgabenabzug sei damit gerechtfertigt, dass wegen der Kompliziertheit und Unübersichtlichkeit des deutschen Steuerrechts diese unvermeidbaren Ausgaben steuermindernd berücksichtigt werden sollen, da der Steuerpflichtige sie zur Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten trägt (BFH v. 23.5.1989 – X R 6/85, BStBl. II 1989, 865).
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breiterung der Bemessungsgrundlage führen20. Steuerberatungskosten, die Betriebsausgaben oder Werbungskosten darstellen, sind weiterhin als solche abziehbar. Schon im Rahmen des entsprechenden Gesetzgebungsverfahrens ist die Streichung des Sonderausgabenabzugs stark kritisiert worden21. Der BFH hat allerdings im Frühjahr 2010 entschieden, dass der Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht verpflichtet ist, den Abzug von Steuerberatungskosten zuzulassen22. Nach Ansicht des BFH ist ein Abzug der Aufwendungen auch im Hinblick auf die Kompliziertheit des Steuerrechts verfassungsrechtlich nicht geboten. Zwar sieht das Gericht, dass die Einschaltung eines Steuerberaters einem ordnungsgemäßen Ablauf des Besteuerungsverfahrens zugute kommt, allerdings folge daraus nicht die verfassungsrechtliche Verpflichtung für den Gesetzgeber, den Abzug von Steuerberatungskosten zwingend als Sonderausgabe zuzulassen. Allerdings habe sich durch die Streichung der Abziehbarkeit die praktische Handhabung des Steuerrechts nicht vereinfacht23. So weist der BFH hinsichtlich der Abschaffung des Sonderausgabenabzugs und der diesbezüglichen Begründung darauf hin, dass „Im Hinblick auf die Rechtsvereinfachung (…) Zweifel angebracht sein“ dürften24. Die Beratungspraxis muss sich darauf einstellen, dass – sofern der Gesetzgeber nicht handelt25 – die bestehende Rechtslage verfassungsrechtlich standhält, obwohl namhafte Vertreter der Steuerrechtswissenschaft durchaus davon überzeugt sind, dass Steuerberatung verfassungsrechtlich notwendig ist26. In der Praxis ist die Streichung der Abziehbarkeit von privaten Steuerberatungskosten kaum nachvollziehbar und wird als ungerecht empfunden. Das zu diesem Komplex ergangene BMF-Schreiben hilft in vielen Fragen nicht weiter27. Der für den rechtskundigen Berater manchmal auch nicht eindeutige Unterschied zwischen Betriebsausgaben, Werbungskosten auf der einen Seite und Kosten der privaten Lebensführung auf der anderen Seite erschließt sich für den Mandaten und Steuerbürger nur schwer.
__________ 20 Entwurf eines Gesetzes zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm, BTDrucks. 16/105. 21 Vgl. Stellungnahme der Bundesteuerberaterkammer v. 7.12.2005 unter www. bstbk.de. 22 BFH v. 4.2.2010 – X R 10/08, BFH/NV 2010, 1012; Instanzenzug: Niedersächsisches FG v. 17.1.2008 – 10 K 103/07, EFG 2008, 622. 23 Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drucks. 16/105: „Die derzeitige Regelung in § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG, wonach Steuerberatungskosten als Sonderausgaben abziehbar sind, wird im Interesse der Rechtsvereinfachung, des Abbaus von Ausnahmetatbeständen und der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage aufgehoben“. 24 BFH v. 4.2.2010 – X R 10/08, BFH/NV 2010, 1012, Rz. 46. 25 Laut Koalitionsvertrag v. 26.10.2009 soll der steuerliche Abzug privater Steuerberatungskosten wieder eingeführt werden. 26 Tipke, BB 2009, 636. 27 BMF v. 21.12.2007 – IV B 2 – S-2144/07/0002, BStBl. I 2008, 256.
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Privat veranlasste Steuerberatungskosten betreffen oftmals komplexe, schwierige Bereiche des Einkommensteuergesetzes (bspw. Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen, Steuerermäßigung für haushaltsnahe Beschäftigungsverhältnisse, Kinderbetreuungskosten28). Die Kompliziertheit dieser Sachverhalte lässt sich überzeugend an den zu diesen Themengebieten ergangenen umfangreichen BMF-Schreiben ablesen. Hinzukommt, dass eine Trennlinie zwischen privatem und betrieblichem oder beruflichem Bereich nur schwer zu ziehen ist. Die Untrennbarkeit oder feine Verflechtung von „privaten Sachverhalten“ mit Vorgängen, die die Einkünfteerzielung betreffen, ist dem Einkommensteuerrecht, das natürliche Personen besteuert, immanent und kann an vielen Beispielen anschaulich verdeutlicht werden. So ist der Aufwand für erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten bei steuerpflichtigen Gewinn- und Überschusseinkünften im Rahmen der Gewinnermittlung wie Betriebsausgaben und bei der Überschussermittlung wie Werbungskosten zu ermitteln. Nur bei nicht erwerbstätigen Steuerpflichtigen sind die Kinderbetreuungskosten als Sonderausgaben absetzbar. Ein anderes Beispiel sind Beratungsleistungen im Zusammenhang mit der Erbschaft- oder Schenkungsteuer. Erfolgt eine Unternehmensbewertung beispielsweise zu Zwecken der Finanzierung für die kapitalgebende Bank, sind dafür entstehende Steuerberatungskosten eindeutig Betriebsausgaben. Eine Unternehmensbewertung für die Planung der vorweggenommenen Erbfolge soll dagegen privater Natur sein. Die gleichen Kosten sind einmal abzugsfähig, einmal nicht. Besonders interessant wird der Sachverhalt, wenn der Unternehmer eine Bewertung seines Unternehmens für die Besicherung von Verbindlichkeiten und parallel zur Planung der Erbfolge verwendet.
III. Rückwirkung – Planungssicherheit Die Grundsätze eines Rechtsstaates beinhalten nach Art. 20 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1 GG, dass die Norm, die eine Steuerpflicht begründet, nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt ist, so dass die Steuerlast messbar und berechenbar wird. Gesetze, die dem Bürger rückwirkend eine öffentlich-rechtliche Leistungspflicht gegenüber dem Staat auferlegen, sind in der Regel unzulässig. Nach der Rechtsprechung des BVerfG entfaltet eine Rechtsnorm dann Rückwirkung, wenn der Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereichs normativ auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm rechtlich existent, d. h., gültig geworden ist29. Bei der Rückwirkung werden zwei Varianten unterschieden30. Eine verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässige echte Rückwirkung (bzw. eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen) liegt vor, wenn das Gesetz Rechtsfolgen anordnet,
__________ 28 BMF v. 21.12.2007 – IV B 2 – S-2144/07/0002, BStBl. I 2008, 256. 29 BVerfG v. 22.3.1983 – 2 BvR 475/78, BVerfGE 63, 343 (353); BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 (241). 30 Vgl. aktuell: BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, unter www.bundesverfassungsgericht.de.
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die schon für eine vor dem Zeitpunkt der Verkündung der Norm liegende Zeit eintreten sollen, wenn also der von der Rückwirkung betroffene Tatbestand in der Vergangenheit (also vor Verkündung des Gesetzes) nicht nur begonnen hat, sondern bereits abgewickelt war. Diese Art der Rückwirkung ist für belastende Gesetze grundsätzlich unzulässig und nur in Ausnahmefällen zu rechtfertigen. Denn der Steuerpflichtige muss in einem Rechtsstaat grundsätzlich bis zum Zeitpunkt der Verkündung einer steuerlichen Regelung darauf vertrauen können, dass Einkünfte, die ihm bis dahin zugeflossen sind, nicht nachträglich einer schärferen steuerlichen Belastung unterworfen werden, als dies bis dahin der Fall war31. Die sog. unechte Rückwirkung (bzw. die tatbestandliche Rückanknüpfung) unterliegt weniger strengen Beschränkungen als die echte Rückwirkung und wird vom BVerfG in aller Regel für zulässig angesehen32. Sie betrifft nicht den zeitlichen, sondern den sachlichen Anwendungsbereich einer Norm. Die Rechtsfolgen treten bei der unechten Rückwirkung erst nach Verkündung des Gesetzes ein. Der Tatbestand des Gesetzes erfasst aber Sachverhalte, die bereits vor der Verkündung „ins Werk gesetzt worden sind“33. Wenn also eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich ändert, liegt eine unechte Rückwirkung vor34. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Rechtsfolgen von echter und unechter Rückwirkung muss zwischen beiden Rechtsinstituten genau abgegrenzt werden. Bei Veranlagungssteuern wird aufgrund der Jahresbezogenheit der Einkünfteermittlung nach herrschender Ansicht im Zweifelsfall für die Beurteilung, ob eine echte oder eine unechte Rückwirkung vorliegt, auf den Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld abgestellt35. Diese Möglichkeit der Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung bei Veranlagungssteuern ist im Schrifttum vielfach auf Kritik gestoßen. Auch nach neuerer Rechtsprechung des BFH wird die sog. Veranlagungszeitraum-Rechtsprechung dem berechtigten und durch Art. 20 Abs. 3 GG geschützten Vertrauen des Bürgers auf die Verlässlichkeit der Rechtsordnung nicht gerecht. Der BFH stellt insoweit den Dispositionsschutz in den Vordergrund36. Danach soll der Zeitpunkt entscheidend sein, in dem der Steuerpflichtige durch eine unter Inanspruchnahme des Grundrechts auf wirtschaftliche Betätigungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG getroffene Disposition sein Vertrauen auf die zu diesem Zeitpunkt bestehende Rechtslage bestätigt hat. Für die Praxis ist eine steuerliche Rückwirkung oftmals besonders ärgerlich, da neben der Forderung nach Steuergerechtigkeit die Planungssicherheit bei den allermeisten Beratungsgesprächen im Vordergrund steht. Der Steuerbürger
__________ 31 32 33 34 35 36
BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 (241). BVerfG v. 15.5.1995 – 2 BvL 19/91, 2 BvL 1206, 1584/81, 2601/93, BVerfGE 92, 277 ff. BVerfG v. 15.5.1995 – 2 BvL 19/91, 2 BvL 1206, 1584/81, 2601/93, BVerfGE 92, 277 ff. BVerfG v. 23.11.1999 – 1 BvF 1/94, BVerfGE 101, 239 (263). BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 (241). BFH v. 16.12.2003 – IX R 46/02, BStBl. II 2004, 284.
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wünscht sich bei der Beratung durch seinen Steuerberater exakte Aussagen darüber, welche Steuerwirkungen seine Entscheidungen im unternehmerischen und nichtunternehmerischen Bereich auslösen und mit welchen Steuerbelastungen er zu rechnen hat. Da in den letzten Jahren Steuergesetze aus den verschiedensten Gründen rückwirkend zu einer Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen geführt haben, wird der Steuerberater häufig mit der Frage konfrontiert, ob auf eine bestehende Rechtslage vertraut werden kann. Steuerliche Planung ist die rationale Grundlage jeglichen unternehmerischen Handelns. Solange es keine Beständigkeit gibt und der Steuerpflichtige mit rückwirkenden Änderungen rechnen muss, erfolgt Steuerberatung vor dem Hintergrund von Rechtsunsicherheit. Diese Unsicherheit führt im konkreten Fall zu einem Risiko, ein Risiko, das durch die steuerliche Beratung eigentlich eliminiert oder zumindest minimiert werden sollte. Im Bereich der Rückwirkung fehlt die Korrelation im Hinblick auf Fragen zur Verfassungsmäßigkeit bestimmter Regelungen oftmals. Einvernehmen besteht auffälligerweise oftmals nur dann, wenn die steuerberatenden Berufe frühzeitig auf die Problematik hinweisen und sie so entschärfen. Zwei Beispiele sollen diese Problematik verdeutlichen: Von rückwirkenden Gesetzesänderungen betroffen waren in jüngster Vergangenheit Verluste im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen und Organschaften mit einer Personengesellschaft als Organträger. 1. Verluste im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen Durch das Gesetz zur Beschränkung der Verlustverrechnung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen sind Verrechnungsmöglichkeiten für Verluste aus Steuerstundungsmodellen nach § 15b EStG beschränkt worden. Die Verlustabzugsbeschränkung ist derart ausgestaltet worden, dass die Verluste aus den Steuerstundungsmodellen nicht sofort abzugsfähig, sondern nur mit späteren positiven Einkünften aus derselben Einkunftsquelle verrechenbar sind. Betroffen von der Neuregelung sind alle Modelle, denen der Steuerpflichtige nach dem 10. November 2005 beigetreten ist oder für die nach dem 10. November 2005 mit dem Außenvertrieb begonnen wurde. Das Gesetzesverfahren sah folgendermaßen aus: Der ursprünglich für den 10. November 2005 vorgesehene Kabinettsbeschluss scheiterte und wurde am 24. November 2005 nachgeholt37. Verabschiedet wurde das Gesetz vom Deutschen Bundestag mit Beschluss vom 15. Dezember 2005. In Kraft getreten ist es grundsätzlich zum 31. Dezember 2005. Die Regelung gewährt keinerlei Vertrauensschutz, da sich der Steuerpflichtige theoretisch schon vor dem eigentlichen Kabinettsbeschluss auf die Regelung hätte einstellen können. Hier liegt ein Fall der unechten Rückwirkung vor, da die Regelung mit der Rückanknüpfung an den 11. November 2005 in einen noch nicht abgeschlossenen Veranlagungszeitraum eingreift. Diese Form der Rückwirkung ist grund-
__________ 37 Hallerbach in Herrmann/Heuer/Raupach, § 15b EStG Rz. 2.
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sätzlich zulässig. Ausnahmen bestehen nur dann, wenn der Einzelne ausnahmsweise auf den Fortbestand der Regelungen vertrauen konnte. In diesem konkreten Fall schließt die herrschende Meinung ein schützenswertes Vertrauen aus, da es bereits im Mai 2005 einen entsprechenden Gesetzentwurf gab, zu dessen Verabschiedung es allerdings aufgrund der Neuwahlen 2005 nicht gekommen ist. Ebenfalls soll die Ankündigung des Kabinettsbeschlusses zum 11. November 2005 dazu beigetragen haben, dass sich der Steuerpflichtige rechtzeitig auf die Neuregelung hätte einstellen können38. Rückwirkende Regelungen sind in der Praxis selten nachvollziehbar. Warum eine Regelung anwendbar sein soll, obwohl sie noch nicht verabschiedet worden ist, ist Mandanten schwer zu erklären. Die Einführung des § 15b EStG bietet aber ein anschauliches Beispiel dafür, dass die rückwirkende Neuregelung auch in der Praxis ausnahmsweise kaum Probleme bereitet hat. Der Zeitraum des Gesetzgebungsprozesses war eine Phase extremer Planungsunsicherheit, hat aber dazu geführt, dass die steuerberatenden Berufe die Problematik frühzeitig aufgefangen haben. Die Beratungspraxis hat die drohende Entwicklung rechtzeitig erkannt, und darauf reagiert, indem entsprechende Modelle entweder vom Markt genommen, rückabgewickelt oder gemäß der neuen Rechtslage verkauft wurden. 2. Organschaften mit einer Personengesellschaft als Organträger Anders war dies im Falle von Organschaften mit einer Personengesellschaft als Organträger. Hier war die Rückwirkung vor allen Dingen deshalb problematisch, weil sie einen Dauersachverhalt betraf. Mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz wurden die Voraussetzungen für die steuerliche Anerkennung einer Organschaft mit einer Personengesellschaft als Organträger geändert39. Seit dem Veranlagungszeitraum 2003 muss die finanzielle Eingliederung gem. § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 3 KStG im Verhältnis zu der Personengesellschaft selbst bestehen. Anders als vorher reicht eine Beteiligung über das Sonderbetriebsvermögen eines Gesellschafters des Organträgers nicht mehr aus; die Anteile an der Organgesellschaft müssen sich nun vielmehr im Gesamthandsvermögen befinden. Eine Übergangsregelung für sog. Altverträge hat das Steuervergünstigungsabbaugesetz nicht vorgesehen. Das Steuervergünstigungsabbaugesetz vom 16. Mai 2003 trat rückwirkend zum 1. Januar 2003 in Kraft; dies galt auch für die Änderung des § 14 KStG. Insoweit wird vertreten, dass nur eine unechte Rückwirkung vorliegt, weil der Steueranspruch bei den periodischen Steuern vom Einkommen endgültig erst mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums entsteht. Die Finanzverwaltung bestätigt dies und geht davon aus, dass die Regelung des § 14 Abs. 1 KStG n. F. keine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung
__________ 38 Hallerbach in Herrmann/Heuer/Raupach, § 15b EStG Rz. 9. 39 BGBl. I 2003, 660; BStBl. I 2003, 321.
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darstellt. Über die in dem BMF-Schreiben vom 10. November 200540 enthaltene Übergangsregelung hinaus, die es erlaubt hätte, „während des Jahres 2003 noch nicht erfolgte Anpassungen nachzuholen“, seien keine weiteren Billigkeitsmaßnahmen geboten41. Für die Praxis stellt sich die Problematik allerdings anders dar: Tatsächlich greift die Änderung in bestehende Organschaftsverhältnisse ein, die vor dem Steuervergünstigungsabbaugesetz steuerlich wirksam begründet worden sind. Befand sich die Mehrheitsbeteiligung zuvor nicht im Gesamthandsvermögen, war ab dem Veranlagungszeitraum 2003 die finanzielle Eingliederung zum Organträger nicht mehr gegeben. Da sie gem. § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 KStG von Beginn des Wirtschaftsjahres der Organgesellschaft ununterbrochen vorliegen musste, trat zwangsläufig die Beendigung der Organschaft im Veranlagungszeitraum 2002, und zwar zum 31. Dezember 2002, ein. Selbst wenn eine Personengesellschaft noch vor der Verabschiedung des Gesetzes im Hinblick auf den Regierungsentwurf Anteile in das Gesamthandsvermögen der Gesellschaft übertragen hätte, wäre eine „Rettung“ des Organschaftsvertrages nur möglich gewesen, wenn die Anteile bei kalendergleichem Wirtschaftsjahr der Organgesellschaft spätestens zum 31. Dezember 2002 auf die Gesamthand übergegangen wären. Da der für eine Organschaft ebenfalls erforderliche Gewinnabführungsvertrag mindestens über fünf Jahre abgeschlossen werden muss, binden sich die Vertragspartner rechtlich für diesen Zeitraum. Diese Entscheidung kann nicht rückgängig gemacht werden. Somit kann selbst einer 1999 steuerlich wirksam begründeten Organschaft aufgrund der gesetzlichen Regelungen durch das Steuervergünstigungsabbaugesetz im Mai 2003 aufgrund fehlender finanzieller Eingliederung noch rückwirkend zum 31. Dezember 2002 der Boden entzogen werden. Da der Gewinnabführungsvertrag zu diesem Zeitpunkt aber noch keine fünf Jahre durchgeführt worden ist, gilt er als steuerrechtlich unwirksam, so dass die Organschaft rückwirkend bis 1999 nicht anerkannt wird. Zwar hat die Finanzverwaltung wie oben erläutert mit Schreiben vom 10. November 2005 – und somit ebenfalls rückwirkend – bestimmt, dass Organschaftsverhältnisse in den entsprechenden Fällen weiterhin anerkannt werden, wenn die Anteile an die Organgesellschaft noch bis zum 31. Dezember 2003 in das Gesamthandsvermögen der Personengesellschaft eingebracht wurden. Kein betroffenes Unternehmen konnte dies im Jahr 2003 aber schon wissen. Dieses Beispiel zeigt, dass rückwirkende Regelungen oftmals vom Steuerbürger als Verstoß gegen das Besteuerungsprinzip der Planungssicherheit wahrgenommen werden. Eine Korrelation zwischen wissenschaftlicher Debatte, die oftmals zum Ergebnis einer zulässigen, verfassungskonformen unechten Rückwirkung kommt, und dem Rechtsempfinden ist in diesen Fällen in der Regel nicht zu finden.
__________ 40 BMF v. 10.11.2005 – IV B 7 – S-2770 – 24/05, BStBl. I 2005, 1038. 41 Vgl. BayLfSt v. 13.12.2006 und v. 25.1.2007, n. v., vgl. StMF v. 10.9.2007, 19.11.2007, 4.3.2008 und 9.12.2008, n. v., BMF v. 16.6.2009, n. v.
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Verfassungsrechtliche Prinzipien im Steuerrecht
IV. Bestimmtheitsgebot – Praktikabilität Praktikabel ist nur, was bestimmt, klar und transparent ist. In der wissenschaftlichen Debatte wird dem Bestimmtheitsgebot eine hohe Relevanz beigemessen. Spindler sieht in der Gesetzmäßigkeit, dem Bestimmtheitsgebot, dem Vertrauensschutz und dem Übermaßverbot die tragenden Säulen rechtsstaatlichen Handelns42. Das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4 GG) folgende Bestimmtheitsgebot soll sicherstellen, dass die gesetzesausführende Verwaltung für ihr Verhalten steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfindet und, dass die Gerichte die Rechtskontrolle durchführen können; ferner erlauben die Bestimmtheit und Klarheit der Norm, dass der betroffene Bürger sich auf mögliche belastende Maßnahmen einstellen kann43. Der Betroffene muss die Rechtslage anhand der gesetzlichen Regelung so erkennen können, dass er sein Verhalten danach auszurichten vermag. Die Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit der Norm dienen insbesondere auch dazu, die Verwaltung zu binden und ihr Verhalten nach Inhalt, Zweck und Ausmaß zu begrenzen44. Dies setzt voraus, dass hinreichend klare Maßstäbe bereitgestellt werden. Dem Gesetz kommt im Hinblick auf den Handlungsspielraum der Exekutive eine begrenzende Funktion zu, die rechtmäßiges Handeln des Staates sichern und dadurch auch die Freiheit der Bürger schützen soll45. Darüber hinaus sollen die Normenbestimmtheit und die Normenklarheit die Gerichte in die Lage versetzen, die Verwaltung anhand rechtlicher Maßstäbe zu kontrollieren; damit dienen sie zugleich demokratischen Prinzipien46. Für den Bereich des Steuerrechts müssen nach der Rechtsprechung des BVerfG die steuerbegründenden Tatbestände so bestimmt sein, dass der Steuerpflichtige die auf ihn entfallende Steuerlast vorausberechnen kann47. Es reicht nicht aus, dass sich die Rechtsfolgen einer Norm allenfalls Experten erschließen. In jüngster Vergangenheit sind zunehmend mehr Steuergesetze im Hinblick auf das Gebot der Normenklarheit und des Bestimmtheitsgebots in die Kritik geraten. Der Vorlagebeschluss zum Grundsatz der Normenklarheit der sog. Mindestbesteuerung des BFH-Urteils ist insoweit ein Beispiel48. Sprachlich unverständliche, widersprüchliche, irreführende und unsystematisch aufgebaute
__________ 42 Spindler, Stbg 2010, 49. 43 BVerfG v. 13.6.2007 – 1 BvR 1550/03, 1 BvR 2357/04, 1 BvR 603/05, BVerfGE 118, 168; BVerfG v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33 (52 ff.); BVerfG v. 27.7.2005 – 1 BvR 668/04, BVerfGE 113, 348 (375 ff.). 44 BVerfG v. 8.1.1981 – 2 BvL 3, 9/77 BVerfGE 56, 1 (12); BVerfG v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33 (52 ff.). 45 BVerfG v. 27.7.2005 – 1 BvR 668/04, BVerfGE 113, 348 (376). 46 BVerfG v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33 (54 ff.); BVerfG v. 27.7.2005 (Fn. 41), (376 f.). 47 Z. B. BVerfG v. 23.10.1986 – 2 BvL 7, 8/84, BVerfGE 73, 388 (400); BVerfG v. 12.10.1978 – 2 BvR 154/74, BVerfGE 49, 343 (362), jeweils m. w. N. 48 BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 167; Vorlagebeschluss an das BVerfG 2 BvL 59/06.
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Steuergesetze führen zu Fehleranfälligkeit und sind streitanfällig49. Die grundsätzliche Zulässigkeit unbestimmter Gesetzesbegriffe entbindet den Gesetzgeber jedoch nicht davon, Regelungen so zu fassen, dass sie verständlich, also insbesondere ohne innere Widersprüche, damit nicht fehleranfällig und redaktionell genau sind50. Eine Norm muss den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normenklarheit und Justitiabilität entsprechen. „Die Auslegung von Steuergesetzen darf nicht zur Denksportaufgabe werden“51 so auch Spindler bei einem Besuch des Niedersächsischen Finanzgerichts im Oktober 2007. Dem kann auch aus Sicht der Praxis nur zugestimmt werden. Gesetze müssen klar und transparent formuliert sein. Dies war leider in der Vergangenheit häufig nicht der Fall. Jüngstes aktuelles Beispiel ist § 34a EStG, die sog. Thesaurierungsbegünstigung: § 34a EStG ist durch Art. 1 des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 vom 14. August 200752 eingefügt worden und regelt, dass Personengesellschafter Gewinne, die im Unternehmen verbleiben, zu einem geringen Satz versteuern können. Anstatt bis zu 45 % sind dann im Jahr der Gewinnentstehung nur 28,25 % Einkommensteuer fällig. Analog zu Kapitalgesellschaften ist – vereinfacht gesagt – bei späterer Entnahme eine Nachversteuerung vorzunehmen. Abgesehen von vielen Detailfragen und Abgrenzungsproblemen, die ein umfangreiches BMF-Schreiben nur teilweise befriedigend beantworten konnte, kommt im Zusammenhang mit dieser Vorschrift ein neuer, technischer Aspekt hinzu, der ernstliche Zweifel am verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot aufkommen lässt. Es hat sich herausgestellt, dass die Finanzverwaltung bis in das 2. Quartal 2010 nicht in der Lage war, die Thesaurierungsbegünstigung entsprechend technisch umzusetzen und die Steuerlast für den einzelnen Steuerpflichtigen zu berechnen. Die Medien griffen diesen Fall auf: Die FAZ berichtete schon im vergangenen Jahr53 von technischen Umsetzungsschwierigkeiten bei der Verarbeitung der Thesaurierungsbegünstigung. In Niedersachsen forderte beispielsweise ein Finanzamt Steuerpflichtige auf, Einspruch gegen die eigenen Bescheide einzulegen und ihre Steuerlast selbst auszurechnen. Auch in Nordrhein-Westfalen zeigte sich die Finanzverwaltung überfordert. Teilweise werden dort Erklärungen einfach liegengelassen. Die Unternehmensteuerreform ist vor über zwei Jahren in Kraft getreten. Und dennoch haben es die EDV-Experten der Finanzverwaltung nicht geschafft, die Software anzupassen. Die Konsequenz ist bemerkenswert: Die Finanzverwaltung forderte die Steuerpflichtigen nicht nur auf, gegen den eigenen Bescheid rechtlich vorzugehen, sondern ist gezwungen,
__________ 49 BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 167. 50 BVerfG v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33 (52 ff.); BVerfG v. 7.7.1971 – 1 BvR 775/66, BVerfGE 31, 255 (264). 51 PM FG Niedersachsen v. 19.11.2001. 52 BGBl. I 2008, 1912. 53 Ausgabe v. 30.11.2009: „Das deutsche Steuerrecht überfordert Finanzämter“.
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auch die Berechnung der Steuerlast auf die Steuerpflichtigen und damit in erster Linie auf den steuerlichen Berater zu übertragen. Da von dieser Problematik nur wenige Fälle tangiert sind und es sich bei den Betroffenen in der Regel um beratene Steuerbürger handelt, kommt die mangelnde Praktikabilität dieser Vorschrift in der breiten Öffentlichkeit nicht an. Mangelnde Praktikabilität ist jedoch ein Indiz für eine mögliche Kollision mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot.
V. Fazit Grundlage jeder Gesetzgebung müssen verfassungsrechtliche Prinzipien sein. Die Beachtung verfassungsrechtlicher Grundprinzipien ist nicht nur rechtsstaatlich geboten, sondern erhöht die Akzeptanz für ein bestehendes Steuerrecht. Von entscheidender Bedeutung für die Akzeptanz eines Gesetzes durch die Steuerpflichtigen sind die Auswirkungen der konkreten Regelungen in der Praxis. Hier müssen Steuergerechtigkeit, Planungssicherheit und Praktikabilität gleichberechtigt neben den verfassungsrechtlichen Grundwerten stehen. Diese Kriterien sind neben der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht unabdingbar. Der Steuerbürger misst das Steuerrecht an diesen, für die Praxis unverzichtbaren Merkmalen. Steuergerechtigkeit, Planungssicherheit und Praktikabilität sind für den Praktiker und den Steuerbürger unmittelbar Ausfluss einer verfassungsrechtlich konformen, einer an verfassungsrechtlichen Prinzipien orientierten Steuergesetzgebung und müssen auch in dieser Gestaltung beim Rechtsanwender ankommen. In der Mehrheit der Fälle besteht eine überzeugende Korrelation zwischen verfassungsrechtlich bedenklichen Regelungen und dem diesbezüglichen Rechtsempfinden in der Praxis. Dies zeigt deutlich, dass im Grundgesetz die Werteordnung der Gesellschaft treffsicher umgesetzt worden ist. Gibt es eine verfassungsrechtliche Diskussion zu einer konkreten Vorschrift empfindet der Steuerbürger die entsprechende Auswirkung in der Praxis oftmals als ungerecht und unpraktikabel. Oft empfindet er auch seine Investitionsentscheidung als unplanbar, sofern die steuerliche Auswirkung in diese Planung einbezogen werden soll. Eine Schlussfolgerung daraus ist ein Vorschlag, der auch von der BStBK regelmäßig vorgetragen wird, um dem Rechtsempfinden der Steuerbürger Rechnung zu tragen. Es wäre wünschenswert, dass die praktischen Auswirkungen konkreter Regelungen Berücksichtigung finden. Daher fordert die BStBK54 die Einführung eines verbindlichen Gesetzescontrollings. Damit könnte erreicht werden, dass steuerliche Vorschriften, die sich in der Praxis nicht bewährt und/oder die fiskalischen Ziele nicht erreicht haben, angepasst oder auch wie-
__________ 54 Bundessteuerberaterkammer (Fn. 1).
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der abgeschafft werden. Der Berufsstand fordert die Einsetzung eines Gremiums, vergleichbar mit dem Normenkontrollrat, in dem alle betroffenen Beteiligten (Finanzverwaltung, Gerichte, Steuerberater usw.) vertreten sind. Dieses Gremium sollte verabschiedete Steuergesetze in regelmäßigen Abständen auf Steuergerechtigkeit, Planungssicherheit, Praktikabilität aber auch Administrierbarkeit für die Rechtsanwender überprüfen. Dabei sollte der Mut vorhanden sein, Regelungen, die sich in der Praxis nicht bewährt haben, auch wieder abzuschaffen. Die Einsetzung eines solchen Gremiums würde dem Steuerbürger vermitteln, dass auch sein Rechtsempfinden eine entsprechende Würdigung erfährt und würde sicherlich für insgesamt mehr Akzeptanz im Steuerrecht sorgen.
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Finanzrichterlicher Rechtsschutz in Verfassungsfragen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Vorläufiger Rechtsschutz bei verfassungsrechtlich zweifelhaften Steuergesetzen 1. Rechtsprechungsentwicklung 2. Kritik
III. Verfassungsrechtlicher Drittschutz 1. Abgrenzung von einer unzulässigen Popularklage 2. Referenzbeispiel: Rechtsprechung zur Steuerfreiheit der Kostenpauschale für Abgeordnete IV. Schlussbemerkung
I. Einleitung Wolfgang Spindler ist ein Präsident, dessen Anliegen sich nicht auf die organisatorische Funktionsfähigkeit des von ihm geleiteten Bundesfinanzhofs beschränkt. Vielmehr misst der Jubilar den verfassungsrechtlichen Maßstäben für das Steuerrecht einen hohen Stellenwert bei. Demgemäß hat er sich in zahlreichen Beiträgen zu Verfassungsfragen und zur verfassungsrechtlichen Judikatur geäußert1. Sein Einsatz gilt besonders der Wahrung des Vertrauensschutzes, indem er sich mit kritischem Blick gegen rückwirkend belastende Steuergesetze wendet2. Schon früh erkannte Wolfgang Spindler die Bedeutung des vorläufigen finanzgerichtlichen Rechtsschutzes für die Grundrechtsverwirklichung (dazu unten II.)3. Nicht ganz ohne eine gewisse Genugtuung bilanziert er zwanzig Jahre später den Zuwachs an Normenkontrollvorlagen im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG, die der BFH unter dem Eindruck einer erhöhten verfassungsrechtlichen Kontrolldichte in der jüngeren Vergangenheit an das BVerfG gerichtet hat4. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass Bundesfinanzhof und Bundesverfassungsgericht in den letzten zehn Jahren auf eine gelungene Weise zusammengearbeitet hätten5. Gleichzeitig warnt er aber davor, das „Schwert der Verfassungswidrigkeit“ nicht allzu leichtfertig zu zücken. Nicht
__________
1 Pars pro toto Spindler, Rückwirkung von Steuergesetzen, in Pezzer (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht, DStJG 27 (2004), S. 69 ff.; ders., Verfassungsrechtliche Vorgaben für ein berechenbares Steuerrecht, in Ballwieser/Grewe (Hrsg.), Die Wirtschaftsprüfung im Wandel, 2008, S. 475 ff.; ders., Steuerrecht und Verfassungsrecht – eine Bestandsaufnahme, in FS Spiegelberger, 2009, S. 471 ff.; ders., Der Bundesfinanzhof und das Bundesverfassungsgericht im Zusammenwirken für ein verfassungskonformes Steuerrecht, in FS Schaumburg, 2009, S. 169 ff. 2 Überzeugend Spindler in DStJG (Fn. 1), S. 69 (85 ff.). 3 Spindler, Vorläufiger finanzgerichtlicher Rechtsschutz bei behaupteter Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen, DB 1989, 596 ff. 4 Spindler in FS Schaumburg (Fn. 1), S. 169 (171 ff.). 5 Spindler in FS Schaumburg (Fn. 1), S. 169 (181).
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jede rechtspolitische unerwünschte Regelung sei sogleich verfassungsrechtlich bedenklich oder gar verfassungsrechtlich unzulässig6. Hierin kommt die Sorge des erfahrenen Richters zum Ausdruck, dass ein „Überdrehen der verfassungsrechtlichen Daumenschraube“ der Sache eher schaden, zu Gegenreaktionen Anlass bieten und die vor dem BVerfG in den letzten beiden Jahrzehnten erreichten Standards wieder gefährden könnte. Dieser positiven Beurteilung der jüngeren finanzrichterlichen Judikatur – von der ich die Finanzgerichte ausdrücklich nicht ausnehmen möchte – kann in der Gesamtschau zugestimmt werden. Jedoch ist der Kampf um die Etablierung verfassungsrechtlicher Maßstäbe auf dem gern von Steuertechnikern dominierten Gebiet des Steuerrechts noch nicht gewonnen und muss täglich neu geführt werden. Dies möchte ich anhand der folgenden aktuellen Beispiele zu Ehren des Jubilars aufzeigen.
II. Vorläufiger Rechtsschutz bei verfassungsrechtlich zweifelhaften Steuergesetzen 1. Rechtsprechungsentwicklung Das Gebot wirksamen (effektiven) Rechtsschutzes erfordert nach Art. 19 Abs. 4 GG die Möglichkeit vorläufigen Rechtsschutzes7. Art. 19 Abs. 4 GG soll irreparable Entscheidungen ausschließen und soweit wie möglich unumkehrbare Verhältnisse verhindern, die auch dann nicht mehr rückgängig gemacht werden können, wenn sie sich bei späterer richterlicher Überprüfung als rechtswidrig erweisen8. Auf einfachgesetzlicher Ebene stellt § 69 FGO dazu das Instrument der Aussetzung der Vollziehung zur Verfügung. Nach § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO soll auf Antrag die Vollziehung des angefochtenen Steuerverwaltungsakts ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen. Derartige ernstliche Zweifel können sich auch und gerade aus der Verfassungswidrigkeit der im konkreten Fall einschlägigen Rechtsnorm ergeben9. Trotz ernsthafter verfassungsrechtlicher Bedenken an einer der Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Rechtsnorm hat der BFH die Aussetzung jedoch nicht selten mit dem Hinweis abgelehnt, dass schwerwiegende öffentliche Interessen das Aussetzungsinteresse überwögen. Als Beispiel für ein derart schwerwiegendes Interesse nannte der BFH das „Interesse an einer geordneten öffentlichen Haushaltsführung“10.
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6 Spindler in FS Schaumburg (Fn. 1), S. 169 (171). 7 Ständige Rspr. des BVerfG seit BVerfG v. 19.6.1973 – 1 BvL 39/69 u. a., BVerfGE 35, 263 (274); für den Bereich des Steuerrechts zuletzt BVerfG v. 22.9.2009 – 1 BvR 1305/09, DStR 2009, 2146 (2147). 8 Kirchhof, Rechtsstaatliche Anforderungen an den Rechtsschutz in Steuersachen, in Trzaskalik (Hrsg.), Der Rechtsschutz in Steuersachen, in DStJG 18 (1995), S. 17 (37). 9 BVerfG v. 21.2.1961 – 1 BvR 314/60, BVerfGE 12, 180 (186); BVerfG v. 24.6.1992 – 1 BvR 1028/91, BVerfGE 86, 382 (389). 10 Siehe BFH v. 6.11.1987 – III B 101/86, BStBl. II 1988, 134 (136 f.); BFH v. 20.7.1990 – III B 144/89, BStBl. II 1991, 104 (105 f.); BFH v. 9.10.1991 – III B 51/91 u. a., BStBl. II 1992, 91 (92).
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Der BFH hat diese „Haushaltsinteressen-Rechtsprechung“ zwar nie ausdrücklich aufgegeben, in jüngerer Zeit aber doch erheblich relativiert. Den Anfang machte der von Wolfgang Spindler geführte IX. Senat in seinem Beschluss vom 5.3.200111. Dort ließ es das Gericht dahingestellt, ob überhaupt am Erfordernis eines (besonderen) berechtigten Interesses des Betroffenen an der Aussetzung der Vollziehung festzuhalten ist12. Jedenfalls bedarf es nach Ansicht des Gerichts keiner über die ernstlichen verfassungsrechtlichen Zweifel hinausgehenden besonderen Begründung des Aussetzungsinteresses mehr, wenn sich die öffentlichen Haushaltsinteressen im bloßen fiskalischen Vollzugsinteresse erschöpfen. Vielmehr reichen die ernstlichen verfassungsrechtlichen Zweifel an der die Steuerfestsetzung begründenden Norm aus, um zu der vorläufigen Rechtsschutz gewährenden Aussetzung zu gelangen13. In diesem Sinne hat der VI. Senat wenig später den Individualrechtsschutz selbst in Fällen gewichtet, die eine ganz erhebliche (auch fiskalische) Breitenwirkung besitzen (Bemessung der Entfernungspauschale, Abzug von Kosten für ein häusliches Arbeitszimmer)14. Das Gericht hob hervor, dass ansonsten ein Haushaltsvorbehalt jeden legislativen Verfassungsverstoß mit genügender finanzieller Breitenwirkung legitimieren könnte, so dass der Individualrechtsschutz entgegen Art. 19 Abs. 4 GG auf der Strecke bleiben würde15. Andere Senate betonen zwar nach wie vor das Abwägungsbedürfnis zwischen dem Individualrechtsschutz und dem öffentlichen Interesse am Gesetzesvollzug, geben aber im jeweils entschiedenen Einzelfall dem Individualrechtsschutzinteresse den Vorrang16. Dagegen stellt der II. Senat im Zusammenhang mit der Diskussion um die Verfassungswidrigkeit der Erbschaft- und Schenkungsteuer nach wie vor die Vorrangigkeit des öffentlichen Haushaltsinteresses heraus. In seinem Beschluss vom 17.7.2003 will das Gericht die Aussetzung der Vollziehung eines Erbschaftsteuerbescheides davon abhängig machen, ob in dem in der Hauptsache von demselben Senat initiierten Normenkontrollverfahren (Art. 100 Abs. 1 GG) mit einer Nichtigkeits- oder einer rückwirkenden Unvereinbarkeitsfeststellung oder mit einer nur (pro futuro) in die Zukunft wirkenden Unvereinbarkeitsfeststellung zu rechnen ist17. Der Senat dürfe keine weitergehende Entscheidung treffen, als vom BVerfG zu erwarten sei. Die Erfordernisse einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung ließen es als nahezu ausgeschlossen er-
__________ 11 BFH v. 5.3.2001 – IX B 90/00, BStBl. II 2001, 405 (407). 12 Dies hatte bereits Spindler, DB 1989, 596 ff. (597), in Zweifel gezogen. 13 Diese Rechtsprechungslinie setzte der IX. Senat in weiteren Entscheidungen fort: BFH v. 11.6.2003 – IX B 16/03, BStBl. II 2003, 663 (664 f.); BFH v. 22.12.2003 – IX B 177/02, BStBl. II 2004, 367 (368 f.); BFH v. 30.11.2004 – IX B 120/04, BStBl. II 2005, 287 (288). 14 BFH v. 23.8.2007 – VI B 42/07, BStBl. II 2007, 799 (801); BFH v. 25.8.2009 – VI B 69/09, BStBl. II 2009, 826 (828). 15 So mit ausdrücklicher Bezugnahme auf die Argumente von Seer, Defizite im finanzgerichtlichen Rechtsschutz, StuW 2001, 3 (17 f.). 16 I. Senat: BFH v. 3.2.2005 – I B 208/04, BStBl. II 2005, 351 (353 f.); BFH v. 19.5.2010 – I B 191/09, DStR 2010, 1223 (1228); IV. Senat: BFH v. 11.6.2003 – IV B 47/03, BStBl. II 2003, 661 (662 f.); VII. Senat: BFH v. 21.10.2003 – VII B 85/03, BStBl. II 2004, 36 (38). 17 BFH v. 17.7.2003 – II B 20/03, BStBl. II 2003, 807 (808 f.).
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scheinen, dass das BVerfG das Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz auf die Vorlage des Senats hin für nichtig oder rückwirkend unvereinbar erklären würde18. Diese Zurückhaltung ist besonders bemerkenswert, weil derselbe Senat nicht nur ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des seinerzeit geltenden Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes besaß, sondern von dessen Verfassungswidrigkeit sogar gänzlich überzeugt war19. Auf seiner Linie bleibt der II. Senat nun auch gegenüber einem Schenkungsteuerbescheid, der auf der Basis des wiederum als ernstlich verfassungsrechtlich zweifelhaft einzustufenden Erbschaftsteuerreformgesetzes vom 24.12.200820 ergangen ist21. Dem bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des BVerfG bestehenden Geltungsanspruch jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes sei jedenfalls dann der Vorrang einzuräumen, wenn die Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheides im Ergebnis zur vorläufigen Nichtanwendung eines ganzen Gesetzes führte, die Bedeutung und Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheids im Einzelfall eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen als eher gering einzustufen seien und der Eingriff keine dauerhaft nachteiligen Wirkungen habe. 2. Kritik Die Rechtsprechung des II. Senats birgt die Gefahr der Vereitelung verfassungsrechtlichen Individualrechtsschutzes und leistet Vorschub, dass der Steuerpflichtige „vor vollendete Tatsachen“ gestellt wird. Der Hinweis auf den „Geltungsanspruch jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes“ vermag ebenso wenig wie das Verwerfungsmonopol des BVerfG (Art. 100 Abs. 1 GG) den vorläufigen Individualrechtsschutz zu verkürzen22. Das Aussetzungsverfahren ist ein Nebenverfahren und setzt voraus, dass der Antragsteller zugleich ein Hauptsacheverfahren betreibt, welches die verfassungsrechtliche Frage zum Gegenstand hat. Nur in dem Hauptsacheverfahren stellt sich die Frage des Verwerfungsmonopols. Das Aussetzungsverfahren betrifft lediglich (interimistisch) die Vollzugsfolgen der verfassungsrechtlich zweifelhaften Norm, ohne der Norm als solcher ihren Bestand zu nehmen. Ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit wiegen sicher nicht leichter als ernstliche Zweifel an der Vereinbarkeit des Verwaltungsakts mit dem einfachen Recht; ansonsten würde die Normenhierarchie unzulässigerweise umgekehrt. Daraus abgeleitet muss es vielmehr heißen: Nicht nur ernstliche
__________ 18 So dann später auch geschehen durch BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1. 19 Siehe Vorlagebeschluss v. 22.5.2002 – II R 61/99, BStBl. II 2002, 598 (599 ff.). 20 BGBl. I 3018; dazu ausf. Seer, Die Erbschaft- und Schenkungsteuer im System der Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit – Zugleich eine kritische Würdigung des Erbschaftsteuerreformgesetzes v. 24.12.2008, GmbHR 2009, 225 ff. 21 BFH v. 1.4.2010 – II B 168/09, DStR 2010, 749 (750). 22 Siehe bereits Spindler, DB 1989, 596 (598); Seer, StuW 2001, 3 (17); jüngst auch Schallmoser, Aussetzung der Vollziehung von Steuerbescheiden bei ernstlichen verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Gültigkeit einer entscheidungserheblichen Rechtsnorm, DStR 2010, 297 (298), (ebenfalls BFH-Richter im IX. Senat).
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Zweifel an der (einfachen) Rechtmäßigkeit, sondern erst recht ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Bescheides zwingen zu dessen Aussetzung. Die Spekulation des II. Senats über die Art des zu erwartenden Rechtsfolgenausspruchs des BVerfG (Nichtigkeitsfeststellung oder ex nunc-Unvereinbarkeitserklärung?) verkürzt dagegen den Grundrechtsschutz des Antragstellers: Nimmt das Gericht an, dass das BVerfG – wie in der Vergangenheit häufig geschehen23 – den Gesetzgeber mit Rücksicht auf die haushalterischen Folgen voraussichtlich nur pro futuro zur Reform des als verfassungswidrig erkannten Steuergesetzes verpflichten wird, verweigert es die Aussetzung der Vollziehung. Die Schlussfolgerung erscheint denkbar einfach: Wenn das BVerfG nur eine ex nunc wirkende Unvereinbarkeitserklärung ausspricht, kann für den im Streit befindlichen Veranlagungszeitraum erst recht keine Aussetzung der Vollziehung gewährt werden. Der II. Senat stellt mit dieser Überlegung den Grundrechtsschutz letztlich unter schlichten Haushaltsvorbehalt. Das „öffentliche Interesse an einer geordneten öffentlichen Haushaltswirtschaft“ ist indessen untauglich, den in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten individuellen Rechtsschutz einzuschränken. Wenn der Gesetzgeber seine Primärverantwortung für das Recht vernachlässigt, resultiert die Gefahr für die geordnete Haushaltsführung nicht daraus, dass Steuerpflichtige massenweise von ihren Grundrechten Gebrauch machen. Dies ist ihr gutes Recht! Die eigentliche Gefahr resultiert vielmehr umgekehrt aus der Versagung der Aussetzung der Vollziehung. Die Aussetzung der Vollziehung kann dem Staat als Instrument budgetärer Risikovorsorge dienen, indem sie die (vorschnelle) Vereinnahmung verfassungswidriger Steuern verhindert24. Die von den Finanzgerichten und vom BFH ausgesprochene Aussetzung der Vollziehung signalisiert der Finanzverwaltung und besonders den Bundes- und Landesfinanzministerien, in welchem Umfang sich Steuern wegen ihrer Verfassungswidrigkeit im budgetären Risiko befinden. Ein Rechtsstaat darf nicht darauf vertrauen, verfassungswidrig erhobene Steuern einfach verplanen und verausgaben zu können25. Die Aussetzung der Vollziehung gibt ihm den Hinweis, wo und in welchem Umfang er haushaltsplanerische Vorsorge treffen muss. Beharrt er stattdessen auf den Bestand der verfassungsrechtlich zweifelhaften Steuernorm, verdient er keinen besonderen Schutz zu Lasten der Grundrechtsverletzten26. Das bisher von der Rspr. gern gebrauchte Haushaltsargument führt vor allem zu rechtsstaatlich unerträglichen Ergebnissen. Je größer die Breitenwirkung des Verfassungsverstoßes und das Ausmaß des legislativen Unrechts ist, umso eher wird der individuelle Rechtsschutz des Art. 19 Abs. 4 GG vereitelt. Hätte der VI. Senat zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Entfernungspauschale die
__________ 23 Zur Judikatur siehe Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 22 Rz. 287 m.w.N. 24 Zum Gedanken des „budgetären Dispositionsschutzes“ siehe Drüen, Haushaltsvorbehalt bei der Verwerfung verfassungswidriger Steuergesetze?, FR 1999, 289 (290 f.); Seer, StuW 2001, 3 (14 f., 17); Schallmoser, DStR 2010, 297 (299 f.). 25 Schallmoser, DStR 2010, 297 (300). 26 Schallmoser, DStR 2010, 297 (300).
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Haushaltsinteressen des Staates höher als den Individualrechtsschutz der Steuerpflichtigen bewertet, wäre der Gesetzgeber wohl kaum durch eine kurzfristige Änderung tätig geworden. Es bedarf keiner großen Fantasie, dass das BVerfG nach mehreren Jahren der Anhängigkeit der Verfahren unter Berufung auf vermeintliche Haushaltszwänge den Gesetzgeber lediglich ex nunc zur Änderung der gleichheitswidrigen Regelung gezwungen hätte. So schließt sich der juristische Zirkel. Die von der gleichheitswidrigen Regelung betroffenen Grundrechtsträger sind die Verlierer, denen dann auch noch die Kosten des Verfahrens auferlegt werden: Grundrechtsschutz wird hier zur Grundrechtsverweigerung! Vor diesem Hintergrund ist die Rechtsprechung des II. Senats zur Erbschaftund Schenkungsteuer eine Enttäuschung27. Das BVerfG hat nun schon zweimal innerhalb kurzer Zeit das Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz insgesamt für verfassungswidrig erklärt28. In der steuerrechtlichen Literatur wird das Erbschaftsteuerreformgesetz 2008 mit guten Gründen erneut für verfassungswidrig gehalten29. Der II. Senat berief sich zur Begründung schließlich auf die geringe quantitative Betroffenheit des Antragstellers, um seine Rechte in der Abwägung gegen das staatliche Haushaltsinteresse zurückstehen zu lassen. Dies ist ein nicht ungefährlicher Ansatz. Sicher ist der vorläufige Rechtsschutz umso dringlicher, je schwerwiegender die Vollzugsfolgen des angefochtenen Steuerbescheides für den Betroffenen sind. Jedoch hat § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO bewusst das materiell-rechtliche Abwägungskriterium der ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts nicht noch mit dem interessenorientierten Abwägungskriterium der Vollzugsfolgen bepackt. Zumindest hätte der II. Senat letztere nicht isoliert für die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung verwenden dürfen. Vielmehr wäre auch die Gewichtigkeit der ernstlichen Zweifel an der Verfassungswidrigkeit des Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes in die Waagschale zu werfen gewesen30.
III. Verfassungsrechtlicher Drittschutz 1. Abgrenzung von einer unzulässigen Popularklage Bei der Gewährung von verfassungsrechtlichem Drittschutz zeigt sich die Rechtsprechung nach wie vor restriktiv. Wird ein Steuerpflichtiger rechtswidrig nicht oder zu niedrig besteuert, sieht sie Rechte eines an dem betreffenden Steuerschuldverhältnis nicht beteiligten Dritten in der Regel als nicht verletzt
__________
27 Ebenfalls krit. Schallmoser, DStR 2010, 297 (300 f.) (allerdings zur die Aussetzung verweigernden Vorinstanz des FG München v. 5.10.2009 – 4 V 1548/09, EFG 2010, 158 [160]). 28 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165; BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1. 29 Seer in Tipke/Lang (Fn. 23), § 13 Rz. 159 m. w. N. 30 Nach Spindler, DB 1989, 596 (598) soll für die verfassungsrechtliche Prüfung im vorläufigen Rechtsschutz ein strengerer Prüfungsmaßstab als bei einfachen Gesetzesverstößen gelten. Folgt man diesem Erfordernis, kann auf die Frage der Haushaltsinteressen des Staates getrost verzichtet werden.
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an. Sie befürchtet offenkundig eine Ausweitung von Drittklagen. Das „Schreckensbild der Popularklage“31 zeugt aber auch von der Angst der Richter vor einer Überbelastung mit Drittbetroffenen-Klagen. Sicher darf nicht zugelassen werden, dass ein Kläger fremde Belange wahrnimmt, dass er sich zum Sachwalter fremder Interessen macht. Art. 3 Abs. 1 GG verleiht dem Steuerpflichtigen weder einen Anspruch auf Wiederholung rechtswidrigen Verwaltungshandelns (Fallgruppe der „Gleichheit im Unrecht“) noch einen allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch32. In dem sowohl im Grundgesetz als auch im Finanzgerichtsprozess verankerten System des Individualrechtsschutzes kann der von einer gesetzmäßigen Last Betroffene nicht erzwingen, dass auch alle anderen entsprechend dem Gesetz belastet werden. Ein unzureichender Gesetzesvollzug beeinträchtigt typischerweise das Allgemeininteresse, aus dessen Anonymität erst ein besonderes Individualinteresse abstrahierbar sein muss, um die subjektive Klagebefugnis zu begründen33. Etwas anderes gilt nach der Rechtsprechung des BVerfG aber dann, wenn der Vollzugsmangel das Ausmaß eines strukturellen Vollzugsdefizits, das dem Gesetzgeber zuzurechnen ist, erreicht34. Da in diesem Fall der Vollzugsmangel die Verfassungswidrigkeit der generellen Norm bewirkt, kann der von dieser Norm belastete Steuerpflichtige gegen seinen eigenen Steuerbescheid die Verfassungswidrigkeit der Norm als eigene Rechtsverletzung geltend machen. Jedoch erreicht diese Rechtsprechung nicht alle Fälle der „Ungleichheit im Belastungserfolg“. Wenn ehrliche Steuerpflichtige das Recht haben, sich gegen die durch das Verfahrensrecht oder durch die Verfahrenspraxis der Exekutive ausgelöste strukturelle Ungleichheit der Belastung zu wenden, warum sollen sie dieses Recht nicht haben, wenn die Ungleichheit im Belastungserfolg unmittelbar durch das privilegierende und zugleich diskriminierende materielle Recht ausgelöst wird? Eine subjektive Rechtsverletzung aus Art. 3 Abs. 1 GG besteht nicht nur im Falle eines mittelbar auf die Steuernorm zurückwirkenden strukturellen Vollzugsdefizits, sondern erst recht auch dann, wenn der Steuerpflichtige in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG normativ durch eine steuerliche Privilegierung Dritter verletzt wird35. Die zahlreichen gesetzlichen Steuerbefreiungen und Steuervergünstigungen zugunsten einzelner Gruppen unter Eliminierung anderer Gruppen führen zu einer eklatanten Höherbelastung dieser anderen Gruppen. Im Steuerrecht ist die Privilegierung der einen Gruppe die Diskriminierung der anderen, sich in gleichen Verhältnissen
__________ 31 Sachs, Der Gleichheitssatz als eigenständiges subjektives Grundrecht, in FS Friauf, 1996, S. 309 (327). 32 F. Kirchhof, Keine Gleichheit im Unrecht, in FS Merten, 2007, S. 109 (116 f.). 33 Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996, S. 258; Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 556 f.; Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, 2000, S. 305. 34 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239; BVerfG v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94. 35 Tipke, Rechtsschutz gegen Privilegien Dritter, FR 2006, 949 (955 ff.); Seer in Tipke/ Lang (Fn. 23), § 22 Rz. 127.
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befindlichen Gruppe36. Warum sollte die Gleichbehandlung nur bei strukturell fehlender oder mangelhafter Verifizierung gerichtlich durchsetzbar sein? Joachim Stolterfoht bringt dazu das folgende (fiktive) Beispiel37: Nur die Frauen, nicht die Männer werden durch das Einkommensteuergesetz mit Steuer belastet. Das wäre eine eklatante Verletzung des Art. 3 Abs. 2, 3 GG. Sollte eine Frau sich gegen diese Diskriminierung nicht wehren können, weil man sich auf „Gleichheit im Unrecht“ nicht berufen dürfe und die Frauen nur wirtschaftlich benachteiligt seien38? Wer durch Verletzung des Gleichheitssatzes benachteiligt wird, wird in seinen Rechten verletzt. Die Bürger haben ein subjektives Recht auf Gleichbehandlung; der Gleichheitssatz schafft ein subjektives Abwehrrecht39. 2. Referenzbeispiel: Rechtsprechung zur Steuerfreiheit der Kostenpauschale für Abgeordnete Die Schwierigkeit der Anwendung des Gleichheitssatzes liegt in dessen Ergebnisoffenheit40. So kann ein gleichheitswidriger Normenbegünstigungsausschluss durch Erstreckung der Normenbegünstigung auf den Kläger, durch Kassation der Normenbegünstigung zu Lasten des Dritten oder auch durch eine gleichheitskonform-modifizierte Neuregelung beseitigt werden. Demgemäß beschränkt sich das BVerfG in derartigen Fällen auch nur auf eine Unvereinbarkeitsfeststellung41. In seiner Entscheidung zur Steuerfreiheit der Kostenpauschale der Abgeordneten bejaht der BFH die Klagebefugnis des durch die Privilegierung eines Dritten in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzten Klägers offenbar immerhin dann, wenn sich bei einer der möglichen Entscheidungsvarianten für den Kläger eine günstigere Regelung ergeben kann42. In diesem Fall hält sich der BFH für berechtigt und verpflichtet, dem BVerfG die Frage nach dem Verstoß eines Steuergesetzes gegen den Gleichheitssatz nach Art. 100 Abs. 1 GG vorzulegen. Der die Klagebefugnis (§ 40 Abs. 2 FGO) danach begründende Gedanke, dass die Beanstandung der zur Prüfung gestellten Norm am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG dem Kläger die Chance offen hält, an einer etwaigen Ausweitung der Normenbegünstigung durch den Gesetzgeber teilzuhaben, versagt hingegen im Steuerrechtsverhältnis zum Kläger, wenn nur eine Kassation der Begünstigung zu Lasten des Dritten in Betracht kommt. Liegt ein solcher Fall vor, kann sich der in seinem
__________ 36 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, 1993, S. 1395; Sachs in FS Friauf (Fn. 31), S. 325 f. 37 Stolterfoht, Vereinfachender Gesetzesvollzug durch die Verwaltung, in P. Fischer (Hrsg.), Steuervereinfachung, in DStJG 21 (1998), S. 233 (246 f.). 38 Siehe auch Tipke, FR 2006, 949 (950 ff.) zu Beispielen aus dem geltenden EStG. 39 Sachs in FS Friauf (Fn. 31), S. 309 ff., 318 ff. 40 Wernsmann (Fn. 33), S. 75 ff. 41 Dazu ausf. Seer, Die Unvereinbarkeitserklärung des BVerfG am Beispiel seiner Rechtsprechung zum Abgabenrecht, NJW 1996, 285. 42 BFH, Urt. v. 11.9.2008 – VI R 13/06, BStBl. II 2008, 928 (930); ebenso auf die Verfassungsbeschwerde der Revisionskläger hin BVerfG v. 26.7.2010 – 2 BvR 2227 u. 2228/08, DStRE 2010, 1058 (1059) – Kammerbeschluss.
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Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzte Steuerpflichtige in seinem eigenen Steuerrechtsverhältnis nicht verbessern. Auf dieser Grundlage durchaus konsequent haben es sowohl der BFH als auch das BVerfG mangels Entscheidungserheblichkeit abgelehnt, in dem von einem Finanzrichter gegen seine eigene Steuerfestsetzung erhobenen Klage- und Revisionsverfahren dem BVerfG die Frage der Gleichheitswidrigkeit der steuerfreien Kostenpauschale für Abgeordnete nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Entscheidung vorzulegen bzw. zur Entscheidung anzunehmen. Zusätzlich stützt der BFH seine Entscheidung darauf, dass der Gleichheitssatz für die Kläger kein allgemeines Abwehrrecht eines jeden Steuerpflichtigen gegenüber solchen Rechtsvorschriften, die zu einer gleichheitswidrigen Steuerentlastung eines Dritten führten, begründen könne43. Entgegen der Auffassung des BFH unterliegen jedoch weder die Klagebefugnis noch die Entscheidungserheblichkeit als Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Normenkontrollvorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG einem „strengen Maßstab“44. Der Kläger muss nicht darlegen, dass die Privilegierung des Dritten (z. B. das Abgeordneten-Privileg einer steuerfreien Kostenpauschale nach § 3 Nr. 12 EStG) auch auf seine Person zu erstrecken ist45. Es reicht aus, wenn sich der Kläger in einer für die Besteuerung vergleichbaren steuerlichen Lage wie die steuerlich privilegierte Person befindet. Dazu muss der Kläger nicht etwa ebenfalls Abgeordneter sein, wie BFH und BVerfG offenbar meinen. Vielmehr unterscheidet er sich hinreichend von der Allgemeinheit, wenn er einkommensteuerpflichtig ist und Erwerbsaufwendungen zu tragen hat, die bei einem Abgeordneten unter die pauschalierte Steuerbefreiung fallen. Art. 3 Abs. 1 GG gibt dem Kläger ein eigenständiges subjektiv-öffentliches Recht auf Gleichbehandlung (siehe oben 1.). Ein gleichheitswidrig Diskriminierter besitzt nicht nur das legitime Bedürfnis, sondern auch das subjektive Recht auf Beseitigung der Benachteiligung; eines Anspruchs auf Besserstellung bedarf es dazu nicht. Dagegen lässt sich nicht der Einwand unzulässiger „Neid-“ oder „Popularklagen“ erheben. Ist der „Neidische“ in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt, ist er klagebefugt; das nicht fassbare Motiv des „Neides“ bleibt rechtlich irrelevant46. Die hier damit vertretene Klagebefugnis des unter Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG Diskriminierten bedeutet nicht, dass jeder beliebige Bürger als Prokurator oder „Anwalt“ berechtigt wäre, für die Durchsetzung des Rechts als solchem zu sorgen, auch wenn es ihn nicht betrifft, und
__________ 43 BFH v. 11.9.2008 – VI R 13/06, BStBl. II 2008, 932 f., ausdrücklich gegen die von Tipke, FR 2006, 957, vertretene Rechtsauffassung. Auf diese Frage ist das BVerfG (Fn. 42) gar nicht mehr eingegangen. 44 So aber BFH v. 11.9.2008 – VI R 13/06, BStBl. II 2008, 929 f. 45 Desens, Steuerprivilegien für Abgeordnete verfassungsrechtlich nicht angreifbar?, DStR 2009, 727 (728 ff.); Birk, Verfassungsfragen im Steuerrecht – Eine Zwischenbilanz, DStR 2009, 877 (880); Englisch, Steuerprivileg für Bundestagsabgeordnete, NJW 2009, 894 (896 f.); a. A. aber offenbar der Kammerbeschluss des BVerfG v. 26.7.2010 (Fn. 42). 46 Desens, Neid als Grundrechtsausübungsmotiv – Zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsanspruchs bei gleichheitswidrigen Gesetzen, AöR 133 (2008), 404 (410 ff.).
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darauf klagen könnte, dass Privilegien abgebaut werden. Es geht eben nicht darum, beliebige Steuerpflichtige zum Hüter der objektiven Rechtsordnung zu machen, ihnen objektive Rechtskontrolle zu ermöglichen, sondern um die Geltendmachung der Verletzung des subjektiven (eigenen) Rechts auf Gleichbehandlung durch betroffene Steuerpflichtige. Ein nicht steuerpflichtiger Empfänger von staatlichen Transfer-Leistungen etwa kann nicht durch Klage verlangen, dass Steuerprivilegien beseitigt werden. Er ist quivis ex populo. Ebenso ist es einem Lohnsteuerpflichtigen versagt, sich gegen eine ungleichmäßige Bewertung von Vermögensgegenständen für Erbschaftsteuerzwecke zu wenden, wenn er selbst keine Erbschaft- oder Schenkungsteuer schuldet. Ein gleichheitswidrig Benachteiligter, der die Diskriminierung nach Art. 3 Abs. 1 GG rügt, ist dagegen ein Selbstbetroffener und gerade kein quivis ex populo. Er fordert auch keine „Gleichheit im Unrecht“, sondern – ganz im Gegenteil – die Herstellung der Gleichheit im Recht47. Wie Marc Desens zutreffend herausgearbeitet hat48, senden BFH und BVerfG in ihren Abgeordnetenentscheidungen die folgende Botschaft an den in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzten Steuerpflichtigen: „Selbst wenn Sie in Ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt sein sollten, hat das Gericht keine Möglichkeit, Ihrer Grundrechtsverletzung abzuhelfen!“49 Damit stellt der BFH für den Rechtsstaat eine Bankrotterklärung aus. Letztlich heißt dies, dass die Steuerfreiheit der Kostenpauschale nur vom Gesetzgeber, also von den Betroffenen selbst, überprüft werden kann. Aus dem Gesichtspunkt des Demokratieprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG) verbleibt hier ein äußerst schaler Beigeschmack. Kann der gleichheitswidrig benachteiligte Steuerpflichtige im eigenen Steuerrechtsverhältnis keine Minderung seiner eigenen Steuerlast durchsetzen und versagt die Rechtsprechung ihm deshalb die Klagebefugnis, muss es ihm zur Wahrung seines subjektiven Rechts aus Art. 3 Abs. 1 GG aber möglich sein, die verfassungswidrige Privilegierung des Dritten in dessen Steuerrechtsverhältnis zu rügen. Letztlich entspricht dies auch dem eigentlichen Angriffsziel des klagenden Finanzrichters im Fall des Abgeordnetenprivilegs. Die Drittbetroffenen besitzen einen aus Art. 3 Abs. 1 GG folgenden Abwehranspruch gegen die Privilegierung des Dritten. Um effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) zugunsten des gleichheitswidrig Diskriminierten zu gewährleisten, besitzt dieser einen gegen die Finanzbehörde gerichteten verfassungsunmittelbaren Auskunftsanspruch. Einen solchen Auskunftsanspruch hat der BFH neuerdings für die in ihren Grundrechten auf Wettbewerbsfreiheit und -gleich-
__________ 47 Siehe F. Kirchhof in FS Merten (Fn. 32), S. 112: „Ungleichheit erzeugt Unrecht!“ 48 Desens, DStR 2009, 727 (731). 49 Allerdings geht der Kammerbeschluss (Fn. 42) von der Unvergleichbarkeit von Abgeordneten und Richtern mit wenig überzeugenden Argumenten zur Mandatsfreiheit aus. Was hat die Mandatsfreiheit mit dem Nachweis von Erwerbsaufwendungen zu tun? Ebenso könnte der Gewerbetreibende die Freiheit des Berufs (Art. 12 Abs. 1 GG) für eine Pauschalisierung reklamieren.
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heit durch die Gewährung steuerlicher Privilegien an Konkurrenten verletzten Dritten hergeleitet50. Dieser Auskunftsanspruch ist in einen möglichst schonenden Ausgleich mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Begünstigten und dem daraus folgenden Steuergeheimnis zu bringen. Der Auskunftsanspruch kann daher nicht die komplette Steuerakte erfassen, sondern nur die Informationen, die für die Geltendmachung des gleichheitsrechtlichen Abwehranspruchs erforderlich sind51. Im Falle des Abgeordnetenprivilegs kann sich der Auskunftsanspruch unter Berücksichtigung des Steuergeheimnisses daher nur auf die Beantwortung der Frage beschränken, ob gegen den jeweiligen Abgeordneten ein Einkommensteuerbescheid bei Gewährung der steuerfreien Kostenpauschale erlassen worden ist. Um das Steuergeheimnis des Abgeordneten weitestgehend zu schützen und so einen schonenden Ausgleich zwischen dessen Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 1, 2 Abs. 1 GG) und dem gegenläufigen Anspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG herzustellen, ist eine Feststellungsklage (§ 41 Abs. 1 FGO) anstelle der Dritt-Anfechtungsklage (§ 40 Abs. 1 1. Alt. FGO), gerichtet auf die Feststellung einer gleichheitswidrigen Begünstigung des Adressaten des Einkommensteuerbescheides (z. B. des Abgeordneten), statthaft. Die Subsidiaritätsklausel des § 41 Abs. 2 FGO steht dem nicht entgegen, weil der Drittkläger sein Klageziel durch eine den Anforderungen des § 65 Abs. 1 FGO entsprechende Anfechtungsklage voraussichtlich gar nicht erreichen kann52. Wem dieser prozessuale Weg zu sperrig ist und deshalb keinerlei Kontakt des Diskriminierten mit dem Steuerrechtsverhältnis des Privilegierten zulassen will, muss sowohl die Klagebefugnis als auch die Entscheidungserheblichkeit der Grundrechtsfrage (Art. 100 Abs. 1 GG) im eigenen Steuerrechtsverhältnis des Diskriminierten – abweichend vom BFH und BVerfG – bereits dann bejahen, wenn dieser gegenwärtig aufgrund eines gleichheitswidrigen Gesetzes, das nach einer vom BVerfG erzwungenen Neuregelung durch ein gleichheitskonformes Gesetz zu ersetzen wäre, besteuert wird53.
IV. Schlussbemerkung Der finanzrichterliche Rechtsschutz hat sich in Verfassungsfragen in den letzten Jahren verbessert. Dies ist auch den Arbeiten und dem Einfluss Wolfgang Spindlers zu verdanken. Allerdings sind einige offene Flanken geblieben, die zu schließen sind. Neben den vorstehend genannten Feldern des vorläufigen Rechtsschutzes und der Abwehr gleichheitswidriger Privilegierungen ist das oft nur in kleiner Münze gehandelte, aber praktisch um so wichtigere Kostenrecht zu nennen. Gibt das BVerfG dem in seinen Grundrechten verletzten Kläger in der Sache Recht, beschränkt es aber die Rechtsfolgen aus schlichten
__________ 50 BFH v. 5.10.2006 – VII R 24/03, BStBl. II 2007, 243, 244; siehe auch Englisch, Die negative Konkurrentenklage im Unternehmensteuerrecht, StuW 2008, 43 (59 ff.). 51 Für die Konkurrentenklage siehe Englisch, StuW 2008, 43 (60 f.). 52 Seer in Tipke/Kruse, § 40 FGO Rz. 86. 53 So vertreten von Desens, DStR 2009, 727 (731).
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Haushaltsgründen auf zukünftige Besteuerungszeiträume, hat der Kläger gleichwohl im Sinne des § 135 Abs. 1 FGO „obsiegt“54. Dies muss auch für entsprechend anhängige Parallelverfahren gelten. Die Kostenentscheidung lediglich nach der äußerlichen Bestätigung der Steuerfestsetzung für das vom BVerfG unangetastete Streitjahr zu treffen55, bedeutete dagegen einen Schlag in das Gesicht eines jeden redlichen Rechtsschutzsuchenden!
__________ 54 Erfreulich BFH v. 18.8.2005 – VI R 123/94, BStBl. II 2006, 39 (40 f.); zu dem Problem Seer, StuW 2001, 3 (16); Brandis in Tipke/Kruse, § 138 FGO Rz. 71 m. w. N. 55 So etwa BFH v. 18.3.1994 – III B 543/90, BStBl. II 1994, 473 (475); BFH v. 6.10.1995 – III R 52/90, BStBl. II 1996, 20 (24 f.); siehe auch den Wortbeitrag von Wendt in DStJG 31 (2008), S. 233.
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Recht und Staat im Wandel Vom Steuerstaat zur Steuer in der demokratischen Gesellschaft
Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der Staat in der Rechtsprechung des BVerfG III. Die Entwicklung des Staats nach der französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen
IV. Der Staat der Weimarer Verfassung, des Bonner Grundgesetzes und der Berliner Republik V. Von der parlamentarischen Demokratie zur partizipativen Demokratie VI. Steuerrechtliche Implikationen VII. Schlusswort
I. Einleitung Verbreitet ist immer noch die Vorstellung vom Staat als Herrschaftsperson1; die Geschichte des modernen Staats wird als die Entwicklung von der Monarchie, über den Machtstaat zum totalen Staat beschrieben. Als Beispiele für die Verfassungsentwicklung der letzten 500 Jahre werden genannt die schleichende Erosion der Zentralmacht im alten Reich, der Trend zur Parlamentarisierung im Kaiserreich, die Weiterentwicklung der Grundrechte durch das Bundesverfassungsgericht2. Immer noch wird den Grundrechten die meiste Aufmerksamkeit geschenkt, die Staatsorganisation wird weitgehend ausgeblendet3. In der heutigen Staatsrechtslehre wird der Staat immer noch als in eine juristische Person gekleidetes Herrschaftssubjekt begriffen; die institutionelle und funktionelle Unterscheidung von Staat und Gesellschaft wird weiterhin für sinnvoll gehalten4. Der Staat sei Herrschaftsverband, die Menschen seien der
__________ 1 Ähnlich bezüglich des Antagonismus’ zwischen Steuergesetzgeber und Steuerbürger Spindler, Zum Verhältnis von Besteuerungsmoral und Steuermoral, BB 2010, Heft 10, S. III. 2 Durner, „Reform an Haupt und Gliedern“. Verfassungsreformen auf Bundesebene 1495 bis 2005, in Durner/Peine, Reform an Haupt und Gliedern – Verfassungsreform in Deutschland und Europa, Symposium aus Anlass des 65. Geburtstages von HansJürgen Papier, 2009, S. 1 (23). 3 Vgl. nur Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 2010: „Demokratie“ wird nicht einmal im Stichwortregister erwähnt. Henke, Recht und Staat – Grundlagen der Jurisprudenz, 1988, § 29, S. 278. 4 Zippelius/Würtenberger, Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 1 III 3.
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staatlichen Gewalt unterworfen5. Der innere Friede werde in einer materiellen Ordnung verfestigt, wenn das Staatsvolk, dass die Herrschaft in einem Vertrag auf den Herrscher übertrage, sich dabei eigene Grundrechte vorbehalte und die Staatsgewalt in einem System der Gewaltenbalance mäßige6. Demokratische Partizipationsansprüche würden zum Niedergang des modernen Staates führen7. Selbst nach Meinung von Dahrendorf ist der Staat nichts anderes als die von Menschen geschaffene Instanz, die es einigen erlaube, Herrschaft über andere auszuüben, nämlich Normen das Gewicht der Geltung zu verleihen8.
II. Der Staat in der Rechtsprechung des BVerfG In der Entscheidung zum Vertrag von Lissabon9 hat sich das BVerfG grundsätzlich zur Staatlichkeit der Bundesrepublik geäußert10: In modernen Territorialstaaten verwirkliche sich die Selbstbestimmung eines Volkes hauptsächlich in der Wahl von Organen eines Herrschaftsverbandes, die die öffentliche Gewalt ausübten (Rz. 268). Demokratie lebe zuerst von und in einer funktionsfähigen öffentlichen Meinung, die sich auf zentrale politische Richtungsbestimmungen und die periodische Vergabe von politischen Spitzenämtern im Wettbewerb von Regierung und Opposition konzentriere (Rz. 250). Das Wahlrecht sei der wichtigste vom Grundgesetz gewährleistete subjektive Anspruch der Bürger auf demokratische Teilhabe (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG) (Rz. 210). Das Bundesvolk regiere sich regelmäßig mittels
__________ 5 Badura, Geschichtlichkeit und Zeitgebundenheit der Verfassung, in JöR 52 (2004), S. 165 (166); Badura in Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 23 Rz. 40: „Die vermeintliche Selbstregierung des Volkes in der unmittelbaren Demokratie ist der Idee nach die Aufhebung politischer Herrschaft, …“; Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, ebenda, § 22 Rz. 51, der von der „Führerschaft“ als Regierungsprinzip spricht; sie beruhe auf freier Anerkennung durch die Geführten. 6 Kirchhof, Souveränität und Einordnung, FAZ v. 16.4.2003, S. 9. 7 Reinhard, Geschichte des modernen Staates, 2007, S. 12, 122. 8 Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 5. Aufl. 1977, S. 230. 9 In Kraft getreten am 1.12.2009. 10 BVerfG-Urteil v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 2 BvR 182/09. Kritisch Frenz, EWS 2009, 297, EWS 2009, 441: Mit dem Charakter des Europarechts als eigenständiger Rechtsordnung mit eigenen Prinzipien und einem Rechtsprechungsmonopol des EuGH sei eine fortlaufende Kontrolle von europäischem Sekundärrecht durch das BVerfG unvereinbar. Insgesamt lege das Lissabon-Urteil das intergrationsoffene Grundgesetz in einer einseitig restriktiven Weise aus. Kritisch auch Calliess, FAZ v. 27.8.2009, S. 8: beim Parlament angemahnte Integrationsverantwortung laufe leer; Nettesheim, FAZ v. 27.8.2009, S. 8: Das BVerfG ersetze die Idee demokratischer (politischer) Freiheit durch eine apriorische Konstitution des Gemeinwesens (durch eine vom BVerfG verwaltete Gemeinschaft). Kritisch auch Fischer, Die Zeit 2009, Nr. 29: Europa werde als sich integrierender Staatenverbund weiter voranschreiten, ob Karlsruhe dies gefalle oder nicht. Positiv hingegen Isensee, ZRP 2010, 33, der das Urteil (bezeichnenderweise) mit einer Enzyklika vergleicht; die Karlsruher Botschaft stecke dem Integrationsprozess Grenzen. Was den Integrationszeloten ein Graus sei, bedeute aus der Sicht der Staats- und Unionsbürger Verdienst. – Zur Relativierung des Lissabon-Urteils durch den sog. „Mangold-Beschluss“ v. 6.7.2010 Frenz, EWS 2010, 401.
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einer Mehrheit (Art. 42 Abs. 2 GG) in der so zustande gekommenen repräsentativen Versammlung (Rz. 209). Die Widersprüchlichkeit dieser Aussagen ist offenkundig; entweder ist der Staat ein Gewalt ausübender Herrschaftsverband oder aber das Volk regiert sich selbst, Fremdherrschaft oder Selbstregierung, das eine schließt das andere aus. Die Beschreibung des Wesens der Demokratie ist eher rudimentär; wer Demokratie heutzutage nur als Recht zur Teilhabe an gelegentlich stattfindenden Wahlen versteht, ignoriert den Entwicklungsprozess der letzten zweihundert Jahre. Offenbar besteht immer noch die Vorstellung, dass mit dem Urakt der Verfassungsgebung die Selbstgesetzgebung verbraucht ist11. Die Beschränktheit der bundesverfassungsgerichtlichen Position kommt nicht von ungefähr und ist kein Zufall. Das BVerfG ist kein Freund direktdemokratischer Ansätze. Das BVerfG versteht sich als Hüter und Bewahrer der bestehenden Verfassung, des bestehenden Systems, des status quo, und versteht den Staat als bürokratische Einrichtung mit parlamentarisch-demokratischen Elementen.
III. Die Entwicklung des Staats nach der französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen Die päpstliche Revolution (1076 – 1122) war gegen die Beherrschung des Klerus durch Kaiser, Könige und Feudalherren gerichtet; sie bewirkte die Entstehung weltlicher Staaten12 und die Teilung in kanonisches und weltliches Recht13. Die Kirche wurde zu einem juristischen Gebilde mit einer komplizierten Bürokratie. Dabei diente das (systematisierte und rationalisierte) kanonische Recht als Vorbild für die weltlichen Rechtsordnungen14. Im Gefolge der päpstlichen Revolution entstand eine neue Art des Königsrechts (Staatsrecht); in jedem westlichen Königreich wurde der Monarch zum Gesetzgeber15; der König regierte durch das Recht16. Der moderne westliche Staat (z. B. das normannische Königreich Sizilien unter Roger II., 1112 – 1154, oder England unter Heinrich II., 1154–1189) ist die Folge der päpstlichen Revolution; er ist nicht das Ergebnis der Renaissance und der Übernahme griechischen Denkens17. Die lutherische Reformation zerbrach den römisch-katholischen Dualismus von kirchlichem und weltlichem Recht, indem sie die Kirche „entrechtlichte“18. Der Staat ist auf das weltliche Regiment beschränkt; er ist nicht
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11 Vgl. z. B. Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, 1949, § 48, S. 113, der das Recht als das Recht des Staates versteht. In § 46 (S. 107) heißt es: „die Demokratie ist nur im kleinen Rahmen als unmittelbare möglich […]. Im Allgemeinen ist der Bürger, nachdem einmal die Verfassung durch die Constituante gegeben ist, auf sein bloßes Stimmrecht zu den Abgeordnetenwahlen beschränkt.“ 12 Bermann, Recht und Revolution, 1991, S. 790. 13 Bermann (Fn. 12), S. 806. 14 Bermann (Fn. 12), S. 810. 15 Bermann (Fn. 12), S. 815. 16 Bermann (Fn. 12), S. 817. 17 Bermann (Fn. 12), S. 441 f. 18 Bermann (Fn. 12), S. 58.
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„Herr der Seelen“19. Die Reformation führte zu einer Ablösung der Territorien von der römischen Zentralkirche. Das Entstehen der protestantischen Landeskirchen bewirkte die Autonomie der Fürstentümer. Die Reformation verhinderte die Bildung eines deutschen Zentralstaates und führte zur Kleinstaaterei. Der Staat löste sich aus der Bevormundung der (römischen) Kirche, um nun seinerseits im Landesherrentum und Absolutismus die (evangelische) Kirche von sich abhängig zu machen. Verlierer des dreißigjährigen Krieges war das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“; es verlor weite Bereiche seiner Zentralgewalt; der Kaiser musste gegenüber den Reichsständen auf seine Macht verzichten. Das Reich bildete nur noch einen lockeren Verbund von Fürstentümern, letztlich eine Folge der „dezentralisierenden Wirkung der Reformation“. Ab 1807 verschwand das sog. Kabinettsystem; an die Stelle der bisherigen monarchischen Autokratie trat eine bürokratisch-monarchische Doppelführung, aus dem autokratischen wurde der bürokratische Obrigkeitsstaat, ein erheblicher Machtgewinn der hohen Bürokratie gegenüber Monarchie und Feudalität. Der Staat wurde den Fürsten übergeordnet; die Sonderrechte der Geistlichkeit wurden aufgehoben20. Die Säkularisation und der Klostersturm ermöglichten die Begründung des modernen Staates21; Napoleon beabsichtigte die Umformung der feudalen Gesellschaft zur Gesellschaft freier Eigentümer22. Die Reformen schufen den zentralistisch-einheitlichen, säkularen und bürokratischen Staat; die Bürokratie stieg zur herrschenden Klasse auf23. Die Beamten fühlten sich als eine neue Aristokratie; gegenüber dem Volk praktizierten die Beamten einen wohlwollenden Paternalismus24. Der Staat in Deutschland war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst und vor allem bürokratischer Obrigkeitsstaat25. Träger des Staats war die Bürokratie, das Beamtentum. Die Beamten waren nicht nur ausführendes Organ, sondern in den höheren Rängen paradoxerweise zugleich diejenigen, die Willen und Entscheidungen dieses Staates (mit-)bestimmten26.
IV. Der Staat der Weimarer Verfassung, des Bonner Grundgesetzes und der Berliner Republik Die parlamentarische Demokratie ist eine begrenzte Form der Herrschaftsübertragung. Sie führt aber in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung zu einer Herr-
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19 Henke (Fn. 3), S. 279. 20 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866 – Bürgerwelt und starker Staat, 1998, S. 73; zur Distanz der Geschichtsschreibung gegenüber der Dogmatik des Rechts und der Bedeutung des Grundgesetzes vgl. Zielcke, SZ v. 12./13.5.2010, S. 21 (zu einem Vortrag von Simon, Kann man die Geschichte der Bundesrepublik ohne ihre Verfassungsgeschichte schreiben?). 21 Nipperdey (Fn. 20), S. 74. 22 Nipperdey (Fn. 20), S. 75. 23 Nipperdey (Fn. 20), S. 77. 24 Nipperdey (Fn. 20), S. 322. 25 Nipperdey (Fn. 20), S. 320. 26 Nipperdey (Fn. 20), S. 321.
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schaft der Bürokratie und der Ministerialverwaltung. Bildlich hat sich die „Staatsmacht“ aus der Hand der bürokratisch-monarchischen Herrschaft gelöst, ist aber noch nicht in der Hand der Bürger angekommen. Die heutige „Berliner Demokratie“ beruht auf der Herrschaft einer bürokratisch-politischen Partei-Elite27, die die „Machtpositionen“ des Staates dauerhaft besetzt hat. Veränderungen geschehen nur in geringem Umfang. Die Machtpositionen der Bürokratie beruhen auf der Beherrschung der Parteien, der Ministerien und des parlamentarischen Gremien. Die Mitwirkung des einfachen Bürgers beschränkt sich – so wie es das BVerfG deutlich ausgesprochen hat – auf die gelegentliche Teilnahme an Wahlen. Der Bürger wird nicht gefragt, ob er der EU beitreten möchte, in welchem Umfang er sich an staatlichen Aufgaben beteiligen möchte oder wie die Finanzierung dieser Aufgaben ausgestaltet sein soll. Das kaiserliche Deutschland hatte eine monopolistische Elite, die es verstand, mit Hilfe des autoritären Wohlfahrtsstaates die industrielle Feudalgesellschaft zusammenzuhalten. In der Gesellschaft der Bundesrepublik bilden die oberen zweitausend Positionen den Gegenstand der Machtelite. Indes ist diese Machtelite keine reale Gruppe, Schicht oder Klasse, sondern eine bloße Kategorie ohne soziale Bindung28. Die Spitzen der bundesdeutschen Gesellschaft sind sich im Grunde fremd. Bezeichnenderweise beschäftigt sich die Staatsrechtslehre mehr mit den Risiken der staatlichen Ordnung29, mit der sicherlich auch wichtigen Frage des Verhältnisses des Verfassungsstaates zu den Glaubensgemeinschaften30 oder mit der (positiven) Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit31; die entscheidende Grund- und Machtfrage wird ausgeblendet. Es hat den Anschein, als ob die Staatsrechtslehre die naheliegenden Fragen nicht stellen will, um die (unbequemen) Antworten nicht geben zu müssen32. Bei der Frage, ob Deutschland nach 60 Jahren Grundgesetz in guter Verfassung sei, wird das Problem der Demokratie nicht einmal erwähnt33; mit keinem einzigen Wort erwähnt werden die Mängel des repräsentativen Systems, das – zugespitzt – Demokratie darauf beschränkt, alle vier Jahre zur Wahl gehen zu dürfen. Bei Lichte betrachtet bestimmt und verwaltet eine vor allem in den Parteien organisierte Funktionärsschicht die gesellschaftlichen Aufgaben. Die politischen Mandate werden so vergeben, dass eine langjährige Tätigkeit im politi-
__________ 27 Zu den geringen Verbindungen und den wenigen Gemeinsamkeiten dieser „Machtelite“ vgl. bereits Dahrendorf (Fn. 8), S. 280 ff. 28 Dahrendorf (Fn. 8), S. 280 ff. 29 Vgl. Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11. 30 Di Fabio, FAZ v. 8.4.2010, S. 8 (Koexistenz). 31 Lübbe-Wolff, Vortrag v. 1.3.2010 vor der jur. Studiengesellschaft Münster. 32 Angeblich soll eine einflussreiche Gruppe jüngerer Staatsrechtslehrer seit geraumer Zeit versuchen, den Staatsbegriff Hans Kelsens in der heutigen Rechtspraxis zu verankern; nach dieser Lehre existiere der Staat als solcher gar nicht, er sei nur der Inbegriff aller Rechtsnormen (siehe Vosgerau, Schutzlos allein, FAZ v. 11.3.2010, S. 8). 33 Vgl. Oppermann, Deutschland in guter Verfassung? – 60 Jahre Grundgesetz, JZ 2009, 481.
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schen Raum möglich ist; Politik ist vielfach zum (Lebens-)Beruf geworden. Die gegenwärtige Stagnation beruht auf dem Regierungsprinzip der „bürokratischen Verwaltung“, ohne Visionen, wie etwa die neue Ostpolitik, die Europäisierung, die Forderung nach Aufbruch und mehr Demokratie; die Gesellschaft ist in gewisser Weise „entpolitisiert“34.
V. Von der parlamentarischen Demokratie zur partizipativen Demokratie 1. Viel weitergehend und selbst aus heutiger Sicht geradezu modern waren die Vorstellungen des Freiherrn (Heinrich Friedrich Karl) vom (und zum) Stein, Staat und Gesellschaft zu verbinden und das Gemeinwesen auf bürgerliche Freiheit zu gründen, auf Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten35. Sinn der Selbstverwaltung sei es, den Staat von unten her – unter Mitbestimmung und Autonomie im nahen und überschaubaren Bereich – aufzubauen. Darin schlug sich einerseits Steins alteuropäisches Misstrauen gegen den zentralistischen Staat und gegen die lähmende Herrschaft der alles reglementierenden Bürokratie nieder; er verstand Selbstverwaltung als Gegengewicht und Korrekturinstanz gegen die Bürokratisierung der Welt durch den absolutistischen Staat. Zum anderen kam darin Steins Zukunftsperspektive, seine Tendenz zur politischen Erziehung zum Ausdruck36; die Selbstverwaltung solle als Mitbestimmung das Interesse an den öffentlichen Dingen und den Einsatz für sie beleben. Die politische Ordnung beruht eben nicht auf der simplen Gegenüberstellung von Staat und Individuum; neben die bisher bestimmenden Kräfte des Staates – Monarchie, Adel, Bürokratie – traten die Bürger; das Programm der Selbstverwaltung ist mit der Emanzipation der Bürgergesellschaft verbunden.37 Ein ganz anderes – als das heutige, parlamentarisch geprägte – Demokratieverständnis hatte auch Richard Thoma38: Demokratie ist – so Thoma wörtlich – „einerseits die volle politische Emanzipation und Gleichberechtigung der sozialen Unterschicht, andererseits die Abschaffung aller stabil-unabsetzbaren Obrigkeit. […] Demokratisierung ist der Name für das welthistorisch epochemachende Wagnis der abendländischen Zivilisation, die handarbeitenden Klas-
__________ 34 Ausdruck dieser Stagnation sind z. B. auch der Übergang zu berufsorientierten Studiengängen, die „Verschlankung“ des Studiums durch Bachelor-Studiengänge, die Verschulung des Studiums oder das Streichen der „Rechtstheorie“ aus dem Lehrplan der Rechtswissenschaft. 35 Nipperdey (Fn. 20), S. 38. 36 Nipperdey (Fn. 20), S. 38; zur (heftigen) Kontroverse der Historiker Gerhard Ritter und Franz Schnabel um Steins Position zwischen Herrschaft und Hierarchie auf der einen und Demokratie und Ethos auf der anderen Seite, auch zwischen protestantischem und katholischem Staatsverständnis vgl. Duchhardt, Mythos Stein, 2008, S. 45 ff. 37 Nipperdey (Fn. 20), S. 39. 38 Thoma, Das Reich als Demokratie, in Dreier (Hrsg.), Rechtsstaat – Demokratie – Grundrechte, 2008, S. 282, 286.
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sen trotz oder wegen ihrer gewachsenen, ja vielleicht alle andern Klassen und Gruppen überwachsenden Zahl zu gleichem Rechte in den Staat hineinzunehmen.“ 2. Staat und Recht sind nach dieser Perspektive Funktionen der demokratischen Gesellschaft; mithilfe von Recht und Staat regeln die Bürger ihrer eigenen Verhältnisse39. Diese Selbstregierung verlangt eine Neuorganisation des Staatsstruktur, eine Revision des Grundgesetzes, das unzweifelhaft seine historischen Verdienste hat, das aber der Autonomie der Gesellschaft entsprechend angepasst werden muss. Der Staat ist nur legitim, wenn er nicht länger einen Absolutheitsanspruch erhebt und wenn er auf seinen instrumentellen Status zurückgeführt wird. Das ist die Grundlage der Demokratie40. Der Ehrgeiz des Bürgers gilt nicht allein seinem persönlichen Wohlergehen; er will gestalten, mitreden und organisieren41. 3. Das parlamentarische System, das auf einer Übertragung von Herrschaftsgewalt beruht, ist aus heutiger Sicht unzureichend. Sicher lassen sich einzelne Bereiche auf Mandatsträger übertragen; die Grundentscheidungen müssen aber die Bürger selbst treffen. Rousseau hatte die Fragwürdigkeit der Mandatierung frühzeitig erkannt42. Ist die Entscheidung für eine demokratische Ordnung eine Entscheidung für das Prinzip der Selbstregierung des Volkes, so bedeutet das Votum für ein Repräsentativsystem eine Einschränkung dieses Prinzips43. Rechtsstaat und Grundrechtsstaat sind wichtige Errungenschaften der Moderne. Damit ist aber die Entwicklung nicht am Ende. Der nächste Schritt ist der Ausbau der demokratischen Rechte. In Deutschland gibt es zu viel Rechtsstaat und zu wenig Demokratie44. Demokratie kann nicht auf die Teilnahme an Wahlen reduziert werden; die aktive Teilnahme der Bürger ist gefordert. Der Staat ist nicht länger Herrschaftsperson, sondern nur noch Funktion der (demokratisch organisierten) Gesellschaft. Dem BVerfG geht es hingegen im Lissabon-Urteil um die Rechte des Bundestags, nicht aber um die demokratischen Rechte der Bürger.
__________ 39 „Auf halbem Weg stehengeblieben“ ist Steinert, juridikum 2010, 37 (43), der einen Doppelcharakter von Recht ausmacht, als Herrschaft und als Infrastruktur; vgl. stattdessen Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009, S. 11: von der Rechtsschutzzur Steuerungsperspektive; Rosen, Law as Culture, 1941/2008, S. 88: law as a way of managing doubt. 40 Nemo, Was ist der Westen?, 2005, S. 81. 41 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, 2. Aufl. 2009, 1081. Warum gab es in China keine Bildungsbürger? Die etablierte Elite definierte sich selbst durch Bildung. 42 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, 1762, Drittes Buch, 15. Kapitel: Von dem Augenblick an, wo ein Volk sich Vertreter gibt, ist es nicht mehr frei. 43 Zehnpfennig, Einleitung zu Hamilton/Madison/Jay, Die Federalist Papers, 1787/88, 2007, S. 41. Für die Federalists kamen Plebiszite oder eine direkte Demokratie nicht in Frage. 44 Rikklin, Schweizerisches Staatsverständnis, in JöR 52 (2004), S. 457, 462, auch zur Wandlung vom Minimalstaat zum Daseinsvorsorge- und Leistungsstaat, der einen Zuwachs der referendumfähigen Legislativakte um das Dreifache bewirkte.
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Das polykratische Repräsentativsystem hatte seine Berechtigung als Übergangssystem vom Absolutismus zu einer demokratisch organisierten Gesellschaft. Im Hinblick auf den jetzt erreichten Entwicklungsstand ist eine weitere Demokratisierung angezeigt. Ein Teil der Regierungsgewalt kann weiterhin von gewählten Eliten ausgeübt werden, die Grundentscheidungen haben jedoch die Bürger selbst zu bestimmen; eine Politik, die allein durch Mandarine und Funktionäre praktiziert wird, ist überholt. Verstärkt gefragt sind Formen der unmittelbaren und dezentralen Beteiligung. Die Emanzipation und die allgemeine Bildung sind so weit fortgeschritten, dass es patriarchalischer Vertretungsverhältnisse nicht mehr bedarf. Die notwendigen Demokratisierungs- und Emanzipationsprozesse, die auf der berechtigten Autonomie der demokratischen Ordnung beruhen, werden zu Akzeptanz führen und zu Vereinfachung. Der einzig wirksame Weg zur Vereinfachung der Gesetze und der Steuergesetze führt über die unmittelbare Bürgerbeteiligung. Notwendig sind daher (1.) die ergänzende Einführung von Plebisziten (Bürgerbegehren, Bürgerentscheide) auf allen staatlichen Ebenen, (2.) die abgestufte Demokratisierung nach dem Ausmaß der Subsidiarität und der Intensität der Betroffenheit, also unterschiedliche Demokratisierung im Bereich der Kommunen, der Länder, des Bundes, (3.) das Recht, über alle Fragen (auch Finanzfragen) Plebiszite herbeizuführen, (4.) die zeitliche Begrenzung der Übertragung politischer Macht. Von einer unzutreffenden Alternative geht Vosgerau aus, wenn er der althergebrachten Idee der staatlichen Gemeinschaft nur die (von ihm verworfene) Idee des Staates als Agentur zur Verwirklichung von Ansprüchen gegenüberstellt45. Darum geht es nicht; Ziel ist es vielmehr, dass die Bürger ihre Geschicke in ihre eigenen Hände nehmen und sich nicht länger durch welchen Staat auch immer führen lassen. Ebenso wenig kann die Befürchtung, den Staatsbegriff Hans Kelsens in die heutige Rechtspraxis zu übernehmen, ein besonderes Unwohlsein hervorrufen. Die „Entzauberung“ des Staats und des Rechts durch Kelsen war der erste Schritt; weitere Schritte müssen auf dem Weg zur partizipativen Demokratie folgen. Der Staat ist nur ein Instrument, das funktionsgerecht auf die Bedürfnisse der partizipativen Demokratie bestimmt und uminterpretiert werden muss. Es geht auch nicht um die Privatisierung der Demokratie; in der Demokratie gibt es – eigentlich selbstverständlich – keine andere Instanz als die der Bürger46. Ebenfalls nicht zu folgen ist der liberalkonservativen Perspektive von Joachim Ritter und seinen Anhängern, die in der Frühzeit der Bundesrepublik das Pro-
__________ 45 Vosgerau, Schutzlos allein, FAZ v. 11.3.2010, S. 8. 46 Volkmann, Die Privatisierung der Demokratie, FAZ v. 26.2.2010, S. 9.
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gramm eines „pragmatischen Dezisionismus“ favorisiert hatten47; nach dieser Position könne Herrschaft nicht abgeschafft werden48; legitimiert würden Entscheidungen durch Institutionen und (geregelte) Verfahren. Festgehalten wurde an der Bedeutung der Religion als Fundament der politischen Ordnung49. Von einem Ausbau der Demokratie ist nicht die Rede. Auch durch freien Wettbewerb allein werden sich die Verhältnisse nicht ändern50; freier Wettbewerb kann zu einer stärkeren Akzeptanz von Unterschieden führen, mehr aber auch nicht. 4. Das Recht entsteht nicht aus Naturrecht, ist nicht von Natur aus gegeben, sondern hat seinen Grund in der demokratischen Übereinkunft seiner Bürger, im „Gesellschaftsvertrag“51; ihre politischen Interessen müssen die Bürger in einem diskursiven Prozess selbst in die Hand nehmen52. Die Zukunftsfähigkeit der Demokratie wird gelegentlich angezweifelt und mit Misstrauen betrachtet. Demokratie als Organisationsform staatlich-politischer Herrschaft lasse sich nicht universal verwirklichen; ihre Lebens- und Funktionsfähigkeit hänge von einer Mehrzahl von Voraussetzungen ab: sozio-kulturellen, politisch-strukturellen und auch ethischen (ethos-bestimmten); zu den sozio-kulturellen Voraussetzungen gehöre zunächst ein gewisses Maß an Emanzipationsstruktur der Gesellschaft. Der Anspruch auf Demokratie sei kein Menschenrecht53. Und nach Auffassung von Höffe verfügten Demokratien nicht über eine stupende Zukunftsfähigkeit; indes erfreue sich die aufgeklärt liberale, darüber hinaus partizipative Demokratie eines Legitimitäts-, eines
__________ 47 Dazu auch Habermas (zitiert nach Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit, 2006, S. 155): „Der Zuschnitt formaldemokratischer Einrichtungen und Prozeduren sorgt dafür, dass die Entscheidungen der Administration weitgehend unabhängig von bestimmten Motiven der Staatsbürger gefällt werden können.“ – Gewisse Ähnlichkeit hat diese Position mit der von Carl Schmitt („Ordnung vor Recht“); dazu Augsberg (Fn. 39), S. 158; zu den Verbindungen von Joachim Ritter und Carl Schmitt Schweda, Joachim Ritters Begriff des Politischen, Zeitschrift für Ideengeschichte, 2010, S. 91. 48 Vgl. Hacke (Fn. 47), S. 204 ff. 49 Hacke (Fn. 47), S. 249. 50 A. A. Lübbe, Wann Unterschiede akzeptabel sind, FAZ v. 17.3.2010, S. 8. 51 A. A. z. B. noch Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Gesammelte Werke, Band 15, 2003, S. 270: Der Staat könne nur insofern Recht schaffen und Recht begründen, als er selbst ein ursprüngliches Recht in sich trage und in sich verwirkliche. Alle bindende Kraft der „lex civilis“ müsse in dieser Grundkraft der „lex naturalis“ verankert werden. Das Recht als solches sei vorstaatlich und überstaatlich. Andererseits erkennt er zutreffend, dass sich Rousseau mit seiner Lehre vom „contrat social“ vom Naturrecht getrennt habe. Rousseau wolle den bisherigen Notstaat zum Vernunftstaat umbilden, er wolle die Gesellschaft, die bisher ein Werk der blinden Notwendigkeit war, zu einem Werk der Freiheit machen (S. 285). Rousseau habe die Welt der Aufklärung nicht zerstört; er habe nur den Schwerpunkt dieser Welt an eine andere Stelle gerückt; wie kein zweiter Denker habe er den Weg zu Kant gebahnt (S. 287). 52 Mattei/de Morpurgo, juridikum 2010, 15 (23) sprechen vom gegenwärtigen „lack of democratic legitimacy“: „A rethinking of the very idea of global law is necessary and it must derive from a revaluation of the local dimension, which is ignored by the currently taken-for-granted model of development.“ 53 Böckenförde, Ist Demokratie eine notwendige Forderung der Menschenrechte?, in Staat, Nation, Europa, 1999, S. 246, 250, 255.
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Wissens- und eines Wirtschaftsvorsprungs. Beim Rechtskapitel seien die Demokratien deutlich überlegen54. Die Federalists (die Schöpfer der amerikanischen Verfassung) hielten die Delegation der Macht an eine gewählte Elite für unabdingbar. Die Federalists waren von der eher skeptischen Philosophie Humes geprägt; in die Selbstregulierung des Menschen setzten sie keine allzu großen Hoffnungen. Für die Federalists war der Mensch ein Mängelwesen, eher mit der Tendenz zum Bösen und einem fehlbaren Verstand. Daher begründeten sie eine „föderalistischpluralistische Polykratie“55. Die Bedeutung von Recht und Staat als demokratisch legitimierte Funktionen der Gesellschaft kommt auch zu kurz bei Nozick56. Er plädiert zwar – in Auseinandersetzung mit Rawls – für einen Minimalstaat, ohne aber auf die notwendige demokratische Legitimation des einen oder anderen Modells einzugehen. Die Bürger entscheiden in freier Selbstbestimmung, welches staatliche Modell sie ihrer Selbstregierung zu Grunde legen wollen.
VI. Steuerrechtliche Implikationen 1. Die Misere des Steuerrechts und die Misere des Steuerstaats beruhen vor allem auch auf den staatsrechtlichen Gegebenheiten. Solange die staatsrechtlichen Grundlagen nicht reformiert sind, wird es eine echte Steuerreform nicht geben können. Den Steuerrechtsreformen vorgelagert sind daher notwendigerweise Staatsrechtsreformen. Staat und Recht müssen als Funktionen der modernen demokratisch organisierten Gesellschaft begründet, interpretiert und ausgebaut werden. Die Steuergesetze können dann in einem fairen und transparenten Prozess zustande kommen, den die Bürger selbst und unmittelbar beeinflussen können und dessen Ergebnisse sie akzeptieren. 2. Das aktuelle Steuerrecht leidet an den strukturellen Defiziten des Staatsrechts und der Staatslehre. Steuerliche Gerechtigkeit beruht auf dem Gedanken der demokratischen Gemeinwohlbestimmung. Notwendig sind mehr Mitbestimmung, mehr Demokratie, mehr Offenheit, z. B. die Abschaffung des sog. Bankgeheimnisses57, die Abschaffung der Selbstanzeige58, Information über Steueraufkommen, Abbau hierarchischer Strukturen, Selbstveranlagung, Steuerlisten, die Anknüpfung der unbeschränkten Steuerpflicht auch an die Staats-
__________ 54 55 56 57
Höffe, Ist die Demokratie zukunftsfähig?, 2009, S. 312. Nipperdey (Fn. 20), S. 38. Nozick, Anarchie, Staat, Utopia, 2006 (deutsche Ausgabe). Spindler, FASZ v. 10.7.2005, S. 45: Das Bankgeheimnis steht im Konflikt mit dem Steuerrecht; ein Bankgeheimnis darf es gegenüber dem Fiskus nicht geben; a. A. Bär, FASZ v. 4.4.2004, S. 31 (Interview): Das Bankgeheimnis soll die Menschen, die insoweit ein ureigenes Bedürfnis nach Persönlichkeitsschutz hätten, vor dem Staat schützen. 58 Kemper, Die Selbstanzeige nach § 371 AO – Eine verfehlte „Brücke zur Steuerehrlichkeit“?, ZRP 2008, 105.
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angehörigkeit59. Notwendig sind Fairness im Steuerrecht, Belastungssymmetrie, Abbau von Privilegien, Beseitigung der exit-options (Globalisierung, Schwarzarbeit) und die Rückgewinnung der Loyalität der Bürger. Ohne ein rechtsrealistisches Rechts- und Staatsverständnis und die damit verbundene Beseitigung des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft kann ein zukunftsfähiges Steuerrecht nicht zustande kommen. 3. Neben diesen eher „systemkonformen“ klassischen Maßnahmen ist auch an ganz grundlegende Veränderungen zu denken, an eine neue „Architektur des Steuerrechts“60: Die steuerliche Gesetzgebung ist zu „demokratisieren“. Die Finanzkrise ist letzten Endes auch eine Folge unzureichender demokratischer Mitwirkung. 4. Das Steuerrecht ist in seiner bürokratischen Grundstruktur und seiner verwaltungstechnischen Ausgestaltung ein Kind des 19. Jahrhunderts. Angesichts der eingetretenen Entwicklungen sind andere Formen der Besteuerung zu prüfen, wie etwa die sog. Tobinsteuer, eine umfassende Kapitaltransaktionssteuer61 und die Einführung einer Börsenumsatzsteuer62. Die herkömmlichen Besteuerungsformen (Einkommensteuer, Warenumsatzsteuer) sind historisch bedingt. Moderne Techniken der Bruttobesteuerung (Kapitaltransaktionssteuer, Umsatzsteuer, Abgeltungsteuer) sind zu bevorzugen; Transferleistungen sind nicht über das Steuerrecht abzuwickeln, sondern in Gestalt direkter Ausgleichszahlungen. 5. Steuern sind – ihrem Wesen nach – in einer demokratischen Gesellschaft, keine staatlichen Zwangsabgaben, sondern Solidarbeiträge zur Finanzierung der gesellschaftlichen Aufgaben63. Steuern sind – in der demokratischen Gesellschaft – nicht freiheitsbeschränkend, sondern notwendige Finanzierungsbeiträge. Die Bürger, die zur Finanzierung beitragen, haben Anspruch auf gesellschaftliches Ansehen. 6. Der schlichte Ruf nach Steuervereinfachung und Steuerreform64 – als repetiv rezitiertes Mantra zur Beseitigung der Unzulänglichkeiten – ist unzureichend; die jetzige Misere hat ihre Ursache wesentlich in der Herrschaft der Bürokratie; notwendig sind Mitbestimmung und Partizipation.
__________ 59 Dazu Hensel, Steuerrecht, 3. Aufl. 1933, § 11 III, S. 66. Das persönliche Band der Staatsangehörigkeit wird durch wirtschaftlich-territoriale Beziehungen ersetzt. Dazu auch Schön, Steuergesetzgebung zwischen Markt und Grundgesetz, StuW 2004, 62 (68), der darauf hinweist, dass die Verbindung von Personen zu einer Verantwortungsgemeinschaft in den Tatbeständen des Steuerrechts und den Verflechtungen der internationalen Wirtschaft immer mehr verloren geht. 60 Weber-Grellet, Die Zukunft des Steuerrechts, in FS Deutscher Richterbund, 2009, S. 235; Weber-Grellet, Das Steuerrecht in der Finanzkrise, ZRP 2009, 101. 61 Dazu im Einzelnen Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, S. 135 ff. 62 BT-Drs 16/12333, kleine Anfrage der FDP-Fraktion. 63 Zu Werten im Steuerrecht Spindler, Stbg 2010, 49. 64 Zur Vergeblichkeit von Reformbemühungen vgl. Bollmann, Reform – Ein deutscher Mythos, 2008.
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VII. Schlusswort Ist aber der Staat nur noch demokratische Funktion65, ist nach den Maßstäben zu fragen, auf die die Bürger ihre Entscheidungen stützen. Diese Maßstäbe sind in einer heterogen zusammengesetzten und „polyphon“ gestimmten Gesellschaft66 ambivalent: Vergangenheit und Geschichte, Aufklärung, Philosophie, (individuelle) Grundwerte, Verfassungen, Religionen67, Humanität, Menschenrechte. (Nur) Auf der Grundlage dieser Vorgaben und dieser Werte kann und muss die Gesellschaft am Tag der Krise – im Wege demokratischer Abstimmung – die an sie gerichteten Herausforderungen bestehen.
__________ 65 Die Böckenförde’sche Frage „Worauf stützt sich dieser Staat am Tage der Krise?“ (Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42 ff., 60) existiert nicht mehr. 66 Ratzinger in Habermas/Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung – Über Vernunft und Religion, 2. Aufl. 2005, S. 39 ff. 67 Dazu Böckenförde, Stellung und Bedeutung der Religion in einer civil society, in Staat, Nation, Europa, 1999, S. 256.
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Rechtsschutz im österreichischen Abgabenrecht Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechtsschutz im Verwaltungsrecht 1. Allgemeines 2. Entstehungsgeschichte des unabhängigen Finanzsenates 3. Rechtliche Rahmenbedingungen des unabhängigen Finanzsenates 4. Grundprinzipien des Abgaben(rechtsmittel)verfahrens a) Gleichmäßigkeit der Besteuerung (§ 114 BAO) b) Parteiengehör (§ 115 Abs. 2 BAO) c) Ablehnungsrecht (§ 278 BAO) d) Kein Neuerungsverbot (§§ 115 Abs. 4 und 280 BAO) e) Kein Verböserungsverbot (§ 289 Abs. 2 BAO) 5. Überblick über den Lauf des Rechtsmittelverfahrens in Abgabensachen III. Das Konzept der Finanzgerichtsbarkeit 1. Das österreichische System der Verwaltungsgerichtsbarkeit
2. Die Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit des Verfassungsgerichtshofes 3. Die Entwicklung des Administrativverfahrens 4. Einbeziehung der Abgabensachen 5. Entwicklung des Abgabenverfahrensrechts 6. Organisation des Verwaltungsgerichtshofes 7. Anrufbarkeit und Verfahren beim VwGH IV. Herausragende Beiträge der Abgabensenate zum Abgabenrecht 1. Judikatur mit positiver Folgeaktivität des Gesetzgebers 2. Judikatur mit negativer Folgeaktivität des Gesetzgebers 3. Rechtslagen, die ohne Aktivität des Gesetzgebers seit längerem oder aktuell auf der Judikatur des VwGH basieren V. Schlussbetrachtung
I. Einleitung Der vorliegende Beitrag soll die Grundzüge des Rechtsschutzes im österreichischen Abgabenrecht1 vorstellen. Rechtsgeschichtlich bedingt ist die Nähe zwischen dem deutschen und dem österreichischen Recht im Steuerrecht ausgeprägter als in anderen Materien2. Beträchtliche Unterschiede bestehen allerdings im formellen Recht, zwar nicht im Hinblick auf den Effekt des Rechtsschutzes, als vielmehr auf die Organisation des Rechtsschutzsystems. Die Darstellung setzt mit dem administrativen Rechtsmittelverfahren vor dem
__________ * Für die über das Technische hinausgehende Unterstützung danke ich Herrn Dr. Peter Unger, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Verwaltungsgerichtshof. 1 Abgaben in finanzverfassungsrechtlichem Sinn sind alle öffentlich-rechtlichen Geldleistungen, die Gebietskörperschaften kraft öffentlichen Rechts zur Deckung ihres Finanzbedarfs erheben (z. B. VfGH VfSlg. 17414/2004 m. w. N.). 2 Vgl. Ondraczek, Austrifizierung des Abgabenrechts, JBl. 1959, 357; vgl. auch Faber/ Meissel, Nationalsozialistisches Steuerrecht und Restitution, 2006, S. 3.
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unabhängigen Finanzsenat ein, bringt dann eine knappe Darstellung der Finanzgerichtsbarkeit und wird mit einigen Beispielen aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgerundet3.
II. Rechtsschutz im Verwaltungsrecht 1. Allgemeines Das österreichische Steuerrecht sieht im Bereich des ordentlichen Rechtsmittelverfahrens seit jeher einen einfachen Instanzenzug von der Abgabenbehörde bzw. Finanzstrafbehörde erster Instanz (Finanzamt oder Zollamt) zur Rechtsmittelbehörde (seit 2003: unabhängiger Finanzsenat = „UFS“) vor. Daran anschließend besteht (nur) noch die Möglichkeit, im Rahmen des außerordentlichen Rechtsmittelverfahrens (Rechtsbehelfsverfahren) eine Beschwerde bei den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts, somit Verwaltungsgerichtshof („VwGH“) und/oder Verfassungsgerichtshof („VfGH“) einzubringen. Für das Finanzstrafrecht sieht § 53 FinStrG4 bei vorsätzlichen Finanzvergehen eine gerichtliche Zuständigkeit vor, wenn der strafbestimmende Wertbetrag 75000,– Euro übersteigt5. Alle anderen Finanzvergehen fallen in die Zuständigkeit der Finanzstrafbehörde erster Instanz, wobei grundsätzlich wertabhängig entweder ein Einzelbeamter oder ein Spruchsenat als Entscheidungsorgan tätig wird. Dagegen kann Berufung beim UFS erhoben werden, gegen die Berufungsentscheidung die Beschwerde an die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts. 2. Entstehungsgeschichte des unabhängigen Finanzsenates Als Rechtsmittelbehörde in Abgabensachen fungierten bis zum 31.12.2002 die in den Bundesländern eingerichteten Finanzlandesdirektionen. Ein über mehrere Jahre andauernder Reformprozess, der die grundlegende Neugestaltung des österreichischen Rechtsmittelverfahrens zum Inhalt hatte und schließlich in der Errichtung des unabhängigen Finanzsenates mündete, verfolgte vor allem folgende Ziele6:
__________ 3 Hier sei erwähnt, dass zwischen dem Bundesfinanzhof und dem Verwaltungsgerichtshof seit 1977 jedes zweite Jahr abwechselnd in München oder Wien Fachgespräche stattfinden. Sie dienen einem höchst aufschlussreichen und farbigen Rechtsvergleich. Dabei habe ich den exzellenten Juristen und liebenswürdigen Präsidenten des BFH, Dr. Wolfgang Spindler, schätzen gelernt. 4 Bundesgesetz v. 26.6.1958, betreffend das Finanzstrafrecht und das Finanzstrafverfahrensrecht, StF BGBl. Nr. 129/1958, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. I 9/2010. 5 Bei einigen Delikten beträgt die Wertgrenze 37500,– Euro. Zu den Einzelheiten der Abgrenzung der Zuständigkeiten vgl. Reger/Hacker/Kneidinger, 3. Aufl. 2002, § 53 FinStrG Rz. 4-25. In der Regierungsvorlage einer FinStrGNov 2010 ist die Anhebung der Wertgrenzen auf 100.000 Euro bzw. 50.000 Euro vorgesehen. 6 Vgl. 1002 Beilage zu den stenographischen Protokollen des Nationalrats (BlgNR), 21. GP, 29 f.
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Erhöhung des Rechtsschutzstandards durch ein Nachziehen mit der Finanzgerichtsbarkeit in anderen EU-Staaten; Stärkung der Bürgerrechte (Unabhängigkeit der Rechtsmittelbehörde, faire und schnelle Verfahren vor unabhängigen Organen); keine Mischverwendungen (Fach- und Rechtsmittelagenden) der Mitglieder des neuen UFS; verstärkte Angleichung der Rechtsschutzstandards an die für civil rights maßgebenden Grundsätze des Art. 6 Abs. 1 MRK; Erfüllung der Kriterien eines Gerichtes i. S. d. Art. 267 AEUV (ex Art. 234 EGV) für Vorabentscheidungsverfahren sowie i. S. d. Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (vgl. nun auch Art. 6 EUV i. d. F. des Vertrages von Lissabon); Entlastung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (VwGH und VfGH); keine Zugangsbeschränkungen, wie insbesondere Gebührenpflicht, Kostenersatzregelungen oder anwaltlicher Vertretungszwang; Beibehaltung bisheriger Rechtschutzinstrumente (z. B. Devolutionsantrag, Säumnisbeschwerde, VfGH-Beschwerde zur Anfechtung von Gesetzen und Verordnungen) und schließlich die vollständige organisatorische Integration des Rechtsmittelbereichs im Zollwesen. Mit dem Bundesgesetz über den unabhängigen Finanzsenat (UFS-Gesetz – UFSG7) wurde diese neue Behörde per 1. Jänner 2003 zur bundesweiten Rechtsmittelbehörde, die von den vormals zuständigen Finanzlandesdirektionen 11.827 unerledigte Geschäftszahlen zu übernehmen hatte. Heute, im achten Jahr seiner Rechtsprechungstätigkeit wird dem UFS allseits eine gelungene Umsetzung der angestrebten Ziele, insbesondere eine unabhängige Entscheidungsfindung attestiert. Dies zeigt sich nicht nur in wissenschaftlichen Diskussionen8, sondern auch in der Praxis. So kann festgestellt werden, dass im Schnitt der letzten Jahre lediglich 6,37 % der gesamten UFSEntscheidungen vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts bekämpft wurden. Von diesen führten wiederum nur 24,65 % (somit nur ca. 1,57 % der Gesamterledigungen des UFS) zu einer Bescheidaufhebung durch den VwGH oder den VfGH. Die Weiterentwicklung des Rechtsschutzes ist auch in den Zusammenhang der in Österreich seit geraumer Zeit diskutierten Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu stellen. Im Kern bestünde sie aus der Umwandlung der diversen als Rechtsmittelbehörden fungierenden Tribunale, besonders der unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern (UVS), in echte (justizförmige) Verwaltungsgerichte erster Instanz. Zugleich sollten die noch bestehenden administrativen Rechtsmittelbehörden aufgelassen werden. Ein 2007 vom Bundeskanzleramt vorgelegter „Expertenentwurf“9 wurde von der Fachwelt
__________ 7 Art. I des Abgaben-Rechtsmittel-Reformgesetzes, BGBl. I Nr. 97/2002, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. I 2/2008. 8 Siehe vor allem die steuerrechtlichen Verhandlungen des 16. Österreichischen Juristentages in Graz 2006: 16. ÖJT, Band IV/2, 2007. 9 Entwurf eines Bundesverfassungsgesetzes, mit dem das Bundes-Verfassungsgesetz geändert und ein Erstes Bundesverfassungsrechtsbereinigungsgesetz erlassen wird (94/ME, 23. GP).
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eingehend diskutiert10. Für das Abgabenrecht war in diesem Entwurf vorgesehen, dass der UFS – gemeinsam mit anderen Tribunalen – in ein besonderes „Verwaltungsgericht des Bundes“ eingehen sollte11. Zu einer tatsächlichen Rechtsänderung kam es indessen nur im Bereich des Asylwesens mit der Einrichtung eines „Asylgerichtshofes“12. Im Februar 2010 hat das Bundeskanzleramt einen überarbeiteten Entwurf einer „Verwaltungsgerichtsbarkeit-Novelle 2010“ der allgemeinen Begutachtung zugeleitet13. Anders als im ersten Entwurf ist nunmehr ein „Verwaltungsgericht des Bundes für Finanzen“ vorgesehen. Gegen seine Entscheidungen soll ein – durch ein weitgehendes Ablehnungsrecht des VwGH verengter – Zugang zum VwGH sowie zum VfGH bestehen. Über die Erfolgsaussichten dieses Entwurfs kann derzeit keine Aussage getroffen werden, zumal die Bundesregierung nicht über die für Verfassungsgesetze erforderliche Zweidrittelmehrheit verfügt. 3. Rechtliche Rahmenbedingungen des unabhängigen Finanzsenates Gemäß § 1 Abs. 1 UFSG (Verfassungsbestimmung) wird für das gesamte Bundesgebiet ein unabhängiger Finanzsenat als unabhängige Verwaltungsbehörde errichtet. Gemäß § 6 Abs. 1 UFSG (Verfassungsbestimmung) sind die Mitglieder des unabhängigen Finanzsenates bei Besorgung der ihnen kraft gesetzlicher Bestimmungen zukommenden Aufgaben an keine Weisungen gebunden14. Der bereits durch § 1 Abs. 1 UFSG vorgegebene institutionelle Rahmen einer (weisungsfreien) Verwaltungsbehörde gründet in der innerstaatlichen Vergleichbarkeit mit den UVS in den Ländern. Mit dem UFS wurde zwar kein Gericht i. S. d. Art. 82 B-VG15 geschaffen16, doch im Gegensatz zum Rechtsstatus der ehemaligen Finanzlandesdirektionen17 stellt der UFS18 sehr wohl ein Gericht i. S. d. Art. 267 AEUV (ex Art. 234 EG) dar und kommt ihm Tribunalqualität i. S. d. Art. 6 MRK zu19, beides waren erklärte Ziele der Reform. Die dezentrale Behördenstruktur mit Sitz (Behördenleitung) in Wien und Außenstellen in den Bundesländern entspricht der ebenso als Reformziel ver-
__________ 10 Eine dogmatische Diskussion des Entwurfes siehe in Holoubek/Lang (Hrsg.), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008. 11 94/ME, 23. GP, 5 und 15. 12 Bundesgesetz über den Asylgerichtshof (Asylgerichtshofgesetz), BGBl. I Nr. 4/2008 in Kraft seit dem 1.7.2008. 13 KA-601.999/0001-V/1/2010 v. 12.2.2010. Ende der Begutachtungsfrist: 9.4.2010. 14 Vgl. auch § 271 BAO (Bundesgesetz über allgemeine Bestimmungen und das Verfahren für die von den Abgabenbehörden des Bundes, der Länder und Gemeinden verwalteten Abgaben (Bundesabgabenordnung), StF BGBl. Nr. 194/1961, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 58/2010) und § 66 Abs. 1 FinStrG. 15 Bundes-Verfassungsgesetz, StF BGBl. Nr. 1/1930 (WV), zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 57/2010. 16 Vgl. Ritz, 3. Aufl. 2005, § 260 BAO Rz. 1. 17 EuGH v. 30.5.2002, Rs. C-516/99, Schmid, ABl. 2002/C 169/08 v. 13.7.2002. 18 EuGH v. 24.6.2004, Rs. C-278/02, Handlbauer, ABl. 2004/C 201/06 v. 24.6.2004. 19 Tanzer/Unger, BAO, 3. Aufl. 2010, S. 70; Fn. 8.
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folgten Berücksichtigung der Grundsätze der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit i. S. d. Art. 126b Abs. 5 B-VG20. Der UFS besteht aus hauptberuflichen21 und nebenberuflichen Mitgliedern22 (§ 3 UFSG). Im Geschäftsbereich Steuern und Beihilfen ist grundsätzlich die Entscheidung im Berufungssenat vorgesehen23. Dieser besteht aus vier Personen: dem Vorsitzenden, dem Referenten und zwei nebenberuflichen (entsendeten) Mitgliedern24. Im Geschäftsbereich Zoll wird der Berufungssenat aus drei hauptberuflichen Mitgliedern gebildet25. Für den Geschäftsbereich Finanzstrafrecht ist grundsätzlich – gleich wie im Bereich Steuern und Beihilfen – ein Berufungssenat mit zwei hauptberuflichen und zwei nebenberuflichen (Laienbeisitzer) Mitgliedern vorgesehen26. Die konkrete Entscheidungsfindung im Bereich Finanzstrafrecht wird allerdings durch detaillierte Sonderregelungen27 vorgegeben, je nachdem ob sich das eingebrachte Rechtsmittel gegen ein Erkenntnis oder einen sonstigen Bescheid eines erstinstanzlichen Spruchsenates richtet oder aber gegen die Ausübung unmittelbarer finanzstrafbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt. Der UFS bearbeitet drei Geschäftsbereiche, namentlich Steuern und Beihilfen (Finanzämter), Zoll (Zollämter) und Finanzstrafrecht (Finanzämter und Zollämter als Finanzstrafbehörden erster Instanz). Die jeweiligen Aufgaben werden dem UFS, korrespondierend zum jeweiligen Geschäftsbereich, durch die BAO (Steuern und Beihilfen), das ZollR-DG (Zoll) sowie das FinStrG (Finanzstrafrecht) übertragen. Trotz der Implementierung des Landes- und Gemeindeabgabenverfahrensrechtes in die Bundesabgabenordnung durch das Abgabenverwaltungsreformgesetz28 per 1.1.2010 erstreckt sich die Zuständigkeit des UFS nicht auf Rechts-
__________ 20 1002 BlgNR, 21. GP, 29. 21 Dies sind der/die Präsident/in, die Vorsitzenden der Berufungssenate (derzeit 28) und die sonstigen hauptberuflichen Mitglieder (derzeit 226). Allesamt werden vom BPräs unbefristet ernannt. 22 Diese werden von den gesetzlichen Berufsvertretungen (der selbständigen und der unselbständigen Berufe) für die Dauer von sechs Jahren an die jeweiligen Außenstellen des UFS entsendet, wobei die Berufsvertretungen der Notare, Rechtsanwälte und Wirtschaftstreuhänder nicht berechtigt sind, Mitglieder zu entsenden (§§ 263 ff. BAO). Dieser Ausschluss erfolgte in Anlehnung an § 19 Nr. 5 (deutsche) FGO, siehe 1002 BlgNR, 21. GP, 37. 23 § 260 BAO. 24 § 270 Abs. 5 BAO, wobei gemäß § 282 Abs. 1 BAO die konkrete Berufungsentscheidung dem jeweiligen Referenten „namens des Berufungssenates“ obliegt, außer die Entscheidung durch den gesamten Berufungssenat wird von der Partei beantragt oder vom Referent verlangt. 25 § 85c Abs. 3 und 4 ZollR-DG (Bundesgesetz betreffend ergänzende Regelungen zur Durchführung des Zollrechts der Europäischen Gemeinschaften [Zollrechts-Durchführungsgesetz], StF BGBl. Nr. 659/1994, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 34/2010). 26 § 66 Abs. 2 FinStrG. 27 § 62 Abs. 2 bis 5 FinStrG. 28 BGBl. I Nr. 20/2009. Vgl. dazu auch unten III.5.
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mittelverfahren von Landes- und Gemeindeabgaben. Die Festlegung diesbezüglicher zweiter Instanzen obliegt auch weiterhin den Landesgesetzgebern29. 4. Grundprinzipien des Abgaben(rechtsmittel)verfahrens Die folgenden Ausführungen betreffen ausgewählte verfahrensleitende Grundsätze, die zwar auch im erstinstanzlichen Abgabenverwaltungsverfahren gelten, jedoch typischerweise gerade im Rechtsmittelverfahren besondere Bedeutung erlangen. a) Gleichmäßigkeit der Besteuerung (§ 114 BAO) Dieses einfachgesetzliche Prinzip wird von verfassungsrechtlichen Grundsätzen, namentlich dem Gleichheitssatz30 und dem Legalitätsprinzip31 abgeleitet32 und bezweckt einen fehlerfreien, vor allem von Schikanen freien, Gesetzesvollzug und fordert daher auf, Fehler bei der Steuerbemessung mit allen vom Gesetz vorgesehenen Mitteln zu vermeiden oder zu beseitigen33. b) Parteiengehör (§ 115 Abs. 2 BAO34) Der Grundsatz des Parteiengehörs (rechtliches Gehör) gehört zu den Grundsätzen des Rechtsstaates35 im Allgemeinen und zu den Grundsätzen eines geordneten Verfahrens im Besonderen36. In dessen Beachtung ist der Partei vor allem Gelegenheit zu Äußerungen zu behördlichen Sachverhaltsannahmen sowie zu den Ergebnissen des Beweisverfahrens37, nicht jedoch zum Ergebnis
__________ 29 Zumeist werden als zweite Instanz die Landesregierungen für Landesabgaben und der Gemeinderat oder Gemeindevorstand für Gemeindeabgaben vorgesehen. Wien kennt eine eigene Abgabenberufungskommission, die auch nach dem neuen „Gesetz über das Wiener Abgabenorganisationsrecht (WAOR, Wiener LGBl. Nr. 58/2009)“ beibehalten wird. 30 Art. 2 StGG (Staatsgrundgesetz v. 21.12.1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, RGBl. Nr. 142/ 1867 i. d. F. BGBl. Nr. 684/1988) und Art. 7 Abs. 1 B-VG. 31 Art. 18 Abs. 1 B-VG und auch § 5 F-VG (Bundesverfassungsgesetz über die Regelung der finanziellen Beziehungen zwischen dem Bund und den übrigen Gebietskörperschaften [Finanz-Verfassungsgesetz 1948], BGBl. Nr. 45/1948 i. d. F. BGBl. I Nr. 103/ 2007). 32 Tanzer/Unger (Fn. 19), S. 92; Ritz (Fn. 16), § 114 BAO Rz. 1. 33 VwGH v. 4.6.1986, 85/13/0076; vgl. auch aus der ständigen Rechtsprechung z. B. VwGH v. 11.11.2008, 2006/13/0046 betreffend steuerliche Anerkennung von Verträgen zwischen nahen Angehörigen. 34 Zu den in § 115 Abs. 2 BAO angesprochenen Parteien gehört nicht nur die Partei i. S. d. § 78 BAO, sondern im Rechtsmittelverfahren vor dem UFS auch die erstinstanzliche Behörde als Amtspartei (§ 276 Abs. 7 BAO); vgl. VwGH v. 8.7.2009, 2007/15/0036 betreffend das zum Schutze beider Parteien des Rechtsmittelverfahrens geltende Überraschungsverbot. 35 VwGH v. 31.1.2001, 95/13/0032, 0033. 36 Z. B. VwGH v. 18.9.2003, 2000/16/0319. 37 Z. B. VwGH v. 25.10.2000, 94/13/0148.
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der Beweiswürdigung vor Erlassung des Sachbescheides38 zu geben. Die Missachtung des Parteiengehörs durch die Behörde erster Instanz ist allerdings im Rechtsmittelverfahren vor dem UFS als zweiter Instanz heilbar39. c) Ablehnungsrecht (§ 278 BAO) Auf Grund der angestrebten Angleichung an die Verfahrensgarantien des Art. 6 Abs. 1 MRK wurde i.R.d. bereits mehrfach erwähnten Reform des Rechtsmittelverfahrens das Recht, Mitglieder der Berufungssenate wegen Vorliegens von Befangenheitsgründen abzulehnen, in der BAO explizit vorgesehen und dieses, nach dem Vorbild des § 73 FinStrG, nicht nur dem Berufungswerber, sondern auch der Abgabenbehörde erster Instanz eingeräumt40. d) Kein Neuerungsverbot (§§ 115 Abs. 4 und 280 BAO) Im Gegensatz zum Verfahren vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts41 gilt im Abgabenverwaltungsverfahren wie auch im Rechtsmittelverfahren vor dem UFS kein Neuerungsverbot. Dementsprechend haben die Abgabenbehörden erster wie zweiter Instanz auf bis zur Wirksamkeit der Berufungsentscheidung vorgebrachte neue Tatsachen, Beweise und Anträge Bedacht zu nehmen, selbst wenn dadurch das Berufungsbegehren geändert oder ergänzt wird. Dies gilt auch dann, wenn die neuen Informationen (nur) bei der Abgabenbehörde erster Instanz eingelangt sind42 und auch unabhängig davon, ob die Abgabenbehörde erster Instanz ihrer diesbezüglichen Verständigungsverpflichtung43 nachgekommen ist, oder nicht44. e) Kein Verböserungsverbot (§ 289 Abs. 2 BAO) Sofern der UFS keine Formalentscheidung45 trifft, ist er berechtigt, als Abgabenbehörde zweiter Instanz sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung seine Anschauung an die Stelle jener der Abgabenbehörde erster Instanz zu setzen und dementsprechend den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern, aufzuheben oder die Berufung als unbegründet abzuweisen46. Auf Grund dieser Befugnis zur reformatorisch-meritorischen Ent-
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38 VwGH v. 26.7.2007, 2005/15/0051. 39 Vgl. UFS 11.10.2007, RV/0768-W/02. 40 1002 BlgNR, 21. GP, 38. Ungeachtet dieses Ablehnungsrechtes hat ein befangenes Mitglied von sich aus unverzüglich den Vorsitzenden des Berufungssenates hierüber zu informieren, unabhängig davon, ob die Parteien vom Befangenheitsgrund Kenntnis erlangt oder von ihrem Ablehnungsrecht Gebrauch gemacht haben (vgl. Ritz [Fn. 16], § 278 BAO Rz. 10). 41 § 41 Abs. 1 VwGG (Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985, StF BGBl. Nr. 10/1985 [WV], zuletzt geändert durch BGBl. Nr. I 4/2008) und § 35 VfGG i. V. m. § 504 ZPO. 42 Z. B. VwGH v. 25.9.2002, 97/13/0123. 43 § 276 Abs. 8 letzter Satz BAO. 44 Tanzer/Unger (Fn. 19), S. 153; Ritz (Fn. 16), § 280 BAO Rz. 2. 45 Gemäß § 289 Abs. 1 BAO, siehe hierzu sogleich unter Punkt 5. 46 § 289 Abs. 2 BAO.
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scheidung besteht für den UFS auch kein „Verböserungsverbot“ gegenüber der bescheidmäßigen Ausgangslage47. 5. Überblick über den Lauf des Rechtsmittelverfahrens in Abgabensachen Das einzige Rechtsmittel im Bereich Steuern und Beihilfen stellt die Berufung48 dar. Die Rechtsmittel aller drei Geschäftsbereiche müssen innerhalb eines Monats ab Zustellung der erstinstanzlichen Erledigung eingebracht werden49, wobei dies entweder bei der (Abgaben-)Behörde erster Instanz oder beim UFS erfolgen kann50. In allen drei Geschäftsbereichen hat eine Berufung den Bescheid zu bezeichnen, gegen den sie sich richtet; zu erklären, in welchen Punkten der Bescheid angefochten wird und welche Änderungen beantragt werden sowie eine Begründung zu beinhalten. Im Gegensatz zum allgemeinen verwaltungsbehördlichen Berufungsverfahren nach AVG und der Berufung im finanzstrafrechtlichen Rechtsmittelverfahren vor dem UFS, kommt den Rechtsmitteln im Abgaben- sowie auch Zollverfahren vor dem UFS keine aufschiebende Wirkung zu51. Indessen kann der Antrag gestellt werden, die Einhebung auszusetzen52. In jeder Lage des Verfahrens kommen für die Abgaben- bzw. Finanzstrafbehörden der ersten und zweiten Instanz folgende Formalerledigungen in Betracht53: Zurückweisungsbescheide54 bei Unzulässigkeit oder nicht fristgerechter Einbringung der Berufung, Zurücknahmebescheide55, wenn einem rechtmäßigen Mängelbehebungsauftrag nicht, nicht rechtzeitig oder unzureichend entsprochen wird, Gegenstandsloserklärungen56 bei Zurücknahme der Berufung oder insoweit dem Berufungsbegehren in einem an die Stelle des angefochtenen Bescheides tretenden Bescheid entsprochen wird, Aussetzungen57, wenn entweder wegen einer gleichen oder ähnlichen Frage eine Berufung anhängig ist oder sonst vor einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde ein Verfahren
__________ 47 Im Geschäftsbereich Finanzstrafrecht findet sich eine begünstigende Einschränkung durch § 161 Abs. 3 FinStrG. Demnach ist eine Änderung des Erkenntnisses zum Nachteil des Beschuldigten oder der Nebenbeteiligten nur bei Anfechtung (der erstinstanzlichen Entscheidung des Spruchsenates) durch den Amtsbeauftragten zulässig. Insofern gilt daher im finanzstrafrechtlichen Rechtsmittelverfahren für den UFS sehr wohl ein Verböserungsverbot. 48 §§ 243 ff. BAO. 49 § 245 Abs. 1 BAO, § 85c Abs. 2 ZollR-DG, § 150 Abs. 2 FinStrG. 50 § 249 Abs. 1 BAO, § 85c Abs. 2 ZollR-DG, § 150 Abs. 3 FinStrG. 51 Vgl. § 254 BAO und § 151 Abs. 2 FinStrG. 52 § 212a BAO. 53 Weiterführend Hörtnagl-Seidner, Formalentscheidungen im Abgabenverfahren – Der Unabhängige Finanzsenat und die deutsche Finanzgerichtsbarkeit im Vergleich, 2009. 54 § 273 BAO, § 156 Abs. 1 und 4 FinStrG. 55 §§ 85 Abs. 2, 275 BAO, § 156 Abs. 2 FinStrG. 56 §§ 256 Abs. 3 und 274 BAO. 57 § 281 BAO.
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schwebt, dessen Ausgang von wesentlicher Bedeutung für die Entscheidung über die Berufung ist und nicht überwiegende Interessen der Partei einer Aussetzung entgegenstehen. Wird keine Formalerledigung erlassen, so können die Abgabenbehörden erster Instanz die eingebrachte Berufung mittels Berufungsvorentscheidung58 (BVE) erledigen, wobei auch diesfalls kein Verböserungsverbot gilt. Innerhalb eines Monats kann der Berufungswerber59 einen Vorlageantrag60 gegen die Berufungsvorentscheidung (in welcher auf dieses Recht hinzuweisen ist) stellen, mit der Wirkung, dass die Berufung wieder als unerledigt gilt61. Im Rechtsmittelverfahren der Geschäftsbereiche Steuern und Beihilfen sowie Zoll ist eine mündliche Berufungsverhandlung nur dann durchzuführen, wenn dies die berufungswerbende Partei oder aber der zuständige Referent verlangt62. Sofern nicht eine Formalerledigung zu erfolgen hat kann der UFS die Berufung durch Aufhebung des angefochtenen Bescheides und allfälliger Berufungsvorentscheidungen unter Zurückverweisung der Sache an die (Abgaben-)Behörde erster Instanz erledigen63. Dies ist dann zulässig, wenn Ermittlungen unterlassen wurden, bei deren Durchführung ein anders lautender Bescheid hätte erlassen werden oder eine Bescheiderteilung hätte unterbleiben können. In allen anderen Fällen hat der UFS in der Sache selbst zu entscheiden64. Gegen Rechtsmittelentscheidungen der Abgaben- (bzw. Finanzstraf-)behörde zweiter Instanz (somit des UFS) ist ein weiteres ordentliches Rechtsmittel nicht mehr zulässig65. Stattdessen ist nur mehr der Rechtsbehelf einer Beschwerde an den VwGH66 und/oder an den VfGH67 zulässig, die binnen sechs Wochen ab Zustellung der UFS-Entscheidung einzubringen ist. Aufgrund des kontradiktorischen Verfahrens vor dem UFS steht eine Beschwerde an den VwGH auch den jeweiligen Amtsparteien des Rechtsmittel-
__________ 58 Im Zollbereich ist eine BVE nur auf der ersten Stufe des Rechtsbehelfsverfahrens durch das Hauptzollamt als Berufungsbehörde möglich (§ 85b Abs. 3 ZollR-DG), im Bereich des Finanzstrafrechts ist generell keine BVE vorgesehen. 59 Oder jeder, dem gegenüber die Berufungsvorentscheidung wirkt, auch ein Beigetretener. 60 § 276 Abs. 2 BAO. Für den Zollbereich ist gem. § 85c ZollR-DG als Rechtsbehelf der zweiten Stufe gegen eine Berufungsvorentscheidung die bereits erwähnte Beschwerde an den UFS möglich. 61 Die BVE tritt durch die Einbringung eines Vorlageantrages jedoch nicht außer Kraft (§ 276 Abs. 3 BAO). 62 § 284 BAO bzw. § 85c Abs. 5 ZollR-DG. Im Bereich Finanzstrafrecht darüber hinaus generell bei Berufungen im Verfahren vor dem gesamten Berufungssenat und im Verfahren gegen Jugendliche, hingegen ist über Beschwerden generell ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (§ 160 Abs. 1 und Abs. 2 FinStrG). 63 § 289 Abs. 1 BAO bzw. § 161 Abs. 4 FinStrG. 64 § 289 Abs. 2 BAO bzw. § 161 Abs. 1 FinStrG. 65 § 291 BAO bzw. § 164 FinStrG. 66 Art. 130 B-VG. 67 Art. 144 B-VG.
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verfahrens zu („Amtsbeschwerde“68). Hingegen bleibt eine Beschwerde an den VfGH wegen der Notwendigkeit einer behaupteten Verletzung in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht (Grundrecht) der berufungswerbenden Partei vorbehalten. Abschließend sei erwähnt, dass dem unabhängigen Finanzsenat im Gegensatz zu den UVS nicht die Einleitung eines Normenprüfungsverfahrens69 beim VfGH zusteht.
III. Das Konzept der Finanzgerichtsbarkeit 1. Das österreichische System der Verwaltungsgerichtsbarkeit Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Idee einer Verwaltungsgerichtsbarkeit als Instrument des Rechtsstaates zu einer zentralen Forderung des nach einer Verfassung strebenden Bürgertums. In der Konkurrenz der Systeme verband sich dabei in Deutschland und Österreich die Durchsetzung der Konstruktion des „subjektiven öffentlichen Rechtes“ mit der Vorstellung einer mehr oder weniger justizähnlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Art. 15 des als Teil der konstitutionellen Dezember-Verfassung erlassenen Staatsgrundgesetzes über die richterliche Gewalt, RGBl. Nr. 144/1867, enthielt die programmatische Erklärung, dass es demjenigen, der durch die Entscheidung oder Verfügung einer Verwaltungsbehörde in „anderen Rechten“ verletzt zu sein behauptet, freistehen sollte, seine Ansprüche vor dem Verwaltungs-Gerichtshofe im öffentlichen mündlichen Verfahren wider einen Vertreter der Verwaltungsbehörde geltend zu machen. Diese relativ unbestimmte Formulierung führte in der Folge zu einer verfassungspolitischen Diskussion, in der sich ein Konzept der Verwaltungsgerichtsbarkeit durchsetzte, das wesentlich am Prinzip der interfunktionalen Gewaltenbalance orientiert war. Das organisatorische Moment bestand dabei in der Errichtung eines einzigen, vollkommen von der Verwaltung getrennten Gerichtshofes, das funktionelle Moment in einer – im Rahmen dieses Konzeptes maximalen – Respektierung der Eigenständigkeit der Verwaltung. Diese Selbstbeschränkung fand in dem Gesetz vom 22. Oktober 1875 betreffend die Errichtung eines Verwaltungsgerichtshofes, RGBl. Nr. 36/1876 („VwGG 1875“), namentlich in den folgenden drei Elementen seinen Ausdruck: – In der Bindung des Verwaltungsgerichtshofes an den von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhalt bei Ermächtigung zur Aufhebung des Verwaltungsaktes, wenn der Behörde gravierende Verfahrensfehler unterlaufen sind,
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68 Vgl. Art. 131 Abs. 2 B-VG; beschwerdelegitimiert sind daher die Abgabenbehörde erster Instanz (Finanzamt) gemäß § 292 BAO, die Berufungsbehörde der ersten Stufe gemäß § 85c Abs. 7 ZollR-DG sowie der Amtsbeauftragte gem. § 169 FinStrG, wobei dies im Gegensatz zum Rechtsmittelverfahren sowohl zugunsten als auch zum Nachteil des durch die Entscheidung Betroffenen geschehen kann. 69 Art. 139 Abs. 1 B-VG (Verordnungsprüfung) und Art. 140 B-VG (Gesetzesprüfung).
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– in der Ausnahme der Angelegenheiten des „freien Ermessens“ und – in der Beschränkung der Entscheidungsbefugnis des Verwaltungsgerichtshofes auf die bloße „Kassation“ des angefochtenen Verwaltungsaktes70. 2. Die Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit des Verfassungsgerichtshofes Zu den Eigenheiten des österreichischen Rechtsschutzsystems zählt es, dass einerseits der VfGH einen Teil der Verwaltungsgerichtsbarkeit als „Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit“ besorgt (Art. 144 Abs. 1 B-VG), andererseits – im markanten Gegensatz zum Grundgesetz – eine Anrufung des Verfassungsgerichts gegen Entscheidungen des VwGH nicht vorgesehen ist. Diese Zweiteilung hat historische Wurzeln, denn auf den 1918 eingerichteten VfGH ging der bis dahin vom Reichsgericht wahrgenommene Schutz der Grundrechte gegen individuell-konkrete Verwaltungsakte über. Es kommt auf die Beschwerdebehauptung an: Wird die Verletzung eines „schlichten“ subjektivöffentlichen Rechts behauptet, so ist der VwGH zuständig, wird die Verletzung eines „verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts“ behauptet, der VfGH71. Die Bundesverfassung lässt es zu, beide Gerichtshöfe parallel anzurufen. In der Praxis wichtiger ist die gleichfalls eingerichtete „Sukzessivbeschwerde“: Dabei versucht der Beschwerdeführer sein Glück zuerst beim VfGH, der eine Art „Grobprüfung“ des Bescheides am Maßstab der Grundrechte vornimmt und – falls er die Beschwerde abweist – auf Antrag des Beschwerdeführers die Beschwerde an den VwGH abtritt (Art. 144 Abs. 3 B-VG). Dieser nimmt die „Feinprüfung“ am Maßstab des (einfachen) Bundesgesetzes war. Diese Zweiteilung des Rechtsschutzes geht nicht immer ohne Spannungen zwischen den Gerichtshöfen vonstatten: Durch das in den letzten Jahrzehnten zunehmende Element der „verfassungskonformen Interpretation“ und der Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Gleichheitssatzes kollidiert die Rechtsprechung des VfGH bisweilen mit der Handhabung der Gesetze durch den VwGH, der dem Willen des Gesetzgebers enger verbunden ist72. Das Verhältnis zwischen den Gerichtshöfen stellt damit seit Jahrzehnten einen Diskussionspunkt dar, wobei bisher der Widerstand des VwGH (und des OGH) gegen die Unterordnung unter das Verfassungsgericht nicht überwunden werden konnte. Der VfGH ist für das Steuerrecht aber auch noch in anderer Hinsicht wesentlich: Wird die Beschwerde mit der Behauptung der Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes oder einer gesetzwidrigen Verordnung geführt, so wird vom VfGH implizit ein Normprüfungsverfahren eingeleitet. Gerade im Bereich des Abgabenrechts hat der VfGH in den letzten Jahrzehnten durch pro-
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70 Vgl. §§ 3 lit. e, 6, 7 Abs. 1 VwGG 1875. 71 Vgl. etwa Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 10. Aufl. 2007, Rz. 944 ff., 1201 ff. mit allen w.H. 72 Dazu vgl. einerseits Jabloner, Perspektiven der Verwaltungsgerichtsbarkeit, und andererseits Korinek, Überlegungen zu einer Reform der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts, beide in Holoubek/Lang (Hrsg.), Das verwaltungsgerichtliche Verfahren in Steuersachen, 1999, S. 377 und 413.
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gressive Aufhebungen das Steuerrecht mitgestaltet, etwa bei der Beseitigung der Erbschafts- und Schenkungssteuer73. 3. Die Entwicklung des Administrativverfahrens Mit den genannten Kognitionsschranken des VwGH wurde 1875 zugleich auch jenes Spannungsfeld abgegrenzt, in dem sich – auf dem Boden des Gesetzes, zugleich aber die gegebenen Möglichkeiten mutig entwickelnd – die Verwaltungsgerichtsbarkeit bewähren sollte. Schon die Regierungsvorlage des VwGG 1875 hatte deutlich gemacht, dass die Bindung des Verwaltungsgerichtshofes an den von der Behörde festgestellten Sachverhalt nach der Ausbildung eines Verfahrensrechtes, insbesondere eines Rechtes über das Beweisverfahren, verlangte74. Die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfüllte die in sie gesetzten Erwartungen und entwickelte in der Folge die Prinzipien eines „Administrativverfahrens“75. So konnte der Gesetzgeber des Verwaltungsverfahrensgesetzes 1925 schon auf einen ausgebauten Fundus an Verfahrensregeln zurückgreifen (vgl. unten). Auch die Zweckkonstruktion des „freien Ermessens“ konnte die Kognition des Verwaltungsgerichtshofes nicht hemmen. Nur in wenigen Fällen wurden Beschwerden in Ermessensangelegenheiten vom Verwaltungsgerichtshof zurückgewiesen. Es setzte sich die – schon aus theoretischen Gründen unabweisliche – Erkenntnis durch, dass „einerseits jede Ermessensangelegenheit Elemente gesetzlicher Bindung enthält und andererseits jede nicht nach Ermessen zu erledigende Angelegenheit trotzdem der Behörde einen Spielraum belässt, der ihr in gewissen Grenzen eine selbstständige Willensbetätigung ermöglicht“76. Das dritte Element der Beschränkung, die bloße „Kassation“ des rechtswidrigen Verwaltungsaktes, wurde schon im Stammgesetz durch die Anordnung der Bindung der Verwaltungsbehörde an das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes quasi „entschärft“77. Darüber hinaus aber entwickelte sich die Judikatur
__________ 73 VfGH v. 7.3.2007, G 54/06 u. a. (Erbschaftsteuer) und VfGH v. 15.6.2007, G 23/07 (Schenkungsteuer). 74 Vgl. den Motivenbericht zum Entwurf des VwGG 1875 in Kaserer (Hrsg.), Die Gesetze vom 22. Oktober 1875 betreffend die Errichtung eines Verwaltungsgerichtshofes und die Entscheidung von Competenzconflicten zwischen dem Verwaltungsgerichtshofe, dem Reichsgerichte und den ordentlichen Gerichten mit Materialien, 1876, S. 34. 75 Systematisch zusammengestellt von Tezner, Handbuch des österreichischen Administrativverfahrens, 1896, und ders., Das österreichische Administrativverfahren, dargestellt auf Grund der verwaltungsgerichtlichen Praxis, 2. Aufl. 1925. 76 Vgl. Ringhofer, Der Verwaltungsgerichtshof, 1955, S. 119. 77 Vgl. § 7 Abs. 2 VwGG 1875 und später Art. 133 Abs. 2 der Stammfassung des B-VG (heute: § 63 Abs. 1 VwGG); „mittelbare reformatorische Wirkung“ – so Kelsen/ Froehlich/Merkl, Bundesverfassung, 1922, S. 246; vgl. weiters Walter, Kassatorische oder reformatorische Entscheidung?, in Lehne/Loebenstein/Schimetschek (Hrsg.), Die Entwicklung der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 391 (394).
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– wenngleich niemals Rechtsquelle im formellen Sinn – zur Leitlinie der Verwaltung, von der abzuweichen zur Ausnahme wurde. 4. Einbeziehung der Abgabensachen Nimmt man nun das Steuerrecht in den Blick, so gab es zeitlich vor dem VwGH bereits das „Oberste Gefällsgericht“, ein seit 1835 bestehendes Sondergericht für bestimmte Finanzstrafsachen78. Die Einrichtung einer allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit rief nun gerade wegen der Zuständigkeit in Abgabensachen den Widerstand des Finanzministeriums hervor, sodass Justizminister Unger den Entwurf 1871 im Ministerrat nur mit der Einschränkung durchbrachte, dass der VwGH vorläufig noch nicht in Steuer- und Gebührensachen tätig werden solle. Gerade in diesem Rechtsbereich war allerdings nach Ansicht des Herrenhauses des Reichsrates, in den die Regierungsvorlage 1873 eingebracht wurde, ein besonderer Bedarf nach gerichtlichem Rechtsschutz gegeben. Dieser Aspekt erschien sogar wichtiger als die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit, sodass vorgeschlagen wurde, auf die Errichtung des VwGH überhaupt zu verzichten und stattdessen die Finanzgerichtsbarkeit dem erwähnten Spezialgericht zu übertragen. Schließlich setzte sich aber das Konzept der umfassenden Verwaltungsgerichtsbarkeit durch. Seitdem sind keine Absichten mehr erkennbar, für den Bereich des Abgabenrechtes einen besonderen Verwaltungsgerichtshof – etwa nach deutschem Muster – einzurichten. Abgesehen davon, dass im kleinen republikanischen Österreich ein weiteres Höchstgericht unzweckmäßig wäre, beruhte die „Philosophie“ der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit stets auf dem Prinzip der Rechtseinheit und auf dem dieses fördernde Zusammenwirken von Juristen verschiedener Provenienz (vgl. unten). In historischer Sicht erwies sich die Zuständigkeit des VwGH auf dem Steuersektor als sehr relevant. In der Zwischenkriegszeit – nach der Etablierung einer bürgerlichen Regierung – verblieb der Sozialdemokratie das „rote Wien“ und eine ausgeprägte Politik in Formen der Privatwirtschaftsverwaltung, etwa auf dem Gebiet des kommunalen Wohnbaus. Dafür waren erhebliche Steuermittel erforderlich79. Zwar waren die Richter des VwGH zweifellos in ihrer Mehrzahl bürgerlich orientiert, doch hatte dies wegen der ausgesprochen gesetzespositivistischen Handhabung der Steuergesetze offensichtlich nur geringen Einfluss, sodass der VwGH im Ergebnis die Steuerpolitik der Stadt Wien mittrug80. 5. Entwicklung des Abgabenverfahrensrechts Auf dem Fundament einer 50jährigen Rechtsprechung des VwGH kam es 1925 im Zuge einer Verwaltungsreform für den Bereich der allgemeinen Verwaltung zur Erlassung der Verwaltungsverfahrensgesetze. Eine solche Kodifikation ge-
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78 Vgl. zum Folgenden Olechowski, Der österreichische Verwaltungsgerichtshof, 2001, S. 22. 79 Dazu Gulick, Österreich von Habsburg zu Hitler, 1975, S. 152 ff. 80 Zu diesem Thema bestehen noch keine genaueren Untersuchungen.
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lang auf dem Gebiet des Abgabenrechts nicht. Obzwar eine gesetzliche Neuordnung in Aussicht gestellt wurde, kam es bis zum Jahr 1938, d. h. bis zur Übernahme der Reichsabgabenordnung nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich nicht zu einer Kodifikation. Die deutschen Vorschriften passierten – purifiziert – dann die Rechtsüberleitung 1945 und blieben – mit Modifikationen – bis zur Erlassung der BAO 1961 in Geltung81. Die BAO stellte in ihrer Erstfassung aber insoweit keine umfassende Kodifikation des Verfahrensrechts analog dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz dar, weil daneben noch immer die Abgabenverfahrensgesetze der Länder in Geltung standen82. Nach finanzverfassungsrechtlichen Änderungen konnte mit dem AbgabenverwaltungsreformG (BGBl. I Nr. 20/2009, in Kraft seit 1.1.2010) das Anliegen eines einheitlichen Abgabenverfahrensrechtes für Bundes-, Landesund Gemeindeabgaben nach einem knapp 50jährigen Bestehen der BAO schließlich doch umgesetzt werden. 6. Organisation des Verwaltungsgerichtshofes Der VwGH entscheidet in Senaten, die von der Vollversammlung im Wege der Geschäftsverteilung zusammengesetzt werden. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der festen Geschäftsverteilung (Art. 135 B-VG) wird streng verstanden, was zu umfassenden und detaillierten Besetzungsregelungen führt. Nach § 11 Abs. 2 VwGG muss jedem zu bildenden Senat wenigstens ein Mitglied angehören, das die Befähigung zum Richteramt hat. Damit ist ein Richter oder eine Richterin aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit gemeint. Weiters muss Senaten, die mit Angelegenheiten der Finanzverwaltung befasst sind, ein Mitglied mit der Befähigung zum höheren Finanzdienst angehören. Diese Bestimmung zielt auf Richter und Richterinnen ab, die bis zu ihrer Ernennung zum VwGH eine Laufbahn im höheren Finanzdienst durchliefen und die entsprechende Dienstprüfung bestanden haben. Grundsätzlich ist die Finanzgerichtsbarkeit in die sonstige Verwaltungsgerichtsbarkeit integriert. Abgabensachen könnten daher ohne rechtliches Hindernis auf alle Senate verteilt werden. Selbstverständlich stehen dem Überlegungen der Zweckmäßigkeit gegenüber und auch der Umstand, dass der VwGH nur über eine beschränkte Anzahl von Mitgliedern mit der erforderlichen Qualifikation verfügt83. Die Geschäftsverteilung sieht daher von jeher eine Konzentration der Abgabensachen auf einige Spruchkörper vor, derzeit sind dies der 13. sowie der 15. bis 17. Senat84.
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81 Vgl. näher die Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage der BAO, 228 BlgNR, 9. GP, 49. Zur Entstehungsgeschichte siehe Reger/Stoll, BAO, 1966, S. 1 ff. 82 Zur verfassungsrechtlichen Problematik und den unternommenen Regelungsversuchen vgl. Reger/Stoll, BAO, 1966, S. 4 und Stoll, BAO, 1994, S. 7 ff. 83 Derzeit 8 von 68. 84 Die Senate 13 und 15 sind – nach Maßgabe einer örtlichen Abgrenzung – für Angelegenheiten der Einkommensteuer, der Körperschaftsteuer, der Umsatzsteuer, der Einheitsbewertung, der Vermögenssteuer, des Erbschaftsteueräquivalentes, der Gewerbesteuer (ausschließlich der Lohnsummensteuer), und der Kammerumlage zuständig, zudem für Angelegenheiten des Familienlastenausgleichsgesetzes und der Kommu-
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Rechtsschutz im österreichischen Abgabenrecht
7. Anrufbarkeit und Verfahren beim VwGH Es gelten die allgemeinen Bestimmungen über die Zuständigkeiten und das Verfahren beim VwGH85. Für den Bereich des Abgabenrechtes bedeutet dies, dass der VwGH primär von der berufungswerbenden Partei des Rechtsmittelverfahrens angerufen werden kann. Zudem kennt das österreichische System der Verwaltungsgerichtsbarkeit auch die sogenannte „Amtsbeschwerde“. So sieht § 292 BAO vor, dass das Recht, gegen die Berufungsentscheidung des UFS eine Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes oder wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften an den VwGH zu erheben, auch der Abgabenbehörde erster Instanz zukommt86. Die Grundkonstruktion der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit bringt es mit sich, dass sie ganz auf die Rechtssatzform des „Bescheids“ hin konstruiert ist. Das Verfahren führt daher notwendigerweise entweder zur Aufhebung des Bescheids als rechtswidrig oder zur Abweisung der Beschwerde. Eine wesentliche Ergänzung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes besteht in der Einrichtung der „Säumnisbeschwerde“. Bleibt der UFS als Berufungsbehörde untätig, so kann nach dem Verstreichen einer sechsmonatigen Frist (ab Berufungseinreichung) der VwGH angerufen werden. Zwar setzt dieser zunächst eine Nachfrist, um der belangten Behörde Gelegenheit zu geben,
__________ nalsteuer. Der Senat 16 zeichnet zuständig für die Angelegenheiten des Zollrechts einschließlich der im Zusammenhang mit der Einfuhr anfallenden Einfuhrumsatzsteuer, der Ausfuhrerstattungen, der Erhebung der Verbrauchssteuern und der Vollziehung der Monopolvorschriften, ausgenommen das Glücksspielmonopol, der Grunderwerbsteuer, der Erbschaft- und Schenkungsteuer, der Gerichts- und Justizverwaltungsgebühren, der Bodenwertabgabe, der Stempel- und Rechtsgebühren, der Kapitalverkehrssteuer und der Konsulargebühren, der Sonderabgabe von Erdöl, der Straßenverkehrsbeiträge und der Kraftfahrzeugssteuer, der Angelegenheiten der Grundsteuer und der Dienstgeberabgabe für das Bestehen eines Dienstverhältnisses in Wien, der Getränkesteuer, für bestimmte Agenden des Familienlastenausgleichsgesetzes sowie des Kinderabsetzbetrages, der Haftung nach der BAO, dem Kommunalsteuergesetz und den Landesabgabenordnungen, für die Angelegenheiten des (administrativen) Finanzstrafgesetzes, der Abgabenexekutionsordnung, der Anerkennung und Vollstreckbarkeiterklärung ausländischer Exekutionstitel, der Normverbrauchsabgabe und bestimmter Meldepflichten. Der Senat 17 hat eine Generalzuständigkeit für Angelegenheiten der öffentlichen Abgaben, sofern sie nicht den anderen Senaten zugeteilt sind, der Fremdenverkehrsbeiträge, der Gerichtskosten und der Angelegenheit der Ansprüche nach dem Gebührenanspruchsgesetz. Der 17. Senat ist allerdings bereits ein „gemischter“ Senat, d. h. in seine Zuständigkeit fallen weiters auch Angelegenheiten aus dem Ressortbereich des Bundesministeriums für Finanzen, die keine Abgabensachen sind, dem Abgabenrecht verwandte Materien, wie etwa Angelegenheiten der landwirtschaftlichen Marktordnung und schließlich ganz andere Angelegenheiten, wie z. B. jene des Datenschutzes. 85 Vgl. allgemein Machacek (Hrsg.), Verfahren vor dem VfGH und VwGH, 6. Aufl. 2008, S. 150 ff. 86 Dasselbe steht gemäß § 169 FinStrG der erstinstanzlichen Finanzstrafbehörde zu. Vor der Einführung des UFS bestand die sogenannte „Präsidentenbeschwerde“, gleichfalls eine Amtsbeschwerde – diesfalls des Präsidenten der Finanzlandesdirektion – gegen die schon damals eingerichteten unabhängigen Spruchkörper bei eben diesen Behörden.
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den versäumten Bescheid nachzutragen, doch kann er letztlich in die Situation gelangen, an Stelle der Verwaltungsbehörde in der Sache selbst zu entscheiden87. Es handelt sich hierbei um ein zwar relativ selten schlagend werdendes Rechtsmittel, dann aber von hohem Rechtsschutzeffekt.
IV. Herausragende Beiträge der Abgabensenate zum Abgabenrecht 1. Judikatur mit positiver Folgeaktivität des Gesetzgebers – Besteuerung von ausländischen Minderheitsbeteiligungen Der VwGH hat im Erkenntnis v. 17.4.2008, 2008/15/0064, zu Recht erkannt, dass die Regelung des § 10 Abs. 2 KStG88 i. d. F. BGBl. I Nr. 71/2003 eine Ungleichbehandlung von in- und ausländischen Portfoliobeteiligungen an Körperschaften festlegt, die gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verstößt. Der Gerichtshof führte dabei aus, dass zur Vermeidung dieser Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit die Befreiungsmethode und die Anrechnungsmethode als grundsätzlich gleichwertig anzusehen seien, dass aber die Anrechnungsmethode den geringeren Eingriff in die bestehende Rechtlage darstelle und daher diese anzuwenden sei. Der Gesetzgeber hat im Zuge des BBG 200989 für die gegenständlichen Portfoliodividenden nunmehr in § 10 Abs. 1 KStG gesetzlich die grundsätzliche Anwendung der Befreiungsmethode festgelegt90. Dies stellt insofern eine noch weitergehende Problemlösung dar, als der Gerichtshof zur Vermeidung von Gemeinschaftsrechtswidrigkeiten nur die Anrechnungsmethode verlangt hätte91. – Wirksamkeit von Feststellungsbescheiden Nach der Rechtsprechung des VwGH92 ergab sich aus dem Wesen der einheitlichen Feststellung von Einkünften, dass ein solcher Bescheid gänzlich unwirksam war, wenn er auch nur einem Beteiligten gegenüber aus Rechtsgründen nicht wirksam sein konnte.
__________ 87 Vgl. Art. 132 B-VG (dazu näher: Jabloner, Art. 132 B-VG, in Korinek/Holoubek [Hrsg.], Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Kommentar, 9. Lfg. 2009). Ein wesentlicher Unterschied zur deutschen „Verpflichtungsklage“ besteht darin, dass im österreichischen System die säumige Behörde nicht nur verpflichtet wird, den Rechtsakt nachzuholen, sondern die Zuständigkeit selbst auf den VwGH übergeht. 88 Bundesgesetz v. 7.7.1988 über die Besteuerung des Einkommens von Körperschaften (Körperschaftsteuergesetz 1988), StF BGBl. Nr. 401/1988, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. I 58/2010. 89 Budgetbegleitgesetz 2009, BGBl. I Nr. 58/2009; kundgemacht am 17.6.2009, gemäß § 26c Z 16 lit. b KStG ist die Neufassung des § 10 KStG auf alle offenen Verfahren anzuwenden. 90 Vgl. 113 BlgNR, 24. GP, 69. 91 Vgl. in diesem Zusammenhang auch das vom UFS initiierte Vorabentscheidungsverfahren des EuGH Rs. C-436/08, Haribo u. a.; sowie den Hintergrund zusammenfassend Tanzer/Unger (Fn. 19), S. 55. 92 Z. B. VwGH v. 21.2.1984, 82/14/0165, 83/14/0238.
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Insbesondere bei großen Publikumsgesellschaften (z. B. stille Mitunternehmerschaft mit über 1000 Gesellschaftern) entstanden dadurch beträchtliche Rechtsunsicherheiten, u. a. in Fragen der Bindungswirkung der „abgeleiteten“ Einkommensteuerverfahren der Gesellschafter. Der Gesetzgeber93 hat daher die Bestimmung des § 191 BAO dahingehend optimiert, dass die Wirksamkeit des Feststellungsbescheides nun nicht mehr an der unrichtigen Bezeichnung bzw. der Geschäftsunfähigkeit einzelner Beteiligter scheitern musste94. 2. Judikatur mit negativer Folgeaktivität des Gesetzgebers – Besteuerung von Zerobonds (Nullkuponanleihen) Die jahrelange Verwaltungspraxis nahm im Zuge der Kapitalertragsteuerabrechnung von Stückzinsen ein Gutschrift-Lastschriftsystem vor. Konkret wurde bei Verkauf eines Wertpapiers für bereits entstandene aber noch nicht fällige Zinserträge beim Veräußerer Kapitalertragsteuer einbehalten, umgekehrt erhielt der Erwerber eine Gutschrift in gleicher Höhe. Diese Vorgangsweise wurde auf die Konstruktion des „vorweg rückgängig gemachten“ Kapitalertrages gestützt, welcher sich aus § 95 Abs. 6 EStG95 ergäbe. Der VwGH hat sodann im Erkenntnis v. 19.12.2007, 2005/13/0075 ausgesprochen, dass die Vorgangsweise der Verwaltungspraxis jeder rechtlichen Grundlage entbehre. Als Reaktion des Gesetzgebers wurde daraufhin per Initiativantrag96 § 95 EStG durch einen neuen Absatz 7 ergänzt, welcher die Beibehaltung des aus Sicht des Gesetzgebers „bewährten Systems“ sichern sollte. Gerade weil „lediglich die bisher geübte Praxis abgesichert werden“ sollte, trat diese am 7.5.2008 kundgemachte Änderung rückwirkend mit 1.1.1998 in Kraft97. – Besteuerung von Ausschüttungen aus Agrargemeinschaften Nach der Verwaltungspraxis unterlagen Ausschüttungen aus Anteilen an körperschaftlichen Agrargemeinschaften dem Kapitalertragsteuerabzug. Der VwGH hat in seinem Erkenntnis v. 18.11.2008, 2006/15/0050 festgestellt, dass mangels einer einkommensteuerlichen Definition des Begriffes „Genussrecht“ in § 93 Abs. 2 Z 1 lit. c EStG der gesellschaftsrechtliche Begriff anzuwenden sei, in dem Anteilsrechte an Agrargemeinschaften aber keine Entsprechung fänden. Der in der Verwaltungspraxis vorgenommene Kapitalertragsteuerabzug finde somit keine gesetzliche Grundlage.
__________ 93 Im Rahmen des Betrugsbekämpfungsgesetzes 2006, BGBl. I Nr. 99/2006. 94 Vgl. 1435 BlgNR, 22. GP, 5. 95 Bundesgesetz v. 7.7.1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988). StF BGBl. Nr. 400/1988, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. I 81/2010. 96 Änderung des Einkommensteuergesetzes 1988 u. a., BGBl. I Nr. 65/2008. 97 Vgl. 674/A, 23. GP, 4 f. Zur Rechtslage für nach Kundmachung des Gesetzes ergangene einschlägige Erkenntnisse siehe VwGH v. 4.6.2008, 2005/13/0061.
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Im Zuge des BBG 2009 hat der Gesetzgeber sodann in § 93 Abs. 1 Z 1 EStG derartige Bezüge von körperschaftlich organisierten Agrargemeinschaften explizit verankert, um sicherzustellen, dass auch diese Anteile dem KEStAbzug mit Endbesteuerungswirkung unterliegen98. 3. Rechtslagen, die ohne Aktivität des Gesetzgebers seit längerem oder aktuell auf der Judikatur des VwGH basieren – Gleichbehandlungsgrundsatz bei Haftungen nach §§ 9 i. V. m. 80 BAO Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH verletzt ein Vertreter u. a. dann die – gegebenenfalls zur Haftung nach § 9 BAO führenden – abgabenrechtlichen Pflichten, wenn er Schulden nicht im gleichen Verhältnis befriedigt und daher gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt. Hierbei muss er den Abgabengläubiger zwar nicht vor allen anderen Gläubigern befriedigen, er darf ihn aber auch nicht schlechter stellen als diese99. – Verträge zwischen nahen Angehörigen / zwischen Gesellschafter und Gesellschaft Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH100 werden Vereinbarungen zwischen nahen Angehörigen für den Bereich des Steuerrechts nur dann anerkannt, wenn sie 1. nach außen ausreichend zum Ausdruck kommen, 2. einen eindeutigen, klaren und jeden Zweifel ausschließenden Inhalt haben und 3. auch zwischen Familien fremden unter den gleichen Bedingungen abgeschlossen worden wären. Diese Kriterien gelten auch für Verträge mit juristischen Personen, an denen ein Vertragspartner oder seine Angehörigen in einer Weise als Gesellschafter beteiligt sind, dass mangels eines Interessengegensatzes die Annahme nahe liegt, für eine nach außen vorgegebene Leistungsbeziehung bestehe in Wahrheit eine im Gesellschaftsverhältnis wurzelnde Veranlassung101.
__________ 98 113 BlgNR, 24. GP, 66. 99 Siehe für viele VwGH 13.4.2005, 2001/13/0190 m. w. N. sowie die Darstellung bei Ritz (Fn. 16), § 9 BAO Rz. 11. 100 Für viele VwGH v. 18.4.2007, 2004/13/0025 m. w. N. 101 Für viele VwGH v. 2.11.2006, 2004/15/0139 m. w. N.
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V. Schlussbetrachtung Die schon eingangs angesprochene Verwandtschaft des deutschen und des österreichischen Abgabenrechts bringt es mit sich, dass dann gerade die Unterschiede in Gesetzgebung und Rechtsprechung umso markanter sind. Der Reiz dieser Differenzen liegt darin, dass unterschiedliche Varianten der Problemlösung sichtbar werden. Mag sich auch manche rechtspolitische Antwort aus den sachlichen Gegebenheiten demokratischer Rechtsstaaten ergeben, bleibt der Spielraum der Gesetzgebung, der hier nicht näher behandelten Vollziehung und schließlich der Rechtsprechung beachtlich. Die sich so eröffnenden jeweiligen „Parallelwelten“ geben den schon erwähnten Gesprächen zwischen dem Bundesfinanzhof und dem Verwaltungsgerichtshof ihre ganz besondere Farbe.
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Rechtsprechungskontinuität und -wandel Ein Beitrag zum judiziellen Vertrauensschutz
Inhaltsübersicht I. Anamnese einer Entscheidung des Großen Senats – Ein langes Hin und Her zwischen Kontinuität und Wandel II. Rechtssprechungskontinuität und Rechtsprechungsänderung 1. Die Vertrauensschutzentscheidung des Großen Senats des BFH in der Kritik 2. Vertrauenszerstörende Rückwirkung von Rechtsprechungsänderungen?
3. Rechtsprechungskontinuität als „Rechtsgut von hohem Rang“ – Stare Decisis 4. Rechtsprechungswandel und -kontinuität als Abwägungsproblem 5. Vertrauensschutz durch zukunftsgerichtete Wirkung einer Rechtsprechungsänderung – Prospective Overruling III. Finale
Als geborenes Mitglied war Wolfgang Spindler seit dem Jahr 2005 an allen Verfahren des Großen Senats des BFH beteiligt (§ 6 Abs. 5 Satz 1 FGO), hat den Vorsitz geführt (§ 11 Abs. 6 Satz 2 FGO) und die einzelnen Entscheidungen dieses Spruchkörpers mit geprägt. Er hat daher auch an dem Beschluss mitgewirkt, mit dem der Große Senat die Vererblichkeit des Verlustabzugs abgelehnt hat. Aber nicht die Lösung dieser materiell-rechtlichen Frage war das bemerkenswerte Ergebnis des Beschlusses vom 17.12.20071; das eigentlich Außergewöhnliche und für viele sicherlich auch Überraschende wird die Entscheidung gewesen sein, wonach die bisherige gegenteilige Rechtsprechung des BFH aus Gründen des Vertrauensschutzes weiterhin in allen Erbfällen anzuwenden ist, die bis zum Ablauf des Tages der Veröffentlichung dieses Beschlusses eingetreten sind.
I. Anamnese einer Entscheidung des Großen Senats – Ein langes Hin und Her zwischen Kontinuität und Wandel Der Beschluss des Großen Senats vom 17.12.20072 hat eine längere Vorgeschichte, die durchaus schon etwas mit dem Thema Kontinuität und Wandel in der Rechtsprechung zu tun hat. Denn die Frage nach der Vererblichkeit eines Verlustabzugs schien bereits im Jahre 2000 gelöst, nachdem sich der I. Senat des BFH auf Grund seines Vorlagebeschlusses vom 29.3.20003 der Zu-
__________ 1 GrS 2/04, BFHE 220, 129, BStBl. II 2008, 608. 2 GrS 2/04, BFHE 220, 129, BStBl. II 2008, 608. 3 I R 76/99, BFHE 191, 353, BStBl. II 2000, 622.
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stimmung anderer Senate zu einer Rechtsprechungsänderung versichert hatte4, dann aber doch in einer überraschenden Wende dem Gedanken der Kontinuität den Vorrang einräumte5. Dabei wurde zu keiner Zeit in Zweifel gezogen, dass dem anfragenden Senat eine solche Dispositionsbefugnis auch dann noch zusteht, wenn die angefragten Spruchkörper bereits dem Rechtsprechungswandel zugestimmt haben. Das Rechtsproblem war allerdings bekannt oder hätte bekannt sein können. Es geht um die Einordnung der Zustimmung als einer Entscheidung des angefragten Senats. Dieser wird zum Teil die Wirkung einer im ordentlichen Rechtsmittelverfahren ergangenen Entscheidung zugeschrieben, die wie eine Revisionsentscheidung Bindungswirkung entfaltet. Daraus würde folgen, dass weder der anfragende noch der angefragte Senat von seiner Rechtsauffassung abweichen könnte, ohne seinerseits bei dem jeweils anderen Senat anzufragen und die Sache bei Ablehnung vorzulegen6. Wenn ein solcher Fall auch selten auftreten dürfte – immerhin hat er sich ereignet –, so liegt es auf der Hand, dass die beschriebene Verfahrensweise zu einem unerquicklichen Ping Pong führen könnte, das dem Sinn des § 11 FGO kaum entspräche. Man wird daher der Zustimmungs- wie der Anfrageentscheidung keine Bindungswirkung beimessen dürfen7 und dies ungeachtet der Regelung in § 11 Abs. 3 Satz 3 FGO, wonach über die Anfrage und die Antwort der jeweilige Senat durch Beschluss in Urteilsbesetzung zu entscheiden hat. Es bleibt damit allerdings nicht nur eine Frage des Stils, ob man leichtfertig eine Änderung der Rechtsprechung betreibt, um sich dann eines anderen zu besinnen. Denn eine derartige Verfahrensweise verhindert ja nicht die Befassung des Großen Senats, sondern provoziert diese gerade; immerhin liegen der Zustimmung zur Anfrage eines anderen Senats intensive Beratungen des angefragten Spruchkörpers zu Grunde. Für den I. Senat des BFH hätte es daher nahegelegen, den Großen Senat nach § 11 Abs. 4 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung anzurufen8, wie er dies erst jüngst aus weniger bedeutsamem Anlass mit der Frage zum subjektiven Fehlerbegriff bei Beurteilung von Rechtsfragen getan hat9. Nachdem die Rechtsfrage damit also nicht abschließend geklärt werden konnte, wurde die Änderung der Rechtsprechung zur Vererblichkeit des Verlustabzugs wenig später vom XI. Senat des BFH eingeleitet10. Dies führte dann im Ergebnis zu der Entscheidung, die seinerzeit bereits vorgezeichnet war.
__________ 4 BFH v. 24.8.2000 – IV ER -S- 1/00, juris; v. 6.9.2000 – XI ER -S- 3/00, juris, und v. 24.10.2000 – VIII ER -S- 1/00, BFH/NV 2001, 162. 5 BFH v. 16.5.2001 – I R 76/99, BFHE 195, 328, BStBl. II 2002, 487. 6 Statt vieler List, Anrufung und Verfahren des Großen Senats des Bundesfinanzhofs, DStZ 1987, 439 (440). 7 Sunder-Plassmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 11 FGO Rz. 28 m. w. N. 8 So auch Witt, Keine Vererblichkeit von Verlustvorträgen – Der Beschluss des Großen Senats und seine Folgen, BB 2008, 1199. 9 BFH v. 7.4.2010 – I R 77/08, BFH/NV 2010, 1339. 10 Anfragebeschluss v. 10.4.2003 – XI R 54/99, BStBl. II 2004, 400 und Vorlagebeschluss v. 28.7.2004 – XI R 54/99, BStBl. II 2005, 262.
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Rechtsprechungskontinuität und -wandel
Das Bekenntnis des I. Senats des BFH zur Kontinuität der Rechtsprechung in seinem Urteil vom 16.5.200211 kann mit Blick auf den vorangegangenen Vorlagebeschluss allerdings weniger überzeugen. Derart widersprüchlich in dieser Frage zeigten sich auch die Entscheidungen des VIII. Senats, der zunächst der Divergenzanfrage des I. Senats zugestimmt hatte12, diese Zustimmung aber wenige Jahre später dem XI. Senat gegenüber versagte. Selbst wenn es sich in diesen Fällen um einen besetzungsbedingten Auffassungswandel gehandelt haben sollte, wird solche Entscheidungspraxis der Rechtssicherheit kaum einen Dienst erweisen können. Auch unter diesem Gesichtspunkt erschien es daher unausweichlich, den Großen Senat mit der Vererblichkeit des Verlustabzugs zu befassen, denn namentlich die Wahrung der Rechtssicherheit gehört zu den Hauptaufgaben dieses Spruchkörpers13.
II. Rechtssprechungskontinuität und Rechtsprechungsänderung Die Vorgeschichte zu der Entscheidung vom 17.12.2007 deutet also schon den Konflikt an, der auch den Großen Senat beschäftigen sollte. Aus dem Spannungsbogen zwischen Kontinuität und Wandel kam es dann schließlich zu der pro futuro-Entscheidung, die im Schrifttum teilweise heftig kritisiert wurde14. 1. Die Vertrauensschutzentscheidung des Großen Senats des BFH in der Kritik Dem Vorlagebeschluss des XI. Senats folgend, lehnte der Große Senat des BFH die Vererblichkeit des Verlustabzugs ab, erklärte aber die bisherige Rechtsprechung des BFH zu dieser Frage in allen Erbfällen weiterhin für anwendbar, die bis zum Ablauf des Tages der Veröffentlichung des Beschlusses – dem 12.3.2008 – eingetreten sind15. Die Rechtsprechungsänderung wirkt daher nur für die Zukunft. Im Ausgangsverfahren selbst kam es für die auf den Vorlagebeschluss des XI. Senats und den Beschluss des Großen Senats des BFH abschließende Entscheidung des inzwischen zuständig gewordenen IX. Senats auf den vom Großen Senat gewährten Vertrauensschutz nicht mehr an. Die Revision wurde zurück- und die Klage abgewiesen, weil dem Kläger nach der bisherigen Rechtsprechung der vom Erblasser nicht ausgenutzte Verlustabzug nur in Höhe seines Miterbenanteils zustand. Dieser Verlustabzug war ihm aber
__________ 11 BFH v. 16.5.2001 – I R 76/99, BFHE 195, 328, BStBl. II 2002, 487. 12 BFH v. 24.10.2000 – VIII ER -S- 1/00, BFH/NV 2001, 162. 13 Siehe nur Beisse, Von der Aufgabe des Großen Senats, in FS v. Wallis, 1985, S. 45 (47 f.). 14 Fischer, Rückwirkende Rechtsprechungsänderung im Steuerrecht, DStR 2008, 697; Witt, BB 2008, 1199. Zustimmend dagegen: Schmidt-Troje, Vertrauensschutz und Rechtsprechungsänderung, in FS Schaumburg, 2009, S. 133 (147 f.); Siemon, Die Rechtsanwendung der Finanzverwaltung auf Basis des BFH-Urteils v. 12.12.2001 zur Gewerbesteuerpflicht von Insolvenzverwaltern, BB 2009, 1836; Sontheimer, Zur Begrenzung der Rückwirkung von Rechtsprechungsänderungen, in FS Spiegelberger, 2009, S. 460 (468 ff.). 15 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 unter D. IV. 2. b) der Gründe.
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bereits gewährt worden16. Für alle anderen Fälle nahm das BMF eine Anregung des Großen Senats17 auf und erließ eine noch weitergehende Übergangsregelung, nach der die bisherige Rechtsprechung bis zum Ablauf des Tages der Veröffentlichung der Entscheidung im Bundessteuerblatt – dem 18.8.2008 – anzuwenden ist18. Einen der beiden kritischen Autoren scheint die aufrichtige Sorge umzutreiben, dass die Vertrauensschutzentscheidung des Großen Senats die Koordinaten unseres Gewaltenteilungskonzepts erschüttern könnten. Er sieht zudem die Gefahr, „dass der steuerverschärfenden Rechtsprechungsänderung vorschnell Vorrang vor der Rechtsprechungskontinuität eingeräumt“ werden und diese Entwicklung „mit dem sich möglicherweise wandelnden Selbstverständnis des BFH zu den Grenzen der Rechtsfortbildung verbunden“ sein könnte19. Zu diesen Ängsten und Vermutungen kommt die Behauptung, der Rechtskontinuität gebühre Vorrang gegenüber höchstrichterlicher Rechtsprechungsänderung, woraus folge, dass an einer gefestigten Rechtsprechung als einem „eigenen Rechtswert“ grundsätzlich festzuhalten sei, sofern nicht überwiegende oder zwingende Gründe für ihre Aufgabe sprächen. „Vor diesem Hintergrund“ – so der Autor geradezu anmaßend – müsse „sich der Große Senat des BFH fragen lassen, ob solche zwingenden dogmatischen Gründe wirklich vorlagen, zumal der I. Senat des BFH20 gerade auch unter Hinweis auf die Kontinuität als eigenem Rechtswert eine Rechtsprechungsänderung abgelehnt“ habe21. Erscheint es schon etwas befremdlich, dass den Aussagen des I. Senats in der Entscheidung nach Rücknahme seines Vorlagebeschlusses größere Bedeutung beigemessen wird, als dem Vorlagebeschluss des XI. Senats und dem Beschluss des Großen Senats selbst, so hätte der Autor bei der Lektüre der Entscheidungsgründe des Großen Senats und der Gründe der Vorlagebeschlüsse des XI. wie übrigens auch des I. Senats fairerweise feststellen müssen, dass dort tatsächlich „zwingende dogmatische Gründe“ für die Rechtsprechungsänderung angeführt werden, die offenkundig auch als „überwiegend“ angesehen wurden. Zwar ist der Topos vom „eigenen Rechtswert“ (der Rechtsprechungskontinuität) kein Begriff der juristischen Methodenlehre; aber auch hier belegt die Lektüre des Beschlusses vom 17.12.200722, dass sich der Große Senat des BFH der besonderen Bedeutung der Rechtsprechungskontinuität als wesentlichem Element der Rechtssicherheit durchaus bewusst war23.
__________ 16 17 18 19 20 21 22 23
BFH v. 17.9.2008 – IX R 79/99, BFH/NV 2009, 144. Unter D. IV. 2. b) gg) des Beschlusses GrS 2/04, BFHE 220, 129, BStBl. II 2008, 608. BMF v. 24.7.2008, BStBl. I 2008, 809. Fischer, DStR 2008, 697. BFH v. 16.5.2001 – I R 76/99, BFHE 195, 328, BStBl. II 2002, 487. Fischer, DStR 2008, 697 (698). GrS 2/04, BFHE 220, 129, BStBl. II 2008, 608. Der Beitrag enthält dann noch eine ausführliche Kritik an der Steuergesetzgebung und der Verletzung des Bestimmtheitsgebots sowie ein Bekenntnis zum Rechtspositivismus, beides Ausführungen, deren Bezug zur Entscheidung des Großen Senats des BFH sich mir nicht so recht erschlossen hat.
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Die Kritik des anderen Autors24 an dem Beschluss des Großen Senats fällt schon deshalb wesentlich moderater aus, weil dieser die materiell-rechtliche Entscheidung der Nichtvererblichkeit des Verlustabzugs akzeptiert. Seine Behauptung aber, ein Zusammenhang zwischen den erweiternden Änderungen des § 10d EStG und dem nunmehr vollzogenen Wandel der Rechtsprechung sei nicht erkennbar, ist unberechtigt. Dass ein – unter Ausschluss eines Verlustrücktrags – auf fünf Jahre begrenzter Verlustvortrag einen Übergang im Erbfall eher rechtfertigt, als ein rücktragsfähiger und unbegrenzt vortragsfähiger Verlustabzug, ist kaum zu bestreiten. Hierauf geht der Große Senat des BFH auch ein25. Schließlich schlagen beide Autoren eine weitere Entscheidungsvariante vor, nach der der Große Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung hätte festhalten und den Gesetzgeber auffordern können, für die Zukunft eine Regelung unter Berücksichtigung der dogmatischen Bedenken an der Vererblichkeit des Verlustabzugs zu schaffen26. Beide Autoren müssen auch einräumen, dass die Vertrauensschutzentscheidung des Großen Senats „aus Sicht des Steuerpflichtigen“27 eine „Wohltat“28 und „zu begrüßen“29 sei. Ganz anders hier die Beurteilung eines Kollegen30, der darauf hinweist, dass „einseitig nur der Vertrauensschutz des betroffenen Steuerpflichtigen gesehen“ werde, das Interesse der Steuerbürger, die auf eine richtige Entscheidung vertraut hätten, aber nicht berücksichtigt werde31. Auch dieser Gesichtspunkt ist in eine Abwägung der widerstreitenden Argumente einzubeziehen; er spricht für den Rechtsprechungswandel auf Grund besserer Erkenntnis. Aus der der Vertrauensschutzentscheidung des Großen Senats des BFH zustimmenden Kritik sei hier nur ein Autor32 herausgegriffen, der die auf den BFH fokussierte Sicht etwas zurechtrückt. Nach seinen Erkenntnissen nämlich behandelt der BGH in seiner jüngeren Judikatur die Problematik der Rechtsprechungsänderung im Wesentlichen unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes und misst dem Grundsatz der Rechtskontinuität keine nennenswerte Bedeutung mehr bei. Die von ihm so bezeichnete „zweistufige Prüfung“ des BFH (Abwägung des Für und Wider einer Rechtsprechungsänderung und Prüfung der Notwendigkeit vertrauensschützender Maßnahmen bei Änderung der Rechtsprechung) sieht Sontheimer als vorbildlich an und empfiehlt sie auch für das Privatrecht zu übernehmen. Jedenfalls hat dieser Autor erkannt, dass die Vertrauensschutzerwägungen des Großen Senats des BFH
__________ 24 25 26 27 28 29 30 31
Witt, BB 2008, 1199. BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 unter D. IV. 2. a) der Gründe. Fischer, DStR 2008, 697 (701) und Witt, BB 2008, 1199 (1204). Fischer, DStR 2008, 697 und Witt, BB 2008, 1199. Fischer, DStR 2008, 697. Witt, BB 2008, 1199 (1204). Der seinerzeit nicht Mitglied des Große Senat des BFH gewesen ist. Weber-Grellet, Die Zukunft des Steuerrechts, in Justiz und Recht im Wandel der Zeit – Festgabe 100 Jahre Deutscher Richterbund, 2009, S. 235 (245). 32 Sontheimer in FS Spiegelberger (Fn. 14), S. 460 (470).
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eine ernsthafte Befassung mit dem Prinzip der Rechtssicherheit und Rechtsprechungskontinuität geradezu voraussetzen und bedingen. Die Kritik an der Entscheidung des BFH weist allerdings zu Recht auf die Grundfrage nach der Befugnis des Großen Senats zu einer solchen Übergangsregelung hin, die nicht nur vor dem Hintergrund des Gewaltenteilungsprinzips, sondern auch mit Blick auf § 11 Abs. 2 und 3 FGO und die Vorlagefrage des XI. Senats zu untersuchen ist33. Bejaht man diese Zuständigkeit, so wird sich alsbald die weitere Frage anschließen, ob auch die anderen Senate des BFH unter den engen Voraussetzungen die der Große Senat aufgestellt hat, eine Befugnis zu Vertrauensschutzregelungen in Anspruch nehmen können34. Bislang hat nur der VIII. Senat des BFH diesen Gedanken aufgegriffen und im Beschluss über eine Nichtzulassungsbeschwerde ausgeführt, es werde zu prüfen sein, „ob der BFH seine Rechtsprechung zur Beurteilung der Tätigkeit eines Rechtsanwalts als Konkursverwalter so verschärfend geändert hat, dass diese Rechtsprechungsänderung nicht rückwirkend angewendet werden darf“35. 2. Vertrauenszerstörende Rückwirkung von Rechtsprechungsänderungen? Kaum eine Entscheidung des Großen Senats des BFH, die nicht zu Rechtsprechungswandel und -kontinuität und dem Problem der Rückwirkung eines Rechtsprechungswandels Stellung genommen hätte, um damit die eine oder andere Lösung zu rechtfertigen oder abzusichern. Neu in der die Vererblichkeit des Verlustabzugs ablehnenden Entscheidung des Großen Senats des BFH sind aber wohl die Ausführungen zur Anwendung der bei rückwirkenden Gesetzen zu beachtenden Grundsätze auf den Rechtsprechungswandel. Diese Analogie hat das BVerfG selbst stets abgelehnt und betont, dass die von ihm entwickelten Grundsätze zur Unzulässigkeit der Rückwirkung von Gesetzen „nicht ohne Weiteres auf Gerichtsentscheidungen übertragen werden“ könnten, weil dies „dazu führen (würde), dass die Gerichte an eine einmal feststehende Rechtsprechung gebunden wären, auch wenn sich diese im Licht geläuterter Erkenntnis oder angesichts des Wandels der sozialen oder wirtschaftlichen Verhältnisse als nicht haltbar (erwiese)“36. Darin liegt aber durchaus kein Widerspruch. Denn dient die Analogie zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung dem Großen Senat des BFH der Erläuterung seiner zukunftsbezogenen Vertrauensschutzentscheidung, so zielt ihre Ablehnung durch das BVerfG gerade auf die Rechtfertigung eines Rechtsprechungswandels, der dann erst eine solche Übergangs- oder Vertrauensschutzregelung erforderlich macht.
__________ 33 34 35 36
Fischer, DStR 2008, 697 (701) und Witt, BB 2008, 1199 (1202). Kanzler, FR 2008, 465 (466). BFH v. 7.4.2009 – VIII B 191/07, BFH/NV 2009, 1078. BVerfG v. 11.11.1964 – 1 BvR 216/64, BVerfGE 18, 224 (240) betr. Verschärfung der seinerzeitigen Rechtsprechung des BFH zur Pensionsrückstellung für beherrschende Gesellschafter-Geschäftsführer einer Kapitalgesellschaft und v. 16.12.1981 – 1 BvR 603/80, BVerfGE 59, 128 (165) betr. Einziehung von Vertriebenenausweisen.
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Das Problem der Rückwirkung von Richterrecht stellt sich jedoch erst, wenn der Kläger eine schutzwürdige Vertrauensposition erlangt hat. Diese bejaht der BFH in seinem Verlustabzugsbeschluss, weil er mit seiner Entscheidung von einer mehr als vier Jahrzehnte währenden ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht, auf deren Fortbestand die Steuerpflichtigen trotz der im Schrifttum erhobenen Gegenstimmen umso mehr vertrauen durften, als sie von den Finanzbehörden ungeachtet der für den Fiskus nachteiligen Wirkung in steter, ebenfalls Jahrzehnte andauernder Verwaltungsübung praktiziert wurde37. Anders das BVerfG, für das schon die Kritik namhafter Autoren an einer ständigen Rechtsprechung vertrauenszerstörende Wirkung entfaltet38. Auch hier setzt die Kritik an dem Beschluss des Großen Senats des BFH an. So wird die Schutzwürdigkeit des Vertrauens bezweifelt, weil das Versterben des Erblassers nicht legal gestaltet werden könne und das Vertrauen in den Fortbestand der Rechtsprechung zur Vererblichkeit des Verlustabzugs jedenfalls mit der Divergenzanfrage des I. Senats im März 2000 zerstört worden sei. Der erste Einwand ist nicht ganz berechtigt, weil man in einem gewissen Alter durchaus mit dem Tode rechnen muss und, wie in anderen Dingen auch, im Hinblick auf die Verluste sein „Haus bestellen“ könnte. Der zweite Einwand, das Hin- und Her im Zusammenhang mit der ersten Anfrage im Jahr 2000 habe jedes Vertrauen zerstört, ist aber kaum zu widerlegen, wenn man dem Steuerpflichtigen nicht einen längeren Zeitraum für verlustmindernde Gestaltungsmaßnahmen39 zugestehen wollte. 3. Rechtsprechungskontinuität als „Rechtsgut von hohem Rang“ – Stare Decisis Der Große Senat des BFH hat die „Stetigkeit der Rechtsprechung des obersten Steuergerichts“ als „Rechtsgut von hohem Rang“ bezeichnet. Diese Aussage bezeichnet aber weder eine Norm, noch deutet sie auf einen fundamentalen Grundsatz hin, der gegen rechtsprechungsändernde Bestrebungen ins Feld zu führen wäre40. Zwar gehören Rechtssicherheit und Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu den Universalrechtsgütern, denn Recht verbürgt eine bestimmte Erwartungssicherheit41. Zugleich muss das Recht aber auch auf neue „Problemlagen“ reagieren, soll es nicht seine Steuerungs- und Orientierungs-
__________ 37 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608, unter D. IV. 2. b) ee). 38 BVerfG v. 21.1.1975 – 2 BvR 193/74, BVerfGE 38, 326 (397) betr. Aussperrung im Arbeitsrecht. 39 Wie sie im Schrifttum erörtert wurden, siehe etwa Paus, Kein Verlustabzug beim Erben: Verfassungsfragen und Gestaltungsüberlegungen, FR 2008, 452. 40 Abzulehnen ist die Auffassung des VI. Senats des BFH, wonach „die Rechtssicherheit … ein um so höheres Rechtsgut (sein soll), je höher die Steuerlast ist; bei den gegenwärtigen hohen Steuersätzen ist sie unverzichtbar“ (BFH v. 3.7.1964 – VI 346/62 U, BStBl. III 1964, 548). Eine solche Quantifizierung des Rechtsguts „Rechtssicherheit“ ist mit Art. 20 GG unvereinbar. 41 Luhmann, Ausdifferenzierungen des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1981, S. 73 ff., 92 ff.
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leistung einbüßen42. Auch die Fähigkeit und Befugnis zur Änderung und Erneuerung einer Rechtsprechung ist daher ein hochrangiges Rechtsgut, das die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege gewährleisten kann. Deshalb stehen Gleichheitssatz und Rechtsstaatsgebot einer Rechtsprechungsänderung grundsätzlich nicht entgegen43. Nach Auffassung des BVerfG kann ein Fachgericht selbst dann ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG von seiner früheren Rechtsprechung abweichen, wenn eine wesentliche Änderung der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen nicht eingetreten ist44. Anders als in einem „Case law-System“, wie dem anglo-amerikanischen Recht, kennt daher das deutsche Recht – über die Festlegung im zweiten Rechtsgang hinaus45 – auch keine Selbstbindung höchstrichterlicher Rechtsprechung46. Diese Selbstbindung der Gerichte muss in einem Case law-System, das auf Präjudizien ruht, eine ganz andere, fundamentale Bedeutung haben. Der historisch gewachsene Grundsatz von stare decisis47 ist gewissermaßen die CommonLaw Entsprechung zur kontinentaleuropäischen Bindung des Richters an das Gesetz48. Diese gesetzesähnliche Bindung49 an Präzedenzfälle führt in den meisten Fällen zu ähnlichen Ergebnissen50. Die stare decisis Doktrin oder rule of precedent besagt, dass an bereits Entschiedenem festzuhalten ist51. Die vorangegangene Entscheidung ist so lange bindend, wie sie nicht außer Kraft gesetzt (overruled) wird52. Dass ein solches System der Bindung an Präjudizien weitere Regeln hervorbringt, nach denen sich die tragenden Entscheidungsgründe (ratio decidendi) bestimmen lassen, liegt auf der Hand; denn beiläufige Bemerkungen (obiter dicta) eines Richters erzeugen keine Bindungswirkung.
__________
42 Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, 1996, S. 59 m. w. N. 43 BVerfG v. 4.8.2004 – 1 BvR 1557/01, NVwZ 2005, 81. 44 BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (227); siehe auch BVerfG v. 23.6.1990 – 2 BvR 752/90, NJW 1990, 3140. 45 Auch diese Selbstbindung versagt aber, wenn die Rechtsprechung zwischenzeitlich geändert wurde. In diesem Fall darf der BFH nämlich im zweiten Rechtsgang das Urteil des Finanzgerichts aus Gründen aufheben, die der rechtlichen Beurteilung widersprechen, welche er im ersten Rechtsgang der Aufhebung und Zurückverweisung zugrunde gelegt hat (BFH v. 17.1.1972 – GrS 8/70, BStBl. II 1972, 568). 46 Siehe nur Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 364 ff. 47 Zur Entstehung im 13. Jahrhundert und zur Rechtsentwicklung siehe Pilny, Präjudizienrecht im anglo-amerikanischen und im deutschen Recht, 1993, S. 21 ff., und zur stare decisis Doktrin in der Rechtsprechung des us-amerikanischen Supreme Court ausführlich Seyfarth, Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht, 1998, S. 27 ff. 48 Art. 20 Abs. 3 GG; zur tendenziell strengeren Gesetzesbindung in Frankreich im Vergleich zu anderen Staaten (souveraineté de la loi) siehe Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem, 2010, S. 79 ff. 49 Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, 1986, S. 72. 50 So Schröder (Fn. 48), S. 85; zum Rechtsvergleich zwischen England und Frankreich ausführlich auch Cross/Harris, Precedent in English Law, 4th ed. 1991, S. 8 ff. (11). 51 Zur Bindungswirkung im Instanzenzug Englands siehe Smith/Bailey, The Modern English Legal System, 1984, S. 284 ff. siehe auch v. Bernstorff, Einführung in das englische Recht, 3. Aufl. 2006, S. 10 ff. 52 Zu einem solchen Fall des overruling siehe Hughes v. Kingston-upon-Hull City Council [1999] 2 All ER 49.
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So hat sich die Notwendigkeit der Unterscheidung von ratio (decidendi) und (obiter) dictum ergeben53 und die Kunst des distinguishing entwickelt54. All diese Regeln haben aber nicht verhindert, dass stare decisis zu einer Erstarrung des Rechts führte. So war es erforderlich, dass sich das House of Lords nachdem es etwa 100 Jahre eine absolute Bindung an seine früheren Entscheidungen vertreten hatte, 1966 erklärte, es behalte sich gegebenenfalls unter Missachtung von stare decisis eine Abweichung von früheren Entscheidungen vor. Das von Lord Gardiner L.C. für die Mitglieder des House of Lords bekanntgegebene practice statement vom 26.7.1966 lautete wie folgt55: „Their Lordships regard the use of precedent as an indispensable foundation upon which to decide what is the law and its application to individual cases. It provides at least some degree of certainty upon which individuals can rely in the conduct of their affairs, as well as a basis for orderly development of legal rules. Their Lordships nevertheless recognise that too rigid adherence to precedent may lead to injustice in a particular case and also unduly restrict the proper development of the law. They propose therefore, to modify their present practice and, while treating formal decisions of this house as normally binding, to depart from a previous decision when it appears to be right to do so. In this connection they will bear in mind the danger of disturbing retrospectively the basis on which contracts, settlement of property, and fiscal arrangements have been entered into and also the especial need for certainty as to the criminal law. This announcement is not intended to affect the use of precedent elsewhere than in this House.“
Einige Jahre später unternahm auch der Court of Appeal den Versuch, dieses Recht zur Abweichung von stare decisis für sich und für den Fall in Anspruch zu nehmen, dass er in letzter Instanz entscheidet und eine Anrufung des House of Lords ausgeschlossen ist56. Dass es dabei stets um eine Abwägung des Für und Wider einer Fortführung oder Änderung der Rechtsprechung geht, machen die Ausführungen Lord Diplocks in Davis v. Johnson57 deutlich: „In an appellate court of last resort a balance must be struck between the need on the one side for the legal certainty resulting from the binding effect of previous decisions and on the other side the avoidance of undue restriction on the proper development of the law.“
4. Rechtsprechungswandel und -kontinuität als Abwägungsproblem „Recht, das … im Zeichen von Gerechtigkeit = Gleichheit = konsistentes Entscheiden weitermacht wie immer, verblödet, erstarrt versteinert – wird unge-
__________ 53 Smith/Bailey (Fn. 51), S. 280 ff. 54 Henrich, Einführung in das englische Privatrecht, 1971, S. 32. Ähnlich auch die sog. „arts of overruling“ zur Bewertung von Präjudizien durch den Supreme Court der USA, siehe Israel, Gideon v. Wainwright: The „Art“ of Overruling, 1963 Supreme Court Review, 211. 55 Practice Statement [1966] 3 All ER 77. 56 Lord Denning M.R. in Davis v. Johnson [1979] A.C. 264 (282). 57 Davis v. Johnson (Fn. 56), 264 (326).
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recht“58. Weniger radikal, aber nicht minder pointiert, weiß dies der Große Senat in seinem Verpachtungsurteil auszudrücken: „Die Stetigkeit der Rechtsprechung des obersten Steuergerichts ist zwar ein wesentliches Element der Rechtssicherheit im Sinne der Voraussehbarkeit der Beurteilung bestimmter Vorgänge durch die Finanzverwaltungsbehörden und die Steuergerichte und ist darum ein Rechtsgut von hohem Rang. Trotzdem muss eine andere und bessere Rechtserkenntnis zur Änderung einer solchen Rechtsprechung vor allem durch den Großen Senat, dann führen, wenn schwerwiegende sachliche Erwägungen dafür sprechen“59.
Voraussetzung für eine Rechtsprechungsänderung ist selbstverständlich, dass die Gründe, die für einen Wandel sprechen, die Argumente überwiegen müssen, welche die bisherige Rechtsprechung stützen. In einem Senat muss dies jeder Richter für sich entscheiden. Es mutet daher einigermaßen theoretisch an, wenn gefordert wird, bei einem Gleichgewicht der Gründe nach dem Grundsatz „in dubio pro continuitate“ zu entscheiden60. Auch für das Abstimmungsverfahren selbst kann ein solcher Grundsatz kaum weiterhelfen. Es mag sogar sein, dass bereits die ältere Rechtsprechung hoch umstritten gewesen ist und dass die entsprechenden Entscheidungen mit knapper Mehrheit beschlossen wurden, während diese knappe Mehrheit Jahre später für eine Änderung der Rechtsprechung stimmt. Da die Mehrheitsverhältnisse anders als beim BVerfG weder offengelegt noch protokolliert werden, kann ein Rechtsprechungswandel oft radikaler erscheinen, als dies das Abstimmungsverhalten und -verhältnis nahelegen würde. In die Abwägung der Argumente des Für und Wider einer Rechtsprechungsänderung sind nur die materiell-rechtlichen Gründe einzubeziehen. Dazu gehört auch die Frage, ob sich die der früheren Rechtsprechung zugrunde liegenden tatsächlichen Verhältnisse geändert haben könnten oder ob sich die ältere Rechtsprechung als unpraktikabel erwiesen hat. Für dieses Stadium der Abwägung sind Vertrauensschutzerwägungen ohne Bedeutung. Solche Überlegungen sind erst anzustellen, wenn die Entscheidung für eine den Kläger belastende Rechtsprechungsänderung gefallen ist61. So ist auch der Große Senat des BFH in seinem Beschluss zur Vererblichkeit des Verlustabzugs verfahren. Aber auch in diesem Entscheidungsstadium ist eine Abwägung geboten, weil das Vertrauen des Klägers und anderer Betroffener in die bisherige Rechtsprechung mit dem Interesse aller übrigen Steuerzahler konfligiert, die auf eine richtige Entscheidung vertrauen dürfen62.
__________ 58 Fögen, Das Lied vom Gesetz, 2007, S. 112. 59 BFH v. 13.11.1963 – GrS 1/63 S, BStBl. III 1964, 124 (126). Wenig später rechtfertigt der VI. Senat des BFH unter Bezug auf das Verpachtungsurteil des Großen Senats mit breiten Ausführungen zur Rechtsprechungskontinuität, dass er eine Rechtsprechungsänderung ablehnt (BFH v. 3.7.1964 – VI 346/62 U, BStBl. III 1964, 548). 60 Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 635. 61 Gl.A. Sontheimer in FS Spiegelberger (Fn. 14), S. 460 (470). 62 Weber-Grellet in Festgabe 100 Jahre Deutscher Richterbund (Fn. 31).
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5. Vertrauensschutz durch zukunftsgerichtete Wirkung einer Rechtsprechungsänderung – Prospective Overruling Folgt aus einer Abwägung des Für und Wider der Argumente und aus den Mehrheitsverhältnissen eines Spruchkörpers, dass eine Rechtsprechungsänderung unausweichlich ist, so können also vertrauensschützende Maßnahmen geboten sein, die der Kontinuität höchstrichterlicher Judikate Rechnung tragen, ohne die sinnvolle Fortentwicklung der Rechtsprechung zu gefährden. Als Lösung dieses Konflikts zwischen Kontinuität und Erneuerung bietet sich die vom Großen Senat des BFH gewählte Anordnung an, die Entscheidungswirkung in die Zukunft zu verlagern63. Der Gedanke einer vertrauensschützenden Begrenzung der Entscheidungswirkung wurde allerdings schon früher von den obersten Bundesgerichten aufgegriffen, die ganz unterschiedliche Lösungen für das Problem vorsahen. So entschied der BGH bereits 1955, dass ein richterrechtlich kreierter und in ständiger Praxis angewendeter Rechtssatz von gewohnheitsrechtlichem Rang nur mit ex-tunc Wirkung durch einen neuen, gegenteiligen Rechtssatz ersetzt werden dürfe64. Das BAG hat in verschiedenen Urteilen „angekündigt“, dass es eine Rechtslage zwar für rechtswirksam angesehen habe, nunmehr aber ihre Verfassungsmäßigkeit bezweifle; damit sollte verhindert werden, dass sich die Praxis künftig auf die Gültigkeit der beanstandeten Vorschriften verlässt65. In einer anderen Entscheidung hat das BAG ausgeführt: „Der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Vertrauensschutz gewinnt jedenfalls umso größere Bedeutung, je mehr die Rechtsprechung sich der Rechtssetzung nähert“66. Das BVerwG hat die rückwirkende Anwendung einer verschärfenden geänderten Rechtsprechung unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BFH unter einen Billigkeitsvorbehalt gestellt67 und das BSG in einem Urteil den Gedanken von Treu und Glauben gegen eine rückwirkend verschärfende Rechtsprechung mit der Begründung herangezogen, Vertrauensschutz sei mindestens insoweit zu gewähren, als es sich um die Anwendung der geänderten Rechtsprechung auf Sachverhalte handelt, die abgeschlossen in der Vergangenheit liegen68. Im Übrigen aber hat das BSG auch eine Ankündigungsrechtsprechung betrieben
__________ 63 Zutreffend weisen Fischer, DStR 2008, 697 (698) und Witt, BB 2008, 1199 (1202) auf die kompromissartigen Züge dieser Entscheidung hin, mit der die Belastung durch die Rechtsprechungsänderung von der Begrenzung der Entscheidungswirkung aufgehoben werde. 64 BGH v. 8.7.1955 – I ZR 24/55, BGHZ 18, 81; siehe auch die vom Großen Senats des BFH zitierten Urteile des BGH v. 8.10.1969 – I ZR 7/68, BGHZ 52, 365; v. 18.1.1996 – IX ZR 69/95, BGHZ 132, 6 und v. 29.2.1996 – IX ZR 153/95, BGHZ 132, 119. 65 BAG v. 6.12.1968 – 3 AZR 251/67, BAGE 21, 237 (245) in der Entscheidung wird auch angemerkt, dass die umstrittene handelsrechtliche Vorschrift durch die gesellschaftliche Entwicklung überholt sei; BAG v. 30.5.1969 – 3 AZR 188/68, BAGE 22, 16 (21 f.) und v. 5.12.1969 – 3 AZR 514/68, BAGE 22, 215; Großer Senat des BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, BAGE 23, 292 (319 f.) zur Zulässigkeit von Aussperrungen. 66 BAG v. 7.3.1995 – 3 AZR 282/94, BAGE 79, 236 (250). 67 BVerwG v. 13.2.1970 – VII C 75.66, BVerwGE 35, 69 (79 f.). 68 BSG v. 18.11.1980 – 12 RK 59/79, BSGE 51, 31 (36 ff.).
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und diese zum Teil auch so bezeichnet69. Der BFH hat in solchen Fällen oft darauf hingewiesen, dass es Aufgabe der Finanzverwaltung sei, Übergangsgerechtigkeit zu schaffen70; er hat aber in einigen Fällen auch bereits selbst für eine Übergangsregelung gesorgt71. Gerade die Form der erwähnten Ankündigungsrechtsprechung weist Gemeinsamkeiten zu der im anglo-amerkanischen Rechtskreis vieldiskutierten Rechtsfigur des prospective overruling auf. Danach muss ein Gericht, das von einer höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichen und eine dem Kläger oder Angeklagten ungünstige Auffassung vertreten möchte, die Rechtsprechung noch nicht im konkreten Fall ändern, sondern kann erst für die Zukunft eine solche Änderung ankündigen. Die prozessualen Probleme dieser „Von-nun-anKlausel“ liegen auf der Hand, denn außer dem Rückwirkungsverbot im entschiedenen Fall, beinhaltet sie ein Gebot an den nachfolgenden Richter, die Rechtsprechung zum Nachteil eines Beteiligten – wie angekündigt – zu ändern, gleichviel, wie lange der Zeitraum zwischen Ankündigungsurteil und Anwendungsentscheidung sein mag. Eine solch weitgehende Rechtskraftwirkung ist nicht nur dem deutschen Recht fremd, sie wird auch im angloamerikanischen Raum leidenschaftlich diskutiert. In der umfangreichen Entscheidung des House of Lords in National Westminster Bank plc (Respondents) v. Spectrum Plus Limited and others (Appellants)72 stellt Lord Birkenhead die Rechtslage in verschiedenen Ländern mit Common-Law-System aber auch die Praxis des EuGH und des EGMR dar und bemerkt, dass die Verfahrensweise des prospective overruling im englischen Recht nicht akzepiert (adopted) sei; er bezieht sich auf Lord Reid in West Midland Baptist (Trust) Association Inc v Birmingham Corporation73, der ausgeführt hat: „We cannot say that the law was one thing yesterday but is to be something different tomorrow. If we decide that [the existing rule] is wrong we must decide that it always has been wrong, and that would mean that in many completed transactions owners have received too little compensation. But that often happens when an existing decision is reversed.“
In der us-amerikanischen Rechtspraxis hingegen wird das prospective overruling angewandt, wenn auch in unterschiedlicher Form etwa eines bloßen obiter dictums zur Absicht einer Rechtsprechungsänderung oder einer Entscheidung in der Sache selbst auf der Grundlage des alten Rechts unter dem Vorbehalt der Anwendung der geänderten Rechtslage für die Zukunft (to reserve the rule for future application). Beide Formen dieser „Retroactivity of Judicial Decisions“ wurden in der sog. Sunburst-Entscheidung74 des Supreme
__________
69 BSG v. 18.3.1987 – 9b RU 8/86, BSGE 61, 213 (214 f.); v. 16.1.1991 – 6 RKa 24/89, BSGE 68, 93 (95) und v. 8.4.1992 – 10 RAr 12/91, BSGE 70, 265 (268). 70 Siehe etwa BFH v. 16.8.1967 – VI 170/65, BStBl. III 1967, 700. 71 BFH v. 5.11.1964 – IV 11/64 S, BStBl. III 1964, 602 und v. 26.1.1994 – VI R 118/89, BStBl. II 1994, 529 oder v. 6.10.1994 – VI R 136/89, BStBl. II 1995, 184. 72 [2005] UKHL 41. 73 [1970] AC 874, 898–899. 74 Great Northern Railway Company v. Sunburst Oil and Refining Company [287 US 358 (1932)].
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Court aus dem Jahr 1932 in bestimmten Fällen für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten. In National Westminster Bank plc v. Spectrum Plus Limited75 formuliert Lord Birkenhead abschließend die Grundsatzkritik an der Entscheidungsform des prospective overruling. Dieses Verfahren verletze die verfassungsmäßigen Schranken richterlicher Tätigkeit, weil man sich damit gesetzgeberische Funktionen anmaße76. „Prospective overruling robs a ruling of its essential authenticity as a judicial act“77. Diese Preisgabe richterlicher Gewalt wäre in noch weit größerem Maße zu beklagen, würde man den bereits erwähnten Vorschlag befolgen, das Gericht möge Zweifel an der zu beurteilenden Rechtslage formulieren und den Gesetzgeber zum Handeln auffordern78. Die Lösung des Großen Senats des BFH erscheint demgegenüber wesentlich praktikabler zu sein, weil sie vor allem die Rechtskraftbedenken vermeidet, die gegen eine Bindung in künftigen Rechtsstreitigkeiten erhoben werden könnten, zugleich aber die Bindungswirkung erzeugt, die für künftige Streitfälle erwünscht ist und geboten erscheint.
III. Finale Rechtsprechungskontinuität kommt kein „eigener Rechtswert“ gegenüber einer gebotenen Änderung der Rechtsprechung zu. Eine den Kläger belastende Rechtsprechungsänderung kann jedoch in Ausnahmefällen vertrauensschützende Maßnahmen erfordern. Mit seiner Vertrauensschutzentscheidung im Beschluss vom 17.12.2007 bewegt sich der Große Senat des BFH im Rahmen dessen, was auch die anderen obersten Bundesgerichte für sich in Anspruch genommen haben. Im Unterschied zu diesen hat er aber nicht den Weg der Ankündigungsentscheidung gewählt, sondern die Rechtsfrage der Vererblichkeit des Verlustabzugs endgültig und bindend entschieden. Mit der Anordnung, die Entscheidungswirkung in die Zukunft zu verlagern, hat sich der Große Senat des BFH aber keine besondere Befugnis angemaßt, die der verfassungsmäßigen Ordnung widerspräche. Er hat damit vielmehr den ihm durch § 11 FGO zugewiesenen Auftrag zur Rechtsfortbildung wahrgenommen, der nicht nur eine Änderung der Rechtsprechung, sondern auch die Verpflichtung umfasst, Dispositionsschutz gegenüber Rechtsprechungsänderungen zu gewähren79, wenn durch
__________ 75 National Westminster Bank plc v. Spectrum Plus Limited and others (Fn. 72). 76 „Prospective overruling is outside the constitutional limits of the judicial function. It would amount to the judicial usurpation of the legislative function.“ 77 National Westminster Bank plc v. Spectrum Plus Limited and others (Fn. 72). 78 Fischer, DStR 2008, 697 (701) und Witt, BB 2008, 1199 (1204). 79 Siehe auch Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 622, die den Dispositionsschutz gegenüber Rechtsprechungsänderungen als Ausdruck funktioneller Verantwortlichkeit der Rechtsprechung für die Rechtslage sieht und ebenfalls gewichtige Bedenken gegen Ankündigungsurteile äußert (Hey, a. a. O., S. 644 ff.).
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Präjudizienbildung eine gesetzesähnliche Rechtslage geschaffen wurde, die eine Analogie zum Verbot rückwirkender Gesetzgebung nahelegt. Daraus folgt zugleich, dass die Befugnis, Vertrauensschutz zu gewähren, einzelnen Senaten des BFH nicht zustehen kann. Ändern diese ihre eigene ständige Rechtsprechung zum Nachteil des Steuerpflichtigen, so lässt sich Vertrauensschutz gegen die rückwirkende Rechtsprechungsänderung nur über die Grundsatzanrufung des Großen Senats erreichen80.
__________ 80 Nach § 46 Abs. 1 RAO 1919 war in diesen Fällen auch die Anrufung des Großen Senats geboten.
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Juliane Kokott / Thomas Henze
Das Zusammenwirken von EuGH und nationalem Richter bei der Herstellung eines europarechtskonformen Zustands Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Wirkung der Urteile des EuGH 1. Die Grundlagen der Bindungswirkung 2. Die Abhängigkeit der Bindungswirkung vom Zusammenhang und den Tatsachen des Falls
2. Spielräume und Grenzen für die Herstellung eines unionsrechtskonformen Zustands durch innerstaatliche Gerichte 3. Die Praxis des BFH IV. Schlussbemerkung
III. Umsetzung der EuGH-Urteile durch das vorlegende Gericht 1. Die „klassischen Methoden“: Unionsrechtskonforme Auslegung und unmittelbare Anwendung
I. Einleitung Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV ist ein Verfahren der Zusammenarbeit innerstaatlicher Gerichte mit dem Gerichtshof der Europäischen Union1. Wolfgang Spindler beschrieb dieses Zusammenwirken in seinem Grußwort zum 3. Deutschen Finanzgerichtstag treffend als „Dialog der Richter“, von dem die deutschen Gerichte – unter ihnen in besonderem Maße der Bundesfinanzhof2 – regen Gebrauch machen3. Vielleicht sollte man sogar von einem Diskurs sprechen, da neben dem konkret vorlegenden Gericht auch andere Gerichte – viele aus anderen Rechtsordnungen – Vorabentscheidungen verfolgen und möglicherweise sogar mit eigenen Ersuchen „antworten“. Dieser Diskurs dient dem Ziel, eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts in der gesamten EU zu gewährleisten. Dabei ist das Vorabentscheidungsverfahren
__________ 1 EuGH v. 18.10.1990, C-297/88 und C-197/89, Dzodzi, EuGHE 1990, I-3763, Rz. 33; v. 12.6.2003, C-112/00, Schmidberger, EuGHE 2003, I-5659, Rz. 30, und v. 21.2.2006, C-152/03, Ritter-Coulais, EuGHE 2006, I-1711, Rz. 13. 2 Der Bundesfinanzhof hat von 1952 bis 2009 insgesamt 260 Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet, weit mehr als jedes andere Gericht in der EU (an zweiter Stelle folgt der Hoge Raad der Nederlanden mit 183 Vorlagen). Vgl. Rechtsprechungsstatistiken des EuGH, abrufbar unter: www.curia.europa.eu/jcms/jcms/Jo2_7032. Neben dieser formalisierten Zusammenarbeit stehen die vielfältigen informellen Kontakte zwischen München und Luxemburg, um deren Förderung sich Wolfgang Spindler ebenfalls sehr verdient gemacht hat. 3 Spindler in DFGT 3 (2006), S. 19 (20).
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gleichsam in das nationale Verfahren eingebettet, so dass sich drei Phasen der Zusammenarbeit ausmachen lassen: 1. Identifizierung der unionsrechtlichen Fragestellung im Ausgangsrechtsstreit und Formulierung des Vorlagebeschlusses. 2. Beantwortung der Vorlagefrage durch den EuGH. 3. Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits durch das innerstaatliche Gericht unter Berücksichtigung der Vorgaben des EuGH. Im Fokus der europaweiten wissenschaftlichen Diskussion steht dabei meist das Urteil des Gerichtshofs, das die zweite Phase abschließt. Gerade im Bereich des Steuerrechts, in dem es bekanntlich um viel Geld geht, sehen nicht nur die Verfahrensbeteiligten, sondern ebenso die nationalen Steuerverwaltungen sowie die gesamte Fachöffentlichkeit der Lösung der europarechtlichen Grundsatzfrage durch den Gerichtshof erwartungsvoll entgegen. Noch vor dem Urteil bieten die Schlussanträge der Fachdiskussion erste Nahrung. Nicht zu unterschätzen sind jedoch auch die erste und dritte Phase der Zusammenarbeit, die in der Verantwortung des nationalen Richters liegen. Nur wenn dieser die unionsrechtliche Problematik erfasst und dem Gerichtshof unterbreitet, kommt es überhaupt zu dem Diskurs der Richter. Eine besondere Verantwortung lastet dabei auf den letztinstanzlichen Gerichten. Sie müssen entscheiden, ob sie zur Vorlage verpflichtet sind oder nach den CILFITKriterien4 von einer Vorlage absehen können, da die Frage bereits durch den Gerichtshofs geklärt ist, bzw. die Antwort keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt (acte éclairé oder acte claire)5. Legen die letztinstanzlichen Gericht unnötigerweise vor, verlängern sie den Instanzenzug und erhöhen die Arbeitslast des Gerichtshofs. Versäumen sie gebotene Vorlagen, besteht die Gefahr, dass nationale Sonderwege beschritten werden, die sich später möglicherweise als Irrweg erweisen, wenn der EuGH anderweitig mit der Problematik befasst wird6. Der Bundesfinanzhof hat diese schwierige Gratwanderung bisher gut gemeistert7, wenngleich es in wenigen Einzelfällen auch Kritik gab, weil das höchste deutsche Finanzgericht nicht vorgelegt hatte8.
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4 EuGH v. 6.10.1982, 283/81, Cilfit u. a., EuGHE 1982, 3415, Rz. 13 ff., bestätigt durch EuGH v. 15.9.2005, C-495/03, Intermodal Transports, EuGHE 2005, I-8151, Rz. 33, und v. 6.12.2005, C-461/03, Gaston Schul Douane-expediteur, EuGHE 2006, I-10513, Rz. 16. 5 Näher dazu Kokott/Henze/Sobotta, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, 633 ff. sowie Henze/Sobotta in Beermann/Gosch, AO/FGO, EuGH-Verfahrensrecht, Überblicksdarstellung, Rz. 43 bis 47. 6 Vgl. in diesem Sinne EuGH v. 24.5.1977, 107/76, Hoffmann-La Roche, EuGHE 1977, 957, Rz. 5 und v. 4.6.2002, C-99/00, Lyckeskog, EuGHE 2002, I-4839, Rz. 14. 7 Vgl. z. B. die erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen BFH v. 23.11.2006 – V R 67/05, BStBl. II 2007, 436 bzw. BFHE 216, 357, zur Unanfechtbarkeit bestandskräftiger Umsatzsteuerbescheide bezüglich der Besteuerung von Glückspielumsätzen (BVerfG v. 4.9.2008 – 2 BvR 1321/07, UR 2008, 884). Zu Recht hat der BFH den EuGH etwa auch in den Nachfolgeentscheidungen zu den EuGH-Urteilen Gerritse (C-234/01, BFH v. 19.11.2003 – I R 57, 58/02) und Scorpio (C-290/04, BFH v. 24.4.2007 – I R 35/05, BStBl. II 2008, 95 bzw. BFHE 218, 89) nicht nochmals befasst. Aus der Rechtsprechung
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Hält der nationale Richter eine Vorlage an den EuGH für erforderlich, so obliegt es ihm, den tatsächlichen und vor allem den oftmals komplexen (steuer-) rechtlichen Kontext des Falles in einer Weise aufzubereiten, dass der Gerichtshof die unionsrechtlichen Fragen klar erkennen und adäquat beantworten kann9. Wir möchten unser Augenmerk in diesem Beitrag aber auf die letzte Phase der Zusammenarbeit richten, also auf die Schlussentscheidung des vorlegenden Gerichts. Hier steht der nationale Richter vor der Frage, welche Folgerungen aus dem Urteil des Gerichtshofs für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits zu ziehen sind. Ausgangspunkt unserer Untersuchung ist dabei zunächst eine Betrachtung der Urteile des EuGH und ihrer Bindungswirkung (II). Sodann gehen wir der Frage nach, welche Konsequenzen das innerstaatliche Gericht aus den Vorgaben des EuGH ziehen muss und welche Spielräume es insoweit bei der Herstellung eines unionsrechtskonformen Zustands hat (III.).
II. Wirkung der Urteile des EuGH Art. 267 AEUV regelt das Vorabentscheidungsverfahren, ohne näher zu bestimmen, welche Wirkung den im Rahmen dieses Verfahrens ergehenden Urteilen zukommt. 1. Die Grundlagen der Bindungswirkung Erklärt der Gerichtshof einen Rechtsakt der Union im Vorabentscheidungsverfahren für ungültig, so hat das Urteil nach der Rechtsprechung dieselbe Wir-
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des EuGH (Urteil v. 23.10.2008, C-157/07, Krankenheim Ruhesitz am Wannsee, EuGHE 2008, I-8061) konnte man die Zulässigkeit einer Nachversteuerung von Gewinnen aus einem anderen Betriebsstättenstaat ableiten, auch wenn die früheren Verluste dort wegen der zeitlichen Begrenzung des Verlustvortrags nicht mehr berücksichtigt werden konnten (BFH v. 3.2.2010 – I R 23/09, DStR 2010, 918). Siehe zu den Schwierigkeiten bei Anwendung der acte claire-Doktrin in der Praxis auch Gosch, Entwicklung und Rezeption des Rechtsprechung des EuGH aus der Sicht des BFH, Ubg 2009, 73 (75 f.). 8 Vgl. insbesondere die Kontroverse um die Abgrenzung der Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit. Der BFH hatte in dem Urteil v. 9.8.2006 – I R 95/05, BStBl. II 2007, 279 bzw. BFHE 214, 504, bestätigt durch Urteil v. 26.11.2008 – I R 7/08, BFHE 224, 50, gegen das eine Verfassungsbeschwerde (2 BvR 862/09) anhängig ist, die Kapitalverkehrsfreiheit in einem Drittstaatssachverhalt für anwendbar gehalten, in dem tatsächlich eine beherrschende Beteiligung vorlag, ohne den EuGH zu befassen. Nach Auffassung des BMF (Schreiben v. 21.3.2007, IV B7 – G 1421/0, BStBl. I 2007, 302) verdrängt die Niederlassungsfreiheit in einer solchen Konstellation jedoch die Kapitalverkehrsfreiheit, so dass Drittstaatssachverhalte im Ergebnis nicht an den Grundfreiheiten zu messen sind. Siehe zum Ganzen, Wunderlich/Blaschke, Die Gewährleistung des Kapitalverkehrsfreiheit in Bezug auf Drittstaaten, IStR 2008, 754 (758 f.); siehe dazu nunmehr EuGH v. 17.9.2009, C-182/08, Glaxo Wellcome, Rz. 50 (das Urteil betrifft allerdings keinen Drittstaatssachverhalt). 9 Eine wichtige Hilfestellungen können dabei die vom EuGH veröffentlichen Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte bieten (ABl. EU 2009 C 297, S. 1; auch abgedruckt in Beermann/Gosch [Fn. 5], EuGH-Verfahrensrecht, C.I.).
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kung wie ein Nichtigkeitsurteil nach Art. 263 AEUV10: Die für nichtig erklärte Regelung verliert ihre Wirkung ex tunc und erga omnes11. Die Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, denen ein für ungültig erklärtes Handeln zur Last fällt, sind in analoger Anwendung des Art. 266 AEUV verpflichtet, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergebenden Maßnahmen zu ergreifen12. In Fällen mit Bezug zu direkten Steuern stellen sich Gültigkeitsfragen jedoch eher selten13. Vielmehr ist der Gerichtshof hier im Regelfall berufen, die Grundfreiheiten oder einschlägiges Sekundärrecht auszulegen, um dem vorlegenden Gericht die Prüfung der Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Steuervorschrift mit dem Unionsrecht oder deren unionsrechtskonforme Auslegung zu ermöglichen. Die Auslegungsurteile des EuGH partizipieren dabei an der Wirkung der materiellen Vorschrift des Unionsrechts, die Gegenstand der Entscheidung ist. Die maßgeblichen Eigenschaften des Unionsrechts sind insofern sein Vorrang vor innerstaatlichem Recht14 und seine unmittelbare Wirkung zugunsten des Einzelnen, sofern die jeweilige Norm inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist15. Daraus hat Gerichtshof im Urteil Simmenthal16 folgende klassische Formel entwickelt: „[…] jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche Richter [ist] verpflichtet […], das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den Einzelnen verleiht, zu schützen, indem er jede möglicherweise zuwiderlaufende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Gemeinschaftsnorm ergangen ist, unangewendet lässt“. Die Urteile des Gerichtshofs präzisieren den Gehalt des Unionsrechts im Lichte der konkreten Lage des Ausgangsrechtsstreits. Die jeweilige Vorschrift entfaltet somit die geschilderte Wirkung für einen bestimmten Sachverhalt in der
__________ 10 Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 26.6.2008, C-333/07, Société Régie Networks, EuGHE 2008, I-10807, Rz. 129 f. m. w. N. 11 EuGH v. 13.5.1981, 66/80, International Chemical Corporation, EuGHE 1981, 1191, Rz. 13, und v. 8.11.2007, C-421/06, Fratelli Martini und Cargill, EuGHE 2007, I-152*, Rz. 54 (abgekürzte Veröffentlichung, Volltext in französischer und italienischer Sprache abrufbar unter www.curia.europa.eu). 12 EuGH v. 9.9.2008, C-120/06 P und C-121/06 P, FIAMM und FIAMM Technologies/ Rat und Kommission, EuGHE 2008, I-6513, Rz. 123, und Schlussanträge Société Régie Networks (Fn. 10), Rz. 129. 13 Siehe aber EuGH v. 1.10.2009, C-247/08, Gaz de France, Rz. 45 ff. (Entscheidungen ohne Angabe der Fundstelle in EuGHE sind noch nicht in der amtl. Sammlung veröffentlicht, aber abrufbar unter www.curia.europa.eu). 14 Grundlegend EuGH v. 15.7.1964, 6/64, Costa/ENEL, EuGHE 1964, 1253 (1269 f.). 15 Grundlegend EuGH v. 5.2.1963, 26/62, Van Gend & Loos, EuGHE 1963, 3 (25); in Bezug auf Richtlinien EuGH v. 26.2.1986, 152/84, Marshall, EuGHE 1986, 723, Rz. 46. 16 EuGH v. 9.3.1978, 106/77, Simmenthal, EuGHE 1978, 629, Rz. 21 bis 23. St. Rspr., vgl. EuGH v. 19.6.1990, C-213/89, Factortame u. a., EuGHE 1990, I-2433, Rz. 19 ff., v. 22.10.1998, C-10/97 bis C-22/97, IN. CO. GE.’90 u. a., EuGHE 1998, I-6307, Rz. 21, und v. 27.11.2007, C-435/06, EuGHE 2007, I-10141, Rz. 57. Dem hat sich auch der BFH angeschlossen (vgl. z. B. BFH v. 21.3.1995 – XI R 33/94, BFHE 177, 534).
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durch den EuGH ermittelten Gestalt. Den Vorrang des Unionsrechts in seiner Auslegung durch den EuGH müssen allerdings nicht nur das vorlegende Gericht und die weiteren mit demselben Rechtsstreit befassten innerstaatlichen Instanzen beachten, sondern auch alle anderen Gerichte und Behörden der Mitgliedstaaten. Dieser erga omnes-Effekt der Auslegungsurteile – in der Literatur werden auch die Termini Präjudiz-Wirkung17 oder materielle Bindungswirkung verwendet18 – entspricht dem Sinn und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens, über den Einzelfall hinaus eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten19. Der Zusammenhang zwischen der Wirkung des ausgelegten Rechts und der Wirkung der Auslegungsurteile zeigt sich auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur zeitlichen Wirkung seiner Entscheidungen. Diese erläutern nur den Gehalt, den die fragliche Norm seit ihrem Inkrafttreten hat. Deswegen „gilt“ diese Auslegung oder besser die unionsrechtliche Norm in der durch den EuGH ausgelegten Gestalt auch für Sachverhalte, die sich nach dem Inkrafttreten der Norm, aber vor Verkündung des betreffenden Auslegungsurteils ereignet haben20. 2. Die Abhängigkeit der Bindungswirkung vom Zusammenhang und den Tatsachen des Falls Die verbindliche Auslegung des EuGH entfaltet ihre Wirkungen jedoch nur in Bezug auf die tatsächliche und rechtliche Situation des Ausgangsrechtsstreits, wie sie der Gerichtshof unmittelbar zugrunde gelegt hat, oder im Bezug auf Sachverhalte, die damit vergleichbar sind. Daher wird die Bedeutung der EuGH-Entscheidung für den konkreten Anlassfall größer sein als für andere Fälle, da die Auslegung für dessen Konstellation maßgeschneidert ist (oder sein sollte). Je weiter sich Parallelfälle von dieser Ausgangslage entfernen, desto größer wird die Unsicherheit beim Transfer der Aussagen des Gerichtshofs. Die Verbindlichkeit der Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH ist daher eine notwendige, aber nicht unbedingt eine hinreichende Voraussetzung für die Herstellung eines einheitlichen Rechtsverständnisses in der Union. Entscheidend ist vielmehr außerdem der Grad der Konkretisierung, den die EuGHUrteile aufweisen. Insbesondere wenn der Gerichtshof nicht über alle Detailinformationen verfügt, muss er sich in seinem Urteil auf allgemeinere Aus-
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17 Vgl. u. a. Gaitanides in von der Groeben/Schwarze, EU-/EGV, 6. Aufl. 2004, Art. 234 EGV Rz. 93; Dauses in Dauses (Hrsg.), EU-Wirtschaftsrecht, P II Rz. 237 ff. 18 Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004, S. 97 ff.; Henze/Sobotta (Fn. 5), Rz. 63. 19 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bot v. 14.10.2008, C-42/07, Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, Rz. 203. 20 Vgl. die st. Rspr. des EuGH v. 27.3.1980, 61/79, Denkavit Italiana, EuGHE 1980, 1205, Rz. 16; v. 22.10.1998, C-10/97 bis C-22/97, IN. CO. GE.’90 u. a., EuGHE 1998, I-6307, Rz. 23; v. 17.2.2005, C-453/02 und C-462/02, Linneweber und Akritidis, EuGHE 2005, I-1131, Rz. 41 sowie v. 6.3.2007, C-292/04, Meilicke u. a., EuGHE 2007, I-1835, Rz. 34. Näher dazu Henze/Kokott, Die Beschränkung der zeitlichen Wirkung von EuGH-Urteilen in Steuersachen, NJW 2006, 177.
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sagen oder die Entwicklung von Interpretationsalternativen beschränken, die vom vorlegenden Gericht im Lichte des konkreten Falles auszufüllen sind. Die Beschränkung auf mehr oder weniger abstrakte Feststellungen ist nicht unbedingt als Defizit der Vereinheitlichung zu verstehen. Vielmehr ist dies die Konsequenz aus der Aufgabenteilung zwischen dem EuGH und dem vorlegenden Gericht, dem es obliegt, den Sachverhalt und den innerstaatlichen rechtlichen Rahmen des Ausgangsrechtsstreits abschließend festzustellen21. So muss für die Durchführung des Unionsrechts vielfach auf innerstaatliches Verfahrensrecht zurückgegriffen werden, z. B. bei Rückerstattung von zuviel erhobener Mehrwertsteuer22. Aus der Rechtsprechung ergeben sich jedoch auch insoweit Rahmenbedingungen. Vor allem dürfen diese Modalitäten des nationalen Rechts nicht ungünstiger sein als die, die bei ähnlichen internen Sachverhalten gelten (Grundsatz der Äquivalenz), und nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität)23. Im Regelfall bleibt es in dieser Konstellation dem vorlegenden Gericht überlassen, festzustellen, ob das nationale Recht diesen Vorgaben genügt24. Insbesondere wenn das vorlegende Gericht aber schon im Vorlagebeschluss Aussagen zur Auswirkung des nationalen Verfahrensrechts auf die Durchsetzung der unionsrechtlichen Ansprüche gemacht hat, entscheidet der Gerichtshof auch schon einmal selbst, dass der Grundsatz der Effektivität der Anwendung bestimmter Regelungen entgegensteht25. Als weiteres Beispiel für das Zusammenspiel von EuGH und innerstaatlichem Gericht kann die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Beschränkungen der Grundfreiheiten dienen. Auch hier schwankt die Kontrolldichte des EuGH in Abhängigkeit von der Tatsachengrundlage, über die er verfügt, wobei zu den Tatsachen in diesem Sinne auch die Informationen über den Inhalt und die Funktion der anwendbaren innerstaatlichen Steuerbestimmungen gehören. Teils entscheidet der Gerichtshof selbst, dass die innerstaatliche Regelung über das hinausgeht, was zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderlich sei26. In anderen Fällen überlässt er die abschließende Beurteilung der Verhältnismäßigkeit zwar dem vorlegenden Gericht, gibt aber bereits ins Einzelne gehende „Hinweise“, so dass die abschließende Beurteilung durch das vorlegende Ge-
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21 Vgl. die st. Rspr. EuGH v. 6.3.2007, C-338/04, C-359/04 und C-360/04, Placanica u. a., EuGHE 2007, I-1891, Rz. 36, und v. 8.9.2009, C-42/07, Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, Rz. 37. 22 Vgl. EuGH v. 3.9.2009, C-2/08, Fallimento Olimpiclub. 23 St. Rspr. EuGH, Fallimento Olimpiclub (Fn. 22), Rz. 22; v. 16.3.2006, C-234/04, Kapferer, EuGHE 2006, I-2585, Rz. 22, und v. 19.9.2006, C-392/04 und C-422/04, i-21 Germany und Arcor, EuGHE 2006, I-8559, Rz. 57. 24 So z. B. EuGH, i-21 Germany und Arcor (Fn. 23), Rz. 71. 25 So etwa im Urteil Fallimento Olimpiclub (Fn. 22), Rz. 31 f. 26 So z. B. EuGH v. 11.3.2004, C-9/02, de Lasteyrie du Saillant, EuGHE 2004, I-2409, Rz. 52: Wegzugsbesteuerung geht über das zur Missbrauchsverhinderung Erforderliche hinaus. EuGH v. 3.12.2005, C-446/03, Marks & Spencer, EuGHE 2005, I-10837, Rz. 55, im Hinblick auf den Ausschluss der grenzüberschreitenden Übertragung „endgültiger“ Verluste.
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richt weitgehend vorgezeichnet ist. So hat der Gerichtshof etwa im Urteil Cadbury Schweppes27 sehr genaue Vorgaben dafür gemacht, wie eine innerstaatliche Vorschrift ausgestaltet sein müsste, um zur Bekämpfung des steuerlichen Missbrauchs geeignet und erforderlich zu sein. Dem vorlegenden Gericht blieb kaum eine andere Möglichkeit, als die britischen CFC-Rules für unverhältnismäßig zu erklären. Die Hinweise des EuGH können aber auch in die andere Richtung gehen: Im Urteil SGI28 ließ er deutlich erkennen, dass die belgischen Regelungen zum Fremdvergleichsgrundsatz – vorbehaltlich der Feststellungen des vorlegenden Gerichts zu zwei Aspekten – dem Verhältnismäßigkeitstest voraussichtlich standhalten und aus Gründen der angemessenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis und zur Missbrauchbekämpfung gerechtfertigt sind. In manchen Entscheidungen hält sich der Gerichtshof dagegen stärker zurück und räumt dem vorlegenden Gericht größere Beurteilungsspielräume ein. So verwies er die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der deutschen Vorschriften zum sog. Dividenden-Stripping im Urteil Glaxo Wellcome29 weitgehend an den BFH. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass die in § 50c EStG 1990 vorgesehene pauschale Festsetzung eines Sperrbetrags, der den Übernahmegewinn bzw. -verlust mindert oder erhöht, außer Verhältnis zu dem Ziel der Missbrauchsbekämpfung und der Wahrung einer angemessenen Aufteilung der Steuerhoheit steht30. Vielmehr sei in jedem Einzelfall gesondert zu prüfen, inwieweit die Berücksichtigung eines Sperrbetrages geboten sei, um einem nicht anrechnungsberechtigten Anteilseigner einen mittelbaren Zugriff auf das Körperschaftsteuerguthaben zu versperren. Zu diesem Ergebnis hätte der EuGH an sich auch selbst kommen können. Wie später der BFH hatte Generalanwalt Bot bereits ausgeführt, dass die Wertdifferenz zwischen dem Nominalwert der Anteile und dem Veräußerungspreis, an die der Sperrbetrag anknüpft, nicht zwingend auf der missbräuchlichen Absicht beruhen muss, ein Körperschaftsteuerguthaben zu vergüten31. Jedoch besaß der EuGH offenbar nicht die letzte Gewissheit über die Funktionsweise der komplexen deutschen Vorschriften und überließ deren Beurteilung daher dem BFH. Ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass der EuGH von einer unzutreffenden oder unvollständigen Tatsachengrundlage bzw. unzutreffenden Annahmen zur innerstaatlichen Rechtslage ausgegangen ist, so ist es nur eingeschränkt an dessen Auslegung gebunden. In diesem Fall kann es erneut eine Vorlage mit ergänzenden Angaben an den EuGH richten32. Letztinstanzliche
__________ 27 EuGH v. 12.9.2006, C-196/04, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, EuGHE 2006, I-7995, Rz. 60 ff. 28 EuGH v. 21.1.2010, C-311/08, SGI, IStR 2010, 144, Rz. 75. 29 Zitiert in Fn. 8, Rz. 94 und 98. 30 BFH v. 3.2.2010 – I R 21/06, IStR 2010, 403. 31 Schlussanträge des Generalanwalts Bot v. 9.7.2009, C-182/08, Glaxo Wellcome, Rz. 170 ff. 32 Vgl. Dauses in Dauses (Fn. 17), P II Rz. 224; Henze/Sobotta (Fn. 5), Rz. 63. Ein anschauliches Beispiel bilden die Urteile EuGH v. 7.2.2002, C-276/00, Turbon International, EuGHE 2002, I-1389 und v. 26.10.2006, C-250/05, Turbon International,
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Gerichte sind dazu sogar verpflichtet, wenn sich aus der EuGH-Rechtsprechung nicht ohne vernünftigen Zweifel ergibt, wie die einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts bei Zugrundelegung der tatsächlich maßgeblichen Information auszulegen sind. Ferner kann eine erneute Vorlage erforderlich sein, wenn sich im Anschluss an das erste EuGH-Urteil Folgefragen ergeben, die ebenfalls einer Klärung durch den EuGH bedürfen33. Freilich sollte das vorlegende Gericht nicht vorschnell davon ausgehen, ein EuGH-Urteil sei nicht bindend, weil bestimmte tatsächliche oder rechtliche Aspekte darin nicht in einer bestimmten Weise gewürdigt worden sind. So hat der BFH einen entsprechenden Einwand der Klägerin bezüglich der Tragweite des Beschlusses des EuGH in der Rechtssache Stahlwerke Ergste Westig34 in seinem Schlussurteil zu Recht zurückgewiesen35. Der EuGH hatte aufgrund des einschlägigen, Betriebsstätten betreffenden DBA-Artikels in sachlicher Hinsicht ausschließlich den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit und nicht der Kapitalverkehrsfreiheit für eröffnet gehalten. Auf die Niederlassungsfreiheit konnte sich die Klägerin jedoch nicht berufen, weil die Betriebstätten, deren Verluste sie bei ihrer Veranlagung im Inland in Abzug bringen wollte, in einem Drittstaat belegen waren. Die Klägerin trug darauf vor, der EuGH habe verkannt, dass die Betriebsstätten durch Personengesellschaften vermittelt würden. Daher habe keine vollständige Beherrschungssituation vorgelegen. Der BFH lehnte eine erneute Vorlage ab und stellte fest, dass dem EuGH dieser Umstand aufgrund des Vorlagebeschlusses und der Stellungnahmen einiger Mitgliedstaaten im schriftlichen Verfahren bekannt gewesen sei. Er habe zutreffend einen Fall der Niederlassungsfreiheit angenommen36. Um wiederholte Vorlagen im Rahmen desselben Ausgangsrechtsstreit zur Ergänzung oder Richtigstellung des Sachverhalts möglichst zu vermeiden, kann der Gerichtshof auch selbst Sachverhaltsaufklärung betreiben, wenn sich im
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EuGHE 2006, I-10531. Diese Vorlagen des Hessischen Finanzgerichts betrafen die Zolltarifierung von Druckerpatronen. Anlass für die erneute Vorlage war eine zwischenzeitliche Beweiserhebung über die technischen Eigenschaften der Waren, die die ursprüngliche Einordnung als Druckertinte in einem Behälter zweifelhaft und stattdessen eine Qualifikation als Teil eines Druckers oder Zubehör denkbar erscheinen ließen. Siehe dazu näher Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 8.6.2006, C-250/05, Turbon International, EuGHE 2006, I-10531. Der Gerichtshof bestätigte seine erste Entscheidung jedoch. So kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Urteil Meilicke des EuGH (zitiert in Fn. 20) mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet hat, wenn man den weiteren, sehr umfangreichen Vorlagebeschluss des FG Köln in dieser Sache liest (Beschluss v. 14.5.2009 – 2 K 2241/02, EFG 2009, 1491, beim EuGH anhängig unter dem Az. C-262/09, vgl. ABl.EG 2009 C 267, S. 25). EuGH v. 6.11.2007, C-415/06, Stahlwerke Ergste Westig, EuGHE 2007, I-151* (abgekürzte Veröffentlichung, Volltext abrufbar unter www.curia.europa.eu). BFH v. 11.3.2008 – I R 116/04, DStR 2008, 1086. In dem kurze Zeit später ergangenen Urteil Lidl Belgium entschied der EuGH, dass die Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis einer Berücksichtigung ausländischer Betriebstättenverluste ohnehin entgegen steht (EuGH v. 15.5.2008, C-414/06, Lidl Belgium, EuGHE 2008, I-3601).
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Verfahren abzeichnet, dass ihm bestimmte Informationen fehlen37. Jedenfalls für unbestrittene Tatsachen38 dienen etwa die Schriftsätze der Verfahrensbeteiligten als ergänzende Erkenntnisquelle oder die Akte des Ausgangsrechtsstreits, sofern das vorlegende Gericht sie mit dem Vorlagebeschluss übersandt hat39. Zudem kann der Gerichtshof gezielte Fragen an die Verfahrensbeteiligten einschließlich der Regierungen der Mitgliedstaaten richten. Oftmals kann etwa die Regierung des Mitgliedstaats, aus dem die Vorlage stammt, sachdienliche Erläuterungen zur innerstaatlichen Rechtslage geben. Die Feststellungen des EuGH zu Tatsachen des Ausgangsrechtsstreits binden das vorlegende Gericht indes nicht, sondern haben einen rein informatorischen Charakter für die Zwecke der Auslegung der einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmungen durch den EuGH. Daher stützte der BFH seine Revisionsentscheidung in der Rechtssache Lidl40 nicht auf Aussagen von Beteiligten im Verfahren vor dem EuGH. Auch wenn der EuGH in seinem Urteil ausführte, in der mündlichen Verhandlung sei bestätigt worden, dass die Verluste der ausländischen Betriebsstätte tatsächlich hatten vorgetragen und mit späteren Einkünften im Betriebsstättenstaat hatten verrechnet werden können41, verwies der BFH die Sache zur weiteren Tatsachenfeststellung an das FG zurück. Dieses müsse verifizieren, ob es sich tatsächlich um keine finalen, im Betriebsstättenstaat nicht mehr verwendbaren Verluste gehandelt habe. In der Sache bleibt aber ein ungutes Gefühl zurück. Aufgrund der „Bestätigung“ der tatsächlichen späteren Verwendung der Verluste am Sitz der Betriebsstätte konnte der EuGH sich nämlich weitere Aussagen zu der umstrittenen Frage ersparen, unter welchen Voraussetzungen finale Verluste anzunehmen sind, die entsprechend dem Urteil Marks & Spencer42 aus Gründen der Verhältnismäßigkeit grenzüberschreitend zu berücksichtigen sind. Der BFH unterstellte seinerseits, finale Verluste lägen bei Betriebsstätten immer vor, wenn kein Verlustvortrag oder -rücktrag mehr möglich ist, ohne dass es für dieses Verständnis schon völlig zweifelsfreie Aussagen in der EuGH-Rechtsprechung gibt43. Der Gerichtshof kann auch eine Aufklärungsfrage nach Art. 104 § 5 seiner Verfahrensordnung an das vorlegende Gericht richten, das als objektive Instanz am ehesten verlässliche Angaben zum Ausgangsrechtsstreit machen kann. Dies erwies sich jüngst im Rahmen von zwei Vorabentscheidungsersuchen des
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37 Vgl. dazu näher zur Sachverhaltsermittlung durch den EuGH Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen durch den EuGH, 2003, S. 42 ff. und Henze/ Sobotta in Beermann/Gosch (Fn. 5), Rz. 38. 38 Unberücksichtigt lässt der EuGH dagegen streitigen Tatsachenvortrag, der nicht im Vorlagebeschluss gewürdigt wurde (vgl. EuGH v. 16.9.1999, C-435/97, WWF u. a., EuGHE 1999, I-5613, Rz. 31 f.). 39 Vgl. Ziff. 29 der Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte (zitiert in Fn. 9). 40 BFH v. 17.7.2008 – I R 84/04, BStBl. II 2009, 630 bzw. BFHE 222, 398. 41 EuGH v. 15.5.2008 (Fn. 36), Rz. 50. 42 Zitiert in Fn. 26, Rz. 55. 43 In dem Urteil v. 9.6.2010 – I R 107/09 hat der BFH erneut ohne Vorlage an den EuGH zur „Endgültigkeit“ von ausländischen Betriebsstättenverlusten Stellung genommen.
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österreichischen Unabhängigen Finanzsenats (UFS)44 als nützlich, auf die wir noch zurückkommen werden. Die in diesen Verfahren einschlägigen Bestimmungen des Körperschaftsteuergesetzes waren nach Erlass des Beschlusses rückwirkend geändert worden45. Auf Nachfrage des EuGH bestätigte der UFS die neue Rechtslage und passte seine Vorlagefragen an46. Zwar führte die Rückfrage zu einer nicht unerheblichen Verlängerung der Verfahrensdauer, da den Beteiligten nach Eingang der neu formulierten Fragen in einem weiteren schriftlichen Verfahrensabschnitt die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt werden musste. Insgesamt dürfte sich dieser „Umweg“ aber als sinnvoll erweisen, da der Gerichtshof seinem Urteil sonst eine teilweise überholte innerstaatliche Rechtslage zugrunde gelegt hätte. Es ist nicht auszuschließen, dass der UFS den EuGH aufgrund der geänderten Rechtslage ein zweites Mal angerufen hätte. Insgesamt ist die Aufklärungsfrage an das vorlegende Gericht indes ein Instrument, von dem der Gerichtshof wegen der damit einhergehenden Verzögerung nur selten Gebrauch macht.
III. Umsetzung der EuGH-Urteile durch das vorlegende Gericht Hat der EuGH in seinem Urteil Verstöße gegen das Unionsrecht festgestellt, so muss das innerstaatliche Gericht entscheiden, wie ihnen im Einzelfall abzuhelfen ist. Dafür kommen zunächst die klassischen Methoden der unionsrechtskonformen Auslegung und der unmittelbaren Anwendung in Betracht (1.). Diese Instrumente sind aber nicht in allen Fällen geeignet, um etwa einen Verstoß des innerstaatlichen Ertragsteuerrechts gegen Grundfreiheiten in angemessener Weise zu beseitigen. Vielmehr muss der nationale Richter teilweise auch andere Wege beschreiten, um eine steuerliche Ungleichbehandlung grenzüberschreitender und innerstaatlicher Sachverhalte zu beheben (2.). 1. Die „klassischen Methoden“: Unionsrechtskonforme Auslegung und unmittelbare Anwendung An eine unionsrechtskonforme Auslegung ist vor allem in Bereichen zu denken, in denen bereits eine Harmonisierung durch Richtlinien erfolgt ist47. Hier ist der nationale Richter verpflichtet, das innerstaatliche Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der fraglichen Richtlinie aus-
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44 UFS, Außenstelle Linz, v. 29.9.2008 – RV/0611-L/05 – Haribo (beim EuGH anhängig unter dem Az. C-436/08, ABl.EG 2009 C 19, S. 11) und RV/0493-L/08 – Österreichische Salinen (beim EuGH anhängig unter dem Az. C-436/08, ABl.EG 2009 C 19, S. 11). Die Vorlagebeschlüsse sind im Volltext abrufbar unter: https://findok.bmf.gv. at/findok/link?&gz=RV/0611-L/05 bzw. https://findok.bmf.gv.at/findok/link?&gz= RV/0493-L/08. Siehe dazu Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 11.11.2010, C-436/08 u. C-437/08, Haribo u. a. (abrufbar unter www.curia.europa.eu). 45 Vgl. Art. 32 des Budgetbegleitgesetzes 2009, Österreichisches BGBl. I Nr. 52 v. 17.6. 2009, durch den insbes. § 10 KStG neu gefasst wird. Nach § 26c Z 16 Buchst. b KStG n. F. gilt § 10 n. F. für alle anhängigen Veranlagungen. 46 Vgl. Schlussanträge Haribo u. a. (Fn. 44), Rz. 9. 47 Siehe aber auch die Beispiele für eine grundfreiheitenkonforme Auslegung im Bereich der direkten Steuern bei Gosch, Ubg 2009, 74 f.
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zulegen, um das von ihr vorgegebene Ziel zu erreichen und so Art. 288 Abs. 3 AEUV nachzukommen48. Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung verlangt dabei, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung ihrer Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten49. Die Grenze bildet der Wortlaut der innerstaatlichen Vorschrift. Einer Auslegung contra legem stehen die im Unionsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze, insbesondere der Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot, entgegen50. Der BGH hat in seinem Schlussurteil zur Quelle-Entscheidung des EuGH51 allerdings die These entwickelt, dass das vom EuGH angesprochene Verbot der contra legem-Auslegung nicht auf die Einhaltung der Wortlautgrenze im engen Sinne zielt52. So sei auch eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung einer innerstaatlichen Vorschrift über deren Wortlaut hinaus durchaus zulässig und geboten. Im konkreten Fall entschied er, dass die Verweisung in § 439 Abs. 4 BGB auf die Vorschriften über den Rücktritt (§§ 346 bis 348 BGB) zur Umsetzung der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf teleologisch reduziert werden müsse. Bei der Ersatzlieferung für eine fehlerhafte Ware seien die Rücktrittsvorschriften mit der Maßgabe anwendbar, dass ein Anspruch des Verkäufers gegen den Käufer auf Herausgabe der Nutzungen ausgeschlossen sei53. Die Abgrenzung dessen, was noch als richtlinienkonforme Auslegung gelten kann, von der unmittelbaren Anwendung der Richtlinie ist in erster Linie für horizontale Konstellationen von Bedeutung. Im Verhältnis zwischen Privaten scheidet eine unmittelbare Anwendung der Bestimmungen einer Richtlinie nämlich aus54. Das Unionsrecht kann hier nur durch eine konforme Auslegung nationalen Rechts zur Geltung gebracht werden, auch wenn damit ebenfalls
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48 EuGH v. 5.10.2004, C-397/01 bis C-403/01, Pfeiffer u. a., EuGHE 2004, I-8835, Rz. 113, v. 4.7.2006, C-212/04, Adeneler u. a., EuGHE 2006, I-6057, Rz. 108, und v. 24.6.2010, C-98/09, Sorge, Rz. 51. 49 Vgl. Urteile Pfeiffer u. a. (Fn. 48), Rz. 115, 116, 118 und 119; Adeneler (Fn. 48), Rz. 111 und Sorge (Fn. 48), Rz. 53. 50 Urteile Adeneler (Fn. 48), Rz. 110 und Sorge (Fn. 48), Rz. 52. 51 EuGH v. 17.4.2008, C-404/06, Quelle, EuGHE 2008, I-2685. 52 BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 (34). 53 Vgl. ferner BGH v. 9.4.2002 – XI ZR 91/99, BGHZ 150, 248 bzw. NJW 2002, 1881 (Schlussurteil zu EuGH v. 13.12.2001, C-481/99, Heininger, EuGHE 2001, I-9945). In dieser Entscheidung nahm der BGH eine kaum noch dem Wortlaut zu entnehmende einschränkende Auslegung des Haustürwiderrufsgesetzes (HWiG) vor, um zu einem richtlinienkonformen Ergebnis zu kommen: „Dies hat zur Folge, dass § 5 Abs. 2 HWiG unter Beachtung der für die nationalen Gerichte bindenden Auslegung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften richtlinienkonform einschränkend auszulegen ist. Kreditverträge gehören danach insoweit nicht zu den Geschäften, die im Sinne des § 5 Abs. 2 HWiG, die Voraussetzungen eines Geschäfts nach dem Verbraucherkreditgesetz‘ erfüllen, als das Verbraucherkreditgesetz kein gleich weit reichendes Widerrufsrecht einräumt wie das Haustürwiderrufsgesetz.“ Näher dazu Roth in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 2006, S. 330 u. 333. 54 EuGH v. 26.2.1986, 152/84, Marshall, EuGHE 1986, 723, Rz. 48; v. 14.7.1994, C-91/92, Faccini Dori, EuGHE 1994, I-3325, Rz. 20, und v. 19.1.2010, C-555/07, Kücükdeveci, NJW 2010, 427, Rz. 46.
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Belastungen Privater einhergehen55. Das zitierte Beispiel aus der Rechtsprechung des BGH belegt allerdings die Tendenz, dass sich die beiden Rechtsinstitute selbst in Privatrechtsverhältnissen annähern. Im Steuerrecht, das durch das vertikale Verhältnis Fiskus-Steuerpflichtiger gekennzeichnet ist, besteht von vornherein kein Bedürfnis für eine Differenzierung zwischen konformer Auslegung und unmittelbarer Anwendung. Gleichwohl ist auch in vertikalen Verhältnissen die konforme Auslegung als milderes, die Integrität der innerstaatlichen Rechtsordnung eher wahrendes Mittel vorrangig in Erwägung zu ziehen, bevor die innerstaatlichen Vorschriften gänzlich durch das Unionsrecht verdrängt werden. Lässt der Wortlaut des nationalen Steuergesetzes keine unionsrechtskonforme Auslegung zu, so bleibt es im Grundsatz bei der schon zitierten Pflicht des nationalen Richters, das Unionsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den Einzelnen verleiht, zu schützen, indem er jede möglicherweise zuwiderlaufende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt56. Das Unionsrecht entfaltet seine Wirkung dabei in zweifacher Weise: Erstens suspendiert es die Anwendung entgegenstehenden innerstaatlichen Rechts; zweitens tritt es an dessen Stelle57. Im Fall eines Verstoßes gegen eine Richtlinienbestimmung, die dem einzelnen Rechte verleiht, bereitet dies meist keine größeren Schwierigkeiten. Sieht das nationale Umsatzsteuergesetz z. B. abweichend von zwingenden Vorgaben der Mehrwertsteuersystemrichtlinie keine Steuerbefreiung vor, so tritt es zurück. Stattdessen kommt der entsprechende Befreiungstatbestand in der Richtlinie unmittelbar zugunsten des Steuerpflichtigen zur Anwendung58. Bei Konflikten zwischen nationalem Ertragssteuerrecht und den Grundfreiheiten ist die Lage komplizierter. Die Nichtanwendung der innerstaatlichen Regelungen allein hilft auch hier meist nicht weiter. Vielfach muss ebenso eine Ersatzregelung zugrunde gelegt werden, um einen unionsrechtskonformen Zustand zu erreichen. Wenn das nationale Steuerrecht etwa nur für unbeschränkt Steuerpflichtige den Abzug von Betriebskosten vorsieht, nicht aber für (gebietsfremde) beschränkt Steuerpflichtige, kann die Gleichbehandlung nicht durch Nichtanwendung einer Bestimmung herbeigeführt werden59. Vielmehr muss eine Regelung gleichsam hinzugedacht werden, die auch Gebietsfremden den Abzug von Kosten ermöglicht, die in unmittelbarem wirtschaftlichem Zusammenhang mit den im Aufnahmestaat erzielten Einkünften stehen. An einer unmittelbar anwendbaren Norm des Unionsrechts, die genau diese Rechts-
__________ 55 Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 14.5.2009, C-116/08, Kofoed, EuGHE 2009, I-10063, Rz. 59, und Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 8.2.2007, C-321/05, Meerts, EuGHE 2007, I-5795, Rz. 65 m. w. N. 56 Siehe oben Fn. 16. 57 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Mazák v. 15.2.2007, C-411/05, Palacios de la Villa, EuGHE 2007, I-8531, Rz. 129. 58 Vgl. z. B. BFH v. 19.2.2004 – V R 39/02, BFHE 205, 329 bzw. BStBl. II 2004, 672. Kritisch Stadie, Befreiungen, und Ermäßigungen – Chaos, System oder Konglomerat?, in DStJG 32 (2009), S. 143 (155 ff.). 59 Vgl. dazu EuGH v. 12.6.2003, C-234/01, Gerritse, EuGHE 2003, I-5933.
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folge anordnet, fehlt es aber. Die Dienstleistungsfreiheit gebietet in der genannten Situation nur ganz allgemein, den grenzüberschreitenden Sachverhalt keiner höheren steuerlichen Belastung zu unterwerfen als einen vergleichbaren Inlandsfall. Das innerstaatliche Gericht kann dabei für die Korrektur der betreffenden Vorschriften nicht auf den nationalen Gesetzgeber warten, sondern muss die Vorgaben des Unionsrechts unmittelbar bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zur Anwendung bringen60. Hat der Gesetzgeber den Verstoß indes rückwirkend beseitigt, muss der Richter dieses Gesetz anwenden. Ein Steuerpflichtiger, der das nationale Recht selbst für unionsrechtswidrig und damit für unanwendbar hält, kann sich nicht darauf berufen, dass er auf das Bestehen eines regelungslosen Zustands vertraut hat61. Er musste jederzeit damit rechnen, dass der Gesetzgeber die durch die Unanwendbarkeit des nationalen Rechts entstandene Lücke auch rückwirkend beseitigt. Schutzwürdig ist allenfalls, wer auf den Bestand des nationalen Rechts vertraute. 2. Spielräume und Grenzen für die Herstellung eines unionsrechtskonformen Zustands durch innerstaatliche Gerichte Der den Grundfreiheiten innewohnende Gleichheitsgrundsatz erteilt dem innerstaatlichen Richter somit in gewissem Maße einen (vorläufigen) Gestaltungsauftrag, der über die schlichte Suspendierung einzelner Vorschriften des nationalen Rechts hinausgehen und stattdessen eine modifizierte oder analoge Anwendung innerstaatlicher Vorschriften umfassen kann. Die Gerichte sind unionsrechtlich insbesondere nicht verpflichtet, eine nationale Vorschrift, die gegen Unionsrecht verstößt, voll und ganz zu verwerfen, wie der EuGH im Urteil IN. CO. GE.’90 u. a.62 ausführte: „… aus dem Urteil Simmenthal [kann deshalb] nicht hergeleitet werden, dass die Unvereinbarkeit einer später ergangenen Vorschrift des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht dazu führt, dass diese Vorschrift inexistent ist. In dieser Situation ist das nationale Gericht vielmehr verpflichtet, diese Vorschrift unangewendet zu lassen, wobei diese Verpflichtung nicht die Befugnis der zuständigen nationalen Gerichte beschränkt, unter mehreren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung in Betracht kommenden Wegen diejenigen zu wählen, die zum Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht gewährten individuellen Rechte geeignet erscheinen.“
Die zitierte Formel taucht bereits im Urteil Lück63 von 1968 auf, in dem der Gerichtshof fortfuhr: „So ist es insbesondere Sache des nationalen Gerichts, nach seinem eigenen Recht darüber zu entscheiden, ob eine Abgabe, die nur über einen bestimmten Betrag hinaus mit
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60 Vgl. EuGH v. 4.6.1992, C-13/91 und C-113/91, Debus, EuGHE 1992, I-3617, Rz. 32, und v. 19.11.2009, C-314/08, Filipiak, Rz. 81. Siehe auch BFH v. 18.11.2008 – VIII R 24/07, BFHE 223, 398 bzw. BStBl. II 2009, 518. 61 BFH v. 23.9.2008 – I B 92/08, BFHE 223, 73 bzw. BStBl. II 2009, 524, und v. 25.8.2009 – I R 88/07, I R 89/07, BFHE 224, 296. 62 Zitiert in Fn. 20, Rz. 21. 63 EuGH v. 4.4.1968, 34/67, Lück, EuGHE 1968, 364.
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Juliane Kokott / Thomas Henze Artikel 95 Absatz 1 unvereinbar ist, insgesamt rechtswidrig ist oder nur insoweit, als sie jenen Betrag übersteigt. Daher ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zwischen den in der Frage genannten oder sonst in Betracht kommenden Lösungen zu wählen.“
Zwar gebietet der in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Grundsatz der Gewaltenteilung, dass sich die Judikative auf die Rechtsanwendung sowie allenfalls noch auf die Rechtsfortbildung beschränkt und nicht in die Sphäre des Gesetzgebers übergreift64. Nun erlaubt Art. 23 GG in Verbindung mit den jeweiligen Ratifikationsgesetzen der Verträge zur Gründung der EWG/EG/EU deutschen Gerichten aber auch, Gesetze, die entsprechend der Auslegung des EuGH gegen Unionsrecht verstoßen, nicht anzuwenden65. Eine vorherige Anrufung des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 100 GG ist hierfür weder erforderlich, noch wäre sie zulässig66. Daher muss eine modifizierte oder analoge Anwendung bestimmter Vorschriften, um dem Vorrang des Unionsrechts im Einzelfall Rechnung zu tragen, erst recht zulässig sein, da sie die innerstaatliche Rechtsordnung in stärkerem Umfang erhält, als die völlige Nichtanwendung der betroffenen Bestimmungen. Dieses Vorgehen schont die Prärogativen des Gesetzgebers gerade statt übermäßig in sie einzugreifen67. So hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Lütticke-Beschluss keine Verletzung des Gewaltenteilungsgrundsatzes darin gesehen, dass der BFH den damaligen umsatzsteuerlichen Ausgleichssatz entsprechend den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben von 4 % auf 3 % herabsetzte. Der BFH habe der entsprechenden Vorschrift des Umsatzsteuergesetzes „die Gültigkeit für eine Einfuhr aus einem Mitgliedsland der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft insoweit aberkennen [dürfen], als diese Norm nach seiner Überzeugung Art. 95 EWGV widersprach. Damit vollzog er lediglich diejenige auf den Einzelfall bezogene Korrektur des innerstaatlichen Rechts, die erforderlich war, um der unmittelbaren Wirkung des Art. 95 EWGV für den einzelnen Bürger und dem Vorrang dieser Norm vor entgegenstehendem nationalen Recht Geltung zu verschaffen“68.
__________ 64 Näher zu den Vorgaben des Art. 20 Abs. 3 GG bei der Rechtsfortbildung: BVerfG v. 14.2.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 268 ff. – Soraya, sowie bei der richtlinienkonformen Auslegung Roth (Fn. 53), S. 323 ff. 65 BVerfG v. 9.6.1971 – 2 BvR 225/69, BVerfGE 31, 145, 173 f. – Lütticke und BVerfG v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339, 375 – Solange II. 66 BVerfG, BVerfGE 31, 145 (174) – Lütticke. Vgl. auch BFH v. 17.7.2008 – X R 62/04, BFHE 222, 427 bzw. BStBl. II 2008, 976 und BAG v. 26.4.2006 – 7 AZR 500/04, BAGE 118, 76 (90). 67 Vgl. in diesem Sinne Gosch, Vielerlei Gleichheiten – Das Steuerrecht im Spannungsfeld von bilateralen, supranationalen und verfassungsrechtlichen Anforderungen, DStR 2007, 1553 (1555 f.). Ausdrücklich unter Verweis auf Gosch und die Rechtsprechung des BFH auch der österreichischen VwGH v. 17.4.2008 – 2008/15/0064 (dem Vorlagebeschluss des UFS in der Sache Haribo [zitiert in Fn. 44] vorgehende Entscheidung), abrufbar unter: www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Vwgh&Dokument nummer=JWT_2008150064_20080417X00. Siehe dazu Zorn, Ausländische Portfoliodividenden und § 10 KStG, RdW 2009, 171 ff. und M. Lang, Die Verdrängung des nationalen Rechts durch Gemeinschaftsrecht: in dubio pro fisco?, SWI 2009, 216 (218 ff.). 68 BVerfG, BVerfGE 31, 145 (175) – Lütticke.
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3. Die Praxis des BFH Mittlerweile spricht der BFH in derartigen Fällen von der „normerhaltenden Reduktion“69. Bei näherer Betrachtung der Entscheidungen, in denen er auf dieses Konzept zurückgegriffen hat, zeigt sich, dass es mehrere Facetten hat. Eine erste Gruppe von Fällen ist dadurch charakterisiert, dass der Tatbestand der nationalen Vorschrift eine Begünstigung an einen Bezug zum Inland knüpfte, so dass grenzüberschreitende Aktivitäten davon ausgeschlossen wurden. In dieser Situation stellte der BFH die Gleichbehandlung her, in dem er das entsprechende Tatbestandsmerkmal außer Acht ließ. So setzte der Sonderausgabenabzug von Schulgeld für den Besuch einer Privatschule nach § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG mit dem der EuGH sich im Urteil GrootjesSchwarz70 befasste, voraus, dass es sich um eine nach Art. 7 Abs. 4 GG staatlich genehmigte oder nach Landesrecht erlaubte Ersatzschule oder eine nach Landesrecht anerkannte allgemeine Ergänzungsschule handelte. Diese Voraussetzung erfüllen typischerweise ausländische Privatschulen nicht, so dass in diesem Merkmal nach Auffassung des EuGH eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit liegt. Der BFH trug dem EuGH-Urteil Rechnung, indem er diese Voraussetzung für den Ausgabenabzug unangewendet ließ71. Ähnlich verfuhr er im Schlussurteil zur Rechtssache Persche72: Der Sonderausgabenabzug von Spenden an eine gemeinnützige Einrichtung wurde nicht länger davon abhängig gemacht, dass die Einrichtung im Inland ansässig ist73. Im Schlussurteil zur Rechtssache Jundt74, in dem es um die Steuerfreiheit von Aufwandsentschädigungen für die Lehrtätigkeit an öffentlichen Hochschulen ging, brauchte der BFH ebenfalls nur das Merkmal Inlandsansässigkeit der juristischen Person des öffentlichen Rechts zu ignorieren, an das die Befreiung nach deutschem Recht gebunden war75. Ein weiteres interessantes Beispiel ist das Schlussurteil des BFH76 in der Sache CLT-UFA77. Das KStG sah hier einen höheren Steuersatz für die im Inland belegenen Betriebsstätten ausländischer Gesellschaften vor als für deren hiesige Tochtergesellschaften, wobei dieser Unterschied auch damit zusammenhing, dass allein selbständige Tochtergesellschaften in Genuss des verringerten Steuersatzes für ausgeschüttete Gewinne kamen. Dagegen findet bei Betriebsstätten mangels eigener Rechtspersönlichkeit keine Ausschüttung im technischen Sinne statt, wenn sie ihre Gewinne an das Stammhaus transferieren. Um die vom EuGH dennoch geforderte Gleichstellung von Betriebsstätten, die
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Grundlegend dazu Gosch, DStR 2007, 1553. EuGH v. 11.9.2007, C-76/05, Grootjes Schwarz, EuGHE 2007, I-6859. BFH v. 17.7.2008 – X R 62/04, BFHE 222, 428 bzw. BStBl. II 2008, 976. EuGH v. 27.1.2009, C-318/07, Persche, EuGHE 2009, I-359. BFH v. 27.5.2009 – X R 46/05, BFH/NV 2009, 1633. EuGH v. 18.12.2007, C-281/06, Jundt, EuGHE 2007, I-12231. BFH v. 22.7.2008 – VIII R 101/02, BFHE 222, 453 bzw. BStBl. II 2010, 265. Ähnlich auch BFH 27.5.2009 – X R 46/05, BFH/NV 2009, 1633. 76 BFH v. 9.8.2006 – I R 31/01, BFHE 214, 496 bzw. BStBl. II 2007, 838. 77 EuGH v. 23.2.2006, C-253/03, CLT-UFA, EuGHE 2006, I-1831.
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ja quasi Steuerausländer sind, und inländischen Tochtergesellschaften herzustellen78, reduzierte der BFH den für Betriebsstätten geltenden Satz auf das Niveau des Ausschüttungssatzes einschließlich der Kapitalertragsteuer. Dogmatisch kann man dieses Vorgehen als geltungserhaltende Reduktion des Steuersatzes erklären oder als Lückenfüllung durch die analoge Anwendung der Vorschriften für Tochtergesellschaften, nachdem die Bestimmungen für Betriebstätten unanwendbar waren. Jedenfalls ist der BFH zu Recht nicht zu dem Ergebnis gekommen, dass die betroffenen Betriebsstätten gänzlich von der Steuer zu befreien wären, weil es an einer gesetzlichen Grundlage für die Erhebung der Steuer mit einem reduzierten Satz fehlte79. Eine derartige Totalverdrängung nationalen Rechts gebietet nach dem oben Gesagten weder das Unionsrecht noch das deutsche Verfassungsrecht80. Auch im bereits vorgestellten Schlussurteil zur Rechtssache Glaxo Wellcome81 verwarf der BFH nicht etwa die Bestimmung über den Sperrbetrag gänzlich, weil dessen pauschale Festsetzung nach § 50c EStG 1990 unverhältnismäßig war. Stattdessen ergänzte er die Norm um die Möglichkeit, dass der Steuerpflichtige im konkreten Fall den Nachweis für das Fehlen eines Missbrauchs erbringen kann, der durch eine pauschalierte Korrektur bekämpft werden müsste82. Durch eine ähnliche Rechtsfortbildung „rettete“ der BFH auch die Steuererhebung beim Vergütungsschuldner nach § 50a EStG 1990 in der Nachfolgeentscheidung zum EuGH-Urteil Scorpio83. Er las in die Bestimmung hinein, dass der Vergütungsschuldner bereits von der Quellensteuer Betriebsausgaben absetzen kann, die der Dienstleistende ihm angegeben hat. Als Exkurs und Bespiel für ein besonders weitgehendes gestaltendes Tätigwerden innerstaatlicher Gerichte sei noch die Entscheidung des österreichischen VwGH in den Verfahren Haribo und Österreichische Salinen84 erwähnt, die eine Kontroverse mit dem UFS ausgelöst hat. Dieser hat die in den Verfahren aufgeworfenen Fragen mittlerweile dem EuGH vorgelegt85.
__________ 78 Mittlerweile hat der EuGH klargestellt, dass nur der Aufnahmestaat zur Gleichbehandlung von Betriebsstätten und Tochtergesellschaften verpflichtet ist, nicht aber der Sitzstaat des Stammhauses bzw. der Muttergesellschaft (Urteil v. 25.1.2010, C-337/08, X Holding, Rz. 38). 79 Vgl. dazu Gosch, DStR 2007, 1555 f. und ders., Ubg 2007, 73 (77). 80 Siehe oben S. 291 f. A. a. im Bezug auf die Beschränkung der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung Jochum, Zur Fortsetzung der Rechtssache Marks & Spencer: Gestattet das europäische Gemeinschaftrecht eine geltungserhaltende Reduktion des nationalen Steuerrechts, IStR 2006, 621, 623. Krtisch dazu Gosch, DStR 2007, 1555 und Henze/Sobotta in Beermann/Gosch (Fn. 5), Rz. 66. 81 BFH v. 3.2.2010 (zitiert in Fn. 30). 82 Vgl. auch BFH v. 25.8.2009 (zitiert in Fn. 61) zur Korrektur der Pauschalbesteuerung sog. ausländischer schwarzer Fonds nach § 18 AuslInvestmG. 83 EuGH v. 3.10.2006, C-290/04, Scorpio, EuGHE 2006, I-9561, und BFH v. 24.4.2007 – I R 39/04, BFHE 218, 89 bzw. BStBl. II 2008, 95. 84 Zitiert in Fn. 67. 85 Zitiert in Fn. 44. Am 11.11.2010 hat Generalanwältin Kokott ihre Schlussanträge in diesen Rechtssachen (C-436/08 u. C-437/08) vorgelegt.
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Die Fälle betreffen die steuerliche Behandlung von Dividenden aus ausländischer Quelle, die in Österreich ansässigen Körperschaften zufließen, wobei die Beteiligungen unterhalb der Schwelle für die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Mutter-Tochter-Richtlinie86 lagen. Innerstaatliche Ausschüttungen sind beim Empfänger von der Körperschaftsteuer befreit, um eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung zu vermeiden. Für entsprechende Ausschüttungen aus ausländischer Quelle sah das österreichische Recht ursprünglich keinerlei Entlastung vor. Dies hielt der UFS für einen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit und erstreckte die Freistellung auf Dividenden aus ausländischer Quelle. Dagegen entsprach es nach Auffassung des VwGH eher dem Willen des Steuergesetzgebers, im Falle ausländischer Dividenden die Anrechnungsmethode statt der Freistellungsmethode anzuwenden87. Durch die Anrechnungsmethode würde nämlich im Ergebnis eine ebenso hohe Besteuerung gewährleistet wie im Falle inländischer Dividenden. In seinen Vorabentscheidungsersuchen wirft der UFS nun u. a. die Frage auf, ob die Befugnisse des Richters überhaupt soweit reichen, statt die für Inlandsfälle geltende Freistellungsmethode auf Auslandsfälle auszuweiten, für Auslandsfälle ohne gesetzliche Grundlage die Anrechnungsmethode einzuführen. Nicht davon zu trennen ist die ebenfalls aufgeworfene Frage, ob die Freistellungs- und die Anrechungsmethode tatsächlich gleichwertig sind88. Wäre die Anrechnungsmethode nämlich – anders als die bisherige Rechtsprechung des EuGH andeutet89 – im Vergleich zur Freistellungsmethode als ungünstiger anzusehen, so bedürfte die unterschiedliche Behandlung von Dividenden je nach ihrer Quelle im Inland oder Ausland zumindest einer Rechtfertigung. Abschließend ist festzuhalten, dass der BFH sich methodisch auf sicherem Boden bewegt, wenn er das innerstaatliche Recht selektiv unangewendet lässt oder durch Rechtsfortbildung ergänzt, um die Entscheidungen des EuGH umzusetzen. Dass dadurch der Wortlaut der Bestimmungen verlassen wird, ist weder überraschend noch unzulässig. Vielmehr gebietet das Unionsrecht oftmals eine solche Korrektur des innerstaatlichen Rechts. Diese erfolgt nicht ohne Rechtsgrundlage, sondern findet ihr Fundament im Vorrang des Unionsrechts, der verfassungsrechtlich durch Art. 23 GG implementiert wird.
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86 Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, ABl.EG L 225, S. 6, in der Fassung der Richtlinie 2006/98/EG des Rates vom 20. November 2006, ABl.EG L 363, S. 129. 87 Siehe oben Fn. 67. Kritisch dazu M. Lang (Fn. 67), 220 ff., der den mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers für ein untaugliches Kriterium hält und sich für die Herstellung eines unionsrechtskonformen Zustands eher an der Systematik und Teleologie der Normen orientieren möchte, die im Kontext mit der nicht anwendbaren Vorschrift stehen. 88 Näher dazu Massoner/Stürzlinger, Gleichwertigkeit von Anrechnungs- und Befreiungsmethode aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht: (An-)Rechnung ohne den Wirt, SWI 2009, 280. 89 Dies hat der Gerichtshof jedenfalls bisher angenommen, vgl. EuGH v. 12.12.2006, C-466/04, Test Claimants in the FII Group Litigation, EuGHE 2006, I-11753, Rz. 57, und v. 6.12.2007, C-298/05, Columbus Container Services, EuGHE 2007, I-10451, Rz. 38 ff.
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Juliane Kokott / Thomas Henze
Die vom BFH angewandten Methoden respektieren zugleich die Vorgaben des Verfassungsrechts. Indem sie schonend in den Bestand der innerstaatlichen Rechtsordnung eingreifen, achten sie das Prinzip der Gewaltenteilung. Auch der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes ist nicht verletzt, da die richterliche Anpassung der Steuervorschriften die Steuerpflichtigen weder stärker belastet noch ihr schützenwertes Vertrauen enttäuscht90. Insbesondere weigert sich der BFH richtigerweise, nationales Steuerrecht, das gegen Unionsrecht verstößt, gleichsam in kassatorischer Weise völlig unangewendet zu lassen. Dies hätte nämlich zur Folge, dass grenzüberschreitende Sachverhalte überhaupt nicht mehr besteuert werden könnten. Eine derartige überobligationsmäßige Umsetzung der EuGH-Urteile würde zu massiven Inländerdiskriminierungen führen, die im Hinblick auf Art. 3 GG mehr als problematisch wären. Vergleicht man die Entscheidungen des BFH mit der Rechtsprechung anderer Bundesgerichte, etwa dem BGH, so werden hier durchaus vergleichbare Wege beschritten. Der BGH hat in dem zitierten Quelle-Urteil die Rechtsfortbildung nationalen Rechts zur Umsetzung der Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie sogar noch als Fall der richtlinienkonformen Anwendung angesehen91. Zu Recht differenziert der BFH schließlich bei seiner Korrektur des nationalen Steuerrechts nicht zwischen Sozialzwecknormen und sonstigen Steuervorschriften92. Zwar ist es legitim, dass der Gesetzgeber mithilfe des Steuerrechts vornehmlich die Förderung bestimmter sozialer Einrichtungen im Inland im Auge hat. Jedoch darf dieses Lenkungsziel nicht dazu führen, dass die Steuerpflichtigen an der Ausübung ihrer Grundfreiheiten gehindert werden.
IV. Schlussbemerkung Die Kooperation zwischen dem EuGH und nationalen Finanzgerichten, allen voran dem BFH, hat sich in den Jahren der Präsidentschaft von Wolfgang Spindler hervorragend entwickelt. Der BFH befasst den EuGH regelmäßig mit gut formulierten Vorabentscheidungsersuchen, wobei er die Vorlagepflicht in wohl abgewogener Weise handhabt. Vor allem hat das höchste deutsche Finanzgericht Wege gefunden, das innerstaatliche Steuerrecht behutsam zu korrigieren, um die Vorgaben des Unionsrechts umzusetzen und damit den Schlussstein in der Zusammenarbeit der Gerichte bei der Herstellung eines unionsrechtskonformen Zustands zu setzen. Dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Beachtung der Grundfreiheiten im Steuerrecht ein schwieriges Geschäft bleibt. Mit zunehmender Erfahrung mit der Rechtssprechung des jeweils anderen Kooperationspartners und gegenseitigem Vertrauen dürfte diese Aufgabe aber immer besser zu bewältigen sein.
__________ 90 Siehe oben S. 291 f. 91 Siehe oben S. 289 f. 92 Dies scheint Gosch aber zu fordern, vgl. Gosch, Kurze, aber grundlegende Nachlese zur Nachlese von Meilicke zu den Schulgeldurteilen des EuGH, DStR 2007, 1895.
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Michael Lang*
2005 – Eine Wende in der steuerlichen Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten? Inhaltsübersicht I. Anhaltspunkte für eine Änderung der Rechtsprechung II. Die vor 2005 ergangene steuerliche Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten 1. Der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten 2. Vergleichbarkeitsprüfung 3. Rechtfertigungsprüfung
4. Verhältnismäßigkeitsprüfung III. Die steuerliche Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten ab 2005 1. Anwendungsbereich der Grundfreiheiten 2. Vergleichbarkeitsprüfung 3. Rechtfertigungsprüfung 4. Verhältnismäßigkeitsprüfung IV. Schlussfolgerungen
I. Anhaltspunkte für eine Änderung der Rechtsprechung Wolfgang Spindler ist nicht nur ein höchst sympathischer Mensch, sondern auch ein außerordentlich engagierter und tatkräftiger Präsident des BFH. Er wirbt in der breiten Öffentlichkeit für die Anliegen des Gerichtshofs, der BFH wird durch seine Präsenz bei Fachveranstaltungen deutlicher wahrgenommen denn je. Zu seinen Verdiensten gehört es, den BFH durch die Abhaltung wissenschaftlicher Veranstaltungen oder durch die Organisation eines Moot Courts den Universitäten und der akademischen Welt ganz generell geöffnet und seine Mitglieder für Entwicklungen außerhalb des Gerichtshofs noch sensibler gemacht zu haben. Daher ist es kein Zufall, dass sich der EuGH gerade in den letzten Jahren in viel stärkerem Ausmaß als früher mit Unionsrecht auseinandergesetzt hat. Ich hoffe, dem von mir hoch geschätzten Jubilar daher Freude zu bereiten, wenn ich mich in diesem ihm gewidmeten Beitrag mit Entwicklungstendenzen in der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten auseinandersetze. Die steuerliche Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten nahm im Jahr 1986 ihren Anfang. Maßgebendes Urteil war die Rechtssache Kommission vs. Frankreich1, besser bekannt unter „Avoir Fiscal“. In diesem Urteil und in zahlreichen seitdem ergangenen Urteilen hat der EuGH eine Vielzahl von nationalen Regelungen beschrieben, die den Anforderungen der Grundfreihei-
__________ * Frau Mag. Karoline Spies danke ich herzlich für kritische Anregungen, die Unterstützung bei der Literatur- und Judikaturrecherche und bei der Fahnenkorrektur. 1 EuGH v. 28.1.1986, 270/83, Kommission vs Frankreich („Avoir Fiscal“), Slg. 1986, 273.
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Michael Lang
ten nicht standhalten. Die Steuerpflichtigen und deren Berater waren von der Rechtsprechung des EuGH fast ausnahmslos begeistert. Welche Rechtsfrage auch immer an den Gerichtshof herangetragen wurde: Nahezu immer entschied er zugunsten der Steuerpflichtigen. 2005 wendete sich das Blatt. Der EuGH veröffentlichte immer häufiger Entscheidungen, in denen er entweder nur unter bestimmten Voraussetzungen oder überhaupt keinen Verstoß nationaler Regelungen gegen das Unionsrecht annahm. Zahlreiche Beobachter gehen seither von einer deutlichen Änderung der Rechtsprechung aus, über deren Ursachen spekuliert wird2: Politischer Druck der Regierungen der Mitgliedstaaten kommt genauso in Betracht wie Änderungen in der Zusammensetzung des Gerichtshofs, die sich insbesondere – aber nicht nur – durch den Beitritt neuer Mitgliedstaaten und die dadurch notwendig gewordene Ergänzung des Richterkollegiums ergaben. Eine Analyse, die eine Rechtsprechungsänderung ausschließlich daran beurteilt, ob die dem EuGH vorgelegten Fälle zugunsten der Steuerpflichtigen oder zugunsten der Regierungen der Mitgliedstaaten entschieden werden, greift zu kurz. Schließlich kann der EuGH die Fälle, über die er zu entscheiden hat, nicht selbst auswählen. Vor allem die Gerichte der Mitgliedstaaten und die Kommission haben es in der Hand, jene Aspekte zu bestimmen, in deren Licht der EuGH das Unionsrecht auszulegen hat. Daher wäre es durchaus denkbar, dass in einer ersten Phase der Rechtsprechung des EuGH vor allem jene Fälle an den Gerichtshof herangetragen wurden, in denen der Verstoß gegen eine der Grundfreiheiten offenkundig ist, während in einer zweiten Phase nunmehr jene Konstellationen getestet werden, in denen die Unionsrechtswidrigkeit nicht so sehr auf der Hand liegt und Urteile daher öfter auch im Einklang mit der Position der Mitgliedstaaten ergehen. Wer sich daher der Frage widmen möchte, ob es in der Rechtsprechung des EuGH eine Trendwende gegeben hat, muss tiefer ansetzen und sich mit den vom EuGH gewählten Begründungen auseinander setzen. In der Rechtsprechung des EuGH geht es um den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten, die Vergleichbarkeitsprüfung, die Rechtfertigungsprüfung und die Verhältnismäßigkeitsprüfung. In der Folge sollen die Urteile des EuGH untersucht und näher geprüft werden, ob sich die vor 2005 ergangene Rechtsprechung und die seitdem ergangene Rechtsprechung aus diesen Blickwinkeln unterscheiden.
__________ 2 Vgl. M. Lang, Das EuGH-Urteil in der Rechtssache D. – Gerät der Motor der Steuerharmonisierung ins Stottern?, SWI 2005, 365 (374 f.); Die Presse, Spielraum der Mitgliedstaaten wächst, 2005/36/02; M. Lang, Marks & Spencer – Eine erste Analyse des EuGH-Urteils, SWI 2006, 3 (11 f.); Kofler, Europäische Grundfreiheiten, nationales Steuerrecht und die Rolle des EuGH (Teil II), taxlex 2006, 63 (70 f.); Kofler, Wer hat das Sagen im Steuerrecht – EuGH, ÖStZ 2006, 154 (165).
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2005 – Wende in der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten?
II. Die vor 2005 ergangene steuerliche Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten 1. Der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten Die überwiegende Zahl der dem EuGH seit 1986 vorgelegten Fälle betrafen Vorabentscheidungsverfahren. In diesen Fällen spielte die Frage, welche der Grundfreiheiten anwendbar ist, meist keine große Rolle. Der EuGH vertrat bereits früh die Auffassung, dass die verschiedenen Grundfreiheiten nach gleichen Standards auszulegen sind3. Daher war es auch naheliegend, dass er der Frage, welche Grundfreiheit im konkreten Fall maßgebend ist, keine große Bedeutung beimaß. Die Prüfung dieser Frage überließ er regelmäßig dem vorlegenden Gericht. Ein Beispiel für diese Rechtsprechung stellt das 2004 ergangene Urteil de Lasteyrie du Saillant dar4. Das vorlegende Gericht fragte nach einem Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit und der EuGH hinterfragte dies nicht weiter: „Gegenüber den von einigen Regierungen geäußerten Zweifeln an der Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ist mangels hinreichender Ausführungen zu diesem Punkt in der dem Gerichtshof vorgelegten Akte daran zu erinnern, dass in einem Verfahren nach Artikel 234 EG, der auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, für die Würdigung des konkreten Sachverhalts das vorlegende Gericht zuständig ist […], und festzustellen, dass das vorlegende Gericht offenbar zu dem Schluss gelangt ist, dass Artikel 52 EG-Vertrag auf dem von ihm zu entscheidenden Rechtsstreit anwendbar ist.“ Allerdings finden sich auch Urteile des EuGH, in denen der Gerichtshof der Frage nach der Anwendbarkeit einer Grundfreiheit größere Bedeutung beimisst: In Werner fragte das Finanzgericht Köln nach einem Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit5. Der EuGH hielt dazu fest6: „Es ist zu betonen, dass der Kläger ein deutscher Staatsangehöriger ist, der seine Zeugnisse und seine beruflichen Qualifikationen in Deutschland erworben hat, der seine Berufstätigkeit immer in diesem Land ausgeübt hat und auf den das deutsche Steuerrecht angewandt wird. Der einzige über den nationalen Rahmen hinausweisende Aspekt ist die Tatsache, dass der Kläger in einem anderen Mitgliedstaat wohnt als dem, in dem er seine Berufstätigkeit ausübt. […] Demgemäß ist die Frage des nationalen Gerichts dahin zu beantworten, dass es nicht gegen Artikel 52 EWG-Vertrag verstößt, wenn ein Mitgliedstaat eigenen Staatsangehöri-
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3 Vgl. Behrens, Die Konvergenz der wirtschaftlichen Freiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR 1992, 145 (150 ff.); Classen, Auf dem Weg zu einer einheitlichen Dogmatik der EG-Grundfreiheiten?, EWS 1995, 97 (104 f.); Eberhartinger, Konvergenz und Neustrukturierung der Grundfreiheiten, EWS 1997, 43 (48 ff.); Everling, Das Niederlassungsrecht in der EG als Beschränkungsverbot, in Schön (Hrsg.), Gedächtnisschrift Knobbe-Keuk, 1997, S. 607 (617 f.); Konezny/Züger, Ist die internationale Schachtelbeteiligung „europatauglich“?, SWI 2000, 218 (219). 4 EuGH v. 11.3.2004, C-9/02, de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409, Rz. 41. 5 EuGH v. 26.1.1993, C-112/91, Werner, Slg. 1993, I-429. 6 EuGH v. 26.1.1993, C-112/91, Werner, Slg. 1993, I-429, Rz. 16 f.
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Michael Lang
gen, die ihre Berufstätigkeit in seinem Hoheitsgebiet ausüben und die ausschließlich oder fast ausschließlich dort ihre Einkünfte erzielen oder ihr Vermögen besitzen, dann, wenn sie nicht im Inland wohnen, eine höhere Steuerbelastung auferlegt, als wenn sie dort wohnen.“ 2. Vergleichbarkeitsprüfung Im Fachschrifttum wird der Frage, ob die Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote oder als Beschränkungsverbote zu deuten sind, häufig große Beachtung geschenkt7. Auf dem Gebiet des Steuerrechts spielt diese Frage kaum eine Rolle8: In der steuerrechtlichen Fachliteratur besteht Übereinstimmung, dass sich alle oder nahezu alle Fälle, die den bisher ergangenen Urteilen zu Grunde liegen, als Diskriminierungsproblem deuten lassen. Gerade am Beispiel des Steuerrechts lässt sich auch gut zeigen, dass die Identifikation von Beschränkungen ebenfalls eines Vergleichsmaßstabes bedarf. Sonst wäre jede steuerliche Belastung einer grenzüberschreitenden Aktivität eine unzulässige Beschränkung. Erkennt man dies an, wird aber auch deutlich, dass sich sogenannte Beschränkungen auch nicht strukturell von anderen Formen der Gleichheitsprüfung unterscheiden. Die Annahme, dass eine Beschränkung vorliegt, ist daher das Ergebnis einer abgekürzten Vergleichbarkeitsprüfung. Die Suche nach einem Vergleichsfall ist immer möglich. Im extremsten Fall lässt sich eine Regelung mit einer Nichtregelung oder mit der gesamten Rechtsordnung vergleichen9. Das Beschränkungsverbot lässt sich daher in einer Vergleichbarkeitsprüfung auflösen10. Entscheidend war und ist, dass der EuGH einen Verstoß gegen eine Grundfreiheit nicht davon abhängig macht, ob aufgrund der Staatsangehörigkeit diskri-
__________ 7 Vgl. u. a. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 175 ff.; Englisch, Zur Dogmatik der Grundfreiheiten des EGV und ihren ertragsteuerlichen Implikationen, StuW 2003, 88 (89); Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004, 193 (194 f.); Hahn, Gemeinschaftsrecht und Recht der direkten Steuern – Teil I, DStZ 2005, 433 (439 ff.). 8 Vgl. Toifl, Die EU-Grundfreiheiten und die Diskriminierungsverbote der Doppelbesteuerungsabkommen, in Gassner/M. Lang/Lechner (Hrsg.), Doppelbesteuerungsabkommen und EU-Recht, 1996, S. 139 (160 f.); M. Lang, Europarechtliche Aspekte der Besteuerung von Erbschaften, in Birk (Hrsg.), Steuern auf Erbschaft und Vermögen, 1999, S. 261 ff.; M. Lang, Kapitalverkehrsfreiheit und Doppelbesteuerungsabkommen, in Lechner/Staringer/Tumpel (Hrsg.), Kapitalverkehrsfreiheit und Steuerrecht, 2000, S. 181 (189 ff.); in diese Richtung auch Lyal, Non-discrimination and direct tax in Community Law, EC Tax Review 2003, 68 (74); Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 247 ff.; ebenso: GA La Pergola, Schlussanträge 24.6.1999, C-35/98, Verkooijen, Slg. 2000, I-4071, Nr. 18. 9 Vgl. M. Lang, Die Rechtsprechung des EuGH zum direkten Steuerrecht, 2007, S. 96 f.; grundlegend zur insoweit vergleichbaren gleichheitsrechtlichen Problematik: Gassner, Gleichheitssatz und Steuerrecht, Institut für Finanzwissenschaft und Steuerrecht Nr. 64, 1970, S. 7 sowie Korinek/Holoubek, Gleichheitsrecht und Abgabenrecht, in Gassner/Lechner (Hrsg.), Steuerbilanzreform und Verfassungsrecht, 1991, S. 73 (83 f.), welche ausführen, dass die Sachlichkeitsprüfung bloß eine verkürzte Form der gleichheitsrechtlichen Prüfung darstellt. 10 M. Lang in Kapitalverkehrsfreiheit und Steuerrecht (Fn. 8), S. 190 f.
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2005 – Wende in der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten?
miniert wird. In den meisten europäischen Steuerrechtsordnungen spielt die Staatsangehörigkeit nämlich keine oder bloß eine untergeordnete Rolle. Knüpft eine steuerrechtliche Regelung aber nicht an die Staatsangehörigkeit an, kann die Staatsangehörigkeit nicht Anknüpfungspunkt einer Diskriminierung sein. Der EuGH ist hingegen davon ausgegangen, dass Vorschriften über die Gleichbehandlung nicht bloß offene Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verbieten, sondern auch verdeckte Diskriminierungen aufgrund anderer Differenzierungskriterien, die zum selben Ergebnis führen11. Damit hat der EuGH schon 1990 die Voraussetzung geschaffen, den Grundfreiheiten auf dem Gebiet der Einkommensbesteuerung natürlicher Personen zum Durchbruch zu verhelfen12. Der EuGH hat sich aber nicht darauf beschränkt, bloß Gebietsansässige und Gebietsfremde miteinander zu vergleichen. Vielmehr zieht er auch in Betracht, die Situation von Gebietsansässigen, die in einem anderen Mitgliedstaat tätig sind, dort Leistungen erbringen, sich niederlassen oder investieren, mit der Situation von Gebietsansässigen zu vergleichen, die denselben Sachverhalt innerhalb ihres Mitgliedstaates verwirklichen13. Ein weiteres Vergleichspaar hat der EuGH schon in seinem Urteil Avoir Fiscal mit dem Konzept der freien Rechtsformwahl angedeutet14: „Denn da Artikel 52 Absatz 1 Satz 2 den Wirtschaftsteilnehmern ausdrücklich die Möglichkeit lässt, die geeignete Rechtsform für die Ausübung ihrer Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat frei zu wählen, darf diese freie Wahl nicht durch diskriminierende Steuerbestimmungen eingeschränkt werden.“ Diesem Hinweis wurde anfangs keine allzu große Bedeutung beigemessen, zumal die Diskriminierung der Betriebsstätte gegenüber der Tochtergesellschaft mit der Diskriminierung der gebietsfremden Gesellschaft gegenüber der gebietsansässigen Gesellschaft zusammenfiel. Am Rande hat diese Frage aber auch in Schumacker eine Rolle gespielt15: In diesem Fall ging es zwar um den Vergleich zwischen Gebietsansässigen und
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11 Vgl. z. B. EuGH v. 14.2.1974, C-152/73, Sotgiu, Slg. 1974, 153, Rz. 11; EuGH v. 8.5.1990, C-175/88, Biehl, Slg. 1990, I-1779, Rz. 13; EuGH v. 12.4.1994, C-1/93, Halliburton, Slg. 1994, I-1137, Rz. 15; EuGH v. 14.2.1995, C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Rz. 28 f.; EuGH v. 11.8.1995, C-80/94, Wielockx, Slg. 1995, I-2493, Rz. 16; EuGH v. 27.6.1996, C-107/94, Asscher, Slg. 1996, I-3089, Rz. 36; EuGH v. 12.6.2003, C-234/01, Gerritse, Slg. 2003, I-5933, Rz. 28; EuGH v. 15.7.2004, C-242/03, Weidert und Paulus, Slg. 2004, I-7379, Rz. 13 f.; EuGH v. 6.7.2006, C-346/04, Conijn, Slg. 2006, I-6137, Rz. 15; EuGH v. 18.3.2010, C-440/08, Gielen, noch nicht in Slg. veröffentlicht, Rz. 37. 12 EuGH v. 8.5.1990, C-175/88, Biehl, Slg. 1990, I-1779, Rz. 13 ff. 13 Vgl. z. B. EuGH v. 14.2.1995, C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Rz. 36 ff.; EuGH v. 11.8.1995, C-80/94, Wielockx, Slg. 1995, I-2493, Rz. 18 ff.; EuGH v. 27.6. 1996, C-107/94, Asscher, Slg. 1996, I-3089, Rz. 32 ff.; EuGH v. 16.5.2000, C-87/99, Zurstrassen, Slg. 2000, I-3337, Rz. 21; EuGH v. 12.6.2003, C-234/01, Gerritse, Slg. 2003, I-5933, Rz. 43 ff.; EuGH v. 1.7.2004, C-169/03, Wallentin, Slg. 2004, I-6443, Rz. 15 ff.; EuGH v. 16.10.2008, C-527/06, Renneberg, Slg. 2008, I-7735, Rz. 59 ff. 14 EuGH v. 28.1.1986, 270/83, Kommission vs Frankreich („Avoir Fiscal“), Slg. 1986, 273, Rz. 22. 15 EuGH v. 14.1.1995, C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Rz. 46.
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Michael Lang
Gebietsfremden. Der EuGH wies aber darüber hinaus auch darauf hin, dass nach deutschem Recht „Grenzgängern, die in den Niederlanden wohnen und eine Beschäftigung in Deutschland ausüben, die sich bei Berücksichtigung ihrer persönlichen Lage und ihres Familienstandes ergebenden Steuervergünstigungen einschließlich des Splittingtarifs“ zustehen. „Diese Gemeinschaftsbürger werden nämlich, wenn sie mindestens 90 % ihrer Einkünfte im deutschen Hoheitsgebiet erzielen, nach dem Ausführungsgesetz Grenzgänger Niederlande […] den deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt.“ Der EuGH zog daher auch einen Vergleich zwischen zwei grenzüberschreitenden Situationen in Betracht16: Zwei aus dem Blickwinkel des deutschen Rechtsgebiets Fremde, von denen der eine in Belgien ansässig ist und der andere in den Niederlanden, wurden miteinander verglichen. Die beiden gerade erwähnten Urteile Avoir Fiscal und Schumacker zeigen auch, dass der EuGH bereits sehr früh unterschiedliche – miteinander in Widerspruch stehende – Ansätze zur Feststellung der Vergleichbarkeit wählte: Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass der EuGH keineswegs generell davon ausgeht, dass Gebietsansässige und Gebietsfremde – oder auch andere als vergleichbar in Betracht kommende Personen – jedenfalls vergleichbar sind. In Avoir Fiscal wies der EuGH darauf hin, „dass die französischen Steuerbestimmungen in Bezug auf die Festlegung der Besteuerungsgrundlage für die Festsetzung der Körperschaftsteuer keine Unterscheidung zwischen Gesellschaften mit Sitz in Frankreich und in Frankreich gelegenen Zweigniederlassungen und Agenturen von Gesellschaften mit Sitz im Ausland vornehmen. Gemäß Artikel 209 des code général des impôts werden bei beiden diejenigen Gewinne besteuert, die in den in Frankreich tätigen Unternehmen erzielt werden – mit Ausnahme der im Ausland erzielten Gewinne – oder die durch ein Doppelbesteuerungsabkommen Frankreich zugewiesen worden sind. […] Da die streitige Regelung die Gesellschaften mit Sitz in Frankreich und die in Frankreich gelegenen Zweigniederlassungen und Agenturen von Gesellschaften mit Sitz im Ausland bei der Besteuerung ihrer Gewinne auf die gleiche Stufe stellt, kann sie sie nicht ohne Schaffung einer Diskriminierung im Rahmen dieser Besteuerung hinsichtlich der Gewährung einer damit zusammenhängenden Vergünstigung wie des Steuerguthabens ungleich behandeln. Der französische Gesetzgeber hat nämlich dadurch, dass er die beiden Niederlassungsformen im Rahmen der Besteuerung der von ihnen erzielten Gewinne gleichbehandelt, anerkannt, dass zwischen beiden Formen in Bezug auf die Modalitäten und Voraussetzungen dieser Besteuerung kein Unterschied in der objektiven Situation besteht, der eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnte“17. In Avoir Fiscal geht der EuGH also von der rechtlichen Vergleichbarkeit aus: Die Vergleichbarkeit war gegeben, weil die maßgebenden
__________ 16 Vgl. M. Lang (Fn. 9), S. 33 ff.; Schmidtmann, Zur vertikalen und horizontalen Vergleichspaarbildung des EuGH aus ökonomischer Sicht, IWB 2008, 1091 (1101); M. Lang, Recent Case Law of the ECJ in Direct Taxation: Trends, Tensions, and Contradictions, EC Tax Review 2009, 98 (104 ff.) m. w. N. 17 EuGH v. 28.1.1986, 270/83, Kommission vs Frankreich („Avoir Fiscal“), Slg. 1986, 273, Rz. 19 f.
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2005 – Wende in der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten?
rechtlichen Vorschriften für ansässige Gesellschaften und Zweigniederlassungen – mit Ausnahme der benachteiligenden Regelung – ident waren. In Schumacker wählte der EuGH hingegen einen anderen Ansatz18: Er ging davon aus, dass Gebietsfremde, die alle oder fast alle Einkünfte in Deutschland erzielen, dort mit den Gebietsansässigen vergleichbar sind. Es kam also nicht darauf an, ob die sonst für Gebietsansässige und Gebietsfremde geltenden Regelungen ident sind. Der EuGH maß diesen rechtlichen Rahmenbedingungen für die Beurteilung der Vergleichbarkeit keine Bedeutung zu. Es kam lediglich auf die faktische Situation an. Die nachher ergangenen Urteile folgen entweder dem Ansatz rechtlicher oder faktischer Vergleichbarkeit. Im Falle von juristischen Personen scheint der EuGH eine Präferenz für die rechtliche Vergleichbarkeit zu haben19. Die faktische Vergleichbarkeit spielt bei natürlichen Personen eine Rolle20, wobei sich aber auch bei natürlichen Personen Urteile finden lassen, die dem Ansatz rechtlicher Vergleichbarkeit folgen21. Das Urteil Schumacker selbst ist ein Beispiel dafür, dass der EuGH in einem Urteil bei der Beurteilung zweier unterschiedlicher Fragen einmal dem Ansatz rechtlicher Vergleichbarkeit und einmal dem Ansatz faktischer Vergleichbarkeit folgt22. Früh hat der EuGH auch schon betont, dass eine Diskriminierung nicht nur darin bestehen kann, dass unterschiedliche Vorschriften auf vergleichbare Situationen angewandt werden, sondern auch darin, dass dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewandt wird23. Der EuGH ist aber zurückhaltend, diese Überlegung für die Beurteilung konkreter Fallkonstellatio-
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18 EuGH v. 14.1.1995, C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Rz. 36 ff. 19 Vgl. z. B. EuGH v. 29.4.1999, C-311/97, Royal Bank of Scotland, Slg. 1999, I-2651, Rz. 26 ff.; EuGH v. 21.9.1999, C-307/97, Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161, Rz. 48; EuGH v. 12.12.2006, C-374/04, ACT Group Litigation, Slg. 2006, I-11673, Rz. 65 ff.; EuGH v. 14.12.2006, C-170/05, Denkavit Internationaal and Denkavit France, Slg. 2006, I-11949, Rz. 35. 20 Vgl. z. B. EuGH v. 14.1.1995, C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Rz. 36; EuGH v. 11.8.1995, C-80/94, Wielockx, Slg. 1995, I-2493, Rz. 18; EuGH v. 27.6.1996, C-107/94, Asscher, Slg. 1996, I-3089, Rz. 41; EuGH v. 16.5.2000, C-87/99, Zurstrassen, Slg. 2000, I-3337, Rz. 21; EuGH v. 12.6.2003, C-234/01, Gerritse, Slg. 2003, I-5933, Rz. 43 ff.; EuGH v. 1.7.2004, C-169/03, Wallentin, Slg. 2004, I-6443, Rz. 15 ff.; vgl. weiters auch GA Léger, Schlussanträge 1.3.2005, C-152/03, Ritter-Coulais, Slg. 2006, I-1711, Nr. 82 ff.; hierzu kritisch: M. Lang, Ist die Schumacker-Rechtsprechung am Ende?, RIW 2005, 336 (336 ff.). 21 Vgl. z. B. EuGH v. 5.7.2005, C-376/03, D., Slg. 2005, I-5821, Rz. 59 ff.; EuGH v. 12.7.2005, C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421, Rz. 35; EuGH v. 8.9.2005, C-512/03, Blanckaert, Slg. 2005, I-7685, Rz. 49. 22 EuGH v. 14.1.1995, C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Rz. 25 ff. und 48 ff. 23 EuGH v. 14.1.1995, C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Rz. 30; EuGH v. 11.8.1995, C-80/94, Wielockx, Slg. 1995, I-2493, Rz. 17; EuGH v. 27.6.1996, C-107/94, Asscher, Slg. 1996, I-3089, Rz. 40; EuGH v. 29.4.1999, C-311/97, Royal Bank of Scotland, Slg. 1999, I-2651, Rz. 26; EuGH v. 17.7.2007, C-182/06, Lakebrink and Peters-Lakebrink, Slg. 2007, I-6705, Rz. 27; vgl. Eicker/Obser, EuGH-Rechtsprechung Ertragsteuerrecht, 2. Aufl. 2007, S. 44; Zur verwandten Diskussion über den Gleichheitssatz des Verfassungsrechts: vgl. Gassner (Fn. 9), S. 7 ff. sowie Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 157 ff., m. w. N.
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nen fruchtbar zu machen. Eine Gelegenheit dafür wäre Futura Participations gewesen24. Gebietsansässige – also in Luxemburg ansässige Gesellschaften – werden gleich wie Gebietsfremde – also in einem anderen EU-Mitgliedstaat ansässige Gesellschaften mit Betriebsstätte in Luxemburg – behandelt: In beiden Fällen muss in Luxemburg eine Buchführung vorliegen, damit Verluste vorgetragen werden können. In Luxemburg ansässige Gesellschaften und in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaften können insoweit als in unterschiedlichen Situationen befindlich angesehen werden, als in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaften in aller Regel dort Buchführungsverpflichtungen – und zwar für das gesamte Unternehmen – unterliegen. Diese – vom EuGH allerdings nicht selbst angestellte – Überlegung kann zur Deutung von Futura Participations herangezogen werden. 3. Rechtfertigungsprüfung Die ältere Rechtsprechung des EuGH zeichnet sich durch einen restriktiven Zugang zu den möglichen Rechtfertigungsgründen aus. Dies hat sich bereits im Urteil Avoir Fiscal abgezeichnet25: Eine „mangelnde Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Körperschaftsteuer“ kann eine Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen. Weiters hielt der EuGH fest, dass „Rechte, die sich für die Begünstigten aus Artikel 52 EWG-Vertrag ergeben, unbedingt [sind], und ein Mitgliedstaat […] ihre Beachtung nicht vom Inhalt eines mit einem anderen Mitgliedstaat geschlossenen Abkommen abhängig machen [kann]. Insbesondere erlaubt es dieser Artikel nicht, diese Rechte einer Gegenseitigkeitsbedingung zu unterwerfen, um in anderen Mitgliedstaaten entsprechende Vorteile zu erhalten“. In Avoir Fiscal hat der EuGH auch die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung mit der „Gefahr der Steuerflucht“ nicht akzeptiert26: „Artikel 52 EWGVertrag lässt keine Ausnahme vom Grundprinzip der Niederlassungsfreiheit aus solchen Gründen zu.“ Von dieser Rechtsprechungslinie ist der EuGH allerdings bereits 1998 in ICI abgerückt27: „Zu der auf die Gefahr einer Steuerumgehung gestützten Rechtfertigung genügt die Feststellung, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften nicht speziell bezwecken, rein künstliche Konstruktionen, die auf eine Umgehung des Steuerrechts des Vereinigten Königreichs gerichtet sind, von einem Steuervorteil auszuschließen, sondern generell jede Situation erfassen, in der die Mehrzahl der Tochtergesellschaften eines Konzerns ihren Sitz, aus welchen Gründen auch immer, außerhalb des Vereinigten Königreichs hat. Die Niederlassung einer Gesellschaft außerhalb des Vereinigten Königreichs impliziert aber als solche nicht die steuerliche Umgehung, da die betreffende Gesellschaft auf jeden Fall
__________ 24 EuGH v. 15.5.1997, C-250/95, Futura Participations, Slg. 1997, I-2471. 25 EuGH v. 28.1.1986, 270/83, Kommission vs Frankreich („Avoir Fiscal“), Slg. 1986, 273, Rz. 24 ff. 26 EuGH v. 28.1.1986, 270/83, Kommission vs Frankreich („Avoir Fiscal“), Slg. 1986, 273, Rz. 25. 27 EuGH v. 16.7.1998, C-264/96, ICI, Slg. 1998, I-4695, Rz. 26.
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dem Steuerrecht des Niederlassungsstaats unterliegt.“ Der EuGH hat damit zu erkennen gegeben, dass die „Gefahr der Steuerflucht“ für ihn doch als Rechtfertigungsgrund in Betracht kommt28. Hingegen hat der EuGH in ICI deutlich gemacht, dass der Verlust von Steuereinnahmen kein Rechtfertigungsgrund sein kann29: „Was das Argument angeht, die sich aus dem Abzug der Verluste der gebietsansässigen Tochtergesellschaften ergebende Steuerermäßigung könne nicht durch die Besteuerung der Gewinne der außerhalb des Vereinigten Königreichs ansässigen Tochtergesellschaften ausgeglichen werden, so ist darauf hinzuweisen, dass die daraus resultierenden Steuermindereinnahmen nicht zu den in Artikel 56 des Vertrages genannten Gründen gehören und daher nicht als zwingender Grund des Allgemeininteresses anzusehen sind, der zur Rechtfertigung einer mit Artikel 52 des Vertrages grundsätzlich unvereinbaren Ungleichbehandlung angeführt werden kann.“ Diese Rechtsprechungslinie hat der EuGH in der Folge dann wiederholt bestätigt30. In Avoir Fiscal hat der EuGH auch die Rechtfertigung durch den Vorteilsausgleich verworfen31: „Entgegen der These der französischen Regierung kann die unterschiedliche Behandlung auch nicht durch mögliche Vorteile gerechtfertigt sein, die die Zweigniederlassungen und Agenturen im Verhältnis zu den Gesellschaften genießen und die nach Ansicht der französischen Regierung die aus der Verweigerung des Steuerguthabens entstehenden Nachteile ausgleichen. Selbst wenn man unterstellt, dass solche Vorteile bestehen, können sie keinen Verstoß gegen die Verpflichtung aus Artikel 52 EWG-Vertrag, die Inländerbehandlung hinsichtlich des Steuerguthabens zu gewähren, rechtfertigen. In diesem Zusammenhang ist es auch nicht notwendig, die Bedeutung der Nachteile abzuschätzen, die den Zweigniederlassungen und den Agenturen ausländischer Versicherungsgesellschaften durch die Verweigerung des Steuerguthabens entstehen, und zu untersuchen, ob sich diese Nachteile auf die von ihnen angewandten Tarife auswirken können, denn Artikel 52 verbietet jede Diskriminierung, auch von nur geringem Umfang.“ Von dieser Rechtsprechung ist der EuGH auch später nicht abgerückt32. Allerdings hat er in Bachmann 1992 den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz ins Spiel gebracht33. Der EuGH entschied, dass „die Kohärenz des Steuerrechts auf
__________ 28 Vgl. M. Lang (Fn. 9), S. 82. 29 EuGH v. 16.7.1998, C-264/96, ICI, Slg. 1998, I-4695, Rz. 28. 30 Vgl. z. B. EuGH v. 21.9.1999, C-307/97, Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161, Rz. 50 ff.; EuGH v. 6.6.2000, C-35/98, Verkooijen, Slg. 2000, I-4071, Rz. 59; EuGH v. 3.10.2002, C-136/00, Danner, Slg. 2002, I-8147, Rz. 55 ff.; EuGH v. 21.11.2002, C-436/00, X und Y, Slg. 2002, I-10829, Rz. 50; EuGH v. 13.12.2005, C-446/03, Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837, Rz. 44. 31 EuGH v. 28.1.1986, 270/83, Kommission vs Frankreich („Avoir Fiscal“), Slg. 1986, 273, Rz. 21. 32 Vgl. z. B. EuGH v. 27.6.1996, C-107/94, Asscher, Slg. 1996, I-3089, Rz. 53; EuGH v. 21.9.1999, C-307/97, Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161, Rz. 54; EuGH v. 6.6.2000, C-35/98, Verkooijen, Slg. 2000, I-4071, Rz. 61, m. w. N. 33 EuGH v. 28.1.1992, C-204/90, Bachmann, Slg. 1992, I-249, Rz. 28.
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dem Gebiet der Alters- und Todesfallversicherungen gewährleistet werden müsste“. Der EuGH brachte damit die Regelungen, die die Steuerpflicht für Versicherungsleistungen vorsahen, in Zusammenhang mit den Regelungen über die Abzugsfähigkeit: Die Abzugsfähigkeit der Prämien korrespondierte mit der Steuerpflicht der Versicherungsleistung genauso wie die Nichtabzugsfähigkeit der Prämie mit der Steuerfreiheit der Leistung. Kohärenz und Vorteilsausgleich erweisen sich auf diese Weise als unterschiedliche Seiten derselben Medaille34: Wenn der EuGH Kohärenz annimmt, betrachtet er bestimmte Regelungen als miteinander in engem Zusammenhang stehend. Spricht er hingegen davon, dass – bloß – Vorteile den Nachteilen gegenüberstehen, bringt er dadurch bereits zum Ausdruck, dass die Regelungen keineswegs in engem Zusammenhang stehen. Die ältere Rechtsprechung ist aber auch davon gekennzeichnet, dass der EuGH mit dem Rechtfertigungsgrund der Kohärenz äußerst zurückhaltend umgeht und einen derart engen Zusammenhang zwischen verschiedenen Rechtsvorschriften nur in der Rechtssache Bachmann als Rechtfertigung akzeptiert hat35. Einen weiteren Rechtfertigungsgrund hat der EuGH in Futura Participations mit dem Territorialitätsprinzip akzeptiert36: „Nach dem Einkommensteuergesetz sind Steuerinländer mit ihrem gesamten Einkommen steuerpflichtig, ohne dass die Bemessungsgrundlage auf die luxemburgischen Tätigkeiten beschränkt wäre. Auch wenn es Befreiungen gibt, kraft deren ein Teil oder in bestimmten Fällen auch sämtliche außerhalb Luxemburgs erzielten Einkünfte der luxemburgischen Steuern nicht unterliegen, umfasst die Bemessungsgrundlage dieser Steuerpflichtigen somit zumindest die Gewinne und Verluste aus ihrer luxemburgischen Tätigkeit. […] Für die Berechnung der Bemessungsgrundlage der Steuer von Steuerausländern werden hingegen bei der Festsetzung der luxemburgischen Steuern nur die Gewinne und Verluste berücksichtigt, die aus ihren luxemburgischen Tätigkeiten stammen. […] Diese Regelung, die dem steuerlichen Territorialitätsprinzip entspricht, enthält weder eine offene noch eine verdeckte Diskriminierung, wie sie der EG-Vertrag verbietet.“ Die Reichweite dieses Rechtfertigungsgrundes ist unklar. Der EuGH hat ihn in der Folge auch nicht mehr herangezogen, wobei er ihn nicht ausdrücklich verworfen hat, sondern sich bemüht hat herauszuarbeiten, warum im jeweiligen konkreten Fall dieser Rechtfertigungsgrund nicht zog37. Das Erfordernis wirksamer steuerlicher Kontrolle hat der EuGH als Rechtfertigungsgrund außerhalb des Bereichs der direkten Steuern entwickelt38 und seit
__________ 34 Vgl. M. Lang (Fn. 9), S. 54 f. 35 EuGH v. 28.1.1992, C-204/90, Bachmann, Slg. 1992, I-249, Rz. 28; ausführlich zum Begriff der Kohärenz Stangl, Der Begriff der steuerlichen Kohärenz nach den Urteilen Baars und Verkooijen, SWI 2000, 463. 36 EuGH v. 15.5.1997, C-250/95, Futura Participations, Slg. 1997, I-2471, Rz. 20 ff. 37 Vgl. z. B. EuGH v. 18.9.2003, C-168/01, Bosal, Slg. 2003, I-9409, Rz. 37 ff.; EuGH v. 7.9.2004, C-319/02, Manninen, Slg. 2004, I-7477, Rz. 38 f.; EuGH v. 10.3.2005, C-39/04, Laboratoires Fournier, Slg. 2005, I-2057, Rz. 17 f.; EuGH v. 23.2.2006, C-471/04, Keller Holding GmbH, Slg. 2006, I-2107, Rz. 44. 38 EuGH v. 20.2.1979, 120/78, Rewe Zentral AG, Slg. 1979, 649, Rz. 8.
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seinem Urteil Bachmann wiederholt auch im Bereich der direkten Steuern in Betracht gezogen39. In Futura Participations hat der EuGH folgende Formulierung gewählt40: „Ein Mitgliedsstaat hat damit das Recht zur Anwendung von Maßnahmen, die die klare und eindeutige Feststellung der Höhe sowohl der in diesem Staat steuerbaren Einkünfte wie eines Verlustvortrags erlauben.“ Dieses Urteil zeigt aber auch, dass der EuGH die Rechtfertigung dann aber letztlich doch nicht akzeptiert hat41: „Namentlich können die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats stets gemäß der Richtlinie 77/799 die zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats um alle Auskünfte ersuchen, vermittels deren sie unter ihrem Recht die Steuern vom Einkommen eines Steuerpflichtigen, der seinen Sitz in dem anderen Mitgliedstaat hat, zutreffend festsetzen können.“ 4. Verhältnismäßigkeitsprüfung Die Verhältnismäßigkeitsprüfung spielt in der älteren Rechtsprechung des EuGH eine geringe Rolle. Der Grund dafür liegt darin, dass der EuGH nur selten Rechtfertigungsgründe akzeptiert hat. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist aber der Rechtsfertigungsprüfung nachgelagert und kommt dann in Betracht, wenn sich eine Ungleichbehandlung an sich rechtfertigen lässt. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung könnte allerdings auch dann eine Rolle spielen, wenn eine Gleichbehandlung unterschiedlicher Situationen erfolgt und sich eine Rechtfertigung dafür finden lässt42. Da es der EuGH bisher meist verabsäumt hat, nach der Rechtfertigung für eine Gleichbehandlung unterschiedlicher Situationen zu fragen, ist hier auch die Verhältnismäßigkeitsprüfung noch nicht schlagend geworden. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung spielt bei der Rechtsprechung zur Gefahr der Steuerflucht eine Rolle43: Der EuGH hat – wie bereits erwähnt – seit ICI 1998 die Gefahr der Steuerflucht als möglichen Rechtfertigungsgrund akzeptiert44. Allerdings hat er dies davon abhängig gemacht, dass die nationale Regelung auf „künstliche Konstruktionen“ beschränkt ist. Dies kann als Bestandteil der Verhältnismäßigkeitsprüfung gesehen werden. Wie eng Rechtfertigungsprüfung und Verhältnismäßigkeitsprüfung verwandt sind, zeigt auch die Recht-
__________ 39 EuGH v. 28.1.1992, C-204/90, Bachmann, Slg. 1992, I-249, Rz. 18; EuGH v. 15.5.1997, C-250/95, Futura Participations, Slg. 1997, I-2471, Rz. 31; EuGH v. 8.7.1999, C-254/97, Baxter, Slg. 1999, I-4809, Rz. 18 f.; EuGH v. 4.3.2004, C-334/02, Kommission vs Frankreich, Slg. 2004, I-2229, Rz. 27 ff.; EuGH v. 10.3.2005, C-39/04, Laboratoires Fournier, Slg. 2005, I-2057, Rz. 24. 40 EuGH v. 15.5.1997, C-250/95, Futura Participations, Slg. 1997, I-2471, Rz. 31. 41 EuGH v. 15.5.1997, C-250/95, Futura Participations, Slg. 1997, I-2471, Rz. 41. 42 Vgl. M. Lang (Fn. 9), S. 88 f.; Lyal, EC Tax Review 2003 (Fn. 8), 69. 43 Vgl. z. B. EuGH v. 21.11.2002, C-436/00, X und Y, Slg. 2002, I-10829, Rz. 61 f.; EuGH v. 11.3.2004, C-9/02, de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409, Rz. 54; EuGH v. 13.12.2005, C-446/03, Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837, Rz. 43 ff. 44 EuGH v. 16.7.1998, C-264/96, ICI, Slg. 1998, I-4695, Rz. 26 ff.; EuGH v. 11.3.2004, C-9/02, de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409, Rz. 54; EuGH v. 13.12.2005, C-446/03, Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837, Rz. 49 und 57.
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sprechung zur Wirksamkeit steuerlicher Kontrolle45: Der EuGH hat das Erfordernis wirksamer steuerlicher Kontrolle an sich als Rechtfertigungsgrund anerkannt, gleichzeitig aber darauf hingewiesen, dass im Anwendungsbereich der Amtshilfe-Richtlinie dieser Rechtfertigungsgrund keine Bedeutung haben kann. Diese Ausnahme von der Rechtfertigung lässt sich auch so deuten, dass die gesetzgeberische Maßnahme unverhältnismäßig wäre46. Spannend ist allerdings das Verhältnis zwischen der Inanspruchnahme der Amtshilfe und der Möglichkeit, den Steuerpflichtigen zur Mitwirkung heranzuziehen. Die Rechtsprechung legt gelegentlich das Schwergewicht auf die Amtshilfe-Richtlinie47, gelegentlich aber auch auf die Möglichkeit, den Steuerpflichtigen zur Mitwirkung zu verhalten48. In der älteren Rechtsprechung – wie in Bachmann und Futura Participations – zeigt sich, dass der EuGH die Möglichkeit, den Steuerpflichtigen zur Mitwirkung zu verhalten, nur in zweiter Linie ins Treffen geführt hat49. Im Zusammenhang mit der Kohärenz hat der EuGH ebenfalls der Verhältnismäßigkeitsprüfung Bedeutung beigemessen: In Wielockx ging der EuGH davon aus, dass sich der Mitgliedstaat der Kohärenz einer Regelung durch Abschluss eines Doppelbesteuerungsabkommens selbst begeben hat50. In X und Y hätte die Sicherung der Besteuerungsgrundlage als Rechtfertigung gedient, der nationale Gesetzgeber hat aber nicht die strengen Anforderungen erfüllt, die sich aus der Verhältnismäßigkeitsprüfung ergeben haben51: „In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens ergibt sich die Gefahr hingegen daraus, dass die Besteuerungsgrundlage wegen des endgültigen Wegzugs des Steuerpflichtigen in das Ausland später wegfallen kann. […] In einer solchen Situation kann im Unterschied zu derjenigen, die zu den Urteilen Bachmann […] und Kommission/Belgien […] geführt hat, die Kohärenz der Steuerregelung durch weniger einschneidende oder die Niederlassungsfreiheit weniger beeinträchtigende Maßnahmen erreicht werden, die sich speziell auf das Risiko eines endgültigen Wegzugs des Steuerpflichtigen beziehen und alle Typen der Aktienübertragung
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45 Vgl. z. B. EuGH v. 28.1.1992, C-204/90, Bachmann, Slg. 1992, I-249, Rz. 18; EuGH v. 12.4.1994, C-1/93, Halliburton, Slg. 1994, I-1137, Rz. 21 f.; EuGH v. 14.2.1995, C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Rz. 45; EuGH v. 28.10.1999, C-55/98, Bent Vestergaard, Slg. 1999, I-7641, Rz. 25 ff.; EuGH v. 3.10.2002, C-136/00, Danner, Slg. 2002, I-8147, Rz. 49 ff.; EuGH v. 4.3.2004, C-334/02, Kommission vs Frankreich, Slg. 2004, I-2229, Rz. 30 ff. 46 Vgl. M. Lang (Fn. 9), S. 89. 47 EuGH v. 12.4.1994, C-1/93, Halliburton, Slg. 1994, I-1137, Rz. 21 f.; EuGH v. 14.2.1995, C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Rz. 45; EuGH v. 4.3.2004, C-334/02, Kommission vs Frankreich, Slg. 2004, I-2229, Rz. 30 ff. 48 EuGH v. 28.1.1992, C-204/90, Bachmann, Slg. 1992, I-249, Rz. 18 ff.; EuGH v. 28.1.1992, C-300/90, Kommission vs Belgien, Slg. 1992, I-305, Rz. 11 ff.; EuGH v. 15.5.1997, C-250/95, Futura Participations, Slg. 1997, I-2471, Rz. 38 ff.; EuGH v. 28.10.1999, C-55/98, Bent Vestergaard, Slg. 1999, I-7641, Rz. 25 ff.; EuGH v. 3.10.2002, C-136/00, Danner, Slg. 2002, I-8147, Rz. 49 ff.; EuGH v. 10.3.2005, C-39/04, Laboratoires Fournier, Slg. 2005, I-2057, Rz. 25. 49 EuGH v. 28.1.1992, C-204/90, Bachmann, Slg. 1992, I-249, Rz. 18 ff.; EuGH v. 15.5.1997, C-250/95, Futura Participations, Slg. 1997, I-2471, Rz. 38 ff. 50 EuGH v. 11.8.1995, C-80/94, Wielockx, Slg. 1995, I-2493, Rz. 23 ff. 51 EuGH v. 21.11.2002, C-436/00, X und Y, Slg. 2002, I-10829, Rz. 58 f.
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erfassen, die das gleiche objektive Risiko mit sich bringen. Sie könnten etwa in einer Regelung bestehen, die eine Kaution oder sonstige Garantien verlangt, um im Fall eines endgültigen Wegzugs des Übertragenden in das Ausland die Steuerzahlung zu gewährleisten.“ Ebenso spielte in Manninen die Verhältnismäßigkeit eine bedeutende Rolle52: „Das mit der finnischen Steuerregelung verfolgte Ziel, das in der Beseitigung der Doppelbesteuerung der in Form von Dividenden ausgeschütteten Gewinnen besteht, kann dadurch erreicht werden, dass die Steuergutschrift auch für Gewinne gewährt wird, die auf diese Weise von schwedischen Gesellschaften an in Finnland unbeschränkt steuerpflichtige Personen ausgeschüttet werden.“
III. Die steuerliche Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten ab 2005 1. Anwendungsbereich der Grundfreiheiten Wenn man die seit 2005 ergangene Rechtsprechung näher analysiert, so fällt auf, dass der EuGH der Frage, ob und warum welche Grundfreiheit anwendbar ist, größere Beachtung schenkt. Dies wird in der Rechtssache N besonders deutlich53. Generalanwältin Kokott ist im Fall von Herrn N, der aus den Niederlanden weggezogen ist, noch deshalb von der Anwendung der Niederlassungsfreiheit ausgegangen, da er beabsichtigt hatte, in Großbritannien eine landwirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen54. Für den EuGH ergab sich die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit vielmehr daraus, dass er Beteiligungen an Kapitalgesellschaften besaß55: „Hierzu ist festzustellen, dass der Begriff der Niederlassung im Sinne von Artikel 43 EG nach ständiger Rechtsprechung ein sehr weiter Begriff ist, der die Möglichkeit für einen Gemeinschaftsangehörigen impliziert, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedsstaats als seines Herkunftsstaats teilzunehmen […]. Insbesondere hat der Gerichtshof entschieden, dass eine 100 %ige Beteiligung am Kapital einer Gesellschaft, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem hat, in dem der Inhaber dieser Beteiligung wohnt, zweifellos bewirkt, dass auf diesen Steuerpflichtigen die Vertragsvorschriften über die Niederlassungsfreiheit Anwendung finden […]. Somit kann ein Gemeinschaftsangehöriger, der in einem Mitgliedstaat wohnt und eine Beteiligung an einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hält, die ihm einen solchen Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft verleiht, dass er deren Tätigkeiten bestimmen kann – was bei einer Beteiligung von 100 % am Gesellschaftskapital immer der Fall ist –, unter die Niederlassungsfreiheit fallen […].
__________ 52 EuGH v. 7.9.2004, C-319/02, Manninen, Slg. 2004, I-7477, Rz. 48. 53 EuGH v. 7.12.2006, C-470/04, N., Slg. 2006, I-7409. 54 GA Kokott, Schlussanträge 30.3.2006, C-470/04, N., Slg. 2006, I-7409, Nr. 52 ff.; hierzu ausführlich M. Lang, Die gemeinschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen für „Exit Taxes“ im Lichte der Schlussanträge von GA Kokott in der Rechtssache N., SWI 2006, 213. 55 EuGH v. 7.12.2006, C-470/04, N., Slg. 2006, I-7409, Rz. 26 ff.
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Dem Ausgangsverfahren liegt der Fall eines Gemeinschaftsangehörigen zugrunde, der seit der Verlegung seines Wohnsitzes in einem Mitgliedstaat wohnt und sämtliche Anteile an Gesellschaften mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hält. Folglich fällt der Fall von N seit diesem Umzug in den Anwendungsbereich von Artikel 43 EG […].“ Auf den ersten Blick überrascht es, dass der EuGH der Frage nach der anwendbaren Grundfreiheit nunmehr größere Bedeutung beimisst. Nach wie vor werden innerhalb der EU bei der Anwendung der verschiedenen Grundfreiheiten oder auch der allgemeinen Freizügigkeit keine unterschiedlichen Maßstäbe angelegt. Aus diesem Blickwinkel sollte es keinen Unterschied machen, welche Grundfreiheit anwendbar ist oder ob die allgemeine Freizügigkeit zum Tragen kommt. Der Umstand, dass der EuGH die anwendbare Grundfreiheit nunmehr nicht mehr ausschließlich in der Einschätzungsprärogative des vorlegenden Gerichts belässt, sondern selbst prüft, könnte damit zu tun haben, dass der Gerichtshof nunmehr öfter auch über Drittstaatenkonstellationen zu entscheiden hat und stärker als in der Vergangenheit darauf sensibilisiert ist, dass im Verhältnis zu Drittstaaten lediglich die Kapitalverkehrsfreiheit, nicht aber die anderen Grundfreiheiten oder die allgemeine Freizügigkeit anwendbar ist. Zumindest für Drittstaatenkonstellationen macht es daher einen Unterschied, welchen tatbestandlichen Anwendungsbereich die Kapitalverkehrsfreiheit hat. Dieser Hintergrund dürfte maßgebend dafür sein, dass der EuGH gelegentlich dazu neigt, den anderen Grundfreiheiten im Verhältnis zur Kapitalverkehrsfreiheit den Vortritt zu lassen. „Leading Case“ ist das – nicht auf dem Gebiet des Steuerrechts ergangene – Urteil Fidium Finanz, in dem der EuGH im Fall eines Schweizer Unternehmens, das sich der gewerbsmäßigen Kreditvergabe gewidmet hat, Folgendes ausgeführt hat56: „Was den freien Kapitalverkehr im Sinne der Artikel 56 ff. EG betrifft, so bewirkt die fragliche Regelung dadurch, dass sie Finanzdienstleistungen, die von nicht im Europäischen Wirtschaftsraum ansässigen Unternehmen angeboten werden, für die in Deutschland ansässigen Kunden weniger leicht zugänglich macht, dass diese Kunden die betreffenden Dienstleistungen weniger häufig in Anspruch nehmen und dass sich somit mit diesen Dienstleistungen zusammenhängenden grenzüberschreitenden Geldströme vermindern. Dabei handelt es sich allerdings nur um eine zwangsläufige Folge der Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs […]. Es zeigt sich, dass unter den im Ausgangsverfahren gegebenen Umständen der Aspekt der Kapitalverkehrsfreiheit hinter den der Dienstleistungsfreiheit zurücktritt. Denn da die streitige Regelung bewirkt, dass der Zugang zum deutschen Finanzmarkt für in Drittstaaten ansässige Unternehmen erschwert wird, berührt sie vorwiegend den freien Dienstleistungsverkehr. Da die den freien Kapitalverkehr beschränkenden Wirkungen dieser Regelung nur eine zwangsläufige Folge der für die Erbringung von Dienstleistungen auferlegten Beschränkungen sind, braucht die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Artikel 56 ff. EG nicht geprüft zu werden.“ Der EuGH geht somit von der – nicht
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56 EuGH v. 3.10.2006, C-452/04, Fidium Finanz, Slg. 2006, I-9521, Rz. 48 f.
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2005 – Wende in der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten?
selbstverständlichen – Auffassung aus, dass in den Fällen, in denen die Kapitalverkehrsfreiheit hinter einer anderen Grundfreiheit zurücktritt, dies auch im Verhältnis zu Drittstaaten, wo die anderen Grundfreiheiten gar nicht anwendbar sind, bewirkt, dass die Kapitalverkehrsfreiheit nicht anzuwenden ist57. Vor diesem Hintergrund hat insbesondere die Frage der Abgrenzung zwischen Niederlassungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit bei Beteiligungen größere Bedeutung in der Rechtsprechung erlangt. Der EuGH hat es bisher vermieden, sich auf einen bestimmten Prozentsatz festzulegen. Die Niederlassungsfreiheit ist immer dann anwendbar, wenn die Beteiligung dem Gesellschafter einen solchen Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft verleiht, dass er deren Tätigkeiten bestimmen kann58. Im Falle von sonst im Streubesitz befindlichen Beteiligungen kann dies schon bei einer 5 %igen oder sogar darunter liegenden Beteiligung der Fall sein59. Der EuGH hat bisher nicht nach der Gesellschaftsform unterschieden, obwohl es von ihr abhängen kann, ob die Gesellschafter den mit der operativen Führung betrauten Organen Weisungen geben können. Strittig ist, ob es auf den Anwendungsbereich der jeweiligen nationalen Regelung oder auf den konkreten Sachverhalt ankommt60. Die besseren Argumente sprechen meines Erachtens für die Maßgeblichkeit des konkreten Sachverhalts61. Die Rechtsprechung des EuGH ist aber – wie das vor kurzer Zeit ergangene Urteil Glaxo Wellcome beweist62 – schwankend63.
__________ 57 Vgl. Schön, Der Kapitalverkehr mit Drittstaaten und das internationale Steuerrecht, in Gocke/Gosch/M. Lang (Hrsg.), Körperschaftsteuer, Internationales Steuerrecht, Doppelbesteuerung – FS Wassermeyer, 2005, S. 489 (496 ff.); kritisch: Hohenwarter/ Plansky, Die Kapitalverkehrsfreiheit mit Drittstaaten im Lichte der Rechtssache Holböck, SWI 2007, 346 (355 ff.); Kofler, Kapitalverkehrsfreiheit, Kontrollbeteiligungen und Drittstaaten, taxlex 2008, 326 (326); Rehm/Nagler, Anmerkungen zum nachstehenden EuGH-Urteil „Burda“, IStR 2008, 511 (512) sowie auch GA Stix-Hackl, Schlussanträge 16.3.2006, C-452/04, Fidium Finanz, Slg. 2006, I-9521, Nr. 70 ff. 58 EuGH v. 13.4.2000, C-251/98, Baars, Slg. 2000, I-2787, Rz. 22; EuGH v. 21.11.2002, C-436/00, X und Y, Slg. 2002, I-10829, Rz. 37; EuGH v. 12.9.2006, C-196/04, Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995, Rz. 31; EuGH v. 18.7.2007, C-231/05, Oy AA, Slg. 2007, I-6373, Rz. 20, m. w. N.; vgl. auch Kofler, taxlex 2008 (Fn. 57), 326. 59 Dies könnte insbesondere bei Beteiligungen, die sogenannten „Golden Shares“ ähnlich sind, zutreffen; vgl. z. B. EuGH v. 2.6.2005, C-174/04, Kommission vs Italien, Slg. 2005, I-4933; EuGH v. 28.9.2006, C-282/04 und C-283/04, Kommission vs Niederlande, Slg. 2006, I-9141; vgl. auch Zorn, EG-Grundfreiheiten und dritte Länder, in Quantschnigg/Wiesner/Mayr (Hrsg.), Steuern im Gemeinschaftsrecht – FS Nolz, 2008, S. 211 (212 f.). 60 Vgl. Zorn (Fn. 59), S. 215 ff.; Mühlehner, Kontrollbeteiligungen und Kapitalverkehrsfreiheit im Verhältnis zu Drittstaaten, SWI 2007, 523 (523 ff.); Kofler, taxlex 2008 (Fn. 57), 327 ff.; abstellend auf den Sachverhalt z. B. EuGH v. 26.6.2008, C-284/06, Burda, Slg. 2008, I-4571, Rz. 69 ff., m. w. N.; demgegenüber abstellend auf den Gegenstand der Norm z. B. EuGH v. 10.5.2007, C-492/04, Lasertec, Slg. 2007, I-3775, Rz. 19, m. w. N. 61 So auch Zorn (Fn. 59), S. 216 ff.; in diesem Sinne auch EuGH v. 21.1.2010, C-311/08, SGI, noch nicht in Slg. veröffentlicht, Rz. 34. 62 EuGH v. 17.9.2009, C-182/08, Glaxo Wellcome, Slg. 2009, I-8591, Rz. 47 ff. 63 Dazu M. Lang, Der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten – Maßgeblichkeit des Sachverhaltes oder der nationalen Rechtsvorschrift?, in M. Lang/Weinzierl (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht – FS Rödler, 2010, S. 521 (521 ff.).
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2. Vergleichbarkeitsprüfung In seiner älteren Rechtsprechung hat der EuGH wenig Aufwand getrieben, um die Vergleichbarkeit von Situationen festzustellen. Dies hat sich nun geändert. Der EuGH hat bereits wiederholt für die Beurteilung der Vergleichbarkeit Argumente herangezogen, die er sonst auf Ebene der Rechtfertigung geprüft hat: In Schempp hat der EuGH die Rechtslage im anderen Mitgliedstaat für die Beurteilung der Vergleichbarkeit herangezogen64: „Entgegen der Auffassung von Herrn Schempp können daher Unterhaltsleistungen an einen in Deutschland wohnenden Empfänger nicht mit Unterhaltsleistungen an einen in Österreich wohnenden Empfänger verglichen werden. Denn in diesen beiden Fällen unterliegt der Empfänger, was die Besteuerung der Unterhaltsleistungen angeht, einer unterschiedlichen steuerrechtlichen Regelung.“ Der Umstand, dass der EuGH die steuerrechtlichen Regelungen des anderen Staates – wenn auch in sehr oberflächlicher Weise – einbezogen hat, hat die Vergleichbarkeit ausgeschlossen65. In Eurowings hat der EuGH noch – wenngleich auf Rechtfertigungsebene – die Relevanz der Steuerrechtsordnung des anderen Mitgliedsstaates ausgeschlossen66: „Entgegen der Argumentation des Finanzamts kann eine solche Ungleichbehandlung auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass der in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Vermieter möglicherweise einer geringeren steuerlichen Belastung unterliegt. […] Ein etwaiger Steuervorteil für Dienstleistende in Form ihrer geringen steuerlichen Belastung in dem Mitgliedstaat, in dem sie ansässig sind, gibt einem anderen Mitgliedstaat nicht das Recht, die in seinem Gebiet ansässigen Empfänger der Dienstleistungen steuerlich ungünstiger zu behandeln […]. Wie die Kommission zu Recht ausführt, würden solche kompensatorischen Abgaben den Binnenmarkt in seinen Grundlagen beeinträchtigen.“ Das wenige Tage vor Schempp ergangene Urteil D stellt ebenfalls unter Beweis, dass der EuGH nunmehr gewillt ist, auf Vergleichbarkeitsebene Argumente aufzugreifen, die er früher auf Rechtfertigungsebene verworfen hat67. Der EuGH hat in D die Vergleichbarkeit auf Grund des Umstands, dass sich die unterschiedliche Behandlung aus einem bilateralen DBA ergeben hat, verneint68: „Die Tatsache, dass diese gegenseitigen Rechte und Pflichten nur für Personen gelten, die in einem der beiden vertragschließenden Mitgliedstaaten wohnen, ist eine Konsequenz, die sich aus dem Wesen bilateraler Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ergibt. Daher befindet sich ein in Belgien ansässiger Steuerpflichtiger hinsichtlich der auf unbewegliches Vermögen in den Niederlanden erhobenen Vermögensteuer nicht in der gleichen Lage wie ein außerhalb Belgiens ansässiger Steuerpflichtiger.“ In Avoir Fiscal hat der EuGH hingegen noch betont, dass „die Rechte, die sich für die Begünstig-
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64 EuGH v. 12.7.2005, C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421, Rz. 35. 65 Hierzu ausführlich M. Lang, Das EuGH-Urteil in der Rechtssache Schempp – Wächst der steuerpolitische Spielraum der Mitgliedstaaten?, SWI 2005, 411 (411 ff.). 66 EuGH v. 26.10.1999, C-294/97, Eurowings, Slg. 1999, I-7447, Rz. 43 ff. 67 EuGH v. 5.7.2005, C-376/03, D., Slg. 2005, I-5821; vgl. M. Lang, SWI 2005 (Fn. 2), 365 ff. 68 EuGH v. 5.7.2005, C-376/03, D., Slg. 2005, I-5821, Rz. 61.
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ten aus Artikel 52 EWG-Vertrag ergeben, unbedingt [sind], und ein Mitgliedstaat […] ihre Beachtung nicht vom Inhalt eines mit einem anderen Mitgliedstaat geschlossenen Abkommens abhängig machen [kann]. Insbesondere erlaubt es dieser Artikel nicht, diese Rechte einer Gegenseitigkeitsbedingung zu unterwerfen, um in anderen Mitgliedstaaten entsprechende Vorteile zu erhalten“69. Ein weiteres Beispiel ist das ebenfalls 2005 ergangene Urteil Blanckaert70: Für den EuGH war – unter anderem – dafür entscheidend, dass er Gebietsansässige und Gebietsfremde als nicht in einer vergleichbaren Situation befindlich erachtete, dass „es der inneren Logik eines solchen Systems [entspricht], dass Beitragsermäßigungen allein den zur Beitragszahlung Verpflichteten, d. h. den in diesem System Versicherten, zugute kommen.“ Der EuGH hat daher letztlich unter Berufung auf die Kohärenz des Systems die Vergleichbarkeit verworfen und damit auf dieser Ebene ein Argument ins Spiel gebracht, mit dem er in der Vergangenheit zumindest auf Rechtfertigungsebene äußerst zurückhaltend umgegangen ist. In X Holding BV hat der EuGH zuletzt sogar innerhalb desselben Urteils zwischen der Vergleichbarkeits- und der Rechtfertigungsebene gewechselt: Das Argument der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis hat der Gerichtshof beim Vergleich von Inlands- und Auslandssachverhalt als Rechtfertigungsgrund für die unterschiedliche Behandlung akzeptiert71, während er es bei der Prüfung von zwei grenzüberschreitenden Sachverhalten schon eine Stufe vorher als maßgebend angesehen und ins Treffen geführt hat, um die Vergleichbarkeit von Vorneherein zu verneinen72. Dem EuGH ist zuzugestehen, dass Vergleichbarkeits- und Rechtfertigungsprüfung eng miteinander verwandt sind73. Die beiden Stufen der grundfreiheitrechtlichen Prüfung lassen sich keineswegs trennscharf auseinander halten. Daher ist auch nichts dagegen einzuwenden, wenn Rechtfertigungsargumente gelegentlich auf Vergleichbarkeitsebene eine Rolle spielen und umgekehrt. Dem EuGH ist aber vorzuwerfen, dass er Argumente, die er in der Vergangenheit auf Rechtfertigungsebene abgelehnt hat oder nur zurückhaltend angewendet hat, nunmehr auf Vergleichbarkeitsebene mit umgekehrten Vorzeichen ins Spiel bringt. Im Ergebnis akzeptiert der EuGH auf diese Weise Rechtfertigungen für unterschiedliche Behandlungen, die er früher verworfen hat. Der EuGH hat seine Rechtsprechung auf diesem Gebiet geändert, ohne dies ausdrücklich
__________ 69 EuGH v. 28.1.1986, 270/83, Kommission vs Frankreich („Avoir Fiscal“), Slg. 1986, 273, Rz. 26. 70 EuGH v. 8.9.2005, C-512/03, Blanckaert, Slg. 2005, I-7685, Rz. 49. 71 EuGH v. 25.2.2010, C-337/08, X Holding BV, noch nicht in Slg. veröffentlicht, Rz. 28 ff. 72 EuGH v. 25.2.2010, C-337/08, X Holding BV, noch nicht in Slg. veröffentlicht, Rz. 40. 73 Vgl. zur weitgehenden Austauschbarkeit von Vergleichbarkeits- und Rechtfertigungsebene auch schon M. Lang, Die Bindung der Doppelbesteuerungsabkommen an die Grundfreiheiten des EU-Rechts, in Gassner/M. Lang/Lechner (Hrsg.), Doppelbesteuerungsabkommen und EU-Recht, 1996, S. 25 (37); sowie Cordewener (Fn. 7), S. 483.
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einzuräumen. Die Verwendung von Rechtfertigungsargumenten auf Vergleichbarkeitsebene bewirkt, dass diese Rechtsprechungsänderung verschleiert wird. Hier wirkt sich wiederum aus, dass die vom EuGH schon häufig getroffene Aussage, wonach eine Diskriminierung auch dann vorliegen kann, wenn in unterschiedlichen Situationen ohne entsprechende Rechtfertigung eine Gleichbehandlung erfolgt74, bereits in der Vergangenheit meist ein bloßes Lippenbekenntnis war. Der EuGH hat diese Sentenz weder in seiner älteren noch in seiner jüngeren Rechtsprechung mit Leben erfüllt. Zu Recht hat nämlich Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in Truck Center unter Berufung auf Generalanwalt Poiares Maduro darauf hingewiesen75, dass es für „die Verneinung einer Diskriminierung […] nicht aus[reicht] darauf hinzuweisen, dass In- und Ausländer sich nicht in der selben Situation befinden. Es muss auch dargelegt werden, dass die unterschiedliche Behandlung durch ihre unterschiedliche Situation gerechtfertigt werden kann. Der Unterschied in der Behandlung muss sich mit anderen Worten auf den Unterschied ihrer jeweiligen Situation beziehen und in angemessenem Verhältnis zu diesem stehen.“ Der EuGH hat hingegen – mit höchst fragwürdiger Argumentation76 – die Vergleichbarkeit verneint und sodann die grundfreiheitenrechtliche Prüfung abgebrochen. Der Verzicht auf Rechtfertigungs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung bei fehlender Vergleichbarkeit bewirkt, dass die geänderten Maßstäbe, die der EuGH nunmehr bei der Beurteilung von Rechtfertigungsgründen auf Vergleichbarkeitsebene anwendet, erhebliche Auswirkungen haben. Dies hat sich auch im Urteil Van Hilten gezeigt77: Der EuGH ist davon ausgegangen, dass Steuerpflichtige, die im Inland wohnhaft sind, in gleicher Weise wie Staatsangehörige des Staates, die vor weniger als 10 Jahren ihren Wohnsitz dort aufgegeben haben, der unbeschränkten Erbschaftsteuerpflicht unterliegen und daher ohnehin gleichbehandelt werden. Die Frage, ob Personen, die in einem Mitgliedstaat wohnen, und andere Personen, die vor fast 10 Jahren ihren Wohnsitz aufgegeben haben und mit diesem Mitgliedstaat nur mehr auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit in Verbindung stehen, miteinander vergleichbar sind, hat der EuGH implizit bejaht. Hätte er hier die Vergleichbarkeit verneint, hätte es einer Rechtfertigung bedurft, um idente Rechtsfolgen vorzusehen. Diesen Fragen hat sich der EuGH aber nicht mehr gewidmet, da er seine Prüfung bereits zuvor abgebrochen hatte.
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74 EuGH v. 14.1.1995, C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Rz. 30; EuGH v. 11.8.1995, C-80/94, Wielockx, Slg. 1995, I-2493, Rz. 17; EuGH v. 27.6.1996, C-107/94, Asscher, Slg. 1996, I-3089, Rz. 40; EuGH v. 29.4.1999, C-311/97, Royal Bank of Scotland, Slg. 1999, I-2651, Rz. 26; EuGH 17.7.2007, C-182/06, Lakebrink and Peters-Lakebrink, Slg. 2007, I-6705, Rz. 27; EuGH 18.3.2010, C-440/08, Gielen, noch nicht in Slg. veröffentlicht, Rz. 38. 75 GA Kokott, Schlussanträge 18.9.2008, C-282/07, Truck Center, Slg. 2008, I-10767, Nr. 37; GA Poiares Maduro, Schlussanträge 3.4.2008, C-524/06, Huber, Slg. 2008, I-9705, Nr. 7. 76 EuGH v. 22.12.2008, C-282/07, Truck Center, Slg. 2008, I-10767, Rz. 41 ff.; vgl. M. Lang, EC Tax Review 2009 (Fn. 16), 99 ff.; Kühbacher, Die Rs „Truck Center SA“ – Neues zur Abzugsbesteuerung des § 99 EStG?, ÖStZ 2009, 227 (228 ff.). 77 EuGH v. 23.2.2006, C-513/03, Van Hilten, Slg. 2006, I-1957.
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Allerdings lassen sich gelegentlich auch Beispiele finden, die zeigen, dass der EuGH mitunter einen feineren Prüfungsmaßstab anlegt: In Deutsche Shell hat der EuGH im Jahr 2008 aus Gründen der Niederlassungsfreiheit die Abzugsfähigkeit von Fremdwährungsverlusten bei ausländischen Betriebsstätten als geboten erachtet, obwohl derartige Verluste bei inländischen Betriebsstätten naturgemäß nicht vorkommen und daher auch nicht abgezogen werden können78. Dieses Urteil lässt sich nur so erklären, dass der EuGH davon ausgegangen ist, dass Steuerpflichtige mit ausländischen Betriebsstättenverlusten aus diesem Blickwinkel in einer anderen Situation als Steuerpflichtige mit inländischen Betriebsstättenverlusten sind und die fehlende Vergleichbarkeit eben auch eine unterschiedliche Behandlung erforderlich macht79. Auch in anderen Hinsicht hat der EuGH seine Kontrolldichte nicht zurückgenommen: Er beschränkt sich auch in seiner jüngeren Rechtsprechung nicht darauf, bloß Gebietsansässige und Gebietsfremde oder Inländer mit inländischen Einkünften oder Vermögen und Inländer mit ausländischen Einkünften oder Vermögen miteinander zu vergleichen, sondern zieht nach wie vor auch den Vergleich verschiedener grenzüberschreitender Situationen in Betracht. Das sonst häufig zu Recht kritisierte Urteil D kann dafür als positives Anschauungsbeispiel dienen80: Der EuGH hat in diesem Urteil zwar die Vergleichbarkeit zweier in den Niederlanden nicht ansässiger Personen, die in Deutschland und in Belgien ansässig waren, abgelehnt, dies allerdings ausschließlich deshalb, weil sich die unterschiedliche Behandlung auf Grund des Doppelbesteuerungsabkommmens ergab. Dies lässt schließen, dass der EuGH die Vergleichbarkeit keineswegs generell ablehnt und im vorliegenden Fall zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn die unterschiedliche Behandlung nicht das Ergebnis der DBA-Anwendung, sondern des originär innerstaatlichen Rechts gewesen wäre81. In CLT UFA hat der EuGH im Jahr 2006 inländische Kapitalgesellschaften, die eine ausländische Muttergesellschaft hatten, mit inländischen Betriebsstätten, deren Stammhaus im Ausland gelegen ist, verglichen82. In Cadbury erachtete der EuGH nicht nur britische Gesellschaften, die über eine irische Tochtergesellschaft verfügen, mit anderen britischen Gesellschaften mit inländischen Tochtergesellschaften als vergleichbar, sondern auch die britische Gesellschaft, die eine irländische Tochtergesellschaft hat, mit einer anderen britischen Gesellschaft, deren Tochtergesellschaft in
__________ 78 EuGH v. 28.2.2008, C-293/06, Deutsche Shell, Slg. 2008, I-1129. 79 Vgl. M. Lang, EC Tax Review 2009 (Fn. 16), 99; vgl. Haslehner, EuGH-Urteil Deutsche Shell GmbH (Rs C-293/06): Das gemeinschaftsrechtliche Ende der Symmetriethese?, SWI 2008, 161 (164). 80 EuGH v. 5.7.2005, C-376/03, D., Slg. 2005, I-5821. 81 Vgl. Kofler/Schindler, „Dancing with Mr D“: the ECJ’s Denial of Most-FavouredNation Treatment in the „D“ Case, ET 2005, 530 (534 ff.); Cordewener/Reimer, The Future of Most-Favoured-Nation Treatment in EC Tax Law – Did the ECJ Pull the Emergency Brake without Real Need? – Part 2, ET 2006, 291 (293 ff.); Fuchs, Status quo der Meistbegünstigung im Europäischen Steuerrecht, ÖStZ 2007, 33 (33 f.); M. Lang, EC Tax Review 2009 (Fn. 16), 104. 82 EuGH v. 23.2.2006, C-253/03, CLT UFA, Slg. 2006, I-1831, Rz. 30.
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höher besteuernden Mitgliedstaaten ansässig ist83. In Denkavit Internationaal nahm der Gerichtshof die Vergleichbarkeit von inländischen Gesellschaften, die ihre Dividenden an in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Aktionäre ausschüttet, und ähnlichen Situationen, in denen die ausländischen Aktionäre die Beteiligung über eine inländische Betriebsstätte halten, an84. Ähnlich ging er auch in Amurta von der Vergleichbarkeit von direkt an die ausländische Gesellschaft erfolgenden Gewinnausschüttungen und jenen Gewinnausschüttungen, die über eine Betriebsstätte erfolgen, aus85. Große Diskussionen löste die Entscheidung in Columbus Container aus86. Anders als noch in Cadbury und anders als vom Generalanwalt in den Schlussanträgen vorgeschlagen, erachtete der EuGH Inländer, die in Niedrigsteuerländer innerhalb der EU investieren, offenbar nicht mit anderen Inländern, die in höher besteuernde Mitgliedsländer investieren, als vergleichbar an. Eine Begründung dafür hat er aber nicht geliefert. Hätte der EuGH – in konsequenter Verfolgung seiner sonst praktizierten Rechtsprechungslinie – die Vergleichbarkeit bejaht, wäre er vermutlich zu einem anderen Ergebnis gekommen. Dennoch kann Columbus Container nicht als Beginn einer neuen Rechtsprechungslinie gesehen werden, sondern nur als „Ausreisser“87. Schon wenige Tage nach diesem Urteil hat der EuGH nämlich in der Rechtsache A schwedische Gesellschafter, die aus der Schweiz Dividenden bezogen haben, nicht nur mit anderen schwedischen Gesellschaftern, deren Dividenden aus anderen Mitgliedsstaaten stammen, als vergleichbar angesehen, sondern sogar mit schwedischen Gesellschaftern mit Dividenden aus EWR-Staaten oder auch aus Drittstaaten, mit denen auf Grund bilateraler Regelungen Amtshilfe besteht88. Diese Rechtsprechungslinie hat der EuGH dann auch wenig später in OESF im Jahr 200889 und in Kommission vs Niederlande 2009 indirekt bestätigt90. Das Urteil X Holding BV liegt auf derselben Linie: Der EuGH hat nämlich auf Grundlage der konkret maßgebenden Abkommensregelungen argumentiert, warum sich Betriebsstätten in einem anderen Mitgliedstaat und gebietsfremde Tochtergesellschaften nicht in vergleichbarer Situation befanden91. Dieser Hinweis wäre völlig unverständlich, wenn man annehmen wollte, dass der
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83 EuGH v. 12.9.2006, C-196/04, Cadbury Schweppes and Cadbury Schweppes Overseas, Slg. 2006, I-7995, Rz. 44. 84 EuGH v. 14.12.2006, C-170/05, Denkavit Internationaal and Denkavit France, Slg. 2006, I-11949, Rz. 36. 85 EuGH v. 8.11.2007, C-379/05, Amurta, Slg. 2007, I-9569, Rz. 51. 86 EuGH v. 6.12.2007, C-298/05, Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451; vgl. z. B. Gstöttner, Rs Columbus Container – Absage an die „Outbound-Meistbegünstigung“?, taxlex 2008, 285 (288 ff.); Migglautsch, Rs Columbus Container Services – Doppelbesteuerungsabkommen und Gemeinschaftsrecht, ecolex 2008, 265 (267). 87 A. A. offenbar Hohenwarter, Verlustverwertung im Konzern, 2009, S. 579 f. 88 EuGH v. 18.12.2007, C-101/05, A., Slg. 2007, I-11531, Rz. 41 f. 89 EuGH v. 20.5.2008, C-194/06, Orange European Smallcap Fund, Slg. 2008, I-3747, Rz. 63 ff. 90 EuGH v. 11.6.2009, C-521/07, Kommission vs Niederlande, Slg. 2009, I-4873, Rz. 43 ff. 91 EuGH v. 25.2.2010, C-337/08, X Holding BV, noch nicht in Slg. veröffentlicht, Rz. 38 ff.
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2005 – Wende in der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten?
EuGH davon ausginge, dass ausländische Tochtergesellschaften und ausländische Betriebsstätten niemals in vergleichbarer Situation sein könnten. Somit ist nach wie vor davon auszugehen, dass auch ein Vergleich verschiedener grenzüberschreitender Situationen in Betracht kommt92. Unverändert finden sich in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH auch die beiden Rechtsprechungslinien zur rechtlichen und zur faktischen Vergleichbarkeit: Die Entscheidungen Eckelkamp und Arens-Sikken, die beide aus 2008 stammen, können ebenso wie das 2009 ergangene Urteil Kommission vs Italien als Beispiel für die nach wie vor praktizierte rechtliche Vergleichbarkeit ins Treffen geführt werden93. In Turpeinen (2006), Lakebrink (2007) und Renneberg (2008) hat der EuGH seine vielfach kritisierte Schumacker-Rechtsprechung fortgesetzt, nach der die faktische Vergleichbarkeit als maßgebend angesehen wird94. Eine Begründung, unter welchen Voraussetzungen der EuGH gewillt ist, der einen oder der anderen Rechtsprechungslinie zu folgen, findet sich ebenso wenig wie in seiner älteren Rechtsprechung95. 3. Rechtfertigungsprüfung Auch auf Ebene der Rechtfertigungsgründe zeigt sich, dass der EuGH seine Rechtsprechung geändert hat, ohne dies aber ausdrücklich einzuräumen. So hat er es beispielsweise auch in seiner jüngeren Rechtsprechung vermieden, den in Futura Participations herangezogenen, seitdem aber nicht nochmals aufgegriffenen Rechtfertigungsgrund der Territorialität neues Leben einzuhauchen96. In Marks & Spencer hat er ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der „Umstand allein, dass dieser Mitgliedstaat den Gewinn gebietsfremder Tochtergesellschaften einer in seinem Gebiet ansässigen Muttergesellschaft nicht besteuert, […] jedoch noch keine Beschränkung des Konzernabzugs auf Verluste der gebietsansässigen Tochtergesellschaften“ rechtfertigt97. Im selben Urteil ist er allerdings davon ausgegangen, dass es „zur Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten“ erforderlich sein kann,
__________ 92 Vgl. M. Lang, EC Tax Review 2009 (Fn. 16), 106; Schmidtmann, WB 2008 (Fn. 16), 1101. 93 EuGH v. 11.9.2008, C-11/07, Eckelkamp, Slg. 2008, I-6845, Rz. 59 ff.; EuGH v. 11.9.2008, C-43/07, Arens-Sikken, Rz. 55 ff.; EuGH v. 19.11.2009, C-540/07, Kommission vs Italien, Slg. 2009, I-10983, Rz. 52. 94 EuGH v. 9.11.2006, C-520/04, Turpeinen, Slg. 2006, I-10685, Rz. 26 ff.; EuGH v. 17.7.2007, C-182/06, Lakebrink and Peters-Lakebrink, Slg. 2007, I-6705, Rz. 28 ff.; EuGH v. 16.10.2008, C-527/06, Renneberg, Slg. 2008, I-7735, Rz. 59 ff.; EuGH v. 18.3.2010, C-440/08, Gielen, noch nicht in Slg. veröffentlicht, in dem der EuGH nicht seine Schumacker-Rechtsprechung anwendet, dürfte ebenfalls ein Beispiel für die faktische Vergleichbarkeit sein. 95 Unklar ist auch, ob das Urteil v. 17.11.2009, C-169/08, Presidente del Consiglio dei Ministri, noch nicht in Slg. veröffentlicht, der rechtlichen oder der faktischen Vergleichbarkeit folgt (dazu auch M. Lang, Steuerrecht, Grundfreiheiten und Beihilfeverbot, IStR 2010, 570 [570 ff.]). 96 Vgl. z. B. EuGH v. 23.2.2006, C-471/04, Keller Holding GmbH, Slg. 2006, I-2107, Rz. 44. 97 EuGH v. 13.12.2005, C-446/03, Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837, Rz. 40.
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auf die wirtschaftliche Tätigkeit der in einem dieser Staaten niedergelassenen Gesellschaften sowohl in Bezug auf Gewinne als auch auf Verluste nur dessen Steuerrecht anzuwenden. Diesen Rechtfertigungsgrund hat der EuGH – sieht man von seiner bis dahin einmalig gebliebenen Erwähnung im vielfach kritisierten Urteil Gilly ab98 – völlig neu ins Spiel gebracht. Für den Gerichtshof war allerdings dieser Rechtfertigungsgrund nicht alleine ausschlaggebend, sondern nur gemeinsam mit zwei weiteren Rechtfertigungsgründen, nämlich der Gefahr der doppelten Verlustberücksichtigung und der Steuerfluchtgefahr99. Das zuletzt genannte Argument hat der EuGH sonst nur im Falle von künstlichen Konstruktionen gelten lassen, in anderen Konstellationen aber verworfen100. Auch die Besteuerungssituation in anderen Mitgliedstaaten, die im Argument der doppelten Verlustberücksichtigung ihren Ausdruck findet, hat der EuGH früher nicht als maßgebend angesehen, wie z. B. das Urteil Eurowings zeigt101. Der Umstand, dass eine Kombination von drei Rechtfertigungsgründen, die zum Teil neu aufgetaucht sind, zum Teil aber früher sogar verworfen wurden, nunmehr eine Ungleichbehandlung rechtfertigen kann, hat die Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung erheblich beeinträchtigt: Zu Recht fragten sich Kommentatoren, welche anderen – neuen oder schon verworfenen – Rechtfertigungsgründe nunmehr in Kombination miteinander eine Rolle spielen könnten102. Die weitere Rechtsprechung hat gezeigt, dass der EuGH seinen Prüfungsmaßstab sogar weiter zurückgenommen hat: Im 2007 ergangenen Urteil Oy Aa reichte es für den EuGH aus, dass zwei Rechtfertigungsgründe gemeinsam – nämlich das Erfordernis der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten und die Steuerfluchtgefahr – die Grundfreiheitenkonformität einer unterschiedlichen nationalen Behandlung begründen kann103. In dem im Jahr 2008 ergangenen Urteil Lidl Belgium waren für den EuGH ebenfalls zwei – allerdings zum Teil wiederum von Oy Aa unterschiedliche – Rechtfertigungsgründe ausreichend, nämlich die Notwendigkeit der
__________ 98 EuGH v. 12.5.1998, C-336/96, Gilly, Slg. 1998, I-2793, Rz. 30; kritisch Moris, Anmerkung, IStR 1998, 341; Saß, Zu den Auswirkungen des EU-Vertrags auf die bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen, DB 1998, 1482; Thömmes, European Court of Justice Continues to Dictate the Pace for European Taxation, Intertax 1998, 320. 99 EuGH v. 13.12.2005, C-446/03, Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837, Rz. 47 ff. 100 Steuerfluchtgefahr als Rechtfertigung anerkannt in z. B. EuGH v. 12.9.2006, C-196/04, Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995, Rz. 51; EuGH v. 18.7.2007, C-231/05, Oy AA, Slg. 2007, I-6373, Rz. 58 ff.; demgegenüber verworfen in z. B. EuGH v. 28.1.1986, 270/83, Kommission vs Frankreich („Avoir Fiscal“), Slg. 1986, 273; EuGH v. 9.11.2006, C-433/04, Kommission vs Belgien, Slg. 2006, I-10653, Rz. 35; EuGH v. 13.3.2007, C-524/04, Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107, Rz. 72 ff. 101 EuGH v. 26.10.1999, C-294/97, Eurowings, Slg. 1999, I-7447. 102 M. Lang, SWI 2006 (Fn. 2), 4 ff.; Douma/Naumburg, Marks & Spencer: Are National Tax Systems Éclaire?, ET 2006, 431 (433); Kube, Grenzüberschreitende Verlustverrechnung und die Zuordnung von Verantwortung, IStR 2008, 305 (307 f.); Petutschnig/Six, EuGH Urteil Lidl Belgium – Neues zur grenzüberschreitenden Verlustverrechnung, SWI 2008, 365 (370); M. Lang, EC Tax Review 2009 (Fn. 16), 107. 103 EuGH v. 18.7.2007, C-231/05, Oy AA, Slg. 2007, I-6373, Rz. 60.
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Wahrung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten und die Notwendigkeit, eine doppelte Verlustberücksichtigung zu verhindern104. In SGI stellt der EuGH aufgrund „einer Gesamtbetrachtung dieser beiden Gesichtspunkte, der Notwendigkeit der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten und der Notwendigkeit der Verhinderung einer Steuerumgehung, […] fest […], dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige berechtigte und mit dem Vertrag zu vereinbarende Ziele verfolgt, zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entspricht und zur Erreichung dieser Ziele geeignet ist“105. In X Holding BV schließlich spricht der EuGH zwar auch davon, dass die Erlaubnis, eine gebietsfremde Gesellschaft in die niederländische Gruppenbesteuerungsregelung einzubeziehen, zur Folge hätte, dass die Muttergesellschaft frei entscheiden könnte, in welchem Mitgliedstaat sie die Verluste geltend macht, sieht aber dann die beschränkende Steuerregelung alleine „durch das Erfordernis gerechtfertigt, die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren“106. In Lidl Belgium wurde auch deutlich, dass der – sieht man von Gilly ab107 – vor allem in Marks & Spencer geprägte Rechtfertigungsgrund der Notwendigkeit der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten darauf hinausläuft, Symmetrieüberlegungen höhere Bedeutung beizumessen108: „Zur Erheblichkeit des ersten Rechtfertigungsgrunds ist angesichts der tatsächlichen Umstände des Ausgangsverfahrens zu bemerken, dass der Mitgliedstaat, in dem sich der Sitz der Gesellschaft befindet, der die Betriebsstätte gehört, ohne ein Doppelbesteuerungsabkommen das Recht hätte, die von dieser Einheit erwirtschafteten Gewinne zu besteuern. Folglich ist das Ziel, die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen dem betroffenen Mitgliedstaaten zu wahren, das sich in den Bestimmungen des Abkommens widerspiegelt, geeignet, die im Ausgangsverfahren fragliche Steuerregelungen zu rechtfertigen, da sie die Symmetrie zwischen dem Recht zur Besteuerung der Gewinne und der Möglichkeit, Verluste in Abzug zu bringen, wahrt.“ Von einer ähnlichen Begründung ist auch das Urteil X Holding BV getragen109. In der älteren Rechtsprechung des EuGH finden sich derartige Symmetrieüberlegungen nicht. Gelegentlich wurden sie sogar implizit verworfen. So lassen sich die in Lidl Belgium geäußerten Überlegungen mit der seinerzeit in Wielockx gewählten Begründung nicht in Einklang bringen: In dieser Rechtsache ging es um die Abzugsfähigkeit der Bildung einer Altersrücklage, die Gebietsfremden verwehrt wurde. Die niederländische Regierung hat sich zur Rechtfertigung dieser Differenzierung – unter anderem – auf den Grundsatz
__________ 104 EuGH v. 15.5.2008, C-414/06, Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601, Rz. 41 f. 105 EuGH v. 21.1.2010, C-311/08, SGI, noch nicht in Slg. veröffentlicht, Rz. 69. 106 EuGH v. 25.2.2010, C-337/08, X Holding BV, noch nicht in Slg. veröffentlicht, Rz. 33. 107 EuGH v. 12.5.1998, C-336/96, Gilly, Slg. 1998, I-2793. 108 EuGH v. 15.5.2008, C-414/06, Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601, Rz. 33. 109 EuGH v. 25.2.2010, C-337/08, X Holding BV, noch nicht in Slg. veröffentlicht, Rz. 28 ff.
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der steuerlichen Kohärenz berufen, nachdem eine Wechselbeziehung zwischen den von der steuerlichen Bemessungsgrundlage abgezogenen Beträgen und den steuerpflichtigen Beträgen bestehe. Im Falle eines Gebietsfremden, der eine Altersrücklage bildet und somit einen Anspruch auf eine Rente erwirbt, könnte auf diese Rente später in den Niederlanden keine Steuer erhoben werden, da dieses Einkommen auf Grund der niederländischen DBA nur im Wohnsitzstaat besteuert werden kann. Der EuGH ging hingegen davon aus, dass nicht die DBA-Regelung eine Kohärenz begründet, sondern dass sich die Niederlande durch Verzicht auf Besteuerung in dem DBA der Kohärenz der eigenen Regelung begeben hat und daher die DBA-Regelung nicht als Begründung für die Versagung der Abzugsfähigkeit heranziehen kann. Hätte sich der EuGH in Lidl Belgium dieser Argumentation ebenfalls bedient, so hätte die Abzugsfähigkeit der Betriebsstättenverluste gerade nicht mit Symmetrieüberlegungen gerechtfertigt werden können: Schließlich hat Deutschland durch Abschluss eines DBA mit Freistellungsmethode auf die Besteuerung der Betriebsstättengewinne verzichtet und sich damit selbst der Kohärenz der nationalen Regelung begeben. Das 2008 ergangene Urteil Krankenheim Ruhesitz am Wannsee macht bereits deutlich, dass Lidl Belgium kein Einzelfall ist und Symmetrieüberlegungen für die jüngere Rechtsprechung des EuGH nunmehr bestimmend sind110. Der EuGH stellte fest, „dass die von der im Ausgangsverfahren streitigen deutschen Steuerregelung vorgesehene Hinzurechnung der Verluste nicht von der vorangegangenen Berücksichtigung dieser Verluste getrennt werden darf. Diese Hinzurechnung erfolgt nämlich, wie das vorlegende Gericht ausführt, im Falle einer Gesellschaft mit einer in einem anderen Staat gelegenen Betriebsstätte, für die dem Ansässigkeitsstaat dieser Gesellschaft kein Besteuerungsrecht zusteht, einer spiegelbildlichen Logik. Somit bestand ein direkter, persönlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen den beiden Komponenten der im Ausgangsverfahren streitigen Steuerregelung, da die Hinzurechnung das logische Pendant zum vorher gewählten Abzug darstellte.“ Während sich in Lidl Belgium und in X Holding BV die Symmetrieüberlegungen auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse stützten111, leitete der EuGH in Krankenheim Ruhesitz am Wannsee dasselbe Argument aus Kohärenzüberlegungen ab112. Dies zeigt nicht nur, dass der EuGH dem in seiner früheren Rechtsprechung sehr behutsam angewendeten Rechtfertigungsgrund der Kohärenz nunmehr größere Bedeutung beimisst. Vor allem wird durch Krankenheim Ruhesitz am Wannsee deutlich, wie austauschbar die einzelnen Rechtfertigungsgründe geworden sind. Diese Beliebigkeit zeigt sich auch darin, dass der für die Symmetrieüberlegungen maßgebende Rechtfertigungsgrund der Wahrung der Auftei-
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110 EuGH v. 23.10.2008, C-157/07, Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt, Slg. 2008, I-8061, Rz. 42. 111 EuGH v. 15.5.2008, C-414/06, Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601, Rz. 42; EuGH v. 25.2.2010, C-337/08, X Holding BV, noch nicht in Slg. veröffentlicht, Rz. 28 ff. 112 EuGH v. 23.10.2008, C-157/07, Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt, Slg. 2008, I-8061, Rz. 42 f.
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lung der Besteuerungsbefugnisse der Mitgliedstaaten in X Holding BV alleine, in Lidl Belgium und in Oy Aa nur gemeinsam mit einem weiteren Rechtfertigungsgrund und in Marks & Spencer sogar mit zwei weiteren Rechtfertigungsgründen gemeinsam maßgebend sein kann, während die Kohärenzüberlegungen, aus denen sich offenbar auch das Symmetriegebot ergibt, generell alleine als Rechtfertigungsgrund tragfähig sind. Die in Marks & Spencer – gemeinsam mit zwei weiteren Rechtfertigungsgründen – und in Lidl Belgium – gemeinsam mit einem weiteren Rechtfertigungsgrund – als maßgebend erachtete doppelte Verlustberücksichtigung entspricht der neu vom EuGH begründeten Rechtsprechungslinie, wonach die steuerliche Situation im Ausland bei der grundfreiheitsrechtlichen Prüfung in Betracht gezogen werden kann. Gelegentlich berücksichtigt der EuGH diesen Gedanken auf Rechtfertigungsebene113, gelegentlich aber – worauf schon in Zusammenhang mit Schempp hingewiesen wurde114 – auch auf Vergleichbarkeitsebene115. Daneben finden sich aber auch nach wie vor Urteile, in denen der EuGH die steuerliche Situation im anderen Vertragsstaat überhaupt nicht berücksichtigt. Ein Beispiel dafür ist die 2009 – und zwar zu Auslandsverlusten – erfolgte Entscheidung Busley/Cibrian116. Scorpio und andere zu Fragen der Quellensteuern ergangene Urteile sind ebenfalls dieser Rechtsprechung zuzuordnen117. In diese Judikatur passt auch Amurta, wo der EuGH es zwar als möglich erachtet hat, dass eine Schlechterbehandlung durch eine „volle Anrechnung“ im anderen Mitgliedstaat neutralisiert werden kann, dies allerdings nur dann als unionsrechtlich zulässig ansieht, wenn sich diese Neutralisierung aus einem Doppelbesteuerungsabkommen ergibt, das von dem die Ungleichbehandlung herbeiführenden Mitgliedstaat abgeschlossen wurde118. Letztlich legt der EuGH somit darauf Wert, dass der die Ungleichbehandlung bewirkende Mitgliedstaat auch selbst für deren Beseitigung sorgt119.
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113 EuGH v. 26.10.1999, C-294/97, Eurowings, Slg. 1999, I-7447, Rz. 43 f.; EuGH v. 7.9.2004, C-319/02, Manninen, Slg. 2004, I-7477, Rz. 46 f.; EuGH v. 13.12.2005, C-446/03, Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837, Rz. 47 ff.; EuGH v. 14.12.2006, C-170/05, Denkavit Internationaal and Denkavit France, Slg. 2006, I-11949, Rz. 45 ff.; EuGH v. 15.5.2008, C-414/06, Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601, Rz. 35 ff. 114 EuGH v. 12.7.2005, C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421, Rz. 35. 115 Vgl. z. B. EuGH v. 14.2.1995, C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225; vgl. Kofler, ÖStZ 2006 (Fn. 2), 154; kritisch Englisch (Fn. 8), S. 240 m. w. N. 116 EuGH v. 15.10.2009, C-35/08, Busley/Cibrian, Slg. 2009, I-9807. 117 EuGH v. 3.10.2006, C-290/04, Scorpio, Slg. 2006, I-9461; Besteuerung und Rechtslage im Ausland ebenso nicht berücksichtigt in: EuGH v. 28.1.1986, 270/83, Kommission vs Frankreich („Avoir Fiscal“), Slg. 1986, 273; EuGH v. 29.4.1999, C-311/97, Royal Bank of Scotland, Slg. 1999, I-2651; EuGH v. 21.9.1999, C-307/97, Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161; EuGH v. 15.6.2004, C-315/02, Lenz, Slg. 2004, I-7063. 118 EuGH v. 8.11.2007, C-379/05, Amurta, Slg. 2007, I-9569, Rz. 52 ff.; ebenso auch EuGH v. 19.11.2009, C-540/07, Kommission vs Italien, Slg. 2009, I-10983, Rz. 38 ff.; EuGH v. 3.6.2010, C-487/08, Kommission vs Spanien, noch nicht in Slg. veröffentlicht, Rz. 58 ff. 119 EuGH v. 8.11.2007, C-379/05, Amurta, Slg. 2007, I-9569, Rz. 39; vgl. Biebl, EuGH in der Rs Amurta: Einschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit durch Quellensteuer auf Outbound-Dividenden, SWI 2008, 29 (31 f.).
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Dass die Rechtsprechungslinie, nach der doppelte Verlustberücksichtigung in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten vermieden werden kann, nicht unbedingt ausbalanciert ist, zeigt sich auch darin, dass der EuGH aus dem Unionsrecht kein Verbot der Doppelbesteuerung ableitet. In Block und zuletzt auch in CIBA hat er diese Rechtsprechung ausdrücklich bestätigt120. Gegen diese Rechtsprechungslinie wäre meines Erachtens nichts einzuwenden, wenn den EuGH nicht umgekehrt die Möglichkeit doppelter Verlustberücksichtigung stören würde121. 4. Verhältnismäßigkeitsprüfung Auf Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung hat der EuGH seinen Prüfungsmaßstab in mancherlei Hinsicht verändert. Dies zeigt sich bei der Rechtsprechung zum Erfordernis steuerlicher Kontrolle122. Zwar hat der EuGH schon in seiner früheren Rechtsprechung nicht in jedem Fall diese Rechtfertigung insoweit ausgeschlossen, als die Behörden im Wege der Anwendung unionsrechtlicher Regelungen die Möglichkeit haben, die Behörden des anderen Mitgliedstaates um Amtshilfe zu bitten. Gelegentlich hat der EuGH nämlich auch schon früher die Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen betont123. In letzter Zeit werden derartige Hinweise aber häufiger und deutlicher, wie beispielsweise das Urteil Jäger aus 2008 zeigt124: Der EuGH hielt fest, „dass es sich für die nationalen Behörden zwar tatsächlich als schwierig erweisen kann, dass Bewertungsverfahren nach den §§ 140–144 BewG auf einen in einem anderen Mitgliedstaat belegenen land- und forstwirtschaftlichen Vermögensgegenstand anzuwenden, diese Schwierigkeit es aber nicht rechtfertigen kann, die Gewährung der betreffenden Steuervergünstigung kategorisch zu verweigern, da die betroffenen Steuerpflichtigen aufgefordert werden könnten, selbst diesen Behörden die Daten vorzulegen, die diese für erforderlich halten, um eine Anwendung dieses Verfahrens in angepasster Weise auf die in anderen Mitgliedstaaten belegenen Betriebe sicherzustellen.“
__________ 120 EuGH v. 12.2.2009, C-67/08, Block, Slg. 2009, I-883, Rz. 29 ff.; EuGH v. 15.4.2010, C-96/08, CIBA, noch nicht in Slg. veröffentlicht, Rz. 28. 121 Vgl. M. Lang, SWI 2006 (Fn. 6), 5; a. A. und damit für ein Verbot der Doppelbesteuerung aus unionsrechtlicher Sicht: z. B. Englisch, The European Treaties’ Implications for Direct Taxes, Intertax 2005, 310 (323 ff.); Kofler, Treaty Override, juristische Doppelbesteuerung und Gemeinschaftsrecht, SWI 2006, 62 (62 ff.); Loukota/ Jirousek, Doppelbesteuerung und Gemeinschaftsrecht, SWI 2007, 295 (297 ff.); Beiser, Sind Doppelbesteuerungen gemeinschaftsrechtskonform?, RdW 2010, 55 (55 f.). 122 Vgl. M. Lang, EC Tax Review 2009 (Fn. 16), 110 ff. 123 EuGH v. 28.1.1992, C-300/90, Kommission vs Belgien, Slg. 1992, I-305, Rz. 13; EuGH v. 28.10.1999, C-55/98, Bent Vestergaard, Slg. 1999, I-7641, Rz. 26; EuGH v. 3.10.2002, C-136/00, Danner, Slg. 2002, I-8147, Rz. 50; EuGH v. 25.6.2003, C-422/01, Skandia, Slg. 2003, I-6817, Rz. 43; EuGH v. 10.3.2005, C-39/04, Laboratoires Fournier, Slg. 2005, I-2057, Rz. 25. 124 EuGH v. 17.1.2008, C-256/06, Jäger, Slg. 2008, I-123, Rz. 54; ähnlich auch EuGH v. 27.1.2009, C-318/07, Persche, Slg. 2009, I-359, Rz. 54.
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Generell zeigt sich, dass der EuGH im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht mehr verlangt, dass das gelindeste Mittel zum Einsatz kommt: In Marks & Spencer hätte es nämlich ausgereicht, um eine doppelte Verlustberücksichtigung zu vermeiden, dass die Auslandsverluste im Falle späterer Gewinne nachzuversteuern wären125. Stattdessen hat es der EuGH aber als verhältnismäßig angesehen, wenn die Auslandsverluste überhaupt nur dann berücksichtigt werden, wenn sonst gar keine Verwertung in Betracht kommt. In N hat der EuGH im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch das – nahezu zynische – Argument verwendet, wonach der dem Steuerpflichtigen zwingend aufgebürdete Nachteil auch für ihn Vorteile haben kann126: „Obwohl es möglich gewesen wäre, den Teil der Steuer, der dem Ursprungsmitgliedstaat zustand, erst nachträglich zum Zeitpunkt der tatsächlichen Veräußerung der Anteile festzusetzen, hätte dies nicht zu geringeren Verpflichtungen für den Steuerpflichtigen geführt. Neben der Steuererklärung, die er gegenüber den zuständigen niederländischen Dienststellen bei Veräußerung seiner Beteiligungen hätte abgeben müssen, wäre er verpflichtet gewesen, alle Belege für die Ermittlung des Verkaufswerts der Beteiligungen zum Zeitpunkt der Verlegung seines Wohnsitzes sowie für gegebenenfalls abzugsfähige Kosten aufzubewahren.“ Der Sorge, dass der Steuerpflichtige anderenfalls verschiedene Dokumente länger aufbewahren hätte müssen, hätte der EuGH auch dadurch Rechnung tragen können, indem er verlangt hätte, dass der nationale Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen die Option eröffnet, die Steuererklärung bereits beim Wegzug abzugeben, ihn aber dazu nicht verpflichtet. Der gelockerte Maßstab, der nunmehr bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Anwendung kommt, zeigt sich auch in der Rechtsprechung zum Liquiditätsvorteil: 2001 war der EuGH in Metallgesellschaft/Hoechst nicht gewillt, einen bloßen Liquiditätsvorteil einer gebietsansässigen Gesellschaft gegenüber einer gebietsfremden Gesellschaft hinzunehmen127. In Lidl Belgium hat sich Generalanwältin Sharpston in ihren Schlussanträgen ausdrücklich auf diese Rechtsprechung bezogen und die nach deutschem Recht vorgesehene Schlechterbehandlung von Auslandsverlusten auf Grund des Liquiditätsnachteils als unverhältnismäßig angesehen128. Der EuGH ist aber der Auffassung seiner Generalanwältin nicht gefolgt und sah offenbar kein Problem, einen Liquiditätsnachteil hinzunehmen129. In dieses Bild der neueren Rechtsprechung passt auch Truck Center130: Obwohl Generalanwältin Kokott die Frage des Liquiditätsnachteils in ihren Schlussanträgen ausführlich behandelt hat, finden sich
__________ Vgl. EuGH v. 13.12.2005, C-446/03, Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837, Rz. 53 ff. EuGH v. 7.12.2006, C-470/04, N., Slg. 2006, I-7409, Rz. 50. EuGH v. 8.3.2001, C-397/98, Metallgesellschaft/Hoechst, Slg. 1995, I-1727, Rz. 44 ff. GA Sharpston, Schlussanträge 14.2.2008, C-414/06, Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601, Nr. 29 ff. 129 EuGH v. 15.5.2008, C-414/06, Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601, Rz. 41 f.; kritisch Watrin/Witkowski/Lindscheid, EuGH: Keine Sofortverrechnung ausländischer Betriebsstättenverluste, IStR 2008, 637 (639 ff.). 130 GA Kokott, Schlussanträge 18.9.2008, C-282/07, Truck Center, Slg. 2008, I-10767, Nr. 48 ff.; EuGH v. 22.12.2008, C-282/07, Truck Center, Slg. 2008, I-10767. 125 126 127 128
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im Urteil dazu keine Ausführungen. Der EuGH nahm diesen Nachteil offenbar hin. Das Urteil Amurta dürfte ebenfalls in diese Rechtsprechungslinie passen131: Bekanntlich ist der EuGH nur dann bereit, die Quellensteuer auf Auslandsdividenden hinzunehmen, wenn es auf Grund einer abkommensrechtlichen Verpflichtung zu einer „vollen Anrechnung“ der Quellensteuer im anderen Mitgliedstaat kommt. Im Regelfall wird sich die Neutralisierung des durch die Quellensteuer bedingten Nachteils im Ansässigkeitsstaat erst zu einem späteren Zeitpunkt ergeben, sodass jedenfalls ein Liquiditätsnachteil verbleibt. Allerdings ist es auch nicht völlig ausgeschlossen, dass die „volle Anrechnung“ mit einer Verzinsung verbunden werden müsse. Im Urteil selbst finden sich dazu keine Ausführungen. Angesichts der anderen erwähnten Entscheidungen ist dies allerdings wenig wahrscheinlich. Eine wesentliche Rolle spielte die Verhältnismäßigkeitsprüfung auch im Urteil Oy Aa.132 Nachdem Generalanwältin Kokott die durch die Beschränkung des Anwendungsbereichs der Regelungen über die Konzernbeiträge auf inländische Gesellschaften bewirkte Differenzierung als gerechtfertigt angesehen hatte, prüft sie noch, ob die Regelung nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne ist133: „Ginge es allein darum, die Nichtbesteuerung von übertragenen Einkünften und die Steuerflucht auszuschließen, wäre die generelle Beschränkung der Abzugsfähigkeit von Konzernbeiträgen auf die Gewährung von Beiträgen an inländische Gesellschaften allerdings zu weitgehend. Diese beiden Ziele ließen sich nämlich auch durch eine Regelung erreichen, die die Niederlassungsfreiheit in geringerem Maße beschränkt. So könnte der steuerliche Abzug des Konzernbeitrags – wie bereits ausführt – an den Nachweis geknüpft werden, dass die Einkünfte bei der empfangenden Gesellschaft tatsächlich besteuert werden. […] Die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis, mit der die beiden anderen Rechtfertigungsgründe unmittelbar zusammenhängen, wäre jedoch durch eine entsprechende weniger beschränkende nationale Regelung nicht erreichbar. Eine Regelung, nach der der Sitzstaat der Gesellschaft, die den Konzernbeitrag gewährt, den Abzug im Falle der Besteuerung von der empfangenden Gesellschaft zulassen muss, würde die Verlagerung der Besteuerungsbefugnis gerade nicht ausschließen. […] Unter Abwägung der verschiedenen Interessen erscheint eine Regelung wie sie das finnische Gesetz über Konzernbeiträge vorsieht, auch als verhältnismäßig im engeren Sinne.“ Der EuGH hat sich diese Begründung zu eigen gemacht und scheint damit in Oy Aa über sein ein Jahr zuvor ergangenes Urteil Cadbury hinausgegangen zu sein: In Cadbury bestand ebenfalls die Gefahr, dass Steuerpflichtige durch Gründung einer Tochtergesellschaft in einem niedrig besteuernden Mitgliedstaat und Ausstattung dieser Gesellschaft mit Eigenkapital die Besteuerungsbefugnis zumindest teilweise in einen anderen Mitgliedstaat verlagern. Damals erachte-
__________ 131 EuGH v. 8.11.2007, C-379/05, Amurta, Slg. 2007, I-9569. 132 EuGH v. 18.7.2007, C-231/05, Oy AA, Slg. 2007, I-6373. 133 GA Kokott, Schlussanträge 12.9.2006, C-231/05, Oy AA, Slg. 2007, I-6373, Nr. 67 ff.
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2005 – Wende in der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten?
te es der EuGH als ausreichend, wenn sich eine nationale Regelung, die dies hintanhalten soll, auf „künstliche Konstruktionen“ beschränkt. In Oy Aa ging er hingegen einen Schritt weiter und erachtete die Ungleichbehandlung zur Gänze als verhältnismäßig. In Cadbury hatte der EuGH auch die Gelegenheit, die Voraussetzung der „künstlichen Konstruktion“ näher zu erläutern. Er ging dabei von objektiven und subjektiven Kriterien aus134. Wenngleich die Anknüpfung an subjektive Kriterien keineswegs zwingend naheliegt und auch Rechtsunsicherheit herbeiführen kann135, ist in der Weiterentwicklung dieser Rechtsprechung keine Trendwende zu sehen: In früheren Urteilen waren die Ausgangssachverhalte soweit von jeglichem Missbrauchsverdacht entfernt, dass sich keine Notwendigkeit stellte, den Begriff der „künstlichen Konstruktion“ näher zu erläutern. Erst in Zusammenhang mit CFC-Regelungen, die typischerweise auch die Missbrauchsvermeidung im Auge haben, ergab sich diese Notwendigkeit. Im Jahre 2007 sah der EuGH in seinem Urteil in A auch erstmals die Notwendigkeit herauszuarbeiten, dass bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung unterschiedliche Maßstäbe innerhalb der Union und im Verhältnis zu Drittstaaten maßgebend sein können136. Im Zusammenhang mit der unionsrechtlichen Amtshilfe und der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen führte der EuGH unter Berufung auf seine Rechtsprechung zu Konstellationen innerhalb der Union aus137: „Diese Rechtsprechung, die sich auf Beschränkungen der Ausübung der Verkehrsfreiheiten innerhalb der Gemeinschaft bezieht, kann jedoch nicht in vollem Umfang auf den Kapitalverkehr zwischen Mitgliedstaaten und dritten Ländern übertragen werden, da dieser sich in einen anderen rechtlichen Rahmen einfügt als die Rechtsachen, die Anlass zu den in den beiden vorstehenden Randnummern genannten Urteilen gegeben haben.“ In diesem Zusammenhang verwies der EuGH zum einen auf die unionsrechtlichen Regelungen über die Amtshilfe, die nur innerhalb der EU gelten, und andererseits auf bestimmte unionsrechtliche Harmonisierungsmaßnahmen – wie beispielsweise im Gesellschaftsrecht und auf dem Gebiet der Rechnungslegung138 –, die nur innerhalb der EU und im Verhältnis zu den EWRStaaten Bedeutung haben, nicht aber im Verhältnis zu Drittstaaten wie der Schweiz.
__________ 134 EuGH v. 12.9.2006, C-196/04, Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995, Rz. 64. 135 Vgl. M. Lang, Rechtsmissbrauch und Gemeinschaftsrecht im Lichte von Halifax und Cadbury Schweppes, SWI 2006, 273 (273 ff.); Bieber, Cadbury Schweppes: Dem Missbrauch auf der Spur, taxlex 2006, 702 (702 ff.). 136 EuGH v. 18.12.2007, C-101/05, A., Slg. 2007, I-11531, Rz. 37. 137 EuGH v. 18.12.2007, C-101/05, A., Slg. 2007, I-11531, Rz. 60; so auch EuGH v. 19.11.2009, C-540/07, Kommission vs Italien, Slg. 2009, I-10983, Rz. 69 ff. 138 EuGH v. 18.12.2007, C-101/05, A., Slg. 2007, I-11531, Rz. 62 mit Verweis auf GA Bot, Schlussanträge 11.9.2007, A., Slg. 2007, I-11531, Nr. 141 ff.
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Michael Lang
IV. Schlussfolgerungen Die Analyse der Rechtsprechung zeigt somit ein differenziertes Bild. Keineswegs kann davon ausgegangen werden, dass sich die Judikatur des EuGH völlig gedreht hätte. So hat sich der EuGH auch in seiner jüngeren Rechtsprechung nicht darauf beschränkt, nur Gebietsfremde und Gebietsansässige oder Steuerpflichtige in internen und grenzüberschreitenden Konstellationen miteinander zu vergleichen, sondern die Urteile, in denen verschiedene grenzüberschreitende Konstellationen miteinander als vergleichbar angesehen wurden, sind sogar häufiger geworden139. Nach wie vor selten – und auch da hat sich gegenüber der älteren Rechtsprechung nichts geändert – ist es, dass der EuGH eine Rechtfertigung für die Gleichbehandlung unterschiedlicher Konstellationen verlangt. In der älteren Rechtsprechung ist Futura Participations dafür ein Beispiel140, in der jüngeren Rechtsprechung Deutsche Shell141. Auch auf dem Gebiet der Rechtfertigungsgründe gibt es in vielerlei Hinsicht Kontinuität. Der EuGH weigert sich nach wie vor, den Verlust von Steuereinnahmen als Rechtfertigungsgrund anzuerkennen142. Die fehlende Steuerharmonisierung wurde von den Mitgliedsstaaten gar nicht mehr ins Treffen geführt, weshalb eine Auseinandersetzung mit diesem Rechtfertigungsgrund gänzlich fehlt. Auf dem Gebiet der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind manche Weiterentwicklungen der Rechtsprechung ebensowenig als Trendwende zu verstehen: So war es in Cadbury notwendig, dass der EuGH zum ersten Mal erläutert hat, was er unter „künstlichen Konstruktionen“ versteht. Das Erfordernis, darauf hinzuweisen, dass im Verhältnis zu Drittstaaten bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch unterschiedliche Maßstäbe zum Tragen kommen können, hat sich ebenfalls erst in der Rechtsache A im Jahr 2007 gestellt. Es gibt keinen Anlass zur Vermutung, dass diese Entscheidungen anders ausgefallen wären, wenn diese Rechtsfragen dem EuGH schon früher vorgelegen wären. Allerdings gibt es auch Änderungen in der Rechtsprechung, die 2005 und in den Folgejahren erfolgt sind: Der Umstand, dass dem EuGH stärker bewusst geworden ist, dass die undifferenzierte Anwendung der Kapitalverkehrsfreiheit im Verhältnis zu Drittstaaten zu einer einseitigen Erweiterung des Binnenmarktes führen könnte, dürfte ihn bewogen haben, im Unterschied zu seiner früheren Rechtsprechung auch in Konstellationen innerhalb der EU die Konturen der einzelnen Grundfreiheiten stärker zu zeichnen und oft auch vom Vor-
__________ 139 Vgl. M. Lang, EC Tax Review 2009 (Fn. 16), 104 ff.; vgl. z. B. EuGH v. 18.12.2007, C-101/05, A., Slg. 2007, I-11531; EuGH v. 11.6.2009, C-521/07, Kommission vs Niederlande, Slg. 2009, I-4873, Rz. 43 ff. 140 EuGH v. 15.5.1997, C-250/95, Futura Participations, Slg. 1997, I-2471. 141 EuGH v. 28.2.2008, C-293/06, Deutsche Shell, Slg. 2008, I-1129. 142 Vgl. z. B. EuGH v. 14.9.2006, C-386/04, Stauffer, Slg. 2006, I-8203, Rz. 59, m. w. N.; EuGH v. 6.3.2007, C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rz. 30; EuGH v. 20.5.2008, C-194/06, Orange European Smallcap Fund, Slg. 2008, I-3747, Rz. 84; EuGH v. 27.1.2009, C-318/07, Persche, Slg. 2009, I-359, Rz. 46.
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2005 – Wende in der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten?
rang der anderen Grundfreiheiten gegenüber der Kapitalverkehrsfreiheit auszugehen. Die Vergleichbarkeitsprüfung hat sich in mehrfacher Hinsicht grundlegend geändert: Der EuGH berücksichtigt Rechtfertigungsgründe, die er früher explizit oder implizit verworfen hat, nunmehr bei Beurteilung der Vergleichbarkeit. So spielt nunmehr seit der Rechtsache Schempp auch auf Vergleichbarkeitsebene die steuerliche Behandlung im anderen Mitgliedstaat eine Rolle143. In D hat der EuGH das seit Avoir Fiscal auf Rechtfertigungsebene verworfene Argument der Reziprozität nunmehr auf Ebene der Vergleichbarkeit akzeptiert144. In Blanckaert hat er das in seiner früheren Rechtsprechung auf Vergleichbarkeitsebene äußerst zurückhaltend behandelte Argument der Kohärenz in die Vergleichbarkeitsprüfung einbezogen145. Diese Änderungen verdienen nicht so sehr deshalb Kritik, weil der EuGH von seiner früheren Rechtsprechung abgegangen ist, sondern primär deshalb, weil er diese Rechtsprechungsänderung nicht explizit gemacht hat. In jedem Fall ist mit der Judikaturwende aber auch eine Zurücknahme des Prüfungsmaßstabes verbunden. Auch auf der Ebene der Rechtfertigung hat der EuGH seinen Prüfungsmaßstab deutlich verändert: Mit der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis, der doppelten Verlustberücksichtigung und der Steuerfluchtgefahr sind nunmehr Rechtfertigungsgründe akzeptiert worden, die entweder völlig neu sind, die der EuGH früher sogar verworfen hat oder die nur im Ausnahmefall eine Rolle gespielt hatten. Der EuGH hat diese Rechtfertigungsgründe zunächst nur in Kombination miteinander akzeptiert, dann aber schon kurze Zeit später deutlich gemacht, dass auch die Verbindung von zwei dieser Rechtfertigungsgründe bereits genügt. Der Umstand, dass er Symmetrieüberlegungen gelegentlich auf das Argument des Erfordernisses der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse und der Vermeidung der doppelten Verlustberücksichtigung gemeinsam, dann aber auf Kohärenzüberlegungen alleine stützt, zeigt, wie beliebig die Rechtsprechung des EuGH geworden ist. Die Zurücknahme des Prüfungsmaßstabes auf Rechtfertigungsebene wirkt eindeutig zugunsten der Mitgliedstaaten, die sich nun leichter tun, Benachteiligungen von grenzüberschreitenden Konstellationen als grundfreiheitenkonform darzustellen. Dies gilt auch für die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Hier hat sich der Prüfungsmaßstab ebenfalls zugunsten der Mitgliedstaaten verschoben. Der EuGH hat – im Gegensatz zu früher – Liquiditätsnachteile in grenzüberschreitenden Konstellationen hingenommen und keine Begründung für seine Abkehr von der früheren Rechtsprechung geliefert. Generell scheint der EuGH bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht mehr nach der gelindesten Maßnahme zu fragen.
__________ 143 EuGH v. 12.7.2005, C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421, Rz. 35. 144 EuGH v. 5.7.2005, C-376/03, D., Slg. 2005, I-5821, Rz. 28 ff. 145 EuGH v. 8.9.2005, C-512/03, Blanckaert, Slg. 2005, I-7685, Rz. 45 ff.
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Moris Lehner
Die Vorlagepflicht an den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren Inhaltsübersicht I. Einführung II. Acte clair als Kriterium für die Verzichtbarkeit der Vorlage 1. Kritik und Befürwortung 2. Auswirkungen auf die Rechtsprechung des EuGH III. Die Vorlagepraxis des BFH 1. Bezugnahme auf Vorentscheidungen des EuGH
2. Fehlen von Vorentscheidungen des EuGH IV. Entwicklungslinien 1. Kooperation zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten als unionsrechtliche Zielsetzung 2. Das Gebot der Entscheidungsharmonie als unionsrechtliches Kooperationsmodell
I. Einführung Im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV i. V. m. Art. 19 Abs. 3b EUV entscheidet der EuGH auf Antrag eines mitgliedstaatlichen Gerichts zum einen über die Auslegung des Unionsrechts einschließlich der vom EuGH entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze und der Unionsgrundrechte, zum anderen aber auch über die Auslegung und über die Gültigkeit von Handlungen der Unionsorgane, insbesondere über das von ihnen erlassene sekundäre Unionsrecht1. Letztinstanzlich entscheidende Gerichte sind nach näherer Maßgabe des Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV zur Vorlage verpflichtet, Instanzgerichte sind zur Vorlage berechtigt2. Der BFH hat bislang 262 Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gestellt, in ca. 200 Fällen hat das höchste deutsche Steuergericht eine Vorlage abgelehnt3. Wolfgang Spindler charakterisiert das Vorabentscheidungsverfahren im speziellen Kontext der Vorgaben des Europarechts und des innerstaatlichen Verfassungsrechts als „Dialog der Rich-
__________ 1 Vgl. Ehricke in Streinz, 2003, Art. 234 EGV Rz. 11 ff.; Art. 267 Abs. 1 Buchst. a) AEUV spricht anstelle der Formulierung „Auslegung dieses Vertrags“ von der „Auslegung der Verträge“ und erfasst damit ausdrücklich auch den EUV; dazu Borchardt in Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rz. 4 ff. 2 Speziell zu Art. 267 AEUV: Borchardt (Fn. 1); grundlegend zu Art. 234 EG bzw. Art. 177 EWGV: Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995; Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1986, S. 44 ff. 3 Ergebnisse aus Juris-Recherchen, wobei vor 1967 keine Vorlagen an den BFH verzeichnet sind; vgl. auch BFH (Hrsg.), 60 Jahre Bundesfinanzhof, Eine Chronik, 1950–2010, S. 65 ff.
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Moris Lehner
ter“ in „funktionsteilender Zusammenarbeit gleichrangiger Rechtsprechungsorgane“4. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH5 soll das Vorabentscheidungsverfahren die ordnungsgemäße Anwendung und die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten sicherstellen6, es soll verhindern, dass sich in den Mitgliedstaaten „eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die mit den Normen des Gemeinschaftsrechts nicht im Einklang steht“7. Das Bundesverfassungsgericht8 erweitert diese Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens durch die Zielsetzungen der Integration und der Rechtsfortbildung, der Rechtssicherheit und der Rechtsanwendungsgleichheit, nachdem es die objektiven Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens bereits in seiner berühmten Solange II – Entscheidung aus dem Jahre 1986 durch die für den Rechtsschutz des Einzelnen außerordentlich bedeutsame Anerkennung des EuGH als gesetzlichen Richter i. S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ergänzt hatte9. Die weit reichenden Zielsetzungen des Vorabentscheidungsverfahrens, die auch im Dienst einer effektiven Durchsetzung des Anwendungsvorrangs von Unionsrecht gegenüber innerstaatlichem Recht stehen10, können nur verwirklicht werden, wenn die in Art. 267 Abs. 3 AEUV i. V. m. Art. 19 Abs. 3b EUV lediglich rudimentär normierten Voraussetzungen für die Vorlageverpflichtung letztinstanzlich zuständiger Gerichte11 der Mitgliedstaaten möglichst einheitlich verstanden und streng gehandhabt werden. Der EuGH hat diese Strenge in seiner grundlegenden CILFIT-Entscheidung12 deutlich gezeigt, er hat seine hohen Anforderungen dann aber in späterer Rechtsprechung unter dem Ein-
__________ 4 Spindler in DFGT 3 (2006), S. 19 f.; ders., Stbg 2010, 49 (53); ders. in StBK Stuttgart (Hrsg.), Fachkongress 2006, S. 9 (13 ff.). 5 EuGH v. 6.10.1982, Rs. C-283/81, CILFIT, EuGHE 1982, 3415 f., Rz. 7; EuGH v. 15.9.2005, Rs. C-495/03, Intermodal Transports, EuGHE 2005, I-8151, Rz. 29; dazu Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633; Rennert, EuGRZ 2008, 385 (386); Fastenrath in FS Ress, 2005, S. 461 (462 ff.); Herrmann, EuZW 2006, 231 ff.; Hess, ZZP 1995, 59 (63 ff.); ders., RabelsZ 2002, 470 (472 f.). 6 EuGH (Fn. 5) CILFIT; vgl. aus neuerer Zeit EuGH (Fn. 5) Intermodal Transports, Rz. 33; v. 10.1.2006, Rs. C-344/04, IATA und ELFAA, EuGHE 2006, I-403, Rz. 27, jew. m. w. N. 7 EuGH (Fn. 5) Intermodal Transports. 8 BVerfG v. 22.10.1986, BVerfGE 73, 339 (366 ff.); v. 8.4.1987, BVerfGE 75, 223 (234 ff.). 9 BVerfG v. 22.10.1986, BVerfGE 73, 339 (366); zu dieser Rspr. Fastenrath (Fn. 5), S. 469 ff.; ders., NJW 2009, 272; Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (635); Herrmann, EuZW 2006, 231 ff.; Hess, ZZP 1995, 59 (63 ff.); Wegener in Callies/Ruffert, 3. Aufl. 2007, Art. 234 EGV Rz. 1; speziell zur Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens für den Individualrechtsschutz: Hess, RabelsZ 2002, 470 (472 f.); Roth, NVwZ 2009, 345 (347 ff.); Borchardt (Fn. 1), Art. 267 AEUV Rz. 1; Ehricke (Fn. 1), Art. 234 EGV Rz. 6. 10 Fastenrath (Fn. 5), S. 462. 11 Zu der hier nicht zu vertiefenden Beschränkung der Vorlagepflicht auf letztinstanzlich entscheidende Gerichte der Mitgliedstaaten vgl. Wegener (Fn. 9), Art. 234 EGV Rz. 23 f. mit Nachw. der Rspr. 12 EuGH (Fn. 5) CILFIT.
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Die Vorlagepflicht an den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren
druck nachhaltiger Kritik seiner Generalanwälte und europarechtlicher Literatur zu Recht zurückgenommen13. Zentraler Gegenstand der nach wie vor bestehenden Fragen ist die im Zusammenhang mit der acte clair – Doktrin geführte Diskussion über den Grad der Überzeugung von der richtigen Auslegung unionsrechtlicher Normen, der es den mitgliedstaatlichen Gerichten letzter Instanz erlaubt, von einer Vorlage an den EuGH abzusehen14. Ziel dieses Beitrags ist der Versuch, die im modernen internationalen Steuerrecht entwickelte Zielsetzung einer internationalen Entscheidungsharmonie zur Beantwortung der noch offenen Fragen im Bereich der steuerrechtlichen Vorlageproblematik fruchtbar zu machen15.
II. Acte clair als Kriterium für die Verzichtbarkeit der Vorlage In seinen Schlussanträgen zur CILFIT-Entscheidung16 des EuGH setzt sich Generalanwalt Capotorti17 im Zusammenhang mit der Frage nach dem Bestehen einer Vorlagepflicht bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht18 intensiv mit der acte clair-Doktrin auseinander. Er beschreibt die Entwicklung dieser Doktrin in der Rechtsprechung des französischen Conseil d’État und der Cour de Cassation19 als Reaktion auf den im französischen Rechtssystem verankerten Grundsatz, dass die Auslegung völkerrechtlicher Verträge ausschließlich der vollziehenden Gewalt, konkret dem Außenministerium gestattet und den Gerichten nur die Anwendung der völkervertraglichen Normen erlaubt war. Die acte clair-Doktrin sei für die französischen Gerichte ein Mittel, Einwirkungen der vollziehenden Gewalt auf die Rechtsprechung zu begrenzen, um die Zuständigkeit für die Entscheidung über das Bestehen von Auslegungszweifeln auch in diesem Bereich bei den Gerichten zu halten20. Generalanwalt Caportorti lehnt die acte clair-Doktrin im Kontext des Vorabentscheidungsverfahrens vor allem deshalb rundweg als „unbegründet und unklar“ ab, weil nicht vorstellbar sei, dass eine Norm ohne vorherige Auslegung angewandt
__________ 13 14 15 16 17 18
Dazu u. II.2. Dazu u. II.1. Dazu u. IV.2. EuGH (Fn. 5) CILFIT. GA Capotorti Schlussanträge v. 13.7.1982 zu EuGH (Fn. 5) CILFIT, Rz. 4 ff. Zur Unterscheidung zwischen Auslegungs- und hier nicht zu erörternden Gültigkeitsvorlagen Ehricke (Fn. 1), Art. 234 EGV Rz. 15 ff., 21 ff.; Wegener (Fn. 9), Art. 234 Rz. 7 ff., 12 ff. 19 Vgl. zum Ursprung dieser Theorie Hummert, Neubestimmung der acte-clair-Doktrin im Kooperationsverhältnis zwischen EG und Mitgliedstaat, 2006, S. 31 ff.; Dauses (Fn. 2), S. 113 f.; Middeke, Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, 2. Aufl. 2003, S. 61, Fn. 216; Fastenrath, JA 1986, 283 (284); Holoubek in Holoubek/Lang, Das EuGH-Verfahren in Steuersachen, 2000, S. 45 (61); zur Vorlagepraxis des Conseil d’Etat Hecker, Europäische Integration als Verfassungsproblem in Frankreich, 1998, S. 78 ff. 20 Kritisch zu der auf die acte clair-Doktrin gestützten Praxis französischer Gerichte, von einer Vorlage an den EuGH abzusehen: Dauses (Fn. 2), S. 114; Fastenrath, JA 1986, 283 (284).
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Moris Lehner
werden könne21. Der EuGH stellt dazu fest, dass die innerstaatlichen Gerichte in eigener Zuständigkeit und Verantwortung beurteilen, ob für den Erlass ihrer Entscheidung eine Entscheidung über Gemeinschaftsrecht erforderlich ist22. Soweit der EuGH die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage selber überprüft, ist diese Prüfung durch das Zugeständnis einer Prärogative der mitgliedstaatlichen Gerichte geprägt23. Sehr viel strenger ist der Gerichtshof dagegen im Hinblick auf die Auslegung des als entscheidungserheblich erkannten Gemeinschaftsrechts. Insoweit belässt er den mitgliedstaatlichen Gerichten von vornherein nur sehr wenig eigene Verantwortung. Ohne den Begriff des acte clair in seiner CILFIT-Entscheidung zu verwenden, knüpft der EuGH24 an die von GA Capotorti empfohlenen Voraussetzungen für ein Nichtbestehen der Vorlagepflicht an und unterscheidet drei Fallgruppen, bei deren Vorliegen eine Vorlagepflicht auch bei entscheidungserheblichen Fragen entfallen, ja sogar „sinnlos“ erscheinen kann25: (1) Die gestellte Frage ist bereits in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand einer Vorabentscheidung gewesen26. (2) Es liegt bereits eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs vor, durch die die betreffende Rechtsfrage geklärt ist, auch dann, wenn die strittigen Fragen nicht vollkommen identisch sind27. (3) Die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist derart offenkundig, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt. Das innerstaatliche Gericht darf jedoch nur dann davon ausgehen, dass ein solcher Fall vorliegt, wenn es davon überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit „bestünde“. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt seien, dürfe das innerstaatliche Gericht von der Vorlage der Auslegungsfrage absehen und in eigener Verantwortung entscheiden28. Dabei sei auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in mehreren, gleichermaßen verbindlichen Sprachen abgefasst sind, so dass auch ein Vergleich der sprachlichen Fassungen erforderlich sei29. Auch sei die besondere Terminologie des Gemeinschaftsrechts zu beachten30.
__________ 21 GA Capotorti (Fn. 17), Rz. 4. 22 EuGH (Fn. 5) CILFIT, Rz. 9. 23 Vgl. nur EuGH v. 10.6.2010, Rs. C-395/08, Bruno und Pettini, NZA 2010, 753, Rz. 18 mit Bezug auf frühere Rspr.; dazu aus steuerrechtlicher Sicht Wassermeyer/ Schönfeld, IStR 2006, 411 (415). 24 EuGH (Fn. 5) CILFIT, Rz. 5, 13 ff. mit Bezug auf frühere Rechtsprechung des EuGH v. 27.3.1963, Rs. C-28 bis 30/62, Da Costa u. a., EuGHE 1963, 63 (80 f.). 25 EuGH (Fn. 5) CILFIT, Rz. 13. 26 EuGH (Fn. 5) CILFIT, Rz. 13. 27 EuGH (Fn. 5) CILFIT, Rz. 14. 28 EuGH (Fn. 5) CILFIT, Rz. 16. 29 EuGH (Fn. 5) CILFIT, Rz. 18. 30 EuGH (Fn. 5) CILFIT, Rz. 19.
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Die Vorlagepflicht an den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren
Der Grund für diese Strenge31 liegt darin, dass der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren eine wesentliche Bedingung für die Sicherstellung einheitlicher Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten sieht32. Trotz dieser weit gehenden Zurückdrängung der mitgliedstaatlichen Gerichte spricht der EuGH in ständiger Rechtsprechung im Kontext des Vorabentscheidungsverfahrens von einer „Zusammenarbeit“ bzw. „Kooperation“ zwischen den mit der Anwendung des Gemeinschaftsrechts betrauten innerstaatlichen Gerichten und dem Gerichtshof33. 1. Kritik und Befürwortung Obwohl der EuGH den Begriff des acte clair soweit ersichtlich bislang nur in einer einzigen Entscheidung verwendet hat34, wurde die acte clair-Doktrin seit der CILFIT-Entscheidung zum Schlüsselbegriff der kritischen Diskussion über die strengen Anforderungen des EuGH35. Den Kernpunkt der Kritik bildet die Auffassung des Gerichtshofs, dass das letztinstanzlich entscheidende mitgliedstaatliche Gericht nur dann von der offenkundigen Richtigkeit seiner Auslegung des Gemeinschaftsrechts ausgehen darf, wenn es davon überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof die gleiche Gewissheit „bestünde“36. Überwiegender Tenor der Kritik ist, dass gerade die Gewissheit einer sowohl mit dem EuGH als auch mit den anderen mitgliedstaatlichen Gerichten übereinstimmenden Auslegung durch das letzt-
__________ 31 GA Tiziano, Schlussanträge v. 21.2.2002 zu Rs. C-99/00, Lyckeskog, EUGHE 2002, I-4839, Rz. 39 ff.; Ausnahmen von diesen strengen Anforderungen bestehen in summarischen Eilverfahren, vgl. EuGH v. 22.10.1987, Rs. C-314/85, Foto Frost, EuGHE 1987, 4199, Rz. 19; dazu Fastenrath (Fn. 5), S. 468 f. 32 EuGH (Fn. 5) CILFIT, Rz. 7 f.; ständige Rspr., vgl. EuGH (Fn. 31) Foto Frost, Rz. 15; v. 6.12.2005, Rs. C-461/03, Gaston Schul, EuGHE 2005, I-10513, Rz. 21 und die weiteren Nachw. in Fn. 6. 33 EuGH (Fn. 5) CILFIT, Rz. 7; v. 24.4.2007, Rs. C-2/06, Kempter, EuGHE 2008, I-411, Rz. 42: „Dialog“; v. 17.7.2008, Rs. C-347/06, ASM Brescia, EUGHE 2008, I-5641, Rz. 27; v. 2.4.2009, Rs. C-260/07, Pedro IV Services, EUGHE 2009, I-2437, Rz. 28; vgl. auch GA Colomer, Schlussanträge v. 30.6.2005 zu EuGH (Fn. 32), Gaston Schul, Rz. 44, 58; GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 12.4.2005 zu EuGH (Fn. 5), Intermodal Tranports, Rz. 121: „Arbeitsteilung“; GA Geelhoed v. 8.9.2005 zu EuGH (Fn. 6), IATA und ELFAA, Rz. 28: „Zusammenarbeit“; GA Bot, Schlussanträge v. 24.4.2007 zu EuGH (Fn. 33), Kempter, Rz. 101: „Zwiegespräch des einen mit dem anderen Gericht“; dazu Streinz, EWS 2008, 1; Rennert, EuGRZ 2008, 385 (389); Hess, ZZP 1995, 59 (66); Hummert (Fn. 19), S. 19 ff.; Hirsch in Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 3 (7): „Vorabentscheidungsdialog“; Holoubek (Fn. 19), S. 56 ff.; Knauff, DVBl. 2010, 533 (540). 34 EuGH v. 4.6.2002, Rs. C-99/00, Lyckeskog, EUGHE 2002, I-4839, Rz. 20. 35 Teilweise wird zum Zweck weiterer Differenzierung ergänzend vom acte éclairé im Sinne einer vom EuGH bereits geklärten Auslegungsfrage gesprochen; vgl. GA Tiziano (Fn. 31), Rz. 2, 56 ff., 61; Dourado in Dourado/da Palma Borges (Hrsg.), The acte clair in EC direct Tax Law, 2008, S. 13 (19); Weber/Davits in Dourado/da Palma Borges (Hrsg.), a. a. O., S. 275 (277 ff.). 36 Siehe oben bei Fn. 28.
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Moris Lehner
instanzliche Gericht nicht erlangt werden könne37. Auch wegen der unterschiedlichen Sprachfassungen der Verträge sei dies nicht möglich38. Der höchstrichterlichen Vorlagepraxis wird deshalb bescheinigt, dass sie sich nur vordergründig auf die CILFIT-Kriterien beziehe, diese in der Sache aber nicht befolge39. Andererseits gibt es gewichtige Stimmen in der Literatur, die um eine vermittelnd abgewogene Interpretation der CILFIT-Erfordernisse bemüht sind40, wobei vor allem auf den erlangten Fortschritt der Integration hingewiesen wird41. Strengeres Festhalten an den Vorgaben des EuGH wird dagegen bei der Prüfung einer Verletzung des Grundrechts auf den gesetzlichen Richter42 wegen des insoweit eingeschränkten Prüfungsmaßstabs des Bundesverfassungsgerichts gefordert43. In den Auffassungen der Generalanwälte zeigen sich nur sehr zögernde Bemühungen um eine Lockerung der strengen CILFIT-Kriterien. Im Fall Wiener44 hat Generalanwalt Jacobs bereits im Jahre 1997 die Auffassung vertreten, dass der Gerichtshof, um eine nicht mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang stehende nationale Rechtsprechung zu verhindern, als vorabentscheidungsrelevant nur „Rechtsfragen von allgemeinem Interesse“ und nicht auch „sehr detaillierte und spezifische“ Fragen gemeint habe45. Die in CILFIT genannten Voraussetzungen sollten nur gelten, wenn eine „allgemeine Frage gegeben und eine einheitliche Auslegung wirklich erforderlich“ sei46. Der EuGH hat diese Argumente damals nicht aufgegriffen, er hat die Problematik schlichtweg ignoriert47. Ebenfalls an die Zielsetzung des Vorabentscheidungsverfahrens48 anknüpfend, modifiziert auch Generalanwalt Tiziano in seinen Schlussanträgen zur Entscheidung Lyckeskog49 die strengen Anforderungen des EuGH in dem Sinne, dass mit der CILFIT-Rechtsprechung lediglich eine kohärente Struktur geschaffen werden sollte, die den nationalen Gerichten „die nötigen Leitlinien in vernünftig ausgewogener Weise an die Hand gibt“50. Letztlich verlangt aber auch Tiziano nicht näher konkretisierte „Offenkundigkeit“ der zu
__________ 37 Everling (Fn. 2), S. 50: „in dubio pro praesentatione“; Hess, ZZP 1995, 59 (81); ders., RabelsZ 2002, 470 (493); Roth, NVwZ 2009, 345 (347). 38 Roth, NVwZ 2009, 345 (347). 39 Hess, ZZP 1995, 59 (81); ders., RabelsZ 2002, 470 (493). 40 Vgl. Fastenrath (Fn. 5), S. 464 (466 f.); Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (635); Herrmann, EuZW 2006, 231 (234 f.); Vedder, NJW 1987, 526 (527). 41 Wegener (Fn. 9), Art. 234 Rz. 28; Hirsch (Fn. 33), S. 6. 42 Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. 43 Vgl. BVerfG v. 31.5.1990, BVerfGE 82, 159 (192 ff.); v. 4.9.2008, HFR 2009, 189; zu dieser Rspr. Fastenrath, NJW 2009, 272 (274 f.); Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (635 ff.); Herrmann, EuZW 2006, 231 (234 f.); Vedder, NJW 1987, 526 (528 ff.); Voßkuhle, JZ 2001, 924 ff.; Mayer, EuR 2002, 239 (248 ff.); Roth, NVwZ 2009, 345 (347). 44 EuGH v. 20.11.1997, Rs. C-338/95, Wiener, EUGHE 1997, I-6495. 45 GA Jacobs, Schlussanträge v. 10.7.1997 zu EuGH (Fn. 44), Rz. 58. 46 GA Jacobs (Fn. 45), Rz. 64. 47 EuGH (Fn. 44). 48 Siehe oben bei Fn. 5 ff. 49 EuGH (Fn. 34). 50 GA Tiziano (Fn. 31), Rz. 56 ff., 65.
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Die Vorlagepflicht an den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren
treffenden Auslegung als Voraussetzung für den Wegfall der Vorlagepflicht51. Der EuGH hat auf diese Argumente ebenso wenig reagiert wie auf die des Generalanwalts Jacob in der Entscheidung Wiener52. Eine Wende in der Argumentation, weniger aber im Ergebnis, markiert die Auffassung der Generalanwältin Stix-Hackl zu der Entscheidung Intermodal Transports BV aus dem Jahre 200553. Auch Stix-Hackl geht von der Zielsetzung einheitlicher Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts aus54, sie wendet sich aber sogleich gegen die besonders problematische Voraussetzung, wonach das letztinstanzlich zuständige innerstaatliche Gericht auch im Fall zweifelsfreier Offenkundigkeit der zu treffenden Auslegung nur dann von einer Vorlage absehen dürfe, wenn es davon überzeugt sei, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit i. S. der CILFITErfordernisse bestehe55. Grund: Das nationale Gericht besitze grundsätzlich „nur sein eigenes Urteilsvermögen“, es könne sich nicht selbst von der geforderten Gewissheit überzeugen56, es habe letztlich „keinen anderen Maßstab als den eigenen“57. Die CILFIT-Erfordernisse seien deshalb nicht als eine „schematisch anzuwendende Entscheidungsanleitung“58 zu verstehen, vielmehr sollen die Erfordernisse das nationale Gericht dazu anhalten „nicht leichtfertig – nicht nur aus seiner eigenen Perspektive“ von einer zweifelsfreien Auslegung auszugehen59. Trotz dieser deutlichen Kritik bleibt StixHackl aber im Ergebnis sehr nah an den strengen CILFIT-Anforderungen mit der letztlich selbstverständlichen Aussage, dass sich die Gefahr abweichender Auslegungen offenkundig aktualisiert, wenn ein letztinstanzlich zuständiges nationales Gericht von einer ihm vorliegenden Gerichtsentscheidung eines nationalen Gerichts aus einem anderen Mitgliedstaat abweicht oder abzuweichen gedenkt60. Der EuGH folgt dem Ergebnis der Generalanwältin. Er hält einerseits ausdrücklich an den CILFIT-Kriterien einschließlich der erforderlichen Gewissheit fest, verlangt aber andererseits von dem letztinstanzlich zuständigen innerstaatlichen Gericht nicht die Vergewisserung, dass auch für nichtgerichtliche Organe wie für Verwaltungsbehörden eine solche Gewissheit besteht61. Schließlich sei noch auf die überaus kritische Auffassung des Generalanwalts Colomer zu der Rechtssache Gaston Schul62 hingewiesen, der speziell im Hinblick auf das CILFIT-Erfordernis der Gewissheit63 die Meinung vertritt, dass der Prüfungsmaßstab schon seit seiner erstmaligen Formulierung
__________ 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63
GA Tiziano (Fn. 31), Rz. 70. Fn. 44 ff. EuGH (Fn. 5) Intermodal Transports; GA Stix-Hackl (Fn. 33). GA Stix-Hackl (Fn. 33), Rz. 90. GA Stix-Hackl (Fn. 33), Rz. 92 ff. GA Stix-Hackl (Fn. 33), Rz. 94. GA Stix-Hackl (Fn. 33), Rz. 96. GA Stix-Hackl (Fn. 33), Rz. 100. GA Stix-Hackl (Fn. 33), Rz. 102. GA Stix-Hackl (Fn. 33), Rz. 116, 128 Nr. 3. EuGH (Fn. 5), Intermodal Transports, Rz. 39. EuGH (Fn. 32) Gaston Schul; GA Colomer (Fn. 33). Dazu o. II. bei Fn. 28.
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nicht handhabbar gewesen sei und dass er sich in der Realität des Jahres 2005 als unsinnig erweise64. 2. Auswirkungen auf die Rechtsprechung des EuGH Der EuGH nimmt die Kritik seines Generalanwalts Colomer ernst. Zwar bezieht sich der Gerichtshof nach wie vor auf seine CILFIT-Entscheidung65, er verlangt aber nicht mehr das Erfordernis der Gewissheit einer sowohl mit dem EuGH als auch mit den anderen mitgliedstaatlichen Gerichten übereinstimmenden Auslegung durch das letztinstanzliche Gericht als Voraussetzung für einen Verzicht auf die Vorlage. Eine Vorlage sei vielmehr bereits dann verzichtbar, wenn die aufgeworfene Frage nicht entscheidungserheblich sei, die betreffende Gemeinschaftsbestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung des Gerichtshofes gewesen oder die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig sei, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibe66. In seiner neueren Rechtsprechung führt der EuGH diese Linie fort67. Der Gerichtshof verweist insoweit auch auf seine Verfahrensordnung68, die es ihm erlaubt, durch einen mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage „mit einer Frage übereinstimmt, über die der Gerichtshof bereits entschieden hat“ oder wenn die Antwort auf eine solche Frage „klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann“69. In neuer Zeit wird die Distanzierung des EuGH von den strengen Anforderungen der CILFIT-Erfordernisse in seinen Hinweisen an die nationalen Gerichte aus dem Jahre 2009 besonders deutlich70. Danach ist ein Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit nationalen Rechtsmitteln angefochten werden können, zwar grundsätzlich zur Vorlage verpflichtet, dies gilt jedoch nicht, wenn bereits eine einschlägige Rechtsprechung vorliegt oder wenn die richtige Auslegung der fraglichen Rechtsnorm offenkundig ist. Auf das Erfordernis der Gewissheit übereinstimmender Auslegung durch den EuGH und durch andere mitgliedstaatliche Gerichte wird somit verzichtet.
__________ 64 Schlussanträge GA Colomer (Fn. 33), Rz. 52 mit Bezug auf Auslegungsvorlagen; die Entscheidung des EuGH betrifft jedoch eine Gültigkeitsvorlage (dazu oben Fn. 18), die in den Schlussanträgen gesondert gewürdigt wird (vgl. Rz. 60 ff.). 65 EuGH (Fn. 32) Gaston Schul, Rz. 16. 66 EuGH (Fn. 32) Gaston Schul, Rz. 16 mit Bezug auf EuGH (Fn. 5) Intermodal Transports, Rz. 33; v. 17.1.2001, Rs. C-340/99, TNT Traco, EUGHE 2001, I-4109, Rz. 35; v. 30.9.2003, Rs. C-224/01, Köbler, EUGHE 2003, I-10239, Rz. 118. 67 Vgl. EuGH v. 11.9.2008, Rs. C-428/06, Unión General, EUGHE 2008, I-6747, Rz. 42; EuGH (Fn. 33) ASM Brescia, Rz. 18; EuGH (Fn. 33) Pedro IV Services, Rz. 28. 68 Artikel 104 § 3 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. 69 EuGH (Fn. 67); vgl. mit gleichem Bezug EuGH v. 19.2.2009, Rs. C-62/08, UDV North America, EUGHE 2009, I-1279, Rz. 28: „Da die Beantwortung der vorgelegten Fragen keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt …“. 70 Nr. 12 der Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte Abl. 2009/297/01; siehe bereits inhaltsgleich Abl. 2005/143/01.
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Die Vorlagepflicht an den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren
III. Die Vorlagepraxis des BFH Die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH spiegelt sich in der Entscheidungspraxis des BFH71. 1. Bezugnahme auf Vorentscheidungen des EuGH Soweit der BFH eine Vorlagepflicht an den EuGH verneint, bezieht er sich trotz erheblichen Wandels der EuGH-Rechtsprechung72 noch im Jahre 2010 ausdrücklich auf die CILFIT-Entscheidung73, obwohl er diese Vorgaben mittlerweile, übereinstimmend mit dem EuGH, weniger streng handhabt. Üblich ist die an die jeweilige Bewertung bereits vorhandener EuGH-Rechtsprechung anknüpfende Folgerung, dass die Gemeinschaftsrechtslage „eindeutig“74, „zwischenzeitlich eindeutig“75 oder auch „offenkundig“76 sei, wobei sich diese Formulierungen auch in Entscheidungen finden, in denen sich der BFH nicht ausdrücklich auf bereits bestehende Rechtsprechung des EuGH beruft77. In manchen Entscheidungen bekräftigt der BFH den jeweiligen Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH, indem er ergänzt, dass sich die Gemeinschaftsrechtslage auch „zweifelsfrei (erg.: bereits) aus dem EG-Vertrag“ ergebe78. Derartige Bezugnahmen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vorgaben des EuGH zu ähnlichen, aber eben nicht identischen Auslegungsfragen eine oft schwierige Bewertung der EuGH-Rechtsprechung erfordern79. Ein wichtiges Beispiel für das Problem zutreffender Auslegung des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts durch innerstaatliche Gerichte bildet die Entscheidung des BFH zur „Schachtelstrafe“ nach § 8b Abs. 5 KStG 2002 bei Drittlandssachverhalten80. Konkret ging es um die Frage der Übertragbarkeit von EuGH-Rechtsprechung bei der Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Nie-
__________
71 Zur Statistik siehe oben I bei Fn. 3. 72 Vgl. oben II.2. 73 Vgl. BFH v. 30.3.2010 – VII R 35/09, BFH/NV 2010, 1390; v. 3.2.2010 – I R 23/09, IStR 2010, 370; v. 1.12.2009 – VII R 48/08, BFH/NV 2010, 770; v. 10.11.2009 – VII R 39/08, BFHE 227, 546; v. 28.10.2009 – I R 27/08, BFHE 227, 73; v. 21.10.2009 – I R 114/08, BFHE 227, 64; v. 22.4.2009 – I R 53/07, BFHE 224, 556; v. 27.11.2008 – V R 8/07, BFHE 223, 520; v. 28.10.2008 – VII R 6/08, BFHE 223, 280; v. 20.6.2008 – VII B 251/07, BFHE 221, 366; v. 29.1.2008 – I R 85/06, BFHE 220, 398. 74 BFH v. 30.3.2010 (Fn. 73); BFH v. 3.2.2010 (Fn. 73); BFH v. 1.12.2009 (Fn. 73); BFH v. 10.11.2009 – VII R 39/08, BFHE 227, 546; BFH v. 28.10.2009 (Fn. 73). 75 BFH v. 29.1.2008 (Fn. 73); BFH v. 7.11.2007 – I R 41/05, BFHE 219, 549; v. 22.8.2007 – I R 46/02, BFHE 218, 385; v. 24.4.2007 – I R 39/04, BFHE 218, 89; v. 9.8.2006 – I R 50/05, BFHE 215, 93. 76 BFH v. 5.4.1990 – VII R 50/88, BFH/NV 1991, 204; v. 18.7.1989 – VII R 22/87, BFH/NV 1990, 336; v. 16.4.1985 – VII R 61/82, BFHE 144, 86; v. 3.4.1984 – VII R 12/78, BFHE 141, 73. 77 Dazu unten III.2. 78 BFH v. 22.4.2009 (Fn. 73); BFH v. 26.11.2008 – I R 7/08, BFHE 224, 50; BFH v. 9.8.2006 (Fn. 75); v. 9.8.2006 – I R 95/05, BFHE 214, 504; v. 13.6.2006 – I R 78/04, BFHE 215, 82; v. 9.11.2005 – I R 27/03, BFHE 211, 493; v. 23.2.1988 – VII R 31/86, BFHE 152, 382. 79 Vgl. oben II. 80 BFH v. 26.11.2008 – I R 7/08, BFHE 224, 50.
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derlassungsfreiheit von dem der Kapitalverkehrsfreiheit81. Da der EuGH über diese Abgrenzungsfrage im speziellen Kontext des § 8b Abs. 5 KStG 2002 zum Zeitpunkt der BFH-Entscheidung weder im innergemeinschaftlichen noch im Drittstaatskontext entschieden hatte, war der BFH auf eine zweistufige Begründung seiner Nichtvorlageentscheidung angewiesen. Zum einen konnte er sich zwar auf eigene Vorentscheidungen82 berufen, in denen er „im Anschluss an die einschlägigen Entscheidungen des EuGH“83 einen Verstoß der Fiktion von Betriebsausgaben und des damit zusammenhängenden Abzugsverbots gegen die Niederlassungsfreiheit und gegen die Kapitalverkehrsfreiheit festgestellt hatte84. Darauf aufbauend, musste er aber sodann den Anwendungsbereich der genannten Grundfreiheiten im Drittstaatskontext bestimmen und abgrenzen. Soweit der BFH den Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit auch in dem ihm vorliegenden Beherrschungsfall mit der Begründung eröffnet, dass § 8b Abs. 5 KStG 2002 neben dem Beherrschungsfall auch den Streubesitzfall erfasst85, trifft seine Auffassung auf Kritik86. In der Tat ist die Begründung des Senats, er erachte die Gemeinschaftsrechtslage „in Anbetracht des zwischenzeitlich erreichten Standes der Rechtsprechung des EuGH als eindeutig …“87, im Licht der späteren Entscheidung des EuGH im Fall KBCBank88 problematisch. Diese Entscheidung kann nämlich durchaus in dem Sinn verstanden werden, dass die Kapitalverkehrsfreiheit im Fall von Beherrschungsverhältnissen auch dann durch die Niederlassungsfreiheit verdrängt wird, wenn die Anwendbarkeit der innerstaatlichen Norm nicht vom Umfang der Beteiligung abhängt89. Das Beispiel belegt neben anderen Entscheidungen90
__________ 81 Grundlegend zum Drittstaatsbezug Schön in FS Wassermeyer, 2005, S. 489 ff. 82 BFH (Fn. 80), 52; v. 13.6.2006 (Fn. 78); v. 9.8.2006 – I R 50/05 (Fn. 75); v. 9.8.2006 – I R 95/05 (Fn. 78). 83 BFH (Fn. 80), 52 unter Berufung auf EuGH v. 18.9.2003, Rs. C-168/01, Bosal, EuGHE 2003, I-9409 und auf EuGH v. 23.2.2006, Rs. C-471/04, Keller Holding, EuGHE 2006, I-2107. 84 Vgl. dazu kritisch Rust, DStR 2009, 2568, (2570 f.); Benecke, IStR-LB 13/2009, 49; Mitschke, FR 2009, 898 (900, 902); Zorn, IStR 2010, 190; zustimmend Völker, IStR 2009, 705; Tippelhofer, IWB Nr. 11 v. 10.6.2009, Gruppe 1, Fach 3A, S. 1115; Dörfler/ Ribbrock, BB 2009, 1515; Rehm/Nagler, IStR 2009, 247. 85 BFH v. 26.11.2008 (Fn. 80), S. 53 f. 86 Rust, DStR 2009, 2568 (2570 f.); Benecke, IStR-LB 13/2009, 49; Mitschke, FR 2009, 898 (900, 902); Zorn, IStR 2010, 190 ff. 87 BFH v. 26.11.2008 (Fn. 80), S. 57. 88 EuGH v. 4.6.2009, Rs. C-439/07, C-499/07, KBC-Bank, IStR 2009, 494, Rz. 67 ff. 89 Vgl. zu den unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten einerseits Rust, DStR 2009, 2568 (2571) dort Fn. 36; Benecke, IStR-LB 13/2009, 49; andererseits Völker, IStR 2009, 705 ff. 90 BFH v. 11.6.1997 – X R 74/95, BFHE 183, 436; v. 23.7.1997 – X R 49/96, juris DokNr. STRE975100560 und X R 135/96, juris DokNr. STRE975100660 zur Abzugsfähigkeit von Schulgeld für den Besuch ausländischer Schulen; dazu kritisch Meilicke, BB 2000, 17 (19 f.); Herzig/Dautzenberg, DB 1997, 8 (13), dort Fn. 25; und später EuGH v. 11.9.2007, Rs. C-76/05, Schwarz und Gootjes-Schwarz, EuGHE 2007, I-6849; v. 11.9.2007, Rs. C-318/05, Kommission/Deutschland, EuGHE 2007, I-6957; BFH v. 17.12.1997 – I B 108/97, BFHE 185, 30 zur Gemeinschaftsrechtskonformität von § 6 I AStG, dazu kritisch Hertzig/Dautzenberg, DB 1997, 10 ff.; Meilicke, BB 2000, 17 (18).
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Die Vorlagepflicht an den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren
die Schwierigkeit, Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht durch Bezug auf Präzedenzentscheidungen des EuGH zu ähnlichen Auslegungsfragen auszulegen. Steuerrechtliche Nichtvorlageentscheidungen mit der Begründung, dass eine spezielle Auslegungsfrage bereits „Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH“ gewesen sei, sind trotz des erreichten Integrationsstandes selten91. Ein Musterbeispiel bildet die Entscheidung des BFH zur Vereinbarkeit der Bananenmarktordnung mit dem GATT 199492. Die Nichtvorlage mit der Begründung, die Rechtsprechung des EuGH93 sei insoweit „klar und eindeutig und, wenn nicht überzeugend, so doch allemal nachvollziehbar begründet94“, lag in diesem Fall, der allerdings eine Gültigkeitsfrage betraf95, auf der Hand. 2. Fehlen von Vorentscheidungen des EuGH Die Fälle, in denen mitgliedstaatliche Gerichte mangels relevanter EuGHRechtsprechung vollständig auf eigene Auslegung angewiesen bleiben, sind aufgrund des heute erreichten Standes der Integration seltener geworden. Die strengen CILFIT-Vorgaben96 der Gewissheit einer sowohl mit dem EuGH als auch mit den anderen mitgliedstaatlichen Gerichten übereinstimmenden Auslegung97 werden vom BFH vor allem in seinen neueren, etwa ab 2005 zu datierenden Entscheidungen auch im Bereich fehlender Vorentscheidungen des EuGH weitgehend ignoriert. Überwiegend begnügt sich der BFH mit Hinweisen auf „Zweifelsfreiheit“98 und dem Ausdruck der Auffassung, die Gemeinschaftsrechtslage sei „offenkundig“99 bzw. „eindeutig“100. Eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Rechtslage in anderen Mitgliedstaaten zur Bekräftigung dieser Auffassungen unterbleibt in den neueren Entscheidungen101. Nur
__________ 91 92 93 94 95 96 97 98 99
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BFH v. 23.2.2010 – VII R 8/08, BFH/NV 2010, 1381. BFH v. 23.2.2010 (Fn. 91). EuGH v. 2.5.2001, C-307/99, OGT Fruchthandelsgesellschaft, EuGHE 2001, I-3159. BFH v. 23.2.2010 (Fn. 91), S. 1384. Siehe die Nachw. zur Unterscheidung zwischen Auslegungs- und Gültigkeitsvorlagen in Fn. 18. Siehe oben II. bei Fn. 24 ff. Siehe oben II. bei Fn. 28 ff. BFH v. 27.10.2009 – VII R 26/08, BFHE 227, 281; v. 5.10.2009 – VII B 254/08, BFH/NV 2010, 266; v. 12.6.2008 – VII B 223/07, BFH/NV 2008, 1716; v. 25.6.2009 – IX R 73/07, BFH/NV 2009, 1802; v. 12.6.2008 – VII B 223/07, BFH/NV 2008, 1716. BFH v. 8.7.2004 – VII R 60/03, BFH/NV 2005, 84; v. 30.7.2003 – VII R 34/01, BFH/NV 2004, 538; v. 18.12.2001 – VII R 78/00, BFH/NV 2002, 690; v. 9.10.2001 – VII R 47/00, BFH/NV 2002, 555; v. 24.4.2001 – VII R 114/99, BFHE 195, 466; v. 21.11.2000 – VII R 13/99, BFHE 193, 245. BFH v. 9.6.2009 – VII B 182/08, BFH/NV 2009, 1681; v. 17.3.2009 – VII R 17/07, BFHE 224, 379; v. 6.8.2007 – VII B 303/05, BFH/NV 2007, 2375; v. 14.3.2007 – VII B 217/06, BFH/NV 2007, 1381; v. 8.8.2006 – VII R 19/05, BFH/NV 2007, 515; v. 8.8.2006 – VII R 20/05, BFHE 215, 406. BFH v. 27.10.2009 (Fn. 98); v. 5.10.2009 (Fn. 98); v. 25.6.2009 (Fn. 98); v. 9.6.2009 (Fn. 100); v. 17.3.2009 (Fn. 100); v. 12.6.2008 (Fn. 98); v. 6.8.2007 (Fn. 100); v. 8.8.2006 (Fn. 100).
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ausnahmsweise dient der Bezug auf Rechtsprechung anderer Mitgliedstaaten als Argumentationshilfe zur Begründung einer die Vorlage ablehnenden Entscheidung102. Auch in älteren Entscheidungen führt der BFH von wenigen Ausnahmen tiefgründiger Auseinandersetzung abgesehen103, überwiegend nur standardisiert und formelhaft aus, er sei davon überzeugt, „dass für die Gerichte in anderen Mitgliedstaaten und für den EuGH die gleiche Gewissheit bestünde“104 oder „dass der EuGH und die Gerichte in anderen Mitgliedstaaten im Streitfall wie der Senat entscheiden würden“105. Die vom EuGH betonte Gefahr abweichender Entscheidungen in den Mitgliedstaaten106 erwähnt der BFH nur zur Begründung der Erforderlichkeit einer Vorlage107.
IV. Entwicklungslinien Auch in dem mittlerweile sehr großen Bereich der grundlegenden und der speziellen Aussagen des EuGH zur Relevanz der Grundfreiheiten für das Recht der direkten Steuern108 gibt es neben Klarheit auch Unklarheit. Klarheit im Prinzipiellen und in vielen Einzelfragen besteht im Bereich der Grenzgängerbesteuerung in Gestalt eines aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit abgeleiteten grundsätzlichen Gebots, beschränkt und unbeschränkt Steuer-
__________ 102 BFH v. 7.3.2006 – VII R 23/04, BFHE 212, 321; v. 7.3.2006 – VII R 24/04, BFHE 213, 473; v. 7.3.2006 – VII R 30/04, BFH/NV 2006, 1717. 103 Vgl. BFH v. 23.10.1985 – VII R 107/81, BFHE 145, 266; v. 3.5.1983, VII K 13/81, BFHE 138, 280. 104 BFH v. 8.7.2004 (Fn. 99); BFH v. 30.7.2003 (Fn. 99); BFH v. 9.10.2001 (Fn. 99); BFH v. 24.4.2001 (Fn. 99); BFH v. 21.11.2000 (Fn. 99); v. 14.11.2000 – VII R 83/99, BFH/NV 2001, 499; v. 9.5.2000 – VII R 61/98, BFH/NV 2000, 1508; v. 9.5.2000 – VII R 14/99, BFH/NV 2001, 72; v. 14.12.1999 – VII R 38/98, BFH/NV 2000, 763; v. 19.1.1999 – VII R 24/98, BFHE 188, 222; v. 25.2.1997 – VII R 60/96, BFH/NV 1997, 915; v. 2.4.1996 – VII R 119/94, BFHE 180, 231; v. 11.10.1994, V R 139/93, BFH/NV 1995, 933; v. 24.8.1994 – XI R 94/92, BFHE 176, 78; v. 14.12.1993 – VII R 45/93, BFHE 173, 280. 105 BFH v. 12.12.2002, VII R 43/01, BFHE 200, 468; v. 21.11.2002, VII R 21/01, BFHE 200, 458. 106 Vgl. die Nachw. in Fn. 6. 107 BFH v. 17.5.2001 – V R 34/99, BFHE 194, 544; v. 22.2.2001 – V R 26/00, BFHE 194, 510; v. 21.4.1994 – V R 122/91, BFHE 174, 473; vgl. auch BFH v. 10.8.1993 – V B 201/91, BFH/NV 1994, 250; v. 10.8.1993 – V 198/91, BFHE 172, 187. 108 Vgl. grundlegend Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002; aus neuerer Zeit vgl. die Beiträge in J. Malherbe/P. Malherbe/I. Richelle/ E. Traversa (Hrsg.), Direct Taxation in the Case-Law of the European Court of Justice, 2008; Kruthoffer-Röwekamp (Hrsg.), Die Rechtsprechung des EuGH in ihrer Bedeutung für das nationale und internationale Recht der direkten Steuern, 2010; Lang/Pistone/Schuch/Staringer (Hrsg.), ECJ – Recent Developments in Direct Taxation 2009, 2010; Amler, Direkte Steuern, EG-Grundfreiheiten und die deutsche Unternehmensteuerreform, 2009; Lang, Die Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern – Welcher Spielraum bleibt den Mitgliedstaaten, 2007; im abkommensrechtlichen Kontext Lehner in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einleitung Rz. 257 ff.
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Die Vorlagepflicht an den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren
pflichtige bei gleichen Einkommensverhältnissen gleich zu behandeln109. Auch ein grundsätzliches Gebot der Nettobesteuerung110, verbunden mit grundlegenden Aussagen zum Territorialitätsprinzip111 bestätigen den hohen Entwicklungsstand der Rechtsprechung des EuGH, aber auch den Stand der gemeinschaftskonformen Gesetzgebung und der gemeinschaftskonformen Rechtsprechung in den Mitgliedstaaten. Andererseits gibt es nach wie vor gravierende europarechtliche Unklarheiten bzw. unbefriedigende Lösungen, etwa im Bereich des Anwendungsbereichs der Kapitalverkehrsfreiheit bei Drittlandssachverhalten112, der grenzüberschreitenden Verlustberücksichtigung113, des Umwandlungssteuerrechts114 und des steuerlich relevanten Beihilfenrechts115. Schließlich gibt es noch keine Entscheidung des EuGH, in der er die Gemeinschafts- bzw. Unionsrechtswidrigkeit der juristischen Doppelbesteuerung festgestellt hat116. Vor dem Hintergrund dieses Befundes erscheint es trotz berechtigter Kritik an den strengen CILFIT-Erfordernissen117 problematisch, dass der EuGH das Kri-
__________
109 Grundlegend EuGH v. 14.2.1995, Rs. C-279/93, Schumacker, EuGHE 1995, I-225; grundlegend zu dieser Rechtsprechung Mikolaschek/Friedrich, WiB 1995, 390; Schön, IStR 1995, 119; Müller, DStR 1995, 585; Rädler, DB 1995, 793; Kischel, IStR 1995, 368; Dautzenberg, BB 1995, 2397; Thömmes/Schön, JbFfSt 1996/1997, 95; Lang, RIW 2005, 336. 110 EuGH v. 12.6.2003, Rs. C-234/01, Gerritse, EuGHE 2003, I-05933; v. 3.10.2006, C-290/04, Scorpio, EuGHE 2006, I-9461; EuGH v. 15.2.2007, Rs. C-345/04, Centro Equestre, EuGHE 2007, I-01425; EuGH (Fn. 83) Bosal; EuGH (Fn. 83) Keller Holding, EuGH v. 12.12.2002, Rs. C-324/00, Lankhorst-Hohorst, EuGHE 2002, I-11779; EuGH v. 8.7.2004, Rs. C-286/95, ICI, EuGHE 2004, I-6469; v. 16.7.2009, Rs. C-254/08, Futura, ZUR 2009, 608; v. 13.12.2005, Rs. C-446/03, Marks & Spencer, EuGHE 2005, I-10837; v. 29.3.2007, Rs. C-347/04, Rewe Zentralfinanz, EuGHE 2007, I-2647; v. 15.5.2008, Rs. C-414/06, Lidl-Belgium, EuGHE 2008, I-3601; zu einer diesbezüglichen Prinzipienbildung durch den EuGH: Dourado (Fn. 35), S. 40 ff. 111 EuGH v. 11.8.1995, Rs. C-80/94, Wielockx, EuGHE 1995, I-2493; v. 28.4.1998, Rs. C-118/96, Safir, EuGHE 1998, I-1897; EuGH (Fn. 110) Lankhorst-Hohorst; v. 13.3.2007, Rs. C-524/04, Thin Cap Group Litigation, EuGHE 2007, I-2107; v. 7.9.2004, Rs. C-319/02, Manninen, EuGHE 2004, I-7477; v. 6.3.2007, Rs. C-292/ 04, Meilicke, EuGHE 2007, I-1835; v. 12.9.2006, Rs. C-196/04, Cadbury Schweppes, EuGHE 2006, I-7995; v. 11.3.2004, Rs. C-9/02, Lasteyrie du Saillant, EuGHE 204, I-2409; vgl. dazu Lehner in FS Wassermeyer (Fn. 81), S. 241 (252 ff.). 112 Vgl. Fn. 86, 89. 113 Schön in JbFfSt (2009/2010), S. 56 ff.; Knipping, IStR 2010, 49 ff.; Braunagel, IStR 2010, 163 ff.; Eisenbarth/Hufeld, IStR 2010, 309 ff.; Cordewener, IWB Nr. 7 v. 8.4.2009, Fach 11 Gruppe 2, S. 959 ff.; Englisch, IStR 2008, 404 ff.; Tiedtke/Mohr, DStZ 2008, 430 ff.; Kube, IStR 2008, 305 ff.; Thömmes, IWB Nr. 11 v. 11.6.2008, Fach 11a, S. 1185 ff. 114 Campos Nave, BB 2009, 870 ff.; Leibel/Hoffmann, BB 2009, 58 ff.; Otte/Rietschel, GmbHR 2009, 983 ff.; Meilicke, GmbHR 2009, 92 ff.; Thümmel/Hack, Der Konzern 2009, 1 ff.; Beiser, RdW 2009, 113 ff.; Graw, FR 2009, 838 ff. 115 De Weerth, DB 2010, 1205 ff.; ders. IStR 2010, 172 ff.; ders., IStR 2008, 732 ff.; Glaser, EuZW 2009, 363 ff.; Linn, IStR 2008, 601 ff.; König/Rief in FS Nolz, 2008, S. 83 ff.; Grabner/Bayer in FS Nolz, 2008, S. 395 ff. 116 Vgl. EuGH v. 16.7.2009, Rs. C-128/08, Jaques Damseaux, IStR 2009, 622; v. 12.2. 2009, Rs. C-67/08, Margarete Block, EuGHE 2009, I-883; a. A. Lehner (Fn. 108), Rz. 264 f. 117 Siehe oben II.1.
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Moris Lehner
terium der Gewissheit einer sowohl mit seiner eigenen Rechtsprechung als auch mit den mitgliedstaatlichen Gerichten übereinstimmenden Auffassung des über die Notwendigkeit einer Vorlage entscheidenden mitgliedstaatlichen Gerichts als Voraussetzung für eine Nichtvorlage118 mittlerweile ganz aufgegeben hat119. Während dieses Erfordernis der Gewissheit richtiger Anwendung des Gemeinschaftsrechts sowohl auf den EuGH als auch auf die Auffassung anderer mitgliedstaatlicher Gerichte bezogen war, erscheint das in der neueren Rechtsprechung nicht mehr näher konkretisierte Erfordernis zweifelsfreier Offenkundigkeit allein auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs und nicht mehr auch auf andere mitgliedstaatliche Gerichte bezogen. Der Blick auf die Rechtsauffassungen anderer Mitgliedstaaten ist also nicht mehr Teil der Voraussetzungen für den Verzicht auf eine Vorlage, zumindest wird er in der neueren Rechtsprechung des EuGH nicht mehr gefordert120. 1. Kooperation zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten als unionsrechtliche Zielsetzung Die vom EuGH in ständiger Rechtsprechung zum Vorabentscheidungsverfahren geforderte „Zusammenarbeit“ bzw. „Kooperation“ mit dem Gerichtshof ist auch nach Abmilderung der CILFIT-Kriterien121 Voraussetzung für die ordnungsgemäße Anwendung und einheitliche Auslegung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten122. Diese Zusammenarbeit darf aber nicht jeweils nur bipolar auf das Verhältnis zwischen dem über die Notwendigkeit einer Vorlage entscheidenden mitgliedstaatlichen Gericht und dem EuGH beschränkt bleiben. Nicht herstellbare Gewissheit einer mit anderen mitgliedstaatlichen Gerichten übereinstimmenden Auffassung im Sinne der CILFIT-Erfordernisse123 darf, auch wegen der nur eingeschränkten Überprüfbarkeit von Nichtvorlageentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht124, nicht zu einer Gefährdung des Zieles einheitlicher Auslegung des Unionsrechts125 führen. Die den mitgliedstaatlichen Gerichten obliegende Aufgabe, innerstaatliches Recht europarechtskonform anzuwenden und fortzubilden, muss deshalb bereits vor einer etwaigen Befassung des EuGH auf einer unionsrechtlich gemeinsamen Kooperationsebene der mitgliedstaatlichen Gerichte angegangen werden. Der Boden für ein derart multilaterales Zusammenwirken ist bereitet: Im Bereich des Rechts der direkten Steuern sind grundlegende, in allen Mitgliedstaaten
__________ 118 119 120 121 122 123 124
EuGH (Fn. 5) CILFIT, Rz. 16. Dazu oben II.2. Vgl. die Nachw. in Fn. 67. Vgl. oben II.2. Vgl. die Nachw. in Fn. 33. Dazu Fn. 28 und oben II.1. bei Fn. 37 ff. Vgl. die Nachw. in Fn. 43; zu den Möglichkeiten eines Vertragsverletzungsverfahrens und zu Restitutionsmöglichkeiten bei Verstoß gegen die Vorlagepflicht EuGH (Fn. 66) Köbler, Rz. 51 ff.; v. 13.6.2006, Rs. C-173/03, Traghetti, EuGHE 2006, I-5177, Rz. 24 ff.; dazu Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (637 ff.); Roth, NVwZ 2009, 345 (352); Dourado (Fn. 35), S. 13, 15. 125 Vgl. die Nachw. in Fn. 6 f.
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Die Vorlagepflicht an den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren
gleichermaßen verbindliche Grundprinzipien der Besteuerung, ganz wesentlich Ergebnisse der Rechtsprechung mitgliedstaatlicher Finanz- und Verfassungsgerichte126. Ein Bemühen der mitgliedstaatlichen Gerichte um Entscheidungsharmonie kann die Verwirklichung dieser Zielsetzungen fördern. 2. Das Gebot der Entscheidungsharmonie als unionsrechtliches Kooperationsmodell Im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, Doppelbesteuerungsabkommen in den jeweiligen Vertragsstaaten einheitlich auszulegen, hat sich im Internationalen Steuerrecht in Anlehnung an Vorgaben aus dem IPR127 ein Gebot der Entscheidungsharmonie entwickelt128. Entscheidungsharmonie bedeutet, dass Gerichte und gegebenenfalls auch Behörden eines Staates, einschlägige Rechtsprechung aus anderen Staaten zur Kenntnis nehmen und sich damit auseinandersetzen, um nach Möglichkeit, also ohne unmittelbare Verpflichtung, zu ähnlichen Auslegungsergebnissen zu kommen129. Im Bereich des Abkommensrechts ist internationale Entscheidungsharmonie wegen vielfältiger Übereinstimmung der Vertragspraxis mit dem OECD-Musterabkommen erleichtert130. Im Unionsrecht gibt es derartige Abstimmung außerhalb des harmonisierten Bereichs zwar nicht, andererseits ist das Unionsrecht im Gegensatz zum OECD-Musterabkommen131 zwingendes Recht, das in allen Mitgliedstaaten beachtet werden muss132. Im Hinblick auf die Bedeutung, die das Unionsrecht für das innerstaatliche Recht aller Mitgliedstaaten hat, sollte es jedoch in Fällen ähnlichen innerstaatlichen Steuerrechts, zumindest aber in Fällen ähnlicher innerstaatlicher Besteuerungsprinzipien133 für innerstaatliche Gerichte nahe liegen, die unionsrechtliche Bewertung von vergleichbarem innerstaatlichem Recht durch Gerichte anderer Mitgliedstaaten bei der eige-
__________ 126 Vgl. BVerfG v. 15.7.1969, BVerfGE 26, 327 (337); BVerfG v. 8.10.1996, BVerfGE 95, 48 (62); Ossenbühl in FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 33; Vogel, Verfassungsrechtsprechung zum Steuerrecht, 1999, S. 1 ff.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung III, 1993, S. 1476 ff., 1484 ff.; zum ausländischen Recht Dourado (Fn. 35), S. 28 ff. 127 Vgl. Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, S. 36 ff.; Linke, Internationales Zivilprozessrecht, 4. Aufl. 2006, S. 16 f. 128 Vgl. Vogel in Vogel/Lehner (Fn. 108), Einleitung Rz. 113 ff.; ders., StuW 1982, 111 (119 ff.); ders. in FS Flick, 1997, S. 1043 ff.; Mössner in FS Seidl-Hohenveldern, 1988, S. 403 (406 ff.); Reimer, IStR 2008, 551 ff.; Strobl in FS Döllerer, 1988, S. 635 (645 f.); Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl. 1998, S. 782 f.; Hahn in FS Wassermeyer (Fn. 81), S. 631 ff.; Wassermeyer, IStR 2010, 461 (465); zu vergleichbaren Bemühungen aus anderen Rechtsbereichen Canaris, JZ 1987, 543 (549 ff.); Sunstein, A Constitution of Many Minds, 2009, S. 187 ff. („What Other Nations Do“); vgl. auch die Beiträge in Dunoff/Trachtmann (Hrsg.), Ruling the World? Constitutionalism, International Law and Global Governance, 2009. 129 Vgl. die Nachw. in Fn. 128. 130 Zur Rechtspraxis vgl. Vogel (Fn. 128), Einleitung Rz. 115 ff. 131 Vogel (Fn. 128), Einleitung Rz. 1: „abgeschwächte Verpflichtung“ der Mitgliedstaaten. 132 Vgl. nur Streinz in Streinz (Fn. 1), Art. 1 EGV Rz. 19 ff. 133 Vgl. die Nachw. bei Dourado (Fn. 35), S. 38 ff.
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Moris Lehner
nen Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Dies gilt vor allem in Fällen, in denen nicht harmonisiertes innerstaatliches Steuerrecht noch keine unionsrechtliche Beurteilung durch den EuGH erfahren hat. Im Bereich des Abkommensrechts bemüht sich der Bundesfinanzhof bereits ausdrücklich um Entscheidungsharmonie in diesem Sinne134, ebenso einige Finanzgerichte135. Mit dem Ziel einer möglichst übereinstimmender Beurteilung der Unionsrechtskonformität originär innerstaatlichen Steuerrechts könnte das Bemühen um Entscheidungsharmonie zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichten auch für Vorabentscheidungsersuchen fruchtbar gemacht werden. Der EuGH wiederum würde mit Gewinn für die eigene Rechtsprechung erfahren, wie die mitgliedstaatlichen Gerichte ihre Kooperationsverantwortung verstehen, die er ihnen im Vorabentscheidungsverfahren in ständiger Rechtsprechung ausdrücklich überträgt136.
__________ 134 BFH v. 28.4.2010 – I R 81/09, DStR 2010, 1220 Rz. 23: „im Grundsatz angestrebte Entscheidungsharmonie“; v. 2.9.2009 – I R 90/08, BFHE 226, 267 (272): „es gilt der Grundsatz der Entscheidungsharmonie“; v. 10.8.2006 – II R 59/05, BFHE 214, 518 (532); v. 17.11.1999 – I R 7/99, BFHE 191, 18 (22); v. 24.3.1999 – I R 114/97, BFHE 188, 315 (322); noch offen gelassen in BFH v. 9.10.1985 – I R 128/80, BFHE 145, 341 (348). 135 FG München v. 30.7.2009 – 1 K 1816/09, EFG 2009, 1954 (1956); FG Hamburg v. 2.9.2003 – VII 196/00, EFG 2004, 86 (89); Nieders. FG v. 14.5.1991 – VI 676/89, RIW 1991, 963 (964); FG Rheinl. Pfalz v. 11.4.1989 – 2 K 75/85, EFG 1990, 159 (162). 136 Vgl. die Nachw. in Fn. 6 u. 33.
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Wilfried Wagner
Wie gehen EuGH und BFH mit Rückwirkung und Rückwirkungsverboten bei Änderungen im Umsatzsteuerrecht um? Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Rückwirkungsverbote im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem gegen rückwirkende Festsetzungsänderungen nach nationalem Verfahrensrecht III. Keine Rückwirkung der Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts auf dessen Entstehungszeitpunkt IV. Unzulässige Rückwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Ermächtigung und des deutschen Ausführungsgesetzes zum 50 %-Vorsteuerabzug für Fahrzeuge 1. Das Verfahren Sudholz 2. Gerichtliche Verwerfungskompetenz für gemeinschaftsrechtswidrige Normen
V. BFH-Rechtsprechung zu gesetzlich angeordneter Rückwirkung von Änderungen des UStG VI. Rückwirkende Anwendung von Änderungen des UStG durch Verwaltungsbestimmungen und Rechtsprechung 1. Begrenzung der Rückwirkung von Neuregelungen gegen das „SeelingModell“ 2. Anwendung der Neuregelung der Vorsteuerberichtigung für Repräsentationsaufwendungen als Übergangsregelung auf „Altfälle“ VII. Zusammenfassung
I. Vorbemerkung Wolfgang Spindler hat sich in zwanzig Jahren revisionsrichterlicher Tätigkeit entschieden gegen unangemessene Rückwirkung hoheitlichen Handelns im Steuerrecht – in erster Linie im besonders gefährdeten Ertragsteuerrecht – eingesetzt. Und dass er im letzten Jahrzehnt als Vizepräsident und als Präsident des BFH zu diesem Thema nicht als bloßer Sonntagsredner auftrat, lässt sich wohl anhand der Reihe von Vorlagen an das Bundesverfassungsgericht zur Prüfung der Rückwirkungsfragen1 belegen, die nicht zuletzt auf seinen Einsatz zurückgehen2.
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1 Z. B. BFH v. 16.12.2003 – IX R 46/02, Vorlage an das BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der rückwirkenden Verlängerung der Spekulationsfrist für private Grundstücksveräußerungsgeschäfte, BVerfG-Verfahren 2 BvL 2/04; v. 2.8.2006 – XI R 30/03 zur rückwirkend verschärften Besteuerung von Entlassungsentschädigungen, BVerfG-Verfahren: 2 BvL 57/06. Allerdings passt die Dauer dieser Verfahren ebenso wenig zum Erfordernis der steuerlichen Planungssicherheit für die betroffenen Bürger wie das Thema selbst. Immerhin hat das BVerfG (knapp vor dem Ablauf der Amtszeit von Wolfgang Spindler) die Vorlagesachen gebündelt mit Beschlüssen des Zweiten Senats
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Wilfried Wagner
Abseits des Ertragsteuerrechts, bei der Umsatzsteuer als der immerhin aufkommensstärksten Steuer, findet man dagegen keine derartigen richterlichen Anläufe des BFH zum BVerfG zur Prüfung rückwirkender Gesetzgebung. Fehlende Verfassungsgerichtsverfahren dürfen aber nicht darüber hinweg täuschen, dass auch dieses Rechtsgebiet nicht von rückwirkenden Regelungen frei ist. Bei der großen Zahl einzelner Gesetzesänderungen ist nicht jeder Geltungsbeginn unproblematisch, auch wenn Übergangsfragen bei den Gesetzesänderungen meist klarer geregelt werden. Wenn die Rechtsprechung gleichwohl mit Rückwirkungsproblemen befasst wird, ergibt sich regelmäßig ein anderer Instanzenweg. Denn als harmonisiertes Unionsrecht sind nationale umsatzsteuerrechtliche Gesetzgebungsakte in erster Linie auf die Einhaltung der maßgebenden Vorgaben des Unionsrechts zu prüfen. Für die Auslegung des Unionsrechts ist aber als „letzte Instanz“ nicht das nationale BVerfG, sondern der Gerichtshof der Europäischen Union3 zuständig. Auf dessen Prüfstand hat der BFH mehrfach die Zulässigkeit „rückwirkender“ Anwendung sowohl gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen als auch nationaler Umsatzsteuervorschriften gebracht. Vergleicht man die Grundsätze, mit der die nationale Rechtsprechung (insbes. die verfassungsgerichtliche) und die gemeinschaftsrechtliche des EuGH die Fragen der Zulässigkeit rückwirkender Steuergesetzgebung zu lösen versuchen, lässt sich ein Ergebnis vorwegnehmen: Im Kern gleichen sich die Ansätze. Es geht um die Gewährung von Vertrauensschutz. Der Unterschied zeigt sich m. E. in der Anwendung der Grundsätze: Der EuGH gewährt Vertrauensschutz anhand kurzer Erläuterungen der Voraussetzungen, die verfassungsgerichtliche nationale Rechtsprechung erläutert umfangreich und bis an die Grenze der Verständlichkeit Begriffe und Hilfsbegriffe wie echte Rückwirkung (Rückbewirkung von Rechtsfolgen) und unechte Rückwirkung (tatbestandliche Rückanknüpfung), hält sich aber bei der Gewährung von Vertrauensschutz nach diesen Grundsätzen ersichtlich zurück. Die Ähnlichkeit der Ansätze wird jedenfalls erkennbar, wenn man die national-rechtlichen Grundsätze in der prägnanten Zusammenfassung von Lang in Tipke/Lang4 liest: „Die Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung gewährt also nur einen unterschiedlichen, im Falle echter Rückwirkung höheren Grad des Vertrauensschutzes.“ Das bisherige Entscheidungsbild zum gemeinsamen Mehrwertsteuersystem umfasst alle Bereiche, die dem Rückwirkungsverbot von Steuergesetzen zugeordnet werden5:
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v. 7.7.2010 (u. a.) – 2 BvL 14/02, – 2 BvL 2/04, – 2 BvL 13/05 sowie – 2 BvL 1/03, – 2 BvL 57/06, – 2 BvL 58/06 dahingehend entschieden, dass die angegriffenen Vorschriften mit belastenden Folgen einer unechten Rückwirkung verbunden waren, die zum Teil den Grundsätzen des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes widersprechen. Vgl. z. B. Spindler, DStR 2001, 725. Vor dem Vertrag von Nizza: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 173 a. E. Vgl. z. B. die Gliederung bei Lang in Tipke/Lang (Fn. 4), § 4 Rz. 169 ff. zu 2.6.
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Rückwirkung und Rückwirkungsverbote bei Änderungen im Umsatzsteuerrecht
– rückwirkende Gesetze – Aufhebung oder Änderung von Gesetzen mit Rückwirkung – rückwirkende Gesetzesanwendung durch Verwaltungsanordnungen und Rechtsprechung.
II. Rückwirkungsverbote im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem gegen rückwirkende Festsetzungsänderungen nach nationalem Verfahrensrecht Eine gewisse „Schlüsselstellung“ für die deutsche Praxis zur Umsetzung von Richtlinienrecht in nationales Umsatzsteuerrecht hatte das Verfahren Schloßstraße6, in dem der BFH den EuGH wegen der Zulässigkeit rückwirkender – weil nicht vorhersehbarer – belastender Umsatzsteuerregelungen anrief. Der Fall betraf nicht nur die Wirkung einer Änderung des Umsatzsteuergesetzes, sondern auch die Anwendbarkeit nationalen Verfahrensrechts, das die rückwirkende Änderung einer zunächst akzeptierten Steueranmeldung zulässt (Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung). Hintergrund des Verfahrens war die Frage, wann über die Unternehmereigenschaft einer Person, die vorsteuerbelastete Investitionen getätigt hat, um damit anschließend besteuerte Umsätze auszuführen, „endgültig“ zu entscheiden ist. Da nach § 2 Abs. 1 i. V. m. § 1 Abs. 1 UStG die Unternehmereigenschaft (also die Eigenschaft als Steuerpflichtiger) durch die Ausführung steuerbarer Umsätze begründet wird, lagen nach der herkömmlichen Rechtsprechung erst nach der Ausführung solcher Ausgangsumsätze die Voraussetzungen für die endgültige Anerkennung der Unternehmerstellung vor. Machte aber z. B. der Gründer bei einer Unternehmensgründung aus den ersten Investitionen den Vorsteuerabzug geltend – der gemäß § 15 UStG nur dem Unternehmer zusteht –, verfuhr die deutsche Praxis so, dass über die Unternehmereigenschaft regelmäßig anhand der beabsichtigten Ausgangstätigkeit (besteuerte oder steuerfreie Umsätze) in einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) entschieden wurde. Ergab sich später, dass z. B. keine Umsatztätigkeit stattfand (sog. erfolgloser Unternehmer), wurde die Unternehmereigenschaft und damit der Vorsteuerabzug mit rückwirkender Änderung der ursprünglichen Steuerfestsetzung gemäß § 164 Abs. 2 AO aberkannt. Nachdem der EuGH (auf Vorlage durch Gerichte anderer Mitgliedstaaten) entschieden hatte7, dass das Recht auf Vorsteuerabzug erhalten bleibt, wenn der Steuerpflichtige aufgrund von Umständen, die von seinem Willen unabhängig waren, die erworbenen Gegenstände oder Dienstleistungen nicht verwendet hat, um steuerpflichtige Umsätze zu tätigen, thematisierte der BFH die unter-
__________ 6 EuGH-Vorlage: BFH v. 27.8.1998 – V R 77/96, BFH/NV 1999, 274, BFHE 186, 468; Folgeentscheidung nach dem EuGH-Urteil: BFH v. 22.2.2001 – V R 77/96, BFHE 194, 498, BFH/NV 2001, 994, BStBl. II 2003, 426. 7 EuGH v. 29.1.1996, C-110/94, INZO, Slg. 1996, I-857, BStBl. II 1996, 655 und v. 15.1.1998, C-37/95, Ghent Coal Terminal NV, UR 1998, 149, UVR 1998, 95.
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schiedliche Praxis in der Vorlage des Verfahrens Schloßstraße an den EuGH. Dieses Verfahren hatte die Besonderheit, dass nach der Unternehmensgründung und den ersten vorsteuerbelasteten Investitionen die späteren Verwendungsumsätze nicht mehr – wie beabsichtigt – steuerpflichtig ausgeführt werden konnten, weil aufgrund zwischenzeitlicher Gesetzesänderung insoweit zwingend Steuerfreiheit bestand. Ausgangspunkt war der folgende Sachverhalt: Eine 1991 gegründete Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) bezweckte den Erwerb eines Grundstücks und die Errichtung eines Wohn- und Bürogebäudes zur langfristigen Nutzung und Verwertung des Grundbesitzes. Der Grundstückserwerb erfolgte 1991, die Baugenehmigung wurde nach planungsrechtlichen Schwierigkeiten erst im Mai 1993 erteilt. Am 10.10.1993 schloss die GbR einen Architektenvertrag zur Abwicklung der Baumaßnahme ab. Die Bauarbeiten begannen im Januar 1994. Die Baumaßnahme wurde im Dezember 1994 fertiggestellt. Hinsichtlich der beabsichtigten (und nach Fertigstellung tatsächlich durchgeführten) Vermietung eines Büros an ein Finanzdienstleistungsunternehmen, das zu mehr als 90 v. H. steuerfreie Umsätze ausführte (rd. 46 v. H. der Gesamtfläche), verzichtete die GbR in den Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre 1992 bis 1994 auf die Steuerfreiheit und machte insoweit den Vorsteuerabzug aus den Architekten- und Baurechnungen geltend. Das Finanzamt folgte der Erklärung zunächst mit Bescheiden unter Vorbehalt der Nachprüfung. Nach einer Sonderprüfung ließ das FA aber in gemäß § 168 i. V. m. § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung geänderten Umsatzsteuerbescheiden diesen Vorsteuerabzug nicht mehr zu. Es meinte, der Verzicht auf die Steuerfreiheit der Vermietungsumsätze an den Versicherungsdienstleister gehe ins Leere, weil die Option des § 9 Abs. 2 UStG hinsichtlich dieser Umsätze in der ab 1994 geltenden Fassung durch das Missbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz (StMBG) vom 21.12.19938 eingeschränkt worden war. Die GbR habe nicht vor dem 11.11.1993, dem in § 27 Abs. 2 UStG i. d. F. des StMBG festgelegten Stichtag, mit der Errichtung des Gebäudes begonnen. Die GbR machte Vertrauensschutz geltend. Wäre nämlich der Inhalt des StMBG im Zeitpunkt der Investitionsentscheidung bekannt gewesen, wäre ihre Entscheidung möglicherweise anders ausgefallen, weil die Versagung des Vorsteuerabzugs zu einem erheblichen Liquiditätsnachteil führe. § 27 Abs. 2 UStG in der geänderten Fassung verstoße gegen das Rückwirkungsverbot. Der BFH legte dem EuGH die im Streitfall entscheidungserhebliche Frage vor, „ob ein Steuerpflichtiger, der die Mehrwertsteuer für Gegenstände oder Dienstleistungen entrichtet hat, die ihm im Hinblick auf die Ausführung bestimmter Vermietungsumsätze geliefert bzw. erbracht wurden, insoweit ein Recht auf Vorsteuerabzug auch dann erworben hat, wenn durch eine zwischen dem Bezug dieser Gegenstände oder Dienstleistungen und der Aufnahme der Umsatztätigkeiten der Vermietung eingetretene Gesetzesänderung das Recht auf Verzicht auf die Steuerbefreiung dieser Umsätze abgeschafft worden ist.“
__________ 8 BGBl. I 1993, 2310; BStBl. I 1994, 50.
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Rückwirkung und Rückwirkungsverbote bei Änderungen im Umsatzsteuerrecht
Der EuGH antwortete mit der Vorabentscheidung v. 8.6.20009 wie folgt: Nach Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG „bleibt das Recht eines Steuerpflichtigen, die Mehrwertsteuer, die er für die Gegenstände oder Dienstleistungen entrichtet hat, die ihm im Hinblick auf die Ausführung bestimmter Vermietungsumsätze geliefert bzw. erbracht wurden, als Vorsteuer abzuziehen, erhalten, wenn dieser Steuerpflichtige aufgrund einer nach dem Bezug dieser Gegenstände oder Dienstleistungen, aber vor Aufnahme dieser Umsatztätigkeiten eintretenden Gesetzesänderung nicht mehr zum Verzicht auf die Steuerbefreiung dieser Umsätze berechtigt ist; dies gilt auch dann, wenn die Mehrwertsteuer unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt wurde.“ Der EuGH begründete dies damit, „daß als Steuerpflichtiger zu gelten hat, wer die durch objektive Anhaltspunkte belegte Absicht hat, im Sinne von Artikel 4 der Sechsten Richtlinie eine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig auszuüben, und erste Investitionsausgaben für diese Zwecke tätigt. Da er als Steuerpflichtiger handelt, hat er nach den Artikeln 17 ff. der Sechsten Richtlinie das Recht auf sofortigen Abzug der für Investitionsausgaben, die für die Zwecke seiner beabsichtigten, das Abzugsrecht eröffnenden Umsätze getätigt wurden, geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer und braucht die Aufnahme des tatsächlichen Betriebes seines Unternehmens nicht abzuwarten […].“ Das heißt, die Entscheidung über die Unternehmereigenschaft und den Vorsteuerabzug ist „sofort“ für den Besteuerungszeitraum des Leistungsbezugs zu treffen und wirkt „endgültig“. Ergibt sich z. B., dass tatsächlich statt der beabsichtigten besteuerten Leistungen steuerfreie Ausgangsumsätze ausgeführt werden, kann nur für die Zukunft im Weg der Vorsteuerberichtigung (§ 15a UStG) vorgegangen werden (vgl. zu den Folgeproblemen bei § 15a UStG unten V.). Im Hinblick auf die Maßgeblichkeit der „subjektiven“ Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzung überlässt es der EuGH aber der Abgabenverwaltung, objektive Nachweise für die erklärte Absicht zu verlangen, zu besteuerten Umsätzen führende wirtschaftliche Tätigkeiten aufzunehmen (d. h. Ausgangsumsätze auszuführen). „Endgültig“ wird die Steuerpflichtigeneigenschaft aber nur dann erlangt, „wenn die Erklärung, die beabsichtigten wirtschaftlichen Tätigkeiten aufnehmen zu wollen, vom Betroffenen in gutem Glauben abgegeben wurde. In Fällen von Betrug oder Missbrauch, in denen der Betroffene die Absicht, eine bestimmte wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen, nur vorgespiegelt, in Wirklichkeit jedoch versucht hat, Gegenstände, deren Erwerb zum Abzug berechtigen kann, seinem Privatvermögen zuzuführen, kann die Steuerbehörde rückwirkend die Erstattung der abgezogenen Beträge verlangen, da diese Abzüge aufgrund falscher Erklärungen gewährt wurden.“ Der Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) hat nach dem Urteil (nur noch) den Sinn, es der Steuerverwaltung zu ermöglichen, rückwirkend die Erstattung der abgezogenen Beträge zu verlangen, wenn der Steuerpflichtige in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise die Absicht, eine bestimmte wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen, nur vorgespiegelt, in Wirklichkeit jedoch versucht hat, Gegenstände, deren Erwerb zum Abzug berechtigen kann, seinem Privat-
__________
9 C-396/98, UVR 2000, 308, UR 2000, 336.
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vermögen zuzuführen. Mit dieser Auslegung des materiellen Mehrwertsteuerrechts versagte der EuGH somit die Anwendbarkeit deutschen Verfahrensrechts mit der Möglichkeit rückwirkender Änderung einer Steuerfestsetzung.
III. Keine Rückwirkung der Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts auf dessen Entstehungszeitpunkt Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sieht eigenständige Regelungen für Entstehung und Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug vor: Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht nach Art. 17 der Sechsten Richtlinie, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Ausüben darf der Steuerpflichtige es gemäß Art. 18 der Sechsten Richtlinie erst, wenn er eine Rechnung mit Steuerausweis besitzt. Im Verfahren Terra Baubedarf10 war das Recht des Unternehmers auf Vorsteuerabzug nach Art. 17 der Sechsten Richtlinie noch im Jahr 1999 entstanden, es konnte aber nach Art. 18 dieser Richtlinie erst im Jahr 2000, nach Erhalt der Rechnung, ausgeübt werden. Zweifelhaft war nach Auffassung des BFH jedoch, ob dieses Recht auf Vorsteuerabzug mit Wirkung für den Besteuerungszeitraum 1999 geltend gemacht werden dürfe oder müsse. Denn Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie könnte so auszulegen sein, dass er nur die Voraussetzungen der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug regele, aber nichts darüber besage, für welchen Besteuerungszeitraum der Vorsteuerabzug geltend gemacht werden müsse oder dürfe. Der EuGH lehnte eine Rückwirkung der Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts – hier also eine Vorverlegung in den Zeitraum seiner Entstehung – ab11. Er beantwortete die Vorlagefrage dahin, dass für den Vorsteuerabzug nach Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass das Vorsteuerabzugsrecht für den Erklärungszeitraum auszuüben ist, in dem die beiden nach dieser Bestimmung erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind, dass die Lieferung der Gegenstände oder die Dienstleistung bewirkt wurde und dass der Steuerpflichtige die Rechnung oder das Dokument besitzt, das nach den von den Mitgliedstaaten festgelegten Kriterien als Rechnung betrachtet werden kann. Der EuGH bestätigte zwar, dass die deutsche Fassung des Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie nicht die eindeutige Feststellung erlaubt, ob mit dem Zeitraum, für den das Abzugsrecht geltend gemacht werden kann, der Zeitraum gemeint ist, in dem das Abzugsrecht entstanden ist, oder aber derjenige, in dem sowohl die Voraussetzung des Besitzes einer Rechnung als auch die des Abzugsrechts erfüllt wurde. Er verwies aber darauf, dass sich doch u. a. aus der französischen und der englischen Fassung der Sechsten Richtlinie ergibt, dass der Vorsteuerabzug nach Art. 17 Abs. 2 dieser Richtlinie für den Erklärungszeitraum vorzunehmen ist, in dem beide nach Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie
__________ 10 EuGH-Vorlage: BFH v. 21.3.2002 – V R 33/01, BFHE 198, 226, BFH/NV 2002, 886; abschließende Entscheidung: BFH v. 1.7.2004, V R 33/01, BFHE 206, 463, BFH/NV 2004, 1489, BStBl. II 2004, 861. 11 EuGH v. 29.4.2004, C-152/02, BFH/NV Beilage 2004, 229.
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erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Zur Bestätigung dieses Erfordernisses bezog sich der EuGH zum einen auf eines der Ziele der Sechsten Richtlinie, das darin besteht, die Erhebung der Mehrwertsteuer und ihre Überprüfung sicherzustellen. Zum anderen wies er darauf hin, dass die Zahlung für eine Leistung und damit die Abführung der Vorsteuer regelmäßig nicht vor Erhalt einer Rechnung erfolgt.
IV. Unzulässige Rückwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Ermächtigung und des deutschen Ausführungsgesetzes zum 50 %-Vorsteuerabzug für Fahrzeuge 1. Das Verfahren Sudholz Das BFH-Verfahren V R 30/00 betraf die Gültigkeit der rückwirkenden Ermächtigung zur Begrenzung des Vorsteuerabzugs bei Fahrzeugen auf 50 v. H. gemäß § 15 Abs. 1b UStG. § 15 Abs. 1b UStG. Diese Vorschrift war am 1.4.1999 in Kraft getreten und galt für Fahrzeuge, die nach dem 31.3.1999 erworben wurden. Im Entscheidungsfall hatte Herr Sudholz im April 1999 einen PKW erworben und seinem Unternehmen zugeordnet. Er nutzte ihn zu 70 % für unternehmerische und zu 30 % für unternehmensfremde Zwecke. Er machte für den Monat April 1999 die gesamte Umsatzsteuer aus dem Kauf des PKW als Vorsteuerbetrag geltend. Die Beschränkung des Vorsteuerabzugs auf 50 v. H. durch § 15 Abs. 1b UStG hielt er für gemeinschaftsrechtswidrig. Nach erfolgreicher Klage legte der BFH im Revisionsverfahren des Finanzamts die Sache dem EuGH vor12, weil er Zweifel an der Vereinbarkeit der Rats-Entscheidung v. 28.2.200013 (als Ermächtigung für die Ausnahmeregelung des § 15b UStG) mit dem Gemeinschaftsrecht hatte. Der EuGH entschied14, dass Art. 3 der Rats-Entscheidung 2000/186 ungültig ist, soweit er die rückwirkende Geltung der Ermächtigung der Bundesrepublik Deutschland durch den Rat der Europäischen Union ab dem 1.4.1999 vorsieht. Er ging von seiner ständigen Rechtsprechung aus, dass Rechtsakte der Gemeinschaft eindeutig sein müssen und ihre Anwendung für die Betroffenen vorhersehbar sein muss. Dieses Gebot der Rechtssicherheit gelte in besonderem Maße, wenn es sich um eine Regelung handelt, die sich finanziell belastend auswirken kann, denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen. Der EuGH hatte bereits entschieden, dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes dem entgegensteht, dass einem Steuerpflichtigen durch eine Änderung des natio-
__________ 12 BFH v. 30.11.2000 – V R 30/00, BFH/NV 2001, 405. 13 Die auf Art. 27 der Richtlinie 77/388/EWG beruhende Entscheidung 2000/186/EG des Rates v. 28.2.2000 zur Ermächtigung der Bundesrepublik Deutschland, von den Artikeln 6 und 17 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern abweichende Regelungen anzuwenden. 14 EuGH v. 29.4.2004, C-17/01, Sudholz, BFH/NV 2004, 232.
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nalen Rechts rückwirkend ein auf der Grundlage der Sechsten Richtlinie erworbenes Recht auf Vorsteuerabzug genommen wird15. Er prüfte daher, ob die Entscheidung 2000/186, die ab dem 1.4.1999 galt, also einem vor ihrer Veröffentlichung am 4.3.2000 liegenden Zeitpunkt, dennoch durch das mit ihr verfolgte Ziel gerechtfertigt war und ob das berechtigte Vertrauen der Betroffenen beachtet wurde. Aus den Gründen der Rats-Entscheidung ergab sich nicht, dass es hinsichtlich ihres Ziels erforderlich gewesen wäre, die Ermächtigung mit Rückwirkung zu versehen. Solange eine vom Rat nach Art. 27 der Sechsten Richtlinie genehmigte abweichende nationale Maßnahme nicht erlassen war, durften die Betroffenen wie der Kläger also zu Recht davon ausgehen, dass sie die gesamte Steuer auf den Kauf ihres PKW abziehen konnten. Die deutsche Regelung in § 15 Abs. 1b UStG datierte zwar v. 24.3. 1999 und sah eine Begrenzung des Vorsteuerabzugs in Bezug auf nach dem 31.3.1999 angeschaffte PKW vor. Sie war jedoch unstreitig zum Zeitpunkt ihres Erlasses vom Rat nicht genehmigt worden. Folglich entsprach die nach dieser Maßnahme vorgesehene Begrenzung der Abzugsbefugnis zum letztgenannten Zeitpunkt nicht Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie, und die Betroffenen durften zu Recht weiter vom Grundsatz des vollen Mehrwertsteuerabzugs ausgehen. Das Vorbringen der deutschen Behörden, dass der Rat die Ermächtigung wegen der verzögerten Behandlung des Antrags der Bundesrepublik Deutschland durch die Kommission mit Verspätung erteilt habe, konnte die Rückwirkung der Entscheidung 2000/186 nicht rechtfertigen. Damit verneint der EuGH – vergleichbar dem deutschen Kriterium „zwingender Gründe des Gemeinwohls“ –, dass das Ziel der Maßnahme, die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen oder -umgehung und eine Vereinfachung der Mehrwertsteuererhebung, hinreichend gravierend waren, um das berechtigte Vertrauen der Betroffenen in die bisherige Rechtslage durch Rückwirkung der Neuregelung zu überlagern. Fazit des EuGH-Urteils war: Indem Art. 3 der Entscheidung 2000/186 die rückwirkende Geltung von § 15 Abs. 1b UStG gestattet, verstößt er gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes und ist deshalb für ungültig zu erklären. Der BFH16 erklärte aufgrund der Vorgaben des EuGH die Regelung des § 15 Abs. 1b UStG für die Zeit ab Inkrafttreten am 1.4.1999 bis zur Veröffentlichung der Ermächtigungsentscheidung des Rats am 4.3.2000 für unwirksam in dem Sinn, dass sich Herr Sudholz gegenüber dem ermächtigungslosen § 15b UStG auf das ihm günstige allgemeine Vorsteuerabzugsrecht nach dem Gemeinschaftsrecht berufen konnte. § 15 Abs. 1b UStG 1999 wurde anschließend ab 1.1.2004 durch das StÄndG 2003 ersatzlos aufgehoben17. Da die vom Rat der EU erteilte Ermächtigung ohnehin nur bis 31.12.2002 galt, konnte sich jeder Unternehmer ab 1.1.2003 auf die für ihn günstigere allgemeine Vorsteuerabzugsregel des Art. 17 der Sechsten Richtlinie berufen.
__________
15 EuGH v. 11.7.2002 – C-62/00, Marks & Spencer, Slg. 2002, I-6325, Rz. 45. 16 BFH v. 15.7.2004 – V R 30/00, BFHE 206, 465, BFH/NV 2004, 1610, BStBl. II 2004, 1025. 17 Vgl. dazu BMF-Schreiben v. 27.8.2004 – IV B 7 – S 7300 – 70/04, BStBl. I 2004, 864.
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2. Gerichtliche Verwerfungskompetenz für gemeinschaftsrechtswidrige Normen Das voranstehend behandelte Verfahren Sudholz macht auch eine weitere Besonderheit im Zusammenwirken der nationalen Gerichte mit dem EuGH deutlich. Nach der deutschen Rechtsordnung besteht ein sog. Verwerfungsmonopol des BVerfG für als verfassungswidrig erkannte Gesetze. Die Fachgerichte haben zwar das jeweilige Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen. Halten sie das Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, müssen sie das Verfahren aussetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einholen (sog. Richtervorlage zur konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG). Auf das Gemeinschaftsrecht ist dieses Verfahren nicht anzuwenden18; jedenfalls besteht nach der BFH-Rechtsprechung regelmäßig kein Grund zur Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG19. Hier gilt der sog. Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber damit nicht vereinbarem nationalem Recht. Ergibt die Entscheidung des EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens des nationalen Gerichts nach Art. 234 des EG-Vertrags, dass die einschlägige Regelung des nationalen Rechts mit dem (durch den EuGH ausgelegten) Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar ist, führt die sog. Berufbarkeit auf das Gemeinschaftsrecht dazu, dass die entgegenstehende Norm (z. B. des UStG) für das Fachgericht im Entscheidungsfall unanwendbar ist. Damit nimmt das nationale Fachgericht keine Verwerfungskompetenz i. S. des Art. 100 Abs. 1 GG in Anspruch, sondern entscheidet aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts20. Voraussetzung ist eine entsprechende Entscheidung des EuGH; sie muss aber nicht im jeweiligen Verfahren eingeholt werden; es reicht aus, dass der EuGH die Auslegung zur entscheidungserheblichen Frage bereits (in einem anderen Fall) getroffen hat. Soweit allerdings der XI. Senat des BFH im Urteil vom 16.4.200821 die Vorschrift des § 24 Abs. 2 Satz 3 UStG – nach der Gewerbebetriebe kraft Rechtsform die Durchschnittssatzbesteuerung nicht in Anspruch nehmen können – ohne Vorlage an den EuGH nicht anwandte, weil sie gegen das Neutralitätsgebot des Mehrwertsteuersystems verstoße, und annahm, eine Vorlage sei nicht erforderlich, weil der EuGH bereits mehrfach zum Neutralitätsgebot entschieden habe, so handelt es sich m. E. um eine Überschreitung der beschriebenen Kompetenz eines nationalen Gerichts aus dem Anwendungsvorrang22. Ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts der angegebenen Art rechtfertigt keine „Nichtanwendung“ des nationalen Rechts ohne konkrete Entscheidung
__________ 18 Vgl. z. B. Müller-Terpitz in v. Mangoldt/Klein/Stark, 6. Aufl. 2010, Art. 100 GG Rz. 21. 19 So z. B. BFH v. 23.11.2000 – V R 49/00, BFHE 193, 170, BStBl. II 2001, 266. 20 Unzutreffend war daher die frühere Einschätzung von Reiß in Tipke/Lang, Steuerrecht, 17. Aufl. 2002, § 14 Rz. 11, der BFH (bis zum Urteil v. 16.4.2008 – XI R 73/07, BFHE 221, 484, BFH/NV 2008, 1417, UR 2008, 632) beanspruche eine Verwerfungskompetenz. 21 BFH v. 16.4.2008 – XI R 73/07, BFHE 221, 484, BFH/NV 2008, 1417, UR 2008, 632. 22 Insofern jetzt leider zutreffend Reiß in Tipke/Lang (Fn. 4), § 14 Rz. 10.
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zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der Norm – zumal dann, wenn es sich um eine dem Mitgliedstaat eingeräumte Normgestaltung handelt23.
V. BFH-Rechtsprechung zu gesetzlich angeordneter Rückwirkung von Änderungen des UStG Aufgrund der richtlinienkonformen Anwendung der oben zu II. wiedergegebenen Grundsätze der EuGH-Rechtsprechung zum „endgültigen“ Sofortabzug der Vorsteuerbeträge im Besteuerungszeitraum des Leistungsbezugs nach Maßgabe der beabsichtigten Verwendung des erworbenen Gegenstands ergab sich für den Korrekturmechanismus der Vorsteuerberichtigung für längerlebige Wirtschaftsgüter nach § 15a UStG eine Gesetzeslücke. Die bisherige Regelung des § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG a. F. griff zu kurz, sie erfasste diese Fälle nicht. Die ursprünglich geltende Fassung des § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG lautete: „Ändern sich bei einem Wirtschaftsgut die Verhältnisse, die im Kalenderjahr der erstmaligen Verwendung für den Vorsteuerabzug maßgebend waren, innerhalb von fünf Jahren [und bei Grundstücken gemäß § 15a Abs. 1 Satz 2 UStG innerhalb von zehn Jahren] seit dem Beginn der Verwendung, so ist für jedes Kalenderjahr der Änderung ein Ausgleich durch eine Berichtigung des Abzugs der auf die Anschaffungs- oder Herstellungskosten entfallenden Vorsteuerbeträge vorzunehmen.“
Diese Regelung beruhte noch auf der herkömmlichen deutschen Praxis, über den Vorsteuerabzug „endgültig“ erst im Besteuerungszeitraum der erstmaligen tatsächlichen Verwendung des bezogenen Gegenstands für Ausgangsumsätze zu entscheiden. Nach dem richtlinienkonformen endgültigen Sofortabzug der Vorsteuerbeträge im Besteuerungszeitraum des Leistungsbezugs aufgrund der beabsichtigten Verwendung musste sich die Berichtigung des Vorsteuerabzugs nach der Qualität dieser beabsichtigten Verwendung richten. Die ursprünglich geltende Fassung des § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG wurde mit Wirkung v. 1.1. 200224 dem jetzt geltenden Recht auf Vorsteuerabzug angepasst, zunächst aber ohne Übergangsregelung: „Ändern sich bei einem Wirtschaftsgut innerhalb von fünf Jahren und bei Grundstücken gemäß § 15a Abs. 1 Satz 2 UStG innerhalb von zehn Jahren] ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Verwendung die für den ursprünglichen Vorsteuerabzug maßgebenden Verhältnisse, ist für jedes Kalenderjahr der Änderung ein Ausgleich durch eine Berichtigung des Abzugs der auf die Anschaffungs- oder Herstellungskosten entfallenden Vorsteuerbeträge vorzunehmen.“
Dieser Gesetzesfassung hat der Gesetzgeber erst mit dem StÄndG 2003 v. 15.12.2003 durch § 27 Abs. 8 UStG 199925 folgende Rückwirkung beigemessen: § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG in der ab dem 1. Januar 2002 geltenden Fassung ist auch für Zeiträume vor dem 1. Januar 2002 anzuwenden, wenn der Unter-
__________ 23 Zutr. Klenk, Anm. zum BFH v. 16.4.2008 – XI R 73/07 in UR 2008, 634; ders. in Sölch/Ringleb, § 24 UStG Rz. 284. 24 Vgl. Art. 18 Nr. 9 Buchst. a des Steueränderungsgesetzes – StÄndG – 2001 v. 20.12. 2001, BGBl. I, 3794. 25 I. d. F. des StÄndG 2003 v. 15.12.2003, BGBl. I, 2645.
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nehmer den Vorsteuerabzug im Zeitpunkt des Leistungsbezuges aufgrund der von ihm erklärten Verwendungsabsicht in Anspruch genommen hat (sich also auf die ihm günstige Rechtslage des Gemeinschaftsrechts berufen hat) und die Nutzung ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Verwendung mit den für den Vorsteuerabzug maßgebenden Verhältnissen nicht übereinstimmt. Das BFH-Urteil v. 7.7.2005 – V R 32/04 –26 betraf einen derartigen Fall: Eine Investoren-GmbH erwarb 1988 ein Grundstück, um es zu bebauen und z. T. steuerpflichtig und z. T. steuerfrei zu vermieten. Sie machte gemäß dieser Absicht anteilig Vorsteuerbeträge aus der Anschaffung des Grundstücks geltend. Die Planungen wurden jedoch nicht realisiert. Stattdessen veräußerte die GmbH 1990 das Grundstück umsatzsteuerfrei. Daraufhin berichtigte das Finanzamt für 1990 den gesamten 1988 gewährten Vorsteuerabzug im Hinblick auf die erstmalige Verwendung des Grundstücks zur steuerfreien Veräußerung. Der BFH hatte zuvor in einem ähnlichen Fall27 Aussetzung der Vollziehung wegen ernstlicher Zweifel an der Berechtigung der rückwirkenden Vorsteuerberichtigung nach § 15a UStG n. F. angeordnet, weil die Neuregelung erst mit Wirkung ab dem 1.1.2002 ordnungsgemäß in das innerstaatliche Recht umgesetzt worden war und der Gesetzgeber eine Rückwirkung nicht angeordnet hatte. Im hier angesprochenen Revisionsverfahren V R 32/04, das einen Fall betraf, der bereits von der durch § 27 Abs. 8 UStG 1999 angeordneten Rückwirkung erfasst wurde, hielt der BFH solche verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Rückwirkung nicht mehr aufrecht. Der BFH stützte dies zum einen darauf, dass die bestehende Rechtslage keine ausreichende Vertrauensgrundlage darstellte, weshalb das Vertrauen des Steuerbürgers in den Fortbestand des geltenden Rechts nicht schutzbedürftig war. Zum anderen begründete er seine Entscheidung damit, dass die Neuregelung eine Lücke schloss, die das Leerlaufen der Berichtigungsmöglichkeit vor dem 1.1.2002 beseitigte, und dass das einer in sich schlüssigen, folgerichtigen Ausgestaltung des Vorsteuerabzugsrechts entsprach. Das Ergebnis ist nach den Kriterien des BVerfG vertretbar: Es handelte sich zwar um „echte Rückwirkung“ in bereits abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände. Im Hinblick auf die geänderte Rechtslage zum Vorsteuerabzug, auf die sich der Steuerpflichtige zu seinen Gunsten selbst berief, und auf die damit eingetretene – ersichtliche – Unklarheit der Rechtslage zu den Voraussetzungen einer Vorsteuerberichtigung kann auch eine sog. echte Rückwirkung ausnahmsweise zulässig sein28. Auch die Vertrauensschutzkriterien der EuGH-Rechtsprechung sprechen nicht gegen das Ergebnis. Ein „gutgläubiges“ Handeln in der Erwartung, dass keine Vorsteuerberichtigung eingreifen könne, scheidet hier aus. Denn der Sachverhalt spielte insgesamt noch unter Geltung des „alten“ Rechts, nach dem mit einer Vorsteuerberichtigung zu rechnen war.
__________ 26 BFHE 211, 74, BFH/NV 2005, 2322, BStBl. II 2005, 907. 27 BFH, Beschluss v. 27.2.2003, BFHE 201, 561, BFH/NV 2003, 874. 28 Vgl. die Zusammenfassung bei Lang in Tipke/Lang (Fn. 4), § 4 Rz. 173.
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VI. Rückwirkende Anwendung von Änderungen des UStG durch Verwaltungsbestimmungen und Rechtsprechung 1. Begrenzung der Rückwirkung von Neuregelungen gegen das „Seeling-Modell“ Mit seiner Entscheidung im Fall Seeling29 eröffnete der EuGH interessierten Kreisen ein sog. Umsatzsteuer-Sparmodell: Wer sich z. B. ein Einfamilienhaus „umsatzsteuerbegünstigt“ errichten wollte, zweigte von der vorgesehenen Nutzung als eigene Wohnung Teile für eine steuerpflichtige Nutzung von mindestens 10 % der Fläche ab (im Hinblick auf § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG, z. B. für steuerpflichtige gewerbliche Vermietung oder eigene Zwecke) und ordnete das Gebäude in vollem Umfang diesem Unternehmen zu. Für das so kreierte „Betriebsgebäude“ erhielt er dann sofort den vollen Vorsteuerabzug aus der Gebäudeanschaffung; denn er verwendete das Gebäude insgesamt zu besteuerten Umsätzen – auch mit der privaten Wohnnutzung. Der EuGH hatte nämlich – entgegen der langjährigen deutschen Praxis – entschieden, dass die Steuerbefreiung für Vermietung insoweit nicht eingreift. Dieser Eigenverbrauch wurde nach bis dahin ständiger deutscher Praxis sehr milde besteuert. In Anlehnung an ertragsteuerliche Abschreibungsgrundsätze wurde die Nutzung nach den Kosten bemessen, die insbesondere durch die übliche GebäudeAfA von 50 Jahren jährlich mit 2 % der Anschaffungs-/Herstellungskosten in die Bemessungsgrundlage eingingen. Diese Gestaltungsmöglichkeit wurde – abgesehen von den Nutznießern – allgemein als unbefriedigend angesehen. Sie ergab eine Ungleichbehandlung gegenüber dem „normalen Häuslebauer“, der als Nichtunternehmer vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen blieb. Die Gestaltung als Betriebsgebäude brachte einen erheblichen Liquiditätsvorteil und die Möglichkeit unversteuerten Letztverbrauchs. Das BMF entwickelte daraufhin mit Schreiben v. 13.4.200430 eine genial einfache Lösung zur Vermeidung solcher Gestaltungen. Es ordnete eine Verteilung der vorsteuerbelasteten Herstellungskosten nach dem Berichtigungszeitraum der Vorsteuerberichtigung des § 15a UStG an. Dadurch reduzierte sich bei Gebäuden die Kostenverteilung von 50 Jahren auf zehn Jahre (jährliche Bemessungsgrundlage 10 % anstelle bisher 2 % der Anschaffungskosten). Der Gesetzgeber übernahm diese Auffassung im Wesentlichen bei der Neuregelung des § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG zur Bemessungsgrundlage für die nichtunternehmerische Verwendung von Unternehmensgegenständen, und zwar mit Wirkung vom 1.7.2004. Die der Neuregelung zugrunde liegende Regelung der Bemessungsgrundlage beurteilte der EuGH zwischenzeitlich mit Urteil vom 1.2.2006 in der Rechtssache Wollny31 als mit dem Gemeinschafts-
__________ 29 EuGH v. 8.5.2003, C-269/00, BFH/NV Beilage 2003, 157, auf Vorlage des BFH, Beschluss v. 25.5.2000 – V R 39/99, BFHE 191, 450, BFH/NV 2000, 1175; abschließendes Urteil: BFH v. 24.7.2003 – V R 39/99, BFHE 203, 206, BFH/NV 2003, 1513, BStBl. II 2004, 371. 30 BStBl. 2004 I, 468. 31 EuGH v. 1.2.2006, C-72/05, Wollny, BFH/NV Beilage 2007, 66.
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recht vereinbar. Allerdings erachtete er auch die bisherige deutsche Praxis (Verteilung der Kosten auf 50 Jahre nach ertragsteuerrechtlichen AfA-Grundsätzen) als gemeinschaftsrechtskonform. In einem vergleichbaren Fall vor dem BFH32 (nach dem vorbezeichneten EuGHUrteil) war zudem entscheidungserheblich, ob die Praxis der Finanzverwaltung, die gesetzliche Neuregelung nicht nur ab der vorgesehenen Geltung ab 1.7.2004, sondern auch auf davor liegende Fälle anzuwenden, rechtmäßig war, soweit sich der Unternehmer auf die o. g. Zuordnungsgrundsätze des EuGH berufen hatte. Das BMF vertrat in dem Verfahren die Ansicht, die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Seeling33 interpretiere die bereits anfänglich bestehende Rechtslage zur Zuordnung nur teilweise unternehmerisch verwendeter Grundstücke zum Unternehmen und dem daraus resultierenden „Eigenverbrauch“ und dessen Wirkung auf den Vorsteuerabzug; als Auslegung des Gemeinschaftsrechts gelte sie daher auch rückwirkend. Für die differenzierte Auslegung des Begriffs „Kosten“ durch das BMF-Schreiben v. 13.4.2004 bestehe ein sachlicher Rechtfertigungsgrund. Der BFH entschied in diesem Verfahren: „Die Neuregelung der Bemessungsgrundlage in § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG 1999 durch das EURLUmsG v. 9.12.200434 gilt mit Wirkung vom 1.7.2004. Soweit sich das zuvor erlassene BMF-Schreiben vom 13.4.200435 als ‚Interpretation‘ des bisherigen Kostenbegriffs in § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG 1999 a. F. Rückwirkung auf davor liegende ‚offene‘ Besteuerungszeiträume beilegt, gibt es dafür keine Rechtsgrundlage“. Der BFH verwarf also im Hinblick auf die bisherige Rechtslage die Ansicht der Finanzverwaltung, das BMF-Schreiben v. 13.4.2004 habe lediglich eine geänderte Auslegung der Bemessungsgrundlagenregelung eingeführt, die wie üblich auf alle noch offenen einschlägigen Fälle anwendbar sei. Bei der Regelung handle es sich vielmehr um eine materiellrechtliche Änderung des bisher geltenden nationalen Rechts. Da der Gesetzgeber zudem nur eine Rückwirkung zum 1.7.2004 vorgesehen habe, sei damit eine durch die Verwaltung angenommene weitere Rückwirkung unvereinbar. Das Verwaltungsvorgehen verstieß somit sowohl gegen das Prinzip der Gewaltenteilung als auch gegen das Verbot der echten Rückwirkung36. Für die Zulässigkeit der Rückwirkung konnte in diesem Fall auch nicht mit Erfolg eingewandt werden, ein Vertrauen des Unternehmers auf die Beibehaltung der bis dahin existierenden Verwaltungsmeinung sei nicht schutzwürdig gewesen, sein Anspruch verstoße gegen das Verbot des venire contra factum proprium. Denn der Unternehmer konnte
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32 BFH v. 19.4.2007 – V R 56/04, BFHE 217, 76, BStBl. II 2007, 676, BFH/NV 2007, 1439. 33 In BStBl. II 2004, 378 und ihr nachfolgend des BFH in BFHE 203, 206, BStBl. II 2004, 371. 34 BGBl. 2004 I, 3310. 35 BStBl. 2004 I, 468. 36 Was von Angehörigen des BMF als mangelhafte Interpretation des Kostenbegriffs bezeichnet wurde (vgl. Obermair, UVR 2007, 298). Diese Auffassung dürfte angesichts der rd. 40jährigen Praxis der Anbindung der Kosten an ertragsteuerrechtliche Abschreibungsregeln das Verständnis des „Durchschnittsbetrachters“ übersteigen.
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sich auf eine rechtmäßige, wenn auch der gesetzlichen Zielsetzung nicht förderliche rechtliche Ausgangslage stützen, die sich durch die Aufdeckung nationaler Umsetzungsmängel durch die EuGH-Rechtsprechung ergeben hatte. 2. Anwendung der Neuregelung der Vorsteuerberichtigung für Repräsentationsaufwendungen als Übergangsregelung auf „Altfälle“ Dass nicht jede BFH-Rechtsprechung zur Rückwirkungsproblematik nachvollziehbar ist, auch wenn sie auf den ersten Blick als „vernünftige“ oder „berechtigte“ Lösung wirken mag, könnte auch am Festhalten an überholter Rechtsprechung nach Gesetzesänderungen liegen, die sich aufgrund vorheriger unzutreffender Umsetzung des Gemeinschaftsrechts ergaben. So verhält es sich wohl mit dem BFH-Urteil v. 2.7.2008 – XI R 61/05 –37, soweit es eine ab 1.4.1999 geltende Vorsteuerberichtigungsregelung für Aufwendungen, die unter das Abzugsverbot für sog. Repräsentationsaufwendungen i. S. v. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 EStG fallen, auf eine vor dem Stichtag angeschaffte Segeljacht anwandte, indem es die nach dem 1.4.1999 berechneten AfA-Beträge als solche Aufwendungen ansah. Hierfür ist weit und breit keine Rechtsgrundlage zu sehen. In dem Urteilsfall erwarb ein Unternehmer 1992 für jeweils ca. 210 000 DM zwei Segeljachten zur Vercharterung durch ein anderes Unternehmen. Dem lagen eine Rendite- und eine Wirtschaftlichkeitsberechnung von 1992 bis 2020 zugrunde. Die Chartervermittlung entwickelt sich nicht wie prognostiziert und brachte in den Streitjahren bis 2000 nur Verluste; 2001 wurde eine Jacht verkauft. Das Finanzamt setzte für 1994 bis 31.3.1999 wegen der Aufwendungen für die Segeljachten (einschließlich der AfA) die USt für einen sog. Aufwendungs- bzw. Repräsentations-Eigenverbrauch gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 Buchst. c UStG in der bis zum 31.3.1999 geltenden Fassung i. V. m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 EStG fest. Diese Steuer wurde nach den „Aufwendungen“ bemessen38. Ab 1.4.1999 versagte das Finanzamt den Vorsteuerabzug aus den laufenden Aufwendungen (ohne AfA) gemäß § 15 Abs. 1a Nr. 1 UStG in der ab 1.4.1999 geltenden Fassung i. V. m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 EStG; zusätzlich führte es im Umfang der noch laufenden AfA aus den Anschaffungskosten eine Vorsteuerberichtigung nach § 17 Abs. 2 Nr. 5 n. F. UStG durch. Das FG und der BFH bestätigten dieses Vorgehen.
__________ 37 BFHE 222, 11, BFH/NV 2008, 2139, BStBl. II 2009, 167; Leitsätze: 1. Vorsteuerbeträge, die auf laufende Aufwendungen für Segeljachten entfallen, sind ab dem 1.4.1999 gemäß § 15 Abs. 1a Nr. 1 UStG 1999 i. V. m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 EStG nicht abziehbar, wenn der Unternehmer die Segeljachten zwar nachhaltig und zur Erzielung von Einnahmen, jedoch ohne Gewinn-/Überschusserzielungsabsicht vermietet. 2. Hat der Unternehmer die Segeljachten bereits vor dem 1.4.1999 erworben und die Vorsteuer für die Kosten des Erwerbs abgezogen, ist der Vorsteuerabzug nach § 17 Abs. 2 Nr. 5 UStG 1999 zu berichtigen, soweit er auf die AfA in der Zeit ab dem 1.4.1999 entfällt. 38 § 10 Abs. 4 Nr. 3 UStG a. F.
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Die Entwicklung der Rechtslage verlief wie folgt: – Für die Zeit bis 31.3.1999 galten die Regeln über den sog. „Aufwendungseigenverbrauch“ bzw. „Repräsentationseigenverbrauch“ nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 Buchst. c UStG i. V. m. der Verweisung auf das Abzugsverbot nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 bis 7 EStG. Dieser diente dazu, den bei Bezug von sog. Repräsentationsleistungen (die bei typisierender Betrachtung dazu geeignet sind, private Neigungen zu befriedigen) in Anspruch genommenen Vorsteuerabzug wieder zu eliminieren, weil der Gesetzgeber die Aufwendungen für die Leistung dem „Endverbrauch“ zuordnet. Diese „Eliminierung“ erfolgte nach der Praxis zu der Vorschrift pro rata temporis anhand der AfA jeweils in den Besteuerungszeiträumen der Nutzungsdauer des Gegenstands (ob diese Auslegung zutraf, sei hier dahingestellt)39. – Ab 1.4.1999 (hier für die Umsatzsteuerfestsetzungen 1999 und 2000) gilt das Abzugsverbot für die Vorsteuerbeträge aus den Aufwendungen für die Segeljachten (ohne AfA) nach § 15 Abs. 1a Nr. 1 UStG 1999 i. V. m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 EStG mit entsprechenden Erwägungen. Das Vorsteuerabzugsverbot ersetzte den – nicht dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem entsprechenden – vorangegangenen Repräsentationseigenverbrauch. Zu denken gibt, wie der BFH begründete, dass das Finanzamt für die Besteuerung ab 1.4.1999 auch den beim Erwerb der Segeljachten im Jahr 1992 vorgenommenen Vorsteuerabzug nach § 17 Abs. 2 Nr. 5 UStG berichtigen konnte, indem es für die Zeit ab 1.4.1999 auf die noch laufenden AfA-Beträge als fraktionierte Aufwendungen abstellte. Den Hintergrund dieses Standpunkts verdeutlicht wohl die Eingangsbemerkung des BFH40: „Nach dem Wortlaut schließt § 17 Abs. 2 Nr. 5 UStG 1999 an die Regelung des § 1 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 Buchst. c UStG 1993 zum Eigenverbrauch an. Ebenso wie der Eigenverbrauch nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 Buchst. c UStG 1993 setzt die Vorsteuerberichtigung nach § 17 Abs. 2 Nr. 5 UStG 1999 voraus, dass Aufwendungen getätigt werden, für die das jeweils im Einzelnen genannte einkommensteuerrechtliche Abzugsverbot gilt. Dies deutet darauf hin, dass die Vorschrift des § 17 Abs. 2 Nr. 5 UStG 1999 unmittelbar mit der Änderung der Gesetzestechnik zusammenhängt und der Umstellung der Eigenverbrauchsbesteuerung auf einen unmittelbaren Vorsteuerausschluss für bestimmte Aufwendungen dient.“ Diese Annahme brachte den BFH offenbar dazu, die zum 1.4.1999 eingeführte Vorschrift im Hinblick auf die aufgehobene Eigenverbrauchsregelung des § 1 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 Buchst. c UStG 1993 auszulegen. Diese Auslegung wieder-
__________ 39 Aufwendungen i. S. des § 1 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c UStG a. F. waren in erster Linie die Anschaffungs- und Herstellungskosten. Aufgrund der Verknüpfung der Regelung mit einkommensteuerrechtlichen Vorgaben wurde auch die Fraktionierung der Aufwendungen nach ertragsteuerrechtlichen AfA-Grundsätzen übernommen. Das war insofern möglich, als umsatzsteuerrechtlich die Besteuerung als „Verwendungs-“ bzw. „Ausgangsumsatz“ vorgesehen war und nicht (wie durch Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie vorgegeben) als ein Vorsteuerabzugsverbot (zu einem Eingangsumsatz). 40 Unter II. 4. b.
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um legt Zweifel am Verständnis des BFH zum Unterschied der „Gesetzestechnik“ der beiden Regelungen nahe. Die alte Eigenverbrauchsregelung bestand in der Besteuerung eines Ausgangsumsatzes41, jetzt handelt es sich um einen Vorsteuerabzugsausschluss, betreffend einen Eingangsumsatz. Der Gesetzgeber hält sich auch insoweit an den Unterschied, als er mit dem Begriff „Aufwendungen“ keinen der für die Besteuerung von Ausgangsumsätzen/Verwendungsumsätzen geltenden Begriffe wie „Kosten“ oder „Ausgaben“ (vgl. § 10 Abs. 4 UStG) verwendet. Die sinngemäße Anwendung der Berichtigungsregel des § 17 Abs. 1 UStG gemäß Abs. 2 der Vorschrift, wenn „Aufwendungen im Sinne des § 15 Abs. 1a getätigt werden“, betrifft die dort genannten Aufwendungen, für die Vorsteuerbeträge, die auf sie entfallen, nicht abziehbar sind. Die Aufwendungen sind also die mit Vorsteuer belasteten Anschaffungsoder Herstellungskosten des Repräsentationsgegenstands. Vorsteuerbeträge sind von vorneherein grundsätzlich nur dann abziehbar, wenn sie unter genauer Angabe der Leistung oder Teilleistung in einer Rechnung gesondert ausgewiesen sind. Wann (bzw. in welchem Besteuerungszeitraum) solche Aufwendungen „getätigt“ werden, ist ebenfalls nach Vorsteuerabzugsregeln eindeutig: Das ist der Zeitpunkt des Empfangs der Leistung (mit Rechnung) bei Sollversteuerung oder der Rechnungsbezahlung bei Ist-Besteuerung. Zweck der Regelungen in §§ 15 Abs. 1a, 17 Abs. 2 Nr. 5 UStG ist es, den Vorsteuerabzug bei Anschaffung solcher Gegenstände von vorneherein nicht zuzulassen oder dann zu berichtigen, wenn der Unternehmensgegenstand (nach Vorsteuerabzug bei Anschaffung für Unternehmenszwecke) später unter die Repräsentationsregelung fällt: Soweit das Urteil v. 2.7.2008 ausführt42, „Aufwendungen werden i. S. v.§ 17 Abs. 2 Nr. 5 UStG 1999 getätigt, wenn die bezogene Leistung tatsächlich für abzugsschädliche Zwecke i. S. der in § 15 Abs. 1a Nr. 1 UStG 1999 genannten Vorschriften des EStG verwendet wird (vgl. Stadie in Rau/Dürrwächter, a. a. O.43, § 17 Rz. 279)“, ist das zwar richtig, betrifft aber andere Fälle als den entschiedenen Segeljachtfall: Beispiel44: Unternehmer A schenkt seinem Geschäftskunden B im April des Jahres 03 eine Uhr aus seinem Warenbestand. Die Uhr hatte A im Dezember 01 für 20 Euro zzgl. 3,80 Euro USt eingekauft. Im Dezember 03 erhält B von A aus Anlass des Weihnachtsfestes ein Weinpräsent, das A im Dezember 03 für 40 Euro zzgl. 7,60 Euro USt eingekauft hatte.
__________ 41 BFH v. 6.8.1998 – V R 74/96, BFHE 186, 454, BStBl. II 1999, 104: „Dadurch, daß nach dem Umsatzsteuergesetz 1980 der Vorsteuerabzug abweichend von Art. 17 Abs. 6 der Richtlinie 77/388/EWG nicht unmittelbar ausgeschlossen, sondern durch § 1 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 Buchst. c UStG 1980 technisch über Eigenverbrauch (bei längerlebigen Investitionsgütern pro rata temporis) rückgängig gemacht wird, darf keine höhere Steuerbelastung als durch den unmittelbaren Ausschluß vom Vorsteuerabzug entstehen (vgl. Klenk, UVR 1994, 210).“ 42 Unter II. 4. c. 43 Umsatzsteuergesetz. 44 Nach BMF v. 5.11.1999, BStBl. I 1999, 964, Tz. 1.2, und Klenk in Sölch/Ringleb, § 17 UStG Rz. 178.
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Rückwirkung und Rückwirkungsverbote bei Änderungen im Umsatzsteuerrecht Durch das zweite Geschenk werden auch die Aufwendungen für das erste Geschenk nicht abziehbar i. S. d. § 4 Abs. 5 EStG. A hat in der USt-Voranmeldung 12/03 die Vorsteuer für die Uhr nach § 17 Abs. 2 Nr. 5 UStG zu berichtigen; der Vorsteuerabzug für das zweite Geschenk ist nach § 15 Abs. 1a UStG nicht abziehbar.
Und soweit der BFH dann fortfährt: „Zu diesen Aufwendungen können auch AfA für abnutzbare Wirtschaftsgüter gehören, die vor dem 1.4.1999 erworben wurden und für deren Anschaffungskosten der Vorsteuerabzug nach § 15 UStG 1993 gewährt wurde“, werden das „neue“ Vorsteuerabzugsverbot für Repräsentationsaufwendungen und die Berichtigungsregelung dazu wieder wie der Verwendungseigenverbrauch bei Unternehmensgegenständen behandelt. Für letzteren wird ausdrücklich auf die laufende Verwendung eines Unternehmensgegenstands, und in der Regelung zur Bemessungsgrundlage auf die bei Ausführung dieser Umsätze entstandenen Kosten (seit 1.7.2004: Ausgaben) abgestellt; dazu gehören auch die AfA-Beträge für den Gegenstand. Für das Vorsteuerabzugsverbot bei Repräsentationsaufwendungen gibt es keine solche zeitliche Fraktionierung. Nun hatte zwar der BFH in dem bereits erwähnten Urteil v. 6.8.199845 die damalige Praxis zum Repräsentationseigenverbrauch beiläufig so bestätigt, dass mit diesem der Vorsteuerabzug (bei längerlebigen Investitionsgütern pro rata temporis) rückgängig gemacht werden sollte. Eine Begründung enthält diese Entscheidung dazu nicht. Das war wohl auch für die Norm des § 1 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 Buchst. c UStG a. F. eine unzutreffende – nämlich rechtsgrundlose – Auslegung. Das kann aber hier dahinstehen, weil § 17 Abs. 2 Nr. 5 UStG n. F. eben nicht die damalige Technik des Eigenverbrauchs, sondern die des Vorsteuerabzugsverbots verwendet. Die Gegenprobe zur Richtigkeit der BFH-Auffassung ist einfach: Der BFH hat seine Auffassung zu § 17 Abs. 2 Nr. 5 UStG n. F. als „Übergangsregelung“ verwendet, weil es sich um einen vor dem Stichtag 1.4.1999 angeschafften Repräsentationsgegenstand mit Vorsteuerabzug handelte, der nach dem Stichtag noch betriebsgewöhnlich genutzt wurde. Gleichwohl kann die Auffassung nur Bestand haben, wenn sie auch im „Normalfall“ als zutreffende Auslegung der Vorschrift gelten würde. Das müsste bedeuten, dass bei Anschaffung eines Repräsentationsgegenstands mit mehrjähriger Nutzungsdauer der Vorsteuerabzug fraktioniert über die Nutzungsjahre anhand des nach AfA-Regel ermittelten Anteils zu berichtigen wäre, weil der Gegenstand während dieser Zeit für abzugsschädliche Zwecke verwendet wird. Diese Auffassung hat m. W. noch niemand ernsthaft vertreten. Mit anderen Worten, für die vom BFH entschiedene Fallgestaltung fehlt die (notwendige) Übergangsregelung. Die Behauptung des BFH46, die „Berichtigung des Vorsteuerabzugs hinsichtlich der AfA für die vor der Gesetzesänderung erworbenen Segeljachten beinhaltet keine unzulässige Rückwirkung. Denn sie führt zu keiner höheren Steuerbelastung als dies bei einer Fortführung der Besteuerung des Eigenverbrauchs
__________ 45 V R 74/96, BFHE 186, 454, BStBl. II 1999, 104. 46 Unter II. 5. e. des Urteils v. 2.7.2008, XI R 61/05, BFHE 222, 11, BStBl. II 2009, 167.
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nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 Buchst. c UStG 1993 der Fall gewesen wäre“ soll wohl Zweifler trösten. Bei richtiger Entscheidung – nämlich einer zutreffenden Auslegung der Neuregelung und der Feststellung eines Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot – hätte es ihrer nicht bedurft.
VII. Zusammenfassung Vereinfacht und sehr plakativ kann das bisherige Erscheinungsbild der Rechtsprechung zum Verbot rückwirkender Regelungen im Steuerrecht so umrissen werden: Die BFH-Rechtsprechung bemüht sich um die Anwendung des grundsätzlichen Verbots rückwirkender Regelungen – sowohl bei den Ertragsteuern als auch bei der Umsatzsteuer. Sie hängt dabei von den beiden „verwerfungsbefugten“ Instanzen ab: Vor dem BVerfG erhielt man über viele Jahre zwar ausgefeilte Definitionen der Begriffe der Rückwirkungsmöglichkeiten, aber kaum positive Anwendungsergebnisse. Der für die gemeinsame Mehrwertsteuer zuständige EuGH wendet das Rückwirkungsverbot als Bestandteil des Grundsatzes des Vertrauensschutzes konsequent und zügig an.
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Europäische Rechtsharmonisierung in der Praxis**: Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Finanzaufsicht nach den Europäischen Verträgen und der Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Inhaltsübersicht I. Überblick über die bestehende Kooperationsstrukturen und Reformbedarf II. Künftige Architektur der europäischen Aufsichtsbehörden am Beispiel der EBA
III. Grenzen der EBA-Befugnisse im Lichte der europäischen Verträge IV. Zusammenfassung
Das Handeln der Europäischen Union auf der Grundlage der europäischen Verträge steht von Beginn an in einem steten Spannungsverhältnis zu den Befugnissen der Mitgliedstaaten. Ein eindrucksvolles Beispiel der schwierigen Grenzziehung zwischen beiden Ebenen ist das Fachgebiet des Jubilars, das Steuerrecht. So hat sich der EuGH u. a. in seiner jüngeren Rechtsprechung vor dem Hintergrund der Vereinbarkeit des Steuerrechts mit den Grundfreiheiten des primären Gemeinschaftsrechts detailliert zu ertragssteuerrechtlichen Fragen geäußert, obwohl die direkten Steuern „an sich“ nicht zu den unionsweit geregelten Sachgebieten zählen und der EU insoweit keine Sachkompetenz zusteht1. Auch im Bereich der Finanzaufsicht steht die Europäische Union vor einer Neudefinition ihrer Rolle, die eine Stärkung der Unionsebene beim Erlass aufsichtlicher Standards und möglicherweise auch im Vollzug der aufsichtlichen Regeln mit sich bringen wird2. Interessanterweise spielen Fragen der unionsrechtlichen Kompetenzordnung, insbesondere der Grundaussagen des Lissaboner Vertrags vom 13. Dezember 2007, in der politischen Diskussion kaum ein Rolle, obwohl seinerzeit in der Debatte um die Ratifizierung des
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* Für seine Mitarbeit danke ich Herrn Bundesbankdirektor Christof Freimuth. ** Der Autor legt ausschließlich seine persönliche Auffassung dar. 1 Vgl. auch EuGH v. 13.12.2005 – C-446/03, Slg. 2005, S. I-10837 ff. – Marks & Spencer zur gruppenweiten Verlustverrechnung. 2 Die Verhandlungen über die Rechtstexte waren zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Manuskripts noch nicht abgeschlossen. Im Folgenden wird daher vor allem auf die geplanten Neuerungen auf der Grundlage des vom Rat gefundenen Kompromisses eingegangen, in dessen Abweichungen vom ursprünglichen Vorschlag der Kommission sich die zentralen Problemfelder deutlich abzeichnen. Die Vorstellungen des Europäischen Parlaments gingen weit darüber hinaus. Die politische Einigung im sogenannten Trilog zwischen Kommission, Rat und Europäischem Parlament wurde im Folgenden so weit möglich noch berücksichtigt, wenn sie vom Ratskompromiss wesentlich abweicht.
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Lissaboner Vertrags die mit diesem Vertragswerk bezweckte klarere Kompetenzordnung und die Stärkung der demokratischen Institutionen gegenüber der Exekutive ein wesentliches Argument waren.
I. Überblick über die bestehende Kooperationsstrukturen und Reformbedarf Für das Verständnis des EU-Gesetzgebungsprozesses im Finanzsektor ist das nach dem früheren Präsidenten des Europäischen Währungsinstituts und vormaligen Präsidenten der belgischen Zentralbank benannte „Lamfalussy-Verfahren“ wichtig. Während die Gesetzgebung als „Stufe 1“ des Lamfalussy-Verfahrens bezeichnet wird, treten als „Stufe 2“ spezielle Fachausschüsse unter dem Vorsitz der Kommission zusammen, die aus Vertretern der zuständigen Ministerien der Mitgliedstaaten bestehen. Daneben existieren als „Stufe 3“ des LamfalussyVerfahrens Expertenausschüsse, die auf dem Gebiet der mikroprudentiellen Aufsicht tätig sind, allerdings nur beratende Funktionen besitzen: der Ausschuss der Europäischen Bankaufsichtsbehörden (CEBS), der Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (CEIOPS) und der Ausschuss der Europäischen Wertpapierregulierungsbehörden (CESR). Die Expertenausschüsse setzen sich aus hochrangigen Mitgliedern der nationalen Aufsichtsbehörden zusammen. Dem Ausschuss der Europäischen Bankaufsichtsbehörden gehören außerdem Vertreter der nationalen Zentralbanken an. Eine Einrichtung, die für die Beaufsichtigung von Systemrisiken (Aufsicht auf Makroebene) in Europa insgesamt zuständig wäre, fehlt hingegen bislang weitgehend, sieht man vom ESCB Banking Supervision Committee (BSC) ab, das seit 1998 bei der EZB eingerichtet ist und dem Vertreter der Zentralbanken sowie von Aufsichtsbehörden aus den Mitgliedstaaten angehören, in denen die Zentralbank nicht in aufsichtliche Tätigkeiten eingebunden ist. Die tiefgreifende Krise in weiten Bereichen der internationalen Finanzmärkte seit dem Jahr 2007, die unter anderem durch den Zusammenbruch der US Investmentbank Lehman Brothers Inc. am 15. September 2008 und darauf folgende staatliche Stützungsmaßnahmen in einer Vielzahl von Staaten gekennzeichnet ist, hat naturgemäß auch die Frage nach organisatorischen Veränderungen der Finanzaufsicht aufgeworfen. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass die Anpassung der Aufsichtsstrukturen an die Internationalisierung der Finanzmärkte schon lange vor der Krise begonnen hat; insbesondere in der europäischen Bankenrichtlinie3 aus dem Jahre 2006 sind Kooperationsinstrumente wie Koordinierungs- und Kooperationsverträge (Art. 131) und vor allem die Institution von Aufsichtskollegien (supervisory colleges, Art. 129 f.) vorgesehen, die eine koordinierte Aufsicht grenzüberschreitend tätiger Bankinstitute ermöglichen und erleichtern sollen.
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3 Richtlinie 2006/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute.
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Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Finanzaufsicht
Für die weitere organisatorische Entwicklung der europäischen Finanzaufsicht hatte der Präsident der Europäischen Kommission eine Gruppe unter dem Vorsitz von Jacques de Larosière ernannt. Diese Gruppe legte Anfang 2009 ihren Bericht vor4. Er enthielt unter anderem die Anregung, ein European System of Financial Supervisors (ESFS) und einen European Systemic Risk Council (ESRC) ins Leben zu rufen. Die heute bestehenden Stufe-3-Ausschüsse sollen danach im Rahmen des ESFS in Unionsbehörden überführt werden, die über die bisher wahrgenommenen Aufgaben hinaus rechtlich verbindliche Mediationsentscheidungen bei Konflikten zwischen nationalen Aufsehern treffen sollen, verbindliche Aufsichtsstandards verabschieden und die Überwachung und Koordination der aufsichtlichen colleges übernehmen sollen. Daneben soll den Behörden die Zulassung und Aufsicht über bestimmte unionsweit tätige Akteure wie Ratingagenturen und im Bereich der Handelsabwicklung tätige Unternehmen übertragen werden. Die auf dem de Larosière-Bericht beruhenden Vorschläge der Kommission folgten im Herbst 2009. Sie bestehen aus drei Verordnungsentwürfen, mit denen jeweils eine neue Agentur für die jeweilige sektorale Finanzmarktaufsicht errichtet werden soll, die im ESFS als Netzwerk der Aufseher zusammenarbeiten sollen5. Begleitend soll zur schärferen Identifizierung von Systemrisiken jenseits der individuellen „mikroprudentiellen“ Aufsicht ein European Systemic Risk Board (ERSB)6 errichtet werden, für das die EZB ein Sekretariat stellen wird. Leider haben sich weder die de Larosière-Gruppe noch die Kommission in ihren Arbeiten intensiv mit der Rechtsfrage auseinandergesetzt, ob und inwieweit solche Agenturen, insbesondere wenn ihnen weit reichende Kompetenzen zugestanden werden sollen, mit dem primären Unionsrecht vereinbar sind. Die Kommission hat ihre Vorschläge allein auf die allgemeine „Binnenmarktkompetenz“ nach Art. 95 EG (heute Art. 114 AEUV) gestützt, die die Angleichung von Rechtsvorschriften zum Inhalt hat.
II. Künftige Architektur der europäischen Aufsichtsbehörden am Beispiel der EBA Die drei bestehenden beratenden Ausschüsse der Stufe 3 sollen bei der angestrebten Neuordnung der europäischen Zusammenarbeit im Bereich der Finanz-
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4 The High-Level Group on Financial Supervision in the EU, Report 25. February 2009. 5 Vorschlag KOM(2009) 501 vom 23. September 2009 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung einer Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (EBA); Vorschlag KOM(2009) 502 vom 23. September 2009 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersvorsorge (EIOPA); Vorschlag KOM(2009) 503 vom 23. September 2009 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung einer Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde (ESMA). 6 Vorschlag KOM(2009) 499 vom 23. September 2009 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rats über die gemeinschaftliche Finanzaufsicht auf Makroebene und zur Einsetzung eines Europäischen Ausschusses für Systemrisiken.
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marktaufsicht gleichsam den Nukleus der EU-Agenturen für die Kontrolle des Bankwesens (European Banking Authority – EBA), des Wertpapierhandels (European Securities and Markets Authority – ESMA) und des Versicherungswesens (European Insurance and Occupational Pensions Authority – EIOPA) bilden. Am Beispiel der EBA (Sitz in London) soll die Rolle der Aufsichtsbehörden im Folgenden exemplarisch ausgehend vom Vorschlag der Kommission7 und des Ratskompromisses8 unter Berücksichtigung des Ergebnisses des „Trilogs“9 zwischen Parlament, Rat und Kommission näher dargestellt werden10. Was die Sachbereiche angeht, in denen die EBA tätig werden soll, erfasste der ursprüngliche Kommissionsentwurf die Kerngebiete des Bankaufsichtsrechts, die Eigenkapital-Richtlinien (2006/48/EG und 2006/49/EG), die Geldwäscherichtlinie (2005/60/EG), die Finanzkonglomeratsrichtlinie (2002/87/EG), die Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen (2002/65/EG) und die Richtlinie über Einlagensicherungssysteme (1994/19/EG). Im Rat wurde darüber hinaus noch eine Zuständigkeit der EBA für die Bereiche der Geldwäsche sowie für Zahlungsinstitute und E-Geldinstitute eingefügt. Auf all diesen Gebieten soll die EBA technische Standards entwickeln11 und die kohärente Anwendung des gesamten EU-Rechts durch die nationalen Aufsichtsbehörden sicherstellen12. Die technischen Standards, die mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden, sollen sodann formal von der Kommission als Verordnung oder Beschluss angenommen werden13. Der Rat hat in seinem Ratskompromiss ausdrücklich klargestellt, dass die technischen Standards keine politischen Entscheidungen enthalten dürfen. Dies hat auch Eingang in die Trilogfassung gefunden14. Anzuwenden ist für technische Regulierungsstandards das Verfahren delegierter Rechtsakte gemäß Art. 290 AEUV und für technische Durchführungsstandards das Verfahren für Durchführungsrechtsakte gemäß Art. 291 AEUV. Das Europäische Parlament wird sicherlich darauf achten und zu achten haben, dass ihm nicht unter der Flagge der „technischen Standards“ die demokratische Verantwortung für die Rechtssetzung entgleitet und in die „Dunkel-
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7 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung einer Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (KOM[2009] 501 endgültig). 8 Kompromisstext des Rates (Wirtschaft und Finanzen) vom 2. Dezember 2009, Dokumentennummer 16748/1/09 Rev. 1. 9 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung einer Europäischen Bankaufsichtsbehörde im Rahmen des Trilogs vom 2. September 2010, vorläufig vereinbarte Fassung, Dokumentennummer 13070/1/10 Rev. 1. 10 In der Literatur fehlt eine nähere Auseinandersetzung mit den Vorschlägen noch weitgehend. Einzelne Beiträge wie Lehmann/Manger-Nestler, EuZW 2010, 87, bleiben deskriptiv. Hopt, NZG 2009, 1401 ordnet die Maßnahmen in den regulatorischen Kontext ein. 11 Art. 7 der Verordnung in der Fassung des Kompromisstextes des Rates. Im Folgenden wird diese Fassung zugrunde gelegt, soweit nichts anderes angegeben wird. 12 Art. 8 und 9 der Verordnung. 13 Art. 7 Abs. 4 der Verordnung in der Fassung des Trilogs. 14 Art. 7 Abs. 1 der Verordnung.
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kammer“ administrativen „Expertenrechts“ abwandert. Hierbei ist die Neigung administrativer Gremien zu berücksichtigen, Regelungen möglichst detailliert und hochkomplex abzufassen, um auch bei materiellen Grundsatzfragen einen lediglich technischen Standard vorzuspiegeln, und sich dadurch dem als zeitraubend empfunden Verfahren regulärer Normsetzung zu entziehen. Immerhin sieht die Verordnung in der Trilogfassung nunmehr ausdrücklich im Verfahren nach Art. 290 AEUV ein Widerspruchsrecht für das Europäische Parlament und den Rat vor15. Daneben soll die EBA wie bereits heute CEBS weiterhin unverbindliche Leitlinien und Empfehlungen entwickeln16, die keine Rechtswirkung entfalten. Werden sie jedoch nicht beachtet, müssen Gründe angeführt werden (sog. comply or explain-Mechanismus)17. Die Entwicklung solcher Leitlinien und Empfehlungen bedarf keiner zusätzlichen Ermächtigung im sektoralen Recht und ist daher für die Gebiete vorgesehen, die nicht durch bindende technische Standards abgedeckt werden. Eine der Hauptstreitpunkte war die in Art. 10 des Verordnungsentwurfs der Kommission angesprochene Rolle der EBA im Krisenfall. Nach dem Kommissionsentwurf sollte die EBA mit verbindlicher Wirkung für die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten die gesamte Palette aufsichtlicher Maßnahmen anordnen können. Nach der Vorstellung des Europäischen Parlaments, die Eingang in die Trilogfassung der Verordnung gefunden hat18, soll die EBA solche Anordnungen auch unmittelbar an einzelne Kreditinstitute richten können, wenn die nationale Aufsicht aus Sicht der EBA nicht ordnungsgemäß arbeitet19. Unabhängig von der sachlichen Frage, ob es hierdurch nicht in der Praxis zum Aufbau einer „Schattenaufsicht“ mit parallelen Zuständigkeiten und entsprechenden Ineffizienzen kommen kann, stellt sich die Frage, wie die Voraussetzungen eines „Krisenfalles“ zu definieren sind und wer darüber entscheidet. Nach dem im Rat erzielten Kompromiss ist der Krisenfall als solcher zwar nur sehr allgemein umschrieben („Gefährdung der Integrität von Finanzmärkten oder der Stabilität des Finanzsystems in der EU“, Art. 10 Abs. 2), die Entscheidung über die Ausrufung des Krisenfalls soll aber dem Rat selbst vorbehalten bleiben. Schließlich soll der EBA das Recht zugewiesen werden, verbindliche Schlichtungsentscheidungen zu treffen, wenn es zu unterschiedlichen Auffassungen zwischen verschiedenen nationalen Behörden – etwa zwischen der Heimataufsicht eines großen Instituts und der Aufsicht eines anderen Mitgliedstaates über ein ausländisches Tochterunternehmen – kommt. Das von der Kommission in ihrem Vorschlag noch vorgesehene Durchgriffsrecht der EBA auf ein-
__________ 15 16 17 18 19
Art. 7b der Verordnung in der Fassung des Trilogs. Art. 8 der Verordnung. Art. 8 Abs. 5 der Verordnung. Art. 10 Abs. 3 der Verordnung in der Fassung des Trilogs. Fehlende Umsetzung einer Entscheidung der EBA (gleich ob aus sachlichen oder rechtlichen Bedenken) mit der Folge einer grob unrichtigen Anwendung von Gemeinschaftsrecht, einschließlich der von der EBA erlassenen technischen Standards.
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zelne Finanzinstitute20 für diesen Fall wurde im Ratskompromiss gestrichen, hat aber wieder Eingang in die Trilogfassung der Verordnung gefunden, wenn auch begleitet von einem Haushaltsvorbehalt21. Zur Sicherstellung der Einhaltung spezifischen Sekundärrechts sieht der Verordnungsentwurf weiter ein Mehrstufenverfahren vor, in dem die EBA nach Empfehlungen und Aufforderungen letztlich befugt sein soll, Einzelentscheidungen zur Sicherstellung der Anwendung von Unionsrecht zu erlassen. Nach dem Ratskompromiss war dies noch der einzige Fall, in dem die EBA administrative Akte mit unmittelbarer Auswirkung gegenüber den Kreditinstituten erlassen soll. Damit ergibt sich bezüglich der Durchgriffsrechte folgendes Bild:
Anordnungsbefugnisse gegenüber nationalen Aufsichtsbehörden Direkte Durchgriffsrechte der EBA gegenüber Instituten
Krisensituationen
Streitschlichtung
Verletzung von Gemeinschaftsrecht
(+)
(+)
(+)
(-) –> (+)
(-) –> (+)
(+)
Tabelle: Geplante Befugnisse der EBA nach dem Stand des Ratskompromiss und (-->) nach Ergebnis des Trilogs vom 2. September 2010
Umstritten im Trilog zwischen Rat, Kommission und Parlament war die Aufnahme einer unmittelbaren Aufsichtsbefugnis der EBA über bestimmte, grenzüberschreitend tätige Kreditinstitute22. Das Parlament wollte die nationalen Aufsichtsbehörden bei derartigen „pan-europäischen“ Finanzinstitutionen, die ein systemisches Risiko darstellen können, unmittelbar der EBA unterstellen und diese insoweit zum weisungsabhängigen „agent“ der EBA machen. Unabhängig von der Frage, ob ein solcher „supervisory switch“ der gebotenen Rechtsklarheit Rechnung trägt und mit der letztlich nationalen Budgetverantwortung für die Folgen des Verwaltungshandelns in Einklang steht, stünde eine solche Regelung – ähnlich wie die beschriebenen Krisenbefugnisse – in einem Spannungsverhältnis zu den in der Kapitaladäquanzrichtlinie vorgesehenen Aufsichtskollegien23, denn diese supervisory colleges haben gerade die Aufgabe, eine koordinierte Beaufsichtigung grenzüberschreitender Institute in der EU sicherzustellen und weisen hierzu im Konfliktfalle dem „consolidated supervisor“ (also in der Praxis der Aufsicht des Heimatlandes der Konzernmutter) die Entscheidungskompetenz24 zu. Die Aufsichtskollegien sind auch der Nukleus für die nach der Finanzkrise gebildeten „crossborder stability groups“ und „crisis management teams“. Bei den Dienststel-
__________ 20 Vgl. Art. 11 Abs. 4 der Verordnung i. d. F. des Kommissionsvorschlags KOM(2009) 501 und in der Fassung des Trilogs. 21 Vgl. Art. 23 der Verordnung in der Fassung des Trilogs. 22 Sedes materiae war Art. 6 Abs. 3 VO. 23 Diese werden sogar im Art. 12 des Verordnungsentwurfs ausdrücklich anerkannt. 24 Art. 130a Richtlinie 2006/48/EG, bisher beschränkt auf die Anerkennung von Risikomodellen eines Kreditinstituts.
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len der Kommission waren die in der Praxis bewährten colleges allerdings nie besonders beliebt, da sie ein Mittel dezentraler Koordination und Entscheidungsfindung sind, während die Kommission von vornherein den Aufbau neuer Behörden unter ihrer Regie befürwortete.
III. Grenzen der EBA-Befugnisse im Lichte der europäischen Verträge Nach dem Lissaboner Vertrag, der insoweit den Nizza-Vertrag inhaltlich fortschreibt, gehört zu den grundlegenden Prinzipien der Union der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV); demnach verbleiben „alle der Union in den Verträgen nicht übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten“. Der Grundsatz gewinnt im Zusammenhang mit der in Art. 2 ff. AEUV neu vorgenommenen Kompetenzverteilung innerhalb der EU nach ausschließlicher, geteilter und koordinierender Zuständigkeit erhebliche Bedeutung, da er den enumerativen Charakter der europäischen Zuständigkeiten klarstellt und im Übrigen – wie Art. 30 GG im Verhältnis von Ländern und Bund – die grundsätzliche Kompetenzzuordnung bei den Mitgliedstaaten unterstreicht. In seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon25 hat das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nicht nur im Leitsatz, sondern auch an fünf Stellen der tragenden Gründe besonders hervorgehoben als „konstitutives Prinzip“ und als „Ausdruck der staatsverfassungsrechtlichen Grundlegung der Unionsgewalt“26. Das BVerfG beansprucht in dieser Entscheidung auch, zu prüfen, ob sich Rechtsakte von Organen und Einrichtungen der Union in den Grenzen der ihnen im Rahmen der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten und zugleich das Subsidiaritätsprinzip wahren27. Im Zusammenhang mit der Einrichtung europäischer Agenturen wie der EBA stellen sich deshalb vor allem folgende Fragen: Darf eine solche Agentur rechtsetzend tätig werden und sei es nur im Rahmen von technischen Regelwerken? Darf sie den unmittelbaren Vollzug einzelner Regelungen selbst übernehmen? Darf sie Befugnisse für administrative Einzelakte gegenüber den nationalen Behörden oder gar gegenüber einzelnen Unternehmen (Kreditinstituten) beanspruchen? Für die Beantwortung dieser Fragen ist zunächst ein kurzer Blick auf die bisherige Praxis europäischer Agenturen sinnvoll. In den vergangenen Jahren wurde eine immer größere Zahl von Agenturen der Europäischen Union gegründet. Unionsagenturen sind dabei von den Organen der Union (Rat, Parlament, Kommission, EZB usw.) getrennt und verfügen über eine eigene Rechtspersönlichkeit; die bestehenden Agenturen wurden durch Rechtsakte des Rates (und zumeist – je nach Rechtsgebiet – auch des Europäischen Parlaments) im Verantwortungsbereich der Kommission gegründet. Während einige Agenturen mit der bloßen Sammlung von Informationen betraut sind, üben andere Agen-
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25 BVerfG v. 30.6.2009, BVerfGE 123, 267 (350), NJW 2009, 2267 ff. 26 BVerfG v. 30.6.2009, BVerfGE 123, 267 (350), NJW 2009, 2267 ff. 27 BVerfG v. 30.6.2009, BVerfGE 123, 267 (353), NJW 2009, 2267 ff.
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turen auch außenwirksame Entscheidungsbefugnisse aus. Hierzu zählen z. B. das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt im Bereich des Marken- und Geschmacksmusterschutzes, das Sortenamt und das Amt für Flugsicherheit. In rechtlicher Hinsicht lassen sich einzelnen Bestimmungen des AEUV Hinweise entnehmen, dass die Schaffung von Einrichtungen der Union und damit auch von Agenturen jedenfalls nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. So entscheidet der EuGH nach Art. 267 lit. b) AEUV im Vorabentscheidungsverfahren über die Gültigkeit und Auslegungen der Handlungen auch von „Einrichtungen und sonstigen Stellen“ der Union. Nach Art. 287 Abs. 1 AEUV prüft der Europäische Rechnungshof die Einnahmen und Ausgaben jeder von der Gemeinschaft geschaffenen Einrichtung. Aus diesen offenen Verweisungen ergibt sich jedoch keine Vorentscheidung über die Rechtsgrundlage einer bestimmten Agentur28. Der EuGH hat sich mit den Befugnissen von Agenturen in der sogenannten Meroni-Rechtsprechung befasst. In zwei frühen Entscheidungen29 prägte der EuGH den Grundsatz, dass jede Beauftragung einer anderen Stelle als der Organe der Gemeinschaft das institutionelle Gleichgewicht zu wahren habe. Bei diesen Entscheidungen ging es um die Übertragung von Befugnissen auf private Einrichtungen der Stahlindustrie, deren Verallgemeinerung nicht unproblematisch ist. Gelegentlich wird daher vor einem zu engen Verständnis der Meroni-Rechtsprechung gewarnt und mit Blick auf die Wahrung des institutionellen Gleichgewichts als absolute Grenze lediglich das Verbot hervorgehoben, Befugnisse von „politischer Tragweite“ an Agenturen zu übertragen30. Nach herrschender Auffassung hat der EuGH mit dieser Doktrin aber zugleich die Grenzen einer Kompetenzübertragung auf verselbständigte Unionseinrichtungen aufgezeigt31. Eine „Delegation“ von Befugnissen an Dritte ist danach nur zulässig, wenn es sich um genau umgrenzte Ausführungsbefugnisse ohne Ermessensspielraum handelt; zudem müssten die Beaufsichtigung der Befugnisse durch das übertragende Organ und die Kontrolle durch den Gerichtshof sichergestellt sein. Mit dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung hat sich der EuGH in diesen frühen Entscheidungen noch nicht auseinandersetzen könne, da dieses Prinzip (principle of conferral, compétence d’attribution) jedenfalls in explizierter Form in den früheren Vertragsfassungen nicht enthalten war.
__________ 28 In Art. 42 EUV i. d. F. des Vertrags von Lissabon wird ausdrücklich lediglich die Gründung einer Verteidigungsagentur geregelt. Auf die Aufnahme einer allgemeinen Rechtsgrundlage zur Gründung von Agenturen wurde bereits während der Verhandlungen zum Vorgänger des Lissabon-Vertrags, dem EU-Verfassungsvertrag, verzichtet. 29 EuGH v. 13.6.1958 – 9/56, Slg. 1958, 11 und – 10/56, Slg. 1958, 53 zu Fragen der inzwischen ausgelaufenen EGKS. 30 Cremer in Callies/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 7 EGV Rz. 36 ff. 31 Hatje in Schwarze, EU-Kommentar, 2000, Art. 7 EGV Rz. 16; Weis, EuR 1980, 273 (284); Remmert, EuR 2003, 134 (137 ff.); dezidiert anderer Auffassung und auf die begrenzte Reichweite der Meroni-Doktrin hinweisend aber beispielsweise Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004, S. 67.
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Während in der Vertragspraxis bis in das Jahr 1999 regelmäßig die so genannte Vertragsabrundungskompetenz32 des Art. 308 EG (heute Art. 352 AEUV) für die Gründung von Agenturen als Rechtsgrundlage herangezogen wurde, wird seither zumeist auf die jeweilige Sachkompetenz aus den einzelnen Politikfeldern Bezug genommen33. In der Literatur34 wird daher davon ausgegangen, dass für die Gründung einer Agentur in der als Rechtsgrundlage dienenden Vorschrift die Befugnis festgeschrieben sein muss, die „zweckdienlichen Vorschriften“ zu erlassen oder „bestimmte Maßnahmen“ zur Erreichung des jeweiligen Gemeinschaftszieles zu ergreifen. Auf welche Rechtsgrundlage ein Gründungsrechtsakt für eine Agentur gestützt wird, ist künftig auch deshalb von Belang, weil das BVerfG in allen Bereichen, die zu einer Kompetenzerweiterung der Europäischen Union führen, letztlich die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat fordert35. Dies gilt auch für die genannte Vertragsabrundungsklausel in Art. 352 AEUV, von deren Vorgängervorschrift in Art. 308 EGV in der Vergangenheit häufig Gebrauch gemacht wurde, ohne dass die Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat mit einem entsprechenden innerstaatlichen Verfahren verbunden gewesen wäre. Die Kommission hat die Gründung der EBA auf Art. 95 EG-Vertrag (jetzt Art. 114 AEUV) gestützt. Der EuGH36 habe festgestellt, dass Art. 95 EG-Vertrag, der die Annahme von Maßnahmen zur Angleichung der Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Errichtung und des Funktionierens des Binnenmarkts betrifft, eine angemessene Rechtsgrundlage sei, „um die Schaffung einer Gemeinschaftseinrichtung für notwendig zu erachten, deren Aufgabe es ist, […] zur Verwirklichung des Harmonisierungsprozesses beizutragen“, sofern die einer solchen Einrichtung übertragenen Aufgaben mit dem Gegenstand der Rechtsakte in Verbindung stehen, die die nationalen Rechtsvorschriften angleichen. Aufgabe der Europäischen Aufsichtsbehörden werde es sein, den nationalen Behörden bei der konsistenten Interpretation und Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften zur Seite zu stehen. Die Einrichtung des ESFS werde mit der Erstellung einheitlicher Regeln einhergehen, die die identische Anwendung von Vorschriften in der EU gewährleisten und so zur reibungslosen Funktionsweise des Binnenmarkts beitragen. Die Kommission betont zudem, dass sich Finanzintegration und die Finanzstabilität gegenseitig stärkten. Da die den Europäischen Finanzaufsichtsbehörden zu übertragenden Aufgaben folglich mit den als Antwort auf die Finanzkrise erlassenen Maßnahmen verbunden seien, könnten sie sich im Sinne der Rechtsprechung des EuGH auf Art. 95 EG-Vertrag (jetzt Art. 114 AEUV) gründen. In der von der Kommission angeführten Entscheidung zur Einrichtung der Europäischen Agentur für Netz- und Informationssicherheit hat der EuGH
__________ 32 Zu diesem Begriff Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rz. 523. 33 Die Gründung der Grundrechtsagentur wurde hingegen auf Art. 308 EGV gestützt, da es keine spezielle Sachkompetenz der Gemeinschaft für Grundrechte gibt. 34 Vetter, DÖV 2005, 721 (722); Sydow, Die Verwaltung 34 (2001), 517 (530). 35 Vgl. BVerfG v. 30.6.2009, BVerfGE 123, 267 (395). 36 EuGH v. 2.5.2006 – Rs. C-217/04, Slg. 2006, I-3771, Rz. 44.
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zwar anerkannt, dass auf Grundlage von Art. 95 EGV Agenturen errichtet werden können, die die Aufgabe haben, einen Beitrag zur Verwirklichung des Harmonisierungsprozesses zu leisten. Allerdings hatte das Verfahren eine Agentur zum Gegenstand, der vor allem koordinative Aufgaben übertragen wurden, die nicht dem klassischen Verwaltungsvollzug, sondern eher der Beratung zuzuordnen sind, so dass die Frage der Einräumung von Vollzugskompetenzen an eine Agentur unentschieden geblieben ist. Vereinzelt wurde eine Übertragung von Kompetenzen bereits vorher in der Literatur für zulässig gehalten37, wenn die Einräumung der Kompetenz in einem sachlichen Zusammenhang zur Harmonisierung des materiellen Rechts stehe und den Regelungsbelangen diene38. Auch die Frage, ob durch sekundäres Unionsrecht der Gemeinschaftsebene und insbesondere den Agenturen auch die Befugnis für belastende Einzelmaßnahmen gegenüber Dritten zugewiesen werden kann, ist vom EuGH noch nicht entschieden worden. Bislang wurden den Agenturen zumeist Durchführungsbefugnisse der Leistungsverwaltung mit allenfalls geringem Ermessensspielraum übertragen. So hat das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt bei der Entscheidung über die Eintragung einer Gemeinschaftsmarke die in der Verordnung aufgelisteten und bestimmten absoluten und relativen Eintragungshindernisse einzubeziehen39. Vergleichsweise eng beschränkt ist auch der Beurteilungsraum des Gemeinschaftlichen Sortenamtes bei der Entscheidung über die Gewährung von Sortenschutz40. Auch auf die Europäische Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln wurden im Ergebnis keine eigenen Entscheidungsbefugnisse delegiert: Ein Ausschuss der Agentur erstellt zwar eine Stellungnahme zur Genehmigung eines Arzneimittels; doch die Genehmigungsentscheidung trifft die Kommission auch gegen die Stellungnahme des Ausschusses, dann aber unter dem Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit41. Soweit ein gewisses Ermessen delegiert wird, steht dem jedenfalls eine starke Beaufsichtigung der selbständigen Einrichtung durch die Kommission gegenüber42.
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37 So etwa Zuleeg in von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, 6. Aufl. 2003, Art. 5 EGV Rz. 14 sogar unter Berufung auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. 38 Ausdrücklich für eine europäische Finanzaufsicht: Herdegen, Bankenaufsicht im Europäischen Verbund, 2010, S. 31 unter Berufung auf Streinz in Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 308 EGV Rz. 34; Vetter, DÖV 2005, 721 (729). 39 Art. 7 und 8 der Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. Dezember 1993 über die Gemeinschaftsmarke. 40 Art. 5–10 der Verordnung (EG) Nr. 2100/94 des Rates vom 27. Juli 1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz. 41 Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 des Rates vom 22. Juli 1993 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Schaffung einer Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln. 42 Etwa durch „Rechtsaufsicht“ über Organe wie beim Gemeinschaftlichen Sortenamt, Art. 44 der Verordnung (EG) Nr. 2100/94 des Rates vom 27. Juli 1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz und beim Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt, Art. 118 der Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. Dezember 1993 über die Gemeinschaftsmarke, die nach deutschen Vorstellungen einer Dienstaufsicht nahe käme, oder etwa durch eine entscheidende Rolle der Kommission im Steuerungsund Aufsichtsorgan der Einrichtung, vgl. Schwartz in von der Groeben/Schwarze (Fn. 37), Art. 308 EGV Rz. 222.
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Eine am Sinn des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung ausgerichtete Auslegung führt insgesamt dazu, dass die Regelungs- oder Gesetzgebungsbefugnis der Union nicht die Befugnis einschließt, an der grundlegenden Vertragskonzeption, die gerade den Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten vorsieht, zu rütteln. Der Vollzug des Unionsrechts ist nämlich nach der Konzeption der Verträge weiterhin grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, der Rechtsvollzug durch unionseigene Einrichtungen die Ausnahme. Die Gesetzgebungsbefugnisse der Union sind mit den Vollzugsbefugnissen nicht deckungsgleich. Eine ausdrückliche Regelung in den Verträgen findet sich nicht, deshalb ist hier auf das Prinzip der Begrenzung in Einzelermächtigungen zu rekurrieren43. Überlegungen, den Agenturen weitgehende Vollzugsbefugnisse, nicht nur gegenüber nationalen Behörden, sondern unmittelbar gegen Dritten zu verleihen, sind daher wohl nicht mehr mit den Vorgaben der Verträge vereinbar. Insbesondere die Zuordnung von Vollzugsbefugnissen an die EBA im Krisenfall und bei der Streitschlichtung (oder gar generell die Beaufsichtigung grenzüberschreitender Institute durch Unterstellung der nationalen Behörden unter die EBA, wie sie im Trilog diskutiert wurde) dürfte im Widerspruch zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungen stehen und bedürfte deshalb einer Vertragsergänzung. Nicht praktikabel erscheint auch eine gelegentlich vertretene graduelle Argumentation, die punktuelle Durchbrechungen der eigentlichen Aufgabenverteilungen im Vollzug des Unionsrechts noch für zulässig hält und nur eine unbegrenzte Ausdehnung des direkten Vollzugs durch Unionseinrichtungen unter Rückgriff auf Rechtssetzungszuständigkeiten der Union für unzulässig erachtet, weil dies die Schwelle zur formlosen Vertragsänderung überschreite44. Ein solches Verständnis würde nur dazu führen, dass neue Rechtsakte, die direkte Vollzugszuständigkeiten der Unionsebene vorsehen, stets gerade noch für zulässig erachtet würden. Zur Abrundung der Argumentation lohnt sich ein Blick auf das Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 Abs. 3 und 4 EUV. Danach kann die Union nur tätig werden, wenn und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Unionsebene zu erreichen sind. Es ist somit ein Test der vergleichenden Effizienz und ein „Mehrwerttest“ durchzuführen. Was die Koordinierung der Finanzaufsicht angeht, ist dabei nicht nur dazulegen, ob die Mitgliedstaaten für die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben angesichts der Finanzkrise noch allein in der Lage sind. Es kommt auch darauf an, ob nicht durch andere, die Kompetenz der Mitgliedsstaaten weniger tangierende und in den europäischen Richtlinien schon vorgesehene Einrichtungen wie etwa die Aufsichtskollegien oder die grenzüber-
__________ 43 Vgl. dazu Oppermann (Fn. 32), Rz. 636. 44 Vetter, DÖV 2005, 721 (726); Wittinger, EuR 2008, 609 (613) unter Berufung auf Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2005, S. 48.0.
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schreitende Zusammenarbeit auf der Basis von „memoranda of understanding“ das Ziel einer effizienteren grenzüberschreitenden Aufsicht ebenso erfüllt werden kann. Hierbei fällt ins Gewicht, dass an Aufsichtskollegien ohne Weiteres auch Kontakte mit Drittstaaten (etwas USA oder Japan) „angedockt“ werden können, während die EBA eine auf das Gebiet der EU beschränkte Institution ist.
IV. Zusammenfassung Bei Würdigung aller gemeinschaftsrechtlichen Gesichtspunkte lässt sich somit folgende Zusammenfassung festhalten: – Die Sachkompetenz der EU betrifft nach Art. 114 AEUV (früher Art. 95 EGV) Maßnahmen zur Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die das Funktionieren des Binnenmarkts zum Ziel haben. – Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 2 EUV) verbleiben alle in den Verträgen nicht explizit übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten der Union; dies gilt insbesondere für den Verwaltungsvollzug. – Liegt demnach der Schwerpunkt der „Harmonisierungsmaßnahmen“ nach Art. 114 AEUV bei der inhaltlichen Zusammenführung divergierender Rechtsvorschriften, so mag die Gründung neuer Organisationseinheiten („Agenturen“), die dem gleichen Ziel dienen, nicht ausgeschlossen sein. Agenturen zur Koordinierung der Rechtsetzung und des Verwaltungshandels, auch zur Kontrolle der Einhaltung europäischer Vorschriften durch nationale Behörden erscheinen demnach zulässig. Ähnliches gilt für den Erlass ausgesprochen technischer Standards, soweit die Verantwortung hierfür der Kommission unmittelbar zugerechnet werden kann (Art. 290 und 291 AEUV). – Bei der Festlegung der Befugnisse von Agenturen im Einzelnen ist das Subsidiaritätsprinzip und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit (Art. 5 Abs. 2 und 3 EUV) zu beachten. Im Bereich der Finanzaufsicht spielen hierbei insbesondere die in den europäischen Richtlinien selbst vorgesehenen Einrichtungen der Aufsichtskoordination (Aufsichtskollegien – supervisory colleges nach Art. 129 ff. Richtlinie 2006/48/EG) eine Rolle, die in Einzelbereichen auch die letzte Entscheidung durch den consolidated supervisor ermöglichen. – Die Befugnisse zum Erlass schwerwiegender Eingriffsverwaltungsakte, die sich über die mitgliedstaatlichen Verwaltungen hinaus unmittelbar an einzelne Unternehmen/Kreditinstitute richten (z. B. die Anordnung zur Schließung eines Kreditinstituts in einem „Krisenfall“) würde nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung jedoch eine explizite Ergänzung der europäischen Verträge voraussetzen. – Je mehr sich auf politischer Ebene der Wunsch nach einer umfassenden europäischen Finanzaufsicht mit Eingriffskompetenzen (einschließlich der 374
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Verantwortung für die budgetären Folgen von Eingriffsentscheidungen) durchsetzt, müsste im Interesse der Akzeptanz der europäischen Verträge sowie der Vermeidung grundlegender Rechtsrisiken und langwieriger Konflikte (vgl. Lissabon-Entscheidung des BVerfG) dieser Weg der Vertragsergänzung auch beschritten werden; die nationalen Regierungen hätten dann in einem transparenten Verfahren vor den sie legitimierenden Parlamenten für die neue Regelung zu werben und diese in der Öffentlichkeit zu begründen. Die schleichende, „paravertragliche“ Ausdehnung der Gemeinschaftskompetenz im Bereich des Verwaltungsvollzugs beeinträchtigt dagegen die Akzeptanz und Glaubwürdigkeit der europäischen Harmonisierung.
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Über das Nichtanwenden höchstrichterlicher Rechtsprechung – aufgezeigt am Beispiel der Spruchpraxis des I. Senats des BFH Inhaltsübersicht I. Einige einleitende Bemerkungen II. Zulasten-Nichtanwendungen, für welche man ein gewisses Verständnis haben (konnte oder) kann 1. Nachträgliche Einkünfte im Zusammenhang mit einer früheren Betriebsstätte (BMF v. 27.9.1982, BStBl. I 1982, 771) 2. Verdeckte Gewinnausschüttung bei Vereinen (BMF v. 14.8.1987, BStBl. I 1987, 631) 3. Gesellschafter-Fremdfinanzierung (BMF v. 16.9.1992, BStBl. I 1992, 653) 4. „Liebhaberei“ bei beschränkt Steuerpflichtigen (BMF v. 11.12. 2002, BStBl. I 2002, 1394) 5. Rückstellungen für Umwelt-Anpassungsverpflichtungen (BMF v. 21.1. 2003, BStBl. I 2003, 125) 6. Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten (BMF v. 21.6.2005, BStBl. I 2005, 802) 7. (Zwangs-)Aufwendungen einer gemeinnützigen Körperschaft (BMF v. 24.3.2005, BStBl. I 2005, 608) 8. Verlustübergang nach § 12 Abs. 3 UmwStG (BMF v. 7.4.2006, BStBl. I 2006, 344) 9. Steuersatz für Gewinne EU/EWRausländischer Kapitalgesellschaften nach dem Körperschaftsteuer-Anrechnungsverfahren (BMF v. 17.10. 2007, BStBl. I 2007, 766) 10. Liquidation: Körperschaftsteuerminderung bei Auskehrung von Liquidationsraten (BMF v. 4.4.2008, BStBl. I 2008, 542)
11. Kein betriebsstättenloses Einkommen (§ 2 AStG n. F.) 12. Das Ende der finalen Entstrickung (BMF v. 20.5.2009, BStBl. I 2009, 671) und der finalen Betriebsaufgabe 13. Begriff „Geschäftsbeziehung“ in § 1 AStG a. F. (BMF v. 12.1.2010, BStBl. I 2010, 34) III. Zulasten-Nichtanwendungen, für welche man kein oder kaum Verständnis haben (konnte oder) kann 1. Steuerliche Behandlung der Akkumulationsrücklage: Auswirkung auf die Gewerbesteuer (BMF v. 28.12. 1994, BStBl. I 1994, 905) 2. Steuerliche Behandlung von Genussrechten (BMF v. 27.12.1995, BStBl. I 1996, 49) 3. Pensionszusagen gegenüber Gesellschafter-Geschäftsführern (BMF v. 14.5.1999, BStBl. I 1999, 512) 4. Übertragung der Pensionsverpflichtung auf eine Unterstützungskasse (BMF v. 2.7.1999, BStBl. I 1999, 594) 5. Offene Gewinnausschüttungen bei der Verzinsung der Körperschaftsteuer nach § 233a AO (BMF v. 14.9. 1999, BStBl. I 1999, 842; v. 14.2.2000, BStBl. I 2000, 190) 6. Sog. Dividenden-Stripping (BMF v. 6.10.2000, BStBl. I 2000, 1392) 7. Körperschaftsteuerliche und gewerbesteuerliche Mehrmütterorganschaft (BMF v. 4.12.2000, BStBl. I 2000, 1571) 8. Inkongruente Gewinnausschüttungen (BMF v. 7.12.2000, BStBl. I 2001, 47)
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Dietmar Gosch 9. Steuerliche Behandlung der Beteiligung an irischen Kapitalanlagegesellschaften (BMF v. 19.3.2001, BStBl. I 2001, 243) 10. Rückwirkende Begründung eines Organschaftsverhältnisses (BMF v. 24.5.2004, BStBl. I 2004, 549) 11. Diskriminierungsverbote der Doppelbesteuerungsabkommen (BMF v. 8.12.2004, BStBl. I 2004, 1181) 12. Gemeinnützigkeit: Förderung der Allgemeinheit, satzungsmäßige Ausschließlichkeit und Unmittelbarkeit (BMF v. 20.9.2005, BStBl. I 2005, 902) 13. Ausschluss der Kapitalertragsteuererstattung bei Zwischenschaltung einer funktionslosen Holdinggesellschaft (BMF v. 30.1.2006, BStBl. I 2006, 166) 14. Reichweite der Kapitalverkehrsfreiheit (BMF v. 21.3.2007, BStBl. I 2007, 302) 15. Körperschaftsteuerlicher Verlustabzug nach § 8 Abs. 4 KStG (BMF v. 2.8.2007, BStBl. I 2007, 624; v. 17.6. 2002, BStBl. I 2002, 629) 16. Auflösung passiver Ausgleichsposten bei Organschaft (BMF v. 5.10.2007, BStBl. I 2007, 743) 17. Bilanzsteuerrechtliche Berücksichtigung von sog. Nur-Pensionszusagen (BMF v. 16.6.2008, BStBl. I 2008, 681) 18. Kein Abzug ausländischer Betriebsstättenverluste aus Fremdenverkehrsleistungen (BMF v. 4.8.2008, BStBl. I 2008, 837)
19. Gemeinnützigkeit: Rettungsdienste und Krankentransporte (BMF v. 20.1.2009, BStBl. I 2009, 339) 20. „Lidl Belgium“-Schlussurteil und Auslandsbetriebsstättenverluste (BMF v. 13.7.2009, BStBl. I 2009, 835) 21. Abgrenzung hoheitlicher von wirtschaftlicher Tätigkeit einer juristischen Person des öffentlichen Rechts (BMF v. 11.12.2009, BStBl. I 2009, 1597) 22. Steuerbarkeit von Transferzahlungen an ausländische Fußballvereine (BMF v. 7.1.2010, BStBl. I 2010, 44) 23. Verständigungs- und Konsultationsvereinbarungen über die Auslegung von DBA (BMF v. 20.5.1997, BStBl. I 1997, 560; v. 13.4.2010, BStBl. I 2010, 353) 24. Personengesellschaften im Internationalen Steuerrecht (BMF v. 16.4.2010, BStBl. I 2010, 354) a) Nationale Rechtslage b) DBA-Lage c) Gegenaktivitäten der Finanzverwaltung IV. Zugunsten-Nichtanwendungen, welche man allenfalls als Billigkeitserweise ansehen kann 1. Besteuerung der wirtschaftlichen Tätigkeiten der öffentlichen Hand (BMF v. 7.12.2007, BStBl. I 2007, 905) 2. Ausgleichszahlungen an außenstehende Anteilseigner (BMF v. 20.4.2010, BStBl. I 2010, 372) V. Ein kurzes Resümee und ein paar abschließende Worte
I. Einige einleitende Bemerkungen Wolfgang Spindler geht in den gesetzlichen Ruhestand. Damit verliert der BFH nicht nur seinen Präsidenten. Vor allem geht dem BFH (aber hoffentlich, ja mit Gewissheit nicht auch der Steuerwelt) ein „Mahner“ verloren, der sich immer wieder zu Wort gemeldet hat, um Steuer-Missstände, Steuer-Miss- und -Unverständlichkeiten anzuprangern. Ein Thema, das er wie kaum ein anderer vor 380
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ihm zum Gegenstand vielfacher (zuweilen auch durchaus zugespitzter)1 Bekundungen gemacht hat2, ist dasjenige der sog. Nichtanwendungserlasse3, mit denen in erster Linie die Finanzverwaltung, qua „verwaltungsfremdgesteuerter“ Nichtanwendungsgesetze aber auch der Gesetzgeber, in der Vergangenheit zunehmend ihnen missliebige höchstrichterliche Rechtsprechung belegt haben und auch in der Gegenwart immer noch belegen4. Wolfgang Spindler sieht darin zu Recht ein Verfassungsproblem der Gewaltenteilung. Er erkennt darin mit gleichem Recht zudem eine deutliche Beeinträchtigung der Rechtsicherheit, der gleichmäßigen Rechtsanwendung und hat immer wieder daraus abzuleitende Konsequenzen aufgezeigt, die bis hin zur Amtspflichtverletzung gereichen können. Wolfgang Spindler hat dem auch praktische „Taten“ folgen lassen. Zuletzt verdeutlichte sich dies nachhaltig in der Rechtsprechung „seines“, des IX. Senats des BFH im Hinblick auf die Frage des sog. Halbabzugsverbots beim Auflösungsverlust aus einer Kapitalbeteiligung5, 6. Und geradezu legendär ist der nicht zuletzt auf ihn zurückzuführende Disput mit dem BMF: Ausgelöst wurde dieser Disput durch eine kleine parlamentarische Anfrage des FDP-Bundestagsabgeordneten Frank Schäffler u. a. sowie der FDP-Fraktion
__________ 1 So im „O-Ton“ von Wolfgang Spindler: „Der Minister (scil. Peer Steinbrück) verweigert dem Gericht regelmäßig die Gefolgschaft“. 2 Wolfgang Spindler, Deutsche Finanzgerichtsbarkeit – Kontrolle finanzgerichtlicher Entscheidungen durch den Bundesfinanzhof, in Holoubek/M. Lang (Hrsg.), Das Senatsverfahren in Steuersachen, 2001, S. 107 ff.; ders., Das Steuerrecht zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, in FS Solms, 2005, S. 53 ff.; ders., Steuerrecht im Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, Stbg 2006, 1 ff.; ders., Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht, DStR 2007, 1061 ff., und außerdem in vielen, vielen Interviews, Vorträgen, Zeitungsbeiträgen und Diskussionsbeiträgen. 3 Siehe dazu auch das „Glossar“ auf der BMF-Website: www.bundesfinanzministerium. de/nn_39808/DE/BMF__Startseite/Service/Glossar/N/005__Nichtanwendungserlass. html?__nnn=true%3F#doc79250bodyText2. 4 Es gibt auch noch andere, subtilere Wege der Nichtanwendung. Wolfgang Spindler hat einen solchen Weg aufgezeigt (DStR 2007, 1061 ff.): Die Klaglosstellung im Einzelfall nach Ergehen eines stattgebenden Gerichtsbescheides des BFH. Andere Wege sind die Nichtveröffentlichung von Entscheidungen im BStBl., also deren schlichte Ignorierung (s. dazu auch die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage in BTDrucks. 17/2296 v. 25.6.2010, S. 12), oder sogar die Nichtanwendung der Nichtanwendung, falls das fiskalisch im Einzelfall günstig erscheint, siehe z. B. BFH v. 28.4.2010 – I R 81/09, DB 2010, 1322, und die dazu gegebene Stellungnahme von Gosch, BFH/PR 2010, 351. 5 BFH v. 14.7.2009 – IX R 8/09, BFH/NV 2010, 399; v. 18.3.2010 – IX B 227/09, BStBl. II 2010, 627; Jehke/Pitzal, DStR 2010, 1163; Loose/Michel, NWB 2010, 1736; Dötsch/ Pung, DB 2010, 977 (979). Die Finanzverwaltung hatte die Rechtsprechung des BFH zunächst nicht angewandt (BMF v. 15.2.2010, BStBl. I 2010, 181), was den BFH allerdings nicht „störte“ und nicht einmal zur (abermaligen) Zulassung der Rev. veranlasst hatte (BFH v. 18.3.2010 – IX B 227/09, BStBl. II 2010, 627), woraufhin die Finanzverwaltung für die Vergangenheit bei Fehlen jeglicher (!) Einnahmen endgültig „nachgab“ (BMF v. 28.6.2010, BStBl. I 2010, 599). Zwischenzeitlich wurde im JStG 2010 allerdings ein Nichtanwendungsgesetz in die Welt gesetzt, § 3c Abs. 2 Satz 2 EStG n. F. 6 S. zudem jüngst auch die Vorlage an das BVerfG durch BFH v. 7.12.2010 – IX R 70/07, im Hinblick auf die Verwaltungspraxis, ihr missliebige BFH-Urteile nicht zu veröffentlichen.
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im Deutschen Bundestag7 und die darauf gegebene Antwort des BMF8, die in die folgende Pressenotiz mündete9: „Kleine Anfrage: Streit über Finanzurteile eskaliert Im Streit über die Anwendung höchstrichterlicher Urteile des Bundesfinanzhofs kommt es zum Streit zwischen dem Gericht und dem Bundesfinanzministerium. Das Ministerium behauptet, in dieser Wahlperiode nur in 20 Fällen Urteile als nur für den Einzelfall geltend erklärt zu haben (‚Nichtanwendungserlass‘), während der Präsident des Bundesfinanzhofs Wolfgang Spindler von 31 Fällen ausgeht. Wenn man die Urteile hinzunimmt, die erst gar nicht veröffentlicht werden, ergibt sich, dass sich Peer Steinbrück über jedes 10. missliebige Steuerurteil hinwegsetzt. Diese Trickserei muss aufhören. Die Steuergesetze müssen wieder verlässlich sein“10.
Diese Anfrage und die dadurch ausgelöste Resonanz11 gaben Anlass zu etwas bis dato Einmaligem: Die Vermeidung der administrativen Nichtanwendungspraxis als Gegenstand und Programmpunkt eines politischen Koalitionsvertrags, nämlich desjenigen der gegenwärtigen Koalition zwischen CDU/CSU und FDP12. Es erscheint angesichts all dessen als reizvoll, sich des Themas der Nichtanwendung einmal im Wege der ganz konkreten Sachbetrachtung zu nähern. Untersucht werden sollen die einschlägigen Reaktionen der Finanzverwaltung und auch des Steuergesetzgebers auf die Spruchpraxis des I. Senats des BFH, der sich als Teil der Dritten Gewalt diesbezüglich seit jeher besonderer „Fürsorge“ der beiden Co-Potentaten erfreut13. Der Rahmen eines Festschriftbeitrags bietet freilich kaum den Raum für eine umfassende Detailbetrach-
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7 BT-Drucks. 16/13517 v. 17.6.2009. 8 Vom 2.7.2009 Az. IV A 3 – FG 2032/07/10006-06 (gegeben von der Parlamentarischen Staatssekretärin Nicolette Kressl), siehe BT-Drucks. 16/13759 v. 7.7.2009. 9 www.frank-schaeffler.de/bundestag/initiativen/872. 10 Laut der Antwort des BMF auf jene Anfrage prüft das BMF nicht vorab, wie hoch die Belastungen für die Steuerpflichtigen durch einen Nichtanwendungserlass sind. 122 Urteile wurden danach zum Zeitpunkt der Anfrage nicht veröffentlicht. 11 Siehe die etwas pikierten Reaktionen des BMF, zunächst in der Pressemitteilung v. 6.7.2009: „Ziel eines Nichtanwendungserlasses ist es dabei nicht – wie fälschlich behauptet – Steuermehreinnahmen zu erzielen, sondern dem BFH Gelegenheit zu geben, in einem neuen Verfahren seine Rechtsauffassung zu überprüfen“ oder „Gelegentlich ist ein Nichtanwendungserlass unumgänglich, weil sich der BFH selbst widerspricht […]“, sodann in dem besagten „Glossar“ auf der BMF-Website (Fn. 3): „Ein Nichtanwendungserlass erging in den letzten Jahren nur in weniger als 2 % der Fälle. Mehr als dreimal so häufig kommt es vor, dass der BFH seine eigene Rechtsprechung ändert. Dies zeigt, dass ein BFH-Urteil nicht „in Stein gemeißelt ist“, sondern durchaus in Frage gestellt werden kann.“ 12 Fortan sollen Revisionsverfahren durch entsprechende vorzeitige Unterrichtung seitens der Landesfinanzbehörden zeitnah vom BMF begleitet werden, siehe BMF v. 12.3.2010, BStBl. I 2010, 244. Siehe dazu auch Buttjer in Financial Times Deutschland v. 29.4.2010 („Recht + Steuern“). 13 Einer der überhaupt ersten Nichtanwendungserlasse des BMF, der sich gegen den I. Senat richtete, war jener v. 4.8.1976, BStBl. I 1976, 418. Er richtete sich gegen dessen Urteil v. 29.1.1975 – I R 135/70, BStBl. II 1975, 553, und betraf den Geschäftsund Firmenwert als Gegenstand einer verdeckten Einlage. Dieser Erlass hat sich zwischenzeitlich in der Sache und im Zuge einer Generalbereinigung überflüssiger Verwaltungsvorschriften mittlerweile auch formal erledigt.
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tung. Immerhin bleibt die Möglichkeit einer historisch-chronologischen und systematisierend-kommentierenden Kurzanalyse. Und auch sie bietet bereits durchaus überraschende Einsichten.
II. Zulasten-Nichtanwendungen, für welche man ein gewisses Verständnis haben (konnte oder) kann 1. Nachträgliche Einkünfte im Zusammenhang mit einer früheren Betriebsstätte (BMF v. 27.9.1982, BStBl. I 1982, 771) Rechtsprechung und Finanzverwaltung haben bereits früh Stellung zu der neuerlich höchst aktuellen Frage bezogen, ob den Zugriffstatbeständen der beschränkten Steuerpflicht nurmehr ein Gegenwärtigkeitsbezug oder auch ein veranlassungsgetragener Vergangenheitsbezug zu eigen ist. Letzteres hat der BFH bereits in frühen Urteilen14 bejaht, das aber nur für § 49 Abs. 1 Nr. 3 EStG, der einen solchen Vergangenheitsbezug ausdrücklich formuliert und damit eine nachträgliche Besteuerung unschwer ermöglicht. Für § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG und den Besteuerungszugriff bei Existenz der Betriebsstätte fehlt eine derartige Ausdrücklichkeit. Der BFH nahm das in seinem Urteil vom 16.7.1969 (I R 186/66)15 zum Anlass, den besagten Vergangenheitsbezug zu verneinen. Die Finanzverwaltung hat sich in einem Nichtanwendungserlass v. 27.9.198216 dagegen positioniert: „Nach § 34d Nr. 2 Buchst. a EStG ist bei einem unbeschränkt Steuerpflichtigen für die Annahme ausländischer Einkünfte und nach § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG bei einem beschränkt Steuerpflichtigen für die Annahme inländischer Einkünfte unter anderem wesentlich, ob diese Einkünfte durch eine Betriebsstätte erzielt werden. Bei nachträglichen Einkünften aus Gewerbebetrieb, für den der Steuerpflichtige im Zeitpunkt der steuerlichen Erfassung dieser Einkünfte die Betriebsstätte nicht mehr unterhält, ist darauf abzustellen, ob die betriebliche Leistung, die für die Einkünfte ursächlich ist, während der Zeit des Bestehens der Betriebsstätte erbracht wurde. Für die Charakterisierung dieser Einkünfte als inländische oder ausländische fordert das EStG jedoch nicht, dass eine Betriebsstätte in demselben Veranlagungszeitraum vorhanden sein muss, in dem die Einkünfte steuerlich berücksichtigt werden. Auf die Urteile des RFH vom 9.3.193217 und des BFH vom 15.7.196418 und vom 12.10.197819 wird hingewiesen. Das BFH-Urteil vom 16.7.196920 ist insoweit nicht anzuwenden, als daraus eine andere Rechtsauffassung abgeleitet werden könnte.“
Zwischenzeitlich – nach fast 30 Jahren – hat sich diese Rechtsauffassung des BMF als richtig verstetigt und ihren Niederschlag auch in der Rechtsprechung
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14 RFH v. 9.3.1932, RStBl. 1932, 513, und BFH v. 15.7.1964 – I 415/61 U, BStBl. III 1964, 551, sowie v. 12.10.1978 – I R 69/75, BStBl. II 1979, 64. 15 BStBl. II 1970, 56. 16 BStBl. I 1982, 771; dieser Erlass wurde inzwischen im Zuge einer Generalbereinigung aufgehoben, vgl. BMF v. 23.4.2010, BStBl. I 2010, 391. 17 RStBl. 1932, 513. 18 I 415/61 U, BStBl. III 1964, 551. 19 I R 69/75, BStBl. II 1979, 64. 20 I R 186/66, BStBl. II 1970, 56.
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des BFH gefunden: Dieser hat in mehreren neuen Urteilen die bisher vertretene Theorien der sog. finalen Entstrickung21 ebenso wie der sog. finalen Betriebsaufgabe22 aufgegeben. Er hat in diesem Zusammenhang den nachträglichen Besteuerungszugriff auch auf territorial zuzuordnende Betriebsstätteneinkünfte nach Aufgabe einer Inlandsbetriebsstätte angenommen und einen derartigen Zugriff nicht mit der fortdauernden Existenz der Betriebsstätte verknüpft. Ausschlaggebend ist allein der Veranlassungszusammenhang in der Sache, es ist dies nicht der Realisations- und Zuflussmoment. Auch der BFH misst dem Tatbestand der Betriebsstättenexistenz auf der „Zeitschiene“ also nicht nur einen Gegenwarts-, sondern gleichermaßen einen Vergangenheitsbezug zu. Er sieht sich daran ersichtlich auch nicht durch den Abschluss eines DBA mit Freistellungsmethode (Art. 23 A OECD-MA) gehindert. Letzteres wiederum wird nunmehr indes für die steuerliche Gegenwart seitens der Finanzverwaltung in Frage gestellt: Sie erkennt in der Freistellung der ins Ausland „verlagerten“ Betriebsstätteneinkünfte einen Besteuerungsausschluss oder eine Besteuerungsbeschränkung i. S. v. § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG n. F. sowie § 12 Abs. 1 KStG n. F. Daran lässt sich, wie nachfolgend (unter 12.) noch darzutun ist, trefflich zweifeln. Denn von einem Besteuerungsausschluss kann jedenfalls dann keine Rede sein, wenn man dem BFH darin folgt, dass die abkommensrechtlich vereinbarte Freistellung den Zugriff nicht hindert. Und eine Besteuerungsbeschränkung greift die Tatbestandlichkeit der abkommensrechtlichen Anrechnungsmethode auf. Etwaige administrative Erschwernisse, den Besteuerungszugriff auch um- und durchzusetzen, sind damit ersichtlich nicht gemeint. Konsequenz ist, dass die neuen Vorschriften, durch die der Idee nach die Grundsätze des finalen Zugriffs gesetzlich verankert werden sollten, zu kurz greifen und im Ergebnis leerlaufen. In der weiteren Konsequenz tun sich hier neue Divergenzen zwischen Rechtsprechung und Verwaltung auf. Es ist bemerkenswert, dass das BMF dennoch kürzlich den hier in Rede stehenden Nichtanwendungserlass kurzerhand gestrichen hat, denn eigentlich besteht die Kontroverse, wie nachfolgend noch darzutun ist, fort23. 2. Verdeckte Gewinnausschüttung bei Vereinen (BMF v. 14.8.1987, BStBl. I 1987, 631) Der I. Senat hat mit Urteil v. 11.2.1987 (I R 43/83)24 entschieden, dass – auch unangemessene – Leistungen eines rechtsfähigen Vereins an seine Mitglieder regelmäßig nicht zu verdeckten Gewinnausschüttungen führen, weil die Annahme einer verdeckten Gewinnausschüttung die Beteiligung des Empfängers an der die Leistung gewährenden Körperschaft i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG voraussetze. Er hat deshalb Abfindungen an bisherige Vorstandsmitglieder eines Vereins als unbeschränkt abziehbare Betriebsausgaben angesehen. Diese Auslegung des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG weicht aus Sicht des BMF von der bis-
__________ 21 22 23 24
BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464. BFH v. 28.10.2009 – I R 99/08, DStR 2010, 40; I R 28/08, IStR 2010, 103. Siehe dazu unten sub 12. BStBl. II 1987, 643.
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herigen Rechtsprechung und der darauf beruhenden Anweisung in Abschn. 31 Abs. 2 KStR a. F., jetzt H 36 KStR 2008, ab25. Das BMF hat mit seiner Sichtweise im Ergebnis Erfolg gehabt. Der I. Senat ist „im zweiten Anlauf“ von seiner Linie abgerückt: Mit Urteil v. 9.8.1989 (I R 4/84)26 wurde unter ausdrücklicher Aufgabe der früheren Auffassung entschieden, dass eine vGA auch bei einer Nichtkapitalgesellschaft vorliegen kann. Daran hat der I. Senat seitdem festgehalten. 3. Gesellschafter-Fremdfinanzierung (BMF v. 16.9.1992, BStBl. I 1992, 653) Mit Urteil v. 5.2.1992 (I R 127/90)27 hatte der I. Senat entschieden, dass das BMF-Schreiben v. 16.3.198728 keine Rechtsgrundlage hat. Nach Auffassung des BFH ist der Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft zivilrechtlich frei, seine Gesellschaft entweder mit Eigen- oder mit Fremdkapital zu finanzieren. Die Finanzierungsfreiheit des Gesellschafters sei zivilrechtlich nur insoweit beschränkt, als er ggf. den Haftungsfolgen aus den §§ 30, 31 bzw. aus den §§ 32a, 32b GmbHG a. F. unterlag. Diese handelsrechtliche Behandlung schlug nach Auffassung des BFH auf die steuerrechtliche Beurteilung durch. Das KStG enthalte keine Bestimmung, wonach eine Kapitalgesellschaft über das gezeichnete Kapital hinaus mit einer bestimmten Eigenkapitalquote ausgestattet sein müsse. Die Feststellung eines „Gestaltungsmissbrauchs“ könne allein aufgrund des ungewöhnlich hohen Fremdfinanzierungsanteils nicht getroffen werden. Vom Ergebnis her sei es zwar unbefriedigend, dass als Folge dieser Rechtsprechung Gesellschafter, die Eigenkapital zuführten, steuerlich schlechter behandelt würden als diejenigen, die nur Fremdkapital zuführten. Eine Gleichbehandlung könne nicht mit Hilfe des § 42 AO sichergestellt werden. Sollte rechtspolitisch die Gleichbehandlung gewünscht sein, so sei eine ausdrückliche gesetzliche Regelung erforderlich. Die Finanzverwaltung wandte dieses Urteil des BFH im Grundsatz an und hob ihr zuvoriges BMF-Schreiben v. 16.3.1987 auf. Sie erwog allerdings, „dem Gesetzgeber zur steuerlichen Behandlung der Gesellschafter-Fremdfinanzierung eine gesetzliche Regelung vorzuschlagen, wonach bestimmte Vergütungen für Fremdkapital von einem nicht zur Anrechnung von Körperschaftsteuer berechtigten Anteilseigner in verdeckte Gewinnausschüttungen umqualifiziert werden“29. Eine solche Regelung wurde mit § 8a KStG a. F. denn auch geschaffen. Dieses Nichtanwendungsgesetz geriet allerdings derart kompliziert, dass es bereits wenige Jahre nach seiner Neuschaffung wieder abgeschafft wurde – und sodann durch die nunmehrige (und nur schwer verdauliche und in Teilen womöglich gemeinschafts- wie abkommenswidrige) Zinsschranke (vgl. § 4h EStG, § 8a KStG n. F.) ersetzt worden ist.
__________ 25 26 27 28 29
BMF v. 14.8.1987, BStBl. I 1987, 631. BStBl. II 1990, 237, m. w. N. BStBl. II 1992, 532. BStBl. I 1987, 373. BMF v. 16.9.1992, BStBl. I 1992, 653.
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4. „Liebhaberei“ bei beschränkt Steuerpflichtigen (BMF v. 11.12.2002, BStBl. I 2002, 1394) Mit Urteil vom 7.11.2001 (I R 14/01)30 wurde entschieden, dass die Beurteilung, ob eine Tätigkeit der steuerrechtlich relevanten Einkunftserzielung oder dem Bereich der „Liebhaberei“ zuzuordnen ist, bei beschränkt Steuerpflichtigen nach denselben Kriterien wie bei unbeschränkt Steuerpflichtigen zu erfolgen hat. Das Fehlen der Gewinnerzielungsabsicht sei dabei kein „im Ausland gegebenes Besteuerungsmerkmal“, das nach § 49 Abs. 2 EStG außer Betracht bleiben könnte. Dazu hat es das BMF ungewöhnlich (und unziemlich) kurz gemacht. Seine Botschaft lautet: Das Urteil ist nicht anzuwenden31. Gründe werden nicht vermittelt. So lässt sich nur rätseln, was es bewogen haben mag. Diese Sprachlosigkeit dürfte den BFH denn wohl auch ermuntert haben, seine Rechtsprechung kurzerhand zu bestätigen und eine entsprechende Nichtzulassungsbeschwerde der Finanzverwaltung zurückzuweisen32. Die „Messen“ dürften in dieser Frage also „gesungen“ sein, und so hat das BMF zwischenzeitlich auch weitgehend die Segel gestrichen33. Dennoch: In der Sache mag die Skepsis der Verwaltung durchaus eine Berechtigung haben. Denn die Frage danach, ob ein im Inland agierendes beschränkt steuerpflichtiges Unternehmen bezogen auf sein weltweites Einkommen steuerlicher „Liebhaber“ ist, hätte sich bei Ansatz der sog. isolierende Betrachtung (§ 49 Abs. 2 EStG) für die Inlandseinkünfte wohl ebensogut ausblenden lassen können. Immerhin trägt allein diese Sichtweise dem zugriffsimmanenten Charakter der beschränkten Steuerpflicht Rechnung, der im Ausland verwirklichte Umstände und Gegebenheiten weitgehend außerhalb der steuerrelevanten Betrachtung belässt. 5. Rückstellungen für Umwelt-Anpassungsverpflichtungen (BMF v. 21.1.2003, BStBl. I 2003, 125) Der I. Senat hat in seinem Urteil vom 27.6.2001 (I R 45/97)34 im Hinblick auf die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten i. S. d. § 249 HGB entschieden, dass bereits rechtlich entstandene Verpflichtungen unabhängig vom Zeitpunkt ihrer wirtschaftlichen Verursachung handels- und steuerrechtlich zu berücksichtigen sind. Dies widerspricht der von der Finanzverwaltung (R 31c Abs. 2 und 4 EStR 2001, jetzt R 5.7 Abs. 2 und 5 EStR 2008) vertretenen Auffassung, wonach Rückstellungen erst dann gebildet werden dürfen, wenn sie rechtlich entstanden und wirtschaftlich verursacht sind.
__________ 30 31 32 33 34
BStBl. II 2000, 861. BMF v. 11.12.2002, BStBl. I 2002, 1394. BFH v. 2.2.2010 – I B 91/09, BFH/NV 2010, 878. BMF v. 25.11.2010, BStBl. I 2010, 1350 Tz. 15. BStBl. II 2001, 121.
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Die Finanzverwaltung beharrt auch hier auf ihrem Standpunkt35 und das mag man akzeptieren: Innerhalb des BFH ist derzeit alles andere als ausgemacht, wie dermaleinst die Uhren in dieser Frage gestellt werden. Zwar (und immerhin) bleibt der I. Senat seinem Standpunkt bislang treu. Er hat auch nachfolgend daran festgehalten, dass eine Rückstellung bereits dann zu passivieren sei, wenn die Verpflichtung am Bilanzstichtag rechtlich besteht, auch dann, wenn der korrespondierende Aufwand keinesfalls in der Vergangenheit wirtschaftlich verursacht wurde36.Allerdings bleibt reichlich Ungewissheit, weil (einmal mehr)37 der IV. Senat des BFH Gegenbewegungen erkennen lässt. Dieser teilt augenscheinlich die gegensätzliche Auffassung der Finanzverwaltung. Er wich einer Divergenzanrufung zuletzt nur dadurch aus, dass er die Streitfrage nicht als entscheidungserheblich betrachtete: eine gesetzliche Verpflichtung mit gesetzlicher Übergangspflicht sei nämlich anders zu behandeln als eine gesetzliche Verpflichtung mit behördlicher Übergangspflicht (sic!). So gesehen ist es aber mehr als verständlich, dass die Finanzverwaltung nicht „klein beigibt“ und dem BFH „Gelegenheit“ gibt, „seine Rechtsauffassung in einem geeigneten Verfahren noch einmal zu überprüfen“. Unter den Gegebenheiten der in Rede stehenden Problematik bietet sich dieser Versuch eines „Gegeneinander-Ausspielens“ der BFH-Senate durchaus an, weil es um ein Grundsatzund Querschnittsthema geht, das alle Ertragsteuersenate betrifft. 6. Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten (BMF v. 21.6.2005, BStBl. I 2005, 802) Auf derselben Linie liegt die Nichtanwendung des Urteils des I. Senats v. 24.1.2001 (I R 39/00)38. Es betraf die Passivierbarkeit einer Provisionsfortzahlung eines Handelsvertreters nach Beendigung des Vertretungsverhältnisses. Danach ist die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten nicht möglich, sofern der vertraglich geregelte Provisionsanspruch für die Einhaltung des Wettbewerbsverbotes gezahlt wird. Die Zahlungen seien insoweit rechtlich erst nach Vertragsbeendigung entstanden und wirtschaftlich erst in diesem Zeitraum verursacht. Handele es sich allerdings bei den Zahlungen um ein nachträgliches Entgelt für die geleisteten Dienste, sei die Bildung einer
__________ 35 BMF v. 21.1.2003, BStBl. I 2003, 125. 36 Zuletzt BFH v. 27.1.2010 – I R 103/08, BFH/NV 2010, 1002. 37 Siehe z. B. einerseits BFH v. 26.9.2007 – I R 58/06, BStBl. II 2009, 294, und andererseits v. 23.4.2009 – IV R 62/06, BStBl. II 2009, 778 (Teilwertansatz bei Börsenkursschwankung); einerseits v. 25.11.2009 – I R 72/08, DStR 2010, 269, und andererseits v. 15.4.2010 – IV B 105/09, DStR 2010, 1070 (Buchwertübertragung bei Schwestergesellschaften, siehe dazu auch Gosch, DStR 2010, 1173); v. 6.9.2000 – IV R 18/99, BStBl. II 2001, 229 (Gesamtplan) sowie vom 6.5.2010 – IV R 52/08, DStR 2010, 1374 (funktionale Wesentlichkeit von Komplementär-GmbH-Beteiligungen); v. 6.10.2009 – I R 4/08, BStBl. II 2010, 177; v. 27.1.2010 – I R 35/09, BStBl. II 2010, 478 und andererseits v. 10.11.2005 – IV R 13/04, BStBl. II 2006, 618 (Abzinsung von Gesellschaftsdarlehen); einerseits v. 4.3.2009 – I R 58/07, BFH/NV 2009, 1953 und andererseits v. 22.1.1981 – IV R 160/76, BStBl. II 1981, 427 (Verhältnis verschiedener Gewinnfeststellungen gegen Schwestergesellschaften). 38 BStBl. II 2005, 465.
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Rückstellung geboten, weil diese Aufwendungen durch die bereits erbrachten Leistungen und damit der Anspruch wirtschaftlich vor dem Bilanzstichtag verursacht seien. Die im zugrundeliegenden Fall zu beurteilende Verbindlichkeit unterscheide sich von einem Ausgleichsanspruch nach § 89b HGB, weil die Entstehung des Anspruches des Handelsvertreters aus der vertraglichen Regelung nicht von den gleichen Voraussetzungen wie bei § 89b HGB abhängen sollte. Sie war unabhängig von aus der ehemaligen Tätigkeit stammenden zukünftigen erheblichen Vorteilen des vertretenen Unternehmens. Daher fände die Rechtsprechung zur Passivierung des Ausgleichsanspruches nach § 89b HGB keine Anwendung. Der I. Senat ließ die Bildung der Rückstellung in dem entschiedenen Fall zu, obwohl er die rechtliche Entstehung des Provisionsanspruches verneint. Das BMF folgt den Grundsätzen des BFH-Urteils, soweit zur Abgrenzung der vertraglich vereinbarten Provisionszahlung von einem Ausgleichsanspruch nach § 89b HGB entschieden wird39. Danach ist eine Passivierung als Verbindlichkeit oder Rückstellung in Abgrenzung zu einem Ausgleichsanspruch nach § 89b HGB grundsätzlich möglich, wenn die Zahlung unabhängig von aus der ehemaligen Tätigkeit stammenden zukünftigen erheblichen Vorteilen des vertretenen Unternehmens ist und sie nicht für ein Wettbewerbsverbot vorgenommen wird. Soweit der BFH jedoch die Passivierung einer Rückstellung befürwortet, ohne dass die Verpflichtung rechtlich entstanden ist oder mit einiger Wahrscheinlichkeit rechtlich entstehen wird, wird Nichtanwendung verfügt. Erneut steht das richtige Verständnis des Voraussetzungsantagonismus von rechtlicher Verpflichtungsentstehung und wirtschaftlicher Verursachung in Rede. 7. (Zwangs-)Aufwendungen einer gemeinnützigen Körperschaft (BMF v. 24.3.2005, BStBl. I 2005, 608) Der BFH hat im Urteil v. 5.6.2003 (R 76/01)40 zur steuerlichen Behandlung von Aufwendungen zur Erfüllung einer Auflage, nach der ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Traberzucht Einnahmen zur Auszahlung von Züchterprämien verwenden muss, Stellung genommen. Bei den Auflagen handelte es sich um solche, welche bei der Genehmigung eines Totalisatorbetriebs – und damit eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebes – erteilt wurden. Der BFH entschied dazu, dass solche Ausgaben durch das Unterhalten des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs veranlasst und bei dessen Gewinnermittlung abzuziehen sind; § 10 Nr. 1 KStG betreffe nur Aufwendungen, die sich der Art nach als Einkommensverwendung darstellten. Aufwendungen, die den Charakter von Betriebsausgaben haben, sind nach allgemeinen Gewinnermittlungsgrundsätzen abzusetzen.
__________ 39 BMF v. 21.6.2005, BStBl. I 2005, 802. 40 BStBl. II 2005, 305.
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Über das Nichtanwenden höchstrichterlicher Rechtsprechung
Die Finanzverwaltung wendet dieses Urteil bis heute nicht an: Eine gemeinnützige Körperschaft sei bereits nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AO verpflichtet, ihre Mittel ausschließlich zur Förderung gemeinnütziger Zwecke einzusetzen. Ein steuerlicher Abzug derartiger Aufwendungen als Betriebsausgaben scheide aus. Nichtabziehbar seien nach § 10 Nr. 1 KStG auch Aufwendungen für die Erfüllung von Zwecken, die die Satzung vorschreibe. Die Aufwendungen für gemeinnützige oder satzungsmäßige Zwecke könnten auch nicht aufgrund einer „Auflage“ als abziehbare Betriebsausgaben behandelt werden41. Infolge dieser Nichtanwendung gelangte über eine entsprechende Nichtzulassungsbeschwerde ein abermaliges Revisionsverfahren an den BFH. Dieses Verfahren hatte im Ergebnis aus Sicht der Finanzverwaltung Erfolg42, das aber nicht wegen der inkriminierten Frage nach dem Betriebsausgabenabzug, sondern deswegen, weil aus nunmehriger Sicht des BFH ein Traberzuchtverein mit dem Betrieb eines Totalisators und dem Veranstalten von Trabrennen einen einheitlichen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb unterhält, dem sämtliche Einnahmen und Ausgaben zuzuordnen sind, die durch diesen Betrieb veranlasst sind. Die Zweckbetriebseigenschaft der Pferderennen (§ 65 AO) wurde verneint. Im Ergebnis wurde dem Veranstalten von Pferderennen die Gemeinnützigkeit abgesprochen; auf die Frage des Betriebsausgabenabzugs kam es nicht mehr an, weil ohnehin „alles“ steuerpflichtig war. Diese Begründung schmeckt der Finanzverwaltung abermals nicht43. Augenscheinlich befürchtet sie Kollisionen mit den Pferdezuchtverbänden, und es ist durchaus zu vermuten, dass der bisherige Schulterschluss zwischen Finanzverwaltung, Politik und Trabrenn-Lobbyisten sich durch das „Störfeuer“ des BFH nur wenig wird beeindrucken lassen. Vermutlich steht einmal mehr eine Gesetzesnachbesserung auf dem Plan. Eine solche, das sei jetzt schon angemahnt, wird sich aber mit den vom BFH ins Feld geführten Wettbewerbs- und Gleichheitsaspekten auseinandersetzen müssen. Sie wäre, so sie denn erfolgt, durchaus etwaigen Konkurrentenklagen vergleichbarer Veranstalter ausgesetzt. In der die Verwaltung „umtreibenden“ eigentlichen Streitfrage des Aufwandsabzugs spricht allerdings einiges dafür, dass sie Recht haben könnte. Es könnte an eine modifizierte Lösung gedacht werden, den Betriebsausgabenabzug zwar zuzulassen, das aber nur in Höhe der Einnahmen aus dem Totalisatorbetrieb und nicht darüber hinaus bis hinein in den Verlustbereich.
__________ 41 BMF v. 24.3.2005, BStBl. I 2005, 608. 42 BFH v. 22.4.2009 – I R 15/07, BFHE 224, 405. 43 Die Annahme der Zweckbetriebseigenschaft beruhte auf der Rechtsprechung des RFH. Sie wurde (seitdem) seitens der Finanzverwaltung bislang mit keinem Wort in Frage gestellt und wurde von ihrer Seite denn auch im Urteilsfall aufrechterhalten: Das dem Verfahren beigetretene BMF hat sich dafür sogar der tatkräftigen Mithilfe des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) bedient.
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8. Verlustübergang nach § 12 Abs. 3 UmwStG (BMF v. 7.4.2006, BStBl. I 2006, 344) In seinem Urteil v. 31.5.2005 (I R 68/03)44 hat der I. Senat im Zusammenhang mit der Ermittlung der Bezugsgröße für die Berechnung der Anrechnungshöchstbeträge nach § 26 Abs. 6 Satz 1 KStG 1991 i. V. m. § 34c Abs. 1 Satz 2 EStG 1990 entschieden, dass bei der Verschmelzung von Körperschaften ein im Übertragungsjahr bei der übertragenden Körperschaft eingetretener laufender Verlust mit Gewinnen der übernehmenden Körperschaft des Übertragungsjahrs verrechnet werden kann, sofern die Voraussetzungen des § 12 Abs. 3 Satz 2 UmwStG 1995 erfüllt sind. Der Verlust der übertragenden Körperschaft aus dem Übertragungsjahr sei nicht Bestandteil des nach § 12 Abs. 3 Satz 2 UmwStG 1995 verbleibenden Verlustabzugs i. S. d. § 10d Abs. 3 Satz 2 EStG 1990. Das BMF wendet das Urteil nicht an45: Die Folgerungen des BFH, bei der Verschmelzung von Körperschaften könne ein im Übertragungsjahr bei der übertragenden Körperschaft eingetretener (laufender) Verlust mit Gewinnen der übernehmenden Körperschaft des Übertragungsjahrs im Wege des horizontalen Verlustausgleichs als „eigene Verluste“ verrechnet werden, lasse sich nicht aus den Regelungen des § 2 und des § 12 Abs. 3 Satz 2 UmwStG 1995 herleiten. Die in § 12 Abs. 3 Satz 2 UmwStG 1995 zitierte Vorschrift des § 10d Abs. 3 Satz 2 EStG 1990 erfasse ausdrücklich nur den Verlustvortrag. Der Verlustausgleich sei darin nicht enthalten. Ein Anspruch der Übernehmerin auf den laufenden Verlust der Überträgerin könne auch nicht auf § 45 Abs. 1 Satz 1 AO und ihre Eigenschaft als Rechtsnachfolgerin gestützt werden. Die Norm regelt nicht die materiellrechtlichen Voraussetzungen zur Entstehung von Forderungen und Schulden aus dem Steuerschuldverhältnis, sondern lediglich den Übergang solcher Ansprüche auf den Rechtsnachfolger. Der Abzug von Verlusten des Rechtsvorgängers gehöre nicht zu diesen Ansprüchen. Und: Das Urteil stehe im Widerspruch zu anderen BFH-Urteilen. In den Urteilen v. 29.1.2003 (I R 38/01)46 und v. 5.6.2003 (ebenfalls I R 38/01)47 habe der BFH entschieden, dass nach der Verschmelzung einer GmbH auf eine andere Gesellschaft diejenigen Besteuerungsgrundlagen, die die übertragende GmbH in der Zeit vor der Verschmelzung verwirklicht habe, weiterhin dieser Gesellschaft zuzurechnen seien. Sie seien in den Steuerbescheiden und Feststellungsbescheiden zu berücksichtigen, die an die übernehmende Gesellschaft als Rechtsnachfolgerin der übertragenden Gesellschaft zu richten seien. Kurzum: Das BMF dürfte in der Sache recht haben. Gleichwohl hat der I. Senat „Spur“ gehalten und sein Urteil gleich zweifach bestätigt48, das aber ausdrücklich und erkennbar um der Rechtskontinuität willen und in Anbetracht des-
__________ 44 45 46 47 48
BStBl. II 2006, 380. BMF v. 7.4.2006, BStBl. I 2006, 344. BFH/NV 2004, 305. BStBl. II 2006, 822. BFH v. 20.12.2006 – I R 41/06, BFHE 216, 266; v. 27.5.2009 – I R 94/09, BFHE 225, 131.
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sen, dass der Verlustübergang in § 12 Abs. 3 UmwStG seit dessen Novellierung im Jahre 2005 endgültig Geschichte ist. 9. Steuersatz für Gewinne EU/EWR-ausländischer Kapitalgesellschaften nach dem Körperschaftsteuer-Anrechnungsverfahren (BMF v. 17.10.2007, BStBl. I 2007, 766) Durch Erlass v. 17.10.2007 hat das BMF eine teilweise Nichtanwendung des BFH-Urteils v. 9.8.2006 (I R 31/01)49 bestimmt. Das Urteil ist die Schlussentscheidung zu der Rechtssache CLT-UFA. Der BFH hat in Reaktion auf dieses EuGH-Urteil v. 23.2.2006 (C-253/03)50 entschieden, dass der von einer ausländischen EU-Kapitalgesellschaft durch eine Zweigniederlassung im Inland erzielte Gewinn unter Anwendung der Grundsätze der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 und Art. 48 EG, jetzt Art. 49 und Art. 54 AEUV) mit demjenigen Steuersatz zu besteuern ist, der unter vergleichbaren Umständen bei Gewinnen einer inländischen Tochtergesellschaft, die ihre Gewinne voll ausschüttet („Ausschüttungsfiktion“), angewandt würde. Dem, so das BMF51, sei zu folgen, das allerdings nur nach Maßgabe einer anderweitigen Berechnungsformel zur Ermittlung des Vergleichssteuersatzes. Und danach kann der jeweils maßgebende „Ausschüttungssteuersatz“ nur auf denjenigen Teil des zu versteuernden Einkommens Anwendung finden, der in dem gedachten Alternativfall einer inländischen, ihren Gewinn ausschüttenden Tochtergesellschaft – auch tatsächlich für eine Ausschüttung zur Verfügung stünde. Soweit das zu versteuernde Einkommen der Betriebsstätte hingegen aus nicht abziehbaren Aufwendungen resultiere, treffe die beschränkt steuerpflichtige Körperschaft eine zusätzliche Körperschaftsteuer, deren Satz nach der Formel „D I geteilt durch D II“ zu berechnen sei, wobei „D I“ den Differenzbetrag zwischen dem maßgebenden Thesaurierungssteuersatz und dem maßgebenden Ausschüttungssteuersatz und „D II“ den Differenzbetrag zwischen 100 und dem maßgebenden Thesaurierungssteuersatz bezeichne. Zwischenzeitlich hat sich dem das FG Berlin-Brandenburg widersetzt; gegen dessen Urteil v. 9.12.200952 wurde Revision (I R 5/10) eingelegt. 10. Liquidation: Körperschaftsteuerminderung bei Auskehrung von Liquidationsraten (BMF v. 4.4.2008, BStBl. I 2008, 542) In den Urteilen v. 22.2.2006 (I R 67/05)53 sowie v. 18.9.2007 (I R 44/06)54 hatte der I. Senat sich mit Fragen der formellen und materiellen Besteuerung von Kapitalgesellschaften im Stadium der Liquidation zu befassen.
__________ 49 50 51 52 53 54
BStBl. II 2007, 838. Slg. 2006, I-01831. BMF v. 17.10.2007, BStBl. I 2007, 766. Az. 12 K 8172/06 B, 12 K 8174/06 B, 12 K 8172/06 B, 12 K 8174/06 B. BStBl. II 2008, 312. BStBl. II 2008, 319.
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a) Das betrifft zunächst das Urteil v. 18.9.2007 (I R 44/06) und dort den Besteuerungszeitraum bei einer Liquidationsgesellschaft: aa) Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 KStG ist bei einer unbeschränkt steuerpflichtigen Kapitalgesellschaft, die nach ihrer Auflösung abgewickelt wird, der im Zeitraum der Abwicklung erzielte Gewinn der Besteuerung zugrunde zu legen; Besteuerungszeitraum ist also in diesem Fall grundsätzlich nicht das einzelne Kalenderjahr, sondern der gesamte Abwicklungszeitraum. bb) § 11 Abs. 1 Satz 2 KStG bestimmt aber, dass in Liquidationsfällen der Besteuerungszeitraum drei Jahre nicht überschreiten soll. Die Vorschrift dient der Sicherung des Steueranspruchs und namentlich der Vermeidung von Schwierigkeiten, die sich bei einer streng auf den gesamten Abwicklungszeitraum abstellenden Besteuerung daraus ergeben könnten, dass die Liquidation lange andauert oder nur zum Schein durchgeführt wird. Diesem Ziel entsprechend gewährt § 11 Abs. 1 Satz 2 KStG der Finanzbehörde das Recht, bei einer Überschreitung des Drei-Jahres-Zeitraums die in der Abwicklungsphase bisher entstandene Steuer in einer „Zwischenveranlagung“ festzusetzen. cc) Der BFH beanstandet es nicht, wenn diese Zwischenveranlagung nach Ablauf der (ersten) drei Jahre erfolgt, obschon das Liquidationsverfahren noch nicht abgeschlossen ist und obschon für eine solche Steuerfestsetzung kein besonderer Anlass besteht. Das Gesetz verlangt dem FA hierzu zwar eine Ermessensentscheidung ab, lässt ihm aber weitgehende Ermessenfreiheit. Das FA muss seine Entscheidung deswegen im Grundsatz auch nicht besonders begründen. dd) Ergeht berechtigterweise eine Zwischenveranlagung, dann basiert diese in rechtlicher Hinsicht auf demjenigen Recht, das im Zeitpunkt der Zwischenveranlagung gilt. Eine absehbare „Verbesserung“ der Regelungslage zugunsten des Steuerpflichtigen in der Folgezeit ist (noch) nicht zu berücksichtigen. Konkret betraf dies die Absenkung des Steuersatzes von bis dato 45 % auf danach lediglich 25 %. Der BFH stellt dazu klar: Im Rahmen einer späteren, endgültigen Veranlagung mag sich das für die Liquidationsgesellschaft dann günstig auswirken, im Zeitpunkt der Zwischenveranlagung ist dem jedoch noch keine Beachtung zu schenken. ee) Das BMF wendet das Urteil partiell nicht an, nämlich bezogen auf die Gewerbesteuer. Da in § 14 Satz 1 GewStG, § 16 GewStDV und nachfolgend A 44 Abs. 1 Satz 2 GewStR a. F., jetzt R 7.1 Abs. 8 Satz 2 GewStR 2009, die Festlegung eines Soll-Abwicklungszeitraums entsprechend § 11 Abs. 1 Satz 2 KStG insoweit nicht vorgesehen sei, sei Abwicklungszeitraum für die Gewerbesteuer stets (nur) der Zeitraum vom Beginn bis zum Ende der Abwicklung. Dem ist wohl zuzustimmen. Der BFH hat hier wohl nicht „genau genug hingeschaut“. b) Bezüglich der anzuwendenden Rechtslage im Abwicklungs-Besteuerungszeitraum wird noch eine weitere Nichtanwendung verordnet: Der I. Senat vertritt in seinem Urteil v. 22.2.2006 (I R 67/05) die Auffassung, dass in Ermangelung eines Antrags nach § 34 Abs. 14 KStG auf Beendigung des Besteuerungszeitraums zum 31.12.2000 bei systemübergreifenden Liquidatio392
Über das Nichtanwenden höchstrichterlicher Rechtsprechung
nen für die gesamte Liquidation neues Recht anzuwenden ist. Er sieht den Besteuerungszeitraum 1.1.1998 bis 31.12.2000 als erstes „Wirtschaftsjahr“ im neuen Recht an. Mithin sei das Körperschaftsteuerguthaben auf den 31.12. 2000 festzustellen. Es stehe damit für eine Verwendung im Veranlagungszeitraum 2001 zur Verfügung. Die Finanzverwaltung will das anders sehen: Werde der Abwicklungszeitraum in mehrere Besteuerungszeiträume unterteilt, sei für die einzelnen Besteuerungszeiträume jeweils das Recht anzuwenden, das für den Veranlagungszeitraum maßgeblich ist, in dem der Besteuerungszeitraum ende. Wenn – wie in dem Urteilsfall – ein Besteuerungszeitraum gemäß R 51 KStR 2004/2008 zum 31.12.2000 ende, sei daher noch altes Recht anzuwenden. Entgegen der Auffassung des BFH sei es in diesem Fall unerheblich, ob ein Antrag auf Zwischenveranlagung nach § 34 Abs. 14 Satz 2 KStG gestellt worden sei oder nicht, weil ein solcher Antrag ins Leere gehe, wenn am 31.12.2000 ohnehin ein Besteuerungszeitraum endet. Die Sonderregelung des § 34 Abs. 14 Satz 2 KStG sei nur in solchen Fällen von Bedeutung, bei denen der dreijährige Besteuerungszeitraum zum 31.12.2000 noch nicht abgeschlossen sei. Da für den am 31.12.2000 endenden Besteuerungszeitraum noch nicht neues Recht anzuwenden sei, fehle es hier an der rechtlichen Grundlage für die Feststellung des Körperschaftsteuerguthabens. Fazit: Die Verwaltungsmeinung ist nicht zwingender als die mit guten Gründen hergeleitete Auffassung des BFH. Es gibt keinen Anlass, auf dem bisherigen Standpunkt zu beharren und Rechtsungewissheiten zu provozieren. 11. Kein betriebsstättenloses Einkommen (§ 2 AStG n. F.) Mit Urteil v. 19.12.2007 (I R 19/06)55 hatte der I. Senat über einen Berufssportler zu urteilen, der nach Monaco umgesiedelt war und von dort aus beträchtliche wirtschaftliche, insbesondere werbliche Aktivitäten in Deutschland entwickelte. Es lagen im Kern die tatbestandlichen Voraussetzungen der sog. erweitert beschränkten Steuerpflicht des § 2 AStG vor; das Finanzamt hatte die entsprechenden Einkünfte denn auch nach Maßgabe dieser Regelung in die Veranlagung einbezogen. Der I. Senat urteilte jedoch: Bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb, die ein Berufssportler durch Werbeeinnahmen (z. B. durch das Mitwirken in Werbefilmen, bei Fotoreklamen, Pressekonferenzen oder Autogrammstunden, Überlassung von Namens- und Bildrechten) erzielt, handelt es sich um ausländische Einkünfte i. S. d. § 34c Abs. 1 i. V. m. § 34d Nr. 2 Buchst. a EStG, wenn sie durch eine in einem ausländischen Staat belegene Betriebsstätte erzielt werden. Eine solche Betriebsstätte kann der Wohnsitz sein, wenn sich dort der Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit befindet und wenn von diesem aus die geschäftlichen Planungen vorgenommen werden. Der Sportler unterfällt mit den dieser Betriebsstätte zuzurechnenden Werbeeinkünften auch dann nicht der „erweitert“ beschränkten Steuerpflicht nach § 2 AStG, wenn er in einem Land mit niedriger Besteuerung ansässig ist.
__________
55 BStBl. II 2010, 398.
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Der BFH verfocht damit den Grundsatz, dass gewerbliche Einkünfte der Sache nach stets einer Betriebsstätte zuzuordnen sind (kein sog. Floating income) und dass es, um dennoch den Steuerzugriff zu ermöglichen, besonderer gesetzlicher Zugriffstatbestände bedarf. Er stellte sich zugleich gegen die Verwaltungsmeinung56. Zunächst versuchte man seitens der Verwaltung nun, in einem weiteren anhängigen Verfahren diese Position doch noch durchzusetzen, was indes – wen wundert es: binnen Jahresfrist – misslang57. Sodann wurde das Gesetz durch Schaffung eines neuen § 2 Abs. 1 Satz 2 AStG im JStG 2009 nachgebessert: „Für Einkünfte der natürlichen Person, die weder durch deren ausländische Betriebsstätte noch durch deren in einem ausländischen Staat tätigen ständigen Vertreter erzielt werden, ist für die Anwendung dieser Vorschrift das Bestehen einer inländischen Geschäftsleitungsbetriebsstätte der natürlichen Person anzunehmen, der solche Einkünfte zuzuordnen sind.“ Die Betriebsstätte wird also jetzt fingiert. Ob damit allerdings zugleich erfolgreich auch die Zuordnung jener Einkünfte sichergestellt ist, ist durchaus fraglich. Besser wäre es sicher gewesen, auch diese Zuordnung in die Fiktion mit aufzunehmen. Im Grundsatz wird man für das Nichtanwendungsgesetz freilich Verständnis aufbringen können und müssen. 12. Das Ende der finalen Entstrickung (BMF v. 20.5.2009, BStBl. I 2009, 671) und der finalen Betriebsaufgabe Mit Urteil v. 17.7.2008 (I R 77/06)58 hat der I. Senat entschieden, dass a) die Einbringung eines Wirtschaftsguts als Sacheinlage in eine KG auch ertragsteuerlich insoweit als Veräußerungsgeschäft anzusehen sei, als ein Teil des Einbringungswerts in eine Kapitalrücklage eingestellt wird, b) eine das gesamte Nennkapital umfassende Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft kein Teilbetrieb i. S. v. § 24 Abs. 1 UmwStG 1995 sei und c) die jahrzehntelang von Rechtsprechung und Verwaltung angewendete sog. Theorie der finalen Entnahme keine ausreichende gesetzliche Grundlage habe und auf einer unzutreffenden Beurteilung der Besteuerungshoheit bei ausländischen Betriebsstätten inländischer Stammhäuser beruhe. Aufgrund geänderter Auslegung des Abkommensrechts ziehe die Überführung eines Wirtschaftsguts aus dem Inland in eine ausländische Betriebsstätte nicht den Verlust des Besteuerungsrechts an den im Inland entstandenen stillen Reserven nach sich. Deshalb bestehe kein Bedürfnis, den Vorgang als Gewinnrealisierungstatbestand anzusehen. Das BMF positionierte sich dazu wie folgt: Zu a) (Sacheinlage auch bei teilweiser Einbuchung in eine Kapitalrücklage als Veräußerungsgeschäft): Die Entscheidung widerspreche der unter Tz. 2b geäußerten Auffassung
__________ 56 Entgegen BMF v. 2.12.1994, BStBl. I 1995, Sondernummer 1; nunmehr BMF v. 14.5. 2004, BStBl. I 2004, Sondernummer 1, dort jeweils Tz. 2.5.0.1 Nr. 1 Buchst. a. 57 BFH v. 16.12.2008 – I R 23/07, n. v. 58 BStBl. II 2009, 464.
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Über das Nichtanwenden höchstrichterlicher Rechtsprechung der Finanzverwaltung im BMF-Schreiben v. 26.11.200459, wonach bei Buchung auf einem gesamthänderisch gebundenen Rücklagenkonto eine verdeckte Einlage vorliegt60. Das BMF wendet das Urteil jedoch – verbunden mit einer „schonenden“ Übergangsregelung – an. Zu b) (100 %ige Beteiligung an Kapitalgesellschaft ist kein Teilbetrieb i. S. v. § 24 Abs. 1 UmwStG 1995): Die Entscheidung des BFH widerspreche der Auffassung der Finanzverwaltung in Rz. 24.03 des BMF-Schreibens v. 25.3.199861, wonach eine das gesamte Nennkapital umfassende Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft einen Teilbetrieb i. S. d. § 24 Abs. 1 UmwStG darstellt. Diese Rechtsauffassung wird seitens des BMF „im Vorgriff auf eine gesetzliche Regelung zur Wiederherstellung der bisherigen Verwaltungsauffassung zum UmwStG 1995 (also Behandlung einer 100 %igen Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft als Teilbetrieb i. S. d. § 24 UmwStG 1995) sowie im zeitlichen Anwendungsbereich des SEStEG“ nicht angewandt62. „Bis zu dieser gesetzlichen Regelung ist eine 100 %ige Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft als Teilbetrieb i. S. d. § 24 UmwStG 1995 bzw. des UmwStG i. d. F. des SEStEG zu behandeln.“ Ohne besagte Regelung wirkt diese Aussage willkürlich. Zu c) (Aufgabe der finalen Entnahmetheorie): Die Entscheidung widerspreche der bis zum Veranlagungszeitraum 2006 geltenden Auffassung der Finanzverwaltung in Rz. 2.6.1 des BMF-Schreibens v. 24.12.199963, wonach bei der Überführung von Wirtschaftsgütern aus dem inländischen Betrieb eines Steuerpflichtigen in seine ausländische Betriebsstätte eine Entnahme vorliegt, wenn der Gewinn der ausländischen Betriebsstätte aufgrund eines DBA nicht der inländischen Besteuerung unterliegt. Die Grundsätze der Rechtsprechung werden „[i]m Vorgriff auf mögliche gesetzliche Regelungen für Überführungen und Übertragungen von Wirtschaftsgütern vor Anwendung der Entstrickungsregelungen im SEStEG […]“ nicht angewandt64. Die gesetzlichen Entstrickungsregelungen des SEStEG (u. a. § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG und § 12 Abs. 1 KStG) werden, so das BMF, von den Urteilsgrundsätzen nicht berührt65.
Dass die gegenwärtigen, durch das SEStEG geschaffenen Vorschriften indes den Besteuerungszugriff vorbehaltlos und ohne durchgreifende gesetzliche „Nachbesserung“ ermöglichen, ist in Anbetracht der Abkommenslage, die den Besteuerungszugriff auf die bis zum Zeitpunkt der Überführung des Wirtschaftsguts angesammelten stillen Reserven durchaus zulässt, eher zu bezweifeln, wird derzeit aber „heiß“ und kontrovers diskutiert66. Tatsächlich dürfte es, wie schon ausgeführt67, am Tatbestand der (bisherigen) Neuregelungen in § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG und in § 12 Abs. 1 KStG mangeln. Denn von einem
__________ 59 60 61 62 63 64 65 66
BStBl. I 2004, 1190. BMF v. 20.5.2009, BStBl. I 2009, 671. BStBl. I 1998, 268 (UmwSt-Erlass). BMF v. 20.5.2009, BStBl. I 2009, 671. BStBl. I 1999, 1076 (sog. Betriebsstätten-Erlass). BMF v. 20.5.2009, BStBl. I 2009, 671. BMF v. 20.5.2009, BStBl. I 2009, 671. Wie hier z. B. Köhler in FS Krawitz, 2010, S. 212 (228 ff.); Wassermeyer, DB 2006, 1176; Körner, IStR 2009, 741; Ditz, IStR 2009, 115 (120 f.); Prinz, DB 2009, 807 (810); Roser, DStR 2008, 2389; Gosch in Gosch/Kroppen/Grotherr, DBA, Art. 13 Rz. 86; Beiser, DB 2008, 2724; a. A. z. B. Mitschke, FR 2008, 1144; ders., FR 2009, 326; ders., DB 2009, 1376; ders., IStR 2010, 95; Meilicke, GmbHR 2009, 783; Burwitz, NZG 2008, 827; Schneider/Oepen, FR 2009, 22 sowie FR 2009, 568. 67 Siehe sub 2.
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„Ausschluss“ des inländischen Besteuerungszugriffs kann dann, wenn man die neuere BFH-Judikatur zugrunde legt, keine Rede sein. Im Ergebnis könnte deswegen Köhler Recht haben, wenn er prophezeit, dass sich infolge des Urteils I R 77/06 „u. U. ein umgekehrtes Bild“ ergebe: „Womöglich hat in diesem Fall die Rechtsprechung ein Nichtanwendungsurteil zu einem Gesetz bewirkt“68. Das hat sich zwischenzeitlich durch das JStG 2010 verwirklicht69. Danach ist § 4 Abs. 1 EStG um einen neuen Satz 5 ergänzt (und auch § 12 Abs. 1 KStG entsprechend angepasst) worden: „Ein Ausschluss oder eine Beschränkung des Besteuerungsrechts hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung eines Wirtschaftsguts liegt insbesondere vor, wenn ein Wirtschaftsgut einer ausländischen Betriebsstätte zugeordnet wird“. Die ergänzenden Neuregelungen sollen die aufgezeigten Defizite beseitigen; zudem weist der Bundesrat darauf hin, die abweichende BFH-Rechtsprechung sei nur schwer administrierbar und mit verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Vollzugsdefiziten verbunden“. Auch diese Neuformulierung erscheint indes unzulänglich70. Sie stellt letztlich eine einseitige Maßnahme der Schlussbesteuerung im Inland dar und wird in vielen Fällen – Stichwort: Treaty override – Doppelbesteuerungen nach sich ziehen, die u. U. innerhalb der Europäischen Union Bedenken aufwerfen. Es fehlt jedenfalls eine Abstimmung zur Steueranrechnung nach § 34c EStG. Möglicherweise wäre es sachgerecht, sich von den tatbestandsauslösenden (auf der Grundlage der BFH-Spruchpraxis aber nach wie vor nicht ausgefüllten) Begriffen des „Ausschlusses“ und der „Beschränkung“ ganz zu lösen und – unter Anpassung auch des § 34c EStG – eher allgemein zu formulieren, so wie in § 6 Abs. 5 Satz 1 EStG: „[…] sofern die Besteuerung der stillen Reserven [im Inland] sichergestellt ist“. Die Neuformulierung wirft überdies beträchtliche Probleme auf, weil das Gesetz ihr Rückwirkung beimisst, vgl. § 52 Abs. 8b Satz 3 EStG n. F. Gleichen Einwendungen sind im Ergebnis diejenigen Änderungen ausgesetzt, welche § 16 Abs. 3a EStG in der Neufassung des JStG 2010 bewirkt. Diese wendet sich gegen die Urteile des I. Senats v. 28.10.2009 (I R 28/0871 sowie I R 99/0872). Der I. Senat hatte dadurch – parallel zur Theorie der sog. finalen Entnahme – auch seine Rechtsprechung zur sog. Theorie der finalen Betriebsaufgabe aufgegeben. Diese besagte, dass ein Unternehmer, der seinen bisher im Inland ansässigen Betrieb komplett in das Ausland verlegt und von dort aus fortführt, die im Betriebsvermögen angesammelten stillen Reserven – wie bei einer tatsächlichen Betriebsaufgabe – gemäß § 16 Abs. 3 Satz 1 EStG sofort aufdecken und versteuern musste. Auch das hat der BFH nun aber verneint. Für die Annahme eines Realisationstatbestandes fehle es an einer gesetzlichen Grundlage ebenso wie an einem Bedürfnis. Dem soll nun entgegengewirkt werden. Um ein auch unionsrechtlich „haltbares“ Ergebnis zu erzielen, wird
__________ 68 69 70 71 72
Köhler in FS Krawitz (Fn. 66), S. 212 (235). BR-Drucks. 318/1/10, S. 8 ff. (und unter Berufung auf Gosch, BFH/PR 2008, 499). Siehe umfassend Wiss. Beirat Ernst & Young tax, DB 2010, 1776. DStR 2010, 40. IStR 2010, 103.
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in § 36 Abs. 5 EStG n. F. – wie in § 4h EStG – die Möglichkeit einer ratierlichen, auf fünf Jahre gestreckten Stundung eingeräumt. Auch das soll dann rückwirkend gelten, § 52 Abs. 34 Satz 5 EStG n. F. Insgesamt ist aber festzuhalten: Zumindest für den Versuch der legislatorischen Nichtanwendung wird man ein gewisses Verständnis haben müssen. Ob ihre „rechtsprechungsfeste“ Umsetzung mit dem nunmehr ins Auge gefassten Regelbeispiel der Wirtschaftsgutzuordnung gelingen wird, ist jedoch eher zu bezweifeln. 13. Begriff „Geschäftsbeziehung“ in § 1 AStG a. F. (BMF v. 12.1.2010, BStBl. I 2010, 34) Der BFH hat in ständiger Spruchpraxis73 entschieden, eine Geschäftsbeziehung i. S. d. § 1 Abs. 1 AStG i. V. m. § 1 Abs. 4 AStG i. d. F. des StÄndG 1992 liege nicht vor und eine Gewinnberichtigung nach dieser Vorschrift komme deshalb nicht in Betracht, wenn eine inländische Obergesellschaft ihre ausländische Konzernfinanzierungsgesellschaft unzureichend mit Eigenkapital ausstatte und anstatt eines funktionsgerechten Eigenkapitals unentgeltliche Stützungsmaßnahmen zugunsten der Tochtergesellschaft treffe, die ein fremder Dritter nicht gewährt hätte. Im Streitfall ging es um eine unbedingte und unwiderrufliche Garantie (sog. harte Patronatserklärung) für eine von der Tochter(Finanzierungs-)-Gesellschaft begebene Anleihe, ohne die die Tochtergesellschaft ihre Funktion nicht hätte ausüben können. Das BMF hatte dem zunächst widersprochen74, sich dann aber nach langem Zögern und etlichen Versuchen, den BFH zu einer Rechtsprechungskorrektur zu veranlassen, angeschlossen, dabei aber einen eher engherzigen Maßstab angelegt: Anzuwenden sei die Rechtsprechung nur für eigenkapitalersetzende Stützungsmaßnahmen75. Es wurde bezweifelt, ob dieses Verständnis der Rechtsprechung vollends gerecht wird. Zwischenzeitlich hat der BFH solchen Zweifeln widersprochen: Auch nach alter Regelungslage bedarf es des „echten“ Eigenkapitalersatzes, um eine „Geschäftsbeziehung“ i. S. v. § 1 Abs. 4 AStG a. F. auszuschließen76. Offen bleibt, ob das alles auch für die nunmehrige Regelungslage gilt. Vermutlich ist das zu verneinen. War die Rechtsprechung schon in der Vergangenheit nicht über jeden Zweifel erhaben, dann gilt das erst recht für die Gegenwart vor dem Hintergrund der nachgebesserten Gesetzesfassung. Insgesamt wird man für die restriktive Haltung der Finanzverwaltung ein gewisses Verständnis aufbringen müssen. Allerdings hält sich dieses Verständnis in Grenzen, weil es nach der Gesetzesnachbesserung immer um die Beurteilung „ausgelaufenen Rechts“ ging. Ein Höchstgericht wird dann kaum geneigt sein, seine Spruchpraxis zu ändern; Kontinuitätsgrundsätze haben durchweg
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73 BFH v. 29.11.2000 – I R 85/99, BStBl. II 2000, 720; v. 27.8.2008 – I R 28/07, BFH/NV 2009, 123. 74 BMF v. 17.10.2002, BStBl. I 2002, 1025, abgewichen. 75 Mit Blick auf BFH v. 30.5.1990 – I R 97/88, BStBl. II 1990, 875. 76 BFH v. 23.6.2010 – I R 37/09, DStR 2010, 1883; v. 27.8.2008 – I R 28/07, BFH/NV 2009, 123, dem nunmehr folgend BMF v. 12.1.2010, BStBl. I 2010, 34.
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Vorrang. So gesehen hat der Gesetzgeber sich selbst die „Karten gelegt“: „Repariert“ er ein Gesetz, sinken zugleich die Hoffnungen auf einen Rechtsprechungswandel.
III. Zulasten-Nichtanwendungen, für welche man kein oder kaum Verständnis haben (konnte oder) kann 1. Steuerliche Behandlung der Akkumulationsrücklage: Auswirkung auf die Gewerbesteuer (BMF v. 28.12.1994, BStBl. I 1994, 905) Der I. Senat hat sich in seinem Urteil v. 16.3.1994 (I R 146/93)77 zur Bildung der sog. Akkumulationsrücklage i. S. v. § 3 Abs. 2 StÄndG v. 6.3.199078 den Grundsätzen des BFH-Urteils v. 15.3.1994 (XI R 10/93)79 angeschlossen. Danach wirkt sich die Bildung der Akkumulationsrücklage auch dann auf die Höhe der Einkünfte aus Gewerbebetrieb des Steuerpflichtigen und damit unmittelbar auf den Gewerbeertrag im zweiten Halbjahr 1990 aus, wenn der Gewinn nicht durch Bestandsvergleich ermittelt wird. Die Finanzverwaltung hat das Urteil unter Bezugnahme auf das BMF-Schreiben v. 20.10.199480 zu dem Urteil des XI. Senats des BFH v. 15.3.1994 (XI R 10/93)81 nicht angewandt82. Man hoffte auf das seinerzeit anhängige Revisionsverfahren IV R 86/93. Im Ergebnis aber vergeblich: Der IV. Senat des BFH hat sich dem nolens volens angeschlossen83. Das BMF streckte daraufhin die Waffen84. 2. Steuerliche Behandlung von Genussrechten (BMF v. 27.12.1995, BStBl. I 1996, 49) Der I. Senat hat in seinem Urteil v. 19.1.1994 (I R 67/92)85 zur steuerlichen Behandlung von Genussrechten Stellung genommen, die einem Alleingesellschafter einer GmbH für einen Darlehensverzicht eingeräumt worden sind. Dabei hat er entschieden, dass § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG nicht auf Genussrechte anwendbar ist, die nur das Recht auf Beteiligung am Gewinn, nicht aber am Liquidationserlös einräumen. Die Finanzverwaltung meint demgegenüber, eine Beteiligung am Liquidationserlös sei auch in den Fällen anzunehmen, in denen eine Rückzahlung des Genussrechtskapitals vor Liquidation der Kapitalgesellschaft nicht verlangt werden kann86. Maßgebend sei, ob die Genuss-
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77 BStBl. II 1994, 941. 78 DDR-GBl. I S. 136, i. V. m. § 8 der Durchführungsbestimmung zum StÄndG v. 16.3. 1990, DDR-GBl. I 1990, 195. 79 BStBl. II 1994, 813. 80 BStBl. I 1994, 773. 81 BStBl. II 1994, 813. 82 BMF v. 28.12.1994, BStBl. I 1994, 905. 83 BFH v. 26.10.1995 – IV R 86/93, BStBl. II 1996, 579. 84 BMF v. 4.10.1996, BStBl. I 1996, 1198. 85 BStBl. II 1996, 77. 86 BMF v. 27.12.1995, BStBl. I 1996, 49, im Anschluss an RFH v. 28.4.1936 – 1 A 19/36, RStBl. 1936, 770; BFH v. 28.6.1960 – I 85/60, HFR 1961, 13.
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rechte die Steuerkraft des Unternehmens in etwa gleicher Weise belasteten wie Stammkapital. Nach diesen Grundsätzen müsse § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG erst recht Anwendung finden, wenn der Alleingesellschafter auf die Rückzahlung des Kapitals verzichtet, das er der Kapitalgesellschaft für die Einräumung des Genussrechts überlassen hat. Der Genussrechtsinhaber sei hier als Alleingesellschafter am Liquidationserlös beteiligt. Das Kapital, das der Gesellschaft durch den Verzicht zugeführt worden ist, schlage sich in dem Liquidationserlös nieder, der mit Abschluss der Liquidation an den Alleingesellschafter ausgekehrt wird. Ob die Nichtanwendung tragfähig begründet worden ist, erscheint eher als zweifelhaft: Am Liquidationserlös (= Abwicklungsendvermögen i. S. d. § 11 KStG) ist der Genussrechtsinhaber beteiligt, wenn dieser im Liquidationsfall einen Anteil auch an den stillen Reserven erhält und wenn nicht allein das Genussrechtskapital zurückgezahlt wird. Wenn eine Rückzahlung des Genussrechtskapitals vor der Liquidation nicht verlangt oder wenn der Rückforderungsanspruch erst in ferner Zukunft (nach mindestens 30 Jahren) geltend gemacht werden kann, genügt das ebensowenig wie es genügt, auf die Identität des alleinigen Anteilsinhabers mit dem Genussrechtsberechtigten abzustellen. Der BFH bezieht sich insoweit völlig zu Recht auf den klaren Regelungswortlaut und lehnt ein abweichendes Verständnis ab. 3. Pensionszusagen gegenüber Gesellschafter-Geschäftsführern (BMF v. 14.5.1999, BStBl. I 1999, 512) In seinem Erlass v. 14.5.199987 äußerte sich das BMF einmal mehr zu Fragen der Versorgungsanwartschaften durch Direktzusage gegenüber GesellschafterGeschäftsführer einer Kapitalgesellschaft: Nach Rechtsprechung wie Verwaltungspraxis (Abschn. 32 Abs. 1 Satz 5 und 6 KStR 1995) ist die Erteilung der Pensionszusage unmittelbar nach der Anstellung und ohne die unter Fremden übliche Wartezeit in der Regel nicht betrieblich, sondern durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst. Der Begriff der Wartezeit wird hier im Sinne einer Probezeit verwendet. Dies ist der Zeitraum zwischen Dienstbeginn und der erstmaligen Vereinbarung einer schriftlichen Pensionszusage (zusagefreie Zeit). Der Zeitraum zwischen der Erteilung einer Pensionszusage und der erstmaligen Anspruchsberechtigung (versorgungsfreie Zeit) zählt nicht zur Probezeit. Für die steuerliche Beurteilung einer Pensionszusage stellt die Finanzverwaltung regelmäßig auf eine Probezeit von zwei bis drei Jahren ab. Das deckt sich letztlich mit der Rechtsprechung88. Eine Probezeit ist bei entsprechenden Vortätigkeiten jedoch nicht in jedem Fall erforderlich. So hat der BFH in seinem Urteil v. 29.10.1997 (I R 52/97)89 entschieden, dass es vor Erteilung einer Pensionszusage keiner erneuten Probezeit bedarf, wenn ein Einzelunternehmen in
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87 BStBl. I 1999, 512. 88 BFH v. 15.10.1997 – I R 42/97, BStBl. II 1999, 316. 89 BStBl. II 1999, 318.
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eine Kapitalgesellschaft umgewandelt wird und der bisherige, bereits erprobte Geschäftsführer des Einzelunternehmens als Geschäftsführer der Kapitalgesellschaft das Unternehmen fortführt. Zuführungen zu einer Rückstellung für eine Pensionszusage, die ohne Beachtung der unter Fremden üblichen Probezeit vereinbart worden ist, werden, so das BMF, bis zum Ablauf der angemessenen Probezeit als verdeckte Gewinnausschüttung i. S. d. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG behandelt90. Erst nach Ablauf der angemessenen Probezeit sollen die weiteren Zuführungen aufgrund der ursprünglichen Pensionszusage für die Folgezeit gewinnmindernd berücksichtigt werden. Letzteres sieht der I. Senat des BFH anders; er hat sich im Urteil v. 28.4.2010 (I R 78/08)91 gegen diese Sichtweise des BMF gestellt und ausschließlich auf den Zusagezeitpunkt abgestellt. Ein „Hineinwachsen“ in die steuerliche Unschädlichkeit ist danach ausgeschlossen. Diese Sicht erzwingt eine Aufhebung der ursprünglichen und den Abschluss einer neuen Pensionszusage nach Ablauf der angemessenen Probezeit. Schließlich hatte das BMF jene Nichtanwendung zunächst auch noch gegen die Rechtsprechung zur körperschaftsteuerlichen Behandlung von Pensionszusagen unter dem Gesichtspunkt der sog. Finanzierbarkeit erstreckt. Dieser Aspekt wurde zwischenzeitlich aber fallengelassen92, nachdem der I. Senat nachfolgend seine Rechtsprechung kontinuierlich ausgebaut und verstetigt hatte93. 4. Übertragung der Pensionsverpflichtung auf eine Unterstützungskasse (BMF v. 2.7.1999, BStBl. I 1999, 594) Sieht eine Pensionszusage vor, dass die Pensionsverpflichtung bei Eintritt des Versorgungsfalls auf eine außerbetriebliche Versorgungseinrichtung übertragen wird, soll eine Rückstellung aus Verwaltungssicht nicht zulässig sein (vgl. R 41 Abs. 3 Satz 7 EStR 1998, jetzt H 6a Abs. 3 EStH 2008). Demgegenüber hat der BFH mit Urteil v. 19.8.1998 (I R 92/95)94 entschieden, der Arbeitgeber habe auch im Falle einer Vereinbarung, nach Eintritt des Versorgungsfalls die Pensionsverpflichtung aufzuheben und auf eine Unterstützungskasse zu übertragen, bis zum Eintritt des Versorgungsfalls wegen einer bestehenden unmittelbaren Verpflichtung eine Pensionsrückstellung zu bilden. Das BMF wendet diese Grundsätze nicht allgemein an95. Gründe dafür werden nicht genannt. Im Urteil v. 8.10.2008 (I R 3/06)96 hat der I. Senat an seine Rechtsprechung angeknüpft. Es ist eher zu bezweifeln, dass er künftig davon
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BMF v. 14.5.1999, BStBl. I 1999, 512 Tz. 1.2. BFH/NV 2010, 1709. BMF v. 6.9.2005, BStBl. I 2005, 875. BFH v. 8.11.2000 – I R 70/99, BStBl. II 2005, 653; v. 20.12.2000 – I R 15/00, BStBl. II 2005, 657; v. 7.11.2001 – I R 79/00, BStBl. II 2005, 659; v. 4.9.2002 – I R 7/01, BStBl. II 2005, 662, und v. 31.3.2004 – I R 65/03, BStBl. II 2005, 664. 94 BStBl. II 1999, 387. 95 BMF v. 2.7.1999, BStBl. I 1999, 594. 96 BStBl. II 2010, 186.
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abrückt. Denn maßgeblich sind – und zwar ausschließlich – die Verhältnisse am Bilanzstichtag, und dafür gelten allgemeine Rückstellungsgrundsätze, also auch die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme aus der Direktzusage97; dem folgt auch die Finanzverwaltung98. Diese Wahrscheinlichkeit liegt indessen unbeschadet einer ins Auge gefassten späteren Auslagerung der Versorgung am Stichtag vor. 5. Offene Gewinnausschüttungen bei der Verzinsung der Körperschaftsteuer nach § 233a AO (BMF v. 14.9.1999, BStBl. I 1999, 842; v. 14.2.2000, BStBl. I 2000, 190) Der BFH hat in seinem Urteil v. 18.5.1999 (I R 60/98)99 entschieden, dass bei einer auf einem Erstbeschluss beruhenden erstmaligen offenen Gewinnausschüttung „in Anbetracht der körperschaftsteuerlichen Besonderheiten und von Sinn und Zweck der gesamten, in § 233a AO enthaltenen Zinsregelungen“ § 233 a Abs. 2a AO nicht anzuwenden sei. Das BMF wandte die Grundsätze dieses Urteils nur dann an, wenn die Ausschüttung auf einem den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften entsprechenden erstmaligen Gewinnverteilungsbeschluss für das vorangegangene Wirtschaftsjahr (§ 27 Abs. 3 Satz 1 KStG a. F.) beruht und die Gewinnausschüttung innerhalb von zwölf Monaten nach Ablauf des Veranlagungszeitraums erfolgt, in dem das Wirtschaftsjahr endet, für das die Ausschüttung erfolgt100. Der BFH widersetzte sich dem. Er sah für eine derartige zeitliche Verengung keine Rechtsgrundlage und hat dies im Ergebnis verworfen101: Durch den erstmaligen Beschluss über eine offene Gewinnausschüttung für ein abgelaufenes Wirtschaftsjahr wird auch dann kein abweichender Zinslauf gemäß § 233a Abs. 2a AO ausgelöst, wenn dieser Beschluss nach Ablauf des folgenden Wirtschaftsjahres gefasst wird. Eingelenkt hat der BFH nur im Hinblick auf einen erstmaligen Gewinnverteilungsbeschluss, welcher einen vorangegangenen Beschluss der Gesellschaft ersetzte, durch den der Gewinn des betreffenden Wirtschaftsjahres thesauriert worden war102. Mit dieser Maßgabe ist das BMF dem BFH denn auch schlussendlich gefolgt; das Teil-Nichtanwendungsschreiben wurde mittlerweile aufgehoben103. 6. Sog. Dividenden-Stripping (BMF v. 6.10.2000, BStBl. I 2000, 1392) Bei dem sog. Dividenden-Stripping handelt es sich um Gestaltungen, durch die sich Anteilseigner, die nicht zur Anrechnung von Körperschaftsteuer berech-
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97 BFH v. 5.4.2006 – I R 46/04, BStBl. II 2006, 688; v. 8.10.2008 – I R 3/06, BStBl. II 2010, 186. 98 BMF v. 26.1.2020, BStBl. I 2010, 138. 99 BStBl. II 1999, 634. 100 BMF v. 14.9.1999, BStBl. I 1999, 842; v. 14.2.2000, BStBl. I 2000, 190, Anlage Tz. 29. 101 BFH v. 29.11.2000 – I R 45/00, BStBl. II 2001, 326; v. 29.11.2000 – I R 18/00, HFR 2001, 943. 102 BFH v. 22.10.2003 – I R 15/03, BStBl. II 2004, 398. 103 BMF v. 2.1.2008, BStBl. I 2008, 27 Tz. 10.3.1. zu R 233a AO.
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tigt sind, den Vorteil dieser Anrechnung verschaffen. Dies geschieht in der Regel durch kurzfristigen Verkauf und Rückkauf von Anteilen inländischer Kapitalgesellschaften an anrechnungsberechtigte Anteilseigner. Der BFH vertritt in dem Urteil v. 15.12.1999 (I R 29/97)104 die Auffassung, das wirtschaftliche Eigentum an veräußerten Aktien cum Dividende und damit auch die üblicherweise mit solchen Transaktionen verbundenen Kursrisiken gingen unabhängig davon auf den Erwerber über, ob diese Aktien unmittelbar nach dem jeweiligen Bezugstermin in Gestalt gleichwertiger Aktien ex Dividende oder junger Aktien durch separate Geschäfte zurückveräußert werden. Er hat ferner derartige Geschäfte auch dann den Börsengeschäften i. S. v. § 50c Abs. 8 Satz 2 EStG a. F. zugerechnet, wenn die Anonymität des Börsenhandels im Einzelfall nicht gewahrt ist und nicht zu Börsenkursen abgerechnet wird. Schließlich wird in dem Urteil in Fällen des Dividenden-Stripping ein Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten i. S. v. § 42 AO grundsätzlich verneint. Das Urteil sieht in § 50c EStG a. F. eine besondere Regelung zur Vermeidung von Missbräuchen, die die allgemeine abgabenrechtliche Missbrauchsvorschrift auch dann verdrängt, wenn nicht alle Voraussetzungen des § 50c EStG a. F. erfüllt sind. Das BMF wollte diese Rechtsprechung nicht anwenden105. Offenbar hoffte man auf das Tätigwerden eines anderen Senats des BFH und kurzfristig mochte hier auch Hoffnung aufglimmen106. Im Ergebnis fiel die Zuständigkeit jener Materie dann aber an den I. Senat des BFH zurück, der seine Spruchpraxis denn auch kurzerhand bestätigte107. 7. Körperschaftsteuerliche und gewerbesteuerliche Mehrmütterorganschaft (BMF v. 4.12.2000, BStBl. I 2000, 1571) Der I. Senat des BFH hat durch seine Urteile v. 9.6.1999 (I R 43/97108 und I R 37/98109) die langjährigen Rechtsprechungsregeln über die sog. Mehrmütterorganschaft modifiziert. Anlass dafür gab ihm die gesellschaftsrechtliche Theorie der mehreren Mütter, die es ihm erlaubte, beispielsweise von einem Joint Venture erwirtschaftete Verluste nicht mehr nur bei einer zwischengeschalteten sog. Willensbildungs-GbR in Abzug zu bringen, sondern bei den „dahinterstehenden“ mehreren Müttern. „Spontan“ fand das den Gefallen auch der Finanzverwaltung. Dann jedoch wähnten insbesondere die Kommunen beträchtliche Gewerbesteuerausfälle, was das BMF bewog, die Grundsätze der BFH-Urteile „bis auf weiteres nicht allgemein anzuwenden. Vergleichbare Fälle sind weiterhin im Hinblick auf eine mögliche gesetzliche Regelung offen zu halten.“ Denn aufgrund „des Auf-
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BStBl. II 2000, 527. BMF v. 6.10.2000, BStBl. I 2000, 1392. Siehe BFH v. 14.1.2004 – XI B 137/02, BFH/NV 2004, 638. BFH v. 20.11.2007 – I R 85/05 BFH/NV 2008, 551. BStBl. II 2000, 695. BFH/NV 2000, 347.
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trags des Deutschen Bundestages an die Bundesregierung (Beschlussempfehlung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestags v. 16.5.2000 – Drucks. 14/3366) werden die Regelungen über die steuerliche Organschaft insgesamt überprüft. Es ist zu erwarten, dass eine gesetzliche Regelung erfolgt, die eventuell auch die Vergangenheit mit einbezieht“110. So geschah es denn auch zwischenzeitlich; das Institut der Mehrmütterorganschaft wurde gänzlich und rückwirkend „gestrichen“111. Die Rückwirkung war namentlich für den seinerzeit erfolgreichen Kläger des „Pilotverfahrens“ vor dem BFH mehr als unschön. Verfassungsbedenken hatte das BMF aber nicht, weil lediglich der Status quo ante restituiert worden war. Der I. Senat des BFH hat diese engherzige Sichtweise später bestätigt112; auch die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde blieb ohne Erfolg113. 8. Inkongruente Gewinnausschüttungen (BMF v. 7.12.2000, BStBl. I 2001, 47) Die Nichtanwendung richtet sich gegen das Urteil v. 19.8.1999 (I R 77/96)114. Dieses Urteil geht dahin, dass von den Beteiligungsverhältnissen abweichende inkongruente Gewinnausschüttungen und inkongruente Wiedereinlagen steuerrechtlich anzuerkennen sind und grundsätzlich auch dann keinen Gestaltungsmissbrauch i. S. d. § 42 AO darstellen, wenn andere als steuerliche Gründe für solche Maßnahmen nicht erkennbar sind. Die Finanzverwaltung meint, inkongruente Gewinnausschüttungen könnten steuerlich (nur) dann anzuerkennen sein, wenn für eine vom gesetzlichen Verteilungsschlüssel abweichende Gewinnverteilung besondere Leistungen eines oder mehrerer Gesellschafter für die Kapitalgesellschaft ursächlich sind115. Dabei müssten die für die abweichende Gewinnverteilung sprechenden Gründe im Verhältnis zwischen der den Gewinn ausschüttenden Kapitalgesellschaft und den begünstigten Gesellschaftern bestehen. Derartige für eine inkongruente Gewinnausschüttung beachtliche Gründe könnten dann angenommen werden, wenn einem Gesellschafter im Hinblick auf zusätzliche Beiträge zum Gesellschaftszweck eine Mehrbeteiligung am Gewinn der Kapitalgesellschaft eingeräumt wird. Dies sei beispielsweise der Fall, wenn ein Gesellschafter der Kapitalgesellschaft wertvolle Grundstücke unentgeltlich zur Nutzung überlasse oder wenn er unentgeltlich die Geschäftsführung der Kapitalgesellschaft übernehme. Dagegen lägen beispielsweise keine wirtschaftlich beachtlichen Gesellschafterleistungen vor, wenn eine inkongruente Gewinnausschüttung mit einer inkongruenten Einlage verbunden werde, so, wenn eine Kapitalgesellschaft sich in einem geringen Umfang an einer anderen Kapitalgesellschaft gegen Einlage
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110 BMF v. 4.12.2000, BStBl. I 2000, 1571. 111 S. UntStFG v. 20.12.2001, BGBl. I 2001, 3858; § 14 Abs. 2 KStG i. d. F. des § 34 Abs. 9 Nr. 1 KStG. 112 BFH v. 14.3.2006 – I R 1/04, BStBl. II 2006, 549. 113 BVerfG v. 10.7.2009 – 1 BvR 1416/06; BFH/NV 2009, 1768. 114 BStBl. II 2001, 43. 115 BMF v. 7.12.2000, BStBl. I 2001, 47.
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beteilige, die sie fremdfinanziert habe, in Höhe der erbrachten Einlage eine Sonderausschüttung zur Realisierung von Körperschaftsteuerguthaben erhält und die empfangende Kapitalgesellschaft die Dividendeneinnahmen aufgrund des angefallenen Aufwands ohne steuerliche Belastung vereinnahme. Liegen hiernach keine wirtschaftlich beachtlichen Gesellschafterleistungen für die vom gesetzlichen Verteilungsschlüssel abweichende Gewinnausschüttung vor, sollen die Ausschüttungen den Gesellschaftern im Verhältnis ihrer Beteiligung am Nennkapital der Gesellschaft zuzurechnen sein. Ob dem beizupflichten ist, erscheint eher zweifelhaft. Die Finanzverwaltung mochte sich nicht damit abfinden, dass das (früher gestalterisch zur Mobilisierung von Körperschaftsteuer-Anrechnungsguthaben genutzte) „Leg ein-Hol zurück“ sowie das (aus selbem Grund ebenso gern genutzte) „Schütt aus-Hol zurück“ vom BFH nicht als Gestaltungsmissbrauch geahndet wurde. Gerade der I. Senat hat seine Sichtweise in der Folgezeit aber immer wieder (und unter Heranziehung des hier inkriminierten Urteils) fortgeführt und bestätigt. Letztlich sieht das im übrigen auch der II. Senat des BFH so. Dieser hat erst kürzlich – im Urteil v. 9.12.2009 (II R 28/08)116 – (abweichend von R 18 Abs. 3 ErbStR) entschieden, dass die disquotale Einlage von Vermögen in eine GmbH durch Gesellschafter keine freigebige Zuwendung an die anderen Gesellschafter darstelle. Das gilt selbst dann, wenn bei der Kapitalerhöhung einer GmbH die neu entstehende Stammeinlage durch eine Sacheinlage erbracht wird und diese Einlage mehr wert ist als die übernommene neue Stammeinlage. Vor diesem Hintergrund war der Nichtanwendungserlass schon fehlplaziert, als er in die Welt gesetzt wurde. Mittlerweile gehört er jedenfalls zwingend zu jenen Erlassen, die unbedingt zur Generalbereinigung aufgehoben gehören. 9. Steuerliche Behandlung der Beteiligung an irischen Kapitalanlagegesellschaften (BMF v. 19.3.2001, BStBl. I 2001, 243) Der I. Senat des BFH hatte mit den Urteilen I R 94/97117 und I R 117/97118 v. 19.1.2000 entschieden, dass die Beteiligung einer inländischen Kapitalgesellschaft an einer Kapitalanlagegesellschaft im niedrig besteuernden Ausland (hier: an einer nach den Beihilfevorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts zugelassenen sog. IFSC-Gesellschaft in den „Dublin Docks“) nicht allein deshalb einen Gestaltungsmissbrauch nach § 42 AO darstellt, weil die Wertpapiergeschäfte im Ausland durch eine Managementgesellschaft abgewickelt werden. Die Finanzverwaltung wandte diese Rechtsprechung nicht an, im Kern deswegen nicht, weil es sich tatsächlich bei jenen Gesellschaften um „funktionslose Briefkästen“ handele, ohne jeglichen eigenwirtschaftlichen Zweck und ohne jegliche Substanz119. § 42 AO gehe den §§ 7 bis 14 AStG systematisch
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BStBl. II 2010, 566. BStBl. II 2001, 222. IStR 2000, 182. BMF v. 19.3.2001, BStBl. I 2001, 243.
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vor und würde nicht verdrängt. Das habe der BFH verkannt. Überdies: Die Hinzurechnungsbesteuerung sei nur anwendbar, wenn die Belastung der irischen Gesellschaft durch Ertragsteuern weniger als 30 v. H. betragen hat. Der irische Finanzminister sei befugt, den Vorzugssteuersatz von 10 v. H. bis auf 30 v. H. anzuheben. Die IFSC-Gesellschaften könnten die Steueranhebung auf 30 v. H. durch entsprechende Erklärungen vermeiden. Da eine Steuer begrifflich nur bei einer vom Willen der Betroffenen unabhängigen gesetzlichen Leistungspflicht vorliegt, sei eine Steuerbelastung, die über 10 v. H. hinausgehe, nicht anzuerkennen. Nachdem der I. Senat seine Spruchpraxis sowohl hinsichtlich der Frage der Missbräuchlichkeit120 bekräftigt als auch die Frage danach, ob es sich bei der „optionalen“ irischen Steuer um eine Steuer i. S. v. § 3 AO handelt, bejaht hatte121, wurde die Nichtanwendung zwischenzeitlich beseitigt122. Das BMF behält sich lediglich vor, im Einzelfall zu prüfen, ob Kapitalanlagegesellschaften tatsächlich eigenwirtschaftlich tätig sind oder nur zum Zwecke der Manipulation eingesetzt werden123. Mit dieser Entwicklung kann man gut „leben“. Sie entspricht nicht zuletzt der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH124. Nach wie vor zweifelhaft ist allerdings die Sonderrolle, die speziell Kapitalanlagegesellschaften beigemessen wird. Das dürfte der EuGH-Rechtsprechung schwerlich genügen125, um so weniger, als der BFH dem systematischen Vorrang von § 42 AO vor §§ 7 bis 14 AStG prinzipiell eine Absage erteilt hat126; die normspezifischen Besonderheiten der Hinzurechnungstatbestände gehen vielmehr umgekehrt § 42 AO vor. 10. Rückwirkende Begründung eines Organschaftsverhältnisses (BMF v. 24.5.2004, BStBl. I 2004, 549) In seinem Urteil v. 17.9.2003 (I R 55/02)127 hat der I. Senat die rückwirkende Begründung eines Organschaftsverhältnisses anerkannt. In dem entschiedenen Fall war die zukünftige Organgesellschaft, eine GmbH & Co. KG, mit Vertrag v. 5.5.1999 rückwirkend zum 1.1.1999 formwechselnd in eine GmbH umgewandelt worden. Nach Auffassung des BFH hat die GmbH & Co. KG die Eingliederungsvoraussetzungen seit dem Beginn des Wirtschaftsjahres tatsächlich erfüllt. Der Mangel, dass die GmbH & Co. KG als Personengesellschaft selbst nicht Organgesellschaft sein konnte, werde durch die Rückwirkungsfiktion des § 25 i. V. m. § 20 Abs. 7 und Abs. 8 UmwStG behoben.
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BFH v. 25.2.2004 – I R 42/02, BStBl. II 2005, 14. BFH v. 3.5.2006 – I R 124/04, BFH/NV 2006, 1729. BMF v. 28.12.2004, BStBl. I 2005, 28, und v. 13.4.2007, BStBl. I 2007, 440. BMF v. 28.12.2004, BStBl. I 2005, 28, dort Tz. 3. EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04, Slg. 2006, I-7995, Cadbury Schweppes. Vgl. BFH v. 21.10.2009 – I R 114/08, BFH/NV 2010, 279. BFH v. 29.1.2008 – I R 26/06, BStBl. II 2008, 978 (dort zur parallelen Regelungslage des § 50d Abs. 1a EStG a. F., jetzt § 50d Abs. 3 EStG n. F.). 127 BStBl. II 2004, 534.
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Die Finanzverwaltung wendet das Urteil „nur an […], wenn der Sachverhalt dem Sachverhalt entspricht, der dem Urteil zugrunde lag“128. Sie belässt insbesondere die Aussagen der Rz. Org. 05, Org. 13 und Org. 18 des BMF-Schreibens v. 25.3.1998129, und der Rz. 12 des BMF-Schreibens v. 25.8.2003130, wonach das Tatbestandsmerkmal der finanziellen Eingliederung nicht zurückbezogen werden können soll, unberührt. So bleibt es insbesondere dabei, dass bei einer Abspaltung, Ausgliederung oder Einbringung eines Teilbetriebs des Organträgers unter Abschluss eines Gewinnabführungsvertrages mit der neu gegründeten Tochtergesellschaft die rückwirkende Begründung eines Organschaftsverhältnisses nicht möglich sei. Damit stellt sich die Finanzverwaltung vorbehalts- und begründungslos gegen die einhellige Schrifttumsmeinung, die nicht zuletzt durch etliche und hochrangige Verwaltungsangehörige gespeist wird. Sie verengt auch ohne Not die Aussagen des I. Senats, der naturgemäß nur fallbezogen und geführt durch ein „judicial self restraint“ erkannt, aber dennoch angedeutet hat, dass er sich ein umfassendes Verständnis seiner Urteilsaussagen vorstellen kann. Folge der beharrenden Verwaltungspraxis war eine beträchtliche Rechtsungewissheit, die neuerlich zwei FG-Urteile produziert hat. Der BFH hat darüber am 28.7.2010 (I R 89/909131 und I R 111/09132) entschieden, die besagte Streitfrage aber letzten Endes wiederum unbeantwortet belassen können: Weil die übernehmende Gesellschaft ohnehin in die „Fußstapfen“ der übertragenden Gesellschaft eintrete, seien dieser auch alle relevanten Besteuerungsmerkmale ohnehin zuzurechnen, also auch die organschaftlichen (und seinerzeit tatsächlich gegebenen) Eingliederungsvoraussetzungen. 11. Diskriminierungsverbote der Doppelbesteuerungsabkommen (BMF v. 8.12.2004, BStBl. I 2004, 1181) Der I. Senat hat durch Urteil v. 29.1.2003 (I R 6/99)133 entschieden, dass eine US-Kapitalgesellschaft, deren Geschäftsleitung sich im Inland befindet und die Gesellschafterin einer deutschen Gesellschaft (GmbH) mit Geschäftsleitung im Inland ist, entgegen § 14 Nr. 3 Satz 1 KStG 1984 die Funktion eines Organträgers einer mit der Tochtergesellschaft vereinbarten Organschaft haben könne. Deshalb könne sich die inländische Gesellschaft auf das Diskriminierungsverbot des Art. 24 Abs. 4 DBA-USA berufen, wenn ihr aufgrund § 14 Nr. 3 Satz 1 KStG 1984 wegen des statuarischen Sitzes des Organträgers im Ausland die Anerkennung der Gewinnabführung an die Muttergesellschaft versagt wird. Dieses Urteil des I. Senats ist zu § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KStG 1999 a. F. ergangen. § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KStG n. F. (i. d. F. des Art. 2 des Gesetzes zur
__________ 128 129 130 131 132 133
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BMF v. 24.5.2004, BStBl. I 2004, 549. BStBl. I 1989, 268. BStBl. I 2003, 437. DStR 2010, 2182. BFH/NV 2011, 67. BStBl. II 2004, 1043.
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Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform v. 20.12.2001)134 verknüpft die Organträgereigenschaft einer Gesellschaft nicht mehr mit deren Sitz und Geschäftsleitung im Inland, sondern nur noch mit der inländischen Geschäftsleitung. Die Auswirkung der BFH-Entscheidung ist deshalb auf Veranlagungszeiträume vor 2001 beschränkt und wird seitens der Finanzverwaltung insoweit denn auch angewandt: „Im Lichte der Entwicklung des deutschen Körperschaftsteuerrechts und im Hinblick auf die schon bisher durch § 18 KStG anerkannte Organträgerfähigkeit beschränkt Steuerpflichtiger ausländischer Unternehmen, ist das Urteil auf entsprechende Sachverhalte anzuwenden, wenn mit dem jeweiligen Staat ein DBA besteht, das eine Art. 24 Abs. 5 OECD-MA entsprechende Regelung enthält oder es sich um einen EU/EWR-Mitgliedsstaat handelt“135. Das soll jedoch nicht gelten, soweit aus dem Urteil weitergehend hergeleitet werden sollte, auch die Verweigerung der Anerkennung eines Organschaftsverhältnisses mit einem ausländischen Organträger mit Sitz und Geschäftsleitung im Ausland verstoße gegen Art. 24 Abs. 5 OECD-MA oder gegen EGRecht (Niederlassungsfreiheit, Art. 43, 48 EG, jetzt Art. 49, 54 AEUV). Im Kern und ausführlich nimmt das BMF dazu auf den Bedeutungsgehalt des abkommensrechtlichen Diskriminierungsvorbehalts Bezug, grenzt dieses von den EU-Diskriminierungsverboten ab und verlangt vor allem eine Vergleichspaarbildung zu einem entsprechenden inlandsbeherrschten Unternehmen. Letzteres befinde sich eben nicht in einer vergleichbaren Lage mit einem Auslandsunternehmen; auch Abkommensrecht verlange keine staatenübergreifende Unternehmenskonsolidierung. Das entspricht der Auffassung in Nr. 77 des OECD-Musterkommentars zu Art. 24 Abs. 3 OECD-MA136. Ob dem so vorbehaltlos beizupflichten ist, ist indes eher zweifelhaft. Die Finanzverwaltung übersieht, dass aus Sicht der ausländerbeherrschten Inlandsgesellschaft im Ergebnis denn doch eine ansässigkeitsbedingte steuerliche „Andersbehandlung“ gegenüber inländerbeherrschten Inlandsgesellschaften vorgenommen wird. Immerhin hat aber der EuGH137 wissen lassen, dass es keinen unionsweiten Gesellschaftskonsolidierungszwang gibt. Es schadet so gesehen nicht, dass ein steuerlicher Organkreis davon abhängt, dass der Organträger entweder seinen Sitz oder seine Geschäftsleitung im Inland hat. Es bleiben in diesem Zusammenhang aber dennoch viele offene Fragen. Insbesondere fragt sich, ob die Anforderungen, die das Unionsrecht an eine diskriminierungsfreie Ausgestattung des Steuerrechts stellt, mittelbar nicht doch Eingang in die Grundsätze des abkommensrechtlichen Diskriminierungsschutzes finden können. Ein Paradebeispiel dafür liefert das Urteil des FG Köln v. 22.10.2008 (13 K 1164/05)138, das zum Problem der Sperrwirkung des DBA-Diskriminierungsverbotes in Art. 24 Abs. 3 OECD-MA bezogen auf
__________
134 BStBl. I 2002, 35. 135 BMF v. 8.12.2004, BStBl. I 2004, 1181 Tz. 1. 136 Ebenso Hessisches FG v. 18.5.2010 (8 K 3137/06), EFG 2010, 2024, und (8 K 1160/ 10), EFG 2010, 2026, Rev. I R 54, 55/10. 137 EuGH v. 25.2.2010 – C-337/08, DStR 2010, 427 – „X-Holding“. 138 EFG 2009, 509.
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§ 8a KStG a. F. ergangen ist. Überträgt man diejenigen Beschränkungs- und Diskriminierungsmaßstäbe, die der EuGH den EU-Freiheitsrechten entnimmt, auf die Maßstäbe des abkommensrechtlichen Diskriminierungsverbots, dann könnte es durchaus Gleichklänge geben139. Legt man diese Sichtweise zugrunde, dann stimmt es in seiner Allgemeinheit nicht, wenn das BMF meint, „aus dem Urteil […] können keine, über den entschiedenen Sachverhalt hinausgehende Folgerungen für die Anwendung der DBA-Diskriminierungsverbote hergeleitet werden“. Auch Angehörige von Drittstaaten könnten vielmehr durch Gemeinschaftsrecht geschützt sein. 12. Gemeinnützigkeit: Förderung der Allgemeinheit, satzungsmäßige Ausschließlichkeit und Unmittelbarkeit (BMF v. 20.9.2005, BStBl. I 2005, 902) Eine Körperschaft ist nur dann gemeinnützig, wenn sie die Allgemeinheit fördert (§ 52 Abs. 1 AO). In dem Vorlagebeschluss an den EuGH v. 14.7.2004 (I R 94/02)140 hat der I. Senat hierzu die Auffassung vertreten, dass auch die Bewohner oder Angehörigen eines ausländischen Staates oder einer Stadt im Ausland Allgemeinheit im Sinne dieser Vorschrift sein können. Zur Begründung hat er unter Hinweis auf die als gemeinnütziger Zweck anerkannte Förderung der Entwicklungshilfe ausgeführt, eine Körperschaft könne auch dann die Allgemeinheit fördern, wenn ihre Fördermaßnahmen nicht den Bewohnern oder Staatsangehörigen Deutschlands zugute kommen. Das BMF wollte dem nicht folgen141: Unter „Allgemeinheit“ i. S. d. § 52 Abs. 1 AO sei die Bevölkerung von Deutschland bzw. ein Ausschnitt daraus zu verstehen. Das Gemeinnützigkeitsrecht sei nationales Recht, das im Ausland nicht gelte. Die darin bestimmten Steuerbefreiungen bedürften einer Rechtfertigung. Diese sei das besondere Interesse, das der Staat an der am Gemeinwohl orientierten Tätigkeit der Körperschaften habe. Der deutsche Staat gewähre privaten gemeinnützigen Körperschaften die Steuerbefreiungen, weil sie ihm – entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip – Gemeinwohlaufgaben abnähmen, die er sonst selbst erfüllen und für die er Steuermittel aufwenden müsste. Dagegen gehöre es nicht zu seinen Aufgaben, die Bevölkerung anderer Länder durch Maßnahmen auf allen Gebieten, die in Deutschland als gemeinnützig anerkannt seien, zu fördern. Er müsse weder unmittelbar noch mittelbar – über Steuervergünstigungen für dortige Körperschaften – Mittel dafür verwenden. Davon zu unterscheiden sei, dass eine steuerbegünstigte inländische Körperschaft ihre gemeinnützigen Zwecke grundsätzlich auch im Ausland verwirklichen könne, etwa bei der Förderung der Entwicklungshilfe in einem Entwicklungsland und der humanitären Hilfe bei Katastrophen, das aber nur deshalb, weil, weil sie positive Rückwirkungen auf das Ansehen Deutschlands und die deutsche Bevölkerung (Allgemeinheit) hätten und auch hier die Bundesrepu-
__________ 139 So denn jetzt auch BFH v. 8.9.2010 – I R 6/09, BFH/NV 2011, 154. 140 BStBl. II 2005, 721. 141 BMF v. 20.9.2005, BStBl. I 2005, 902.
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blik Deutschland mehr Steuermittel aufwenden müsste, wenn sich nicht inländische Organisationen engagieren würden. Das alles ist höchst fragwürdig. Es hat seinen „Ertrag“ aber in einem Nichtanwendungsgesetz gefunden: in § 51 Abs. 2 AO n. F. wurde Entsprechendes aufgenommen; entweder müssen die steuerbegünstigten Zwecke im Inland verwirklicht werden oder sie müssen „auch zum Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland beitragen“. Das ist nun geltendes Recht und vorerst zu akzeptieren. Fraglich ist, ob sich eine solch verengte Sichtweise auf eine „deutsche Allgemeinheit“ mit unionsrechtlichen Anforderungen verträgt. Überdies stand noch ein zweiter Punkt in Rede: Nach § 59 AO muss sich aus der Satzung einer gemeinnützigen Körperschaft auch ergeben, dass der steuerbegünstigte Zweck ausschließlich und unmittelbar verfolgt wird. Nach § 60 Abs. 1 AO müssen die Satzungszwecke und die Art ihrer Verwirklichung so genau bestimmt sein, dass aufgrund der Satzung geprüft werden kann, ob die Voraussetzungen für die Steuervergünstigungen gegeben sind, was prinzipiell die Ausschließlichkeit und Unmittelbarkeit einschließt. Dagegen hat der I. Senat in dem zitierten Vorlagebeschluss die Auffassung vertreten, dass die Begriffe „ausschließlich“ und „unmittelbar“ nicht in der Satzung einer gemeinnützigen Körperschaft genannt zu werden brauchen. Es reiche aus, wenn aus der Satzung nichts Gegenteiliges entnommen werden könne. Ausschlaggebend sei, dass die aufgelisteten Zielsetzungen keinen begründeten Zweifel daran ließen, dass sie der Verwirklichung des steuerbegünstigten Zwecks dienen. Das BMF will auch dem nicht folgen. Es befürchtet offenbar Missbräuche und verlangt deshalb einen strikt formalen Satzungsinhalt. So verständlich das Anliegen der Finanzverwaltung ist, so wenig verständlich ist es, deshalb eine Nichtanwendung zu bestimmen. Der BFH hat das Gesetz sachgerecht ausgelegt. Die bloße formale Aufnahme der Begriffe „ausschließlich“ und „unmittelbar“ ändert wohl kaum etwas an der „Crux“ des Gemeinnützigkeitsrechts als solchem, Mitnahmeeffekte zu provozieren. Hier hilft nur eine wirksame inhaltliche Steuerkontrolle. 13. Ausschluss der Kapitalertragsteuererstattung bei Zwischenschaltung einer funktionslosen Holdinggesellschaft (BMF v. 30.1.2006, BStBl. I 2006, 166) Der I. Senat hat mit seinem Urteil v. 31.5.2006 (I R 74, 88/04)142 entschieden, dass einer niederländischen Kapitalgesellschaft, die innerhalb eines ebenfalls in den Niederlanden ansässigen aktiv tätigen Konzerns auf Dauer als Holdinggesellschaft ausgegliedert wird, die Steuerentlastung gemäß § 50d Abs. 1 Satz 1 EStG 1990/1994 auch dann nicht nach § 50d Abs. 1a EStG 1990/1994 zu versagen ist, wenn an ihr Personen beteiligt sind, denen die Steuerentlastung nicht zustünde, wenn sie die Einkünfte unmittelbar erzielen würden. Das vorgenannte Urteil soll nicht angewandt werden, zum einen deswegen, weil § 50d Abs. 1a EStG 1990/1994 auf die Verhältnisse der zwischengeschal-
__________ 142 BStBl. II 2006, 118.
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teten Gesellschaft abstelle143. Der BFH übertrage hingegen die Merkmale anderer (konzernzugehöriger) Unternehmen auf diese Gesellschaft, sofern die Aktivitäten der zwischengeschalteten Gesellschaft einem langfristig angelegten konzerninternen Strategiekonzept folgten. Diese Merkmalsübertragung lasse sich weder aus dem Gesetzeswortlaut ableiten noch entspricht sie der historischen Auslegung dieser Vorschrift, mit der die bisherige Rechtsprechung des BFH zu Basisgesellschaften kodifiziert wurde und die insoweit einer Merkmalsübertragung entgegenstehe. Überdies: Nach dem Wortlaut des § 50d Abs. 1a EStG a. F. sowie seiner Gesetzesbegründung sei weiterhin davon auszugehen, dass in jedem Fall eine substantielle Geschäftsausstattung der ausländischen Gesellschaft notwendig sei, um die Funktionslosigkeit der Gesellschaft auszuschließen. Das kumulative Vorliegen der Voraussetzungen in § 50d Abs. 3 EStG (§ 50d Abs. 1a EStG a. F.) beziehe sich auf einen persönlichen Tatbestand (kein Anspruch, soweit persönlich keine Entlastungsberechtigung der Antrag stellenden ausländischen Gesellschaft vorliegt) und einen sachlichen Tatbestand (es sind keine wirtschaftlichen Gründe gegeben). Die Merkmale „wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe fehlen“ und „keine eigene Wirtschaftstätigkeit entfalten“ müssen nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift sowie der historischen Auslegung nicht kumulativ vorliegen. Schließlich würde „der Schutzzweck des § 50d Abs. 3 EStG durch das in Rede stehende BFH-Urteil faktisch aufgehoben, weil jegliche Gestaltungen entsprechend begründet werden können (z. B. dürfte die Behauptung, für die Einschaltung der funktions- bzw. substanzlosen Gesellschaft bestünde ein langfristig angelegtes konzerninternes Strategiekonzept, kaum bzw. schwer zu widerlegen sein)“. Abermals hat die Finanzverwaltung den Gesetzgeber zu einer Gesetzeskorrektur veranlasst. Sie findet sich – mit erstmaliger Wirkung vom VZ 2007144 an – in § 50d Abs. 3 EStG n. F. Das Schrifttum145 ist einhellig der Auffassung, dass diese Neuregelung weit über das gebotene Ziel – die Verhinderung von Missbräuchen durch Treaty shopping – hinausschießt. Namentlich in Bezug auf Verwaltungs- und Kapitalanlagegesellschaften, die keiner besonderen „Unternehmenssubstanz“ bedürfen, werden die Gesetzesanforderungen kaum gerecht. Es ist durchaus zu vermuten, dass auch der I. Senat das zu gegebener Zeit (wieder) so sehen wird146. Und dass die Neuregelungen unionsrechtlichen Anforderungen kaum standhalten dürften, ist letztlich ausgemacht, nicht zuletzt, nachdem die EG-Kommission dieserhalb gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat147.
__________ 143 144 145 146 147
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BMF v. 30.1.2006, BStBl. I 2006, 166. Vgl. § 52 Abs. 1 EStG i. d. F. des StÄndG 2007. Z. B. Gosch in Kirchhof, 9. Aufl. 2010, § 50d EStG Rz. 27, m. w. N. Vgl. auch BFH v. 21.10.2009 – I R 114/08, DStR 2010, 37 (zu § 8 Abs. 2 und 6 AStG). Az. 2007/4435, vgl. IP/10/298 v. 18.3.2010; siehe dazu Boxberger, AG 2010, 365.
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14. Reichweite der Kapitalverkehrsfreiheit (BMF v. 21.3.2007, BStBl. I 2007, 302) Der I. Senat hat im Urteil v. 9.8.2006 (I R 95/05)148 (u. a.) entschieden, dass § 8b Abs. 5 KStG (in der bis Veranlagungszeitraum 2003 geltenden Fassung) gegen die Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 ff. und gegen die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 56 ff. EG (jetzt Art. 63 AEUV) verstößt. Die Finanzverwaltung wendet die Grundsätze des Urteils nicht an, soweit der BFH im vorliegenden Fall einen Verstoß des § 8b Abs. 5 KStG a. F. gegen die Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 56 EG (jetzt Art. 63 AEUV) annimmt und aufgrund dessen den Schutz der Freiheitsrechte auf Drittstaaten ausdehnt149: Die Kapitalverkehrsfreiheit sei „in diesen Fällen nicht ersatzweise heranzuziehen, da die beschränkenden Wirkungen des § 8b Abs. 5 KStG a. F. nur eine zwangsläufige Folge der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit ist. Nach der aktuellen Rechtsprechung des EuGH besteht ein Exklusivitätsverhältnis der Niederlassungsfreiheit bzw. der Dienstleistungsfreiheit zur Kapitalverkehrsfreiheit, wenn die ‚beschränkenden Auswirkungen die unvermeidliche Konsequenz einer eventuellen Beschränkung der Niederlassungsfreiheit‘150 […] bzw. sie ‚zwangsläufige Folge der Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs‘151 sind. Für die Kapitalverkehrsfreiheit bleibt dann kein Raum mehr. Hier dürften auch die noch anhängigen EuGH-Verfahren in der Rs. C-492/04 (Lasertec)152 bzw. C-415/06 (Stahlwerk Ergste Westig)153 für weitere Klärung sorgen“154. Letzteres ist der Fall, allerdings womöglich mit anderen Resultanten, als dies das BMF erhoffte. Der I. Senat hat seinen Standpunkt denn auch im Urteil v. 26.11.2008 (I R 7/08)155 nochmals bekräftigt. Er hat angenommen, dass die vom BFH seinerzeit vermisste Klarheit zwischenzeitlich herbeigeführt sei. Dem BMF war zuzugeben, dass die seinerzeitige Entscheidung recht „mutig“ war, war die einschlägige EuGH-Rechtsprechung zur Kapitalverkehrsfreiheit doch noch sehr im Fluss. Der BFH hat das, was noch kommen sollte, sozusagen vorempfunden. Mittlerweile erscheint der Vorwurf einer „judiziellen Eigenmacht“ jedoch in der Tat als unbegründet. Das, was jetzt erkannt worden ist, entspricht im Kern der Sichtweise des EuGH: Die Kapitalverkehrsfreiheit wird danach nur dann von der vorrangigen Niederlassungsfreiheit verdrängt, wenn die nationale Norm sich ihrem Telos nach vorzugsweise und „der Sache nach“ gegen Direktinvestitionen richtet, was nach Maßgabe der EuGH-Judikatur erstens der Fall ist, wenn die Norm regelungs-
__________ 148 149 150 151 152 153 154 155
BStBl. II 2007, 279. BMF v. 21.3.2007, BStBl. I 2007, 302 Tz. 2. EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04, Slg. 2006, I-7995, Cadbury Schweppes, Rz. 33. EuGH v. 3.10.2006 – C-452/04, Slg. 2006, I-9521, Fidium Finanz, Rz. 48. EuGH v. 10.5.2007 – C-492/04, Slg. 2007, I-3775. EuGH v. 6.11.2007 – C-415/06, IStR 2008, 107. BMF v. 21.3.2007, BStBl. I 2007, 302 Tz. 2. DStR 2009, 632.
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typisch „einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft“ ermöglicht, zweitens aber auch dann, wenn es um die Besteuerung der „Beziehungen in einer Gruppe“ geht156. An dieser Stelle erfolgt die maßgebliche Weichenstellung: – Ist das eine oder das andere der Fall, wird die Kapitalverkehrsfreiheit von der Niederlassungsfreiheit von vornherein (sozusagen abstrakt) verdrängt. Ein anderes Ergebnis wäre auch sinnwidrig: Weshalb sollte eine Portfoliobesser als eine Direktbeteiligung dastehen? – Das besagt aber noch nicht, dass automatisch der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit im konkreten Einzelfall eröffnet ist. Denn das hängt (jedenfalls in der Regel) von den tatsächlichen Beherrschungsmöglichkeiten ab und ist in einem weiteren Subsumtionsschritt zu prüfen. Zielt die Norm also beispielsweise auf die Besteuerung von Gruppenbeziehungen ab, dann entfällt der Schutz über die Niederlassungsfreiheit gleichwohl, wenn tatsächlich ein bloßer Streubesitz in Rede steht; die Niederlassungsfreiheit ist dann nicht einschlägig. – Offen ist derzeit (nur), ob unter derartigen Gegebenheiten einer Streubesitzsituation (wenigstens) die Kapitalverkehrsfreiheit greift und gewissermaßen wieder auflebt, oder ob jene Situation gänzlich ‚ungeschützt‘ bleibt. Letzteres wäre vermutlich nur konsequent: Die Abschirmwirkung des abstrakten Schutzes über die Niederlassungsfreiheit wirkt absolut. Und andernfalls stünde der „Streubesitzler“ wegen der Drittstaatenwirkung auch abermals besser da als der „Direktinvestor“. – Nur dann, wenn der Normtelos „neutral“ ist, gelangt man mit Gewissheit zu dem Ergebnis des Drittstaatenschutzes über die Kapitalverkehrsfreiheit – vorausgesetzt, es greifen keine besonderen Rechtfertigungsgründe und auch die Stillstandsklausel in Art. 57 Abs. 1 EG (jetzt Art. 64 Abs. 1 AEUV) erweist sich (mangels Existenz einer steuerlichen nationalen „Altregelung“ für eine Direktinvestition als nicht einschlägig. So aber lagen die Dinge bei § 8b Abs. 5 KStG a. F. Denn die darin angeordnete sog. Schachtelstrafe trifft Beteiligungen jedweder Art, auch solche, die im Streubesitz gehalten werden, sie verlangt nichts Beherrschendes und wirkt auch nicht gruppenspezifisch. Folglich bleibt die Kapitalverkehrsfreiheit eigenständig zu prüfen. Darüber, ob es angebracht gewesen wäre, gleichwohl und abermals den EuGH anzurufen, mag man natürlich dennoch streiten157. Der BFH hat sich dagegen entschieden. So oder so wird die Finanzverwaltung sich mit Existenz und (Weiter-)Entwicklung des Europäischen (Ertrag-)Steuerrechts vermutlich ab-
__________ 156 Vgl. EuGH v. 17.9.2009 – C-182/08, IStR 2009, 691, Glaxo Wellcome, dort Tz. 48 f.; EuGH v. 21.1.2010 – C-311/08, IStR 2010, 144, SGI. 157 Das beklagte FA (!) hat in der Rev. I R 7/08 wegen Verstoßes gegen den gesetzlichen Richter (Art. 101 GG) Verfassungsbeschwerde beim BVerfG eingelegt (Az. 2 BvR 862/09).
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finden müssen. Das betrifft im Kern auch die besagte Reichweite der Kapitalverkehrsfreiheit158. 15. Körperschaftsteuerlicher Verlustabzug nach § 8 Abs. 4 KStG (BMF v. 2.8.2007, BStBl. I 2007, 624; v. 17.6.2002, BStBl. I 2002, 629) Im Urteil v. 14.3.2006 (I R 8/05)159 hat der I. Senat entschieden, dass der Verlust der wirtschaftlichen Identität gemäß § 8 Abs. 4 Satz 2 KStG einen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang zwischen der Übertragung der Gesellschaftsanteile und der Zuführung neuen Betriebsvermögens voraussetzt. Bei einem zeitlichen Zusammenhang bis zu einem Jahr bestünde die – durch den Steuerpflichtigen widerlegbare – Vermutung eines sachlichen Zusammenhangs. Der I. Senat geht also von einem Gesamtplan verbunden mit einem rechtsprechungstypisierten Zeitrahmen aus. Das BMF hat sich dem zwar prinzipiell angeschlossen. Es hält für die regelmäßige Annahme eines „zeitlichen und sachlichen Zusammenhangs“ eine Frist von einem Jahr indessen als zu kurz bemessen160. Unter Aufhebung von Tz. 12 Satz 2 des BMF-Schreibens v. 16.4.1999161 will es daher regelmäßig von einem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang ausgehen, wenn zwischen Anteilsübertragung und Betriebsvermögenszuführung nicht mehr als zwei Jahre vergangen sind. Auch bei Überschreiten des Zwei-Jahres-Zeitraums könne ein Verlust der wirtschaftlichen Identität eintreten, wenn ein sachlicher Zusammenhang zwischen der Anteilsübertragung und der Zuführung neuen Betriebsvermögens anhand entsprechender Umstände dargelegt werden kann. Das Problem hat sich letzten Endes erledigt, nachdem § 8 Abs. 4 KStG mittlerweile Rechtsgeschichte ist. Immerhin wirkt die Norm aber noch für eine Übergangszeit (unter bestimmten tatbestandlichen Voraussetzungen und bis längstens zum VZ 2012, vgl. § 34 Abs. 6 Satz 3 KStG n. F.) fort und es ist auch noch eine Reihe einschlägiger Streit- und Steuerfälle rechtshängig. Es ist nicht unbedingt zu vermuten, dass der BFH das besagte Zeitfenster weiter öffnet und von seiner typisierten Jahresfrist abweichen wird162. Letzten Endes wird es sich hier ähnlich verhalten, wie im Hinblick auf die nach § 8 Abs. 4 KStG erforderliche Zuführung überwiegend neuen Betriebsvermögens und hierbei der sog. gegenständlichen, wirtschaftsgutbezogenen Betrachtungsweise, wie sie vom I. Senat des BFH jahrelang praktiziert worden ist163. Im Endeffekt blieb der Finanzverwaltung auch in diesem Punkt nichts anders übrig, als ihre bis
__________ 158 Nach wie vor insoweit aber offenbar a. A. BMF v. 11.11.2010, BStBl. I 2011, 40 (im Anschluss an EuGH v. 22.1.2009 – C-377/07, BStBl. II 2011, 95, STEKO). 159 BStBl. II 2007, 602. 160 BMF v. 2.8.2007, BStBl. I 2007, 624. 161 BStBl. I 1999, 455. 162 BFH v. 29.4.2008 – I R 91/05, BFHE 222, 240; v. 24.11.2009 – I R 56/09, BFH/NV 2010, 1123; v. 1.7.2009 – I R 101/08, BFH/NV 2009, 1838. 163 Z. B. BFH v. 5.6.2007 – I R 106/05, BStBl. II 2008, 926, und I R 9/06, BStBl. II 2008, 988.
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dato entgegenstehende (und in diesem Punkt sogar steuerpflichtigenfreundlichere) Saldo-Betrachtung164 (= Zugunsten-Nichtanwendung) aufzugeben165. 16. Auflösung passiver Ausgleichsposten bei Organschaft (BMF v. 5.10.2007, BStBl. I 2007, 743) Der I. Senat vertritt in dem Urteil v. 7.2.2007 (I R 5/05)166 die Auffassung, dass ein beim Organträger bestehender passiver Ausgleichsposten im Fall der Veräußerung der Organbeteiligung erfolgsneutral aufzulösen ist. Im Gegensatz dazu geht die Finanzverwaltung von einer einkommenswirksamen Auflösung der Ausgleichsposten aus. Das Urteil bleibt unangewandt167. Es stehe nicht im Einklang mit dem Grundsatz der körperschaftsteuerlichen Organschaft, wonach sich innerhalb des Organkreises erzielte Gewinne und Verluste insgesamt nur einmal – und zwar beim Organträger – auswirken dürften. Diesem Grundsatz der Einmalbesteuerung dienten auch die aktiven und passiven Ausgleichsposten. Bei der Auflösung der passiven und aktiven Ausgleichsposten fänden daher R 63 Abs. 3 KStR 2004 und Rn. 43 ff. des BMF-Schreibens v. 26.8.2003168 weiterhin Anwendung. Wegen des Zusammenhangs der Ausgleichsposten mit der Beteiligung, sei auf die entsprechende Einkommenserhöhung bzw. -minderung das Halbeinkünfteverfahren anzuwenden (§ 8b KStG, §§ 3 Nr. 40, 3c Abs. 2 EStG). Das BMF hat in der Sache recht: Die unterschiedliche körperschaftsteuerliche Behandlung aktiver und passiver Ausgleichsposten passt systemisch nicht zusammen. Nur: Dieser Systembruch war es nicht, der vom BFH übersehen wurde. Ihm fehlte schlicht die Rechtsgrundlage dafür, passive Ausgleichsposten im Veräußerungsfall aufzulösen. Steuerrecht ist Eingriffsrecht, und ohne Rechtsgrundlage werden die Vorgaben des Art. 20 Abs. 3 GG verfehlt. Darauf geht das BMF mit keinem Wort ein. Immerhin trug man den rechtsstaatlichen Bedürfnissen Rechnung, indem einmal mehr der Gesetzgeber bewegt wurde, hier nachzubessern: Durch das JStG 2008 erhielt § 14 KStG einen neuen Abs. 4, der die notwendige Regelung nun schafft, der wundersamerweise allerdings „auch für VZ vor 2008“ anzuwenden sein soll, § 34 Abs. 9 Nr. 5 KStG. Vermutlich hofft man, eine übergangslose Situation sei verfassungsfest, weil sich die Verwaltungspraxis ja nicht geändert habe. Problem ist indes, dass zuvor die notwendige Rechtsgrundlage völlig fehlte; es ging nicht nur um ein Auslegungsproblem. Insofern liegen die Dinge hier anders als bei der (früheren) sog. Mehrmütterorganschaft169.
__________ 164 Nämlich Gegenständlichkeit nur im Zusammenhang mit einem Branchenwechsel: vgl. BMF v. 16.4.1999, BStBl. I 1999, 455, Tz. 9; und im Anschluss daran Nichtanwendung v. 17.6.2002, BStBl. I 2002, 629. 165 BMF v. 4.12.2008, BStBl. I 2008, 1033. 166 BStBl. II 2007, 796. 167 BMF v. 5.10.2007, BStBl. I 2007, 743. 168 BStBl. I 2003, 437. 169 Siehe dazu oben sub 7.
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17. Bilanzsteuerrechtliche Berücksichtigung von sog. Nur-Pensionszusagen (BMF v. 16.6.2008, BStBl. I 2008, 681) Der I. Senat hat mit Urteil v. 9.11.2005 (I R 89/04)170 entschieden, dass die Zusage einer sog. Nur-Pension zu einer sog. Überversorgung führt, wenn dieser Vereinbarung keine Entgeltumwandlung zugrunde liegt. In diesen Fällen könne keine Pensionsrückstellung nach § 6a EStG gebildet werden. Aus Sicht des BMF steht diese Entscheidung nicht im Einklang mit dem BMFSchreiben zur steuerlichen Berücksichtigung von überdurchschnittlich hohen Versorgungsanwartschaften v. 3.11.2004171, was wiederum einer Anwendung dieses Urteils entgegenstehe172. Denn: Zum einen lasse sich eine Nur-Pension nicht als Überversorgung begreifen, die mit der Stichtagsregelung in § 6a Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Satz 4 EStG kollidiere. Das mit derartigen Zusagen vereinbarte Versorgungsniveau ist auch von vornherein beabsichtigt. Demzufolge sind Nur-Pensionszusagen bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 und 2 EStG bilanzsteuerrechtlich anzuerkennen und in der steuerlichen Gewinnermittlung auszuweisen. Der BFH unterscheide auch unzutreffend zwischen Nur-Pensionszusagen, die auf Entgeltumwandlungen beruhten und Zusagen, denen keine Umwandlung von Arbeitslohn zugrunde liege. Für die bilanzsteuerrechtliche Berücksichtigung von Nur-Pensionszusagen komme es nicht darauf an, ob der Versorgungsberechtigte für die Zusage auf Arbeitslohn verzichtet habe. Maßgebend bleibe ausschließlich, ob die Voraussetzungen des § 6a EStG erfüllt werden. Die Sichtweise des BMF ist fraglos gut vertretbar. Dennoch hat der BFH die Nur-Pension den Überversorgungsregeln unterworfen (sozusagen als deren intensivste Form). Er nimmt dementsprechend auch eine Verhältnisrechnung vor, wenn die Nur-Pension ganz oder teilweise auf einer (echten) Barlohnumwandlung basiert. Denn dann liegt keine Überversorgung vor; die Pension wird, wie sonst auch, aus eigenem Geld des Begünstigten gespeist. Das mag man, wie gesagt, auch anders sehen, weil eine Versorgungsanwartschaft von 100 schon rechnerisch nicht 75 v. H. eines imaginären, fiktiven Aktivlohns sind. Der BFH hat sich dennoch zu einem einheitlichen Rechtsverständnis der Überversorgungsgrundsätze bekannt. Er löst das Problem der Nur-Pension deswegen (jedenfalls zunächst) auf der Ebene der Bilanz, nicht aber der vGA. Dazu kann es erst aufgrund anderer Umstände kommen, beispielsweise bei einer „verdeckten“ Barlohnumwandlung oder bei einer späteren Abfindung. Das ergibt sich denn auch aus dem Urteil v. 28.4.2010 (I R 78/08)173.
__________ 170 171 172 173
BStBl. II 2008, 523. BStBl. I 2004, 1045. BMF v. 16.6.2008, BStBl. I 2008, 681. BFH/NV 2010, 1709.
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18. Kein Abzug ausländischer Betriebsstättenverluste aus Fremdenverkehrsleistungen (BMF v. 4.8.2008, BStBl. I 2008, 837) Mit Urteil v. 29.1.2008 (I R 85/06)174 hat der I. Senat entschieden, dass der Ausschluss des Abzugs von Verlusten aus Fremdenverkehrsleistungen gemäß § 2a Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 2a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 EStG 1990 der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 und 48 EG, jetzt Art. 49 und 54 AEUV) widerspricht. Zur Begründung stützt sich der BFH auf die Ausführungen des EuGH in der Rechtssache C-347/04 (Rewe Zentralfinanz)175, wonach der Ausschluss des Abzugs von Verlusten aus der Abschreibung auf Beteiligungswerte an in anderen Mitgliedsstaaten niedergelassenen Tochtergesellschaften über das hinausgehe, was zur Bekämpfung der Steuerumgehung erforderlich ist. Das BMF wendet das Urteil nicht an, weil es dem Gesetzgeber freistehe, zu entscheiden, in welchen Fällen er eine derartige Begünstigung gewähre und in welchen Fällen es bei der im DBA vereinbarten Freistellung der Einkünfte verbleibe176. Die Nichtberücksichtigung von Verlusten ausländischer Betriebsstätten aufgrund der Freistellungsmethode sei grundsätzlich europarechtlich unbedenklich, weil dadurch lediglich die Besteuerungsrechte zwischen den Vertragsstaaten in international üblicher Weise aufgeteilt würden. Dies habe der EuGH erst jüngst in der Rechtssache C-414/06 (Lidl Belgium)177 entschieden. Dieses Urteil habe der BFH für seine Entscheidung nicht berücksichtigen können. Die Grundsätze dieses Urteils seien jedoch auch für § 2a Abs. 3 EStG a. F. zu beachten. Im Ergebnis komme somit eine Berücksichtigung von Betriebsstättenverlusten in den in § 2a Abs. 2 EStG a. F. aufgeführten Fällen jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn – wie in dem der BFH-Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt – im Betriebsstättenstaat rechtlich oder tatsächlich allgemein die Möglichkeit zur Berücksichtigung solcher Verluste im selben oder in einem anderen Besteuerungszeitraum (Verlustrücktrag bzw. Verlustvortrag) bestehe. Bei Licht betrachtet dürfte das BMF hier irren; das eine hat mit dem anderen nichts zu tun: Weil pauschale, typisierte Missbrauchsvermeidungsregeln europarechtlichen Anforderungen der Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote nicht standhalten, kann auch die besagte Beschränkung zu Lasten des Fremdenverkehrs nicht aufrechterhalten werden. Sie bleibt wegen des grundsätzlichen Anwendungsvorrangs des EG-Rechts jedenfalls dann unangewandt, wenn es dem Steuerpflichtigen im Einzelfall gelingt, den Missbrauchsvorwurf zu widerlegen. Dass das frühere das Nachversteuerungsmodell des § 2a Abs. 3 EStG a. F. aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht nicht geboten ist, ist insoweit unbeachtlich. Denn es bleibt natürlich unbeschadet dessen zulässig. Hat der Gesetzgeber sich aber, wie seinerzeit in Deutschland, nun einmal „überobligatorisch“ für dieses Verlustabzugsmodell entschieden, dann muss er das auch folgerichtig und konsequent in „europarechtsfester“ Weise umsetzen.
__________ 174 175 176 177
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BStBl. II 2008, 671. BStBl. II 2007, 492. BMF v. 4.8.2008, BStBl. I 2008, 837. BStBl. II 2007, 492.
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Das ergibt sich aus dem gemeinschaftsrechtlichen Konsistenzgebot. Fazit: Der BFH erkennt in der Abzugsbeschränkung (u. a.) für Fremdverkehrsleistungen zu Recht einen Gemeinschaftsrechtsverstoß. 19. Gemeinnützigkeit: Rettungsdienste und Krankentransporte (BMF v. 20.1.2009, BStBl. I 2009, 339) Der I. Senat hat mit Beschluss v. 18.9.2007 (I R 30/06)178 entschieden, dass gewerbliche Rettungsdienste und Krankentransporte nicht von der Gewerbesteuer befreit sind. Er hat in diesem Beschluss ausgeführt, dass nach seiner Auffassung auch die Rettungsdienste und Krankentransporte gemeinnütziger Wohlfahrtsverbände und der juristischen Personen des öffentlichen Rechts körperschaft- und gewerbesteuersteuerpflichtige Betriebe seien. Nach dem Anwendungserlass zur AO zu § 66, Nr. 6, ist der Krankentransport von Personen, für die während der Fahrt eine fachliche Betreuung bzw. der Einsatz besonderer Einrichtungen eines Krankentransport- oder Rettungswagens erforderlich ist oder möglicherweise notwendig wird, durch steuerbegünstigte Körperschaften als Zweckbetrieb zu behandeln. Daran hält die Finanzverwaltung fest: Die steuerbegünstigten Körperschaften übten ihren Rettungsdienst und Krankentransport entgegen der Annahme des BFH regelmäßig nicht des Erwerbs wegen und zur Beschaffung zusätzlicher Mittel aus, sondern verfolgten damit ihren satzungsmäßigen steuerbegünstigten Zweck der Sorge für notleidende oder gefährdete Menschen179. Zwar hat niemand einen tragfähigen Zweifel daran, dass insbesondere besagte Wohlfahrtsverbände Gemeinnützigkeitsstatus haben. Doch ebensowenig dürfte zweifelhaft sein, dass die Rettungs- und Krankentransporte, durch die ja schließlich Einnahmen erzielt werden, als solche steuerpflichtige wirtschaftliche Geschäftsbetriebe darstellen. Fraglich ist allein, ob es sich hierbei um sog. Zweckbetriebe i. S. v. § 66 AO handelt, die letztlich mehr oder weniger zwangsläufig dem „guten Zweck“ dienen. Das wird vom BFH verneint: Eine solche Zwangsläufigkeit des Geschäftsbetriebs für die „gute Tat“ besteht nicht. Schließlich werden vergleichbare Transporte von etlichen privaten Anbietern durchgeführt, und weswegen der eine Anbieter steuerlich so und der andere so behandelt werden soll, lässt sich schon unter Wettbewerbsgesichtspunkten kaum sachgerecht begründen. Dass das außerhalb des dem gleichheitsgerechten Leistungsfähigkeitsprinzips besonders verpflichteten Steuerrecht anders beurteilt werden mag180, ist deshalb prinzipiell unbeachtlich und überdies auch keineswegs eine „Erfindung“ des BFH. Beäugt man die (steuer-)politische Szene, dabei etwa die Drucks. 12/1308 des Landtags von Baden-Württemberg v. 14.4.2007 und die dort wie-
__________ 178 BStBl. II 2009, 126. 179 BMF v. 20.1.2009, BStBl. I 2009, 339. 180 Z. B. BVerfG v. 8.6.2010 – 1 BvR 2011/07, 1 BvR 2959/07, NVwZ 2010, 1212 (zum öffentlichen Rettungsdienst in Sachsen als Verwaltungsmonopol); a. A. dazu (polemisch zuspitzend) von Holt, DB 2010, 1791.
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dergegebenen Stellungnahme des Finanzministeriums auf eine einschlägige Berichtsanfrage, dann erfährt man, dass Privatanbieter im Gegensatz zu „öffentlichen“ Transportdiensten deswegen ertragsteuerpflichtig sein sollen, weil sie ihre Erträge anders als jene Rettungsdienste an ihre Gesellschafter ausschütten, wohingegen die „von den steuerbegünstigten Rettungsdiensten erzielten Erträge […] wiederum unmittelbar für steuerbegünstigte Zwecke verwendet werden müssen.“ Ob sich die Ungleichbehandlung dadurch rechtfertigen lässt, ist eher zu bezweifeln. Fazit: Die Nichtanwendung ist lobbyistisch motiviert und wenig tragfähig begründet. 20. „Lidl Belgium“-Schlussurteil und Auslandsbetriebsstättenverluste (BMF v. 13.7.2009, BStBl. I 2009, 835) Mit seinem Schlussurteil in der Rechtssache Lidl Belgium v. 17.7.2008 (I R 84/04)181 hat der I. Senat entschieden, dass auch nach Streichung des § 2a Abs. 3 EStG a. F. Verluste aus einer ausländischen Betriebsstätte, deren Einkünfte nach einem DBA im Inland steuerfrei gestellt sind, prinzipiell nicht im Inland abzugsfähig sind. Abweichend davon soll jedoch ein phasengleicher Verlustabzug (im Verlustentstehungsjahr) in Betracht kommen können, sofern und soweit der Steuerpflichtige den Nachweis erbringt, dass diese Verluste im Betriebsstättenstaat in dem betreffenden Veranlagungszeitraum unter keinen Umständen verwertbar sind. Das BMF wendet die Urteilsgrundsätze nicht an182: Die dem BFH-Urteil zugrundeliegende EuGH-Entscheidung in der Rechtssache C-414/06 (Lidl Belgium)183 habe den Abzug von Betriebsstättenverlusten im Inland ausgeschlossen, sofern nach einem DBA diese Betriebsstätteneinkünfte im Inland steuerfrei gestellt seien, wenn die Verluste im Betriebsstättenstaat in künftigen Steuerzeiträumen berücksichtigt werden könnten. Der EuGH stelle damit allein auf die rechtliche Möglichkeit der Verlustberücksichtigung im Betriebsstättenstaat ab. Ob tatsächlich ein Verlustabzug erfolge bzw. der Steuerpflichtige diesen in Anspruch nehme, sei dabei unerheblich. Die Nichtanwendung erscheint gewagt. Sie richtet sich bei Licht betrachtet nur dem äußeren Anschein nach gegen das BFH-Urteil, in der Sache aber gegen die EuGH-Judikatur – ein insoweit recht eigentümliches Unterfangen. Das betrifft die Art und Weise ebenso wie den Inhalt. Die administrative Deutung der EuGH-Judikatur wird andernorts nirgendwo geteilt. Sie liefe darauf hinaus, dass die EuGH-Rechtsprechung schlechterdings leerliefe und die „Verlustfinalität“ ein faktisches Phantom wäre. Zutreffend dürfte es allein sein, dass der EuGH den Ansässigkeitsstaat nicht in die Verantwortung des Abzugs von Auslandsverlusten nimmt, wenn deren „Finalität“ aus Verlustabzugsschranken im anderen Staat resultiert („Import-Stop“). Anders sieht es aber aus,
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181 BStBl. II 2008, 630. 182 BMF v. 13.7.2009, BStBl. I 2009, 835. 183 BStBl. II 2009, 692.
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wenn der „Finalität“ tatsächliche Gegebenheiten (Liquidation, Umwandlung, Verkauf) zugrunde liegen. In diesem Sinne hat der BFH denn auch mittlerweile erkannt und zugleich dem BMF-Schreiben (jedenfalls partiell) widersprochen184. Einklang mit der Verwaltung besteht nur insoweit, als der I. Senat übereinstimmend mit dem BFH einen „phasengleichen“ Verlustabzug nur dann akzeptiert, wenn Verlustentstehung und „Verlustfinalität“ in jenem betreffenden Veranlagungszeitraum tatsächlich zeitlich zusammenfallen. Fallen sie auseinander, entscheidet allein das Jahr der „Verlustfinalität“ darüber, wann ein ausnahmsweiser Verlustabzug in Betracht kommt. So oder so ist die Deutung des BFH zur Rechtsprechung des EuGH, das sollte nicht verkannt werden, höchst gestaltungsanfällig: Abzugsrelevante tatsächliche Gegebenheiten lassen sich „herstellen“ und § 42 AO wird nicht in allen Fällen helfen können. Der vom BFH als Ausnahme angedachte Abzug von Auslandsverlusten könnte dann schnell zur Regel werden. Es ist Sache des Gesetzgebers, hier alsbald tätig zu werden und materielle wie formelle (siehe § 10d Abs. 4 EStG) Rahmenbedingungen gesetzlich zu konturieren. Die Rechtsprechung kann hierfür kein „fertiges“ Konzept leisten. 21. Abgrenzung hoheitlicher von wirtschaftlicher Tätigkeit einer juristischen Person des öffentlichen Rechts (BMF v. 11.12.2009, BStBl. I 2009, 1597) Der I. Senat hat im Urteil v. 29.10.2008 (I R 51/07)185 zum Betrieb eines kommunalen Krematoriums zu der Frage Stellung genommen, unter welchen Voraussetzungen eine Betätigung der juristischen Person des öffentlichen Rechts (jPöR) als hoheitliche – und damit nach § 4 Abs. 5 Satz 1 KStG steuerbefreite – Tätigkeit angesehen werden kann. Er entwickelt in diesem Urteil seine These von der normspezifischen „Eigentümlichkeit“ der hoheitlichen Tätigkeit fort und spezifiziert dieses Kriterium aus ertragsteuerrechtlicher Sicht für den Fall, dass eine entsprechende Tätigkeit nach dem Recht eines Bundeslandes dem öffentlichen Recht zugewiesen wird, das Recht eines anderen Bundeslandes hingegen einen derartigen Vorbehalt zugunsten der öffentlichen Hand nicht kennt. Dann ergibt sich eine potentielle Wettbewerbssituation, die es rechtfertigt, eine Steuerpflicht anzunehmen. Die Finanzverwaltung wendet dieses Urteil nur mit Einschränkungen an186. Sie schränkt das Merkmal des „Hoheitsvorbehalts“ einer Tätigkeit zugunsten der öffentlich-rechtlichen Körperschaft ein und zeichnet das normspezifische, vom BFH entwickelte Verständnis des Hoheitlichen nicht nach. Letztlich geht es ihm nicht um den Aspekt des potentiellen Wettbewerbs, der nach den Maßstäben des Leistungsfähigkeitsprinzips steuerliches Denken führen sollte, sondern um einen „Schutzkokon“ um das landesspezifische Hoheitsdenken und deren BgA. Hilfreich und systemtragend ist das kaum. Dass der BFH sich diese
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184 Urteile v. 9.6.2010 – I R 107/09, DStR 2010, 1611, sowie I R 100/09, BStBl. II 2010, 1065 (im Gegensatz zum Urteil I R 107/09 im BStBl. veröffentlicht!); auch bereits BFH v. 3.2.2009 – I R 23/09, BStBl. II 2010, 599 (zu § 2a Abs. 3 und 3 EStG a. F.). 185 BStBl. II 2009, 1022. 186 BMF v. 11.12.2009, BStBl. I 2009, 1597.
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Auffassung zu eigen machen wird, ist denn auch weder zu hoffen noch zu glauben. 22. Steuerbarkeit von Transferzahlungen an ausländische Fußballvereine (BMF v. 7.1.2010, BStBl. I 2010, 44) Durch Urteil v. 27.5.2009 (I R 86/07)187 entschied der I. Senat, dass Einnahmen eines ausländischen Sportvereins aus einer Transfervereinbarung mit einem inländischen Verein in der Form der sog. Spielerleihe keine – die beschränkte Steuerpflicht auslösenden – Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung durch die zeitlich begrenzte Überlassung eines Rechts i. S. d. § 50a Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 i. V. m. § 49 Abs. 1 Nr. 6 EStG seien. Die Finanzverwaltung wandte dieses Urteil mit Blick auf eine „mögliche gesetzliche Neuregelung – die eventuell auch die Vergangenheit mit einbezieht – bis auf weiteres […] nicht allgemein“ an188. Diese Nichtanwendung wurde zwar bereits alsbald – mit Schreiben v. 15.7.2010189 – widerrufen, und das nicht nur für die Spielerleihe, sondern auch für den endgültigen Spielertransfer. Für die Zukunft sieht es allerdings für die einschlägigen Vereine dennoch düster aus: Der Gesetzgeber hat an die Stelle der formalen Sichtweise des BFH die wirtschaftliche Wertung der Spielerleihe und des Spielertransfers als Rechteüberlassung bzw. Rechteveräußerung gesetzt und das Gesetz entsprechend gesetzlich abgeändert: §§ 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. g, 50a Abs. 1 Nr. 3 EStG i. d. F. des JStG 2010. 23. Verständigungs- und Konsultationsvereinbarungen über die Auslegung von DBA (BMF v. 20.5.1997, BStBl. I 1997, 560; v. 13.4.2010, BStBl. I 2010, 353) Durch Urteile v. 10.7.1996 (I R 83/95)190 und – darauf aufbauend – v. 2.9.2009 (I R 90/08191 sowie I R 111/08192) und schließlich v. 11.11.2009 (I R 84/08)193 entschied der I. Senat, dass Konsultationsvereinbarungen, die mit der zuständigen Behörde eines anderen Staates auf der Grundlage der Art. 25 Abs. 3 OECD-MA zur Beilegung von Schwierigkeiten oder Zweifeln bei der Auslegung oder Anwendung des DBA völkerrechtlich verbindlich vereinbart wurden, für sich genommen innerstaatlich Bindungswirkung nur für die beteiligten Verwaltungen zukommt. Damit solchen Vereinbarungen in Deutschland allgemeine Bindungswirkung, auch für die Rechtsprechung, zukommt, müssen sie nach Ansicht des BFH zunächst nach den Grundsätzen des deutschen Ver-
__________ 187 188 189 190 191 192 193
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BStBl. II 2010, 120. BMF v. 7.1.2010, BStBl. I 2010, 44. BStBl. I 2010, 617. BStBl. II 1997, 341. BStBl. II 2010, 394. BStBl. II 2010, 387. BStBl. II 2010, 390.
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fassungsrechts in einfaches Gesetzesrecht transformiert werden. Die Urteile betrafen dabei in der Sache in erster Linie Abfindungsleistungen an Arbeitnehmer bei Beendigung des Dienstverhältnisses194. Abweichend von der Verwaltungspraxis und abweichend auch von entsprechenden Verständigungsvereinbarungen mit der Schweiz sowie mit Belgien vertrat der BFH die Auffassung, solche Leistungen würden nicht „für“ die unselbständige Arbeit erbracht und folglich scheide ein deutsches Besteuerungsrecht aus, wenn der Abfindungsempfänger (zwischenzeitlich) im anderen Vertragsstaat wohne. Bereits mit Schreiben v. 20.5.1997195 verfügte das BMF dagegen die Nichtanwendung für jene Verständigungsvereinbarung, welche mit der Schweiz getroffen worden war. Auch die abermalige Bekräftigung der BFH-Spruchpraxis im Jahre 2009 bewog die Verwaltung zu keinem durchgreifenden Meinungswandel: Sie wendet diese Urteile nicht an196. Sie tut das nunmehr allerdings mit Blick auf die durch das JStG 2010 geschaffene entsprechende Ermächtigungsgrundlage nach Art. 80 Abs. 1 GG. Diese Grundlage soll für gegenwärtige und vergangene197 Verständigungsvereinbarungen die notwendige Rechtsgrundlage entsprechend Art. 20 Abs. 3 GG herstellen. Ob das gelungen ist, ist eher zweifelhaft. § 2 Abs. 2 AO in der Neufassung sieht „zur Sicherung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und doppelter Nichtbesteuerung“ eine eher pauschale Überleitung durch entsprechende Rechtsverordnungen vor. Es droht deshalb die Gefahr, dass dieser parlamentarische Transformationsakt abermals nicht genügt, um die bislang vermisste Rechtsgrundlage herzustellen, und deswegen von vornherein im unzulänglichen Versuchsstadium „hängenbleibt“. 24. Personengesellschaften im Internationalen Steuerrecht (BMF v. 16.4.2010, BStBl. I 2010, 354) Ein altes und leidiges und überaus kontroverses wie schwieriges Thema des Internationalen Steuerrechts ist jenes der abkommensrechtlichen Behandlung von Sondervergütungen i. S. d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. Es gilt im Grundsatz zu unterscheiden, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht: zum einen zwischen nationalem Recht und Abkommensrecht und zum anderen zwischen einfließenden („Inbound“) und abfließenden („Outbound“) Sondervergütungen. a) Nationale Rechtslage Nach der deutschen nationalen Rechtslage gilt das Sonderrecht des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, das Sondervergütungen ungeachtet ihrer schuldrechtlichen Grundlegung in den gewerblichen Bereich hineinzieht. Es findet eine recht-
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194 Nur in der Anschlussentscheidung I R 84/08 ging es um die sog. Grenzgängerbesteuerung (Art. 15a DBA-Schweiz). 195 BMF v. 20.5.1997, BStBl. I 1997, 560. 196 BMF v. 13.4.2010, BStBl. I 2010, 353. 197 Siehe Art. 1 Abs. 9 EGAO i. d. F. des JStG 2010.
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liche, keine tatsächliche Zuordnung statt. Das gilt sowohl für den inländischen Gesellschafter einer ausländischen Personengesellschaft als auch in dem umgekehrten Fall des ausländischen Gesellschafters einer inländischen Personengesellschaft (vgl. dort i. V. m. § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG). b) DBA-Lage Auf Abkommensebene wird die Situation komplizierter und sie ist – vor allem – deutlich umstrittener. Art. 7 OECD-MA, der die Unternehmensgewinne betrifft und an den sich die meisten der auch deutscherseits geschlossenen DBA anlehnen, enthält keine explizite Sonderregelung zur abkommensrechtlichen Behandlung von Sondervergütungen. aa) Die Position des BFH Vor diesem Hintergrund erfasst der BFH die Vergütungen – losgelöst von dem Gewinnanteil der Personengesellschaft – unter den jeweils einschlägigen DBAEinkunftsarten, denen die Vergütungen ihrer Natur nach zugehören, sozusagen nach Maßgabe einer spezifischen abkommensrechtlichen isolierenden Betrachtungsweise. Es gilt danach autonomes Abkommensrecht. Sondervergütungen bleiben folglich schuldrechtlich veranlasste Zahlungen der Gesellschaft an die Gesellschafter und sind als solche unter die jeweiligen einschlägigen Abkommensbestimmungen (Art. 6 bis 21 OECD-MA) zu subsumieren, z. B. gemäß Art. 11 OECD-MA (Dividenden) oder Art. 10 (Zinsen). Das bedeutet, dass aufgrund der Abkommenslage entweder unmittelbar auf die besonderen abkommensrechtlichen Einkunftsarten zurückzugreifen ist. Oder aber es handelt sich auch bei den Sondervergütungen an sich um Unternehmensgewinne i. S. d. Art. 7 Abs. 1 OECD-MA und sie werden lediglich aufgrund der Spezialitätenregelung in Art. 7 Abs. 7 OECD-MA als einer der vorrangigen anderweitigen Einkunftsarten erfasst. So oder so bleibt das Ergebnis allerdings weitgehend gleich: Es finden die Rechtsfolgen der Art. 10 ff. OECD-MA Anwendung, nicht jene des Art. 7 OECD-MA. Allerdings: Greifen die Ausnahmen des Betriebsstättenvorbehalts in Art. 10 Abs. 4, Art. 11 Abs. 4, Art. 12 Abs. 3 und Art. 21 Abs. 2 OECD-MA, wird abermals auf Art. 7 OECD-MA zurückverwiesen, was erfordert, dass die die betreffenden Einkünfte generierenden Rechte und Vermögenswerte „tatsächlich“, also funktional oder nach ihrem tatsächlichen Funktionszusammenhang (vgl. auch § 8 Abs. 2 AStG) zu der aktiven Tätigkeit der Betriebsstätte gehören. Etwa für Darlehenszinsen gilt dies jedoch sicher nicht; Fremdkapital dient anders als Dotations-(= Eigen-)Kapital in der Regel nicht dem Betrieb, und zwar auch dann nicht, wenn es von einem Mitunternehmer hingegeben wird und es sich um dessen Sonderbetriebsvermögen handelt. Der Betriebsstätte kommt insoweit keine automatische Attraktivkraft zu. Das alles hatte der BFH immerfort für den sog. Outbound-Fall judiziert: einerseits durch den I., andererseits durch den II. Senat (z. B. im Urteil v. 9.8.2006 422
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[II R 59/05]198 und im Beschluss v. 20.12.2006 [I B 47/05]199), und das bestätigt er sodann konsequent auch für die Inbound-Konstellation. bb) Die Position der Finanzverwaltung Die deutsche Finanzverwaltung200 konterkariert (bislang) den Rechtsprechungsansatz und will diesem im Inbound-Fall gar nicht und für den Outbound-Fall nur „im Ergebnis“ folgen. Sie bleibt dem früheren Ansatz der Rechtsprechung treu und ordnet die Sondervergütungen im Grundsatz nach wie vor den Unternehmensgewinnen (Art. 7 OECD-MA) zu. Das bedeutet: – Für den Inbound-Fall soll das uneingeschränkte Betriebsstättenprinzip und damit das inländische Quellensteuerrecht gelten. – Zahlt die ausländische Personengesellschaft im Outbound-Fall Vergütungen an den im Inland ansässigen Gesellschafter (Mitunternehmer), so soll das Ergebnis davon abhängen, ob der Quellenstaat die Sondervergütungen (ausnahmsweise, wie z. B. in Österreich) als Betriebsstättengewinne erfasst. Ist das der Fall, dann soll es dabei bleiben; das Besteuerungsrecht wird also – jedenfalls im Ergebnis – wie nach der BFH-Sichtweise dem Quellenstaat zugeordnet. Besteuert der Quellenstaat die Vergütung aber nicht als Betriebsstättengewinn, dann subsumiert Deutschland als Ansässigkeitsstaat die Vergütungen unter die jeweilige Abkommenseinkunftsart, was ihm regelmäßig das Besteuerungsrecht sichert. Letztlich sieht sich der Ansässigkeitsstaat danach also an die rechtliche Qualifizierung im Tätigkeitsstaat gebunden; eine an sich gebotene autonome Abkommensauslegung unterbleibt. Die Sichtweise der Finanzverwaltung ist mehr als zweifelhaft. Sie verkennt die abkommensrechtliche Eigenständigkeit und ignoriert im Ergebnis die sich daraus ergebende, im Grunde vorbehaltlose Eigenständigkeit der schuldrechtlichen Beziehungen zwischen Gesellschafter und Gesellschafter, an denen § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nichts ändert. c) Gegenaktivitäten der Finanzverwaltung Die Finanzverwaltung ließ und lässt sich nicht beirren. Sie hat zunächst den Gesetzgeber in Position gebracht und dieser hat mit § 50d Abs. 10 EStG n. F. ein rechtsprechungsbrechendes und rückwirkendes (!; vgl. § 52 Abs. 59a Satz 8 EStG n. F.) Gesetz in die Welt gesetzt (bei dem es sich allerdings nicht um ein sog. Treaty override, sondern nur um „richtige“ Abkommensauslegung handeln soll; das Treaty override soll – verkehrte Welt – hingegen [wohl] die Spruchpraxis des I. Senats sein)201. Sie hat darauf aufbauend zudem am 16.4.2010 ein
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198 BStBl. II 2009, 758. 199 BStBl. II 2009, 766. 200 Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze, vgl. BMF v. 24.12.1999, BStBl. I 1999, 1076 Tz. 1.2.3. 201 BT-Drucks. 16/11108, 29; dazu Gosch in Kirchhof (Fn. 145), § 50d EStG Rz. 44.
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BMF-Schreiben zur „Anwendung der DBA auf Personengesellschaften“ veröffentlicht202, das die Rechtsprechungslinien und -aussagen schlicht ignoriert. Beides erscheint mehr als zweifelhaft: Für das Nichtanwendungsgesetz in § 50d Abs. 10 EStG n. F. lässt sich durchaus befürchten, dass es tatbestandlich zu kurz greift. Denn es fingiert zwar Sondervergütungen für die DBA-Anwendung als Unternehmensgewinne. Es vernachlässigt aber, dass Art. 7 Abs. 1 OECD-MA das Quellensteuerrecht des Betriebsstättenstaats von der Zurechnung der zugrundeliegenden Schuldverhältnisse abhängig macht. Davon ist in der Gesetzesfiktion aber keine Rede; die Fiktion dürfte deswegen zu kurz greifen203. Und dass der I. Senat nicht unbedingt gewillt ist, sich die im neuesten Erlass v. 16.4.2010 bekräftigte, „abkommensübersteigende“ Sichtweise der Finanzverwaltung zu eigen zu machen, hat sich erst kürzlich wieder in einer ähnlich gelagerten Konstellation gezeigt, im Urteil v. 28.4.2010 (I R 81/09) zu der abkommensrechtlichen Einkunftsqualifikation im Zusammenhang mit gewerblich geprägten Personengesellschaften204. Die Verwaltung wird sich in Anbetracht dessen schon entscheiden müssen, wie sie weiter verfahren und welchen Weg sie einschlagen will. Will sie sich der Rechtsprechung weiterhin widersetzen, dann muss sie wohl – mit allen Vor- und Nachteilen – den Gesetzgeber veranlassen, abermals nachzubessern. Ob ein darin liegendes sog. Treaty Overriding verfassungs- und völkerrechtlichen Anforderungen gerecht wird, erscheint indes ungewiss. Die Finanzverwaltung wird jedenfalls nicht umhinkommen, ihre Verwaltungserlasse anzupassen. Denn ein fortbestehender Nichtanwendungserlass gegen eine nunmehr ständige Rechtsprechung (sogar mehrerer BFH-Senate) wäre letztlich eine Rechtsverweigerung, die den Erfordernissen des Art. 20 Abs. 3 GG kaum mehr genügte.
IV. Zugunsten-Nichtanwendungen, welche man allenfalls als Billigkeitserweise ansehen kann Tröstlich mag nach allem und zu guter Letzt sein: Es gab und gibt vereinzelt auch Nichtanwendungen, die im Ergebnis zugunsten der Steuerpflichtigen wirken. Beispiele dafür wurden im Kontext schon aufgezeigt, so zur früheren sog. Mantelkaufregelung des § 8 Abs. 4 KStG a. F. (siehe oben sub. III. 14.) sowie zur 100 %igen Kapitalbeteiligung als umwandlungssteuerrechtlicher Teilbetrieb (sub II.12.). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch der besondere Zerlegungsmaßstab in § 29 Abs. 1 Nr. 2 GewStG für Anlagen zur Erzeugung von Windenergie. Einschlägig betroffene Kommunen verdanken diesen Maßstab und die damit einhergehende Teilhabe am Gewerbesteuermessbetrag des Windkraftanlagenbetreibers lobbyistischer Kärrnerarbeit und der spontanen „rechtsprechungsbrechenden“ Reaktion des Gesetzgebers (des
__________ 202 BStBl. I 2010, 354. 203 BFH v. 8.9.2010 – I R 74/09, DStR 2010, 2450. 204 DStR 2010, 1220.
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JStG 2009) auf das insoweit abweisende Urteil des I. Senats v. 4.4.2007 (I R 23/06)205. Ein aktuelles Beispiel ergibt sich überdies aus der jüngsten, nach „Entschärfung“ durch ein BMF-Schreiben206 im Ergebnis allerdings dennoch verworfenen Beschlussempfehlung des Bundesrats zum JStG 2010207 im Hinblick auf die formalen Anforderungen, welche § 17 Satz 2 Nr. 2 KStG betreffend die ausdrückliche Verlustübernahme nach § 302 AktG für die Organschaft zu einer GmbH stellt (und für deren Einhaltung die Finanzverwaltung noch erst soeben und erfolgreich vor dem BFH gefochten hatte)208. Zwei weitere Beispiele sind nachfolgend nachzutragen. Angesichts der vom BFH konstatierten Rechtsauslegung ist solchem Vorgehen aber samt und sonders allenfalls Billigkeitscharakter beizumessen; im Falle eines Finanzgerichtsstreits droht dem klagenden Steuerpflichtigen bei einschlägigen Sachverhalten deshalb immer die Gefahr eines Unterliegens, weil die Gerichte an verwaltungsseitige Billigkeitserweise nicht gebunden sind. 1. Besteuerung der wirtschaftlichen Tätigkeiten der öffentlichen Hand (BMF v. 7.12.2007, BStBl. I 2007, 905) Der I. Senat hat im Urteil v. 22.8.2007 (I R 32/06)209 u. a. entschieden, dass die Übernahme einer dauerdefizitären Tätigkeit durch eine Eigengesellschaft einer juristischen Person öffentlichen Rechts ohne schuldrechtlichen Verlustausgleich zumindest in Höhe der laufenden Betriebsverluste zu einer verdeckten Gewinnausschüttung an die jPöR führt. Das will die von den Kommunen bedrängte Finanzverwaltung trotz ihres „Obsiegens“ vor dem BFH nicht akzeptieren: „Bis zum Veranlagungszeitraum 2003 war nach Abschn. 5 Abs. 11a KStR 1995 die Zusammenfassung von Gewinn- und Verlusttätigkeiten in Eigengesellschaften unter dem Gesichtspunkt des § 42 AO zu beurteilen. Ab dem Veranlagungszeitraum 2004 ist nach R 7 Abs. 2 KStR 2004 bei der Einkommensermittlung der Eigengesellschaft das Vorliegen einer vGA nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen, wenn Tätigkeiten zusammengefasst werden, die in einem Betrieb gewerblicher Art nicht hätten zusammengefasst werden können. Diese Grundsätze gelten entsprechend bei der Zusammenfassung von Tätigkeiten durch sonstige Gestaltungen, z. B. in Form von Organschaften. Die Grundsätze des BFH-Urteils […] sind für die Beurteilung der Zusammenfassung von Tätigkeiten in einer Eigengesellschaft oder in vergleichbaren Gestaltungen, die in einem Betrieb gewerblicher Art hätten zusammengefasst werden können, nicht allgemein anzuwenden. Das gilt insbesondere auch in Fällen, in denen eine Eigengesellschaft eine Verlusttätigkeit der Trägerkörperschaft übernimmt, ohne sonst eine weitere Tätigkeit auszuüben, und bei der Besteuerung von Betrieben gewerblicher Art“210.
__________ 205 206 207 208
BStBl. II 2007, 836. BMF v. 19.10.2010, BStBl. I 2010, 836. BR-Drucks. 318/1/10, S. 63 ff. BFH v. 3.3.2010 – I R 68/09, BFH/NV 2010, 1132; BFH v. 28.7.2010 – I B 27/10, BStBl. II 2010, 932, berichtigt durch BFH v. 15.9.2010, BStBl. II 2010, 935. 209 BStBl. II 2007, 961. 210 BMF v. 7.12.2007, BStBl. I 2007, 905.
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Wie die Sache dann „weiterging“, das weiß der kundige Beobachter: Der Gesetzgeber wurde „bewogen“, eine Ausnahmevorschrift zu schaffen, was in überaus komplexer und komplizierter Weise dann auch geschah, nämlich in § 8 Abs. 7 bis 9 KStG n. F. Seitdem gilt für kommunale Eigenbetriebe ein Sonderrecht. Dessen Legitimation in der Sache erschließt sich dem „gemeinen“ Steuerpflichtigen nicht. Systemgrundsätze der körperschaftsteuerlichen Einkommensermittlung und der vGA werden ohne Not relativiert und über Bord geworfen. Auch gemeinschaftsrechtliche Probleme in Gestalt unzulässiger Beihilfe stehen im Raum211. Und besonders überrascht es, wenn der Gesetzgeber ausweislich der amtlichen Gesetzesbegründung meint, es erscheine gerechtfertigt, der einschlägigen Rechtsprechung zuwiderlaufend an den „bisherigen Verwaltungsgrundsätzen bei der steuerlichen Behandlung dauerdefizitär Tätigkeiten der öffentlichen Hand mittels Betrieben gewerblicher Art oder Eigengesellschaften festzuhalten.“ Immerhin erwies sich die Klageerhebung in dem Revisionsverfahren I R 32/06 als erforderlich, weil die (nordrhein-westfälische) Steuerverwaltung für ihre jener Praxis offenbar entgegengesetzte Rechtsposition (im Ergebnis jedenfalls vor dem BFH erfolgreich) kämpfte. 2. Ausgleichszahlungen an außenstehende Anteilseigner (BMF v. 20.4.2010, BStBl. I 2010, 372) In dem Urteil vom 4.3.2009 (I R 1/08)212 vertritt der I. Senat die Auffassung, dass eine Vereinbarung von Ausgleichszahlungen des beherrschenden Unternehmens an einen außen stehenden Aktionär der beherrschten Gesellschaft der steuerrechtlichen Anerkennung eines Gewinnabführungsvertrages entgegensteht, wenn neben einem bestimmten Festbetrag ein zusätzlicher Ausgleich in jener Höhe vereinbart wird, um die der hypothetische Gewinnanspruch des Außenstehenden ohne die Gewinnabführung den Festbetrag übersteigen würde. Abweichend davon hatte die Finanzverwaltung bisher auch Vereinbarungen zugelassen, in denen sich ein an einen Minderheitsgesellschafter gezahlter Zuschlag auf einen festen Mindestbetrag an dem Gewinn der Organgesellschaft orientiert, sofern der feste Mindestbetrag den Mindestausgleich des § 304 Abs. 2 Satz 1 AktG nicht unterschreitet213. Das BMF bleibt sich und seiner Auffassung treu214: Das Urteil des BFH sei nicht anzuwenden. Es stehe nicht im Einklang mit § 14 Abs. 1 Satz 1 KStG und den Grundsätzen des § 304 AktG: § 304 AktG bezwecke den Schutz des außenstehenden Gesellschafters, indem dieser weitestgehend so gestellt werden solle, als würde der Gewinnabführungs-
__________ 211 Solche Bedenken wurden allerdings soeben vom FG Köln v. 9.3.2010 – 13 K 3181/05 (EFG 2010, 1345) verworfen, im Ergebnis deshalb, weil es sich um eine beihilferechtliche Altregelung handele. Leider wurde das Urteil trotz Revisionszulassung durch das FG rechtskräftig; das unterlegene FA wollte wohl nicht wegen der Beihilfefrage zulasten der Kommunen obsiegen. 212 BStBl. II 2010, 407. 213 BMF v. 13.9.1991 – IV B 7 – S 2770 – 11/91. 214 BMF v. 20.4.2010, BStBl. I 2010, 372.
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vertrag nicht bestehen. Nach § 304 Abs. 2 Satz 1 AktG sei dem außenstehenden Aktionär als fester Ausgleich mindestens der Betrag zuzusichern, den er nach der bisherigen Ertragslage und den künftigen Ertragsaussichten der Gesellschaft voraussichtlich als durchschnittlichen Gewinnanteil erhalten hätte. Darüber hinausgehende (feste oder variable) Ausgleichzahlungen seien nicht ausgeschlossen, da § 304 Abs. 2 Satz 1 AktG im festen Zahlungsbetrag nur das Minimum des aktienrechtlich vorgeschriebenen Ausgleichs vorsehe. Man mag zweifeln, ob diese Sichtweise der Finanzverwaltung denn nun „im Einklang mit § 14 Abs. 1 Satz 1 KStG und den Grundsätzen des § 304 AktG“ steht. Die Zweifel gründen in den Besonderheiten der steuerlichen Organschaft und des steuerlichen Subjektprinzips. Immerhin schafft die Nichtanwendung für die Steuerpflichtigen eine gewisse Kontinuität, nachdem das Urteil zu Unruhe geführt hatte. Angesichts dessen, dass Gerichte ihren Entscheidungen aber das Gesetz und keine Verwaltungsmeinungen zugrunde zu legen haben, bleibt ein Restrisiko. Gut beraten ist deshalb, wer seine Gewinnabführungspraxis dennoch umstellt.
V. Ein kurzes Resümee und ein paar abschließende Worte Es hat sich (ohne Anspruch des Chronisten auf irgendeine Vollständigkeit215) gezeigt, dass das, was vor rund 35, 36 Jahren im Jahre 1975216 als höchst behutsamer Nichtanwendungsversuch begann, sich namentlich im Laufe des letzten Jahrzehnts bis heute zu einer wahren Nichtanwendungsflut entwickelt hat. Die Einzelbetrachtung einer Vielzahl von Entscheidungen des I. Senats des BFH einerseits und der darauf erfolgten Reaktionen von Finanzverwaltung und – dem oftmals von der zweiten Gewalt (fremd-)gesteuerten – Gesetzgeber, des Souveräns (!), andererseits macht dabei deutlich: Die oft gescholtene Nichtanwendung ist heterogen; ein einheitliches Verhaltens- und Reaktionsmuster der Verwaltung und des Gesetzgeber ist schwerlich auszumachen: Es gibt – sehr vereinzelt – solche, welche zugunsten der Steuerpflichtigen und vor dem Hintergrund der Rechtserkenntnisse des BFH oftmals als Billigkeitserweise wirken. Es gibt – deutlich in größerem Umfang – solche, welche zu Lasten der Steuerpflichtigen gehen. Auch diese lassen sich aber nicht alle mit einem pauschalen Negativverdikt über einen Kamm scheren. Teilweise kann man für die Reaktion des Gesetzgebers und der Verwaltung durchaus ein gewisses Verständnis aufbringen; niemand ist fehlerfrei und zuweilen ist der zweite Blick, zu dem die Nichtanwendung nötigt (oder jedenfalls
__________ 215 Zu erwähnen bliebe z. B. noch § 9 Nr. 2a Satz 3 GewStG als (systematisch verständliche Nichtanwendungs-)Reaktion des Gesetzgebers auf BFH v. 25.1.2006 – 1 R 104/04, BStBl. II 2006, 844, sowie OFD Rheinland v. 22.10.2010 (DStR 2011, 175) als (nicht nachvollziehbare administrative Nichtanwendungs-)Reaktion auf BFH v. 21.10.2009 – I R 114/08 (BStBl. II 2010, 774) – Schlussurteil Columbus Container Service – zu § 20 Abs. 2 AStG n. F. 216 Siehe Fn. 128.
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motivieren kann), der Rechtserkenntnis hilfreich217. Überwiegend gelingt ein solches Verständnis jedoch nicht. Denn häufig sind rein fiskalische, teilweise – und das insbesondere in Bezug auf die Besteuerung der öffentlichen Hände, namentlich der augenscheinlich bestens organisierten Kommunen – auch lobbyistische Motive im Spiel. Und die immerfort anzutreffenden Versuche, den BFH durch eine gewisse Mischung aus Ignoranz und Impertinenz zu einer Rechtsprechungskorrektur zu veranlassen, gewissermaßen also den Krug solange zum Brunnen zu tragen, bis er bricht, oder auch – nach Art eines „forum shopping“ – Divergenzen zwischen einzelnen Senaten zu provozieren, können kaum überzeugen; den Stab über eine solches Vorgehen mag man hier nur dann nicht brechen, wenn Gegensätzlichkeiten unter den Senaten bereits ohnehin offen zutage treten218. Auch rechtsprechungsbrechende Gesetzeskorrekturen und -reparaturen219 sind oft nicht nur rechtspolitisch unschön. Sie sind auch regelmäßig konstitutiv und stellen keineswegs nur dasjenige (rückwirkend oder pro futuro) „klar“, was vordem schon Gesetzeslage war; es handelt sich vielmehr regelmäßig um „echte“ Rückwirkungen220. So oder so sollten die drei „Gewalten“ nicht gegeneinander wirken, sie sollten zum Wohle des Steuerpflichtigen das Maximale an Miteinander erreichen. Dafür ist die administrative ebenso wie die legislative Nichtanwendungspraxis in höchstem Maße kontraproduktiv. Ich hoffe, Wolfgang Spindler hat der Streifzug durch die „Nichtanwendungswelt“ Freude gemacht. Er wird die „Szene“ nach wie vor beobachten und begleiten. Er weiß, was verlässliches, vertrauensvolles Zusammenwirken bedeutet. Ich selbst, der praktisch meine gesamte bisherige Zeit am BFH gemeinsam mit ihm verbringen durfte, habe gerade in der Zusammenarbeit mit ihm immerfort erlebt, was Verlässlichkeit und Vertrauen bedeuten und bewirken können. Dafür sei ihm gedankt.
__________ 217 Siehe auch die Empfehlung, welche Seer (IWB 14/2010 im Editorial) dem Gesetzgeber auf den Weg gibt, nämlich die Verabschiedung eines „Fehlentscheidungsbeseitigungsgesetzes (FEB)“; über dessen Realisierung ist bislang allerdings nichts bekannt. 218 Siehe dazu z. B. die Zusammenstellung von MS [Strahl], KÖSDI 2010, 17095. 219 Zumal dann, wenn sie, wie zumeist, allein auf die Finanzverwaltung zurückzuführen sind und auch von daher eine „Verwischung der Gewalten“ sowie eine grundgesetzlich sicher nicht gewollte Dominanz der zweiten Gewalt indizieren. 220 Und es ist deswegen hilfreich, wenn das BVerfG auch prinzipiell akzeptierten „unechten“ Regelungsrückwirkungen den Riegel eines gewissen Vertrauensschutzes vorgeschoben hat, BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, DStR 2010, 1727.
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Causa finita? Steuerrecht im Spannungsfeld der Gerichtsbarkeiten
Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Vorfragenkompetenz der Strafgerichte III. Divergenzen in steuerrechtlichen Rechtsfragen – tatsächlich und gefühlt 1. Die Reichweite von § 396 AO
2. Abweichungen in Rechtsfragen – Kasuistik a) Zwei Beispielsfälle b) Parteispendenverfahren c) Fälle mit unionsrechtlichem Bezug IV. Ergebnisse und Folgerungen
I. Einleitung Es ist keine neue Erkenntnis, dass der Bundesfinanzhof nicht (mehr) als einzige Instanz letztverantwortlich über die Auslegung und Anwendung des Steuerrechts befindet. Dem Steuerrechtler ist seit langem die verfassungs- und europarechtliche Dimension seines Rechtsgebiets vertraut und präsent; der Jubilar selbst hat deshalb den Steuerrechtsschutz ebenso elegant wie konsequent im Dreiecksverhältnis von Bundesfinanzhof, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, jetzt der Europäischen Union, verortet1. Aus der Warte der ordentlichen Justiz sei jedoch der Hinweis erlaubt, dass die Geometrie des Dreiecks die Situation nicht abschließend beschreibt, haben doch auch die Strafgerichte, allen voran der Bundesgerichtshof, eine eigene Stimme bei der Anwendung und Auslegung des Steuerrechts, auch wenn dies nicht immer und schon gar nicht gerne gesehen wird. Denn in ihre Zuständigkeit fällt das Steuerstrafrecht; Steuerstrafrecht aber ist Blankettstrafrecht, jedenfalls nach Auffassung der Rechtsprechung2. Zwar sieht eine immer stärker werdende Literaturmeinung in der Beschreibung der Tathandlung des § 370 AO, der Täuschung über steuerlich erhebliche Tatsachen oder deren Verschweigen, und des Taterfolges, der Steuerverkürzung, normative Tatbestandsmerkmale3; für das hier interessierende Verhältnis der gerichtlichen Akteure untereinander ist diese Streitfrage aber ohne Belang. Denn nach der
__________ 1 Fachkongress der Steuerberaterkammer Stuttgart, 2006, S. 9. 2 Vgl. nur BVerfG v. 15.10.1990 – 2 BvR 385/87, NJW 1992, 35; v. 25.7.1962 – 2 BvL 4/62, BVerfGE 14, 245; BGH v. 19.4.2007 – 5 StR 549/06, wistra 2007, 346; offen gelassen in BVerfG v. 29.4.2010 – 2 BvR 871/04, 2 BvR 414/08, wistra 2010, 396. 3 Vgl. etwa T. Walter in FS Tiedemann, 2008, S. 969.
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einen wie der anderen Auffassung ist unstreitig, dass die Tatbestandsmäßigkeit der Straftat an das Vorliegen eines Besteuerungstatbestandes anknüpft, die steuerrechtliche Beurteilung des Sachverhalts also für die Strafbarkeit vorgreiflich ist, und der Taterfolg, die Steuerverkürzung, zumindest in Wege einer Parallelwertung in der Laiensphäre von dem Vorsatz des Täters umfasst sein muss4. Das Ineinandergreifen der Rechtsgebiete bedingt damit die Beteiligung unterschiedlicher Gerichtsbarkeiten, allen voran der Finanzgerichtsbarkeit, aber eben auch der Strafjustiz – und wegen der unionsrechtlichen Dimension des Steuer- und Zollrechts der Unionsgerichtsbarkeit. Das Zusammenspiel ist nicht immer reibungslos und die Debatte hierüber wird zuweilen recht polemisch geführt, wie die Kritik zeigt, die gerade der Strafjustiz entgegenschlägt5. Die hier beklagten Divergenzen zwischen voreiligen Entscheidungen der Strafgerichte und den klärenden Urteilen der Finanzgerichtsbarkeit sind jedoch weit weniger zahlreich, als die Kritik glauben macht, und nachteilige Folgen für die Beschuldigten eher seltene Ausnahmen; was bleibt, ist unserer Rechtsordnung ganz überwiegend inhärent und bedarf keiner Modifikation. Die Verantwortung für die Konsistenz von steuerrechtlicher und steuerstrafrechtlicher Judikatur liegt bei den beteiligten Akteuren, weshalb entscheidende Verbesserungen nur durch eine verstärkte Fort- und Weiterbildung insbesondere der Strafrichter aber auch durch einen informellen Austausch zwischen den Gerichtsbarkeiten erreicht werden können.
II. Die Vorfragenkompetenz der Strafgerichte Die justizielle Klärung von Abgabenangelegenheiten ist nach der § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO der Finanzgerichtsbarkeit zugewiesen. Daneben besteht die aus § 13 GVG folgende Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte für Strafsachen, mithin auch für Steuerstrafsachen6. Aus dieser Rechtswegeröffnung zu den ordentlichen Gerichten folgt per se noch keine Kompetenzzuweisung für die Entscheidung über steuerrechtliche Vorfragen und zunächst stand sie den Strafgerichten auch nicht zu. Bis 1965 waren sie verpflichtet, das Strafverfahren bis zu dem rechtskräftigen Abschluss des Besteuerungsverfahrens auszusetzen7 und bis 1967 bestand eine Bindung der Strafgerichte an Entscheidungen
__________
4 Dies ist jedenfalls vom Standpunkt der Rechtsprechung aus nicht konsequent, gilt doch die Parallelwertung in der Laiensphäre als Topos für die Beschreibung dessen, was bei normativen Tatbestandmerkmalen vom Vorsatz umfasst sein muss. Ebenso T. Walter in FS Tiedemann (Fn. 3), S. 969 (972, 984). 5 Die Polemik richtet sich dabei ausschließlich gegen die Strafgerichte, vgl. nur Brenzing, NJW 1984, 1598; Felix, BB 1990, 1243 f.; Bernsmann in FS Kohlmann, 2003, S. 377 ff. Kritisch hierzu Rößler, DStZ 1990, 514 f. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass finanzgerichtliche Ausführungen zu strafrechtlichen oder strafprozessualen Fragen stets ohne Tadel sind. 6 Die Zuständigkeit der Strafgerichte erstreckt sich gemäß § 33 Abs. 3 FGO zudem auf die Tätigkeit der Finanzbehörde im Straf- und Bußgeldverfahren nach §§ 386, 399 ff. AO. 7 So schon § 433 RAO 1919. Gegebenenfalls musste die Entscheidung des Reichs-/ Bundesfinanzhofs eingeholt werden. Die Vorlagepflicht wurde erst mit Einführung der FGO (BGBl. I 1965, 1505) in eine Vorlagemöglichkeit umgewandelt. Zum Ganzen Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 396 AO Rz. 1 ff.
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des obersten Steuergerichts8. Nach dem Wegfall dieser Bindung ist allerdings eine Kompetenzhierarchie zwischen beiden Gerichtsbarkeiten nicht mehr auszumachen. Im Gegenteil, die in § 396 AO geregelte Aussetzungsmöglichkeit setzt die Befugnis zur eigenverantwortlichen Sachentscheidung gerade voraus9. Es ist darum heute unstreitig, dass die Strafgerichte zu eigenständiger Beantwortung der steuerrechtlichen (Vor-)Fragen befugt sind10; für das Steuerrecht gilt insofern nichts anderes mehr als für andere Rechtsgebiete, in denen sich der Strafbarkeit vorgreifliche Rechtsfragen ergeben. Die Literatur versucht gelegentlich, die Vorfragenkompetenz der Strafgerichte dadurch zu relativieren, dass sie den Steuerbescheid zum Maßstab für die Tatbestandsmäßigkeit der Steuerhinterziehung macht. So vertritt Paul Kirchhof, der Steuerbescheid sei für die Entstehung des Steueranspruchs konstitutiv11. Ihm komme dieselbe Tatbestandswirkung zu, wie sie etwa für Verwaltungsakte im Umweltstrafrecht anerkannt sei, weshalb auch der auf einer Täuschung durch den Steuerpflichtigen beruhende Steuerbescheid als maßgebliche Entscheidung der Finanzbehörde die Strafgerichte binde. Steuerhinterziehung kommt danach erst in Betracht, wenn die Behörde auf der Grundlage der Korrekturvorschriften einen neuen, eine höhere Steuer festsetzenden Bescheid erlassen hat; der Verletzungserfolg der Steuerhinterziehung bestehe – von Fällen der Vollstreckungsvereitelung abgesehen – allein in der auf diese Weise verzögerten Realisierung des Steueranspruchs12. Nur graduell hiervon verschieden sind die Erwägungen zur Kausalität der Tathandlung13 für den Taterfolg, wie sie zuletzt von Wiedemann14 im Anschluss an Reiß15 vertreten wurden. Danach soll der Verkürzungserfolg im Rahmen von § 370 AO von der Steuerfestsetzung in concreto abhängen. Ist diese – aus welchen Gründen auch immer – zu niedrig, sei die Steuerverkürzung nicht durch unrichtige Angaben oder das Unterlassen richtiger bewirkt worden. Auch damit wäre in gewisser Weise eine faktische Bindung an die Entscheidung der Finanzverwaltung gegeben und würde sich die Frage, ob ein Täter eine Steuerhinterziehung nur
__________ 8 Die in § 468 RAO normierte Bindung ist mit dem 1. AO-StrafÄndG v. 10.8.1967 (BGBl. I, 877) weggefallen. 9 So BVerfG v. 15.10.1990 – 2 BvR 385/87, NStZ 1991, 88. 10 Vgl. nur OLG Zweibrücken v. 14.9.1009 – 1 Ws 108/09, wistra 2009, 488; Schauf in Kohlmann (Fn. 7), § 396 AO Rz. 10 m. w. N.; Jäger in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Aufl. 2009, § 396 AO Rz. 3, Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 396 AO Rz. 10 unter Verweis auf die Entstehungsgeschichte. 11 NJW 1985, 2977 ff.; NJW 1986, 1315 ff.; ihm folgend Röckl, Das Steuerstrafrecht im Spannungsfeld des Verfassungs- und Europarechts, 2002, S. 331. 12 NJW 1985, 2977, 2983 f. Im Ergebnis ähnlich Isensee, NJW 1985, 1007 ff. Mit der AO ist diese Lehre nicht vereinbar, denn nach § 38 AO entstehen die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis mit der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes. Nur hierüber entscheidet der Strafrichter; Steuerbescheide ändert er nicht (so aber Kirchhof, NJW 1985, 2977). Hinzu kommt, dass § 173 Abs. 2 AO für die Korrektur des Steuerbescheides die Feststellung einer Steuerhinterziehung voraussetzt, an deren Tatbestandsmäßigkeit es aber ohne Änderung des Bescheides fehlen soll. 13 Oder Unterlassung, § 370 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AO. 14 Wistra 2010, 198. 15 StuW 1986, 68.
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versucht oder doch vollendet hat, erst beantworten lassen, wenn die Finanzverwaltung von ihrer Möglichkeit zur Korrektur der ursprünglich durch die Tathandlung bewirkten, fehlerhaften Festsetzung Gebrauch oder endgültig nicht Gebrauch gemacht hat16. Hinter der Lehre von Kirchhof und den Überlegungen zur Kausalität verbirgt sich damit in Wahrheit eine vom Gesetz nicht gedeckte Neubestimmung des Verkürzungserfolges, der in die Disposition der Finanzverwaltung gestellt wird. § 370 Abs. 4 AO definiert den Verkürzungserfolg jedoch schon dann als eingetreten, wenn Steuern nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig festgesetzt werden und normiert darüber hinaus das Kompensationsverbot, wodurch der Verkürzungserfolg von im Einzelfall wesentlichen Umständen für die tatsächliche Festsetzung abkoppelt wird. Steuerhinterziehung ist damit zwar ein Erfolgs-, nicht notwendig aber ein Verletzungsdelikt; für den Tatbestand ist es ausreichend, dass die Durchsetzung des Steueranspruchs gefährdet ist17. Der Erfolg ist eingetreten, wenn die Istfestsetzung in dem für die Vollendung relevanten Zeitpunkt hinter der Sollfestsetzung zurückbleibt18. Gründe, warum zugunsten des Steuerpflichtigen die Strafbarkeit hinter die Wortlautgrenze des Gesetzes zurückgenommen werden sollte, sind nicht ersichtlich und werden auch nicht genannt19.
__________ 16 Das Ergebnis entspricht damit weitgehend der von Kirchhof vertretenen Lehre (oben Fn. 11), vgl. Reiß, StuW 1986, 71 Fn. 29a. 17 Vgl. nur BGH v. 10.12.2008 – 1 StR 322/08, NJW 2009, 381 (384); Jäger in Klein, 10. Aufl. 2009, § 370 AO Rz. 85; Joecks in Franzen/Gast/Joecks (Fn. 10), § 370 AO Rz. 15; Schmitz/Wulf in Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 6/1, 2010, § 370 AO Rz. 11. 18 Bei Veranlagungssteuern kommt es auf die Bekanntgabe des Steuerbescheides bzw. den Abschluss der Veranlagungsarbeiten an, wenn der Steuerpflichtige keine Erklärung abgegeben hat. Sind Fälligkeitssteuern wie die Umsatzsteuer als Anmeldesteuern ausgestaltet, ist der Zeitpunkt der unterlassenen oder unrichtigen Anmeldung maßgeblich; führt die unrichtige Anmeldung zu einer Zahllast zugunsten des Steuerpflichtigen tritt Vollendung wegen § 168 Satz 2 AO erst mit Zustimmung der Finanzbehörde ein. Zum Ganzen Jäger in Klein (Fn. 17), § 370 AO Rz. 90 ff., 105 f. 19 Dies schon deshalb nicht, weil sich Wiedemann und Reiß keine Rechenschaft darüber ablegen, dass sie das Tatbestandsmerkmal der Steuerverkürzung neu definieren. Nach P. Kirchhof, NJW 1985, 2977 (2983 f.) ist die „vermeintliche Antinomie“ zwischen der Vollendung der Steuerverkürzung, die gemäß § 370 Abs. 4 AO schon dann eingetreten sein kann, wenn der Steuerbescheid die Steuern nicht in voller Höhe festgesetzt hat, und dem fehlenden strafwürdigen Erfolg, solange der materiell falsche Steuerbescheid nicht korrigiert ist, die logische Konsequenz der von ihm konstatierten Doppelfunktion des Steuerbescheides. Den Vorrang der steuerverfahrensrechtlichen Feststellung des Steueranspruchs folgert er aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz und der Rechtswegegarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, P. Kirchhof, a. a. O., S. 2984. Dem liegt jedoch ein Zirkelschluss zugrunde: Wenn der Steuerbescheid konstitutiv wäre, könnte zwar eine Verletzung des Gewaltenteilungsgrundsatzes in Betracht kommen; dass er konstitutiv ist, folgt daraus jedoch nicht: Die Konsequenz, die sich aus der Konstitutivität ergäbe, kann die Konstitutivität selbst nicht begründen. Die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Steuerschuldverhältnisses (§§ 38, 173 AO) ergibt vielmehr, dass der Steuerbescheid gerade nicht konstitutiv ist. Ebenso Rößler, NJW 1986, 972 (973).
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III. Divergenzen in steuerrechtlichen Rechtsfragen – tatsächlich und gefühlt Die Versuche, den Tatbestand der Steuerhinterziehung verwaltungsakzessorisch zu verstehen, sind zu Recht vereinzelt geblieben. Doch auch davon abgesehen wird die aus der gesetzlichen Ausgestaltung folgende Vorfragenkompetenz der Strafgerichte für Fragen des materiellen Steuerrechts nicht allgemein akzeptiert. Aus der besonderen Aussetzungsbefugnis in § 396 AO, die neben den allgemeinen, jeder Verfahrensordnung immanenten Aussetzungsmöglichkeiten besteht, wie sie etwa § 74 FGO oder § 262 Abs. 2 StPO normieren20, wird gefolgert, dass die Vorfragenkompetenz der Strafgerichte hinter ein auf eine Vorlegungspflicht reduziertes Aussetzungsermessen zurückzutreten habe21. Dem liegt das Leitmotiv der von „Verfolgungseifer“ strotzenden, „tatendurstigen Strafjustiz“ zugrunde, die sich für „allmächtig“ und „klüger als die Finanzgerichtsbarkeit“ hält und sich nur auf diese Weise in ihre Schranken verweisen lässt22. 1. Die Reichweite von § 396 AO Der Steuerpflichtige als potentielles Justizopfer – dieses Schreckgespenst ist geeignet, den Blick darauf zu verstellen, inwieweit Divergenzen in steuerrechtlichen Rechtsfragen in der juristischen Praxis tatsächlich eine Rolle spielen. Bevor wir uns dieser empirischen Frage zuwenden, ist jedoch klarzustellen, dass sich § 396 AO nur für einen kleinen Teil der Divergenzen in spezifisch steuerrechtlichen Fragen als Heilmittel im Sinne der Kritiker anbietet. Außen vor sind nämlich Abweichungen zwischen der Straf- und der Finanzgerichtsbarkeit, die auf unterschiedlichen tatsächlichen Feststellungen beruhen23. Denn diese sind häufig durch die unterschiedlichen Prozessordnungen mit ihren verschiedenen Verfahrensmaximen bedingt. Auch wenn das finanzgerichtliche Verfahren vom Untersuchungsgrundsatz geprägt ist, gilt dieser nicht uneingeschränkt, wie sich aus den in der Finanzgerichtsordnung geregelten Mit-
__________ 20 In seinem Anwendungsbereich ist § 396 AO gegenüber § 262 Abs. 2 StPO vorrangig, vgl. Jäger in Franzen/Gast/Joecks (Fn. 10), § 396 AO Rz. 18. 21 So zuletzt Bernsmann in FS Kohlmann (Fn. 5), S. 377 (385), im Anschluss an Kohlmann in FS Klug II, 1983, S. 507 (523 f.), der allerdings in einer Ermessensreduzierung auf Null nicht den Regelfall sieht; außerdem Lerche in FS v. Wallis, 1985, S. 465; Isensee, NJW 1985, 1007 (1010); Heuer, DStZ 1985, 291 (296 f.); Felix, BB 1990, 1243, der jede andere Rechtsanwendung des § 396 AO für „rechtsfrivol“ erklärt. 22 Bernsmann in FS Kohlmann (Fn. 5), S. 377 (382, 383); abgeschwächt auch Schauf in Kohlmann (Fn. 7), § 396 AO Rz. 18. Dass die Ermessensreduzierung auf Null schon deshalb unstimmig ist, weil keine förmliche Bindung der Strafgerichte an die finanzgerichtliche Entscheidung besteht, betont zutreffend Hellmann in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 396 AO Rz. 14. Soweit im Folgenden von Bindung oder Letztentscheidungskompetenz die Rede ist, ist der faktische Vorrang zur Entscheidung einer steuerrechtlichen Rechtsfrage gemeint – die im Fall einer grundsätzlichen Ermessensreduzierung auf Null im Ergebnis allerdings einer formellen Bindung gleichkäme, vgl. Rößler DStZ 1990, 514. 23 Vgl. hierzu BGH v. 10.12.2008 – 1 StR 322/08, BGHSt 53, 99, unter III.
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wirkungspflichten und Präklusionsvorschriften ergibt. Der Anscheinsbeweis ist möglich und die Grundlage der Überzeugungsbildung ist in Schätzungsfällen reduziert. Eine strafrechtliche Verurteilung verlangt dagegen ausgehend von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz in dubio pro reo stets die volle richterliche Überzeugung vom Vorliegen der Voraussetzungen einer Strafbarkeit. Dabei ist die Inquisitionsmaxime des Strafverfahrens ausgeprägter und sind die strafprozessualen Zwangsmittel und Möglichkeiten zur Beweismittelerlangung weitreichender. Gerade letzteres führt in der Praxis dazu, dass es häufig die Finanzgerichte sind, die das Besteuerungsverfahren bis zu der rechtskräftigen Entscheidung des Strafverfahrens aussetzen, um von den besseren Erkenntnismöglichkeiten zu profitieren24. Dass die unterschiedlichen Prozessordnungen zu unterschiedlichen Tatsachengrundlagen für die Rechtsanwendung führen können, liegt auf der Hand, ebenso, dass ausgehend davon die Entscheidungen im Ergebnis unterschiedlich ausfallen können, ohne dass jedoch die beteiligten Gerichtsbarkeiten eine steuerrechtliche Rechtsfrage unterschiedlich beurteilt hätten. Allerdings führen die Unschuldsvermutung, aber auch das Opportunitätsprinzip nicht selten dazu, dass eine strafrechtliche Verurteilung gar nicht erfolgt und die Finanzgerichte um eigenständige Feststellungen nicht umhin können. Dabei werden in vielen dieser Fälle später Steuern festgesetzt, so dass sich im Faktischen Divergenzen gerade nicht in dem Sinn ergeben, dass der Steuerbürger nur mit strafrechtlichen, nicht aber mit steuerrechtlichen Folgen konfrontiert wird, sondern umgekehrt. Ausgeschlossen sind solche Fälle freilich nicht, doch sind sie letztlich eine Konsequenz der gesetzgeberischen Entscheidung, nicht alle mit einem bestimmten Lebenssachverhalt zusammenhängenden Rechtsfragen, seien sie zivil-, straf- oder steuerrechtlicher, möglicherweise – je nach Lage des Falles – auch sozialversicherungs-, arbeits- und verwaltungsrechtlicher Art durch dieselben Richter in demselben Verfahren nach denselben Verfahrensgrundsätzen entscheiden zu lassen25. Bezogen auf Rechtsfragen und die von den Kritikern vor allem in diesem Bereich angeprangerten Divergenzen hat das Bild der zelotischen Strafjustiz indessen wenig Bezug zu der Praxis der Strafgerichte und entgegen einer oberflächlichen Sichtweise auch der Staatsanwaltschaften. Es ist nicht lege artis und gewiss nicht der Regelfall, dass sich ein Staatsanwalt in einen Fall ‚verbeißt‘, in dem – abgesehen von Beweisschwierigkeiten – schon die recht-
__________ 24 Ebenso Groh, NJW 1985, 993 (997); Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 396 AO Rz. 33; Rößler, DStZ 1990, 514 (515). Auch insoweit besteht natürlich keine Bindung. 25 Das soll nicht heißen, dass solche auf unterschiedlichen Tatsachenfeststellungen beruhende Divergenzen nicht dramatische Auswirkungen haben können. Prominentes Beispiel ist der Fall Harry Wörz, bei dem die Strafgerichte zunächst von einer Täterschaft überzeugt waren, das Zivilgericht die Anspruchvoraussetzungen für einen deliktischen Schadensersatzanspruch dann aber nicht für erwiesen hielt, was letztlich zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens und in der Folge zu einem erstinstanzlichen Freispruch führte, der allerdings keinen Bestand hatte (BGH v. 16.10.2006 – 1 StR 180/06, NJW 2007, 92). Nach neuerlichem Freispruch ist das Verfahren derzeit wieder beim Bundesgerichtshof anhängig.
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liche Qualifikation als Steuerhinterziehung derart zweifelhaft ist, dass mit einer abweichenden Beurteilung der Rechtsfrage durch die Finanzgerichte zu rechnen oder eine solche zumindest nicht unwahrscheinlich ist. Denn in einem solchen Fall dürfte der Nachweis des Verkürzungsvorsatzes ganz überwiegend ausgeschlossen sein, so dass eine Verurteilung nicht zu erwarten ist. Stellt der Staatsanwalt das Verfahren darum nicht selbst nach § 170 Abs. 2 StPO ein, riskiert er eine Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens, weil es an einem hinreichenden Tatverdacht fehlt. Eine solche gerichtliche Entscheidung sucht jeder Staatsanwalt zu vermeiden, könnte sie ihm doch als rechtliche Fehleinschätzung entgegengehalten werden. Bezeichnender Weise finden sich auch nahezu keine Belege für die als Gefahr für den Rechtsstaat beschworene Allmacht der Strafjustiz, die den Bürger wegen Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilt, obwohl eine Steuerpflicht aus Rechtsgründen nicht besteht. Bernsmann und Isensee jedenfalls führen keine solchen Fälle an26. 2. Abweichungen in Rechtsfragen – Kasuistik Es soll nicht geleugnet werden, dass es Divergenzen in der Beurteilung steuerrechtlicher Rechtsfragen durch die Finanz- und die Strafgerichtsbarkeit gibt. Bevor allerdings die pauschale Forderung nach einem Primat der Finanzgerichtsbarkeit erhoben wird, bietet sich ein Blick auf die Rechtswirklichkeit an. Denn häufig sind diese Fälle nicht27 und bei genauerer Betrachtung liegt bei den meisten schon deshalb keine relevante Divergenz zwischen beiden Gerichtsbarkeiten vor, weil hier die Letztentscheidungskompetenz weder bei den Finanz- noch bei den Strafgerichten liegt. a) Zwei Beispielsfälle Eine Recherche in den gängigen juristischen Datenbanken führt im Wesentlichen zwei Fälle zu Tage, in denen rechtskräftige Strafurteile in der Bewertung einer steuerrechtlichen Rechtsfrage von der Entscheidung desselben Lebenssachverhalts durch die Finanzgerichte oder Finanzbehörden abgewichen sind28. Der erste, in dem der Bundesgerichtshof durch wenig überzeugende steuerrechtliche Ausführungen auffiel, die von der Finanzgerichtsbarkeit zu Recht nicht geteilt wurden, liegt allerdings schon lange zurück und betrifft
__________ 26 Bernsmann in FS Kohlmann (Fn. 5), S. 377; Isensee, NJW 1985, 1007; auch Kohlmann in FS Klug II (Fn. 21), S. 507, und Lerche in FS v. Wallis (Fn. 21), S. 465, diskutieren das Problem abstrakt. Das von Weyand, PStR 2007, 189 gebildete Beispiel entstammt ebenfalls nicht der Rechtswirklichkeit. 27 Nach Groh, NJW 1985, 993 (997), ist es bis 1985 nicht zu Divergenzen gekommen, siehe jedoch sogleich. 28 Gesucht wurden vorrangig Fälle, in denen Finanzgerichte trotz strafrechtlicher Verurteilung einen Steueranspruch verneinten, aber auch umgekehrt solche, in denen die Strafgerichte einen Steueranspruch verneinten. Die zeitliche Reihenfolge der Entscheidungen spielte dabei keine Rolle.
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gerade nicht den Fall der falschen Verurteilung, sondern den der zu Unrecht erfolgten Verneinung der Tatbestandsmäßigkeit. In der Sache ging es darum, dass der Bundesgerichtshof Anfang der 80er Jahre Arbeitsverhältnissen zwischen Barbesitzern und den bei ihnen beschäftigten Prostituierten wegen Sittenwidrigkeit die steuerrechtliche Beachtlichkeit absprach, so dass auf die von dem Barbesitzer eingenommenen Entgelte, von denen er einen Teil an die bei ihm beschäftigten Damen weiterleitete, keine Lohnsteuer abzuführen war; den intern auf die sexuellen Dienstleistungen entfallenden Anteil des Entgelts qualifizierte der Bundesgerichtshof als durchlaufenden Posten, so dass der Unternehmer insoweit auch keine Umsatzsteuer schuldete29. Diese Rechtsprechung stieß auf einhellige Ablehnung in der Literatur und die Finanzgerichtsbarkeit ist ihr zu Recht nicht gefolgt30; auch der Bundesgerichtshof hat sie wenige Jahre später aufgegeben31. Als der Bundesfinanzhof schließlich mit der Frage befasst wurde, bestand keine entgegenstehende Rechtsprechung eines anderen oberen Bundesgerichts mehr, die eine Anrufung des Gemeinsamen Senates notwendig gemacht hätte32. Der zweite Fall ist jüngeren Datums. Anders als in der gerade geschilderten Konstellation kam es zu einer Verurteilung und wurde die steuerrechtliche Beurteilung des Sachverhalts später von den Finanzbehörden nicht in vollem Umfang geteilt. Soweit der Fall veröffentlicht ist, lässt sich aber auch hier feststellen, dass dem Betroffenen im Ergebnis kein ‚Unrecht‘ widerfahren ist: Das Oberlandesgericht Zweibrücken hatte über einen Wiederaufnahmeantrag eines wegen Umsatzsteuerhinterziehung verurteilten Steuerberaters zu befinden, den dieser damit begründete, dass das Finanzamt zwischenzeitlich die Annahme einer umsatzsteuerlichen Organschaft zwischen der von ihm und einer von seinem – ebenfalls verurteilten – Bruder betriebenen Steuerberatungsgesellschaft gebilligt habe33. Worin der dem Strafurteil zugrunde liegende Tatvorwurf im Einzelnen bestand und auf welche Lieferungen oder sonstigen Leistungen er sich bezog, ergibt sich aus der veröffentlichten Entscheidung nicht; Beziehungen zwischen den beiden Gesellschaften können allerdings nicht betroffen gewesen sein. Denn das Oberlandesgericht verweist darauf, dass die Annahme der Organschaft auch nach Auffassung der Finanzverwaltung nicht zu einer Änderung der Steuersollstellung geführt habe. Im Besteuerungsverfahren hatte man dementsprechend im Einverständnis mit beiden verurteilten Brüdern auf eine Rückabwicklung und Neubescheidung aus verwaltungsökonomischen Gründen verzichtet. Die Zubilligung der Organschaft auch im Strafverfahren hätte darum im Ergebnis nicht zu einer geringeren Be-
__________ 29 BGH v. 18.7.1980 – 2 StR 348/80, NJW 1980, 2591 und v. 20.5.1981 – 2 StR 784/80, NJW 1981, 2071. 30 Vgl. nur Rauer, MDR 1982, 180; Bilsdorfer, DStR 1982, 78 (79); Brenzing, NJW 1984, 1598; FG Köln v. 30.1.1985 – I (IV) 589-593/80, NJW 1986, 2529. 31 BGH v. 1.8.1984 – 2 StR 220/84, NJW 1985, 208, und ausdrücklich BGH v. 6.10.1989 – 3 StR 80/89, wistra 1990, 100. 32 BFH v. 21.2.1991 – V R 11/91, UR 1991, 255. Der Senat begründet die Nichtvorlage mit abweichenden tatsächlichen Feststellungen des Finanzgerichts (nur in juris). 33 OLG Zweibrücken v. 14.9.2009 – 1 Ws 108/09, wistra 2009, 488.
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strafung führen können, wie es jedoch nach § 359 Nr. 5 StPO für einen erfolgreichen Antrag auf Wiederaufnahme erforderlich ist34. b) Parteispendenverfahren Keine Divergenz zwischen Straf- und Finanzgerichtsbarkeit lag schließlich ausgerechnet in den Fällen vor, die Anlass für die bislang erbittertste Debatte um Vorfragenkompetenz und Aussetzungspflicht waren, nämlich den Parteispendenverfahren Mitte der 80er Jahre35. Die Diskussion entzündete sich, nachdem zunächst die Strafgerichte entschieden, dass verdeckte Parteispenden nicht als Betriebsausgaben abzugsfähig seien. Die Befürchtung, der Bundesfinanzhof könnte dies anders sehen, bewahrheitete sich bekanntermaßen nicht36. c) Fälle mit unionsrechtlichem Bezug Eine Sonderrolle nehmen schließlich diejenigen Rechtsfragen ein, zu denen zwar in der Straf- und Finanzgerichtsbarkeit unterschiedliche Rechtsansichten vertreten werden, zu deren abschließender Beantwortung die nationalen Gerichte aber wegen ihrer unionsrechtlichen Dimension nicht berufen sind. Zollrecht ist unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht, Umsatz- und Verbrauchsteuerrecht harmonisiertes nationales Recht und auf das Recht der direkten Steuern wirken vor allem die Grundfreiheiten des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union ein. Kommt es für die Frage, ob eine Steuerhinterziehung vorliegt, auf die Auslegung einer unionsrechtlichen Norm oder die Reichweite der Grundfreiheiten an, wird deshalb der Gerichtshof der Europäischen Union zum Schiedsrichter zwischen Bundesgerichtshof und Bundesfinanzhof. Die Finanzgerichtsbarkeit macht von der Vorlagemöglichkeit seit je her regen Gebrauch, allein der Bundesfinanzhof hat zwischen 1952 und 2009
__________ 34 Dies übersieht Weidemann, wistra 2009, 198 (199). Im Übrigen hatte der Verurteilte keine neuen Tatsachen vorgetragen, sondern nur eine abweichende rechtliche Bewertung durch die Finanzverwaltung, so dass eine Wiederaufnahme schon deshalb nicht in Betracht kam; vgl. auch Weyand, PStR 2007, 189 (190). Die Frage, ob eine abweichende rechtliche Beurteilung durch die Finanzgerichte einen Wiederaufnahmegrund darstellen sollte, ist nicht unumstritten, wird von der h. M. aber zu Recht abgelehnt. Die Wiederaufnahme ist auch sonst bei rechtlichen Fehlern der Strafgerichte ausgeschlossen; warum so nur in Steuerstrafsachen funktionell eine zeitlich unbefristete Revision eröffnet werden sollte, erschließt sich nicht und lässt sich auch nicht mit dem Regelungsgehalt von § 396 AO begründen. Ebenso Schauf in Kohlmann (Fn. 7), § 396 AO Rz. 83 m. w. N., differenzierend Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 396 AO Rz. 20. 35 Vgl. die Nachweise bei Schauf in Kohlmann (Fn. 7), § 396 AO Rz. 63. 36 Vgl. nur BGH v. 28.1.1987 – 3 StR 373/86, BGHSt 34, 272, bestätigt durch BVerfG v. 15.10.1990 – 2 BvR 385/87, NJW 1992, 35; BGH v. 19.12.1990 – 3 StR 90/90, BGHSt 37, 266; BFH v. 25.11.1987 – I R 126/85, BFHE 151, 544; BFH v. 7.11.1990 X R 143/88, BFHE 163, 329; BFH v. 18.12.1991 – X R 146/88. Auffallend ist, dass der BFH den BGH nicht zitiert.
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in 260 Verfahren um Vorabentscheidung ersucht37. Dagegen haben die Strafsenate des Bundesgerichtshofs den Luxemburger Gerichtshof erst dreimal angerufen, dies jedoch durchweg in Steuerstrafsachen38 und in zwei Fällen, weil sie die finanzgerichtliche Beurteilung einer Steuerrechtsfrage nicht geteilt haben39. Der erste Fall betrifft die Frage, ob sich auch ein Solist auf die Umsatzsteuerbefreiung des § 4 Nr. 20 lit. a UStG für kulturelle Einrichtungen berufen kann. Die Vorschrift setzt Art. 13 Teil A Absatz 1 lit. n der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG40 um, so dass es auf die Auslegung der Richtlinie ankam. Der Bundesfinanzhof hatte zuvor im Anschluss an frühere EuGH-Rechtsprechung, wonach natürliche Personen diejenigen Befreiungstatbestände, in denen von Einrichtungen die Rede ist, nicht für sich beanspruchen können, den künstlerischen Darbietungen von Solisten eine Befreiung von der Umsatzsteuer versagt41. Zwischenzeitlich war ein weiteres Luxemburger Urteil ergangen, das den Bundesgerichtshof an dieser Auslegung zweifeln ließ und das Gericht veranlasste, den EuGH anzurufen42. Der Ausgang ist bekannt, auch natürliche Personen können Einrichtungen im Sinne der Richtlinie sein, so dass sie in den Genuss der Umsatzsteuerbefreiung gelangen können43. Damit entfiel die zuvor angenommene Strafbarkeit wegen Umsatzsteuerhinterziehung und der Angeklagte wurde von diesem Vorwurf freigesprochen44. Auch der zweite, ganz aktuelle Fall, in dem der EuGH zur Entscheidung einer von der Finanz- und Strafgerichtsbarkeit unterschiedlich beurteilten Rechtsfrage berufen ist, entstammt dem Umsatzsteuerrecht. Es geht um die Frage, ob sich auch derjenige auf die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen gemäß § 6a UStG berufen kann, der bewusst und gewollt an der Vermeidung der Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs durch seine
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37 Vgl. die Rechtsprechungsstatistik des EuGH Nr. 20 unter http://curia.europa.eu/ jcms/upload/docs/application/pdf/2010-05/ra09_stat_cour_final_de.pdf. 38 Beschluss v. 5.4.2000 – 5 StR 169/00, NStZ 2000, 425 – Hoffmann – Die 3 Tenöre; Beschluss v. 30.6.2005 – 5 StR 342/04, wistra 2005, 461 – Kretzinger; zuletzt Beschluss v. 7.7.2009 – 1 StR 41/09, wistra 2009, 441 – R. Auch die Instanz- und Oberlandesgerichte machen in Strafsachen nur spärlich von der Vorlagemöglichkeit Gebrauch. 39 Die zum Urteil in der Rs. C-288/05, EuGHE 2007, I-6441 – Kretzinger, führende Vorlage v. 30.6.2005 – 5 StR 342/04, wistra 2005, 461, betraf spezifisch strafrechtliche Fragen des Verbots der Doppelverurteilung nach Art. 54 SDÜ, vgl. dazu Harms/ Heine in FS Hirsch, 2008, S. 85. Dass umgekehrt eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs Anlass für eine Vorlage des Bundesfinanzhofs gewesen wäre, lässt sich nicht feststellen. 40 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ABl. EG 1977 Nr. L 145, 1. 41 BFH v. 14.12.1995 – V R 13/95, BFHE 179, 477 im Anschluss an EuGH v. 11.8.1995 – C-453/93, EuGHE 1995, I-2341 – Bulthuis-Griffioen. 42 BGH v. v. 5.4.2000 – 5 StR 169/00, NStZ 2000, 425, unter Berufung auf EuGH v. 7.9.1999 – C-216/97, EuGHE 1999, I-4947 – Gregg. 43 EuGH v. 3.4.2003 – C-144/00, EuGHE 2003, I-2921 – Hoffmann. 44 BGH v. 18.6.2003 – 5 StR 169/00, NJW 2003, 2842.
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Abnehmer in einem anderen EU-Mitgliedstaat mitgewirkt hat, indem er durch das Ausstellen falscher Rechnungen deren Identität verschleiert hat45. Der erste Strafsenat des Bundesgerichtshofs46 hatte der auf diese Weise bewirkten grenzüberschreitenden Lieferung von Pkw nach einer detaillierten Analyse der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zu Art. 28c der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie, insbesondere der Urteile in den Rechtssachen Halifax47, Collée48 und Teleos49, die Qualifikation als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung abgesprochen und die Versagung der Steuerbefreiung an § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG festgemacht50: Aufgrund des kollusiven Zusammenwirkens des Unternehmers mit dem wahren Abnehmer unterliege der Erwerb der Pkw im konkreten Fall im anderen Mitgliedstaat faktisch nicht den Vorschriften der Erwerbsbesteuerung, so dass die Voraussetzungen für eine innergemeinschaftliche Lieferung nicht gegeben seien. Dabei ging auch der BGH davon aus, dass die Vorschrift grundsätzlich nicht verlange, dass der Gegenstand des Erwerbs in dem anderen Mitgliedstaat tatsächlich besteuert wird. Mit der bloßen Existenz einschlägiger Normen im anderen Mitgliedstaat sei dem Tatbestandsmerkmal, dass der Erwerb beim Abnehmer den Vorschriften der Umsatzbesteuerung in dem anderen Mitgliedstaat unterliegen müsse, jedoch nicht genügt. Das gemeinschaftsrechtlich verankerte Verbot des Missbrauchs gebiete vielmehr die gemeinschaftsrechtskonforme, einschränkende Auslegung des Befreiungstatbestandes dahingehend, dass der Erwerb eines Gegenstandes dann nicht den Vorschriften der Umsatzbesteuerung des anderen Mitgliedstaates unterliege, wenn die Erwerbsbesteuerung der konkreten Lieferung nach dem übereinstimmenden Willen von Lieferant und Erwerber durch Verschleierungsmaßnahmen und falsche Angaben gezielt umgangen werden soll51. Dieses Auslegungsergebnis war aus Sicht des Bundesgerichtshofs eindeutig, weshalb er von einer Vorlage nach Art. 234 EGV – jetzt Art. 267 AEUV – zunächst absah.
__________ 45 In Deutschland ansässige Unternehmer lieferten gebrauchte Pkw in das europäische Ausland, in einem Fall nach Italien, im anderen nach Portugal. Die Rechnungen waren an ein mit einer Umsatzsteueridentifikationsnummer versehenes Strohunternehmen gerichtet; der wahre Empfänger verkaufte die Fahrzeuge weiter, ohne sie zuvor der Erwerbsbesteuerung zu unterwerfen. Den dadurch erlangten, unberechtigten Steuervorteil teilten der Lieferant und der wahre Abnehmer wirtschaftlich untereinander auf, indem der Lieferant einen höheren Nettopreis für die Fahrzeuge realisieren und der wahre Abnehmer die Fahrzeuge ohne Anmeldung und Abführung der Umsatzsteuer an die Endverbraucher veräußern konnte. 46 BGH v. 20.11.2008 – 1 StR 354/08, BGHSt 53, 45. 47 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02, EuGHE 2006, I-1609. 48 EuGH v. 27.9.2007 – C-146/05, EuGHE 2007, I- 7861. 49 EuGH v. 27.9.2007 – C-409/04, EuGHE 2007, I-7797. 50 In Übereinstimmung mit der neueren Rechtsprechung des EuGH und des Bundesfinanzhofs folgerte er die Versagung der Steuerbefreiung nicht schon aus der Fehlerhaftigkeit der Buch- und Belegnachweise gemäß §§ 17a, 17c UStDV, weil die Erfüllung dieser Nachweispflichten keine materielle Voraussetzung für die Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen Lieferung ist, vgl. EuGH v. 27.9.2007 – C-146/05, EuGHE 2007, I-7861 – Collée. 51 BGH v. 20.11.2008 – 1 StR 354/08, BGHSt 53, 45 Rz. 13.
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Nur wenige Monate später war das Finanzgericht Baden-Württemberg in einem Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung mit derselben Rechtsfrage befasst und äußerte ernstliche Zweifel an der Auffassung des Bundesgerichtshofs, in der Inanspruchnahme der Steuerbefreiung sei ein Missbrauch des Gemeinschaftsrechts zu sehen. Die Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferungen entspreche vielmehr dem System der Mehrwertsteuer, wonach lediglich der innergemeinschaftliche Erwerb im Bestimmungsland der Besteuerung unterworfen werde. Zudem seien die getätigten Umsätze nicht um der Erlangung umsatzsteuerlicher Vorteile willen getätigt worden, sondern um mehr Autos nach Portugal zu verkaufen, in dem es den Abnehmern ermöglicht wurde, dort Umsatzsteuern zu hinterziehen. Ob dies ausreiche, wegen Missbräuchlichkeit die Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferungen zu versagen, bedürfe der Klärung im Hauptsacheverfahren52. Als der Bundesgerichtshof mit der strafrechtlichen Aufarbeitung desselben Falles befasst wurde, setzte er das Verfahren aus und legte die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vor53. Inzwischen liegen die Schlussanträge von Generalanwalt Cruz Villalón vor, der sich der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs nicht angeschlossen hat54. Wie der Gerichtshof selbst entscheiden wird, bleibt abzuwarten. Unterstellt, er folgte dem Generalanwalt, bestünde in der Tat die missliche Situation, dass rechtskräftige Verurteilungen im Anschluss an die erste Entscheidung des Bundesgerichtshofs auf einer steuerrechtlichen Beurteilung des Sachverhalts beruhten, die sich nachträglich als falsch erwiesen hätte55. Für die Streitfrage, ob die Strafgerichte den Finanzgerichten bei der Beantwortung steuerrechtlicher Rechtsfragen den Vorrang einzuräumen haben, bliebe dieser Befund allerdings – so unerfreulich er wäre – unergiebig. Denn die Finanzgerichte können in dieser Situation schon deshalb keine Letztentscheidungskompetenz beanspruchen, weil die abschließende
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52 FG Baden-Württemberg v. 11.3.2009 – 1 V 4305/08, zitiert nach juris, Rz. 26. Der Bundesfinanzhof hat diese Entscheidung später bestätigt, Beschluss v. 29.7.2009 – XI B 24/09, DStR 2009, 1693. 53 BGH v. 7.7.2009 – 1 StR 41/09, wistra 2009, 441. 54 Schlussanträge v. 29.6.2010 in der Rs. C-285/09 (R), veröffentlicht auf der Homepage des EuGH, http://curia.europa.eu. Die Argumentation überzeugt nicht. Es ist schwer verständlich, warum eine missbräuchliche Praxis nur in Fällen des Gestaltungsmissbrauchs wie im Urteil Halifax (EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02, EuGHE 2006, I-1609) vorliegen soll und vom Generalanwalt ausdrücklich als betrügerisch bezeichnetes Handeln von demselben als nicht missbräuchlich qualifiziert wird (Rz. 88). Der Generalanwalt stellt den Grundsatz der Territorialität über alles und sieht das Funktionieren des Mehrwertsteuersystems bei Versagung der Steuerbefreiung gefährdet, weshalb er die Verhängung von Strafe (nach einem neu zu schaffenden Straftatbestand) für verhältnismäßiger hält als eine steuerrechtliche Reaktion (Rz. 103 ff.). Dem dürfte schon das den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten entspringende ultima ratio-Prinzip des Strafrechts entgegenstehen. 55 In dem Ausgangsfall 1 StR 354/08, in dem der BGH seine Rechtsauffassung entwickelt hat, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Denn der Verurteilte hat Verfassungsbeschwerde eingelegt und das Bundesverfassungsgericht hat im Wege der einstweiligen Anordnung Vollstreckungsaufschub gewährt, weil die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Auslegung des § 6a Abs. 1 Satz 1 UStG „Fragen nach der Grenze des möglichen Wortsinns aufwirft“, BVerfG v. 23.7.2009 – 2 BvR 542/09.
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Entscheidung in Luxemburg zu treffen ist56. Die Rechtskraft der fehlerhaften Entscheidung beruhte letztlich auch nicht auf einer unterschiedlichen Rechtsanwendung im Bereich des Steuerrechts durch die nationalen Gerichte, sondern auf einer Verkennung der Vorlagepflicht respektive der Ausnahmen hiervon. Die Frage war eben kein acte clair im Sinne der Rechtsprechung des EuGH, so dass der Bundesgerichtshof schon im ersten Fall hätte vorlegen müssen. Verbliebe es bei der Divergenz, wäre sie damit keine, zu deren Vermeidung eine Hierarchie zwischen beiden Gerichtsbarkeiten erforderlich wäre, sondern vielmehr die richtige Handhabung von Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV57. Wie die Rechtssache Hoffmann gezeigt hat, ist auch die Finanzgerichtsbarkeit vor solchen Fehlern nicht gefeit58. In diesen Fällen vorab die Anrufung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes zu fordern59, verkennt, dass die Klärung einer solchen Streitfrage den nationalen Gerichten entzogen ist: Allein die unterschiedliche Auffassung zweier Obergerichte belegt, dass die Voraussetzungen für ein Vorabentscheidungsersuchen gegeben sind, weil die unionsrechtliche Rechtsfrage offensichtlich nicht eindeutig zu beantworten ist. Über eine Entscheidung des Gemeinsamen Senates zuvor die national favorisierte Auslegung zu ermitteln, beseitigte die bestehende Rechtsunsicherheit nicht.
IV. Ergebnisse und Folgerungen 1. Die Analyse hat gezeigt, dass die beschworene Gefahr der Divergenzen in der Beurteilung steuerrechtlicher Fragen durch die Straf- und Finanzgerichtsbarkeit in der Praxis weniger bedeutsam ist, als weithin gedacht. Schon das rechtfertigt es, von der Forderung der unserem Prozessrecht grundsätzlich fremden Bindung der einen an die andere Gerichtsbarkeit Abstand zu nehmen. Sie ist mit dem gängigen, aus dem Grundgesetz abgeleiteten Richterbild nicht
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56 Ähnlich verhält es sich, soweit die Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes im Raum steht; auch die Beantwortung dieser Frage ist der Fachgerichtsbarkeit entzogen. Auch dass das BayObLG in der von Salditt anlässlich eines Workshops zwischen Finanz- und Strafrichtern (vgl. Seibel, AO-StB 2004, 109 [110 f.]) angeführten Entscheidung v. 11.3.2003 (4St RR 7/2003, wistra 2003, 243) letztlich zu Unrecht davon ausging, das BVerfG würde § 23 Abs. 1 Satz 1 lit. b) EStG 1997 nur für mit der Verfassung unvereinbar und nicht für nichtig erklären (siehe jedoch BVerfG v. 9.3. 2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 94, 110), begründet keinen Dissens im Verhältnis zum vorlegenden BFH; es handelt sich lediglich um eine wenig opportune Prognose über den Ausgang eines Normenkontrollverfahrens. Das BVerfG hat der gegen das Urteil des BayObLG erhobenen Verfassungsbeschwerde mit Beschluss v. 8.11.2006 (2 BvR 620/03, wistra 2007, 60) stattgegeben; weil das Verfahren zum Zeitpunkt der Nichtigerklärung bereits anhängig war, musste sich der Beschwerdeführer nicht auf das besondere Wiederaufnahmeverfahren nach § 79 Abs. 1 BVerfGG verweisen lassen. 57 Anders Thomas, NJW 1991, 2233 (2235), der die Anrufung des EuGH den Finanzgerichten vorbehalten will und deshalb eine Aussetzungspflicht für das Strafverfahren fordert. Hiergegen schon Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 396 AO Rz. 37. 58 Der BFH hatte seine Rechtsauffassung keine zwei Monate vor dem Vorabentscheidungsersuchen des BGH bestätigt und die hilfsweise beantragte Vorlage an den EuGH abgelehnt, BFH v. 24.2.2000 – V R 23/99, BFHE 191, 88. 59 So Nieskens, BB 2000, 1493 (1494); Hidien, EWS 2003, 343.
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vereinbar60, weshalb sich ihre Protagonisten auch im Kreise der Ordinarien61 und Strafverteidiger62 finden. Sie widerspricht auch dem das Strafrecht in besonderem Maße prägenden Beschleunigungsgrundsatz, wie er nicht nur in Art. 6 Abs. 1 EMRK, sondern insbesondere in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 EMRK ausdrücklich normiert ist. Dem wird zwar immer wieder entgegengehalten, dass eine Aussetzung lediglich im Interesse des Angeklagten liege, weshalb er nicht gegen seinen Willen mit einem „schnellen Prozess“ überzogen werden könne63. Diese Argumentation übersieht jedoch, dass die beschleunigte Durchführung des Verfahrens nur sehr eingeschränkt zur Disposition des Angeklagten steht. Das Beschleunigungsgebot dient zwar in erster Linie dem Schutz des Betroffenen, ist aber zugleich auch Garant des Anspruchs der Allgemeinheit auf schuldangemessene Strafen64. Liegt zwischen der Tat und ihrer Aburteilung ein zu langer Zeitraum, ist für die an sich gebotene Reaktion des Staates auf das begangene Unrecht kein Raum mehr65. Die besondere Aussetzungsmöglichkeit des § 396 AO ist darum nicht etwa Ausdruck eines vom Gesetzgeber gewollten Rangverhältnisses, nach dem die Aussetzung in Steuerstrafsachen zum Regelfall werden soll. Dagegen spricht auch schon die Genese der heute geltenden Fassung, die jeden Vorrang beseitigen wollte. Die Vorschrift behält neben der allgemeinen Aussetzungsnorm des § 262 StPO auch so ihren Mehrwert, denn bei einer Aussetzung nach § 396 AO ist anders als sonst die strafrechtliche Verjährung gehemmt. Wo sie sich anbietet, etwa weil eine bislang ungeklärte steuerrechtliche Rechtsfrage entscheidungserheblich ist, das Besteuerungsverfahren bei den Finanzgerichten bereits anhängig ist und die Tat nicht allzu lange zurückliegt, ist sie ein probates Mittel, einen Gleichlauf der rechtlichen Beurteilung zu erreichen66. Ihr größeres Gewicht zuzubilligen, als der allgemeinen Aussetzungsmöglichkeit des
__________ 60 Ebenso Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 396 AO Rz. 14. 61 Kohlmann, Lerche, Kirchhof, Bernsmann, Reiß. 62 Weidemann, Felix, Heuer. Den Versuch insbesondere von Strafverteidigern, mit der Forderung nach dem Primat der Finanzgerichtsbarkeit im Interesse ihrer Mandanten einer weniger strengen Betrachtung den Weg zu ebnen, vermutet auch Rößler, DStZ 1990, 514. 63 Bernsmann in FS Kohlmann (Fn. 5), S. 377 (381), Röckl (Fn. 11), S. 331; Lerche in FS v. Wallis (Fn. 21), S. 465 (469 ff.); abgeschwächt auch Schauf in Kohlmann (Fn. 7), § 396 AO Rz. 20. 64 Die Pflicht des Staates zum Erhalt einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege betont etwa Landau, NStZ 2007, 121 ff. 65 Vgl. Wenzel, Das Verhältnis von Steuerstrafrecht und Besteuerungsverfahren, 2003, S. 275; Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 396 AO Rz. 18 mit Beispielen. Hinzu kommt die durch Zeitablauf häufig abnehmende Qualität der Beweismittel, Hellmann a. a. O. Rz. 75. 66 Weil die Tatzeit schon lange zurücklag (1992), hat das BayObLG im Verfahren 4 St RR 8/2004 von einer Aussetzung abgesehen, obwohl die finanzgerichtliche Revision bereits beim BFH anhängig war, Beschluss v. 3.3.2004, BayObLGSt 2004, 21. In der Sache bestand freilich Einigkeit, dass die Bereitschaft, mit privaten Beziehungen bei geschäftlichen Transaktionen behilflich zu sein, als steuerbare Leistung gemäß § 22 Nr. 3 EStG anzusehen ist, vgl. BFH v. 20.4.2004 – IX R 39/01, BFHE 206, 105, der allerdings auf das strafrechtliche Revisionsurteil nicht eingeht.
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§ 262 StPO, wäre jedoch systemfremd67 und ist, wie die empirischen Betrachtungen gezeigt haben, auch nicht veranlasst. Es bleibt darum dabei, dass die Strafgerichte im Rahmen ihrer Vorfragenkompetenz in gleichem Maße zur Beurteilung steuerlicher Rechtsfragen berufen sind, wie die Finanzgerichte. Besteht eine gefestigte Rechtsprechung insbesondere des Bundesfinanzhofs, wird diese von den Strafgerichten regelmäßig beachtet68. Wo sie jedoch fehlt, sind die Strafgerichte nicht nur befugt, sondern nach Maßgabe der für sie geltenden Verfahrensgrundsätze sogar verpflichtet, die steuerrechtliche Vorfrage selbständig zu entscheiden69. Das mag für den Bundesfinanzhof nicht immer bequem sein, der sich mit einer vom Bundesgerichtshof begründeten obergerichtlichen Rechtsprechung konfrontiert sehen kann, die er selbst so vielleicht nicht teilen würde. Sich wie im Fall der rechtlichen Einordnung einer Schwarzlohnabrede als Brutto- oder Nettolohnvereinbarung über die gefestigte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs einfach hinwegzusetzen70, wird dem gleichberechtigten Nebeneinander der obersten Bundesgerichte jedoch nicht gerecht71. Zur Lösung solcher Fälle hat der Gesetzgeber keinen Rangrücktritt des einen hinter den anderen vorgesehen, sondern die Anrufung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes72. 2. Von Fällen der im System angelegten und praktisch außerordentlich selten auftretenden Divergenz in bis dahin ungeklärten, schwierigen Rechtsfragen sind diejenigen Fälle zu trennen, in denen schlichte Fehler bei der Rechtsanwendung zu unbefriedigenden Ergebnissen führen. Das Steuerrecht ist eine spezielle und auch in den Teilbereichen, die die Hinterziehungsfälle dominieren, eine ausgesprochen komplexe Materie, die dem Strafjuristen häufig wenig geläufig ist.
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67 Ebenso Wenzel, Das Verhältnis von Steuerstrafrecht und Besteuerungsverfahren, 2003, S. 276; Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 396 AO Rz. 19. Dumke in Schwarz, § 396 AO Rz. 17a, fordert sogar, dass die Verfahrensaussetzung im Hinblick auf die verjährungshemmende Wirkung eine Ausnahmeerscheinung bleiben sollte. 68 Jedenfalls solange die Beantwortung der Rechtsfrage in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte fällt. Anders kann es aussehen, wenn die Entscheidung von einer Auslegungsentscheidung des EuGH abhängt, siehe oben III. 2. c). Mit einer wie auch immer gearteten Bindungswirkung hat eine solche Rechtsprechungsübernahme indessen nichts zu tun, vgl. auch Gast-de Haan, DStZ 1983, 254. 69 Ebenso Rößler, DStZ 1990, 514. 70 BFH v. 21.2.1992 – VI R 41/88, BFHE 166, 558, gegen BGH v. 24.9.1986 – 3 StR 336/86, BGHSt 34, 166. Die Begründung, mit der der BFH von einer – im Gesetz allerdings nicht vorgesehenen – Anfrage beim BGH absah, weil es jenem nämlich auf die Höhe der hinterzogenen Steuern angekommen wäre, während es hier um den Entstehungszeitpunkt gehe, über den der BGH nicht entschieden habe, überzeugt nicht; für beide Fragen ist der Charakter der Schwarzgeldabrede als Netto- oder Bruttolohnvereinbarung gleichermaßen entscheidend. Zur Vermeidung von Weiterungen hat sich der BGH dem BFH angeschlossen, Urteil v. 13.5.1992 – 5 StR 38/92, BGHSt 38, 285. 71 Bedenklich auch BFH v. 29. Juli 2009 – XI B 24/09, DStR 2009, 1693, Rz. 39, 44, der trotz einer Entscheidung des BGH davon ausgeht, dass die Rechtsfrage „höchstrichterlich noch nicht entschieden“ sei. 72 Diesen Mechanismus übersehen Bernsmann in FS Kohlmann (Fn. 5), S. 377 ff., oder Röckl (Fn. 11), S. 332 f.
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Ebenso wie in anderen Spezialgebieten kann die Lösung dieses Problems jedoch nicht darin bestehen, der Strafgerichtsbarkeit die Befugnis zur Entscheidung über derartige Fragestellungen zu entziehen. Qualität ist wie überall sonst eine Folge von Qualifikation und hier sollten Verbesserungen des Istzustandes ansetzen. Die Einrichtung von speziellen Wirtschaftsstrafkammern durch § 74c GVG ist ein erster Schritt, sie mit geeigneten Kräften zu besetzen und die Kompetenzen im Ermittlungsbereich gemäß § 143 Abs. 4 GVG in Schwerpunktstaatsanwaltschaften zu bündeln, der daraus folgende Auftrag an die Landesjustizverwaltungen. Entscheidende Verbesserungen aber verspricht die Intensivierung und Erweiterung des informellen fachlichen Austauschs zwischen Straf- und Finanzgerichtsbarkeit, von dem beide Seiten nur profitieren können73. Solange gemeinsame Kammern bei den Landgerichten nach dem Vorbild der Baulandsachen nicht bestehen, in denen ein mitwirkender Finanzrichter die Richterbank bei unter § 74c Abs. 1 Nr. 3 GVG fallenden Straftaten verstärkt74, versprechen regelmäßige Fortbildung und gegenseitige Unterrichtung über die jeweils aktuelle Rechtsentwicklung den größten Ertrag75. Auf der Ebene der Bundesgerichte legt schon der mit der Anrufung des Gemeinsamen Senates der Obersten Gerichtshöfe des Bundes verbundene horror pleni die informelle Kooperation nahe, wie sie zwischen dem Bundesfinanzhof und dem für Steuerstrafsachen zuständigen Senat des Bundesgerichtshofs im Übrigen seit längerem und mit gutem Erfolg gepflegt wird.
__________ 73 Auch die Finanzgerichtsbarkeit ist etwa bei der Überprüfung von Haftungsbescheiden zu eigenständiger Prüfung strafrechtlicher Vorfragen aufgerufen. 74 Umgekehrt den Finanzgerichten die Zuständigkeit für die Entscheidung von Steuerstrafsachen zu übertragen, wie es gelegentlich gefordert wird, würde mehr Probleme schaffen als lösen. Der souveräne Umgang mit dem strafprozessualen Handwerkszeug, wie er in den häufig von Konfliktverteidigung geprägten Wirtschaftsstrafsachen dringend erforderlich ist, dürfte den Finanzrichtern ebenso fern liegen wie die spezifisch strafrechtlichen Fragen der Strafzumessung. Im Übrigen treffen Steuerstrafsachen häufig mit anderen Straftaten zusammen, so dass Abgrenzungsschwierigkeiten vorprogrammiert wären; die parallele Zuständigkeit von Finanz- und Strafgerichten provozierte zudem Fälle von Strafklageverbrauch. Welches Bundesgericht soll über die Revisionen entscheiden? Soll das Finanzgericht dann auch Strafvollstreckungskammer sein? Steuerstrafrecht ist in erster Linie Strafrecht und erfordert lediglich bei der Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit und des Schuldumfangs eine Beschäftigung mit dem Steuerrecht, weshalb eine Ausgliederung aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit hier ebenso wenig wie in anderen Spezialgebieten des Nebenstrafrechts zweckmäßig wäre. 75 Ebenso Seibel, AO-StB 2004, 109 (111).
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Nichtanwendung von Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Möglichkeiten der Nichtanwendung 1. Nichtanwendung durch Gesetzesänderung a) Beschreibung des Problems b) Rechtliche Würdigung 2. Nichtanwendung durch BMFSchreiben a) Definition „Nichtanwendungserlass“ b) Historische Entwicklung c) Arten und Gründe der Nichtanwendung
d) Rechtliche Würdigung 3. Nichtanwendung durch unterlassene oder verzögerte Veröffentlichung im BStBl. II a) Bedeutung der Veröffentlichung b) Gefahr der Amtshaftung c) Lösung des Problems 4. Nichtanwendung durch Klaglosstellung a) Beschreibung des Problems b) Rechtliche Würdigung c) Lösungsvorschlag III. Ausblick
I. Vorbemerkung Über die jahrelange äußerst angenehme und erfolgreiche Zusammenarbeit während meiner aktiven Zeit hinaus verbindet mich mit dem Jubilar auch eine Nähe zu dem von mir gewählten Thema meines Beitrags. Wolfgang Spindler hat insbesondere während seiner Präsidentschaft immer wieder auf die Unhaltbarkeit der vom BMF geübten Praxis der Nichtanwendung von Entscheidungen des BFH hingewiesen. Er hat dies z. B. im Jahre 2007 sehr fundiert in dem Fachbeitrag „Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht“ getan1. Weiter hat er sich in den jährlichen Pressekonferenzen im BFH und in etlichen Interviews geäußert. Er hat das Gespräch mit hochrangigen Angehörigen des BMF gesucht und in jüngerer Zeit sogar Fakten für eine Kleine Anfrage im Deutschen Bundestag2 beigesteuert3. Jüngst – bezogen auf die Beendigung meines Manuskripts – begegnete „sein“ IX. Senat einem sog. Nichtanwendungserlass mit der Zurückweisung einer Nichtzulassungsbeschwerde als unbegründet, da die betreffende Rechtsfrage (kein Halbabzugsgebot bei Auflösungsverlust) bereits zuvor hinreichend geklärt gewesen sei4.
__________ 1 Spindler, DStR 2007, 1061. 2 BT-Drucks. 16/13517. 3 Siehe hierzu z. B. Handelsblatt (Beilage) v. 28.5.2009, S. b 05, und Welt am Sonntag v. 5.7.2009, S. 37. 4 BFH, Beschluss v. 18.3.2010 – IX B 227/09, BFHE 229, 177, BStBl. II 2010, 627 [BFH/NV 2010, 1022]; siehe auch NWB 2010 (Nr. 15), 1122 u. (Nr. 17), 1305.
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Ich selbst war bereits im Jahre 1978 als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BFH mit dem Thema befasst. Meine Aufgabe bestand damals darin, Fakten und Zahlen für eine Besprechung zwischen hochrangigen Vertretern der Finanzverwaltung und des BFH betreffend „die Nichtanwendung von Entscheidungen des BFH durch die Finanzverwaltung und damit zusammenhängende Fragen“ zu sammeln. Weiter durfte ich an den vorbereitenden Gesprächen auf BFHSeite und an der endgültigen Besprechung beider „Kontrahenten“ am 30.10. 1978 teilnehmen sowie jeweils ein Protokoll erstellen5. Interessant am Rande ist vielleicht, dass bei jenem Treffen Ende 1978 – damals auf Verwaltungsseite – auch ein Ministerialdirigent Dr. Spindler vom Finanzministerium NordrheinWestfalen, der Vater des Jubilars, mit von der Partie war.
II. Möglichkeiten der Nichtanwendung Hier ging es bis vor wenigen Jahren um drei6 Instrumente, mit denen die Finanzverwaltung „missliebigen“ Entscheidungen des BFH flächendeckend ihre Wirkung nahm oder deren Eintritt wenigstens merklich verzögerte. Es waren dies – und sind es (neben einer vierten Variante) noch – die Gesetzesänderung, der sog. Nichtanwendungserlass und die unterlassene oder zeitlich hinausgeschobene Veröffentlichung im BStBl. II. Spätestens seit 2005 ist eine weitere Vorgehensweise festzustellen, die neue Fragen aufwirft. Es handelt sich um die Klaglosstellung von Steuerpflichtigen in einem bereits weit fortgeschrittenen Verfahrensstadium; insbesondere nach Ergehen eines Gerichtsbescheides gemäß § 90a FGO. Hier beantragt das Finanzamt mündliche Verhandlung und erlässt anschließend oder gleichzeitig einen dem Klagebegehren entsprechenden Änderungsbescheid, was zur Erledigung der Hauptsache und – insbes. aber auch – zum Wegfall der vorangegangenen Entscheidung des BFH, eben des Gerichtsbescheides, führt. 1. Nichtanwendung durch Gesetzesänderung Das gründlichste, weil eine endgültige Regelung enthaltende Instrument, einer BFH-Entscheidung die Wirkung für die Zukunft zu nehmen, ist die Änderung der Steuerrechtsnorm, die der betreffenden Entscheidung zugrunde lag. a) Beschreibung des Problems Dieser Weg der Nichtanwendung wird gar nicht so selten beschritten; nach einer von Pezzer7 zitierten Recherche der Dokumentationsabteilung des BFH soll dies in der Zeit von 1990 bis Anfang 2004 60 mal der Fall gewesen sein. Bis Anfang 2010 sind sicher einige weitere solcher Nichtanwendungen hinzugekommen. Ein ausdrücklicher Hinweis auf entsprechende Vorhaben findet
__________ 5 Zum damaligen Ergebnis siehe später, unter II. 2. b). 6 So noch Pezzer, DStR 2004, 525 (526). 7 Pezzer, DStR 2004, 525 (526).
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sich in der Zeit von Anfang 2004 bis Anfang 2010 allerdings nur in 3 sog. Nichtanwendungserlassen8. In der Regel reagiert hier der Gesetzgeber auf die Aufgabe einer langjährigen höchstrichterlichen Rechtsprechung. Motive sind dabei insbes. die Vermeidung von Komplizierungen bei Anwendung der neuen Rechtsprechung, die Furcht vor erheblichen Steuerausfällen, aber auch das Bestreben, rechtsdogmatisch zweifelhafte Entscheidungen zu korrigieren. Ein Beispiel für die erstgenannte Variante ist die Einfügung des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG durch das StÄndG 2003. Damit reagierte der Gesetzgeber auf die Änderung der Rechtsprechung zum sog. anschaffungsnahen Aufwand durch zwei BFH-Urteile v. 12.9.20019. Leider ist die hehre Absicht nicht ganz in Erfüllung gegangen; es blieben alte und entstanden neue Komplizierungen10. Als Beispiel für eine gelungene Reaktion auf eine Rechtsprechungsänderung sei hier insbesondere die Einfügung des § 4 Abs. 5 Nr. 8 EStG durch das Gesetz zur Änderung des EStG und des KStG v. 25.7.1984 hervorgehoben. Mit dieser Vorschrift wurde das kurz zuvor vom Großen Senat des BFH in zwei Beschlüssen11 – entgegen jahrzehntelanger Übung – aufgegebene Abzugsverbot für Geldbußen – sogar rückwirkend – wieder hergestellt und gesetzlich verankert. Hier hatte der BFH – viel kritisiert12 – den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung verletzt. Es war nicht hinnehmbar, dass vom Bußgeldrecht gewollte wirtschaftliche Belastungen durch das Steuerrecht (hier: Abziehbarkeit als Betriebsausgaben) abgemildert würden13. Häufiger sind aber Gesetzesänderungen aus fiskalischen Erwägungen; wenn nämlich die Auffassung des BFH künftig erhebliche Steuerausfälle nach sich ziehen würde. Hier sei z. B. hingewiesen auf ein Urteil des BFH vom Herbst 200314, wonach auch vorausgezahlte Erbbauzinsen sofort als Werbungskosten abziehbar sein sollten. Darauf hat der Gesetzgeber mit dem EURLUmsG v. 9.12.2004 § 11 Abs. 2 EStG neu geregelt. Nach seinem neuen Satz 3 sind vorausgezahlte Nutzungsentgelte grundsätzlich nur noch dann sofort abziehbar, wenn sie nicht für einen längeren Zeitraum als fünf Jahre vorausgezahlt wurden. Aus jüngerer Zeit sei noch auf die – allerdings problematische – „Beseitigung“ der Auswirkungen der BFH-Rechtsprechung zu sog. vorgezogenen Einlagen im Zusammenhang mit § 15a Abs. 4 EStG hingewiesen. Dieser Rechtsprechung15, wonach im Einlagejahr nicht verbrauchte Einlagen auch noch in späteren Wirtschaftsjahren, die (wieder) mit Verlusten und erneut ent-
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8 Siehe zuletzt BMF-Schreiben v. 20.5.2009 – IV C 6 – S 2134/07/10005, BStBl. I 2009, 671, und v. 7.1.2010 – IV C 3 – S 2411/07/10013, BStBl. I 2010, 44. 9 BFH-Urteile v. 12.9.2001 – IX R 39/97, BFHE 198, 74, BStBl. II 2003, 569, und IX R 52/00, BFHE 198, 85, BStBl. II 2003, 574. 10 Siehe hierzu die überzeugende Darstellung von Pezzer, DStR 2004, 525 (527 f.). 11 BFH-Beschlüsse v. 22.11.1983 – GrS 2/82, BFHE 140, 50, BStBl. II 1984, 160, und GrS 3/82, BFHE 140, 62, BStBl. II 1984, 166. 12 Siehe u. a. auch meine Ausführungen in NJW 1984, 2073 (2074, unter IV. 1. a). 13 Vgl. auch Pezzer, DStR 2004, 525 (528). 14 BFH-Urteil v. 23.9.2003 – IX R 65/02, BFHE 203, 355, BStBl. II 2005, 159. 15 Zuletzt BFH-Urteil v. 26.6.2007 – IV R 28/06, BFHE 218, 285, BStBl. II 2007, 934.
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standenen oder erhöhten negativen Kapitalkonten geendet hatten, die Ausgleichsfähigkeit dieser Verluste vermitteln konnten, hat der Gesetzgeber mit der Einfügung des § 15a Abs. 1a Satz 1 Halbsatz 2 EStG durch das JStG 2009 weitgehend den Boden entzogen. Kollege Wacker hält diese Vorschrift wegen Verstoßes gegen das Gebot der Folgerichtigkeit sogar für verfassungswidrig16. b) Rechtliche Würdigung Ungeachtet einzelner missglückter sog. Nichtanwendungsgesetze soll hier nach deren genereller Zulässigkeit gefragt werden. Dabei geht es meiner Auffassung nach weniger um ein Spannungsverhältnis zwischen BFH und Gesetzgeber17. Insoweit sehe ich nichts, was Letzteren hindern könnte, auch einer gefestigten Rechtsprechung durch ein – im Übrigen verfassungsmäßiges – Gesetz die Wirkung für die Zukunft zu entziehen. Viel eher scheint hier das Gewaltenteilungsprinzip im Hinblick auf die erste und die zweite Gewalt, im Hinblick auf den Steuergesetzgeber und die Finanzverwaltung in Gefahr. Der Jubilar hat diese „Vereinnahmung“ des Gesetzgebers durch die Verwaltung in dem – bereits erwähnten – Fachbeitrag aus dem Jahre 200718 sehr anschaulich dargestellt. Dabei geht es aber nicht nur um Aussagen von Vertretern des BMF, dass „wir“ im Falle des Unterliegens beim BFH „das Gesetz ändern“ müssten, und die allgemein bekannte Überforderung vieler Mitglieder des Bundestages angesichts der Komplexität der steuerlichen Gesetzgebung. Problematisch wird es hier vor allem, wenn das BMF sog. Nichtanwendungserlasse herausgibt, um Zeit für eine Gesetzesänderung zu gewinnen19. 2. Nichtanwendung durch BMF-Schreiben Das am häufigsten gebrauchte Instrument, BFH-Entscheidungen die Wirkung über den zugrunde liegenden Einzelfall hinaus zu versagen, ist der sog. Nichtanwendungserlass. a) Definition „Nichtanwendungserlass“ Die sog. Nichtanwendungserlasse ergehen in der Regel als Schreiben des BMF, in denen dieser – nach Erörterung mit den obersten Finanzbehörden der Länder –
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16 Wacker in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 15a EStG Rz. 184. 17 So wohl noch Wieland, DStR 2004, 1 (5), mit weiteren Hinweisen, wovon der auf Leisner, DStZ 1981, 375 (387), nicht zutrifft; soweit ersichtlich, hat Leisner in der betreffenden Abhandlung dieses Thema gar nicht angesprochen. 18 Spindler, DStR 2007, 1061 (1062). 19 So z. B. mit BMF-Schreiben v. 18.5.2005 – IV B 2 – S 2241– 34/05, BStBl. I 2005, 698, betreffend das BFH-Urteil v. 6.10.2004 – IX R 53/01, BFHE 207, 466, BStBl. II 2005, 383, zur Abfärberegelung in § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG, oder aus jüngerer Zeit mit BMFSchreiben v. 7.1.2010 – IV C 3 – S 2411/07/10013, BStBl. I 2010, 44, betreffend das BFH-Urteil v. 27.5.2009 – I R 86/07, BFHE 225, 126, BStBl. II 2010, 120, zur Steuerbarkeit von Transferzahlungen an ausländische Fußballvereine.
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die nachgeordneten Behörden anweist, ein bestimmtes BFH-Urteil „über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht allgemein anzuwenden“20. Ihrer rechtlichen Qualität nach handelt es sich dabei um Weisungen i. S. v. Art. 85 Abs. 3 i. V. m. Art. 108 Abs. 3 Satz 2 GG21. b) Historische Entwicklung Aus RFH-Zeiten sind keine Anweisungen bekannt, einer bestimmten Entscheidung allgemein nicht zu folgen22. Das gilt insbes. auch für die NS-Zeit, obwohl – oder gerade weil? – der RFH damals „der Gehilfe des Reichsministers der Finanzen bei der Auslegung der Steuergesetze und bei der Entwicklung des Steuerrechts nach den Grundsätzen der nationalsozialistischen Weltanschauung zu sein“ hatte23. Nach 1949 ging dann der BdF systematisch und mit einer gewissen Regelmäßigkeit dazu über, die nachgeordneten Finanzbehörden anzuweisen, ein bestimmtes Urteil des BFH (bis 30.6.1950 OFH) in anderen gleichgelagerten Fällen nicht (über den entschiedenen Fall hinaus) anzuwenden24. Dies führte bereits im Jahre 1955 zur ersten großen Diskussion zwischen Vertretern des BFH und des BdF, die in einer Art „Gentlemen’s Agreement“ mündete25. Bedeutsam war dabei vor allem die Zusage des BdF, in Fällen der Nichtanwendung die nachgeordneten Verwaltungsstellen anzuweisen, Besteuerungsfragen, deren Entscheidung von der strittigen Rechtsfrage abhängt, bis zu einer erneuten Entscheidung des BFH zurückzustellen. Gerade dieser Punkt erwies sich im Laufe der Zeit in der praktischen Anwendung als sehr problematisch; nicht zuletzt auch deswegen, weil die „erneuten“ Entscheidungen des BFH wegen dessen Überlastung immer länger auf sich warten ließen. So kam es am 30.10.1978 zu einer erneuten, der bereits eingangs meiner Ausführungen erwähnten, Besprechung zwischen hochrangigen Vertretern der Finanzverwaltung des Bundes und einzelner Länder sowie des BFH. Ausgehend von der – damals übereinstimmenden – Erwägung, dass der Verwaltung grundsätzlich das Recht zustehe, Entscheidungen des BFH über den entschiedenen Fall hinaus nicht anzuwenden, sicherte die Verwaltungsseite insbes. zu, von dem Instrument der Nichtanwendungsverfügung nur in
__________ 20 Vgl. aus jüngerer Zeit BMF-Schreiben v. 7.1.2010 (Fn. 19), und v. 15.2.2010 – IV C 6 – S 2244/09/10002, BStBl. I 2010, 181, betreffend das BFH-Urteil v. 25.6.2009 – IX R 42/08, BFHE 225, 445, BStBl. II 2010, 220, zur Nichtanwendung des Halbabzugsverbots bei Auflösungsverlust (siehe insoweit auch Fn. 4). 21 So z. B. auch Wieland, DStR 2004, 1 (5). 22 Vgl. auch Pezzer, DStR 2004, 525 (528). 23 So der seinerzeitige Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, Fritz Reinhardt, in seiner Rede vom 13. April 1935 zur Einführung von Ludwig Mirre als Präsident des RFH, RStBl 1935, 641 (648). 24 Vgl. etwa Leisner, DStZ 1981, 375; auch Spindler, DStR 2007, 1061. 25 Abgedruckt in BB 1956, 230; wiedergegeben u. a. von Jakob/Jüptner, StuW 1984, 148 (150).
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äußerst begrenztem Umfang Gebrauch zu machen26; weiter, künftig – schon aus Gründen der Rechtssicherheit – sämtliche Nichtanwendungsverfügungen im BStBl. I zu veröffentlichen und ggf. schon beim Abdruck der betreffenden Entscheidung im BStBl. II in einer Fußnote anzugeben, dass wegen ihrer Anwendung noch eine gesonderte Weisung ergehen werde. Die letztgenannte Zusicherung wurde dann auch schon – wohl bereits vor der o. g. Zusammenkunft geplant – im Heft Nr. 20 des BStBl. II v. 31.10.1978 in die Tat umgesetzt27. In der Folgezeit wird – nach anfänglichen „Rückfällen“28 – bis zum heutigen Tag im BStBl. II im Anschluss an den betreffenden Leitsatz per Fußnote sogar auf die betreffenden, bereits ausformulierten BdF- und (später) BMF-Schreiben (im BStBl. I) hingewiesen29. Diese Praxis hatte offensichtlich über viele Jahre hin eine „befriedende“ Wirkung. Erst seit Anfang der 2000er Jahre ist das Thema wieder stärker in den Vordergrund getreten. Die Diskussion begann mit Beiträgen in der Fachliteratur30. Es gab in den Jahren 2004 und 2009 sogar parlamentarische Anfragen im Deutschen Bundestag31. Die Anfrage im Jahre 200932 umfasste insgesamt 17 Fragen. Dabei stand die mögliche Unvereinbarkeit der Nichtanwendung von BFH-Urteilen (durch sog. Nichtanwendungserlasse, durch Nichtveröffentlichung im BStBl. II und durch Klaglosstellung) mit dem Grundgesetz im Vordergrund; gefragt war aber z. B. auch nach der Häufigkeit der sog. Nichtanwendungserlasse. Hier hatte es bereits im Vorfeld der Anfrage einen Streit um Zahlen gegeben33. Die Bundesregierung war allerdings auch in ihrer Antwort v. 7.7.200934 nicht bereit, die schließlich vom BFH (für die laufende Legislaturperiode) auf 31 korrigierte35 Anzahl der Nichtanwendungserlasse zu akzeptie-
__________ 26 Für die Jahre 1979 und 1980 habe ich in der Tat nur drei „totale“ Nichtanwendungsverfügungen – ohne zeitliche Begrenzung oder Übergangsregelung – im BStBl. I gefunden. 27 Zum Leitsatz des BFH-Urteils v. 17.5.1978 – I R 50/77, das sich mit dem Verhältnis ESt-Bescheid/gesonderter Feststellungsbescheid befasste, ist im BStBl. II 1978, 579 vermerkt: „Zur Anwendung des Urteils werden noch Verwaltungsanweisungen ergehen.“ 28 So schon BdF-Schreiben v. 21.12.1978 – IV B 2 – S 2242 – 6/78, BStBl. I 1979, 116, zum BFH-Urteil v. 14.2.1978 – VIII R 158/73, BFHE 124, 447, BStBl. II 1979, 99 (ohne entsprechenden Hinweis). 29 Erstmals – soweit ersichtlich – zum BFH-Urteil v. 17.5.1979 – V R 112/74, BFHE 128, 115, BStBl. II 1979, 657, mit Hinweis auf das BdF-Schreiben v. 15.10.1979 – IV A 1 – S 7284 – 5/79, BStBl. I 1979, 623. 30 Zu nennen sind u. a. Voß, DStR 2003, 441; Wieland, DStR 2004, 1; Pezzer, DStR 2004, 525, und insbes. Spindler, DStR 2007, 1061. 31 Zur Anfrage im Jahre 2004 siehe die Kleine Anfrage der Abgeordneten Solms u. a., BT-Drucks. 15/4549, sowie Lange, DB 2005, 354 (auch zur Antwort der Bundesregierung, BT-Drucks. 15/4614). 32 Kleine Anfrage der Abgeordneten Schäffler u. a. v. 17.6.2009, BT-Drucks. 16/13517. 33 So Handelsblatt (Beilage) v. 28.5.2009, S. b 05; vgl. auch Wirtschaftswoche v. 30.5. 2009, S. 26. 34 BT-Drucks. 16/13759, S. 1. 35 Beim BFH waren 20 Entscheidungen, die nach mehr als einem Jahr noch nicht zur allgemeinen Anwendung freigegeben worden waren, jenen gleichgestellt worden, zu denen es ein förmliches Nichtanwendungsschreiben gab.
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ren. Im Übrigen hielt die Bundesregierung die vom BMF geübte Praxis der Nichtanwendung für verfassungskonform; die Verwaltung sei aufgrund des Art. 20 Abs. 3 GG zur eigenverantwortlichen Prüfung der BFH-Entscheidungen nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet36. Vor dieser letzten Auseinandersetzung zwischen zweiter und dritter Gewalt hatte bereits am 17. Juni 2008 im BFH ein Gespräch von hochrangigen Vertretern des BMF mit dem Präsidenten und weiteren Mitgliedern des BFH stattgefunden. Tagesordnungspunkt war auch die Nichtanwendung von Entscheidungen des Gerichts gewesen. Es gab über dieses Treffen, an dem ich selbst nicht mehr teilgenommen hatte, keine Pressemitteilung; doch dürfte sich das hier interessierende Ergebnis unschwer aus der späteren, oben dargestellten Antwort der Bundesregierung auf die Kleine (parlamentarische) Anfrage v. 17.6. 2009 ableiten lassen. c) Arten und Gründe der Nichtanwendung Bekannt sind Nichtanwendungsschreiben nicht nur zulasten, sondern auch zugunsten der Steuerpflichtigen. Mögen die Relationen früher anders gewesen sein37, so wirken sich in jüngerer Zeit doch die meisten Nichtanwendungen für die Steuerpflichtigen belastend aus. In der Legislaturperiode 2005/2009 waren dies (nach einer Recherche der Abteilung Dokumentation und Information des BFH) 28 von insgesamt 32 entsprechenden BMF-Schreiben. Unterscheiden lassen sich die Nichtanwendungsschreiben auch nach dem mit ihnen beabsichtigten Zweck. So nennt die Bundesregierung in der Vorbemerkung zu ihrer Antwort auf die parlamentarische Anfrage vom Sommer 2009 als Ziel eines „Nichtanwendungserlasses“ – bemerkenswerterweise allein –, „dem BFH Gelegenheit zu geben, seine Rechtsauffassung in einem anderen geeigneten Verfahren zu überprüfen“38. Kurz zuvor hatte das BMF eine Nichtanwendung jedoch auch noch zum Zwecke der Gesetzesänderung verfügt39. d) Rechtliche Würdigung Da es keine einfachgesetzliche Regelung gibt, die die Finanzverwaltung über den entschiedenen Einzelfall hinaus binden würde, geht es hier um die Prüfung verfassungsrechtlicher Fragen.
__________ 36 Vgl. BT-Drucks. 16/13759, S. 1. 37 Nach Angaben des BdF aus dem Jahre 1981 (DStR 1981, 93/94) sollen damals – immerhin – „mehr als ein Drittel“ der Nichtanwendungserlasse zugunsten der Steuerpflichtigen gewirkt haben. 38 BT-Drucks. 16/13759. 39 BMF-Schreiben v. 7.1.2010 zum BFH-Urteil v. 25.5.2009, zur Steuerbarkeit von Transferzahlungen an ausländische Fußballvereine (Fn. 19).
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aa) Bisherige Beurteilungen Die Meinungen haben eine große Spannweite; sie reichen von einer strikten Bindung der Verwaltung an die Entscheidungen des BFH über eine Bindung nur an eine ständige Rechtsprechung bis hin zur Ablehnung jeglicher Bindungswirkung40. (1) Der BFH selbst hat sich in eigenen Entscheidungen – soweit ersichtlich – praktisch nur in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit der Thematik befasst; seine Aussagen aus dieser Zeit sind uneinheitlich, lassen zum Schluss aber eher deutliche Zurückhaltung gegenüber einer Bindung erkennen41. Macht man insoweit eine Äußerung im Beschluss des Großen Senats zur „Vererblichkeit“ des Verlustabzugs nach § 10d EStG v. 17.12.200742 nutzbar, gilt dies auch heute noch. Es heißt dort unter Abschnitt D. IV. Nr. 2 b) dd): „Zwar erzeugen höchstrichterliche Entscheidungen keine dem Gesetzesrecht vergleichbaren Rechtsbindungen. Sie stellen lediglich die Rechtslage in einem konkreten Fall fest.“ Von einer grundsätzlich fehlenden Bindung gingen übrigens auch die Vertreter des BFH bei der bereits erwähnten Besprechung mit hochrangigen Vertretern der Finanzverwaltung am 30.10.1978 aus. Sie waren der Auffassung, der BdF handele mit den Nichtanwendungsschreiben nicht illegal; das Vorgehen sei aber – vor allem im Hinblick auf das Prinzip der Gewaltenteilung allgemein und die Stärkung der Bedeutung höchstrichterlicher Rechtsprechung in jüngerer Zeit (insbes. durch die Rechtsprechung des BVerfG zur Rechtsfortbildungsaufgabe der obersten Bundesgerichte und die Entwicklung hin zur Grundsatzrevision) – oft „illegitim“. Es müsse der Grundsatz der „vorsichtigen“ Handhabung der Nichtanwendung gelten. (2) Die Finanzverwaltung hat für sich über die Jahre stets das Recht reklamiert, vom BFH zur amtlichen Veröffentlichung (in BFHE) bestimmte Entscheidungen darauf zu überprüfen, ob sie von den Finanzämtern „im Interesse der Rechtssicherheit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung“ über den entschiedenen Einzelfall hinaus angewandt werden können. Zu dieser eigenverantwortlichen Prüfung sei die Verwaltung aufgrund des Art. 20 Abs. 3 GG berechtigt und verpflichtet43. Ungeachtet dessen seien die Steuerpflichtigen auch nach Ergehen eines „Nichtanwendungserlasses“ nicht wehrlos. Solche „Erlasse“ würden als Verwaltungsanweisungen nur die nachgeordneten Finanzbehörden, nicht aber die Steuerpflichtigen, die Finanzgerichte oder den BFH binden. Jeder Steuerpflichtige könne einen Verwaltungsakt, in dem ein „Nichtanwendungs-
__________ 40 Siehe hierzu die Nachweise bei Spindler, DStR 2007, 1061 (1063). 41 Siehe hierzu näher Leisner, DStZ 1981, 375 (376), und Jakob/Jüptner, StuW 1984, 148 (150 f.). 42 BFH-Beschluss v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BFHE 220, 129, BStBl. II 2008, 608. 43 So zuletzt in der Antwort der Bundesregierung v. 7.7.2009 auf die Kleine Anfrage der FDP v. 17.6.2009, BT-Drucks. 16/13759.
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erlass“ zu seinen Lasten berücksichtigt werde, mit Einspruch und Klage anfechten44. (3) Im Schrifttum hat sich in jüngerer Zeit eine – zwischen der Annahme einer strikten Bindung und der Ablehnung jeglicher Bindung der Verwaltung – vermittelnde Meinung herausgebildet. So hält etwa Pezzer45 einen Nichtanwendungserlass nur dann (wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG) für verfassungswidrig, wenn es ihm an einem sachlichen Rechtfertigungsgrund mangelt. Wieland46 geht von einer Bindung der Finanzverwaltung aus, wenn es sich um vom BFH geschaffenes Richterrecht handelt. Spindler47, der hier zu Ehrende, sieht den maßgeblichen Ansatzpunkt im Gewaltenteilungsprinzip des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. Aus der dort normierten Loyalitätspflicht folge für die Finanzverwaltung das grundsätzliche Gebot, rechtskräftige Entscheidungen des BFH auch auf Parallelfälle anzuwenden. Allerdings stehe Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG in einem Spannungsverhältnis zu der sich aus Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden exekutiven Eigenverantwortung der Finanzverwaltung. Diese Spannung sei in der Weise aufzulösen, dass die Finanzverwaltung eine Entscheidung des BFH (nur) dann nicht anwenden darf, wenn sie überzeugt ist, dass die betreffende Entscheidung offensichtlich rechtsfehlerhaft ist, d. h. wenn sie, die Finanzverwaltung, sie für rechtlich unvertretbar hält48. bb) Eigene Auffassung Der soeben dargestellten Auffassung von Spindler kommt zweifellos das große Verdienst zu, die in der früheren Diskussion oft unversöhnlich gegenübergestellten Prinzipien der Gewaltenteilung einerseits und der exekutiven Eigenverantwortung der Finanzverwaltung andererseits in eine Gesamtbetrachtung einbezogen zu haben. Doch halte ich das von ihm daraus abgeleitete Ergebnis – Nichtanwendung nur bei offensichtlich rechtsfehlerhaften Entscheidungen – für zu gering. Ich kann mir durchaus noch weitere Fälle vorstellen, in denen ich ein Nichtanwendungsschreiben für gerechtfertigt hielte. Insbesondere denke ich hier an die Situation, dass noch ein Parallelverfahren bei einem anderen Senat des BFH anhängig ist, aus dem möglicherweise sogar schon Äußerungen in Richtung der Auffassung der Finanzverwaltung – z. B. in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes – bekannt geworden sind. Ähnlich sehe ich die Rechtslage, wenn ein Urteil ergeht, das von Richtlinien oder einem veröffentlichten Schreiben des BMF abweicht, ohne dass dem BMF zuvor seitens des BFH Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden war.
__________ 44 Siehe auch hierzu die Antwort der Bundesregierung v. 7.7.2009, BT-Drucks. 16/13759. 45 Pezzer, DStR 2004, 525 (530). 46 Wieland, DStR 2004, 1 (5). 47 Spindler, DStR 2007, 1061 (1064). 48 So auch Seewald, Steuer Consultant 2009, 21 (22).
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Insoweit lässt sich der Gedanke der Rechtssicherheit, der sonst in erster Linie gegen die Zulässigkeit sog. Nichtanwendungserlasse geltend gemacht wird49, sicher auch für deren – ausnahmsweise – gerechtfertigtes Ergehen beanspruchen. Dies halte ich umso mehr für zulässig, wenn in dem betreffenden Nichtanwendungsschreiben auch eine entsprechende Begründung gegeben wird. Die zuvor angesprochenen „überraschenden“ Abweichungen von Richtlinien und veröffentlichten BMF-Schreiben waren übrigens auch Gegenstand des bereits mehrfach erwähnten Gedankenaustausches zwischen BFH und Spitzen der Finanzverwaltung am 30.10.1978. Die Verwaltungsseite äußerte damals den Wunsch, der BFH möge doch häufiger zum Beitritt nach § 122 FGO auffordern. Ich selbst hielt es während meiner Zeit als Vorsitzender Richter – aus Gründen der Rechtssicherheit, aber auch aus Gründen eines fairen Verfahrens – für geboten, in derartigen Fällen das BMF durch Übermittlung eines Abdrucks des betreffenden Gerichtsbescheids zu informieren; ggf. entschied der Senat trotz allseitigen Verzichts auf mündliche Verhandlung sogar (zunächst) durch Gerichtsbescheid. Die Bedeutung dieser Problematik hat jetzt offensichtlich auch das BMF (wieder-)erkannt; es hat den Finanzämtern mit Schreiben v. 12.3.201050 neuerlich51 umfassende Pflichten zur Unterrichtung über anhängige Gerichtsverfahren auferlegt. So ist das BMF z. B. schon dann zu informieren, wenn ein FG eine von Richtlinien abweichende Rechtsauffassung vertritt. cc) Fazit (1) Es gibt trotz aller Bedenken durchaus Gründe, die in Einzelfällen ein – mit einer entsprechenden Begründung versehenes – Nichtanwendungsschreiben rechtfertigen können. Setzt aber das BMF – wie es in jüngerer Zeit häufiger der Fall war52 – z. B. lediglich eine abweichende Rechtsansicht an die Stelle der des BFH, so ist dies verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Ferdinand Kirchhof sieht hier die „rechtsvereinheitlichende Funktion“ des BFH gefährdet; er warte auf den ersten Fall, der es bis an das BVerfG schaffe53. (2) Der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit verlangt – in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG – aber auch ein Umdenken der Finanzverwaltung an anderer Stelle. Ergeht ein Steuerbescheid aufgrund eines Nichtanwendungsschreibens zum Nachteil des Steuerpflichtigen, ist im Bescheid auf diesen Umstand hinzuweisen; andernfalls ist der Steuerbescheid schon aus diesem Grunde anfechtbar54.
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49 So schon Leisner, DStZ 1981, 375 (384), und Jakob/Jüptner, StuW 1984, 148 (154); siehe aber auch aus jüngster Zeit F. Kirchhof, Capital v. 1.1.2010, S. 9. 50 BMF-Schreiben v. 12.3.2010 – IV A 3 – FG 2032/09/10005, BStBl. I 2010, 244. 51 So erstmals schon mit Schreiben des BdF v. 10.7.1979 – IV A 6 – FG 2032– 19/79, BStBl. I 1979, 481, und dann wieder mit BMF-Schreiben v. 19.3.2004 – IV D 2 – FG 2032– 6/04, BStBl. I 2004, 409. 52 Siehe z. B. Spindler, DStR 2007, 1061 (1064). 53 F. Kirchhof, Capital v. 1.1.2010, S. 9. 54 So schon Jakob/Jüptner, StuW 1984, 148 (165); aber auch Pezzer, DStR 2004, 525 (531), und Spindler, DStR 2007, 1061 (1065), sowie Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 110 FGO Rz. 103.
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Unterbleibt eine Anfechtung, weil ein entsprechender Hinweis fehlt und der betreffende Steuerpflichtige unverschuldet das einschlägige Nichtanwendungsschreiben nicht kennt, so könnte dies nach Auffassung des Kollegen Wendt (sogar) zu einer Überprüfung des Nichtanwendungsschreibens durch das BVerfG führen; und zwar wie folgt: Erkennt der Steuerpflichtige später den wahren Sachverhalt, müsste er gegenüber den Amtsträgern der Verwaltung einen Amtshaftungsanspruch wegen eines infolge des – seiner Auffassung nach – fehlerhaften Bescheids eingetretenen Schadens geltend machen. Über diesen Anspruch würden dann die Zivilgerichte entscheiden. Sollte der Steuerpflichtige am Ende (z. B. vor dem BGH) unterliegen, könnte er Verfassungsbeschwerde einlegen. Meiner Auffassung nach müsste sich der Weg zum BVerfG auch steuerrechtlich erreichen lassen, und zwar über einen Antrag auf Erlass nach § 227 AO. 3. Nichtanwendung durch unterlassene oder verzögerte Veröffentlichung im BStBl. II Hier geht es um ein Instrument, das nach Recherchen von Lange55 und Pezzer56 in „erschreckend hoher Zahl“ angewendet wird. In den Jahren 1995 bis 2001 sollen insgesamt 170 Entscheidungen, die vom BFH zur amtlichen Veröffentlichung (in BFHE) bestimmt worden waren, gar nicht im BStBl. II abgedruckt worden sein. In den Jahren 2007 bis 2009 wurden mindestens 17 Entscheidungen57 – im Vergleich zur Sammlung BFHE – erst mit Verspätungen von 3 und mehr Jahren in das BStBl. II aufgenommen. a) Bedeutung der Veröffentlichung Um zu ermessen, welche Problematik diesem Phänomen innewohnt, ist auf Folgendes hinzuweisen: Da werden einerseits die bedeutenden Entscheidungen des BFH unmittelbar nach ihrer Freigabe (alsbald nach Zustellung an die Beteiligten) vom Gericht selbst im Internet veröffentlicht und sehr zeitnah in den verschiedensten Fachzeitschriften abgedruckt, oft dort auch schon zeitgleich besprochen. D. h. interessierte Bürger und Bürgerinnen sind über die neueste Rechtsprechung sehr rasch informiert. Andererseits sind die Finanzämter ganz allgemein angewiesen, grundsätzlich nur solche Entscheidungen des BFH anzuwenden, die im BStBl. (II) veröffentlicht sind. Anderweitig (z. B. in BFH/NV) veröffentlichte Entscheidungen können in gleichgelagerten Fällen (nur) herangezogen werden, soweit sie nicht im Widerspruch zu im BStBl. veröffentlichten Entscheidungen stehen58.
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55 Lange, NJW 2002, 1357 (1358). 56 Pezzer, DStR 2004, 525 (532). 57 2007 waren es nach meinen Recherchen 3, 2008 sogar 11 und 2009 wieder 3 Entscheidungen. 58 Z. B. Vorwort zum Amtlichen Einkommensteuer-Handbuch 2009, herausgegeben vom BMF.
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Dadurch entsteht naturgemäß eine erhebliche Rechtsunsicherheit, die an sich vermeidbare weitere Rechtsstreitigkeiten nach sich zieht. Pezzer hält dieses Gebaren der Finanzverwaltung sogar für rechtsstaatswidrig59. b) Gefahr der Amtshaftung Ungeachtet dieser abstrakten Bewertung können sich aus einer unterlassenen oder erheblich verzögerten Veröffentlichung im BStBl. II aber auch sehr konkrete, über Steuerrechtsstreitigkeiten hinausgehende Weiterungen ergeben. Hier zu nennen ist insbes. die Amtshaftung. Es gibt auch schon Entscheidungen des OLG Koblenz60 und des FG Hamburg61, nach denen ein Bundesland die Kosten für einen Steuerberater zu übernehmen hat, der in Anspruch genommen werden muss, weil ein entscheidungsbefugter Sachbearbeiter eine grundlegende BFH-Entscheidung, die der bisherigen Verwaltungspraxis widerspricht, nicht kennt. An diesem Haftungsrisiko ändert auch nichts, wenn das BMF sich in jüngster Zeit für einige – z. T. mehrere Jahre – verspätete Veröffentlichungen gleichsam entschuldigt. So ist Leitsätzen von entsprechenden BFH-Entscheidungen nunmehr verschiedentlich in einer Fußnote der Text „Die verspätete Veröffentlichung im Bundessteuerblatt beruht auf einem Büroversehen“ beigefügt62. Wenn auch nicht haftungsbefreiend, dürfte diese Vorgehensweise jedoch zu einer „Klimaverbesserung“ beitragen und ist insofern allemal begrüßenswert. c) Lösung des Problems Es macht grundsätzlich sicher Sinn, wenn der Veröffentlichung bestimmter BFH-Entscheidungen im BStBl. II eine Abstimmung zwischen dem BMF und den Finanzverwaltungen der Länder vorausgeht. Doch muss und darf dies nicht zulasten der Steuerpflichtigen im Geheimen geschehen. Einen ersten Schritt in die richtige Richtung hat das BMF hier mit dem Schreiben v. 20.10.200963 getan. Es hat mit ihm darauf hingewiesen, dass die Veröffentlichung des BFH-Urteils v. 27.5.2009 – I R 86/0764 im Bundessteuerblatt bis zu einer abschließenden Entscheidung über dessen Anwendung zurückgestellt wird. Rechtsbehelfe seien in der Bearbeitung einstweilen zurückzustellen.
__________ 59 60 61 62
Pezzer, DStR 2004, 525 (532). OLG Koblenz, Urteil v. 17.7.2002 – I U 1588/01, Stbg 2004, 41. FG Hamburg, Beschluss v. 9.4.2003 – III 86/03, DStRE 2003, 1069. So BFH-Urteile v. 14.6.2007 – VI R 5/06, BStBl. II 2009, 931; v. 1.7.2004 – IV R 67/00, BStBl. II 2010, 157, und v. 11.9.2003 – IV R 53/02, BStBl. II 2010, 184. 63 BMF-Schreiben v. 20.10.2009 – IV C 3 – S 2411/07/10013, abgedruckt u. a. in NWB 2009, 3475 (Nr. 45/2009). 64 BFHE 225, 126; inzwischen auch abgedruckt in BStBl. II 2010, 120, allerdings mit einem sog. Nichtanwendungserlass belegt (in BStBl. I 2010, 44; siehe auch Fn. 19).
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Leider ist das Schreiben nicht im BStBl. I abgedruckt worden, was meiner Auffassung nach für einen wirklichen Neuanfang – schon aus Gründen der Transparenz – unbedingt geboten gewesen wäre. Ebenfalls leider ist das BMF nicht der insbes. von Pezzer65 erhobenen Forderung gefolgt und hat die Finanzämter – zusätzlich – angewiesen, entsprechende Steuerbescheide unter Berücksichtigung des BFH-Urteils zu erlassen, sie aber unter den Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) zu stellen. Nach einer Verständigung der Finanzverwaltungen von Bund und Ländern könnten dann die Bescheide ggf. immer noch zum Nachteil der Steuerpflichtigen geändert werden; diese könnten dann aber in voller Kenntnis aller Umstände entscheiden, ob sie einen Rechtsbehelf ergreifen wollen oder nicht. 4. Nichtanwendung durch Klaglosstellung Mit dieser Vorgehensweise soll verhindert werden, dass der Rechtsauffassung der Finanzverwaltung widersprechende Entscheidungen überhaupt erst ergehen. Im Schrifttum wird daher insoweit auch von „Nichtanwendungsprophylaxe“ gesprochen66. a) Beschreibung des Problems Der BFH entscheidet häufig durch Gerichtsbescheid nach § 90a FGO. Wird hierauf von keinem der Beteiligten (innerhalb eines Monats nach Zustellung) mündliche Verhandlung beantragt, wirkt der Gerichtsbescheid als rechtskräftiges Urteil. Um das Ergehen und die Veröffentlichung einer für sie solchermaßen zum Urteil werdenden unliebsamen Entscheidung zu verhindern, beantragt die Finanzverwaltung mündliche Verhandlung – mit der Folge, dass der Gerichtsbescheid als nicht ergangen gilt. Vor Durchführung der mündlichen Verhandlung wird der/die am Verfahren beteiligte Steuerpflichtige jedoch durch den Erlass eines Abhilfebescheides klaglos gestellt und wird die Hauptsache für erledigt erklärt. Damit entscheidet der BFH dann nur noch über die Kosten des Verfahrens, gemäß § 138 FGO. Eine vergleichbare Wirkung zeitigt die Rücknahme der Revision, wenn sie vom Finanzamt eingelegt worden war. b) Rechtliche Würdigung Der BFH hat solches Verwaltungshandeln formal-rechtlich gebilligt67. Unter Berufung auf diese Entscheidung hält auch die Bundesregierung eine derartige Klaglosstellung für eine „rechtlich zulässige Vorgehensweise“. Mit dem abhelfenden Verwaltungsakt erhalte der Steuerpflichtige das, was er mit seinem
__________ 65 Pezzer, DStR 2004, 525 (532); siehe auch Seewald, Steuer Consultant 2009, 21 (23). 66 Eggesiecker/Ellerbeck, DStR 2007, 1427. 67 Aus jüngerer Zeit BFH-Beschluss v. 25.1.2006 – IV R 14/04, BFHE 212, 231, BStBl. II 2006, 418 (nicht 206, wie die Bundesregierung in ihrer Antwort v. 7.7.2009 – siehe nachfolgend Fn. 68 – zitiert).
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Rechtsbehelf begehrt. Es sei nicht erkennbar, welche verfassungsrechtlichen Bedenken hiergegen bestehen könnten68. An der formal-rechtlichen Zulässigkeit dieser Art der Verhinderung von Rechtsprechung habe ich angesichts der derzeitigen Gesetzeslage keine großen Zweifel. Doch teile ich die Bedenken von Spindler69 hinsichtlich der materiell-rechtlichen Auswirkungen dieses Tuns. Es geht zu Lasten der Rechtssicherheit, weil es die Klärung von Grundsatzfragen zumindest verzögert. Weiter scheint auch mir das Legalitätsprinzip tangiert, bisweilen sogar verletzt zu sein. Besonders deutlich wird eine solche Verletzung meiner Auffassung nach an folgendem Fall, der formal-rechtlich allerdings etwas anders liegt: Mit zwei Beschlüssen v. 19.4.2007 hatte der IV. Senat des BFH70 das BVerfG angerufen, weil er die gesetzlich angeordnete Rückwirkung von Vorschriften zur Einschränkung des gewerbesteuerrechtlichen Verlustabzugs für verfassungswidrig hielt. In beiden Fällen hat das jeweils zuständige Finanzamt dann während der Anhängigkeit der Verfahren beim BVerfG – entgegen dem Gesetzeswortlaut – dem Begehren der Steuerpflichtigen entsprochen. Das eine Revisionsverfahren erledigte sich durch Rücknahme der Revision seitens des Finanzamts (Verfahren IV R 4/06); das andere nach Erlass eines entsprechenden Änderungsbescheids durch übereinstimmende Erledigterklärung des Rechtsstreits (Verfahren IV R 59/05). Die Vorlagebeschlüsse an das BVerfG hob der BFH mit Beschlüssen v. 30.10.200871 auf. Auf diese Weise wurde meiner Auffassung nach – wenn auch zugunsten der betroffenen Steuerpflichtigen – unter eindeutiger Verletzung der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) Verwaltungshandeln ausgeübt und eine Entscheidung des BVerfG – wie auch immer sie ausgefallen wäre – verhindert. c) Lösungsvorschlag aa) Die bisherigen Versuche, die geschilderten Folgen der Klaglosstellung in einem bereits weit fortgeschrittenen Verfahrensstadium abzumildern oder gar zu verhindern, überzeugen nicht. Getragen von der Absicht, die interessierte Öffentlichkeit wenigstens über die „vorläufige“ Rechtsauffassung des betreffenden BFH-Senats zu unterrichten, wurden die verschiedensten Wege eingeschlagen. Begonnen hat es mit einem Aufsatz eines Mitglieds des I. Senats, in dem ausdrücklich auf diese Absicht sowie den Umstand hingewiesen wurde, dass der Aufsatz der in dem (an sich gegenstandslosen) Gerichtsbescheid vertretenen Rechtsauffassung folge72. Als nächstes hat eine Klägerin den ihr gegenüber ergangenen Gerichtsbescheid der
__________ 68 So die Antwort der Bundesregierung v. 7.7.2009 auf die Kleine Anfrage v. 17.6.2009, BT-Drucks. 16/13759, S. 6 f. 69 Spindler, DStR 2007, 1061 (1063). 70 BFH-Beschlüsse v. 19.4.2007 – IV R 4/06, BFHE 217, 117, BStBl. II 2008, 140, und IV R 59/05, BFH/NV 2007, 2334. 71 BFH-Beschlüsse v. 30.10.2008 – IV R 4/06 und IV R 59/05, jeweils BFH/NV 2009, 214. 72 Christiansen, DStR 2003, 264.
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Nichtanwendung von Entscheidungen des Bundesfinanzhofs
Redaktion einer Fachzeitschrift zur Verfügung gestellt, die ihn im Wortlaut mit einer zustimmenden Anmerkung eines Mitglieds des betreffenden Senats veröffentlichte73. Der IV. Senat des BFH hat dann im Rahmen der Kostenentscheidung (nach übereinstimmender Erledigterklärung des Verfahrens in der Hauptsache) den Wortlaut des Gerichtsbescheids wiedergegeben und die Entscheidung amtlich veröffentlicht74. Um die ausführliche Begründung geben zu können, ist die Kostenentscheidung auf § 138 Abs. 1 FGO gestützt worden. Handelt es sich bei den beiden ersten Vorgehensweisen letztlich um die Wiedergabe von Privatmeinungen, die gerichtlich nicht autorisiert sind, stehen hinter der Begründung einer Kostenentscheidung immerhin mindestens zwei – grundsätzlich wohl drei – Senatsmitglieder (§§ 143 Abs. 1, 2. Alt. und 10 Abs. 3, 2. Halbsatz FGO). bb) Nicht zielführend ist es, seitens der Steuerpflichtigen die Erledigterklärung zu verweigern und stattdessen einen Antrag zu stellen, der über die Abhilfe durch den Änderungsbescheid hinausgeht, wie es Eggesiecker/Ellerbeck75 empfehlen. Dieser Vorschlag übersieht, dass § 123 Abs. 1 Satz 1 FGO auch (ledigliche) Erweiterungen des Klageantrags als im Revisionsverfahren unzulässig ausschließt. Es liegt insoweit noch keine Entscheidung erster Instanz vor und fehlt mithin an der formellen Beschwer76. cc) Meiner Auffassung nach kann der Verhinderung höchstrichterlicher Entscheidungen in einem bereits weit fortgeschrittenen Verfahrensstadium – insbes. nach dem Erlass eines Gerichtsbescheides durch den BFH – mittels Klaglosstellung nur über eine Gesetzesänderung begegnet werden77. Ich möchte den Vorschlag von Seewald allerdings noch erweitern und damit wie folgt fassen: Nach Ergehen eines Gerichtsbescheides in Revisionsverfahren mit grundsätzlicher Bedeutung ist eine Erledigung des Verfahrens durch Erlass einer Abhilfeentscheidung mit anschließender übereinstimmender Erledigterklärung oder durch Rücknahme der Revision seitens des Finanzamts nicht zulässig. Gleiches gilt nach Ergehen eines Vorlagebeschlusses des BFH zum BVerfG oder EuGH, solange diese Gerichte noch nicht entschieden haben. Sollte ein so „erzwungenes“ BFH-Urteil anschließend mit einem sog. Nichtanwendungserlass belegt werden, ist die Öffentlichkeit wenigstens über die nun „endgültige“ Rechtsauffassung des BFH informiert. Weiter würden meine Ausführungen unter Abschnitt II. 2. d) cc) (u. U. Hinweis in künftigen Steuerbescheiden) zum Tragen kommen.
__________ 73 74 75 76
DStR 2005, 1485, mit Anm. (wiederum) von Christiansen, S. 1488. BFH-Beschluss v. 25.1.2006, abgedruckt sogar in BStBl. II; siehe Fn. 67. Siehe Fn. 66. Ruban in Gräber, 6. Aufl. 2006, § 123 FGO Rz. 2, mit zahlreichen Rechtsprechungshinweisen. 77 Siehe auch Seewald, Steuer Consultant 2009, 21 (23).
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Christian Herden
III. Ausblick 1. Berichtete ich im Kreise außerhalb des Steuerrechts juristisch tätiger oder tätig gewesener Bekannter von meinem hier zu Papier gebrachten Vorhaben, hörte ich des Öfteren, dass der BFH im Vergleich zum BVerfG ja noch gut behandelt werde. Das BVerfG sei doch ständig heftigen politischen Angriffen ausgesetzt; es werde öffentlich Richter- und Urteilsschelte betrieben. Vergleichbares habe man den BFH betreffend noch nicht wahrgenommen. Das stimmt – leider – so; die z. T. sogar diffamierenden Angriffe auf das höchste deutsche Gericht reichen von Thomas Dehler bis Wolfgang Schäuble78. Damit aber die hier aufgezeigten verfassungsrechtlich problematischen oder gar verfassungswidrigen Verhaltensweisen der Finanzverwaltung schönzureden oder gar zu rechtfertigen, wäre völlig verfehlt. 2. Eine gewisse Hoffnung auf Besserung oder wenigstens Zurückhaltung der Finanzverwaltung lässt sich dem Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP v. 26.10.2009 für die 17. Legislaturperiode entnehmen. Dort79 heißt es u. a.: „Wir werden insbesondere – … – dafür sorgen, dass sich BMF-Schreiben auf die Auslegung der Gesetze beschränken und die Praxis der Nichtanwendungserlasse zurückgeführt wird.“ Auch wenn es inzwischen – bis Ende April 2010 – schon wieder vier sog. Nichtanwendungserlasse gegeben hat80, könnte zunächst der Aussage eines Sprechers des BMF zu diesem Thema von Ende des Jahres 2009 ein wenig Vertrauen entgegengebracht werden; er erklärte: „Wir können den Koalitionsvertrag nur nach und nach über die gesamte Legislatur hinweg abarbeiten“81.
Eine vertrauensbildende Maßnahme in dieser Richtung sehe ich z. B. schon in dem bereits erwähnten BMF-Schreiben v. 12.3.201082, wonach die Finanzämter – in Wiederholung und Erweiterung früherer Schreiben83 – das BMF und die zuständige oberste Landesbehörde u. a. (bereits) dann über anhängige Gerichtsverfahren zu unterrichten haben, wenn ein Finanzgericht eine von Richtlinien, BMF-Schreiben oder gleich lautenden Erlassen der obersten Finanzbehörden der Länder abweichende Rechtsauffassung vertritt. So kann bereits in einem relativ frühen Stadium die Auffassung der Spitzen der Verwaltung über Argumentationshilfen (für die Finanzämter) oder formelle Beitritte (nach § 122 Abs. 2 FGO) in ein mögliches Verfahren vor dem BFH eingebracht wer-
__________ 78 Siehe insbes. Lamprecht, DRiZ 2009, 145; auch Prantl, DRiZ 2009, 287. 79 O. g. Koalitionsvertrag, S. 13/132; Hinweis u. a. in NWB 2009, 3802. 80 Siehe insbes. BMF-Schreiben v. 1.12.2009 – IV B 8 – S 7105/09/10003, BStBl. I 2009, 1609, zum BFH-Urteil v. 29.1.2009 – V R 67/07, BFHE 225, 172, BStBl. II 2009, 1029, zu den Voraussetzungen der umsatzsteuerrechtlichen Organschaft; insoweit auch Anfrage des MdB Barbara Höll, BT-Drucks. 17/191, 29. 81 So wiedergegeben in Capital v. 1.1.2010, S. 9. 82 Siehe Fn. 50. 83 Aus den Jahren 1979 und 2004; s. Fn. 51.
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Nichtanwendung von Entscheidungen des Bundesfinanzhofs
den und können spätere Maßnahmen zur Verhinderung oder Nichtanwendung der betreffenden BFH-Entscheidung u. U. vermieden werden. Weiter dürfen sog. Nichtanwendungserlasse nach einer veröffentlichten Äußerung des steuerpolitischen Sprechers des BMF seit Mitte März 2010 nur noch nach persönlicher Rücksprache mit dem Bundesminister der Finanzen verfügt werden84. Sollte sich die Hoffnung auf Besserung trotzdem als trügerisch erweisen, bleibt zu wünschen, dass baldmöglichst einmal ein passender Fall bis zum BVerfG getrieben wird oder der Gesetzgeber eingreift.
__________ 84 Siehe hierzu z. B. Financial Times Deutschland v. 28.4.2010, S. 20.
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Die Methoden zur Sicherung zukünftigen Verwaltungsverhaltens Zur unterschiedlichen Gestaltung von Zusagen und Zusicherungen in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Rechts
Inhaltsübersicht I. Das Sicherungsinteresse des Bürgers II. Die Rechtstechniken der Sicherung 1. Auskunft, Amtshaftung, Herstellungsanspruch 2. Auskunfts- und Vorbescheid, Genehmigung und Statusverleihung 3. Zusage und Zusicherung
2. Sozialrecht 3. Steuerrecht a) Besondere Auskünfte b) Tatsächliche Verständigung c) Verbindliche Auskunft nach § 89 AO und Zusage nach §§ 204 ff. AO
III. Unterschiedliche Sicherungstechniken im Verwaltungs-, Sozial- und im Steuerrecht 1. Allgemeines Verwaltungsrecht
IV. Der unterschiedliche Befund im Sozial- und im Steuerrecht trotz gleicher Haushaltsinteressen des Staates
I. Das Sicherungsinteresse des Bürgers Der Bürger erwartet allgemein von der Behörde Rechtssicherheit für die Zukunft und eine langfristige Ordnung verwaltungsrechtlicher Verhältnisse. Im Sozialrecht wünscht er, bei der Altersversorgung und der Alterspflege, nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Leben und nach dem Fortfall von Lohn und Gehalt weiterhin materiell gesichert zu sein. Im Steuerrecht liegt ihm an einer frühzeitigen Bindung der Finanzbehörde für die Zukunft, weil bei den meisten Steuern die Veranlagung erst nach Ablauf des Veranlagungszeitraums stattfindet, obwohl die ökonomischen Gewinn- und Ertragsvorgänge innerhalb des Veranlagungszeitraums abgeschlossen wurden. Auch müssen Projekte langfristig über Jahre hinaus organisiert und vereinbart werden und benötigen deshalb steuerliche Planungssicherheit. Im übrigen Verwaltungsrecht erstrebt der Bürger zum Beispiel beim Bauen, der Unternehmer bei Errichtung und Betrieb aufwendiger, langfristig genutzter Großanlagen bereits zu Beginn die Sicherheit, dass sein Vorhaben verwaltungsrechtlich gebilligt ist. Wo der Bürger Sicherheit für die Zukunft und langfristig geordnete Verhältnisse wünscht, ziert sich die Verwaltung meist vor einer frühen Festlegung. Sie will stets nach aktuellem Sachverhalt und Rechtslage entscheiden, ihr Verhalten nicht langfristig durch Selbstbindung versteinern, sondern lieber nach aktueller demokratischer Legitimation und Zweckmäßigkeit handeln. Die Interes463
Ferdinand Kirchhof
sen von Bürger und Verwaltung stehen sich meistens gegenüber. Das Verwaltungsrecht findet Wege und Rechtsinstitute, sie zum Ausgleich zu bringen.
II. Die Rechtstechniken der Sicherung 1. Auskunft, Amtshaftung, Herstellungsanspruch Zur Sicherung zukünftigen Verwaltungsverhaltens bietet die deutsche Rechtsordnung verschiedene Rechtstechniken an. Am unsichersten ist eine Auskunft der Behörde. Als reine Wissenserklärung bleibt sie Realakt ohne unmittelbare Rechtsfolge und kann somit keine Gewähr für zukünftiges Verwaltungsverhalten bieten. Aber bereits sie bleibt nicht ohne Wirkung auf die Verwaltung. Der Bürger kann aus ihr zwar kein Recht auf ein späteres Verhalten der Verwaltung herleiten. Die fehlerhafte Auskunft führt aber auf der Sekundärebene des Staatshaftungsrechts wegen der allgemeinen Amtspflicht zur vollständigen und richtigen Auskunft oft zu einem Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG. Im Sozialrecht endet eine unrichtige Auskunft regelmäßig im sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Werden die Pflichten der Sozialleistungsträger zur Erteilung von Auskunft und zur Beratung nach §§ 14 f. SGB I verletzt, so wird ein dem Leistungsempfänger dadurch entstehender Nachteil, der ihm zum Beispiel durch verspätete Antragstellung wegen Falschberatung entstanden ist, dadurch ausgeglichen, dass die unterlassene Handlung als rechtzeitig getätigt gilt und insoweit der Fehler ignoriert wird. Auskünfte können also durchaus eine mittelbar zukunftssichernde Wirkung entfalten. 2. Auskunfts- und Vorbescheid, Genehmigung und Statusverleihung Ein zukünftiges Verwaltungsverhalten wird auch rechtssicher präformiert, wenn die Behörde dieses Verhalten in Form eines Verwaltungsaktes festlegt. Gibt im Sozialrecht der Leistungsträger keine Auskunft, sondern erlässt einen förmlichen Auskunftsbescheid, wie eine Rechtsfrage oder ein Rechtsverhältnis zu bewerten sei, ist er an diesen feststellenden Verwaltungsakt gebunden. Er kann ihn allenfalls nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 44 ff. SGB X und meist nur unter Ausgleichsfolgen aufheben. Dasselbe gilt für Vorbescheide des Allgemeinen Verwaltungsrechts, die – zum Beispiel im Baurecht – eine einzelne Rechtsfrage verbindlich durch Verwaltungsakt feststellen. Derartige Auskunftsoder Vorbescheide kommen zwar nicht häufig vor. Weil sie ein Teilstück eines Verwaltungsrechtsverhältnisses abschließend bescheiden, sichern sie den Bürger vor einer späteren, anderen Beurteilung durch die Verwaltung. Auch können Genehmigungen und Statusentscheidungen des Verwaltungsrechts zukunftssichernde Wirkung entfalten, soweit sie neben einer rechtlichen Beurteilung des aktuellen Sachverhalts zusätzlich Bestandschutz verleihen. Die Baugenehmigung legitimiert nicht nur die Errichtung, sondern auch die Nutzung des Baus in Zukunft; die Beamtenernennung verleiht Beamten einen öffentlich-rechtlichen Status, der auch für die Zukunft gilt. Normale Genehmigungen und statusändernde Akte im öffentlichen Recht weisen meistens zukunftssichernde Wirkung auf. 464
Die Methoden zur Sicherung zukünftigen Verwaltungsverhaltens
3. Zusage und Zusicherung In der Mitte zwischen Auskunft ohne unmittelbare Rechtsfolge und Verwaltungsakt mit rechtlich verbindlicher Zukunftswirkung stehen die Rechtsinstitute der Zusage und der Zusicherung. Dabei gilt nach allgemeiner Begriffsverwendung und einfachgesetzlicher Legaldefinition in § 38 VwVfG und § 34 SGB X die Zusicherung als bindende Willenserklärung der Verwaltung, später einen Verwaltungsakt zu erlassen oder zu unterlassen, und die Zusage als Erklärung gleichen Charakters nur mit dem Inhalt, dass ein anderes Verwaltungsverhalten versprochen wird. Für beide Rechtsinstitute werden zuweilen auch andere Bezeichnungen verwendet; auch werden die Begriffe der Zusage und der Zusicherung manchmal vertauscht; im Grunde genommen ist man sich heute aber darüber einig, dass beide Rechtsinstitute existieren und überwiegend so benannt werden. Es besteht mittlerweile auch Klarheit darüber, dass sich die Verwaltung durch Zusagen und Zusicherungen selbst bindet. Dennoch werden beide überwiegend unter die feststellenden (Verwaltungs-)Akte der Behörden eingeordnet. Da deren Selbstbindung in einem konkreten Verwaltungsverhältnis einen korrespondierenden Anspruch des Adressaten auf das Verwaltungsverhalten schafft, handelt es sich aber um gestaltende (Verwaltungs-)Akte. Sie erzeugen einen Anspruch und begründen oder gestalten damit ein Verwaltungsrechtsverhältnis.
III. Unterschiedliche Sicherungstechniken im Verwaltungs-, Sozialund im Steuerrecht 1. Allgemeines Verwaltungsrecht Das Allgemeine Verwaltungsrecht hat die Zusicherung und auch die Zusage in § 38 VwVfG als Rechtsinstitut vorgegeben. Die Vorschrift widmet sich zwar primär der Zusicherung in Legaldefinition, Voraussetzungen und Rechtsfolgen. Die Formulierung des § 38 Abs. 1 Satz 1 VwVfG, eine Zusicherung sei eine „Zusage“, einen bestimmten Verwaltungsakt später zu erlassen oder zu unterlassen, enthält aber die Prämisse, dass es zum einen auch Zusagen gibt und dass jene zum zweiten den Oberbegriff bilden, unter den auch Zusicherungen fallen. Im Folgenden regelt § 38 VwVfG dann nur noch die Zusicherung. Die nähere Ausgestaltung einer Zusage bleibt offen, ihre Zulassung ist aber damit schon gesichert. § 38 Abs. 1 VwVfG definiert die Zusicherung als Zusage, „einen bestimmten Verwaltungsakt später zu erlassen“. Erst aus dem Adjektiv des „bestimmten“ Verwaltungsaktes wird allerdings das wahre Ziel der Zusicherung erkennbar. Es geht weniger darum, dass überhaupt ein Verwaltungsakt erlassen wird, sondern die Zusicherung soll in erster Linie dessen späteren Inhalt garantieren. Streitig ist, ob die Zusicherung ein Rechtsinstitut sui generis oder lediglich einen Verwaltungsakt besonderen Inhalts bildet, weil § 38 Abs. 2 VwVfG bei Fehlern einer Zusicherung ausdrücklich auf bestimmte Fehlerfolgen für Verwaltungsakte und deren Normgrundlagen verweist. Daraus könnte man schließen, eine Zusicherung sei kein Verwaltungsakt, denn sonst wäre dieser 465
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zusätzliche Hinweis nicht notwendig gewesen. Er ist aber wohl nur zur Verdeutlichung aufgenommen worden, dass diese Fehlerfolgen auch für den Verwaltungsakt mit dem Inhalt einer Zusicherung gelten. Die früher vertretene Verneinung ihrer Verwaltungsaktqualität mit der Begründung, eine Zusicherung enthalte keine Regelung mit Außenwirkung, ist nach ihrer einfachgesetzlichen Ausgestaltung in § 38 VwVfG und der darin enthaltenen Anordnung ihrer „Wirksamkeit“ nicht mehr vertretbar; diese Auffassung übergeht ferner das Entstehen eines Anspruchs auf das Zugesagte. Gegenüber anderen Verwaltungsakten weist die Zusicherung nach § 38 VwVfG Besonderheiten auf. Sie bedarf der Schriftform, ihre Erteilung durch die zuständige Behörde ist Wirksamkeitsvoraussetzung, die Mitwirkung Dritter an der Zusicherung ist erforderlich, wenn der spätere Verwaltungsakt ebenfalls eine derartige Mitwirkung verlangt. Ferner gilt die clausula rebus sic stantibus, welche bei qualifizierter Änderung der Sach- oder Rechtslage die Bindungswirkung einer Zusicherung ex lege beseitigt. Eine gleichwertige einfachgesetzliche Ausgestaltung der Zusage findet sich – außer der bereits erwähnten Anerkennung ihrer Existenz – nicht. Ihre Befugnisgrundlage und ihre Rechtsfolgen ergeben sich jedoch grundsätzlich aus ihrer Einordnung unter die Verwaltungsakte nach § 35 VwVfG. Wo der Erlass von Verwaltungsakten, die Behörde und Bürger binden, zulässig ist, muss eine Zusage, die als Verwaltungsakt die Behörde bindet und dem Bürger einen Anspruch verleiht, rechtlich möglich sein. Ist eine Behörde befugt durch Verwaltungsakt zu handeln, kann sie auf dieser Rechtsgrundlage auch Zusagen erteilen. 2. Sozialrecht Im Sozialrecht wird in § 34 SGB X die Zusicherung allgemein mit identischem Wortlaut wie bei § 38 VwVfG zugelassen. Damit fügt sich das Sozial(-versicherungs-)recht gezielt in das Allgemeine Verwaltungsrecht ein, um eine einheitliche Rechtsordnung auf diesem Feld zu erreichen. Auch dort finden sich die Besonderheiten, die eine Zusicherung gegenüber anderen Verwaltungsakten aufweist, nämlich die Notwendigkeit einer Erteilung durch die zuständige Behörde, die Schriftform als Wirksamkeitsvoraussetzung, die Erforderlichkeit der Beteiligung Dritter, wenn sie auch am späteren Verwaltungsakt zu beteiligen sind, und ihre nach der clausula rebus sic stantibus beschränkte Geltung. Dennoch ist die Ausgangslage im Sozialrecht eine andere als im sonstigen Besonderen Verwaltungsrecht und führt auf weitere Wege der Sicherung künftigen Verwaltungsverhaltens. Das Sozialrecht vermittelt meistens existenz- oder lebensstandardsichernde Leistungen, die für ihren Empfänger von erheblicher Bedeutung für seine persönliche Lebensführung sind und langfristig vergeben werden. Er benötigt deshalb im Regelfall schon zu Beginn der Leistungen Rechtssicherheit für deren dauerhaften Empfang. Deswegen ist regelmäßig ein Leistungsbescheid der Behörde nicht nur Voraussetzung für die Vergabe von Sozialleistungen, sondern sichert auch bereits das zukünftige Leistungsverhalten der Behörde auf Dauer oder für bestimmte Zeitabschnitte. Er übernimmt 466
Die Methoden zur Sicherung zukünftigen Verwaltungsverhaltens
damit neben der Bestimmung von Art und Umfang der Leistung zugleich eine zukunftssichernde Funktion, sodass für diese Regelfälle die Zusicherung nach § 34 SGB X gar nicht mehr benutzt werden muss. Sozialgesetz und Sozialrechtsprechung garnieren dieses Regelungsfeld mit weiteren Möglichkeiten einer besseren Sicherung von Renten- und Sozialleistungsempfängern durch den Auskunftsbescheid, der einen Teil des Sozialrechtsverhältnisses bereits abschließend im Verwaltungsakt entscheidet, d. h. gar nicht erst einen später zu erlassenen Verwaltungsakt zusichert, sondern ihn partiell bereits erlässt. In ähnlicher Weise sorgt der sozialrechtliche Herstellungsanspruch dafür, dass Auskunft und Beratung nach §§ 14 f. SGB I sogar bei oder gerade wegen ihrer Rechtswidrigkeit, Unvollständigkeit oder eines sonstigen Fehlers weiterhin beachtlich bleiben und in die Zukunft wirken. Wird einem Rentenversicherten auf seine Anfrage hin die falsche Auskunft gegeben, dass er Rente ohne Antragstellung erhalten werde, und entgehen ihm wegen der infolge falscher Auskunft verspäteten Antragstellung Rentenleistungen für einen bestimmten Zeitraum, so wird ihm über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch die Möglichkeit gegeben, einen zeitgerechten Rentenantrag zu fingieren und Leistungen zu beanspruchen, sodass er auch für diese Monate Rente erhält. Damit erweist sich die fehlerhafte Auskunft als unschädlich. Die darin enthaltene Aussage, die Rente werde auch ohne Antrag gezahlt, wird über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch im individuellen Fall entgegen der gesetzlichen Regelung aufrecht erhalten. Das wirkt wie eine Zusicherung, vollzieht sich aber in anderer Rechtstechnik. Im Ergebnis hat das Sozialversicherungsrecht eine breite Palette zukunftssichernder Rechtsakte vom Leistungsbescheid mit Zukunftswirkung bis zum gerichtlich entstandenen Herstellungsanspruch entwickelt, der Existenz und Lebensstandard auf Dauer in der Zukunft gewährleistet. Das Betätigungsfeld für eine Zusicherung nach § 34 SGB X verringert sich entsprechend. Sie kommt in der Praxis in erster Linie in der Form von Bildungsgutscheinen zur beruflichen Weiterbildung nach § 77 SGB III und § 16 SGB II und bei der Anmietung von Wohnungen nach § 22 SGB II vor. Eine Zusage ist nach den zum Verwaltungsrecht geschilderten Gründen allgemein zulässig. Dagegen wird zwar eingewandt, nach § 31 SGB I dürften Rechte im Sozialleistungsbereich nur begründet werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt. Da eine Zusage einen Anspruch auf künftiges Verwaltungsverhalten enthält, stellt sich diese Frage nach dem Gesetzesvorbehalt auch bei ihr. Dennoch dürfte eine Zusage auch dort zulässig sein, wo sie nicht expressis verbis im Gesetz vorgesehen ist. Denn schon § 34 SGB X geht mit der Definition der Zusicherung als Unterfall der „Zusage“ von ihrer Existenz aus. Sie gibt im materiellen Ergebnis weniger als der spätere Leistungsbescheid und greift dessen Thema lediglich früher auf. Insoweit ist sie in einer Befugnis zum Erlass eines Verwaltungsakts bereits enthalten. Ferner hat § 31 SGB I auch dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch kein Ende gesetzt, obwohl er eine ausschließlich richterrechtliche Konstruktion aufweist. 467
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3. Steuerrecht Im Steuerrecht trifft die Frage der Sicherung zukünftigen Verwaltungsverhaltens auf eine andere Ausgangssituation. Der Steuerpflichtige muss sich in der Regel einer Veranlagung durch die Finanzbehörden beugen, die nachträglich für einen abgelaufenen Veranlagungszeitraum erfolgt. Seine einzelnen geschäftlichen Handlungen, die ihm Gewinn oder Verlust bringen, hat er jedoch schon zuvor innerhalb des laufenden Veranlagungszeitraums abschließend getätigt und kann sie kaum noch korrigieren, d. h. er kann weder deren ökonomischen Effekte noch deren steuerliche Folgen später ändern. Sein Sicherungsbedürfnis geht demnach dahin, für den jeweiligen Veranlagungszeitraum schon zu Anfang oder spätestens mit Abschluss des einzelnen Geschäftsvorfalls steuerrechtliche Sicherheit zu erlangen. Dasselbe gilt für Steuerentrichtungspflichtige, die nicht für ihre steuerliche Bewertung von Sachverhalten später dem Staat haften wollen, wenn jener die Rechtslage anders sieht. Das Sicherungsbedürfnis eines Steuerpflichtigen steigt, wenn er langfristige Projekte angehen will, z. B. Bauten errichten, forstwirtschaftliche Anpflanzungen vornehmen oder Arbeitseinkommen vorausschauend und langfristig ordnen will. a) Besondere Auskünfte Für typische Steuerfälle klar definierten Sachverhalts hielt das Steuerrecht schon immer Rechtstechniken zur Sicherung künftigen Verwaltungsverhaltens bereit. So werden nach Art. 12 Zollkodex i. V. m. § 6 Zollverwaltungsgesetz verbindliche Zolltarif- und Ursprungsauskünfte – früher als Zolltarifauskünfte nach § 23 Zollgesetz – oder nach § 42e EStG Anrufungsauskünfte über die Einordnung lohnsteuerrechtlicher Sachverhalte erteilt. Die Zollauskünfte sind nach Art. 12 Abs. 2 und 4 Zollkodex für drei bis sechs Jahre verbindlich. Die Rechtsprechung hat sich bei der lohnsteuerrechtlichen Anrufungsauskunft mittlerweile ebenfalls dazu durchgerungen, in ihr eine verbindliche Festlegung der Rechtslage durch Verwaltungsakt zu sehen. b) Tatsächliche Verständigung Eine Sonderform zur zukunftssichernden Gewährleistung des Verhaltens der Finanzbehörden entwickelt sich zur Zeit mit der tatsächlichen Verständigung, soweit sie auch für die Zukunft getroffen wird. Sie hatte allerdings bisher nur einen bescheidenen Wirkungsbereich und gründet ihre Wirksamkeit lediglich auf den Grundsatz von Treu und Glauben. Hier sollte die Rechtsprechung mutiger auf die rechtsbeständigere Vertragslösung übergehen, um dem Sicherungsinteresse des Steuerpflichtigen zu genügen. (Die Vorabverständigung nach Art. 25 OECD-Musterabkommen und nach Art. 6 ff. der Schiedskonvention kann hier außer Betracht bleiben, denn sie betrifft die Einigung zwischen nationalen Steuerverwaltungen im Internationalen Steuerrecht; deren Ergebnis wird für den Steuerpflichtigen durch Steuerbescheid festgesetzt.)
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Die Methoden zur Sicherung zukünftigen Verwaltungsverhaltens
c) Verbindliche Auskunft nach § 89 AO und Zusage nach §§ 204 ff. AO Allgemeinere Regelungen für Zusagen finden sich heute in § 89 Abs. 2 AO und in den §§ 204 ff. AO. Hier werden aber deutlich andere Akzente gesetzt als in den übrigen Gebieten des Verwaltungsrechts. Dabei sträubt sich das Steuerrecht immer noch gegen eine Sicherung zukünftigen Verwaltungsverhaltens, obwohl das Sicherungsbedürfnis des Steuerzahlers wegen der regelmäßig erst nach Ablauf des Veranlagungszeitraums erfolgenden Steuerveranlagung unabweisbar ist. Andererseits gehen verbindliche Auskünfte nach § 89 Abs. 2 AO und Zusagen nach §§ 204 ff. AO weiter als das Rechtsinstitut der Zusicherung nach § 38 VwVfG und 34 SGB X, denn sie enthalten verbindliche Auskünfte über die künftige steuerliche Beurteilung von Sachverhalten, d. h. sind nicht allein auf den Erlass bestimmter Verwaltungsakte ausgerichtet. Deshalb umfassen diese steuerrechtlichen Rechtsinstitute sowohl die Zusicherung als auch die Zusage im Sinne des Verwaltungsrechts. An der Verbindlichkeit der Zusagen nach § 89 Abs. 2 AO und §§ 204 ff. AO ist mittlerweile nicht mehr zu zweifeln. Zu Anfang nahm die Rechtsprechung noch eine Verbindlichkeit allein nach Maßgabe von Treu und Glauben oder nach dem Grundsatz des venire contra factum proprium an. Damit verlangte sie vom Steuerpflichtigen über die normale Zusicherung hinausgehende Tatbestandsmerkmale (Vertrauenstatbestand und Disposition) und stattete die Bindung an derartige Zusagen mit einer Weichheit und Flexibilität aus, die dem Steuerpflichtigen oftmals Steine statt Brot gab. Mittlerweile ist sie zu Recht auf die Linie der Literatur eingeschwenkt und geht von einer Verbindlichkeit aufgrund der Selbstverpflichtung der Behörde aus. Ihr blieb nach längerem Zaudern auch gar keine andere Wahl, denn § 89 Abs. 2 AO und §§ 204 ff. AO ordnen die Verbindlichkeit mittlerweile ausdrücklich an. Dennoch fällt der Einsatzbereich beider Instrumente zur Sicherung des Steuerpflichtigen recht bescheiden aus. § 89 Abs. 2 AO und die auf seiner Grundlage ergangene Steuer-Auskunftsverordnung engen die Voraussetzungen zur Erteilung einer Auskunft sehr ein. Zur Angabe eines „genau bestimmten“ Sachverhalts und zur Darlegung eines „besonderen Interesses“, das § 89 Abs. 2 AO verlangt, fordert § 1 Steuer-Auskunftsverordnung zusätzlich die „genaue“ Bezeichnung des Antragstellers, eine „umfassende und in sich abgeschlossene“ Sachverhaltsdarstellung, die Darlegung eines besonderen „steuerlichen“ Interesses, eine „ausführliche Darlegung des Problems mit eingehender Begründung des eigenen Rechtsstandpunktes“ sowie die „Formulierung konkreter Rechtsfragen“. Soweit diese erweiterten Voraussetzungen dazu dienen sollen, den von der Finanzbehörde zu beurteilenden Sachverhalt im Blick auf die spätere Bindungswirkung der Zusage zu präzisieren, ist dagegen nichts einzuwenden. Wo sie den Steuerpflichtigen jedoch nötigen, konkrete Fragen und Rechtsstandpunkte zu formulieren, schießt die Auskunftsverordnung übers Ziel hinaus, denn die allgemeine Unklarheit über die Rechtslage in einem komplizierten Steuersystem veranlasst ihn zur Antragstellung. Er will einen kompletten Sachverhalt abschließend bewertet, nicht nur einzelne Fragen beantwortet wissen. 469
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Vor allem aber steht die verbindliche Auskunft nach § 89 Abs. 2 AO im Ermessen der Finanzbehörde. Hier wäre zumindest eine strikte Ausrichtung des Ermessens auf das objektive Sicherungsbedürfnis des Steuerpflichtigen in der Rechtsprechung anzumahnen. Das Rechtsinstitut der verbindlichen Auskunft nach § 89 Abs. 2 AO verlöre weitgehend seine Funktion, wenn das Ermessen auch am fiskalischen Interesse des Staates ausgerichtet würde; er würde sich dann sogar eine von ihm selbst geschaffene unsichere Rechtslage zu Nutze machen, indem er eine im Veranlagungszeitraum bestehende Unsicherheit nicht aufklärt, um dadurch später ergebnisorientierte Flexibilität in der Beurteilung der Steuerrechtslage nach Abschluss des Veranlagungszeitraums zu erhalten. Die Ausführungsvorschriften im Anwendungserlass zu § 89 AO verkürzen in Tz. 3.5.4. die Erteilung einer verbindlichen Zusage weiter, indem sie jene „in Angelegenheiten, bei denen die Erzielung eines Steuervorteils im Vordergrund steht,“ oder wenn zu dem Rechtsproblem „eine gesetzliche Regelung, eine höchstrichterliche Entscheidung oder eine Verwaltungsanweisung in absehbarer Zeit zu erwarten ist“, grundsätzlich versagen. Dass in Kürze eine Interpretationsentscheidung ansteht, ist dem Steuerpflichtigen, der vor einer aktuellen ökonomischen Entscheidung steht, nicht hilfreich; er benötigt eine raschere Zusage. Zudem belegt doch die erwartete Entscheidung gerade, dass die steuerrechtliche Lage unklar ist. Dass ein Steuervorteil im Vordergrund stünde, ist von der Finanzbehörde leicht zu behaupten, denn selbstverständlich bringt jeder Geschäftsvorfall steuerliche Vor- oder Nachteile. Mit diesen sehr weitgehenden Formulierungen wird der verbindlichen Auskunft nach § 89 Abs. 2 AO ein Großteil ihrer Funktion genommen. Hinzu tritt die Gebührenpflichtigkeit der verbindlichen Auskunft nach § 89 Abs. 3 bis 5 AO. Grundsätzlich ist gegen eine Gebührenerhebung nichts einzuwenden, denn der Steuerpflichtige veranlasst die Finanzbehörde zu einer ihm individuell zurechenbaren Leistung. Auf der anderen Seite ist aber nicht zu übersehen, dass die Unübersichtlichkeit und Komplexität des Steuerrechts die Ursache für das Bedürfnis des Steuerpflichtigen nach einer verbindlichen Zusage setzt. Bei Geschäftsvorfällen oder Projekten großen finanziellen Volumens wirkt die Gebühr abschreckend. Das Rechtsinstitut der verbindlichen Auskunft nach § 89 Abs. 2 AO, das an sich auf eine allgemeine Zusage im Steuerrecht angelegt ist und den Konflikt zwischen einem Geschäftsvorfall innerhalb des Veranlagungszeitraums und dessen nachträglicher steuerrechtlicher Beurteilung durch die Finanzbehörde nach dem Abschluss des Veranlagungszeitraums fair und interessengerecht lösen könnte, wird also aus zwei Richtungen zurückgedrängt: zum einen durch überschießende Tatbestandsanforderungen und Ermessensprüfungen der Finanzverwaltung und zum anderen durch die Belegung mit abschreckenden Gebühren. Die verbindliche Zusage nach §§ 204 ff. AO ist in den §§ 205 bis 207 AO mit ähnlichen, jedoch auf die Besonderheiten des Steuerrechts ausgerichteten Voraussetzungen und Folgen ausgestattet. Sie ergeht aber nur in der Situation 470
Die Methoden zur Sicherung zukünftigen Verwaltungsverhaltens
einer Außenprüfung, kann also ebenfalls nicht die Breitenwirkung einer allgemeinen Zusage im gesamten Steuerrecht entfalten. Diese Wirkung könnte erst eine allgemeine Zusage erreichen, für die es im Steuerrecht bisher keine ausdrückliche Rechtsgrundlage gibt. Sie ist wie im Verwaltungs- und im Sozialrecht dort zulässig, wo die Finanzbehörde zur Regelung durch Verwaltungsakt befugt ist. Angesichts der zurückhaltenden Regeln für Zusagen in den §§ 89 Abs. 2 bis 5 und 204 ff. AO und dem zögerlichen Einsatz der dort vorgesehenen Instrumente durch die Finanzverwaltung dürfte sie sich jedoch leider kaum in der steuerlichen Realität entfalten. Stützte man deren Geltung überdies – wie bisher – auf den Grundsatz von Treu und Glauben, so würde sie nicht die für Steuerplanungen notwendige Rechtssicherheit gewährleisten. Das Thema einer Sicherung zukünftigen Verwaltungsverhaltens ist im Steuerrecht und in der steuerlichen Praxis noch nicht befriedigend und ausreichend geklärt.
IV. Der unterschiedliche Befund im Sozial- und im Steuerrecht trotz gleicher Haushaltsinteressen des Staates Vergleicht man Sozial- und Steuerrecht, also die beiden Rechtsgebiete, die innerhalb des Besonderen Verwaltungsrechts wohl die höchste Komplexität aufweisen, so ergibt sich ein erstaunlicher Befund: Das Sozialrecht hat in der Zusicherung nach § 34 SGB X eine durchgängig anwendbare Methode zur Sicherung zukünftigen Verwaltungsverhaltens gefunden, um Existenzminimum und Lebensstandard zu sichern. Es ist sogar mit den Leistungs- und Auskunftsbescheiden sowie mit dem sozialen Herstellungsanspruch weiter in dieser Richtung vorangeschritten. Das Steuerrecht, welches eine ähnliche Komplexität aufweist, hätte mit der Zusagemöglichkeit nach § 89 Abs. 2 AO eine ähnliche gesetzliche Befugnis zur Herstellung von Rechtssicherheit in komplizierten Sachverhalten, verkleinert sie aber durch finanzielle Zusatzbelastungen und durch eine Engsteuerung von Tatbestand und Ermessen durch Verwaltungsnormen. Der Staat handelt wie – auch sonst – im Fiskalbereich egozentrisch, im Sozialbereich aber dem Anspruchsteller zugewandt. Der Befund verwundert, denn auf beiden Gebieten geht es in gleicher Weise um staatliche Finanzinteressen; sie unterscheiden sich allein darin, dass sich die einen auf der Einnahmen- und die anderen auf der Ausgabenseite des Haushalts ergeben. Der Befund hinsichtlich der Zusagen und Zusicherungen ist im Steuerrecht erstaunlich, denn hier wird ein berechtigtes Streben nach Rechtssicherheit verkürzt.
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Justiz in den neuen Ländern – am Beispiel des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechtsstaatliche Strukturen nach der Wende 1. Die Bedeutung der Steuern in der DDR 2. Justiz in Brandenburg zur Zeit der Wende 3. Die Errichtung des Brandenburger Finanzgerichts im Jahre 1993 III. Standortfaktor Justiz im heutigen Brandenburg 1. Strukturpolitische Bedeutung für (Süd-)Brandenburg
2. Bedeutung der Gerichte im Alltag der Bürgerinnen und Bürger 3. Justizpolitische Bedeutung der Finanzgerichtsbarkeit in Brandenburg IV. Länderneugliederung 1. Fusion der Finanzgerichte von Berlin und Brandenburg 2. Fusionsbestrebungen der Länder Berlin und Brandenburg 3. Neugliederung der Länder V. Ausblick 1. Getrennt auch ohne Mauer 2. Folgerungen
I. Einleitung Wolfgang Spindler lagen – nicht zuletzt als Ausdruck seines allgemeinen politischen Engagements – die im Jahre 1990 beigetretenen Länder und ihre Justizeinrichtungen stets am Herzen. Dies gilt in besonderer Weise für die nach der Wende in den östlichen Ländern entstandenen Finanzgerichte. Schon frühzeitig hat Wolfgang Spindler in seiner damaligen Funktion als Vizepräsident des Bundesfinanzhofs die von den Richterinnen und Richtern der neu errichteten Finanzgerichte ins Leben gerufene Fachveranstaltung („Ostrichtertagung“) in vielfältiger Weise unterstützt. Persönlich nahm er immerhin in drei Jahren an den Treffen teil, die gerade bei einem zweigliedrigen Gerichtsaufbau in hervorragender Weise das Gespräch zwischen den beiden Instanzen und den Gedankenaustausch unter den Richterinnen und Richtern der erstinstanzlichen Gerichte erlauben. Wiederholt hat er dabei das Konzept der auf Dialog aufbauenden Fortbildungstreffen „von Richtern für Richter“ als zukunftsweisende Möglichkeit eines gerichtsübergreifenden Qualitätszirkels betont. Zudem besuchte Wolfgang Spindler sämtliche Finanzgerichte in Ostdeutschland. Bereits im Jahre 1999 hatte der von ihm geleitete IX. Senat des Bundesfinanzhofs eine auswärtige Sitzung gemäß § 91 Abs. 3 Finanzgerichtsordnung bei dem Thüringer Finanzgericht in Gotha durchgeführt. Am 28. Juni 2002 verhandelte und entschied der IX. Senat drei Revisionsfälle in den Räumen des Finanzgerichts des Landes Brandenburg in Cottbus. In allen drei Verfahren 473
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waren zuvor Entscheidungen des brandenburgischen Finanzgerichts ergangen. Auf diese Weise setzte Wolfgang Spindler ein – auch in der Öffentlichkeit deutlich wahrgenommenes – Zeichen für sein Verständnis einer bürgernahen Justiz.
II. Rechtsstaatliche Strukturen nach der Wende 1. Die Bedeutung der Steuern in der DDR Steuern, mit denen der Staat an dem wirtschaftlichen Erfolg seiner Bürgerinnen und Bürger sowie der privaten Unternehmen teil hat, leisteten in der DDR nur einen vergleichsweise geringen Beitrag, um den staatlichen Finanzbedarf zu decken. Nachdem nicht das Privateigentum, sondern das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln vorherrschte, standen in der DDR die volkseigenen Unternehmensaktivitäten im Zentrum der Volkswirtschaft. Dementsprechend gewannen die volkseigenen Kombinate und Betriebe sehr viel größere Bedeutung für den öffentlichen Haushalt als die Besteuerung der einzelnen Bürger. Vor allem die produktgebundenen Abgaben, Produktionsfondsabgaben sowie Nettogewinnabführungen trugen zur Finanzierung des Staatshaushalts bei. Als erhellend erweisen sich insoweit die Zahlen für das Jahr 1988: in Form der genannten Produktionsfondsabgaben flossen 193,463 Mrd. Mark in den Staatshaushalt der DDR, während im selben Zeitraum die erhobenen sog. Steuern und Abgaben der Bevölkerung sich lediglich auf 20,815 Mrd. Mark beliefen1. In vergleichbarer Weise spielten die „Steuern der Bevölkerung“ im Haushaltsjahr 1989 mit nur rund 5 v. H. der Einnahmen eine lediglich untergeordnete Rolle, während sich im selben Jahr die Abgaben („Transferleistungen“ oder „Pflichtabführungen“) der volkseigenen Kombinate und Betriebe (ohne Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft) auf rund 75 v. H. der Einnahmen beliefen2. Gleichwohl gab es bereits vor der Steuerreform 1990 im Bereich des Abgabenrechts in der DDR eine Reihe von Gesetzen, die für Steuerrechtler aus dem Westen durchaus vertraute Züge enthielten. Dies galt zum Beispiel für die Abgabenordnung der DDR, die in ihren Strukturen noch deutliche Parallelen zur alten Reichsabgabenordnung aufwies3. Demgegenüber hatten sich insbesondere die Steuerverwaltungen in der DDR und der Bundesrepublik auseinanderentwickelt. An Stelle von Finanzämtern und Oberfinanzdirektionen war auf dem Gebiet der DDR vorrangig der Rat des Kreises, Abteilung Finanzen, für die Steuererhebung zuständig (§ 72 Abgabenordnung [AO] – DDR4). Gleichermaßen entwickelte sich der Rechtsschutz in Steuersachen gänzlich unterschiedlich. Während in der Bundesrepublik die §§ 347 ff. AO im Detail das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren regeln und die Finanzgerichts-
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1 Fischer-Nordmann, DtZ 1990, 56 (60). 2 Müssener, Das Steuer- und Abgabensystem der DDR im Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft, 1990, S. 12 f. 3 Fischer-Nordmann, DtZ 1990, 56. 4 AO DDR i. d. F. v. 18.9.1970, GBl. SDr. Nr. 681.
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ordnung den gerichtlichen Rechtsschutz sicherstellt, sahen die einschlägigen Regelwerke in der DDR allein eine verwaltungsmäßige Überprüfung der hoheitlichen Maßnahmen auf dem Gebiet des Abgabenrechts vor5. Schon die „Verordnung über die Rechte der Bürger im Verfahren der Erhebung von Abgaben“ (Nachprüfungsverfahren der Abgabenverwaltung) vom 13.11.19526 bot keinen gerichtlichen Rechtsschutz; Einspruch und Beschwerde (gegen die Einspruchsentscheidung) konnten die Bürger lediglich bei dem Leiter der Abteilung der Finanzen beim Rat des Kreises oder beim Rat des Bezirkes einlegen. Ab 1972 galt dann die „Verordnung über das Beschwerdeverfahren bei der Erhebung von Steuern und Abgaben“ vom 4.1.19727. Beschwerden wegen der Erhebung von Steuern und Abgaben hatten die Bürger und Betriebe bei dem Rat des Kreises, Abteilung Finanzen, der Stadt oder der Gemeinde einzulegen, die den Bescheid erlassen hatte8. Im Falle der Nichtabhilfe entschied im Regelfall der Rat des Bezirkes, Abteilung Finanzen, als übergeordnetes Organ. Es handelte sich also nach wie vor um eine ausschließlich verwaltungsmäßige Kontrolle ohne gerichtliche Beteiligung. 2. Justiz in Brandenburg zur Zeit der Wende Mit der politischen Wende im Jahre 1989 vollzog sich in den östlichen Ländern ein grundlegender Wechsel des gesamten rechtlichen Systems hin zu einer weitgehenden Vereinheitlichung, wenn nicht gar zur zügigen Vereinigung mit dem Rechtssystem der Bundesrepublik. Der Gerichtsaufbau in der DDR9 hatte auf der untersten Ebene als erste Instanz die Kreisgerichte, darüber als zweite Instanz jeweils für zehn bis fünfzehn Kreisgerichte die Bezirksgerichte und schließlich das Oberste Gericht in Ostberlin vorgesehen. Alle drei Stufen der Gerichte waren für sämtliche Verfahren, die gerichtshängig wurden, zuständig. Eine besondere verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit oder gar ein finanzgerichtlicher Rechtsschutz waren in der DDR nicht bekannt. Erst gegen Ende der DDR gab es in Ansätzen eine derartige Zuständigkeit für allgemeine Verwaltungsstreitigkeiten. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang allerdings eine Besonderheit der DDR, die für westdeutsche Bürger weitgehend unbekannt geblieben ist. In der DDR war ein ausgeprägtes Eingabewesen verbreitet. Derartige „Eingaben“ waren zwar nicht als vollwertiger Ersatz für eine gerichtliche Verwaltungskontrolle anzusehen; sie stellten jedoch häufig äußerst wirksame Möglichkeiten dar, die staatlichen Organe im Interesse der Bürger zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen.
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Dürr, DStR 1992, 1049. GBl. (DDR), 1952, Nr. 161, S. 1211. Verordnung v. 4.1.1972, GBl. (DDR) II 1972, Nr. 2, S. 17. § 1 Abs. 1 und § 2 Satz 4 der Verordnung über das Beschwerdeverfahren bei der Erhebung von Steuern und Abgaben vom 4.1.1972, GBl. (DDR) II 1972, Nr. 2, S. 17. 9 Macke in Claveé (Hrsg.), Justiz in Stadt und Land Brandenburg im Wandel der Jahrhunderte, 1998, S. 164 f.
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Auf dem Gebiet des heutigen Landes Brandenburg gab es zu DDR-Zeiten 42 Kreis- und drei Bezirksgerichte, bei denen zu DDR-Zeiten insgesamt etwa 290 Richter tätig gewesen sind10. Nachdem 40 Richter freiwillig aus dem Richterdienst ausgeschieden waren, mussten die restlichen 250 nach den Vorgaben des Einigungsvertrages sich einer (politischen) Überprüfung stellen. Von diesen 250 ehemaligen Ostrichtern wurden etwa 120 als Brandenburger Proberichter übernommen. In diesem Zusammenhang erscheint der Hinweis hilfreich, dass die DDR natürlich über eine Verfassung verfügte, die etwa auch Grundrechte benannte. Trotz dieser Verfassung handelte es sich bei der DDR aber nicht um einen Verfassungsstaat im Sinne von Art. 20 Grundgesetz (GG)11. Nach dem Verständnis der DDR bildete die Verfassung vielmehr die Grundlage für eine „reale“ Demokratie im Unterschied zu einer „formalen“ bürgerlichen Demokratie, die auf der Unterschiedlichkeit der Individuen beruhte12. Ging man in der DDR von einer tendenziellen Identität zwischen Staat und Bürger aus, benötigte der Bürger keinen Schutz gegenüber dem Staat und mithin keine einklagbaren subjektiven Rechte. Folgerichtig beinhaltete die Verfassung der DDR keine auch als Abwehrrechte konzipierten Grundrechte13. Nicht minder bedeutsam sind die aus dem unterschiedlichen Staats- und Rechtsverständnis folgenden Vorstellungen, die mit dem Richterberuf, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit der Richter, verknüpft sind. Nach dem Gesetzestext bildete die „richterliche Unabhängigkeit“ ein zentrales Organisationsprinzip sowohl des DDR-Verfassungsrechts als auch der einfachgesetzlichen Regelungen im Bereich der Gerichtsverfassung14. Im Hinblick auf die sozialistischen Vorgaben („Demokratischer Zentralismus“) galt diese Unabhängigkeit – aus dem Blickwinkel des Art. 97 Grundsgesetz – aber lediglich in eingeschränktem Umfang. Sozialistisches Rechtsverständnis verlangte nämlich im Sinne einer politischen Aufgabenstellung die systemkonforme Gesetzesanwendung zur Verwirklichung des sozialistischen Rechtsstaates15. Pointiert formulierte Steffen Heitmann16 in diesem Zusammenhang, das Recht habe in der DDR dazu hergehalten, als Machtinstrument der Partei die Diktatur der Partei zu sichern; Parteilichkeit bei der Rechtsanwendung habe als ein positives Prinzip gegolten.
__________ 10 Macke in Claveé (Fn. 9), S. 166. Zu Einzelheiten des Gerichtsaufbaus, vgl. Stelkens, JuS 1991, 991 (992 f.). 11 Jessen in M. Judt (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, 1998, S. 27 und 41. 12 Tech in R. Will (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der DDR – Was wird von ihr bleiben?, 1. Aufl. 1995, S. 93 (102 f.). 13 Schöneburg, Recht und Repression in der DDR, UTOPIE kreativ, H. 91/92 1998, S. 146 (153). 14 Immisch, Der sozialistische Richter in der DDR und seine Unabhängigkeit, 1997, S. 55 ff. 15 Kraut, Rechtsbeugung? Die Justiz der DDR auf dem Prüfstand des Rechtsstaates, 1977, S. 58 f. 16 Heitmann, 40 Jahre SED-Unrecht Eine Herausforderung für den Rechtsstaat, ZG Zeitschrift für Gesetzgebung, Sonderheft 2 (1991), S. 11 (12 f.).
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Um die Bedeutung rechtsstaatlicher Grundsätze und unabhängiger Gerichte als unverzichtbares Merkmal des Rechtsstaates für die Menschen in den östlichen Ländern zu verstehen, muss man sich die Funktion der Gerichte vor der Wende vor Augen halten. In der DDR herrschte die Vorstellung, ausgehend von einem einheitlich strukturierten Staatsaufbau werde auch das Recht von den Interessen der Arbeiterklasse und ihrer Partei geleitet und solle dem Aufbau einer neuen, gerechteren Gesellschaftsordnung dienen. Dementsprechend stand die Richterausbildung unter dem Schlagwort: „Aus dem Volk, mit dem Volk, für das Volk“17. Im Hinblick auf den durchgängig verwirklichten Grundsatz des „demokratischen Zentralismus“ gab es in der DDR zwar formal die (sachliche) Unabhängigkeit der Richter. Jedoch folgte aus dem Prinzip der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ das Primat einer politisch orientierten Gesetzesanwendung18, die mit entsprechender politischer Einflussnahme auf einzelne Verfahren einherging19. Insoweit wurde die Rechtsprechung als Teil der einheitlichen sozialistischen Staatsmacht verstanden. Hiernach gab es aus strukturellen Gründen keine Verwaltungsgerichtsbarkeit, da ein Bürger sich nicht gegen die im Staat sich manifestierenden Interessen der Allgemeinheit durchsetzen konnte. Insoweit wurde ein Rechtsschutzbedürfnis verneint20. Gleichermaßen wies die personelle Unabhängigkeit der Richter in der DDR unter dem Gesichtspunkt der Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit Besonderheiten auf gegenüber den Normvorgaben in Art. 97 Abs. 2 GG. Weder die Verfassungsordnung der DDR noch die statusrechtlichen einfachgesetzlichen Regelungen gingen von einer einflussnahmefreien Position der Richter aus21. Nach dem sozialistischen Rechtsverständnis verlangten das Gewährleisten der parlamentarischen Rechte und das Durchsetzen des „Volkswillens“ das systemkonforme Besetzen der Gerichte. Dementsprechend dienten die Richterwahlen und die Ausgestaltung des richterlichen Amtes (nicht zuletzt etwa die Wahl der Richter auf Bezirks- und Kreisebene für eine fünfjährige Amtszeit jeweils entsprechend dem Wahlturnus der Volksvertretungen) der Einheitlichkeit der Staatsgewalt sowie der sozialistischen Entwicklung im Bereich der Rechtspflege22. Erstmals sah in der DDR das Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (Verfassungsgrundsätzegesetz) vom 17.6.199023 in Art. 5 eine nach westdeutschem Verständnis unabhängige Rechtsprechung vor, die jedem Bürger den Rechtsweg eröffnet, den die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt. Auf diese Weise war umfassender gerichtlicher Rechtsschutz auch in Steuerstreitigkeiten gesichert. Weitergehende Einzelheiten der konkreten Ausgestaltung enthielt dann der „Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen
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Gängel in R. Will (Fn. 12), S. 25 (29 f.). Gängel in R. Will (Fn. 12), S. 31 ff. Marqua, DRiZ 1993, 405 (407). Stelkens, JuS 1991, 991. Immisch (Fn. 14), S. 184 ff. und 238 ff.; Kraut, (Fn. 14), S. 28 ff. Einzelheiten bei: Immisch (Fn. 14), S. 196 ff. GBl. (DDR) I 1990, Nr. 33, S. 299.
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der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland“24. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) vom 31.8.1990 ging in Anl. I Kap. III Sachgebiet A Abschnitt III zwar im Grundsatz davon aus, die Gerichte und das Personal der DDR in weitem Umfang in das westdeutsche System zu überführen. Allerdings ergab sich für die Finanzgerichtsbarkeit die Besonderheit, dass die DDR im Bereich des gerichtlichen Rechtsschutzes in Steuerstreitigkeiten über keine vergleichbaren Strukturen verfügte. Demzufolge war im Hinblick auf die Finanzgerichtsbarkeit praktisch ein völliger Neuanfang erforderlich. Eine besondere Herausforderung stellte vor diesem Hintergrund das Rekrutieren des richterlichen Personals dar, um ein eigenständiges Finanzgericht in Brandenburg errichten zu können. Denn ein derartiges Fachgericht erforderte – als neuartiger Zweig der Justiz und zudem auf dem fremden Gebiet des (vorrangig westdeutschen) Steuerrechts – Richterinnen und Richter, die sich nicht nur das Justizsystem nach westdeutschem Verständnis zueigen machen, sondern auch das fremde Gebiet des Steuerrechts westdeutscher Prägung verinnerlichen mussten. 3. Die Errichtung des Brandenburger Finanzgerichts im Jahre 1993 Der vorerwähnte Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion25 sah in Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 2 für Steuerstreitigkeiten zunächst Spezialspruchkörper bei den ordentlichen Gerichten vor. Dementsprechend bestimmte der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) vom 31.8.1990, dass bei den Bezirksgerichten, in deren Bezirk die jeweilige Landesregierung ihren Sitz hatte, Senate für Finanzrecht mit der Rechtsprechung auf dem Gebiet des Steuerrechts zu betrauen waren; im Übrigen sollten die Länder baldmöglichst eigene Finanzgerichte einrichten26. Nach der Wende bot in Brandenburg daher zunächst der provisorisch eingerichtete Finanzsenat bei dem Bezirksgericht in Potsdam für Brandenburger Steuerpflichtige erstmals gerichtlichen Rechtsschutz in Steuersachen. Dies wurde in praktischer Hinsicht maßgeblich möglich durch den frühzeitigen Einsatz eines Finanzrichters aus Köln, der für Nordrhein-Westfalen als dem Partnerland für Brandenburg in Potsdam wirkte. Der tatsächlich nachgefragte Rechtsschutz kam erst allmählich in Gang. Dies entsprach auch der Erfahrung an den anderen Bezirksgerichten27. Gingen 1990 noch zehn Verfahren in Steuersachen bei dem Finanzsenat in Potsdam ein, stieg diese Zahl im Jahre 1991 bei dem Bezirksgericht im Bereich der steuerrechtlichen Streitigkeiten immerhin auf rund 100 und im Jahre 1992 auf rund 220 Verfahren. 1993 waren 703 und 1994 insgesamt 1.327 Eingänge zu verzeichnen.
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GBl. (DDR) I 1990, Nr. 34, S. 332; vgl. hierzu: Stelkens, JuS 1991, 991 m. w. N. GBl. (DDR) I 1990, Nr. 34, S. 332. EinigV Anl. I Kap. III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Buchst. t und v. Dürr, DStR 1992, 1049 (1054).
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Bereits im November und Dezember 1990 fanden erste Fortbildungsmaßnahmen für (ehemalige) DDR-Richter auf dem Gebiet des Steuerrechts in Wustrau am Ruppiner See statt. Im Oktober 1992 traf dann der Vorsitzende Richter am Finanzgericht Hartig als Beauftragter zur Errichtung des Finanzgerichts des Landes Brandenburg in Potsdam ein. Zum 1. Januar 1993 wurde neben der eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit auch eine selbständige Finanzgerichtsbarkeit in Brandenburg eingerichtet28. Rund 150 Verfahren gingen von dem Potsdamer Bezirksgericht auf das Gericht mit Sitz in Cottbus über, für das zunächst sechs Richterinnen und Richter in zwei Senaten vorgesehen waren. Am 9. März 1993 fand die erste Sitzung des neu errichteten Finanzgerichts in Cottbus statt.
III. Standortfaktor Justiz im heutigen Brandenburg 1. Strukturpolitische Bedeutung für (Süd-)Brandenburg Die strukturpolitische Bedeutung der Justiz ist gerade in strukturschwachen Regionen nicht zu unterschätzen. So verfügt Südbrandenburg lediglich über eine geringe Anzahl von größeren Wirtschaftseinheiten, die in nennenswertem Umfang (industrielle) Vollarbeitsplätze zur Verfügung stellen. Vor diesem Hintergrund kommt der Justiz in dieser Region durchaus eine arbeitsmarktpolitische Bedeutung zu. Immerhin verfügen sämtliche Gerichtszweige in Cottbus über einen Gerichtssitz. Die verschiedenen Justizeinrichtungen in Cottbus und Umgebung bieten insgesamt rund 900 Vollarbeitsplätze. Insofern leisteten gerade das Finanzgericht des Landes Brandenburg wie die Justiz insgesamt einen merklichen Beitrag im Rahmen der Strukturpolitik für das südliche Brandenburg. Die Entscheidungen, Cottbus ursprünglich als Gerichtssitz für das Finanzgericht des Landes Brandenburg zu bestimmen und später für das gemeinsame Finanzgericht Berlin-Brandenburg den Sitz in Cottbus beizubehalten, sind maßgeblich im Hinblick auf die mit dieser Strukturmaßnahme verbundenen politischen Vorgaben und Zielsetzungen zu beurteilen. Natürlich hätte die Wahl einer berlinnahen Lage für viele Beteiligte aus Berlin, dem Berliner Umland sowie dem Norden Brandenburgs die Wege verkürzt. Allerdings ist es nun einmal typisch für ein Flächenland, dass die Wege zu einzelnen nicht zentral gelegenen Einrichtungen des öffentlichen Lebens länger ausfallen können. 2. Bedeutung der Gerichte im Alltag der Bürgerinnen und Bürger Gewaltenteilung verlangt unabhängige Gerichte und Richter. Deren Unabhängigkeit bildet die Grundlage rechtsstaatlicher Verfahren, die alle staatliche Macht teilen, zumindest relativieren und auf diese Weise staatliche Willkür jedenfalls im Grundsatz verhindern29. Die Sehnsucht nach rechtsstaatlichen
__________ 28 Gesetz v. 10.12.1992, GVBl. für das Land Brandenburg, Teil I 1992, 504. 29 Wildhuber, DRiZ 2009, 316.
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Strukturen, durchsetzbaren subjektiven Rechten sowie einer die staatliche Macht begrenzenden Justiz bildete eine der wesentlichen Triebfedern für die friedliche Revolution in der DDR30. Gerichte, die neben den Staatsanwaltschaften einen maßgeblichen Teil der dritten Gewalt ausmachen, leisten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Aufbau und Funktionieren des Rechtsstaats im Sinne des Art. 20 Abs. 2 und 3 GG. Dieser lebt neben den einschlägigen Verfahrensregelungen nämlich maßgeblich von der (berechtigten) Erwartung der Menschen an eine im Grundsatz an dem Kriterium der Gerechtigkeit orientierten und auf dem Grundsatz der Gewaltenteilung beruhenden Rechtsund Gesellschaftsordnung. Gerichte sind hiernach Dienstleistungsunternehmen des demokratischen Rechtsstaats. Der Auftrag für die Justiz lautet, Gerechtigkeit zu schaffen oder durchzusetzen. Insoweit erfüllt die Justiz in einem demokratischen Rechtsstaat ein Grundbedürfnis des Einzelnen wie auch der Gesellschaft. Justiz – insbesondere in den Ausprägungen der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten – ist in diesem Sinne die Institution, die hilft, Rechtsfrieden zu schaffen: die Gemeinschaft einigt sich auf bestimmte Verfahrensabläufe, legitimiert auf diese Weise die Entscheidungsfindung und kanalisiert die Interessenkonflikte zwischen den Bürgern oder zwischen dem Staat und dem Einzelnen. Dabei erscheint es wenig hilfreich, plakativ – unter Verweis auf das bekannte Zitat von Bärbel Bohley – lediglich auf den Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Rechtsstaat hinzuweisen. Rechtsstaatliche Strukturen „buchstabieren Gerechtigkeit notwendigerweise klein“31. Daher können die Repräsentanten des Rechtsstaats sich immer nur stets neu bemühen, entsprechend dem Ideal der Gerechtigkeit den konkreten Anforderungen ihrer jeweiligen Aufgabenstellung zu entsprechen. Gleichermaßen sind gerade auch diejenigen, die sich von Berufs wegen mit dem Recht und den Gesetzen befassen, aufgerufen, über die unmittelbare Rechtsanwendung hinaus für den Rechtsstaat zu werben und diesen Rechtsstaat mit Leben zu füllen. Denn die rechtsstaatlichen Konstruktionen bedürfen, um gesellschaftliche Wirklichkeit und auf diese Weise erst wirksam zu werden, eines allgemeinen Rückhalts im Bewusstsein der Menschen32. Ein Rechtsstaat ist ohne ein Rechtsbewusstsein, ohne eine Bereitschaft zu weitgehender Rechtstreue und ohne den Willen zu seiner Durchsetzung jedenfalls seitens der Mehrheit der Bevölkerung nicht vorstellbar33. Um die Strukturunterschiede der beiden Staaten vor der Wende zu verstehen, ist immer wieder ein Rückgriff auf die unterschiedliche Entwicklung erforderlich. Die Bundesrepublik war politisch und ökonomisch frühzeitig Teil des atlantischen Bündnisses mit einem ausgeprägt demokratischen Grundverständnis westlicher Prägung, begünstigt insbesondere durch den Marshall-Plan und alsbald einbezogen in die europäischen Handelsstrukturen. Dem stand die
__________ 30 Stern in 40 Jahre SED-Unrecht Eine Herausforderung für den Rechtsstaat, ZG Zeitschrift für Gesetzgebung, Sonderheft 2 (1991), S. 1. 31 Limbach in 40 Jahre SED-Unrecht (Fn. 30), S. 20 (22). 32 Stern in 40 Jahre SED-Unrecht (Fn. 30), S. 2. 33 Kinkel in 40 Jahre SED-Unrecht (Fn. 30), S. 6.
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DDR gegenüber, deren ökonomische Rahmenbedingungen sich von Beginn an als ungleich schwieriger erwiesen. Hinzu kam die Einbindung in ein nach westlichem Verständnis undemokratisch konzipiertes Bündnis mit betont hegemonialer Struktur und entsprechenden innerstaatlichen Folgen für den (nahezu ausbleibenden) Parteienwettbewerb und unzureichende rechtsstaatliche Strukturen i. S. d. Grundgesetzes. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang erneut der Umstand, dass Rechtsstaat als Ausdruck insbesondere der Gewaltenteilung i. S. d. Art. 20 Abs. 2 und 3 GG dem politischen System der DDR nicht bekannt war. Die vom jeweiligen System geprägte politische Einordnung der Gerichte in den beiden deutschen Staaten und deren je eigenes Selbstverständnis führten im Ergebnis auch zu zwei unterschiedlichen Rechtspflegesystemen34. Trotz zahlreicher Parallelen und teilweise deckungsgleicher Terminologie verblieben grundlegende Gegensätze zwischen bürgerlicher und sozialistischer Justiz. Dementsprechend sind auch die Vorstellungen der Menschen von rechtsstaatlichem Wirken und die Erwartungen an den Rechtsstaat bundesrepublikanischer Prägung in Brandenburg nach der Wende vielfach zunächst eher diffus gewesen. Insofern sind Enttäuschungen vorprogrammiert, wenn die Menschen in Brandenburg (erstmals) den im Westen hinlänglich bekannten Realitäten des Rechtsstaats begegnen: Gerichtsverfahren mögen als überlang empfunden werden; das Durchsetzen (vermeintlich) berechtigter Ansprüche kann an der unzureichenden Beweislage scheitern; aus für die Kläger gelegentlich nicht nachvollziehbaren Gründen mögen die Argumente die Richterbank nicht überzeugt haben; im Einzelfall gelangen Gerichte zu Entscheidungen, die dem Rechtsgefühl etlicher Bürger (diametral) zuwider laufen; auch (offensichtlichen) Tätern, die in schändlicher Weise mit ihren Opfern umgegangen sind, kommen die rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne von „Justizgrundrechten“ eines fairen und ordnungsgemäßen Verfahrens zugute. 3. Justizpolitische Bedeutung der Finanzgerichtsbarkeit in Brandenburg Neben der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist es vor allem die Finanzgerichtsbarkeit, die mit ihrer Rechtsprechung versuchen kann, die gerade für die ehemaligen DDR-Bürger komplizierten (Steuer-)Gesetze westdeutscher Prägung und die damit einhergehenden Verfahren im Ansatz verständlich und bestenfalls auch durchschaubarer zu machen. Zudem können die Gerichte dazu beitragen, Misstrauen gegenüber dem Staat abzubauen und den Menschen das Bewusstsein zu vermitteln, dem zunächst als übermächtig empfundenen Staat nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. An dieser Stelle gewinnt erneut das unterschiedliche Rechtsverständnis, das sich bis 1989 herausgebildet hatte, Bedeutung. Das oben skizzierte Selbstverständnis der DDR-Gerichte prägte natürlich auch die Wahrnehmung der Justiz durch die Bürger der DDR. Wie sehr die Menschen nach der Wende in Brandenburg einen derartigen Wandel des Gerichtssystems erwarteten, wurde in
__________ 34 Immisch (Fn. 14), S. 233 ff.; Marqua, DRiZ 1993, 405 (408); Stelkens, JuS 1991, 991 m. w. N.
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den zahlreichen Schriftsätzen, die in der Anfangszeit bei dem Finanzgericht eingingen, deutlich, in denen Kläger für ihren Fall ausdrücklich den Einsatz eines „Westrichters“ verlangten. Der Ruf nach dem „Westrichter“ ist Ausdruck des „Gebots des vertrauenswürdigen Richters“35. Hinter dieser Anforderung steht die Tatsache, dass Rechtsfrieden nur bei einer hinreichenden Akzeptanz der Richter durch die Rechtssuchenden denkbar ist. Überzeugungsarbeit, die gerichtliche Entscheidungen leisten sollten, setzt in diesem Sinne Vertrauen in die Kompetenz, Integrität und vor allen Dingen auch Neutralität der Richter voraus. Die umfassende Unabhängigkeit der Richter vom Staat gewinnt für die Gerichte der (allgemeinen) Verwaltungsgerichtsbarkeit wie auch der öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeit ganz offensichtlich besondere Bedeutung. Denn die Richterinnen und Richter der Verwaltungsgerichte oder der Finanzgerichte bieten ja gerade Rechtsschutz gegenüber hoheitlichem Handeln. Selbst bei der Anwendung des eher „technisch“ erscheinenden Steuerrechts können die bereits angesprochenen Strukturunterschiede im Hinblick auf das Wahrnehmen und Durchsetzen von Rechtspositionen Bedeutung gewinnen. So stand etwa für das sozialistische Rechtsverständnis nicht im Vordergrund, (vorrangig) die Grenzen einer normativen Vorgabe auszutesten. Demgegenüber finden sich gerade im geltenden Steuerrecht Tendenzen, durch immer neue Gestaltungen, die häufig steuerorientiert gewählt werden und vielfach dem wirtschaftlichen Gehalt der spezifischen Marktteilnahme nicht entsprechen, steuermindernde Ergebnisse zu erzielen. Ein weiterer Gesichtspunkt kommt hinzu: nach wie vor verbinden die Menschen in den östlichen Ländern – jedenfalls in Teilbereichen – als einen wesentlichen (positiven) Aspekt des DDRRechts dessen Verständlichkeit und Überschaubarkeit auch für den juristischen Laien36. Justiz sieht sich folglich in den östlichen Ländern – zusätzlich zu ihren Kernaufgaben – nach wie vor der besonderen Herausforderung gegenüber, die Menschen in das bundesrepublikanische (Rechts-)System politisch und sozial zu integrieren37. Ein Rechtsstaat, der dem einzelnen Bürger auch gegenüber hoheitlichen Akten gerichtlichen Rechtsschutz bietet, war den Menschen in der DDR über Jahrzehnte hinweg fremd. Gerichte geben diesem im Grundgesetz vorgezeichneten Rechtsstaat mithin konkrete Konturen. Insofern können Richterinnen und Richter gerade in Ostdeutschland wichtige Aufklärung leisten über die Möglichkeiten und Grenzen rechtsstaatlicher Verfahren. Zudem ist ständige Überzeugungsarbeit für einen bürgerlich verfassten Staat erforderlich, für den es sich einzusetzen lohnt. Daher gilt es täglich für alle Richterinnen und Richter auf ein Neues, das Vertrauen der Menschen in den erst wenige Jahre für sie erfahrbaren Rechtsstaat und seine konkreten Ausformun-
__________ 35 Stelkens, JuS 1991, 991 (995). Zur Bedeutung (Symbolwert) von Personalwechsel vgl. Bracher in 40 Jahre SED-Unrecht (Fn. 30), S. 8 (9 f.). 36 H.-J. Will in R. Will (Fn. 12), S. 71 (75 f.). 37 Stelkens, JuS 1991, 991 (995 f.).
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gen zu gewinnen. Dies setzt unter anderem voraus, den Rechtsstaat im Sinne des Grundgesetzes sowie die einzelnen rechtsstaatlichen Ausprägungen dem Menschen immer wieder zu erklären. In diesem Zusammenhang müssen die Gerichte es ernst nehmen, wenn Menschen mit hohen Erwartungen an den Rechtsstaat die Kälte beklagen, die von Richtern zuweilen ausgehen kann; wenn das Gerichtsdeutsch als wenig warmherzig empfunden wird; wenn aus Zeitmangel nicht verhandelt, sondern schriftlich entschieden wird38. In diesem Zusammenhang gewinnt für Brandenburg die Wahl zentrumsferner Gerichtsstandorte in justiz- wie auch in strukturpolitischer Hinsicht eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Das gemeinsame Finanzgericht gerade im Süden Brandenburgs zu errichten, beinhaltet daher eine landespolitisch wichtige Entscheidung mit beachtlicher – auch rechtspolitischer – Signalwirkung. Denn es gilt der Grundsatz: Der Rechtsstaat erhält für die Bürgerinnen und Bürger häufig erst durch die Gerichte, das heißt insbesondere durch das Begegnen mit konkreten Richterinnen und Richtern, ein Gesicht. Gerichtsgebäude im Straßenbild, der Besuch ausgewählter Gerichtsverhandlungen etwa im Rahmen des Schulunterrichts oder die Berichte der lokalen Presse zu Gerichtsverfahren vor Ort machen Justiz vorstellbar. Auf diese Weise wird die rechtsprechende Gewalt in ihren unterschiedlichen Facetten (Rechtsweg, Instanzenzug oder Unwägbarkeiten der Rechtsfindung, um nur einige Aspekte zu nennen) für die Menschen fassbar. Diese Wirkung ist – auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall – durchaus nicht zu unterschätzen. Dabei sind zusätzlich die zahlreichen Aktivitäten zu berücksichtigen, die Richterinnen und Richter vielfach außerhalb ihrer dienstlichen Tätigkeit entfalten. So erteilen die Angehörigen dieser Berufsgruppe Rechtskundeunterricht in den Schulen, nehmen verstärkt an politischen Diskussionen und sonstigen kommunalpolitischen Veranstaltungen teil, gestalten in beachtlichem Umfang unterschiedliche Vereinsaktivitäten mit und tragen im Rahmen der Bürgerbeteiligung zum öffentlichen Leben bei. Das gemeinsame Finanzgericht stärkt hiernach den Gerichtsstandort Cottbus und leistet insgesamt im Süden Brandenburgs einen gewichtigen justizpolitischen Beitrag.
IV. Länderneugliederung 1. Fusion der Finanzgerichte von Berlin und Brandenburg Zum 1. Januar 2007 fusionierten das Finanzgericht des Landes Brandenburg sowie das Finanzgericht Berlin. Die Grundlage für die Gerichtsfusion bilden der Staatsvertrag v. 26.4.2004 über die Errichtung gemeinsamer Fachobergerichte der Länder Berlin und Brandenburg sowie das Gesetz zu dem vorbezeichneten Staatsvertrag und zur Änderung anderer Gesetze vom 29.6.2004. Die Präambel des Staatsvertrages hebt die historische Zusammengehörigkeit der Länder Berlin und Brandenburg ausdrücklich hervor. Weiterhin sollen die
__________ 38 Loest in 40 Jahre SED-Unrecht (Fn. 30), S. 17 (19).
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gemeinsamen Obergerichte zu einer effizienteren Justizstruktur beitragen sowie das Zusammenwachsen der beiden Länder fördern. Infolge des Staatsvertrages über die Errichtung gemeinsamer Fachobergerichte bestimmten die beteiligten Länder für das Oberverwaltungsgericht und das Landesarbeitsgericht jeweils Berlin als Gerichtssitz sowie für das Landessozialgericht Potsdam und für das Finanzgericht Cottbus als Sitz. Nur zur Erinnerung: wie schwierig sich Fusionsbestrebungen gestalten können, wird an dem Projekt eines gemeinsamen Zollsenats der Finanzgerichte Berlin und des Landes Brandenburg deutlich. Bereits im Jahre 1993 war der betreffende Abschluss eines Staatsvertrages vorgesehen. Diese Bemühungen scheiterten allerdings, nicht zuletzt weil aus Berliner Sicht der „Reiseaspekt“ gegen einen Zollsenat mit Sitz in Cottbus sprach39. Sobald in der justizpolitischen Debatte das Ziel einer effizienten Justiz genannt wird, erweist sich dies häufig als wohlklingende Bezeichnung für eine vorrangig angestrebte Kostenersparnis, ohne tatsächlich auf eine Verbesserung des Rechtsschutzes abzuzielen. Insoweit erscheint eine genauere Überprüfung erforderlich. Vor der Fusion verfügte das Finanzgericht Berlin im Jahre 2006 über Planstellen für 28 Richterinnen und Richter sowie 32,22 Planstellen im nichtrichterlichen Dienst. Für das Finanzgericht des Landes Brandenburg waren 20 Planstellen für Richterinnen und Richter sowie insgesamt 22 Stellen für den nichtrichterlichen Dienst vorgesehen. Im Zuge der Fusion sank die ursprüngliche Anzahl von 102,22 (60,22 + 42) immerhin auf insgesamt 96 Stellen des gemeinsamen Stellenplans zum 1.1.2007. Dieser Stellenabbau verringert die Personalkosten durchaus in einem beachtlichen Umfang. Gleiches gilt in Teilbereichen für einzelne Sachkosten, wenn man insbesondere den Umstand berücksichtigt, dass seit Januar 2007 lediglich eine Bibliothek an dem Gerichtsstandort Cottbus erforderlich ist. Allerdings erfordert der Kostenvergleich eine tiefer gehende Betrachtung. So haben sich etwa die Kosten für die den Richterinnen und Richtern persönlich zur Verfügung gestellte Literatur (sog. Handbibliothek) im Grundsatz – sowohl bezogen auf den einzelnen Richterarbeitsplatz als auch insgesamt – nicht verändert. Zugleich fielen für das Zusammenführen der Gerichte in Cottbus erhebliche Baukosten an: erforderlich wurden der Ausbau eines Dachgeschosses sowie der Einbau einer weiteren Aufzugsanlage. Hierbei handelt es sich um Kosten, die den Wert des betreffenden Gebäudes auf Dauer in nennenswertem Umfang erhöhen. Dagegen haben die (einmalig angefallenen) Kosten für den eigentlichen Umzug des Berliner Finanzgerichts, insbesondere den Transport der Akten, zu keiner vergleichbaren Wertsteigerung geführt. Im Zuge der Fusion wurde es, nachdem nicht alle Berliner Richterinnen und Richter nach Cottbus gewechselt waren, erforderlich, zahlreiche Richterstellen neu zu besetzen. Dabei gelang es, eine ganze Reihe äußerst befähigter (Steuer-)Juristen zu gewinnen. Dies betraf zunächst Richter aus der Verwal-
__________ 39 Staatssekretär Borrmann laut Tagesspiegel v. 15.4.1993.
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tungsgerichtsbarkeit. Angesichts ihrer ausgeprägten Bereitschaft, sich zügig in das Steuerrecht einzuarbeiten, handelt es sich um Kollegen, die inzwischen mit großem Erfolg ihre richterliche Erfahrung in die gemeinsame Arbeit einbringen. Weiterhin nahmen seit dem 1.1.2007 drei ehemalige Finanzbeamte ihre Tätigkeit bei dem gemeinsamen Finanzgericht auf sowie immerhin drei Anwälte, die zudem erfolgreich das Steuerberaterexamen abgelegt hatten und seit mehreren Jahren auch als Steuerberater tätig gewesen waren. So wirkt zum Beispiel in einem Senat ein Richter, der bereits kurze Zeit vor der Wende in den Justizdienst der DDR eingetreten war, als Vorsitzender zusammen mit einem ehemaligen Verwaltungsrichter sowie dem früheren Partner einer renommierten international ausgerichteten Partnerschaftsgesellschaft von Rechtsanwälten und Steuerberatern. Man kann unschwer ermessen, welch überaus vielschichtige Diskussionen in einem Senat eine derartige Zusammensetzung zur Folge haben kann. Auf diese Weise tragen alle neu hinzugekommenen Richter in bemerkenswertem Umfang zu dem hohen Niveau der Rechtsprechung des gemeinsamen Finanzgerichts bei. Die Gerichtsfusion soll erklärtermaßen wie auch das Zusammenlegen weiterer Behörden und sonstiger Verwaltungseinheiten dazu beitragen, inhaltlich die Strukturen der beiden Länder zu vereinheitlichen und die Zusammenarbeit im Interesse der Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. In diesem Kontext bildet die Fusion der Finanzgerichte wie auch der anderen Obergerichte sicher einen wichtigen Baustein. 2. Fusionsbestrebungen der Länder Berlin und Brandenburg Die Mark Brandenburg reicht in ihren Anfängen in das 12. Jahrhundert zurück. Als Beginn wird insbesondere die dauerhafte Sicherung der Havelfeste Brandenburg durch den Markgrafen Albrecht der Bär im Juni 1157 angesehen40. Im Jahre 1238 wurde das bereits 1237 bestehende Cölln – die „Schwesterstadt“ des erstmals 1244 urkundlich erwähnten, nur durch die Spree getrennten Berlins – in einer Urkunde angesprochen. Seitdem bildeten die Stadt sowie einzelne heutige Stadtteile (zum Beispiel Spandau oder Köpenick) mehr oder weniger bedeutsame Orte in Brandenburg. Berlin entwickelte sich frühzeitig zur Hauptstadt der Mark, bevor die Stadt sich etwa seit 1875 in mehreren Schritten aus der Provinz Brandenburg herauslöste41. Zugleich gewann Berlin zunehmend den Stand einer europäischen Metropole42. Immerhin war Berlin seit 1710 Haupt- und Residenzstadt Preußens und seit 1871 Hauptstadt des deutschen Reiches. Die förmliche Abtrennung Berlins von Brandenburg fand erst 1945 statt mit der Einteilung Berlins in die vier Sektoren. So wie die drei Westsektoren Berlins formal bis 1990 nicht zur Bundesrepublik gehörten, bildete Ostberlin einen von Brandenburg – seit 1952 in Gestalt der drei Bezirke
__________ 40 Partenheimer, Die Entstehung der Mark Brandenburg, 2007, S. 9 und 74 ff. 41 Partenheimer (Fn. 40), S. 10. 42 Busch, Berlin-Brandenburg: Zweiter Anlauf für eine Fusion, UTOPIE kreativ, H. 144 (Oktober 2002), 898.
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Cottbus, Frankfurt (Oder) und Potsdam – getrennten Teil. Das Land Brandenburg entstand in seiner heutigen Form erst wieder im Jahre 199043. Schon frühzeitig entstanden im Zusammenhang mit der Wende politische Überlegungen, Berlin und Brandenburg wieder zu einem Land zusammenzuführen. In Art. 5 des Einigungsvertrages empfahlen die Regierungen der beiden Vertragsparteien den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands, sich innerhalb von zwei Jahren mit den Möglichkeiten einer Neugliederung für den Raum Berlin/Brandenburg abweichend von den Vorschriften des Art. 29 GG zu befassen. Daraufhin ergänzte der Gesetzgeber im Jahre 199444 das Grundgesetz durch Art. 118a dahingehend, dass – im Grundsatz als lex specialis45 in einem gegenüber Art. 29 GG vereinfachten Verfahren – eine diesbezügliche Neugliederung unter Beteiligung der Berliner und Brandenburger Wahlberechtigten durch Vereinbarung der beiden Länder erfolgen kann. Allerdings hat sich die überwiegende Mehrheit der Brandenburger46 in der Volksabstimmung am 5. Mai 1996 gegen eine Fusion mit Berlin ausgesprochen47. Die Gründe für die in der Volksabstimmung zum Ausdruck gekommene ablehnende Haltung der Brandenburger waren sicherlich vielfältig. So sahen sich die Menschen in Brandenburg seit der Wende tiefgreifenden Veränderungen gegenüber, die häufig zu beachtlichen Unsicherheiten führten und ihnen hohe Anpassungsleistungen abverlangten. Daraus mag eine Tendenz entstehen, auf weitere Veränderungen zunächst einmal ablehnend zu reagieren48. Sofern die Politik in einer derartigen Situation nicht mit Nachdruck sich bemüht, die zu erwartenden positiven Folgen einer Veränderung herauszustellen, wird der Beharrungswille sich verfestigen. Weiterhin mögen – neben handfesten Gesichtspunkten wie der ungleich höheren (Pro-Kopf-)Verschuldung Berlins – alte Ressentiments gegen (Ost-)Berlin als privilegierter Hauptstadt eine Rolle gespielt haben. Schließlich sind auch tatsächliche oder vermeintliche Unterschiede der individuellen Ausprägung wie persönliches Auftreten der Menschen, Anspruchsdenken Einzelner oder des sozialen Umgang miteinander zu berücksichtigen, die manchen Brandenburger auf Distanz zu einer gemeinsamen Landesregierung in einem neu gebildeten Land gehen ließen. Immerhin hätte in einer derartigen Regierung die Berliner Seite auf Grund der im Vergleich zu Brandenburg deutlich höheren Einwohnerzahl ein gewisses Übergewicht erlangt. Nach dem Scheitern des Neugliederungsvertrages dürften Berlin und Brandenburg auf absehbare Zeit eine Fusion kaum ernsthaft anstreben. Gleichwohl sind die beteiligten Landesregierungen durchaus bemüht, trotz der Eigenstän-
__________
43 Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik – Ländereinführungsgesetz – v. 22.7.1990, GBl. (DDR) I Nr. 51, S. 955. 44 Gesetz v. 27.10.1994, BGBl. I 1994, 3146. 45 Maunz/Herzog/Scholz, Loseblatt (Stand: 54. EL Januar 2009), Art. 118a GG Rz. 5 f. 46 Zu Einzelheiten des erforderlichen Quorums, vgl. Maunz/Herzog/Scholz (Fn. 45), Art. 118a GG Rz. 10. 47 Ausführlich: Maunz/Herzog/Scholz (Fn. 45), Art. 118a GG Rz. 1. 48 Busch, Berlin-Brandenburg: Zweiter Anlauf für eine Fusion, UTOPIE kreativ, H. 144 (Oktober 2002), 898 (900).
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digkeit der beiden Länder auf vielen Gebieten zu kooperieren. Zahlreiche Staatsverträge und Verwaltungsabkommen bis hin zu formlosen Absprachen und gemeinsamem Auftreten regeln die Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Gebieten. Für den erneuten Versuch einer Länderfusion wird insbesondere ins Feld geführt, ein Zusammenlegen würde bürokratische Hemmnisse abbauen, die Kosten der öffentlichen Verwaltung insgesamt senken und zugleich den Wirtschaftsstandort Berlin-Brandenburg stärken. In diesem Zusammenhang ist aber auch nicht zu übersehen, dass die politischen Spitzen jedenfalls in Brandenburg wie auch führende Einrichtungen seit geraumer Zeit eine Länderfusion nicht wirklich vorantreiben. Denn trotz aller gemeinsamen Anstrengungen sind Tendenzen erkennbar, nach denen sich die Länder zumindest in wichtigen Teilbereichen jedenfalls nicht annähern. Diese betrifft einzelne herausgehobene Planungsvorhaben, das Projekt „Gemeinsame Arbeitsmarktregion“ bis hin zu inhaltlich sehr unterschiedlichen Novellierungen der ländereigenen Bauordnungen. Bei einem erneuten Versuch einer Länderfusion dürften die Finanzen, konkret also die unterschiedliche pro-Kopf-Verschuldung, das Sichern zusätzlicher Einnahmen und die angemessene Mittelverteilung, zentrale Bedeutung gewinnen. Immerhin reklamiert Berlin bislang mit gutem Grund sein Stadtstaatenprivileg und die damit verbundenen Sonderzuweisungen aus dem Länderfinanzausgleich. Zudem muss einnahme- wie ausgabenmäßig der Hauptstadtcharakter Berlins angemessen berücksichtigt werden. Immerhin dürfte bei einem erneuten Anlauf die Möglichkeit bestehen, eine Fusion im vereinfachten Verfahren gemäß Art. 118a GG zu bewerkstelligen. Die ungleich anspruchsvolleren Voraussetzungen des Art. 29 GG müssen auch zukünftig nicht für ein Zusammenlegen Berlins und Brandenburgs erfüllt werden. Die im Jahre 1996 gescheiterte Fusion führte nicht zu einem „Verbrauch“ des Art. 118a GG49. Die Chancen für ein zukünftiges Zusammengehen von Berlin und Brandenburg steigen, weil Berlin und das regionale Umfeld (als „Hauptstadtregion“) von den inländischen wie auch den ausländischen Investoren als ein einheitlicher Wirtschaftraum wahrgenommen wird. In vergleichbarer Weise sehen zahlreiche Pendler den Großraum Berlin als ihren einheitlichen Lebensraum an. Dies entspricht der Sichtweise vieler Ausländer, die etwa den Bereich Berlin-Potsdam als einheitliche Zielregion für (private) Besuche oder (berufliche/ geschäftliche) Kontakte verstehen. Schließlich erscheint gerade in den neuen Ländern eine Gebietsstruktur sinnvoll50. Dabei ist natürlich stets eines der Hauptprobleme zentraler Strukturen zu beachten: Das Bilden regionaler oder gar überregionaler Zentren führt nicht zwangsläufig zu einer flächendeckenden Stärkung der Region. Vielmehr droht zugleich das Veröden der Peripherie. Dieses Problem wird insbesondere im Flächenland Brandenburg deutlich und im Hinblick auf den Großraum Berlin
__________ 49 Maunz/Herzog/Scholz (Fn. 45), Art. 118a GG Rz. 11. 50 Busch, Berlin-Brandenburg: Zweiter Anlauf für eine Fusion, UTOPIE kreativ, H. 144 (Oktober 2002), 898 (899).
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noch verstärkt. Ein starkes Zentrum entfaltet gerade in einem nur relativ dünn besiedelten Land eine besondere Sogwirkung und bietet auf diese Weise nicht zwingend einen Vorteil für die hauptstadtfernen Landesteile. Im Gegenteil droht etwa in der Prignitz und der Uckermark, im Oderland und in der Lausitz durchaus eine „Versteppung“51. 3. Neugliederung der Länder Die territoriale Neugliederung bildet in der deutschen Nachkriegsgeschichte ein Dauerthema. Die Ursprünge dieser Diskussion reichen zurück bis zu den vielbeklagten Strukturproblemen bei Gründung des deutschen Reiches im Jahre 1871. Über vergebliche Versuche einer Strukturverbesserung zu Beginn der Weimarer Republik bis hin zu den Bemühungen nach dem II. Weltkrieg bewegten sich die Maßnahmen einer Neugliederung eher im marginalen Bereich. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass auch nach dem II. Weltkrieg die Gliederung der Länder vielfach zu Zufallsgebilden führte. Insbesondere die jeweiligen Zoneneinteilungen und die unterschiedlichen Interessen der Westmächte führten zu einer Struktur, in der historische, sozioökonomische oder raumordnerische Gesichtspunkte zumeist nur eine untergeordnete Rolle spielten52. Neben der verfassungsrechtlichen Absicherung der Länder sieht das Grundgesetz in Art. 29 ausdrücklich die Möglichkeit vor, das Bundesgebiet neu zu gliedern. Angesichts der eher „äußeren“ Faktoren53 (Flächenumfang, geographischer Zuschnitt, Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft, Raumordnung, Raumplanung) spricht deren Ungleichgewicht zwar vielfach für eine Neueinteilung. Landsmannschaftliche Besonderheiten, historische Befindlichkeiten, soziales Gefüge und ähnliche „weiche“ Faktoren vermochten bislang allerdings weitgehend eine Neugliederung zu unterbinden. Vielleicht symptomatisch enthält Art. 29 GG – abgesehen von der programmatischen Zielsetzung des in Abs. 1 zum Ausdruck kommenden Rahmenprogramms – in erster Linie Vorgaben zur verfahrensrechtlichen Seite. Dagegen erweisen sich die sog. Richtbegriffe in Art. 29 Abs. 1 GG54 als weitgehend unbestimmt, teilweise sogar als widerspruchsvoll. Jedenfalls fehlt eine konkrete inhaltliche Orientierung für die Neuordnung des Bundesgebiets mit hinreichend verbindlichem Charakter. Immerhin verweist Art. 29 Abs. 1 GG auf die Größe und Leistungsfähigkeit der Länder – und zwar unter dem Gesichtspunkt volkswirtschaftlicher Zweckmäßigkeit – im Hinblick auf die ihnen obliegenden Aufgaben. Mithin lässt sich für Neugliederungsmodelle die Forderung gut begründen, dass die Leistungsfähigkeit der Länder in einem vereinten Europa und in einer durch Globalisierung unumkehrbar geprägten Welt maßgebliche Bedeutung gewinnen
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51 Busch, Berlin-Brandenburg: Zweiter Anlauf für eine Fusion, UTOPIE kreativ, H. 144 (Oktober 2002), 898 (900). 52 Laufer, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, 1991, S. 204 ff. 53 In der Terminologie von Maunz/Herzog/Scholz (Fn. 45), Art. 29 GG Rz. 27, handelt es sich um Richtbegriffe, die an eher objektive Gegebenheiten anknüpfen. 54 Ausführlich zu den „Richtbegriffen“, vgl. Maunz/Herzog/Scholz (Fn. 45), Art. 29 GG Rz. 23 ff.; Laufer (Fn. 52), S. 208 ff.
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muss. Insbesondere nach 1989 und im Hinblick auf die mit der Vereinigung verbundenen Kosten nahm die Diskussion einer Neugliederung wieder sprunghaft zu. Zunächst kam es zu den Zwei-, Drei- und Vier-Länder-Modellen hinsichtlich des ehemaligen DDR-Territoriums55. Daran schlossen sich gesamtdeutsche Neugliederungsvorschläge an, etwa mit fünf Ländern im Westen und einem „Nordstaat“ (Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin) sowie einem „Südstaat“ (Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen) im Osten56. Es überrascht nicht, dass gerade in den östlichen Bundesländern die Bereitschaft zur Neugliederung nicht sonderlich ausgeprägt erscheint. Immerhin haben die Bürgerinnen und Bürger, die die Wende mit herbeigeführt oder zumindest persönlich erlebt haben, die Konstituierung der fünf Länder auf dem früheren Gebiet der DDR im Jahre 199057 als Ausdruck politischer Selbstbestimmung empfunden58. Die Reformen oder – zumindest teilweise tiefgreifenden – Änderungen rissen seitdem gerade im Osten Deutschlands nicht ab. So hatte die zwischenzeitliche Verwaltungsreform in Brandenburg zur Folge, dass an Stelle der sechs kreisfreien Städte und 38 Landkreise bei der territorialen Neugliederung Brandenburgs im Jahre 199059 heute nur noch vier kreisfreie Städte und 14 Landkreise bestehen. Weiteren, gar von außen veranlassten Veränderungen ständen diese Menschen sicherlich eher ablehnend gegenüber. Eine weitergehende Neugliederung der Länder erscheint daher nur unter der Voraussetzung darstellbar, dass unter dem internationalen Druck (Stichwort: verbesserte Marktchancen) und angesichts der finanziellen Belastungsgrenzen (zu hohe Staatsquote, demographischer Wandel) das Schaffen größerer Ländereinheiten unverzichtbar wird. Dies allein würde allerdings nicht reichen: Die gescheiterte Volksabstimmung im Jahre 1996 zur Länderfusion Berlin und Brandenburg verdeutlicht, dass ohne überzeugenden argumentativen Einsatz aller maßgeblichen politischen Vertreter ein entsprechendes Bewusstsein in der (Mehrheit der) Bevölkerung für die Sinnhaftigkeit der Neugliederung kaum zu erreichen sein wird.
V. Ausblick 1. Getrennt auch ohne Mauer Prof. em. Dr. Alfred Grosser erinnerte 1993 an eine Frage, die ihm das westdeutsche Publikum 30 Jahre lang immer wieder gestellt habe: „Ist Frankreich wirklich für die deutsche Einheit?“ Und er habe darauf stets geantwortet: „Ihr ja auch nicht!“60. Hierbei ließ sich Grosser von der Vorstellung leiten, dass
__________ 55 Laufer (Fn. 52), S. 222 und 338 ff. 56 Laufer (Fn. 52), S. 223. 57 Ausführlich zum Ländereinführungsgesetz vom 22.7.1990, GBl. (DDR) I 1990, Nr. 51, S. 955: Maunz/Herzog/Scholz (Fn. 45), Art. 29 GG Rz. 10. 58 Laufer (Fn. 52), S. 223 f. 59 Ländereinführungsgesetz v. 22.7.1990, GBl. (DDR) I 1990, Nr. 51, S. 955 (959). 60 Grosser in Demokratie im Wandel – Krise der Demokratie?, Schriftenreihe der Polizei-Führungsakademie Münster, 2-3/93, S. 120 (122 f.).
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Wiedervereinigung teilen heiße, die Westdeutschen mehrheitlich aber nicht teilen wollten. Diese pointierte Darstellung mag in Teilbereichen zutreffen, gleichwohl sind seit der Wende unglaublich hohe Geldbeträge, die Rede ist von 1,3 Billionen Euro, – nicht zuletzt aus EU-Mitteln – Richtung östliche Länder geflossen. Zwanzig Jahre nach der Wende wird aber immer deutlicher, dass die nach wie vor bestehenden wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Ost und West lediglich einen Teilbereich im Zusammenleben ausmachen. Als ebenso gravierend erweisen sich die mentalen Unterschiede, die zudem häufig nicht exakt zu quantifizieren und einem raschen Ausgleich auf Grund politischer Vorgaben nicht zugänglich sind. Bei allem Fortschritt sind die verbliebenen Gegensätze zwischen den westlichen und östlichen Ländern nicht zu übersehen. Damit ist eben nicht nur die unterschiedliche Produktivität oder das abweichende Pro-Kopf-Einkommen gemeint. Wichtiger sind noch die nach wie vor bestehenden Unterschiede in Sprache61, Sozialisation und Lebensbewältigung. Es geht dabei nicht nur um die auch im Übrigen anzutreffenden regionalen Unterschiede im Bundesgebiet, wenn die Menschen in den östlichen Ländern vielfach – in unterschiedlichen Ausprägungen – angesichts der nach wie vor neuen und daher ungewohnten Strukturen eine tiefe Verunsicherung verspüren und im gewissen Sinne das Gefühl fortbesteht, Sicherheit eingebüßt zu haben (Stichworte: ausreichende und qualifizierte Arbeitsplätze insbesondere für Frauen, hinreichende Kinderbetreuung, soziale Bindungen). Der mit der Wende eingetretene Wertewandel hat für viele Menschen zudem die schwierige Erfahrung mit sich gebracht, dass ihre früheren persönlichen Koordinaten entwertet, alternative Lebensentwürfe als vorzugswürdig angesehen und ihre individuellen DDR-Erfahrungen pauschal herabgesetzt worden sind. Die Verunsicherung vieler Menschen in den östlichen Ländern mag vor allem in den veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen ihre (Haupt-)Ursache haben. Zu den Verwerfungen trägt aber in mindestens ähnlichem Umfang bei, wenn Menschen aus den westlichen Ländern noch nie in Sachsen-Anhalt oder Thüringen gewesen sind und gleichwohl sich pauschal zur DDR und ihrer Hinterlassenschaft äußern. Der angemessene Umgang setzt nämlich voraus, dass man zumindest in hinreichender Weise differenziert zwischen den die DDR kennzeichnenden staatlichen Strukturen und den Menschen, die ihr individuelles Leben in diesen Strukturen gestaltet haben. Die jeweiligen Lebensläufe stehen verständlicherweise in hohem Maße für den Einzelnen im Vordergrund, nicht dagegen der Staats- und Parteiapparat der DDR sowie die sonstigen gesellschaftlichen Umstände. 2. Folgerungen Die nach wie vor bestehenden Unterschiede in den Ländern gewinnen insoweit noch an Bedeutung, als in den westlichen Bundesländern eine ungleich größerer Zuversicht als in den östlichen Ländern besteht, dass die gewachse-
__________ 61 Sehr instruktiv zu Kommunikationsproblemen: O. G. Klein, Ihr könnt uns einfach nicht verstehen!, 2001.
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nen politischen und wirtschaftlichen Strukturen sich in hohem Maße als belastbar erweisen. Bei allen Unzulänglichkeiten des Rechtsstaats geht die große Mehrheit der Menschen im alten Bundesgebiet davon aus, dass sich die Justiz wie auch die anderen staatlichen Institutionen insgesamt bewährt haben und dass jedermann zum Beispiel die Grundrechte in verlässlicher Weise mit Leben füllen kann. Dagegen bestand in den östlichen Ländern schlichtweg gar nicht die Möglichkeit, dass ein derartiges Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat sich langfristig entfalten konnte. Gerade in Krisenzeiten erstaunt es daher nicht, wenn die Menschen in Brandenburg oder Sachsen sehr schnell tiefe Zweifel befallen, ob der Rechtsstaat mit all diesen Anforderungen zurechtkommen wird. Hieraus erwächst die permanente (rechtspolitische) Aufgabe, für den demokratischen Rechtsstaat zu werben. Dies ist nicht immer einfach – aber es ist aller Mühen wert.
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Führungsinstrumente in einem obersten Bundesgericht Inhaltsübersicht I. Widmung II. Normative Grundlagen der Funktion des Präsidenten 1. Doppelstellung als Richter und als Organ der Justizverwaltung 2. Dienstaufsicht über die Richter 3. Folgerungen III. Methodische Überlegungen zur Wahrnehmung der Führungsverantwortung in einem obersten Bundesgericht 1. Betriebswirtschaftliches Wortgeklingel
2. Militärische Führungsgrundsätze 3. Fernöstliche Weisheiten 4. Natural Born Judicial Resource Management 5. Reformpädagogik als Führungsinstrument a) Grundlagen der Reformpädagogik b) Folgerungen für den Bundesfinanzhof IV. Fazit
I. Widmung Im Jahre 1984 ist für den Verfasser dieses Beitrags eine Gedächtnisschrift1 erschienen, durch die er sich zutiefst geehrt und beflügelt gefühlt hat. Davon zehrt er bis heute und schöpft daraus nach wie vor Lebens- und Arbeitskraft2. Seinerzeit hatte sich Wolfgang Spindler, der damals noch Richter am Finanzgericht Düsseldorf und als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Bundesverfassungsgericht abgeordnet war, an der mir gewidmeten (Gedächtnis- oder besser) Festschrift mit einem bemerkenswerten Beitrag beteiligt3. Vor diesem Hintergrund ist es für den Verfasser eine besondere Freude, nunmehr gleichsam im Gegenzug an der Festschrift für Wolfgang Spindler mitwirken zu dürfen.
__________ 1 Umbach/Urban/Fritz/Böttcher/J. v. Bargen (Hrsg.), Das wahre Verfassungsrecht – Zwischen Lust und Leistung, 1. Aufl. 1984. 2 Die Bezeichnung „Gedächtnisschrift“ ist allerdings irreführend. Sie erweckt den Eindruck, als gäbe es mich nicht mehr. Dem ist entschieden entgegenzutreten. Der Verfasser erfreut sich nach wie vor eines rastlosen Forschergeistes, der ihn immer noch zu gelegentlichen Beiträgen in der Fachliteratur inspiriert. Er hat seine Forschungen in Ushuaia (siehe dazu Nagelmann, DStZ 2002, 885) inzwischen beendet und wirkt zurzeit als wissenschaftlicher Berater am Grönländischen Verfassungsgerichtshof in Ilulissat. 3 Spindler, „Offensichtlich unhaltbar“ – oder: Von der Kunst einer zulässigen Richtervorlage, in Umbach/Urban/Fritz/Böttcher/v. Bargen (Fn. 1), S. 329.
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In seinem Beitrag hatte Wolfgang Spindler die restriktive Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit von Richtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG kritisch beleuchtet4. Er hatte konstatiert, unzulässige Vorlagen seien wohl kaum das Ergebnis flüchtiger oder leichtfertiger richterlicher Arbeit. Vielmehr scheine es einer gewissen Kunstfertigkeit, vielleicht auch ein wenig Glücks zu bedürfen, um die zahlreichen verfassungsgerichtlichen Zulässigkeitsschranken zu überwinden5. Dieser Befund ist heute eben so aktuell wie damals. Und die Problematik beschäftigt Wolfgang Spindler bis heute. Während er das Verhältnis zwischen dem BFH und dem Gerichtshof der Europäischen Union als spannungsfrei bezeichnet, verneint er dies im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht, insbesondere auch mit Rücksicht auf bis in die jüngste Zeit für unzulässig erklärte Vorlagen des BFH6. Dieses von Wolfgang Spindler so anschaulich bearbeitete Thema soll hier nicht weitergeführt werden. Seinen Ausführungen wäre auch nichts Wesentliches hinzuzufügen. Vielmehr geht es im Folgenden um bisher weniger erforschte methodische Grundfragen, welche die von ihm mit außergewöhnlichem Engagement wahrgenommene Funktion des Präsidenten des BFH betreffen.
II. Normative Grundlagen der Funktion des Präsidenten 1. Doppelstellung als Richter und als Organ der Justizverwaltung Gemäß § 10 Abs. 1 FGO besteht der BFH aus dem Präsidenten und aus den Vorsitzenden Richtern und weiteren Richtern in erforderlicher Anzahl. Der Präsident hat eine Doppelstellung. Er ist sowohl Richter als auch Organ der Justizverwaltung7. Als Richter hat er aktiv an der Rechtsprechung seines Senats teilzunehmen. Der Richterpräsident ist gesetzliches und auch verfassungsrechtliches Leitbild. Deshalb darf sich ein Gerichtspräsident nicht lediglich als um „Effizienz“ bemühte „Führungskraft“, als reiner Administrator verstehen8. Dies folgt aus der Vorschrift des § 21e Abs. 1 Satz 3 GVG i. V. m. § 4 FGO, die vorsieht, dass der Präsident selbst bestimmt, welche richterlichen Aufgaben er wahrnimmt. Aus § 21f Abs. 1 GVG i. V. m. § 4 FGO folgt außerdem, dass der Präsident Vorsitzender eines Senats ist. Diese Vorschriften halten den Präsidenten im Lager der Richterschaft, führen ihm die notwendigen Rahmenbedingungen richterlicher Tätigkeit stets vor Augen und gewährleisten somit, dass er sich auch als Exekutivorgan und ihr unmittelbarer Dienst-
__________ 4 Siehe Spindler (Fn. 3). 5 Spindler (Fn. 3), S. 330. 6 Vgl. bereits BFH v. 12.5.1978 – III R 18/76, BFHE 125, 188, BStBl. II 1978, 446, für unzulässig erklärt durch BVerfG v. 11.10.1983 – 1 BvL 73/78, BVerfGE 65, 160, BStBl. II 1984, 20; zuletzt BFH v. 14.11.2001 – X R 32, 33/01, BFHE 197, 199 für unzulässig erklärt durch BVerfG v. 22.9.2009 – 2 BvL 3/02, BFH/NV 2009, 2119. 7 Sunder-Plassmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 10 FGO Rz. 7; Kissel/Mayer, 6. Aufl. 2010, § 59 GVG Rz. 7. 8 Vgl. Kissel/Mayer (Fn. 7), Rz. 8.
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vorgesetzter einer Amtsführung befleißigt, die in Bezug auf die richterliche Unabhängigkeit außerhalb jeden Zweifels steht9. 2. Dienstaufsicht über die Richter Nach § 31 FGO führt der Präsident des BFH die Dienstaufsicht über die am BFH tätigen Richter. Diese Dienstaufsicht bewegt sich im Spannungsbereich zwischen dem verfassungsrechtlichen Justizgewährleistungsanspruch der rechtsuchenden Steuerpflichtigen (Art. 19 Abs. 4 Satz 1, Art. 20 Abs. 3 GG)10, d. h. der Erfüllung der rechtsstaatlichen Pflicht des Staates, effektiven Rechtsschutz in angemessener Zeit zu gewähren11 und der ebenfalls verfassungsrechtlich garantierten richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG)12. Die Regelung des § 26 DRiG versucht dieses Spannungsverhältnis auszutarieren. Nach Abs. 1 untersteht der Richter einer Dienstaufsicht nur, soweit nicht seine Unabhängigkeit beeinträchtigt wird. Nach Abs. 2 der Vorschrift kann dem Richter zwar die ordnungswidrige Art der Ausführung eines Amtsgeschäfts vorgehalten werden. Auch kann er zu ordnungsgemäßer unverzögerter Erledigung der Amtsgeschäfte ermahnt werden. Dies alles steht aber unter dem Vorbehalt, dass dadurch die Unabhängigkeit nicht beeinträchtigt wird. Behauptet der Richter einen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit, so kann er dagegen vor dem zuständigen Richterdienstgericht Rechtsschutz erlangen (§ 26 Abs. 3 DRiG). Die Wahrung der verfassungsrechtlich verbürgten richterlichen Unabhängigkeit wirkt also stets als Bremse gegenüber allzu schneidigen Maßnahmen der Dienstaufsicht. So darf ein Vorhalt zwar die Ordnungsmäßigkeit des Vorgehens des Richters zum Gegenstand haben, aber keine aus der persönlichen Wertungssphäre hergeleitetes Unwerturteil und keinen persönlichen Vorwurf13, obwohl ein solcher offenbar manchmal nur mit Mühe zu unterdrücken ist14. Auch die Ermahnung i. S. v. § 26 Abs. 2 DRiG bedeutet letztlich lediglich einen Appell an das Verantwortungsbewusstsein des Richters15. Eine Ermahnung zu beschleunigter Bearbeitung oder Entscheidung ist mit der Unabhängigkeit des Richters vereinbar, aber nur, wenn nicht die Entschließungs-
__________ 9 Kissel/Mayer (Fn. 7), Rz. 8. 10 Dazu Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 22 Rz. 1 ff. 11 BVerfG v. 20.4.1982 – 2 BvL 26/81, BVerfGE 60, 253 (269); v. 2.3.1993 – 1 BvR 249/92, BVerfGE 88, 118 (123 f.). 12 BGH v. 14.9.1990 – RiZ (R) 1/90, BGHZ 112, 189; Weber-Grellet, ZRP 2003, 145; Schmid in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 31 FGO Rz. 3; Kreth, Die richterliche Unabhängigkeit, Wahrung einer sich nicht selbst erfüllenden Aufgabe, DRiZ 2009, 198; M. v. Bargen, Die Rechtsstellung der Richterinnen und Richter in Deutschland, DRiZ 2010, 100 (133). 13 Schmidt-Räntsch, 6. Aufl. 2009, § 26 DRiG Rz. 38. 14 Zu den z. B. im BVerfG nur mit Bedauern unterdrückten Kraftausdrücken vgl. Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. Der Willensbildungsund Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts, 2010; vgl. auch FAZ v. 29.7.2010, S. 6. 15 Schmidt-Räntsch (Fn. 13), § 26 DRiG Rz. 39.
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freiheit des Richters beeinträchtigt wird; auch ist es unzulässig, den Richter um die umgehende Bearbeitung ganz bestimmter Verfahren zu ersuchen oder ihn zu bestimmten Maßnahmen aufzufordern16. 3. Folgerungen Der Blick auf die vorgenannten Vorschriften zeigt, dass ein Gerichtspräsident in seiner Eigenschaft als Führungskraft auf einem schmalen Grat wandelt. Versucht er im konkreten Fall auf die Arbeitsweise eines einzelnen Richters Einfluss zu nehmen, muss er stets auf der Hut sein, nicht unzulässig in die richterliche Unabhängigkeit einzugreifen. Auch kann sich ein genereller Appell an alle Richterinnen und Richter, schneller zu entscheiden und mehr Verfahren zu erledigen, dann als kontraproduktiv erweisen, wenn der Blick sich allein auf die schnelle Erledigung verengt, so dass manche Adressaten dieses Appells sich in einer Hamsterrolle wähnen und sich dadurch im Ergebnis zu einer oberflächlicheren Arbeitsweise gedrängt sehen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Arbeitsstil der einzelnen Richterpersönlichkeiten naturgemäß höchst unterschiedlich ist. So gibt es den Typus des flotten Pragmatikers, der recht schnell mit der Beurteilung seiner Fälle fertig ist, aber stets Gefahr läuft, wesentliche Punkte zu übersehen und ungeprüft zu lassen. Der gegenläufige Typ ist der des tief schürfenden Grüblers, der sich mit seinen bedeutungsschweren rechtlichen Skrupeln selbst matt setzt und nach einer längeren Forschungsperiode zu dem Ergebnis kommt, dass es auf alle seine Überlegungen und Untersuchungen im konkreten Fall zwar nicht ankommt, dass die komplette Sammlung aller Lesefrüchte und mühsam gewonnenen Erkenntnisse dennoch dem Urteil zur Zierde gereichen würde. Dazwischen gibt es die verschiedensten Typenmischungen17. Der „optimale“ Richtertypus ist nur schwer zu beschreiben. Er liegt irgendwo in der Mitte zwischen den beschriebenen Extremen. Alle diese unterschiedlichen Richterpersönlichkeiten haben jeweils ihre besonderen individuellen Vorzüge, die es in einem Senat, d. h. im Team zusammen mit den häufig gänzlich anders disponierten Senatsmitgliedern, zu entfalten und zu nutzen gilt. Dies alles zeigt, dass die Aufgabe eines Gerichtspräsidenten, im Interesse des verfassungsrechtlich verbürgten Rechtsschutzes auf eine Verkürzung der Verfahrenslaufzeiten hinzuwirken, die Gründlichkeit und Zuverlässigkeit der rechtlichen Durchdringung damit aber nicht zu beeinträchtigen und zudem den höchst unterschiedlichen Richterpersönlichkeiten gerecht zu werden, fast einer Quadratur des Kreises gleichkommt. Dies lenkt den Blick auf die Frage, welche Methoden einem Gerichtspräsidenten überhaupt zu Gebote stehen, diese diffizile Aufgabe zu lösen.
__________ 16 Schmidt-Räntsch (Fn. 13), § 26 DRiG Rz. 39. 17 Es gibt selbstverständlich auch den Richtertypus, der zügige Arbeit durchaus mit Gründlichkeit und intensiver Recherche zu verbinden vermag.
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III. Methodische Überlegungen zur Wahrnehmung der Führungsverantwortung in einem obersten Bundesgericht 1. Betriebswirtschaftliches Wortgeklingel Wie bereits an anderer Stelle näher ausgeführt18, lassen sich betriebswirtschaftliche Erkenntnisse, insbesondere Methoden des Unternehmensmanagements sowie Produktionssteuerungsverfahren, kaum auf die richterliche Tätigkeit übertragen, auch wenn sie in der Diskussion wohl nach wie vor en vogue sind19. Noch immer ist unklar, wie eine betriebswirtschaftliche Outputsteuerung20 der richterlichen Arbeit beschaffen sein könnte. Auch dürfte der bereits oben erwähnte verfassungsrechtlich verbürgte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit der betriebswirtschaftlichen „Optimierung“ der Arbeit eines einzelnen Richters enge Grenzen setzen. Betriebswirtschaftliche Überlegungen mögen helfen, äußere Arbeitsabläufe und organisatorische Strukturen in einem Gericht zu verbessern. Im richterlichen „Kerngeschäft“ helfen sie dagegen nicht weiter. Hier ist der Richter mit sich, dem an ihn herangetragenen Fall und den damit verbundenen Rechtsproblemen letztlich allein, und er muss sich zunächst selbst eine Lösung abringen, bevor er in einem Kollegialgericht die übrigen Mitglieder des Spruchkörpers einbezieht. Im Übrigen hat die jüngste Finanzkrise die allgemeine Erkenntnis befördert, dass die allein auf marktwirtschaftliche Erkenntnisse gegründete ökonomische Sichtweise auch in den Abgrund führen kann. Wenn schon ökonomische Maßstäbe auf die Justiz übertragen werden sollen, dann ist aufgrund der neu gewonnenen Erfahrungen jedenfalls für jedes Gericht ein Rettungsschirm vorzusehen. Das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) ist daher um ein Gerichtsrettungsschirmgesetz (GRG) zu ergänzen. 2. Militärische Führungsgrundsätze Bisher weitgehend unerforscht ist die Eignung militärischer Führungsgrundsätze zur Effizienzsteigerung der Justiz. Für die Führung von Unternehmen gibt es insoweit immerhin erste Ansätze21. Um der Frage nachzugehen, inwieweit militärische Führungsmaximen überhaupt für ein Gericht nutzbar gemacht werden können, soll hier als Unter-
__________ 18 Nagelmann, DStZ 2002, 885 f. 19 Siehe dazu Eifert, Die Verwaltung 1997, 75 ff.; Kramer, ZZP 2001, 267 (271 ff.); Hoffmann-Riem, DRiZ 2000, 18; Röhl, DRiZ 2000, 220; Schmidtchen/Weth (Hrsg.), Der Effizienz auf der Spur, Die Funktionsfähigkeit der Justiz im Lichte der ökonomischen Analyse des Rechts, 1999; Haberland, DRiZ 2002, 301; Mäurer, DRiZ 2000, 65 (66); Kramer, NJW 2001, 3449 ff.; Hoffmann-Riem, Modernisierung von Recht und Justiz, 2001, S. 228 ff. 20 Dazu insbesondere Haberland, DRiZ 2002, 301; vgl, ferner Papier, NJW 2001, 1089 (1093 f.); Grotheer, DRiZ 1999, 458; Mackenroth/Teetzmann, ZRP 2002, 337 (339). 21 Betschon, Entscheide schnell! – Militärische Führungslehre für den Unternehmensalltag, 2010.
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suchungsgegenstand exemplarisch das Dienstreglement der Schweizerischen Armee herangezogen werden22. Es sieht zum Thema „Führung“ einleitend unter anderem Folgendes vor: Die Armee ist eine große und vielgestaltige Institution. Ihren grundlegenden Auftrag […] kann sie nur erfüllen, wenn viele Kräfte zusammenwirken. Truppen mit unterschiedlicher Ausbildung und Ausrüstung und Spezialisten müssen Teilaufträge erfüllen und auf das gemeinsame Ziel hin zusammenarbeiten. […] Führen heißt auch Informationen verarbeiten und sie gezielt weitergeben. Führende müssen […] motivieren, Konflikte vermeiden oder schlichten und für das Wohl ihrer Unterstellten sorgen. Auf allen Stufen sind das Recht und die Pflicht zu führen mit Verantwortung gepaart23.
Weiter heißt es dort als Rezept gegen die Planlosigkeit: Die Leistung eines Verbandes entsteht aus dem planvollen Zusammenwirken der einzelnen. Führen im Militär heißt deshalb insbesondere: den einzelnen dazu bringen, seine ganze Kraft für die gemeinsame Erfüllung des Auftrags einzusetzen24.
Zur gebotenen Disziplin findet man Folgendes: Das Erreichen der gesetzten Ziele setzt bei allen Angehörigen eines militärischen Verbandes diszipliniertes Verhalten voraus. Disziplin heißt: Der einzelne stellt seine persönlichen Interessen und Wünsche zugunsten des Ganzen zurück und gibt im Sinne des Auftrags sein Bestes. Disziplin hat dann die größte Wirkung, wenn sie mit Initiative und Selbständigkeit verbunden ist25.
Und auch die Notwendigkeit, untereinander zu kommunizieren, wird berücksichtigt: Die Aufgaben […] sind oft schwierig und komplex. Sie können nur gelöst werden, wenn sich die Angehörigen des Verbandes laufend über ihre Arbeit verständigen. Regelmäßige Kommunikation trägt entscheidend dazu bei, dass alle Beteiligten sich mit ihrem Auftrag identifizieren und ihr Bestes leisten können26.
Zur Vorbildfunktion des Vorgesetzten (bei Richtern: des Präsidenten) findet sich ebenfalls Lehrreiches: Führung braucht Autorität. Diese erwächst den Vorgesetzten insbesondere aus ihrer fachlichen und persönlichen Glaubwürdigkeit. Vorgesetzte führen in erster Linie durch ihr persönliches Vorbild. Sie leben Disziplin und Engagement vor und wirken dadurch erzieherisch auf ihre Unterstellten27.
Die hier beschriebene Vorbildfunktion ist in der Tat sehr eindrucksvoll. Es stellt sich indessen die Frage, ob Richter für derartige erzieherische Einwirkung noch empfänglich sind. Das muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Sehr schön hingegen ist die abschließende Anweisung zur Gemeinsamkeit:
__________ 22 Dienstreglement der Schweizerischen Armee v. 22.6.1994 (DR 04), SR: 510.107.0, www.gesetze.ch/Landesrecht/Landesverteidigung/Militärische Verteidigung. 23 Dienstreglement (Fn. 22), 3. Kapitel Führung, Einleitung. 24 Dienstreglement (Fn. 22), 1. Abschnitt Führungsgrundsätze Rz. 9. 25 Dienstreglement (Fn. 22), 1. Abschnitt Führungsgrundsätze Rz. 13. 26 Dienstreglement (Fn. 22), 1. Abschnitt Führungsgrundsätze Rz. 15. 27 Dienstreglement (Fn. 22), 1. Abschnitt Führungsgrundsätze Rz. 16.
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Führungsinstrumente in einem obersten Bundesgericht Vorgesetzte und Unterstellte begegnen sich in gegenseitiger Achtung. Sie vertrauen einander und setzen sich dafür ein, den Zusammenhalt und die Leistungskraft […] zu stärken. Die Gewissheit, sich aufeinander verlassen zu können, erleichtert die Pflichterfüllung und das Erreichen des gemeinsamen Ziels28.
Als – für manchen vielleicht überraschende – Erkenntnis lässt sich daher festhalten, dass manche militärischen Führungsgrundsätze durchaus als Verhaltensmuster für die Funktion eines Gerichtspräsidenten geeignet sein können. Dem entgegen stehen jedoch andere Führungsgrundsätze, die einer Übertragung auf den Betrieb eines Gerichts nicht zugänglich sind. Zu nennen sind hier insbesondere die hierarchische Organisation des Militärs sowie das Prinzip von Befehl und Gehorsam als deutlichster Ausdruck militärischer Führung29. Beides dürfte mit der richterlichen Unabhängigkeit nur schwer zu vereinbaren sein. Gegen eine Übertragung militärischer Führungsgrundsätze auf dem Gerichtsbetrieb sprechen aber vor allem die Erfahrungen, die seinerzeit in der Kaiserlichen Marine gewonnen worden sind. Dort hat sich gezeigt, dass das Prinzip von Befehl und Gehorsam keineswegs für sachlich zielführende Lösungen garantiert, sondern im Gegenteil zu Verwirrung oder gar Unzuträglichkeiten führen kann30. 3. Fernöstliche Weisheiten Offenbar auf dem Vormarsch sind Führungsmethoden, die der fernöstlichen Erfahrungswelt entlehnt sind. So werden Kurse in Business-Yoga angeboten31, ferner ein Seminar: Die Kraft der Shaolin – Mehr Power durch mentale Stärke32. Den Höhepunkt bildet ein zweitägiges Intensivseminar mit dem Titel: „Führen wie ein Samurai“, in dem auch Zen- und Schwerttraining angeboten werden33.
__________ 28 Dienstreglement (Fn. 22), 1. Abschnitt Führungsgrundsätze Rz. 17. 29 Dienstreglement (Fn. 22) 3. Kapitel Führung, Einleitung. 30 So hat sich bei einem Übungsmanöver zum Auffischen einer Boje auf der Brücke folgender Dialog entwickelt: Kommandant zum Wachoffizier: „Nun steuern Sie endlich auf die Boje zwei Strich an Steuerbord zu!“ Wachoffizier: „Herr Kapitän, ich möchte, gehorsamst melden, das ist die Boje nicht, das ist eine Möwe.“ Kommandant: „Wenn ich Ihnen sage, dass das die Boje ist, dann ist das die Boje! Also halten sie darauf zu!“ „Zu Befehl, Herr Kapitän!“ Nach einer Weile meldet der Wachoffizier: „Herr Kapitän, soeben ist die Boje weggeflogen.“ (Eiffe, Splissen und Knoten, 2. Aufl. 1964, S. 19 f.). 31 Veranstalter ist die ZfU International Business School, Thalwil, Schweiz. Siehe www.zfu.ch. 32 Siehe Fn. 31: Als Lehrer wirkt hier Shi Yan Bao, Shaolin-Mönch der 34. Generation des Shaolin-Klosters in China. Er beherrscht u. a. Shaolin Kung Fu, die Shaolin Faustkampf- und Waffenformen, den Freikampf und hartes Qi Gong. Er war Kung-FuTrainer der Shaolin-Mönche im Kloster und gehört zu den besten Kung-Fu-Kämpfern der Welt. Er ist seit sieben Jahren exklusiv für die ZfU International Business School als Lehrer und Trainer für Führungskräfte tätig. 33 Es handelt sich wiederum um denselben Veranstalter, siehe Fn. 31.
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Diese Ansätze eröffnen für die Justiz völlig neue Möglichkeiten für die Ausübung der Dienstaufsicht durch den Präsidenten. Bisher ist zwar, soweit ersichtlich, in der Praxis noch kein schwertschwingender Gerichtspräsident beobachtet worden. Es bleibt indes zu hoffen, dass sich dies in Zukunft ändert, schon wegen des damit verbundenen Unterhaltungswerts. Auch hier ist allerdings der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit zu wahren. Um die Entschließungsfreiheit der Richterinnen und Richter nicht einzuschränken, müsste das Präsidentenschwert aus Pappe oder Weichplastik gefertigt sein. 4. Natural Born Judicial Resource Management Inzwischen setzt sich die Erkenntnis mehr und mehr durch, dass ein intensives Naturerlebnis, möglichst verbunden mit einer Grenzerfahrung, ein vorzügliches Instrument sein kann, um Persönlichkeiten reifen zu lassen und zu Höchstleistungen zu motivieren. Auch für die Ausbildung von Managern ist das Potenzial dieser Ausbildungselemente inzwischen erkannt worden. So wird auf der Tagung „Unternehmerdialoge 2010“34 unter anderem ein Vortrag von Ueli Steck angeboten, der als weltbester Solokletterer gilt. Sein Thema lautet: „Professionalität im Grenzbereich. Wie man in 2 Stunden und 47 Minuten die Eigernordwand bezwingt“. Die Fruchtbarkeit dieses methodischen Ansatzes für die Effektuierung richterlicher Tätigkeit liegt auf der Hand. Gleiches hatte der Verfasser bereits bei seinen Studien in Patagonien festgestellt35 und hierfür den Terminus „Natural Born Judicial Resource Management“ (NaBoJuReM) vorgeschlagen. In der Tat sind auf diesem Gebiet im BFH in jüngster Zeit deutliche Fortschritte zu verzeichnen. So konnten in einzelnen Senaten verstärkte alpinistische Bemühungen im Wendelsteinmassiv (Oberbayern) beobachtet werden. Auch wurde für die Wissenschaftlichen Mitarbeiter des BFH am Wendelstein ein Seminar zur Persönlichkeitsentfaltung durchgeführt, das den Teilnehmern unter Anleitung eines professionellen Jodellehrers Gelegenheit zum Erwerb des Jodeldiploms gab36. Besonders erfreulich ist, dass alle Teilnehmer den Anforderungen genügten und das Diplom erwerben konnten. Positiv ist ferner hervorzuheben, dass der BFH seit einigen Jahren eine durch die guten Wünsche des Präsidenten befeuerte Mannschaft beim Münchner Firmenlauf ins Rennen schickt. Beim Firmenlauf 2010 ist die Damenmannschaft des BFH über sich hinausgewachsen und hat den ersten Platz belegt. Hier zeigt sich, welches Potenzial im BFH schlummert und darauf wartet, zur Entfaltung gebracht zu werden.
__________ 34 Ebenfalls veranstaltet von der ZfU International Business School, siehe Fn. 31. 35 Nagelmann, DStZ 2002, 885 (887). 36 Hier verbinden sich die methodischen Ansätze von NaBoJuReM mit denen der modernen Reformpädagogik; dazu im Einzelnen unten Abschnitt III. 5.
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Die vorstehend beschriebenen Aktivitäten weisen indes den Mangel auf, dass sie nicht geeignet sind, alle Angehörigen des BFH lückenlos zu erreichen. Um insoweit Abhilfe zu schaffen, werden seit Neuestem in unregelmäßigen Abständen Brandalarmübungen abgehalten. Dabei geht es darum, sämtliche Bedienstete und Richter des BFH dazu zu bringen, das Gerichtsgebäude in möglichst kurzer Zeit, d. h. im gestreckten Galopp, über die Treppenhäuser zu verlassen. Der Rekord liegt bislang bei vier Minuten. So werden wirklich alle ohne Ausnahme sportlich ertüchtigt. 5. Reformpädagogik als Führungsinstrument Gänzlich unerforscht und bisher aus der Diskussion zu Unrecht ausgeblendet ist die Frage, inwieweit reformpädagogische Erkenntnisse für den Betrieb eines obersten Bundesgerichts nutzbar gemacht werden können. Dazu ist zunächst ein Blick auf die Grundlagen der Reformpädagogik geboten. In einem zweiten Schritt ist sodann ihre Übertragbarkeit auf das Gerichtswesen zu erörtern. a) Grundlagen der Reformpädagogik Zunächst sind die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu betrachten. Angesichts des Verlustes an natürlichen Streifräumen, der Funktionsentmischung der räumlichen Umwelt37 und einer immer drohenderen Entsinnlichung der kindlichen Erfahrungswelt (Allmacht von Fernsehen und Computer), die zu einer Verkümmerung aller Sinne und Fähigkeiten mit Ausnahme des visuellen Erfassens führen, ergeben sich vielfältige neue Herausforderungen für ein modernes Schulleben, dessen Aufgabe es sein muss, die Defizite der Kinder nach Möglichkeit auszugleichen. Der Begriff „Schulleben“ stammt ursprünglich von Peter Petersen, dem Leiter der Universitätsschule Jena Ende des 19. Jahrhunderts. Er und seine Schüler hatten bereits erkannt, was heute Allgemeingut ist: Wissensvermittlung als schulisches Ziel ist überholt, ja reaktionär; denn damit werden die Kinder unter Druck gesetzt, statt sie zu fördern und ihre Sinne und Fähigkeiten zur Entfaltung kommen zu lassen. Auch die Rolle des Lehrers/der Lehrerin muss überdacht werden: Er/Sie darf nicht länger Respektsperson sein, sondern hat sich als Animateur/in und Berater/in in den Dienst der kindlichen Selbstentfaltung und -entwicklung einzubringen. Er/Sie hat insbesondere unter allen Gegebenheiten für eine optimal vorbereitete Lernumgebung zu sorgen. Ein Grundanliegen der Reformpädagogik ist die Öffnung von Unterricht und Schule, die nachstehend näher beleuchtet werden soll.
__________ 37 Siehe dazu A. Reuter, Schulhof als Ort pädagogischen Handelns, 1998, S. 9.
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aa) Begriff des „Offenen Unterrichts“ Seit den 70er Jahren ist „Offener Unterricht“ ein Sammelbegriff für vielfältige Reformanliegen38. Ursprünglich geht der Begriff aus englischen und amerikanischen Ansätzen wie „open education“, „informal education“ und „open classroom“ hervor. In Deutschland sind diese Ansätze jedoch eher von untergeordneter Bedeutung39. Dort bezieht sich der „Offene Unterricht“ zum großen Teil auf die reformpädagogischen Traditionen von Pestalozzi, Montessori, Petersen, Gaudig, Kerschensteiner und Freinet40. Diese Reformpädagogen betonen vor allem die „Pädagogik vom Kinde aus“. Das heißt: Negative Erscheinungen wie Schulstress und Schulangst, Dominanz der Lehrerin bzw. des Lehrers gegenüber der Schülerin und dem Schüler, Vernachlässigung der Erfahrungen und Bedürfnisse der Kinder und des emotionalen Bereichs sucht die Reformpädagogik aufzuheben, indem sie die Schülerin bzw. den Schüler in den Mittelpunkt stellt41. bb) Gestaltung des „Offenen Unterrichts“ (1) Ph(r)asenvielfalt Wenn es zu einer Öffnung des Unterrichts kommen soll, muss der Unterricht den jeweiligen Lernrhythmen der Kinder angepasst werden42. Zehn bis fünfzehn Minuten konzentrierter Arbeit beschreiben die übliche Grenze der kindlichen Leistungsfähigkeit und sind für die Kinder der Grundschule durchaus normal. Eine kurze Pause, eventuell kurz aufstehen und sich für etwas Neues entscheiden, lässt für Kinder eine neue produktive Arbeitsphase mit etwa der gleichen Dauer beginnen und baut den angestauten Bewegungsdrang sinnvoll ab43. Insbesondere ist daher die grundsätzliche Bedeutung der Pause für das Grundschulkind44 keinesfalls zu unterschätzen. Denn während der Pause stehen das Zusammensein, das Zusammenleben und die sozialen Kontakte im Vordergrund; es kommt zur Kommunikation, zu Kontakten und Möglichkeiten des Miteinander-Umgehens45. Das Schulleben muss also durch verschiedene Phasen wie Arbeit und Spiel, Konzentration und Entspannung, Einzelaktivität und Gruppenarbeit bestimmt werden. In dieser Rhythmisierung des Unterrichts finden auch verschiedene Rituale ihren Platz, wie z. B. der Morgenkreis, in dem die Kinder die Möglich-
__________ 38 Heckt/Sandfuchs (Hrsg.), Grundschule von A bis Z, 1993, S. 191. 39 Jürgens, Die neue Reformpädagogik und die Bewegung Offener Unterricht, 1994, S. 41. 40 Wallrabenstein, Offene Schule – Offener Unterricht, 1991, S. 12, 54 f. 41 Lompscher/Nickel/Ries/Schulz (Hrsg.), Leben, Lernen und Lehren in der Grundschule, 1997, S. 75. 42 Vgl. auch Fölling-Albers, Schulkinder heute. Auswirkungen veränderter Kindheit auf Unterricht und Schulleben, 1991, S. 51. 43 Bauer, Lernen an Stationen in der Grundschule, 1997, S. 32. 44 Richtungweisend A. Reuter (Fn. 37), S. 28. 45 Kunze, Schulhofgestaltung konkret, Schulverwaltung NRW Nr. 9/1991.
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keit haben, von ihren Erlebnissen vom Vortag zu berichten, außerdem können sie sich dort zu ihren Vorhaben für den neuen Unterrichtstag äußern. Das Kind hat also die Möglichkeit, sich als individuelle Person in den Schulalltag einzubringen. Aber auch der Schlusskreis am Ende der Woche oder am täglichen Unterrichtsende, in dem die Arbeitsergebnisse vorgestellt und gemeinsam ausgewertet werden, ist von maßgeblicher Bedeutung46. Beide wiederkehrende feste Momente des Unterrichts erweitern die Kommunikationsfähigkeit, fördern die sozialen Kontakte und das Kennenlernen der Schüler untereinander. Aber nicht nur diese Rituale, sondern auch Arbeitsformen des Unterrichts, die den Kindern Beteiligungs- und Wahlmöglichkeiten zubilligen, führen zu einer Öffnung des Unterrichts. (2) Unterrichtsstile und Unterrichtsformen des „Offenen Unterrichts“ Der heutige „Offene Unterricht“ unterteilt seine Lern- und Lehrprozesse in verschiedene Unterrichtsformen. Besonders die Freie Arbeit, die Wochenplanarbeit und die Projektorientierung gewinnen hierbei an Bedeutung. Dabei handelt es sich um besonders geeignete Formen der Differenzierung, bei denen die Schülerinnen und Schüler ihren Lernprozess selbständig planen und gestalten können47. Die Freie Arbeit ist ein Element der Reformpädagogik, bei der das Kind mit seinen Interessen, Bedürfnissen und individuellen Lernmöglichkeiten im Mittelpunkt steht. Ursprünglich geht der Begriff „Freie Arbeit“ auf Peter Petersen zurück. Den Kindern standen zwei Stunden Freie Arbeit pro Woche zur Verfügung, in denen sie unerledigte Aufgaben – in ihrem individuellen Lerntempo beenden konnten. Aber auch in der Pädagogik von Maria Montessori und anderen kam die Freie Arbeit mit anderer Zielsetzung vor48. Wichtig hierbei ist, dass die Unterrichtsinhalte nicht von der Lehrerin oder dem Lehrer vermittelt werden, sondern dass das Kind Art und Inhalt von Aufgaben selbst bestimmen kann. Die Schülerin oder der Schüler wählt aus einem vielfältigen Materialangebot freie Aktivitäten aus und erarbeitet sich eine Sache selbstständig. Somit spielt das handelnde und entdeckende Lernen eine große Rolle49. Die Wochenplanarbeit50 gibt den Kindern die Möglichkeit, in ihren persönlichen Lernstil und eigenverantwortlicher Zeiteinteilung bestimmte Aufgaben zu erledigen, d. h. sofern sie wollen und es ihnen ohne Stress-Symptome möglich erscheint.
__________ 46 Vgl. Bundesgrundschulkonferenz 1995: Zukunft für Kinder – Grundschule 2000, 1996, S. 14; Morsch/Betz/Mansel-Ballier/Schneider/Schabbach, Wider den 45-Minuten-Takt, Grundschule, Heft 12/1997, 13. 47 Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen, 1985, 14. 48 Kleber, Handlungsspielräume für die Öffnung der Regelschule und des Unterrichts, in Kasper u. a., Lasst die Kinder lernen – Offene Lernsituationen, 1995, S. 43. 49 Heckt/Sandfuchs (Fn. 38), S. 70 f. 50 Heckt/Sandfuchs (Fn. 38), S. 282 f.
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Der Projektunterricht51 fördert demgegenüber das gemeinsame Erleben und Handeln bei der gemeinsamen Lösung einer Aufgabe. Er entwickelt außerdem die Kommunikationsfähigkeit der Kinder und die sozialen Interaktionen. b) Folgerungen für den Bundesfinanzhof Die Parallelen sind augenfällig: Die oben wiedergegebenen reformpädagogischen Methoden bedürfen für ihre Verwendbarkeit in einem obersten Bundesgericht nur einer marginalen Adaption, indem nämlich die Begriffe „Kind“, „Grundschulkind“, „Schülerin“ oder „Schüler“ durch „Richterin“ oder „Richter“ ersetzt werden. Die richterliche Tätigkeit kombiniert die verschiedenen Unterrichtsstile des Offenen Unterrichts mit leichtem Übergewicht der Freiarbeit. Aus besonderem Anlass werden herausgehobene Aufgaben auch zum Gegenstand des Projektunterrichts gemacht (z. B. Anrufung des Großen Senats). Diese glückliche Integration verschiedener Unterrichtsstile und die überall optimale Lernumgebung im BFH, die durch die großflächigen Bücherwände in den Beratungszimmern und ein breites Angebot an sorgfältig konzipierten Hausmitteilungen besonders augenfällig wird, dürfte der tiefere Grund dafür sein, dass der Richterberuf, der gerade im Steuerrecht lebenslanges Lernen voraussetzt, im BFH so viele außergewöhnlich kreative Persönlichkeiten hervorbringt. Ein weiteres pädagogisches Instrument innerhalb des BFH ist der „Jour Fixe“, ein Gesprächskreis, in dem der Präsident wöchentlich die Spitzen der Gerichtsverwaltung sowie Vizepräsident, Präsidialrichter(in) und Pressereferent um sich versammelt. Der „Jour Fixe“ hat sich als Institution seit vielen Jahren und unter mehreren Präsidenten bewährt. Die Bedeutung dieser Einrichtung dürfte nicht zuletzt darauf beruhen, dass sie vielfältige Parallelen zu modernen reformpädagogischen Errungenschaften aufweist, die bisher allerdings noch nicht überall und in vollem Umfang erkannt worden sind. Diesem pädagogischen Informationsdefizit soll hier entgegengewirkt werden. Der „Jour Fixe“ hat nämlich als Ritual des Schullebens (oder besser Gerichtslebens) eine wichtige pädagogische Funktion: Er bildet als Montagmorgenkreis ein wichtiges Element der Rhythmisierung des Unterrichts in der Gerichtsverwaltung. Im Verwaltungsmorgenkreis haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Möglichkeit, von ihren Erlebnissen vom Vortag/aus der Vorwoche zu berichten, außerdem können sie sich dort zu ihren Vorhaben für den neuen Verwaltungstag/die neue Woche äußern. Sie haben damit Gelegenheit, sich als individuelle Person in den Verwaltungsalltag einzubringen. Wünschenswert wäre, zusätzlich einen Schlusskreis am täglichen Dienstende, mindestens aber am Ende der Woche einzuführen, in dem die Arbeitsergebnisse vorgestellt und gemeinsam ausgewertet werden. Zugleich werden auf diese Weise die Kommunikationsfähigkeit der Mitglieder der Verwaltung gefördert und das gegenseitige Kennenlernen vertieft.
__________ 51 Nalepa, Aus der Praxis für die Praxis, Projekte in der Grundschule, 1994, S. 10 ff.
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Auch im Übrigen werden im BFH alle Möglichkeiten genutzt, um die Entwicklung der Richterpersönlichkeiten voranzutreiben und zur vollen Blüte zu entfalten. So sind inzwischen zur Effektuierung der Beratungen zum Teil Vuvuzelas im Einsatz. Und bei besonderen Anlässen sind schon Bundesrichter in Zwergenkostümen gesichtet worden.
IV. Fazit Wie die hier vorgelegte Studie gezeigt hat, ist die Führungsverantwortung in einem obersten Bundesgericht äußerst komplexer Natur, so dass sie nicht monomethodisch bewältigt werden kann. Vielmehr ist ein intelligenter Mix verschiedenster methodischer Ansätze geboten, insbesondere auch unter Rückgriff auf moderne reformpädagogische Errungenschaften. Wolfgang Spindler hat diese Aufgabe überaus eindrucksvoll und erfolgreich erfüllt. Dabei war er sich der Umsetzung reformpädagogischer Konzepte im BFH wohl nicht immer bewusst, sondern hat sich insoweit häufig von seiner Intuition leiten lassen. In diesen Tagen wird er in die Freiheit entlassen. Dafür begleiten ihn die besten Wünsche des Verfassers, auch im Namen der Mitglieder des Grönländischen Verfassungsgerichtshofs.
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Der ungeliebte Präsident Herbert Dorn an der Spitze des Reichsfinanzhofs (1931–1934)
Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Wer ist der neue Präsident? III. Umstände der Entsendung nach München IV. Herbert Dorn als Präsident des Reichsfinanzhofs 1. Festigung der Stellung des Reichsfinanzhofs
2. Straffung des Leitsatzwesens 3. Herbert Dorn als Richter 4. Herbert Dorn als Diplomat 5. Publizistische Tätigkeit 6. Mitwirkung in der Wissenschaftsorganisation V. Entlassung aus dem Dienst VI. Fazit
I. Einleitung Gerichte prägen das Recht, Gerichtspräsidenten prägen Gerichte. In den Jahren, in denen Wolfgang Spindler zunächst das Amt des Vizepräsidenten, von 2005 bis 2011 dann das Amt des Präsidenten des Bundesfinanzhofs bekleidet hat, sind die große Tradition dieses Gerichts und dessen Eigenständigkeit gegenüber den Regierungen und Finanzbehörden des Bundes und der Länder deutlich hervorgetreten. Sieht man von dem Bundesverfassungsgericht ab, hatte in den letzten Jahren wohl kein anderes oberstes Bundesgericht eine so gute Presse wie der Bundesfinanzhof. Seine Rolle als Moderator zwischen dem Steuerpflichtigen und der Finanzverwaltung steht und fällt mit der richterlichen Unabhängigkeit. Die Sensibilität gegenüber jedem Versuch politischer Einflussnahme auf die Rechtsprechung, ihre Ergebnisse und deren Umsetzung hat einen facettenreichen, historisch wechselvollen Hintergrund. Der nachfolgende Beitrag zeichnet diesen Hintergrund für die Jahre der Entscheidung zwischen Republik und Diktatur nach – an der Person Herbert Dorns, der von 1931 bis 1933 an der Spitze des Reichsfinanzhofs stand1.
__________ 1 Zu Leben und Werk Dorns v. a. Heßdörfer, Nachruf für Dr. Herbert Dorn, StuW 1957 I, Sp. 633 ff.; Falk, Die Bedeutung von Herbert Dorn, FR 1967, 305 ff.; F. Klein, Zur Erinnerung an Herbert Dorn, StuW 1987, 97 f.; Pausch, Herbert Dorn. Wegbereiter des internationalen Steuerrechts, in Pausch, Persönlichkeiten der Steuerkultur, 1992, S. 104 ff.
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II. Wer ist der neue Präsident? Mit Wirkung zum 22. Januar 1931 ernennt Reichspräsident Paul von Hindenburg den erst 43-jährigen Spitzenbeamten Herbert Dorn zum zweiten Präsidenten in der Geschichte des 1918 gegründeten2 Reichsfinanzhofs. Als Chefpräsident folgt Dorn damit auf den eine Generation älteren und überaus standesbewussten Gustav Jahn (1918–1930)3. Dorn reiht sich zugleich in die ehrwürdige Riege von Senatspräsidenten ein, unter denen als Präsident des IV. Senats Dorns Berliner Vorgänger Enno Becker hervortritt4, von dem Dorn sich nun in Urlaubszeiten gelegentlich vertreten lässt5. 1887 in Berlin geboren, wurde der Prädikatsjurist Dorn mit einer prozessrechtlichen Arbeit im Jahr 1914 von der Würzburger Fakultät promoviert6 und trat im selben Jahr in das Reichsjustizamt (später: Reichsjustizministerium) ein, wo er im Schwerpunkt mit öffentlich-rechtlichen Fragen der Kriegswirtschaft befasst war. Am 1. Mai 1919 wurde er zum Landgerichtsrat in Berlin ernannt, hat aber – soweit ersichtlich – in diesen Monaten keine richterliche Tätigkeit aufgenommen; vielmehr bot sich ihm die Möglichkeit zur Mitarbeit an den Arbeiten der Weimarer Nationalversammlung und in der Rechtskommission der deutschen Friedensdelegation. In Weimar wurde Dorn eine Nachricht von Johannes Popitz übermittelt, der ihn zum Eintritt in das Reichsfinanzministerium aufforderte7. Dort nahm Dorn Ende 1919 die Stelle Enno Beckers ein, der an den neu geschaffenen Reichsfinanzhof nach München wechselte8. So ist Dorn zunächst mit der Durchführung der neuen Reichsabgabenordnung befasst. In dieser Funktion ist er auch für die zwischenstaatliche Rechts- und
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2 Gesetz über die Errichtung eines Reichsfinanzhofes und über die Reichsaufsicht für Zölle und Steuern v. 26.7.1918, RGBl. 1918, 959. 3 Zu Jahn v. a. den Beitrag von List, Vom Reichsfinanzhof zum Bundesfinanzhof, in FS v. Wallis, 1985, S. 15 ff.; Kumpf, Gustav Jahn, dem ersten Chefpräsidenten des Reichsfinanzhofs, zum fünfzigsten Todestag, StVj 1990, 199 ff.; ders., Kaiserreich, Weimarer Republik und „Drittes Reich“. Der Reichsfinanzhof 1918–1938 aus der Sicht seines ersten Präsidenten, in FS 75 Jahre Reichsfinanzhof – Bundesfinanzhof, 1993, S. 23 ff. 4 Zu Becker siehe die Beiträge von Sellmann, Entwicklung und Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Oldenburg, 1957; Ordemann, Was alles Recht war, 1987; ders., Enno Becker, in Friedel (Hrsg.), Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg, 1992, S. 53 f.; Theisen (Hrsg.), Gedenkschrift zum 50. Todestag von Dr. h.c. Enno Becker, 1990; Schieckel, Enno Becker und seine Verwandtschaft, Nordwest-Heimat, 1990, Nr. 12; Pausch, Enno Becker. Schöpfer der Reichsabgabenordnung, in Pausch (Fn. 1), S. 44 ff. 5 Manuskript Dorns: Entwurf eines Urlaubsgesuchs an den Reichsminister der Finanzen v. 2.8.1932, Az. 1736, Kopie in der BFinAk, Finanzhistorische Sammlung, Nachl. Dorn, Dok. 1928–1935. 6 Dorn, Der Prozessvergleich als Grundlage des Eigentumserwerbs an Grundstücken, Berlin 1914, zugl. Würzburg Univ. Diss. iur. 1914. 7 Zu Popitz’ Wirken in den 1920er Jahren statt aller Dieckmann, Johannes Popitz. Entwicklung und Wirksamkeit in der Zeit der Weimarer Republik, 1960; G. Schulz, Johannes Popitz, in Lill/Oberreuter (Hrsg.), 20. Juli. Portraits des Widerstandes, 1984, S. 237 ff.; ders., Art. Popitz, Johannes, in NDB Bd. 20, 2001, S. 620 ff.; Voß, Johannes Popitz (1884–1945): Jurist, Politiker, Staatsdenker unter drei Reichen, Mann des Widerstands, 2006. 8 Näher Klein (Fn. 1), S. 98.
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Amtshilfe zuständig. Die hier gewonnene Erfahrung qualifiziert ihn dazu, bereits zu Beginn seiner Ministerialzeit federführend die ersten Doppelbesteuerungsabkommen des Reiches zu verhandeln9. 1920 zum Ministerialrat10 und bereits 1922 zum Dirigenten in Popitz’ Abteilung III ernannt, ist Dorn an den Arbeiten am EStG 1925 beteiligt11. Vor allem aber beginnt er nun sein eigentliches Lebenswerk: die wissenschaftlich kaum zu überschätzende Pionierarbeit an der Herausbildung des Internationalen Steuerrechts in den 1920er Jahren12. Durch seine frühen Erfahrungen auf dem internationalen Parkett ist Dorn daneben prädestiniert, sich auch mit anderen als steuerlichen Fragen zu befassen, die das Ausland betreffen und diplomatischen Geschicks bedürfen. Zentrale Bedeutung erlangen dabei die Reparationslasten, denen Deutschland nach dem Dawes-Plan ausgesetzt ist. Gerade zum Ministerialdirektor und Leiter der Querschnittsabteilung IV befördert13, ist Dorn im Winter 1927/28 maßgeblich an dem Entwurf eines Kriegsschädenschlussgesetzes14 beteiligt, das einen Ausgleich für diejenigen Deutschen vorsah, die durch die Grenzziehung des Versailler Vertrages Nachteile erlitten hatten. Nachdem dieses Gesetz am 21.3.1928 im Reichstag verabschiedet worden ist, wendet sich Minister Heinrich Köhler in einem zweiseitigen förmlichen Brief an seinen Abteilungsleiter Dorn, um dessen Verdienste im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zum Ausdruck zu bringen: „… danke ich diesen für die finanzpolitische Entwicklung unserer Zukunft hochbedeutsamen Erfolg in erster Linie Ihren von ausgezeichneter Sachkunde getragenen Bemühungen. In nimmermüder Hingabe und mit seltener Klugheit haben Sie sich der oft undankbaren Aufgabe unterzogen, den Regierungsentwurf zu verteidigen und der Verabschiedung näher zu bringen“15. Zur Vorbereitung einer Revision des Dawes-Plans16 und intensiv dann in Verhandlungen mit dem Bankier Owen D. Young über den nach ihm benannten
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9 Hierzu demnächst näher die Dissertation von Bräunig, Herbert Dorn (1887–1957). Internationaler Geist im Steuerrecht der Weimarer Republik (in Vorbereitung). 10 TOP 3 der Kabinettssitzung v. 10.8.1920, BArch, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Fehrenbach, Bd. 1 Nr. 48. 11 Vgl. dazu und den Änderungen von 1934 statt aller E. Becker, Zum neuen Einkommensteuergesetz, StuW 1934 I, Sp. 1241 ff. (1244). 12 Würdigung bei Weber-Fas, Staatsverträge im internationalen Steuerrecht, 1982, S. 14. 13 Pausch, Herbert Dorn. Wegbereiter des internationalen Steuerrechts, in Pausch (Fn. 1), S. 106. In der eigens für Dorn eingerichteten Abt. IV („Gemeinsame und Rechtsangelegenheiten“) ressortierten Fragen der AO, der Verkehrsteuern und des Internationalen Steuerrechts; sie war aber auch das Justitiariat des Hauses. 1927 kamen zusätzlich die Reparationsangelegenheiten hinzu. – Zu frühen Beförderungen von Ausnahmebegabungen im Reichsfinanzminsterium Witt, Reichsfinanzminister und Reichsfinanzverwaltung, in Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 23 (1975), Heft 1, S. 1 (27). 14 Gesetz zur endgültigen Regelung der Liquidations- und Gewaltschäden (Kriegsschädenschlussgesetz) v. 30.3.1928, RGBl. I 1928. 15 Brief des Reichsministers der Finanzen an Dorn v. 21.3.1928, BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). 16 Vertragswerk v. 16.8.1924 zum Abschluss der Londoner Konferenz. Hierzu Ritschl, Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1934, 2002, und Gomes, German reparations 1919–1932, 2010.
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Plan eines Sachverständigenausschusses zur Neuordnung der Kriegsfolgelasten aus dem Jahr 1929 bemüht sich Dorn um eine Reduktion der Schuldenlasten Deutschlands17. So entsendet die Reichsregierung Dorn in ein vierköpfiges Unter-Organisationskomitee, das Ende November 1929 Vorschläge für die Ablösung der bisherigen Eisenbahnschuldverschreibungen und die Beendigung der Beteiligung von Ausländern an der Verwaltung der Reichsbahn macht, die als selbständige Gesellschaft geführte Reichsbahn zugleich aber auch einem stärkeren Einfluss der Reichsregierung unterstellt18. Daneben ist Dorn mit finanziellen Fragen von Wohnungsbauprogrammen19 befasst und wird Mitglied des Aufsichtsrats der Bank für Deutsche Industrieobligationen20. In unterschiedlicher Stellung dient er 10 der 15 Reichsfinanzminister der Weimarer Zeit. Dabei gehört Dorn mit Johannes Popitz, Enno Becker, Arthur Zarden21 und Rolf Grabower22 zu den wenigen über den Tag hinaus namentlich bekannten und in ihrem Wirken auch nach 1945 vielfach gewürdigten Spitzenbeamten des Reichsfinanzministeriums23 – und auch in der ressortübergreifenden Perspektive zu der nicht großen, aber bedeutenden Gruppe deutscher Juristen jüdischer Herkunft, die in hohen und höchsten Ämtern der Berliner Ministerialbürokratie Verantwortung für die Geschicke Deutschlands in der Zwischen-
__________ 17 Vgl. das Typoskript einer ausführlichen Rede Dorns aus dem Jahr 1929 zum YoungPlan, BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). Erwähnung der früheren Tätigkeit Dorns bei Schäffer, Erinnerungen an Ernst Trendelenburg, in Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), S. 865 ff. (878), http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/ 1977_4.pdf (zuletzt abgerufen am 10.10.2010). 18 Bericht des Unter-Organisationskomitees für die Deutsche Reichsbahn v. 19.11.1929 (deutsch/französisch), in Berichte der Unterausschüsse des nach Anlage V des Sachverständigenberichts v. 7.6.1929 eingesetzten Organisationskomitees, Berlin, Reichsdruckerei 1929, S. 33 ff. (auch in BFinAk, Finanzhistorische Sammlung [Fn. 5]). Dorn gehörte auch der deutschen Delegation bei den sog. Mobilisierungsverhandlungen mit Frankreich an. S. hierzu die Aufzeichnungen von Staatssekretär Pünder, Den Haag, 17.1.1930, in Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik, Das Kabinett Müller II, Bd. 2, Dokument Nr. 419 = BArch, R 43 I/300, Bl. 194. 19 Zur Anerkennung dieser Tätigkeit trug ihm der Magistrat der Stadt Königsberg an, eine rd. 100 m lange Straße mit einem von der dortigen Land- und Baugesellschaft in Angriff genommenen Wohnhausblock „Dornstraße“ zu nennen: Schreiben an Dorn v. 15.2.1929, BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). 20 Ernennungsschreiben der Industrie- und Handelskammer zu Berlin v. 10.3.1924: BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). 21 Zu ihm siehe die von Johann Heinrich Kumpf zusammengestellte Dokumentation BMF/Bundesfinanzakademie, Arthur Zarden (1885–1944). Staatssekretär im Reichsfinanzministerium. Eine Gedenkausstellung, 1985. 22 Zu ihm Nigbur, Wenn im Amte, arbeite, wenn entlassen verbirg dich: Prof. Dr. jur. Dr. phil. Rolf Grabower in Zeugnissen aus der Finanzgeschichtlichen Sammlung der Bundesfinanzakademie, 2010. 23 Vgl. nur die Erwähnung von Dorn und Popitz in der Rede von Bühler, Akten des Parlamentarischen Rates, 9. Sitzung des Ausschusses für Finanzfragen am 29.9.1948, abgedruckt in Der parlamentarische Rat, 1948–1949: Ausschuss für Finanzfragen Nr. 10, S. 285 (287).
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kriegszeit übernommen hatten24. Während seiner Zeit im Reichsfinanzministerium nimmt Dorn an weit über 250 Kabinettssitzungen teil; seit Ende der 1920er Jahre gibt es bis zu seinem Wechsel nach München kaum noch eine Kabinettssitzung ohne ihn25. Dorn arbeitet dem Kabinett dabei teilweise auch außerhalb seines engeren Zuständigkeitsbereichs zu. So verfasst er in den ersten Apriltagen 1930 – unmittelbar nach der Ernennung Brünings zum Reichskanzler am 30. März 1930 – das zentrale Gutachten zur Anwendung von Art. 48 WRV26. Diese Arbeit Dorns ist ein Schlüsseltext für das verfassungsrechtliche Verständnis des Notverordnungsrechts des Reichspräsidenten, dessen Inanspruchnahme für die gesamte Ära Brüning prägend geworden ist. Parallel zu seiner beruflichen Tätigkeit entfaltet Herbert Dorn eine umfangreiche, auch für einen Spitzenbeamten ungewöhnliche wissenschaftliche Tätigkeit. Zunächst als Leiter der Abteilung für Finanz- und Steuerrecht27, dann als deren Dozent28, später als Honorarprofessor der Handelshochschule Berlin29 hat er den Beginn der akademischen Blütezeit des Steuerrechts in den 1920er Jahren miterlebt und mitgeprägt30. Seine Vorlesungsankündigungen
__________ 24 Vgl. Lowenthal, Die Juden im öffentlichen Leben, in Paucker/Mosse (Hrsg.), Das Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik, 2. Aufl. 1965/66, S. 51 (54). Aufschlussreich auch Heinrich Köhler, Lebenserinnerungen, 1964, S. 194 ff. 25 Siehe Historische Kommission der Bay. Akademie der Wissenschaften/Bundesarchiv, Edition Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik, http://www.bundesarchiv.de/ aktenreichskanzlei/1919-1933/0010/index.html (zuletzt abgerufen am 10.10.2010). 26 Gutachten des Ministerialdirektors Dorn zur Frage der Anwendung des Art. 48 der Reichsverfassung und der Auflösung des Reichstags, Edition Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik (oben Fn. 25), Die Kabinette Brüning I/II, Bd. 1, Dokument Nr. 6 = BArch, R 43 I/1870, Bl. 107 ff., http://www.bundesarchiv.de/aktenreichs kanzlei/1919-1933/0010/bru/bru1p/kap1_2/para2_6.html (zuletzt abgerufen am 10.10.2010). Das Gutachten ist undatiert. Seine Einordnung in die Akten des Bundesarchivs legt aber den Schluss nahe, dass es vom 3.4.1930 stammt. 27 Chronik der Handels-Hochschule Berlin 1926–1930, 1930, S. 63. 28 Ernennung v. 10.9.1925: BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). 29 Die Hochschule ist 1906 auf Initiative der Berliner Kaufmannschaft gegründet worden; Träger war die Industrie- und Handelskammer zu Berlin. Zur Geschichte der Handelshochschule: Verband Deutscher Diplom-Kaufleute (Hrsg.), Ein Halbjahrhundert betriebswirtschaftliches Hochschulstudium, in FS zum 50. Gründungstag der Handels-Hochschule Berlin, 1956; Zschaler, Vom Heilig-Geist-Spital zur Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, 1997; und Biggeleben, Das „Bollwerk des Bürgertums“: die Berliner Kaufmannschaft 1870–1920, 2006, S. 387 ff. Gute Charakterisierung der Gründungsidee und -protagonisten auch bei Dreyer, Hugo Preuß (1860–1925). Biographie eines Demokraten, 2002, S. 261 ff.; Albertin, Einleitung, in Lehnert/Müller/ Albertin (Hrsg.), Hugo Preuss, Gesammelte Schriften, Bd. 1: Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, 2007, S. 62 f. Keine Erwähnung Dorns in der Festgabe der dort tätigen Juristen C. Schmitt, Gieseke, Eckhardt, H. Krause, Kessler und W. Weber, Rechtswissenschaftliche Beiträge zum 25jährigen Bestehen der Handels-Hochschule, 1931. 30 Allgemein zur Entwicklung der Steuerrechtswissenschaft in diesen Jahren Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, 1999, S. 220 ff.; Reimer/ Waldhoff, Steuerrechtliche Systembildung und Steuerverfassungsrecht in der Entstehungszeit des modernen Steuerrechts in Deutschland, in dies. (Hrsg.), Albert Hensel, System des Familiensteuerrechts und andere Schriften, 1999, S. 30 ff. Gerade die Handelshochschule hat in jenen Jahren einen exzeptionellen Kreis junger Dozen-
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zeugen von einem Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Systematisierung des Rechtsstoffs, sind zugleich noch ganz der für die Zeit typischen engen Verbindung von Steuer-, Haushalts- und Finanzausgleichsrecht verpflichtet31. Seine Lehrtätigkeit führt er auch als Präsident des Reichsfinanzhofs fort, nun meist im Zwei- oder Dreiwochenrhythmus an Freitagen und Samstagen32. Bemerkenswert ist dabei die Breite und Aktualität der Themen: Sie erstrecken sich von Einzelheiten des Steuervölkerrechts (unter Einschluss des Steuerrechts der Handelsverträge) über haushaltswirtschaftliche Grundfragen (etwa des Finanzausgleichs), Fragen der Unternehmensbesteuerung (etwa in der modernen Formulierung „Steuerrecht und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft“) bis hin zu allgemeinen verfassungsrechtlichen Fragen (Bedeutung des Haushaltsnotverordnungsrechts des Reichspräsidenten und ihr Verhältnis zur finanziellen Selbstverwaltung der Gemeinden)33. Gemeinsam mit seinem späteren Richterkollegen Enno Becker, dem Bonner Steuerrechtslehrer Albert Hensel34, dem Staatssekretär im Reichsfinanzministerium Johannes Popitz35 und dem Berliner Rechtsanwalt und Notar Max Lion36
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ten zusammengeführt. Während Popitz an der Berliner Universität tätig war (seit 1922 als Honorarprofessor), lasen an der Handelshochschule neben Dorn auch Rolf Grabower (Fn. 22), Max Lion und Kurt Ball. Zu Lion (1883–1951): Pausch, Max Lion – Pionier des Bilanzsteuerrechts. Aufstieg und Verfolgung eines deutschen Steuerwissenschaftlers jüdischer Abstammung, StuW 1979, 149 ff.; ders., Max Lion, in Pausch (Fn. 1), S. 84 ff.; Voß, Steuern im Dritten Reich, 1995, S. 165 f.; anon., Displaced German Scholars: A Guide to Academics in Peril in Nazi Germany During the 1930s, 1993, S. 48. Zu Ball: Pausch, Im Gedenken an Kurt Ball, StuW 1976, 387; Felix, Erinnerung an Kurt Ball, StStud 1994, 149; Voß a. a. O., S. 160; siehe auch Stolleis a. a. O., S. 224; und Reimer/Waldhoff a. a. O., S. 33 f. Vgl. etwa die Ankündigungen der Kollegs „Reichssteuerrecht (Allgemeine Grundlagen und Überblick über das System der Reichssteuern)“ (2 SWS) im Sommersemester 1931 und „Grundzüge des Finanzrechts (einschließlich des Steuerrechts)“ (1 SWS; nachdem dieselbe Veranstaltung in Dorns Berliner Jahren zweistündig angeboten worden war) im Wintersemester 1931/32: BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). Das Kolleg im WS 1931/32 scheint Dorn als Seminar konzipiert zu haben, in dem die Studenten ihrerseits Vorträge übernehmen konnten. Ankündigung der Kollegs „Reichssteuerrecht“ und „Grundzüge des Finanzrechts“ (oben Fn. 31); vgl. auch Jahn, Erinnerungen. Manuskript; Auszug in der BFinAk, Finanzhistorische Sammlung, Nachl. Dorn, Dok. 1906–1927. Übersicht „Weitere Seminarthemen (Wintersemester 1931/32)“, BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). Vor Verleihung der Honorarprofessur hatte man Dorn sogar die allgemeine Vorlesung „Reichsstaatsrecht unter vergleichender Berücksichtigung des Rechts der preußischen Verfassung“ anvertraut: BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). Zu ihm Reimer/Waldhoff (oben Fn. 30); Waldhoff/Hüttemann, Steuerrecht in Forschung und akademischem Unterricht an der Universität Bonn, in dies. (Hrsg.), Steuerrecht an der Universität Bonn, 2008, S. 1 (3 ff.). Popitz war seit 1922 Honorarprofessor der Berliner Universität. Seine Ministeriallaufbahn führte ihn später in das Amt eines Reichsministers ohne Geschäftsbereich (1932/33) und des Preußischen Finanzministers (1933 bis zur Verhaftung am 21. Juli 1944). Hinrichtung in Plötzensee (2. Februar 1945). Zu Popitz oben Fn. 7. Max Lion war bereits seit 1920 Lehrbeauftragter an der Berliner Handelshochschule (s. oben Fn. 30).
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gehört Dorn zu den Begründern der 1927 erstmals erschienen Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht37. Daneben ist Dorn seit 1922 Mitglied der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentags und wird 1924 und 1928 zugleich als Gutachter für den Juristentag tätig38.
III. Umstände der Entsendung nach München Wie gelangt nun der junge Spitzenbeamte Herbert Dorn nach München? Nachdem der erste Präsident des Reichsfinanzhofes, Gustav Jahn, die gesetzliche Altersgrenze erreicht hat, endet dessen aktive Dienstzeit mit Ablauf des Jahres 1930 – wenngleich er gern weiter gearbeitet hätte39. Es kommt zu einer Sedisvakanz, in der der Stellvertreter Jahns, Dr. Richard Kloß, die Präsidialgeschäfte interimistisch führt40. In Berlin kursieren Pläne, den langjährigen Staatssekretär im Reichsfinanzministerium und späteren preußischen Finanzminister Johannes Popitz (1884–1945) zum Präsidenten des Reichsfinanzhofs zu machen. Popitz selber lehnt dieses Ansinnen aber ab41. Nun fällt die Wahl auf Herbert Dorn. Sein Wechsel an die Spitze des Reichsfinanzhofs beruht formal, aber wohl auch der Sache nach auf einem Vorschlag des Reichsfinanzministers, der den Wechsel Dorns nachgerade als eine Entsendung erscheinen lässt: Das Finanzministerium führt als ausschlaggebenden Grund für die Personalentscheidung den Wunsch an, „einen stärkeren Kontakt zwischen der Finanzverwaltung und dem Finanzhof herzustellen“; bisher habe es „an der wünschenswerten inneren Verbindung leider gefehlt“42. Reichskanzler Heinrich Brüning schließt sich diesem Votum mit kurzen Worten an, die protokollarisch festgehalten sind43: Beim Reichsfinanzhof sei in der Vergangenheit eine gewisse Neigung feststellbar gewesen, Reichsgesetze zu annullieren. Brüning unterstütze daher den Vorschlag des Reichsministers der Finanzen. Das Amt des Präsidenten des Reichsfinanzhofs müsse von einer Persönlichkeit ausgefüllt werden, die über die Entstehungsgeschichte und die
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37 Rezension: Blumenstein, in Weltwirtschaftliches Archiv Bd. 27 (1928 I), S. 117–119. 38 33. DJT 1924 in Heidelberg: Welche Grundsätze empfehlen sich für das internationale Vertragsrecht zur Vermeidung internationaler Doppelbesteuerung bei Einzelpersonen und Körperschaften, insbesondere bei gewerblichen Betrieben?; 35. DJT 1928 in Salzburg: Empfiehlt es sich im Interesse einer gesunden Finanzwirtschaft, die bestehenden Grundsätze über die Bewilligung von Einnahmen und Ausgaben für die Haushalte des Reiches und der Länder zu ändern? (Gutachten DJT Bd. I [1928], S. 435 ff.; hierzu Berichte u. a. von Höpker-Aschoff). 39 In seinen Abschiedsworten an die Mitglieder des Reichsfinanzhofs hat er zum Ausdruck gebracht, „wie glücklich mich die Zusammenarbeit gemacht und wie sehr ich den aufgezwungenen Wechsel noch in der Zukunft empfinden werde“: Jahn (Fn. 32). 40 § 58 Abs. 3 RAO. 41 Hierzu und zu den weiteren beruflichen Perspektiven, die sich Popitz in diesen Jahren boten: Schulz in Lill/Oberreuter (Fn. 7), S. 239 f. 42 Wiedergabe des Vorschlags in der Niederschrift des Staatssekretärs in der Reichskanzlei über die Ministerbesprechung v. 29.1.1931, Akten der Reichskanzlei, R 43 I/ 958, Rk. 1022, BArch; Kopie: BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5); Abdruck auch in Koops (Hrsg.), Die Kabinette Brüning I und II, Bd. 1, 1982, S. 797. 43 Oben Fn. 42.
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Tendenz der Reichsfinanzgesetze der letzten Jahre aus eigener Anschauung unterrichtet sei. Professor Dr. Dorn sei eine solche Persönlichkeit. Seine besondere Befähigung auf juristischem Gebiet sei wohl über allem Zweifel erhaben44. Daraufhin erteilt das Reichskabinett am 21. Januar 1931 seine Zustimmung zu dieser Personalentscheidung; bereits am folgenden Tag erhält Dorn die von Minister Dietrich gegengezeichnete Ernennungsurkunde des Reichspräsidenten. Parallel dazu wird die Personalie bereits öffentlich verbreitet. Das veranlasst Senatspräsident Kloß dazu, Dorn in einem kurzen Schreiben vom 23. Januar 1931 „im Namen des Reichsfinanzhofs“ vorab zu gratulieren – ein Schreiben, das indes deutlich das Unbehagen darüber erkennen lässt, dass die Münchner Richter von der Wahl des neuen Präsidenten zunächst nur aus Rundfunk und Zeitungen erfahren haben45. Dorn selbst antwortete rasch, ausführlich und überaus verbindlich46: Er beruft sich auf die persönliche Bekanntschaft mit Kloß und die „menschliche und sachliche Gemeinschaft“ mit den „führenden Männern“ des Gerichts. Vor allem aber hebt Dorn sein eigenes „Gefühl tiefer Dankbarkeit gegen ein gütiges Geschick“ hervor, mit dem er den Ruf an das höchste Gericht angenommen habe. Wie zur Betonung der eigenen unparteilichen Klugheit stellt Dorn in diesem Schreiben die Übernahme des Richteramts unter ein ausgleichendes Motto: „Es wird mir Stolz und Ehre bedeuten, die bewährten Traditionen unseres höchsten Gerichts zu pflegen und zu entwickeln, im Geiste des Rechts, dessen Wesen und Aufgabe es nach Kahls treffendem Wort ist, ‚die Freiheit des Einzelnen mit den Lebensbedingungen der Gesamtheit in Maß und Einklang zu bringen“47. Mit dem Antritt seines Münchener Amts lässt sich Dorn indes Zeit: Er wird in Berlin noch gebraucht48. Der Reichsfinanzminister hat ihn deshalb ausdrück-
__________ 44 Wiedergabe der Bemerkung in der Niederschrift des Staatssekretärs in der Reichskanzlei über die Ministerbesprechung v. 29.1.1931, Akten der Reichskanzlei, R 43 I/ 958, Rk. 1022, BArch; Kopie: BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). 45 „Durch Rundfunk und Presse geht uns die Nachricht zu, daß Sie zum Präsidenten des Reichsfinanzhofs ernannt worden sind. […] Ich darf amtlicher Nachricht über Ihren Amtsantritt entgegen sehen. Bis dahin verbleibe ich, hochgeehrter Herr Präsident, …“: Reichsfinanzhof (gez. Dr. Kloß), Brief an Dorn v. 23.1.1931, Kopie: BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). 46 Brief an Kloß v. 26.1.1931, BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). 47 Oben Fn. 46. Dr. Wilhelm Kahl (1849–1932): Ordinarius und 1908/09 Rektor der Berliner Universität, Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und des Reichstags (1919–1932), Geheimer Justizrat, Präsident des Deutschen Juristentags 1924, 1926 und 1928. Zu ihm Burghard, Professor Dr. Wilhelm Kahl – Leben zwischen Wissenschaft und Politik, 2006; Klopsch, Die Geschichte der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin im Umbruch von Weimar, 2009, S. 65 ff.; und Hettinger, Wilhelm Kahl (1849–1932) – „… der Strafrechtsreform eigentliche Seele“, in FS 200 Jahre Humboldt-Universität zu Berlin, 2010, S. 405 ff. 48 Vgl. auch die Niederschrift des Staatssekretärs in der Reichskanzlei über die Ministerbesprechung v. 29.1.1931, Akten der Reichskanzlei, R 43 I/958, Rk. 1022, BArch; Kopie: BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). Die Leitung der Reparationsabteilung übernahm nach Ausscheiden Dorns der Leiter der Haushaltsabteilung und
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lich darum gebeten, seine ministerielle Tätigkeit noch für einige Wochen, längstens bis Ende März 1931 weiter zu führen. In diesen letzten Berliner Wochen arbeitet Dorn intensiv an einer Stellungnahme zur Revision des Young-Plans49. In Anwesenheit von Reichsfinanzminister Hermann Dietrich50, des Bayerischen Ministerpräsidenten Heinrich Held und verschiedener Mitglieder der Bayerischen Staatsregierung wird Herbert Dorn dann aber am 7. März 1931 feierlich in sein Amt als Präsident des Reichsfinanzhofs eingeführt51. Am folgenden Tag nimmt Dorn seine Arbeit in München auf52. Der Umzug nach München – ausweislich der Reisekostenabrechnung war es ein Umzug mit der Ehefrau und einer Wirtschaftsdame – erstreckt sich über die Zeit vom 27. März bis zum 9. April53. Die Familie bezieht die Dienstwohnung des Präsidenten im Gebäude des Reichsfinanzhofs. Dass ein Ministerialbeamter an die Spitze des Gerichts berufen wird, können die Beteiligten nicht von vornherein als ungewöhnlich ansehen: Auch der erste Chefpräsident des Gerichts, Gustav Jahn, war nur am Beginn seines Berufslebens und auch nur für wenige Jahre in untergeordneter Funktion richterlich tätig gewesen54, hatte dann aber knapp zwanzig Jahre als Beamter zunächst im Reichsjustizministerium, seit 1900 im Reichsschatzamt gedient, bevor Wilhelm II. ihn im Jahr 1918 zum Präsidenten des Reichsfinanzhofs ernannte. Dorn ragt unter den Berliner Beamten deutlich heraus. Nach Dienststellung und juristischem Können, einschlägiger Berufserfahrung und diplomatischem Geschick erscheint er auch in der Rückschau als für die Münchener Aufgabe prädestiniert. Mit dem neuen Präsidenten verbinden sich unterschiedliche, teils disparate Hoffnungen. Es sind nicht allein die Erwartungen Brünings und Popitz’ zu Gunsten einer profiskalischen Auslegung der Steuergesetze, die Dorn nach München begleiten. Gegenläufig erbittet sich die deutsche Wirtschaft, deren Vertreter bei den Feierlichkeiten in München nicht zu Wort kommen, post festum, der neue Präsident möge sich „in [dem] Kampf auf Tod und Leben der deutschen Wirtschaft durch Herausbildung eines wirtschaftlich gesunden
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spätere Finanzminister Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk mit. Zu ihm Goehrke, In den Fesseln der Pflicht. Der Weg des Reichsfinanzministers Lutz Graf Schwerin v. Krosigk, 1995. Hinweis im Nachlass Dietrich (1879–1954), Teilnachlass 2, Nr. 214, BArch Koblenz; und das Protokoll der Besprechung bei Reichskanzler Brüning v. 7.5.1931, BArch, Edition Akten der Reichskanzlei: Kabinette Brüning I/II, Bd. 2, Dokument Nr. 291. Zu ihm: von Saldern, Hermann Dietrich, ein Staatsmann der Weimarer Republik (1966); Frölich, „He served the German people well“. Der politische Weg Hermann Dietrichs vom badischen Nationalliberalen zum baden-württembergischen Freidemokraten, in Zs. f. d. Geschichte des Oberrheins Bd. 153 (2005), S. 619. Dokumentation der Reden in StuW 1931, Sp. 357 ff.; siehe auch die Reisekostenrechnung Dorns: BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). Anzeige Dorns an den Reichsminister der Finanzen v. 10.3.1931, BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). Umzugskostenrechnung v. 9.4.1931, BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). Von 1889 bis 1894 als Assessor am Landgericht Berlin, dann kurz als Amtsrichter in Charlottenburg, von 1895 bis 1898 als Hilfsrichter am Kammergericht und 1898/99 für wenige Monate als Richter am Landgericht Berlin.
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Geistes für die Auslegung der Steuergesetze und der Steuerverordnungen schützend vor die Wirtschaft […] stellen“55. Und die Senatspräsidenten und Reichsfinanzräte erhoffen sich von ihrem neuen Chefpräsidenten die Achtung und Stärkung ihrer richterlichen Unabhängigkeit; unmissverständlich fordern sie von dem jungen Berliner Spitzenbeamten juristische Exzellenz und Kollegialität, keine Führung56. Ob der nur wenig ältere, aber ungleich führungsstärkere Popitz ebenso empfangen worden wäre, mag dahinstehen. Dass Dorn als für sein neues Amt noch zu jung angesehen werden konnte, ist jedenfalls schon im Reichsfinanzministerium erkannt worden: Nur so lässt sich eine winzige Änderung der Abgabenordnung erklären, die man als lex Dorn deuten muss57.
IV. Herbert Dorn als Präsident des Reichsfinanzhofs 1. Festigung der Stellung des Reichsfinanzhofs Als Dorn Präsident wird, ist die Stellung des Reichsfinanzhofs noch nicht vollständig gefestigt. Allenthalben ist die dreifache Unsicherheit der Gründungsjahre noch spürbar: Ist der Reichsfinanzhof ein Gericht im vollen Sinne? Wie verhält er sich zum Reichsgericht? Ist das ferne München ein geeigneter Sitz? Als am 11. August 1919 die Weimarer Reichsverfassung verkündet wird, findet dort zwar mehrfach das Reichsgericht Erwähnung58, nicht aber der – bereits seit knapp einem Jahr existierende59 – Reichsfinanzhof60. Dieses beredte Schweigen wird zwar schon von der Weimarer Staatsrechtslehre nicht als Absage an die Gerichtsqualität des Reichsfinanzhofs verstanden. Vielmehr dominiert im Schrifttum das Verständnis, der Reichsfinanzhof sei – auch wegen der Rechtsprechungstradition, in der er stehe – ein (Sonder-)Verwaltungsgericht i. S. d.
__________ 55 Öffentliche Adresse „An den Präsidenten des Reichsfinanzhofs!“, hier zit. nach dem Abdruck in der Allgemeinen Zeitung Chemnitz, Nr. 111 v. 14.5.1931, Sonderdruck: BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). 56 Vgl. die Ansprache von Senatspräsident Kloß, StuW 1931, Sp. 359 ff. 57 Durch Notverordnung des Reichspräsidenten v. 1.12.1930 war durch eine Änderung von § 32 RAO 1919 die Besetzung der Senate des RFH mit einer geraden Anzahl ermöglicht worden; daher musste zugleich Vorsorge für den Fall der Stimmengleichheit im Senat getroffen werden. Hier sah die Notverordnung vor, dass „bei gleichem Dienstalter [die Stimme des] der Geburt nach jüngsten Mitglieds“ nicht mitgezählt würde. Kurz nach dem Amtsantritt Dorns wird in der Neubekanntmachung der RAO v. 22.5.1931 (RGBl. I, 161 (170)) das Wort „Mitglieds“ durch „Rates“ ersetzt – so dass Chefpräsident und Senatspräsidenten ihre Stimme in keinem Fall verlieren können, selbst dann nicht, wenn sie die jüngsten Mitglieder sind. Vgl. hierzu auch Klein (Fn. 1), S. 99. 58 Art. 103, 166 und 172 WRV. Den Mitgliedern des Reichsgerichts ist zudem nach Art. 102 und 104 WRV die richterliche Unabhängigkeit garantiert. Dorn selber beansprucht, einen entscheidenden Beitrag zur Aufnahme dieser Garantien in die WRV geleistet zu haben: Antrittsrede, StuW 1931, Sp. 362 f. 59 Fn. 2. 60 Art. 103, 106 ff. WRV weisen die Rechtsprechung ausschließlich der ordentlichen Gerichtsbarkeit, der – marginalisierten – Militärgerichtsbarkeit, der Verwaltungsgerichtsbarkeit und dem Staatsgerichtshof zu.
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Art. 107 WRV61. Die einfachgesetzlich längst garantierte62 Unabhängigkeit des Reichsfinanzhofs und seiner Mitglieder ist aber im allgemeinen Bewusstsein noch nicht fest verankert63; zu groß ist seine Nähe zum Reichsfinanzministerium und der 1919 neu geschaffenen Reichsfinanzverwaltung. In der Rückschau hebt Johannes Popitz 1928 hervor, der Reichsfinanzhof bedeute „den ersten sichtbaren Ausdruck der Tendenz, die Verwaltung [sic!] der Reichssteuern nicht mehr allein den Behörden der Bundesstaaten zu überlassen, sondern eine Zusammenfassung, eine ständige Beeinflussung der Geschäftsführung von einer Stelle zu erreichen“64. Selbst der an sich auf Abgrenzung bedachte erste Chefpräsident des Reichsfinanzhofs, Gustav Jahn, lässt in seinem Bemühen um einen konzilianten Ton gegenüber dem Reichsfinanzministerium, vor allem aber in der Art und Weise, wie er nach innen auf kurze Erledigungszeiten drängte, den Reichsfinanzhof nicht selten als klassische Behörde erscheinen65. Damit bleibt der Reichsfinanzhof im Hintertreffen gegenüber dem Reichsgericht, das ihn an Alter und Größe, Außenwahrnehmung und Selbstbewusstsein überstrahlt. Ein Beleg für die Alleinstellung des Reichsgerichts ist die Besetzung des Staatsgerichtshofs (Art. 108 WRV): Solange kein Reichsverwaltungsgericht bestand, war der Staatsgerichtshof ausschließlich mit dem Präsidenten des Reichsgerichts als Vorsitzendem sowie – als Beisitzern – drei Mitgliedern des Reichsgerichts und drei Vertretern der Oberverwaltungsgerichte Preußens, Bayerns und Sachsens besetzt; der Reichsfinanzhof war nicht vertreten. Im Sommer 1930 legt die Reichsregierung endlich den Entwurf eines Gesetzes über das Reichsverwaltungsgericht vor66. Dieser Regierungsentwurf sieht nunmehr die bereits 1921 in dem Gesetz über den Staatsgerichtshof vor-
__________ 61 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, Art. 107 Anm. 4. Dem folgen Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht, 1991, S. 71; und Voß (Fn. 30), S. 183. Ebenso auch die Positionsbestimmung anlässlich der Amtseinführung Dorns durch Senatspräsident Kloß (Fn. 56), Sp. 361: „[der] Verwaltungsgerichtshof des Reiches für Finanzsachen“. 62 § 36 RAO 1919 = § 56 RAO i. d. F. v. 22.5.1931; dort auch Verweis auf Art. 104 WRV. 63 Hier liegt eine Parallele zu dem 1884 gegründeten, in Berlin angesiedelten Reichsversicherungsamt (RVA), das ebenfalls als Rechtsmittelgericht fungierte. Die Mitglieder seiner Spruchkörper (seit 1900: „Senate“) hatten eine richterähnliche Stellung; auf das Verfahren fanden Vorschriften der ZPO Anwendung. Einzelheiten z. B. in den Beiträgen von Christmann/Schönholz, Die Errichtung des Reichsversicherungsamtes und seine geschichtliche Entwicklung, und Tennstedt, Das Reichsversicherungsamt und seine Mitglieder – einige biographische Hinweise, in Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg.), Entwicklung des Sozialrechts, Aufgabe der Rechtsprechung. Festgabe aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, 1984, S. 3 ff. bzw. 47 ff.; sowie bei Kohl (Fn. 61), S. 53 ff. 64 Popitz, Betrachtungen über Errichtung und Einrichtung des Reichsfinanzhofs, in StuW 1928, Sp. 971 f. (972). 65 Instruktiv Kumpf in FS 75 Jahre RFH-BFH (Fn. 3), S. 28 ff. Sprachlich schlägt sich diese Haltung Jahns darin nieder, dass er den RFH beständig als „das Amt“ bezeichnet (Jahn [Fn. 32]). Immerhin verwendet auch § 32 RAO 1919 für den RFH noch die Ausdrücke „oberste Spruchbehörde“ und „Beschlussbehörde“; erst kurz nach Amtsantritt Dorns wird diese Terminologie getilgt (§ 52 RAO i. d. Neufassung v. 22.5.1931, RGBl. I, 161 ff.). 66 Entwurf v. 26.8.1930, Reichsrats-Drucks. 1930, Nr. 155.
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geschriebene Gründung eines Reichsverwaltungsgerichts und eine Äquidistanz des Staatsgerichtshofs zu Reichsgericht und Reichsverwaltungsgericht vor. An diesem Entwurf entzündet sich eine öffentlich ausgetragene Kontroverse um die Stellung der öffentlich-rechtlichen Reichsgerichte. Beredte Kunde davon legt zunächst eine Denkschrift ab, die der Vorstand des Richtervereins beim Reichsgericht der Reichsregierung vorlegt67 und die darauf abzielt, die Prärogative der Reichsgerichtsräte zu bewahren. Diesem Ansinnen widersetzt sich der Reichsfinanzhof68. Protokollarisch müssen diese dem Wesen nach institutionellen Streitigkeiten über eine gleichberechtigte Berücksichtigung des Reichsverwaltungsgerichts und eines oder mehrerer anderer oberster Gerichte des Reiches allerdings über die Richtervereine ausgetragen werden: Weder das Reichsgericht noch der Reichsfinanzhof wollen ein Selbstbefassungsrecht in Fragen der Reichsgesetzgebung beanspruchen. Die 25seitige Denkschrift des Richtervereins beim Reichsfinanzhof aus dem Juli 1931 trägt deshalb auch nur die Unterschriften von Senatspräsident Grünewald und Reichsfinanzrat Ott. Es gibt allerdings Anzeichen für eine unmittelbare Beteiligung Dorns: Die Münchener Denkschrift ist aufwendig gesetzt und gedruckt – was für den Einsatz von Haushaltsmitteln spricht, der der Billigung des Präsidenten bedurfte. Zudem zitiert sie Dorn nicht nur an zwei Stellen, sondern findet sich – mit Blanko-Anschreiben zu ihrer Versendung „im August 1931“ – auch in zwei Exemplaren in Dorns Brühler Nachlass. Dies alles spricht dafür, dass Dorn zumindest am Versand der Denkschrift, mit einiger Wahrscheinlichkeit aber auch an ihrer Abfassung beteiligt ist. Auch in der Stadt München musste der Reichsfinanzhof erst langsam ankommen. In den Anfangsjahren der Präsidentschaft von Gustav Jahn war die Abneigung gegen München als Sitz69 dieses obersten Gerichts überdeutlich gewesen. Nach Abflauen der Revolutionswirren, mit dem Bezug des „FleischerSchlösschens“ in den Jahren 1923 und 1924 und der Zunahme an Spruchkörpern wichen die Zweifel am Standort. Jahn brachte gesellschaftlichen Glanz in das Leben der Richter. Dorn ist den Münchener Salons und den Einladungen in die Bürgerhäuser dagegen kaum zugewandt. Seine Ehefrau lebt weiterhin überwiegend in Berlin; in München erscheint sie nur selten70. Über gelegentliche Treffen mit dem engeren Kreis der Mitglieder des Reichsfinanz-
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67 DRiZ 1931, 131 ff. 68 Druckfassung im Archiv der BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). 69 Zur Gründungsgeschichte Popitz (Fn. 64), Sp. 976; und ausführlich List, Der Bundesfinanzhof im Leben der Stadt München, in FS 75 Jahre RFH-BFH (Fn. 3), S. 725 ff. 70 Markant die Erinnerungen des Vorgängers, der mit Blick auf Dorns jüdische Herkunft später notiert: „Das alles hätte die Münchner nie bewogen, sein Judentum zu vergessen, hätte er Einladungen zu Gesellschaften außerhalb der Mitglieder des Reichsfinanzhofs ergehen lassen, würde er nur Absagen erfahren haben. Aber dazu kam es ja nicht. Die häuslichen Verhältnisse Dorns gestatteten keine Geselligkeit. Er brachte seine Frau nicht mit […], angeblich weil ihr kranker Vater sie nicht entbehren konnte. Später ist sie dann einige Male sporadisch aufgetaucht, um mit dem Gatten in Amtskreisen Besuche zu machen und mit den Amtsmitgliedern zusammen zu sein. Nach wenigen Tagen aber war sie wieder verschwunden“ (Jahn [Fn. 32]).
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hofs hinaus führen die Dorns hier kein gesellschaftliches Leben im klassischen Sinn. Dafür betreibt Dorn in seiner kurzen Amtszeit die stetige Integration in das städtische Umfeld in anderer Weise. So tragen Mitglieder des Reichsfinanzhofes und ihre Ehegattinnen Ende 1931 in Form einer Sammelspende, im Winter 1932/33 dann sogar in Form einer eigenen Kinderspeisung zur Linderung der Lebensmittelknappheit in der Großstadt bei71 – ein Engagement, das sich nach dem Ausscheiden Dorns unter der Ägide seines Nachfolgers Richard Kloß nicht fortsetzt72. 2. Straffung des Leitsatzwesens Besondere Bedeutung misst Dorn in seiner Präsidentschaft der Breitenwirkung höchstrichterlicher Entscheidungen bei. In Anerkennung der besonderen Funktion der Rechtsprechung für die Gewährleistung steuerlicher Rechtssicherheit drängt er auf eine Professionalisierung des Leitsatzwesens. In den ersten Jahren der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs hatte sich noch keine einheitliche Praxis für die Formulierung und Verbreitung der seit 1919 ambitioniert als „Rechtssätze“ bezeichneten73, ganz dem Gedanken echter Rechtsfortbildung verpflichteten Leitsätze gebildet74. Unter dem Vorsitz Dorns beschließen die Senatspräsidenten in ihrer Sitzung vom 18. Mai 1931, dass die Senate künftig „bei allen dafür in Betracht kommenden Entscheidungen“ Rechtssätze bilden sollten, die unverändert in die amtliche Sammlung zu übernehmen seien. Soweit die Senate selber keine derartigen Rechtssätze formulierten, obliege dies einer Hilfskraft; deren Vorschläge bedürften dann aber der Kontrolle des jeweiligen Senatspräsidenten. Es ist lohnend, diesen Beschluss zur Rechtssatzpraxis, der noch in die ersten hundert Tage der Amtszeit Dorns fällt, als weiteren Ausdruck des Ringens um die Stellung des Reichsfinanzhofs im Gewaltengefüge zu deuten: Die Rechtssätze dienen einer Systematisierung der Rechtsprechung. Sie unterscheiden sich nach Inhalt und Duktus kaum von klassischen Verwaltungsanweisungen, erheben aber bereits den Anspruch auf Außenwirkung i. S. e. Anwendung über den entschiedenen Fall und das bilaterale Verhältnis der Verfahrensbeteiligten hinaus. Im Jahr darauf nimmt Dorn – diesmal im Wege eines Präsidialerlasses – die hohe Zahl amtlich nicht veröffentlichter, aber auf anderem Wege in Umlauf
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71 Vgl. E. Klein, Damenkränzchen einst und jetzt, in FS 75 Jahre RFH-BFH (Fn. 3), S. 737 f. 72 E. Klein (Fn. 71). 73 Siehe bereits den gutachtlichen Beschl. v. 25.11.1918: Veröffentlichung der Rechtssätze in DStZ 1919, 168. 74 Überblick bei Beermann, Steuerrechtsprechung und Veröffentlichung, in FS 75 Jahre RFH-BFH (Fn. 3), S. 385 ff. Siehe bereits Jahn, Die Rechtssätze des RFH, DStZ 1933, 3 ff.; Leistner, Über die Veröffentlichungspraxis oberster und höherer Gerichte in Westeuropa, 1975, S. 15 f.; Zitzlaff, Zum Beginn der Arbeit des Bundesfinanzhofs, StuW 1951, Sp. 1 (12 ff.); ders., Die Besprechung der Urteile des BFH und die Art der Veröffentlichung der Urteile, StuW 1951, Sp. 737 (740 ff.); Offerhaus, Der Bundesfinanzhof und die Öffentlichkeit, in FS v. Wallis, 1985, S. 61 ff.
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oder sogar in die einschlägigen Zeitschriften gelangter Entscheidungen des Reichsfinanzhofs in den Blick. Dorn konstatiert eine zunehmende Unübersichtlichkeit der Rechtsprechung durch Urteile, die „im Grundsätzlichen nichts Neues bieten, aber dadurch verwirren, daß in der Begründung geringfügige Fassungsunterschiede gegenüber den früheren enthalten sind oder Fragen berührt werden, zu denen der Senat mit der gelegentlichen Bemerkung keineswegs abschließend Stellung zu nehmen wünschte“. Durch die Veröffentlichung dieser Entscheidungen komme es zu „unfruchtbaren Erörterungen […] im Schrifttum“; es werde „eine im letzten Grunde nicht vorhandene Rechtsunsicherheit vor[ge]täusch[t]“75. Dorn bittet daher die Senate für jede Entscheidung um eine Prüfung, „ob und inwieweit eine nicht amtliche Veröffentlichung von hier aus als förderlich anzusehen ist“. Soweit der Senat dies verneint, sei auf der Entscheidung ein roter Stempel „K.U.“ (kein Umlauf) anzubringen. Die Entscheidung sei dann weder im Haus zu verteilen noch dem Reichsfinanzminister zu übersenden, sondern lediglich den Beteiligten bekannt zu geben76. Damit wird in der Praxis der höchstrichterlichen Leitsätze das Bemühen Dorns um eine Außendarstellung seines Gerichts erkennbar, die die öffentliche Wahrnehmung der Reichssteuern positiv stützt. In dem allgemeinen Ringen um eine Konsolidierung des Steuerrechts erscheint der Reichsfinanzhof als ruhender und verlässlicher Pol; dazu hält Dorn ihn auf Distanz zu den Gegenständen und Lebenssachverhalten des Rechtsprechungsalltags. 3. Herbert Dorn als Richter Als primus inter pares ist der Präsident des Reichsfinanzhofs von Anfang an auch selber richterlich tätig. Dorn sitzt dem regelmäßig dienstags und mittwochs tagenden II. Senat vor, bei dem v. a. die Verkehrsteuern des Reiches, die Kraftfahrzeugsteuer und einzelne Landesverkehrsteuern Braunschweigs, Lippes, Lübecks und Thüringens angesiedelt sind77. Besonders rechtsprechungsträchtig ist dabei die Grunderwerbsteuer. Sie bietet dem II. Senat Anlass, sich auch Grundfragen des Steuerrechts wie etwa der Abgrenzung privater Grundstücksgeschäfte vom gewerblichen Grundstückshandel zu widmen78. Zudem führt Dorn den Vorsitz im Großen Senat, der zusätzlich zu seiner gesetzlichen Aufgabe (Entscheidung bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Senaten79) seit 1931 auch die Kompetenz zur Begutachtung von Fragen der
__________ 75 Verfügung des Präsidenten des Reichsfinanzhofes v. 19.12.1932, BArch (Berlin) R 37-179. 76 Oben Fn. 75; instuktiv hierzu auch Zitzlaff, StuW 1951, Sp. 1 ff. 77 Insbesondere: Kapitalverkehrsteuer und Reichsstempel; Wechselsteuer; Grunderwerbsteuer; Kraftfahrzeugsteuer; Beförderungsteuer; Versicherungsteuer; Rennwett- und Lotteriesteuer; Obligationensteuer (§§ 17 ff. der III. Steuernotverordnung); Börsensteuer. Zu Einzelheiten siehe den konsolidierten Geschäftsverteilungsplan i. d. F. v. 16.12.1931, Az. Reichsfinanzhof Nr. 141, BArch (Berlin) R 37-179. 78 Siehe etwa Urt. v. 16.12.1931 – II A 365/31, RFHE 30, 96. 79 § 46 Abs. 1 RAO 1919 = § 66 Abs. 1 RAO i. d. F. v. 22.5.1931, § 5 Abs. 2 und § 6 FAG.
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Reichsabgabenordnung, des allgemeinen Teils des Reichsbewertungsgesetzes und aller derjenigen Fragen erhält, die die Zuständigkeit mehrerer Senate berühren80. Diese Veränderung der Geschäftsverteilung ist insofern bemerkenswert, als es vor dem Amtsantritt Dorns eine Zeitlang einen horror pleni gegeben zu haben scheint: Nach immerhin 38 Entscheidungen und Gutachten des Großen Senats in den Jahren 1920 bis 1928 sind in den Jahren 1929 bis 1931 keine Entscheidungen oder Gutachten mehr ergangen. Ab Anfang 1932 kommt es zu einer Revitalisierung des Großen Senats; bis Januar 1933 verzeichnet die amtliche Sammlung zwei Urteile und vier Gutachten im Auftrag des Reichsfinanzministers. Wie Dorn sein Richteramt ausübt, ist kaum zu rekonstruieren. In den privaten Aufzeichnungen Jahns finden sich abfällige Bemerkungen über die Arbeitsweise Dorns, die allerdings nicht durch eigenes Erleben Jahns belegt sein können, sondern offenbar auf Indiskretionen aus der Mitte des Präsidentensenats zurückgehen81. Im Umgang mit diesen Aufzeichnungen legt die Quellenkritik Zurückhaltung nahe; auch die Zahl der 1931 bis 1933 ergangenen Entscheidungen des II. Senats ist unauffällig. Verlängert man aber die Entwicklungslinien, die sich in der Betrachtung seines Präsidentenamts gezeigt haben, in die eigene richterliche Tätigkeit Dorns hinein, gibt es Grund zu der Annahme, dass der Rechtsmensch82 Herbert Dorn seine analytische Begabung und sein Systemverständnis gerade hier zu voller Wirkung hätte bringen können, dazu aber letztlich nicht gekommen ist, vielleicht auch nicht zu kommen brauchte. Ob er selber – wie Gustav Jahn – Berichterstattungen übernommen hat, lässt sich nicht rekonstruieren. Manches spricht aber dafür, dass Dorns richterliche Tätigkeit weniger sichtbar blieb als die des emsigen Vorgängers. 4. Herbert Dorn als Diplomat Die Suche nach Gründen für diese Hypothese fällt nicht schwer. Charakteristisch für Dorn, aber auch staatsrechtlich bemerkenswert ist seine ungebrochene Tätigkeit im Finanzausschuss des Völkerbunds während aller drei Münch-
__________ 80 Beschl. gem. § 39 RAO 1919 v. 18.5.1931, Az. Reichsfinanzhof Nr. 1344, BArch (Berlin) R 37-179; siehe auch den konsolidierten Geschäftsverteilungsplan i. d. F. v. 16.12.1931 (Fn. 77). 81 „Mir wäre im Reichsfinanzhof […] nicht genug Zeit neben meiner amtlichen Tätigkeit zu vieler Nebenbeschäftigung geblieben. Ich habe immer Wert darauf gelegt, daß ich nicht minder gemeine Dienstpflicht erledige, als ich dies von den anderen Beamten verlangte. Reste hat es bei mir nie gegeben, und ich bemühte mich, jeden Tag möglichst reinen Tisch zu machen. Dorn brachte die üble Angewohnheit so vieler Ministerialbeamten mit sich, die Sachen alt werden zu lassen. Konnte er sich […] nicht entschließen, so bemühte er sich auch nicht, Änderungen vorzunehmen und anzusagen, sondern er legte die Sache zurück, um sie am neuen Gespräch im Senat zur Besprechung zu bringen. Die Mitglieder des Senats und namentlich die Referenten waren wenig erbaut, wenn der Vorsitzende mit alten Sachen ankam, die sie für längst erledigt hielten und die in ihren Einzelheiten dem Gedächtnis entschwunden waren“: Jahn (Fn. 32). 82 Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 1956, S. 196 ff.
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ner Jahre83. Als Experte, formal nicht als deutscher Vertreter, hatte Dorn sich schon vor dem Beitritt des Deutschen Reiches zum Völkerbund im Jahr 1926 einen Namen als hervorragender Sachkenner gemacht, in kürzester Zeit den oft beklagten Nachteil Deutschlands in den Gremien des Völkerbunds84 mehr als aufgeholt und auf internationalem Parkett offenbar auch persönliche Freundschaften geschlossen85. Möglicherweise schon in der Perspektive auf seine Wahl zum Vorsitzenden des Finanzausschusses des Völkerbunds im Jahr 193186 behält sich Dorn bei seinem Abschied aus dem Reichsfinanzministerium die weitere Mitwirkung als Experte im Finanzausschuss des Völkerbundes vor – ein Vorgang, den Gustav Jahn markant moniert87, der aber wiederum symptomatisch für das 1931 noch nicht geklärte Verhältnis des Reichsfinanzhofs zum Reichsfinanzministerium ist88. Tatsächlich wird Dorn am 29. Mai 1931 auf Vorschlag des scheidenden Vorsitzenden, des französischen Spitzenbeamten Marcel Borduge, einstimmig zu dessen Nachfolger an der Spitze des Finanzausschusses des Völkerbundes gewählt89. Es ist der Finanzausschuss des Völkerbundes, der die Entwicklung des Rechts der Doppelbesteuerungsabkommen in kaum zu überschätzender Weise prägt und fördert. Aus seinen Arbeiten gehen im letzten Drittel der 1920er Jahre die entscheidenden Musterabkommen für bilaterale völkerrechtliche Verträge hervor. Diese Abkommensmuster sind nach Begriffsbildung, Regelungstechnik und Verteilungsentscheidungen bis heute prägend geblieben und haben erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eine adäquate
__________ 83 Zur Tätigkeit des Finanzausschusses des Völkerbunds Taylor, Twilight of the Neanderthals, or are Bilateral Double Taxation Treaty Networks Sustainable?, Melbourne Univ L Rev 34 (2010), 268 ff. 84 Hierzu statt aller die umjubelte Rede Stresemanns zum deutschen Beitritt zum Völkerbund im Genfer Reformationssaal v. 10.9.1926: „Die deutsche Delegation verfügt nicht über die Erfahrungen, die den übrigen hier versammelten Mitgliedern zur Seite stehen“ (Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2: Locarno und Genf, 1932, S. 591 ff. = ders., Reden und Schriften, Bd. 2, 1926, S. 302 ff.). Dorn war Mitglied von Stresemanns Delegation und Augenzeuge dieser Rede: Pausch, Herbert Dorn. Wegbereiter des internationalen Steuerrechts, in Pausch (Fn. 1), S. 110. 85 Darauf deuten Schreiben ausländischer Kollegen an Dorn aus den Jahren ab 1934 hin, die vereinzelt im Brühler Nachlass überliefert sind (BFinAk, Finanzhistorische Sammlung [Fn. 5]). 86 Hierzu Voß (Fn. 30), S. 161. 87 „Er reise oft zu Besprechungen nach Berlin und ließ sich als Kommission des Reichsfinanzministeriums zu Verhandlungen in das Ausland abordnen, erzählte sogar, daß er sich diese Verwendung bei Annahme des Amtes eines Chefpräsidenten vorbehalten habe. Er erkannte aber gar nicht, daß diese Doppelstellung als Chefpräsident und Hilfsarbeiter im Reichsfinanzministerium des Chefpräsidenten unwürdig und sachlich völlig unmöglich war. Der Chefpräsident ist der oberste richterliche Beamte und seine Unabhängigkeit muß überall, besonders aber dem Reichsfinanzministerium gegenüber gewahrt sein. Mit dieser Unabhängigkeit verträgt es sich nicht, eine Nebentätigkeit auszuführen, die zwingt, sich den Weisungen des Reichsfinanzministers zu unterstellen“ (Jahn [Fn. 32]). 88 Oben IV. 1. 89 Völkerbund (Archiv Genf), Comité Fiscal, 3rd session, Minutes of the First Meeting, May 29, 1931 (Fiscal/3rd Session/P. V. 1(1)), S. 2.
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Fortsetzung im Steuerausschuss der OEEC (später OECD) mit seinen Arbeitsgruppen gefunden. Indes: Dass Dorn in München großen Wert auf die Einstellung von Fremdsprachensekretärinnen und auf Abonnements englischer und französischer Zeitungen legt, stößt dort auf Unverständnis90. 5. Publizistische Tätigkeit Wenngleich sich Dorn in der Münchner Zeit nur noch in reduziertem Umfang an der akademischen Lehre beteiligt, reißt seine Publikationstätigkeit nicht ab. Er führt nicht nur seine bisherigen Herausgebertätigkeiten fort91 und gibt 1932 die Festschrift für den Leipziger Steuerwissenschaftler Hermann Grossmann heraus92. Vor allem widmet er sich in eigenen Schriften weiterhin den beiden Hauptthemen seines bisherigen Oeuvres: den finanz- und haushaltswirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrags und den Fragen der internationalen Doppelbesteuerung. Thematisch spiegelt das Schriftenverzeichnis der Münchner Jahre aber zugleich die Erweiterung von Dorns beruflicher Perspektive: So verfasst er 1932 einen umfangreichen Beitrag zur Entwicklung der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs zum bürgerlichen Recht und zum Handelsrecht93 und behandelt das Anliegen der Rechtssicherheit durch und gegen die dritte Gewalt94. Überhaupt erscheint sein Bewusstsein für die Gewaltenteilung und die spezifische Funktion der einzelnen Gewalten ausweislich dieser Schriften als ausgeprägt und unbestechlich95.
__________ 90 Jahn (Fn. 32). 91 Als Mitherausgeber des Archivs der Friedensverträge (1923 bis zur letzten Ausgabe 1933), der Zeitschrift Steuer und Wirtschaft (Jahrgänge 3 [1924] bis 13 [April 1934]) und der Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht (Jahrgänge 1 [1927] bis zur letzten Ausgabe 1933). Zum Schicksal der steuerrechtlichen Zeitschriften nach 1933 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, 1999, S. 226 mit Fn. 137. 92 Der gelernte Handelslehrer Grossmann (1872–1952) war seit 1916 Ordinarius für „betriebswirtschaftliche Lehrgegenstände“ in Leipzig. 1920 gründete er dort ein „Institut für Steuerkunde“ und trug damit maßgeblich zu der Ausdifferenzierung einer betriebswirtschaftlich verankerten Steuerlehre von der Steuerrechtswissenschaft bei. Zu Grossmann siehe den Nachruf von K. Hax, in Zs. f. handelswiss. Forschung N. F. Bd. 4 (1952), S. 128 f.; und den biographischen Abriss unter http:// www.igghhl.de/grossmann.pdf (zuletzt abgerufen am 9.8.2010). An der Festgabe für Grossmann beteiligte sich Dorn selber mit einem monumentalen Beitrag über die Finanzsysteme des Auslands unter dem Einfluss der Wirtschaftskrise: Deutsch/Dorn (Hrsg.), Steuerwirtschaftliche Probleme der Gegenwart. Festgabe für Hermann Grossmann, 1932, S. 7 ff. 93 In Beiträge zur Erläuterung des deutschen Rechts (Gruchots Beiträge) N. F. Bd. 9 (1932), S. 338–370. 94 In Juristische Wochenschrift Bd. 62 (1933), S. 289–296. 95 Programmatisch insoweit bereits Dorns Antrittsrede v. 7.3.1931, StuW 1931, Sp. 361 ff. Vgl. auch Dorn, Die Stellung des Steuerbeamten zu Staat und Wirtschaft. Ein Beitrag zur Lehre vom Fachbeamtentum., in Reich und Länder Bd. 6 (1932), S. 211 ff.
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6. Mitwirkung in der Wissenschaftsorganisation Dass Herbert Dorn nicht nur als Entscheidungsträger im engeren staatlichen Bereich wirkte, sondern daneben auch wissenschaftliche Ehrenämter übernahm, belegt exemplarisch seine Wahl in das Kuratorium des heute als MaxPlanck-Institut in Heidelberg beheimateten Kaiser-Wilhelm-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht; an den Sitzungen des Kuratoriums nimmt er – gemeinsam mit anderen prominenten Kuratoren – auch aktiv teil96. Im Sommer 1932 wird Dorn zusätzlich in das Kuratorium des zivilrechtlichen „Schwesterinstituts“ für ausländisches und internationales Privatrecht gewählt – eine Entscheidung, die ihm Max Planck als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft brieflich eröffnet97.
V. Entlassung aus dem Dienst Zum Zeitpunkt der Machtergreifung befindet sich Dorn im Auftrag des Völkerbunds bei der amerikanischen Sektion der Internationalen Handelskammer. Nach seiner Rückkehr im März 1933 wird er nach Berlin gerufen, um im Reichsfinanzministerium die Londoner Weltwirtschaftskonferenz vorzubereiten, die im Juni und Juli 1933 stattfindet. Dann werden die Spuren undeutlich. Gustav Jahn berichtet lakonisch, Dorn sei länger ausgeblieben, als vorgesehen war, und habe seinen Dienst im Reichsfinanzhof nicht wieder angetreten: „Er ist in München wohl nur noch gewesen, um seinen Umzug in die Wege zu leiten, ist aber sonst sang- und klanglos verschwunden.“ Formal auf eigenen Wunsch, in der Sache aber aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums98 wird Dorn mit Wirkung zum 31. März 1934 im Alter von gerade 47 Jahren seines Richteramtes und seines Amtes als Präsident des Reichsfinanzhofes enthoben; bis zum Ausbruch des Kriegs müssen über 30 weitere Mitglieder und Mitarbeiter den Reichsfinanzhof verlassen99.
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96 So verzeichnet das Protokoll der Kuratoriumssitzung v. 4.3.1932 als weitere Teilnehmer: den Vorsitzenden Staatsminister a. D. Friedrich Saemisch, Institutsdirektor Victor Bruns, daneben den Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Max Planck, sowie die weiteren Kuratoren Poetzsch-Heffter, Schmidt-Ott, Dr. Simons und Prof. Dr. Heinrich Triepel; ferner Ministerialrat Dr. Leist als Vertreter des preußischen Wissenschaftsministeriums u. a.: BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). 97 Brief an Dorn v. 27.7.1932, BFinAk, Finanzhistorische Sammlung (Fn. 5). Allgemein zur Geschichte dieses Instituts Kunze, Ernst Rabel und das Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht 1926–1945, 2004. 98 Gesetz v. 7.4.1933, RGBl. I 1933, 175. 99 So die übereinstimmenden statistischen Angaben von Dr. Johann Heinrich Kumpf, Berlin, dem ich für diesen und viele weitere Hinweise zu großem Dank verpflichtet bin, und von Meinl/Zwilling, Legalisierter Raub. Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus durch die Reichsfinanzverwaltung in Hessen, 2004, S. 262. Die genannte Zahl umfasst aber auch die regulären Abgänge in den Altersruhestand. Zu den namentlich bekannten Richtern jüdischer Herkunft, die aus rassischen Gründen aus dem Amt gedrängt wurden, zählen Rolf Grabower (zu ihm oben Fn. 22), der 1944 in Auschwitz ermordete Franz Oppens und der in das englische Exil emigrierte Robert Wendriner (zu ihm Adolph, Sammler in Bayern Bd. II (= Bibliophile Profile, Bd. VII), 1968, S. 146 ff.; vgl. auch Walton-Jordan, Safeguards against Tyranny. The
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Herbert Dorn – Der ungeliebte Präsident
Mit Dorns Ausscheiden beginnt eine Phase von Hausberufungen, in der Mitglieder des Gerichts an dessen Spitze vorrücken: Dorns unmittelbarer Nachfolger wird der 67-jährige bisherige Präsident des Fünften Senats Richard Kloß (1933/34), dessen Amtszeit allerdings wegen seines frühen Todes noch kürzer bleibt als die Präsidentschaft Dorns. Auf Kloß folgt von 1935 bis 1945 Ludwig Mirre, der zu Dorns Zeiten einfaches Mitglied des VI. Senats gewesen war und vor seiner Präsidentschaft für einige Monate das Amt des Präsidenten des Landesfinanzamts München bekleidete100. Äußerlich tritt mit dem Vorrücken langjähriger Mitglieder des Gerichts in das Präsidentenamt der rechtsstaatliche Regelfall ein, der auch für den Bundesfinanzhof prägend wird. In der Sache markiert das Ende der Präsidentschaft Herbert Dorns aber den Zenit der Geschichte des Reichsfinanzhofs. Mit Dorns Ausscheiden verliert das Gericht seine mühsam gefestigte Unabhängigkeit; spätestens mit Ludwig Mirre rückt ein überzeugter Nationalsozialist an die Spitze des Reichsfinanzhofs vor und öffnet die Schleusen für ein allmähliches Eindringen der Ideologie in die Rechtsprechung101. Für eine freie öffentlichrechtliche Gerichtsbarkeit ist in der Diktatur kein Raum. In dem von Jahn und Dorn repräsentierten Bild eines unabhängigen Rechtsmittelgerichts erscheint der Reichsfinanzhof insgesamt als ungeliebtes Relikt der „Systemzeit“. Unter dem dominanten Einfluss von Staatssekretär Fritz Reinhardt wird der Reichs-
__________ Impact of German Emigré Lawyers on British Legal Policy towards Germany 1942– 1946, in Grenville (Hrsg.), German-speaking Exiles in Great Britain. Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies, Bd. 2, 2000, S. 1 ff. (9)). Ausscheiden musste ferner der als Hilfsarbeiter beim RFH tätige jüdische Finanzrat und spätere Richter am BFH Kurt Friedlaender. Aus politischen Gründen wurde der dem Zentrum angehörende Senatspräsident Heinrich Zapf in den Ruhestand versetzt. Hierzu näher Kumpf, Der Reichsfinanzhof und seine Rechtsprechung in steuerlichen Angelegenheiten von Juden, in: Friedenberger/Gössel/Schönknecht (Hrsg.), Die Reichsfinanzverwaltung im Nationalsozialismus, 2002, S. 143 ff. (146). 100 Von Mai 1934 bis zum Frühjahr 1935. Zu ihm Kumpf, Art. Mirre, Ludwig, in Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 558 f. (Onlinefassung: http://www.deutsche-bio graphie.de/artikelNDB_n17-558-01.html) m. w. N.; ders. (Fn. 99), S. 146 ff.; persönliche Charakterisierung bei Jahn (Fn. 32). 101 Nachgezeichnet bei Kumpf, Die Finanzgerichtsbarkeit im Dritten Reich, in Distelkamp/Stolleis (Hrsg.), Justizalltag im Dritten Reich, 1988, S. 81 ff.; Voß (Fn. 30), S. 183 ff., 229 ff.; und Rüping, Aufstieg und Fall des Reichsfinanzhofs, in FS Nörr, 2003, S. 827 ff. Herrn Dr. Johann Heinrich Kumpf verdanke ich auch den Nachweis, dass bereits Ende 1933 judenfeindliche Entscheidungen des III. Senats einsetzen (Reichsfluchtsteuer eines jüd. Rechtsanwalts: Urt. v. 20.12.1933, III A 353/33, RFHE 35, 52; hierzu näher D. Mußgnug, Die Reichsfluchtsteuer 1931–1953, 1993; und Kumpf (Fn. 99), S. 153 f.); Präsident dieses Senats war Oskar Grünewald, der Leiter der 1933 gegründeten RFH-Ortsgruppe des BNDJ. – Milder dagegen noch die Einschätzung in der Rede von Bühler, Akten des Parlamentarischen Rates, 9. Sitzung des Ausschusses für Finanzfragen am 29.9.1948, abgedruckt in Der parlamentarische Rat, 1948–1949: Ausschuss für Finanzfragen Nr. 10, S. 285 (289): Bühler datiert den Beginn der eigentlichen Ideologisierung der Rechtsprechung des RFH erst auf den Kriegsbeginn und schließt sich dem Dictum Popitz’ an, der noch zu Jahresanfang 1939 geäußert haben soll, „daß das einzige hohe Gericht, das noch wirklich Recht spreche, der Reichsfinanzhof sei“.
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Ekkehart Reimer
finanzhof spätestens seit 1934 politischem und publizistischem Druck ausgesetzt102, dem er immer weniger Stand hält. Bei der Einführung von Ludwig Mirre als Präsident bezeichnet Reinhardt den Reichsfinanzhof als „Gehilfen des Reichsministers der Finanzen bei der Auslegung der Steuergesetze“ und sogar als „Zweig des Reichsfinanzministeriums“103. Anfangs haben derartige Sätze noch kontrafaktischen Charakter; sonst wären sie nicht ausgesprochen worden. Vermehrt werden dann aber Finanzbeamte an das Gericht berufen, „denen das Gehorchen während ihrer ganzen Dienstzeit im Blute lag“104; Entscheidungen tragen immer wieder die Schlussklausel „Diese Entscheidung ist im Einvernehmen mit dem RFM erlassen worden“. Der beklemmende Wahrheitsgehalt dieser Klauseln, aber auch Beispiele für das mutige Eintreten einzelner Richter für die Unabhängigkeit des Reichsfinanzhofs, sind inzwischen eindrucksvoll dokumentiert105. Symptomatisch ist aber auch die faktische Einbeziehung nicht rechtsförmiger Texte in die juristische Obersatzbildung106 – ein Befund, in dem sich die Degradierung gerade des Steuerrechts durch den Nationalsozialismus niederschlägt107. Nach Misshandlungen durch die Gestapo (November 1938) emigriert Herbert Dorn über die Schweiz (1939) nach Kuba (1941), von dort weiter in die Vereinigten Staaten (1947), deren Staatsangehörigkeit er 1952 annimmt108. Die Universität von Delaware kooptiert ihn als Research Professor of Economics und Vorsitzender des Institute for Inter-American Study and Research109. Nach dem Krieg richtet sich sein Blick wieder auf Deutschland, der Blick Deutschlands auf Herbert Dorn110. Schon in den Beratungen des Parlamentarischen Rates taucht sein Name wieder auf111. Später berät Dorn die Bundesregierung im Vorfeld des Abschlusses eines ersten Doppelbesteuerungsab-
__________ 102 Aufschlussreich auch insoweit Rüping, Aufstieg und Fall des Reichsfinanzhofs, in FS Nörr, 2003, S. 827 (837 ff.). 103 BArch, R 37-68, Bl. 11, 29, hier zit. nach Rüping in FS Nörr (Fn. 102), S. 827 (838); s. auch Steuer-Warte 1935, 178; nur abgemildert abgedruckt in DStZ 1935, 485 (491). Vgl. auch Meinl/Zwilling (Fn. 99), S. 262 Fn. 267. 104 Jahn, hier zit. nach Meinl/Zwilling (Fn. 99), S. 262 Fn. 265. 105 Kumpf (Fn. 99), S. 153 ff. Vgl auch Meinl/Zwilling (Fn. 99), S. 262 Fn. 268. 106 Rüping in FS Nörr (Fn. 102), S. 827 (840 ff.); Voß (Fn. 30), S. 27 ff., 196 ff. 107 Hierzu insgesamt Stolleis (Fn. 30), S. 226; vgl. aber wiederum die differenzierende Dokumentation bei Kumpf (Fn. 99), S. 154 f. 108 Allgemein zu den Vereinigten Staaten als Fluchtziel vertriebener Deutscher: Stiefel/ Mecklenburg, Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1933–1950), 1991. 109 Archivmaterial: Special Collections der University of Delaware Library, Bestand „Herbert Dorn papers“ (1902–1955); siehe http://www.lib.udel.edu/ud/spec/findaids/ dorn.htm (zuletzt abgerufen am 8.8.2010). 110 Zur Rezeption und der Dorn-Ausstellung auf dem IFA-Kongress 1964 Pausch, Herbert Dorn. Wegbereiter des internationalen Steuerrechts, in Pausch (Fn. 1), S. 110 f. 111 Rede von Bühler, Akten des Parlamentarischen Rates, 9. Sitzung des Ausschusses für Finanzfragen am 29.9.1948, abgedruckt in: Der parlamentarische Rat, 1948– 1949: Ausschuss für Finanzfragen Nr. 10, S. 285 (287).
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kommens mit den Vereinigten Staaten, das 1954 zustande kommt112. Am 11. August 1957 stirbt Herbert Dorn bei einem seiner Europabesuche in einem Berchtesgadener Salzbergwerk eines plötzlichen Todes. Sein Porträt in der Präsidentengalerie des Bundesfinanzhofs erinnert an einen großen Juristen.
VI. Fazit Die Zeit, in der Dorn an der Spitze des Reichsfinanzhofs stand, war zu kurz; die Spurensuche zu seiner eigenen richterlichen Tätigkeit bleibt unergiebig. Dorns geringes Lebensalter, die Wahrnehmung der Münchener Präsidialaufgaben, die Paralleltätigkeit an der Berliner Handelshochschule und schließlich seine zeitintensive Tätigkeit als Vorsitzender des Finanzausschusses des Völkerbunds können die geringe Sichtbarkeit des Richters Herbert Dorn in der Summe durchaus erklären. Auch in der Münchener Zeit richtet sich sein Durchdringungs- und Gestaltungsanspruch auf das Internationale Steuerrecht. Hier hat Dorn Bleibendes geleistet. Wenn der zunächst ungeliebte Präsident Herbert Dorn in der Rückschau gleichwohl als letzter Wahrer und Garant richterlicher Unabhängigkeit erscheint, dann mehr durch das, was er ist, als durch das, was er tut: Als primus inter pares ist Dorn Chefpräsident eines Kollegialgerichts, dessen heutige Ausstrahlungswirkung weit über Deutschlands Grenzen hinaus in einer Zeit begründet worden ist, in der dieses eigenständige und von der Finanzverwaltung unabhängige Fachgericht in Steuersachen Pionierarbeit leistet. Als Dorn abtreten muss und aus rassischen Gründen verfolgt wird, senkt sich der Stern der unabhängigen Rechtsprechung in Steuersachen. Erst 1949 geht dieser Stern wieder auf; nun tragen Verfassung und Gesetzgeber selber Sorge für die Unabhängigkeit des Gerichts113, seiner Richter114 und Präsidenten. Wenn sich Ministerialverwaltung und Finanzgerichtsbarkeit heute um ihre Verhältnisbestimmung bemühen, erlebt der Beobachter eine symmetrische Auseinandersetzung um Einzelheiten. Ein Getriebener der Verwaltung ist der Bundesfinanzhof weder institutionell noch personell. Insofern weckt der historische Blick auf Herbert Dorn die Dankbarkeit dafür, dass Amtszeiten nicht durch Amtsenthebungen, sondern erst durch das Erreichen von Altersgrenzen enden – und die Hoffnung, dass Präsidenten auch nach ihrem Ausscheiden dem Steuerrecht und seiner Wissenschaft verbunden bleiben.
__________ 112 Abkommen v. 22.7.1954, BGBl. II 1954, 1118. Siehe auch Dorn, Das Steuersystem der Vereinigten Staaten im Lichte der Rechtsvergleichung, StuW 1957, Sp. 273–294 (Teil 1) und Sp. 473–484 (Teil 2). 113 Art. 95 Abs. 1 GG und § 1 FGO, auch gegen die historisch bedingte, systematisch aber verfehlte Stellung von Art. 108 Abs. 6 GG. 114 Art. 97 Abs. 1 und 2 GG, §§ 25 ff. DRiG.
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Eckehard Schmidt / Michael Schmitt
Risikomanagement – Zaubermittel oder Bankrotterklärung der Verwaltung? Inhaltsübersicht I. „Vollprüfung“, „maßvoller Gesetzesvollzug“ oder Risikomanagement 1. Einleitung 2. Steuerverwaltung als „Verifikationsinstanz“ – Maßstäbe und Vollzugsziele 3. Anspruch und Verwaltungswirklichkeit 4. Risikomanagement a) Grundgedanke b) Gewinnung von Daten c) Exkurs: FG Köln zum ID-Merkmal d) Entmündigung der Steuerbeamten, Freibrief für Schummler?
e) Ausreichende gesetzliche Grundlagen? II. Risikomanagement in der Steuerverwaltung 1. Anwendungsbereiche und Methoden 2. Aktueller Sachstand a) Einkommensteuerveranlagung b) Umsatzsteuer c) Betriebsprüfung III. Zurück zur 100 %-Doktrin? 1. Kritik des Bundesrechnungshofs 2. Verordnung zur Ausfüllung von § 88 Abs. 3 AO IV. Fazit
I. „Vollprüfung“, „maßvoller Gesetzesvollzug“ oder Risikomanagement 1. Einleitung Steuervollzug ist Rechtsanwendung – und darüber, ob das Recht richtig angewandt wird, wachen die Steuergerichte, allen voran der Bundesfinanzhof. So gesehen sind Fragen des Steuervollzugs das tägliche Brot des Finanzrichters – und also auch des Jubilars. Schaut man etwas genauer hin, offenbaren sich allerdings durchaus unterschiedliche Facetten des Themas: – Der einzelne rechtstreue Bürger steht zu allererst vor der Frage, ob er alle Erklärungs- und Nachweispflichten, die ihm das Steuerrecht auferlegt, richtig erfüllt hat. – Der Veranlagungsbeamte hingegen fragt sich, ob die ihm vorliegende Erklärung alle steuerlich relevanten Sachverhalte enthält, oder ob Rückfragen, möglicherweise sogar weitere Ermittlungen veranlasst sind – das vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Fällen, die er im Laufe eines Jahres zu erledigen hat. – Finanzministerien, Oberfinanzdirektionen und Rechnungshöfe sehen die Gesamtheit der Steuerfälle in ihrem Zuständigkeitsbereich. Sie fragen sich, 529
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wie das vorhandene Personal am effektivsten einzusetzen ist, um einen gleichmäßigen Steuervollzug zu gewährleisten. – Der Finanzrichter wiederum sieht sich mit einem Einzelfall konfrontiert, in dem sich Steuerpflichtiger und Verwaltung über die richtige Anwendung des Steuerrechts streiten. Was folgt nun aus den unterschiedlichen Sichtweisen? Zunächst einmal kein Unterschied: Alle Beteiligten sind dem gleichen Steuerrecht verpflichtet. Das gilt insbesondere auch für diejenigen, deren tägliche Aufgabe der Vollzug eben dieser Rechtsnormen ist. Allerdings unterscheidet sich sehr wohl die Art und Weise, wie sich der Umgang mit dem Steuerrecht in der täglichen Praxis vollzieht. Während der Richter – und in ähnlicher Weise der Bearbeiter in der Rechtsbehelfsstelle – sich der Betrachtung des Einzelfalls in allen seinen Verästelungen widmen kann, steht der Veranlagungsbeamte vor der Frage, wie er den ständigen Zustrom von Erklärungen bewältigen kann. Diesem Aspekt wollen wir uns im Folgenden widmen – nicht nur, weil diese Fragen uns in unserer täglichen Arbeit immer wieder beschäftigen, sondern auch, weil die Diskussion, was denn moderner Steuervollzug soll, darf oder eben auch nicht sein sollte, noch zu keinem stabilen Konsens geführt hat. 2. Steuerverwaltung als „Verifikationsinstanz“ – Maßstäbe und Vollzugsziele Steuervollzug1 ist Verifikationsverwaltung2 – der Bürger verwirklicht steuerlich relevante Sachverhalte und erklärt diese im Nachhinein, das Finanzamt kontrolliert und erlässt einen Steuerbescheid; dieser ist ein feststellender Verwaltungsakt3. Das ist zwar klassische Eingriffsverwaltung und unterliegt deshalb dem strengen rechtsstaatlichen Eingriffsvorbehalt4. Trotzdem unterscheidet sich der Steuervollzug ganz wesentlich vom gewohnten Bild des Verwaltungshandelns, wonach eine Behörde nach reiflicher Prüfung dem Bürger eine Erlaubnis erteilt oder ein Handeln vorschreibt bzw. untersagt. An welchen Maßstäben hat sich diese Verifikation nun auszurichten? Der Fiskalzweck mag hauptsächlicher Beweggrund der Steuererhebung sein. Als Maßstab für den Steuervollzug eignet er sich jedoch nicht, denn er ist – wie Waldhoff plastisch formuliert – „maßlos“5. Das bedeutet, dass die Steuerverwaltung bei ihrer Tätigkeit zwar nach Effizienz streben kann, ja muss, die Maximierung des Ertrags aber nicht das vorrangige Kriterium sein darf6.
__________ 1 Gemeint ist hier im engeren Sinne die primäre Tätigkeit der Steuerverwaltung, also das Veranlagungsgeschäft einschließlich der Außenprüfung. 2 Seer in DStJG 31 (2008), S. 12, 16 f.; ders. in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 21 Rz. 5 ff.; Drüen, Die Zukunft des Steuerverfahrens, in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, S. 9. 3 Seer in Tipke/Lang (Fn. 2), § 21 Rz. 114; Söhn in HHSp, § 118 AO, Rz. 298. 4 Söhn in HHSp, § 85 AO Rz. 31. 5 Waldhoff, Die „andere Seite“ des Steuerverfassungsrechts, in Schön/Beck (Fn. 2), S. 133. 6 Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, 2004, S. 35, 106 f.; Seer in Tipke/Kruse, § 85 AO Rz. 28 f.
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Dass die Gesetzmäßigkeit wesentlicher Maßstab des Verwaltungshandelns ist, wird wohl niemand bestreiten. § 85 AO konkretisiert diese schon aus Art. 20 GG folgende Maxime noch einmal ausdrücklich für das Steuerverfahren. Gesetzmäßigkeit bedeutet zum einen, dass es der Verwaltung verwehrt ist, über den vom Gesetzgeber vorgegebenen Tatbestand hinauszugehen – also z. B. keine Analogie zu Lasten des Bürgers – oder gesetzlich nicht zugelassene Ermittlungsmethoden anzuwenden bzw. Mitwirkungspflichten zu begründen. Zum andern lässt sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit aber auch ein Anwendungsgebot für das gesetzte Recht ableiten7. Welche Konsequenz dies für das Massenverfahren der Steuerfestsetzung hat, wird im Folgenden noch zu beleuchten sein. Daneben tritt – als Ausfluss des allgemeinen Gleichheitssatzes – die Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Dass dies nicht nur eine Forderung an den Gesetzgeber zur gleichheitsgerechten Ausgestaltung der Normen ist, sondern sich vor allem auch auf den Vollzug dieser Normen bezieht, hat das Bundesverfassungsgericht im. sog. Zinsurteil8 deutlich herausgearbeitet: „Der Gleichheitssatz verlangt für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Die Besteuerungsgleichheit hat mithin als ihre Komponenten die Gleichheit der normativen Steuerpflicht ebenso wie die Gleichheit bei der Durchsetzung in der Steuererhebung. Daraus folgt, dass das materielle Steuergesetz in ein normatives Umfeld eingebettet sein muss, welches die Gleichheit der Belastung auch hinsichtlich des tatsächlichen Erfolgs prinzipiell gewährleistet“9.
Ging es dem Verfassungsgericht damals vor allem um das strukturelle Vollzugshindernis des Bankenerlasses bzw. des § 30a AO, so beanspruchen die dort aufgestellten Grundsätze doch ganz allgemein Geltung für den Vollzug der Steuergesetze. Nicht umsonst fügt § 85 AO der Forderung nach einer Festsetzung der Steuern „nach Maßgabe der Gesetze“ das Wort „gleichmäßig“ an und konkretisiert damit wiederum ein verfassungsrechtliches Gebot (Art. 3 Abs. 1 GG)10. Die Verwaltung muss sich also daran messen lassen, inwieweit sie Rechtsanwendungsgleichheit herstellen kann. Diese lässt sich auf zweierlei Weise verstehen: Zum einen, dass das Recht im jeweiligen Einzelfall gleichmäßig, also „ohne Ansehen der Person“ angewendet wird11. Zum andern aber – und das ist für unsere Problemstellung relevant – geht es auch darum, den Besteuerungsauftrag für die Gesamtheit der Fälle gleichmäßig umzusetzen12. Schließlich ist auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten – und zwar sowohl hinsichtlich der Mitwirkungspflichten, die dem Steuerbürger auferlegt werden, als auch hinsichtlich des Aufwandes, den der Staat zur Durch-
__________ 7 8 9 10 11 12
Seer in DStJG 31 (2008), S. 10. BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, BStBl. II 1991, 654. BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, BStBl. II 1991, 654, Leitsatz 1. Müller-Franken (Fn. 6), S. 65 ff. Müller-Franken (Fn. 6), S. 68. Söhn in HHSp, § 85 AO Rz. 35.
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setzung der materiellen Steuernorm betreiben muss. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht anerkannt, wenn es im sog. Tipke-Urteil13 zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausführt: „Unbeschadet umstrittener Einzelfragen bei dessen Konkretisierung erfüllt dieser Grundsatz zur Beschränkung der Sachverhaltsermittlung im Steuerrecht nicht nur wichtige Schutz- und Sicherungsfunktionen zu Gunsten der Steuerpflichtigen, sondern entspricht auch einer realitätsgerechten Ausgestaltung des einkommensteuerlichen Veranlagungsverfahrens, das als Massenverfahren durch sachgerechte Konzentration behördlicher Ermittlungsmaßnahmen praktikabel bleiben muss. Deshalb darf der Gesetzgeber die Verwirklichung des Steueranspruchs verfahrensrechtlich erleichtern und dabei die Grenzen der dem Staat verfügbaren personellen und finanziellen Mittel berücksichtigen (vgl. z. B. BVerfGE 96, 1 [7] m. w. N.)“14.
Diese Aussage richtet sich an den Gesetzgeber. Es fragt sich jedoch, ob die Verwaltung, soweit dieser schweigt, bei der Ausgestaltung des Vollzugs den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ihrerseits als Maßstab für ihr Tätigwerden heranziehen darf. Dass es eine Begrenzung der staatlichen Ermittlungstätigkeit im Sinne einer Zweck-Mittel-Abwägung gibt, wird heute wohl weitgehend anerkannt15. Ein Blick auf die gefundenen Maßstäbe der Gesetzmäßigkeit und der Gleichmäßigkeit zeigt, dass diese – wenn man sie nicht nur als Schranken, sondern auch als Auftrag an die Verwaltung versteht – in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Wollte man den einzelnen Steuerfall im Sinne einer „100 %Doktrin“ justizförmig vollständig aufklären, so wäre für diesen Fall zwar der Gesetzmäßigkeit vollständig Genüge getan, zugleich blieben aber (unter den Bedingungen des Massenverfahrens) viele andere Fälle gänzlich unbearbeitet, die Gleichmäßigkeit im Gesamtvollzug wäre weit verfehlt16. Ein Ausgleich lässt sich, wie vor allem Seer herausgearbeitet hat17, wohl nur in einem „Dreieck zwischen Gesetzmäßigkeit, Rechtsanwendungsgleichheit und den betroffenen Freiheitsgrundrechten“ herstellen; die Verwaltung bewegt sich dabei in einem Korridor zwischen Übermaßverbot und „Untermaßverbot“, d. h. einer gleichheitswidrigen Zurückhaltung beim Vollzug der Steuergesetze. Mit der Frage eines möglichen Kontroll- oder Verifikationsdefizits im Zusammenhang mit der Steuerveranlagung hatte sich der Bundesfinanzhof zwar des Öfteren zu befassen, vor allem im Zusammenhang mit der Besteuerung von Spekulationsgewinnen18. Soweit für die Verfasser ersichtlich, hat die Anwen-
__________ 13 BVerfG v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94, BStBl. II 2005, 56. 14 BVerfGE 110, 94 (115). 15 Söhn in HHSp, § 88 AO Rz. 165 ff.; Seer in DStJG 31 (2008), S. 13; a. A. wohl MüllerFranken (Fn. 6), S. 73. 16 Müller-Franken (Fn. 6), S. 66. 17 In DStJG 31 (2008), S. 13 f. m. w. N.; einen instruktiven Überblick bietet auch der nach Abschluss dieses Beitrags erschienene Aufsatz von Seer, Steuer und Studium 2010, 369. 18 Zuletzt BFH v. 19.12.2007 – IX B 219/07, BStBl. II 2008, 382.
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dung moderner Auswahl- und Prüfungsmethoden bisher aber noch keine Rolle gespielt19. 3. Anspruch und Verwaltungswirklichkeit Was bedeutet dieses zunächst eher theoretisch anmutende Zwischenergebnis für unsere Verwaltungswirklichkeit? Nachdem Millionen von Bürgern20 jährlich eine Steuerklärung abgeben und in dieser Erklärung in der Regel eine Vielzahl steuerlicher Sachverhalte enthalten ist, versteht sich eigentlich von selbst, dass Steuervollzug im Massengeschäft der Veranlagung nicht eine umfassende Vollprüfung jedes einzelnen Falles bedeuten kann. Eine solche „100 %-Prüfung“ hat es nie gegeben21 – und sie wäre selbst dann nicht machbar, wenn sämtliche Forderungen der Gewerkschaften zur Personalausstattung der Finanzämter erfüllt würden22. Im Unterschied zu früher hat sich diese Erkenntnis nunmehr weitgehend auch in der Wissenschaft durchgesetzt23. Das aber ist ein sehr wesentlicher Fortschritt: Man geht nicht mehr von einem vorübergehenden „Notstand“24 aus, sondern erkennt an, dass sich der Vollzug immer und überall unter den Bedingungen mehr oder minder begrenzter Verwaltungskapazitäten abspielt25. Gefordert wird in Anerkennung dieser Realität ein „hinreichendes Verifikationssystem“26 zur Kontrolle des vom Steuerpflichtigen aufbereiteten und erklärten Sachverhalts; der Bürger genießt dabei grundsätzlich einen Vertrauensvorschuss, d. h. im Regelfall kann davon ausgegangen werden, dass die Angaben in der Steuer-
__________ 19 In diesem Zusammenhang sind wohl eher Fälle zum Bundesfinanzhof gelangt, in denen Bürger eine zu hohe Eingriffsintensität beklagt haben, vgl. z. B. die Entscheidungen v. 24.6.2009 – VIII R 80/06, BStBl. II 2010, 452 zum Dateneinsichtsrecht der Finanzbehörden oder v. 16.1.2009 – VII R 25/08, BStBl. II, 582 zur Zulässigkeit eines Sammelauskunftsersuchens wegen Telekom-Bonusaktien. 20 In Baden-Württemberg waren zum 30.6.2010 3,65 Mio. Einkommensteuerfälle für den Veranlagungszeitraum 2008 erfasst, in Bayern 4,6 Mio. 21 Vgl. die Klage von Meisel aus dem Jahre 1911, der die gerechte und richtige Feststellung der Einkommen von mehreren Millionen Menschen als „fast übermenschliche Aufgabe“ bezeichnet hat (zit. von Seer bei der Eröffnung der 32. Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft zum Thema „Steuervollzug im Rechtsstaat“ 2007 in Stuttgart, DStJG 31 [2008], S. 2). 22 Drüen in Schön/Beck (Fn. 2), S. 14 Fn. 95 weist allerdings auch zu Recht darauf hin, dass der Einsatz des Risikomanagements nicht zum Anlass für (weiteren) Personalabbau in der Steuerverwaltung genommen werden darf. 23 Söhn in HHSp, § 88 AO Rz. 175, 194; Seer in DStJG 31 (2008), S. 11. Müller-Franken (Fn. 6), S. 293, erkennt zwar ebenfalls an, dass eine vollständige Aufklärung in jedem Fall objektiv unmöglich und ein Verstoß gegen das Rationalitätsgebot wäre, will aber dennoch am Regelbeweismaß der vollständigen Gewissheit festhalten. 24 So noch Isensee, StuW 1994, 3 (4). 25 Seer in DStJG 31 (2008), S. 11; Söhn in HHSp, § 85 AO Rz. 47 nennt eine 100 %Lösung ein „irreales Ideal“. 26 Söhn in HHSp, § 85 AO Rz. 47; ähnlich Seer in DStJG 31 (2008), S. 13.
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erklärung vollständig und richtig sind; nur wenn sich Zweifel „aufdrängen“, muss der Bearbeiter diesen nachgehen27. Wie geht nun die Praxis mit dieser Herausforderung um? Früher war es dem Gespür und der Erfahrung des einzelnen Bearbeiters überlassen, aus der Masse der Steuerfälle die prüfungswürdigen herauszufinden. Das mochte in kleinen Ämtern mit überschaubaren Verhältnissen noch angehen; mit zunehmender Mobilität der Steuerpflichtigen, aber auch verstärkter Fluktuation der Bearbeiter gerade in den Ballungszentren wurde es immer schwieriger, zu einer im Sinne einer gleichmäßigen Besteuerung „richtigen“ Fallauswahl zu kommen. Auch blieb es jedem Veranlagungsbeamten mehr oder weniger überlassen, ob er lieber weniger Fälle intensiv oder eine größere Zahl überschlägig prüft. Es fällt nicht schwer zu erkennen, dass diese Praxis den Anforderungen an ein Verifikationssystem nicht gerecht wurde. Schon lange, bevor sich dieser Begriff eingebürgert hat, war in der Verwaltung das Bedürfnis spürbar, den Bearbeitern Leitlinien für eine „gewichtende Arbeitsweise“ an die Hand zu geben. Auch wurde immer wieder Kritik an unterschiedlichen Verfahrensweisen in den Ländern laut. So entstanden die bundesweit abgestimmten Grundsätze zur Neuorganisation der Finanzämter und zur Neuordnung des Besteuerungsverfahrens (GNOFÄ 1976)28, zuletzt fortentwickelt in den „GNOFÄ 1997“29. Diese orientierten sich – mangels anderer Daten – vorwiegend an finanziellen Kenngrößen, wie Umsatz oder Gewinn30. Das trug ihnen – nicht ganz zu Unrecht – den Vorwurf ein, die Fälle ausschließlich unter dem Blickwinkel der fiskalischen Ergiebigkeit und nicht so sehr des individuellen Kontrollbedürfnisses zu sehen. 4. Risikomanagement a) Grundgedanke Hier setzt der Gedanke des Risikomanagements an – also einer Strategie für den planvollen Umgang mit dem Risiko31. Dabei hat die Verwaltung das Risikomanagement von Anfang an als Teil eines umfassenderen Konzepts32 unter dem (leider bisher nicht übersetzbaren) Begriff der „Compliance“ gese-
__________ 27 So ausdrücklich AEAO zu § 88 Nr. 2; vgl. auch Seer in DStJG 31 (2008), S. 16, der zudem auf § 158 AO als Ausprägung des Vertrauensvorschussprinzips hinweist. 28 V. 16.2.1976, BStBl. I, 88. 29 Gleich lautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder betr. Arbeitsweise in den Veranlagungsstellen v. 19.11.1996, BStBl. I, 1391. 30 Das tut – bis heute – im Grundsatz auch die Betriebsprüfung, indem sie die Prüfungshäufigkeit an Größenklassen ausrichtet (§ 3 Betriebsprüfungsordnung 2000); allerdings besteht ein Korrektiv in der Möglichkeit der Meldung von Betrieben durch die Veranlagungsstellen. 31 Drüen in Schön/Beck (Fn. 2), S. 13 weist zutreffend darauf hin, dass Risikomanagement keine völlig neue Form des Gesetzesvollzugs ist, sondern eine Fortentwicklung der bisherigen Steuervollzugstechniken, gestützt auf die gesteigerte Leistungsfähigkeit der EDV. 32 Ausführlicher hierzu E. Schmidt in DStJG 31 (2008), S. 41 f.
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hen, das auch Elemente der Kooperation33 und des verbesserten Service34 für die Steuerpflichtigen enthält. Schließlich spielt auch die Einbindung der steuerberatenden Berufe hier eine große Rolle35. Grundsätzlich sollte gelten: Fehlervermeidung vor Fehlerentdeckung. Ziel des Risikomanagement muss nach dem zuvor Gesagten sein, die Auswahl der intensiv zu prüfenden Fälle stärker am objektiven Kontrollbedürfnis auszurichten36 und damit mehr Rechtsanwendungsgleichheit zu verwirklichen37. Dazu bedarf es zunächst einer Beschreibung der Risiken, die es zu erkennen gilt38. Dass allein die fiskalische Auswirkung ungeeignet ist39, wurde oben schon gesagt. Es bedarf also weiterer Kriterien. Diese können sich zum einen aus dem individuellen Verhalten des Steuerpflichtigen (Subjektrisiko) ableiten lassen, zum andern aus objektiven Merkmalen des in Rede stehenden Sachverhalts oder der betreffenden Personengruppe (Objektrisiko)40. Als Beispiele kann man zum einen den Umstand nennen, dass es bei einem Steuerpflichtigen in den Vorjahren mehrfach zu erheblichen Abweichungen vom Erklärten gekommen ist, zum andern etwa Verträge zwischen Familienangehörigen oder bestimmte Verkürzungsmuster im Gastgewerbe. b) Gewinnung von Daten Um aussagekräftige Risikohinweise gewinnen zu können, bedarf es eines ausreichenden Bestands an verlässlichen Daten – sowohl über den einzelnen
__________ 33 Zur Kooperation als zwingender Notwendigkeit des modernen Steuerstaates zuletzt Drüen in Schön/Beck (Fn. 2), S. 18 ff.; Seer in DStJG 31 (2008), S. 15 spricht vom „Grundrecht auf Verfahrensteilhabe“. Kritisch Müller-Franken (Fn. 6), S. 161 ff., 172 f.; er spricht sich aber letztlich für „mitwirkungsoffenes Verwalten“ aus (S. 236), was man durchaus als Synonym für Kooperation verstehen könnte. 34 So wurde in das steuerpolitische Programm der am 11.11.2009 geschlossenen Koalitionsvereinbarung die „Vorausgefüllte Steuererklärung“ aufgenommen, mit der die Verwaltung dem Bürger auf elektronischem Wege alle bei ihr bereits vorliegenden für die Steuererklärung relevanten Daten übermitteln wird. Im Unternehmensbereich soll das Projekt einer „zeitnahen Betriebsprüfung“ vorangetrieben werden. 35 Näher hierzu Seer in DStJG 31 (2008), S. 34 f.; ders., DStR 2008, 1553. 36 Seer in Tipke/Lang (Fn. 2), § 21 Rz. 6. 37 Söhn in HHSp, § 85 AO Rz. 47, § 88 AO Rz. 223: Gesamtvollzug wird „verfassungsnäher“. 38 Näher hierzu und allgemein zum Risikomanagement aus der Sicht der Verwaltung: Nagel/Waza, DStZ 2008, 321. Aus richterlicher Sicht hat sich jüngst Haunhorst mit dem Thema befasst (DStR 2010, 2105). In ihrem nach Abschluss dieses Beitrags erschienenen Aufsatz betont die Verfasserin ausgehend von der Kritik des Bundesrechnungshofs (siehe unten III.1.) vor allem die Notwendigkeit hinlänglicher maschineller Schlüssigkeitsprüfungen und der eingehenden personellen Überprüfung erkannter Risiken. 39 Sie kann allerdings bei der Frage nach der Effizienz einer Maßnahme durchaus eine Rolle spielen; so muss es möglich sein, Aufgriffsgrenzen festzulegen, um Bagatellfälle auszusondern. So Seer in DStJG 31 (2008), S. 19; wohl auch Müller-Franken (Fn. 6), S. 101. 40 Seer in DStJG 31 (2008), S. 29; ausführlich Huber/Seer, StuW 2007, 355 (360 f.) sowie Europäische Kommission, Leitfaden der Fiscalis-Projektgruppe Risikoanalyse, 2006. Vgl. auch E. Schmidt in DStJG 31 (2008), S. 43 f.
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Steuerfall („Historie“), als auch über die Gesamtheit bestimmter Fallgruppen; diese müssen zudem in elektronisch auswertbarer Form vorliegen. Modernes Risikomanagement ist deshalb auf den Ausbau der elektronischen Kommunikation mit den Steuerpflichtigen ebenso angewiesen wie auf eine bundesweit kompatible EDV-Landschaft der Steuerbehörden. Darauf hat u. a. der Bundesrechnungshof41 bzw. dessen Präsident42 mehrfach zu Recht hingewiesen. Auch Seer43 und Drüen44 betonen die entscheidende Rolle des „Electronic Government“ für den modernen Steuervollzug und insbesondere für das Risikomanagement. Die Steuerverwaltungen der Länder haben reagiert: Mit dem 2005 gestarteten Vorhaben KONSENS45 wird die Vereinheitlichung der Steuersoftware und die bundesweite Vernetzung der Finanzbehörden energisch vorangetrieben46. Unter der Federführung von Bayern und Nordrhein-Westfalen wurde das Projekt „RMS“ ins Leben gerufen, das sich mit der Entwicklung und Pflege von Risikomanagementsystemen befasst47. Der Gesetzgeber hat mit dem bundesweit einheitlichen ID-Merkmal48 und der Verpflichtung zur elektronischen Übermittlung von Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung49 seinerseits wichtige Voraussetzungen für ein effektives Risikomanagement geschaffen. Wer in diesem Umfang Daten sammelt und vernetzt, kommt fast unweigerlich in den Fokus des Datenschutzes. Schnell wird das Schreckgespenst des „gläsernen Steuerbürgers“ heraufbeschworen. Dem ist entgegenzuhalten: Die vom Bundesverfassungsgericht eingeforderte Verifikation der vom Bürger erklärten Steuerdaten impliziert, dass der Staat sich die erforderlichen Erkenntnisse auch muss beschaffen dürfen50; auch die Vorgabe einer bestimmten, maschinell auswertbaren Form der Datenbereitstellung findet darin seine Rechtfertigung51. Selbstverständlich hat der Staat korrespondierend zu den umfangreichen Erklärungs- und Übermittlungspflichten der Bürger eine besondere Verpflichtung zur Bereitstellung sicherer Übertragungswege und zum Schutz der Daten
__________ 41 Bemerkungen 2005 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes, Tz. 3.2.1; daraus jedoch auf die Notwendigkeit einer Bundessteuerverwaltung zu schließen (Bemerkungen 2005, Tz. 3.2.1.4; Schleicher, DStJG 31 [2008], S. 59 [78]) geht zu weit, vgl. M. Schmitt, DStJG 31 (2008) S. 129, 131 ff. 42 Probleme beim Vollzug der Steuergesetze, Schriftenreihe des Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung, Band 13 (2006), S. 148 ff., 157 ff., 171 ff. 43 DStJG 31 (2008) S. 19 ff., 29. 44 Die Zukunft des Steuerverfahrens, in Schön/Beck (Fn. 2), S. 9 ff. 45 Koordinierte neue Software-Entwicklung der Steuerverwaltung; dieses von fünf Ländern geführte Vorhaben hat das vom Bund initiierte gescheiterte Projekt FISCUS abgelöst. 46 2011 werden erstmals bundesweit (mit gewissen Einschränkungen in Nordrhein-Westfalen) in allen Steuerverwaltungen einheitliche EDV-Programme im Einsatz sein. 47 Inzwischen zahlreiche weitere Teilprojekte, siehe unten unter II. 1. 48 §§ 139a–139d AO; eingeführt durch Gesetz v. 15.12.2003, BGBl. I, 2645. 49 § 5b EStG; eingeführt durch das Gesetz zur Modernisierung und Entbürokratisierung des Steuerverfahrens (Steuerbürokratieabbaugesetz) v. 20.12.2008, BGBl. I 2008, 2850. 50 Siehe hierzu auch E. Schmidt in DStJG 31 (2008), S. 44 ff. 51 So auch Drüen in Schön/Beck (Fn. 2), S. 11.
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vor missbräuchlicher Verwendung52. Dass gerade in diesem Zusammenhang immer wieder eine „Sammelwut“ der Steuerbehörden beklagt wird, verblüfft angesichts der Großzügigkeit, mit der viele Bürger auch höchstpersönliche Daten im privaten Geschäftsverkehr, ja sogar auf frei zugänglichen InternetPlattformen preisgeben. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem von vielen als „Magna Charta des Datenschutzes“ angesehenen Volkszählungsurteil ausgeführt53: „Dieses Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht schrankenlos gewährleistet. […] Das Grundgesetz hat […] die Spannung Individuum – Gemeinschaft i. S. d. Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden. Grundsätzlich muss daher der Einzelne Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen“54.
c) Exkurs: FG Köln zum ID-Merkmal Einen wesentlichen Rückschlag für die Bemühungen um ein modernes Risikomanagement – aber auch für einen verbesserten Bürgerservice – könnte es allerdings bedeuten, wenn im Gefolge der Urteile des Finanzgerichts Köln das einheitliche Identifikationsmerkmal55 in Frage gestellt würde56. Wurde die Verwaltung zunächst dafür kritisiert, dass es ihr mangels bundesweit kompatibler EDV-Systeme lange nicht möglich war, den Steuerpflichtigen eine eindeutige, lebenslang gültige und von seinem Wohnsitz im Bundesgebiet unabhängige Steuernummer zuzuteilen57, treten nun – sieben Jahre nach der gesetzlichen Verankerung des Identifikationsmerkmals in der Abgabenordnung58 und ca. zwei Jahre nach der wegen technischer Schwierigkeiten mehrfach verschobenen Verteilung der Identifikationsnummern datenschutzrechtliche Bedenken hervor. Zwar hat das Gericht die vorrangig59 auf die Verletzung des aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleiteten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gestützten Klagen abgewiesen. Zugleich hat es jedoch „ganz erhebliche Zweifel“ an der Verfassungsmäßigkeit des ID-Merkmals geäußert, die sich jedoch nicht zu der für eine Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG erforderlichen Überzeu-
__________ 52 Seer in DStJG 31 (2008), S. 26 f.; Pezzer, StuW 2007, 101 (108): „Die Aufgabe der Zukunft wird […] darin bestehen, die verschiedenen Welten von EDV-Fachleuten und Steuerjuristen so miteinender zu verschränken, dass die Abläufe vereinfacht und so weit wie möglich automatisiert werden, das Recht dabei aber keinen Schaden nimmt“. In § 88a AO hat der Gesetzgeber seit 1993 die Datensammlung für steuerliche Zwecke ausdrücklich legitimiert und zugleich eine strenge Zweckbindung normiert. 53 BVerfG v. 15.12.1983, BVerfGE 65, 1 (43). 54 Vgl. auch Seer in Tipke/Kruse, § 93 AO Rz. 38, der darauf hinweist, dass es nicht angehe, wenn jeder Steuerpflichtiger zu Lasten der Steuerehrlichen selbst bestimmen könnte, welche Informationen er dem Finanzamt offenbart. 55 §§ 139a–139d AO. 56 FG Köln v. 7.7.2010 – 2 K 3093/08, Kurzwiedergabe in BB 2010, 2334. 57 Seer in DStJG 31 (2008), S. 24 f. 58 §§ 139a–139d, eingefügt durch Gesetz v. 15.12.2003, BGBl. I, 2645. 59 Daneben wurden auch Verstöße gegen das Bestimmtheitsgebot, die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und die Religionsfreiheit (Art. 4 GG) gerügt.
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gung verdichtet haben. Diese Zweifel macht das Gericht vor allem an der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs, und hier insbesondere an der Erforderlichkeit fest. Insoweit hat es „große Bedenken“, weil die Zuteilung des Merkmals an alle (potentiell) Steuerpflichtigen und nicht nur anlassbezogen zugeteilt wird; zu befürchten sei zudem eine „schleichende Erweiterung“ der unter dem IDMerkmal gespeicherten Daten und ihre Vernetzung in zentralen Datenpools, die letztlich die Erstellung von über die steuerlichen Zwecke hinausgehenden Persönlichkeitsprofilen erlaube. Letztlich gesteht das Gericht aber zu, dass man dem Gesetzgeber eine solche Absicht nicht unterstellen könne und dass der Staat „immerhin“ (sic!) zur Gewährleistung rechtlicher und faktischer Besteuerungsgleichheit verpflichtet sei60. U. E. vermengt diese Sichtweise das IDMerkmal und die mit Hilfe dieses Merkmals möglicherweise zu übermittelnden und zu speichernden Daten. Bei der Schaffung der §§ 139a bis 139d AO hat der Gesetzgeber – übrigens in Abstimmung mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz – großen Wert auf eine strikte Zweckbindung gelegt. § 139b Abs. 2 AO begrenzt Erhebung und Verwendung der Identifikationsnummer auf die gesetzlichen Aufgaben der Finanzbehörden und Fälle einer ausdrücklichen spezialgesetzlichen Ermächtigung; Dritte dürfen sie nur zur Übermittlung von Daten an die Finanzbehörden oder bei ausdrücklicher gesetzlicher Zulassung nutzen. Zudem zählt die Vorschrift in Abs. 3 die zu erhebenden Daten und in Abs. 4 die möglichen Verwendungszwecke dieser Daten abschließend (vgl. Abs. 5) auf61. Eine ganz andere Frage ist, welche Daten unter Anwendung des ID-Merkmals bei der Steuerverwaltung gespeichert werden. Grundsätzlich werden es dieselben sein, die die Verwaltung schon heute unter der Steuernummer vorhält. Die ID-Nummer bringt hier nur Verbesserungen durch die bundesweit eindeutige Identifikation des Steuerpflichtigen, die einfachere Zusammenführung von Daten einer Person und die leichtere Übermittlung der Daten zwischen den (bzw. an die) Steuerbehörden. Man kann wohl nicht von Anfang an unterstellen, dass sich die Verwaltung nicht an diese Kautelen hält, oder dass der Gesetzgeber die Zweckbestimmung über das Gebiet der Steuern hinaus ausweitet62, möglicherweise auch auf höchstpersönliche Gebiete, die „niemanden etwas angehen“ – auch die Steuerbehörde nicht; auch das Gericht gibt allerdings zu, dass dies dann wohl ein Fall für die verfassungsrechtliche Überprüfung der jeweiligen Änderungsnorm wäre. Daneben verkennt das Urteil aus unserer Sicht die grundlegende Bedeutung des einheitlichen Identifika-
__________ 60 Nicht nachvollziehbar erscheint in diesem Zusammenhang der Hinweis auf auszugleichende „föderale Nachteile“. An anderer Stelle wird gerade die besondere Problematik der zentralen Datenhaltung unter einer bundesweit geltenden Nummer hervorgehoben – die wären bei einer Bundesverwaltung doch wohl von Haus aus gegeben. 61 Brandis in Tipke/Kruse, § 139b AO Rz. 2, sieht aufgrund dieser Vorkehrungen die Erfordernisse des Datenschutzes als gewahrt an. 62 Diese Befürchtung haben auch die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder auf ihrer 75. Konferenz geäußert und deshalb ein „datenschutzförderndes Identitätsmanagement“ befürwortet, was es allerdings offenbar noch nicht in anwendungsreifer Form gibt (vgl. 23. Tätigkeitsbericht des Landesbeauftragten für den Datenschutz v. 1.12.2009, Bayer. Landtag, Drucks. 16/2100, S. 81 und 165).
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tionsmerkmals für das Risikomanagement, aber auch für Serviceangebote wie die „Vorausgefüllte Steuererklärung“63. Es ist eben nicht das Gleiche, wenn Bürger bei jedem Wohnsitzwechsel oder nach der Eheschließung unter einer Steuernummer verschwinden und unter einer anderen wieder auftauchen. Es bleibt abzuwarten, ob der Bundesfinanzhof Gelegenheit bekommt, die vom FG Köln vorgetragenen Argumente zu prüfen. Eine lange „Hängepartie“ würde jedenfalls die weitere Modernisierung unserer Steuerverwaltung erheblich behindern. Am Rande sei angemerkt, dass ein auf Einzelfallgerechtigkeit zielendes Steuerrecht, wie es in Deutschland wohl noch immer von der Mehrheit der Bürger gewünscht wird, auch ein erhöhtes Maß an Preisgabe persönlicher – auch höchstpersönlicher Daten – bedingt. Würde der Gesetzgeber hier durch ein „gröberes Raster“ bei den steuerlichen Tatbeständen – insbesondere bei den individuellen Abzugsmöglichkeiten – Abhilfe schaffen, würde er natürlich auch der Steuerverwaltung den Vollzug ganz erheblich erleichtern. Zutreffend hat Seer64 darauf hingewiesen, dass es nicht nur Aufgabe der Verwaltung sei, die Steuergesetze zu vollziehen, sondern dass es auch umgekehrt einer Rücksichtnahme des Gesetzgebers auf die Vollziehbarkeit der Gesetze bedürfe. d) Entmündigung der Steuerbeamten, Freibrief für Schummler? Ein häufiger Einwand gegen die maschinelle Fallauswahl ist, dass sie das Erfahrungswissen der Bearbeiter zugunsten starrer „Wenn-dann-Regeln“ ausblende. Auch wenn man die Bedeutung objektiver Kriterien nicht gering schätzen darf, sollte dieser Einwand beachtet werden: Das Risikomanagementsystem sollte offen sein für eine personelle Aussteuerung des Falles zur intensiven Prüfung durch den Veranlagungsbeamten, der damit besondere, maschinell nicht auswertbare Erkenntnisse einbringen kann65. Schließlich darf ein Risikomanagementsystem für die Steuerpflichtigen nicht „ausrechenbar“ und damit umgehbar werden. Dem dient zum einen die Geheimhaltung sowie die ständige Überprüfung und Anpassung der Risikofilter66. Zum andern wird man fordern müssen, dass eine ausreichende Zahl von Fällen stichprobenweise zur Vollprüfung ausgewählt wird, so dass ein grundsätzliches Entdeckungsrisiko gewahrt bleibt. Der generalpräventive Zweck rechtfertigt auch, dass hier einzelne Fälle ohne besonderen Anlass herausgegriffen und insofern ungleich behandelt werden67. Auch kann man bestimmte Sach-
__________ 63 Seer in DStG 31 (2008), S. 24; Drüen in Schön/Beck (Fn. 2), S. 11 („unverzichtbar“); Brandis in Tipke/Kruse, § 139a AO Rz. 1. 64 In DStJG 31 (2008), S. 8 f. 65 Nagel/Waza, DStZ 2008, 321 (324). 66 So schon der Beschluss der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder vom 27. bis 29.9.2004, zit. nach Probleme beim Vollzug der Steuerverwaltung, Schriftenreihe des Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung, Band 13 (2006), S. 150. 67 Seer in DStJG 31 (2008), S. 17; Huber/Seer, StuW 2007, 355 (359); Nagel/Waza, DStZ 2008, 321 (324).
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verhaltskomplexe, etwa die doppelte Haushaltsführung, bei einer größeren Zahl von Fällen stichprobenweise prüfen. Beide Methoden dienen nicht nur generalpräventiven Zwecken, sondern helfen auch, Erkenntnisse für die Verbesserung des Risikofilters zu gewinnen. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten: Risikomanagement hat das Ziel, im Massengeschäft der Steuerveranlagung den Einsatz der begrenzten Ressourcen im Sinne von Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu optimieren. Dazu bedarf es einer ausreichenden Datenbasis, die Risikoauswahl muss laufend überprüft und angepasst sowie durch Zufallsstichproben abgesichert werden. Außerdem ist dafür Sorge zu tragen, dass das Erfahrungswissen der Bearbeiter genutzt werden kann. Auch das Fachwissen der Steuerbeamten wird keineswegs entbehrlich, es soll nur gezielter für die bedeutsamen Fälle eingesetzt werden. e) Ausreichende gesetzliche Grundlagen? Bleibt noch eine Frage: Ist die Verwaltung de lege lata befugt, von sich aus ein Risikomanagementsystem zu betreiben, oder bedarf es dafür einer gesetzlichen Ermächtigung? Wenn man – wie die Verfasser – davon ausgeht, dass das Risikomanagement keine vollkommen neue Art des Steuervollzugs ist, sondern lediglich eine durch die Fortschritte der EDV ermöglichte Verbesserung bei der seit jeher notwendigen Auswahl der vertieft zu prüfenden Steuerfälle, bedarf es nicht zwingend einer gesetzlichen Normierung68. Etwas anderes gilt natürlich für die bereits erwähnten Voraussetzungen für ein maschinelles Risikomanagement, soweit sie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung berühren, wie das ID-Merkmal, oder erweiterte Mitwirkungspflichten der Steuerpflichtigen begründen, wie etwa die Verpflichtung zur elektronischen Übermittlung von Daten in einer vorgegebenen Systematik; hierzu hat der Gesetzgeber in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Regelungen geschaffen69. Drüen70 hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Zugewinn aus der Normierung des Risikomanagements selbst nur ein begrenzter wäre: Mehr als die grobe Umschreibung der möglichen Risikomerkmale könnte ein Gesetz nicht leisten, die Ausformung und flexible Anpassung der einzelnen Risikokriterien muss immer der Feinsteuerung durch die Verwaltung überlassen bleiben. Zuzustimmen ist Drüen, wenn er in der gesetzlichen Erwähnung automatisierter Steuerungsverfahren ein Mehr an Rechtssicherheit für die Veranlagungsbeamten sieht, bei denen oft noch Unsicherheit herrscht, inwieweit sie sich auf solche Systeme verlassen dürfen, ohne den Vollzugsauftrag aus § 85 AO zu verletzen.
__________ 68 Vgl. E. Schmidt in DStJG 31 (2008), S. 53; Drüen in Schön/Beck (Fn. 2), S. 13 f.; Söhn in HHSp, § 85 AO Rz. 47 hält dagegen ein Tätigwerden des Gesetzgebers für erforderlich, ebenso wohl auch Seer in Tipke/Lang (Fn. 2), § 21 Rz. 7. 69 §§ 30 Abs. 6, 87a, 88a, 93 Abs. 7, 8, 93a, 93b, 139a–139d, 150 Abs. 6–8 AO; §§ 5b, 10 Abs. 2 Satz 2 und 3, Abs. 2a, 22a, 39e, 41 Abs. 1 Satz 2 EStG; § 60 Abs. 4 EStDV, § 31 Abs. 1a KStG, § 18 Abs. 1 UStG. 70 Die Zukunft des Steuerverfahrens, in Schön/Beck (Fn. 2), S. 14.
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Allerdings sollte dann auch der Sicherstellungsauftrag (§ 85 Satz 2 AO) auf ein realitätsgerechtes Maß abgesenkt werden71. Durch das sog. Steuerbürokratieabbaugesetz (SteuBAG)72 wurde der § 88 der Abgabenordnung um folgenden dritten Absatz ergänzt: „Zur Sicherstellung einer gleichmäßigen und gesetzmäßigen Festsetzung und Erhebung der Steuern kann das Bundesministerium der Finanzen durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Anforderungen an Art und Umfang der Ermittlungen bei Einsatz automatischer Einrichtungen bestimmen. Einer Zustimmung des Bundesrates bedarf es nicht, soweit Verbrauchsteuern mit Ausnahme der Biersteuer betroffen sind.“
Im Bericht des Bundestags-Finanzausschusses73 wird ausgeführt, die Vorschrift flankiere und vervollständige die vielfältigen Maßnahmen dieses Gesetzes „im Sinne eines Gesamtkonzepts zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens“74. Der Einsatz computergestützter Risikomanagementverfahren wird dabei als gängige Praxis im In- und Ausland dargestellt; hierdurch werde „die personelle Prüfung der Steuererklärungen […] unterstützt, teilweise sogar weitgehend ersetzt“. U. E. hat der Gesetzgeber damit zu erkennen gegeben, dass er das Risikomanagement als von der Abgabenordnung gedeckt ansieht – und zwar ohne Aufnahme einer ausdrücklichen Befugnisnorm. § 88 Abs. 3 AO ermächtigt das Bundesministerium der Finanzen lediglich zur Vorgabe von Verfahrensgrundsätzen, spricht aber weder eine Verpflichtung hierzu aus, noch enthält die Norm einen Katalog möglicher Kriterien. Die ebenfalls wünschenswerte Anpassung des Sicherstellungsauftrags an die Realität des Steuervollzugs ist leider unterblieben. Auf die möglichen Folgen für die Umsetzung von § 88 Abs. 3 AO kommen wir später75 noch zu sprechen.
II. Risikomanagement in der Steuerverwaltung 1. Anwendungsbereiche und Methoden Unter dem Begriff des „Risikomanagements“ fasst man in der Verwaltungspraxis ganz unterschiedliche Instrumente zusammen, die jeweils auch ein spezifisches Einsatzgebiet haben. Die Risikomanagementsysteme werden im Rahmen der bundesweiten IT-Zusammenarbeit (Vorhaben KONSENS76) von Bayern und Nordrhein-Westfalen entwickelt und gepflegt77. Im Bereich des Massenverfahrens der Einkommensteuerveranlagung kommt es darauf an, aus der Vielzahl von Erklärungen möglichst zielgenau die prüfungswürdigen Fälle und Sachverhalte auszuwählen und der personellen Prüfung
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71 Drüen in Schön/Beck (Fn. 2), S. 14. 72 Gesetz zur Modernisierung und Entbürokratisierung des Steuerverfahrens v. 20.12. 2008, BGBl. I 2008, 2850. 73 BT-Drucks. 16/10940. 74 BT-Drucks. 16/10940, S. 9 r. Sp. unten. 75 Unter 3 b). 76 Siehe oben Fn. 45. 77 Zu den Methoden des Risikomanagements ausführlicher E. Schmidt in DStJG 31 (2008), S. 47 ff.
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zuzuführen. Hierzu werden mit Hilfe eines Risikofilters die Daten der aktuellen Steuererklärung analysiert. Die fachlichen Vorgaben entwickelt eine BundLänder-Arbeitsgruppe78, an der weitere Länder – u. a. Baden-Württemberg – beteiligt sind. Risiko wir dabei ausdrücklich auch als die Gefahr rechtswidriger zu hoher Steuerfestsetzungen verstanden. Unabhängig davon hat der Bearbeiter die Möglichkeit, einen Steuerfall zur personellen Prüfung vorzumerken. Vorgesehen ist ferner die intensive Prüfung stichprobenweise ausgewählter Fälle ohne Risikohinweis, so dass auch dem Gedanken der Generalprävention Rechnung getragen wird. Daneben wird Risikomanagement auch zum Aufspüren von Betrugsfällen bei der Umsatzsteuer sowie für die Fallauswahl für die Umsatzsteuer-Sonderprüfung eingesetzt. Hier treten neben ein regelbasiertes Entscheidungssystem sog. Data-Mining-Verfahren. Ein weiteres Projekt (RMS-Betriebsprüfung) widmet sich schließlich der verbesserten Auswahl von Fällen für die Außenprüfung. Hier geht es darum, die bisher starre Einteilung nach Größenklassen, die sich an monetären Größen wie Umsatz oder Gewinn ausrichten, durch ein System von Risikoklassen zu ersetzen, um auch bei der Außenprüfung dem Gedanken Rechnung zu tragen, dass sich die Fallauswahl nicht alleine an der fiskalischen Relevanz orientieren darf79. Außerdem gewinnt eine solche risikoorientierte Fallauswahl in dem Maße an Bedeutung, wie auch Fälle mit gewerblichen Einkünften in den Veranlagungsstellen voll maschinell bearbeitet werden – insoweit entfällt die Möglichkeit einer Meldung zur Außenprüfung durch den Sachbearbeiter. 2. Aktueller Sachstand a) Einkommensteuerveranlagung In der Arbeitnehmerveranlagung wird ein regelbasiertes System (RMS-Veranlagung 1.0) bereits flächendeckend eingesetzt. Nachdem durch die Verkennzifferung der Anlage „V“ und die Einführung der Anlage EÜR80 nunmehr auch elektronisch auswertbare Daten für freiberufliche, gewerbliche und Vermietungseinkünfte vorliegen, wird das Risikomanagement schrittweise auch auf diese Bereiche ausgedehnt. In einer weiteren Stufe (Version 2.0) soll nun auch das subjektive Risiko in das Risikomanagement einbezogen werden. Notwendig ist dies auch deshalb, weil
__________ 78 AG EVA (Einkommensteuerveranlagung). 79 E. Schmidt in DStG 31 (2008), S. 50; ausführlich zur Kritik an der bisherigen Fallauswahl Seer in Tipke/Kruse, § 193 AO Rz. 41 ff. 80 Allerdings hat das FG Münster (Urteil v. 17.12.2008 – 6 K 2187/08, EFG 2009. 818) keine hinreichende gesetzliche Grundlage für die Verpflichtung zur Abgabe der Anlage EÜR gesehen und überdies eine Ungleichbehandlung ggü. buchführungspflichtigen Steuerpflichtigen. Zumindest letzterer Einwand dürfte mit der in § 5b EStG normierten Verpflichtung zur elektronischen Abgabe (auch) von Bilanz und GuV entfallen. Über die beim BFH unter dem Az. X R 18/09 anhängige Revision ist noch nicht entschieden.
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für Fälle mit Gewinneinkünften – sofern nicht die Anlage EÜR abgegeben wird – bislang keine ausreichende Datengrundlage für eine regelbasierte Prüfung vorhanden ist. Für eine Einstufung der Fälle in vier Risikoklassen bedarf es einer Vielzahl von auf den Einzelfall bezogenen Daten; diese werden nach einem standardisierten Kriterienkatalog ermittelt, der sich sowohl am steuerlichen Sachverhalt (z. B. Vielzahl von Einkunftsarten, besondere Gestaltungen, risikogeneigte Branchen) orientiert als auch an der „Historie“ des individuellen Steuerfalls. Für den Bearbeiter werden diese auf einem Datenblatt zusammengeführt. Ein entsprechendes Konzept ist inzwischen abgestimmt, der versuchsweise Einsatz wird frühestens 2011 erfolgen. Als weiterer Schritt sollen auch Fälle der beschränkten Steuerpflicht in das Risikomanagement einbezogen werden (RMS Veranlagung 3.0). Was die elektronische Bereitstellung der Daten angeht, hat das ELSTER-Verfahren weitere Fortschritte gemacht. In Bayern und Baden-Württemberg wird inzwischen ungefähr jede dritte Einkommensteuererklärung per ELSTER übermittelt. Trotzdem wird es noch längere Zeit dauern, bis man auch dem nicht steuerlich beratenen Bürger zumuten kann, die Kommunikation mit dem Finanzamt ausschließlich mittels elektronischer Verfahren abzuwickeln81. Aufgrund dieser Erkenntnis geht die Verwaltung zunehmend dazu über, in Papierform eingereichte Erklärungen einzuscannen und so einer elektronischen Überprüfung zugänglich zu machen. Dies entlastet zum einen die Sachbearbeiter in den Finanzämtern von bloßer Datenerfassungstätigkeit, zum andern bringt es aber auch einen Zuwachs an Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen: Unabhängig von der Art der Übermittlung durchlaufen alle Erklärungen den gleichen Risikofilter, bevor sie den Bearbeiter erreichen82. b) Umsatzsteuer Bei der Umsatzsteuer kommt es darauf an, Unregelmäßigkeiten und Betrugsfälle so früh wie möglich zu entdecken; deshalb setzt hier das Risikomanagement bereits bei der Erteilung der Umsatzsteuerkennbuchstaben an. Mit Hilfe von RMS-FsE83 werden die Fragebögen auch unter Heranziehung von Datenbanken daraufhin überprüft, ob Anhaltspunkte für betrügerische Absichten bestehen oder der Antragsteller bereits im Zusammenhang mit Scheinfirmen in Erscheinung getreten ist. Da bereits bei der Umsatzsteuervoranmeldung großer Schaden durch unberechtigte Vorsteuererstattungen entstehen kann, liegt der Schwerpunkt des Risikomanagements für die Umsatzsteuer in diesem Bereich. Dabei wird zum einen – wie in der Einkommensteuer – ein regel-
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81 So auch Seer in DStJG 31 (2008), S. 23. 82 In Bayern ist der Risikofilter seit 2010 auch für die im Servicezentrum persönlich abgegebenen Fälle anzuwenden. In Baden-Württemberg werden Steuererklärungen in Papierform seit Anfang 2008 landesweit eingescannt. Dies ermöglicht eine maschinelle Vorprüfung aller Steuererklärungen (Verfahren SESAM = Steuererklärungen scannen, archivieren und maschinell bearbeiten). Im Rahmen von KONSENS soll SESAM nach und nach bundesweit eingesetzt werden. 83 Risikomanagementsystem Fragebogen steuerliche Erfassung. Das System befindet sich derzeit in der Erprobungsphase.
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basiertes System eingesetzt (rbE-UStVA). Daneben kommen aber auch sog. Data-Mining-Systeme zur Anwendung. Unter Einsatz von Methoden der künstlichen Intelligenz (neuronale Netze) sollen Echtfälle analysiert und so für den Karussellbetrug typische Muster aufgedeckt84 und für die Umsatzsteuer-Sonderprüfung geeignete Fälle ausgewählt85 werden. Hierfür ist natürlich eine aktuelle Befüllung und Pflege der zugrunde liegenden Datenbanken von entscheidender Bedeutung. c) Betriebsprüfung Bei der Entwicklung des RMS-Betriebsprüfung besteht das Problem, dass gerade im betrieblichen Bereich bislang nur wenige Daten in elektronisch auswertbarer Form vorliegen. Es wird daher darauf ankommen, durch einen weiteren Ausbau der Datenbasis – Stichwort E-Bilanz – auch die Voraussetzung für eine zielgenauere Fallauswahl zu schaffen.
III. Zurück zur 100 %-Doktrin? 1. Kritik des Bundesrechnungshofs Konnte man also annehmen, die oben skizzierte Auffassung zur strukturellen – und nicht etwa nur „Lücken füllenden“ – Notwendigkeit des Risikomanagements habe sich inzwischen durchgesetzt, geben neueste Entwicklungen zu Zweifeln Anlass: So hat der Bundesrechnungshof (der Risikomanagement grundsätzlich befürwortet86) kürzlich deutliche Kritik an der Praxis der Länderverwaltungen geübt87. Sie richtet sich zum einen gegen unterschiedliche Quoten oder auch Wertgrenzen für den Aufgriff bestimmter Sachverhalte – sie müssten nach Meinung des BRH zwangsläufig bundeseinheitlich vorgegeben werden88. Schon hier mag man einwenden, dass möglicherweise die regional unterschiedlichen Strukturen solche Unterschiede durchaus rechtfertigen könnten – immerhin differiert etwa das durchschnittliche verfügbare Pro-KopfEinkommen zwischen 14944 Euro (Mecklenburg-Vorpommern) und 23455 Euro (Hansestadt Hamburg)89, bei den Vermögen ist der Unterschied noch deutlicher90. Wesentlich grundsätzlicher ist allerdings die Kritik, die Finanzverwaltungen kämen ihrer Pflicht zur Sachverhaltsermittlung (§ 88 AO) nur unzureichend nach. Der BRH hält Bagatellgrenzen, unterhalb derer unschlüssigen Angaben nicht nachgegangen wird, offenbar für grundsätzlich unzulässig, und zwar interessanterweise mit der Begründung, dass hier – anders, als wenn der Bearbeiter im Einzelfall einer erkannten Unschlüssigkeit nicht nachgehe –
__________ 84 85 86 87 88 89 90
System NEPOMUK (Neuronales Programm gegen Umsatzsteuer-Karussellbetrug). System NEPTUN. Siehe oben Fn. 41. Bemerkungen 2009 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes, Tz. 40. Ebenda, Tz. 40.2. Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2009. Das durchschnittliche Bruttogeldvermögen je Haushalt liegt zwischen 26600 Euro in Sachsen und 61600 Euro in Bayern (Statistisches Bundesamt, 2008).
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ein „systematischer“ Verzicht vorliege91. Nun könnte man u. E. in dieser Gleichmäßigkeit des Verzichts auf Überprüfung durchaus einen Gewinn gegenüber einer je nach Auslastung und Belieben des einzelnen Bearbeiters getroffenen Auswahl sehen (vorausgesetzt natürlich, das Verfahren wird nicht für den einzelnen Steuerpflichtigen „berechenbar“92). Der Bundesrechnungshof zieht hingegen den umgekehrten Schluss: Soweit maschinelle Kontrollen (etwa wegen mangelnder Verkennzifferung) lückenhaft seien, „sollten die Finanzämter die Schlüssigkeit dieser Angaben bei der Eingabe in das Festsetzungsprogramm personell prüfen“93. Derartige Lücken dürften nicht als „Restrisiko“ hingenommen werden. Eine solche Sichtweise aber legt die Axt an die Wurzeln des Risikomanagements – hier soll das einem solchen System immanente Restrisiko nicht nur minimiert, sondern praktisch ausgeschaltet werden. Das aber hätte zur Folge, dass nahezu jeder Fall wieder personell überprüft werden müsste. Auch würden alle Fortschritte in Richtung einer medienbruchfreien elektronischen Erklärungsabgabe und -bearbeitung in Frage gestellt. Um nicht missverstanden zu werden: Sowohl die aktuell bestehenden Risikomanagementsysteme, als auch der Umgang mit diesen ja noch relativ neuen Instrumenten bedürfen ständiger Überprüfung und Verbesserung – dessen sind sich die Verantwortlichen in der Steuerverwaltung sehr wohl bewusst. So laufen für das Regelwerk „RMS-Veranlagung“ Standardauswertungen, die zu jedem Risikohinweis die Häufigkeit der Hinweisausgabe, die Anzahl der aufgrund des Hinweises geänderten Fälle und den durchschnittlichen Änderungsumfang ausweisen. Auf der Grundlage der Auswertungsergebnisse analysiert eine Expertengruppe das Regelwerk, stellt einen eventuellen Optimierungsbedarf fest und setzt die Verbesserungen um. Darüber hinaus werden individuelle Evaluierungen durch die Länder durchgeführt. Auch Feststellungen der Rechnungshöfe können da hilfreich sein, Schwachstellen aufzudecken und Verbesserungspotenziale zu erkennen. Fundamentalkritik allerdings, die das Wesen des Risikomanagements in Frage stellt, hilft nicht weiter. 2. Verordnung zur Ausfüllung von § 88 Abs. 3 AO Die mit dem Steuerbürokratieabbaugesetz 2008 eingeführte Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung über Verfahrensgrundsätze für das elektronische Risikomanagement wurde bislang noch nicht umgesetzt. Die ersten Überlegungen hierzu zeigen jedoch, dass die Kritik des Bundesrechungshofs ihre Wirkung nicht verfehlt hat. Soweit die bereits oben94 als unverzichtbar genannten Vorgaben festgeschrieben werden sollen – wie z. B. keine Auswahl nur nach den steuerlichen Auswirkungen, Stichprobenauswahl umfassend zu prüfender Fälle, regelmäßige Überprüfung und Anpassung der Filter – ist sicher nichts einzuwenden. Auch die Vorgabe von (Mindest-)Quoten mag im Interesse
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91 Bemerkungen 2009 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes, Tz. 40.1.2 und 40.4. 92 Siehe oben unter I 4 d. 93 Bemerkungen 2009 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes, Tz. 40.4. 94 Unter I. 4. d.
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Eckehard Schmidt / Michael Schmitt
eines einheitlichen Vollzugs gerechtfertigt sein. Ob auch die Wertgrenzen bundeseinheitlich festgelegt werden müssen, mag man – wie bereits oben ausgeführt – bezweifeln. Wirklich problematisch wäre jedoch, wenn Vorschläge Wirklichkeit würden, die das RMS-basierte Veranlagungsverfahren in Frage stellen. Dazu gehört die Bestimmung, alle Fälle zu prüfen, in denen die Vorlage von Nachweisen oder Bescheinigungen – wie etwa für Spenden – gesetzlich vorgeschrieben ist; nach Erhebungen des bayerischen Landesamts für Steuern könnte das dazu führen, dass (nur deshalb) 40–60 % der Fälle ausgesteuert werden müssten. Aus unserer Sicht kann eine solche umfassende Prüfung erst stattfinden, wenn die Belege in elektronischer Form vorliegen (entsprechende Projekte sind bereits in Bearbeitung); bis dahin sollte man die Überprüfung auf die „Risikofälle“ und die Fälle der Zufallsauswahl beschränken. Vollends zum Erliegen käme das Risikomanagement aber, wenn man eine personelle Bearbeitung aller Fälle mit „Fehleintragungen“ und Freitextanmerkungen fordern würde. Denn diese kann das maschinelle Verfahren nicht erkennen bzw. auswerten. Freilich gibt es Steuerpflichtige (und manchmal leider auch Berater), die Abzugsbeschränkungen, etwa für das häusliche Arbeitszimmer, durch gezielte Fehleintragungen (z. B. unter dem Sammelposten „Weitere Werbungskosten“) zu unterlaufen versuchen. Wollte man solche Fehleintragungen lückenlos aufdecken, müsste jede Erklärung „in die Hand genommen“ werden. Damit würde das Risikomanagement ad absurdum geführt. Auch eine Aussteuerung der Fälle mit sog. „Freitextanmerkungen“ würde nicht weiterhelfen, denn nahezu jede Erklärung enthält solche Anmerkungen: Auch wenn es nicht vorgeschrieben ist, schlüsseln Steuerpflichtige z. B. ihre Angaben zu Spenden nach Empfängern auf oder machen nähere Angaben zu den geltend gemachten Versicherungsbeiträgen. Derartige Mitteilungen sind für den Veranlagungsbeamten im Falle der personellen Prüfung des Steuerfalls ja auch durchaus hilfreich – nur eben gerade kein hinreichendes Kriterium, um automatisch einen Missbrauchsfall zu vermuten. Die verwaltungsinterne Diskussion zur Ausgestaltung der Verordnung zu § 88 AO hat gerade erst begonnen. Es ist zu hoffen, dass im weiteren Verlauf ein Konsens gefunden wird, der den Einsatz von Risikomanagementsystemen bei der Steuerveranlagung nicht grundsätzlich in Frage stellt. Der Bundesfinanzhof hatte sich ersichtlich noch nicht mit den sich aus einer risikoorientierten Fallauswahl und -bearbeitung ergebenden Fragen zu befassen; möglicherweise könnte das oben genannte Verfahren zur Anlage EÜR95 oder die mögliche Revision zu den Urteilen des FG Köln zum Identifikationsmerkmal96 hierzu Anlass geben.
IV. Fazit Auch ein modernen Instrumenten des Steuervollzugs eher wohl gesonnener Autor wie Drüen bezeichnet das Risikomanagement als „pragmatische Antwort der Finanzverwaltung auf Vollzugsbedingungen am Rande der Verfassungs-
__________ 95 Fn. 80. 96 Fn. 56.
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widrigkeit“97. Dem möchten wir entgegenhalten: Es mag sein, dass unter den gegebenen personellen Ressourcen und der gestiegenen Komplexität des anzuwendenden Steuerrechts die Intensität der personellen Einzelfallprüfung ohne die Hilfe einer maschinellen Vorauswahl noch um einiges hinter dem zurück bliebe, was vor ein paar Jahrzehnten üblich war. Jedoch davon auszugehen, dass es früher dem Sachbearbeiter in der Veranlagungsstelle möglich war, jeden Einzelfall intensiv durchzuprüfen, hieße denn doch, die „gute alte Zeit“ durch eine rosa Brille zu betrachten. Die Massenverwaltung ist noch nie ohne Auswahl und Gewichtung der Einzelfälle ausgekommen. Wenn dies nun nicht mehr vorrangig nach dem Gefühl des Sachbearbeiters geschieht, sondern weitgehend nach objektivierten, risikobezogenen Kriterien, dann sollte man darin einen Zugewinn an Gleichmäßigkeit und damit auch an Gerechtigkeit im Steuervollzug sehen. Oder mit anderen Worten: Selbst wenn alle von uns immer wieder nachdrücklich vorgetragenen Wünsche nach einer aufgabenadäquaten Personalausstattung unserer Finanzämter in Erfüllung gingen, könnten wir auf ein modernes, sich stets an die Entwicklungen der Steuerwirklichkeit anpassendes Risikomanagement nicht verzichten! Es ist – um die eingangs gestellte Frage zu beantworten – sicher keine Zauberformel, die alle Probleme unseres Steuervollzugs löst. Ebenso wenig ist es aber eine Bankrotterklärung der Steuerverwaltung. Das Risikomanagement ist vielmehr ein wichtiges Hilfsmittel für einen Steuervollzug, der den Anforderungen unserer Zeit gerecht wird.
__________ 97 Drüen in Schön/Beck (Fn. 2), S. 12.
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Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht – die Finanzverwaltung als „Kontrollinstanz“ der Rechtsprechung?* Inhaltsübersicht I. Einführung II. Brisanz der Problematik 1. Nicht- oder verspätete Veröffentlichung 2. Nichtanwendungserlasse III. Zulässigkeit von Nichtanwendungserlassen IV. Aktuelle Beispiele 1. Abzugsverbot nach § 3c Abs. 2 EStG bei Aufgabeverlusten i.S.v. § 17 EStG (BFH-Urteil v. 25.6.2009)
2. Steuerbarkeit von Transferzahlungen an ausländische Fußballvereine (Entscheidung des BFH v. 27.5.2009) 3. Nebenleistungen zu Übernachtungsumsätzen (BFH-Urteil v. 15.1.2009) 4. Umsatzsteuerrechtliche Organschaft nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG (BFH-Urteil v. 29.1.2009) 5. Ausgleichszahlungen an außenstehende Anteilseigner (BFH-Urteil v. 4.3.2009) V. Fazit
I. Einführung Nichtanwendungserlasse der Finanzverwaltung spielen im deutschen Steuerrecht nach wie vor eine nicht unbedeutende Rolle. Erfreulicherweise haben sich die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag verpflichtet, „dass sich Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) auf die Auslegung der Gesetze beschränken und die Praxis der Nichtanwendungserlasse zurückgeführt wird“1. Spindler, der sich regelmäßig über die zahlreichen Nichtanwendungserlasse in der 16. Legislaturperiode empört hatte, begrüßt den Sinneswandel in der Presse als „Stärkung des Gewaltenteilungsprinzips“2. Unabhängig von dieser an sich positiven Verpflichtung verschickte das BMF nach dem Regierungswechsel gleich mehrere Nichtanwendungserlasse, so dass zu befürchten ist, dass die ehrenwerten Ankündigungen des Koalitionsvertrags ins Leere laufen werden.
__________ * Das Manuskript ist im Juli 2010 fertig gestellt worden, so dass der Beitrag die Sachund Rechtslage im Juli 2010 darstellt. Einige der vorgestellten Nichtanwendungserlasse sind mittlerweile durch „Nichtanwendungsgesetze“ ersetzt worden (vgl. Anmerkungen). Auch insoweit stellt sich sicherlich die Frage, inwieweit diese Reaktionen des Gesetzgebers im Einzelfall gerechtfertigt sind. Diese Thematik soll allerdings an dieser Stelle nicht vertieft werden. 1 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, S. 13. 2 Vgl. exemplarisch WirtschaftsWoche v. 16.3.2010.
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Auf den Punkt gebracht bedeutet dies: Die Fälle, in denen die Finanzverwaltung höchstrichterliche Urteile mit einem Nichtanwendungserlass belegt, mehren sich. Daneben sind auch die Fälle zu beobachten, in denen Urteile des BFH nicht oder nur mit erheblicher Verzögerung im BStBl. veröffentlicht werden. Da die Finanzverwaltung aber allgemein angewiesen ist, grundsätzlich nur solche Entscheidungen des BFH anzuwenden, die im BStBl. veröffentlicht sind, ist diese Vorgehensweise für die Praxis oftmals ein Ärgernis. Man könnte also neben den ausdrücklichen von „stillschweigenden“ Nichtanwendungserlassen sprechen.
II. Brisanz der Problematik Die Problematik begleitet uns seit vielen Jahren. So weist Spindler nicht nur regelmäßig in der wissenschaftlichen Debatte auf die Thematik hin3 sondern auch die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft haben sich der Problematik angenommen und mit einer gemeinsamen Eingabe vom 27.2.2009 die sich daraus ergebenden praktischen Probleme dem Finanzausschuss des Deutschen Bundestages vorgetragen. Daran wird deutlich: es handelt sich bei der Diskussion nicht um eine rein theoretische Analyse, sondern die praktische Bedeutung ist immens. 1. Nicht- oder verspätete Veröffentlichung Grundsätzlich binden in einem finanzgerichtlichen Verfahren ergangene und rechtskräftig gewordene Entscheidungen nach § 110 Abs. 1 FGO nur die am Rechtsstreit Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger. Hat der BFH jedoch eine Gerichtsentscheidung zur amtlichen Veröffentlichung in der von den Mitgliedern des BFH herausgegebenen Entscheidungssammlung BFHE bestimmt, prüfen die obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder, ob das BFHUrteil bzw. der BFH-Beschluss von den Finanzämtern im Interesse der Rechtssicherheit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung über den entschiedenen Einzelfall hinaus angewandt werden kann. Zu dieser eigenverantwortlichen Prüfung der Rechtsanwendung ist die Verwaltung aufgrund des Art. 20 Abs. 3 GG berechtigt und verpflichtet. In der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle entscheidet sich die Finanzverwaltung für eine allgemeine Anwendung der BFH-Rechtsprechung und veröffentlicht die betreffenden Entscheidungen im BStBl. Teil II. Dieser Vorgang ist für die Praxis besonders bedeutend, da nur durch diese Veröffentlichung im BStBl. die Finanzämter angewiesen werden, die Entscheidungen auch in vergleichbaren Fällen anzuwenden. Ohne eine solche Veröffentlichung sind Urteile und Beschlüsse des BFH für die Finanzbeamten praktisch nicht existent. In manchen konkreten – meist für die Steuerpflichtigen begünstigenden Fällen – ist folgendes Vorgehen zu beobachten: In bestimmten Einzelfällen verstreicht – unnötig – viel Zeit zwischen der Entscheidung des BFH und der Veröffentlichung des entsprechenden Urteils im BStBl. Diese Praxis ist ärgerlich, weil Entscheidungen des BFH, wie oben erläutert,
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3 Spindler, DStR 2007, 1061 ff.
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von der Finanzverwaltung bei der Bearbeitung ähnlicher Sachverhalte nur dann anzuwenden sind, wenn diese Entscheidungen veröffentlicht wurden. Hier gibt es also eine Entscheidung, die sich im konkreten Sachverhalt positiv auswirken würde, sie wird jedoch von der Finanzverwaltung ignoriert. Diese Thematik ist zwischenzeitlich auch von der Politik aufgegriffen worden: Die Finanzverwaltung legte die in der 16. Legislaturperiode noch zu veröffentlichenden Entscheidungen auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion offen4. Eine spürbare Verbesserung der Situation hat sich daraus nicht ergeben. Aus Praktikersicht ist diese Vorgehensweise alles andere als glücklich: Es ist rechtsstaatlich höchst bedenklich, wenn Urteile erst nach längerer Zeit im BStBl. erscheinen und solange von den Finanzämtern nicht zur Kenntnis genommen werden. Das bestätigt auch die Rechtsprechung: Nach einer Entscheidung des FG Hamburg vom 9. April 20035 verstößt diese Vorgehensweise der Verwaltung gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung. Laut FG Hamburg fallen die Kosten der viele Monate nach der Veröffentlichung eines BFH-Urteils in einer vergleichbar gelagerten Sache erhobenen Untätigkeitsklage dem Finanzamt zur Last, wenn das Finanzamt das BFH-Urteil deswegen nicht umgesetzt hat, weil letzteres vom BMF noch nicht im BStBl. veröffentlicht worden ist. Das OLG Koblenz kam in einem ähnlichen Fall zu dem Ergebnis, dass die einem Steuerzahler entstandenen Kosten für ein eigentlich unnötiges Einspruchsverfahren zu ersetzen sind, allen voran die Kosten für die Einschaltung eines Steuerberaters6. Das Gericht hatte ein Organisationsverschulden der Finanzverwaltung darin gesehen, dass einem entscheidungsbefugten Sachbearbeiter ein grundlegendes Urteil des BFH nicht zeitnah zur Kenntnis gebracht worden war und mit dieser Begründung der Schadensersatzklage des Steuerzahlers nach § 839 BGB stattgegeben. Die Finanzverwaltung begründet die schleppende Veröffentlichungspraxis mit zeitaufwendigen Abstimmungen zwischen Bund und Länderfinanzverwaltung. Eine solche Abstimmung ist sinnvoll und zweckmäßig, um eine einheitliche Verwaltungsanwendung in allen Bundesländern zu gewährleisten. Sie kann aber eine – manchmal jahrelange – Nichtveröffentlichung zu Lasten des Rechtsstaatsprinzips nicht rechtfertigen. Der Finanzverwaltung steht im Übrigen für diese Fälle ein Instrument zur Verfügung, das der Finanzverwaltung die Möglichkeit geben würde, die Konsequenzen eines Urteils mit ausreichender Zeit zu diskutieren, ohne dass dieses Urteil faktisch ins Leere läuft: Die entsprechenden Bescheide könnten unter Berücksichtigung der neuen Rechtsprechung ergehen, aber unter Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 AO. So besteht nach ausführlicher Prüfung und Diskussion die Möglichkeit, den Steuerbescheid zu ändern7. Für eine (jahrelange) Nichtberücksichtigung dieser Urteile gibt es folglich keine Rechtfertigung.
__________ 4 5 6 7
BT-Drucks. 16/13759. FG Hamburg v. 9.4.2003 – III 86/03, DStRE 2003, 1069. OLG Koblenz v. 17.7.2002 – 1 U 1588/01, NVwZ-RR 2003, 168. Pezzer, DStR 2005, 525 (532).
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2. Nichtanwendungserlasse Mit den Nichtanwendungserlassen ordnet das BMF an, dass bestimmte Rechtsgrundsätze, die der BFH in einem konkreten Urteil aufgestellt hat, von der Finanzverwaltung nicht oder jedenfalls nicht vollumfänglich anzuwenden sind. Hierdurch wird oftmals eine für den Steuerpflichtigen günstige Rechtsprechung konterkariert. Bei Bestätigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung übernimmt die Finanzverwaltung – im Regelfall – die Rechtsansicht des BFH und hebt den entsprechenden Nichtanwendungserlass auf. Dazwischen können allerdings Jahre liegen. Beispielsweise hat der BFH mit Urteil v. 7.6.20068 entschieden, dass bei der steuerrechtlichen Anerkennung von Verträgen zwischen nahen Angehörigen der zivilrechtlichen Unwirksamkeit des Vertragsabschlusses nur indizielle Bedeutung beizumessen ist. Nach Ansicht der Finanzverwaltung sind die Grundsätze dieses Urteils über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht anzuwenden9. Das Urteil des BFH ist jedoch in konsequenter Anwendung der Rechtsprechung des BVerfG v. 7.11.199510 und im Anschluss an das Urteil des BFH v. 13.7.199911 ergangen. Die Finanzverwaltung versucht hier offensichtlich an der vor Ergehen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung herrschenden Rechtsauffassung festzuhalten. Für die Praxis ist das im Folgenden dargestellte Vorgehen zum Teil noch problematischer, da hier zwar ein Nichtanwendungserlass im Zweifel vermieden wird, aber zugleich auch eine für eine Vielzahl von Steuerpflichtigen positive Rechtsprechung: Die Finanzverwaltung wirkt in Einzelfällen einer Bestätigung der Rechtsprechung oder einer erstmaligen Klärung einer weitreichenden Frage entgegen, indem der Steuerpflichtige im konkreten Fall durch den Erlass eines Abhilfebescheids klaglos gestellt wird. In diesen Fällen wird von der Finanzverwaltung gegen einen für diese nachteiligen Gerichtsbescheid Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt. Bevor diese allerdings durchgeführt werden kann, wird ein Abhilfebescheid erlassen. Der Steuerpflichtige wird so klaglos gestellt und die Hauptsache für erledigt erklärt. Diese Vorgehensweise führt zu erhöhter Rechtsunsicherheit und zu einer deutlichen Verzögerung bei der Klärung der zugrundeliegenden Rechtsfrage. So hat beispielsweise der BFH die Frage der zeitlichen Anwendung der mit dem StEntlG 1999/2000/2002 v. 24.3.199912 eingeführten Anschaffungsfiktion des § 23 Abs. 1 Satz 2 EStG nach einem von der Finanzbehörde zunächst angefochtenen Gerichtsbescheid vom Januar 2004 und anschließender Hauptsacheerledigung13 erst in einem weiteren Verfahren mit Urteil vom Oktober 2006, also nach über 2,5 Jahren, klären können14. Die Finanzverwaltung hat ihre gegenteilige Auffassung erst
__________ 8 9 10 11 12 13 14
BFH v. 7.6.2006 – IX R 4/04, BFH/NV 2006, 2162. BMF v. 2.4.2007 – IV B 2 – S-2144/0/2007. BVerfG v. 7.11.1995 – 2 BvR 802/90, BStBl. II 1996, 34. BFH v. 13.7.1999 – VIII R 29/97, BStBl. II 2000, 386. StEntlG 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402. BFH v. 13.5.2004 – IX R 8/02, BFH/NV 2004, 1290. BFH v. 18.10.2006 – IX R 5/06, BFH/NV, 2007, 134.
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Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht
mit BMF-Schreiben v. 7.2.2007 aufgegeben15, so dass abschließende Rechtssicherheit erst 8 Jahre nach Verkündung des Gesetzes eingetreten ist.
III. Zulässigkeit von Nichtanwendungserlassen Nichtanwendungserlasse beeinträchtigen die Rechtssicherheit und die Gleichmäßigkeit der Besteuerung. In diesem Zusammenhang stellt sich daher immer wieder die Frage der Zulässigkeit von Nichtanwendungserlassen. Das Meinungsspektrum hinsichtlich der meist zuungunsten der Steuerpflichtigen wirkenden Nichtanwendungserlasse reicht von der Bejahung einer strikten Bindung der Verwaltung an die BFH-Rechtsprechung bis hin zu einer Verneinung jeglicher Bindungswirkung. Insbesondere verfassungsrechtliche Bedenken werden oftmals vorgetragen. Auf den ersten Blick erscheint die Thematik nicht problematisch: Wie oben erläutert, ordnet § 110 FGO die inter-partes Wirkung der finanzgerichtlichen Entscheidung an; die in einem Urteil aufgestellten Grundsätze gelten also nur für die an einem Rechtsstreit beteiligten Parteien. Deshalb könnten die vom BFH aufgestellten Grundsätze für nachfolgende Steuerveranlagungen ohne Bedeutung sein. Es ist aber gerade die der Rechtsprechung und insbesondere die den Revisionsgerichten zugewiesene Aufgabe, im Rahmen der Gesetzesauslegung auf eine Rechtsvereinheitlichung hinzuwirken. Das bedeutet, dass der BFH Maßstäbe aufstellt, die sehr wohl über den zu entscheidenden Fall hinaus Bedeutung haben. Außerdem ergehen Nichtanwendungserlasse in der Regel zu Urteilen, denen die Finanzverwaltung eine besondere Tragweite zugesteht16. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die jeweils mit einem Nichtanwendungserlass belegte Entscheidung des BFH von der Finanzverwaltung als „Einzelfall“ umschrieben wird, da Einzelfälle nach den Vorschriften des Revisionsrechts grundsätzlich nicht zum BFH gelangen können. Eine vermittelnde Auffassung tendiert dazu, dass die Rechtsprechung des BFH dann zu bindendem Recht für die Finanzverwaltung wird, wenn sie nach erneuter Überprüfung bestätigt worden ist. Nach dieser Auffassung erscheint es verständlich, dass die Finanzverwaltung eine Rechtsfrage, die in einer Vielzahl von Fällen relevant wird, erneut überprüfen lassen möchte, wenn sie gegen die vom BFH geäußerte Auffassung ernstliche Bedenken hat17. Nach meiner Ansicht ist die Problematik folgendermaßen zu beurteilen: Aus dem Gewaltenteilungsprinzip und der sich daraus ergebenden Loyalitätspflicht der Gewalten untereinander folgt das an die jeweilige Gewalt gerichtete Verbot, in den Kernbereich einer anderen Gewalt einzugreifen, und die Bindung an die Akte der jeweils anderen Gewalt. Das bedeutet, dass die Finanzverwaltung die Rechtsprechung des BFH im Regelfall anzuwenden hat. Die Finanzverwal-
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15 BMF v. 7.12.2007 – IV C 3 – S-2256 – 11/07, BStBl. I 2007, 262. 16 Lange, NJW 2002, 3657. 17 Offerhaus, Stbg 1998, 437 (441).
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tung würde ihre Loyalitätspflicht gegenüber der Rechtsprechung verletzen, wenn regelmäßig Grundsätze der Rechtsprechung nicht angewendet werden. Dennoch ist zu beachten, dass die Finanzverwaltung an Recht und Gesetz gebunden ist. Dies verpflichtet sie in eigener Verantwortung zur richtigen Anwendung des Steuerrechts. Ist also die Finanzverwaltung im Einzelfall davon überzeugt, dass eine Entscheidung rechtsfehlerhaft ist, muss sie ausnahmsweise berechtigt sein, diese Entscheidung über den Einzelfall hinaus nicht anzuwenden. Dieser Fall muss aber die absolute Ausnahme bleiben. Die Finanzverwaltung darf nicht ihre lediglich abweichende Rechtsauffassung an die Stelle der Rechtsprechung setzen. Nichtanwendungserlasse rein aus fiskalischer Sicht sind deshalb generell nicht zulässig. Darüber hinaus gilt: Selbst wenn ein Nichtanwendungserlass im Einzelfall begründet sein kann, muss er eine ausführliche Begründung der abweichenden Verwaltungsauffassung enthalten. Die Finanzverwaltung muss detailliert darstellen, warum sie sich aus Rechtsgründen gezwungen fühlt, eine von der Rechtsprechung des BFH abweichende Verwaltungsauffassung zu veröffentlichen. Ein Nichtanwendungserlass ohne Begründung ist aus meiner Sicht rechtswidrig. An die Begründung sind meines Erachtens hohe Anforderungen zu stellen. Es bedarf einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Urteil, in dem die Gründe erläutert werden, aus denen sich ergibt, dass sich der BFH nochmals mit der konkreten Problematik auseinandersetzen sollte. Ein Nichtanwendungserlass ohne neue Argumente reicht in der Regel nicht aus, um eine grundsätzliche Bedeutung nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zu begründen. So hat der BFH beispielsweise im Beschluss v. 17.10.1995 zur Frage, wie Erwerb und Veräußerung von Anteilen an einer (Grundstücks-)Personengesellschaft im Rahmen des § 23 Abs. 1 EStG in der bis einschließlich 1993 geltenden Fassung zu beurteilen sind, darauf hingewiesen, dass weder der für die konkrete Rechtsfrage ergangene Nichtanwendungserlass18 noch die Literatur noch die Beschwerdebegründung ein neues Argument enthalten, und daher die Revision abgewiesen19. Doch selbst wenn Nichtanwendungserlasse im Einzelfall rechtmäßig sein können, bleiben oftmals Fragen offen, wie der nachfolgende Sachverhalt zeigt: Der BFH hat im April 2008 zur lohnsteuerrechtlichen Bewertung des geldwerten Vorteils aus der Gewährung eines Dienstwagens für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsplatz Stellung genommen. Grundsätzlich gilt: Wird der geldwerte Vorteil der privaten Nutzung eines Dienstwagens typisierend nach der 1 %-Regelung besteuert, so erhöht sich diese Pauschale nach § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG um monatlich 0,03 % des Listenpreises für jeden Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, wenn das Fahrzeug auch zu diesem Zweck genutzt werden kann. Nach Ansicht des BFH kommt es dabei jedoch auf die tatsächliche Nutzung des Dienstwagens an: Wird der Dienstwagen einmal wöchentlich für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte
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18 Schreiben (koordinierter Ländererlass) v. 27.2.1992 – IV B 3 – S-2256 – 3/92, BStBl. I 1992, 125. 19 BFH v. 17.10.1995 – X B 132/95, BFH/NV 1996, 213.
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genutzt, so hänge der Zuschlag nach § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG von der Anzahl der tatsächlich durchgeführten Fahrten ab. Zur Ermittlung des Zuschlags sei eine Einzelbewertung der Fahrten mit 0,002 % des Listenpreises i. S. d. § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG je Entfernungskilometer vorzunehmen20. Diese Rechtsgrundsätze hat die Finanzverwaltung nicht anerkannt und einen entsprechenden Nichtanwendungserlass herausgegeben21. Der BFH hat seine Auffassung jedoch zwischenzeitlich bestätigt: Mit Urteil v. 28.8.200822 hat der BFH seine oben erläuterte Rechtsausführung wiederholt und sogar eine Günstigerprüfung aus Sicht des Arbeitnehmers durchgeführt. Wider Erwarten hat das BMF nun nicht den ersten Nichtanwendungserlass zurückgenommen, sondern einen weiteren veröffentlicht: Mit Schreiben v. 12.3.200923 erklärte das BMF auch die Grundsätze dieses Urteils über den entschiedenen Einzelfall hinaus für nicht anwendbar. Schon im Rahmen des BMF-Schreibens v. 28.10.2008 hat die Finanzverwaltung darauf hingewiesen, dass eine solche auf den Umfang der tatsächlichen Nutzung eines betrieblichen Kraftfahrzeugs für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte abstellende Auslegung der Vorschrift des § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG weder dem Wortlaut noch dem Zweck des Gesetzes entspräche. Im Rahmen des BMF-Schreibens v. 12.3.2009 wird auf diese Aussagen verwiesen. Dieser Sachverhalt wirft viele Fragen auf: Liegt hier ein Fall eines rechtmäßigen Nichtanwendungserlasses vor, wie teilweise in der Literatur vertreten? Oder akzeptiert die Finanzverwaltung die Rechtsansicht der Rechtsprechung nicht und will stattdessen die eigene Ansicht durchsetzen? Und wer entscheidet letztendlich, welche Rechtsauffassung richtig ist? Wird die Finanzverwaltung einlenken, wenn der BFH in einem dritten Fall seine Rechtsprechung noch einmal bestätigt, oder muss sogar als letzte Instanz das BVerfG im Zweifel einen Nichtanwendungserlass überprüfen? In diesem Fall scheint der Gesetzgeber gefordert, da eine gesetzliche Klarstellung im Sinne der Rechtssicherheit wünschenswert wäre. Die derzeitigen Konsequenzen für die Praxis sind klar: Will ein Steuerpflichtiger von der Entscheidung des BFH profitieren, muss er klagen.
IV. Aktuelle Beispiele Nach Bekanntwerden des Koalitionsvertrags und dem Vorhaben, die Praxis der Nichtanwendungserlasse zurückzuführen, keimte in der Praxis die zarte Hoffnung auf, dass wir von solchen Situationen in der Zukunft verschont bleiben. Leider ist genau das Gegenteil eingetroffen: Seit Beginn der 17. Legislaturperiode sind bereits 5 Nichtanwendungserlasse veröffentlicht worden24, zum größten Teil nachteilig für den Steuerpflichtigen. Nachfolgend sollen diese genauer dargestellt und die Konsequenzen erläutert werden:
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BFH v. 4.4.2008 – VI R 85/04, BStBl. II 2008, 887. BMF v. 23.10.2008 – IV C 5 – S-2334/08/10010. BFH v. 28.8.2008 (veröffentlicht am 10.12.2008) – VI R 52/07, BStBl. II 2009, 280. BMF v. 12.3.2009 – IV C 5 – S-2334/08/10010. Stand: 1.6.2010.
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1. Abzugsverbot nach § 3c Abs. 2 EStG bei Aufgabeverlusten i. S. v. § 17 EStG (BFH-Urteil v. 25.6.2009) Besonders interessant erscheint der Erlass v. 15.2.201025 zum Abzugsverbot nach § 3c Abs. 2 EStG bei Aufgabeverlusten i. S. v. § 17 EStG zum BFH-Urteil v. 25.6.200926. Mit Urteil v. 25.6.2009 hat der BFH entschieden, dass der Abzug von Erwerbsaufwand (z. B. Betriebsvermögensminderungen, Anschaffungskosten oder Veräußerungskosten) im Zusammenhang mit Einkünften aus privaten Kapitalbeteiligungen nach § 17 Abs. 1 und Abs. 4 EStG jedenfalls dann nicht durch das Abzugsverbot nach § 3c Abs. 2 Satz 1 EStG begrenzt ist, wenn der Steuerpflichtige keinerlei durch seine Beteiligung vermittelte Einnahmen erzielt hat. Das BMF belegte dieses Urteil mit oben genanntem Nichtanwendungserlass. Mit Beschluss v. 18.3.201027 reagierte der BFH zeitnah auf den Nichtanwendungserlass des BMF v. 15.2.2010 in einem Fall, in dem der Klägerin aufgrund ihrer Beteiligung keine Einnahmen zugeflossen sind und das FG Düsseldorf in seinem Urteil v. 12.11.2009 der Rechtsprechung des BFH28 folgend das Halbabzugsverbot des § 3c Abs. 2 Satz 1 EStG nicht angewandt hatte. Der BFH wies die eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde mangels grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zurück. Das Argument des Nichtanwendungserlasses, das Halbeinkünfteverfahren sei auch in Verlustfällen anwendbar, widerspreche nicht dem BFH. Es gehe daher als Argument gegen die Rechtsprechung ins Leere. Die Rechtsprechung betreffe nur einen Ausschnitt der „Verlustfälle“, in dem keine Betriebsvermögensmehrungen oder Einnahmen anfallen. Weil es dort mangels Einnahmen nicht zu einer hälftigen Steuerbefreiung kommt, sind auch die Aufwendungen nicht nur zur Hälfte zu berücksichtigen. Über Fälle, in denen es trotz Betriebsvermögensmehrungen oder Einnahmen zu einem Verlust kommt, habe der BFH noch nicht entschieden29. Der BFH hat hier folglich seine Aussage bekräftigt und die Argumente des BMF zurückgewiesen. Jetzt war das Ministerium gefordert: Es musste den Nichtanwendungserlass aufheben. Dies ist mit BMF-Schreiben v. 28.6.2010 geschehen30. Selbst wenn die Bedenken des Ministeriums berechtigt wären und eine allgemeine Anwendung nicht nur zu erheblichen Steuerausfällen, sondern auch zu systematischen Verwerfungen im Bereich des Teileinkünfteverfahrens und zu erheblichen Folgefragen im Anwendungsbereich der Abgeltungsteuer führt31, ist es nicht mehr Sache der Finanzverwaltung, hier für Abhilfe zu sorgen. Hier ist nun der Gesetzgeber gefordert, den Sachverhalt zu prüfen und ggf.
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BMF v. 15.2.2010 – IV C 6 – S-2244/09/10002. BFH v. 25.6.2009 – IX R 42/08, BStBl. II 2010, 220. BFH v. 18.3.2010 – IX B 227/09, BFH/NV 2010, 1022. BFH v. 25.6.2009 – IX R 42/08, BStBl. II 2010, 220 und v. 14.7.2009 – IX R 8/09, BFH/NV 2010, 399. 29 BFH Pressemitteilung Nr. 27 v. 31.3.2010. 30 BMF v. 28.6.2010 – IV C 6 – S2244/09/10002, das Schreiben wird im BStBl. veröffentlicht. 31 Gragert/Wißborn, NWBdirekt 2010, 486.
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Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht
korrigierend einzugreifen, um seine Vorstellungen umzusetzen, wenn es sich tatsächlich um eine misslungene Rechtsprechung handelt. Die Ziele dürfen allerdings nicht von der Finanzverwaltung „diktiert“ werden. Die treffgenaue Umsetzung seiner Ziele ist ureigenste Aufgabe des Gesetzgebers. Eine entsprechende gesetzliche Änderung ist tatsächlich schnell auf den Weg gebracht worden: Im Rahmen des Entwurfs eines Jahressteuergesetzes 201032 ist eine Korrektur vorgesehen. Aber auch in diesem Zusammenhang ist Vorsicht anzumahnen, wie sich mit folgendem Beispiel belegen lässt: 2. Steuerbarkeit von Transferzahlungen an ausländische Fußballvereine (Entscheidung des BFH v. 27.5.2009) Nach diesem Erlass33 sind die Grundsätze des oben genannten BFH-Urteils v. 27.5.200934, wonach Einnahmen eines ausländischen Sportvereins aus einer Transfervereinbarung mit einem inländischen Verein in der Form der sog. Spielerleihe keine – die beschränkte Steuerpflicht auslösenden – Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung durch die zeitlich begrenzte Überlassung eines Rechts i. S. d. § 50a Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 i. V. m. § 49 Abs. 1 Nr. 6 EStG seien, bis auf weiteres über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht allgemein anzuwenden. Interessant ist insoweit der Hinweis, dass die Grundsätze im Hinblick auf eine mögliche gesetzliche Neuregelung, die eventuell auch die Vergangenheit mit einbezieht, nicht anwendbar sein sollen35. Unbestritten ist es Aufgabe des Gesetzgebers, Steuergesetze zu erlassen. Unbestritten ist auch ein entsprechendes Initiativrecht der Exekutive. Ich möchte allerdings die Gelegenheit nutzen, um auf folgende Tendenz hinzuweisen, die in den letzten Jahren vermehrt zu beobachten war36: In jüngster Vergangenheit scheint die Grenze zwischen dem Steuergesetzgeber als Legislative und der Steuerverwaltung als Exekutive zunehmend zu verwischen. Hier drängt sich der Eindruck auf, als würde nicht nur die Initiative für neue Gesetze von der Verwaltung ausgehen, sondern als würde die Verwaltung dem Gesetzgeber nahezu die Hand führen37. Dies wird beispielsweise an diesem Nichtanwendungserlass deutlich, der eine gesetzliche Neuregelung nahezu schon ankündigt38.
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32 Regierungsentwurf BR-Drucks. 318/10 v. 28.5.2010; Anm.: Beschluss des Deutschen Bundestages am 28.10.2010. 33 BMF v. 7.1.2010 – IV C 3 – S-2411/07/10013. 34 BFH v. 27.5.2009 – I R 86/07, BStBl. II 2010, 120. 35 Die Ankündigung ist zeitnah umgesetzt worden: Im Regierungsentwurf des Jahressteuergesetzes 2010 findet sich eine entsprechende Regelung, nach der Steuerbarkeit die Steuerbarkeit der Transferentschädigungen im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht klarstellend geregelt werden soll. Es soll der bisher praktizierte Rechtszustand bei der Besteuerung von Sportlertransfers wieder hergestellt werden. Die Neuregelung soll nach der allgemeinen Anwendungsregelung in § 52 Abs. 1 EStG erstmals für den VZ 2010 anzuwenden sein; Anm.: Beschluss des Deutschen Bundestages am 28.10.2010. 36 Pezzer, DStR 2005, 525 (528). 37 Vgl. Deutsches wissenschaftliches Institut der Steuerberater e.V. (Hrsg.), Die Finanzverwaltung – ein Ersatzgesetzgeber?, DWS-Symposium 2005. 38 Für weitere Einzelheiten vgl. Deutsche wissenschaftliche Institut der Steuerberater e.V. (Hrsg.), Die Finanzverwaltung – ein Ersatzgesetzgeber?, DWS-Symposium 2005.
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Beispiele für diese Vorgehensweise gibt es viele: Mit dem Jahressteuergesetz 200839 ist das Rechtsinstitut der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen stark eingeschränkt worden. Nur noch solche Versorgungsleistungen sind jetzt als Sonderausgaben abzugsfähig, die mit der Übertragung eines Mitunternehmeranteils an einer Personengesellschaft zusammenhängen, deren Gesellschafter Gewinneinkünfte erzielen, sowie Versorgungsleistungen im Zusammenhang mit der Übertragung eines Betriebs oder Teilbetriebs. Eine Übertragung von GmbH-Anteilen fällt nur dann noch unter dieses Rechtsinstitut, wenn mindestens 50 % der Anteile übertragen werden und der Übergeber als Geschäftsführer tätig war und der Empfänger auch die Geschäftsführertätigkeit übernimmt. Eine Übertragung von vermieteten Grundvermögen, etwa von mehreren Mietwohngrundstücken, mit denen steuerpflichtige Erträge nach § 21 EStG erzielt werden, ist dagegen steuerbegünstigt gar nicht mehr möglich. Damit wurde der für die Steuerpflichtigen günstigen BFH-Rechtsprechung der Boden entzogen, nach der weitaus niedrigere Anforderungen an das übertragene Vermögen gestellt worden waren40. Ebenfalls im Jahressteuergesetz 200841 hat die Finanzverwaltung ihre Auffassung darüber festschreiben lassen, wie der Ermäßigungshöchstbetrag für die Anrechung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer in § 35 EStG zu ermitteln ist. Entgegen der BFH-Rechtsprechung sind Verluste aus anderen Einkunftsarten nicht mehr vorrangig mit den Einkünften aus anderen Einkunftsarten zu verrechnen, sondern anteilig auch den Einkünften aus Gewerbebetrieb zuzuschlagen. Dadurch ist das Anrechnungspotential für die Durchführung der Tarifermäßigung eingeschränkt worden42. Mit dem Jahressteuergesetz 200943 ist durch eine Änderung des § 15a EStG die Rechtsprechung des BFH in seinen Urteilen v. 14.10.200344 sowie v. 26.6. 200745 konterkariert worden. Der BFH hatte entschieden, dass Einlagen, die zum Ausgleich eines negativen Kapitalkontos geleistet und im Wirtschaftsjahr der Einlage nicht durch ausgleichsfähige Verluste verbraucht wurden, regelmäßig zum Ansatz eines Korrekturpostens führen. Verluste späterer Wirtschaftsjahre waren dann bis zum Verbrauch dieses Korrekturpostens auch dann als ausgleichsfähig zu qualifizieren, wenn hierdurch erneut ein negatives Kapitalkonto entstand oder sich erhöhte. Von seinem Ursprung her ist der § 15a EStG eine Norm, mit der Missbräuche im steuerlichen Umgang mit Verlusten verhindert werden sollen. Die vorliegende Änderung vermindert jedoch den eigentlich erwünschten Anreiz zur verbesserten Eigenkapitalausstattung der mittelständischen Wirtschaft. Die nachträgliche Ausstattung einer Personen-
__________ 39 40 41 42 43 44 45
Jahressteuergesetz 2008 v. 20.12.2007, BGBl. I 2007, 3150. Schmidt/Schwind, NWB 2007, 4597 ff. Jahressteuergesetz 2008 v. 20.12.2007, BGBl. I 2007, 3150. Wichert, NWB 2008, 921 ff. Jahressteuergesetz 2009 v. 19.12.2008, BGBl. I 2008, 2794. BFH v. 14.10.2003 – VIII R 32/01, BStBl. II 2004, 359. BFH v. 26.6.2007 – IV R 28/06, BFH/NV 2007, 1982.
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Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht
gesellschaft mit zusätzlichem Eigenkapital wird durch sie ungünstiger behandelt werden als die ursprüngliche Einlage46. Bei all diesen Sachverhalten stellt sich die Frage, wer tatsächlich ursächlich für die gesetzlichen Änderungen gewesen ist. Auch für die sog. Nichtanwendungsgesetze sollte gelten, dass sie nur im absoluten Ausnahmefall eingreifen, nämlich dann, wenn sie entweder ein misslungenes höchstrichterliches Urteil oder eine undurchsichtige Gesetzeslage, die eine Vielzahl von Auslegungen rechtfertigt, korrigieren. Zu kritisieren sind sie allerdings dann, wenn sie einen rechtsdogmatischen Fortschritt der Rechtsprechung rein aus fiskalischen Gründen aufhalten. Daneben sind in der laufenden Legislaturperiode die folgenden Nichtanwendungserlasse veröffentlicht worden: 3. Nebenleistungen zu Übernachtungsumsätzen (BFH-Urteil v. 15.1.2009) Der BFH hat mit diesem Urteil v. 15.1.200947 entschieden, dass es sich bei der Verpflegung von Hotelgästen um eine Nebenleistung zur Übernachtung handelt, die als Teil der Gesamtleistung am Ort des Hotels nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 UStG (seit 1. Januar 2010 § 3a Abs. 3 Nr. 1 UStG) steuerbar ist. Die Leistung wird auch dann am Belegenheitsort des Hotels ausgeführt, wenn es sich um Leistungen eines Reiseorganisators gegenüber anderen Unternehmern handelt. Auch hier hat die Finanzverwaltung mit einem Nichtanwendungserlass reagiert: Das BFH-Urteil ist bezüglich der Aussage, dass die Verpflegungsleistung eine Nebenleistung zur Übernachtungsleistung ist, nicht über den Einzelfall hinaus anzuwenden. Hintergrund ist die durch das sog. Wachstumsbeschleunigungsgesetz zum 1.1.2010 eingeführte Reduzierung des Umsatzsteuersatzes für die Vermietung und Verpachtung von Schlafräumen, die ein Unternehmer zur kurzfristigen Beherbergung von Fremden bereithält, sowie die kurzfristige Vermietung von Campingflächen auf 7 %. Die Neuerung wurde in § 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG eingebracht. Die Steuerermäßigung ist jedoch beschränkt auf die unmittelbar der Übernachtung dienenden Leistungen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sind davon das Frühstück und andere Nebenleistungen ausgenommen. Diese Auffassung vertritt auch die Finanzverwaltung in ihrer diesbezüglichen Äußerung v. 5.3.201048. Grundsätzlich liegt eine Nebenleistung allerdings vor, wenn sie im Vergleich zur Hauptleistung nebensächlich ist, mit ihr eng im Sinne einer wirtschaftlich gerechtfertigten Abrundung und Ergänzung zusammenhängt und üblicherweise in ihrem Gefolge vorkommt49. Dabei ist auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen, und das Frühstück ist zumindest bei gemeinsamer Buchung untrennbar mit der Übernachtung verbunden.
__________ 46 47 48 49
Wacker in Schmidt, 28. Aufl. 2010, § 15a EStG Rz. 184. BMF v. 4.5.2010 – IV D 2 – S-7100/08/10011. BMF v. 5.3.2010 – IV D 2 – S-7210/07/10003. BFH v. 10.9.1992 – V R 99/88, BStBl. II 1993, 316.
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Nach § 12 Abs. 2 Nr. 11 Satz 2 UStG n. F. gilt die Umsatzsteuerreduzierung bei Beherbergungsleistungen jedoch nicht für Leistungen, die nicht unmittelbar der Vermietung dienen, auch wenn sie mit dem Entgelt für die Vermietung abgegolten sind. Der Gesetzgeber hat damit den im Umsatzsteuerrecht geltenden Grundsatz, dass unselbstständige Nebenleistungen das „umsatzsteuerliche Schicksal“ der Hauptleistung tragen50, für Beherbergungsleistungen aufgehoben. Auch aus europarechtlicher Sicht ist der Nichtanwendungserlass problematisch. Er steht im Widerspruch zum Grundsatz, dass Haupt- und Nebenleistung umsatzsteuerlich gleich zu behandeln sind. 4. Umsatzsteuerrechtliche Organschaft nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG (BFH-Urteil v. 29.1.2009) Der BFH hat mit diesem Urteil51 entschieden, dass die wirtschaftliche Eingliederung aufgrund der Vermietung eines Grundstücks, das die räumliche und funktionale Grundlage der Geschäftstätigkeit der Organgesellschaft bildet, entfällt, wenn für das Grundstück Zwangsverwaltung und Zwangsversteigerung angeordnet wird. Auch dieses BFH-Urteil ist nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden52. Ob die Nichtanwendung der BFH-Rechtsprechung in diesem Fall mehrheitlich negative Auswirkungen für die Unternehmen hat, kann derzeit noch nicht abschließend beurteilt werden. Das Bestehen einer Organschaft kann zu einem bestimmten Zeitpunkt abhängig vom konkreten Einzelfall entweder erwünscht oder unerwünscht sein. Hier müssen die Folgen im konkreten Fall geprüft und die Konsequenzen diskutiert werden. In Fällen, die sich nachteilig auswirken, hilft nur die erneute Beschreitung des Klageweges. Neben diesen 4 Nichtanwendungserlassen, die durchaus kritisch zu sehen sind, gibt es auch einen, der für die Praxis tatsächlich eine Erleichterung darstellt: 5. Ausgleichszahlungen an außenstehende Anteilseigner (BFH-Urteil v. 4.3.2009) Der BFH hat mit oben genanntem Urteil entschieden, dass die Vereinbarung von Ausgleichszahlungen des beherrschenden Unternehmens an einen außenstehenden Aktionär der beherrschten Gesellschaft der körperschaftsteuerrechtlichen Anerkennung eines Gewinnabführungsvertrages entgegensteht, wenn neben einem bestimmten Festbetrag ein zusätzlicher Ausgleich in jener Höhe vereinbart wird, um die der hypothetische Gewinnanspruch des Außenstehenden ohne die Gewinnabführung den Festbetrag übersteigen würde. Es liege dann keine Abführung des gesamten Gewinns an den Organträger vor53.
__________ 50 51 52 53
Abschn. 29 Abs. 5 Umsatzsteuer-Richtlinien (UStR) 2008. BFH v. 29.1.2009 – V R 67/07, BStBl. II 2009, 1029. BMF v. 1.12.2009 – IV B 8 S-7105/09/10003. BFH v. 4.3.2009 – I R 1/08, BStBl. II 2010, 407.
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Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht
Nach Auffassung der Finanzverwaltung sind die Rechtsgrundsätze des Urteils über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht anzuwenden54. Das Urteil stehe nicht im Einklang mit § 14 Abs. 1 Satz 1 KStG und den Grundsätzen des § 304 AktG. Da § 304 Abs. 2 Satz 1 AktG nur das Minimum des aktienrechtlich vorgeschriebenen Ausgleichs festlege, stehe eine darüber hinausgehende zivilrechtlich zulässigerweise vereinbarte Ausgleichszahlung der Durchführung des Gewinnabführungsvertrags nicht entgegen. Diesem Nichtanwendungserlass ist zugute zu halten, dass er eine zwar knappe aber nachvollziehbare Begründung mit Verweis auf zivilrechtliche Grundsätze enthält und keinen fiskalistischen Ansatz verfolgt. Aus der Sicht der betroffenen Unternehmen, bei denen die Nichtanerkennung der Organschaft schwerwiegende finanzielle Konsequenzen nach sich zöge, ist hier das Ansinnen der Finanzverwaltung, dem BFH Gelegenheit zur Überprüfung seiner Rechtsauffassung zu geben, ausnahmsweise zu unterstützen.
V. Fazit All diese Beispiele zeigen deutlich: Im Sinne der gebotenen gleichmäßigen Rechtsanwendung kann nur ein restriktiver Gebrauch von Nichtanwendungserlassen im begründeten Ausnahmefall zulässig sein. Nichtanwendungserlasse beeinträchtigen die Rechtssicherheit wie oben ausführlich dargestellt. Der einzelne Steuerpflichtige kann sich nicht darauf verlassen, dass entsprechende Rechtsprechung des BFH auch in seinem Fall zur Anwendung kommt. Im Hinblick auf das immer komplizierter werdende Steuerrecht kommt diese Facette für den Einzelnen erschwerend hinzu. Ein ausufernder Gebrauch von Nichtanwendungserlassen würde den Steuerpflichtigen in eine Vielzahl von Rechtsverfahren treiben. Das BMF hat zwar inzwischen auf Anfrage erklärt, dass sich der Gebrauch des Instruments quantitativ in Grenzen hält: So erklärte die damalige parlamentarische Staatssekretärin im BMF, Nicolette Kressl, am 12.12.2008 auf eine Anfrage, dass die obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder seit dem 1.1.1998 zu 65 Entscheidungen des BFH einen Nichtanwendungserlass veröffentlicht haben55. Doch sagt diese Zahl wenig aus, wenn die jeweilige Bedeutung der Urteile für die Steuerpflichtigen nicht berücksichtigt wird. Dazu kommt: Immer wenn zum Instrument des Nichtanwendungserlasses gegriffen wird, macht das unser Steuerrecht intransparenter und es besteht die Gefahr, die Zahl der anhängigen Verfahren dadurch noch weiter aufzublähen. Es wäre wünschenswert, wenn die Finanzminister des Bundes und der Länder einsehen, wie schwer das Instrument des Nichtanwendungserlasses die Rechtssicherheit beeinträchtigen kann. Es darf nur äußerst restriktiv eingesetzt werden, das heißt im absoluten und konkret begründeten Ausnahmefall. Alles andere gefährdet die gleichmäßige Rechtsanwendung und die Gewaltenteilung.
__________ 54 BMF v. 20.4.2010 – IV C 2 – S-2770/08/10006. 55 Vgl. BT-Drucks. 16/11477.
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Werner Widmann
Die Kooperationsstrategie als Mittel zum gleichmäßigen Vollzug des Steuerrechts im Rahmen der Tax Compliance Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Was verstehen wir unter Tax Compliance? III. Praktische Erfahrungen 1. Öffnungszeiten der Finanzämter 2. Hinwendung zur elektronischen Kommunikation 3. Black-Box
4. Sofortprüfung 5. Liquiditätsprüfung 6. Verpflichtung zur Erteilung von Abbuchungsermächtigungen bei der Kraftfahrzeugsteuer 7. Verhaltenskodex mit den Steuerberatern IV. Schlussbemerkung
I. Vorbemerkung Die zahlreichen persönlichen Begegnungen des Jubilars mit dem Verfasser bei vielerlei steuerrechtlichen Veranstaltungen waren immer geprägt von der gemeinsamen und verbindenden Vorstellung, dass es wünschenswert und möglich sein müsse, das Steuerrecht in einer Weise zu vollziehen, dass der Bürger in seiner durchaus vorhandenen Einsicht in die Notwendigkeit der Besteuerung nicht verstört wird. Und kaum etwas kann dieses Ziel mehr gefährden als der ungleichmäßige Vollzug, für den die Verwaltung verantwortlich ist. Das spürt dann über steigende Eingänge auch die Finanzgerichtsbarkeit. Sind Vollzugsdefizite schon strukturell in einem Steuergesetz selbst angelegt1, dann verkommt die Norm zur „Dummensteuer“, denn die Gesetzesadressaten werden sich erfahrungsgemäß in erheblichem Umfang so einrichten, dass sie der Besteuerung entgehen können2. Das ist zwar in einem Rechtsstaat schlimm genug, lässt sich aber, wenn die Politik es will, durch eine zeitnahe Reaktion des Gesetzgebers wieder, jedenfalls mit Wirkung für die Zukunft, einfangen. Beim ungleichmäßigen Vollzug, der durch unzweckmäßige organisatorische Maßnahmen, mangelnde Koordination oder unsorgfältige Dienstaufsicht innerhalb der Verwaltung ausgelöst wird, ist aber die Verwaltung selbst verantwortlich und daher auch berufen, Mängel möglichst von vornherein zu vermeiden, jedenfalls aber erkannte Mängel schnellstmöglich abzustellen. Sie darf nicht etwa auf die Rechnungshöfe warten oder gar darauf setzen, dass diese die defizitäre Praxis nicht entdecken.
__________ 1 Vgl. BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (Zinsbesteuerung); v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 (Spekulationsgewinne). 2 Vgl. Tipke, StuW 2004, 3; Seer in DStJG 31 (2008), S. 7.
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Werner Widmann
Tax Compliance aus der Sicht der Finanzverwaltung kann nicht die Aufgabe bewältigen, die Bürger von der Notwendigkeit der Steuer als solcher zu überzeugen. Dazu müsste z. B. auch eine Auseinandersetzung stattfinden mit Vorstellungen, wie sie jüngst Peter Sloterdijk über die Ablösung des Zwangsabgabensystems durch freiwillige Gaben der Bürger entwickelt hat3. Auch die von Großketteler propagierten Modelle des Entgeltstaates4 wären in derartige Diskussionen einzubeziehen. Solche Debatten zum System einer zweckmäßigsten Staatsfinanzierung sind selbstverständlich legitim und notwendig und auch Angehörige der Finanzverwaltung, erst recht in politiknahen Funktionen, dürfen und müssen sich an ihnen beteiligen5. Das mag alles einigermaßen idealistisch klingen – zugegeben. Aber praxisfern muss es nicht sein, auch wenn wir durch die jüngste Welle der Selbstanzeigen im Gefolge der von der Finanzverwaltung angekauften Datenträger mit Hinweisen auf im Ausland erzielte, aber im Inland nicht versteuerte Kapitaleinkünfte haben feststellen müssen, dass die Beobachtung einer seit Jahren eher schwindenden Steuermoral leider doch sehr treffend erscheint. Das durch dieses Verhalten der Steuerbürger und der Steuerverwaltung bestimmte Steuerklima darf darunter aber nicht leiden, denn noch immer ist die große Zahl der Steuerpflichtigen in Deutschland bereit und willens zur korrekten Befolgung des Steuerrechts. Diese Wahrnehmungen sind nicht nur ein Phänomen in Deutschland. Es erscheint durchaus bemerkenswert, dass auch z. B. in der Schweiz davon gesprochen wird, dass „das grundsätzlich auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen basierende schweizerische Steuerklima nach immer wieder etwa gehörter Auffassung in den letzten Jahren da und dort gelitten hat“6. Als Gründe dafür werden z. B. angeführt die zunehmende Internationalisierung von Unternehmensstrukturen und Geschäftsbeziehungen und die damit verbundene Einwirkung ausländischer „Steuerkulturen“, der schärfere Wettbewerb in der Steuer- und Unternehmensberatung, die durch die Medien publizierten „Ratings“ von Steuerberatung und Steuerverwaltungen, die Defizite der verschiedenen öffentlichen Hände. Alle diese Gründe lassen sich auf Deutschland übertragen. Sie sind wohl eine weltweite Erscheinung. Die Studien des ifo-Instituts zum Umsatzsteuerausfall in Europa auf Grund von Hinterziehung und organisiertem Betrug sind erschreckend7. Da wird man mit Schneider8 resignierend feststellen müssen, dass
__________ 3 FAZ v. 10.6.2009. 4 FAZ v. 23.4.2010. 5 Der Verfasser ist dem Jubilar herzlich dankbar für die bei vielen Begegnungen erfahrene Ermutigung zur Teilnahme an diesem Diskurs. Das geht einher mit den besten Wünschen für den Jubilar in seinem neuen Lebensabschnitt in der Hoffnung auf eine Fortsetzung dieses Dialogs. 6 Vgl. Der Schweizer Treuhänder 12/2003, 1113. 7 Vgl. Parsche, ifo-Schnelldienst 12/2008; siehe auch Widmann in DStJG 32 (2009), S. 103. 8 Vgl. Tagungsbericht der Stiftung Marktwirtschaft „Guter Staat – böse Bürger? – Schattenwirtschaft und Steuerhinterziehung“ v. 18.1.2010.
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Die Kooperationsstrategie als Mittel zum gleichmäßigen Vollzug
es gegenüber der organisierten Steuerkriminalität – ebenso wie beim allgemeinen Strafrecht – keine wirklich aussichtsreichen Möglichkeiten zur Verbesserung des Steuerklimas gibt durch Maßnahmen der sog. Tax Compliance.
II. Was verstehen wir unter Tax Compliance? Das dennoch hier propagierte maßgebende Verständnis der Tax Compliance – es gibt keine schlagwortartige Übersetzung dazu9 – meint Strategien und Maßnahmen der Verwaltung, die dazu dienen, die Rechtsunterworfenen zu einer verbesserten Einhaltung der Steuergesetze anzuhalten10. Auch wenn das Steuerrecht klassisches Eingriffsrecht ist, kann und muss versucht werden, die auf Dauer und Wiederholung angelegte Begegnung von Bürger und Steuerstaatsgewalt nicht nur mit den Mitteln der herkömmlichen Eingriffsverwaltung zu organisieren. Vielmehr sollte es möglich sein, im Rahmen einer Kooperation die Befolgung der steuerlichen Vorschriften zu erleichtern. Ansätze dazu sollten insbesondere auch in verfahrensmäßiger Hinsicht gesucht werden. Dort gibt es meistens, anders als im materiellen Recht, weniger fiskalische Folgen, für die im politischen Prozess immer nach einer sog. Gegenfinanzierung verlangt wird. Streck/Binnewies11 lehnen dieses Verständnis der Tax Compliance ab mit dem Argument, es sei nicht Inhalt der Steuergesetze, der Finanzverwaltung die Arbeit leichter zu machen. Es könne daher ein probates und mit Tax Compliance zu vereinbarendes Mittel sein, dem Handeln der Finanzverwaltung arbeitsintensive Steine in den Weg zu legen, um die eigene Auffassung durchzusetzen. Das gelte übrigens auch bei finanzgerichtlichen Auseinandersetzungen. Es ist müßig, hier darüber zu streiten, ob dies dem Inhalt des Begriffs Tax Compliance auch beizumessen ist. Wir wollen hier jedenfalls die Kooperationsmaxime als wesentliches Element der Tax Compliance begreifen – und damit wäre die von Streck/Binnewies für manche Situation propagierte Konfrontationsstrategie nicht in Einklang zu bringen. Das freilich zeigt schon eine unbestreitbare Schwäche der Bemühungen der Verwaltung um Tax Compliance auf: Es ist nur ein Angebot an die kooperationswilligen Steuerpflichtigen, den man deshalb auch zutreffender Steuerbürger nennen sollte, auch wenn die Abgabenordnung diesen Begriff (bisher) nicht kennt. Auch die Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie12, die immerhin die umsatzsteuerIichen Pflichten aller Unternehmer in der EU regelt, spricht nur vom Steuerpflichtigen und meint damit den Unternehmer. Immerhin darf
__________ 9 10 11 12
So auch Streck/Binnewies, DStR 2009, 229. Ähnlich Seer, StuW 2003, 40; ders., FR 2004, 1037; ders., DStJG 31 (2008), S. 7. DStR 2009, 229. V. 28.12.2006, ABl. EU Nr. L 347/1 v. 11.12.2006.
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Werner Widmann
daran erinnert werden, dass im römischen Reich das Bekenntnis „civis romanus sum“ auch bedeutete, dass man sich damit zu seiner Steuerpflicht bekannte13. Nicht selten wird heutzutage von Kunden der Finanzämter gesprochen. Auch wenn es Mode geworden ist, die Modernisierung der Verwaltung mit Begriffen aus dem Marketing unter Beweis zu stellen – und Kundenorientierung gehört u. a. auch zu diesen oft verwendeten Begriffen – sollte man die semantischen Grenzen dieser Begriffe nicht ohne Not überschreiten. Der Kunde sucht sich nämlich typischerweise seinen Lieferanten oder Dienstleister selbst aus, verhandelt im Rahmen der Privatautonomie auf gleicher Ebene und beendet u. U. einseitig die Geschäftsbeziehung ggf. grundlos und nach unkontrolliertem Gutdünken. Es versteht sich von selbst, dass von all dieser Gleichberechtigung im Verhältnis zwischen Steuerbürger und Steuerverwaltung keine Rede sein kann, denn es bleibt dabei, dass die materiellen Steuergesetze sich mit einem recht einseitigen Anspruch des Staates an den Steuerbürger richten, der zunächst Steuersubjekt ist. Auch die Verfahrensvorschriften verteilen die Durchsetzungsbefugnisse sehr klar zu Gunsten der Verwaltung. Zu allem gibt es nur die Rechtsschutzgarantie. Waldhoff14 spricht daher zutreffend vom Steuerschuldverhältnis als dem Prototyp einer verdichteten Staat-/Bürgerbeziehung, die durch die Durchsetzungsmöglichkeit des Fiskus gekennzeichnet ist. Also: Der Finanzamtskunde mag umgangssprachlich durchgehen15, er ist aber ein der Sache eher schädlicher Euphemismus. Der demokratisch legitimierte Fiskus sollte diesen Begriff gar nicht nötig haben. Die Geschäftsordnung der Finanzämter v. 3.1.200216 führt zum Verhältnis Bürger – Verwaltung unter 1.2.1 nur Folgendes aus: „Das Finanzamt ist ein dem Gemeinwohl verpflichteter Dienstleister. Die Beschäftigten nehmen ihre Aufgaben höflich und mit Verständnis für die Belange der Bürger wahr und erledigen deren Anliegen sachgerecht und zügig. Sie erteilen verständliche Auskunft und gewähren notwendige Hilfe.“
Das ist für sich gesehen sicher alles richtig, aber es atmet doch noch stark die überkommene Distanz zwischen dem Bürger und der obrigkeitlichen Verwaltung. Und eigentlich könnte man mit dieser Art Anweisung auch ein Kreiskrankenhaus oder ein Sozialamt führen. Die vom Ministerium der Finanzen Rheinland-Pfalz am 30.3.2007 erlassenen „Ergänzenden Bestimmungen“ zur Geschäftsordnung der Finanzämter17 suchen
__________ 13 Der von John F. Kennedy daraus abgeleitete Satz „Ich bin ein Berliner“ wird diesen Sinn kaum gehabt haben, denn er war damals im geteilten Berlin eher als ein Fanal zur selbstbestimmten Freiheit gemeint. Zur Standortwahl der Unternehmen unter dem Gesichtspunkt der Steueroptimierung siehe Kirchhof in DStJG 30 (2007), S. 1. 14 In DStJG 27 (2004), S. 138. 15 In Bayern gibt es dazu sogar die liebevolle Bezeichnung „Pflichtel“, vgl. E. Schmidt in DStJG 31 (2008), S. 37. 16 FAGO, BStBl. I 2002, 540. 17 EB-FAGO, O 2120 A – 449.
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Die Kooperationsstrategie als Mittel zum gleichmäßigen Vollzug
hier einen deutlich anderen Zugang, wenn sie Folgendes anordnen, ergänzend zu Abschnitt 1.2 FAGO. „Zur Erfüllung des ihr übertragenen Auftrags verfolgt die Steuerverwaltung RheinlandPfalz eine Strategie der Kooperation mit dem Steuerbürger. Ziel ist die Erhöhung der Einsicht in die Notwendigkeit, Steuern zu entrichten und die Steigerung der Bereitschaft, die steuerlichen Pflichten freiwillig und korrekt zu erfüllen. Hierzu unterstützt und honoriert sie gesetzeskonformes Verhalten. Sie kontrolliert die Einhaltung der Gesetze effektiv und risikoorientiert und achtet darauf, dass den Rechtstreuen durch ihr Verhalten kein Nachteil entsteht. Auf steuerunehrliches Verhalten und Nichtkooperation reagiert sie mit adäquaten Konsequenzen.“
Man mag für das Anliegen der Tax Compliance aus der Sicht der Verwaltung vielleicht andere Worte finden18, aber als Ergebnis des Projekts Finanzverwaltung – PROFIN, das in den Jahren 2003 bis 2007 unter Mitarbeit von mehr als 300 Angehörigen der rheinland-pfälzischen Finanzverwaltung durchgeführt wurde mit dem Ziel, eine „Strategie mit Zukunft“ zu arbeiten, darf diese Auftragsbeschreibung doch ein hohes Maß an Praxisorientierung in Anspruch nehmen. Die Kooperationsstrategie macht sich zunutze, dass der Steuerbürger nach den Erkenntnissen der Finanzpsychologie19 keineswegs immer nur im Denken des allein auf seinen größten persönlichen Vorteil ausgerichteten homo oeconomicus verhaftet ist. Er ist vielmehr auch als homo reciprocans ansprechbar, wenn ihm daraus ein Nutzen erwächst, der z. B. auch in der Gewährleistung der Gleichheit liegen kann. Dann ist er durchaus bereit, am Vollzug eines fairen Steuerrechts und Steuerverfahrens mitzuwirken. Maßgebend dafür ist sein Vertrauen in die – vom Fiskus überwachte – Steuermoral der Mitbürger. Also muss sich die Steuerverwaltung bemühen, dieses Vertrauen zu stärken20. In den Niederlanden gibt es seit langem vergleichbare Ansätze, wobei sogar verbindliche Absprachen über Verwaltungsabläufe mit den Steuerbürgern getroffen werden. In Großbritannien werden diese Ziele der Tax Compliance als sog. Tax Partnership gelebt21. Die Erfahrungen in diesen Ländern zeigen, dass eine bessere Einhaltung der Steuergesetze durch die Bürger weniger Kontrollen verlangt und dadurch der Verwaltung die Konzentration auf Risikofälle ermöglicht.
III. Praktische Erfahrungen Im Folgenden sollen einige praktische Erfahrungen insbesondere aus der Finanzverwaltung Rheinland-Pfalz vorgestellt werden.
__________ 18 Siehe z. B. E. Schmidt in DStJG 31 (2008), S. 37 (41). 19 Siehe die Studie von Kienbaum Management Consultants GmbH/Bertelsmann Stiftung „Compliance – Eine bürgerorientierte Strategie der Steuerverwaltung“, BerlinGütersloh, 2001. 20 Vgl. Seer, StuW 2003, 40. 21 Vgl. Nieskens, UR 2009, 408.
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1. Öffnungszeiten der Finanzämter Es mag banal wirken, wenn auch die Öffnungszeiten der Finanzämter als Beitrag zur Tax Compliance angeführt werden. Aber wenn man die Komponente „Servicemanagement“ als einen wichtigen Teil der Kooperationsstrategie versteht, dann muss natürlich für den Bürger es auch möglich sein, persönlich und zu zumutbaren Zeiten mit den Bediensteten zu kommunizieren, die für seinen Fall zuständig sind. Rheinland-Pfalz hat deshalb nach vielfältigem Hin und Her seit einigen Jahren wieder die Finanzämter mindestens 40 Stunden in der Woche geöffnet. Dazu sind besondere Service-Center eingerichtet worden, in denen Besucher mit ihrem Anliegen vorsprechen können. Sie brauchen also nicht in den Fluren der Finanzämter erst lange nach den Zimmern zu suchen, in denen sie kompetente Mitarbeiter anzutreffen hoffen. Vielmehr werden sie von solchen bereits in diesen Service-Centern „bedient“. Das Ziel ist es, möglichst in den Servicestellen zu einer Klärung des Sachverhalts zu kommen, um so schriftliche Rückfragen zu vermeiden. Für die schwierigeren Fälle, die dann in die Veranlagungsstellen gegeben werden, findet auch schon eine Vorklärung statt. Zugleich lenkt dies die Besucherströme in den Finanzämtern nicht in das ganze Haus, so dass dort auch keine Sicherheitsprobleme auftreten und das dort beschäftigte Personal ungestört arbeiten kann. Serviceangebote dieser Art verursachen zwar erheblichen personellen Aufwand, aber sie haben auch die beschriebenen Sekundäreffekte, die man nicht gering schätzen sollte. 2. Hinwendung zur elektronischen Kommunikation Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Präsenzangebote für das persönliche Erscheinen der Steuerbürger in den Finanzämtern in einem gewissen Widerspruch stehen zu dem Bemühen, im Interesse der Vermeidung von Medienbrüchen und zur Beschleunigung der Arbeitsabläufe die Kommunikation zwischen Bürgern und Finanzverwaltung in möglichst großem Umfang elektronisch zu organisieren. Die Verpflichtung z. B. zur elektronischen Abgabe der Lohnsteueranmeldungen (§ 41a Abs. 1 EStG), Umsatzsteuer-Voranmeldungen (§ 18 Abs. 1 UStG) sowie der Zusammenfassenden Meldungen (§ 18a Abs. 1 UStG) und – sogar europaweit – der Umsatzsteuer-Vergütungsanträge (§ 18 Abs. 9 UStG i. V. m. § 61 UStDV) zeigen die Richtung an, in die sich die Entwicklung bewegt. Die Einführung der elektronischen Lohnsteuerkarte ab dem Jahr 201122 ist ein weiteres markantes Datum23. Ebenso zu nennen ist die Verpflichtung zur elektronischen Übermittlung der Bilanzen sowie Gewinn- und
__________ 22 § 39 Abs. 1 EStG regelt die letztmalige Erteilung der „alten“ Lohnsteuerkarte für das Jahr 2010. 23 Siehe dazu den ab 1.1.2011 im Regierungsentwurf des Jahressteuergesetzes 2010 (BR-Drucks. 318/10 v. 28.5.2010) vorgesehenen § 52b EStG.
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Verlustrechnungen gem. § 5b EStG für Wirtschaftsjahre, die nach dem 31.12. 2010 enden24. Der weitgehende Verzicht auf die Belegvorlage, der den Teilnehmern am ELSTER-Verfahren von der Verwaltung angeboten wird25, zeigt aber, dass es durchaus möglich ist, im Rahmen der Tax Compliance auch gleichsam belohnende Angebote zu machen. Der Verzicht auf die generelle Belegvorlage muss selbstverständlich einhergehen mit einem Risikomanagementsystem, das durch Zufallsgenerator gesteuerte Kontrollen die Geltung des Verifikationsprinzips für die Steuerbürger weiterhin sichtbar macht. Andernfalls wäre die Versuchung zur unkorrekten Angabe in den Steuererklärungen für allzu viele Bürger wohl doch zu groß26. Mit einer Telefonhotline, die auch Informationsangebote zu aktuellen Steuerfragen wie in jüngster Zeit z. B. der Rentenbesteuerung anbietet, häufig aktuell angestoßen auch durch Sendungen mit entsprechendem Inhalt in den Fernsehprogrammen, werden – dahin geht jedenfalls die Hoffnung der rheinlandpfälzischen Finanzverwaltung – viele Zweifelsfragen schon im persönlichen Telefongespräch so geklärt, dass die Steuererklärungen dann weitgehend vollständig und richtig ausgefüllt in den Finanzämtern eingehen. Das erleichtert die anschließende Bearbeitung in erheblichem Umfang. 3. Black-Box Vollständige und zutreffend ausgefüllte Steuererklärungen, möglichst elektronisch übermittelt, können dann im Rahmen des Risikomanagements in Rheinland-Pfalz in einem sog. Black-Box-Verfahren maschinell geprüft werden. Anhand bestimmter Risikoparameter werden einkunftsartbezogen dabei Abweichungen und Auffälligkeiten sowie Plausibilitäten festgestellt, die darüber entscheiden, ob eine personelle Bearbeitung nötig ist oder ob sofort der Steuerbescheid ergehen kann. Das ist zwar noch nicht die Selbstveranlagung, zu der wir längerfristig bei der Einkommensteuer kommen sollten, aber immerhin: Die Steuerfestsetzung erfolgt anhand geprüfter und für zutreffend befundener Angaben des Steuerbürgers. Das sollte mit der im Koalitionsvertrag der gegenwärtigen Bundesregierung angekündigten vorausgefüllten Steuererklärung noch unterstützt werden. Mit dieser gewichteten Arbeitsweise werden die Durchlaufzeiten verkürzt und nicht lohnenswerte Rückfragen vermieden. Das entlastet Bürger und Verwaltung. Zugleich ist es auch eine Demonstration des Vertrauens der Verwaltung in die Angaben der Bürger. Der internen Steuerung der Überprüfungsintensität dient auch ein sog. Risikomerker mit den Stufen 1 bis 4, den die Bearbeiter einem Fall zuweisen. Damit wird die Prüfungswürdigkeit bestimmter Vorgänge im laufenden Jahr oder in
__________ 24 Siehe dazu BMF v. 19.1.2010 – IV C 6 – S 2133-b/0 2009/0865962, BStBl. I 2010, 47. 25 Vgl. die Startseite von ELSTER FORMULAR – https://www.elster.de/elfo-home.php. 26 Siehe dazu E. Schmidt in DStJG 31 (2008), S. 37 (43).
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künftigen Jahren dokumentiert. Dies ist hilfreich auch für den Fall des Bearbeiterwechsels im Veranlagungsbezirk. 4. Sofortprüfung Dem Risikomanagement dient auch das Angebot der sog. Sofortprüfung. Damit wird der rasche Aufgriff der Risikofälle unmittelbar nach Eingang der Steuererklärung für einen Veranlagungszeitraum durch die Betriebsprüfung ermöglicht. Bekanntlich leidet die Zeitnähe der Betriebsprüfung darunter, dass bisher regelmäßig mindestens drei Veranlagungszeiträume gemeinsam geprüft werden, so dass mitunter recht lange zurückliegende Sachverhalte nur noch schwer aufzuklären sind. Außerdem muss häufig bereits längst ausgelaufenes Recht noch angewandt werden. Das beeinträchtigt natürlich auch die Rolle der Finanzgerichte und vor allem des BFH bei der Aufgabe der Sicherstellung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und ihrer Fortbildung. Die Erfahrungen in Rheinland-Pfalz bei der Sofortprüfung zeigen, dass insbesondere auch die Steuerberater an rasch abschließend erledigten Prüfungen interessiert sind. Das erhöht die Planungssicherheit, die bekanntlich mitunter wichtiger ist als die Höhe des schließlich zu zahlenden Steuerbetrages. Daher gibt es bundesweit zudem verschiedene Modelle zur sog. zeitnahen Betriebsprüfung, die aber zumeist nicht so zeitnah ist wie die Sofortprüfung. Umstritten ist dabei z. B. die Frage, ob die zeitnahe Betriebsprüfung voraussieht, dass eine Steuererklärung abgegeben wurde. 5. Liquiditätsprüfung Ebenso wie in Nordrhein-Westfalen gibt es in Rheinland-Pfalz seit einiger Zeit – auch als Ergebnis von PROFIN – die sog. Liquiditätsprüfung, die bei Anträgen auf Stundung, Erlass oder Vollstreckungsaufschub durchgeführt wird. Die Verwaltung kann sich so schnell über die Zahlungsprobleme des Betroffenen kundig machen und erfahrungsgemäß in vielen Fällen langwierige Vollstreckungsmaßnahmen vermeiden, zumal im Insolvenzfall dann häufig nach Anfechtungen ein Teil der beigetriebenen Steuerbeträge wieder ausgezahlt werden muss. Die Liquiditätsprüfung trägt zur Vermeidung solch die Vollstreckungsstellen frustrierender Ereignisse bei. 6. Verpflichtung zur Erteilung von Abbuchungsermächtigungen bei der Kraftfahrzeugsteuer Es mag irritieren, dass in diesem Zusammenhang auch die Verpflichtung zur Erteilung von Abbuchungsermächtigungen bei der Kraftfahrzeugsteuer erwähnt wird. Nachdem sich gezeigt hatte, dass in Rheinland-Pfalz ca. ein Drittel der Rückstandsanzeigen in den Vollstreckungsstellen auf die Kraftfahrzeugsteuer entfallen, war es naheliegend, die Erteilung einer Abbuchungsermächtigung für die Kraftfahrzeugsteuer bei der Zulassung von Kraftfahrzeugen zu verlangen. 570
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Grundlage dafür ist § 13 Abs. 1 KfzStG27. Das wurde teilweise als unverhältnismäßig gebrandmarkt. Die Verwaltungsgerichte haben aber die Rechtmäßigkeit der entsprechenden Normen in Rheinland-Pfalz bestätigt28. Das gehört insofern eben doch zu unserem Thema als Kooperation gelegentlich auch mit einem gewissen Druck erreicht werden darf: Wenn die Verwaltung bei der Erhebung einer Steuer wegen der unpünktlichen Zahlungsweise allzu vieler Steuerbescheidadressaten, die bei der Kraftfahrzeugsteuer ja nicht jährlich einen Steuerbescheid bekommen, im Mahn- und Vollstreckungswesen übermäßig belastet wird – mit häufig sehr kleinen Beträgen –, dann muss der Fiskus das so preiswert wie möglich organisieren dürfen. Und das schließt dann auch die – übrigens jederzeit widerrufbare – Verpflichtung zur Erteilung von Abbuchungsermächtigungen ein. Die Erfahrungen in Rheinland-Pfalz zeigen inzwischen eine völlig eingespielte und weitgehend streitfreie Praxis. Damit wird die Verwaltung billiger; der Bürger braucht die Zahlungstermine nicht zu überwachen. Es zeigt sich auch hier: Die Interventionskosten der Verwaltung sollte man beim Aufkommen einer Steuerart nicht aus dem Auge verlieren. 7. Verhaltenskodex mit den Steuerberatern Das Verhältnis zwischen Steuerbürgern und Steuerverwaltung wird in Deutschland ganz wesentlich auch geprägt von den Angehörigen der steuerberatenden Berufe. Ohne deren Mitwirkung käme die ordnungsmäßige Verwaltung sicher alsbald zum Erliegen. Der von Seer dafür verwendete Begriff der „Vitalfunktion“ der Steuerberater für die Verwaltung29 ist bestimmt nicht übertrieben. Die Steuerberaterkammer Rheinland-Pfalz, der Steuerberaterverband Rheinland-Pfalz und das Ministerium der Finanzen Rheinland-Pfalz haben nach längeren Beratungen am 7.5.2008 zur Dokumentation des gegenseitigen Respekts und des Bemühens um eine vertrauensvolle Zusammenarbeit einen Verhaltenskodex entwickelt, für den es ein Vorbild in der Schweiz gibt. Er lautet wie folgt: „Verhaltenskodex für Steuerverwaltung und Steuerberater in Rheinland-Pfalz I. Vorwort In Rheinland-Pfalz ist von jeher der Umgang von Steuerberatern und Steuerverwaltung miteinander von gegenseitigem Respekt und Vertrauen sowie Verständnis für die Position des jeweils anderen geprägt.
__________ 27 Dazu ist in Rheinland-Pfalz die Landesverordnung über die Mitwirkung der Zulassungsbehörden bei der Verwaltung der Kraftfahrzeugsteuer v. 2.3.2004 ergangen (GVBl. 2004, 237), deren § 1 verlangt, dass die Zulassung grundsätzlich nur erfolgen darf, wenn eine Einzugsermächtigung vorliegt und keine Kfz-Steuer-Rückstände bestehen. 28 Siehe OVG Rheinland-Pfalz v. 29.8.2005, 7 A 10872/05.OVG; vgl. Pressemeldung des OVG Rheinland-Pfalz v. 12.9.2005. 29 Seer in DStJG 31 (2008), S. 7 (31).
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Werner Widmann Ein konstruktives, auf gegenseitigem Vertrauen basierendes Verhältnis zwischen Steuerberatern, Steuerbürgern und Steuerverwaltung ist für alle Beteiligten eine wichtige Rahmenbedingung. Offenheit und Dialogbereitschaft von Seiten aller Betroffenen können das Besteuerungsverfahren beschleunigen, gleichzeitig bürokratische Hürden abbauen und auf beiden Seiten Ressourcen schonen. Aus dem in Rheinland-Pfalz etablierten gemeinsamen Verständnis von Kooperation auf der einen und der Durchsetzung der Rechte und Pflichten des Steuerbürgers auf der anderen Seite haben die Steuerberaterkammer, der Steuerberaterverband und die Steuerverwaltung Rheinland-Pfalz gemeinsam den vorliegenden Verhaltenskodex entwickelt, der grundsätzliche Regeln der Zusammenarbeit formuliert. Er soll helfen, das bislang gute Steuerklima in Rheinland-Pfalz zu erhalten und zu festigen und ungeachtet der unterschiedlichen Ausgangslagen und Interessen der Steuerverwaltung und der Steuerbürger, bzw. deren Vertreter, der Steuerberater in RheinlandPfalz, die gemeinsame Verantwortung für eine sachgerechte Anwendung des Steuerrechts fördern. Der Kodex beschreibt damit die in Rheinland-Pfalz gelebte, auf gegenseitige Achtung und Vertrauen gegründete Sacharbeit, um diese auch für die Zukunft zu sichern. II. Allgemeine Leitlinien – – – –
Menschen und Sachfragen von einander getrennt behandeln Nicht Positionen, sondern Interessen in den Mittelpunkt stellen Unabhängigkeit im Urteil und im Handeln wahren Für den Dialog offen sein.
III. Regeln der Zusammenarbeit – Fairness, Respekt und Vertrauen entgegenbringen und voraussetzen – Natürliches Vertrauen zwischen Mitarbeitern und der Steuerverwaltung und Steuerberatern, kein überhebliches, unnötig feindseliges Auftreten – Klare Rollenverteilung durch Mitarbeiter und der Steuerverwaltung und Steuerberatern zur Wahrung der jeweiligen Interessen – Offenlegung der verfolgten Interessen, offene sachliche und transparente Information – Beidseitige seriöse Vorbereitung und von Sachkunde geprägte Diskussion über Auslegung und Anwendung von Gesetzesnormen – Keine unnötige Beanspruchung von Ressourcen (Verhältnismäßigkeit und Effizienz, Besprechung nur, sofern erforderlich) – Kein Wiederaufgreifen des Sachverhaltes nach erfolgter Einigung über die Fallbeurteilung – Partner nicht unter ungebührenden Druck setzen – Keine unrealistischen Zeit- und Zielvorgaben – Keine Druckversuche mit wirtschaftlichen Konsequenzen (überzogene Schätzungen, Weg- bzw. Umzug, Entlassungen usw.) – Keine Stellungnahme zur Qualifikation eines Steuerberaters gegenüber dem Pflichtigen oder Dritten (Neutralität) – Transparenz der Verwaltungspraxis sicherstellen – Systematische Publikation der Verwaltungspraxis und frühzeitige Ankündigung von Änderungen – Offenlegung der Interessen und möglicher Interessenkonflikte – Zielgerichtete Sacharbeit gewährleisten
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Die Kooperationsstrategie als Mittel zum gleichmäßigen Vollzug – Vollständige und klare Darstellung des Sachverhalts – Gemeinsame Verantwortung von Steuerverwaltung, Steuerberatern und ihrer Mandanten für die vollständige Sachverhaltsaufklärung – Bei unklarer Rechtslage nach Möglichkeit Einigung anstreben – bei schwer ermittelbaren Sachverhalten tatsächliche Verständigung suchen IV. Empfehlung zur Handhabung in der Praxis Dem Verhaltenskodex kommt keine rechtliche Verbindlichkeit zu. Vielmehr lebt er von der Einsicht aller Beteiligten. Insofern kann er die Grundlage dafür bilden, dass sich alle Beteiligten immer wieder der Bedeutung eines guten Steuerklimas, das auf gegenseitigem Vertrauen und Respekt basiert, bewusst werden.“
Es konnte nicht ausbleiben, dass in der Presse alsbald nach der Veröffentlichung dieses Verhaltenskodex teilweise von einem „Steuerparadies Rheinland-Pfalz“ geschrieben wurde. Falls damit die in der Tat üblicherweise angenehmen Umgangsformen zwischen den am Steuerwesen beteiligten Berufsgruppen gemeint gewesen sein sollten, müsste man dazu nichts sagen. Da freilich der Eindruck vermittelt wurde, es würden in Rheinland-Pfalz die Steuern – von der Politik absichtsvoll organisiert – nicht gesetzmäßig erhoben, war dies entschieden zurückzuweisen und dieser Vorwurf wurde denn auch nirgends belegt30.
IV. Schlussbemerkung Dieser Werkstattbericht zu Überlegungen in einer obersten Landesfinanzbehörde kann vielleicht deutlich machen, dass es durchaus unterhalb von Verfassungsänderungen und Gesetzesnovellen Spielräume gibt für die Organisation einer Kooperation zwischen Steuerbürgern und Verwaltung, die den Vollzug der Steuergesetze erleichtert31. Da dürfen Rückschläge nicht entmutigen, wie sie sich ergeben könnten, wenn z. B. das Finanzgericht Münster am 17.12.2008 entschieden hat, dass § 60 Abs. 4 EStDV die Verpflichtung zur Abgabe der Anlage EÜR zur Einkommensteuererklärung nicht abdecke32. Wenn es dem Gesetz- und Verordnungsgeber nicht gelingt, auf Anhieb rechtssichere Pflichten für den Steuerbürger zu normieren, dann kann die Verwaltung in der Tat wenig Kooperationsbereitschaft erwarten. Sie sollte auch nicht in die Situation gebracht werden, derartig zweifelhafte Vorschriften zwangsweise durchsetzen zu müssen. Der rechtsstaatliche Vollzug der Steuergesetze als Auftrag und Aufgabe der Steuerverwaltung verlangt rechtsstaatlich einwandfreie normative Grundlagen. Und dann kann die Tax Compliance dem als Steuerstaat verfassten Rechtsstaat zur gleichmäßigen und effizienten Erhebung seiner Finanzmittel verhelfen. Das ist gewiss viel, aber bestimmt nicht zu viel.
__________ 30 Gegen ähnliche Anwürfe im Zusammenhang mit der föderalen Steuerverwaltung in Deutschland M. Schmitt in DStJG 31 (2008), S. 99 (122); Widmann in DStJG 31 (2008), S. 295 (300). 31 Siehe auch E. Schmidt in DStJG 31 (2008), S. 37. 32 Urteil 6 K 2187/08, EFG 2009, 1818, nicht rkr.; Az. des BFH: X R 18/09.
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Wolfgang Ballwieser*
Möglichkeiten und Grenzen der Erstellung einer Einheitsbilanz – Zur Rolle und Entwicklung des Maßgeblichkeitsprinzips Inhaltsübersicht I. Das Problem II. Entstehung und Begründungen des Maßgeblichkeitsprinzips III. Argumente gegen das Maßgeblichkeitsprinzip IV. Zwischenfazit V. Die Auswirkungen des BilMoG 1. Generelle Einschätzung
2. Änderungen von System oder Inhalt wichtiger GoB 3. Konsequenzen für Maßgeblichkeitsprinzip und Einheitsbilanz VI. Denkbare Entwicklungen und Konsequenzen 1. Unternehmensebene 2. Regulierungsebene VII. Thesenförmige Zusammenfassung
I. Das Problem Die Frage, ob handels- und steuerrechtliche Gewinnermittlung übereinstimmen sollten oder ob und in welchem Umfang Abweichungen sinnvoll sind, wird unverändert kontrovers diskutiert. Zahlreiche Argumente für die eine wie die andere Empfehlung wurden vorgetragen und wiederholt; keine Seite hat die Gegenseite bisher zu überzeugen vermocht. Verwunderlich ist das nicht, weil jede Bilanzrechtsnovellierung, wie jüngst die durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG) ausgelöste, diese Grundsatzfrage erneut aktuell werden lässt. Auch lässt jede Änderung des Bilanzsteuerrechts für Fiskus wie Unternehmen finanzielle Konsequenzen erwarten, die antizipiert und regelmäßig unterschiedlich eingeschätzt werden. Politische Auseinandersetzungen und Einflussnahmeversuche auf die Rechtsentwicklung sind dadurch vorprogrammiert. Die Betriebswirtschaftslehre kann normative Entscheidungen über die Steuerrechtsgestaltung nicht begründen. Sie kann Entwicklungen der Steuerrechtsentwicklung systematisch, mithin kriterienorientiert, beschreiben, die aus bestimmten Rechtsgestaltungen resultierenden Anreize modellhaft und theoriegestützt herausarbeiten und im Sinne einer „Wenn-dann-Analyse“ Wirkungen von Änderungen des Bilanzsteuerrechts zu prognostizieren versuchen. Die folgenden Ausführungen knüpfen an dem durch das BilMoG, zumindest bis auf weiteres, festgeschriebenen Maßgeblichkeitsprinzip als grundsätzliche Voraus-
__________ * Ich danke meinem Kollegen Jörg Hoffmann für die kritische Durchsicht einer früheren Version und seine damit verbundenen Anregungen.
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setzung der Erstellung einer Einheitsbilanz an. Sie beginnen mit einer Wiedergabe der literaturüblichen Begründungen für und gegen diese in § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG verankerte Regelung. Sie schildern sodann die durch das BilMoG gegenüber dem früheren HGB modifizierte Verbindung von Handels- und Steuerbilanz, um Änderungen hinsichtlich der Möglichkeit einer Einheitsbilanz zu beschreiben. Hierbei wird – in begrenztem Umfang – auch auf die durch das BilMoG zu erwartende Veränderung des Systems und der Inhalte der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) eingegangen. Anschließend werden mögliche Entwicklungen der Beziehung von Handels- und Steuerbilanz geprüft. Wolfgang Spindler hat sich aus persönlichem wie beruflichem Interesse mit vielen Facetten des hier behandelten Gebiets befasst. Er hat Grenzgebiete zwischen Betriebswirtschaftslehre und Rechtswissenschaft bearbeitet1, aber sein wesentliches Anliegen im Eintreten für die Verfassungsmäßigkeit, und damit auch Rechtssicherheit, der Besteuerung gesehen2. Ihn inhaltlich zu loben hieße, sich mit ihm gleichzustellen. Das muss scheitern und wird hier nicht versucht. Der Beitrag versteht sich als kleine Freundschaftsgabe für einen beneidenswert kompetenten, gradlinigen, warmherzigen und persönlich immer überzeugenden Menschen, dem der Verfasser nicht nur für seinen 65. Geburtstag, sondern auch für die hoffentlich zahlreichen vor ihm liegenden Jahre alles erdenklich Gute wünscht.
II. Entstehung und Begründungen des Maßgeblichkeitsprinzips Das Maßgeblichkeitsprinzip3 ist kein Alleinstellungsmerkmal Deutschlands4; jedoch gilt es hier als besonders stark ausgeprägt5, auch wenn es keinen Verfassungsrang aufweist, sondern zur Disposition des Gesetzgebers steht6. § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG ist seine gesetzliche Verankerung und besagt in der aktuellen Version: „Bei Gewerbetreibenden, die auf Grund gesetzlicher Vorschriften verpflichtet sind, Bücher zu führen und regelmäßig Abschlüsse zu machen, oder die ohne eine solche Verpflichtung Bücher führen und regelmäßig Abschlüsse machen, ist für den Schluss des
__________ 1 Vgl. z. B. Spindler, Verfassungsrechtliche Fragen zur Besteuerung der Kapitaleinkünfte, DB 1987, 2536; Spindler, Zur Einkünftezurechnung bei geschlossenen Immobilienfonds mit Treuhänder und zur Begrenzung des Verlustabzugs nach § 15a EStG bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, WPg 1995, 20. 2 Vgl. insb. Spindler, Rückwirkung von Steuergesetzen, in DStJG 27 (2004), S. 69; Spindler, Verfassungsrechtliche Vorgaben für ein berechenbares Steuerrecht, in Ballwieser/Grewe (Hrsg.), Wirtschaftsprüfung im Wandel, 2008, S. 475. 3 Vgl. zur umfassenden Diskussion die Beiträge in Schön (Hrsg.), Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005. 4 Vgl. Schanz/Schanz, Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz in Europa und in den USA, StuW 2009, 311 (317–320). 5 Vgl. z. B. Schanz/Schanz, StuW 2009, 311 (315 m. w. N.). 6 Vgl. BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BB 2009, 1408 (1409); Herzig/Briesemeister, Unterschiede zwischen Handels- und Steuerbilanz nach BilMoG – Unvermeidbare Abweichungen und Gestaltungsspielräume, WPg 2010, 63 (64).
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Möglichkeiten und Grenzen der Erstellung einer Einheitsbilanz Wirtschaftsjahres das Betriebsvermögen anzusetzen (…), das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung auszuweisen ist, es sei denn, im Rahmen der Ausübung eines steuerlichen Wahlrechts wird oder wurde ein anderer Ansatz gewählt.“7
Das Prinzip gilt nur, soweit nicht eindeutige Steuerrechtsnormen ihm entgegenstehen; man spricht von subsidiärer Geltung. Bedeutsam ist, dass die Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) etabliert wird. Das ist dann etwas anderes als die oft so genannte Maßgeblichkeit der Handels- für die Steuerbilanz, wenn erstere nicht nur durch GoB geprägt wird8. Die Rechtsauffassungen hierzu sind unterschiedlich. Der These, wonach die Handelsbilanz (zumindest die des Kaufmanns, im Gegensatz zu der der Kapitalgesellschaft) vollständig mit den GoB kompatibel sein müsse9, steht die These gegenüber, dass die Handelsbilanz auch Abweichungen von ihnen erlaube. Für ersteres sprechen insbesondere § 238 Abs. 1 Satz 1 HGB, wonach jeder Kaufmann verpflichtet ist, „(…) die Lage seines Vermögens nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung ersichtlich zu machen“, und § 243 Abs. 1 HGB, der die Forderung enthält: „Der Jahresabschluss ist nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung aufzustellen.“ Für die Gegenthese lassen sich für die Bilanzierung explizit eingeräumte Wahlrechte schlechthin wie besonders die nach den §§ 249 Abs. 2, 253 Abs. 4 HGB a. F. anführen. Letztere erlaubten den Ansatz von nicht aus dem Realisationsprinzip ableitbaren Aufwandsrückstellungen10 und von nicht aus dem Imparitätsprinzip folgenden Abschreibungen. Auch das in Art. 28 Abs. 1 EGHGB enthaltene Wahlrecht zur Nichtpassivierung bestimmter Pensionslasten ist hier zu nennen11. Mir erschien die zweite These immer plausib-
__________ 7 Der Inhalt des Wahlrechtsvorbehalts im letzten Halbsatz ist umstritten, weil Wortlaut und Begründung der Regelung nicht übereinstimmen. Vgl. insb. Herzig/Briesemeister, WPg 2010, 63 (65 f.); Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, Zur Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die steuerliche Gewinnermittlung gem. § 5 Abs. 1 EStG i. d. F. durch das BilMoG, DB 2009, 2570; Theile, Totenglocken für das Maßgeblichkeitsprinzip. „Steuerbilanzgesetz“ ante portas?, DStR 2009, 2384; Weber-Grellet, Das BMF und die Maßgeblichkeit, DB 2009, 2402. 8 Es ist erstaunlich, dass auch ein BMF-Schreiben v. 12.10.2009 die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz erwähnt. Vgl. die Kritik bei Weber-Grellet, DB 2009, 2402. 9 Vgl. z. B. Clemm, Meinungsspiegel zum Thema: GoB in Handels- und Steuerrecht in der Diskussion, BFuP 1990, 547 (547 f.): „M. E. sind die handelsrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften als kodifizierte GoB anzusehen. (…) Das gilt m. E. allerdings nur für jene Regeln, die alle Kaufleute zu beachten haben (…).“ Zu über die GoB hinausgehenden Normen im Handelsrecht vgl. aber z. B. Beisse, Zum neuen Bild des Bilanzrechtssystems, in FS Moxter, 1994, S. 3 (12 und 25). 10 Dies sieht die Literatur z. T. anders. Vgl. hiergegen Ballwieser, Zur Bedeutung von Aufwandsrückstellungen gemäß § 249 Abs. 2 HGB für Kapitalgesellschaften, in FS Beusch, 1993, S. 63 (66–70). 11 Inwieweit mit den GoB kompatible Wertansätze in der Handelsbilanz auch für die steuerliche Gewinnermittlung gelten sollten, war stark umstritten. Vgl. hierzu z. B. Raupach, Von der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die steuerliche Gewinnermittlung zur Prädominanz des Steuerrechts in der Handelsbilanz, BFuP 1990, 515 m. w. N.
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ler12, auch wenn große Teile der Literatur vom Gegenteil ausgehen13 und z. B. die Wahl der Abschreibungsmethode oder der Herstellungskosten innerhalb eines vorgegebenen Bands als mit den GoB vereinbar ansehen. Das Maßgeblichkeitsprinzip wird oft auf das Jahr 1874 zurückgeführt. Seine Wurzeln liegen aber – wie Schneider belegt – am Beginn des 20. Jahrhunderts, „(…) denn nicht unmittelbar durch das Sächsische oder das Bremische Einkommensteuergesetz von 1874, das Preußische von 1891, kommt die ‚Maßgeblichkeit‘ zustande. Erst Entscheidungen des Sächsischen und Preußischen Oberverwaltungsgerichts zu Beginn des 20. Jahrhunderts erweitern den steuerlichen Gewinnbegriff in Richtung des Gewinnbegriffs nach dem Handelsgesetzbuch. Damit wird eine Maßgeblichkeit einer handelsrechtlichen Gewinnvorstellung für den steuerlichen Gewinnbegriff verordnet, die der Gesetzgeber später in § 13 EStG 1925 und § 5 EStG 1934 bis ins Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz zur Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung variiert.“14 Die Begründungen für das Maßgeblichkeitsprinzip werden im Wesentlichen gesehen in 1) der Vereinfachung und Kostenersparnis gegenüber einer Aufstellung von zwei Bilanzen, 2) der Deckungsgleichheit der Zielsetzungen von Handels- und Steuerbilanz, speziell hinsichtlich der an ihnen verankerten Zahlungen an Gesellschafter und Fiskus, 3) dem Schutz vor fiskalischen Interessen des Staates, 4) dem Schutz vor einer Dominanz der Interessen der Abschlussersteller, 5) der Einheit der Rechtsordnung und 6) der Vereinbarkeit mit Besteuerungsleitlinien. Der erste Punkt leuchtet unmittelbar ein. Die Deckungsgleichheit der Zielsetzungen knüpft an die Zahlungsbemessungsfunktion der Gewinnermittlung an15. Der Fiskus wird hierbei als stiller Gesellschafter betrachtet, dessen Ansprüche sich an demselben (Brutto-)Gewinn zu bemessen haben wie diejenigen
__________ 12 Vgl. Ballwieser, Ist das Maßgeblichkeitsprinzip überholt?, BFuP 1990, 477 (479 f. und 485 f.). Vgl. auch Bareis, Maßgeblichkeit der Handels- für die Steuerbilanz de lege lata und de lege ferenda, in Schmiel/Breithecker (Hrsg.), Steuerliche Gewinnermittlung nach dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, 2008, S. 31 (38) mit Vorbehalt gegen §§ 253 Abs. 4, 269 HGB a. F. 13 Vgl. z. B. Herzig/Briesemeister, WPg 2010, 63 (65); Beisse in FS Moxter (Fn. 9), S. 26 und S. 29. 14 Schneider, Ein Jahrhundert Unmaßgeblichkeit des Maßgeblichkeitsgrundsatzes, in FS Krawitz, 2010, S. 705 (707 f.); vgl. ferner Schneider, Betriebswirtschaftslehre, Band IV: Geschichte und Methoden der Wirtschaftswissenschaft, 2001, S. 969–978. 15 Der Ausdruck ist unpräzise, aber üblich. Zu Präzisierungen vgl. Bareis in Steuerliche Gewinnermittlung (Fn. 12), S. 33 f.
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der gesellschaftsrechtlichen Gesellschafter16. Wie Schneider mit Bezug auf eine Quelle von 1891 zitiert17, werde durch den Rückgriff auf eine einheitliche Bilanz steuerlich vermieden, „dass die Steuerkommission ein ganz anderes Einkommen festsetze, als an die Aktionäre zur Verteilung gelange“18. Der dritte Punkt thematisiert den Schutz vor fiskalischen Interessen durch die steuerliche Maßgeblichkeit handelsrechtlicher GoB19, was (mindestens) deren Eindeutigkeit unterstellt. Zwar leuchtet auch den Verfechtern dieser These ein, dass der Gesetzgeber jederzeit von den GoB abweichende steuerliche Regelungen etablieren kann, die den Schutz aushöhlen können. Jedoch wird nach den Vertretern dieser These durch die erkennbar werdende Abweichung von den GoB der Begründungszwang des Gesetzgebers erhöht, was auf seine Aktivitäten dämpfend wirken kann. Streim entwickelt politökonomische Gründe, wonach das Maßgeblichkeitsprinzip die Interessen der Kapitalgeber von Unternehmen zu schützen vermag. Er konstatiert, dass im Lobbying-Prozess von Gesetzen aus mehreren Gründen Produzenteninteressen stärker berücksichtigt werden als Konsumenteninteressen20. Bezogen auf das Bilanzrecht dominieren die Interessen der Abschlussersteller diejenigen der Abschlussadressaten, insbesondere die der Kapitalgeber. Deren Interessendurchsetzung vermag aber der fiskalische Staat zu unterstützen, solange das Maßgeblichkeitsprinzip gilt, denn: „Dem Staat in seiner Rolle als Fiskus kann es, weil das Maßgeblichkeitsprinzip gilt, nicht gleichgültig sein, welche Gewinnermittlungsregeln für die handelsrechtliche Bilanzierung festgelegt werden, denn die handelsrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften, insbesondere solche, die GoB-Eigenschaften haben, schlagen (…) unmittelbar auf die Steuerbilanz durch, soweit sich aus den Steuergesetzen nicht etwas anderes ergibt (…). Solange das Maßgeblichkeitsprinzip gilt, kann also der Gesetzgeber nicht neutraler Schlichter im Streit der konfligierenden Interessen sein, sondern er ist insofern Partei, als er die fiskalischen Interessen des Staates zu verteidigen hat. Es ist deshalb gar nicht so abwegig, den Fiskus als ‚stillen Teilhaber‘ von Unternehmen zu bezeichnen. Seine Auszahlungsansprüche knüpft er wie die meisten Gesellschafter auch an einen Gewinn, der über einen Vermögensvergleich ermittelt wird. (…) Bei einer Abkoppelung der Steuerbilanz von der Handelsbilanz entfiele somit im Gesetzgebungsprozeß ein Korrektiv, das zwar fiskalische Interessen, gleichzeitig aber auch Gesellschafterinteressen vertritt. Damit steigt aber auch die Gefahr eines ‚capture by default‘, d. h. die Interessen der
__________ 16 Vgl. insb. Döllerer, Handelsbilanz ist gleich Steuerbilanz, in Baetge (Hrsg.), Der Jahresabschluß im Widerstreit der Interessen, 1983, S. 157 (172); Döllerer, Steuerbilanz und Beutesymbol, BB 1988, 238 (238); Streim, Ein Plädoyer für die Einheitsbilanz, BFuP 1990, 527 (534); Schön, Eine Zukunft für das Maßgeblichkeitsprinzip, in Schön (Hrsg.), Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, S. 1 (51 f.). Kritisch hierzu z. B. Bareis in Steuerliche Gewinnermittlung (Fn. 12), S. 34, m. w. N. 17 Vgl. Schneider in FS Krawitz (Fn. 14), S. 709. 18 Bericht der X. Kommission über den Entwurf eines Einkommensteuergesetzes. – Nr. 5 der Drucksachen. –, in Anlagen zu den Stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten während der 3. Session der 17. Legislatur-Periode 1890/91, Zweiter Band, 1891, Aktenstück Nr. 75, S. 1251–1375 (1264). 19 Vgl. insb. Döllerer, Maßgeblichkeit der Handelsbilanz in Gefahr, BB 1971, 1333 (1335). 20 Vgl. Streim, BFuP 1990, 527 (532).
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Wolfgang Ballwieser Bilanzersteller werden sich noch stärker als bisher im Gesetzgebungsprozeß durchsetzen. Das Maßgeblichkeitsprinzip schützt somit indirekt die Interessen der Gesellschafter vor der Kodifizierung allzu manipulativer Gewinnermittlungsregeln.“21
Die Einheit der Rechtsordnung führt Beisse als wünschenswerte Eigenschaft ins Feld: „Es kann nicht steuerrechtlich etwas verlangt werden, das handelsrechtlich verboten ist und sogar unter Sanktionen steht. Im Kernbereich ihrer Bemessungsnormen sind daher die beiden Bilanzrechte auf Übereinstimmung angelegt.“22 Die Einheit der Rechtsordnung hat weiterhin einen bedenkenswerten Vorteil in der Rechtsprechung. Die fundierte höchstrichterliche Rechtsprechung eines Gerichts23 entfaltet Rückwirkung auf einen anderen Rechtsbereich; ein zweites höchstrichterliches Gericht mit seiner Rechtsprechung wird insoweit überflüssig. Die Begründung des Maßgeblichkeitsprinzips aus Besteuerungsleitlinien versucht Schmiel. Die in der betriebswirtschaftlichen Literatur für die Gestaltung des Bilanzsteuerrechts oft verwendete Allokationseffizienz samt damit verbundener Investitions- oder Entscheidungsneutralität24 verwirft sie mit Verweis auf die zu deren Messung nicht vorliegenden Voraussetzungen, speziell die eines vollkommenen und vollständigen Kapitalmarkts25. Als Leitlinien einer steuerlichen Gewinnermittlung verwendet sie stattdessen „Relevanz von Liquiditätsproblemen“, „Vorteilhaftigkeit von Marktentscheidungen“, „Förderung der Variationsfähigkeit“ und „Gleichmäßigkeit der Besteuerung“26. Die erste Leitlinie verlangt, Liquiditätsprobleme der Besteuerten zu berücksichtigen statt sie durch Rückgriff auf ideale (und damit irreale) Kapitalmärkte auszublenden. Vorteilhaftigkeit von Marktentscheidungen meint, „dass das Treffen von Entscheidungen durch den betroffenen Entscheider (durch den Markt) gefördert und das Entstehen oder Verschärfen von Principal-Agent-Beziehungen durch die Besteuerung verhindert werden soll.“27 Förderung der Variationsfähigkeit soll Möglichkeiten zur Förderung von Forschung und Entwicklung als Voraussetzung einer Evolution von Produkten und Institutionen schaffen.
__________ 21 Streim, BFuP 1990, 527 (533 f.). 22 Beisse in FS Moxter (Fn. 9), S. 23. Vgl. auch Ballwieser, BFuP 1990, 477 (492 f.). 23 Vgl. auch Schön in Steuerliche Maßgeblichkeit (Fn. 16), S. 56: „Die finanzgerichtliche Rechtsprechung hat sich – das wird aus deutscher Sicht niemand bezweifeln – als ‚ehrlicher Makler‘ bei der Auslegung handelsrechtlicher Rechnungslegung außerordentlich bewährt.“ 24 Vgl. insb. Schneider, Steuerlast und Steuerwirkung, 2002, S. 97–102; Schneider, Investition, Finanzierung und Besteuerung, 7. Aufl. 1992, S. 206–251; Wagner, Die zeitliche Erfassung steuerlicher Leistungsfähigkeit, in Hax/Kern/Schröder (Hrsg.), Zeitaspekte in betriebswirtschaftlicher Theorie und Praxis, 1989, S. 261 (265 f.); Wagner, Der gesellschaftliche Nutzen einer betriebswirtschaftlichen Steuervermeidungslehre, FA 1986, 32 (41–45); Elschen, Entscheidungsneutralität, Allokationseffizienz und Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, StuW 1991, 99 (100–110, insb. 101). 25 Vgl. Schmiel, Lässt sich die Aufrechterhaltung des Maßgeblichkeitsprinzips durch das BilMoG ökonomisch begründen?, in Steuerliche Gewinnermittlung (Fn. 12), S. 333 (334–340). 26 Vgl. Schmiel in Steuerliche Gewinnermittlung (Fn. 12), S. 341–345. 27 Schmiel in Steuerliche Gewinnermittlung (Fn. 12), S. 344.
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„Gleichmäßigkeit der Besteuerung bedeutet, dass gleiche besteuerungsrelevante Sachverhalte gleich und ungleiche besteuerungsrelevante Sachverhalte (relativ gleich) ungleich besteuert werden. Wann betriebswirtschaftliche Sachverhalte als gleich bzw. ungleich anzusehen sind, ist an die zugrunde gelegte Theorie gebunden. Entsprechend dem hier vorgetragenen Verständnis wird Gleichmäßigkeit der Besteuerung (…) in evolutorischer Perspektive expliziert.“28 Zwar gelingt es nicht, aus den Leitlinien eine Gewinnermittlungskonzeption im logischen Sinne zu deduzieren. Vielmehr „werden lediglich Argumente in Stellung gebracht, die sich für oder gegen die Vereinbarkeit ausgewählter steuerlicher Grundprinzipien mit diesen Leitlinien anführen lassen.“29 Die Berücksichtigung der Relevanz von Liquiditätsproblemen erlaubt aber beispielsweise, Argumente für die imparitätische Gewinnermittlung zu finden, „die außerplanmäßige Abschreibungen ebenso vorsieht wie die Bildung von Verbindlichkeits- und Drohverlustrückstellungen.“30 Diese Feststellung lässt zwar noch offen, wann Verluste entstanden sind, d. h. ob rechtliche oder wirtschaftliche Entstehung vorzuziehen ist31. Aber es lässt sich die steuerlich verbotene Erfassung von Drohverlustrückstellungen kritisieren. Aus der Leitlinie der Vorteilhaftigkeit von Marktentscheidungen werden Argumente für eine wirtschaftliche Betrachtungsweise, einen weit verstandenen Vermögensgegenstandsbegriff (dem freilich das ebenfalls zu berücksichtigende Objektivierungsprinzip entgegensteht) und eine Periodisierung von Anschaffungsauszahlungen gewonnen, usf.32. Die Verfasserin entwickelt damit Argumente zur Stützung der These, handelsrechtliche GoB seien begründbare Prinzipien steuerlicher Gewinnermittlung, wobei die Begründung in einer evolutorischen Wirtschaftsordnung nicht als logische Ableitung verstanden werden kann, sondern als Plausibilisierung verstanden werden muss33. Schneider kritisiert an Schmiels Begründung eine Vagheit des Konzepts der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, die fehlende Deduktion von Gewinnermittlungsregeln sowie bestimmte Verstöße gegen die (von ihm spezifizierte) Gleichmäßigkeit der Besteuerung34. Vernachlässige ich vorab den Gleichmäßigkeitsaspekt, erscheint das insofern merkwürdig, als Schmiel zu begründen versucht, weshalb jegliche Deduktion fehlschlagen muss, um Gestaltungsempfehlungen für die steuerliche Gewinnermittlung zu gewinnen. Akzeptiert man dies, ist dieser Aspekt von Schneiders Kritik nicht nachvollziehbar. „Jedoch kann man die Zweigleisigkeit der Gewinnermittlung, den Betriebsvermögensvergleich nach §§ 4 Abs. 1, 5 EStG und die Überschußrechnung nach § 4 Abs. 3 EStG, in
__________ 28 Schmiel in Steuerliche Gewinnermittlung (Fn. 12), S. 345 (im Original z. T. hervorgehoben). 29 Schmiel in Steuerliche Gewinnermittlung (Fn. 12), S. 346. 30 Schmiel in Steuerliche Gewinnermittlung (Fn. 12), S. 346. Mit Verweis auf einen verzinslichen Verlustrück- und Verlustvortrag wird dies oft verneint. Die damit verbundenen Kapitalmarktannahmen sind hingegen unrealistisch. 31 Vgl. Schmiel in Steuerliche Gewinnermittlung (Fn. 12), S. 347. 32 Vgl. Schmiel in Steuerliche Gewinnermittlung (Fn. 12), S. 347–350. 33 Vgl. Schmiel in Steuerliche Gewinnermittlung (Fn. 12), S. 351. 34 Vgl. Schneider in FS Krawitz (Fn. 14), S. 717 f.
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Frage stellen. Wegen der Gültigkeit des Vorsichts- und Imparitätsprinzips lassen sich u. U. auch die Gewinnermittler gemäß §§ 4 Abs. 1, 5 EStG als bevorzugt gegenüber den Überschußrechnern ansehen.“35 Insofern hat der Einwand von Schneider hinsichtlich des Verstoßes gegen die Gleichmäßigkeit der Besteuerung seine Berechtigung, berührt aber die Frage der politisch bis heute nicht aufgegebenen Dualität der Einkünfteermittlung.
III. Argumente gegen das Maßgeblichkeitsprinzip Gegen das Maßgeblichkeitsprinzip wird insbesondere angeführt: 1) Die Kostenbelastung durch zwei Formen der Rechnungslegung sei tragbar, speziell wenn es Überleitungen von einer Rechnung zur anderen gäbe. 2) Die Zielsetzungen von Handels- und Steuerbilanz liefen so weit auseinander, dass identische Gewinnermittlungsregeln nicht zweckgerecht sein könnten. 3) Vor fiskalischen Interessen helfe kein Schutz durch Bilanzrecht. 4) Die Einheit der Rechtsordnung sei durch zwei unterschiedliche Systeme der Gewinnermittlung nicht gefährdet. 5) Allein ein Blick auf die zahlreichen steuerrechtlichen Einzelvorschriften mit Vorrang vor GoB zeige, wie wenig handelsrechtliche GoB die steuerliche Gewinnermittlung prägten. Das erste Argument stellt auf die Höhe und Tragbarkeit der Kosten bei zwei unterschiedlichen Formen der Gewinnermittlung ab. Die Kosten sind ohne Spezifizierungen des betrachteten Unternehmens und der buchführungsrelevanten Sachverhalte nicht abzuschätzen. Selbst wenn die Quantifizierung gelänge, wären die Zusatzkosten dem mit ihnen verbundenen Zusatznutzen gegenüberzustellen. Das zweite Argument betont die Unterschiedlichkeit von Zwecken der Handels- und Steuerbilanz, speziell die Informationsfunktion handelsrechtlicher Rechnungslegung, die steuerlich bedeutungslos ist. Auch wenn unterschiedliche Zwecke vorliegen, sind die Beschränkungen einer Informationsvermittlung mit Abschlüssen schlechthin36 sowie die handels- wie steuerrechtlich gebotene Objektivierung der Gewinnermittlung zu bedenken. Letztere führt dazu, dass auch bei divergierenden Zwecken die Bilanzinhalte sich tendenziell annähern37. Das dritte Argument basiert auf der Tatsache, dass der Gesetzgeber durch Änderungen des Rechts die Steuerbelastung für Unternehmen stets verschärfen kann. Zwar wird anerkannt, dass „der Verweis auf die handelsrechtlichen GoB (…) der Steuerrechtsprechung eine Richtung weist (…)“, dies ginge aber nur,
__________
35 Ballwieser, BFuP 1990, 477 (489). 36 Vgl. z. B. Streim, BFuP 1990, 527 (530 f.); radikaler Moxter, Rechnungslegungsmythen, BB 2000, 2143. 37 Vgl. Mellwig, Bilanzrechtsprechung und Betriebswirtschaftslehre, BB 1983, 1613 (1616 f.).
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„soweit dem Bundesfinanzhof durch den EuGH und durch künftige Einflüsse der internationalen Rechnungslegungsstandards noch Spielraum gelassen wird.“38 Der vierte Punkt wird von Schneider mit Hinweis auf Fuisting und Jacobs39 zu stützen versucht: „Warum ein Aufheben der Maßgeblichkeit gegen die Einheitlichkeit der Rechtsordnung verstoßen soll, ist nicht nachzuvollziehen.“40 Fuisting wird mit dem Satz zitiert: „Sollte das Ergebnis der Vermögensbilanz durchweg den steuerlichen Ertrag darstellen, so würde die Einheit und Gleichmäßigkeit durchbrochen werden.“41 Angesprochen wird hier aber der von Beisse42 gar nicht thematisierte Unterschied von steuerlichem Ertrag nach einer Einnahmenüberschussrechnung und handelsrechtlichem Vermögensvergleich. Das ist das Problem der Dualität der Einkünfteermittlung, nicht hingegen das der Gewinnermittlung nach Handels- und Steuerrecht. Beim fünften Argument wird z. B. auf die schon rein sprachliche Unterscheidung von handelsrechtlichem Vermögensgegenstand und steuerrechtlichem Wirtschaftsgut verwiesen, aber auch insbesondere auf die steuerliche Außerkraftsetzung handelsrechtlich gebotener Drohverlustrückstellungen sowie auf zahlreiche weitere divergierende Ansatz- und Bewertungsvorschriften43.
IV. Zwischenfazit Unverkennbar ist, dass auch bei Gültigkeit des Maßgeblichkeitsprinzips eine Einheitsbilanz an einer Vielzahl von Einzelvorschriften scheitert, die Abweichungen von Handels- und Steuerbilanz erzwingen, was nach dem HGB a. F. bei Drohverlustrückstellungen und bestimmten Verbindlichkeitsrückstellungen, aber auch dem Geschäfts- oder Firmenwert und dem Disagio besonders deutlich wird. Wie Abschnitt V. zeigen wird, nimmt die erzwungene Abweichung durch sich widersprechende Vorschriften in beiden Rechtskreisen nach dem BilMoG und der damit einhergehenden Reform des HGB noch zu. Eine ganz andere Frage ist, wie diese erzwungenen Abweichungen zu werten sind. Zum einen kann man das damit verbundene Auseinanderlaufen von Handels- und Steuerbilanz im Umfang nicht quantifizieren, ohne Bezug auf konkrete Unternehmen und die für diese anfallenden Buchungsvorfälle zu nehmen. Ein Unternehmen, das beispielsweise keinen Grund hat, eine Drohverlust-
__________ 38 Schneider in FS Krawitz (Fn. 14), S. 714 (beide Zitate); ähnlich Schneider, Betriebswirtschaftliche Gewinnermittlung statt des Entwurfs einer BilMoG-elpackung, in Steuerliche Gewinnermittlung (Fn. 12), S. 283 (284). 39 Vgl. Jacobs, Das Bilanzierungsproblem in der Ertragsteuerbilanz, 1971, S. 38–43 und S. 47. 40 Schneider in FS Krawitz (Fn. 14), S. 714. 41 Fuisting, Die Preußischen direkten Steuern, Vierter Band: Grundzüge der Steuerlehre, 1902, S. 172. 42 Vgl. Streim, BFuP 1990, 527 (532). 43 Vgl. zu einer Gegenüberstellung nach aktueller Rechtslage insb. Herzig/Briesemeister, WPg 2010, 63 (66–77).
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rückstellung zu bilden, wird von dem Auseinanderfallen der diesbezüglichen Vorschriften nicht berührt. Zum anderen ist es eine Wertungsfrage, worin man die Regel und die Ausnahme sieht. Sofern beispielsweise die durch die GoB vorgegebenen Ansatzregeln für Vermögensgegenstände und Wirtschaftsgüter sowie für Schulden entweder vollständig oder weitgehend deckungsgleich sind44, gibt es einen starken gemeinsamen Kern von handels- und steuerrechtlichen Bilanzen. Dieser Kern lässt sich als erhaltungswürdiger Zustand ansehen, ungeachtet der Tatsache, dass (eventuell sogar beträchtliche) Ausnahmen vorzufinden sind. Entsprechendes gilt für Bewertungsregeln. Selbstverständlich ist auch die andere Sichtweise denkbar, wonach die Abweichungen in großem Umfang betont werden und der (nach der zuerst beschriebenen Sicht sich ergebende) Kern als ausgehöhlt dargestellt wird. Ein allgemein nachvollziehbares Kriterium zur Kennzeichnung von Regel und Ausnahme fehlt. Um die angesprochene Wertung zu unterstützen, bietet sich der Rückgriff auf die oben angeführten Argumente pro und contra Maßgeblichkeitsprinzip an. Hier überzeugen mich viele stützende Argumente mehr als die das Maßgeblichkeitsprinzip in Frage stellenden Einwendungen. Ein schlagendes Argument sehe ich hier gerade auch in dem Fundus der Bilanzrechtsprechung des Bundesfinanzhofs, die zwar keineswegs gradlinig und widerspruchsfrei war, aber doch ein System von Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung erkennen lässt45, das in beachtlichem Maße zur Rechtssicherheit beigetragen hat und weiterhin beiträgt46. Nach Beseitigung des Maßgeblichkeitsprinzips wäre zur Auslegung von GoB als oberste Instanz der Bundesgerichtshof in die Pflicht genommen47, vielleicht mit ähnlich guten Ergebnissen, vielleicht aber auch nicht48.
V. Die Auswirkungen des BilMoG 1. Generelle Einschätzung Schon vor dem BilMoG war die Einheitsbilanz dann nicht möglich, wenn im Handels- und Steuerrecht unterschiedliche Ansatz- oder Bewertungsregeln obligatorisch waren. Hingegen war es aufgrund der sog. Umkehrmaßgeblichkeit, verankert in § 5 Abs. 1 Satz 2 EStG a. F. und den Öffnungsklauseln in §§ 247 Abs. 3, 254, 273, 279 Abs. 2, 281 HGB a. F., möglich, rein steuerliche Wahlrechte in die Handelsbilanz zu übernehmen. Wer diese steuerlichen Wahlrechte nutzen wollte, musste dies handels- wie steuerrechtlich einheitlich leisten; die damit verbundene, sog. formelle Maßgeblichkeit war seit dem Jahr 1989 gesetzlich verankert.
__________ 44 45 46 47 48
Hierfür gibt es gute Gründe; vgl. hierzu auch Abschnitt VI.2. Zum Systemgedanken vgl. insb. Beisse in FS Moxter (Fn. 9). Vgl. insb. Moxter, Bilanzrechtsprechung, 6. Aufl. 2007. Vgl. Münzinger, Bilanzrechtsprechung der Zivil- und Strafgerichte, 1987. Vgl. auch Streim, BFuP 1990, 527 (532).
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Das BilMoG hat die Umkehrmaßgeblichkeit aufgehoben. Damit wird der Einheitsbilanz über abweichende und zugleich zwingende Regeln in Handels- und Steuerrecht hinaus eine weitere Grundlage genommen. Das führt zur Skepsis der künftigen Aufrechterhaltung einer Verbindung von Handels- und Steuerbilanz schlechthin: „Der handelsrechtliche Jahresabschluss bleibt zwar Grundlage der steuerlichen Gewinnermittlung, die Rechtfertigung für die Verknüpfung von Handels- und Steuerbilanz bricht mit dem BilMoG gleichwohl endgültig weg. Zum einen wird der These vom Fiskus als stillem Teilhaber mit Streichung des § 5 Abs. 1 Satz 2 EStG a. F. der Boden entzogen, da (noch) nicht besteuerte Gewinne ausgeschüttet werden können, wie beispielsweise in den Fällen von § 6b EStG, der Rücklage für Ersatzbeschaffung, erhöhten Absetzungen und Sonderabschreibungen jeweils unter Beachtung der latenten Steuern. Zum anderen trägt auch der Gedanke einer Vereinfachung der steuerlichen Gewinnermittlung durch Bezugnahme auf das Handelsrecht in Anbetracht der inzwischen das gesamte Bilanzrecht durchziehenden Abweichungen zwischen Handels- und Steuerbilanz, die eine Einheitsbilanz nur noch in Einzelfällen erlauben, kaum mehr. (…) Die Überlegungen zur Schaffung einer eigenständigen steuerlichen Gewinnermittlung dürften mit dem BilMoG weiter an Boden gewinnen.“49
Trotz der formalen Aufrechterhaltung des Maßgeblichkeitsprinzips durch das BilMoG sind – neben wichtigen Übereinstimmungen – auch deutliche Abweichungen von HGB und EStG erkennbar, was die folgende Übersicht bezüglich wesentlicher Punkte deutlich macht. HGB
EStG
Ansatz von derivativem Geschäfts- oder Firmenwert
Übereinstimmung
Aktiva für Altersversorgungslasten
Abweichung
Selbstgeschaffene immaterielle Gegenstände des Anlagevermögens
Abweichung
Entwicklungskosten
Abweichung
Disagio
Abweichung
Ingangsetzungskosten
Übereinstimmung
Pensionsrückstellungen
Abweichung
Rückstellungen für unterlassene Instandhaltung mit Wahlrecht
Übereinstimmung
Sonderposten mit Rücklageanteil
Abweichung
Bewertungseinheiten
Übereinstimmung
Bewertungsvereinfachungsverfahren
Übereinstimmung
Zeitwerte für Finanzinstrumente (bei Nichtbanken)
Abweichung
Herstellungskostenbandbreite
Übereinstimmung
Abschreibung von derivativem Geschäfts- oder Firmenwert
Abweichung
__________ 49 Herzig/Briesemeister, Steuerliche Konsequenzen des BilMoG, DB 2009, 926 (931).
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Wolfgang Ballwieser HGB
EStG
Steuerliche Abschreibungen
Abweichung
Erfüllungsbetrag für Schulden
Abweichung
Abzinsung langfristiger Rückstellungen
Abweichung
Bewertung von Pensionslasten
Abweichung
Tabelle 1: HGB-Regelungen im Vergleich zu EStG
2. Änderungen von System oder Inhalt wichtiger GoB Nach der Begründung des Regierungsentwurfs des BilMoG sollte mit der Novellierung des HGB das System der GoB erhalten bleiben. Danach war es Ziel, „das bewährte HGB-Bilanzrecht zu einer dauerhaften und im Verhältnis zu den internationalen Rechnungslegungsstandards vollwertigen, aber kostengünstigeren und einfacheren Alternative weiter zu entwickeln, ohne die Eckpunkte des HGB-Bilanzrechts – die HGB-Bilanz bleibt Grundlage der Ausschüttungsbemessung und der steuerlichen Gewinnermittlung – und das bisherige System der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung aufzugeben.“50 Während das GoB-System zwar in dem Sinne beibehalten wird, dass einzelne GoB weder eliminiert noch hinzugefügt werden, verändern sich aber die Inhalte einzelner GoB. So findet man selbst in der Begründung die Formulierung, „das Realisationsprinzip als Gradmesser der steuerlichen Leistungsfähigkeit wird punktuell modifiziert“51, und es erfolge eine „Ausdehnung des handelsrechtlichen Realisationsprinzips“52. Auch werden das Stetigkeitsgebot auf den Ansatz ausgedehnt (§ 246 Abs. 3 HGB), durch die Behandlung bestimmter Altersversorgungslasten (§ 246 Abs. 2 Satz 2 HGB) eine Ausnahme vom Saldierungsverbot und durch die Bildung von Bewertungseinheiten (§ 254 HGB) eine solche vom Einzelbewertungsgebot geschaffen und das Stichtagsprinzip durch die Bewertung von Pensionsrückstellungen53 modifiziert. Unklar ist, wie das HGB zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise von Schulden steht54. § 246 Abs. 1 Satz 2 und 3 HGB beschreiben die wirtschaftliche Betrachtungsweise folgendermaßen: „Vermögensgegenstände sind in der Bilanz des
__________ 50 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz – BilMoG), BT-Drucks. 16/10067 v. 30.7.2008, S. 1. 51 Gesetzentwurf (Fn. 50), S. 34. 52 Gesetzentwurf (Fn. 50), S. 53 und S. 121. 53 Das resultiert nicht aus dem Gesetz, sondern der Begründung, die induktive GoBErmittlungsargumente erkennen lässt. Vgl. Gesetzentwurf (Fn. 50), S. 52. Hiergegen zu Recht Wüstemann/Wüstemann, Das System der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung nach dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, in FS Krawitz (Fn. 14), S. 751 (756 f.). 54 Ich folge bei diesem Punkt stark Ballwieser, Das BilMoG zwischen Entrümpelung und Neugestaltung des HGB, in FS Küting, 2009, S. 593 (597 f.).
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Eigentümers aufzunehmen; ist ein Vermögensgegenstand nicht dem Eigentümer, sondern einem anderen wirtschaftlich zuzurechnen, hat dieser ihn in seiner Bilanz auszuweisen. Schulden sind in die Bilanz des Schuldners aufzunehmen.“ Diese Formulierungen sind eigenartig. Zum einen ist wirtschaftliche Zurechnung eine Vokabel des Steuerrechts, speziell des § 39 AO, während in Literatur und Kommentierung zur Auslegung handelsrechtlicher GoB überwiegend von wirtschaftlicher Betrachtungsweise die Rede ist55. Zum zweiten ist bei Schulden nicht von wirtschaftlicher Zurechnung die Rede, was den Rückschluss nahe legen könnte, Schulden verlangten immer eine Rechtsgrundlage. Die Begründung des Regierungsentwurfs des BilMoG macht den Steuerbezug mit folgenden Sätzen deutlich: „Mit § 246 Abs. 1 Satz 2 HGB ergeben sich keine Veränderungen des bisherigen Rechtszustandes. Die von der Rechtsprechung schon erarbeiteten Beurteilungskriterien behalten ebenso ihre Bedeutung, wie beispielsweise die steuerlichen Leasingerlasse, die die wirtschaftliche Zurechnung inhaltlich ausfüllen. In beiden Fällen handelt es sich um Arbeitshilfen für die Praxis, die Anhaltspunkte dafür enthalten, welche Kriterien in bestimmten Fällen zur Beurteilung der Verteilung der wesentlichen Chancen und Risiken beachtet werden müssen oder wem das wirtschaftliche Eigentum in bestimmten Fällen einer typisierten Chancen- und Risikoverteilung zuzuweisen ist. Diese Wertung entspricht § 39 AO. Die Vorschrift beschreibt typische Beispielsfälle, die ein Abweichen von der Regelvermutung des § 39 Abs. 1 AO erlauben, füllt also ebenfalls die wirtschaftliche Zurechnung – mithin die Frage nach der Verteilung der wesentlichen Chancen und Risiken – inhaltlich aus.“56 Erstaunlich ist, dass die von der Rechtsprechung erarbeiteten Beurteilungskriterien nur Arbeitshilfen für die Praxis anstelle von zwingenden Vorgaben sein sollen. Zum Schuldenansatz wird ausgeführt: „Im Hinblick auf Schulden wird das Prinzip der wirtschaftlichen Zurechnung – schon aufgrund des Vorsichtsprinzips – also, wie bisher, stark eingeschränkt. Solange ein Unternehmen rechtlich verpflichtet ist, folgt daraus die Verpflichtung zum Ausweis einer Verbindlichkeit oder Rückstellung.“57
__________ 55 Vgl. Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, Teilband 6, 6. Aufl. 1998, § 243 Rz. 11; Beisse, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise bei der Auslegung der Steuergesetze in der neueren deutschen Rechtsprechung, StuW 1981, 1; Böcking, Betriebswirtschaftslehre und wirtschaftliche Betrachtungsweise im Bilanzrecht, in FS Beisse, 1997, S. 85; Döllerer, Gedanken zur „Bilanz im Rechtssinne“, in Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht 1979/80, S. 195; Eibelshäuser, Wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht, DStR 2002, 1426; Moxter, Grundsätze ordnungsgemäßer Rechnungslegung, 2003, S. 15 f.; Moxter, Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, in FS Reichsfinanzhof – Bundesfinanzhof, 1993, S. 533 (535 f.); Thies, Rückstellungen als Problem der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, 1996, insb. S. 7–48. 56 Gesetzentwurf (Fn. 50), S. 47. 57 Gesetzentwurf (Fn. 50), S. 47.
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Unklar ist, wieso das Vorsichtsprinzip den Schuldenansatz einschränkt (ich hätte das Gegenteil erwartet) und ob nur bei rechtlicher Verpflichtung eine Schuld auszuweisen ist oder ob auch rein faktische Verpflichtungen jenseits der ansatzpflichtigen Kulanzen gemäß § 249 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 HGB anzusetzen sind. Nur im Zusammenhang mit passiven latenten Steuern geht die Begründung auf faktische Verpflichtungen ein: „Auch eine faktische Verpflichtung kann nicht zweifelsfrei angenommen werden.“58 Der Ausschluss rein faktischer Verpflichtungen, wie verjährter, aber zu bedienender Schulden, wäre – unabhängig von der oftmals vorliegenden Schwierigkeit, sie festzustellen – unzweckmäßig und stünde im Widerspruch zur Verpflichtung, Kulanzrückstellungen zu bilden. Die Begründung des Regierungsentwurfs enthält weitere inkonsistente Aussagen. Beispielsweise wird einerseits behauptet, Vermögensgegenstände seien durch ihre Einzelverwertbarkeit gekennzeichnet59; andererseits soll sich am Verhältnis von Handels- zu Steuerbilanz hinsichtlich der GoB nichts geändert haben60. Nach der BFH-Rechtsprechung kann der Begriff des Wirtschaftsguts nicht weiter gehen als der des Vermögensgegenstands61. Zugleich ist für den BFH die Einzelverwertbarkeit kein Kriterium zur Kennzeichnung eines Wirtschaftsguts, vielmehr sind wirtschaftlicher Vorteil, Greifbarkeit, Übertragbarkeit mit dem gesamten Unternehmen und selbständige Bewertbarkeit relevant. Das passt, wie die Literatur zu Recht anmerkt62, nicht zusammen63. Völlig unklar ist schließlich die Frage, was bei Entwicklungskosten aktiviert wird. Während einerseits laut Begründung des Regierungsentwurfs ein Vermögensgegenstand vorliegen muss64, wird andererseits von einer hohen Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher entsteht, gesprochen65. Auch Kommentierungen des Gesetzes sind in dieser Hinsicht von beachtlicher Vagheit66. Hier auf die Pate stehenden IFRS zu verweisen, ist – wie die Literatur zu Recht ausführt67 – bereits systematisch verfehlt.
__________ 58 Gesetzentwurf (Fn. 50), S. 67. 59 Vgl. Gesetzentwurf (Fn. 50), S. 50. 60 Vgl. Gesetzentwurf (Fn. 50), S. 32 und S. 34, sowie speziell zum Vermögensgegenstand S. 35 und S. 50. 61 Vgl. BFH v. 26.2.1975 – I R 72/73, BStBl. II 1976, 14; BFH v. 6.12.1978 – I R 35/78, BStBl. II 1979, 263; BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 352; Moxter (Fn. 46), S. 8. 62 Vgl. insb. Wüstemann/Wüstemann in FS Krawitz (Fn. 53), S. 760–762. 63 Zu aus Einzelverwertbarkeit und Übertragbarkeit mit dem gesamten Unternehmen resultierenden Unterschieden im Bilanzansatz vgl. Hennrichs, Immaterielle Vermögensgegenstände nach dem Entwurf des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG), DB 2008, 537 (539). 64 Vgl. Gesetzentwurf (Fn. 50) S. 50. 65 Vgl. Gesetzentwurf (Fn. 50) S. 60. 66 Vgl. Gelhausen/Fey/Kämpfer, Rechnungslegung und Prüfung nach dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, 2009, S. 82–84. 67 Vgl. Moxter, IFRS als Auslegungshilfe handelsrechtlicher GoB?, WPg 2009, 7; Gelhausen/Fey/Kämpfer (Fn. 66), S. 76 und S. 87.
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3. Konsequenzen für Maßgeblichkeitsprinzip und Einheitsbilanz Änderungen des GoB-Systems und der GoB-Inhalte schlagen nur dann auf die Steuerbilanz durch, wenn eigenständige und eindeutige Normen im Bilanzsteuerrecht fehlen. Das Spannungsverhältnis von Vermögensgegenstand und Wirtschaftsgut bleibt auch nach dem BilMoG unberührt, während die handelsrechtlich dubiosen Entwicklungskosten steuerlich wegen entgegenstehender Regelung kein Problem darstellen. Ihre Aktivierung ist unzulässig. Die im letzten Abschnitt erwähnten Änderungen oder zusätzlichen Ausnahmen beim Stetigkeitsgebot, Saldierungsverbot und Einzelbewertungsprinzip entfalten wegen expliziter und eindeutiger steuerlicher Regelungen ebenfalls keine Wirkung auf die steuerliche Gewinnermittlung. Anders ist dies hingegen mit der Neuformatierung des Stichtagsprinzips im Zusammenhang mit der Rückstellungsbewertung68 und kann es mit der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, speziell für Schulden, sein. Alles in allem kann die GoB-Modifikation die Einheitsbilanz deshalb noch stärker gefährden als sie schon durch explizite und einander widersprechende Einzelnormen behindert ist. Besondere Aufmerksamkeit hat in diesem Zusammenhang die Problematik der Entkoppelung der steuerlichen Wahlrechte gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz EStG gefunden. Es ist strittig, ob beispielsweise das Teilwertabschreibungswahlrecht gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2, Nr. 2 Satz 2 EStG in der Steuerbilanz uneingeschränkt gilt oder ob weiterhin das Niederstwertprinzip anzuwenden und eine Teilwertabschreibung mithin bei vorliegenden Voraussetzungen für eine handelsrechtlich gebotene Abschreibung zwingend ist. Während einerseits auf den Wortlaut des Gesetzes verwiesen wird69, werden andererseits der in den Gesetzesmaterialien erkennbare Wille des Gesetzgebers, der Sinnzusammenhang und der Zweck der steuerlichen Rechnungslegung ins Feld geführt70. Das BMF-Schreiben vom 12.3.2010 stellt die Abweichung der handelsrechtlichen von der steuerrechtlichen Bewertung als legitim dar71. Mir erscheint dies angesichts des Gesetzeswortlauts zwingend.
__________ 68 Vgl. Wüstemann/Wüstemann in FS Krawitz (Fn. 53), S. 766–769. Die Wirkung von § 6 Abs. 1 Nr. 3a lit. f EStG ist unzweifelhaft. Kern des Arguments ist das Stichtagsprinzip, das noch an anderer Stelle als Rückstellungen Wirkung entfaltet. 69 Vgl. Bruckmeier/Zwirner/Busch, Abschreibungen auf Anteile an Kapitalgesellschaften, DStR 2010, 237 (241); Herzig, BilMoG, Tax Accounting und Corporate Governance-Aspekte, DB 2010, 1 (3 f.); Herzig/Briesemeister, DB 2009, 926 (929 f.); Theile, DStR 2009, 2384 (2385). 70 Vgl. Anzinger/Schleiter, Die Ausübung steuerlicher Wahlrechte nach dem BilMoG, DStR 2010, 395; Arbeitskreis Bilanzrecht, DB 2009, 2570 (2571 f.); Schenke/Risse, Das Maßgeblichkeitsprinzip nach dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, DB 2009, 1957; Weber-Grellet, DB 2009, 2402 (2403). 71 Vgl. BMF-Schreiben v. 12.3.2010 – IV C 6 – S 2133/09/10001, Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung für die steuerliche Gewinnermittlung, WPg 2010, 416 (418).
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VI. Denkbare Entwicklungen und Konsequenzen 1. Unternehmensebene Auf Unternehmensebene wird nach der Einschätzung von Herzig der Einheitsbilanz die Basis entzogen: „Die bisher im Mittelstand überwiegend geübte Praxis, den steuerlichen Gewinn mit Hilfe einer Überleitungsrechnung aus dem handelsrechtlichen Jahresüberschuss abzuleiten, dürfte wegen der deutlich vergrößerten Zahl der Abweichungen die Übersichtlichkeit erschweren und die Fehleranfälligkeit erhöhen. Es wird deswegen in vielen Fällen unverzichtbar sein, eine eigenständige Steuerbilanz zu erstellen, die auf einem Tax Accounting aufbaut, welches sich partiell vom Financial Accounting emanzipiert.“72
Hierzu trägt auch die Notwendigkeit bei, latente Steuern in der Handelsbilanz nunmehr nach dem bilanzorientierten Vermögenskonzept zu berechnen und ggf. anzusetzen (passivisch zwingend, aktivisch und saldierend wahlweise)73. 2. Regulierungsebene Herzig sieht zugleich das Ende des Maßgeblichkeitsprinzips kommen: „Die Überlegungen zur Schaffung einer eigenständigen steuerlichen Gewinnermittlung dürften mit dem BilMoG weiter an Boden gewinnen.“74 Der Druck in diese Richtung könnte noch dadurch verstärkt werden, dass das HGB nach Reform durch das BilMoG sich nur teilweise an die IFRS angelehnt, teilweise sich aber auch davon abgehoben hat – man denke nur an die Pensionslasten – und die Unternehmen das Problem haben, die Bilanzierung mehrgleisig für die Besteuerung sowie den Jahres- und den Konzernabschluss zu betreiben. Bei dieser Vielgleisigkeit scheint die Verbindung von Handels- und Steuerbilanz nur noch von geringer Bedeutung zu sein. Gehe ich von der Tendenz zur eigenständigen steuerlichen Gewinnermittlung aus, stellt sich die Frage nach ihrer Umsetzung, die unterschiedlich weite Reformansätze denkbar werden lässt75. Möglich wäre die Beseitigung der Dualität der Einkünfteermittlung76 oder deren Aufrechterhaltung mit Schaffung einer vom HGB losgelösten Steuerbilanz. Gerade weil der Idee, die IFRS handelswie steuerrechtlich zu verwenden, durch das BilMoG eine Absage erteilt wurde, erscheint ein eigener steuerlicher Weg vertretbar. Er würde zu dem Bestreben
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72 Herzig, DB 2010, 1 (2). 73 Zum Kompromisshaften dieser Lösung und dem Werdegang vgl. a. Ballwieser, Latente Steuern – Konzeptionen und Entscheidungsnützlichkeit, in FS Krawitz (Fn. 14), S. 539 (544–546); zu Auslegungsproblemen vgl. insb. Karrenbrock, Zur Ausweis- und Saldierungsproblematik latenter Steuern im Einzelabschluss nach dem BilMoG, in FS Krawitz (Fn. 14), S. 631 und Naumann, Zweifelsfragen der Bilanzierung latenter Steuern im Einzelabschluss nach den Vorschriften des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes, in FS Krawitz (Fn. 14), S. 689. 74 Herzig/Briesemeister, DB 2009, 926 (931). 75 Zur umfassenderen Diskussion von Entwicklungsalternativen vgl. Schön in Steuerliche Maßgeblichkeit (Fn. 16), S. 101–118. 76 Zu Ansätzen hierzu vgl. insb. Schneider, Folgt die Tugend gewinnsteuerlicher Bemessungsgrundlagen den Zahlungsströmen?, StuW 2004, 293 (302–304).
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passen, eine einheitliche Besteuerungsgrundlage in der EU zu schaffen77. Geht man davon aus, dass die EU-Vereinheitlichung wegen zu starker Interessengegensätze einiger Länder scheitert, wäre der nationale Gesetzgeber gefordert. Was könnte er tun? Kann man sich wirklich vorstellen, dass der nationale Gesetzgeber für die in der Bilanz anzusetzenden Posten neue Begriffe jenseits von Wirtschaftsgut, Vermögensgegenstand und Schulden schafft? Lässt sich realistischerweise erwarten, dass der Gesetzgeber – selbst wenn er so mutig sein sollte – diese neuen Begriffe unabhängig von den Auslegungen der bisher verwendeten Vokabeln versteht? Wo findet er die theoretische Grundlage dafür? Kann er ohne eine solche Grundlage agieren? Nun lässt sich einwenden, dass genügend steuerliche Begrifflichkeiten – auch in gefestigter Rechtsprechung – vorlägen und man hieran einfach anschließen könne. Das ist nicht zu leugnen. Sieht man hingegen, welchen mühseligen Entstehungsprozess mittlerweile Bilanzrechtsnormen durchlaufen müssen (das BilMoG hat davon erneut Zeugnis abgelegt), vergegenwärtigt man sich die zu erwartenden politischen Einflussnahmen und die Schwierigkeiten, das Thema Steuern und Steuerbemessungsgrundlagen sachlich zu diskutieren, dann erscheint mir der weitere partikulare Eingriff in bestehende Regeln im Sinne einer noch stärkeren Eindeutigkeit und damit verbundenen Normierung viel wahrscheinlicher als der große Wurf einer eigenständigen steuerlichen Bilanzierung. Inwieweit dieser Eingriff die Maßgeblichkeit beseitigt, aushöhlt oder zu ihrer Konkretisierung beiträgt, dürfte sich allgemein kaum abschätzen lassen.
VII. Thesenförmige Zusammenfassung 1) Viele Unternehmen, nicht nur kleinere, versprechen sich Vorteile von einer Einheitsbilanz für steuerliche wie gesellschaftsrechtliche Zwecke. § 5 Abs. 1 EStG a. F. mit kodifiziertem Maßgeblichkeitsprinzip und die sog. Umkehrmaßgeblichkeit schafften hierzu grundsätzlich eine geeignete Grundlage. Die Einschränkung resultiert daraus, dass zwingende, inhaltlich konträre Normen, z. B. bei Drohverlustrückstellungen, existieren. 2) Das Maßgeblichkeitsprinzip war immer umstritten, jedoch gibt es viele gute Gründe für seine Existenz, u. a. solche zur Linderung eines AgencyKonflikts zwischen Bilanzersteller und Kapitalgeber und zur Verträglichkeit mit (nicht Ableitbarkeit aus) Besteuerungsleitlinien. 3) Durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz wurde die Umkehrmaßgeblichkeit aufgehoben. Die Einheitsbilanz wird dadurch über zwingende und inhaltlich konträre Normen in Handels- und Steuerbilanzrecht hinaus torpediert.
__________ 77 Vgl. insb. Europäische Kommission (Hrsg.), Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft: Bisherige Fortschritte und weitere Schritte zu einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), 2006, S. 157; Schanz/ Schanz, StuW 2009, 311 (315).
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4) Wie sehr dadurch die Maßgeblichkeit durch Einzelnormen ausgehöhlt oder das Prinzip noch als erhalten angesehen wird, stellt sich als eine Wertungsfrage hinsichtlich eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses dar. Ein allgemein nachvollziehbares Kriterium zur Kennzeichnung von Regel und Ausnahme fehlt. Die Einschätzung, welche Einzelnormen wie sehr die Regel gegebenenfalls aushöhlen, verlangt den Rückgriff auf konkrete Unternehmen, deren Geschäftsmodelle und buchungsrelevante Ereignisse. 5) Ein das Maßgeblichkeitsprinzip stützendes Argument sehe ich in dem Fundus der Bilanzrechtsprechung des Bundesfinanzhofs, die zwar weder gradlinig noch widerspruchsfrei war, aber doch ein System von Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung erkennen lässt, das in beachtlichem Maße zur Rechtssicherheit beigetragen hat. 6) Nach der Regierungsbegründung des BilMoG sollte das bisherige System der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung erhalten bleiben. Hieran wecken insbesondere die Neuformatierung des Stichtagsprinzips im Zusammenhang mit der Rückstellungsbewertung und die Kennzeichnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, speziell für Schulden, Zweifel. Die GoB-Modifikation kann deshalb die Einheitsbilanz noch stärker gefährden als sie schon durch explizite und einander widersprechende Einzelnormen und die Aufhebung der Umkehrmaßgeblichkeit behindert ist. 7) Einige Literaturbeiträge sehen das Maßgeblichkeitsprinzip als nur noch übergangsweise vorhandene Erscheinung bis zur Schaffung einer eigenständigen steuerlichen Gewinnermittlung. Nach meiner Einschätzung ist das verfrüht. Viel wahrscheinlicher erscheint mir der weitere partikulare Eingriff in bereits bestehende Regeln im Sinne einer noch stärkeren Eindeutigkeit und damit verbundenen Normierung. Inwieweit dies tatsächlich die Maßgeblichkeit beseitigt, aushöhlt oder zu ihrer Konkretisierung beiträgt, dürfte sich allgemein kaum abschätzen lassen.
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Der Begriff des Kapitalkontos im Sinne von § 15a EStG Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gesellschafterkonten in der Handelsbilanz der Personengesellschaft 1. Abdingbare gesetzliche Regelungen a) Persönlich haftende Gesellschafter b) Kommanditist 2. Mehrkontenmodelle in der handelsrechtlichen (Kautelar-)Praxis a) Vorbemerkung b) Zweikonten-Modell c) Dreikonten-Modell d) Vierkonten-Modell III. Gesellschafterkonten im Rahmen des § 15a EStG 1. Vorbemerkung 2. Allgemeine Grundsätze zur Abgrenzung der Kapitalkonten i. S. von § 15a EStG von den übrigen Konten des Personengesellschafters a) Irrelevanz der (äußeren) Bezeichnung des Gesellschafterkontos; Maßgeblichkeit der in Zweifelsfällen durch Auslegung des Gesellschaftsvertrages zu ermittelnden Rechtsnatur des Kontos
b) Entscheidendes Kriterium: Belastung des Gesellschafterkontos mit den Verlustanteilen des Gesellschafters c) Verbuchung der Entnahmen und Einlagen d) Festlegung von „Darlehens“Konditionen e) Verzinsung des betreffenden Kontos 3. Qualifizierung der im gesetzlichen Regelungswerk und in den wichtigsten (vertraglich installierten) Kontenmodellen vorkommenden Gesellschafterkonten a) Vorbemerkung b) Passivische Gesellschafterkonten des Kommanditisten c) Aktivische Gesellschafterkonten des Kommanditisten d) Auf passivischen Gesellschafterkonten erfasstes Eigenkapital ersetzende Darlehen und Finanzplandarlehen IV. Zusammenfassung
I. Einleitung Mit der Einführung des § 15a EStG durch das Gesetz zur Änderung des Einkommensteuergesetzes, des Körperschaftsteuergesetzes und anderer Gesetze v. 20.8.19801 hatte der Gesetzgeber der Rechtsprechung, Verwaltung und Steuerrechtswissenschaft „einen schier unüberwindlichen Berg“ von Problemen angehäuft2. Inzwischen – nach nunmehr dreißigjährigem Umgang mit dieser Vorschrift – sind nicht zuletzt dank einer Fülle literarischer Vorarbeiten viele, wenngleich auch nicht alle mit der praktischen Anwendung dieser Vorschrift verbundenen Zweifelsfragen durch die Rechtsprechung und Verwaltung in
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1 BGBl. I 1980, 1545 = BStBl. I 1980, 589. 2 Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, § 11a III, S. 487 ff.
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befriedender Weise beantwortet worden. Gerade auch der Jubilar hat sich in diesem Zusammenhang mit seiner grundlegenden und umfassenden Arbeit „Zur Begrenzung des Verlustabzugs nach § 15a EStG bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung“3 besondere Verdienste erworben. Der folgende Beitrag widmet sich lediglich einem kleinen Ausschnitt aus dem Problembereich des § 15a EStG, nämlich der Beantwortung der bis heute nicht bis in die letzten Einzelheiten geklärten Frage, welche Gesellschafterkonten zum Kapitalkonto i. S. von § 15a Abs. 1 Satz 1 EStG gehören. Nach § 15a Abs. 1 Satz 1 EStG darf der Anteil eines Kommanditisten am Verlust der KG weder mit anderen Einkünften aus Gewerbebetrieb noch mit Einkünften aus anderen Einkunftsarten ausgeglichen werden, soweit ein negatives Kapitalkonto des Kommanditisten entsteht oder sich erhöht. Damit kommt dem Begriff des Kapitalkontos im Tatbestand des § 15a EStG eine zentrale Bedeutung zu. Denn das Kapitalkonto des Kommanditisten bestimmt grundsätzlich die Grenze, bis zu der die dem Kommanditisten zuzurechnenden Verluste der KG nach allgemeinen Vorschriften des Einkommensteuerrechts ausgleichsund abzugsfähig sind. Darüber hinausgehende Verlustanteile des Kommanditisten sind – vorbehaltlich der Regelung des § 15a Abs. 1 Satz 2 EStG – nur verrechenbar. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH4 ist unter dem Kapitalkonto nicht etwa das in der Gesamtbilanz der Mitunternehmerschaft auszuweisende Kapitalkonto des Kommanditisten zu verstehen, sondern nur das Kapitalkonto in der Steuerbilanz der KG (Gesellschaftsbilanz; Gesamthandsbilanz) zuzüglich eines etwaigen Mehr- oder Minderkapitals aus einer für den Kommanditisten zu führenden Ergänzungsbilanz. Außen vor bleibt mithin das (positive oder negative) Kapital, welches in einer etwaigen Sonderbilanz für den Kommanditisten dokumentiert ist5. Das Kapitalkonto des Kommanditisten in der Steuerbilanz der KG (Gesellschaftsbilanz, Gesamthandsbilanz) wird nach ständiger Rechtsprechung6 und herrschender Lehre7 durch die tatsächlich geleistete Einlage und nicht etwa durch die vereinbarte Pflichteinlage bestimmt. Stets werden für einen Kommanditisten in der Steuerbilanz der KG mehrere Konten mit in der Praxis unterschiedlichen Bezeichnungen, z. B. als „Kapitalkonto I“, „Kapitalkonto II“, „Kapitalkonto III“, „Verrechnungskonto“, „Privatkonto“, „Darlehenskonto“ usw., geführt. Diese Konten weisen in der Regel nicht ausnahmslos Eigenkapital, sondern auch Forderungen und Verbindlichkeiten zwischen dem Gesellschafter (Kommanditisten) und der Personengesellschaft aus. Nur das Eigenkapital, nicht hingegen die letztgenannten Forderungen und Verbindlichkeiten fließen in das Kapitalkonto des Kommanditisten i. S. von § 15a EStG ein.
__________ 3 Spindler, FR 1997, 147 ff. 4 Vgl. z. B. BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812 (814). 5 Vgl. z. B. BFH v. 14.5.1991 – VIII R 31/88, BStBl. II 1992, 167; BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812 (814); Wacker in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 15a EStG Rz. 83. 6 BFH v. 19.5.1987 – VIII B 104/85, BStBl. II 1988, 5 (10). 7 Statt vieler Wacker in Schmidt (Fn. 5), § 15a EStG Rz. 96.
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Wann einem für den Kommanditisten in der Bilanz der KG geführten Konto die Rechtsnatur eines „echten“ Kapitalkontos zukommt und wann es lediglich Forderungen und Schulden zwischen Gesellschafter und Personengesellschaft repräsentiert, spielt im Übrigen nicht nur im Rahmen des § 15a EStG, sondern auch in anderem Zusammenhang eine entscheidende Rolle, namentlich insbesondere für die handelsrechtliche Gewinnverteilung, die Stimmrechte und die Haftung sowie in steuerrechtlicher Hinsicht für die Ermittlung der nicht abziehbaren Schuldzinsen gemäß § 4 Abs. 4a EStG, für die Ermittlung der Eigenkapitalquote bei der Bestimmung der Zinsschranke gemäß § 4h EStG, für die Berechnung des nicht entnommenen Gewinns und der Überentnahmen nach § 34a EStG, für die Behandlung der Verzinsung des Gesellschafterkontos sowie für die Übertragung von Wirtschaftsgütern des Privatvermögens oder des Betriebsvermögens auf eine gewerbliche Personengesellschaft gegen Gutschrift auf den Gesellschafterkonten8. Auf diese Abgrenzung wird im Folgenden näher einzugehen sein9. Vorab erscheint es jedoch sinnvoll, einen kurzen Überblick über die in der Praxis häufig vorzufindenden Konten der Kommanditisten in der Handelsbilanz der KG zu geben.
II. Gesellschafterkonten in der Handelsbilanz der Personengesellschaft 1. Abdingbare gesetzliche Regelungen a) Persönlich haftende Gesellschafter Die dispositive Regelung des § 120 Abs. 2 HGB sieht für den Gesellschafter einer OHG nur ein einziges – variables – Kapitalkonto vor. Entsprechendes gilt – über § 161 Abs. 2 HGB – auch für den Komplementär einer KG. Auf diesem Kapitalkonto werden sowohl die Einlagen als auch die Gewinnanteile, Verlustanteile und Entnahmen des Gesellschafters verbucht. b) Kommanditist Anders als für die persönlich haftenden Gesellschafter gehen die abdingbaren Vorschriften des HGB für den Kommanditisten von zwei Gesellschafterkonten aus. Auch der Kommanditist verfügt über ein bewegliches Kapitalkonto. Im Unterschied zum Kapitalanteil des Komplementärs ist allerdings der Kapitalanteil des Kommanditisten gemäß § 167 Abs. 2 HGB der Höhe nach auf den Betrag der (gesellschafts-)vertraglich festgelegten Einlage („Pflichteinlage“, „bedungene Einlage“) begrenzt. Hat der Kommanditist diese Pflichteinlage – etwa durch Einzahlungen, Sacheinlagen oder durch Stehenlassen von Gewinnanteilen – geleistet, so sind die weiteren Gewinnanteile einem zweiten Konto zuzuführen. Über das Guthaben auf diesem zweiten Konto kann der Kommanditist grundsätzlich frei verfügen. Dieses Guthaben stellt eine Forderung des
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8 Vgl. z. B. Ley, DStR 2009, 613. 9 Vgl. unten III.
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Kommanditisten gegen die KG dar. Es ist nicht Teil der Einlage und erhöht damit nicht das Kapitalkonto des Kommanditisten. Der Kommanditist kann dieses Guthaben grundsätzlich, auch noch nach längerem Stehenlassen, abheben10, und zwar auch dann, wenn sein Kapitalkonto (= erstes Konto) negativ geworden ist11. Verlustanteile des Kommanditisten mindern nicht das Forderungskonto, sondern nur sein Kapitalkonto (erstes Konto). Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass der Kommanditist mangels gegenteiliger Abreden (im Gesellschaftsvertrag) zu Nachschüssen nicht verpflichtet ist12. 2. Mehrkontenmodelle in der handelsrechtlichen (Kautelar-)Praxis a) Vorbemerkung Häufig werden die soeben skizzierten gesetzlichen Regelungen in der Praxis durch die Handhabung von Mehrkontenmodellen abbedungen, weil das gesetzliche Regelwerk den Interessen und Bedürfnissen der Personengesellschaft und deren Gesellschaftern nicht (in vollem Umfang) gerecht wird. b) Zweikonten-Modell Hier werden für jeden Gesellschafter zwei Konten geführt, und zwar ein festes Konto, auf dem die im Gesellschaftsvertrag vereinbarte Einlage (= Pflichteinlage) verbucht wird, und ein variables Konto, das die Gewinnanteile, Verlustanteile und die Entnahmen aufnimmt13. Das zweite Konto im vertraglichen Zweikonten-Modell hat also eine andere Rechtsqualität als das zweite Konto des Kommanditisten im gesetzlichen Regelstatut: Im vertraglich vereinbarten Zweikonten-Modell werden die Verlustanteile des Kommanditisten dem zweiten Konto belastet, wohingegen nach dem gesetzlichen Regelungswerk die Verlustanteile des Kommanditisten den auf dem ersten Konto ausgewiesenen Kapitalanteil mindern. Das ZweikontenModell führt also für den Kommanditisten zu dem Ergebnis, dass entgegen dem gesetzlichen Leitbild (vgl. § 167 Abs. 2 und § 169 Abs. 2 HGB) Gewinne aus den Vorjahren mit Verlusten verrechnet werden. c) Dreikonten-Modell Das Dreikonten-Modell vermeidet den im Zweikonten-Modell (oben b) auftretenden Effekt, dass entgegen den Regelungen in den §§ 167 Abs. 2 und 169 Abs. 2 HGB Verluste mit den nicht entnommenen Gewinnen der Vorjahre verrechnet werden. Das übliche Dreikonten-Modell sieht die folgenden Konten vor:
__________ 10 11 12 13
Vgl. z. B. Huber, ZGR 1988, 1 (7 f.) m. w. N. Vgl. z. B. Huber, ZGR 1988, 1 (8, 35 f.). Vgl. z. B. Ley, KÖSDI 1994, 9973 (9974). Vgl. z. B. BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (274).
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– Ein festes Kapitalkonto („Kapitalkonto I“), auf dem die Pflichteinlage verbucht wird (insoweit kein Unterschied zum Zweikonten-Modell). – Zweites Konto („Kapitalkonto II“); auf diesem Konto werden die nach dem Gesellschaftsvertrag oder aufgrund Gesellschafterbeschlusses nicht entnehmbaren Gewinnanteile und die Verlustanteile erfasst. – Ein drittes Konto („Darlehenskonto“, „Verrechnungskonto“); hier werden die entnahmefähigen Gewinnanteile (einschließlich etwaiger Sondervergütungen) und sonstige Einlagen zugeschrieben sowie die Entnahmen abgeschrieben14. Im Grundsatz entspricht das Dreikonten-Modell für den Kommanditisten dem HGB-Regelstatut, allerdings mit dem Unterschied, dass das bei der gesetzlichen Regelung als variables Kapitalkonto vorgesehene erste Konto in zwei Konten aufgespalten wird, nämlich in das feste „Kapitalkonto I“ und in das variable „Kapitalkonto II“. d) Vierkonten-Modell Der Unterschied zum Dreikonten-Modell liegt beim Vierkonten-Modell darin, dass ein zusätzliches – separates – Verlustvortragskonto (Verlustverrechnungskonto) eingerichtet wird. Das beim Dreikonten-Modell geführte zweite Konto wird in zwei Konten aufgespalten. Regelmäßig werden demgemäß folgende vier Konten eingerichtet: – Das – feste – erste Kapitalkonto („Kapitalkonto I“) dient der Erfassung der Pflichteinlage. – Auf dem zweiten Konto werden die nicht entnahmefähigen Gewinnanteile verbucht. – Das dritte Konto („Verlustvortragskonto“) erfasst die Verlustanteile des Kommanditisten. – Auf dem vierten Konto („Darlehenskonto“) werden die entnahmefähigen Gewinnanteile (einschließlich etwaiger Sondervergütungen) und die Entnahmen erfasst15. Durch die Einrichtung eines im Verhältnis zum Dreikonten-Modell zusätzlichen vierten Kontos – dem Verlustverrechnungskonto (Verlustvortragskonto) – wird bezweckt, dass die Verlustanteile des Kommanditisten nicht primär mit seinen stehengelassenen Gewinnanteilen, sondern – der Regelung des § 169 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 HGB Rechnung tragend – mit künftigen Gewinnanteilen verrechnet werden. Weist das Verlustverrechnungskonto des Kommanditisten einen Verlustvortrag aus, so werden künftige Gewinnanteile so lange mit dem Bestand auf dem Verlustvortragskonto verrechnet, bis der Verlustvortrag ausgeglichen ist. Erst danach werden die Gewinnanteile dem zweiten Konto bzw. dem vierten Konto des Kommanditisten gutgeschrieben16.
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14 Vgl. z. B. BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (274 f.). 15 Vgl. z. B. BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (275). 16 Carlé/Bauschatz, FR 2002, 1153 (1156).
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III. Gesellschafterkonten im Rahmen des § 15a EStG 1. Vorbemerkung Im Grundsatz gebietet schon die Zielsetzung des § 15a EStG, dass die handelsrechtliche Beurteilung darüber, welche Konten als Kapitalkonten zu qualifizieren sind und welchen der Charakter eines Forderungs- und Schuldkontos zukommt, mit derjenigen im Rahmen des § 15a EStG übereinstimmt. Die gesetzgeberische Zielsetzung des § 15a EStG geht dahin, die steuerliche Anerkennung von Verlusten der handelsrechtlichen Haftungslage anzupassen17. 2. Allgemeine Grundsätze zur Abgrenzung der Kapitalkonten i. S. von § 15a EStG von den übrigen Konten des Personengesellschafters Die höchstrichterliche Rechtsprechung und die Literatur haben in einer Vielzahl von Entscheidungen und zahllosen Beiträgen zur Unterscheidung der steuerrechtlichen Kapitalkonten von den übrigen Gesellschafterkonten die folgenden Grundsätze herausgearbeitet: a) Irrelevanz der (äußeren) Bezeichnung des Gesellschafterkontos; Maßgeblichkeit der in Zweifelsfällen durch Auslegung des Gesellschaftsvertrages zu ermittelnden Rechtsnatur des Kontos Die Abgrenzung der verschiedenen Gesellschafterkonten voneinander richtet sich nicht nach der (äußeren) Bezeichnung der Konten18 und nach der Eigenqualifikation der Gesellschaft und deren Gesellschaftern, sondern im Grundsatz danach, ob die auf den betreffenden Konten erfassten Zu- und Abgänge gesellschaftsrechtlicher oder schuldrechtlicher Natur sind19. Welche Rechtsnatur einem bestimmten Gesellschafterkonto zukommt, muss in Zweifelsfällen im Wege der Auslegung des Gesellschaftsvertrages unter Berücksichtigung der von den Gesellschaftern bestimmten zivilrechtlichen Folgen bestimmt werden20. Die Qualifikation des betreffenden Kontos richtet sich freilich nach den dort vorgenommenen tatsächlichen Buchungen, wenn diese in jahrelanger Übung im Widerspruch zu den gesellschaftsvertraglichen Vereinbarungen erfolgten21. In derartigen Fällen besteht eine tatsächliche Vermutung für die Änderung des Gesellschaftsvertrages22. Das gilt selbst dann, wenn im Gesellschaftsvertrag angeordnet wurde, dass seine Änderungen der Schriftform bedürfen23. Um eine schuldrechtliche Forderung des Gesellschafters gegen die
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17 Vgl. z. B. Wacker in Schmidt (Fn. 5), § 15a EStG Rz. 30. 18 Vgl. z. B. BFH v. 26.6.2007 – IV R 29/06, BStBl. II 2008, 103 (105); BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812 (814); Carlé/Bauschatz, FR 2002, 1153 (1158). 19 Vgl. z. B. BFH v. 5.6.2002 – I R 81/00, BStBl. II 2004, 344 (346). 20 Vgl. z. B. BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812 (814). 21 Vgl. Carlé/Bauschatz, FR 2002, 1153 (1158) m. w. N. 22 BGH v. 19.12.1977 – II ZR 10/76, WM 1978, 300 (301); Carlé/Bauschatz, FR 2002, 1153 (1158); Röhrig/Doege, DStR 2006, 489 (491). 23 BGH v. 5.2.1968 – II ZR 85/67, BGHZ 49, 364 (366); Carlé/Bauschatz, FR 2002, 1153 (1158).
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Personengesellschaft und nicht um Eigenkapital der Gesellschaft handelt es sich bei einem passivischen Gesellschafterkonto24 dann, wenn der Gesellschafter insoweit einen unentziehbaren, nur nach den §§ 362 bis 397 BGB erlöschenden Anspruch gegen die Gesellschaft haben soll, der auch in der Insolvenz der Gesellschaft wie die Forderung eines Dritten geltend gemacht werden kann und der noch vor der eigentlichen Auseinandersetzung zu erfüllen ist, also nicht lediglich einen Teil des Auseinandersetzungsguthabens des Gesellschafters darstellt25. Dabei spricht der Umstand, dass der Gesellschafter nicht sofort über sein Guthaben verfügen kann, nicht ohne Weiteres gegen dessen Fremdkapitalcharakter, weil auch Gesellschafterdarlehen mit Kündigungsbeschränkungen versehen sein können, die Entnahmebeschränkungen beim Eigenkapital wirtschaftlich vergleichbar sind26. b) Entscheidendes Kriterium: Belastung des Gesellschafterkontos mit den Verlustanteilen des Gesellschafters aa) Laufende Verbuchung der Verlustanteile Entscheidend für den Eigenkapitalcharakter des Kontos spricht eine gesellschaftsvertragliche Regelung, nach der auf diesem Konto laufend auch die Verlustanteile des Gesellschafters verbucht werden27. Sind nämlich die Gutschriften auf dem betreffenden Konto mit künftigen Verlustanteilen zu verrechnen, erlangt der Gesellschafter gerade keinen unentziehbaren Anspruch gegen die Gesellschaft. Vielmehr nimmt er mit seinem Guthaben an den Risiken des Unternehmens teil. Derartiges Risikokapital ist als Einlage, nicht als Darlehensforderung zu qualifizieren. Denn mit dem Begriff des Darlehens ist eine Verlustbeteiligung grundsätzlich nicht vereinbar28. bb) Einbeziehung des zu beurteilenden Gesellschafterkontos in die Ermittlung des Abfindungs- bzw. Auseinandersetzungsguthabens des Gesellschafters (1) Auffassung des BFH und der herrschenden Lehre Nach den unter aa) dargelegten Maßstäben ist grundsätzlich auch dann von einem Kapitalkonto auszugehen, wenn zwar dem betreffenden Konto die Verlustanteile des Gesellschafters nicht laufend (alljährlich) belastet werden, wenn das Konto jedoch im Falle des Ausscheidens des Gesellschafters oder der
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Zum aktivischen Gesellschafterkonto vgl. unten III. 3. c). Vgl. z. B. BFH v. 26.6.2007 – IV R 29/06, BStBl. II 2008, 103 (105). Vgl. z. B. BFH v. 26.6.2007 – IV R 29/06, BStBl. II 2008, 103 (105). Vgl. z. B. BFH v. 4.5.2000 – IV R 16/99, BStBl. II 2001, 171 (173); BFH v. 5.6.2002 – I R 81/00, BStBl. II 2004, 344 (346); BFH v. 26.6.2007 – IV R 29/06, BStBl. II 2008, 103 (105); BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812 (814); Huber, ZGR 1988, 1 (70 ff.). 28 Vgl. z. B. BFH v. 27.6.1996 – IV R 80/95, BStBl. II 1997, 36 (37) m. w. N.; BFH v. 4.5.2000 – IV R 16/99, BStBl. II 2001, 171 (173); BFH v. 26.6.2007 – IV R 29/06, BStBl. II 2008, 103 (105) m. w. N.; BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812 (814) m. w. N.
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Liquidation der Gesellschaft in die Ermittlung des Abfindungsguthabens eingeht. Bei einem Darlehenskonto käme allenfalls eine Verrechnung mit dem Abfindungsguthaben in Betracht29. (2) Abweichende Meinung und eigene Stellungnahme Gelegentlich wird die Auffassung vertreten, für eine Behandlung des „Darlehenskontos“ als Kapitalkonto i. S. von § 15a EStG sei der „Ausgleich der Verluste am Ende des Wirtschaftsjahres (…) unerlässlich“30. Soweit damit gemeint sein sollte, dass die Qualifikation eines Gesellschafterkontos als Kapitalkonto stets eine laufende Verlustbelastung auf diesem Konto voraussetze und die bloße Einbeziehung des nämlichen Kontos in die Ermittlung des Abfindungs- oder Auseinandersetzungsguthabens des Gesellschafters nicht genüge, ist dem im Grundsatz zu widersprechen31. Diese Auffassung verkennt den Charakter der Kapitalkonten bei Personengesellschaften. Nach § 120 Abs. 2 HGB wird der Verlustanteil eines OHG-Gesellschafters von seinem Kapitalanteil abgeschrieben. Dasselbe gilt für den Komplementär und den Kommanditisten einer KG (§ 167 Abs. 1 HGB). Der Gesellschafter einer OHG und der Komplementär einer KG einerseits sowie der Kommanditist andererseits unterscheiden sich nur insoweit, als der Kommanditist nur bis zum Betrag seines Kapitalanteils am Verlust der Gesellschaft teilnimmt. Letzteres hat zur Folge, dass er – anders als ein persönlich haftender Gesellschafter – im Falle der Liquidation oder seines Ausscheidens aus der Gesellschaft sein negatives Kapitalkonto nicht ausgleichen muss32. Die unterschiedliche Verlustbeteiligung der persönlich haftenden Gesellschafter und der Kommanditisten ändert aber nichts daran, dass die Kapitalkonten bei beiden lediglich Verhältniszahlen wiedergeben. Auch wenn sich die geleistete Einlage infolge von Verlusten der Gesellschaft vermindert, weisen letztere keine Forderungen der Gesellschaft gegen den Gesellschafter aus33. Eine Nachschusspflicht besteht nicht (§ 707 BGB i. V. m. § 105 Abs. 3 HGB). Daraus folgt, dass sich bei jedem Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft erst bei Beendigung des Gesellschaftsverhältnisses zeigt, ob und ggf. in welcher Höhe negative Geschäftsergebnisse der Gesellschaft aus früheren Jahren bei ihm zu einem Verlust des eingesetzten Kapitals führen. Wenn demnach bei Beendigung des Gesellschaftsverhältnisses das auf einem „Darlehenskonto“ erfasste Guthaben mit einem negativen Kapitalkonto verrechnet wird, geschieht nichts anderes, als wenn bei Beendigung des Gesellschaftsverhältnisses mit einem Kommanditisten, der anstelle des „Darlehens“ eine um den entsprechenden Betrag erhöhte Einlage
__________ 29 BFH v. 4.5.2000 – IV R 16/99, BStBl. II 2001, 171 (173); BFH v. 5.6.2002 – I R 81/00, BStBl. II 2004, 344 (346); BFH v. 26.6.2007 – IV R 29/06, BStBl. II 2008, 103 (105); BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812 (814). 30 FG Baden-Württemberg v. 8.4.2003 – 11 K 225/00, EFG 2003, 996. 31 Ebenso BFH v. 7.4.2005 – IV R 24/03, BStBl. II 2005, 598 (602); vgl. auch BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812 (814). 32 BFH v. 10.11.1980 – GrS 1/79, BStBl. II 1981, 164. 33 BGH v. 10.2.1977 – II ZR 120/75, BGHZ 68, 225 (227).
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geleistet hat, eine Rückzahlung der Einlage infolge der vorangegangenen Verluste unterbleibt34. Im Rahmen der Berechnung des Abfindungsguthabens kommt es mithin zu einer abschließenden Verrechnung der dem Kommanditisten zugerechneten Verlustanteile mit den auf dem „Darlehenskonto“ ausgewiesenen Guthaben. Der vorstehend dargelegte Grundsatz, dass ein Gesellschafterkonto auch dann als Kapitalkonto zu qualifizieren ist, wenn das Konto im Fall des Ausscheidens des Gesellschafters oder der Liquidation der Gesellschaft in die Ermittlung des Abfindungsguthabens eingeht, gilt jedenfalls dann, wenn von dem zu beurteilenden Konto keine Entnahmen vorgenommen werden dürfen. In diesem Sinne hat der BFH im Urteil v. 7.4.2005 – IV R 24/0335 entschieden, dass ein vom Kommanditisten der KG gewährtes sog. Finanzplandarlehen sein Kapitalkonto i. S. von § 15a EStG erhöhe, wenn es den vertraglichen Bestimmungen zufolge im Falle seines Ausscheidens oder der Liquidation der Gesellschaft mit einem eventuell bestehenden negativen Kapitalkonto verrechnet werde und wenn es – als zusätzliches Erfordernis – während des Bestehens der Gesellschaft vom Kommanditisten nicht gekündigt werden dürfe. Daraus könnte m. E. jedenfalls auf den ersten Blick hergeleitet werden, dass die Qualifizierung eines Kontos, mit dem die Verlustanteile nicht laufend, sondern nur bei Berechnung des Abfindungs- oder Auseinandersetzungsguthabens des Kommanditisten verrechnet werden, als Eigenkapital zusätzlich das Verbot aller Entnahmen von diesem Konto voraussetze. Allerdings hat der BFH im Urteil v. 15.5.2008 – IV R 46/0536 ein Gesellschafterkonto („Darlehenskonto“), auf dem die Verlustanteile des Kommanditisten zwar nicht laufend belastet wurden, das aber bei Ausscheiden des Kommanditisten oder bei Beendigung der KG in die Ermittlung des Abfindungsguthabens einzubeziehen war, unbeschadet des Umstands als Kapitalkonto gewertet, dass der Kommanditist von diesem Konto – wenn auch in nur beschränktem Umfang – Entnahmen tätigen durfte. In diesem Streitfall konnte der Kommanditist von seinem „Darlehenskonto“ die dort gutgeschriebenen Zinsen sowie diejenigen Beträge entnehmen, die er „zur Aufbringung von Steuern und sonstigen öffentlichen Abgaben auf sein in der Gesellschaft gebundenes Vermögen und dessen Erträge (benötigte).“ Weitere Entnahmen durften von diesem Konto nur nach einem entsprechenden, mit einfacher Mehrheit zu fassenden Gesellschafterbeschluss vorgenommen werden. Der BFH hielt die beschriebenen Entnahmemöglichkeiten für unschädlich und begründete dies mit folgender Erwägung: Es sei zu beachten, dass sich die dort streitigen „Darlehenskonten“ von den Finanzplandarlehen, über die der Senat im Urteil in BStBl. II 2005, 598 zu entscheiden gehabt habe, dadurch unterschieden, dass sie durch Anteile am Gesellschaftsgewinn gespeist worden seien. Gewinnanteile gehörten nach der gesetzlichen Vorgabe des § 120 Abs. 2 HGB zum Kapitalanteil des Gesellschafters. Aus den §§ 122 und 167 Abs. 2
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34 So nahezu wörtlich BFH v. 7.4.2005 – IV R 24/03, BStBl. II 2005, 598 (602). 35 BFH v. 7.4.2005 – IV R 24/03, BStBl. II 2005, 598. 36 BStBl. II 2008, 812.
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HGB lasse sich zudem entnehmen, dass es zum Wesen der Gewinnanteile gehöre, teilweise entnommen zu werden37. Wie es sich demgegenüber verhielte, wenn die Kommanditisten berechtigt gewesen wären, von dem Darlehenskonto unbeschränkt Entnahmen vorzunehmen, bedürfe im Streitfall keiner Entscheidung38. Dem BFH-Urteil v. 15.5.2008 – IV R 46/0539 ist zu folgen. Die dort offen gelassene Frage, wie zu entscheiden wäre, wenn die Kommanditisten zu unbegrenzten „Entnahmen“ von ihren sog. Darlehenskonten berechtigt gewesen wären, ist m. E. allerdings zu verneinen40. Denn in diesem Fall wären die Kommanditisten jederzeit im Stande gewesen, durch rechtzeitiges Abziehen ihrer Guthaben deren „Verrechnung“ mit den ihnen zugewiesenen Verlustanteilen (m. a. W.: mit dem Negativsaldo aller übrigen für die betreffenden Kommanditisten geführten „echten“ Kapitalkonten) zu vermeiden. Damit entfällt aber der entscheidende Grund dafür, weshalb ein solches „Darlehenskonto“ überhaupt als Kapitalkonto qualifiziert werden kann. Demgegenüber erreichten die in dem der BFH-Entscheidung v. 15.5.2008 – IV R 46/0541 zugrunde liegenden Sachverhalt bestehenden Entnahmebeschränkungen ein derartiges Ausmaß, dass die bei unbegrenzten Entnahmen bestehenden Umgehungsmöglichkeiten nicht existierten. In diesem Zusammenhang ist im Übrigen zu beachten, dass die im in Rede stehenden Streitfall den Kommanditisten gewährten Entnahmerechte in der Praxis üblich und typisch sind. Dass der Kommanditist die auf seine Beteiligung und Beteiligungserträge entfallenden Steuer- und Abgabenbeträge entnehmen darf, entspricht des Weiteren schon einer gesellschaftsvertraglichen Treuepflicht42. Schließlich sind – wie § 122 Abs. 1 HGB belegt – auch bei den gesetzlichen Kapitalkonten Entnahmen nicht grundsätzlich ausgeschlossen43. c) Verbuchung der Entnahmen und Einlagen Für die Qualifizierung als Kapitalkonto soll nach der Rechtsprechung und der h. L. sprechen, dass auf dem Konto Einlagen und Entnahmen verbucht sind44. Allerdings hat der BFH diese Aussage in einem neueren Urteil m. E. zu Recht dahin relativiert, dass sie sich „nur auf das variable Kapitalkonto II im Zweikonten-Modell beziehen“ könne45. M. E. hätte der BFH noch besser daran ge-
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BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812 (814). BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812 (815). BStBl. II 2008, 812. Ebenso dahin tendierend Kempermann, FR 2008, 1113; vgl. auch Pohl, NWB Fach 3, 15237 (15240), unter Hinweis darauf, dass „Eigenkapital nicht nur haftendes, sondern auch gebundenes Kapital ist“; Scharfenberg, sj. Heft 22/2008, 20 (22); a. A. Demuth, KÖSDI 2008, 16177 (16181). BStBl. II 2008, 812. Huber, ZGR 1988, 1 (41); Ley, DStR 2009, 613 (617). Pohl, NWB Fach 3, 15237 (15240). Vgl. z. B. BFH v. 27.6.1996 – IV R 80/95, BStBl. II 1997, 36 (37); BFH v. 4.5.2000 – IV R 16/99, BStBl. II 2001, 171 (173); BFH v. 5.6.2002 – I R 81/00, BStBl. II 2004, 344 (346). BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (275).
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tan, dieses Kriterium ganz fallen zu lassen, weil es für die hier zu erörternde Abgrenzungsfrage nicht weiterhilft46. Zunächst muss man sich darüber im Klaren sein, dass eine Entnahme i. S. von § 15a EStG (= Entnahme aus dem Gesamthandsvermögen) von vorneherein grundsätzlich nur dann vorliegen kann, wenn das betroffene Konto ein „echtes“ Kapitalkonto i. S. von § 15a EStG darstellt. Eine solche Entnahme scheidet a limine aus, wenn das von dem Transfer betroffene Konto den Charakter eines Fremdkapitalkontos (z. B. eines „echten“ passivischen Darlehenskontos) aufweist. Im letzteren Fall liegt eine (steuerrechtliche) Entnahme lediglich aus dem (für die Anwendung des § 15a EStG irrelevanten) Sonderbetriebsvermögen des entnehmenden Gesellschafters vor47. Ob eine Entnahme i. S. von § 15a EStG vorliegt, ist also lediglich eine Folge der Qualifikation des betreffenden Kontos als (Eigen-)Kapitalkonto und kann nicht zugleich eine Voraussetzung oder ein Indiz für diese Qualifikation sein. d) Festlegung von „Darlehens“-Konditionen Von – m. E. geringerer indizieller – Bedeutung kann schließlich sein, ob für die Kapitalüberlassung Höchstbeträge festgelegt, Sicherheiten gestellt und Tilgungsvereinbarungen getroffen worden sind48. e) Verzinsung des betreffenden Kontos Das Merkmal der Verzinsung bildet grundsätzlich kein geeignetes Abgrenzungskriterium, weil handelsrechtlich die Verzinsung von Fremdkapital (§ 111 HGB) und von Kapitalanteilen im Rahmen der Gewinnverteilung (§ 121 Abs. 1 und 2, § 168 Abs. 1 HGB) gleichermaßen üblich und typisch sind49. Von diesem Grundsatz gibt es allerdings Ausnahmen: Wird das zu beurteilende Konto gewinnunabhängig verzinst, so stellt dies ein – m. E. allerdings weniger gewichtiges – Indiz dafür dar, dass das Konto Fremdkapital ausweist50. Zu Recht hat der BFH51 in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die gewinnunabhängige Verzinsung eines Kontoguthabens nicht zwangsläufig zur Qualifikation des betreffenden Kontos als Fremdkapitalkonto führe, weil es sich insoweit um ein betriebswirtschaftliches und nicht um ein aus rechtlicher Sicht begriffsnotwendiges Kriterium handele. Dementsprechend hat der BFH auch ein gewinnunabhängig zu verzinsendes Gesellschafterkonto dem Eigenkapital zugeordnet, wenn auf ihm die Verlustanteile des Gesellschafters verbucht wurden52.
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Ebenso wohl Pohl, NWB Fach 3, 15237 (15242). So zutreffend Ley, DStR 2009, 613 (615); Altendorf, GmbH-StB 2009, 101 (103). Vgl. z. B. BFH v. 5.6.2002 – I R 81/00, BStBl. II 2004, 344 (346) m. w. N. Vgl. z. B. BFH v. 27.6.1996 – IV R 80/95, BStBl. II 1997, 36 (37). Vgl. z. B. BGH v. 21.5.1952 – II ZR 114/51, LM Nr. 14 zu § 16 UmstG; Scharfenberg, sj. Heft 22/2008, 20 (22). 51 BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812 (815). 52 BFH v. 3.11.1993 – II R 96/91, BStBl. II 1994, 88 (90); vgl. auch BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812 (815) m. w. N.
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Demgegenüber spricht das Fehlen einer Verzinsung indiziell für das Vorliegen von Eigenkapital53. Ist die Verzinsung vom Gewinn der KG abhängig, so spricht das jedenfalls nicht dagegen, dass es sich um Eigenkapital handelt. Denn eine solche gewinnabhängige Verzinsung des Kapitalanteils ist vom Gesetz in § 168 Abs. 1 i. V. m. § 121 Abs. 1 HGB ausdrücklich vorgesehen54. 3. Qualifizierung der im gesetzlichen Regelungswerk und in den wichtigsten (vertraglich installierten) Kontenmodellen vorkommenden Gesellschafterkonten a) Vorbemerkung Die unter b) folgende Darstellung konkretisiert anhand einer Einzelbetrachtung und -beurteilung der in der Praxis häufig in der Bilanz der Personen(handels-)gesellschaft vorzufindenden Gesellschafterkonten die unter 2. dargelegten allgemeinen Grundsätze. Dabei werden – mit Ausnahme des sog. Verlustverrechnungskontos (im Vierkonten-Modell) – zunächst ausschließlich solche Gesellschafterkonten in Bezug auf ihre rechtliche Einordnung als Kapitalkonten i. S. von § 15a EStG in den Blick genommen, welche passivisch sind, also auf der Passivseite der Bilanz ausgewiesen werden. Die besonderen Probleme, die sich bei aktivischen, also im Debet befindlichen Gesellschafterkonten ergeben, werden sodann unter c) angesprochen. Unter Gliederungspunkt d) wird schließlich kurz auf die Charakterisierung der Eigenkapital ersetzenden Darlehen und der sog. Finanzplandarlehen eingegangen. b) Passivische Gesellschafterkonten des Kommanditisten aa) Passivische Gesellschafterkonten des Kommanditisten nach den (dispositiven) Regelungen des HGB Zur gesetzlichen Regelung wird zunächst auf die Ausführungen unter II. 1. b) verwiesen. Das für den Kommanditisten zu führende erste Konto ist beweglich. Auf ihm wird insbesondere die gesellschaftsvertraglich vorgesehene Pflichteinlage („bedungene Einlage“) verbucht (§ 167 Abs. 1 i. V. m. § 120 Abs. 2 HGB). Kann oder braucht der Kommanditist die Pflichteinlage nicht sofort (zu) leisten, so sind die auf ihn entfallenden Gewinnanteile diesem Konto so lange gutzuschreiben, bis der Betrag der „bedungenen Einlage“ erreicht wird (§ 167 Abs. 2 HGB). Ausschließlich diesem ersten Konto werden auch die Verlustanteile des Kommanditisten belastet55. Von daher versteht es sich von selbst, dass dieses erste – bewegliche – Konto ein „echtes“ Kapitalkonto darstellt. Hat der Kommanditist die vertraglich festgelegte Einlage vollständig geleistet, so sind die auf ihn entfallenden Gewinnanteile fortan einem zweiten Konto gutzuschreiben (§ 167 Abs. 2 HGB). Da der Kommanditist nach § 169 Abs. 2
__________ 53 BGH v. 9.12.1996 – II ZR 341/95, DStR 1997, 505. 54 BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812 (815). 55 Vgl. z. B. Wüllenkemper, BB 1991, 1904 (1909).
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HGB nicht verpflichtet ist, den (mit der Gutschrift auf dem zweiten Konto) bezogenen Gewinn wegen späterer Verluste zurückzuzahlen, werden die Verlustanteile des Kommanditisten nicht diesem, sondern – wie schon gesagt – allein dem ersten Konto belastet. Demgemäß weist das zweite Konto eine – unentziehbare – Forderung des Kommanditisten gegen die KG aus. Dies gilt unabhängig davon, ob die „Entnahmen“56 von diesem Konto beschränkt sind57. Das zweite Konto ist mithin nicht als Kapitalkonto i. S. von § 15a EStG, sondern als Forderungskonto zu qualifizieren58. Dieses zweite Konto unterscheidet sich – wie noch zu zeigen sein wird59 – von dem zweiten Konto („Kapitalkonto II“) im vertraglichen Zweikonten-Modell. bb) Passivische Gesellschafterkonten im vertraglichen Zweikonten-Modell Zur Skizzierung des vertraglichen Zweikonten-Modells wird vorab auf den Gliederungspunkt II. 2. b) verwiesen. Hier wird der Kapitalanteil des Kommanditisten in einen festen und in einen beweglichen Teil aufgespalten. Das „feste“ erste Konto („Kapitalkonto I“) dient allein der Aufnahme der gesellschaftsvertraglich vereinbarten Einlage (Pflichteinlage, „bedungene Einlage“). Auf dem zweiten – variablen – Konto („Kapitalkonto II“) werden die Gewinnanteile, die Verlustanteile und die Entnahmen des Kommanditisten verbucht60. Beiden Konten kommt die Rechtsqualität „echter“ Kapitalkonten i. S. von § 15a EStG zu. Für das erste Konto versteht sich das ohnehin von selbst und folgt auch daraus, dass das zweite Konto ein Unterkonto des ersten Kontos darstellt. Der Eigenkapitalcharakter des zweiten Kontos ergibt sich eindeutig daraus, dass dort die Verlustanteile des Kommanditisten belastet werden61. cc) Passivische Gesellschafterkonten im vertraglichen Dreikonten-Modell Zum Dreikonten-Modell wird zunächst auf dessen Beschreibung unter II. 2. c) hingewiesen. Wie schon unter II. 2. b) angedeutet, gerät das ZweikontenModell in Widerspruch zu den gesetzlichen Regelungen (vgl. §§ 167 Abs. 2 und 169 Abs. 2 HGB), wonach die vom Kommanditisten im Unternehmen belassenen Gewinnanteile nicht durch spätere Verluste aufgezehrt werden können sollen. Zur partiellen Beseitigung dieses Widerstreits wird das im ZweikontenModell geführte zweite Konto in zwei Konten aufgespalten. Das im Dreikonten-Modell vorgesehene erste – feste – Konto entspricht in vollem Umfang dem ersten Konto im Zweikonten-Modell. Hier wie dort umfasst es „echtes“ Eigenkapital62. Das zweite Konto im Dreikonten-Modell („Kapitalkonto II“),
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Zur Verwendung des Begriffs „Entnahmen“ vgl. oben III. 2. c). BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (274) m. w. N. Vgl. auch Wüllenkemper, BB 1991, 1904 (1909); Ley, DStR 2009, 613 (614). Siehe sogleich unter bb). Vgl. z. B. BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (274). Einhellige Auffassung: vgl. z. B. BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (274) m. w. N.; Ley, KÖSDI 1994, 9972 (9974, 9977 f.) m. w. N.; Wüllenkemper, BB 1991, 1904 (1910). 62 Vgl. z. B. Wüllenkemper, BB 1991, 1904 (1910).
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auf welchem die nicht entnahmefähigen Gewinnanteile und die Verlustanteile des Kommanditisten erfasst werden, stellt ebenfalls ein „echtes“ Kapitalkonto dar. Das folgt schon daraus, dass ihm die (laufenden) Verlustanteile des Kommanditisten belastet werden. Das zweite Konto bildet ein Unterkonto zum – festen – ersten Kapitalkonto63. Das Kapitalkonto I und das Kapitalkonto II weisen zusammen den jeweils aktuellen Stand der Einlage des Kommanditisten, d. h. seinen Kapitalanteil i. S. des Gesetzes, aus64. Das dritte, die entnahmefähigen Gewinnanteile sowie die sonstigen „Einlagen“ und die „Entnahmen“65 aufnehmende Konto repräsentiert demgegenüber kein Eigenkapital, sondern weist eine – unentziehbare – Forderung des Kommanditisten gegen die Gesellschaft aus66. dd) Passivische Gesellschafterkonten und das aktivische Verlustvortragskonto im vertraglichen Vierkonten-Modell Zur Beschreibung des Vierkonten-Modells wird zwecks Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die Ausführungen zu II. 2. d) hingewiesen. In seiner typischen Ausgestaltung entspricht das Vierkonten-Modell bei Licht betrachtet dem für den Kommanditisten nach dem HGB vorgesehenen (dispositiven) Regelstatut, nur mit dem Unterschied, dass die dort für den Kommanditisten zu führenden zwei Konten (vgl. oben II. 1. b)) in vier Konten aufgespalten werden: Das im gesetzlichen Regelwerk für den Kommanditisten zu führende variable erste Konto („Kapitalkonto“) wird in zwei Konten gesplittet, und zwar in ein festes erstes Konto („Kapitalkonto I“), das die Pflichteinlage aufnimmt, und in das Verlustvortragskonto (Verlustverrechnungskonto; = drittes Konto), welches ein Unterkonto (einen „Korrekturposten“) zum (festen) „Kapitalkonto I“ bildet. Das nach dem gesetzlichen Regelwerk für den Kommanditisten zu installierende zweite Konto wird beim Vierkonten-Modell ebenfalls in zwei Konten unterteilt, und zwar in das die (bis zum Ausscheiden des Kommanditisten oder bis zur Beendigung der Gesellschaft) nicht entnahmefähigen Gewinnanteile des Kommanditisten speichernde zweite Konto und in das die entnahmefähigen Gewinnanteile sowie die sonstigen „Einlagen“ und die „Entnahmen“ aufnehmende vierte Konto67. Das erste Konto („Kapitalkonto I“) stellt – nicht anders als im gesetzlichen Regelstatut und im Zwei- und Dreikonten-Modell – ein echtes Kapitalkonto i. S. von § 15a EStG dar68. Dasselbe gilt ohne Weiteres für das als Verlustvortragskonto (Verlustverrechnungskonto) dienende dritte Konto69.
__________ 63 BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (275). 64 Vgl. auch Wüllenkemper, BB 1991, 1904 (1910). 65 Wenngleich hier von „Entnahmen“ und „Einlagen“ die Rede ist, sind damit nicht solche i. S. von § 15a EStG gemeint: vgl. schon III. 2. c). 66 Vgl. z. B. BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (275) m. w. N. 67 Vgl. auch Wüllenkemper, BB 1991, 1904 (1911). 68 Statt vieler vgl. Ley, DStR 2009, 613 (616). 69 Statt vieler vgl. Ley, DStR 2009, 613 (616).
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Der Begriff des Kapitalkontos im Sinne von § 15a EStG
Das vierte Konto stellt in seiner typischen Ausgestaltung ein Forderungskonto und nicht ein Kapitalkonto i. S. von § 15a EStG dar70. Denn im Regelfall verkörpert das dort ausgewiesene Guthaben eine unentziehbare Forderung des Kommanditisten gegen die KG. Etwas anderes kommt nur in dem untypischen Ausnahmefall in Betracht, in dem das auf dem vierten Konto ausgewiesene Guthaben des Kommanditisten nach den im Gesellschaftsvertrag getroffenen Regelungen im Falle des Ausscheidens des Kommanditisten oder bei Beendigung der KG in die Ermittlung des Abfindungs- bzw. Auseinandersetzungsguthabens einbezogen wird und damit dieses Guthaben letztlich doch durch Verlustanteile des Kommanditisten aufgezehrt werden kann. Für diese atypische Konstellation richtet sich die rechtliche Qualifikation des vierten Kontos als Kapital- oder Forderungskonto nach den unter III. 2. b) bb) (2) dargelegten Grundsätzen. Die soeben für das vierte Konto dargelegten Grundsätze gelten gleichermaßen auch für die rechtliche Einordnung des zweiten Kontos71. Allein der Umstand, dass die dort erfassten Gewinnanteile des Kommanditisten bis zu dessen Ausscheiden aus der KG oder deren Beendigung nicht entnahmefähig sind, führt nicht dazu, dass die dort verbuchten Guthaben des Kommanditisten als Eigenkapital zu werten sind. Denn Entnahmebeschränkungen sind nicht nur beim Eigenkapital, sondern ebenso – wenngleich nur ausnahmsweise – auch beim Fremdkapital denkbar. Entnahmebeschränkungen stellen lediglich Fälligkeitsvereinbarungen dar, die für sich genommen die Rechtsnatur des betreffenden Guthabens nicht beeinflussen72. Als Kapitalkonto i. S. von § 15a EStG kann das im Vierkonten-Modell geführte zweite Konto mithin nur dann klassifiziert werden, wenn das Verlustvortragskonto als Unterkonto zum zweiten Konto geführt wird73 oder wenn das dort ausgewiesene Guthaben nach den gesellschaftsvertraglichen Vereinbarungen im Rahmen der Berechnung des Abfindungs- oder Auseinandersetzungsguthabens des Kommanditisten mit den auf ihn entfallenden Verlustanteilen, d. h. mit dem als drittes Konto geführten Verlustvortragskonto, saldiert wird (vgl. oben III. 2. b) bb) (2))74. Dieselben Maßstäbe sind im Übrigen auch dann anzulegen, wenn das zweite Konto nicht eine dem einzelnen Gesellschafter zugewiesene – separate – Bilanzposition darstellt, sondern als ein allen Gesellschaftern anteilig zustehendes gesamthänderisch gebundenes Rücklagenkonto geführt wird75.
__________ 70 Vgl. z. B. BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (275); Ley, DStR 2009, 613 (616). 71 BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (275) m. w. N.; Wüllenkemper, BB 1991, 1904 (1911); Huber, ZGR 1988, 1 (88); Carlé/Bauschatz, FR 2002, 1153 (1159). 72 Vgl. auch Carlé/Bauschatz, FR 2002, 1153 (1159) m. w. N. 73 Vgl. z. B. BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (275); Ley, DStR 2009, 613 (616). 74 Vgl. z. B. Carlé/Bauschatz, FR 2002, 1153 (1159). 75 Vgl. auch Wüllenkemper, BB 1991, 1904 (1911).
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c) Aktivische Gesellschafterkonten des Kommanditisten aa) Einführung Unter Gliederungspunkt III. 3. b) wurden – mit Ausnahme des Verlustvortragskontos (Verlustverrechnungskontos) im Vierkonten-Modell – nur die passivischen Gesellschafterkonten auf ihre Rechtsnatur als Kapitalkonten i. S. von § 15a EStG oder als Forderungskonten hin untersucht. Gesellschafterkonten können indessen auch einen Sollsaldo aufweisen. Dieser kann sowohl durch die Belastung des betreffenden Kontos mit Verlustanteilen des Kommanditisten als auch dadurch entstehen, dass auf dem Konto die „Entnahmen“ des Kommanditisten erfasst werden. Kein Problem in Bezug auf die Einordnung des zu beurteilenden Kontos besteht, wenn sein Debetsaldo ausschließlich auf die Verbuchung von Verlustanteilen zurückzuführen ist. So handelt es sich bei dem im Vierkonten-Modell geführten Verlustvortragskonto zweifelsohne um einen Bestandteil des Kapitalkontos76. Nichts anderes gilt aber auch dann, wenn auf einem vormals passivischen Gesellschafterkonto durch die Belastung mit Verlustanteilen ein Sollsaldo entsteht, das Konto also aktivisch wird. Dieses Konto (etwa das „Kapitalkonto II“ im Zwei-, Drei- oder Vierkonten-Modell) ist schon in seinem passivischen Stadium als Kapitalkonto i. S. von § 15a EStG zu qualifizieren und ändert seine Rechtsnatur nicht dadurch, dass es durch die Belastung mit Verlustanteilen negativ (aktivisch) wird. Problematisch und umstritten ist dagegen die rechtliche Einordnung solcher Gesellschafterkonten, deren Übergang vom passivischen in den aktivischen Bereich ausschließlich oder jedenfalls teilweise auf „Entnahmen“ zurückzuführen ist. Darauf soll im Folgenden (unter bb)) näher eingegangen werden. bb) Durch „Entnahmen“ aktivisch gewordene Gesellschafterkonten (1) Auffassungen in der Rechtsprechung sowie in der gesellschaftsrechtlichen und steuerrechtlichen Literatur Im Rahmen des sog. Zweikonten-Modells kann das zweite Konto („Kapitalkonto II“) – anders als das zweite Konto („Kapitalkonto II“) im Drei- und Vierkonten-Modell – auch durch Entnahmen negativ (aktivisch) werden. Der BFH77 hat die Rechtsnatur des aktivischen „Kapitalkontos II“ im Zweikonten-Modell nach dem Charakter des passivischen Kontos bestimmt. Da das „Kapitalkonto II“ auch der Verlustverrechnung diene, könne es sich nicht um ein „Darlehenskonto“ (Forderungskonto) handeln. Hieran ändere sich auch dann nichts, wenn das Konto einen Negativsaldo ausweise78.
__________ 76 Vgl. oben III. 3. b) dd). 77 BFH v. 27.6.1996 – IV R 80/95, BStBl. II 1997, 36. 78 Ebenso auch BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (275); vgl. auch Wüllenkemper, BB 1991, 1904 (1910); Ley, DStR 2009, 613 (616).
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Der Begriff des Kapitalkontos im Sinne von § 15a EStG
Dieser These, dass das passivische Konto seine Rechtsnatur bei seinem entnahmebedingten Übergang in ein aktivisches Konto beibehalte, ist m. E. nicht zu folgen. Sie hat auch in der zivilrechtlichen Literatur – m. E. zu Recht – keinen Anklang gefunden. Im handelsrechtlichen Schrifttum sind die Meinungen über die Einordnung eines durch „Entnahmen“ negativ gewordenen „Kapitalkontos II“ im Zweikonten-Modell wie auch über die Qualifikation der übrigen, infolge von „Entnahmen“ aktivisch gewordenen Gesellschafterkonten geteilt: Zum Teil wird für die Bestimmung des Rechtscharakters der durch „Überziehungen“ ins Debet geratenen Gesellschafterkonten danach unterschieden, ob es sich um nach dem Gesellschaftsvertrag zulässige „Überziehungen“ („Entnahmen“) handelt oder ob solche Überziehungen nach den gesellschaftsvertraglichen Vereinbarungen nicht zugelassen waren. Bei einer im Gesellschaftsvertrag zugelassenen entnahmebedingten Überziehung des Gesellschafterkontos handele es sich um einen „Vorschuss“, den die Gesellschaft auf zukünftige Gewinnanteile zahle, und nicht um eine jederzeit fällige Forderung. Der Gesellschafter sei in diesem Fall erst dann zum Ausgleich verpflichtet, wenn bei seinem Ausscheiden oder bei Auflösung der Gesellschaft der „Vorschuss“ nicht mit durch seitdem angefallene Gewinnanteile abgedeckt worden sei. Die Ausgleichsverpflichtung ergebe sich in einem solchen Fall aus § 812 BGB, weil der Rechtsgrund für die Vorschussleistung bei Beendigung der Mitunternehmerstellung des betreffenden Kommanditisten wegfalle. Dagegen habe die Gesellschaft bei Überziehungen infolge „unzulässiger“, d. h. nicht im Gesellschaftsvertrag vorgesehener „Entnahmen“, einen jederzeitigen Rückforderungsanspruch79. Aus dieser differenzierenden Sichtweise folgt, dass der Debetsaldo auf dem betreffenden Gesellschafterkonto im Falle der (nach dem Gesellschaftsvertrag) zulässigen Überziehung einen Bestandteil des Kapitalkontos i. S. von § 15a EStG bildet, und zwar gleichviel, welcher Rechtsstatus dem nämlichen Konto in seinem passivischen Stadium zukam. Beruht der Sollsaldo des Gesellschafterkontos hingegen auf einer unzulässigen (nicht im Gesellschaftsvertrag vorgesehenen) Überziehung, bildet er eine das Kapitalkonto des Kommanditisten i. S. von § 15a EStG nicht tangierende Forderung der KG gegen den Kommanditisten ab. Nach der in der handelsrechtlichen Literatur vertretenen Gegenauffassung80 führen auch die zulässigen (d. h. die nach dem Gesellschaftsvertrag vorgesehenen) Kontenüberziehungen zu Forderungen der Gesellschaft gegen den Gesellschafter, so dass der Sollsaldo des betroffenen Kontos das Kapitalkonto i. S. von § 15a EStG nicht mindert. Es entspreche zwar gängiger Praxis, den Gesellschaftern Entnahmen im Vorgriff auf noch nicht verbuchte Gewinnanteile zu gestatten, um Steuervorauszahlungen zu leisten oder auch nur den laufenden
__________
79 Huber, ZGR 1988, 1 (41, 59, 76 f.); Ley, DStR 2003, 957 (959 f.); dies., DStR 2009, 613 (617). 80 v. Falkenhausen/H. C. Schneider in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 2 (KG), 3. Aufl. 2009, § 22 Rz. 78.
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Lebenshaltungsbedarf abzudecken. Die Verpflichtung des Gesellschafters zum Ausgleich eines durch „Entnahmen“ verursachten Sollsaldos sei nicht aus Bereicherungsrecht, das die Gesellschaft in unbilliger Weise mit dem Risiko des Wegfalls der Bereicherung (§ 818 Abs. 3 BGB) belasten würde, herzuleiten, sondern vielmehr aus dem Zweck des Vorschusses zu folgern. Der Vorschuss werde regelmäßig auf den Gewinn des laufenden Geschäftsjahres gewährt. Die Rückzahlungsverpflichtung sei dementsprechend solange gestundet, wie das Ergebnis des laufenden Geschäftsjahres (noch) nicht festgestellt worden sei. Nach der Ergebnisfeststellung sei der Vorschuss durch den angefallenen Gewinn abgedeckt oder müsse zurückgezahlt werden81. Dieser Auffassung hat Ley82 entgegengehalten, im Anschluss an Huber83 sei bei einer gesellschaftsvertraglich zulässigen Auszahlung keine Forderung der KG gegen den Kommanditisten anzunehmen, „da gesellschaftsrechtlich keine Regelung erkennbar (sei), dass ein zulässiger Vorschuss auf einen zukünftigen Gewinn durch den Gewinn des gleichen Jahres abgedeckt werden (müsse). Mithin (wandele) sich dieser nicht durch einen Gewinn abgedeckte Vorschuss nicht mit Ablauf des Jahres automatisch in eine Forderung.“ Zu dem durch Überziehung des dritten Kontos im Dreikonten-Modell und des vierten Kontos im Vierkonten-Modell (sog. Gesellschafterdarlehenskonto) entstandenen Debetsaldo hat der BFH den folgenden Standpunkt eingenommen: In seinem Urteil v. 4.5.2000 – IV R 16/9984 hat der BFH – ebenso wie für das zweite Konto im Zweikonten-Modell – die Qualifikation eines aktivischen Gesellschafterkontos danach vorgenommen, wie sich das passivische Konto darstellt. So hat er ein als „Darlehenskonto“ bezeichnetes aktivisches Konto in einem allerdings atypisch ausgestalteten Vierkonten-Modell als Kapitalkonto qualifiziert, weil er im Wege der Auslegung des Gesellschaftsvertrages zu der Überzeugung gelangte, diesem Konto sollten – nach Ausschöpfung der übrigen Kapitalkonten – auch Verluste zu belasten sein. Mit der Frage, wie der durch „Entnahmen“ hervorgerufene Debetsaldo auf einem Gesellschafterkonto einzuordnen ist, dem keine Verluste belastet werden, hat sich der BFH erstmals im Urteil v. 16.10.2008 – IV R 98/0685 befassen müssen. Er hatte dort ein im Vierkonten-Modell eingerichtetes „Darlehenskonto“ („Gesellschafterkonto des Kommanditisten (aus Entnahmen)“) zu beurteilen, welches infolge von nach Auffassung des BFH gesellschaftsvertraglich nicht vorgesehenen Auszahlungen negativ geworden war. Er meinte, dass das nunmehr aktivische „Darlehenskonto“ eine Forderung der Gesellschaft (KG) gegen den Gesellschafter (Kommanditisten) ausweise mit der Folge, dass dieses Konto nicht in die Ermittlung des Kapitalkontos i. S. von § 15a EStG einzubeziehen sei. Der BFH begründete dieses Ergebnis mit im Wesentlichen folgenden Erwägungen:
__________ 81 82 83 84 85
v. Falkenhausen/H. C. Schneider in Münchener Handbuch (Fn. 80), § 22 Rz. 78. DStR 2009, 613 (617). ZGR 1988, 1 (41, 59, 76 f.). BStBl. II 2001, 171. BStBl. II 2009, 272.
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Im Gesellschaftsrecht bestehe Einigkeit darüber, dass das Darlehenskonto eines Gesellschafters, das infolge von gesellschaftsvertraglich nicht vorgesehenen Auszahlungen negativ werde, eine Forderung der Gesellschaft gegen den Gesellschafter ausweise. Unterschiedliche Auffassungen bestünden lediglich insoweit, als ein solches Konto durch zulässige „Entnahmen“ (etwa für persönliche gesellschaftsbezogene Steuervorauszahlungen) negativ werde. Welcher der beiden kontroversen Ansichten zu der letztgenannten Konstellation zu folgen sei, könne im vorliegenden Streitfall offenbleiben. Denn der hier streitige, auf der Weitergabe von Liquiditätsüberschüssen beruhende Debetsaldo i. H. von rd. 15 400 000 DM sei auf im Gesellschaftsvertrag nicht vorgesehene Auszahlungen zurückzuführen. Nach dem Gesellschaftsvertrag hätten lediglich der Bilanzgewinn und die für die persönlichen Steuern der Gesellschafter benötigten Beträge entnommen werden dürfen. Zwar habe die Auszahlung des Liquiditätsüberschusses auf einem einstimmigen Gesellschafterbeschluss beruht. In Ermangelung der ausdrücklichen Bekundung einer entsprechenden Absicht lasse sich aus dem Beschluss jedoch nicht entnehmen, dass die Gesellschafter den Gesellschaftsvertrag hätten ändern wollen86. (2) Eigene Stellungnahme Im Anschluss an die im Zivil- und Handelsrecht befürwortete Qualifizierung der durch Auszahlungen negativ (aktivisch) gewordenen Gesellschafterkonten, die auch die steuerrechtliche Einordnung der Konten als Kapitalkonten i. S. von § 15a EStG oder als Forderungskonten determinieren sollte87, spielt es entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BFH88 m. E. keine Rolle, wie das zu beurteilende aktivische Konto zu qualifizieren wäre, wenn es keinen Debetsaldo aufwiese, sondern passivisch wäre. Alle durch Entnahmen aktivisch gewordenen Konten, gleichviel in welchem Regelungsgefüge (Konten nach dem gesetzlichen Leitbild oder im Zwei-, Drei- oder Vierkonten-Modell) und ungeachtet dessen, ob auf ihnen auch die Verlustanteile verbucht werden, müssen m. E. nach einheitlichen Maßstäben und Kriterien beurteilt werden. Der auf Huber89 zurückgehenden Differenzierung und Einordnung der durch Auszahlungen aktivisch gewordenen Gesellschafterkonten danach, ob der Debetsaldo auf (nach dem Gesellschaftsvertrag) zulässigen „Entnahmen“ beruht (dann Gewinnvorschuss und Minderung des Kapitalkontos i. S. von § 15a EStG) oder ob es sich um (nach den gesellschaftsvertraglichen Regelungen) nicht zulässige Auszahlungen handelt (dann Forderung der Gesellschaft gegen den Kommanditisten und keine Minderung des Kapitalkontos i. S. von § 15a EStG), ist m. E. nicht beizupflichten. Zuzustimmen ist vielmehr der Auffassung von v. Falkenhausen/H. C. Schneider90 Jedwede Auszahlung an den
__________ 86 BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (276 f.). 87 Vgl. oben III. 1. 88 BFH v. 27.6.1996 – IV R 80/95, BStBl. II 1997, 36; BFH v. 4.5.2000 – IV R 16/99, BStBl. II 2001, 171; BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272. 89 Huber, ZGR 1988, 1 (41, 59, 76 f.). 90 v. Falkenhausen/H. C. Schneider in Münchener Handbuch (Fn. 80), § 22 Rz. 78.
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Gesellschafter, welche zu einem Sollsaldo auf den Gesellschafterkonten führt, begründet im handels- und steuerbilanzrechtlichen Sinne eine Forderung der Gesellschaft gegen den Gesellschafter. Das gilt m. E. auch dann, wenn es sich bei der Auszahlung um einen Vorschuss auf die erst künftig entstehenden Gewinnanteile des Gesellschafters (Kommanditisten) handelt. Daran ändert nichts, dass diese Forderung nach dem Zweck des Vorschusses keine sofortige Rückzahlungspflicht des Gesellschafters auslöst, sondern deren Fälligkeit bis zur Feststellung des Jahresabschlusses für das laufende Geschäftsjahr91 oder – in Ausnahmefällen – auch für einen weiterreichenden Zeitraum hinausgeschoben ist. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass der Darlehens- oder Forderungscharakter eines Gesellschafterkontos nicht allein dadurch in Frage gestellt werden kann, dass die Begleichung der Forderung für längere Zeit – im Extremfall bis zur Beendigung der Mitunternehmerstellung des Gesellschafters – ausgeschlossen ist92. Die Verrechnung des Vorschusses mit den künftig entstehenden Gewinnanteilen stellt sich sodann als Begleichung dieser Forderung im Wege der Aufrechnung (vgl. §§ 387 ff. BGB) dar. Ein angenehmer Nebeneffekt des hier eingenommenen Standpunkts liegt darin, dass sich die Beantwortung schwieriger (Abgrenzungs-)Fragen erübrigt, die sich bei Anwendung der insbesondere von Huber93 befürworteten differenzierenden Lösung stellen. Dies sind insbesondere die folgenden drei Fragen: 1. Unter welchen Voraussetzungen liegt ein „Gewinnvorschuss“ vor? Kann man von einem solchen auch noch dann ausgehen, wenn bei vergleichsweise geringen laufenden Gewinnanteilen oder gar über längere Zeit zu erwartenden laufenden Verlustanteilen Liquiditätsüberschüsse in Millionenhöhe ausgeschüttet werden?94 oder z. B. der alleinige Kommanditist einer GmbH & Co. KG seinem „Verrechnungskonto“ hohe Beträge zum Bau eines privaten Wohnhauses belastet? 2. Nach welchen (genauen) Kriterien werden die zulässigen „Entnahmen“ von den nicht zulässigen „Entnahmen“ abgegrenzt. Hierüber besteht im Detail keine Klarheit. Im Urteil v. 16.10.2008 – IV R 98/0695 ist der BFH von unzulässigen Entnahmen ausgegangen, weil der Gesellschaftsvertrag die im dortigen Sachverhalt vorgenommene Auszahlung des „Liquiditätsüberschusses“ in Höhe von rd. 15,4 Mio. DM nicht vorgesehen habe. Über die Richtigkeit des vom BFH dort gefundenen Ergebnisses lässt sich streiten. Zwar durften nach § 12 des dortigen Gesellschaftsvertrages lediglich der Bilanzgewinn und die für die persönlichen Steuern der Gesellschafter benötig-
__________ 91 Eine Stundung des Rückzahlungsanspruchs der Gesellschaft bis zu diesem Zeitpunkt wird regelmäßig dem Willen der an diesem Rechtsverhältnis Beteiligten (Gesellschaft und Gesellschafter) und deren Interessenlage entsprechen; vgl. auch v. Falkenhausen/H. C. Schneider in Münchener Handbuch (Fn. 80), § 22 Rz. 78. 92 Vgl. oben III. 3. b) dd), zum passivischen Gesellschafterkonto. 93 ZGR 1988, 1 (41, 59, 76 f.). 94 So könnte es beispielsweise in dem der BFH-Entscheidung v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 zugrunde liegenden Sachverhalt gelegen haben. 95 BStBl. II 2009, 272.
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ten Beträge „entnommen“ werden. Immerhin war aber die streitige Ausschüttung des „Liquiditätsüberschusses“ durch einen einstimmigen Gesellschafterbeschluss gedeckt. Diesen sah der BFH deswegen als unmaßgeblich an, weil sich „in Ermangelung der ausdrücklichen Bekundung einer entsprechenden Absicht (…) aus diesem Beschluss nicht entnehmen [lasse], dass die Gesellschafter den Gesellschaftsvertrag [hätten] ändern [wollen].“96 Dem ist nun mit durchaus guten Gründen entgegengehalten worden, dass eine gesellschaftsrechtlich zulässige „Entnahme“ nicht notwendiger Weise eine (ausdrückliche) Regelung im Gesellschaftsvertrag voraussetze. Vielmehr reiche auch ein wirksamer Gesellschafterbeschluss. Grundsätzlich müsse der Gesellschafterbeschluss über die „Entnahme“ einstimmig erfolgen, es sei denn, der Gesellschaftsvertrag sehe für eine zulässige Entnahme eine hiervon abweichende Mehrheit vor97. Diese Voraussetzungen lagen im dortigen Streitfall schon deswegen vor, weil die „Liquiditätsausschüttung“ einstimmig beschlossen worden war98. 3. Wie ist zu verfahren, wenn der auf dem aktivischen Gesellschafterkonto festgehaltene Debetsaldo teils auf zulässigen und teils auf nicht zulässigen Auszahlungen basiert?99 Ist in diesem Fall der Sollsaldo in der Weise aufzusplitten, dass der auf den zulässigen „Entnahmen“ beruhende Teil das Kapitalkonto mindert und der auf die nicht zulässigen „Entnahmen“ zurückzuführende Teil eine Forderung der Gesellschaft gegen den Gesellschafter repräsentiert? M. E. käme man trotz des damit verbundenen Aufwands nicht umhin, eine solche Aufteilung vorzunehmen100. Ein gleichgelagertes Aufteilungsproblem stellt sich allerdings auch dann, wenn man entgegen der Auffassung des BFH der hier befürworteten, eingangs dieses Gliederungspunkts (2) dargestellten Lösung folgt, dass alle durch „Entnahmen“ aktivisch gewordenen Gesellschafterkonten, also auch solche, auf denen die Verlustanteile belastet werden, nach denselben Maßstäben und Kriterien beurteilt werden müssen. In diesen Fällen kann es dazu kommen, dass der Debetsaldo teilweise auf „Entnahmen“ und teilweise auf Verlusten beruht. Auch in solchen Konstellationen ist m. E. eine Aufsplittung des Debetsaldos unumgänglich101. Nur soweit dieser Sollsaldo aus „Entnahmen“ resultiert, dokumentiert er eine Forderung der Gesellschaft gegen den Gesellschafter. Soweit er hingegen auf der Verbuchung von Verlustanteilen beruht, stellt er negatives Gesellschafterkapital i. S. von § 15a EStG dar.
__________ 96 97 98 99
BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 (277). Ley, DStR 2009, 613 (617). Vgl. auch Huber, ZGR 1988, 1 (76 unten f.). So lag es offensichtlich auch in dem Fall, den der BFH im Urteil v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 zu beurteilen hatte: Ein – wenn auch geringerer – Teil des Debetsaldos beruhte auf nach § 12 des Gesellschaftsvertrages ausdrücklich vorgesehenen „Entnahmen“ zur Zahlung der auf die Beteiligung entfallenden Steuern (a. a. O., S. 276, r. Sp. unter aaa)). 100 A. A. offenbar Wüllenkemper, BB 1991, 1904 (1911) m. w. N. 101 A. A. z. B. Wüllenkemper, BB 1991, 1904 (1911) m. w. N. pro und contra aus der Rechtsprechung des BFH und des BGH.
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d) Auf passivischen Gesellschafterkonten erfasstes Eigenkapital ersetzende Darlehen und Finanzplandarlehen Die inzwischen abgeschafften102 Eigenkapital ersetzenden Darlehen gemäß § 172a HGB a. F. i. V. m. den §§ 32a und 32b GmbHG a. F. oder analog den §§ 30 und 31 GmbHG a. F. bildeten grundsätzlich Fremdkapital der Gesellschaft. Eigenkapital und damit einen Bestandteil des Kapitalkontos i. S. von § 15a EStG stellten solche Darlehen nur unter denselben Voraussetzungen dar, die auch für andere Gesellschafterdarlehen und auf den Gesellschafterkonten ausgewiesene Guthaben gelten103. Gleiche Grundsätze finden auch für die sog. Finanzplandarlehen Anwendung104. Im Urteil v. 7.4.2005 – IV R 24/03105 hat der BFH ausgeführt, „dass durch die Hingabe eines Darlehens seitens des Gesellschafters dessen Kapitalkonto i. S. des § 15a Abs. 1 Satz 1 EStG nicht bereits deswegen erhöht wird, weil das Darlehen in den Finanzierungsplan der Gesellschaft einbezogen ist und dem Gesellschaftsvertrag zufolge neben der Bareinlage gewährt werden muss. Das von einem Kommanditisten der KG gewährte Darlehen [erhöhe] sein Kapitalkonto i. S. des § 15a Abs. 1 Satz 1 EStG vielmehr nur dann, wenn es den vertraglichen Bestimmungen zufolge während des Bestehens der Gesellschaft vom Kommanditisten nicht gekündigt werden [könne]106 und wenn das Guthaben im Falle seines Ausscheidens oder der Liquidation mit einem evtl. bestehenden negativen Kapitalkonto verrechnet [werde].“
IV. Zusammenfassung Welche Rechtsnatur (Eigenkapital oder Forderungskonto) ein Gesellschafterkonto hat, muss im Wege der Auslegung des Gesellschaftsvertrages unter Berücksichtigung der von den Gesellschaftern beabsichtigten Rechtsfolgen bestimmt werden. Um eine schuldrechtliche Forderung des Gesellschafters gegen die Gesellschaft und nicht um Eigenkapital handelt es sich bei dem Guthaben auf einem passivischen Gesellschafterkonto dann, wenn der Gesellschafter insoweit über einen unentziehbaren, nur nach den §§ 362 bis 397 BGB erlöschenden Anspruch gegen die Gesellschaft verfügen soll, der auch in der Insolvenz der Gesellschaft wie die Forderung eines Dritten geltend gemacht werden kann und der noch vor der eigentlichen Auseinandersetzung zu erfüllen ist, also nicht lediglich einen Teil des Auseinandersetzungsguthabens des Gesellschafters darstellt.
__________ 102 Vgl. § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG n. F. (MoMiG). 103 Vgl. oben III. 2. und 3.; vgl. ferner z. B. Wacker in JbFStR (2006/2007), S. 335 (343). 104 BFH v. 7.4.2005 – IV R 24/03, BStBl. II 2005, 598; Kölpin, StuB 2005, 843 (845); Wacker in JbFStR (2006/2007), S. 335 (343 f.). 105 BStBl. II 2005, 598 (600). 106 Diese – erste – Voraussetzung entspricht der typischen Gestaltung bei einem Finanzplandarlehen. Wie oben (III. 2. b) bb) (2)) dargelegt, genügen m. E. aber auch „Entnahme“beschränkungen, wie sie im Fall des BFH-Urteils v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812 vorlagen.
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Für die Bestimmung des Rechtscharakters eines Gesellschafterkontos kommt es nicht auf dessen äußerliche Bezeichnung an („falsa demonstratio non nocet“). Ebenso wenig spielt eine entscheidende Rolle, ob der jeweilige Kontostand verzinst wird. Auch der Umstand, dass der Kommanditist nicht sofort über sein Guthaben auf seinem passivischen Gesellschafterkonto verfügen kann, spricht nicht ohne Weiteres gegen dessen Fremdkapitalcharakter, weil z. B. auch Gesellschafterdarlehen mit Kündigungsbeschränkungen versehen sein können, die in ihrem wirtschaftlichen Gehalt Entnahmebeschränkungen beim Eigenkapital gleichstehen. Entscheidend für den Eigenkapitalcharakter des passivischen Gesellschafterkontos spricht dagegen eine gesellschaftsvertragliche Regelung, nach der auf dem betreffenden Konto auch die Verlustanteile des Kommanditisten verbucht werden. Sind nämlich die Gutschriften auf dem betreffenden Gesellschafterkonto mit künftigen Verlusten zu verrechnen, so kann von „echten“ Forderungen des Gesellschafters (Kommanditisten) gegen die KG nicht die Rede sein. Der Kommanditist erwirbt durch eine solche Gutschrift gerade keinen unentziehbaren Anspruch gegen die Gesellschaft. Vielmehr nimmt er mit einem solchen Guthaben an den Risiken des Unternehmens teil. Derartiges Risikokapital ist als Einlage, nicht als (Darlehens-)Forderung zu qualifizieren. Denn mit dem Begriff des Darlehens ist eine Verlustbeteiligung unvereinbar. Diese Maßstäbe gelten grundsätzlich auch dann, wenn zwar dem betreffenden passivischen Konto die Verlustanteile des Kommanditisten nicht laufend (alljährlich) belastet werden, wenn das Konto jedoch im Fall des Ausscheidens des Kommanditisten oder der Liquidation der KG in die Ermittlung des Abfindungs- bzw. Auseinandersetzungsguthabens eingeht und – als zusätzliches Erfordernis – der Kommanditist das Guthaben nicht vorher ohne jede Beschränkung abheben kann. Besonderheiten gelten für solche Gesellschafterkonten, welche einen Debetsaldo aufweisen, also aktivisch sind. Beruht der Debetsaldo ausschließlich auf Verlustanteilen des Kommanditisten, so bildet der Saldo einen Bestandteil des Kapitalkontos, repräsentiert also negatives Eigenkapital. Basiert der Sollsaldo hingegen allein auf Überziehungen („Entnahmen“) des Kommanditisten, so dokumentiert er nach meinem Dafürhalten entgegen der wohl h. L. ausnahmslos – also auch bei den durch den Gesellschaftsvertrag zugelassenen „Entnahmen“ – eine Forderung der KG gegen den Kommanditisten und mindert mithin dessen Kapitalkonto i. S. von § 15a EStG nicht. Wurde der Sollsaldo auf dem aktivischen Gesellschafterkonto hingegen nur zum Teil durch „Entnahmen“ und im Übrigen durch die Belastung des Kontos mit den Verlustanteilen des Kommanditisten hervorgerufen, kommt man m. E. an einer Aufteilung des ausgewiesenen Betrages nicht vorbei. Nur soweit der Debetsaldo aus „Entnahmen“ resultiert, weist er eine Forderung der KG gegen den Kommanditisten aus. Soweit er hingegen auf der Verbuchung von Verlustanteilen beruht, stellt er negatives Gesellschafterkapital i. S. des § 15a Abs. 1 Satz 1 EStG dar.
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Lothar Fischer
Kein Gestaltungsmissbrauch bei Verkauf und Wiederkauf von Wertpapieren Eine Nachlese
Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Tatbestand und System des § 23 EStG, Verlustnutzung kein Gestaltungsmissbrauch 1. Tatbestand und Jahresfrist
2. Gestaltungsmissbrauch a) Beschreibung des Gestaltungsmissbrauchs b) Anwendung des § 23 EStG III. Offene Fragen und Ausblick 1. Offene Fragen 2. Ausblick
I. Einleitung Mit seinen Urteilen v. 25.8.2009 (IX R 60/071 und IX R 55/072), an denen der hier zu ehrende Jubilar Wolfgang Spindler als Vorsitzender maßgebend mitwirkte, hat der BFH die Frage nach dem Vorliegen eines Gestaltungsmissbrauchs i. S. d. § 42 AO beim Wiederkauf von zuvor mit Verlust veräußerten Wertpapieren klar verneint und damit bis auf Weiteres geklärt. Einschließlich der beiden Vorinstanzen (FG Baden-Württemberg3 und FG Münster4) hatten sich bereits zwei weitere Finanzgerichte (FG Schleswig-Holstein5 und FG Hamburg6) in damit insgesamt vier Entscheidungen zu dieser Problematik geäußert, allerdings mit unterschiedlichem Ergebnis und unterschiedlicher Begründung. Betroffen waren die Streitjahre 1998 (FG Hamburg), 1999 (FG Münster, Rev. IX R 55/07), 2000 (FG Baden-Württemberg, Rev. IX R 60/07) und 2001 (FG Schleswig-Holstein). Diesen Entscheidungen liegen vergleichbare Sachverhalte7 zugrunde: Jeweils wurden börsennotierte Wertpapiere (Aktien, aber auch Fondsanteile) von den Steuerpflichtigen erworben und innerhalb der Jahresfrist mit (zum Teil
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BStBl. II 2009, 999. BFH/NV 2010, 387. Urteil v. 1.8.2007 – 1 K 51/06, EFG 2008, 54, DStRE 2008, 242. Urteil v. 14.3.2007 – 10 K 3380/04 E, EFG 2007, 1024, DStRE 2008, 274. Urteil v. 14.9.2006 – 5 K 286/03, EFG 2007, 192, DStRE 2006, 1462. Urteil v. 9.7.2004 – VII 52/02, EFG 2004, 1775, DStRE 2004, 1334. Unzutreffend a. A. FG Münster in EFG 2007, 1024, DStRE 2008, 274, das im differierenden zeitlichen Abstand zwischen Verkauf und Wiederkauf (zwei Tage statt ein oder null Tage) eine relevante Unterscheidung erkennen will.
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erheblichem) Verlust verkauft. Im Fall des FG Hamburg8 (Streitjahr 1998) wurden die Wertpapiere (Auftragserteilung für Verkauf und Wiederkauf am selben Tag) ebenso am selben Tag in gleicher Anzahl und zum selben Kurswert verkauft und wiedergekauft; im Fall des FG Schleswig-Holstein9(2001) wurden die Wertpapiere verkauft und mit Auftragserteilung vom Folgetag in gleicher Anzahl, aber zu unterschiedlichem Kurswert wiedergekauft; im Fall des FG Münster10(1999) erfolgten Verkauf und Wiederkauf der gleichen Wertpapiere in unterschiedlicher Anzahl (die einen 140 mehr, die anderen ca. 230 weniger) und zu unterschiedlichem Kurswert im Abstand von zwei Tagen; und im Fall des FG Baden-Württemberg11 (2000) schließlich fanden Verkauf und Wiederkauf der gleichen Wertpapiere in gleicher Anzahl am selben Tag zu unterschiedlichem Kurswert statt. In allen Fällen ging die Finanzverwaltung wegen des kurzfristigen Rückkaufs der Wertpapiere von einem Gestaltungsmissbrauch (§ 42 AO) aus, zumal außersteuerliche Gründe nicht gegeben seien. Die beiden älteren Urteile (FG Hamburg und FG Schleswig-Holstein) bestätigten das FA in der Annahme eines Gestaltungsmissbrauchs. Der Verkauf der Wertpapiere werde durch deren Rückkauf zum selben Kurs wirtschaftlich negiert und diene mangels Vorliegens außersteuerlicher Gründe nur einer steuerlich nicht anzuerkennenden Verlustrealisierung, zumal ein Kursrisiko nicht dargelegt und bei Verkauf und Rückkauf am selben Tag de facto nahezu ausgeschlossen sei (so FG Hamburg12). Nach dem FG Schleswig-Holstein13 könne der Rückkauf der Wertpapiere dann nicht außer Acht gelassen werden, wenn – wie hier – insoweit ein Gesamtplan bestehe, dafür spreche als entscheidendes Indiz der kurze zeitliche Abstand zwischen Verkauf und Rückkauf. Demgegenüber lehnen die beiden jüngeren Urteile (FG Münster14 und – überzeugend – FG Baden-Württemberg15) einen Gestaltungsmissbrauch ab. Nach dem FG Münster war nicht feststellbar, dass Verkauf und Wiederkauf der gleichen Wertpapiere bei nahezu gleicher Stückzahl auf einem von vornherein gefassten Gesamtplan beruhten, auch könne eine Kursänderung täglich eintreten; räume aber das Gesetz (§ 23 EStG) ein Gestaltungsrecht mit Blick auf die Jahresfrist und die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit des Steuerpflichtigen ein, könne allein dessen Ausübung kein Missbrauch sein. Das FG BadenWürttemberg geht mit dem An- und Verkauf der gleichen Wertpapiere innerhalb der Jahresfrist von der Tatbestandserfüllung des § 23 Abs. 1 Nr. 2 EStG mit Zäsurwirkung aus; die in § 23 EStG angelegte nur eingeschränkte Erfassung von Wertänderungen (einschließlich eingetretener Verluste) bei privaten
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Urteil v. 9.7.2004 – VII 52/02, EFG 2004, 1775, DStRE 2004, 1334. Urteil v. 14.9.2006 – 5 K 286/03, EFG 2007, 192, DStRE 2006, 1462. Urteil v. 14.3.2007 – 10 K 3380/04 E, EFG 2007, 1024, DStRE 2008, 274. Urteil v. 1.8.2007 – 1 K 51/06, EFG 2008, 54, DStRE 2008, 242. Siehe Fn. 8; nach eingelegter Revision (IX R 33/04) erging ein Änderungsbescheid des FA wegen Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1 Nr. 1b EStG 1998 und führte zur Erledigung der Hauptsache. 13 Siehe Fn. 9; das Urteil ist rechtskräftig, trotz Zulassung Revision nicht eingelegt! 14 Urteil v. 14.3.2007 – 10 K 3380/04 E, EFG 2007, 1024, DStRE 2008, 274. 15 Urteil v. 1.8.2007 – 1 K 51/06, EFG 2008, 54, DStRE 2008, 242.
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Veräußerungsgeschäften ließen angesichts wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit vorliegend für die Annahme eines Gestaltungsmissbrauchs keinen Raum.
II. Tatbestand und System des § 23 EStG, Verlustnutzung kein Gestaltungsmissbrauch Nach diesen in Begründung und Ergebnis unterschiedlichen Vorentscheidungen hat sich der BFH in den Revisionen IX R 55/07 und IX R 60/07 näher mit der Problemstellung beschäftigt. 1. Tatbestand und Jahresfrist Nach § 22 Nr. 2 i. V. m. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 (bis 1998: Nr. 1b) EStG16 unterliegen private Veräußerungsgeschäfte bei anderen Wirtschaftsgütern (als den in Nr. 1 der Vorschrift genannten Grundstücken und grundstücksgleichen Rechten), insbesondere – und hier von Bedeutung – bei Wertpapieren, als sonstige Einkünfte der Einkommensteuer, wenn der Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung nicht mehr als ein Jahr beträgt (sog. gestreckter oder zweiaktiger Tatbestand)17. Nach Sinn und Zweck des § 23 EStG sollen (nicht nur Wertsteigerungen18 in Gestalt von Veräußerungsgewinnen, sondern generell) realisierte Wertänderungen (also auch Wertminderungen) aus verhältnismäßig kurzfristigen Wertdurchgängen eines Wirtschaftsguts im Privatvermögen des Steuerpflichtigen der Einkommensteuer unterworfen werden19. Das gilt demnach auch dann, wenn die Veräußerung zu einem Verlust führt (§ 23 Abs. 3 Satz 1 EStG)20; Veräußerungsverluste sind allerdings nach § 23 Abs. 3 Sätze 8 und 9 EStG nur eingeschränkt (Verlustausgleich und Verlustabzug nur mit Veräußerungsgewinnen) zu berücksichtigen. Auf Grund und Motive der jeweiligen Betätigung kommt es nicht an21. In allen unter I. aufgezeigten Fällen sind diese Voraussetzungen unstreitig erfüllt. Die Wertpapiere wurden jeweils innerhalb der maßgeblichen Jahresfrist angeschafft und – wenn auch mit Verlust – wieder veräußert. Der zweiaktige Tatbestand des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ist damit – einschließlich der verobjektivierten Einkünfteerzielungsabsicht22 – verwirklicht, und zwar unabhängig von einem nachfolgenden Wiederkauf der gleichen Wertpapiere als
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16 Im Folgenden nur noch in der Fassung ab 1999 (Streitjahre bis 2001). 17 Vgl. BFH v. 16.12.2003 – IX R 46/02, BStBl. II 2004, 284, unter B.III.1.b). 18 So noch BFH v. 2.5.2000 – IX R 73/98, BStBl. II 2000, 614, und IX R 74/96, BStBl. II 2000, 469. 19 Vgl. BFH v. 18.10.2006 – IX R 28/05, BStBl. II 2007, 259. 20 Siehe § 23 Abs. 3 Satz 1 EStG; siehe auch BFH v. 4.7.1990 – GrS 1/89, BStBl. II 1990, 830. 21 Vgl. BFH v. 16.1.1973 – VIII R 96/70, BStBl. II 1973, 445; v. 8.4.2003 – IX R 1/01, BFH/NV 2003, 1171; Kube in Kirchhof, 9. Aufl. 2010, § 23 EStG Rz. 16. 22 Dazu siehe BFH v. 25.8.2009 – IX R 60/07, BStBl. II 2009, 999, und IX R 55/07, BFH/NV 2010, 387; v. 2.5.2000 IX R 74/96 – BStBl. II 2000, 469; v. 1.6.2004 – IX R 35/01, BStBl. II 2005, 26 (30); und h. M. z. B. Glenk in Blümich, § 23 EStG Rz. 13; Kube in Kirchhof (Fn. 21), § 23 EStG Rz. 1.
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erstem Teilakt eines möglicherweise erneut in Gang gesetzten Tatbestandes des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. Insoweit entfaltet der (mit den erfolgten Veräußerungen) erfüllte Steuertatbestand in der Tat eine Zäsurwirkung, wie das FG Baden-Württemberg23 zutreffend annimmt. 2. Gestaltungsmissbrauch Ein möglicher, von den Finanzbehörden und den beiden älteren FG-Entscheidungen angenommener Gestaltungsmissbrauch bei Verkauf und anschließendem Wiederkauf gleicher Wertpapiere liegt indes nach der BFH-Rechtsprechung nicht vor. Dabei sind Verkauf und Wiederkauf (zunächst einmal) zwei getrennte, tatsächliche Vorgänge, um deren Gesamtbeurteilung es geht. a) Beschreibung des Gestaltungsmissbrauchs Das Gesetz (§ 42 AO a. F.) gibt keine Definition vor. Nach ständiger BFHRechtsprechung ist ein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts i. S. v. § 42 AO a. F. gegeben, wenn eine rechtliche Gestaltung gewählt wird, die – gemessen an dem erstrebten Ziel – unangemessen ist, der Steuerminderung dienen soll und durch wirtschaftliche oder sonst beachtliche nichtsteuerliche Gründe nicht zu rechtfertigen ist24. Das Motiv, Steuern zu sparen, macht eine steuerliche Gestaltung noch nicht unangemessen. Eine rechtliche Gestaltung ist erst dann unangemessen, wenn der Steuerpflichtige die vom Gesetzgeber vorausgesetzte Gestaltung zum Erreichen eines bestimmten wirtschaftlichen Ziels nicht gebraucht, sondern dafür einen ungewöhnlichen Weg wählt, auf dem nach den Wertungen des Gesetzgebers das Ziel nicht erreichbar sein soll25. Das schließt es ein, dass einerseits eine gezielt gestaltete Verlustrealisation regelmäßig nicht rechtsmissbräuchlich sein muss26, andererseits aber aufgrund der Umstände des Einzelfalls bei Nichtvorliegen wirtschaftlicher oder sonst beachtlicher nichtsteuerlicher Gründe ein Gestaltungsmissbrauch gegeben sein kann27. Entsprechend dient auch die Ausschöpfung von Verlusten letztlich der Vermeidung einer im Ergebnis überhöhten Gesamtbesteuerung und damit dem Ziel der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Das gilt unabhängig davon, ob die Gestaltung zugleich von weiteren, außersteuerlichen Gründen getragen wird oder nicht28.
__________ 23 Urteil v. 1.8.2007 – 1 K 51/06, EFG 2008, 54, DStRE 2008, 242. 24 BFH v. 29.5.2008 – IX R 77/06, BStBl. II 2008, 789, und v. 29.8.2007 – IX R 17/07, BFH/NV 2008, 426. 25 BFH v. 29.5.2008 – IX R 77/06, BStBl. II 2008, 789, und v. 17.12.2003 – IX R 56/03, BStBl. II 2004, 648, m. w. N. 26 Vgl. BFH v. 29.5.2008 – IX R 77/06, BStBl. II 2008, 789. 27 Vgl. BFH v. 14.6.2005 – VIII R 37/03, DStRE 2006, 117, unter II. A. 2. b); v. 18.7.2007 – VIII B 63/06, und v. 29.1.2009 – IX B 23/08, jeweils juris. 28 Vgl. BFH v. 19.8.1999 – I R 77/96, BStBl. II 2001, 43, Rz. 30; v. 17.10.2001 – I R 97/00, BFH/NV 2002, 240 Rz. 19. Insoweit muss der Steuerpflichtige solche Gründe auch nicht mehr darlegen (vgl. Messner, AktStR 2010, 81[83]; Durst, BeSt 2010, 4 [5]).
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Damit schließt sich den eher „weichen“ Formulierungen der Beschreibung eines Gestaltungsmissbrauchs ein „Einerseits/Andererseits“ an, das einen – angesichts des Verweises auf Einzelfallumstände – vagen Entscheidungsrahmen vorgibt. Daher orientiert sich der BFH in seinem Lösungsansatz weniger an diesen Vorgaben, sondern argumentiert mit dem Tatbestand und System des § 23 EStG. b) Anwendung des § 23 EStG Für die Anwendung des § 23 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. Abs. 3 EStG, insb. das Tatbestandsmerkmal des Veräußerungsgeschäfts, heißt das: Die bloße Veräußerung von Wertpapieren innerhalb der Jahresfrist wird allgemein – wie auch hier – nicht als problematisch angesehen. Denn das gezielte Ausnutzen der Jahresfrist des § 23 Abs. 1 Nr. 2 EStG durch Abwarten ihres Ablaufs, um die Steuerfreiheit des Veräußerungsgewinns zu erreichen29, stellt keinen Gestaltungsmissbrauch i. S. d. § 42 AO dar, ebensowenig aber auch die Verlustrealisierung innerhalb der Jahresfrist, um den Verlust steuerlich geltend machen zu können und die Steuerlast zu mindern30; das gilt auch dann, wenn der Steuerpflichtige die veräußerten Wertpapiere anschließend oder zumindest kurzfristig wiedererwirbt31. Der Steuerpflichtige bewegt sich mit seinen Dispositionen angesichts der Schwankungsbreite börsennotierter Wertpapiere und des daraus resultierenden Kursrisikos im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben, insbesondere der Jahresfrist des § 23 EStG32. Auch nach der Neufassung des § 42 AO in dessen Abs. 2 Satz 1 wäre ein „gesetzlich nicht vorgesehener Steuervorteil“ gerade nicht gegeben. Grundsätzlich steht es in Ausübung seines Grundrechts auf wirtschaftliche Betätigungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG33 nämlich im Belieben des Steuerpflichtigen, ob, wann und mit welchem Risiko er vom ihm gehaltene Wertpapiere verkauft und danach wiederankauft und ggf. wieder verkauft. Insoweit handelt es sich bei dem Verkauf und anschließenden Wiederkauf – auch bei wirtschaftlicher Betrachtung – jeweils um eigenständige und damit separat zu beurteilende Vorgänge34, so dass der Veräußerungsvorgang nicht i. S. v. § 42 Satz 2 AO beseitigt wird. Hinzu kommt, dass das Gesetz die dem Steuerpflich-
__________ 29 Wernsmann in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 23 EStG Rz. A 71; Jacobs-Soyka in Littmann/Bitz/Pust, § 23 EStG Rz. 25; Kube in Kirchhof (Fn. 21), § 23 EStG Rz. 17 a. E. 30 Spindler in StBJb (2008/2009), S. 42. 31 Wernsmann in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 23 EStG Rz. A 72. 32 Auf die Ansicht des FG Schleswig-Holstein v. 14.9.2006 – 5 K 286/03, EFG 2007, 192, DStRE 2006, 1462, wonach bei einer Verlustrealisierung – anders als bei einer Gewinnrealisierung – die Veräußerung kein „beliebig gestaltbares Element“ des Tatbestandes sei, wird daher nicht näher eingegangen. 33 BFH v. 16.12.2003 – IX R 46/02, BStBl. II 2004, 284 unter B.III.2.; v. 18.10.2006 – IX R 28/05, BStBl. II 2007, 259. 34 Siehe dazu auch BFH-Urteile v. 24.6.2003 – IX R 2/02, BStBl. II 2003, 752 unter II.1.b)bb), zu Optionsgeschäften; v. 15.12.1999 – I R 29/97, BStBl. II. 2000, 527 unter II.1.b)bb), r.Sp., zum sog. Dividenden-Stripping bei taggleichem An- und Verkauf.
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tigen eingeräumte Dispositionsfreiheit über die gezielte Verlustrealisierung steuersystematisch durch die Regelung in § 23 Abs. 3 Sätze 8 und 9 EStG (Verlustausgleich und Verlustabzug nur mit Gewinnen aus privaten Veräußerungsgeschäften) beschränkt. Durch dieses in sich abgestimmte System der Verlustnutzung und -begrenzung sollen u. a. Spekulationen auf Kosten der Allgemeinheit und insbesondere gerade missbräuchliche Gestaltungen i. S. d. § 42 AO verhindert werden35. Bewegt sich daher der Steuerpflichtige im gesetzlich vorgegebenen Rahmen, kommt eine darüber hinausgehende Anwendung des durch die beschränkte Verlustverrechnung bereits berücksichtigten Missbrauchsgedankens grundsätzlich nicht mehr in Betracht36. Im Übrigen würde auch die Finanzverwaltung im Fall des Verkaufs von Wertpapieren mit Gewinn innerhalb der Jahresfrist diesen Veräußerungsgewinn ohne Rücksicht auf den anschließenden Wiederkauf der gleichen Wertpapiere der Besteuerung unterwerfen37.
III. Offene Fragen und Ausblick Allerdings weist das BFH-Urteil IX R 60/0738 noch einen „Schlenker“ auf, wonach entgegen der – im Übrigen bestätigten – Ansicht des FG Baden-Württemberg39 der mit der Veräußerung bereits verwirklichte Steuertatbestand („Zäsurwirkung“) eine wirtschaftliche Gesamtbeurteilung nach § 42 AO unter Einschluss des nachfolgenden Wiederkaufs derselben oder gleichartiger Wertpapiere nicht generell ausschließt. Unter welchen Voraussetzungen ein Gestaltungsmissbrauch, etwa unter dem Aspekt des Gesamtplans, in Betracht kommen könnte, wird nicht ausgeführt, bleibt also offen; es ist aber auch nicht Aufgabe einer Revisionsinstanz, über nicht vorliegende Gegebenheiten (ggf. auch im Vorgriff) zu spekulieren. Bei den weiteren Überlegungen sollte indes beachtet werden, dass nach den Ausführungen unter II.2. nur wenig Spielraum für die Annahme eines Gestaltungsmissbrauchs bleibt. 1. Offene Fragen Dazu lässt sich aus den BFH-Urteilen ableiten, dass es keine Mindestfrist für die Annahme eines Gestaltungsmissbrauchs gibt; auch der taggleiche Verkauf und Wiederkauf von Wertpapieren ist daher generell nicht rechtsmissbräuchlich. Die Ansicht des FG Münster, das – jedenfalls zur Abgrenzung auch – auf den kurzen zeitlichen Abstand zwischen Verkauf und Wiederkauf als Unterscheidungsmerkmal für oder (bei 2 Tagen) gegen einen Gestaltungsmissbrauch abstellt, ist daher nicht zielführend. Zwar liegen den BFH-Urteilen Sachverhalte mit unterschiedlichen Kursen zugrunde. Daraus auf einen (zwingend vorliegenden) Gestaltungsmissbrauch bei identischen Kursen zu schließen, greift
__________ 35 36 37 38 39
Vgl. Wernsmann in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 23 EStG Rz. F 27, 29. Vgl. BFH v. 19.8.1999 – I R 77/96, BStBl. II 2001, 43 Rz. 30 a. E. So auch Schmitt/Hagen/Lenz, DStR 2010, 735 (737), unter 2.3.1. BFH v. 25.8.2009 – IX R 60/07, BStBl. II 2009, 999, unter 3. Urteil v. 1.8.2007 – 1 K 51/06, EFG 2008, 54, DStRE 2008, 242.
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indes zu kurz, zumal gerade bei mehrtägigen, aber selbst bei einer nur einstündigen oder noch kürzeren Zeitspanne zwischen Verkauf und Wiederkauf von Wertpapieren gleicher Art zwischenzeitlich Kursschwankungen eingetreten sein können. Maßgebend dürfte u. a. das erkennbare tatsächliche oder gänzlich fehlende Kursrisiko sein40, auch die zeitgleiche Erteilung eines Verkaufs- und Wiederkaufsauftrag könnte von Bedeutung sein41; in diese Richtung urteilte auch das FG Hamburg42 (Wiederkauf am selben Tag zu identischem Kurs bei gleichzeitig mit dem Verkauf erteilten Wiederkaufauftrag), ohne aber das System der Verlustnutzung in § 23 EStG in seiner Begründung anzusprechen. Entscheidend wird es auf die Umstände des Einzelfalls ankommen. Diese Überlegungen gelten grundsätzlich auch für nicht börsennotierte Wertpapiere; in diesen Fällen wird es aber schwierig sein, ein faktisches Wertrisiko und tatsächliche Wertschwankungen solcher Papiere (Kapitalanteile) entsprechend nachzuweisen43. Andererseits wird man den Verkauf und Wiederkauf von identischen Wertpapieren und insbesondere den von identischen oder wirtschaftlich vergleichbaren „anderen Wirtschaftsgütern“ (§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG) kritischer sehen können44. Hier könnte – etwa aufgrund vorheriger konkreter Absprache zwischen Verkäufer/Wiederkäufer und Käufer – unter dem Aspekt des Gesamtplans und dessen eingeschränkter Anwendung45 im Rahmen einer Gesamtwürdigung ein Gestaltungsmissbrauch bei Beherrschbarkeit der Teilschritte (Verkauf und Wiederkauf) in Betracht gezogen werden. Gedacht ist an Fälle des von vornherein beabsichtigten und festgelegten Rückkaufs, weil der Verkauf „eigentlich nicht gewollt“ ist, aber gleichwohl durchgeführt46 wird oder sonstige gegenläufige Rechtsgeschäfte47 i. S. v. Ausweich- und Korrekturgeschäften, bei denen es wirtschaftlich im Ergebnis (im Wege eines Hin-und-Her) um die Beibehaltung des status quo geht. Dazu hat sich der BFH bislang bezogen auf andere Wirtschaftsgüter, etwa Kapitalanlagen wie GmbH-Anteile, noch nicht geäußert, ist aber im Revisionsverfahren IX R 40/09 damit befasst. Die Vorinstanz, das FG Rheinland-Pfalz48, hat jedenfalls den Verkauf und Wiederkauf von GmbH-Anteilen im Gesellschafterkreis in einer Art „Ringtausch“ als Gestaltungsmissbrauch beurteilt. In diese Richtung (Rückkauf des zuvor veräußerten Wirtschaftsguts) könnte auch ein Wiederkauf nach § 456 BGB
__________ 40 Gl.A. Schmitt/Hagen/Lenz, DStR 2010, 735 (737); Ebner, NWB 2010, 342 (345); Bron/ Seidel, BB 2009, 2634. 41 Wernsmann in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 23 EStG Rz. A 72. 42 Urteil v. 9.7.2004 – VII 52/02, EFG 2004, 1775, DStRE 2004, 1334; siehe auch Fn. 12. 43 Ggf. durch Sachverständigen-Gutachten oder durch Vorverkäufe gleicher Papiere oder Anlagen. 44 Vgl. Messner, AktStR 2010, 81 (86); Hahne, BB 2009, 2578 (2579). 45 Spindler, DStR 2005, 1 (4). 46 Im Gegensatz zum Scheingeschäft, das nach § 41 Abs. 2 AO für die Besteuerung unerheblich ist; siehe z. B. dazu BFH v. 7.11.2006 – IX R 4/06, BStBl. II 2007, 372 (Scheindarlehen); v. 21.9.2004 – IX R 5/03, BFH/NV 2005, 498 (Scheinkauf). 47 Zu gegenläufigen Rechtsgeschäften auf Nutzungsebene siehe BFH-Urteile v. 17.12. 2003 – IX R 56/03, BStBl. II 2004, 648; v. 27.10.2005 – IX R 76/03, BStBl. II 2006, 359. 48 Urteile v. 5.2.2009 4 – K 1078/05, EFG 2010, 99 und 4 K 1394/05, n. v., juris.
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(§ 497 BGB a. F.) rechtsmissbräuchlich gestaltet sein, der ein eigenständiges Nebeneinander zum vorherigen (Verkaufs)Vertrag mit Vorrang des Wiederkaufsrechts zulässt; mit der Wiederkaufserklärung wird aber der Wiederkaufvertrag wirksam und der vorherige (Verkaufs-)Vertrag aufgelöst49, dieser wird aber nicht rückgängig gemacht50. Hingegen bedarf es bei einer Rückabwicklung der Veräußerung keines Wiederkaufs, vielmehr wird der (zunächst gewollte und auch tatsächlich durchgeführte) Veräußerungsvorgang rückgängig gemacht, storniert51. 2. Ausblick Die vorbesprochene BFH-Rechtsprechung hat auch weiterhin noch Bedeutung. Zwar unterliegen ab 2009 alle Veräußerungsvorgänge von Wertpapieren unabhängig von der Behaltensdauer der Abgeltungsteuer (§ 20 Abs. 2 EStG n. F.), so für (u. U. bis 31.12.2009) realisierte Altverluste, sie können bis zum VZ 2013 sowohl mit Gewinnen aus privaten Veräußerungsgeschäften wie auch mit Veräußerungsgewinnen auf Antrag verrechnet werden (§ 20 Abs. 6, § 32d Abs. 4 EStG n. F.). Darüber hinaus bleibt diese Rechtsprechung – neben ihren grundsätzlichen Aussagen – weiter aktuell in Fällen der Veräußerung „anderer Wirtschaftsgüter“ i. S. d. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG.
__________ 49 Dazu BGH v. 14.1.2000 – V ZR 386/98, BGHZ 140, 218, NJW 2000, 1332. 50 BFH v. 2.2.1982 – VIII R 3/79, BStBl. II 1982, 459; FG München v. 3.3.2009 – 8 K 2888/06, EFG 2009, 1030, DStRE 2010, 339. 51 Vgl. BFH v. 28.10.2009 – IX R 17/09, BStBl. II 2010, 539; v. 27.6.2006 – IX R 47/04, BStBl. II 2007, 162.
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Das Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen zwischen Folgerichtigkeitsgrundsatz und Willkürverbot Inhaltsübersicht I. Einführung II. Von der Folgerichtigkeit zurück zum Willkürverbot III. Zur Figur der „zentralen Fragen gerechter Belastungsverteilung“
IV. Passivierungsverbot und Willkürfreiheit V. Schlussbemerkung
I. Einführung In seinem Beschluss vom 12. Mai 20091 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts „zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an gesetzliche Begrenzungen der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung für die steuerliche Gewinnermittlung“ Stellung genommen. Den Gegenstand des Beschlusses bildet eine Regelung des Steuerreformgesetzes 19902, mit der der Gesetzgeber eine Entscheidung des BFH vom 5. Februar 19873 kassiert hatte. § 52 Abs. 6 Satz 1 und 2 EStG 1990 untersagte die Bildung von sogenannten Jubiläumsrückstellungen für die Jahre 1988 bis 1992 und ordnete die schrittweise gewinnerhöhende Auflösung von in der Vergangenheit gebildeten Jubiläumsrückstellungen an. Anlass für diese Gesetzesänderung waren fiskalische Gründe4. Man befürchtete nachteilige Auswirkungen der neuen BFH-Rechtsprechung auf das Steueraufkommen. Ferner sollten die betroffenen Unternehmen durch die Auflösung der Rückstellungen einen Beitrag zur Finanzierung der Tarifreform 1990 leisten. Nachdem einzelne Steuerpflichtige sich vor den Finanzgerichten gegen die Nichtanerkennung der Jubiläumsrückstellungen in den Jahren 1988 bis 1992 zur Wehr setzten, hat der X. Senat des BFH mit Beschluss vom 10. November 1999 dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 52 Abs. 6 Satz 1 und 2 EStG 1990 gegen den Gleichheitssatz verstieß. Nach zehnjähriger Überlegung kam der Zweite Senat des BVerfG zu dem Ergebnis, dass die Vorlage des BFH unbegründet gewesen sei. Die zentrale Aussage des einstimmig ergangenen Beschlusses vom 12. Mai 2009 lautet: „In sachlicher Hinsicht bewegt sich die Regelung willkürfrei innerhalb eines weiten gesetzlichen Gestaltungsspielraums“.
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BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111. Gesetz v. 25.7.1988, BGBl. I 1988, 1093. BFH v. 5.2.1987 – IV R 81/84, BStBl. II 1987, 845. Zum Hintergrund der Streichung der Jubiläumsrückstellungen siehe nur KnobbeKeuk, BB 1988, 1086.
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Der nachfolgende Beitrag zu Ehren von Wolfgang Spindler unterzieht den Beschluss des Zweiten Senats einer kritischen Untersuchung5. Eine Auseinandersetzung mit dem Beschluss ist aus mehreren Gründen angezeigt. Die deutliche Zurückhaltung des Zweiten Senats bei der verfassungsrechtlichen Prüfung bilanzrechtlicher Vorschriften steht in einem auffälligen Gegensatz zu der Akribie, mit der derselbe Senat nur wenige Monate zuvor die – ebenfalls rein fiskalisch motivierte – Kürzung der Entfernungspauschale vermessen und verworfen hat6. Damit stellt sich die Frage nach der „Folgerichtigkeit“ der Rechtsprechung des Zweiten Senats zum Folgerichtigkeitsgebot. Näherer Überprüfung bedürfen aber auch die Ausführungen des Zweiten Senats zur systematischen Stellung des Maßgeblichkeitsprinzips sowie die Überlegungen, mit denen der Senat einen Verstoß gegen das Willkürverbot verneint hat. Die Auseinandersetzung mit dem Beschluss vom 12. Mai 2009 ist aber noch aus einem anderen Grund reizvoll. Der „Kampf um die Jubiläumsrückstellung“ ist nicht nur ein deutsches Phänomen. Auch der österreichische Gesetzgeber hat 1993 versucht, einer geänderten Rechtsprechung des öVwGH zur Passivierungspflicht von Jubiläumsrückstellungen7 durch ein gesetzliches Passivierungsverbot entgegenzusteuern8. Anders als die Kläger in Deutschland musste die klagende österreichische Aktiengesellschaft allerdings nicht 21 Jahre auf eine abschließende Entscheidung warten. Denn schon 1997 hoben die österreichischen Verfassungsrichter das im Steuerreformgesetz 1993 eingeführte und für Wirtschaftsjahre ab 1994 anzuwendende Rückstellungsverbot mangels sachlicher Begründung als verfassungswidrig auf9.
II. Von der Folgerichtigkeit zurück zum Willkürverbot In seiner bisherigen Rechtsprechung ist der Zweite Senat bei der Anwendung des Gleichheitssatzes im Steuerrecht von einem zweistufigen Prüfungsansatz ausgegangen. Im Bereich des Steuerrechts – so heißt es auch noch im Beschluss vom 12. Mai 200910 – habe der Gesetzgeber „bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum“. Dagegen müsse bei der Ausgestaltung des steuerlichen Ausgangstatbestandes „die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden“. Ausnahmen von einer solchen folgerichtigen Umsetzung bedürften eines „besonderen sachlichen Grundes“. Wie der Zweite Senat in seinem Beschluss zur Entfer-
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5 Vgl. auch die Kritik am Beschluss bei Hey, DStR 2009, 2561; Drüen, JZ 2010, 91; Schlotter, BB 2009, 1411; ferner die nach Abschluss des Manuskripts erschienenen Beiträge von Hennrichs in FS Lang, 2010, S. 237 und Schulze-Osterloh in FS Lang, 2010, S. 255. 6 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1, 2/07, 1, 2/08, BVerfGE 122, 210. 7 ÖVwGH v. 25.1.1994 – Z 90/14/0073 und ÖVwGH v. 21.12.1994 – Z 89/13/0007. 8 Vgl. § 9 Abs. 4 öEStG i. d. F. des Art. I Z 6 Steuerreformgesetz 1993, öBGBl. Nr. 818/ 1993. 9 Erkenntnis des öVfGH v. 9.12.1997 – G 403/97, VfSlg Nr. 15.040, 728; dazu Ruppe, StuW 2009, 289 (297 f.). 10 BVerfGE 123, 111 (120).
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nungspauschale vom 9. Dezember 200811 ausdrücklich betont hat, reicht „der Finanzbedarf des Staates oder eine knappe Haushaltslage“ für sich genommen nicht aus, um ungleiche Belastungen durch konkretisierende Ausgestaltung der steuerrechtlichen Grundentscheidungen zu rechtfertigen. Auch wenn der Staat auf Einsparungsmaßnahmen angewiesen sei, müsse er – so der Zweite Senat – auf eine „gleichheitsgerechte Verteilung der Lasten achten“. Anders ausgedrückt: Der Gesetzgeber darf nicht – wie im Fall der Entfernungspauschale geschehen – allein aus Gründen der Haushaltskonsolidierung die Abzugsfähigkeit bestimmter fiskalisch bedeutsamer Aufwendungen einschränken. Wendet man dieses Prüfungsprogramm auf das Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen an, dann war die Regelung des § 52 Abs. 6 Satz 1 und 2 EStG 1990 als nicht verfassungsgemäß zu verwerfen. Denn die Regelung enthielt ein rein fiskalisch motiviertes zeitlich befristetes Passivierungsverbot für bestimmte Verbindlichkeitsrückstellungen12. Der Zweite Senat gelangt in seinem Beschluss vom 12. Mai 2009 indes zu einer anderen Beurteilung, weil er seinen Prüfungsmaßstab gegenüber der bisherigen Rechtsprechung modifiziert hat. Nach Ansicht des Zweiten Senats ist das gleichheitsrechtliche Gebot der Folgerichtigkeit auf die „zentralen Fragen gerechter Belastungsverteilung“ zu beschränken. Unterhalb dieser Ebene soll es – ebenso wie auf der Ebene der Auswahl des Steuergegenstandes – bei einer bloßen Willkürprüfung bleiben. Es sei – so die zentrale Begründung – „nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die ‚Richtigkeit‘ von Lösungen komplexer dogmatischer Streitfragen, wie sie für manche Bereiche des Steuerbilanzrechts und jedenfalls für den Bereich der Rückstellungen typisch sind, zu kontrollieren und zu gewährleisten“13. Damit ist bei der Gleichheitssatzprüfung im Bereich des Steuerrechts künftig eine Art „Dreistufenmodell“ anzuwenden: Auf der obersten Ebene der steuerlichen Belastungsentscheidung ist der Gesetzgeber weitgehend frei. Auf einer mittleren Ebene der „zentralen Fragen gerechter Belastungsentscheidung“ unterliegt der Gesetzgeber der Bindung an die Folgerichtigkeit und Verhältnismäßigkeit. Auf der unteren Ebene der „nicht ohne weiteres verfassungsrechtlich erheblichen Einzelregelungen“ soll der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers wiederum nur durch das Willkürverbot beschränkt sein. Mit diesem „Dreistufenmodell“ hat der Zweite Senat die Bedeutung des Folgerichtigkeitsgebots deutlich relativiert, auch wenn die praktische Bedeutung dieser „neuen Formel“ vor allem davon abhängen wird, wo genau man die Grenze zwischen „zentralen“ und „peripheren“ Fragen gerechter Belastungsentscheidung zieht. Der Zweite Senat rechtfertigt seine Rechtsprechungsänderung vor allem mit dem Hinweis, es sei nicht die Aufgabe des Gerichts, „die ‚Richtigkeit‘ von Lösungen komplexer dogmatischer Streitfragen zu kontrollieren und zu ge-
__________ 11 BVerfGE 122, 210 (231). 12 So auch die Bedenken im Vorlagebeschluss des X. Senats v. 10.11.1999 – X R 60/95, BB 2000, 347; vgl. auch Hey, BB 2000, 1453. 13 BVerfGE 123, 111 (123).
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währleisten“14. Diese Begründung kann – bei allem Verständnis für die Knappheit der Ressource „Gerechtigkeit“ – nicht überzeugen. Zunächst ist nicht zu erkennen, warum eine durchgängige Anwendung des Folgerichtigkeitsmaßstabes das Verfassungsgericht derart überfordern sollte. Dagegen spricht nicht nur das Beispiel des öVfGH, sondern vor allem die Überlegung, dass die Prüfung der Rationalität von Einzelvorschriften bei Einhaltung des Folgerichtigkeitsgebots „nach unten hin“ eigentlich immer einfacher werden müsste. Denn die Entscheidungsspielräume eines „folgerichtig“ agierenden Gesetzgebers werden auf jeder Regelungsstufe zwangsläufig immer kleiner, so dass auch die Komplexität der Sachfragen eher abnehmen dürfte. Dieser Zusammenhang lässt sich auch für das Steuerbilanzrecht verdeutlichen: Wenn der Gesetzgeber die einkommensteuerrechtliche Leistungsfähigkeit von Gewerbetreibenden nach dem Gewinn bemisst (§ 2 Abs. 2 EStG) und bei buchführungspflichtigen Kaufleuten nach den §§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 EStG eine Gewinnermittlung auf der Grundlage eines qualifizierten Betriebsvermögensvergleichs vorsieht, dann ist es folgerichtig, alle betrieblich veranlassten Schulden als Betriebsvermögensminderungen gewinnmindernd zu berücksichtigten. Dies gilt nicht nur für gewisse, sondern auch für ungewisse Verbindlichkeiten, die – auch insoweit folgerichtig – nach § 5 Abs. 1 EStG i. V. m. § 249 Abs. 1 HGB als Rückstellungen in der Steuerbilanz zu passivieren sind. Auf dieser Grundlage ist es aber nicht mehr folgerichtig, wenn der Gesetzgeber einfach bestimmte ungewisse Verbindlichkeiten wie die Rückstellungen für Jubiläumszuwendungen für die Jahre 1988 bis 1992 von der Passivierung ausnimmt. Für eine solche Ausnahme bedürfte es eines „besonderen sachlichen Grundes“, der jedenfalls nicht allein in der Mehrung des Steueraufkommens bestehen kann. Gegen das „Dreistufenmodell“ des Zweiten Senats spricht auch, dass die Unterscheidung zwischen der zweiten und dritten Ebene – im Unterschied zur Unterscheidung zwischen der ersten und zweiten Stufe – mit dem Grundgedanken der Folgerichtigkeitsrechtsprechung nicht recht vereinbar ist. Wenn das BVerfG dem Steuergesetzgeber auf der ersten Stufe – bei der Auswahl des Steuergegenstandes – einen weiten Gestaltungsspielraum eingeräumt hat, so war dies der zutreffenden Einsicht geschuldet, dass der Folgerichtigkeitsmaßstab nicht a priori, sondern nur auf der Grundlage einer bestimmten Vorgabe Anwendung finden kann. Anders ausgedrückt: Ob die steuerliche Verschonung eines bestimmten Sachverhalts als „folgerichtig“ anzusehen ist, setzt Klarheit über die vom Gesetzgeber auf der ersten Stufe getroffene Belastungsentscheidung voraus. Da es jedoch keinen Sachverhalt gibt, der gleichsam von „Verfassungs wegen“ besteuert werden müsste15, hat der Gesetzgeber auf dieser ersten Stufe zwangsläufig einen sehr weiten Gestaltungsspielraum. Ist die Belastungsentscheidung hingegen getroffen worden, lassen sich alle weiteren gesetzgeberischen Schritte bis hin zur letzten Detailregelung daraufhin über-
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14 BVerfGE 123, 111 (123). 15 Auch aus Art. 106 GG ergibt sich z. B. kein Zwang zur Erhebung einer „Einkommensteuer“, vgl. dazu statt aller nur Vogel/Waldhoff in Bonner Kommentar, Vorbem. z. Art. 104a – 115 GG Rz. 528; zur Auswahlfreiheit des Gesetzgebers bei der Festlegung des Steuergegenstandes zuletzt Hey, FR 2008, 1033 (1034).
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prüfen, ob sie – gemessen an der ursprünglichen Belastungsentscheidung – als „folgerichtig“ anzusehen sind. Anders ausgedrückt: Wenn man überhaupt der Ansicht ist, dass der Gleichheitssatz den Gesetzgeber im Bereich des Steuerrechts über das Willkürverbot hinaus zu einem bestimmten Maß an „folgerichtiger“ Gesetzgebung verpflichtet, dann ist nicht einzusehen, warum diese Bindung auf einer bestimmten Regelungsstufe enden soll. Die vom Zweiten Senat befürwortete Beschränkung des Folgerichtigkeitsprinzips auf „zentrale Fragen gerechter Belastungsverteilung“ ist also – gemessen am Grundkonzept der Folgerichtigkeit – selbst nicht „folgerichtig“. Sie stellt letztlich den Folgerichtigkeitsgedanken als solchen in Frage: Weshalb soll der Gesetzgeber bei „zentralen“ Fragen folgerichtig handeln, wenn er im Übrigen nur an das Willkürverbot gebunden ist? Wenn man meint, den Gesetzgeber aus der „Gefangenschaft der eigenen Entscheidung“16 befreien zu müssen, dann wäre eine gewisse Lockerung des Folgerichtigkeitsprinzips – z. B. durch Absenkung der Anforderungen an die „Systemrationalität“ von Einzelvorschriften – überzeugender als eine partielle Beschränkung des Folgerichtigkeitsgebots auf „zentrale“ Fragen, die dem Steuergesetzgeber im Übrigen weitestgehende Freiheiten einräumt17.
III. Zur Figur der „zentralen Fragen gerechter Belastungsverteilung“ Die Relativierung des Folgerichtigkeitsgebots ist nicht nur in der Sache problematisch, sondern wirft auch neue prekäre Abgrenzungsprobleme auf. Der Zweite Senat will die Bindung an das Folgerichtigkeitsgebot künftig auf die „zentralen Fragen gerechter Belastungsverteilung“ beschränken. Doch was sind „zentrale Fragen gerechter Belastungsverteilung“? Was unterscheidet sie von „peripheren“ Besteuerungsvorschriften? Weshalb ist die steuerliche Abzugsfähigkeit von Wegekosten eine „zentrale Frage gerechter Belastungsverteilung“, während man die Zulässigkeit von Jubiläumsrückstellungen als steuerliche Nebensache eingeordnet? Kommt es für die Anwendung des Folgerichtigkeitsgebots vor allem auf die Zahl der betroffenen Steuerpflichtigen oder das mediale Interesse der Öffentlichkeit an? Sind lohnsteuerrechtliche Einzelvorschriften also immer von „zentraler Bedeutung“, weil sie die meisten Bürger (und z. B. auch die Verfassungsrichter selbst) betreffen? Oder spricht die Komplexität einer Materie eher gegen ihre „zentrale Bedeutung“? Der Beschluss vom 12. Mai 2009 bleibt eine nähere Antwort auf diese Fragen schuldig. Es findet sich nur die Feststellung, dass zumindest „Entscheidungen des Steuergesetzgebers zur Begrenzung des Grundsatzes der Maßgeblichkeit und zur Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten nach dem handelsrechtlichen Vorsichtsprinzip“ nicht zu den „zentralen“ Fragen gehören18.
__________ 16 Zum Gesetzgeber als „Gefangener der eigenen Entscheidung“ vgl. Di Fabio, JZ 2007, 754. 17 Für eine bereichsspezifische Differenzierung nach der „Ranghöhe der Belastungsentscheidung“ auch Hey, DStR 2009, 2561 (2567); ähnlich Drüen, JZ 2010, 91 (94). 18 BVerfGE 123, 111 (123).
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Wer versucht, aus dem Beschluss erste Leitlinien für die Abgrenzung zwischen „zentralen“ und randständigen Besteuerungsregeln abzuleiten, stößt zunächst auf den Satz, dass der Maßgeblichkeitsgrundsatz schon deshalb keine „zentrale“ Bedeutung habe, weil er seine Existenz – so der Zweite Senat19 – „nicht primär Überlegungen zur gerechten Verteilung von Steuerlasten“ verdanke, sondern in erster Linie „auf Gründen der Praktikabilität der unternehmerischen Gewinnermittlung beruhe“. Diese Ausführungen erstaunen, denn sie vernachlässigen die herausgehobene systematische Stellung des § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG im System der steuerlichen Einkünfteermittlung. Natürlich hat der Maßgeblichkeitsgrundsatz keinen „Verfassungsrang“20. § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG steht aber in einem direkten Zusammenhang mit der „Grundentscheidung“ des Gesetzgebers für den Betriebsvermögensvergleich (§ 4 Abs. 1 Satz 1 EStG), auf die die Legaldefinition des Gewinns in § 2 Abs. 2 EStG Bezug nimmt. Die systematische Bedeutung des § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG besteht also weniger in der Bezugnahme auf handelsrechtliche Vorschriften, sondern vor allem in der Entscheidung für eine vermögensorientierte Ermittlung der steuerlichen Leistungsfähigkeit bei buchführungspflichtigen Gewerbetreibenden, wie sie auch dem Grundgedanken der Reinvermögenszugangstheorie entspricht21. Die Bedeutung dieser Weichenstellung kann auch nicht davon abhängen, ob der Gesetzgeber ein eigenes Steuerbilanzrecht im EStG einführt oder aus Vereinfachungsgründen teilweise auf handelsrechtliche Vorschriften verweist. Wenn man selbst grundlegende Gewinnermittlungsvorschriften nicht mehr zu den „zentralen“ Fragen gerechter Belastungsverteilung rechnet, bleibt für das Folgerichtigkeitsprinzip im EStG neben dem objektiven Nettoprinzip kaum noch ein praktischer Anwendungsbereich. „Noch weniger“ als der Maßgeblichkeitsgrundsatz soll nach Ansicht des Zweiten Senats die Bildung von Rückstellungen in der Steuerbilanz zu den grundlegenden Entscheidungen des Steuergesetzgebers zu rechnen sein. Der Senat versteht den Ansatz von Rückstellungen in erster Linie als Ausdruck des handelsrechtlichen Vorsichtsprinzips und des Gläubigerschutzes22. Auch diese Überlegungen greifen zu kurz, weil zumindest der Ansatz von Verbindlichkeitsrückstellungen – und allein darum geht es bei Jubiläumsrückstellungen – ein notwendiges Element des vollständigen Schuldenausweises ist23. Wenn sich der Gesetzgeber für eine vermögensorientierte Ermittlung der steuerlichen Leistungsfähigkeit entscheidet, muss er nicht nur alle Vermögensmehrungen (z. B. den Zugang von Forderungen), sondern auch alle Vermögensminderungen (z. B. die Belastung mit Verbindlichkeiten) stichtagsbezogen berücksichtigen. Ob eine Schuld dem Grunde und der Höhe nach zum Stichtag bereits feststeht (Ausweis als Verbindlichkeit) oder nicht (Ausweis einer Rück-
__________ 19 BVerfGE 123, 111 (123). 20 Zutreffend bereits Hey, BB 2000, 1353 (1354 f.). 21 Zur Durchführung der Reinvermögenszugangstheorie bei den Gewinneinkünften nur Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 181. 22 BVerfGE 123, 111 (124). 23 Zur Rückstellungsbildung als Element des vollständigen Schuldenausweises statt vieler nur Schön, BB 1994, Beil. 9, 4.
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stellung), ist insoweit unerheblich. Demgegenüber versucht der Zweite Senat den Ausweis von Rückstellungen in einen gewissen Gegensatz zum steuerlichen Leistungsfähigkeitsprinzip zu setzen, wobei nicht immer klar wird, ob sich die behauptete Diskrepanz zwischen Rückstellungsbildung und „Minderung der aktuellen finanziellen Leistungsfähigkeit“ auf alle Arten von Rückstellungen beziehen soll oder nur auf den Spezialfall der Drohverlustrückstellung, die seit 1999 steuerlich nicht mehr anerkannt wird (vgl. § 5 Abs. 4a EStG). Auffallend ist auch, dass die vom Senat an dieser Stelle als einziger Beleg für die Kritik am Imparitätsprinzip angeführte Literaturansicht24 die Auffassung des Senats gerade nicht bestätigt, sondern sich im Gegenteil nachdrücklich für die Verfassungswidrigkeit des Passivierungsverbots bei Jubiläumsrückstellungen ausspricht. Der Zweite Senat begründet die „periphere“ Bedeutung der Vorschriften über die Rückstellungsbildung schließlich auch noch mit der Erwägung, es ginge letztlich nur um „das Wann, nicht das Ob der Besteuerung“25. Der maßgebliche Zeitpunkt lasse sich aber nicht mit Hilfe des Maßstabs wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit oder des objektiven Nettoprinzips bestimmen, was „durch einen Vergleich mit der für die Überschusseinkünfte geltenden Regelung bestätigt“ werde. Diese Passage leuchtet nicht ein. Der Folgerichtigkeitsmaßstab wäre ein stumpfes Schwert, wenn sich der Gesetzgeber seiner Bindungswirkung schon dadurch entziehen könnte, dass er statt „einer“ Belastungsentscheidung über die zeitliche Zuordnung von Leistungsfähigkeit „mehrere“ Belastungsentscheidungen trifft. Richtigerweise wird man in diesem Fall erwarten können, dass der Gesetzgeber zumindest innerhalb der verschiedenen Gewinnermittlungssysteme eine hinreichende „Systemrationalität“ wahrt. Wenn der Gesetzgeber im gegenwärtigen System des Betriebsvermögensvergleichs (§§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 EStG) aktivierte Forderungen auch ohne Zufluss als „aktuelle“ Mehrung der steuerlichen Leistungsfähigkeit behandelt, dann müssen konsequenterweise passivierte Verbindlichkeiten auch ohne Abfluss als „aktuelle“ Minderung der Leistungsfähigkeit gelten. Vor allem aber kann man die Folgewidrigkeit von Passivierungsverboten nicht danach beurteilen, ob es bei der Überschussrechnung auf den Zeitpunkt des Zu- und Abflusses ankommt. Beide Gewinnermittlungssysteme haben ihre eigenen Rationalitäten und daher lassen sich einzelne Elemente nicht sinnvoll miteinander vergleichen26. Anders ausgedrückt: Aus dem Umstand, dass der „normale“ Arbeitnehmer keine steuerlichen Rückstellungen bilden kann, lässt sich für die Behandlung unternehmerischer Risiken in der Steuerbilanz nichts herleiten. Schließlich ist auch der These des Zweiten Senats nicht zu folgen, dass steuerliche Periodisierungsregelungen schon deshalb regelmäßig keine „zentrale“ Bedeutung hätten, weil sich der Zeitpunkt der Besteuerung nicht mit Hilfe des
__________ 24 Schulze-Osterloh in DStJG 23 (2000), S. 67 (72 ff.). 25 BVerfG 123, 111 (125). 26 Grundlegend Schön, StuW 1995, 366 (370 f.); eingehend auch Schlotter, Teilwertabschreibung und Wertaufholung zwischen Steuerbilanz und Verfassungsrecht, 2005, 247 ff.; ders., BB 2009, 1411 (1412).
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Leistungsfähigkeitsprinzips bestimmen ließe. Ein von Zeit und Ort losgelöstes Leistungsfähigkeitsprinzip ist ohne Wert. Die Entscheidung des Gesetzgebers über das „Was“ der Besteuerung ist deshalb nicht von größerer Bedeutung als die Frage über das „Wann“ der Besteuerung oder über das „Wo“ im Sinne einer territorialen Anknüpfung des Steueranspruchs. Schon auf Grund der permanenten Änderungen des Steuerrechts und des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots ist die eindeutige zeitliche Zuordnung von steuerlicher Leistungsfähigkeit keine „Nebensache“, sondern sowohl für den Steuergläubiger als auch für die Steuerschuldner von kardinaler Bedeutung. Zudem zeigt gerade der Fall der Jubiläumsrückstellungen, wie „erheblich“ eine Änderung des „Wann“ sein kann, da der Gesetzgeber anderenfalls wohl kaum eingegriffen hätte. Der Maßstab der steuerlichen Leistungsfähigkeit bedarf somit nicht nur in sachlicher, sondern auch in zeitlicher Hinsicht stets der Konkretisierung durch weitere Belastungsentscheidungen des Gesetzgebers, die als „zentrale Fragen gerechter Belastungsverteilung“ über die Folgerichtigkeit eine Bindungswirkung für die weitere Ausgestaltung auslösen müssen.
IV. Passivierungsverbot und Willkürfreiheit Da Rechtsfragen der Rückstellungsbildung nach Ansicht des Zweiten Senats nicht zu den „zentralen Fragen gerechter Belastungsverteilung“ gehören, musste der Zweite Senat nur noch darüber befinden, ob das zeitlich begrenzte Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen im Steuerreformgesetz 1990 das Willkürverbot verletzte. Er hat dies im Ergebnis verneint, und zwar mit folgenden Erwägungen27: Zum einen komme es für die verfassungsrechtliche Würdigung nicht allein auf die ausdrücklich genannten gesetzgeberischen Motive an, so dass ungeachtet der ausdrücklich fiskalischen Motivation des damaligen Gesetzgebers auch andere „objektive“ Gründe in die Prüfung der Willkürfreiheit einzubeziehen seien. Nach Ansicht des Zweiten Senats konnte auch „offen bleiben“, ob die vom Gesetzgeber verfolgten fiskalischen Gründe angesichts der seinerzeit zu befürchtenden erheblichen Einnahmenausfälle für sich genommen bereits als hinreichend sachlich oder „sonstwie einleuchtend“ im Sinne der Willkürformel zu werten sind. Denn das zeitlich begrenzte Passivierungsverbot sei jedenfalls vor dem Hintergrund der abweichenden „alten“ Rechtsprechung des BFH nicht zu beanstanden. Auch diese Aussagen bedürfen der näheren Einordnung. Was zunächst den Fokus der verfassungsrechtlichen Würdigung anbetrifft, so hat das BVerfG in seiner bisherigen Rechtsprechung verlangt, dass außerfiskalische Lenkungs- und Förderungszwecke nur dann als Rechtfertigungsgrund für Ausnahmen vom Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung von Steuernormen berücksichtigt werden können, wenn sie von einer „erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung“ getragen werden28. Damit war dem Gesetzgeber ein „Nachschieben von Gründen“ zur Rechtfertigung folgewidriger Steuer-
__________ 27 BVerfGE 123, 111 (126 f.). 28 Vgl. etwa BVerfGE 122, 210 (231 f.).
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normen grundsätzlich untersagt29. Hätte man diese Grundsätze auf die Willkürprüfung übertragen, wäre das Passivierungsverbot wohl schon deshalb zu verwerfen gewesen, weil der Gesetzgeber des Steuerreformgesetzes 1990 das Passivierungsverbot ausschließlich aus fiskalischen Erwägungen eingeführt hatte. In seinem Beschluss vom 12. Mai 2009 hat der Zweite Senat die Figur der „erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung“ auf die Überprüfung von Sozialzwecknormen beschränkt. Anders formuliert: Auch wenn der Gesetzgeber in den Gesetzesmaterialien allein fiskalische Gründe für eine Durchbrechung der Belastungsentscheidung anführt, soll dies bei Fiskalzwecknormen für sich genommen noch keine Willkür begründen. Entscheidend ist also nicht die subjektive Absicht des Gesetzgebers, sondern ob sich „objektiv“ (irgend)ein sachlicher Grund finden lässt, der den Willkürvorwurf ausschließt. Die Figur der „erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung“ hat im Rahmen der Folgerichtigkeitsprüfung insoweit ihre Berechtigung, weil das BVerfG für Ausnahmen von der folgerichtigen Ausgestaltung nicht nur einen sachlichen Grund gefordert hat, sondern auch verlangt hat, dass Förderungs- und Lenkungszwecke gleichheits- und zweckgerecht ausgestaltet werden müssen30. Letzteres kann das Gericht aber nur feststellen, wenn auch das außerfiskalische Förderungs- und Lenkungsziel vom Gesetzgeber selbst hinreichend erkennbar vorgegeben ist. Damit wird der Gesetzgeber zwar einer gewissen Begründungspflicht unterworfen, aber sein politischer Gestaltungsspielraum zugleich anerkannt. Dem Zweiten Senat ist zuzugeben, dass sich diese Rechtsprechung nicht ohne Weiteres auf die Willkürprüfung übertragen lässt, wenn man nicht durch die Hintertür eine allgemeine Begründungspflicht für Steuergesetze einführen will, die es richtiger Ansicht nach nicht gibt, da der Gesetzgeber „nur das Gesetz schuldet“31. Auch die Zielsetzung der Willkürprüfung spricht in der Tat für einen stärker „objektiven“ Prüfungsansatz. Denn insoweit kommt es – wie der Zweite Senat zutreffend feststellt32 – „nicht auf einen Mangel an dogmatisch ‚überzeugenden‘ oder systematisch ‚richtigen‘ Gründen an, sondern auf den offenkundigen Mangel an jeglicher Sachlichkeit des Grundes.“ Bei der Willkürprüfung sind folglich auch andere als die ausdrücklich vom Gesetzgeber genannten Gründe zu berücksichtigen. Anders formuliert: Eine Norm ist nicht bereits deshalb willkürlich, weil der Gesetzgeber sie nicht oder unzureichend begründet hat. Gleichwohl hätte man an dieser Stelle überlegen können, ob man auch einem Gesetzgeber, der eine Norm ganz bewusst mit „willkürlichen“ Erwägungen begründet, ein Nachschieben anderer Gründen erlaubt. Die Klärung dieser Frage hätte indes eine klare Aussage des Zweiten Senats dazu vorausgesetzt, dass die rein fiskalischen Erwägungen, die den damaligen Gesetzgeber zur Einführung des Passivierungsverbots veranlasst
__________ 29 Kritisch dazu etwa Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht – Gefahr eines dogmatischen Sonderwegs, in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheitssatz im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (186 ff.). 30 Dazu grundlegend BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 147. 31 Vgl. eingehend Waldhoff in FS Isensee, 2007, S. 325 ff. 32 BVerfG 123, 111 (126).
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haben, im Sinne der Willkürformel als hinreichend sachlich oder sonst wie einleuchtend zu werten sind. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG zur steuerlichen Lastengleichheit ist der „rein fiskalische Zweck der Einnahmeerhöhung“ nicht geeignet, Ausnahmen von einer folgewidrigen Umsetzung steuerlicher Belastungsentscheidungen zu rechtfertigen. Der Zweite Senat hat in seinem Beschluss vom 12. Mai 2009 nunmehr ausdrücklich offen gelassen, ob sich diese Rechtsprechung auf das Willkürverbot übertragen lässt33. Er musste dazu nicht Stellung nehmen, weil er einen Verstoß gegen das Willkürverbot bereits aus anderen Gründen verneint hat. Diese Zurückhaltung ist bedauerlich, denn die Frage, ob fiskalische Erwägungen im Rahmen der Willkürprüfung beachtlich sind, gehört wohl zu den „zentralen“ Fragen der Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG im Steuerrecht. In der Sache kann es eigentlich keinem Zweifel unterliegen, dass rein fiskalische Gründe niemals eine ungleiche Verteilung von Steuerlasten rechtfertigen können. Wenn der Staat auf höhere Einnahmen angewiesen ist, mag er den Tarif verändern, darf aber nicht „willkürlich“ zu Lasten einzelner Gruppen von Steuerpflichtigen in die Bemessungsgrundlage eingreifen. Auch die Finanzierung der Stoltenberg’schen „Jahrhundertreform“ war daher kein sachlicher Grund, um Unternehmen mit Jubiläumszusagen steuerlich höher zu belasten als andere Unternehmen. Der Zweite Senat hat sich – wie bereits gesagt – zur Frage der Willkür rein fiskalischer Überlegungen nicht geäußert, weil er der Meinung war, dass sich zumindest objektiv andere „sachliche“ Gründe für das Passivierungsverbot anführen lassen. Der Gesetzgeber habe lediglich die „jahrzehntelange, auf der älteren höchstrichterlichen Finanzrechtsprechung beruhende Verwaltungspraxis für weitere fünf Jahre fortgeführt“34. In Hinsicht auf diese jahrzehntelange Rechtsprechung „verbiete sich“ jedoch die Annahme, sie sei willkürlich im verfassungsrechtlichen Sinn. Anders ausgedrückt: Da weder die ältere Rechtsprechung aus dem Jahr 1960, die noch unter Hinweis auf das Verbot der Bilanzierung schwebender Geschäfte eine Rückstellung versagt habe, als „überhaupt nicht einleuchtend“ zu werten sei, noch die Änderung der Rechtsprechung durch das BFH-Urteil vom 5. Februar 1987 als verfassungsrechtlich zwingend angesehen werden müsse, habe der Gesetzgeber – „nicht zuletzt auch zum Schutz fiskalischer Interessen“ – die alte Rechtspraxis zunächst aufrechterhalten dürfen. Auch ein zeitlich befristetes Passivierungsverbot mit Auflösungsgebot sei vor dem Hintergrund einer „wenig übersichtlichen tatsächlichen Rückstellungspraxis“ nicht als widersprüchlich anzusehen, da sich der Gesetzgeber für eine „strenge sachliche Gleichbehandlung aller noch nicht erfüllten Jubiläumszusagen“ entschieden habe. Diese Ausführungen vermögen nicht zu überzeugen. Natürlich hat der BFH, als er im Jahr 1960 auf der Grundlage der damaligen bilanzrechtlichen Erkenntnisse die Bildung einer Jubiläumsrückstellung unter Hinweis auf das
__________ 33 BVerfGE 123, 111 (126). 34 BVerfGE 123, 111 (126).
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Bilanzierungsverbot für schwebende Geschäfte versagte, nicht „willkürlich“ gehandelt. Ebenso wenig ist eine Passivierungspflicht von Jubiläumsrückstellungen, wie sie der BFH im Jahr 1987 bestätigt hat, verfassungsrechtlich „zwingend“ geboten. Die Willkür des Gesetzgebers des Steuerreformgesetzes 1990 besteht vielmehr darin, aus rein fiskalischen – d. h. „unsachlichen“ – Gründen das in § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG i. V. m. § 249 HGB statuierte Passivierungsgebot für ungewisse Verbindlichkeiten in Hinsicht auf Verpflichtungen zur Zahlung von Jubiläumsgeldern für einige Jahre punktuell durchbrochen zu haben. Ein sachlich „einleuchtender“ Grund, weshalb die Bildung von Jubiläumsrückstellungen vor 1992 unzulässig und nach 1992 zwingend sein soll, ist weder im Gesetzgebungsverfahren genannt worden noch sonst erkennbar. Aus diesem Grund lässt sich der Willkürvorwurf auch nicht mit dem schlichten Hinweis auf die Willkürfreiheit der alten und neuen Rechtsprechung entkräften. Denn es ging den Verfassern des Steuerreformgesetzes überhaupt nicht um eine Rückkehr zur alten Rechtsprechung, sondern nur darum, die Anwendung der neuen Rechtsprechung aus fiskalischen Gründen noch einige Jahre hinauszuzögern, um etwas mehr Geld für die anstehende Tarifreform einzusammeln. Ein derart rein fiskalisch motiviertes „Nichtanwendungsgesetz“ lässt sich – entgegen der Ansicht des Zweiten Senats – im Übrigen auch nicht mit der Überlegung rechtfertigen, der Gesetzgeber müsse nach einer Niederlage der Finanzverwaltung vor dem BFH durch entsprechende Übergangsregelungen eine Art „geordneten Rückzug“ antreten dürfen. Die vom Zweiten Senat dem Gesetzgeber zugestandene „strenge sachliche Gleichbehandlung“ aller Steuerpflichtigen ist letztlich nichts anderes als eine gezielte Bestrafung derjenigen Steuerpflichtigen, denen der BFH bescheinigt hat, dass sie „zu Recht“ eine Rückstellung gebildet hatten. Auf die weitere Problematik, ob ein solches Nichtanwendungsgesetz eine unzulässige echte Rückwirkung darstellt, weil es die durch das zuständige Gericht festgestellte Rechtslage rückwirkend verändert, soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Abschließend ist noch auf einen Gesichtspunkt einzugehen, der im Beschluss des Zweiten Senats erheblich zu kurz kommt, den aber der österreichische VfGH in seinem abweichenden Erkenntnis vom 9. Dezember 199735 mit Recht in den Mittelpunkt gestellt hat. Es geht um die Frage, was den Fall der Jubiläumszusage eigentlich von anderen Fällen ungewisser Verbindlichkeiten in schwebenden Geschäften unterscheidet, für die auch in den Streitjahren weiterhin eine Rückstellung zu bilden war. Der Zweite Senat weicht dieser – zentralen – Frage dadurch aus, dass er mit dem Hinweis auf die wechselnde Rechtsprechung des BFH den Eindruck vermittelt, dass der Gesetzgeber praktisch jede Lösung wählen könne. Dabei gerät aus dem Blick, dass die vom BFH im Zusammenhang mit Jubiläumsrückstellungen diskutierten Sachfragen gerade kein spezifisches Problem der Jubiläumszahlungen sind, sondern sich bei allen ungewissen Verbindlichkeiten im Rahmen von schwebenden Geschäften
__________ 35 Vgl. Erkenntnis des öVfGH v. 9.12.1997 – G 403/97, VfSlg Nr. 15.040, 728.
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stellen36. Zutreffend stellt dazu der österreichische VfGH fest37: „Dienstjubiläumsgelder, die auf einer rechtsverbindlichen Zusage beruhen, unterscheiden sich in nichts von sonstigen ungewissen Verbindlichkeiten gemäß § 9 Abs. 1 Z 3 EStG“. Da die österreichische Bundesregierung, wie der öVfGH im Weiteren näher ausführt, keinen sachlichen Grund benennen konnte, weshalb dennoch eine unterschiedliche Rechtsfolge geboten sei, hat der öVfGH das Passivierungsverbot als „sachlich nicht gerechtfertigt verworfen“. Dabei hat er u. a. auch innere Widersprüche in der Begründung der österreichischen Bundesregierung aufgedeckt, die z. B. den Erfüllungsrückstand bei Jubiläumsrückstellungen verneint hatte, obwohl dieser in den Erläuterungen zu der einschlägigen handelsrechtlichen Vorschrift ausdrücklich bestätigt wurde. Die nüchterne Art und Weise, in der sich der öVfGH der Probleme der Jubiläumsrückstellungen angenommen hat, ist in mehrfacher Weise lehrreich: Sie zeigt zunächst, dass die vermeintliche „Komplexität“ steuerbilanzrechtlicher Normen kein Grund für eine verfassungsrechtliche Zurückhaltung sein muss. Ferner kommt die Gleichheitssatzprüfung des öVfGH ohne künstliche Unterscheidungen zwischen „zentralen“ Fragen, bei denen ein Folgerichtigkeitsgebot gelten soll, und „peripheren“ Fragen, bei denen der Gesetzgeber praktisch freie Hand hat, aus. Und schließlich ist der öVfGH nicht der zentralen Frage nach dem „einleuchtenden“ Grund ausgewichen, was eigentlich eine unterschiedliche rechtliche Behandlung von Jubiläumsrückstellungen gegenüber anderen Verbindlichkeitsrückstellungen rechtfertigt. Der Zweite Senat glaubte diese Frage nicht mehr beantworten zu müssen, weil sich der Gesetzgeber auf Grund der wechselnden Rechtsprechung des BFH innerhalb eines willkürfreien „Regelungsspielraums“ bewegt habe. Dabei bleibt jedoch unberücksichtigt, dass der BFH in seiner Rechtsprechung nur die allgemeinen Vorschriften auf einen bestimmten Einzelfall angewendet hat, während es dem Gesetzgeber mit dem Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen gerade darum ging, für einen bestimmten Sachverhalt aus rein fiskalischen Motiven eine von den allgemeinen Regelungen abweichende Rechtsfolge zu treffen. Eine solche Differenzierung bedarf aber, damit sie nicht „willkürlich“ ist, eines im Kontext der Rückstellungsbildung sachlich einleuchtenden Grundes und ein solcher Grund ist nicht schon darin zu finden, dass eine Jubiläumsrückstellung einen anderen Lebenssachverhalt betrifft als z. B. eine Pensionsrückstellung (§ 6a EStG), eine Rückstellung für Urlaubsansprüche oder eine Rückstellung für Zahlungen anlässlich eines Firmenjubiläums38.
V. Schlussbemerkung Der Beschluss des Zweiten Senats zum Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen vom 12. Mai 2009 überzeugt nicht. Dies gilt zum einen für die
__________ 36 Dazu nur Schulze-Osterloh in FS Friauf, 1996, S. 833 (843); Knobbe-Keuk, BB 1988, 1086 (1089). 37 ÖvfGH v. 9.12.1997 – G 403/97, VfSlg Nr. 15.040, 728 (738 ff.). 38 BFH v. 29.11.2000 – I R 31/00, BStBl. II 2004, 41.
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Das Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen
deutliche Relativierung des Folgerichtigkeitsgrundsatzes und die Ausführungen des Zweiten Senats zur neuen Figur der „zentralen Fragen gerechter Belastungsverteilung“. Die Beschränkung des Folgerichtigkeitsgebots „nach unten hin“ widerspricht nicht nur dem Grundgedanken der Systemgerechtigkeit, sondern wirft auch prekäre Abgrenzungsprobleme auf. Diese erinnern an die Schwierigkeiten bei der Unterscheidung zwischen der Auswahl des Steuergegenstandes und der näheren Ausgestaltung der Belastungsentscheidung, von der es im Beschluss des Ersten Senats zur Verfassungsmäßigkeit der Gewerbesteuer vom 15. Januar 2008 heißt, dass sie „nicht nach abstrakten Kriterien“ getroffen werden könnte39. Diese Unsicherheiten werden sich künftig in Hinsicht auf die Reichweite des Folgerichtigkeitsgrundsatzes fortsetzen. Unbefriedigend ist zum anderen auch die Methode, mit der der Zweite Senat unterhalb der „zentralen Fragen gerechter Belastungsverteilung“ das Willkürverbot auf steuerrechtliche Einzelvorschriften anwendet. Sie eröffnet dem Steuergesetzgeber einen ungewöhnlich weiten Spielraum zur Kassation fiskalisch missliebiger Einzelfallentscheidungen des BFH. Denn künftig dürfte bereits der schlichte Hinweis auf eine frühere – wenn auch überholte – Rechtsprechung des BFH ausreichen, um die Suche nach sonstigen „sachlichen“ Gründen für die Ungleichbehandlung einzelner Sachverhalte entbehrlich zu machen. Die Richtung, in die die Entscheidung des Zweiten Senats weist, ist eindeutig. Man will offenbar, vielleicht auch mit Rücksicht auf die großen finanziellen Herausforderungen, vor denen unser Gemeinwesen wegen der „Schuldenbremse“ steht, „überzogene“ Erwartungen an eine verfassungsrechtliche Kontrolle des Steuergesetzgebers dämpfen. Vielleicht befürchtete man auch, dass eine abweichende Entscheidung in einem derart „speziellen“ Fall eine Flut von Folgeverfahren nach sich ziehen könnte. Dass diese Befürchtung nicht begründet sein muss, zeigt wiederum der Blick nach Österreich. So ist nicht bekannt geworden, dass die Aufhebung des Passivierungsverbots nach § 9 Abs. 4 öEStG eine „Klagewelle“ ausgelöst hätte40.
__________ 39 BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (30). 40 Vgl. zur Arbeitsweise des öVfGH in Steuersachen zuletzt Ruppe, StuW 2009, 289 ff.
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Paul Kirchhof
Recht verstehen und Recht sprechen Zur Auslegung des Steuerrechts nach seinem Belastungsgrund
Inhaltsübersicht I. Gemeinsames Thema von Rechtsprechung und Wissenschaft II. Recht als Ordnung des äußeren Verhaltens III. Entstehensgrund und Auslegung des Gesetzes 1. Individuelle Freiheit und staatliche Willkür 2. Der Wille des Gesetzgebers 3. Der Antwortcharakter der Verfassung 4. Richterliche Rechtsfortbildung
5. Das Einkommensteuergesetz als ein Gedächtnis des Steuerrechts IV. Der Wille des Steuerpflichtigen 1. Einseitige Regel für einen willentlich gestalteten Tatbestand 2. Die Besonderheit des Steuerrechts 3. Fehlgeschlagene Subsumtion oder Missbrauch V. Richterliches Urteilen 1. Sprechen über Recht 2. Nachdenken von Vorgedachtem 3. Nachhaltiges Vergewissern
I. Gemeinsames Thema von Rechtsprechung und Wissenschaft Wolfgang Spindler begegnet uns als Präsident des Bundesfinanzhofs, der die Unbefangenheit des Richters und die Parteinahme für das Rechtliche repräsentiert, als wissenschaftlicher Autor und Redner bei Tagungen und Symposien gesucht, als Steuerjurist wegen seiner Gesprächsoffenheit und Nachdenklichkeit besonders geschätzt wird. Ich hatte darüber hinaus mit Wolfgang Spindler einen Gedankenaustausch bei der Planung des von ihm angeregten Steuerrechtswissenschaftlichen Symposiums im BFH, das die Mitglieder des Gerichtshofes und die Ordinarien steuerrechtlicher Lehrstühle aus Deutschland und Österreich zu einem Fachgespräch zusammenführt. Als Thema dieser erstmalig am 20. März 2007 erlebten wissenschaftlichen Begegnung haben wir – Wolfgang Spindler als Präsident des BFH und ich als damaliger Vorsitzender der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft – „Subjektive Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht“ gewählt1. Subjektive Tatbestandsmerkmale waren und sind in zahlreichen Verfahren vor dem BFH entscheidungserheblich, insbesondere bei Fragen zur Abgrenzung von steuerbaren und nichtsteuerbaren
__________ 1 DStR 2007, Beihefter zu Heft 39/2007 v. 26.9.2007; vgl. im Übrigen Schell, Subjektive Besteuerungsmerkmale im Einkommensteuerrecht; zur Beachtlichkeit von Wille und Absicht bei der Ertragsbesteuerung natürlicher Personen, 2006; Toifl, Der subjektive Tatbestand im Steuer- und Steuerstrafrecht, Wissen, Wollen, Absicht und Irrtum bei der Besteuerung des Einkommens, 2010.
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Einkünften. Das Einkommensteuergesetz spricht in einzelnen Tatbeständen ausdrücklich von der „Absicht, Gewinn zu erzielen“ (§ 15 Abs. 2 Satz 1), der „Gewinnerzielungsabsicht“ (§ 15 Abs. 2 Satz 3), der „Einkünfteerzielungsabsicht“ (§ 15 Abs. 3 Satz 1) oder der „mit Gewinnabsicht ausgeübten Betätigung“ (§ 4 Abs. 5 Satz 2). Der Bundesfinanzhof erläutert diese „Gewinnerzielungsabsicht“ gelegentlich als eine „innere Tatsache“2, ermittelt diese Voraussetzungen aber aus dem betätigten Willen, dem Erfolg einer ins Werk gesetzten Absicht, die in äußeren Umständen greifbar ist3. Grundsätzlich ist anerkannt, dass jeder Steuerpflichtige nach seiner objektiven finanziellen Belastbarkeit, seiner finanziellen Leistungsfähigkeit besteuert werden soll4. Doch veranlassen vor allem die negativen Einkünfte die Frage, ob eine defizitäre Tätigkeit oder Vermögensnutzung eine einkommensteuerrechtlich zu berücksichtigende Erwerbstätigkeit ist und ob der Erwerb von der privaten Lebensgestaltung objektiv oder nach Absicht der Beteiligten zu unterscheiden ist5. Die Ergebnisse des Ersten Steuerrechtswissenschaftlichen Symposions im Bundesfinanzhof haben viele Gemeinsamkeiten im Grundverständnis des Rechts bewusst gemacht, aber auch Auffassungsunterschiede offenbart, die bis heute die richterliche Praxis und die Rechtswissenschaft beschäftigen. Heute möchte ich Wolfgang Spindler einige Grundsatzüberlegungen widmen, die vertieft die übergreifende Bedeutung unserer damaligen Debatte erörtern.
II. Recht als Ordnung des äußeren Verhaltens Als die Aufklärung dem Bürger den Mut vermittelte, seinen Verstand zu nutzen6, unterscheidet Kant grundsätzlich zwischen ethischen und „juridischen“ Gesetzen. Die Rechtsgesetze bezögen sich „nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit“, auf die Legalität, und nicht – wie die ethischen Gesetze – auf die „Bestimmungsgründe der Handlungen“, auf ihre „Morali-
__________ 2 BFH v. 25.10.1989 – X R 109/87, BStBl. II 1990, 278; v. 22.4.1998 – XI R 10/97, BStBl. II 1998, 663. 3 BFH v. 7.5.1968 – II 191/64, BStBl. II 1968, 663; v. 7.6.1984, BStBl. II 1984, 751; v. 30.9.1997, BStBl. II 1998, 771. 4 Grundlegend Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 1, 2. Aufl. 2000, S. 479 ff.; Vogel/ Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, 1999, Rz. 516 ff.; Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1993, S. 6 ff.; J. Becker, Transfergerechtigkeit und Verfassung, 2001, S. 94 ff.; Mellinghoff, Verfassungsgebundenheit des Steuergesetzgebers, in FS Bareis, 2005, S. 171 (177 ff.); Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rz. 100 f.; P. Kirchhof, Die Steuern, in Isensee/Kirchhof (a. a. O.), § 118 Rz. 170 f., 182 f. 5 Vgl. insbesondere Pezzer, Subjektive Merkmale für das Erzielen von Einkünften, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39, S. 16 (18 f.). 6 Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, 1784.
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Recht verstehen und Recht sprechen
tät“7. Der staatliche Gesetzgeber regelt Handlungen, nicht Motive und Überzeugungen, Absichten und Gesinnungen8. Die Menschen schließen in der bürgerlichen Verfassung einen Gesellschaftsvertrag, unterwerfen sich „öffentlichen Zwangsgesetzen“, um ihre Freiheit vor Übergriffen anderer zu sichern. „Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von Jedermann, insofern diese nach einem allgemeinen Gesetz möglich ist“9. Das Gesetz regelt die äußere Friedlichkeit in Freiheit; das Meinen, Wollen, Beabsichtigen, Hoffen und Glauben ist Sache individueller Freiheit10. Diese strenge Trennung zwischen Recht und Moral ist bis heute wirksam11. Die Moral, das Regelsystem der sittlichen Normen, der Werturteile, und die Ethik, die philosophische Begründung sittlicher Normen12, steuern menschliches Verhalten dank innerer Bindung. Das Recht steuert dank äußerer Bindung. Dabei beruht das Recht auf einer moralischen Wertordnung. Das Recht und seine Freiheit kann Moral stützen13 oder auch provozieren, mag in beiden Fällen die Moral stärken und erneuern14. Doch ein Rechtssystem, in dem der Staat eine Einheit von Recht und Moral beansprucht, deshalb insbesondere keine Religionsfreiheit als Quelle verschiedener Moralvorstellungen duldet, entfaltet einen Hang zum Totalitären; es will erzwingen, was nicht erzwingbar ist. Rechtsnormen werden durch staatlichen Zwang durchgesetzt, Moralnormen gelten dank innerer Freiheit („Moralität“) des Handelnden zur Einsicht15. Eine Rechtsordnung, die Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleis-
__________ 7 Kant, Metaphysik der Sitten, Erster Teil: Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), hrsg. von Karl Vorländer, 1954, S. 214; dazu Alexy, Kants Begriff des praktischen Gesetzes, in Behrends (Hrsg.), Der biblische Gesetzesbegriff, 2006, S. 197 (207 f.); Höffe, Immanuel Kant, 5. Aufl. 2000. 8 Kersting, Kant über Recht, 2004, S. 13, 174 f. 9 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1793, 1795), mit Einleitung und Anmerkungen, Bibliografie und Register kritisch hrsg. von Klemme, 1992, A 244 ff. 10 Zu dieser damaligen „kopernikanischen Wende“ Zaczyk, Zur Einheit von Freiheit und Sozialität, in Gedächtnisschrift Heinze, 2005, S. 1111 (1113); Maihofer, Europäisches Rechtsdenken heute, in FS Coing, Bd. I, 1982, S. 579 (582). 11 Vgl. Rüthers/C. Fischer, Rechtstheorie, 5. Aufl. 2010, Rz. 401 f. 12 Rüthers/C. Fischer (Fn. 11), Rz. 401. 13 Radbruch, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2003, S. 48 f. 14 Zum „Widerstandsrecht“ vgl. Art. 20 Abs. 4 GG, eingefügt in das Grundgesetz durch das 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes v. 24.6.1968, BGBl. I, 709 (Notstands – Gesetzgebung), dazu Sommermann in von Mangold/Klein/Stark, 5. Aufl. 2005, Art. 20 GG Rz. 340; bereits vorher Herzog in Maunz/Dürig, IX 1980, Art. 20 GG Rz. 56; Dolzer, Schutz von Staat und Verfassung, in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VII, 1992, § 171 Rz. 22 f.; W. Huber, Gerechtigkeit und Recht – Grundlagen christlicher Rechtsethik, 1996; BVerfGE 5, 85 (377) – KPD-Verbot; zum „zivilen Ungehorsam“ vgl. Habermas, Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, 1983, S. 51; Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105 (107). 15 Kant (Fn. 9); Rüthers/C. Fischer (Fn. 11), Rz. 404 f.
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tet16 und die Rationalität, Planbarkeit und Voraussehbarkeit des Rechts und der Rechtsprechung sichert17, regelt in Gesetzestatbeständen und Rechtsfolgen das äußere Verhalten der Menschen, überlässt ihre Motive, Absichten, Erwartungen und Hoffnungen aber der Freiheit der Menschen und Grundrechtsberechtigten. Diese Grundentscheidung für das Recht als äußere Verhaltensordnung leugnet nicht das Bedürfnis, in Teilrechtsbereichen den Willen des Menschen aufzunehmen. Der demokratische Verfassungsstaat legitimiert sich aus dem Willen des Staatsbürgers, des Wählers, nimmt dabei aber – unter dem Schutz des Wahlgeheimnisses – nur die objektive Stimmabgabe zur Kenntnis, fragt nicht nach Motiven, Absichten, Willen und Irrtümern des Abstimmenden18. Das Strafrecht ist geprägt vom Schuldprinzip, dem Grundsatz „keine Strafe ohne Schuld“19. Dieser Grundsatz hat Verfassungsrang, findet seine Grundlage im Gebot der Achtung der Menschenwürde, in der Freiheit der Person und im Rechtstaatsprinzip20. Doch auch die schuldangemessene Strafe setzt zunächst den objektiven Tatbestand der strafwürdigen Rechtsverletzung voraus; bloße Gesinnungen und Absichten werden nicht bestraft. Das Schuldprinzip würdigt das objektive Tatunrecht in seiner individuellen Vorwerfbarkeit durch eine angemessene und zumutbare Strafe21. Auch das Privatrecht stützt sich grundsätzlich auf die objektive, äußerliche und von außen erkennbare Ordnung. Es baut auf den erklärten, nicht auf den beabsichtigten Vertrag, in dem Berechtigte über ihnen zustehende Güter willentlich verfügen und dadurch Rechtsver-
__________ 16 Vgl. BVerfGE 19, 1 (8) – Religionsgesellschaften; 19, 206 (216) – Kirchenbausteuer; 24, 286 (246) – Aktion Rumpelkammer; 32, 98 (106 f.) – Gesundbeter; 33, 23 (26 f.) – Eidesverweigerung aus Glaubensgründen; 35, 366 (373) – Kreuz im Gerichtssaal; 38, 154 (166 f.) – Wehrdienstopfer; 41, 29 (44 f.) – Simultanschule; 48, 127 (159 f.) – Wehrpflichtnovelle; 52, 223 (235 f.) – Schulgebet; 69, 1 (24) – Kriegsdienstverweigerung; 80, 394 (398) – Totalverweigerung; 83, 341 (353) – Bahai; 93, 1 (17) – Kruzifix; 102, 370 (384 f.) – Zeugen Jehovas; 104, 337 (346) – Schächterlaubnis; 108, 242 (299) – Kopftuch. 17 Zu den unterschiedlichen Funktionen des allgemeinen Gesetzes vgl. G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2010, S. 160 f. 18 BVerfGE 1, 208 (246) – Sperrklausel Schleswig-Holstein; BVerfGE 3, 383 (396 f.) – Zulassung politischer Parteien zur Landtagswahl; BVerfGE 6, 84 (96) – Sperrklausel Bayern; BVerfGE 111, 289 (301) – Unterschriftenquorum bei Arbeitnehmervertreterwahl; BVerfGE 120, 82 (103) – 5 %-Klausel bei kommunalen Vertretungsorganen; BVerfGE 121, 266 (306) – Negatives Stimmgewicht. 19 BVerfGE 9, 167 (169) – „Verschuldensvermutung“ für Aufsichtspflichtverletzung; BVerfGE 20, 323 (331); BVerfGE 50, 125 (133) – Rückfall; BVerfGE 73, 206 (253) – Sitzblockade I („weiter Gewaltbegriff“); BVerfGE 86, 288 (313) – Strafaussetzung zur Bewährung; BVerfGE 95, 96 (140) – Mauerschützen. 20 BVerfGE 9, 167 (169) – „Verschuldensvermutung“ für Aufsichtspflichtverletzung; BVerfGE 86, 288 (313) – Strafaussetzung zur Bewährung; BVerfGE 95, 96 (114) – Mauerschützen. Zur Verhängung des Strafrahmens bei Steuerhinterziehung nach objektiven Maßstäben des Schadens vgl. BGHSt 53, 71 (84 f.). 21 BVerfGE 50, 125 (133) – Rückfall; BVerfGE 73, 206 (253) – Sitzblockade I („weiter Gewaltbegriff“); BVerfGE 86, 288 (313) – Strafaussetzung zur Bewährung; BVerfGE 95, 96 (140) – Mauerschützen.
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bindlichkeiten hervorbringen22. Die Selbstbestimmung der Privatautonomie23 erlaubt freiheitliches Belieben bei der Entscheidung über die Vertragserklärung, bindet dann aber den Anbieter an den objektiven Gehalt seiner Aussage, er könne und wolle die vereinbarte Leistung erbringen24, bindet ebenso den Nachfrager an seine Vertragserklärung, er könne und wolle den vereinbarten Preis bezahlen25. Das Steuerrecht belastet die individuelle finanzielle Leistungsfähigkeit26, findet in dem objektiven Tatbestand der in dieser Rechts- und Wirtschaftsgemeinschaft erwirtschafteten Finanzkraft den wesentlichen Maßstab für eine gleichmäßige und maßvolle Besteuerung27. Besteuert wird nicht das beabsichtigte,
__________ 22 Isensee, Privatautonomie – Freiheit zur Diskriminierung?, in ders., Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007, S. 239 ff.; zur Grundsatzfrage der „Privatrechtsgesellschaft“ vgl. F. Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, in ORDO 17 (1966), S. 75; kritisch dazu Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, 1971. 23 Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT, Bd. I, 1960, S. 135 (146). 24 Zur Vertragsfreiheit: Isensee, Privatautonomie, in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 150 Rz. 12.; Di Fabio in Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. 1 GG Rz. 101 ff.; E. A. Kramer in Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 1/1, 5. Aufl. 2006, Vor § 145 BGB Rz. 2 ff.; Emmerich in Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 2, 5. Aufl. 2006, § 311 BGB Rz. 1. Zur Unmöglichkeit: Ernst in Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 2, 5. Aufl. 2006, § 275 BGB Rz. 1 ff., 8, 25, 32, 87. 25 Medicus, „Geld muss man haben“, AcP 188 (1988), S. 489 (490 und 497 f.); dort auch der kritische Hinweis auf die These des gemeinen Rechts, der Geldschuldner solle befreit sein, soweit er ohne sein Verschulden die geschuldete Summe nachträglich nicht mehr leisten könne, Windscheid, Pandekten II, 9. Aufl. 1906, § 277 zu Fn. 8, 9; zu der „unbarmherzigen“ These, Medicus, DZWIR 2007, 221 (222), wonach auf die Geldschuld die Regeln der Unmöglichkeit keine Anwendung finden und der Geldschuldner Geldmangel ohne Weiteres zu vertreten hat, da er nicht vorhandenes Geld notfalls zu beschaffen verspricht, § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB; Jauernig, 12. Aufl. 2007, § 275 BGB Rz. 2. 26 BVerfGE 115, 97 (115) – Einkommen- und Gewerbesteuer; zu Besonderheiten der Verbrauch- und Aufwandsteuern vgl. BVerfGE 65, 325 (343, 354 ff.) – Zweitwohnungssteuer, dort die Unterscheidung zwischen auswärtigen und einheimischen Zweitwohnungsinhabern, an der Freizügigkeit gemessen, im Übrigen aber die Differenzierung nach dem Zweck der Zweitwohnung als Aufwandsteuer, BVerfGE 65, 325 (354 ff.) – Zweitwohnungsteuer; BVerfGE 114, 316 – Zweitwohnungsteuer II; vgl. auch BVerfG, NVwZ 2009, 968 (970 ff.) – Hamburgische Spielgerätesteuer. Vgl. insbesondere Tipke, Die Steuerordnung, Bd. 1, 2. Aufl. 2000, S. 479 ff.; ders., StuW 1988, 262 (269); Tipke/Lang, Steuerrecht, 12. Aufl. 1989, S. 82 ff.; Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, 1970, S. 121 f.; K. Vogel, DStZ/A 1975, 409 ff.; P. Kirchhof, StuW 1985, 319 ff.; ders. in Kirchhof/Söhn (Hrsg.), § 2 EStG Rz. A 268 f.; Stern/Münch/Hansmeyer [?bitte ergänzen um Titel und Jahr?] (N 61), § 46 I 5 (S. 1109 f.); Friauf, StuW 1985, 308 (312 f.); Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983; J. Lang, Familienbesteuerung, StuW 1983, 104 f.; Tipke/Lang, StuW 1984, 127 (129 f.); zur Alternative des Äquivalenzprinzips vgl. Birk, Leistungsfähigkeitsprinzip, 1983, S. 23 ff.; Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 159 ff. 27 BVerfGE 115, 97 (115) – Einkommen- und Gewerbesteuer; zu Besonderheiten der Verbrauch- und Aufwandsteuern vgl. BVerfGE 65, 325 (343, 354 ff.) – Zweitwohnungssteuer, BVerfGE 114, 316 – Zweitwohnungsteuer; vgl. auch BVerfG, NVwZ 2009, 968 (970 ff.) – Hamburgische Spielgerätesteuer.
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sondern das erzielte Einkommen, nicht der geplante, sondern der tatsächliche Konsum, nicht die erwartete, sondern die angefallene Erbschaft. Steuerbar ist auch der nicht beabsichtigte Zufallsgewinn an der Börse, absetzbar sind die ungewollten Kosten eines Betriebsunfalls. Steuererheblich ist nicht der Wille, sondern der Erfolg eines betätigten Willens. Die „böse Absicht“, keine Steuern zahlen zu wollen, ist steuerrechtlich ebenso belanglos wie der gute Wille, gern zur Finanzierung des Gemeinwesens beizutragen.
III. Entstehensgrund und Auslegung des Gesetzes 1. Individuelle Freiheit und staatliche Willkür Objektivität und Rationalität des Rechts bestimmen schon den Entstehensgrund des Gesetzes. Der Verfassungsstaat erwartet für jede gesetzliche Regel „einen vernünftigen, aus der Natur der Sache sich ergebenden oder sonstwie einleuchtenden Grund“28. Eine Entscheidung nach persönlichem Belieben ist dem Staat versagt, Willkür – Wahl (Kür) nach Wollen29 – weicht als Maßstab obrigkeitlichen Handelns traditionell von hergebrachten Schutz- und Treuepflichten ab und dient der Unterdrückung des Volkes, der Tyrannei30; im Verfassungsstaat wird die Willkür zum Gegenbegriff der Gerechtigkeit31. Der „vernünftige, einleuchtende Grund“32 verlangt ein Stück Rationalität und allgemeiner Einsichtigkeit der gesetzlichen Unterscheidungen, lässt also den demokratischen Willen des Gesetzgebers allein als Rechtfertigungsgrund nicht genügen, verlangt vielmehr eine gesetzliche Verallgemeinerung im Dienst von Vernunft und Einsehbarkeit durch die Normbetroffenen33. Der freiheitsberechtigte Mensch hingegen handelt grundsätzlich im Rahmen seines definierten – begrenzten – Freiheitsrechts und der ihm freiheitskonform gesetzlich auferlegten Verantwortlichkeiten nach Belieben – nach seinem Willen und Wollen.
__________ 28 BVerfGE 12, 341 (348) – Spinnweber-Zusatzsteuer; BVerfGE 42, 374 (388) – Pfandleihgewerbe; BVerfGE 51, 1 (23) – Rentenversicherung im Ausland; BVerfGE 55, 72 (88) – Präklusion I; „Neue Formel“ des 1. Senats (1980), ab 1986 auch des 2. Senat; BVerfGE 75, 108 (157) – Künstlersozialversicherungsgesetz; seitdem std. Rspr.; BVerfGE 82, 60 (86) – Steuerfreies Existenzminimum; BVerfGE 83, 395 (401) – Steuerfreiheit der Beihilfe; BVerfGE 84, 348 (359) – Zweifamilienhaus; BVerfGE 87, 1 (35) – Trümmerfrauen; BVerfGE 88, 87 (96 f.) – Geschlechtsumwandlung; BVerfGE 92, 365 (407) – Kurzarbeitergeld. 29 Bettermann, Rechtsgleichheit und Ermessensfreiheit, in Der Staat I (1962), S. 79 (82). 30 H. Huber, Der Sinnzusammenhang des Willkürverbots und der Rechtsgleichheit, in Aubert/Bois (Hrsg.), Mélanges André Grisel, 1983, S. 127 (130). 31 Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 1925, S. 67. 32 So bereits BVerfGE 1, 14 (52) – Südweststaat. 33 Zur rechtlichen Bedeutung der Begründung als Ausdruck aufklärerischen Gedankengutes und der Rechenschaftspflicht des Staates vgl. Kischel, Die Begründung: Zur Erläuterung staatlicher Entscheidungen gegenüber dem Bürger, 2002, S. 15 f., 203, zu den gesetzgeberischen Entscheidungen insbes. S. 260 f., zu Rechtsverordnung und Satzung S. 304 f.
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2. Der Wille des Gesetzgebers Die verfassungsgerichtliche Feststellung von Willkür enthält keinen subjektiven Schuldvorwurf, sondern ist in einem objektiven Sinne zu verstehen. Nicht der fehlerhafte Wille eines Gesetzgebers führt zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit, sondern die „objektive, das heißt die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit einer Maßnahme im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, deren sie Herr werden soll“34. Der Maßstab für staatliche Willkür ergibt sich nicht aus den subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen des zur Rechtsetzung oder zur Rechtsanwendung Berufenen, „sondern zunächst und vor allem aus den in den Grundrechten konkretisierten Wertentscheidungen und den fundamentalen Ordnungsprinzipien des Grundgesetzes“35. Erst wenn Gesetzlichkeiten, die in der Sache selbst liegen, und die fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft missachtet werden, liegt ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz vor36. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht die – von der Fachgerichtsbarkeit zu korrigierende – Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts von dem – durch das Bundesverfassungsgericht zu korrigierenden – spezifischen Verfassungsrecht danach unterscheidet, ob die fehlerhafte Anwendung des einfachen Rechts „bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht“37, wird damit nicht ein Wollen des Entscheidungsorgans, sondern die Uneinsichtigkeit, die Unvertretbarkeit seiner Entscheidung geprüft. Das Willkürverbot baut auf den Verfassungsgrundsatz, dass jede staatliche Entscheidung verfasst, also rechtlich gemäßigt ist, dass ein Wollen jenseits dieses Maßes Gesetz und Recht grob verletzt, also vor der Gleichheit vor dem Gesetz keinen Bestand haben kann. 3. Der Antwortcharakter der Verfassung Auch der Entstehens- und Geltungsanspruch der Verfassung liegt nicht ausschließlich im Willen der verfassunggebenden Gewalt. Schon bei den Beratungen zu den ersten modernen Verfassungen in Amerika und Frankreich wurde betont, dass der Wille der verfassunggebenden Gewalt von heute nicht das demokratische Volk von morgen vorbehaltlos binden könne38. Es sei Eitelkeit und Anmaßung, noch jenseits seines Grabes regieren zu wollen39. Jede Genera-
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34 BVerfGE 2, 266 (281) – Notaufnahmegesetz (dort zu Art. 11 Abs. 2 GG); BVerfGE 4, 144 (155) – Abgeordnetenentschädigung; BVerfGE 42, 64 (72) – Zwangsversteigerung I (Michelstadt). 35 BVerfGE 42, 64 (73) – Zwangsversteigerung I (Michelstadt) für die Rechtsanwendung. 36 BVerfGE 9, 338 (349) – Hebammenaltersgrenze; BVerfGE 13, 225 (228) – Bahnhofsapotheke Frankfurt; BVerfGE 42, 64 (72) – Zwangsversteigerung I (Michelstadt); std. Rspr. 37 BVerfGE 4, 1 (7) – Unterhaltsvereinbarung; BVerfGE 42, 64 (74) – Zwangsversteigerung I (Michelstadt). 38 Vgl. Sieyes, Qu’est-ce que le Tiers état?, in ders., Politische Schriften 1788–1790, übersetzt und herausgegeben von E. Schmitt und Reichardt, 2. Aufl. 1981, S. 230 f. 39 Paine, Rights of Men (1791/1792), 1985, S. 41 f.
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tion habe das Recht, sich selbst kraft Mehrheitswillen zu binden; aber sie habe kein Recht, die folgende Generation zu binden40. Nicht der „Wille der Toten“41 bindet die heute Lebenden, sondern die Rechtseinsicht und die Rechtserfahrung der Menschen überdauert die Generationenfolge. Jahrhundertelang hatte hoheitliche Herrschaftsgewalt ihre Autorität aus göttlicher Verleihung, ihr Recht als „göttliches Recht“ gerechtfertigt42. Später gewann das Recht als Naturrecht Autorität, das nicht von Menschen erzeugt, sondern entdeckt, nicht festgesetzt, sondern festgestellt wird43. Die moderne Vorstellung von dem Recht hervorbringenden „Gesellschaftsvertrag“44 erwartet von den Menschen, dass sie sich über die Grundbedingungen ihres Zusammenlebens verständigen und dafür ein Stück ihrer Freiheit aufgeben. Dieses Grundverständnis bleibt Fiktion, kann insbesondere die gegenläufigen Interessen der Reichen und Armen, der Erwerbstätigen und Arbeitslosen, der Starken und Schwachen nicht überwinden – weder in einer unaufhörlichen offenen Debatte45, die auch von Ehrgeiz, Enttäuschung, Resignation und anderen Leidenschaften bestimmt sein kann, noch unter einem „Schleier des Nichtwissens“46, den die beteiligten Menschen nicht über sich breiten lassen. Diese willens- und verfahrensrechtliche Legitimation muss deshalb den Willen aller durch den Willen der Vernünftigen korrigieren47, also das Unverbrüchliche, Unveräußerliche, Unabstimmbare suchen. Schließlich scheint auch der demokratische Gedanke einer „höchsten Gewalt“ des Staatsvolkes, das sich eine Verfassung gebe und selbst
__________ 40 Jefferson, Political Writings, herausgeben von Joyce Appleby und Terence Ball (1813), 1999, S. 596; zum Ganzen: Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, 2008, S. 28 f. 41 Dreier (Fn. 40), S. 28 f. 42 Zum göttlichen Recht vgl. Böckle, Natürliches Gesetz als göttliches Gesetz in der Moraltheologie, in Böckle/Böckenförde (Hrsg.), Naturrecht in der Kritik, 1973, S. 165 ff.; Dreier, ZevKR 1987, 289 ff. 43 Zum Naturrecht vgl. Rüthers/C. Fischer (Fn. 11), Rz. 417 ff.; Hollerbach, Naturrecht, in Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. II, 1998, S. 738 ff.; Stern, Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 108 Rz. 9 f. Zum Kriterium der „Realitätsgerechtigkeit“ vgl. BVerfGE 27, 142 (150) – Kinderzuschlag für „Enkelpflegekinder“; BVerfGE 39, 316 (329) – Kinderzuschuß in der Knappschaft; BVerfGE 66, 214 (223) – Zwangsläufige Unterhaltsaufwendungen; BVerfGE 68, 143 (153) – Einkommensbesteuerung der nicht verheirateten Eltern. 44 Zum Gesellschaftsvertrag vgl. Rousseau, Du contrat social ou principes du droit politique, 1762 (übersetzt in E. Koch [Hrsg.], Jean-Jacques Rousseau, Sozialphilosophische und Politische Schriften, 1981, S. 267 ff.); dazu Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 2005; ders., Jean-Jacques Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“, 2002; zur Philosophie des Staatsvertrags vgl. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, in Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. V, 2. Aufl. 1992, § 111 Rz. 25. 45 Vgl. die Darstellung und Kritik bei Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, 2002, S. 15. 46 Rawls, A Theory of Justice (1971), 2005, S. 136 ff. und passim (übersetzt in ders., Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 159 ff. und passim); vgl. ferner ders., Justice as Fairness. A Restatent, 2. Aufl. 2001, S. 85 und passim (übersetzt in Kelly [Hrsg.], John Rawls. Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, 2006, S. 139 ff. und passim, dort insbes. für die Entscheidung über die Staatsverschuldung). 47 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, 2002, S. 15.
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binde48, überzeichnet, weil auch ein Staatsvolk – aus Enttäuschung, Angst, Elend, Verbitterung, Vorurteil, Übermut – zur Willkür neigen kann. Das Verfassungsgesetz beansprucht Geltung und Verbindlichkeit aus der Fähigkeit des Menschen, über sich selbst hinauszudenken und daraus verbindliche Folgerungen für die Zukunft zu ziehen. Dies ist in Naturwissenschaft und Technik geläufig und selbstverständlich. Wer heute die Gesetzmäßigkeiten erkannt hat, wie ein Auto zu bauen und zu lenken ist, wird diese Erkenntnis als Gesetzmäßigkeit in aller Zukunft anwenden. Gleiches gilt für die Erfahrungen und Einsichten zu den rechtlichen Bedingungen guter Politik, für den Antwortcharakter der Verfassung. Wer den Bürgerkrieg erlebt hat, organisiert den Frieden. Wer staatliche Unterdrückung erdulden musste, entwirft eine Verfassung der Herrschaft des Rechts, einer Gewaltenteilung, einer materiellen Verpflichtung auf die Grundrechte. Wer die Experimente zwischen Planwirtschaft und Privatwirtschaft beobachtet hat, entscheidet sich für Privateigentum, Berufsfreiheit, unternehmerische Initiative in sozialer Bindung. Das Recht fordert Verbindlichkeiten, die über den Einzelfall, den an diesem Fall Interessierten, hinausweisen. Recht ist in den Elementarbedürfnissen des Menschen angelegt, wurzelt in der Kontinuität erprobter und bewährter Staats- und Rechtserfahrung, entwickelt sich in der Offenheit für Wissen, Erleben, freiheitliche Gemeinschaft. Dieser Antwortcharakter der Verfassung bietet die Grundlage moderner Verfassungskultur, die ihre Maßstäbe aus den Anfragen der Wirklichkeit an das Recht, sodann aus Erfahrung und Wissen, erst auf dieser Grundlage aus dem Willen des Gesetzgebers gewinnt. 4. Richterliche Rechtsfortbildung Ein Gesetz muss nach Wortbedeutung, grammatischer Konstruktion, Bedeutungszusammenhang des Gesetzessystems, Regelungsanlass und Regelungsabsichten des historischen Gesetzgebers, objektiv-teleologischer Deutung49 verstanden werden. Welche Kriterien der Auslegung maßgeblich sind, hängt von der Struktur der Rechtsordnung ab. Eine Tyrannei erklärt den aktuellen Willen des Herrschers zum Maßstab. Eine Demokratie verweist auf die Anliegen des Staatsvolkes, der Allgemeinheit der Staatsbürger. Eine gewaltengeteilte Staatsorganisation begrenzt die Rechtserheblichkeit eines Willens in Kompetenz und Sachgerechtigkeit. Grundrechte garantieren vor allem Kontinuität der Freiheit und Gleichheit. Eine dem Menschen gerecht werdende Ordnung fragt nach Wirkung, Ziel, Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns. Die Aus-
__________ 48 Zu den Maßgaben an die „höchste Macht“ vgl. Locke, Two treatises of government (1689), book II, chapter XI, §§ 134 ff. (abgedr. in Laslett [Hrsg.], John Locke. Two treatises of government. A critical edition with an introduction and apparatus criticus, 1960, S. 285 [373 ff.]; übersetzt in Euchner [Hrsg.], John Locke. Zwei Abhandlungen über die Regierung, 12. Aufl. 2007, S. 200 [283 ff.]). 49 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 320 ff.; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 19 ff., 288 ff., 299 ff.; Stark, Verfassungen, 2009, S. 154.
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legungsmethode wird nicht theoretisch an den Gesetzestext herangetragen, sondern aus Struktur und Inhalt der Gesamtrechtsordnung entwickelt. Im Verstehen spiegelt sich der Gegenstand des Verstehens. Die „Zusammenschau von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, System und gesetzgeberischer Zielsetzung“50 macht bewusst, dass das Wort des Gesetzes die beim Entstehen des Wortes beobachtete Wirklichkeit begreift, die Kultur eines Rechtsgedächtnisses, einer Rechtserinnerung und Rechtserfahrung verbindlich an die Zukunft weitergibt, den Willen des Gesetzgebers zu erkennen sucht, ihn aber auf die gegenwärtige Anfrage an das Gesetz zu einer zeitgerechten Antwort weiterentwickelt. Damit gehen Auslegung und Fortbildung des Gesetzes51 ineinander über, werden aber unterschieden, um dem Richter seine unterschiedliche Rechtsverantwortung bewusst zu machen. Soweit das Gesetz Verfassungsrecht verdeutlicht und ausformt, ist der Gesetzgeber Erstinterpret der Verfassung. Die Verfassung als Rahmenordnung lässt viele Fragen offen, erwartet deren Beantwortung von den gesetzgebenden Organen. Viele Formen der Verfassungsfortbildung52 betreffen verfassungsgerichtlich verdeutlichte Aufträge an den Gesetzgeber53. Auch grundrechtliche Schutzpflichten, Verfassungsaufträge, Institutsgarantien und objektive Gewährleistungen, Grundrechtsausprägungen und Grundrechtsverdeutlichungen wenden sich an den Gesetzgeber, der die Verfassung verstehend und verständig für die Gegenwartsbedürfnisse erschließen und verdeutlichen soll. Insoweit ist die Verfassung zunächst Maßstab der Gesetzgebung als Erstinterpret der Verfassung, erst danach Maßstab der Rechtsprechung als deren Zweitinterpret. Bei der – neben der Auslegung nach Wortlaut und Systematik – unerlässlichen historischen Auslegung ist umstritten, ob das Gesetz „entstehungszeitlich“ (ex tunc) oder „geltungszeitlich“ (ex nunc) zu interpretieren ist54. Bei der entstehungszeitlichen Auslegung ist die bis zum Erlass des Gesetzes wirkende Rechts- und Ideenentwicklung aufzunehmen, das konkrete Wollen des historischen Gesetzgebers in diesen Rahmenbedingungen zu würdigen. Doch die Anwendung eines Rechtssatzes durch Rechtsbeteiligte, Verwaltung oder Richter beantwortet die in der Gegenwart gestellte Anfrage an das Recht (Antwort-
__________ 50 51 52 53
BVerfGE 50, 177 (194) – numerus clausus I. Zur Unterscheidung von Auslegung und Fortbildung vgl. Stark (Fn. 49), S. 154 ff. Vgl. Stark (Fn. 49), S. 155 ff. Vgl. BVerfGE 7, 377 (401 f.) – Apothekenurteil-, Gesetzesvorbehalt auch bei der Berufswahl; BVerfGE 33, 125 – Facharzturteil; gesetzliche Eröffnung von Autonomiebereichen; BVerfGE 40, 237 (249) – Strafvollzug, gesetzliche Strukturierung des „besonderen Gewaltverhältnisses“; BVerfGE 49, 89 (126 ff.) – Atomrecht; BVerfGE 33, 303 – numerus clausus I; BVerfGE 45, 393 (399) – Parallelstudium; BVerfGE 57, 295 – Rundfunkrecht; BVerfGE 95, 267 (307 f.) – Wiedervereinigungsrecht; BVerfGE 98, 101 (134 f.) – Hennenhaltung; BVerfGE 90, 286 (381 ff.) – Bundeswehreinsatz, dort Parlaments- nicht Gesetzesvorbehalt; BVerfGE 101, 158 (219 ff.) – Maßnahmegesetz; zum Ganzen vgl. Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in Isensee/ Kirchhof (Fn. 4), § 101 Rz. 32 ff.; Hillgruber, JZ 1996, 118 (123); Classen, JZ 2003, 693 ff. 54 Nachweise bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl. 2005, S. 112; Rüthers/C. Fischer (Fn. 11), Rz. 748.
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charakter des Rechts)55. Sie will zum Beispiel wissen, ob Einkünfte aus einem Leasingvertrag zu den Einkünften „aus Vermietung und Verpachtung“ (§ 21 EStG) gehören, ob der Computertechniker eine selbständige Arbeit (§ 18 EStG) oder einen Gewerbebetrieb (§ 15 EStG) ausübt, ob die „Leerverkäufe“ des modernen Finanzmarkts die Anerkennung des Einkommensteuerrechts finden56. Die Antwort auf diese Frage ergibt der Gesetzestext, allerdings gedeutet im Sinne der Antwort, die der historische Gesetzgeber auf die ihm gestellte Frage – das Regelungsbedürfnis von heute – gegeben hat. Gerade der Richter muss sich also des Inhaltes einer Norm vergewissern, indem er ihre Ursprungsantwort aufnimmt und deren Aussage für die an ihn gerichtete Gegenwartsanfrage weiter denkt. Nach den traditionellen Auslegungskategorien folgt daraus ein Zusammenklang von historischer und teleologischer Auslegung. Eine teleologische Auslegung kann nur historisch fundiert sein, eine historische Auslegung nur die Antwort auf die neue Anfrage an das Gesetz vorbereiten. Ein Gesetz ist stets in seinem historischen Antwortcharakter zu verstehen, regelt aber auch die Fälle, die der historische Gesetzgeber noch nicht kannte und noch nicht kennen konnte. Ein Gesetz veraltet trotz neuer, nicht vorausgesehener Anfragen an seinen Text nicht, weil dieser Text nicht nur Vorgeschriebenes, sondern Vorgedachtes übermittelt. Recht sprechen ist mehr als Nachsprechen von Vorgeschriebenem, ist Nachdenken von Vorgedachtem. Der Richter denkt dieses Vorgedachte in die Gegenwart weiter, vervollständigt und ergänzt die Norm, versteht sie nach Normtext und Normwirklichkeit. Der Bundesfinanzhof hat nach §§ 11 Abs. 4, 115 Abs. 2 FGO die Aufgabe, Recht fortzubilden und eine einheitliche Gesetzesanwendung zu sichern. Er veröffentlicht die tragenden Gründe seiner Rechtsprechung oft in gesetzesähnlichen Formulierungen („Leitsätzen“), entfaltet deswegen ähnliche Breitenwirkung wie der Gesetzgeber, weiß sich bei einem Wandel der Rechtsprechung den Grenzen einer rückwirkenden Gesetzgebung verpflichtet57, schafft dank der Bereitschaft der Rechtsbeteiligten zu einer konfliktschlichtenden Autorität Rechtsanwendungsgleichheit und Rechtssicherheit. Dies hat Wolfgang Spindler häufig betont und erläutert58. 5. Das Einkommensteuergesetz als ein Gedächtnis des Steuerrechts Vergewissert sich die Steuerpraxis der Ursprünge des Steuerrechts und ihrer Bedeutung für die Gegenwart, so bedenkt sie zunächst deren geistesgeschichtliche Grundlagen, sodann die konkrete Entstehung des Gesetzes in ihrer Bedeutung für die gegenwärtigen Anfragen an das Steuerrecht. Bei der Auslegung des Einkommensteuergesetzes wird bewusst, dass die Naturrechtslehre die ideengeschichtlichen Voraussetzungen für eine direkte Besteuerung schuf, der
__________ 55 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, 6. Aufl. 1990, S. 368 f., 375 f.; Marquard, Hermeneutik, in ders. (Hrsg.), Abschied vom Prinzipiellen, 1981, S. 117 f. 56 BMF v. 5.5.2009 – IV C1, nS 2252/09/10003, BStBl. I 2009, 631; v. 28.12.2009 – IV I C1, DStR 2010, 52. 57 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04 BStBl. II 2008, 608. 58 Spindler, DStR 2007, 1061 (1064 f.).
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Finanzklassizismus die theoretischen Grundlagen für eine Besteuerung des Einkommens legte, der spätere Finanzliberalismus die wirtschaftstheoretische Rechtfertigung der Einkommensteuer bot. Die Lehre vom Staats- und Gesellschaftsvertrag begnügt sich nicht mit der indirekten Belastung durch die Akzisen, sondern weist den Weg zu den direkten Steuern, die der Preis für den Schutz des Vermögens und des Lebens durch die Gemeinschaft sind. Besteuert werden deshalb der Vermögensbestand, die Erträge und andere individuelle Vorteile des Einzelnen aus Besitz, Ertrag und Einkommen59. Auf dieser Grundlage entwickelt sich die Theorie des Einkommens als Maßstab einer allgemeinen und gerechten Besteuerung, als Ausdruck individueller Leistungsfähigkeit und Grundlage jeder Steuerzahlung. Einkommensquelle sind Miete und Pacht, Gewinn und Lohn. Die Finanzwissenschaften verhalfen dem Prinzip der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit zum Durchbruch60. Allerdings war anfangs durchaus eine Distanz zu dieser Steuer zu überwinden, weil sie fundierte und unfundierte Einkünfte gleich erfasse, also zu einer ungleichen Belastung führe, sie wirtschaftsfeindlich sei, weil sie vor allem das produktive Kapital treffe, außerdem in die Privatsphäre des Bürgers eindringe61, sie zudem auf eine Selbsteinschätzung des Steuerpflichtigen angewiesen sei, auf die nicht vertraut werden dürfe62. Doch letztlich setzte sich die Auffassung durch, die Einkommensteuer sei eine einfache und übersichtliche Steuer, die das Einkommen direkt an der Quelle treffe, die geringsten Erhebungskosten verursache, für den Bürger merklich, verständlich und einsichtig sei, wirtschaftlich neutral wirke und den Wirtschaftskreislauf nicht störe63. Die Einkommensteuer genüge der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, weil sie die Steuerlast auf die Staatsbürger im Verhältnis ihres Einkommens verteile64 und keine Steuerprivilegien kenne65. Diese Vergewisserung über die geistesgeschichtlichen Quellen des Einkommensteuerrechts, den gedanklichen Humus gegenwärtiger Steuerkultur führt die Gesetzgebung und die Rechtsprechung auf die Prinzipien des jeweiligen Rechts zurück. Wird sodann die Entwicklung der sachlichen Steuerpflicht in den Einkommensteuergesetzen berücksichtigt, von den Ursprüngen der Einkommensteuer in Großbritannien (William Pitt 1797/99), vom Ostpreußischen EStG von 1808, den Übergangsregelungen bis zur Preußischen Klassen- und klassifi-
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59 Vgl. Gerloff, Die Rechtfertigung der Besteuerung, in Festgabe von Schanz, Bd. 2, 1928, S. 141 f.; A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Bd. V, Kap. II, Teil II, 1873, S. 347. 60 Pohmer/Jurke, Zur Geschichte und Bedeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips unter besonderer Berücksichtigung der Beiträge im Finanzarchiv und der Entwicklung der deutschen Einkommensbesteuerung, Finanzarchiv NF 42 (1984), S. 445 (452). 61 Vgl. im Einzelnen F. K. Mann, Steuerpolitische Ideale (1937), 1978, S. 242 f., 275 ff. 62 Vgl. im Einzelnen G. Kirchhof, Die Erfüllungspflichten des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, 2005, S. 72 f. 63 F. K. Mann (Fn. 61), S. 244 ff. 64 Zachariae, Vierzig Bücher vom Staate, 7. Band, 1843, S. 425. 65 Pfeiffer, Die Staatseinnahmen, Bd. II, 1866, S. 257; vgl. im Übrigen: Popitz, Art. „Einkommenssteuer“ in Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 3, 4. Aufl. 1926, S. 400 (402); Lampe, Reine Theorie der Finanzreform, Finanzarchiv NF 2 (1934), S. 218 (222).
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zierten Einkommensteuer 1851, dem Preußischen EStG 1891 (Johannes von Miquel) bis zum Reichseinkommensteuergesetz vom 29.3.192066, so bestätigt sich der innere Zusammenhang zwischen gedanklichen Grundlagen und gesetzgeberischem Wollen, modifiziert durch soziale Anliegen, aber auch durch Interventionen von Gruppen und Verbänden. Dieses Erinnern, dieses Gedächtnis ist unverzichtbar für eine gelingende Steuerrechtsprechung. Sie wird vom BFH – insbesondere durch den Großen Senat unter Vorsitz von Wolfgang Spindler67 – besonders gepflegt.
IV. Der Wille des Steuerpflichtigen 1. Einseitige Regel für einen willentlich gestalteten Tatbestand Das Gesetz trifft einseitig Regeln, die der Gesetzesunterworfene zu befolgen hat. Ob dieser der Rechtsfolge zustimmt, er sie versteht und sich zu eigen macht, ist rechtlich unerheblich. Die historischen Ideale einer „überredenden“ Gesetzgebung, die Überzeugungskraft des Gesetzes in Vernunft und Tugend, die Begegnung von Gesetzgeber und Gesetzesunterworfenem in Gemeinsinn und Gemeinwohl sind Forderungen der Gesetzgebungskunst, der gesetzlichen Klugheit, jedoch nicht Bedingung der Geltung und Durchsetzbarkeit des Rechts68. Beim Gesetz gilt der – durch Wissen und Wirklichkeit geprägte – Wille des Gesetzgebers, nicht der Wille des Gesetzesbetroffenen. Das Gesetz handelt – insbesondere in einer freiheitlichen Ordnung – von Tatbeständen, die der Mensch willentlich gestaltet. Das Straßenverkehrsrecht regelt die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, an dem die Menschen in individueller Selbstbestimmung teilnehmen. Das Baurecht regelt Anforderungen an Standsicherheit und Nachbarschaftslage, nach denen die Eigentümer ihre Eigentümer- und Baufreiheit wahrnehmen. Das Umweltrecht regelt einen rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen der Mensch die Natur nutzen und genießen kann. In der Regel ermöglicht, fördert und begrenzt das Recht die Wahrnehmung von Freiheitsrechten, handelt also von der willentlichen Gestaltung der Wirklichkeit durch die Normadressaten und die Normbetroffenen. Doch in dieser freiheitlichen Ordnung gehen Motive und Absichten, Wollen und Hoffen des Menschen den Gesetzgeber nichts an. Er regelt die äußere Ordnung des Handelns, der Wirkungen und Erfolge freiheitlichen Gestaltens. Es ist unerheblich, ob jemand sich gegen die Straßenverkehrsordnung, das Baurecht, das Umweltrecht innerlich auflehnt. Entscheidend ist, ob er in seinem Verhalten und dessen Wirkungen die Rechtsordnung verletzt, also die Verkehrsregeln übertritt und andere Verkehrsteilnehmer schädigt, einen ge-
__________ 66 Zur Entwicklung vgl. P. Kirchhof in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 2 EStG Rz. A380– A440. 67 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 – Vererblichkeit steuerrechtlicher Verluste des Erblassers; v. 21.9.2009 – GrS 1/06, DB 2010, 143 – Aufteilung von Reisekosten. 68 Vgl. im Einzelnen G. Kirchhof (Fn. 17), S. 67 f., 190 f.
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fährdenden oder die Nachbarschaftslage störenden Bau errichtet, die Natur schädigt. 2. Die Besonderheit des Steuerrechts Auch im klassischen Eingriffsrecht, dem Polizei- und Steuerrecht, regelt der Gesetzgeber eine objektive Ordnung, lenkt nicht subjektives Beabsichtigen und Wollen. Das Recht der öffentlichen Sicherheit wehrt Gefahren und Störungen ab, nimmt dabei den Störer69 und den Nichtstörer70, also die Verursacher und die Inhaber des Gegenmittels – unabhängig von Vorsatz, Absicht und Schuld – in Pflicht. Das Steuerrecht richtet sich an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen aus71. Die Steuer belastet den Pflichtigen in seiner Verfügungsgewalt und Nutzung über Wirtschaftsgüter72, knüpft an das Innehaben von vermögenswerten Rechtspositionen an73. Der bloße Wille, Einkommen zu erwerben, als Verbraucher nachzufragen, als Erbe einen Erbfall zu wünschen, ist steuerlich unerheblich. Die Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit ist heute als wesentlicher Maßstab für eine gleichmäßige und maßvolle Besteuerung anerkannt74, auch zur Grundlage der Verfassungsrechtsprechung geworden75, bedarf aber der Verdeutlichung und Ausformulierung durch den Gesetzgeber. Dadurch wird der „Wille des Gesetzgebers“ zu einem der wesentlichen steuerlichen Belastungsgründe: Das Gesetz begrenzt in tatbestandlicher Bestimmtheit76 den Steuereingriff, gewährleistet
__________ 69 Vgl. BVerfGE 102, 1 (17 ff.) – Altlasten. 70 §§ 55–58 BWPolG; Art. 70–73 BayPAG, Art. 11 BayLStVG; §§ 59–65 BerlASOG; §§ 38 ff. BrandOBG; §§ 56–62 BremPolG; § 10 HambSOG; §§ 64–70 HessSOG; §§ 72– 77 MVSOG; §§ 80–86 NdsSOG; § 67 NWPolG i. V. m. §§ 39–43 NWOBG; §§ 68–74 RhPfPOG; §§ 68–74 SaarlPolG; §§ 69–75 SachsAnhSOG; §§ 52–58 SächsPolG; §§ 221–226 SchlH-VwG; § 52 ThürOBG i. V. m. §§ 68–74 ThürPAG; §§ 45–51 MEPolG; §§ 51–56 BPolG. 71 BVerfGE 82, 60 (86) – Steuerfreies Existenzminimum; BVerfGE 84, 239 (269 ff.) – Kapitalertragsteuer; BVerfGE 89, 346 (352) – Ausbildungsfreibetrag; BVerfGE 96, 1 (6) – Weihnachtsfreibetrag; BVerfGE 105, 17 (46 ff.) – Sozialpfandbrief. 72 BVerfGE 93, 121 (137) – Einheitsbewertung; BVerfGE 105, 17 (30) – Sozialpfandbriefe. 73 BVerfGE 115, 97 (115) – Einkommen- und Gewerbesteuer; zu Besonderheiten der Verbrauch- und Aufwandsteuern vgl. BVerfGE 65, 325 (343, 354 ff.) – Zweitwohnungssteuer; BVerfGE 114, 316 – Zweitwohnungsteuer II; vgl. auch BVerfG, NVwZ 2009, 968 (970 ff.) – Hamburgische Spielgerätesteuer. 74 Vgl. oben Fn. 26. 75 BVerfGE 6, 55 (67) – Ehebesteuerung; 13, 290 (297) – Ehegatten-Arbeitsverhältnisse; 14, 34 (41); – Ehegattenveranlagung; 43, 108 (119 f.) – Kinderfreibetrag; 47, 1 (29) – Hausgehilfin; 55, 274 (302) – Berufsausbildungsabgabe; 61, 319 (343 ff.) – Ehegattensplitting; 66, 214 (223) – Unterhaltsaufwendungen; 67, 290 (297) – Unterhaltszahlungen an geschiedene Ehegatten; 82, 60 (86 f.) – Steuerfreies Existenzminimum; 107, 27 (47) – Doppelte Haushaltsführung; 110, 412 (433) – Teilkindergeld; 112, 164 (175) – Familienbesteuerung; 112, 268 (279) – erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten; st. Rspr. 76 Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen: Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze, 1992, S. 109 ff. m. N.; zu großzügig BVerfGE 48, 210 (223 ff.) – „aus volkswirtschaftlichen Gründen zweckmäßig“.
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die Rückbindung der steuerlichen Belastungsentscheidung an den Wähler77, rechtfertigt den Einsatz der Steuer als Finanzierungs- oder als Lenkungsinstrument78, regelt den Ausgangsbefund für die bundesstaatliche Ertragsverteilung, auf den verfassungsrechtliche, gesetzlich verdeutlichte Verteilungsregeln aufbauen79, gibt schließlich auch dem Straftatbestand der Steuerhinterziehung und Steuerverkürzung seinen materiellen Maßstab80. Die Gemeinlast der Steuer ist mehr als andere Gesetze auf Allgemeinheit angelegt, erfasst die Realität in der Normalität, darf im Typus verallgemeinern und vergröbern. Der Gesetzgeber formuliert die Tatbestände generell und abstrakt, führt sie vereinfachend und vergröbernd auf häufig wiederkehrende Sachverhalte und zählbare Tatbestände zurück, nimmt bei seinen Steuerregelungen Regelsachverhalte auf, lässt atypische Sachverhalte außer acht81. In dieser Orientierung am Regelfall82 definiert das Gesetz einen allgemein verständlichen und möglichst unausweichlichen Belastungsgrund83, schützt die Privatsphäre84, erleichtert einen praktikablen Gesetzesvollzug85 insbesondere in Massenverfahren86. Dennoch gelingt es dem Steuerrecht oft nicht, in der gleichheitsrechtlich gebotenen Unausweichlichkeit den steuerlichen Belastungsgrund durchzusetzen, weil die gesetzliche Regel auf den steuerbewusst gestalteten Grenzfall trifft, das Steuerrecht nicht auf die ökonomische Normalität, sondern auf die steuergestaltend verfremdete Realität zugreifen muss. Der Steuerpflichtige berücksichtigt bei seinen wirtschaftlichen Vorhaben die Steuern als Kostenfaktor (Steuerplanung), sucht aber auch durch steuerbewusste Gestaltung seines Wirtschaftens die Steuerlast zu verringern oder zu vermeiden87. Er verlegt – meist durch vertragliche Gestaltungen – sein Wirtschaften auf Nebenwege, um der
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77 W. S. Carpenter, „Taxation without representation“, in Dictionary of American History, Bd. V, 1976. 78 Vgl. BVerfGE 93, 121 (147 f.) – Vermögensteuer. 79 BVerfGE 1, 117 (131) – Finanzausgleichsgesetz; 72, 330 (383 ff.) – Länderfinanzausgleich I; 86, 148 (216 ff.) – Länderfinanzausgleich II; 101, 158 (216 ff.) – Maßstäbegesetz. 80 Zur Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG auch auf Bußgeldvorschriften vgl. BVerfGE 71, 108 (114) – Antiatomkraftplakette. 81 BVerfGE 31, 119 (131) – Besteuerung von Musikautomaten; 82, 159 (185 f.) – Absatzfonds; 87, 153 (172) – Grundfreibetrag; 96, 1 (6) – Arbeitnehmerfreibetrag; 101, 297 (309) – Arbeitszimmer; 112, 268 (280 f.) – Erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten; Osterloh (Fn. 76), S. 95 ff.; Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 71; Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 96 f.; P. Kirchhof, Der verfassungsrechtliche Auftrag zur Steuervereinfachung, in FS Meyding, 1994, S. 3 ff. 82 BVerfGE 112, 268 (280 f.) – Erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten. 83 BVerfGE 96, 1 (6) – Weihnachtsfreibetrag; 101, 297 (309) – Arbeitszimmer. 84 BVerfGE 101, 297 (310) – Arbeitszimmer. 85 Vgl. BVerfGE 22, 156 (161) – Gesellschafter-Geschäftsführer; 23, 1 (8 f.) – Kinderfreibeträge; 25, 101 (109) – Sonn- und Feiertagszuschläge; 26, 321 (326 f.) – Kapitalverkehrsteuer; 27, 58 (67) – Kilometer-Pauschale; 29, 402 (411 f.) – Konjunkturzuschlag; 30, 250 (271) – Absicherungsgesetz; 32, 279 (286) – Kraftfahrzeugsteuererstattung; 37, 1 (30 f.) – Weinwirtschaftsabgabe; 37, 38 (51 f.) – Kleinunternehmer; 40, 109 (117) – Schachtelprivileg. 86 BVerfGE 96, 1 (6) – Arbeitnehmerfreibetrag; 106, 166 (179) – Zählkindervorteil a. E. 87 Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 9 f., 11 f.
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steuerlichen Maut88 auf dem Normalweg auszuweichen. In dieser Vermeidbarkeit der Steuerlast liegt das Kernproblem des gegenwärtigen Steuerrechts89. Deswegen hat der Rechtsanwender am Maßstab des Steuergesetzes die individuelle Leistungskraft oder die in der Kaufkraft vermutete Leistungsfähigkeit zu ermitteln und diese trotz formaler und rechtstechnischer Ablenkung wirklichkeitsgerecht90 zu erfassen. 3. Fehlgeschlagene Subsumtion oder Missbrauch Die rechtliche Gegenwehr gegen diese „Steuerumgehung“ beschäftigt das moderne Steuerrecht von Anfang an. Enno Becker vertritt die Auffassung, die Umgehungsbekämpfung sei „eigentlich eine Auslegungsfrage“91. Albert Hensel hingegen betont, dass „die echte Steuerumgehung genau dort anfängt, wo die Auslegungskunst zu versagen beginnt“92. Doch wenn die Auslegungskunst versagt, bleibt das Gesetz sprachlos, ohne Aussage. Die Generalklausel des § 42 AO sucht den Gebrauch vom Missbrauch93 von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts zu unterscheiden, die angemessene von der unangemessenen rechtlichen Gestaltung abzuheben, das Gewöhnliche vom Ungewöhnlichen, das Typische vom Untypischen, das Übliche vom Unüblichen, das Ökonomische vom Unökonomischen, das Vernünftige vom Unvernünftigen, das Praktikable vom Unpraktikablen zu trennen94. Ein solcher Wechsel von der Gesetzessubsumtion zur Missbrauchsprüfung führt von geschriebenem Recht zu allgemeinen Erwägungen der Rechtsvernunft. Doch können wir Vernunft von Unvernunft steuerrechtlich nur nach dem gesetzlichen Belastungsgrund unterscheiden, Normengebrauch vom Normenmissbrauch nur nach dem Gesetzestatbestand trennen. Die Generalklausel des § 42 AO kann deswegen nur als Auslegungshilfe, nicht als Tatbestandsergänzung dienen95.
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88 Vgl. Hensel, Steuerrecht, 3. Aufl. 1933, S. 95. 89 Vgl. den Tagungsband der DStJG 2009, Hüttemann (Hrsg.), Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsmissbrauch im Steuerrecht, DStJG 33 (2010), insbesondere S. 1 f., 9 f., 29 f. 90 BVerfGE 87, 153 (172) – Grundfreibetrag; 93, 121 (136) – Vermögenssteuer; 99, 218 (233) – Kinderbetreuungskosten; 99, 246 (260 f.) – Familienleistungsausgleich. 91 E. Becker, Reichsabgabenordnung, 9. Aufl. 1931, § 5 Anm. 4b. 92 Hensel, Zur Dogmatik des Begriffs „Steuerumgehung“, Bonner Festgabe für E. Zitelmann, 1923, S. 217 f., abgedr. in Reimer/Waldhoff (Hrsg), Albert Hensel. System des Familiensteuerrechts und andere Schriften, 2000, S. 303 (307). 93 Zum Begriff des „Missbrauchs“ im deutschen und im europäischen Recht vgl. Heintzen, FR 2009, 599 (601). 94 P. Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rz. 65; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 3, 1993, S. 1337 f. 95 Vgl. zu diesem Grundsatzproblem Drüen, Unternehmerfreiheit und Steuerumgehung, StuW 2008, 154 (161 f.); Heintzen, FR 2009, 599 (601); P. Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rz. 65; Tipke (Fn. 94), S. 1337; P. Kirchhof, StuW 1983, 173 f.; ders., Die Steuern, in Isensee/Kirchhof (Fn. 4), § 118 Rz. 34 ff.; ders., Legalität, Gestaltungsfreiheit und Belastungsgleichheit als Grundlage der Besteuerung, in DStJG 33 (2010), S. 9 f.; Schön, Legalität, Gestaltungsfreiheit und Belastungsgleichheit als Grundlagen des Steuerrechts, in DStJG 33 (2010), S. 29 f.; Wendt, § 42 AO vor dem Hintergrund der Rechtsprechung, in DStJG 33 (2010), S. 117; Hey, Spezialgesetzgebung und Typologie zum Gestaltungsmissbrauch, in DStJG 33 (2010), S. 139 f.
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Selbstverständlich darf jeder Steuerpflichtige seine Erwerbs- und Wirtschaftsverhältnisse im Rahmen der Vertragsfreiheit nach Belieben gestalten, sich dabei auch bemühen, Steuerlasten zu vermeiden. Wenn er mit dem Willen gegen die Steuer auf einen weiteren Einkommenserwerb verzichtet, er ein nicht mit Verbrauchsteuer belastetes Gut konsumiert, die Rechtsform einer Kapitalgesellschaft um des Steuervorteils willen wählt, entfällt die Steuerlast, soweit ihre Tatbestandsvoraussetzungen nicht verwirklicht sind. Ebenso selbstverständlich ist, dass die Steuerlast durch das Gesetz zugeteilt wird, also nicht der Entscheidung, nicht dem Willen und der Absicht des Steuerpflichtigen unterliegt. Zivilrecht und Steuerrecht stimmen überein, eine private Vereinbarung zu Lasten Dritter – hier der öffentlichen Hand – nicht anzuerkennen96. Der BGH97 beurteilt Unterhaltsvereinbarungen unter Ehegatten als sittenwidrig, wenn die Unterhaltsabrede bewirkt, dass der unterhaltspflichtige Ehegatte finanziell nicht mehr in Lage ist, seine eigene Existenz zu sichern und deswegen auf staatliche Sozialleistungen angewiesen ist. „Eine solche sich zum Nachteil Dritter auswirkende vertragliche Gestaltung verstößt […] gegen die guten Sitten“98. Überträgt man diesen Gedanken auf das Steuerrecht, ist jede vertragliche Abrede unwirksam, die objektiv darauf angelegt ist, einen Dritten – den Staat und die übrigen Steuerzahler – zugunsten der Vertragspartner zu belasten. Damit stellt sich die Aufgabe, eine Vereinbarung über etwas für die Vertragsparteien Verfügbares mit Steuerfolgen von einem Vertrag zu Lasten des Steuerstaates zu unterscheiden, die individuelle Verfügungsfreiheit von der Pflicht zur unausweichlichen Last zu trennen. Hier bewährt sich das Gesetz in seinem Belastungsgrund, der den Gesetzesinterpreten beauftragt, den rechtfertigenden Gedanken eines Steuergesetzes auf den steuerjuristisch erheblichen Sachverhalt99 ungeachtet von Tatbestandsverschleierungen und Verfremdungen anzuwenden100. Ebenso entscheidet das Gesetz, ob der Steuerpflichtige das Angebot eines Lenkungs- oder sonstigen Begünstigungstatbestandes annimmt101, oder ob er Sachverhaltsgestaltungen und Sachverhaltsdarstellungen
__________ 96 P. Kirchhof, Legalität, Gestaltungsfreiheit und Belastungsgleichheit als Grundlage der Besteuerung, in DStJG 33 (2010), S. 9 (25); ders. in ders., 9. Aufl. 2010, § 2 EStG Rz. 25. 97 BGH v. 8.12.1982 – IV b ZR 333/81, BGHZ 86, 82 (90) – Eheunterhalt; v. 25.10.2006 – XII ZR 144/04, FamRZ 207, 197 (198 f.) – Eheliche Familienlasten; v. 5.12.2008 – XII ZR 157/06 Rz. 35 ff. 98 BGH v. 5.12.2008 – XII ZR 157/06 Rz. 35 ff. 99 Zur steuerjuristischen Betrachtungsweise vgl. P. Kirchhof, Die Steuern, in Isensee/ Kirchhof (Fn. 4), § 118 Rz. 34; ders., Legalität, Gestaltungsfreiheit und Belastungsgleichheit als Grundlage der Besteuerung, in DStJG 33 (2010), S. 9 (24 f.). 100 Ob ein Vertrag einen Steuertatbestand vermeidet oder einen steuerbegründenden Sachverhalt verschleiert, beantwortet für die Einkommensteuer vor allem der § 2. Zu den praktischen Folgerungen P. Kirchhof, Legalität, Gestaltungsfreiheit und Belastungsgleichheit als Grundlage der Besteuerung, in DStJG 33, 2010, S. 9 (25 f.); ders. in ders., 9. Aufl. 2010, § 2 EStG Rz. 28 f. 101 Zu den verfassungsrechtlichen Maßstäben vgl. BVerfGE 93, 121 (147) – Vermögensteuer; 98, 106 (117 f.) – Landesabfallgabe; 105, 73 (112 f.) – Rentenbesteuerung; BVerfGE 117, 1 ff. – Bewertung im Erbschaftsteuerrecht.
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wählt, die den tatsächlich erfüllten Steuertatbestand verbergen sollen. Dabei geht es allein um die Tatbestände der festzusetzenden Einkommensteuer, des Umsatzes, der Erbschaft oder der Schenkung. Wille und Absicht des Steuerpflichtigen sind kein Kriterium steuerlicher Belastbarkeit. Wenn der EuGH102 anhand eines „Motivtestes“ ermitteln will, ob die Niederlassungsfreiheit durch Gründung einer Gesellschaft im niedrig besteuernden Ausland rechtsmissbräuchlich durch eine „rein künstliche Gestaltung genutzt worden“ ist, das Gericht also festzustellen sucht, ob mit der Gestaltung eine Steuerminderung oder ein Erwerb beabsichtigt ist, wird dieser Test nicht weiterführen. Natürliche und juristische Personen streben stets nach einem möglichst hohen Nettogewinn. Diese Gewinnmaximierung folgt einer Gewinnerzielungsabsicht und ebenso einer Steuerersparnisabsicht. Rechtserheblich ist allein – insoweit übereinstimmend mit der Entscheidung des EuGH –, ob im Ausland eine eigene Erwerbsgrundlage begründet worden ist, ob also Erwerbsräume eingerichtet, Erwerbspersonal eingestellt, Erwerbsmittel angeschafft und auch tatsächlich genutzt werden. Die praktischen Fälle, in denen die Frage nach Wille und Absicht helfen sollen, lassen sich deutlicher an den gesetzlich geregelten Belastungsgrund heranführen, wenn der Exeget die Tatbestandsmerkmale objektiv ermittelt. Soll das Einkommensteuerrecht unterscheiden, ob Aufwendungen dem Erwerb dienen oder aber einem Familienmitglied etwas zuwenden, ein Hobby finanzieren oder nur eine Steuerersparnis anstreben103, so ist schlicht festzustellen, ob die Aufwendungen der Erwerbsgrundlage und deren Nutzung dienen. Ist im Umsatzsteuerrecht zu entscheiden, wann das Unternehmen beginnt, wann jemand zur Erzielung von Einnahmen nachhaltig tätig wird, wann der Unternehmer ein Recht auf Vorsteuerabzug hat104, so kommt es auf die Investitionsausgaben und die Rechnungen mit Steuerausweis an, nicht auf die Absicht, zu investieren oder Rechnungen auszustellen. Ist im Verbrauchsteuerrecht das Bereithalten als Kraftstoff für eine Person zu beurteilen, die mehrere Flaschen Sonnenblumenöl im Supermarkt kauft, dieses Öl aber nicht zum Verzehr nutzt, sondern damit ein Kraftfahrzeug betankt, so ist der Tatbestand des Bestimmens als Kraftstoff verwirklicht, wenn der Käufer das Öl in den Tank füllt105. Die Vorstellungen und Absichten des Käufers – oder auch seines Vertreters oder Boten – bleiben für den Belastungsgrund der Verbrauchsteuern – die Nachfrageund Konsumkraft – unerheblich.
__________ 102 EuGH v. 12.9.2006 – C 196/04, ABlEU 2006, C 281, 5, DStR 2006, 1686 – CadburySchweppes. 103 Vgl. im Einzelnen Pezzer, Subjektive Merkmale für das Erzielen von Einkünften, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39, S. 16 (18 f.); P. Kirchhof, Subjektive Merkmale für die Erzielung von Einkünften, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39, S. 11 (13 f.); Schön, Subjektive Tatbestandsmerkmale in der Einkommensermittlung, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39, S. 20 f. 104 Vgl. W. Wagner, Subjektive Elemente in verbrauchsteuerlichen Tatbeständen – Umsatzsteuer, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39, S. 23 f. 105 Jatzke, Subjektive Tatbestandselemente im besonderen Verbrauchsteuerrecht am Beispiel der Kraftstoffbesteuerung, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39, S. 34 ff.
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V. Richterliches Urteilen 1. Sprechen über Recht Höchstrichterliche Rechtsprechung hat die Aufgabe, eine nicht eindeutige oder bestrittene Aussage des Rechts klarzustellen. Das Gericht hat zu entscheiden und damit den Streit zu beenden, Rechtsfrieden zu stiften, aber auch das Recht fortzubilden, also die gegenwärtigen Anfragen an das Recht, die der historische Gesetzgeber so nicht voraussehen konnte, aus dem Gesetz zu beantworten. Rechtsprechen ist Sprechen über das Recht, ist gemeinsames Nachdenken über gesetzlich Vorgedachtes. Der Richter hat sich der Aussage des Gesetzes für die Gegenwart zu vergewissern, ist sich dabei bewusst, dass allein der Text des Gesetzes eine hinreichende Antwort nicht enthält. Deswegen wird die Rechtsprechung zum Sprecher des Gesetzes, das nach der Verkündung nicht mehr zu erläuterndem und ergänzendem Sprechen fähig ist. Der Richter gewährt in öffentlicher Verhandlung den Beteiligten rechtliches Gehör, entscheidet über den geltend gemachten An„spruch“, hört auf den „Wortlaut“ des Gesetzes, erwägt eine „entsprechende“ Anwendung. Der Senat gewinnt sein Urteil aufgrund einer „Beratung“, nach der jeder Richter seine „Stimme“ abgibt. Das Urteil wird verkündet. Die Abfolge von Steuerbescheid, Ein„spruch“, „Klage“ beim Finanzgericht, An„rufung“ des BFH führt zu einer sprachlichen Auseinandersetzung um das richtige Recht, die dann ein Fundament für die Letztentscheidung des Bundesfinanzhofs bietet, der mit seiner Autorität die Rechtsfrage entscheidet und damit der zukünftigen Rechtspraxis Sicherheit und Planungsgrundlage bietet106. Wer einen Text verstehen will, wird sich zunächst der Ausgangslage und der Fragen vergewissern, auf die der Text eine Antwort gibt. Das gilt für die Dichtung, die Geschichtsschreibung, die Philosophie und das Recht107. Dabei bedarf die verbindliche Auslegung eines Rechtstextes besonderer methodischer Disziplin: Wer einen Text der Dichtung, der Geschichte, der Philosophie fehlinterpretiert, verfehlt seinen Gegenstand. Wer einen Gesetzestext verbindlich fehlinterpretiert, verändert das Recht. 2. Nachdenken von Vorgedachtem Das Denken des Richters bewegt sich zwischen dem historischen Zeitpunkt der Gesetzesentstehung, den damaligen gesellschaftlichen, ökonomischen, sozialen, politischen, religiös-weltanschaulichen Verhältnissen und den daraus erwachsenden Regelungsbedürfnissen und Wertvorstellungen, sowie dem gegenwärtigen Zeitpunkt der Gesetzesanwendung, den heutigen Wirtschaftsverhältnissen, Rechtsstrukturen und Wertvorstellungen, in die hinein die richterliche Antwort gegeben wird. Deswegen folgt jede richterliche Textauslegung der Aufgabe, die historische Antwort des Gesetzes auf eine damalige Anfrage
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106 Vgl. BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 – Wandel der Rechtsprechung. 107 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, 6. Aufl. 1990, S. 375 f.; Marquard, Hermeneutik, in ders. (Hrsg.), Abschied vom Prinzipiellen, 1981, S. 117.
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an das Recht zu einer heutigen Antwort desselben Gesetzes auf die derzeitige Anfrage an das Recht fortzudenken, das damals Vorgedachte für die neue Anfrage der Gegenwart nachzudenken. Das Einkommensteuergesetz ist nach dem 1. Weltkrieg, in Zeiten einer beginnenden Demokratie und großer wirtschaftlicher Not, auch eines kriegs- und nachkriegsbedingten staatlichen Finanzbedarfs entstanden, regelt aber heute die Besteuerung in einem hochindustrialisierten, in verlässlicher Friedlichkeit und Weltoffenheit sich entfaltenden Wohlstandssystem. Dabei gilt der Grundgedanke des EStG, den Staat an dem in dieser Rechtsgemeinschaft und in diesem Wirtschaftssystem erworbenen individuellen Einkommen maßvoll teilhaben zu lassen, damals wie heute. Doch viele Fragen des heutigen Finanzmarkts, der weltweit, grenzübergreifend tätigen Wirtschaftsunternehmen, der Möglichkeiten moderner Informations- und Verkehrstechniken, des Währungswesens und heutigen Zahlungsverkehrs waren den historischen Gesetzgebern nicht bekannt, müssen deshalb heute in seine Regelungen ergänzend hineingedacht werden. Der Rechtsstaat verstummt nicht nach Verkündung des Gesetzes, sondern bleibt durch die Rechtsprechung weiter mit dem Betroffenen im Gespräch. Deshalb muss die Regelung eines Gesetzes immer wieder neu „aufgeladen“108 werden. Wie ein Akku nur Energie spenden kann, wenn er regelmäßig aufgeladen wird, so müssen auch die Rechtssätze ihre sich wandelnden Geltungs- und Wirkungsbedingungen immer wieder aufnehmen, ihre Rechtsfolgen gegenüber den im Gesetzestext ausgesprochenen Rechtsgedanken rechtfertigen. Dabei denkt und handelt der Richter nach seinem Vorverständnis des Rechts, nach seiner Kenntnis der Anfrage an das Recht109. Er vergewissert sich über den Inhalt eines Rechtssatzes in seinen Grundlagen in dem Bewusstsein, der Gefahr einer subjektivierenden Deutung110 begegnen zu müssen. 3. Nachhaltiges Vergewissern Dieses gelingt durch die Prinzipien der rechtlichen Reflexion und Nachhaltigkeit. Der demokratische Rechtsstaat erwartet, dass der Richter, legitimiert durch seine Gebundenheit an das Parlamentsgesetz, sich der langfristigen, im demokratischen Staatsvolk verwurzelten Entwicklungslinien des Rechts vergewissert, dabei im Prinzip der Nachhaltigkeit bedenkt, dass der in seiner historischen Entstehenslage formulierte Gesetzestext auch nach Jahrzehnten noch Früchte tragen soll, die im Jahr seiner Pflanzung angelegt sind, aber in der Gegenwart geerntet werden. Wolfgang Spindler kann Früchte ernten, die wir heute genießen, aber auch Früchte, die nachhaltig neue Gewächse hervorbringen.
__________ 108 Vgl. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1962, S. 271. 109 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 136 f. 110 Dreier in ders., Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 Abs. 1 GG Rz. 138.
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Die Bewertung von Betriebsvermögen im reformierten Erbschaftsteuerrecht Eine ökonomische Würdigung des vereinfachten Ertragswertverfahrens „Die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena verleiht Herrn Wolfgang Spindler, Vizepräsident am Bundesfinanzhof, die Würde eines doctor rerum politicarum honoris causa für sein wissenschaftliches Werk und für seine herausragenden Verdienste um den Transfer wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis der Steuerrechtsprechung, um die Vernetzung wirtschaftswissenschaftlicher und rechtswissenschaftlicher Forschung und Lehre sowie für sein Bestreben um Planungssicherheit und Vertrauen in die höchstrichterliche Steuerrechtsprechung.“ Jena, den 12.11.2004 Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Betriebswirtschaftlicher Erkenntnisstand einer „Unternehmensbewertungstheorie“ III. Steuerrechtliche Bewertungsverfahren 1. Gemeiner Wert als verfassungsrechtlicher Maßstab 2. Das vereinfachte Ertragswertverfahren in der Hierarchie der Bewertungsverfahren nach erbschaftsteuerlicher Neuregelung 3. Die Anwendungsvoraussetzungen des vereinfachten Ertragswertverfahrens
4. Elementare Problemfelder des vereinfachten Ertragswertverfahrens a) Maßgeblicher Jahresertrag und Zukunftsbezug b) Gemeiner Wert und Gesamtbewertung c) Steuerliche Modifikationen und Rechtsformneutralität d) Kapitalisierungsfaktor und Risikopauschalisierung IV. Würdigung im Kontext der BVerfGVorgaben und aus betriebswirtschaftlicher Perspektive
I. Einleitung Mit der Verabschiedung des Erbschaftsteuerreformgesetzes (ErbStRG) durch den Deutschen Bundestag am 24.12.20081 setzte der Gesetzgeber vorerst für
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1 Gesetz zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts (Erbschaftsteuerreformgesetz – ErbStRG). Vgl. BGBl. I, 3018 v. 31.12.2008. Zwischenzeitlich hat das Erbschaftsteuerrecht im Zuge des Gesetzes zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums (Wachstumsbeschleunigungsgesetz) eine weitere, für Zwecke dieses Beitrages unwesentliche Änderung erfahren. Vgl. BGBl. I, 3950 v. 30.12.2009.
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sich einen Schlusspunkt unter die bereits lang andauernde fachspezifisch, aber auch (gesellschafts-)politisch geführte Diskussion zur Verfassungsmäßigkeit der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Damit kam die Legislative einer wesentlichen Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtsbeschlusses v. 7.11.2006 nach, die für fiskalische Zwecke durchzuführende Bewertung von Betriebsvermögen im Rahmen von Übertragungen zu Lebzeiten und von Todes wegen neu zu regeln2. Mit den im Zuge des ErbStRG erfolgten Änderungen des Bewertungsgesetzes3 (BewG) griff der Gesetzgeber die höchstrichterliche Entscheidung zu einer dem Gleichheitsgrundsatz folgenden einheitlichen und rechtsformneutralen Bewertung und Besteuerung der Unternehmensnachfolge auf. Für alle erbschaft- und schenkungsteuerlich relevanten Übertragungsvorgänge gilt seit dem 1.1.2009 mithin der Verkehrswert (gemeiner Wert) als einzig relevanter Bewertungsmaßstab zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage für alle Formen unternehmerischen Vermögens4. Die durch den Gesetzgeber neu justierte Bewertungskonzeption lässt deutlich die Orientierung an der betriebswirtschaftlichen Praxis und der ökonomischen Theorie der Unternehmensbewertung erkennen5. Eine Vielzahl von Beiträgen im Vorfeld und nach der Reform des Erbschaftsteuerrechts setzt sich bereits eingehend mit einer vor allem juristischen Würdigung der Neuregelung auseinander6. Dieser Beitrag verfolgt das Ziel, die neu gestaltete Bewertungskonzeption aus betriebswirtschaftlicher Sicht zu reflektieren und konzentriert sich auf das neu geschaffene „vereinfachte“ Ertragswertverfahren. In der einschlägigen Literatur ist die Unternehmensbewertung zum Zwecke der Zahlungsbemessung externer Ansprüche in Form der Erbschaft- bzw. Schenkungsteuer bislang noch verhältnismäßig wenig aufgegriffen7. Die Neuregelungen des Erbschaftsteuerrechts werden in diesem Beitrag den Erkenntnissen der modernen Unternehmensbewertungstheorie gegenübergestellt, nicht jedoch einer steuersystematischen Bewertung unterzogen8.
__________ 2 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, BStBl. II 2007, 192. 3 BGBl. I, 230; zul. geändert durch Art. 2 des Gesetzes v. 24.12.2008, BGBl. I, 3018. 4 Zu einer kurzen Gegenüberstellung der Altregelungen mit dem aktuellen Erbschaftsteuer- und Bewertungsrecht vgl. exemplarisch Creutzmann, DB 2008, 2784 ff. 5 Vgl. auch Olbrich/Hares/Pauly, DStR 2010, 1250 ff. 6 Einige Autoren kommen gar zu dem Schluss, dass das ErbStRG erneut nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt. Vgl. stellvertretend Seer, GmbHR 2009, 225 ff.; J. Lang, StuW 2008, 189 ff.; Piltz, DStR 2010, 1913 ff. 7 Vgl. stellvertretend Kußmaul/Pfirmann/Hell/Meyering, BB 2008, 472 (474), die dieses Untersuchungsfeld als „erbschaftsteuerliches Neuland“ bezeichnen. Im Weiteren vgl. auch Creutzmann, DB 2008, 2784 ff.; Dörner, BewertungsPraktiker 2009, 2 ff.; Henselmann/Barth, BewertungsPraktiker 2009, 9 ff.; Hübner, DStR 2009, 2577 ff.; Wassermann, DStR 2010, 183 ff. Umfassend zur steuerrechtlichen Wertfindung aus Sicht der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre vgl. Löffler, Steuerrechtliche Wertfindung aus Sicht der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre – Analyse des Besteuerungsproblems fehlender Geldtransaktionen und Entwicklung von Lösungsansätzen, 2008. 8 Zu erbschaftsbedingten Besonderheiten (z. B. zur Position des Erben) und entscheidungstheoretischen Überlegungen vgl. Olbrich/Hares/Pauly, DStR 2010, 1250 ff. (1251 f.); Löffler (Fn. 7), S. 55 ff.
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Zunächst gilt es, die betriebswirtschaftlichen Grundlagen der funktionalen Unternehmensbewertungstheorie unter Bezugnahme auf den für den Berufsstand der Wirtschaftsprüfer in Deutschland maßgeblichen IDW-Standard S 1 (IDW S 1)9 kurz aufzuarbeiten. Im Anschluss folgt eine Darstellung der seit 1.1.2009 anzuwendenden steuerrechtlichen Bewertungsmethoden, sodass bereits eine erste Einordnung aus betriebswirtschaftlicher Perspektive im Hinblick auf die vom Gesetzgeber vorgeschriebene Verfahrenshierarchie und die implementierten Methodenwahlrechte erfolgen kann. Darauf aufbauend erfolgt eine kritische Würdigung des vom Steuergesetzgeber vorgesehenen vereinfachten Ertragswertverfahrens. Eine Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse schließt diesen Beitrag.
II. Betriebswirtschaftlicher Erkenntnisstand einer „Unternehmensbewertungstheorie“ Der Unternehmensbewertung liegt bislang noch kein in sich vollständig geschlossenes ökonomisches bzw. betriebswirtschaftliches Theoriekonzept zugrunde. In Teilbereichen sind die Bewertungskonventionen (noch) nicht hinreichend fundiert. In der Bewertungspraxis haben sich teilweise unterschiedliche Vorgehensweisen und Methoden etabliert, die nicht immer auf eine theoretische Basis zurückzuführen sind. Aus ökonomischer Sicht lässt sich der derzeitige Erkenntnisstand zur Unternehmensbewertungstheorie in zentralen, an den Regelungsinhalt des IDW S 1 anknüpfenden Grundsätzen wie folgt zusammenfassen10: – Es gibt unterschiedliche Anlässe zur Unternehmensbewertung. Funktion und Anlass der Unternehmensbewertung bestimmen die Vorgehensweise
__________ 9 Vgl. IDW S 1 (i. d. F. 2008): Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen, FN-IDW 2008, S. 271–292. Dieser berufsständischen Verlautbarung kommt eine besondere Bedeutung zu, weil sich nicht zuletzt die deutschen Zivilgerichte in ihrer Rechtsprechung an diesem und an dessen Regelungsinhalt vermehrt anlehnen. Vgl. z. B. OLG Düsseldorf v. 4.10.2006 – I-26 W 7/06 AktE, ZIP 2006, 2379; OLG Stuttgart v. 26.10.2006 – 20 W 14/05, ZIP 2007, 1320; BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 45/06, NJW 2008, 1221. Zu einem aktuellen Rechtsprechungsüberblick siehe auch Wüstemann, BB 2009, 1518 ff. 10 Grundsätze der Unternehmensbewertung bestimmen die bei der Bewertung von Unternehmen erforderliche Sorgfalt. Sie sind fest verwurzelt in den anerkannten Regeln der Betriebswirtschaftslehre. Unternehmensbewertungsgrundsätze besitzen eine wichtige Schutzfunktion für Auftraggeber und Gutachter (Bewerter), weil sie die Basis für eine juristische Überprüfung bilden. Die auch als Grundsätze ordnungsmäßiger Unternehmensbewertung bezeichneten Prinzipien besitzen einen unterschiedlichen „Reifegrad“. Es gibt Grundsätze, die auch durch die Praxis als nachhaltig bestätigt angesehen werden können. In Teilbereichen (Berücksichtigung von Synergie- und Verbundeffekten sowie Unsicherheit, Anwendung bestimmter Planungsund Prognosekonzepte) lassen sich Bewertungskonventionen noch nicht eindeutig bestimmen. Zu einem umfassenden Überblick zu Grundsätzen der Unternehmensbewertung vgl. auch Matschke/Brösel, Unternehmensbewertung: Funktionen – Methoden – Grundsätze, 3. Aufl. 2007, S. 718 ff.
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bei der Ermittlung des Zukunftserfolgs und die Verfahrenstechnik (Maßgeblichkeit des Bewertungszweckes)11. – Unternehmen sind Individualgüter, für die wegen ihrer begrenzten Vergleichbarkeit keine Marktpreise wie für vertretbare Güter existieren. Begrifflich sind (Unternehmens-)Preis und (Unternehmens-)Wert zu unterscheiden. Objektiv feststellbar ist nur der historische Kaufpreis; der Unternehmenswert wird geprägt durch die subjektiven Nutzenvorstellungen von Käufer und Verkäufer. Diese individuellen Nutzenpräferenzen prägen die Kauf- und Zahlungsbereitschaft. Ein objektiver, von allen Individuen gleichermaßen akzeptierter Wert ist nicht ermittelbar12. – Der Wert eines Unternehmens resultiert – unter der Voraussetzung ausschließlich finanzieller Ziele – aus seiner Eigenschaft, finanzielle Überschüsse für die Unternehmenseigner zu erwirtschaften. Der Unternehmenswert bestimmt sich nicht durch die Werte der einzelnen Vermögensgegenstände und Schulden, sondern durch das Zusammenwirken aller Werte (Bewertung der wirtschaftlichen Unternehmenseinheit)13. Rechnerisch ergibt sich der Wert eines Unternehmens aus dem Barwert der mit dem Eigentum an dem Unternehmen verbundenden zukünftigen Nettozuflüsse (Nettoeinnahmen) der Unternehmenseigner14. Diesen theoretischen Anforderungen entsprechen (nur) das Ertragswertverfahren und die Discounted-CashFlow-Verfahren (Verfahren zur Ermittlung der Zukunftserfolgswerte). – Kernprobleme der Unternehmensbewertung sind die Prognose der zukünftigen finanziellen Überschüsse aus dem betriebsnotwendigen Vermögen sowie die Festlegung des risikoorientierten Kapitalisierungszinssatzes. Die
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11 Vgl. IDW S 1 (Fn. 9), Rz. 8 ff., 17. Aus funktionaler Sicht kann die Unternehmensbewertung verschiedene Aufgaben übernehmen. So übernimmt sie eine Beratungsfunktion, weil sie eine Entscheidungshilfe für Käufer und Verkäufer mittels Grenzpreisermittlung darstellt. Eine Vermittlungsfunktion nimmt die Unternehmensbewertung ein, wenn sie zur Erarbeitung eines Vorschlags für einen fairen Einigungspreis (Arbitriumwert) dient. Eine Argumentationsfunktion ergibt sich aus der Herausarbeitung zentraler preisbestimmender Faktoren (überzeugende Argumente), um einen Preis zu realisieren, der möglichst nahe am Entscheidungswert des Auftraggebers liegt. Im Zuge des Übergangs von Betriebsvermögen in Erb- und Schenkungsfällen erfüllt die Unternehmensbewertung eine Steuerbemessungsfunktion. Der Erbschaftsteuerpflichtige wird regelmäßig bestrebt sein, seinen wahren Grenzpreis, also seine individuellen Nutzenvorstellungen, dem Fiskus vorzuenthalten und diesem lediglich einen vermeintlichen Grenzpreis zu offenbaren, der unter dem tatsächlichen Grenzpreis liegt. Hiervon verspricht sich der Steuerpflichtige Vorteile in der Argumentation zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage, um letztlich einen Arbitriumwert mit dem Fiskus zu erzielen, der die Steuerbelastung reduziert. Zu den Grundlagen der funktionalen Unternehmensbewertungstheorie vgl. Matschke/Brösel (Fn. 10), S. 50 ff., umfassend auch Löffler (Fn. 7), S. 19 ff., 47 ff. 12 Vgl. IDW S 1 (Fn. 9), Rz. 13. 13 Vgl. IDW S 1 (Fn. 9), Rz. 18. 14 Vgl. IDW S 1 (Fn. 9), Rz. 5, 7. Zur Ermittlung des Barwerts sind die künftigen Überschüsse mit einem Kapitalisierungszinssatz zu diskontieren, der der Verzinsung einer vergleichbaren Alternativanlage am Kapitalmarkt entspricht. Einführend zur Investitionstheorie vgl. stellvertretend Perridon/Steiner, Finanzwirtschaft der Unternehmung, 14. Aufl. 2007.
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Prognose basiert zwingend auf den Planungsrechnungen des Unternehmens, die in die Finanzplanung sowie in Plan-Bilanzen und Plan-GuV münden15. Aufgrund der Subjektivität ist die Wertermittlung für Außenstehende nicht nachvollziehbar; folgerichtig müssen die zugrunde liegenden Annahmen offengelegt werden.
III. Steuerrechtliche Bewertungsverfahren 1. Gemeiner Wert als verfassungsrechtlicher Maßstab Das Bundesverfassungsgericht vertritt die Auffassung, dass die durch Vermögenszuwachs im Erb- bzw. Schenkungsfall bedingte Steigerung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Begünstigten eine Besteuerung rechtfertige16. Die Erbschaft- bzw. Schenkungsteuer beziehe sich hierbei auf die Reinvermögensmehrung beim Begünstigten. Insofern flankiere sie die Einkommensteuer als eine Leistungsfähigkeitssteuer17. Dem Steuerpflichtigen sei dabei zuzumuten, einzelne Nachlassgegenstände zum Zwecke der Begleichung der Steuerschuld (zum Verkehrswert) zu veräußern. Gleichwohl liegt die Intention des Gerichtes nicht darin, dass eine Erbschaftsteuerpflicht – allein mit Blick auf die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG – zu einer Zerschlagung wirtschaftlicher Einheiten führen darf18. Hieraus lässt sich ableiten, dass im Falle der Unternehmensfortführung nicht etwa sämtliche Vermögenswerte der wirtschaftlichen Einheit einzeln und vor allem nicht zu Liquidationswerten in die erbschaftsteuerliche Bemessungsgrundlage einzubeziehen sind. Vielmehr kann im Fortführungsfall ausschließlich der gemeine Wert (Verkehrswert), der auf Grundlage einer Gesamtbewertung des Unternehmens ermittelt wird, maß-
__________ 15 Vgl. IDW S 1 (Fn. 9), Rz. 27. Mit Blick auf die der Zukunft inhärente Unsicherheit formuliert die betriebswirtschaftliche Theorie nachdrücklich die Forderung nach der Erstellung mehrwertiger Prognosen, da die künftigen Überschüsse regelmäßig nicht alle mit der gebotenen hinreichenden Sicherheit plan- bzw. prognostizierbar sind. Vgl. z. B. Moxter, Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung 1962, 607 ff.; ders., Grundsätze ordnungsgemäßer Rechnungslegung, 2003; Baetge, Möglichkeiten der Objektivierung des Jahreserfolges, 1970. Zu den Grundlagen der Prognosemethodik vgl. stellvertretend Bea/Haas, Strategisches Management, 4. Aufl. 2005, S. 279 ff.; Perridon/Steiner (Fn. 14), S. 613–625. 16 Vgl. BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, BStBl. II 2007, 192. 17 Vgl. Seer, GmbHR 2009, 225 ff. (226); Raupach, DStR 2007, 2037 (2039); BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, BVerfGE 61, 319, BStBl. II 1982, 717; BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60, NJW 1990, 2869, BStBl. II 1990, 653; Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen: ein Beitrag zu den Grundfragen des Verhältnisses Steuerrecht und Verfassungsrecht, 1983; Löffler (Fn. 7), S. 71 f. 18 Zu der aus Art. 14 GG abgeleiteten Erbrechtsgarantie vgl. Seer, GmbHR 2009, 225 ff. (227) mit Verweis auf BVerfG v. 19.4.2005 – 1 BvR 1644/00, BVerfGE 112, 332. Vgl. auch Raupach, DStR 2007, 2037 (2038) mit Verweis auf BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BStBl. II 1995, 671; Bericht des 10. Ausschusses über den Entwurf eines ErbStG, Drucks. der Nationalversammlung 1919, Nr. 941, Bd. 338, S. 895, 898 f., 904.
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gebend sein19. Durch die einheitliche Festlegung auf den gemeinen Wert als rechtsformübergreifenden Bewertungsmaßstab kommt der Gesetzgeber der Vorgabe des BVerfG nach, für eine dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG folgende Besteuerung Sorge zu tragen (Gebot der realitätsgerechten Wertrelation)20. Der Verkehrswert bildet hierbei die Grundlage für eine realitätsgerechte Bemessung der der Besteuerung unterliegenden Bereicherung des Begünstigten. So ist gewährleistet, dass der durch den Substanzerwerb vermittelte Zuwachs an Leistungsfähigkeit zutreffend abgebildet und die Belastungsentscheidung gleichheitsgerecht ausgestaltet ist21. 2. Das vereinfachte Ertragswertverfahren in der Hierarchie der Bewertungsverfahren nach erbschaftsteuerlicher Neuregelung Ausgehend von § 12 Abs. 1 ErbStG ergeben sich die anzuwendenden Rechtsnormen für die erbschaft- bzw. schenkungsteuerlich relevante Bewertung des Vermögens aus dem Bewertungsgesetz. Die Bezugnahme auf den gemeinen Wert folgt aus § 12 Abs. 2 und 5 ErbStG. Gemäß § 11 Abs. 1 BewG sind börsennotierte Anteile an Kapitalgesellschaften zu ihrem Kurswert am Stichtag zu bewerten. Existiert ein solcher nicht, so ist die Bewertung aus Verkäufen unter fremden Dritten innerhalb der vergangenen zwölf Monate abzuleiten22. Aus § 11 Abs. 2 i. V. m. § 109 BewG folgt die vom Gesetzgeber intendierte Rechtsformneutralität: neben der Bewertung von Anteilen an nicht börsennotierten Kapitalgesellschaften sind Gewerbebetriebe i. S. des § 95 BewG, das Betriebsvermögen freiberuflich Tätiger i. S. des § 96 BewG und Anteile an Personengesellschaften i. S. des § 97 BewG gleichsam zum gemeinen Wert anzusetzen. Ist ein derartiger Verkehrswert niedriger als der Substanzwert, so stellt letzterer die Bewertungsuntergrenze dar. Die hieraus ableitbare Bewertungssystematik und -hierarchie stellt sich wie in Abbildung 1 dar. Zur Ermittlung des gemeinen Wertes verlangt der Gesetzgeber – bei Fehlen eines Börsenkurses oder eines aus Verkäufen zwischen fremden Dritten ableitbaren Wertes – die Berücksichtigung der Ertragsaussichten23 oder anderer üblicher Methoden der Wertermittlung24. Dabei ist die Methode anzuwenden, die ein Erwerber der Bemessung des Kaufpreises zugrunde legen würde.
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19 Vgl. BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, BStBl. II 2007, 192. Zum Begriffsverständnis „gemeiner Wert“, „Verkehrswert“, „Substanzwert“ und „Ertragswert“ des BVerfG sowie zum juristischen und ökonomischen Begriffsverständnis des „Ertragswertes“ vgl. Raupach, DStR 2007, 2037 (2038 f.); Löffler (Fn. 7), S. 19 ff., 23 f. 20 Vgl. BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, BStBl. II 2007, 192. 21 Zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG vgl. Seer, GmbHR 2009, 225 ff. (226 ff.). 22 Kritisch zur Wertableitung aus Verkäufen vgl. Löffler (Fn. 7), S. 130 ff. 23 Betriebswirtschaftlich korrekt kann nur der zukünftige Erfolg also der Saldo aus künftigen Erträgen und Aufwendungen gemeint sein. 24 Explizit werden in der Begründung des Regierungsentwurfs „vergleichsorientierte Methoden und Multiplikatorenmethoden“ genannt. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist eine derartige Unterscheidung nicht sinnvoll, da Multiplikatormethoden als
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Abbildung 1: Methodenhierarchie für Zwecke der erbschaftsteuerlichen Bewertung. Quelle: In Anlehnung an Creutzmann, DB 2008, 2784 ff. (2785).
Dem koordinierten Anwendungserlass der Länder zur Bewertung von Anteilen am Betriebsvermögen (AEBewAntBV)25 sind weitere Konkretisierungen zu entnehmen. Die Anwendung einer an den Ertragsaussichten orientierten Methode ist dabei nur insoweit möglich, als diese Methode zumindest in der betreffenden Branche üblich sein muss26. Im Weiteren bleibt aber ungeklärt, wann eine nicht an Ertragsaussichten (Zukunftserfolgswerte) ausgerichtete Methode branchenüblich ist27. Es lässt sich daraus schließen, dass wohl nur im Falle eines explizit formulierten Ausschlusses der Zukunftserfolgswertverfahren ein
__________ eine Untergruppe der vergleichsorientierten Methoden gelten. Kritisch zu betrachten ist bei diesen Verfahren, dass zur Wertfindung ein Rückgriff auf vermeintlich repräsentative Ergebnis-, Umsatz- und/oder weitere Größen anderer Unternehmen erfolgt, die mit branchen- oder unternehmensspezifischen Faktoren multipliziert werden. Diese auf – wohl nicht immer valider – statistischer Basis gewonnenen Faktoren unterliegen oftmals einer erheblichen Schwankungsbreite. Hieraus können willkürliche Differenzen zwischen einem derart ermittelten Wert und einem Zukunftserfolgswert auf Ertragswert- oder DCF-Basis resultieren. Zu einer vertiefenden Kritik vgl. Wassermann, DStR 2010, 183 ff. (188); Knief/Weippert, Stbg 2010, 1 f.; Löffler (Fn. 7), S. 138 ff., 157 ff. 25 Anwendungserlass zur Bewertung des Anteils- und Betriebsvermögens (AEBewAntBV) v. 25.6.2009, BStBl. I 2009, 698. 26 Vgl. A 19 Abs. 1 Satz 3 AEBewAntBV. 27 Im AEBewAntBV werden exemplarisch Kammerverlautbarungen zur Bewertungsmethodik angeführt. Vgl. A 3 Abs. 2 Satz 3 AEBewAntBV.
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anderes Verfahren üblich sein kann und damit zwingend anwendbar ist28. Jedenfalls scheint die Finanzverwaltung angehalten, den Gegenbeweis anzutreten29. Dazu bedarf es der erforderlichen fachlichen Expertise zur Beurteilung der Methodik genauso wie einer hinreichenden Datengrundlage zur Einschätzung der „Üblichkeit“30. Regelmäßig wird es der Finanzverwaltung wohl allerdings schwer fallen, bei Vorliegen eines durch einen Wirtschaftsprüfer auf Basis des IDW S 1 erstellten Gutachtens dieses zu entkräften. Im Weiteren schränkt der Gesetzeswortlaut das Wahlrecht zumindest implizit weiter ein. Mit der Prämisse, das Verfahren anzuwenden, welches ein Erwerber nutzen würde, ist unter Berücksichtigung entscheidungsnutzentheoretischer Überlegungen und der Argumentationsfunktion der Unternehmensbewertung davon auszugehen, dass ein Käufer stets das Verfahren präferieren würde, aus der die geringstmögliche erbschaftsteuerliche Belastung resultiert. Um den vom Erwerber präferierten Wert festzustellen, müsste dieser allerdings zuvor alle möglichen Verfahren „durchspielen“ und deren Ergebnisse miteinander vergleichen. Ob hierdurch eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Verfahrensvereinfachung und damit eine Begrenzung des Ermittlungsaufwandes einhergehen, bleibt ebenso offen31 wie aus verfassungsrechtlicher Perspektive zu prüfen wäre, ob dies noch im Einklang mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip steht32. Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten, dass die steuerliche Bewertungssystematik und Verfahrenshierarchie des BewG im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Unternehmensbewertungstheorie stehen, wenn auf Methoden zurückgegriffen wird, die den Unternehmenswert nicht direkt auf der Grundlage künftiger finanzieller Überschüsse ermitteln. 3. Die Anwendungsvoraussetzungen des vereinfachten Ertragswertverfahrens Bei der Ermittlung der Ertragsaussichten (Zukunftserfolgswerte) stellt der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen neben dem „individualisierten“ Ertragswertverfahren33 optional das „vereinfachte“ Ertragswertverfahren zur Seite34. Die
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28 Vgl. Wassermann, DStR 2010, 183 ff. (185). So auch Stamm/Blum, StuB 2009, 763 (764 f.). 29 Siehe auch die Begründung des Gesetzesentwurfes: „Wenn daher in solchen Fällen andere gebräuchliche Bewertungsmethoden zur Preisbildung angewandt werden, hat das Steuerrecht, das an den gemeinen Wert (Verkehrswert) anknüpft, dies zu respektieren.“ BT-Drucks. 16/7918 v. 28.1.2008, S. 38. 30 Zu einer ersten Erhebung branchenüblicher Bewertungsverfahren durch die Finanzverwaltung vgl. Bayerisches Staatsministerium der Finanzen: Überblick über branchenspezifische Bewertungsmethoden, 2009, Aktenzeichen 34 – S 3715 – 009 – 49661/08 v. 19.12.2008. 31 Auch ohne fundierte steuersystematische Analyse bleibt bei der nutzentheoretisch begründeten Entscheidung des niedrigeren Wertes offen, ob dies nicht Rückwirkungen auf andere erbschaftsteuerliche Regelungen (z. B. Verwaltungsvermögen, Verschonungsregeln) zur Folge hat. Vgl. Stamm/Blum, StuB 2009, 763 (765). 32 Vgl. hierzu auch Olbrich/Hares/Pauly, DStR 2010, 1250 ff. (1255). Zur steuerrechtlichen Perspektive des Bewertungsmaßstabes vgl. Löffler (Fn. 7), S. 71 f., 124 ff. 33 Hiermit ist eine Ermittlung in Anlehnung an IDW S 1 gemeint. 34 Vgl. § 199 Abs. 1 BewG.
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§§ 199–203 BewG regeln die Anwendungsvoraussetzungen und die Vorgehensweise des auf Typisierungen aufbauenden vereinfachten Ertragswertverfahrens. Der gemeine Wert bestimmt sich demnach durch eine Diskontierung des durchschnittlich innerhalb der letzten drei Jahre erzielten Betriebsergebnisses mit einem pauschalisierten Kapitalisierungsfaktor35. Das vereinfachte Ertragswertverfahren kann angewendet werden, wenn der Unternehmenswert mittels einer die Ertragsaussichten des Unternehmens berücksichtigenden Methode zu bestimmen ist und die aus einer derartigen vereinfachten Ermittlung resultierenden künftigen Überschüsse nicht „offensichtlich unzutreffend“ sind. Demzufolge kann das vereinfachte Ertragswertverfahren nicht zur Anwendung kommen, wenn eine nach § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG „andere, anerkannte, auch im gewöhnlichen Geschäftsverkehr für nichtsteuerliche Zwecke übliche Methode“ existiert36. Das Methodenwahlrecht beschränkt sich somit letztlich nur auf die Frage der Verwendung des Ertragswertverfahrens nach IDW S 1 oder der vereinfachten Ertragswertermittlung gemäß § 200 BewG. Der Gesetzgeber bleibt jedoch in § 199 BewG eine abschließende Antwort schuldig, unter welchen Umständen welches der beiden alternativen Ertragswertverfahren zur Anwendung kommen soll. Dem AEBewAntBV ist zu entnehmen, dass für ein Abweichen vom vereinfachten Ertragswertverfahren stets die Feststellungslast vom jeweils Antragstellenden zu tragen ist37. Im Grunde lässt sich daraus schließen, dass das vereinfachte Ertragswertverfahren immer dann zur Anwendung kommt, wenn keine andere Methode (branchen)üblich ist und keiner der Beteiligten die Anwendung des individualisierten Ertragswertverfahrens nach IDW S 1 beantragt. Stellt jedoch eine der beteiligten Parteien einen derartigen Antrag, trägt diese die Feststellungslast. Da sowohl Finanzverwaltung als auch Steuerpflichtiger tendenziell gegenläufige Interessen bei der in die Ermittlung der erbschaftsteuerlichen Bemessungsgrundlage einfließenden Wertfeststellung verfolgen werden, müssen sodann letztlich beide Parteien auf der Grundlage eines individualisierten Ertragswertverfahrens argumentieren, um einen Entscheidungswert nahe ihres jeweiligen Grenzpreises durchsetzen zu können38. Führt die Ermittlung eines vereinfachten Ertragswertes zu „offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen“, verneint der Gesetzgeber eine Akzeptanz dieser Ermittlungsmethode. Die Vorschriften des § 199 BewG lassen aber eine Konkretisierung vermissen, wann ein offensichtlich unzutreffendes Ergebnis vorliegt39. In der Praxis fällt wohl der Finanzverwaltung die Beweislast zu40. Die
__________ 35 Vgl. §§ 200 ff. BewG. Zu einer kritischen Würdigung der Zukunftserfolgsproblematik vgl. Löffler (Fn. 7), S. 157 ff. 36 Vgl. A 19 Abs. 1 Satz 2 AEBewAntBV. 37 Vgl. A 19 Abs. 6, 7 AEBewAntBV. 38 Auch der Steuerpflichtige sollte stets eine sorgfältige Alternativenabwägung durchführen, ob und in welcher Weise die Entscheidung für eines der alternativen Ertragswertverfahren zu einem für ihn nachteiligen Ergebnis führt. 39 Im gleichlautenden Erlass der Länder ergeben sich Anhaltspunkte, vgl. A 19 Abs. 4, 5 AEBewAntBV. 40 Vgl. A 19 Abs. 6 AEBewAntBV.
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Einschätzung, ob die Anwendung des vereinfachten Ertragswertverfahrens zu unzutreffenden Ergebnissen führt, wird letztlich auch an dieser Stelle durch die Durchführung einer Unternehmensbewertung mittels individualisierten Ertragswertverfahrens erfolgen müssen. Der Gesetzgeber bürdet damit sowohl der Finanzverwaltung als auch dem Steuerpflichtigen de facto einen zusätzlichen Aufwand in zeitlicher, kostenseitiger und fachlich-personeller Hinsicht auf. 4. Elementare Problemfelder des vereinfachten Ertragswertverfahrens a) Maßgeblicher Jahresertrag und Zukunftsbezug Der Gesetzgeber knüpft in § 201 Abs. 1 BewG die im Rahmen des vereinfachten Ermittlungsverfahrens zu berücksichtigenden Ertragsaussichten an vergangenheitsbasierte Ergebnisgrößen, indem er formuliert, dass „[d]er Durchschnittsertrag [.] regelmäßig aus den Betriebsergebnissen der letzten drei vor dem Bewertungsstichtag abgelaufenen Wirtschaftsjahre herzuleiten [ist].“ Offen bleibt, ob der Gesetzgeber eine einfache Extrapolation vergangenheitsbezogener Ergebnisgrößen für hinreichend erachtet, die künftig nachhaltig erzielbaren finanziellen Überschüsse zu bestimmen. In der ökonomischen Theorie wird jedenfalls weit überwiegend eine derartige an die Zeitstabilitätshypothese anknüpfende Prognose künftiger Zahlungsströme als nicht sachgerecht erachtet41. So würde eine unreflektierte Trendextrapolation, die beispielsweise die aus der aktuellen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise resultierenden Änderungen der wirtschaftlichen Entwicklung negiert oder in der Vergangenheit unterlassene Investitionen vernachlässigt, zu systematischen Überbewertungen führen42. Vergangenheitsbezogene Daten können lediglich eine
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41 Gemäß der Zeitstabilitätshypothese können die Determinanten der vergangenen Entwicklung in die Zukunft fortgeschrieben werden. Mögliche Trendbrüche bleiben daher weitestgehend unberücksichtigt. Hollmann geht z. B. davon aus, dass die auf die Ertragslage einwirkenden wirtschaftlichen Faktoren weitgehend stabil bleiben. Vgl. Hollmann, Reporting Performance: Analyse des Ausweises der Erträge und Aufwendungen in einem Abschluß nach den Rechnungslegungsvorschriften des IASB, 2003, S. 83. Die weitverbreitete wirtschaftswissenschaftliche Literaturauffassung lehnt diese Hypothese mit Verweis auf den beständigen Wandel und die immanente Unsicherheit der künftigen Entwicklung ab. Konsequenterweise wird die Prognoseeignung retrospektiver Rechnungslegungsinformationen grundsätzlich verneint. Streim verweist darauf, dass in einer Welt mit variablen Umfeldbedingungen die Vergangenheit kein Abbild der Zukunft sein kann. Vgl. Streim, BFuP 2000, 111 (125 f.). Moxter formuliert seine ablehnende Haltung zu dieser Hypothese plakativ, in dem er vom „Extrapolationsmythos“ der Rechnungslegung spricht. Vgl. Moxter, BB 2000, 2143 (2147). Im Weiteren auch ablehnend zur Frage der Prognoseeignung stellvertretend Ballwieser, zfbf 1982, 772 (777 und 793); Schneider, StuW 1983, 141 (154); Seicht, Rechnungslegungsreform und Gläubigerschutz, in Seicht (Hrsg.), Gläubigerschutz, Betriebswirtschaftslehre und Recht: Festgabe für Otmar Koren zum 75. Geburtstag, 1993, S. 1 (17); Wöhe, Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 21. Aufl. 2002, S. 894. 42 So sind in der Vergangenheit unterlassene (Ersatz-)Investitionen, die zukünftig zwingend einer Nachholung bedürfen, nicht in den historischen Betriebsergebnissen enthalten. Aus dem auf dieser Grundlage ermittelten „vereinfachten“ Ertragswert resul-
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Orientierung für die Prognose künftiger Überschüsse sein. Keinesfalls dürfen aber zum Bewertungsstichtag bereits bekannte objektive Umstände, die einen nachhaltigen Einfluss auf die künftige wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens haben, unberücksichtigt bleiben43. Diese Auffassung teilt wohl auch die Finanzverwaltung44. Der daraus folgende Schluss kann nur sein, dass eine an den künftigen Ertragsaussichten ausgerichtete Unternehmensbewertung zwingend an plausiblen Planungsrechnungen anzuknüpfen hat. Dies geht unter anderem auf den Grundsatz der Bewertung des betriebsnotwendigen Vermögens zurück, demgemäß zur Prognose der künftig entziehbaren finanziellen Überschüsse des Unternehmens, zwingend aufeinander abgestimmte Plan-Bilanzen, Plan-GuV sowie Finanzplanungen erforderlich sind45. Diesem Anspruch genügt allerdings nur das individualisierte Ertragswertverfahren nach IDW S 1, nicht das vereinfachte Ertragswertverfahren46. b) Gemeiner Wert und Gesamtbewertung Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive führt einzig die Gesamtbewertung, die das Zusammenwirken aller Vermögenswerte reflektiert, zu einem realitätsgetreuen Abbild des Unternehmenswertes, weil die finanziellen Überschüsse eines Unternehmens durch die Kombination aller für die Wertschöpfung erforderlichen Einsatzfaktoren erzielt werden (Grundsatz der Bewertung der wirtschaftlichen Unternehmenseinheit und Grundsatz der Bewertung des betriebsnotwendigen Vermögens)47. Der Gesetzgeber schreibt aber nun im Rahmen der Definition des vereinfachten Ertragswertverfahrens in § 200 Abs. 4 BewG vor48, dass Wirtschaftsgüter, die zwei Jahre vor dem Bewertungsstichtag in das Betriebsvermögen eingelegt wurden (sogenannte junge Wirtschaftsgüter) und nicht dem nicht betriebsnotwendigen Vermögen zuzurechnen sind, mit dem eigenständig zu ermittelnden gemeinen Wert anzusetzen sind. Unter Berücksichtigung der betriebswirtschaftlichen Unternehmensbewertungsmetho-
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tiert eine Überbewertung des Betriebsvermögens. Hieraus kann wiederum eine finanzielle Mehrfachbelastung des Begünstigten durch die Aufholung des Investitionsstaus einerseits und die Erbschaftsteuerzahllast andererseits resultieren. In der Unternehmensbewertungs- und -transaktionspraxis erfahren derartige Umstände eine Berücksichtigung durch entsprechende Abschläge auf die prognostizierten finanziellen Überschüsse. Vgl. auch Knief/Weippert, Stbg 2010, 1 (3). Vgl. IDW S 1 (Fn. 8), Rz. 72 ff. „Sofern zum Bewertungsstichtag feststeht, dass der künftige Jahresertrag durch bekannte objektive Umstände, z. B. wegen des Todes des Unternehmers, sich nachhaltig verändert, muss dies bei der Ermittlung des Durchschnittsertrags entsprechend berücksichtigt werden.“ Vgl. A 21 Abs. 5 AEBewAntBV. Ungeklärt bleibt aber die begriffliche Abgrenzung „bekannter objektiver“ Umstände und was der Gesetzgeber unter einer „entsprechenden“ Berücksichtigung verstanden wissen will. Vgl. Abschnitt II. Vgl. IDW S 1 (Fn. 8), Rz. 24 ff. Vgl. IDW S 1 (Fn. 8), Rz. 18 f., 21, 24 ff., 59 ff. Das vereinfachte Ertragswertverfahren ist methodisch den Gesamtbewertungsverfahren zuzuordnen.
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dik werden diese Wirtschaftsgüter bei der Ertragswertermittlung allerdings bereits mit berücksichtigt. Durch die explizite Maßgabe der steuerlichen Ermittlungsvorschriften, junge Wirtschaftsgüter einer separaten Wertermittlung im Verständnis einer Einzelbewertung zuzuführen, kann hieraus eine doppelte Berücksichtigung dieser Güter in der erbschaftsteuerlich relevanten Unternehmenswertermittlung resultieren, vor allem dann, wenn die für die Ermittlung des durchschnittlichen Betriebsergebnisses relevanten Jahreserträge der vergangenen drei Jahre bereits nachhaltig durch diese jungen Wirtschaftsgüter beeinflusst worden sind. Auch die rechtliche Maßgabe, im Rahmen des vereinfachten Ertragswertverfahrens bei konzernähnlichen Strukturen und Unternehmensverbindungen für jede einzelne Beteiligung den gemeinen Wert zu ermitteln, steht nicht im Einklang mit der betriebswirtschaftlichen Unternehmensbewertungstheorie. Denn hiernach ist stets die wirtschaftliche Betrachtungsweise, nicht aber die rechtliche Abgrenzung für die Gesamtbewertung ausschlaggebend49. Der Wert eines Konzernverbundes, der auch in der Konzernrechnungslegungstheorie als fiktive wirtschaftliche Einheit betrachtet wird, ergibt sich aus dem wirtschaftlichen Zusammenwirken aller beteiligten Unternehmen50. Die bloße Addition der „vereinfachten“ Ertragswerte sämtlicher Konzernunternehmen führt mithin nicht zu einem (Gesamt-)Unternehmenswert, wie er sich in Anlehnung an die Ertragswertermittlung nach IDW S 1 ergeben würde und steht im Widerspruch zur theoretischen Grundkonzeption der Ertragswertermittlung. Überdies lässt sich eine derartige Vorgehensweise wohl auch nicht mit dem Gebot der realitätsgerechten Wertrelation vereinbaren. c) Steuerliche Modifikationen und Rechtsformneutralität Durch die Vorgabe des § 12 ErbStG i. V. m. §§ 11, 95–97, 109 BewG, den Verkehrswert als übergreifenden Wertmaßstab für alle Formen betrieblichen Vermögens zugrunde zu legen, beabsichtigte der Gesetzgeber eine rechtsformunabhängige Bewertung zu schaffen51. Mit der Definition des Betriebsergebnisses in § 202 BewG werden allerdings steuerliche Modifikationen determiniert, die willkürlich eine Ungleichbehandlung unterschiedlicher Rechtsformen nach sich ziehen. Während bei Unternehmen in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft Gesellschafterzinsen das steuerliche Betriebsergebnis mindern, gelten diese im Falle einer Personengesellschaft bzw. eines Einzelunternehmers als das steuerliche Betriebsergebnis nicht mindernde Vergütungsbestandteile. In der Konsequenz führt das vereinfachte Ertragswertverfahren zu einer vergleichsweise niedrigeren Bewertung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft gegenüber Anteilen an Personenunternehmen. Die Rechtsprechung wird
__________ 49 Vgl. IDW S 1 (Fn. 8), Rz. 18 ff. 50 Vgl. Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzen, 7. Aufl. 2004, S. 1, 8 ff. 51 „Das Verfahren ist rechtsformneutral sowohl auf Unternehmen in der Rechtsform der KapGes. als auch auf Einzelunternehmen und PersGes. anwendbar.“ Vgl. Begründung zum Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD ErbStRG zu § 200 Abs. 1 BewG.
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wohl künftig zu klären haben, ob diese unterschiedliche Behandlung von Gesellschafterzinsen noch mit dem Gebot der realitätsgerechten Wertrelation vereinbar ist. Ein weiterer Aspekt, der bei Anwendung des Ertragswertverfahrens für Personengesellschaften erhebliches Streitpotential hervorrufen wird, ist die Bestimmung eines kalkulatorischen Unternehmerlohnes, denn je höher diese kostenrechnerische Größe angesetzt wird, desto geringer ist der Ertragswert und in der Konsequenz auch die erbschaftsteuerliche Belastung52. Ist in der bisherigen Ergebnisrechnung ein derartiger Abzugsbetrag noch nicht oder nur als vage „Schätzgröße“ enthalten53, liegt es zunächst beim Steuerpflichtigen, einen solchen Korrekturposten realitäts- und sachgerecht zu bestimmen54. Dies ist ein durchaus kompliziertes Unterfangen, weil u. a. an die individuellen Lebenshaltungskosten der Region, das Erfahrungswissen und das Alter des Übertragenden und unternehmensspezifische Besonderheiten anzuknüpfen ist55. Weder das HGB noch das Steuerrecht treffen hierzu explizite Aussagen. Die Finanzverwaltung wird tendenziell bestrebt sein, sich an für körperschaftsteuerliche Zwecke ermittelte Gehälter für Geschäftsführer anzulehnen56. Ob ein solcher Rückgriff im Einklang mit der BGH-Rechtsprechung steht, muss geprüft werden57. d) Kapitalisierungsfaktor und Risikopauschalisierung Der dem vereinfachten Ertragswertverfahren zwingend zugrunde zu legende Kapitalisierungsfaktor ergibt sich gemäß § 203 Abs. 3 BewG aus dem Kehrwert des Kapitalisierungszinssatzes. Dieser setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Ein variabler Basiszinssatz für risikolose Anleihen wird durch einen (pauschalen) Risikozuschlag ergänzt58. Die variable Komponente basiert auf der langfristig erzielbaren Rendite öffentlicher Anleihen und wird auf Basis der Zinsstrukturdaten durch die Deutsche Bundesbank einmalig zu Beginn eines jeden Jahres festgelegt und durch das Bundesfinanzministerium veröffentlicht. Diese variable Komponente ist sodann für alle in diesem Jahr entstehenden erbschaft- bzw. schenkungsteuerlichen Vorgänge maßgeblich. Diese vordergründig der Verfahrensvereinfachung dienende Regelung gestaltet sich aus der betriebswirtschaftlichen Perspektive der Unternehmensbewertung
__________ 52 Zur Ermittlung des kalkulatorischen Unternehmerlohns ausführlich vgl. Knief, DB 2010, 289 ff. Zu den potentiellen Hebelwirkungen der Bestimmung eines kalkulatorischen Unternehmerlohnes auf die Wertermittlung vgl. auch Knief/Weippert, Stbg 2010, 1 (3 f.). 53 Vgl. § 202 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Bs. d BewG. 54 Mithin ist diese kalkulatorische Größe die einzige Variable, die der Steuerpflichtige im Rahmen des vereinfachten Ertragswertverfahrens selbst bestimmen muss, ohne dass das HGB oder das Steuerrecht hierzu konkrete Vorgaben machen. 55 Vgl. BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 45/06, NJW 2008, 1221. 56 Vgl. hierzu A 22 Abs. 3 Nr. 2 Bs. d AEBewAntBV. 57 Vgl. BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 45/06, NJW 2008, 1221. 58 Vgl. § 203 Abs. 1 HGB.
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als nicht zielführend59. So können die Basiszinssätze durchaus unterjährigen Schwankungen unterliegen und damit beträchtliche Bewertungsunterschiede nach sich ziehen60. Im Weiteren gestaltet sich – vor allem auch im Hinblick auf das Gebot der realitätsgerechten Wertrelation – die für alle unternehmensspezifischen Bewertungssachverhalte geltende Festlegung eines pauschalen Risikozuschlags auf 4,5 % p. a. äußerst problematisch61. Die hierbei vom Gesetzgeber intendierte „vereinfachte“ Erfassung typischer Korrekturposten einer betriebswirtschaftlichen Unternehmensbewertung wie z. B. Wachstumsabschlag, Fungibilitätszuschlag oder inhaberspezifische Faktoren kann einer der Realität und den individuellen Gegebenheiten entsprechenden Berücksichtigung allgemeiner und vor allem konkreter Risiken des Einzelfalls nicht hinreichend genügen62. Dies hat auch der Bundesrat moniert63. Die Anwendung eines branchenüblichen bzw. finanzierungsadäquaten Kapitalisierungsfaktors bleibt damit lediglich dem individualisierten Ertragswertverfahren nach IDW S 1 vorbehalten64. Aus der verpflichtenden Anwendung des Kapitalisierungsfaktors gemäß § 203 Abs. 3 BewG im Rahmen des vereinfachten Ertragswertverfahrens können – nicht zuletzt mit Blick auf die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise – somit signifikante Überbewertungen resultieren65. Nach ersten Erkenntnissen der Bundessteuerberaterkammer dürfte deshalb das vereinfachte Ertragswertverfahren kaum zur Anwendung kommen66.
IV. Würdigung im Kontext der BVerfG-Vorgaben und aus betriebswirtschaftlicher Perspektive Der Gesetzgeber sah sich durch die Vorgabe des BVerfG veranlasst, bei der Neugestaltung des Erbschaftsteuerrechts gerade auch die bewertungsrelevanten Normen neu zu regeln. Im Rahmen der Umsetzung einer dem Grundsatz des Art. 3 GG folgenden gleichmäßigen und an der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen orientierten Besteuerung der Übertragung von Betriebsvermögen folgt der Gesetzgeber ökonomischen Grundüberlegungen. Dies spiegelt sich letztlich auch an der erkennbaren Orientierung der neuen erbschaftsteuer-
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59 Vgl. IDW, Stellungnahme an den Finanzausschuss des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts (Erbschaftsteuerreformgesetz – ErbStRG) v. 3.3.2008. 60 Es lässt sich zeigen, dass auf unterschiedlichen Basiszinssätzen aufbauende Unternehmensbewertungen zu signifikanten Wertunterschieden führen können. Vgl. Creutzmann, DB 2008, 2784 ff. (2789). 61 Zu einer umfassenden kritischen Diskussion über die Auswirkungen eines einheitlichen Kapitalisierungszinssatzes auf die Bewertung von Unternehmen unterschiedlicher Risikoklassen vgl. Gerber/König, BB 2009, 1268. 62 Vgl. Begründung zum Änderungsantrag zu § 203 BewG. Vgl. auch Löffler (Fn. 7), S. 159. 63 Vgl. BR-Drucks. 4/08, Stellungnahme des Bundesrats zum ErbStRG, S. 16. 64 Vgl. Bäuml, GmbHR 2009, 1135 (1137 f.). 65 Vgl. ausführlich Creutzmann, DB 2008, 2784 ff. (2877 ff.) oder auch Kohl/Schilling, StuB 2008, 909 ff. 66 Vgl. Bundessteuerberaterkammer: Steuergerechtigkeit, Planungssicherheit, Praktikabilität, 2009, S. 13.
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lichen Bewertungssystematik an den theoretischen Grundsätzen der Unternehmensbewertung sowie an den in der betriebswirtschaftlichen Praxis anerkannten Methoden. Für die theoriegestützte Bewertungspraxis gelten die berufsständischen Verlautbarungen des IDW mittlerweile auch in der Zivilrechtsprechung67 als Referenzmaßstab für die Unternehmensbewertung in Deutschland. Ob auch das vom Gesetzgeber neu geschaffene vereinfachte Ertragswertverfahren den theoriegeleiteten Grundsätzen der Unternehmensbewertung entspricht, wird schwerpunktmäßig in diesem Beitrag untersucht. Dabei lassen sich folgende Ergebnisse zusammenführen: 1. Die Bewertungssystematik und Verfahrenshierarchie des § 11 Abs. 2 BewG steht immer dann im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Unternehmensbewertungstheorie, wenn auf Bewertungsmethoden zurückgegriffen wird, die den Unternehmenswert nicht direkt auf der Grundlage künftiger finanzieller Überschüsse ermitteln. 2. Nach § 11 Abs. 2 i. V. m. §§ 199–203 BewG kann das vereinfachte Ertragswertverfahren immer dann angewendet werden, wenn es „nicht zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führt“ oder wenn „eine andere anerkannte, auch im gewöhnlichen Geschäftsverkehr für nichtsteuerliche Zwecke übliche Methode“ nicht existiert. Mit der Rechtsunsicherheit aus der fehlenden Konkretisierung, wann die Ergebnisse des vereinfachten Ertragswertverfahrens „offensichtlich unzutreffend“ sind und mit welcher Methode – dem „vollständigen“ Ertragswertverfahren in Anlehnung an IDW S 1 oder einer anderen „üblichen“ Methode – dies festzustellen ist, sind ein Fortfall des Vereinfachungseffekts, Gestaltungsfreiheit bei der Auswahl der steuergünstigsten Methode und damit fallweise auch die Wahl von Methoden, die nicht den Grundsätzen der Unternehmensbewertungstheorie entsprechen, verbunden. Der Verweis auf die „Üblichkeit“ heilt nicht den Mangel theoretischer Fundierung. 3. Beim vereinfachten Ertragswertverfahren werden die zukünftigen Überschüsse aus dem durchschnittlichen Erfolg der letzten drei Jahre abgeleitet. Offensichtlich beabsichtigte der Gesetzgeber mit dieser Vorgehensweise für eine möglichst einfache, pauschalierte und nachvollziehbare Verfahrensmethodik Sorge zu tragen, die die Ermittlungskomplexität und den hieraus resultierenden Aufwand reduzieren soll. Die Zugrundelegung von durchschnittlichen Vergangenheitswerten zur Prognose nachhaltig entnehmbarer finanzieller Überschüsse im Rahmen des vereinfachten Ertragswertverfahrens steht allerdings nicht in Einklang mit der aus der Sicht der Unternehmensbewertungstheorie gebotenen Ermittlung eines Zukunftserfolgswertes. 4. Die bewertungsrechtlichen Normen differenzieren betriebsnotwendiges Vermögen in Abhängigkeit von dessen bisheriger Verweildauer im Unternehmen. Junge Wirtschaftsgüter mit einer Zugehörigkeit zum notwendigen Betriebsvermögen von unter zwei Jahren sind demnach gesondert zu bewer-
__________ 67 Vgl. Fn. 9.
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ten und nicht in die der Gesamtbewertungsmethodik folgende vereinfachte Ertragswertermittlung einzubeziehen. Auch bei Vorliegen von konzernähnlichen Strukturen verlangt der Gesetzgeber eine einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise entgegenstehende separate Wertermittlung für jede einzelne Unternehmensbeteiligung. Damit verstoßen diese erbschaftsteuerlichen Bewertungsvorschriften gegen den der betriebswirtschaftlichen Theorie der Unternehmensbewertung entlehnten Grundsatz der Bewertung der wirtschaftlichen Unternehmenseinheit. Da auch die jungen Wirtschaftsgüter und die Unternehmensbeteiligungen zu dem Erfolg der vergangenen Jahre beigetragen haben, droht hier eine Doppelerfassung. 5. Der Gesetzgeber regelt die Unternehmensbewertung rechtsformneutral. Folgerichtig soll die Bewertung auch für Personengesellschaften und Einzelunternehmen künftig auf Grundlage des Verkehrswertes und nicht mehr nach dem Buchwert des steuerlichen Kapitalkontos erfolgen. Steuerliche Modifikationen des Betriebsergebnisses im Hinblick auf die Einbeziehung von Zinsen für Gesellschafterdarlehen und die Bestimmung eines kalkulatorischen Unternehmerlohns durchbrechen die Rechtsformneutralität. 6. Ein vordergründig der Verfahrensvereinfachung dienender, über alle Branchen und Unternehmen pauschalisierter Kapitalisierungsfaktor spiegelt in nicht hinreichendem Maße die spezifischen wertbeeinflussenden Determinanten und die Risiken des zu beurteilenden Unternehmens. Die mangelnde Berücksichtigung konjunktur- und branchenspezifischer Ertrags- und Kapitalstrukturrisiken im Rahmen des vereinfachten Ertragswertverfahrens kann sich fallweise vorteilhaft oder auch nachteilig auswirken. Vor allem überdurchschnittlich risikobehaftete und hochverschuldete Unternehmen werden prinzipiell überbewertet, weil der pauschale Risikozuschlag im Kapitalisierungszinssatz des vereinfachten Ertragswertverfahrens im Vergleich zu dem nach IDW S 1 beizumessenden Risikozuschlag zu niedrig bemessen ist. Dies könnte die tatsächliche Anwendung des vereinfachten Ertragswertverfahrens erheblich einschränken.
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Der „Gesamtplan“ – eine zulässige Rechtsfigur im Steuerrecht? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Ausgangsüberlegungen 1. Allgemeine Merkmale des Gesamtplans 2. Indizien für einen Gesamtplan 3. Zwischenergebnis III. Ist steuerrechtlich eine zusammenfassende Betrachtung erlaubt und ggf. unter welchen Voraussetzungen? IV. Gesamtplanfälle aus der BFH-Rechtsprechung 1. Darlehensverträge unter nahen Angehörigen
2. Die Veräußerung von Mitunternehmeranteilen a) Versagung der Tarifvergünstigung b) Tarifbegünstigter Gewinn 3. Die Kettenschenkung 4. Die zwischengeschaltete Kapitalgesellschaft 5. Der Verzicht auf Arbeitslohn 6. Die wechselseitige Vermietung V. Ergebnisse VI. Schlussbemerkung
I. Einleitung Anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena hielt Wolfgang Spindler am 12. November 2004 den Vortrag „Der ‚Gesamtplan‘ in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs“. Er hatte gegen die Figur des „Gesamtplans“ grundsätzlich keine Bedenken, meinte sogar, ihr komme in der Rechtsprechung des BFH „maßgebende Bedeutung“ zu und daran werde sich „vermutlich auch in Zukunft nichts ändern“. Allerdings werde das „Institut“ des Gesamtplans in der Literatur bislang noch „recht stiefmütterlich“ behandelt; seine Merkmale seien „auch noch sehr unbestimmt“1. M. E. sind die generellen Voraussetzungen und die Rechtsfolgen dieser Rechtsfigur seitdem relativ klar. Das steuerrechtliche Schrifttum hat sich zwischenzeitlich wiederholt und tiefgründig mit diesem Argumentationsmuster auseinandergesetzt; die BFHRechtsprechung hat es darüber hinaus weiterhin angewandt. Nur die Feststellung eines Gesamtplans im Einzelfall sowie das Zusammenspiel oder die Überschneidung mit § 42 AO dürften noch zu Schwierigkeiten führen, was aber weniger an der Rechtsfigur des Gesamtplans liegt, vielmehr nach meiner Überzeugung darauf beruht, dass ein Plan eine innere Tatsache und deshalb schwer-
__________ 1 Spindler, DStR 2005, 1.
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lich festzustellen ist2 sowie dass zu jeder Zeit und überall die Auslegung und Anwendung des § 42 AO umstritten war und ist. Dies aber sind keine speziellen Probleme der Rechtsfigur des „Gesamtplans“. Nachfolgend soll der neueste Stand von Rechtsprechung und Schrifttum erörtert werden.
II. Ausgangsüberlegungen 1. Allgemeine Merkmale des Gesamtplans Der „Gesamtplan“ ist gekennzeichnet durch das Vorhandensein eines vorherigen (zuvor gefassten) Plans, der alle für die Erreichung des letztlich verfolgten Ziels wesentlichen Teilschritte umfasst. Ziel ist die Herbeiführung des Zustands nach dem letzten Teilschritt. Die alle Teilschritte umfassende einheitliche Planung verbindet diese Schritte zu einer Einheit. Eine einheitliche Planung rechtfertigt dann eine zusammenfassende Betrachtung, wenn die Teilschritte vom Steuerpflichtigen im Voraus geplant sind, sie keine eigenständige Bedeutung haben, ihre Ausführung vom Steuerpflichtigen beherrscht wird und das geplante Endergebnis erreicht wird. Konstitutive Merkmale eines Gesamtplans, die kumulativ erfüllt sein müssen, sind also: – das Vorhandensein eines vorherigen, zielgerichteten Plans des Steuerpflichtigen, der alle für die Erreichung des Endziels wesentlichen Teilschritte umfasst, – die Herbeiführung des Zustands nach dem letzten Teilschritt; die einzelnen Teilschritte haben also keine eigenständige, sondern nur eine dienende Funktion3, – die Beherrschbarkeit sämtlicher Teilschritte durch den Steuerpflichtigen. Sind mehrere Akteure beteiligt, kann sich die Beherrschbarkeit der Teilschritte aus vertraglichen Vereinbarungen oder aus engen gesellschaftlichen oder verwandtschaftlichen Verflechtungen ergeben. In diesem Fall verklammert der Gesamtplan die in eigener Person des Steuerpflichtigen und die von ihm mittelbar durch den anderen Rechtsträger verwirklichten Tat-
__________ 2 Insbesondere mit diesem Argument erhebt Crezelius, FR 2003, 537 (541), Bedenken gegen die Gesamtplanrechtsprechung. 3 Die Teilschritte können sich ergänzende (z. B. bei der Kettenschenkung) oder sich aufhebende, korrigierende (z. B. bei alsbaldiger Rückzahlung erhaltenen Arbeitslohns) Zwischenschritte sein, vgl. insbes. Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rz. 362 bis 365; Tanzer, Der Gesamtplan im Rahmen steuerlicher Tatbestände, DStJG 33 (2010), S. 189 (192 f.).
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bestandsmerkmale zu dem vom Steuerpflichtigen selbst zurechenbar verwirklichten Steuertatbestand4 und – die Erreichung des geplanten Endziels5. 2. Indizien für einen Gesamtplan Beim Gesamtplan handelt es sich um eine Absicht des Steuerpflichtigen, also um einen inneren Vorgang oder eine innere Tatsache. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BFH, dass alle sich in der Vorstellung von Menschen abspielenden Vorgänge zutreffend nur anhand äußerlicher Merkmale (Hilfstatsachen) erkannt und beurteilt werden können. Hierzu muss aus objektiven Umständen auf das Vorhandensein der Absicht geschlossen werden, wobei einzelne Umstände als Beweisanzeichen (Indizien) herangezogen werden und zu einem Anscheinsbeweis führen können6. Insbesondere ein enger sachlicher und ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen den einzelnen Teilschritten haben Indizwirkung7. Man wird allerdings keinen festen Zeitrahmen, wie z. B. beim gewerblichen Grundstückshandel (fünf Jahre), zugrunde legen können, auch wenn dies der Eindeutigkeit dienen würde. Vielmehr hängt es von der unterschiedlichen Bedeutung, vom Umfang und dem wirtschaftlichen Gehalt der Einzelschritte wie auch des angestrebten Gesamtergebnisses einerseits und von der Zielsetzung der in Be-
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4 Vgl. BFH v. 13.12.1995 – XI R 43–45/89, BFHE 179, 353 = BStBl. II 1996, 232 insbes. unter III.2.e) sowie v. 17.6.1998 – X R 68/95, BFHE 186, 288 = BStBl. II 1998, 667 insbes. unter II.3.c) und 4.; siehe auch Schuster in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 38 AO Rz. 15 f.; Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114 (122). 5 Hinsichtlich der grundsätzlichen Voraussetzungen eines Gesamtplans bestehen kaum unterschiedliche Auffassungen im Schrifttum, vgl. Brandenberg, NWB (2008), Fach 3, 15317 (15326); Damas/Ungemach, DStZ 2007, 552 (555); Fischer in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 42 AO Rz. 366 f.; Förster in FS Korn, 2005, S. 3 (7); Förster/ Schmidtmann, StuW 2003, 114 (120); Kugelmüller-Pugh, FR 2007, 1139 ff.; Söffing, BB 2004, 2777; Tanzer, Der Gesamtplan im Rahmen steuerlicher Tatbestände in DStJG 33 (2010), 189 ff. Ebenso Spindler, DNotP 2006, 442, der an dieser Stelle wiederum ausführt, dass die bestimmenden Merkmale des Gesamtplans noch nicht genügend konkretisiert seien. Eine weitergehende Konkretisierung erscheint mir aber schon deshalb kaum möglich, weil jeder Gesamtplan einzelfallbezogen ist. 6 Siehe insbesondere BFH, Gr. Senat v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BFHE 141, 405 = BStBl. II 1984, 751 unter C.IV.3.c) bb) mit weiteren Nachweisen. Vgl. auch Damas/Ungemach, DStZ 2007, 552 (555); Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rz. 370. 7 Der BFH hat das Erfordernis eines engen zeitlichen Zusammenhangs der Teilschritte neben der Existenz einer einheitlichen Planung als eigenständige Voraussetzung eines Gesamtplans hervorgehoben (vgl. Urteil v. 6.9.2000 – IV R 18/99, BFHE 193, 116 = BStBl. II 2001, 229); ebenso Damas/Ungemach, DStZ 2007, 552 (555); Förster/ Schmidtmann, StuW 2003, 114 (122) und Schmieszek in Beermann/Gosch, § 42 AO Rz. 102; Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 5 Rz. 102 und Söffing, BB 2004, 2777 (2787) meinen, maßgeblich sei nur die sachliche Verknüpfung. Die Kürze der zwischen den Geschäften liegenden Zeit könne für die sachliche Verknüpfung allerdings ein Indiz sein. Diesem Einwand braucht hier nicht weiter nachgegangen zu werden, da im Ergebnis auch diese Auffassung beiden Gesichtspunkten – dem sachlichen und dem zeitlichen Zusammenhang – (zumindest mittelbare) Indizwirkung zugesteht.
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tracht kommenden Steuernorm andererseits ab, ob von einem engen zeitlichen Zusammenhang gesprochen werden kann8. Diese sehr einzelfallbezogenen Kriterien9 dürfen aber nicht zu der Auffassung verleiten, die Merkmale des Gesamtplans seien – im Schrifttum oder von der Rechtsprechung – noch nicht ausreichend herausgearbeitet oder erkannt10. Die durch die Indizien hervorgerufene Vermutung eines von vornherein vorhandenen Gesamtplans ist allerdings widerlegbar, indem der Steuerpflichtige Tatsachen nachweist, die das Fehlen eines Gesamtplans überhaupt oder zumindest sein Fehlen zu Beginn des ersten Teilschritts möglich erscheinen lassen11 oder wenn sich die gewählte Gestaltung wirtschaftlich als eigenständig begründen lässt12. 3. Zwischenergebnis Sind aufgrund einer Gesamtbetrachtung die bezeichneten Merkmale eines Gesamtplans erfüllt, führt das dazu, dass der rechtstechnisch aus mehreren Teilen bestehende Sachverhalt wirtschaftlich einheitlich gesehen und beurteilt wird.
III. Ist steuerrechtlich eine zusammenfassende Betrachtung erlaubt und ggf. unter welchen Voraussetzungen? Die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis entstehen kraft Gesetzes mit Verwirklichung des durch Gesetz umschriebenen Tatbestands (§ 38 AO). Die Steuer knüpft damit an verwirklichte Sachverhalte an. Nicht der Schein oder die äußere Form ist maßgebend, sondern das wirtschaftlich Gewollte und Vollzogene. Verkauft z. B. ein deutsches Unternehmen an sein schweizerisches Tochterunternehmen eine Schubkarre für 20 000 Euro, so ist das zivilrechtlich möglicherweise nicht zu beanstanden. Steuerrechtlich ist hingegen der vollzogene „wirkliche Wille“ relevant. § 41 AO verdeutlicht, dass steuerrechtlich der wirkliche Wille maßgeblich ist, der sich in einem „wirtschaftlichen Ergebnis“ manifestiert hat. Zur ernst gemeinten Willenserklärung muss also die tatsächliche Vollziehung hinzutreten13. § 42 AO bringt im Ergebnis nichts anderes zum Ausdruck: Die fehlende wirtschaftliche Motivation einer äußeren, formalen Gestaltung erlaubt es, sie unbeachtet zu lassen, weil nur ernst ge-
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8 So zu Recht schon Spindler, DNotP 2006, 442; ebenso Tanzer, Der Gesamtplan im Rahmen steuerlicher Tatbestände, DStJG 33 (2010), S. 189 (191). 9 Zu Recht differenzierend vor allem Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114 (122). 10 So, allerdings vor Jahren, Crezelius, FR 2003, 537 (541); vgl. dazu auch Strahl, FR 2004, 929 (936). 11 BFH v. 30.10.1996 – II R 72/94, BFHE 181, 344 = BStBl. II 1996, 87; v. 18.1.2001 – IV R 58/99, BFHE 194, 377 = BStBl. II 2001, 393; vgl. auch Crezelius, FR 2003, 537 (541 f.); Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rz. 369, 371; Förster/ Schmidtmann, StuW 2003, 114 (121). Zahlreiche Beispiele, wie die Vermutung eines Gesamtplans entkräftet werden kann, liefert Jebens, BB 2009, 2172 (2175). 12 Damas/Ungemach, DStZ 2007, 552 (557). 13 Vgl. Schön, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39, 20.
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meinte, wirtschaftlich gewollte (= eigenständige) und verwirklichte Sachverhalte beachtet werden sollen und beachtlich sind. Schön fasst dies so zusammen: Die Besteuerungsordnung orientiert sich am wirklichen Willen des Steuerpflichtigen, wenn und soweit er wirtschaftlich vollzogen wird14. Schuster bringt das – unter Berufung auf Enno Becker – ebenso deutlich zum Ausdruck: Für die Besteuerung ist nicht eine „oberflächliche zivilrechtliche Würdigung“ maßgebend, sondern wer die Tatbestandsmerkmale des Steuergesetzes „in ihrem wirtschaftlichen Sinn tatsächlich erfüllt“ hat15. Dabei ist nach Schuster für die Besteuerung „nur die Gesamtbetrachtung aller Aktivitäten“ zutreffend. Und weiter: „Organisiert der Steuerpflichtige den einkommensteuerbaren Handlungstatbestand arbeitsteilig und sichert er sich selbst den wirtschaftlichen Erfolg der Aktion, verwirklicht er selbst den maßgebenden Steuertatbestand.“ Das heißt: Das Steuerrecht nimmt zwar die zivilrechtlich vorgegebene Realität zur Kenntnis; ja das Steuerrecht hat grundsätzlich von der gewählten zivilrechtlichen Gestaltung auszugehen16. Zivilrechtliche Teilschritte oder Teilakte sind für die Besteuerung jedoch in ihrer Gesamtheit zu betrachten, wenn und soweit sie der Vollziehung eines wirtschaftlichen Zieles dienen. Bei der Würdigung und Feststellung eines Sachverhalts ist somit zu berücksichtigen, wer die Tatbestandsmerkmale des Steuergesetzes in ihrem wirtschaftlichen Sinn tatsächlich erfüllt17. Nicht die äußere Form, die Verkleidung, die Aufmachung, die Rechtsform, nicht der Schein ist für die Besteuerung maßgebend, sondern, was § 38 AO treffend zum Ausdruck bringt, die Tatbestandsverwirklichung. Was „wirklich“ ist, ist für die Besteuerung relevant. Der Begriff des Gesamtplans bezeichnet somit den „schlichten Umstand, dass der Steuerpflichtige an seinem wirklichen Willen festgehalten wird, wenn und soweit er das wirtschaftliche Ergebnis dieses seines Willens herstellt“18. Wenn Söffing19 zum Ausdruck bringt die Berücksichtigung eines tatsächlich vorhandenen Gesamtplans führe zu einer unzulässigen Sachverhaltsumdeutung, so kann dem nicht gefolgt werden. Die vorstehend wiedergegebenen Überlegungen dürften verdeutlicht haben, dass ein tatsächlich festgestellter und verwirklichter Gesamtplan der verwirklichte und deshalb für die Besteuerung maßgebliche Tatbestand ist; es liegt also keine Umdeutung, vielmehr eine zutreffende Berücksichtigung des aufgrund vollzogenen Planes verwirklichten Sachverhalts vor. Entsprechend führt auch der Bundesgerichtshof in einem „Gestaltungsfall eines Verstoßes gegen § 19 Abs. 2 GmbHG“ aus, dass
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Schön, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39, 20. Schuster in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 38 AO Rz. 15. BFH v. 16.1.1992 – V R 1/91, BFHE 167, 215 = BStBl. II 1992, 541 unter II.3.a). Steuergesetze knüpfen an wirtschaftliche Vorgänge und Zustände an und bedürfen deshalb besonders einer wirtschaftlichen Interpretation, die als wirtschaftliche Betrachtungsweise bezeichnet wird (vgl. Lang in Tipke/Lang [Fn. 7], § 5 Rz. 77). 18 So Schön, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39, 20 (21). 19 Söffing, BB 2004, 2777 ff.; Spindler, DStR 2005, 1 (2 f. und 4 f.) sowie DNotP 2006, 442 (445) sowie Kugelmüller-Pugh, FR 2007, 1139 sprechen insoweit ähnlich von einem fingierten Sachverhalt.
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„das Hin- und Herzahlen […] wirtschaftlich als ein einheitlicher, sich selbst neutralisierender Vorgang anzusehen“ ist20. Das ist folglich auch der nach Auffassung des BGH verwirklichte Tatbestand. Ein theoretisches Beispiel aus dem Strafrecht mag diese Auffassung bestätigen: Ein Täter führt seinem arglosen Opfer drei Tage hintereinander im Tee aufgelöstes Gift zu, das u. a. Magenbeschwerden hervorruft. Nach Zuführung weiteren Gifts am vierten Tag stirbt das Opfer plangemäß. Der Täter hat – über die Tage hinweg – den Tatbestand des Mordes erfüllt; er wird nicht wegen Körperverletzung an den ersten drei Tagen und darüber hinaus wegen Körperverletzung mit Todesfolge bestraft. Die Teilakte der Tötungshandlung gehen in dem von vornherein gewollten und geplanten Tötungsdelikt auf. Dass der Besteuerung grundsätzlich nicht nur Teilaspekte oder mehrere Teilaspekte eines Gesamtkomplexes, sondern der Komplex in einer Gesamtschau zugrunde zu legen ist, veranschaulichen auch zwei anerkannte allgemeine Beispiele: (a) Gründstückshandel: Verkauft ein Architekt ein von ihm parzelliertes Grundstück, liegt keine Gewerblichkeit (= Nachhaltigkeit) vor. Verkauft er hingegen über Jahre hinweg in vier zivilrechtlich getrennten Geschäften mehrere Grundstücksteile, so werden die zivilrechtlich getrennten Rechtsakte in ihrer Gesamtheit und wegen ihrer Gesamtheit als gewerblich beurteilt, wenn sie innerhalb eines begrenzten Zeitraums getätigt werden21. Für die steuerrechtliche Beurteilung sind also nicht nur die einzelnen Rechtsgeschäfte je für sich zu würdigen, sondern auch ihre Verklammerung. (b) Bei der Umsatzsteuer werden zivilrechtlich selbständige Leistungen ebenfalls nicht getrennt betrachtet, wenn und soweit sie wirtschaftlich zusammengehören. Der Grundsatz der Einheitlichkeit der Leistung führt auch hier dazu, dass Vorgänge, die zivilrechtlich selbständig sind und je für sich beurteilt werden, aufgrund einer Gesamtschau als Einheit der Besteuerung zugrunde gelegt werden22. Umsatzsteuerrechtlich werden also mehrere selbständige Leistungen nicht aufgespaltet, wenn sie wirtschaftlich zusammengehören und ein unteil-
__________ 20 BGH v. 12.6.2006 – II ZR 334/04, DB 2006, 1889 (Hervorhebung allerdings nicht im Urteil selbst). 21 Nachhaltig ist eine Tätigkeit, wenn sie auf Wiederholung angelegt, wenn also die Wiederholung vorgesehen, „geplant“ ist. Ob das der Fall ist, ist eine innere Tatsache, die durch objektive Beweisanzeichen belegt wird, vgl. z. B. BFH v. 13.12.1995 – XI R 43–45/89, BFHE 179, 353 = BStBl. II 1996, 232 unter III.2. c). Nach der Rechtsprechung des BFH indiziert eine Veräußerung von mehr als drei Objekten innerhalb eines zeitlichen Zusammenhangs von nicht mehr als fünf Jahren eine Grenzüberschreitung von der Vermögensverwaltung zur Gewerblichkeit (vgl. zuletzt BFH v. 17.12.2009 – III R 101/06, BB 2010, 1001 mit weiteren Nachweisen). 22 Unstrittig, vgl. nur Klenk in Sölch/Ringleb, § 1 UStG Rz. 15 mit vielen Hinweisen auf BFH-Entscheidungen. Ob eine aus mehreren Elementen hervorgehende Leistung einheitlich zu beurteilen ist, hat für die Bestimmung des Orts der Leistung, des Zeitpunkts der Leistung sowie für die Anwendung von Befreiungsvorschriften und des Steuersatzes Bedeutung. Vgl. auch Umsatzsteuer-Richtlinien 2008 R. 29.
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„Gesamtplan“ – eine zulässige Rechtsfigur im Steuerrecht?
bares Ganzes bilden23. Insofern wird auch ausdrücklich auf das „Gesamtbild aller Umstände“ abgestellt24. Dieses Gesamtbild der Verhältnisse wird nicht durch Umdeutung des Sachverhalts oder durch eine Sachverhaltsfiktion erreicht, sondern durch Würdigung aller Einzelumstände des Sachverhalts. Das – wie mitunter gesagt wird – „Argumentationsmuster“ des Gesamtplans findet sich im Übrigen auch im Arbeits- und Gesellschaftsrecht, was Entscheidungen sowohl des BAG als auch des BGH belegen25. Wie dargelegt kennt auch das Strafrecht die zusammenfassende Betrachtung von Einzelakten, nicht zuletzt beim sog. Fortsetzungszusammenhang. Hier bilden alle Einzelakte eines Täters, die den gleichen Tatbestandstyp erfüllen, sich in ihrer Ausführungsweise ähneln und von einem „Gesamtvorsatz“ (!) umfasst sind, eine „Handlungseinheit“, mit der für den Täter positiven Folge, dass er nur wegen einer Tat belangt werden kann, allerdings auch mit der für ihn negativen Folge, dass lange zurückliegende Einzelakte nicht verjährt sind, also bei der Strafzumessung berücksichtigt werden können. Im Ergebnis heißt das: Liegt mehreren Teilschritten eines komplexen Sachverhalts ein Gesamtplan zugrunde, so werden sämtliche Teilschritte ungeachtet ihrer zivilrechtlichen Selbständigkeit zu einer wirtschaftlichen Einheit verklammert, wenn sie ohne wirtschaftliche Eigenständigkeit sind26. Diese Einheit wird der Subsumtion unter den Steuertatbestand zugrunde gelegt27. Wer demgegenüber beanstandet, dass der Gesamtplan nicht „gesetzlich fixiert“ sei28, verkennt, dass alle anerkannten Generalregeln für die zutreffende Ermittlung des steuerrechtlich maßgeblichen Sachverhalts, wie z. B. die „Beachtung
__________ 23 Vgl. zuletzt BFH v. 21.10.2009 – V R 8/08, HFR 2010, 506; siehe auch Meyer in Offerhaus/Söhn/Lange, § 1 UStG Rz. 75 ff. Auch nach der Rechtsprechung des EuGH ist bei einem Umsatz, der ein Leistungsbündel darstellt, eine Gesamtbetrachtung erforderlich (EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-349/96, Slg. 1999, I-973, UR 1999, 254 – Card Protection Plan Ltd [CCP]). 24 Vgl. z. B. BFH v. 26.3.1992 – V R 16/88, BFHE 168, 458 = BStBl. II 1992, 929. 25 BAG v. 18.8.2005 – 8 AZR 523/04, BAGE 115, 340; BGH v. 16.9.2002 – II ZR 1/00, BGHZ 152, 36 und v. 2.12.2002 – II ZR 101/02, NJW 2003, 825. In diesen Entscheidungen wird allerdings der Begriff des „Gesamtplans“ nicht ausdrücklich verwandt, diese Rechtsfigur jedoch deutlich erkennbar angewendet. Vgl. dazu auch Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rz. 357 sowie Förster in FS Korn (Fn. 5), S. 3 (5). Wie später noch zu zeigen ist, wird auch in Entscheidungen des BFH nicht stets ausdrücklich auf den Begriff des „Gesamtplans“ rekurriert, indessen das Argumentationsmuster zweifelsfrei angewendet. 26 So schon BFH v. 24.11.1982 – II R 38/78, BFHE 138, 97 = BStBl. II 1983, 429; vgl. auch BFH v. 17.6.1998 – X R 68/95, BFHE 186, 288 = BStBl. II 1998, 667 unter II.3.b) und v. 22.1.2002 – VIII R 46/00, BFHE 197, 517 = BStBl. II 2002, 685. 27 Damas/Ungemach, DStZ 2007, 552 (555); Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114 (123); Förster in FS Korn (Fn. 5), S. 3 (14); Schuster in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 38 AO Rz. 15. 28 Vgl. Crezelius, FR 2003, 537 (542). Söffing, BB 2004, 2777 (2782) meint dementsprechend, die Rechtsfigur des Gesamtplans habe keine gesetzliche Grundlage. Clausen, DB 2003, 1589 (dort Fn. 5) sieht den Gesamtplan als „eine zur jeweiligen Fallgruppe erfundene, außergesetzliche Theorie“ an. Er erörtert dies allerdings (nur) im Zusammenhang mit der Frage, ob § 42 AO entbehrlich sei und durch diese „Theorie“ ersetzt werden könne; eine Frage, die hier nicht zur Debatte steht.
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der Verkehrsanschauung“, die „Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles“ oder das „Gesamtbild der Verhältnisse“29, nicht kodifiziert sind und auch nicht kodifiziert sein müssen, um bei der Sachverhaltsermittlung berücksichtigt werden zu können. Das vorstehend zusammengefasste Verständnis des Gesamtplans30 kann, was allgemein anerkannt ist, sich zu Gunsten des Steuerpflichtigen, aber auch zu seinen Ungunsten auswirken31. Die folgenden Beispielsfälle aus der BFH-Rechtsprechung sollen das verdeutlichen.
IV. Gesamtplanfälle aus der BFH-Rechtsprechung Die BFH-Rechtsprechung, in der Gesamtplanüberlegungen angesprochen sind, ist vielfältig. Es sollen hier nur einige Gestaltungen beispielhaft dargestellt und erörtert werden: 1. Darlehensverträge unter nahen Angehörigen In dem Fall eines Darlehensvertrags unter nahen Angehörigen32 hat der VIII. Senat des BFH ausdrücklich einen Gesamtplan festgestellt, weil die vom Vater „beschenkte“ Tochter zu keinem Zeitpunkt über den ihr vertraglich zugewendeten Betrag habe frei verfügen können; der Darlehensbetrag sei „tatsächlich und wirtschaftlich beim Schenker“ geblieben. Deshalb könne der Vater die gezahlten Darlehenszinsen nicht als Betriebsausgaben abziehen; es handele sich um eine steuerrechtlich unbeachtliche mittelbare Zuwendung des Steuerpflichtigen an seine Tochter33. Wer die Rechtsfigur des Gesamtplans dem Grunde nach anerkennt, hat gegen die Entscheidung, die von anderen Senaten des BFH bestätigt worden ist, keine Bedenken. Sie vermeidet jede Bezugnahme auf §§ 41, 42 AO. In einem ähnlichen Fall hat der IX. Senat des BFH dagegen ausdrücklich auf § 42 AO und den „Gesamtplan“ rekurriert, indem er entschied: Geht dem Darlehen einer minderjährigen Tochter an einen Elternteil eine Schenkung des anderen Elternteils voraus und liegt diesen Rechtsgeschäften ein „Gesamtplan“ der Eltern zur Schaffung von Werbungskosten zugrunde, so kann hierin
__________ 29 Auf alle diese Beurteilungsmaßstäbe verweist z. B. die neue BFH-Entscheidung v. 19.8.2009 – III R 31/07, BFH/NV 2010, 844, 845. 30 Unter Berufung auf die BFH-Rechtsprechung hat die Finanzverwaltung die Rechtsfigur des Gesamtplans für bestimmte Fallgruppen ausdrücklich übernommen, vgl. BMF-Schreiben v. 26.3.2004, BStBl. I 2004, 434 Rz. 9 und v. 3.3.2005, BStBl. I 2005, 458 sowie BMF im Amtlichen Einkommensteuer-Handbuch 2009, Anhang 2, 1298 Fn. 2. 31 Allgemeine Meinung, vgl. z. B. Spindler, DNotP 2006, 442 (443); Schön, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39, 20 (21); Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114 (124). 32 BFH v. 22.2.2002 – VIII R 46/00, BFHE 197, 517 = BStBl. II 2002, 685; ebenso schon BFH v. 10.4.1984 – VIII R 134/81, BFHE 141, 308 = BStBl. II 1984, 705. 33 Die vom BFH nicht ausdrücklich angesprochene Konsequenz muss sein, dass die Tochter die „Zinsen“ auch nicht als Einkünfte aus Kapitalvermögen zu versteuern hat.
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ein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts gemäß § 42 AO liegen34. Beide Entscheidungen kommen zu dem gleichen Ergebnis. Sie gehen jedoch von unterschiedlichen Denkschulen aus: Die eine will die mit dem Endschritt umgangen erscheinenden Normen aus sich heraus zur Geltung bringen, die andere sucht die Lösung unmittelbar aus § 42 AO, verwendet allerdings unterstützend den Begriff des „Gesamtplans“. 2. Die Veräußerung von Mitunternehmeranteilen Die Gesamtplanrechtsprechung des IV. Senats des BFH zur Tarifvergünstigung nach §§ 16, 34 EStG bei Veräußerung von Mitunternehmeranteilen führte für die Steuerpflichtigen zum Teil zu ungünstigen, zum anderen Teil zu günstigen Ergebnissen. a) Versagung der Tarifvergünstigung Der BFH versagte die Tarifvergünstigung, wenn aufgrund „einheitlicher Planung“ und „in engem zeitlichen Zusammenhang“ mit der Veräußerung eines Mitunternehmeranteils wesentliche Betriebsgrundlagen der Personengesellschaft ohne Aufdeckung sämtlicher stiller Reserven aus dem Betriebsvermögen der Gesellschaft ausgeschieden sind35. Eine einheitliche Planung wurde in diesem Urteilsfall angenommen, weil die Buchwertübertragungen und die nachfolgende (konzerninterne) Veräußerung des reduzierten Mitunternehmeranteils Bestandteil einer Umstrukturierung der Unternehmensgruppe mit dem Ziel der Schaffung eines Spartenkonzerns gewesen seien. Ein enger zeitlicher Zusammenhang wurde bei einem zeitlichen Abstand von weniger als acht Wochen im Hinblick auf die Rechtsprechung zur zeitlich gestreckten Betriebsaufgabe als nicht zweifelhaft angesehen. § 42 AO war in dieser Entscheidung des BFH zu Recht nicht angesprochen. b) Tarifbegünstigter Gewinn Dagegen gehört der Gewinn aus der (Vorab-)Entnahme von Wirtschaftsgütern des Gesellschaftsvermögens bei anschließender Veräußerung des (reduzierten) Mitunternehmeranteils zum tarifbegünstigten Gewinn, wenn die Entnahme in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der Veräußerung des Mitunternehmeranteils erfolgt36. Den engen sachlichen Zusammenhang sah
__________
34 BFH v. 26.3.1996 – IX R 51/92, BFHE 180, 330 = BStBl. II 1996, 443. Drüen in Tipke/ Kruse, § 42 AO Rz. 56, geht in einem derartigen Fall (lediglich) von einer unangemessenen Gestaltung i. S. des § 42 AO aus. Er vermeidet die Bezugnahme auf einen „Gesamtplan“. 35 BFH. v. 6.9.2000 – IV R 18/99, BFHE 193, 116 = BStBl. II 2001, 229. Im Urteil v. 20.1.2005 – IV R 14/03, BFHE 209, 95 = BStBl. II 2005, 395, bestätigt der IV. Senat des BFH ausdrücklich seine „Gesamtplanrechtsprechung“ aus dem Jahre 2000. Vgl. zu der Thematik auch Gratz in Herrmann/Heuer/Raupach, § 6 EStG Anm. 1363. 36 BFH v. 24.8.1989 – IV R 67/86, BFHE 158, 329 = BStBl. II 1990, 132.
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der BFH darin, dass der Erwerber des reduzierten Mitunternehmeranteils im Kaufvertrag mit der (Vorab-)Entnahme einverstanden war. Der enge zeitliche Zusammenhang wurde angenommen, weil zwischen der Entnahme und der Übertragung des reduzierten Mitunternehmeranteils nur ein Tag lag. Das Urteil des IV. Senats des BFH macht deutlich, dass die Gesamtplanrechtsprechung nicht nur aus dem Blickwinkel des § 42 AO zu sehen und zu würdigen ist, vielmehr auch zugunsten des Steuerpflichtigen wirken kann37. 3. Die Kettenschenkung Als eine Kettenschenkung wird eine Zuwendung verstanden, die eine Mittelsperson nach Erhalt durch den Schenker entsprechend einer bestehenden Verpflichtung in vollem Umfang an einen Dritten weitergibt. Eine derartige Schenkung wurde vom II. Senat des BFH früher als Gestaltungsmissbrauch nach § 42 AO beurteilt38. Nun stellt der II. Senat schenkungsteuerrechtlich auf das beabsichtigte und erzielte wirtschaftliche Ergebnis ab. Er geht davon aus, dass die Mittelsperson, weil sie ohne eigene Entscheidungsmöglichkeit den ihr zugewendeten Geldbetrag weiterzuleiten hat, nicht bereichert und also nicht beschenkt worden sei. Vielmehr liege unmittelbar eine Schenkung an den Dritten vor39. In diesem Fall wird also weder auf § 42 AO noch auf den „Gesamtplan“ ausdrücklich Bezug genommen. Inhaltlich entspricht die getroffene Entscheidung aber voll der Gesamtplanrechtsprechung, die das plangemäß erreichte Endergebnis und nicht die einzelnen zivilrechtlichen Teilschritte zur Besteuerungsgrundlage nimmt. Wolfsteiner40 äußert gegenüber der Rechtsfigur des Gesamtplans insbesondere im Verkehrsteuerrecht Bedenken; er befürchtet, dass der Gesamtplan nicht anerkannt werde, wenn bei seiner Befolgung eine geringere Steuerbelastung zu erwarten ist. Diese Befürchtung ist unberechtigt, was insbesondere das Rechtsprechungsbeispiel vorstehend unter IV.2.b (Veräußerung von Mitunternehmeranteilen) zeigt. Dort wird von der Rechtsprechung verdeutlicht, dass ein anerkannter Gesamtplan auch dazu führen kann, in den Genuss einer Steuervergünstigung zu gelangen. Entsprechendes gilt in dem von Wolfsteiner gebildeten Schenkungsteuerfall: Im Ausgangsfall, in dem die Kettenschenkung vom Vater an den Sohn mit der Auflage, den geschenkten Betrag an seine Frau (die Schwiegertochter des Geldgebers) weiterzugeben, als Schenkung des Schwiegervaters an seine Schwiegertochter beurteilt wird und folglich nur der niedrigere Freibetrag der Steuerklasse II berücksichtigt wird, wirkt sich die Gesamtplanbetrachtung ungünstig aus. Wolfsteiner entwickelt diesen Fall dahingehend weiter, dass sowohl im
__________ 37 Vgl. hierzu auch Damas/Ungemach, DStZ 2007, 552 (554); Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114 f.; Spindler, DStR 2005, 1 und DNotP 2006, 442 (443). 38 BFH v. 14.3.1962 – II 218/59 U, BFHE 74, 554 = BStBl. III 1962, 206. 39 BFH. v. 13.10.1993 – II R 92/91, BFHE 172, 520 = BStBl. II 1994, 128. 40 Wolfsteiner, DNotP 2007, 89.
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Verhältnis von Vater zu Sohn als auch im Verhältnis des Sohnes zu seiner Ehefrau die gesetzlichen Freibeträge bereits voll ausgeschöpft sind, während im Verhältnis des Geldgebers zu seiner Schwiegertochter der Freibetrag noch in Anspruch genommen werden kann. Nach Gesamtplan würde dann die Schenkung (an die Schwiegertochter) nach Abzug des Freibetrags in der Steuerklasse II nur einmal – z. B. bei Zuwendungen von 600 000 bis 6 000 000 – mit 30 v. H. besteuert, während bei der Besteuerung der beiden (zivilrechtlichen) Einzelvorgänge (Vater an Sohn und Sohn an Ehefrau) in der Steuerklasse I zweimal 19 v. H., insgesamt also 38 v. H., Steuern ohne Vorwegabzug eines Freibetrags anfallen. Abgesehen davon, dass ein steuerkundiger Schwiegervater bei diesen Voraussetzungen den steuerlich wenig vorteilhaften Zuwendungsumweg über seinen Sohn kaum wählen würde, müsste eine von ihm gleichwohl gewählte „Umwegfinanzierung“ dazu führen, dass mit Rücksicht auf den Gesamtplan die günstigere Besteuerung auf der direkten Linie Schwiegervater – Schwiegertochter, also mit einmal 30 v. H., greift. Voraussetzung dafür ist lediglich, dass die konstitutiven Merkmale eines Gesamtplans sämtlich erfüllt sind41. 4. Die zwischengeschaltete Kapitalgesellschaft Die Nichtberücksichtigung einer zwischengeschalteten Kapitalgesellschaft im Rahmen des gewerblichen Grundstückshandels hatte der III. Senat des BFH – unter ausdrücklicher Ablehnung einer unmittelbaren Tatbestandsverwirklichung seitens des initiierenden Steuerpflichtigen – auf § 42 AO gestützt42. Der X. Senat des BFH stellt dagegen unter Rekurs auf die Figur der „mittelbaren Tatherrschaft“ darauf ab, dass der Steuerpflichtige den Handlungstatbestand selbst verwirkliche und ihm der Handlungserfolg zuzurechnen sei, wenn er ein anderes Rechtssubjekt lediglich „formal“ zwischenschalte. Dann bedürfe es keines Rückgriffs auf § 42 AO43. Der X. Senat führt in seinem Urteil aus-
__________ 41 Wolfsteiner, DNotP 2007, 89 (90), begründet seine Zweifel gegen die Gesamtplanrechtsprechung bei Verkehrsteuern auch damit, dass „gegenwärtig die gesamte Beratungspraxis damit beschäftigt sei, Gesamtpläne zu entwerfen, bei denen die IndizWirkung nicht mehr greift“; die Rechtsprechung provoziere also Steuerhinterziehung. Diese Überlegungen sind kaum nachvollziehbar. Es ist doch jedermann erlaubt, vom Gesetzgeber oder von der Rechtsprechung festgesetzte Betrags- oder ZeitGrenzen zu beachten, aber auch gestalterisch zu nutzen. Der Steuerberater, der seinem Mandanten rät, die 10-Jahres-Grenze des § 14 ErbStG zu beachten und erst danach eine weitere Schenkung vorzunehmen, oder der einem Architekten empfiehlt, das vierte Grundstücksobjekt erst nach Ablauf der bekannten 5-Jahres-Frist zu veräußern, um nicht als gewerblicher Grundstückshändler beurteilt zu werden, provoziert keine Steuerhinterziehung; er rät vielmehr zu einem steuersparenden Verhalten seines Mandanten, was ohne Zweifel erlaubt, m. E. sogar Aufgabe eines guten steuerlichen Beraters ist. 42 BFH v. 18.3.2004 – III R 25/02, BFHE 205, 470 = BStBl. II 2004, 787. 43 BFH v. 15.3.2005 – X R 39/03, BFHE 209, 320 = BStBl. II 2005, 817. Drüen in Tipke/ Kruse, § 42 AO Rz. 65, bezieht sich auch hier nicht auf den „Gesamtplan“. Er begründet dasselbe Ergebnis lediglich mit § 42 AO, indem er auf die Entscheidung des III. Senats des BFH aus dem Jahre 2004 (vgl. Fn. 42) verweist.
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drücklich – und m. E. zutreffend – weiter aus, dass er mit seiner Entscheidung nicht von dem zuvor bezeichneten Urteil des III. Senats abweiche44. 5. Der Verzicht auf Arbeitslohn Der I. Senat des BFH hat entschieden, dass ein Arbeitsverhältnis dann als ein steuerrechtlich nach § 41 Abs. 2 AO unbeachtliches Scheingeschäft zu beurteilen ist, wenn ein Arbeitnehmer seinen Arbeitslohn aufgrund eines bewussten und gewollten Zusammenwirkens mit dem Arbeitgeber „in Verwirklichung eines Gesamtplans“ unmittelbar nach Erhalt zurückzahlt45. In dem Urteilsfall hatte ein gemeinnütziger Verein seinen Mitgliedern für deren Mithilfe bei geselligen Veranstaltungen Entgelte gezahlt, auf die die Mitglieder bereits vorher verzichtet hatten und die sie dementsprechend nach Erhalt sogleich zurückgewährten. Der BFH ging in diesem Urteilsfall davon aus, dass aufgrund des Gesamtplans schon kein Arbeitsverhältnis anzunehmen sei, aber auch keine Entgelte beim Verein abgeflossen und bei den Mitgliedern zugeflossen seien; der Tatbestand des Lohnzuflusses sei also nicht verwirklicht worden. Er begründete sein Ergebnis allerdings darüber hinaus damit, dass ein Scheingeschäft vorgelegen habe. Die Entscheidung zeigt einmal mehr, dass das Argumentationsmuster „Gesamtplan“ nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Gestaltungsmissbrauchs zu sehen ist46. 6. Die wechselseitige Vermietung Bei der wechselseitigen Vermietung gleichartiger Wohnungen, die zwei Arbeitnehmer am selben Tag in derselben Wohnanlage gekauft und sich innerhalb von 14 Tagen gegenseitig für eine gleich lange Zeit vermietet haben, nahm der IX. Senat des BFH „bei Berücksichtigung der Gesamtumstände“ einen Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten i. S. des § 42 AO an, weil die zivilrechtliche Gestaltung „rein formal“ gewählt worden sei, um die Minderung der Einkommensteuerbelastung durch den Abzug von Zinsaufwendungen als Werbungskosten erreichen zu können47. Er führte weiter aus, dass der Steuerpflichtige sich so behandeln lassen müsse, „als hätte er seine Eigentumswohnung im Streitjahr nicht vermietet“. Nicht der formale, sondern der tatsächliche wirtschaftliche Vorgang sei der Besteuerung zugrunde zu legen. Die Entscheidung hätte demnach wohl ebenso auf einen „Gesamtplan“ der beiden Beteiligten gestützt werden können, zumal der BFH ausdrücklich die
__________ 44 Eine Abweichung liegt deshalb nicht vor, weil beide Senate zu dem selben steuerlichen Ergebnis kommen. Die unterschiedliche Begründung bedeutet keine Abweichung im Sinne des § 11 Abs. 2 FGO. 45 BFH v. 5.12.1990 – I R 5/88, BFHE 163, 87 = BStBl. II 1991, 308. 46 Siehe auch BFH v. 27.6.2006 – IX R 25/05, BFH/NV 2007, 657 = HFR 2007, 557, mit dem das vorbezeichnete BFH-Urteil I R 5/88 ausdrücklich bestätigt wurde. 47 BFH v. 19.6.1991 – IX R 134/86, BFHE 164, 498 = BStBl. II 1991, 904; ebenso Drüen in Tipke/Kruse, § 42 AO Rz. 68.
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„Gesamtumstände“ berücksichtigte und ein enger sachlicher und zeitlicher Zusammenhang unverkennbar war.
V. Ergebnisse 1. Das Argumentationsmuster des Gesamtplans betrachtet den wirtschaftlichen Gehalt von sachlich ineinander greifenden, zeitgleich oder zeitnah miteinander abgeschlossenen Rechtsakten als Einheit, soweit die Rechtsakte keine eigenständige Bedeutung haben. Es werden also mehrere (formal-)rechtliche Teil- oder Zwischenschritte (insbesondere Kettengeschäfte) zu einem wirtschaftlich einheitlichen Gesamtbild zusammengefasst und gegenläufige Gestaltungen (Ausweich- und Korrekturgeschäfte)48 in ihrer wirtschaftlichen Wirkung saldiert. Damit wird der Sachverhalt nicht umgedeutet, sondern in seiner tatsächlichen wirtschaftlichen Ausgestaltung gewürdigt. Die wiedergegebene Übersicht über einen Teil der BFH-Rechtsprechung zum Gesamtplan veranschaulicht, dass diese Rechtsfigur in fast allen Steuerrechtsgebieten Bedeutung erlangen kann. Der „Gesamtplan“ wird in zahlreichen BFH-Urteilen ausdrücklich angesprochen. Es gibt indessen auch Entscheidungen, in denen er nur „zwischen den Zeilen“ steht, in denen diese Rechtsfigur also lediglich in ihren Grundzügen erkennbar und benutzt wird. Das Argumentationsmuster des Gesamtplans wird zumeist unter dem Gesichtspunkt des Gestaltungsmissbrauchs erörtert49. Das beruht darauf, dass dieses Muster, was die Rechtsprechungsbeispiele gezeigt haben, weitgehend auf der Basis des § 42 AO entwickelt worden ist und häufig auch früher mit § 42 AO begründete Ergebnisse auf eine andere Begründungsebene rückt. Es erscheint deshalb auch verständlich, dass diese Rechtsfigur regelmäßig mit ähnlichen Argumenten angegriffen wird wie der Fall eines Gestaltungsmissbrauchs i. S. des § 42 AO. Gesamtplan und Gestaltungsmissbrauch sind indessen nicht deckungsgleich. Ein steuerlicher Rechtsmissbrauch ist auch ohne einen Gesamtplan denkbar. Wie gezeigt finden die Gesamtplanüberlegungen aber auch auf Gestaltungen außerhalb der Missbrauchssphäre Anwendung50. Insbesondere findet sich eine Sachnähe zum Scheingeschäft, wenn die Vertragsparteien das zunächst formal Vereinbarte durch gegenläufige Vereinbarungen wieder aufheben, in Wirklichkeit nicht wollen, also nur zum Schein vereinbart haben. Schließlich gibt es Gesamtplanfälle, die keine Berührung mit einem Gestaltungsmissbrauch oder einem Scheingeschäft haben, und insbesondere solche, die sich zugunsten der Steuerpflichtigen auswirken. 2. Die Argumentationsfigur des Gesamtplans darf nur angewandt werden, wenn ihre von der Rechtsprechung praktizierten und vom Schrifttum systematisch zusammengefassten konstitutiven Merkmale erfüllt sind. Ob das der
__________
48 Vgl. Fn. 3. 49 Vgl. statt vieler Förster in FS Korn (Fn. 5), S. 3 (5). 50 So auch Brandenberg, NWB (2008), Fach 3, 15317 (15327).
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Fall ist, ist aufgrund der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu beurteilen. Soweit sich die Finanzverwaltung im Einzelfall zum Nachteil des Steuerpflichtigen auf einen „Gesamtplan“ beruft, stehen ihm Einwendungsmöglichkeiten zu. Regelmäßig werden die Gesamtplanargumente ähnlich schwer oder ähnlich leicht zu entkräften sein wie diejenigen, die von der Finanzverwaltung für einen Gestaltungsmissbrauch ins Feld geführt werden. Denn die Argumentationslinien sind weitgehend ähnlich. Sie gehen allerdings von unterschiedlichen Denkschulen aus. Die eine will die mit dem Endschritt umgangen erscheinenden Normen aus sich heraus zur Geltung bringen, die andere sucht die Lösung unmittelbar aus § 42 AO und verwendet dabei mitunter unterstützend den Begriff des „Gesamtplans“. Einwendungen des Steuerpflichtigen gegen die Gesamtplanrechtsprechung als solche dürften allerdings kaum erfolgreich sein, weil das Argumentationsmuster nun schon seit langem51 und von verschiedenen Senaten des BFH angewandt wird, im Schrifttum von Angehörigen aller Berufsgruppen52 weitestgehend anerkannt ist und auch von der Finanzverwaltung53 in Verwaltungsanweisungen übernommen worden ist.
VI. Schlussbemerkung Wolfgang Spindler hat durch seinen Vortrag und dessen Veröffentlichung54 die „Gesamtplan“-Thematik erst richtig in den Blickpunkt der deutschen steuerrechtlichen Wissenschaft gerückt. Seitdem sind zahlreiche Veröffentlichungen hierzu erschienen55. Klar ist dabei auch geworden, dass das Argumentationsmuster „Gesamtplan“ kein Spezialthema des deutschen Steuerrechts ist. Es wird ebenso im deutschen Arbeits- und Gesellschaftsrecht verwandt56. Diese Rechtsfigur ist darüber hinaus nicht auf das deutsche Recht beschränkt. Im Steuerrecht Großbritanniens, das allerdings keinen § 42 AO ähnlichen allgemeinen Missbrauchstatbestand kennt und auch über keine § 41 Abs. 2 AO vergleichbare Regelung zur Lösung von Scheingeschäften verfügt, spielt diese Rechtsfigur eine wichtige und anerkannte Rolle57. Das US-amerikanische Recht
__________ 51 BFH v. 24.11.1982 – II R 38/78, BFHE 138, 97 = BStBl. II 1983, 429. Nach Kugelmüller-Pugh, FR 2007, 1139, gibt es bereits seit 1959 BFH-Entscheidungen, in denen der Begriff „Gesamtplan“ verwendet wird. 52 Die insbesondere in Fn. 5 genanten Autoren kommen aus der Richterschaft, der Finanzverwaltung, der Wissenschaft sowie aus den rechts- und steuerberatenden Berufen. 53 Vgl. Fn. 30. 54 Vgl. Fn. 1. 55 Vgl. insbesondere die Autoren in Fn. 5 und 6. Vgl. darüber hinaus die Dissertation von Kugelmüller-Pugh, Der steuerrechtliche „Gesamtplan“ – rechtsgrundloses Argumentationsmuster oder legitime Rechtsfigur?, 2006. 56 Vgl. Fn. 25. 57 Siehe Kugelmüller-Pugh (Fn. 55), S. 222.
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kennt in seiner praktischen Handhabung diese Rechtsfigur ebenfalls. In Belgien ist die „Gesamtplan“-Betrachtung sogar gesetzlich ausdrücklich vorgesehen58. Diese Beispiele aus anderen Rechtsgebieten dürfen jedoch nicht zu der Auffassung verleiten, dass die Rechtsfigur des Gesamtplans im deutschen Steuerrecht ebenso zweifelsfrei zulässig sei. Denn das deutsche Steuerrecht setzt ein Dictum des Gesetzgebers voraus. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis können mithin nur bei Verwirklichung des durch Gesetz umschriebenen Tatbestands entstehen. Verwirklicht der Steuerpflichtige den Tatbestand indessen arbeitsteilig, ohne dass die einzelnen Teile eine eigenständige Bedeutung haben, und sichert er sich selbst den wirtschaftlichen Erfolg des Gesamtvorgangs, so erfüllt er den maßgebenden Steuertatbestand im wirtschaftlichen Sinn59. Die Anwendung der Rechtsfigur des Gesamtplans steht somit nicht in Widerspruch zur Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung. Wolfgang Spindler hat am Ende seines Beitrags60 von „immer wieder artikulierten Bedenken gegen die Figur des ‚Gesamtplans‘“ gesprochen. Er teilt diese Bedenken, wie eingangs erwähnt, aber selbst nicht. Das seitdem veröffentlichte Schrifttum bestätigt seine Erkenntnis. Nach allem ist das Argumentationsmuster des Gesamtplans eine im deutschen Steuerrecht zulässige Rechtsfigur.
__________ 58 Siehe Tanzer, Der Gesamtplan im Rahmen der steuerlichen Tatbestände, DStJG 33 (2010), S. 189 (191). Ausführlich dazu Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114 (120). 59 Wendt (FR 2010, 386) interpretiert die Gesamtplanrechtsprechung als eine „wirtschaftliche Gesamtbetrachung mehrerer Rechtsgeschäfte“, allerdings ohne sich selbst ausdrücklich dazu zu bekennen. 60 Spindler, DStR 2005, 1 (5).
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Zum Irrtum über Steuerfolgen Inhaltsübersicht I. Problem II. Verbindliche Auskunft
V. Fehlen oder Wegfall der Geschäftsgrundlage
III. Rückgängigmachen
VI. Steuerklauseln
IV. Irrtumsanfechtung
VII. Fazit
Seit der zeitweise gemeinsamen Ausbildungszeit des Verfassers mit Wolfgang Spindler gehört zu dessen stetem Anliegen auch die Rechtssicherheit, u. a. in der Weise, dass der Steuerpflichtige die Steuerfolgen seines Verhaltens erkennen und sich darauf einrichten kann. Das Steuerrecht soll keine Lotterie sein. Stichworte sind Rechtsstaatlichkeit, Tatbestandsmäßigkeit und Vertrauensschutz1. Einen Teilaspekt dieses Themas behandelt dieser Beitrag.
I. Problem Zu den der Praxis geläufigen Situationen gehört es, dass die Finanzverwaltung aus bestimmten Sachverhalten Steuerfolgen zieht, welche die beteiligten Steuerpflichtigen vorher nicht erkannt haben. Sei es, dass die Steuerpflichtigen – aus welchen Gründen auch immer – gar keine Prüfung auf Steuerrelevanz vorgenommen haben, sei es, dass das Ergebnis ihrer Prüfung anders ausgefallen ist als später dasjenige der Finanzverwaltung. Offenbar wird diese Abweichung der Auffassungen, wenn das Finanzamt anders veranlagt, als der Steuerpflichtige erklärt hat, oder in einer späteren Betriebsprüfung. Mit den Worten des allgemeinen Sprachgebrauchs hat sich der Steuerpflichtige über die Steuerfolgen des von ihm verwirklichten Sachverhalts geirrt. Meistens bezieht sich dieser Irrtum auf die Steuerfolgen von Rechtsgeschäften, z. B. als Unkenntnis über die Steuerpflicht dem Grunde oder der Höhe nach bei einer Grundstücksoder Betriebsveräußerung, einer Umstrukturierung, eines Nachversteuerungstatbestandes nach einer Erbschaft oder Schenkung. Es kann auch ein Irrtum über die Steuerfolgen tatsächlichen Handelns vorliegen, z. B. die Unkenntnis über die möglichen Steuerentstrickungsfolgen der Aufgabe des inländischen Wohnsitzes.
__________ 1 Vgl. etwa Spindler, Werte im Steuerrecht, Stbg 2010, 49; ders., Zum Verhältnis von Besteuerungsmoral und Steuermoral, BB 2010, III.
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Solche Irrtümer über Steuerfolgen sind praktisch unvermeidlich. Zwar ist die Idealvorstellung eines Steuergesetzes, wie das Bundesverfassungsgericht formuliert hat2: „Der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips im Bereich des Abgabenwesens fordert, dass steuerbegründende Tatbestände so bestimmt sein müssen, dass der Steuerpflichtige die auf ihn entfallende Steuerlast vorausberechnen kann.“
Das klingt sympathisch und bürgernah, hat aber mit der Rechtswirklichkeit nichts zu tun. Der unberatene Steuerpflichtige hat keine Chance, aus dem Gesetzestext die Steuerfolgen seines Handelns abzulesen. Wie sollte z. B. eine bisher in Deutschland lebende Frau, die einen Ausländer heiratet und zur Führung eines gemeinsamen Hausstandes zu ihm in das Ausland zieht, und die an einer deutschen oder ausländischen Kapitalgesellschaft mit 1 % beteiligt ist, jemals auch nur ein Störgefühl für § 6 AStG entwickeln? Auch bei beratenen Steuerpflichtigen oder solchen, die mit eigener Kompetenz die Steuerfolgen ihres Handels prüfen und abschätzen können (Steuerabteilung eines Unternehmens), weichen die Steuerbeurteilungen nicht selten von den späteren Beurteilungen durch die Finanzverwaltung ab. Manche Vorschriften versteht nicht einmal der BFH3. Kurzum: Der „Irrtum“ über die Steuerfolgen ist eine geläufige Erscheinung. Seine Ursachen sind vielfältig, aber hier nicht darzustellen4. Der vorstehend beschriebene Irrtum bezieht sich auf das geltende Recht. Von anderer Art ist der Irrtum über das zukünftige Recht. Beispiele sind (unerwartete) Rechtsänderungen, die bisherige „Steuerpositionen“ entwerten, z. B. die Herabsetzung der Beteiligungsgrenze in § 17 EStG von ursprünglich mehr als 25 % auf 10 % und nunmehr 1 %, oder solche, bei deren Kenntnis man anders gehandelt hätte, z. B. eine Änderung des Erbschaftsteuerrechts in der Weise, dass Vorgänge, die bisher steuerlich belastet waren, ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht oder nur gering belastet sind, wie es mit dem ErbStG 2009 der Fall war. In diesem Beitrag geht es darum, wie sich Steuerpflichtige vor den negativen Steuerfolgen solcher Irrtümer schützen können.
II. Verbindliche Auskunft Gegen eine unerwartete steuerliche Beurteilung durch die Finanzverwaltung schützt den Steuerpflichtigen am sichersten die verbindliche Auskunft gemäß § 89 Abs. 2 AO mit der dazu ergangenen Steuer-Auskunftsverordnung vom 30.11.2007. Sie bietet dem Steuerpflichtigen wegen ihrer Bindungswirkung die größte Rechtssicherheit.
__________ 2 BVerfG v. 14.2.1965, BVerfGE 19, 253 und v. 12.10.1978, BVerfGE 49, 343. 3 BFH v. 2.8.2007, BFH NV 2007, 1498, zu § 2b EStG. 4 Siehe dazu etwa Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002.
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Allerdings kommt es zu verbindlichen Auskünften nicht so häufig, wie man angesichts des vorstehenden Befundes annehmen könnte. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Oft liegt auf Seiten des Steuerpflichtigen überhaupt kein Problembewusstsein vor. Etwa im Beispiel der unbedachten Wohnsitzaufgabe im Inland oder bei Nichtkenntnis der 10-Jahres-Frist in § 23 EStG für die steuerfreie Veräußerung privater Grundstücke, oder der beratene oder selbst steuerkenntnisreiche Steuerpflichtige ist davon überzeugt, dass seine steuerliche Würdigung richtig ist, und von der Finanzverwaltung später so geteilt werden wird. Auch bei eigenen Zweifeln über die Rechtslage unterbleibt mancher Antrag auf verbindliche Auskunft, weil er für wenig aussichtsreich gehalten wird, z. B. beim Austesten einer Rechtsmissbrauchsgrenze gemäß § 42 AO oder schlicht, weil die bekanntlich anfallenden Gebühren gescheut werden, was bei deren Höhe nicht selten vorkommt. Die Verfassungsmäßigkeit der Gebührenpflicht ist bekanntlich im Streit5. Auch wenn sie verfassungsmäßig sein sollte, sei angemerkt: Ist es anständig, dass sich der Staat die rechtssichere Auslegung der von ihm selbst geschaffenen Gesetze bezahlen lässt? Gegen zukünftige Rechtsänderungen wirkt die Auskunft ohnehin nicht, tritt vielmehr außer Kraft, wenn sich die Rechtsvorschriften, auf denen sie beruht, ändern (§ 2 Abs. 2 StAuskV). Für die Praxis bleibt als Ergebnis, dass die große Mehrzahl der Irrtümer über Steuerfolgen nicht vorher durch verbindliche Auskunft ausgeräumt werden, sondern sich erst nachher herausstellen. Dann stellt sich die Frage nach einer steuerwirksamen „Reparatur“ durch den Steuerpflichtigen.
III. Rückgängigmachen Die meisten Rechtsgeschäfte lassen sich bekanntlich zivilrechtlich durch Parteivereinbarung aufheben, auch rückwirkend. Das kann auch durch den Eintritt unerwarteter Steuerfolgen des Geschäfts motiviert sein. Wenn z. B. der Verkäufer eines Unternehmens damit gerechnet hat, auf den Veräußerungsgewinn nur den sog. halben Steuersatz gemäß §§ 16, 34 EStG entrichten zu müssen, das aber mangels Lebensalter nicht der Fall ist, könnte er mit Einverständnis des Käufers mit diesem den Kaufvertrag aufheben, zivilrechtlich auch rückwirkend (ex tunc). Zivilrechtlich vernichtet das Zweitgeschäft das Erstgeschäft. Steuerlich lassen solche Rückabwicklungen die Steuerfolgen des Erstgeschäfts unberührt und ziehen die des Zweitgeschäfts (Aufhebungsgeschäft) nach sich6. Das führt nicht selten zu noch viel belastenderen Steuerfolgen als den (zunächst) unerkannten des Erstgeschäfts. Der größte anzunehmende Unfall des Schenkungsteuerrechts tritt bekanntlich ein, wenn die Vertragsparteien, welche eine Schenkung in der Erwartung vorgenommen haben, dass keine Schenkungsteuer entstehen wird, diese Schenkung zivilrechtlich aufheben, nachdem
__________ 5 Zuletzt Nieders. FG v. 24.6.2010 – 6 K 12181/08, NWB, m. Nachweisen. 6 Drüen in Tipke/Kruse, § 38 AO Rz. 29, 34.
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sie von der Schenkungsteuerpflicht erfahren haben. Wenn das z. B. nach einer Schenkung von Eltern an ihr Kind geschieht, bleibt die Steuerpflicht der Erstschenkung in Steuerklasse I bestehen, weil § 29 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG nicht eingreift, und die freiwillige Aufhebung der Erstschenkung wird als Rückschenkung vom Kind an die Eltern gewertet, welche Erbschaftsteuer in Steuerklasse II auslöst7. Tatsächliche Handlungen lassen sich ebenfalls und erst recht nicht mit steuerlicher Wirkung beseitigen. So wird etwa die Besteuerung nach § 6 AStG mit der Aufgabe des Wohnsitzes im Inland „unwiderruflich“ verwirklicht, auch wenn der Steuerpflichtige nach Erkenntnis der Steuerfolgen nach einer Woche den Wohnsitz in Deutschland wieder aufnimmt. Die Regelung in § 6 Abs. 3 AStG (Rückkehr binnen fünf Jahren) bestätigt, dass grundsätzlich der Steuertatbestand verwirklicht war. Zu den tatsächlichen Handlungen, welche steuerlich nicht rückgängig gemacht werden können, zählen nach herrschender Meinung auch Entnahmen und Einlagen8. Für die Praxis ist danach klar, dass die Rückabwicklung von Geschäften, die unerwartete Steuerfolgen ausgelöst haben, gegen diese nicht hilft, sondern sogar zusätzlich die Gefahr weiterer (unerwarteter) Steuerfolgen des Aufhebungsgeschäfts birgt.
IV. Irrtumsanfechtung Wenn aufgrund Irrtums über die Steuerfolgen ein Rechtsgeschäft gemäß § 119 BGB erfolgreich angefochten werden könnte, wäre es zivilrechtlich gemäß § 142 BGB von Anfang an unwirksam. Das wirkt auch steuerlich und die Beteiligten könnten durch die (optionale) Anfechtung die Steuerfolgen des Geschäfts auch rückwirkend beseitigen, wenn sie nicht das wirtschaftliche Ergebnis gleichwohl eintreten und bestehen lassen (§ 41 Abs. 1 mit § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO). Aber: Nach ganz h. M. im Schrifttum und der Rechtsprechung ist der Irrtum über die Steuerfolgen ein Motivirrtum und kein Erklärungsirrtum i. S. d. § 119 BGB und ist folglich eine zivilrechtlich rückwirkende Anfechtung (§ 142 Abs. 1 BGB) nicht möglich, womit auch die steuerliche Unerheblichkeit gemäß § 41 Abs. 1 AO nicht eintreten kann9. Die Nichtbeachtlichkeit des Irrtums über Steuerfolgen ist praktisch belastend. Gerade einer der wichtigsten und jedenfalls für Steuerlaien unvermeidlichsten Irrtümer scheidet als Anfechtungsgrund aus. Sie ist auch rechtlich nicht eindeutig. Warum sollte z. B. die einkommensteuerliche Verstrickung eines Wirtschaftsguts (z. B. als Betriebsvermögen oder als Beteiligung gemäß § 17 EStG oder als Grundstück gemäß § 23 EStG), keine verkehrswesentliche Eigenschaft i. S. d. § 119 BGB darstellen? Für den Verkäufer ist das m. E. der Fall, weil von dieser „Eigenschaft“ sein Verkaufserlös nach Steuern abhängt.
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7 Piltz, ZEV 2009, 70. 8 Heinicke in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 4 EStG Rz. 336. 9 Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 41 AO Rz. 76; BFH v. 20.9.1989, BStBl. II 1990, 368; vgl. auch BFH v. 23.12.2009, BFH/NV 2010, 932.
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Dass dieses so wenig thematisiert wird, liegt wohl daran, dass die Entdeckung solcher Irrtümer zu Haftungsinanspruchnahmen der Berater und nicht zu Anfechtungsversuchen der Steuerpflichtigen führt. Zukünftige, auch ganz unerwartete Steuerrechtsänderungen begründen keine Irrtumsanfechtung nach § 119 BGB.
V. Fehlen oder Wegfall der Geschäftsgrundlage Größere praktische Bedeutung als die Irrtumsanfechtung hat das Fehlen oder der Wegfall der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB, wenn Steuerfolgen eines Rechtsgeschäfts dessen Grundlage darstellen. Für die Schenkungsteuer ist seit jeher anerkannt, dass die Steuerfreiheit der Schenkung deren Geschäftsgrundlage sein könne und dass folglich die tatsächlich doch gegebene Steuerpflichtigkeit ein Fehlen der Geschäftsgrundlage darstelle mit der Rechtsfolge der Anpassung oder Rückgängigmachung des Vertrages. Es liegt dann ein Rückforderungsrecht i. S. d. § 29 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG vor, dessen Ausübung die Schenkungsteuerpflicht rückwirkend entfallen lässt10. Im Ertragsteuerrecht findet sich das Fehlen oder der Wegfall der Geschäftsgrundlage seltener. Der BFH hat jüngst einen GmbH-Anteilsverkauf gemäß § 17 EStG wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage für steuerlich unbeachtlich erklärt11. Die Parteien hatten bei Vertragsabschluss 1996 nicht erkannt, dass sich nach damaliger Rechtslage (KSt-Anrechnungsverfahren) der Veräußerungsgewinn um in 1996 vorgenommene Ausschüttungen aus dem EK 04 erhöhen würde, und waren nach Erkenntnis dieser Steuerfolge in 2003 von dem Vertrag wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage zurückgetreten und hatten ihn durch Abtretung der Anteile und Rückzahlung des Kaufpreises rückabgewickelt. Der BFH wertete den gemeinsamen Irrtum über steuerliche Folgen als Wegfall der Geschäftsgrundlage, weil die Rechtslage erst durch ein BFH-Urteil aus 1999 hinreichend geklärt worden sei. Bei von vornherein fehlerhafter Steuerbeurteilung müsste die Geschäftsgrundlage folglich gefehlt haben. Entscheidend für die Anwendung des § 313 BGB ist, dass die Steuerfolgen Geschäftsgrundlage geworden sind, so dass ein gemeinsamer Irrtum der Vertragsparteien hierüber zu ihrem Fehlen führen kann. Grundlage eines Vertrages sind nur die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt gewordenen, aber bei Vertragsschluss zutage getretenen gemeinsamen Vorstellungen beider Vertragsparteien oder die der einen Partei erkennbaren und von ihr nicht beanstandeten Vorstellungen der anderen Partei von dem Vorhandensein oder dem Eintritt bestimmter Umstände, auf denen der Geschäftswille der Parteien auf-
__________ 10 FG Rheinland-Pfalz v. 23.3.2001, FR 2001, 653 mit Besprechung Kamps, FR 2001, 717; BFH v. 11.11.2009, BFH/NV 2010, 896 m. w. N.; BGH v. 21.12.2005, NJW RR 2006, 699: A erbt ein dem FA nicht deklariertes Wertpapierkonto und schenkt es seiner Schwester, die es deklariert. Das FA verlangt von A Einkommensteuer für die Vergangenheit und Erbschaftsteuer für das Erbe, von der Schwester Schenkungsteuer. 11 BFH v. 28.10.2009, DStRE 2009, 1517.
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baut12. Die Steuerfolgen sind also nicht Geschäftsgrundlage, wenn sie im Vertrag direkt angesprochen werden (dann kann eine Steuerklausel vorliegen, siehe unten), und auch nicht, wenn sie anlässlich der Verhandlungen ausdrücklich offen gelassen worden sind, wie es in BFH 11.11.2009 der Fall war. Dort hatten die Parteien ausdrücklich eine steuerliche Beratung durch den Notar nicht verlangt und sie wurde von diesem auch nicht vorgenommen. Dann – so der BFH – haben sie die Frage des Entstehens bzw. der Höhe der Steuer erkennbar nicht zur Grundlage des Vertrages gemacht. Die vorgenommene Aufhebung des Vertrages wegen der Annahme, dass keine Schenkungsteuer ausgelöst werde, beseitigte folglich nicht die Steuerpflicht der Schenkung i. S. d. § 29 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG. Praktisches Fazit: Der in vielen Notarverträgen routinemäßig eingefügte Satz „Der Notar hat nicht über Steuerfolgen belehrt“ gefährdet oder verhindert die Berufung auf ein Fehlen der Geschäftsgrundlage! Die Parteien, die sich das Argument des Fehlens der Geschäftsgrundlage „für den Fall der Fälle“ erhalten wollen, werden demzufolge in den die Verhandlung begleitenden Unterlagen ihre steuerlichen Vorstellungen zu dem Vertrag niederlegen. Zu berücksichtigen ist, dass das Fehlen der Geschäftsgrundlage nicht automatisch zu einer Rückgängigmachung des Vertrages führt, sondern erstrangig zu einer Anpassung. Letzterenfalls bleiben die Steuerfolgen des Rechtsgeschäfts im Rahmen der Anpassung bestehen. Nur als ultima ratio, wenn die Anpassung einer Vertragspartei nicht zumutbar ist, kommt die Beseitigung des Rechtsgeschäfts in Betracht, wie es in BFH v. 28.10.2009 der Fall war. Ob zukünftige Rechtsänderungen einen Wegfall der Geschäftsgrundlage darstellen können, ist eine wegen der hohen Änderungsfrequenz auch praktisch relevante Frage. Können z. B. die Parteien eines steuerpflichtigen Schenkungsvertrages diesen wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage mit Steuerwirkung beseitigen, wenn überraschend ein neues Erbschaftsteuerrecht in Kraft tritt, welches die Schenkung von der Steuer freigestellt hätte (um möglicherweise die Schenkung unter neuem Recht „zu Null“ erneut zu vollziehen)? Nach wohl h. M. ist diese Frage zu verneinen. Verfassungsrechtlich ist das Vertrauen auf den Fortbestand einer bestimmten Steuerrechtslage bekanntlich nicht geschützt13. In der Wertung gleichlaufend werden die Vorstellungen über einen Fortbestand des zum Zeitpunkt des Geschäftsabschluss geltenden Steuerrechts keine Geschäftsgrundlage i. S. d. § 313 BGB darstellen können14. Angesichts der ständigen Änderungen der Steuergesetzgebung sollen steuerliche Erwartungen nur dann Geschäftsgrundlage sein können, wenn das während der Vertragsverhandlungen hinreichend zum Ausdruck gekommen ist. Aus der Sicht der Steuerpflichtigen wirkt das unbefriedigend: Soll die vom Gesetzgeber zu verantwortende Unberechenbarkeit des Steuerrechts dessen Eignung als Geschäftsgrundlage ausschließen? Ist dann der Gegenschluss zulässig, dass die Änderung
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12 BFH v. 11.11.2009, BFH/NV 2010, 896. 13 Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, S. 118 f. m. w. N. 14 Grüneberg in Palandt, 69. Aufl. 2010, § 313 BGB Rz. 34; vgl. auch Roth in Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2007, § 313 BGB Rz. 180.
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einer schon seit vielen Jahrzehnten bestehenden Steuervorschrift sehr wohl einen Wegfall der Geschäftsgrundlage begründen könne? Meines Erachtens hat das Steuerrecht insofern keine Sonderrolle, nur weil es änderungsanfälliger ist als viele andere Rechtsgebiete. Seine Änderungen begründen einen Wegfall der Geschäftsgrundlage unter den gleichen Bedingungen, zu denen dies bei anderen Rechtsänderungen der Fall ist15.
VI. Steuerklauseln Das Fazit der bisherigen Erkenntnis ist, dass der Irrtum über Steuerfolgen (des geltenden Rechts oder von Rechtsänderungen) meistens nicht oder nur unter großer Rechtsunsicherheit eine auch steuerlich rückwirkende Beseitigung des unter Irrtum abgeschlossenen Rechtsgeschäfts ermöglicht (wenn keine verbindliche Auskunft relevant ist). Angesichts vieler Unberechenbarkeiten im geltenden Recht und der künftigen Rechtsentwicklung verdient hier m. E. das Rechtsinstitut der Steuerklausel eine Renaissance. Eine Steuerklausel im hiesigen Sinne macht die zivilrechtliche Wirksamkeit eines Vertrages davon abhängig, dass die steuerlichen Folgen, von denen die Parteien ausgehen, von dem Finanzamt in einer späteren Steuerfestsetzung ebenso gesehen werden. Folgt das Finanzamt der Rechtsauffassung der Steuerpflichtigen nicht, so soll der Vertrag von vornherein unwirksam sein16. Materiell-rechtlich beruht das auf § 41 Abs. 1 AO. Verfahrensrechtlich erfolgt die Korrektur bei noch offener Veranlagung in deren Rahmen, danach gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO (rückwirkendes Ereignis)17. Allerdings befinden sich Steuerklauseln derzeit teilweise noch im steuerlichen „Zwielicht“. Für die Praxis geklärt sind folgende Fragen: Die Steuerklausel kann nur Rechtsgeschäfte betreffen, nicht tatsächliche Vorgänge. Wenn jemand z. B. seinen deutschen Wohnsitz aufgibt und unsicher ist, ob er dadurch die Wegzugsbesteuerung gemäß § 6 AStG auslöst, dann kann der tatsächlich vorgenommene Wegzug auch mit Hilfe einer Steuerklausel nicht wieder ungeschehen gemacht werden. Eine steuerliche Wirkung kommt der Steuerklausel nach Auffassung des BFH nur zu, wenn sie dem Finanzamt vor dessen Entscheidung bekannt gegeben worden ist18. Das ist nach überwiegender Auffassung zwar eine rechtswidrige Einschränkung19, aber eine verständliche. Der Steuerpflichtige soll nicht die Möglichkeit haben, bei riskanten Steuerkonstruktionen darauf zu spekulieren, dass das Finanzamt „nichts merkt“ und wenn es doch etwas merkt, sich mit
__________ 15 Dazu Roth in Münchener Kommentar (Fn. 14), § 313 BGB Rz. 171 ff. 16 Als Steuerklauseln werden auch verschiedene andere Vertragsregelungen bezeichnet, z. B. in Unternehmenskaufverträgen zu der Frage, wer Steuerlasten in Zusammenhang mit dem verkauften Unternehmen aus der Vergangenheit trägt. Diese werden hier nicht behandelt. 17 BFH v. 28.10.2009, DStRE 2009, 1517 a. E. 18 BFH v. 24.11.1992, BStBl. II 1993, 296. 19 v. Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 175 AO Rz. 312.
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der Steuerklausel aus der Affäre ziehen können. Der BFH folgert das juristisch aus dem Gedanken, dass niemand aus einer von ihm treuwidrig herbeigeführten Lage Vorteile erzielen soll (vgl. § 162 BGB). Steuerklauseln wirken natürlich nur, wenn das steuerrelevante Rechtsgeschäft auch tatsächlich rückgängig gemacht wird. Das ordnet § 41 Abs. 1 AO ausdrücklich an. Im Übrigen ist die steuerliche Wirksamkeit einer zivilrechtlich zulässigerweise vereinbarten Steuerklausel trotz langjähriger Diskussion immer noch nicht allgemein anerkannt, vielmehr ist zwischen den Steuergesetzen zu differenzieren. Anerkannt sind Steuerklauseln im Schenkungsteuerrecht. Sie sind in § 29 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG angelegt. Unter diese Vorschrift fällt auch die Rückgabe eines Geschenks wegen Eingreifens einer Steuerklausel (Beispiel: „Von diesem Vertrag kann der Schenker rückwirkend zurücktreten, wenn das Finanzamt eine Schenkungsteuer festsetzt.“)20. Es steht auch nichts entgegen, die Wirksamkeit eines Schenkungsvertrages von dem Nichtüberschreiten einer bestimmten Steuerhöhe abhängig zu machen oder von dem Eingreifen der sog. Unternehmensbegünstigungen gemäß § 13a ErbStG. Ebenso unstreitig können Steuerklauseln zum nachträglichen Wegfall der Grunderwerbsteuer gemäß § 16 GrEStG führen. Im Ertragsteuerrecht ist die Rechtslage nicht so klar. Im Schrifttum werden Steuerklauseln nach heute herrschender Meinung für wirksam gehalten21. Dagegen scheint die Rechtsprechung noch offen zu sein. Die letzte ersichtliche ausdrückliche Äußerung des BFH datiert vom 24.11.199222 und lautet: „Der Senat kann unerörtert lassen, ob eine Steuerklausel zivilrechtlich als echte auflösende Bedingung i. S. d. § 158 Abs. 2 BGB (…) oder als eine unechte Gegenwartsbedingung zu beurteilen ist (…). Ebenso kann offen bleiben, ob eine rechtsgeschäftlich vereinbarte Steuerklausel grundsätzlich auch steuerrechtlich wirksam ist (…), ggf. zu welchem Zeitpunkt.“
In dem konkreten Fall scheiterte die steuerliche Wirksamkeit der Steuerklausel daran, dass sie dem Finanzamt nicht bekannt gegeben worden war. Dass Steuerklauseln nicht unstreitig auch im Ertragsteuerrecht anerkannt werden, ist eigentlich verwunderlich. Denn der Gesetzgeber selbst kannte und akzeptierte das Phänomen. In den Materialien zu § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO23 heißt es: „Auch in den Fällen steuerlich wirksamer Steuerklauseln (vgl. BFH in BStBl. III 1962, 112) wird Nr. 2 anwendbar sein.“
__________ 20 Troll/Gebel/Jülicher, § 29 ErbStG Rz. 24; Wachter, ZEV 2002, 176. 21 v. Wedelstedt in Beermann/Gosch, § 175 AO Rz. 57; Fischer in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 41 AO Rz. 135; Tipke/Lang (Fn. 13), S. 181, alle m. w. N. 22 BStBl. II 1993, 296. 23 BT-Drucks. IV/1982, 155.
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Wenn der BFH im Urteil v. 24.11.199224 erkennt, dass „eine Steuerklausel dazu dient, nachteilige Folgen bestehender Rechtsunsicherheit oder Rechtsungewissheit zu vermeiden“ und der Gesetzgeber diesen Gedanken in der AO schon zehn Jahre vorher aufgegriffen hat, ist nicht zu erkennen, was der steuerrechtlichen Anerkennung auch im Ertragsteuerrecht noch entgegenstehen sollte. M. E. würde der BFH Steuerklauseln heutzutage positiver sehen25. Steuerklauseln können für die Steuerpflichtigen auch zukünftige Steuerrechtsänderungen (in Grenzen) beherrschbar machen. Musterfall hierfür sind wiederum Änderungen des ErbStG, insbesondere durch das ErbStG 2009. Bevor es und sein Inkrafttretenszeitpunkt bekannt wurden, fragten sich viele schenkungswillige Personen, ob die Schenkung unter altem oder neuem Recht steuerlich für sie günstiger sein würde. Es lag nahe, eine unter altem Recht vorzunehmende Schenkung für den Fall unter einen Rücktrittsvorbehalt zu stellen, dass das neue Recht zu einer niedrigeren Erbschaftsteuer führen würde, um die Schenkung unter neuem Recht erneut und „billiger“ vornehmen zu können. Der Gesetzgeber hat diese spezielle Steuerklausel sogar im Gesetz aufgegriffen. Gemäß § 37 Abs. 3 ErbStG 2009 sind die Unternehmensbegünstigungen dann nicht anzuwenden, wenn das Vermögen bereits in der Vergangenheit Gegenstand einer Schenkung war und wegen eines vertraglichen Rückforderungsrechts nach dem 11.11.2005 herausgegeben werden musste. Diese gesetzliche Regelung setzt die grundsätzliche Anerkennung einer solchen Klausel voraus. Die Grundkonstellation kommt auch im Ertragsteuerrecht vor. Als z. B. die Einführung der Steuerbefreiung für Gewinne aus Beteiligungveräußerungen gemäß § 8b Abs. 2 KStG diskutiert wurde, aber noch nicht sicher war, lag es nahe, einen entsprechenden Kaufvertrag mit der Klausel zu versehen, dass im Falle der Einführung der Befreiung der Kaufvertrag rückwirkend beseitigt werden könne, um ihn später erneut, aber steuergünstiger abschließen zu können. Kann also zwar eine verbleibende Rechtsunsicherheit über Steuerklauseln nicht gänzlich vermieden werden, ist es praktisch trotzdem richtig, sie in Verträge mit gravierenden aber unsicheren Steuerfolgen aufzunehmen. Denn man kann mit einer Steuerklausel, wenn sie richtig formuliert ist, nur gewinnen. Wenn sie dem Vertrag nicht beigefügt ist, sind dessen Steuerfolgen auf keinen Fall wieder zu beseitigen, weil die schlichte Rückgängigmachung des Vertrages das bekanntlich nicht bewirken kann (siehe oben). Ist die Steuerklausel dagegen vereinbart, besteht wenigstens eine Chance auf die rückwirkende Vernichtung des Rechtsgeschäfts auch mit steuerlicher Wirkung. Richtigerweise werden Steuerklauseln deshalb optional formuliert, d. h. so, dass die Parteien oder eine von ihnen den Vertrag rückgängig machen können, aber nicht müssen. Meistens nicht zu empfehlen ist der automatische Eintritt der Unwirksamkeit des Vertrages, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Parteien den Vertrag trotz der unerwünschten Steuerfolgen doch bestehen lassen wollen (was
__________ 24 Fn. 18. 25 Vgl. auch BFH v. 30.11.1994, BFH/NV 1995, 665; v. 19.8.2003, BStBl. II 2004, 107.
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z. B. bei vielen Schenkungsverträgen vor dem ErbStG 2009 der Fall war). Seine wirtschaftliche Durchführung trotz zivilrechtlicher Unwirksamkeit würde zwar auch die Steuerfolgen bestehen lassen (§ 41 Abs. 1 AO). Aber der Vertrag wäre zivilrechtlich unwirksam, was entsprechende Rückabwicklungsansprüche auslösen kann. Die optionale Steuerklausel kann dem Sinn nach formuliert werden: „Wenn das Finanzamt die Steuer aufgrund dieses Vertrages anders festsetzt als [Beschreibung der erwarteten Steuerfolgen], können die Parteien [oder eine] von diesem Vertrag zurücktreten und ist die Rücktrittserklärung auflösende Bedingung für den Vertrag.“
VII. Fazit Der Irrtum über Steuerfolgen kommt in der Rechtswirklichkeit häufig vor. Die Beseitigung des hierauf beruhenden Rechtsgeschäfts mit steuerlicher Wirkung ist durch schlichtes Rückgängigmachen oder Irrtumsanfechtung oder Berufung auf die Geschäftsgrundlage nicht oder nur unter erheblicher Rechtsunsicherheit möglich. Wenn keine verbindliche Auskunft beantragt wird, empfiehlt sich deshalb die Einfügung einer Steuerklausel in den Vertrag, wonach dieser zivilrechtlich und steuerrechtlich rückwirkend beseitigt werden kann. Die optionale Ausgestaltung ist der unbedingten vorzuziehen.
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Gewinnerzielungsabsicht als Anwendungsfall des Fremdvergleichs Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Gewinnerzielungsabsicht: Innere Tatsache oder Aufforderung zum Fremdvergleich? 1. Gesetzliche Grundlagen 2. Bisheriges Verständnis der Gewinnerzielungsabsicht a) Gewinnerzielungsabsicht als innere Tatsache b) Eignung der Kriterien zur Feststellung der Gewinnerzielungsabsicht als innere Tatsache
c) Ergebnis 3. Anerkennung von Verlusten nach Maßgabe eines Fremdvergleichs III. Der Fremdvergleich im Rahmen einzelner Einkunftsarten 1. Gewinneinkunftsarten 2. Überschusseinkunftsarten a) Kapitalvermögen und sonstige Einkünfte b) Vermietung und Verpachtung IV. Fazit
I. Vorbemerkung Verfahren, in denen es darum geht, ob vom Steuerpflichtigen geltend gemachte Verluste anzuerkennen sind, weil die Tätigkeit des Steuerpflichtigen die Merkmale eines Einkunftstatbestandes erfüllt, oder ob es sich um steuerrechtlich unbeachtliche sog. Liebhaberei handelt, beschäftigen die Finanzgerichte immer wieder. Auf den ersten Blick mag dies überraschen, weil der BFH im Anschluss an den grundlegenden Beschluss des Großen Senats v. 25.6.19841 die Anforderungen, die für die Anerkennung von Verlusten gelten, in einer Vielzahl von Entscheidungen einkunftsartbezogen präzisiert hat. Gerade der Jubilar, dem die Problematik der sog. Liebhaberei sowohl als Tat- als auch als Revisionsrichter bestens vertraut ist, hat durch die Rechtsprechung seines IX. Senats zu den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, bei denen das Phänomen nach zutreffender Einschätzung von Pezzer2 „so markant wie wohl nirgends sonst aufscheint“, einen erheblichen Beitrag zu deren praxisgerechter Lösung geleistet. Selbst die langjährigen Bemühungen des BFH, im Bereich der Liebhaberei für Klarheit und Rechtssicherheit zu sorgen, können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Richter sich im Einzelfall meist „auf schwankendem
__________ * Der Verfasser dankt Herrn Richter am FG Dr. Dirk Wüllenkemper für maßgebliche Mitarbeit an dem vorliegenden Beitrag. 1 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751. 2 StuW 2000, 457 (458).
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Boden“3 befindet. Dies ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass die normativen Vorgaben eher schwach ausgeprägt sind und die Arbeit am Sachverhalt umso bedeutsamer ist. Gerade deswegen sollte der Richter sich in einem Liebhabereifall den rechtlichen Maßstab stets besonders bewusst machen, um die Tatsachenfeststellung in die richtige Richtung zu lenken. Wolfgang Spindler hat dazu durch das von ihm initiierte Symposium zu „Subjektiven Tatbestandsmerkmalen im Steuerrecht“ am 20.3.2007 im BFH4 einen außerordentlich wertvollen Beitrag geleistet. Insbesondere Paul Kirchhof5 und Weber-Grellet6 haben dabei Ansätze für ein neues Verständnis des Merkmals „Gewinnerzielungsabsicht“ entwickelt, die aus Sicht der Praxis im Verhältnis zur bisherigen Auslegung dieses Begriffs hilfreicher erscheinen und denen deshalb weiter nachgegangen werden soll.
II. Gewinnerzielungsabsicht: Innere Tatsache oder Aufforderung zum Fremdvergleich? 1. Gesetzliche Grundlagen Bei der Besteuerung des Einkommens stehen naturgemäß positive Einkünfte im Vordergrund (§ 2 Abs. 2 EStG), doch lässt der Gesetzgeber – wie ein Blick etwa auf § 10d EStG zeigt – auch Verluste zum Abzug zu. Halten diese Verluste an, stellt sich, weil die Einkommensteuer wie jede andere Steuer auch der Finanzierung staatlicher Aufgaben dient, die Frage, ob sie dauerhaft berücksichtigt werden können7. Dies ist der Fall, wenn es sich nicht um Liebhaberei, sondern um tatbestandsmäßiges Verhalten handelt. Der BFH8 definiert den als Synonym für fehlende Gewinnerzielungsabsicht verwendeten Begriff „Liebhaberei“ als Betätigung, die nicht Ausdruck eines wirtschaftlichen, auf Erzielung von Erträgen gerichteten Verhaltens ist, sondern auf privater Neigung beruht. Der Begriff der „Liebhaberei“ wurde erstmals vom Preußischen Oberverwaltungsgericht9 verwendet. Der RFH10 hat ihn übernommen und fortgeführt, ebenso zunächst auch der BFH11. Der Große Senat des BFH hat ihn im bereits erwähnten Beschluss v. 25.6.198412 nur einmal kurz benutzt; ansonsten hat er es vorgezogen, auf das in § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG normierte Merkmal der Gewinnerzielungsabsicht abzustellen. Angesichts der Negativabgrenzung der ge-
__________ 3 4 5 6 7 8 9 10
Leingärtner, DStR 1985, 131 (132). Vgl. dazu den Tagungsbericht von G. Wendt u. a., Beihefter zu DStR 2007, Heft 39, 3. Beihefter zu DStR 2007, Heft 39, 11. Beihefter zu DStR 2007, Heft 39, 40. Leingärtner, FR 1979, 105 (108). BFH v. 22.11.1979 – IV R 88/76, BStBl. II 1980, 152. Pr. OVG v. 14.12.1894 – Rep. V. 16/94, OVGSt. 3, 150 (154). RFH v. 14.3.1929 – VI A 1473/28, RStBl. 1929, 329, und v. 14.1.1934 – VI A 1230/31, RStBl. 1934, 501. 11 BFH v. 27.6.1968 – IV 69/63, BStBl. II 1968, 815, und v. 22.11.1979 – VI R 88/76, BStBl. II 1980, 152. 12 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751.
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werblichen Einkünfte von den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft und aus selbständiger Arbeit gilt dieses Merkmal auch für diese Einkunftsarten13. § 15 Abs. 3 EStG spricht verallgemeinernd von Einkünfteerzielungsabsicht, um steuerlich relevantes von steuerlich irrelevantem Verhalten abzugrenzen. Der Begriff „Liebhaberei“ findet sich im deutschen Einkommensteuerrecht14 allein in § 8 der V zu § 180 Abs. 2 AO, jedoch ohne Definition, sondern nur als Beschreibung dafür, dass ein Betrieb „nicht mehr der Erzielung von Einkünften“ i. S. von § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 EStG dient. Aus dem Umstand, dass es um die Abgrenzung einer besteuerungsrelevanten Tätigkeit von einem steuerrechtlich unbeachtlichen Verhalten geht, wurde eine normative Lösung auch in den den Abzug von Erwerbsaufwendungen regelnden Vorschriften (§ 4 Abs. 4, § 9 EStG) bzw. in der den Abzug privater Aufwendungen ausschließenden Bestimmung des § 12 Nr. 1 EStG gesucht15. Einkunftsartübergreifend wird ferner § 2 Abs. 1 Satz 1 EStG, der nur vom Steuerpflichtigen „erzielte“ Einkünfte der Einkommensteuer unterwirft, entnommen, dass lediglich Einkünfte, die Ausdruck erwerbsgerichteten Verhaltens sind, steuerlich berücksichtigt werden sollen16. Damit sind ausreichende normative Ansätze vorhanden, um sich vom Begriff der Liebhaberei, der vom Steuerpflichtigen bisweilen als ehrenrührig empfunden wird, lösen zu können. Ein für die Subsumtion geeigneter Obersatz ist damit angesichts der Unbestimmtheit der in den angeführten Vorschriften verwendeten Begriffe aber noch nicht gefunden. Sie bedürfen – allen voran das Merkmal der Gewinn- bzw. Einkünfteerzielungsabsicht – einer Entfaltung durch die Rechtsprechung, um sie in der täglichen Rechtsanwendung handhabbar zu machen. 2. Bisheriges Verständnis der Gewinnerzielungsabsicht a) Gewinnerzielungsabsicht als innere Tatsache Der Große Senat des BFH17 hat das Tatbestandsmerkmal Gewinnerzielungsabsicht so verstanden, dass es dem Steuerpflichtigen darum gehen müsse, auf Dauer gesehen nachhaltig Überschüsse im Sinne eines positiven Gesamtergebnisses der voraussichtlichen Vermögensnutzung zu erzielen. Abzustellen sei nicht auf den Periodengewinn, sondern auf den Totalgewinn, d. h. auf das Gesamtergebnis des Betriebs von der Gründung bis zur Veräußerung. Die Gewinnerzielungsabsicht sei eine innere Tatsache, auf die aus objektiven Umständen zu schließen sei. Bei längeren Verlustperioden müsse die Feststel-
__________ 13 Vgl. z. B. BFH v. 12.9.2002 – IV R 60/01, BStBl. II 2003, 85. 14 In Österreich gibt es seit 1993 eine Liebhaberei-Verordnung (BGBl. Nr. 33/1993 i. d. F. BGBl. II Nr. 358/1997). 15 Vgl. BFH v. 21.10.1980 – VIII R 81/79, BStBl. II 1981, 452; ebenso Weber-Grellet, DStR 1992, 561 (562). 16 Heuermann, StuW 2003, 101 (102); Pezzer, Beihefter zu DStR 2007, Heft 39, 16. 17 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751.
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lung möglich sein, dass der Steuerpflichtige die verlustbringende Tätigkeit nur aus im Bereich seiner Lebensführung liegenden persönlichen Gründen oder Neigungen ausübe. Sämtliche Ertragsteuersenate des BFH sind dieser Auslegung gefolgt18. Im Schrifttum wurden die negative Totalgewinnprognose und das Vorhandensein persönlicher Motive als Kriterien für fehlende Gewinnerzielungsabsicht auch als „zweigliedriger Liebhabereibegriff“ bezeichnet19. Der Große Senat hat sich, als er die Gewinnerzielungsabsicht zu einer „inneren Tatsache“ erklärte, offensichtlich an das Gesetz halten wollen, nämlich die Formulierung in § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG. Auch seine beweisrechtlichen Ausführungen zur Feststellung dieser Tatsache zeigen, dass er dieses Tatbestandsmerkmal in diesem Sinne verstanden hat. Es ist jedoch zweifelhaft, ob der Gesetzgeber die Formulierung in § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG so interpretiert wissen wollte. Abgesehen davon, dass es problematisch ist, die Besteuerung davon abhängig zu machen, welche Vorstellungen der Steuerpflichtige hatte, ist die vom Großen Senat verlangte Feststellung auch mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden. b) Eignung der Kriterien zur Feststellung der Gewinnerzielungsabsicht als innere Tatsache aa) Totalgewinnprognose Der Große Senat hat als Beweisanzeichen für das Vorliegen von Gewinnerzielungsabsicht auf die Betriebsführung des Steuerpflichtigen abgestellt. Der Betrieb müsse nach seiner Wesensart und der Art seiner Bewirtschaftung auf Dauer gesehen geeignet und bestimmt sein, mit Gewinn zu arbeiten. Dies erfordere eine in die Zukunft gerichtete und langfristige Beurteilung, wofür die Verhältnisse eines bereits abgelaufenen Zeitraums wichtige Anhaltspunkte bieten könnten. Der Große Senat ist mit diesen Ausführungen einem Zielkonflikt erlegen, der sich aus der unscharfen Definition des Merkmals des Gewerbebetriebs in § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG ergibt. Es ging ihm zum einen darum, in Abkehr von der sog. Baupaten-Rechtsprechung20 als Gewinn nur noch solche Vorteile anzuerkennen, die den Vorschriften über die Ermittlung der Einkünfte unterliegen. Vermögensmehrungen, die sich als Folge der Tätigkeit außerhalb der durch § 2 Abs. 1 und 2 EStG geregelten Einkunftssphäre ergeben, sollten nicht mehr als Teil des Gewinns oder Einnahmenüberschusses angesehen werden. § 15 Abs. 2 Satz 2 EStG bestimmt dies für Steuervorteile nunmehr ausdrücklich. Für Vorteile, die – wie insbesondere realisierte Vermögenswertänderungen bei den sog.
__________ 18 BFH v. 15.11.1984 – IV R 139/81, BStBl. II 1985, 205; v. 19.11.1985 – VIII R 4/83, BStBl. II 1986, 289; v. 28.8.1987 – III R 273/83, BStBl. II 1988, 10; v. 11.4.1990 – I R 22/88, BFH/NV 1990, 768; v. 30.9.1997 – IX R 80/94, BStBl. II 1998, 771; v. 22.4. 1998 – XI R 10/97, BStBl. II 1998, 663, und v. 21.7.2004 – X R 33/03, BStBl. II 2004, 1063. 19 Weber-Grellet, DStR 1992, 561 (563); ders., DB 2002, 2568 (2569). 20 BFH v. 17.1.1972 – GrS 10/70, BStBl. II 1972, 700.
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Überschusseinkunftsarten (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 bis 7 EStG) – nicht der Besteuerung unterliegen, gilt Gleiches. Zum anderen wollte es der Große Senat für die Anerkennung von Verlusten entgegen der bisherigen Rechtsprechung21 nicht mehr genügen lassen, dass nach einer anfänglichen Verlustphase mit wenn auch nur bescheidenen, für einen Totalgewinn nicht ausreichenden, jedoch nachhaltigen Gewinnen zu rechnen ist22. Der Große Senat hat vielmehr darüber hinaus nicht nur einen Ausgleich der Verluste, sondern ein aufs Ganze gesehen positives Gesamtergebnis verlangt. Die zutreffende Erkenntnis, dass der Gesetzgeber grundsätzlich allein das insgesamt erfolgreiche, weil fiskalisch ergiebige Wirtschaften besteuern will und Fehlschläge aus Gleichheitsgründen nur insoweit akzeptiert, als der erfolglose Steuerpflichtige sich ebenso verhält wie der Erfolgreiche, hätte aber nicht mit der These verknüpft werden dürfen, dass es für die Verwirklichung eines Einkunftstatbestandes einer Einkünfteerzielungsabsicht als innerer Tatsache bedarf, auf die aus äußeren Umständen zu schließen sein soll. Unklar ist zunächst schon, welcher Zeitraum der Totalgewinnprognose zugrunde zu legen ist23. Nicht weniger unsicher sind Aussagen über den Verlauf des Wirtschaftens, fehlt es doch an gesicherten Erkenntnissen über das unternehmerische Geschick des Steuerpflichtigen wie auch über die künftigen Rahmenbedingungen für seine Betriebsführung. Seeger24 weist zu Recht darauf hin, dass den meisten Insolvenzen und Betriebsaufgaben unzutreffende Totalgewinnprognosen vorausgegangen seien, ohne dass die Gewinnerzielungsabsicht gefehlt habe. Die Befürworter der Prognose halten dem gerne entgegen, dass es sich dabei weder um ein Rechenexempel noch um eine betriebswirtschaftliche Planungsrechnung handele25, sondern um eine zukunftsgerichtete Wirtschaftlichkeitsberechnung26, räumen indes ein, dass eine genaue Berechnung an den Imponderabilien der weiteren Entwicklung scheitere. In der Tat sind gerade Existenzgründer zumeist gar nicht in der Lage, konkrete Aussagen zu ihren Erfolgsvorstellungen zu machen. Anders als große Unternehmen, die ihre Produktplanung und -entwicklung von Marktanalysen abhängig machen können und dies auch regelmäßig tun, fehlen dem Steuerpflichtigen, der erstmals im Wirtschaftsleben tätig wird, oft schon die finanziellen Mittel, um marktorientierte betriebswirtschaftliche Prognosen über seinen Gesamterfolg anzustellen. Er wird lediglich daran interessiert sein, sich mit der Tätigkeit eine Existenzgrundlage zu schaffen. Einen steuerrechtlichen Totalgewinn wird er nicht beziffern können, so dass es sich um eine Fiktion handelt, wenn die Finanzver-
__________ 21 BFH v. 6.3.1980 – IV R 182/78, BStBl. II 1980, 718. 22 Darauf zu Recht hinweisend BFH v. 21.3.1985 – IV R 25/82, BStBl. II 1985, 399. Vgl. auch Weber-Grellet, DStR 1992, 561 (564). 23 So zutreffend bereits Seeger in FS L. Schmidt, 1993, S. 37 (42); Drüen, FR 1999, 1097 (1098). 24 Seeger in FS L. Schmidt (Fn. 23), S. 37 (46). 25 Weber-Grellet, DStR 1992, 561 (564). 26 Groh, DB 1984, 2424 (2425). Vgl. auch Drüen, FR 1999, 1097 (1104), der in einer betriebswirtschaftlichen Prognose jedenfalls ein Beweisanzeichen für die Gewinnerzielungsabsicht sehen will.
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waltung oder ein Finanzgericht ihm eine auf dessen Erzielung gerichtete Vorstellung zu- oder abspricht27. Die Rechtsprechung nimmt eine Totalgewinnprognose im Sinne einer ex-anteBetrachtung auch nur selten vor, und zwar unabhängig davon, ob die Verluste anzuerkennen sind oder nicht. So hat der XI. Senat im Urteil v. 22.4.199828, in dem er langjährige Verluste eines Rechtsanwalts anerkannt hat, keine Totalgewinnprognose vorgenommen, obschon das Finanzgericht ein positives Gesamtergebnis für ausgeschlossen gehalten hatte, sondern seine Entscheidung letztlich allein darauf gestützt, dass die Kanzlei objektiv geeignet sei, daraus Gewinne zu erzielen, und persönliche Motive für die Hinnahme der Verluste nicht erkennbar seien. Die gegenteilige Entscheidung, die geltend gemachten Verluste nicht anzuerkennen, hat er im Urteil v. 14.12.200429 aber auch nicht auf eine – negative – Totalgewinnprognose gestützt, sondern darauf, dass angesichts der dauerhaft geringen Einnahmen ein ernstliches, auf Gewinnerzielung gerichtetes Bemühen des Steuerpflichtigen nicht auszumachen sei. Der IV. Senat wiederum hat den Anwendungsbereich der Totalgewinnprognose im Urteil v. 26.2.200430, in dem es um mehrjährige Verluste eines zu Beginn des Verlustzeitraums 76 Jahre alten Arztes ging, der zuvor Gewinne erzielt hatte, auf den Verlustzeitraum begrenzt. Der Beurteilungszeitraum für die Totalgewinnprognose umfasse, so der IV. Senat, nur bei neu eröffneten Betrieben mit Anlaufverlusten die gesamte Lebensdauer des Unternehmens von der Gründung bis zu dessen voraussichtlicher Aufgabe oder Veräußerung, während er bei zunächst Gewinne erzielenden Betrieben, die erst nach Jahren in die Verlustzone gerieten, ausschließlich auf die verbleibenden Jahre beschränkt bleiben müsse. Der IV. Senat wollte dem Steuerpflichtigen offenbar keinen Freibrief für die Erfolglosigkeit zum Ende seines Berufslebens ausstellen, was durchaus verständlich ist. Mit einer Totalgewinnprognose hat dies allerdings nicht mehr viel gemein. Die Entscheidung des IV. Senats lässt sich vielmehr – was der Große Senat des BFH31 ausdrücklich für möglich gehalten hat – nur darauf stützen, dass die Gewinnerzielungsabsicht „später wegfallen“ kann. Dies aber damit zu begründen, dass es nach langjähriger erfolgreicher Tätigkeit in einer Schlussphase bezogen nur auf diese nicht zu einem „Totalgewinn“ kommen kann, wirkt zumindest irritierend. Totalgewinnprognosen nimmt der BFH letztlich allein im Bereich der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung32 und der sonstigen Einkünfte33 vor. Grund dafür sind im Wesentlichen zwei Gesichtspunkte: Zum einen lässt sich
__________ 27 Vgl. Pezzer, StuW 2000, 457 (462): „So, wie die Prognose angelegt sein muss, kalkuliert in der Realität niemand“. Zutreffend auch Falkner, DStR 2010, 788 (790 f.); dies., DStZ 2010, 316 (321). 28 BFH v. 22.4.1998 – XI R 10/97, BStBl. II 1998, 663. 29 BFH v. 14.12.2004 – XI R 6/02, BStBl. II 2005, 392. 30 BFH v. 26.2.2004 – IV R 43/02, BStBl. II 2004, 455. 31 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751. 32 Grundlegend BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726. 33 BFH v. 15.12.1999 – X R 23/95, BStBl. II 2000, 267, und v. 9.5.2000 – VIII R 77/97, BStBl. II 2000, 660.
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der Beurteilungszeitraum bei Vermietungen und bei wiederkehrenden Bezügen leichter bestimmen als bei einer unternehmerischen Tätigkeit, zum anderen sind die mit der Tätigkeit verbundenen Einnahmen und Ausgaben überschaubar und erscheinen deshalb besser prognostizierbar als die Bestandteile einer Gewinnermittlung. Gleichwohl stehen derartige Prognosen, so überzeugend sie sich in ihrer Struktur darstellen mögen, auf tönernen Füßen. Ob es bei der Vermietung einer auch selbstgenutzten Ferienwohnung nach 30 Jahren zu einem Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben kommt, entzieht sich nach drei oder fünf Jahren einer verlässlichen Vorhersage. Speziell die Einnahmen können, je nachdem, wie sich die Nachfrage nach dem Objekt entwickelt, am Ende deutlich höher oder niedriger ausfallen als veranschlagt, während etwa tatsächlich größere als den Erfahrungssätzen des § 28 II. BV entsprechende Instandhaltungsaufwendungen kurz vor Ablauf des Prognosezeitraums die 20 oder 25 Jahre zuvor getroffene Prognose leicht in ihr Gegenteil verkehren können. Die vom Großen Senat verlangte Totalgewinnprognose ist denn auch mehr vor dem Hintergrund eines weiteren, auf die Korrektur der vorherigen Rechtsprechung abzielenden Anliegens zu verstehen. Der Große Senat hat sich im Beschluss v. 25.6.198434 vom sog. objektiven Liebhabereibegriff verabschiedet, den der RFH im Urteil v. 24.1.193435 unter Aufgabe früherer Rechtsprechung eingeführt hatte. Dem Großen Senat ging es darum, dass aus dauernden Verlusten nicht zwingend auf fehlende Gewinnerzielungsabsicht geschlossen werden sollte, wozu die Rechtsprechung zuvor neigte, wenn der Betrieb nach seiner Wesensart und der Art seiner Bewirtschaftung nicht geeignet erschien, mit Gewinn zu arbeiten36. Der Steuerpflichtige sollte darlegen können, dass er sich „verschätzt“ habe, m. a. W., dass sein Scheitern nicht Ausdruck persönlicher Motive war, er sich vielmehr wie ein Unternehmer verhalten habe, dabei aber erfolglos geblieben sei. Auch unter diesem Aspekt kann aber auf die Totalgewinnprognose verzichtet werden, weil es geeignetere Kriterien für die Prüfung der Ernsthaftigkeit des Erfolgsstrebens des Steuerpflichtigen gibt37. bb) Feststellung persönlicher Motive Der Große Senat hat bei längeren Verlustperioden die Feststellung verlangt, dass der Steuerpflichtige die verlustbringende Tätigkeit nur aus im Bereich seiner Lebensführung liegenden persönlichen Gründen oder Neigungen ausübt. Diese Feststellung kann unproblematisch, aber auch außerordentlich schwierig sein. Als über langjährige Verluste eines Getränkegroßhandels zu entscheiden war, sah sich der BFH38 zu der Klarstellung veranlasst, die Annahme einer ein-
__________
34 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751. 35 RFH v. 24.1.1934 – VI A 1230/31, RStBl. 1934, 501; ferner RFH v. 13.10.1937 – VI A 608/37, RStBl. 1937, 1232. 36 Woerner, BB 1985, 908; Paus, DStZ 1985, 450 (452). 37 Vgl. unten II. 3. 38 BFH v. 19.11.1985 – VIII R 4/83, BStBl. II 1986, 289.
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kommensteuerrechtlich unbeachtlichen Tätigkeit setze nicht voraus, dass sie der persönlichen Lebenshaltung in Form von Erholung und Freizeitgestaltung diene. Die persönlichen Motive können daher ausgeprägt sein und klar zutage treten, wie z. B. bei Wirtschaftsgütern oder Einrichtungen, die auch privat genutzt werden (Vercharterung eines Motorboots39, Unterhaltung einer Pferdezucht40). Es kann aber auch nur darum gehen, Kosten der privaten Lebensführung in den einkommensteuerrechtlich relevanten Bereich zu verlagern41. Persönliche Motive wurden zu Recht ebenso darin gesehen, ein Unternehmen für die nächste Generation zu erhalten42. Schwieriger ist es schon, ein persönliches Motiv in dem mit mancher Berufsausübung – z. B. der eines Arztes oder Anwalts – verbundenen Sozialprestige zu sehen, obschon die Rechtsprechung zunehmend dazu neigt, weil andernfalls die Hinnahme andauernder Verluste ohne jede Reaktion des Steuerpflichtigen nicht verständlich wäre43. Noch problematischer wird es, wenn der Steuerpflichtige scheinbar ohne jedes wirtschaftliche Denken Verluste erzeugt, indem er nicht nur die Herstellungskosten eines Vermietungsobjekts finanziert, sondern auch die Finanzierungskosten, ohne dass ein Konzept für die Ablösung der sich stetig erhöhenden Verbindlichkeiten erkennbar ist. Der BFH hat darin trotzdem zu Recht einen gegen die Einkünfteerzielungsabsicht sprechenden Umstand gesehen und deshalb die Versagung des Abzugs der Werbungskostenüberschüsse gebilligt44. Die Feststellung persönlicher Motive erweist sich in der forensischen Praxis vor allem dann als schwierig, wenn der Steuerpflichtige dazu keine eindeutigen Aussagen macht. Hinzu kommt, dass dieses Kriterium schillernd ist, weil es nicht auf den Liebhabereifall begrenzt, sondern auch bei erfolgreicher Tätigkeit anzutreffen ist. Gerade Angehörige der freien Berufe, aber auch viele gewerbliche Unternehmer üben ihren Beruf nicht nur deshalb aus, weil er ihre Erwerbsgrundlage darstellt, sondern weil sie darin eine persönliche Erfüllung und Bestätigung finden. Solange sie dabei erfolgreich sind, nimmt niemand dies zum Anlass, die steuerrechtliche Relevanz ihrer Tätigkeit in Frage zu stellen. § 15 Abs. 2 Satz 3 EStG lässt es ausdrücklich genügen, dass die Gewinnerzielungsabsicht nur ein Nebenzweck ist, sofern die Voraussetzungen eines Gewerbebetriebs im Übrigen gegeben sind. Der Erfolgreiche soll also nicht unter Hinweis darauf, dass er seiner Tätigkeit eigentlich nur aus persönlichen Gründen nachgeht, der Besteuerung entgehen. Erleidet er dagegen nachhaltige Verluste, verkehrt sich die Situation in ihr Gegenteil, allerdings mit einer feinen Differenzierung: Wer auf den Erfolg angewiesen ist, weil die Tätigkeit seine alleinige Erwerbsgrundlage ist, kann darauf zählen, nicht in den Verdacht
__________ 39 BFH v. 28.8.1987 – III R 273/83, BStBl. II 1988, 10. 40 BFH v. 27.1.2000 – IV R 33/99, BStBl. II 2000, 227. 41 BFH v. 26.2.2004 – IV R 43/02, BStBl. II 2004, 455, und v. 21.7.2004 – X R 33/03, BStBl. II 2004, 1063. 42 BFH v. 19.11.1985 – VIII R 4/83, BStBl. II 1986, 289; v. 24.8.2000 – IV R 46/99, BStBl. II 2000, 674, und v. 17.11.2004 – X R 62/01, BStBl. II 2005, 336. 43 BFH v. 12.9.2002 – IV R 60/01, BStBl. II 2003, 85, und v. 14.12.2004 – XI R 6/02, BStBl. II 2005, 392. 44 BFH v. 10.5.2007 – IX R 7/07, BStBl. II 2007, 873.
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der Liebhaberei zu geraten. Verdächtig macht sich allein der, dem aus anderen Quellen positive Einkünfte zum Ausgleich der Verluste zur Verfügung stehen und der deshalb nicht nach Erfolg streben muss. Anderweitige positive Einkünfte oder Vermögen sind daher eher geeignet, Liebhaberei von bloßer Erfolglosigkeit zu scheiden. Die Rechtsprechung, die insoweit kurz geschwankt hatte45, bekennt sich nun wieder deutlich zu diesem Gesichtspunkt als Indiz für persönliche Gründe46. Dies wirft aber die Frage auf, ob es deren Feststellung überhaupt bedarf oder ob diese nicht nur die Kehrseite einer ganz anderen Medaille sind, nämlich des Fremdvergleichs. c) Ergebnis Weber-Grellet47 versteht die Gewinnerzielungsabsicht entgegen der Rechtsprechung und weit überwiegenden Auffassung der Literatur48 nicht als innere Tatsache, sondern ausschließlich als Tatbestandsmerkmal. Es gehe nicht um eine willensgetragene Erwerbsaufnahme, sondern um eine solche, die der vom Gesetz normierten Erwerbsaufnahme entspreche und lediglich erfolglos geblieben sei. Dies würde bedeuten, dass es nicht um eine Tatsachenfeststellung geht (jedenfalls nicht um die einer Vorstellung des Steuerpflichtigen), sondern um Rechtsanwendung nach Maßgabe anderer Kriterien. Diesem Ansatz ist beizupflichten. Seeger49 und P. Kirchhof50 verweisen zu Recht darauf, dass die Gewinnerzielungsabsicht als innere Tatsache nicht vorhanden sein muss, um einen Steueranspruch zu begründen. Einem noch willenlosen Kind oder einem zunächst unbekannten Erben werden, wenn sie über Einkunftsquellen verfügen, Einkünfte zugerechnet, ohne dass ihrer Erzielung eine entsprechende Absicht zugrunde liegt. Der VIII. Senat des BFH51 hat einem Steuerpflichtigen, der Prozesszinsen als Einkünfte aus Kapitalvermögen versteuern sollte und unter Hinweis auf die Unfreiwilligkeit der Kapitalüberlassung fehlende Einkünfteerzielungsabsicht geltend gemacht hatte, entgegengehalten, dass bereits der durch die Zinsen bewirkte Zuwachs an finanzieller Leistungsfähigkeit ausreiche, um den Tatbestand des § 20 EStG zu erfüllen. Ein auf die Erzielung von Einkünften gerichteter Handlungswille werde nicht vorausgesetzt; Einkünfteerzielungsabsicht müsse folglich auch nicht positiv festgestellt werden. Deren Prüfung bedürfe es nur, wenn negative Einkünfte strittig seien52. Wäre dies zutreffend, so wäre die Gewinnerzielungsabsicht nur
__________ 45 BFH v. 22.4.1998 – XI R 10/97, BStBl. II 1998, 663. 46 BFH v. 26.2.2004 – IV R 43/02, BStBl. II 2004, 455. 47 Beihefter zu DStR 2007, Heft 39, 40 (46); ders. in Schmidt, 25. Aufl. 2006, § 15 EStG Rz. 25. 48 Vgl. z. B. Fischer, FR 1999, 1377; Heuermann, StuW 2003, 101 (103). 49 Seeger in FS L. Schmidt (Fn. 23), S. 37 (40 ff.). 50 Beihefter zu DStR 2007, Heft 39, 11 (12). 51 BFH v. 30.6.2009 – VIII B 8/09, BFH/NV 2009, 1977. Dazu auch Falkner, DStR 2010, 788 (789). 52 Ebenso bereits BFH v. 18.3.1976 – IV R 113/73, BStBl. II 1976, 485, wonach eine „unzünftige“ Bewirtschaftung nicht schadet, wenn der Betrieb gleichwohl Gewinne abwirft.
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ein partiell erforderliches Tatbestandsmerkmal, was jedoch weder in § 15 Abs. 2 EStG noch in einer anderen Bestimmung zum Ausdruck kommt. Den Charakter einer Fiktion bekommt die Gewinnerzielungsabsicht als innere Tatsache vollends dann, wenn verlangt wird, dass sie bei Personengesellschaften sowohl auf der Ebene der Gesellschaft als auch auf der Ebene des einzelnen Gesellschafters gegeben sein müsse und für letzteren – etwa in Fällen nur kurzfristiger Beteiligung an der Gesellschaft zur Verlustmitnahme – eine gesonderte Prüfung selbst bei Bejahung der Gewinnerzielungsabsicht auf der Ebene der Gesellschaft für erforderlich erklärt wird53. So verständlich diese Prüfung ist, so wenig geht es um die Feststellung einer inneren Tatsache. Diese könnte nur bei einer natürlichen Person gegeben sein, nicht aber bei einer Gesellschaft. Unklar ist insbesondere, was für die Gewinnerzielungsabsicht der Gesellschaft gelten soll, wenn einzelne Gesellschafter darüber verfügen, andere dagegen nicht. Sowohl die Fragwürdigkeit der für die Feststellung der Gewinnerzielungsabsicht entwickelten Kriterien als auch das Verständnis dieses Tatbestandsmerkmals als innere Tatsache deuten darauf hin, dass der Gesetzgeber mit diesem Merkmal etwas anderes zum Ausdruck bringen wollte. Dies kann nur der Fremdvergleich sein, d. h. eine Prüfung, ob der Steuerpflichtige sich wie ein Steuerpflichtiger verhalten hat, dessen Verhalten aus Sicht des Gesetzgebers besteuerungswürdig ist. 3. Anerkennung von Verlusten nach Maßgabe eines Fremdvergleichs Der Große Senat des BFH hat im Beschluss v. 25.6.198454 aus dem „Zweck“ des EStG, Mittel für die öffentliche Hand zu beschaffen und dabei den Steuerpflichtigen entsprechend seiner Leistungsfähigkeit zu besteuern, abgeleitet, dass dieser Zweck nur zu erreichen sei, wenn sich auf Dauer gesehen positive Einkünfte ergäben. Sei damit nicht zu rechnen, so fielen die wirtschaftlichen Ergebnisse auch dann nicht unter eine Einkunftsart, wenn sie sich ihrer Art nach unter § 2 Abs. 1 EStG einordnen ließen. Die Literatur hat dies unter dem Gesichtspunkt kritisiert, dass der Fiskalzweck allenfalls Motiv der Steuergesetze sei, nicht aber Maßstab für ihre Auslegung sein könne55. Dies ist zwar richtig, sollte jedoch nicht über die zutreffende Einsicht hinwegtäuschen, dass der Gesetzgeber nur ein auf Erfolg angelegtes Verhalten besteuern will, weil nur dadurch ein Beitrag zum Steueraufkommen geleistet wird. Ein jeder in § 2 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. den §§ 13 bis 24 EStG aufgeführter Einkunftstatbestand ist daher so auszulegen, dass nur der ihn erfüllt, der sich wie der typische, bei der Formulierung des Tatbestandes
__________ 53 BFH v. 8.12.1998 – IX R 49/95, BStBl. II 1999, 468, und v. 21.11.2000 – IX R 2/96, BStBl. II 2001, 789. 54 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751; ebenso zuvor bereits RFH v. 14.3.1929 – VI A 1473/28, RStBl. 1929, 329. 55 Kruse, StuW 1980, 226 (230 f.); Schulze-Osterloh, FR 1985, 197 (203); Drüen, FR 1999, 1097 (1103).
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dem Gesetzgeber vor Augen stehende Steuerpflichtige verhält. Diese Sicht stellt weder eine Selbstverständlichkeit noch eine ergänzende Rechtsfortbildung56 dar, sondern eine strikte teleologische Auslegung. Wenn beispielsweise § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG von der „Berufstätigkeit“ der Ärzte und anderer freier Berufe spricht, so bringt dies zum Ausdruck, dass nur berufsgemäßes, nämlich auf das Schaffen einer Existenzgrundlage zielendes Verhalten tatbestandsmäßig ist57. Bei anhaltenden Verlusten ist daher zu prüfen, ob der Steuerpflichtige sich so verhalten hat, wie der Gesetzgeber dies von einem zum Erfolg verurteilten Steuerpflichtigen erwartet, der es sich mangels anderweitiger Einkünfte nicht leisten kann, die Verluste ohne Reaktion hinzunehmen. Nichts anderes als ein derartiger Fremdvergleich sollte durch das Merkmal der Gewinn- bzw. Einkünfteerzielungsabsicht zum Ausdruck gebracht werden58. Der Fremdvergleich ist dem Steuerrecht nicht unbekannt. § 1 Abs. 1 AStG regelt ihn ausdrücklich für Verrechnungspreise und stellt dabei als Vergleichsmaßstab auf Vereinbarungen ab, die voneinander unabhängige Dritte unter gleichen oder vergleichbaren Verhältnissen getroffen hätten. Ob sich eine Pensionszusage zugunsten eines Gesellschafter-Geschäftsführers einer Kapitalgesellschaft als verdeckte Gewinnausschüttung (§ 8 Abs. 3 Satz 2 KStG) darstellt, weil sie durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist, prüft die Rechtsprechung59 anhand eines Fremdvergleichs, bei dem sie auf das Handeln eines Geschäftsleiters abstellt, der gemäß § 43 Abs. 1 GmbHG die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes anwendet60. Verträge zwischen nahen Angehörigen, speziell Miet- und Gesellschaftsverträge, werden der Besteuerung seit jeher nur zugrunde gelegt, wenn sie zivilrechtlich wirksam sind und darüber hinaus sowohl die Gestaltung als auch die Durchführung des Vereinbarten dem zwischen Fremden Üblichen entsprechen (sog. Fremdvergleich)61. Auch in diesen Fällen geht es um nichts anderes als um die Abgrenzung der Berufsbzw. Betriebssphäre von der Privatsphäre (§ 12 Nr. 1 EStG) durch eine Prüfung, welcher Anlass (§ 4 Abs. 4, § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG) für die Vereinbarung maßgeblich war62. Die Erkenntnis, dass die zutreffende Rechtsanwendung einen Fremdvergleich verlangt, bleibt dürftig, solange nicht klar ist, was genau Gegenstand dieses Vergleichs ist. Damit beginnen die eigentlichen Probleme. Pezzer63 fragt zu
__________
56 So aber Lang, StuW 1981, 223 (231), für die Überschusseinkunftsarten. 57 Kruse, StuW 1980, 226 (230). 58 Überzeugend Weber-Grellet, Beihefter zu DStR 2007, Heft 39, 40 (47). Ebenso Wacker in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 15 EStG Rz. 24; Falkner, DStZ 2010, 316 (324). 59 Z. B. BFH v. 8.11.2000 – I R 70/99, BStBl. II 2005, 653, und v. 4.9.2002 – I R 48/01, BFH/NV 2003, 347. 60 Vgl. zum ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiter als Fremdvergleichsmaßstab auch § 1 Abs. 1 Satz 2 AStG. 61 BFH v. 21.2.1991 – IV R 35/89, BStBl. II 1995, 449, und v. 20.10.1997 – IX R 38/97, BStBl. II 1998, 106. 62 Wassermeyer in StbJb (1998/99), S. 157 (161). 63 DStZ 2002, 850 (854); ebenso bereits Wolff-Diepenbrock in FS Beisse, 1997, S. 581 (583).
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Recht, woher der Richter wisse, was „üblich“ sei. Wassermeyer64 verweist dazu darauf, dass der Richter im Ergebnis seinen gesunden Menschenverstand sprechen lasse. Der Richter ermittele aus seiner Sicht hypothetisch das, was ihm betriebswirtschaftlich vernünftig erscheine. Ob das Ergebnis immer als etwas Idealtypisches bezeichnet werden müsse, hänge letztlich davon ab, wie lebensnah oder weltfremd der Richter im Einzelfall denke. Wichtig sei es, dass die Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem erhielten, was der Richter als lebensnah ansehe. Diese Aussagen mögen auf den ersten Blick befremden, weil es wünschenswert wäre, klare Maßstäbe für den Fremdvergleich zu haben. Solche gibt es jedoch nicht. Der Fremdvergleich kann ein tatsächlicher („Ist-Ist“-Vergleich) oder ein hypothetischer („Ist-Soll“-Vergleich) sein65. Ein tatsächlicher Fremdvergleich lässt sich im Steuerrecht nur selten vornehmen, weil es an gesicherten Erkenntnissen zu der Vergleichsperson fehlt. Man bemüht ihn beispielsweise beim externen Betriebsvergleich, wenn man auf Kalkulationsgrundlagen zurückgreift, die die Finanzverwaltung durch Richtsatzprüfungen gewonnen hat66. Kommt es aber auf den ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiter oder den auf erfolgreiches Wirtschaften ausgerichteten Steuerpflichtigen an, so ist kein tatsächlicher, sondern ein gedachter Dritter Vergleichsmaßstab. Entsprechend schwer fällt es, Aussagen dazu zu treffen, wie dieser sich an Stelle des konkreten Steuerpflichtigen verhalten hätte. Ob ein gedachter Unternehmer nach Anlaufverlusten seinen Betriebssitz verlegt oder beibehält, eine Filiale eröffnet oder schließt, sein Sortiment verändert, den Werbeaufwand erhöht oder vermindert, Personal einstellt oder entlässt, entzieht sich verlässlicher Beurteilung, weil dies von den Umständen abhängt. Die Reaktion auf Anlaufverluste kann eine andere sein als die auf Verluste, die sich nach langjährigen Gewinnen einstellen. Für den Einzelunternehmer können andere Maßstäbe gelten als für eine Personengesellschaft, in der Entscheidungen von mehreren getroffen werden. Ein Kleinunternehmer wird womöglich anders reagieren als ein Mittelständler, dieser wieder anders als ein Konzern. Das „Handbuch des erfolgreichen Unternehmers“, dem der Richter in Liebhabereifällen das einzig regelgerechte Verhalten entnehmen könnte, gibt es nicht, weshalb weder der Gesetzgeber noch die Rechtsprechung allgemeingültige Kriterien entwickeln können. Da die einzelnen Einkunftsarten zudem in ihrer Struktur erheblich voneinander abweichen, bedarf es bereichsspezifischer Ausschärfungen, um die jeweilige Norm zutreffend anzuwenden67. Die Rechtsprechung hat, auch wenn ihr dies nicht expressis verbis zu entnehmen ist, schon seit langem erkannt, dass es im Grunde auf einen Fremdvergleich ankommt. Wenn auf eine Betriebsführung abgestellt wird, bei der der
__________ 64 In FS Offerhaus, 1999, S. 405 (409, 415). 65 Ein normativer, wie Weber-Grellet, Beihefter zu DStR 2007, Heft 39, 40 (47), ihn bezeichnet, ist er stets, weil vom Gesetz gefordert. 66 Vgl. Richtsatzsammlung 2009 v. 6.10.2010, BStBl. I 2010, 734. 67 Vgl. BFH v. 29.3.2001 – IV R 88/99, BStBl. II 2002, 791; Kanzler, DStZ 2005, 766 (771).
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Betrieb nach seiner Wesensart und der Art seiner Bewirtschaftung auf Dauer gesehen dazu geeignet und bestimmt sein muss, mit Gewinn zu arbeiten68, dann verbirgt sich dahinter die etwas pauschale Forderung, dass der Steuerpflichtige seinen Betrieb so führen muss wie ein auf Erfolg bedachter Dritter dies tut. Gleiches gilt, wenn der IX. Senat des BFH69 eine verbilligte Vermietung als „nicht marktgerecht“ bezeichnet und damit den Steuerpflichtigen mit einem typischen, an einer möglichst hohen, zumindest aber marktüblichen Miete interessierten Vermieter vergleicht. Von diesem Ansatzpunkt aus hat die Rechtsprechung für die einzelnen Einkunftsarten bereits Kriterien herausgearbeitet, die geeignet sind, dem Tatrichter den Fremdvergleich zu erleichtern.
III. Der Fremdvergleich im Rahmen einzelner Einkunftsarten 1. Gewinneinkunftsarten Im Bereich der Landwirtschaft stellt die Rechtsprechung seit jeher darauf ab, ob der Betrieb nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen geführt wird, d. h. ob er nach seinem Wesen und der Art der Betriebsführung geeignet ist, einen Totalgewinn zu erzielen70. Da es Sachverständige gibt, die für diese Beurteilung herangezogen werden können, hat die Rechtsprechung sich gerne auf deren Einschätzungen gestützt71. Sie erwartet vom Steuerpflichtigen zumindest, dass er eine positive Prognose zu seiner Betriebsführung vorlegen kann72. Stehen ihm anderweitige finanzielle Mittel zur Verfügung und reagiert er auf anhaltende Verluste nicht, so wurde darin stets ein nicht tatbestandsmäßiges Verhalten gesehen, zumal dann, wenn der Betriebsinhaber fachfremd ist oder den Betrieb zunächst nur hobbymäßig geführt hatte73. Bei gewerblichen Einkünften ergibt sich wohl die größte Vielfalt denkbarer Maßnahmen, um unternehmerisches Handeln zu belegen. Positives Indiz dafür kann eine an betriebswirtschaftlichen Grundsätzen orientierte Prognose über die Erfolgsaussichten des Unternehmens sein, wenn der Steuerpflichtige sich dies leisten kann und ein Anlass dafür besteht74, was jedoch nicht mit der bislang geforderten Totalgewinnprognose gleichzusetzen ist. Die Rechtsprechung verlangt ansonsten als Reaktion auf Verlustphasen Umstrukturierungen, wobei sie den Steuerpflichtigen nicht auf bestimmte Maßnahmen festlegt75. Der
__________ 68 69 70 71 72 73 74 75
BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751. BFH v. 22.7.2003 – IX R 59/02, BStBl. II 2003, 806. BFH v. 27.1.2000 – IV R 33/99, BStBl. II 2000, 227. RFH v. 13.10.1937 – VI A 608/37, RStBl. 1937, 1232; BFH v. 22.7.1982 – IV R 74/79, BStBl. II 1983, 2, und v. 21.3.1985 – IV R 25/82, BStBl. II 1985, 399. BFH v. 4.6.2009 – IV B 69/08, BFH/NV 2009, 1644. BFH v. 21.1.1999 – IV R 27/97, BStBl. II 1999, 638, und v. 24.8.2000 – IV R 46/99, BStBl. II 2000, 674. Drüen, FR 1999, 1097 (1104); BFH v. 21.7.2004 – X R 33/03, BStBl. II 2004, 1063, und v. 23.5.2007 – X R 33/04, BStBl. II 2007, 874. BFH v. 19.11.1985 – VIII R 4/83, BStBl. II 1986, 289, und v. 17.11.2004 – X R 62/01, BStBl. II 2005, 336.
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Steuerpflichtige muss jedoch entweder versuchen, seine Einnahmen zu steigern oder seine Kosten zu reduzieren76. Wie er dies macht (Standortwechsel, Filialeröffnung oder -schließung, Sortimentswechsel, Werbung, Personalveränderungen, Reduzierung der Finanzierungskosten) bleibt ihm überlassen. Nur muss er jedenfalls gegensteuern77 oder den Betrieb aufgeben oder veräußern. Letzteres wird durchaus anerkannt, mit der Folge, dass auch Abwicklungsverluste zu berücksichtigen sind78. Nicht tatbestandsmäßig handelt daher grundsätzlich nur der, der sich von vornherein nicht marktgerecht verhält79 oder ein als verlustbringend erkanntes Geschäftskonzept unverändert beibehält, weil ein am Erfolg orientierter Unternehmer sich so nicht verhalten würde. Als problematisch kann sich der Fremdvergleich auch bei den freien Berufen darstellen, zumal dann, wenn es – wie beim Erfinder und beim Künstler – um Berufe geht, denen wirtschaftlicher Erfolg typischerweise erst nach langjährigen Anlaufverlusten beschieden ist. Gerade diese Problemfälle hat der BFH jedoch außerordentlich überzeugend gelöst. Beim Erfinder hat er auf die Zukunftsträchtigkeit der Erfindung, ihre Entwicklung bis zur Serienreife mit anschließender Patentierung und behördlicher Anerkennung als „volkswirtschaftlich wertvoll“ sowie ihre kommerzielle Nutzung abgestellt. Verluste sollen erst dann nicht mehr anzuerkennen sein, wenn feststeht, dass die Erfindung sich wirtschaftlich nicht nutzen lässt, weil sich dafür kein Interessent findet80. Verluste aus einer künstlerischen Tätigkeit hat der BFH81 u. a. daran gemessen, ob der Steuerpflichtige über eine künstlerische Ausbildung verfügt, seine Produkte professionell – z. B. durch Galerien und Ausstellungen – vermarktet, seiner Tätigkeit in eigens dafür hergerichteten Räumen nachgeht (Atelier) und in einschlägiger Literatur bzw. Künstlerkreisen erwähnt wird. Damit wurden die Merkmale, die für eine auf Erfolg angelegte künstlerische Tätigkeit sprechen, geradezu mustergültig herausgearbeitet. Weniger leicht hat sich die Rechtsprechung mit Rechtsanwälten, Steuerberatern, Architekten und Ärzten getan, die in Liebhabereiverdacht gerieten82. Z. T. sind derartige Fälle dadurch geprägt, dass der Steuerpflichtige, wenn er sich im fortgeschrittenen Alter befindet, nicht „loslassen“ kann. Tieferer Grund dafür kann die beabsichtigte Übergabe der Praxis an einen Angehörigen oder die Weiterbeschäftigung von Angehörigen über die eigentliche Erwerbsphase hinaus sein. Ist der Steuerpflichtige dagegen noch jünger, so kann z. B. die Versicherung in einem berufsständischen Versorgungswerk es attraktiv machen, die Berufszulassung aufrechtzuerhalten, auch wenn die Kosten die
__________ 76 BFH v. 28.8.1987 – III R 273/83, BStBl. II 1988, 10, und v. 2.9.1987 – I R 315/83, BFH/NV 1988, 300. 77 BFH v. 23.5.2007 – X R 33/04, BStBl. II 2007, 874. 78 BFH v. 15.11.1984 – IV R 139/81, BStBl. II 1985, 205. 79 BFH v. 27.5.2009 – X R 62/06, BFH/NV 2009, 1793. 80 BFH v. 14.3.1985 – IV R 8/84, BStBl. II 1985, 424. 81 BFH v. 6.3.2003 – XI R 46/01, BStBl. II 2003, 602. 82 BFH v. 22.4.1998 – XI R 10/97, BStBl. II 1998, 663; v. 31.5.2001 – IV R 81/99, BStBl. II 2002, 276; v. 12.9.2002 – IV R 60/01, BStBl. II 2003, 85; v. 26.2.2004 – IV R 43/02, BStBl. II 2004, 455, und v. 14.12.2004 – XI R 6/02, BStBl. II 2005, 392.
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Einnahmen übersteigen. Die Ausübung eines freien Berufs ist zudem, worauf der XI. Senat des BFH zutreffend hingewiesen hat, üblicherweise mit einem gewissen Sozialprestige verbunden, an dem es Erwerbsquellen wie Unternehmensbeteiligungen, Immobilien- oder Kapitalvermögen fehlt. Auch der durch derartiges Vermögen abgesicherte Freiberufler muss sich aber so verhalten wie sein Berufskollege, der darauf nicht zurückgreifen kann, und der deshalb stets um Mandanten bemüht sein muss und seine Kostenentwicklung im Auge zu behalten hat. Der junge Assessor, der nach einiger Zeit mangels weiterer Existenzgründerkredite und Verwandtendarlehen die selbständige Berufstätigkeit als Rechtsanwalt mit Verlusten aufgeben muss, kann diese steuerlich geltend machen, weil die Tatbestandsmäßigkeit seines Verhaltens nicht zu bezweifeln ist. Sein gleichaltriger Berufskollege, der aufgrund von Erbschaften oder anderen Zuwendungen den Anwaltsberuf über diesen Zeitraum hinaus mit Verlusten fortführt, muss – und zwar von vornherein – darlegen können, dass er sich nicht anders verhalten hat als sein gescheiterter Konkurrent. 2. Überschusseinkunftsarten a) Kapitalvermögen und sonstige Einkünfte Die Vermögensnutzung durch Kapitalüberlassung und der Bezug von Renten erfordern, weil das Erzielenwollen positiver Einkünfte in der Regel nicht in Frage steht, nur in Ausnahmefällen einen Fremdvergleich. Geboten ist er dann, wenn nicht die positiven Einkünfte im Vordergrund stehen, sondern nicht steuerbare, durch Vermögensumschichtung zu realisierende Erträge. Der BFH hat deshalb nur im letzteren Fall den Abzug von Finanzierungskosten als Werbungskosten abgelehnt83. Bei auf Dauer zu erwartenden Überschüssen aus der Kapitalanlage hat er ihn dagegen zugelassen84. Als unproblematisch erwies sich die Anerkennung von Schuldzinsen für einen Kredit zum Erwerb einer wesentlichen Beteiligung (§ 17 EStG a. F.), weil bei dieser auch Wertänderungen der Anlage selbst der Besteuerung unterliegen. Dass eine solche Beteiligung aus im Bereich der Lebensführung liegenden Gründen oder Neigungen erworben und gehalten wird, mochte der BFH85 zwar nicht ausschließen, doch hat sich dieser Vorbehalt als von eher theoretischer Natur erwiesen. Das konzepthafte Modell des Bezugs einer Rente gegen Einmalzahlung aufgrund eines Vertrags mit einem ausländischen Versicherer in der Währung seines Sitzstaates hat der BFH86 dagegen einer Prüfung mittels einer Totalüberschussprognose unterzogen. Da diese zugunsten des Steuerpflichtigen ausfiel, wurden die anfänglichen Werbungskostenüberschüsse anerkannt. Das Er-
__________ 83 BFH v. 23.3.1982 – VIII R 132/80, BStBl. II 1982, 463. 84 BFH v. 21.7.1981 – VIII R 128/76, BStBl. II 1982, 36; v. 21.7.1981 – VIII R 154/76, BStBl. II 1982, 37; v. 21.7.1981 – VIII R 200/78, BStBl. II 1982, 40, und v. 21.7.1981 – VIII R 32/80, BStBl. II 1982, 41. 85 BFH v. 8.10.1985 – VIII R 234/84, BStBl. II 1986, 596. 86 BFH v. 15.12.1999 – X R 23/95, BStBl. II 2000, 267, und v. 9.5.2000 – VIII R 77/97, BStBl. II 2000, 660.
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gebnis wäre nicht anders ausgefallen, wenn der Sachverhalt nur am Maßstab des Fremdvergleichs gemessen worden wäre; denn der BFH konnte nicht erkennen, dass das Konzept Züge eines Steuersparmodells trug oder primär der Realisation nicht steuerbarer Vermögensvorteile diente. Das Konzept ließ vielmehr einen langfristigen Einnahmenüberschuss zumindest als möglich erscheinen. Der Versicherte hatte sich daher normgemäß verhalten. b) Vermietung und Verpachtung Zum praktischen Hauptanwendungsbereich der Liebhaberei sind die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung geworden, speziell in der Ausprägung der Vermietung unbeweglichen Vermögens gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG87. Dies überrascht deshalb, weil sich der IX. Senat des BFH unter Mitwirkung des Jubilars in der wegweisenden Entscheidung v. 30.9.199788 erfolgreich darum bemüht hat, den Tatbestand des § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG in einer Weise teleologisch zu entfalten, die Konfliktfälle überflüssig machen sollte. Die Vermietung gerade von Wohnraum kann indes sowohl die Privatsphäre des Vermieters als auch den nicht steuerbaren Bereich der Vermögensumschichtung durch Veräußerung berühren, was es immer wieder erforderlich macht, Abgrenzungen nach Maßgabe der grundlegenden Aussagen der angeführten Entscheidung vorzunehmen. Der IX. Senat hat aus der rechtstatsächlichen Beobachtung, dass die Vermietung von Immobilien häufig durch langjährige Werbungskostenüberschüsse geprägt ist, ungeachtet dieser auch dem Gesetzgeber bekannten Tatsache selbst nach der Abschaffung der Nutzungswertbesteuerung aber weiterhin besteuert wird, gefolgert, dass § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG auf der typisierenden Annahme letztlich, d. h. langfristig, positiver Einkünfte beruhe. Da der Gesetzgeber indes – wie § 21 Abs. 2 EStG zeige – nur marktgerechtes Vermietungsverhalten erfassen wolle, komme es darauf an, ob der Steuerpflichtige dauerhaft und marktgerecht vermiete. Diese Merkmale bestimmen den Fremdvergleich. Aus ihnen lassen sich zwanglos und stimmig alle Abgrenzungen ableiten, die der IX. Senat bei Werbungskostenüberschüssen im Rahmen von Vermietungen vornehmen musste89. Ist der Steuerpflichtige nicht entschlossen, dauerhaft zu vermieten, was bei einer Beteiligung an einem Mietkaufmodell, an einem Bauherrenmodell mit Rückkaufangebot oder Verkaufsgarantie oder einer im Hinblick auf eine später beabsichtigte Selbstnutzung nur kurzfristigen Vermietung in Betracht kommt, so fehlt ihm – in der Diktion des IX. Senats – die Einkünfteerzielungsabsicht90; sie fällt folgerichtig weg, wenn der Steuerpflichtige die Wohnung nicht mehr
__________ 87 Vgl. Kanzler, DStZ 2005, 766 f. 88 BFH v. 30.9.1997 – IX R 80/94, BStBl. II 1998, 771. 89 Ausführlich dazu Heuermann, DB 2002, 2011; ders., StuW 2003, 101; ders., DStZ 2004, 9. 90 BFH v. 9.2.1993 – IX R 42/90, BStBl. II 1993, 658; v. 14.9.1994 – IX R 71/93, BStBl. II 1995, 116, und v. 9.7.2002 – IX R 57/00, BStBl. II 2003, 695.
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vermieten, sondern – ausschließlich – verkaufen will91. Ausdruck eines nicht marktgerechten Verhaltens ist dagegen die partielle Selbstnutzung einer Ferienwohnung92 oder ihre Vermietung in einem gemessen an den ortsüblichen Verhältnissen ungewöhnlich niedrigen Umfang, der auf mangelnde Ernsthaftigkeit der Vermietungsbemühungen schließen lässt93, die verbilligte Vermietung, soweit sie sich zwischen 50 und 75 v. H. der ortsüblichen Marktmiete bewegt94, die Vermietung eines aufwändig gestalteten oder ausgestatteten Gebäudes zu einer Marktmiete, in der sich der Gebrauchswert des Gebäudes nicht angemessen widerspiegelt95 oder der langjährig geduldete Leerstand einer nicht vermarktungsfähigen Immobilie ohne Änderungsmaßnahmen des Steuerpflichtigen96. Nicht wie ein an einem langfristigen Einnahmenüberschuss interessierter Vermieter verhält sich auch der Steuerpflichtige, der nicht nur die Herstellung des Objekts, sondern auch die Kreditkosten finanziert, ohne ein Konzept zur Ablösung der Verbindlichkeiten zu haben97. Den Fremdvergleich ermöglicht hier der Steuerpflichtige, der die Finanzierung so gestaltet, dass Kredit und Zinsen auch ohne laufende Tilgung durch eine zu einem festgelegten Zeitpunkt fällige Lebensversicherung zurückgezahlt werden98. Diese Finanzierung ist als marktgerecht und damit fremdüblich anzusehen.
IV. Fazit Die gesetzlichen Merkmale, die zum Ausdruck bringen sollen, dass nur derjenige den Tatbestand einer Einkunftsart erfüllt, dessen Verhalten mit dem Verhalten eines auf wirtschaftlichen Erfolg ausgerichteten Steuerpflichtigen übereinstimmt, allen voran die Gewinn- bzw. Einkünfteerzielungsabsicht, gebieten in Zweifelsfällen, d. h. bei langjährigen Verlusten, einen Fremdvergleich. Dieser ist hypothetisch, weil es – insbesondere bei den Gewinneinkunftsarten – kein idealtypisches Bild eines erfolgsorientierten Steuerpflichtigen gibt. Leichter fällt er bei den Überschusseinkunftsarten, speziell bei Vermietungseinkünften, weil dort ein eher statisches, nicht von sonderlich vielen Variablen abhängiges Verhalten tatbestandsprägend ist. Der damit für die konkrete Rechtsanwendung verbundene Erkenntnisgewinn fällt zwar auf den ersten Blick bescheiden aus, sollte jedoch nicht unterschätzt werden. Er ist darin zu sehen, dass die Gerichte sich bewusst machen, worauf es beim Fremdvergleich ankommt. Dafür bedarf es zunächst sorgfältiger Tatsachenfeststellung hinsichtlich des Verhaltens des Steuerpflichtigen. In einem zweiten Schritt hat der Tat- wie der Revisionsrichter sich sodann zu fragen, ob
__________ 91 92 93 94 95 96 97 98
BFH v. 9.7.2003 – IX R 102/00, BStBl. II 2003, 940. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726. BFH v. 26.10.2004 – IX R 57/02, BStBl. II 2005, 388. BFH v. 5.11.2002 – IX R 48/01, BStBl. II 2003, 646, und v. 22.7.2003 – IX R 59/02, BStBl. II 2003, 806. BFH v. 6.10.2004 – IX R 30/03, BStBl. II 2005, 386. BFH v. 25.6.2009 – IX R 54/08, BStBl. II 2010, 124. BFH v. 10.5.2007 – IX R 7/07, BStBl. II 2007, 873. BFH v. 19.4.2005 – IX R 15/04, BStBl. II 2005, 754.
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dieses Verhalten als fremdüblich anerkannt werden kann. In Grenzfällen sollte dem Steuerpflichtigen eine Einschätzungsprärogative zugebilligt werden, weil der Richter üblicherweise nicht über eine größere unternehmerische Erfahrung verfügt als der Steuerpflichtige99. Die Erfolgsgeeignetheit des Verhaltens des Steuerpflichtigen sollte der Richter deshalb nur dann in Abrede stellen, wenn dieses Verhalten auch bei großzügiger Betrachtung nicht mehr als bloße unternehmerische Fehlentscheidung bewertet werden kann. Nur so kann vermieden werden, dass Indizmerkmale überbewertet und wie selbständige Tatbestandsmerkmale behandelt werden100. Wolfgang Spindler101 hat darauf schon unmittelbar nach Ergehen des Oder-Konto-Beschlusses des BVerfG gerade auch für Liebhabereifälle hingewiesen. Dieser Hinweis hat nichts an Aktualität verloren.
__________ 99 Pezzer, Beihefter zu DStR 2007, Heft 39, 16 (18); Wassermeyer, DB 2001, 2465 (2467 f.). 100 Vgl. BVerfG v. 7.11.1995 – 2 BvR 802/90, BStBl. II 1996, 34. 101 DB 1995, 2574 (2575).
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Anmerkungen zur neueren Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zur „verbotswidrigen“ Privatnutzung des Dienst-Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer Inhaltsübersicht I. Einführung II. Die Rechtsprechung des I., des VIII. und des VI. Senats zum Veranlassungszusammenhang 1. Die Rechtsprechung des I. Senats zum Veranlassungszusammenhang bei der vGA i. S. des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG 2. Die Rechtsprechung des VIII. Senats zum Veranlassungszusammenhang bei der Einkünftequalifikation in Abgrenzung zwischen den Einkünften aus Kapitalvermögen und den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit 3. Die Rechtsprechung des VIII. Senats zum Veranlassungszusammenhang bei der vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG 4. Die Rechtsprechung des VI. Senats zum Veranlassungszusammenhang bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (Arbeitslohnbegriff)
5. Die Rechtsprechung des VI. Senats zum Veranlassungszusammenhang bei der Einkünftequalifikation in Abgrenzung zwischen den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit und anderen Einkunftsarten 6. Die Rechtsprechung des VI. Senats zum Arbeitslohnbegriff in Abgrenzung zur vGA III. Diskussion der Rechtsprechung des VI. Senats zum Arbeitslohnbegriff in der Abgrenzung zur vGA im Allgemeinen und in Bezug auf die unbefugte Privatnutzung eines Dienstwagens im Besonderen 1. Die Rechtsprechung des VI. Senats zum Arbeitslohnbegriff in Abgrenzung zur vGA 2. Das Urteil des VI. Senats vom 11.2.2010 – VI R 43/09, BFH/NV 2010, 1016 IV. Zusammenfassung
I. Einführung Sowohl der für die Körperschaftsteuer zuständige I. Senat des Bundesfinanzhofs als auch der für die Lohnsteuer zuständige VI. Senat des Bundesfinanzhofs haben sich in ihrer Rechtsprechung1 mit der – „vertragswidrigen“ – privaten Nutzung eines betrieblichen Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer und ihrer Beurteilung als verdeckte Gewinnausschüttung (vGA) auf der Ebene der Besteuerung der Kapitalgesellschaft bzw. als Arbeitslohn im Lohnsteuer-
__________ 1 BFH v. 11.2.2010 – VI R 43/09, BFHE 228, 354, BFH/NV 2010, 1016; v. 23.4.2009 – VI R 81/06, BFHE 225, 33, BFH/NV 2009, 1311; v. 23.4.2009 – VI B 118/08, BFHE 225, 41, BStBl. II 2010, 234; v. 23.1.2008 – I R 8/06, BFHE 220, 276, BFH/NV 2008, 1057; v. 17.7.2008 – I R 83/07, BFH/NV 2009, 417.
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haftungsverfahren des Arbeitgebers auseinandergesetzt. Diese Fragestellung ist in der finanzgerichtlichen Praxis von hoher praktischer Relevanz, da sie sich in einer Vielzahl von Verfahren stellt. Hat das FA bei der Besteuerung der Kapitalgesellschaft im Körperschaftsteuerbescheid eine vGA wegen der vertragswidrigen privaten Nutzung eines betrieblichen Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer angenommen und eine entsprechende außerbilanzielle Hinzurechnung vorgenommen, nimmt die Kapitalgesellschaft häufig das Vorliegen einer vGA in Abrede. Dabei geht die Argumentation im Tatsächlichen regelmäßig dahin, eine private Nutzung des betrieblichen Kfz sei nicht erfolgt. Im Rechtlichen ist die Argumentation der Kapitalgesellschaft zumeist – hilfsweise – darauf gerichtet, die (vertragswidrige) Nutzung des betrieblichen Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer – so sie denn erfolgt sein sollte – sei dem betrieblichen Aufwand der Kapitalgesellschaft in der Gestalt von Sachlohn des Gesellschafter-Geschäftsführers zuzuordnen. Die durch die private Nutzung des betrieblichen Kfz herbeigeführte Minderung des Unterschiedsbetrags i. S. des § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG sei deshalb nicht durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst, so dass eine verdeckte Gewinnausschüttung auch aus rechtlichen Gründen nicht gegeben sei. Hingegen geht in Lohnsteuerhaftungsverfahren – bei annähernd gleichen Sachverhalten – die rechtliche Argumentation des jeweiligen Arbeitgebers – hilfsweise – dahin, die vom Finanzamt angenommene (vertragswidrige) private Nutzung des betrieblichen Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer stelle eine vGA der Kapitalgesellschaft an den Gesellschafter dar. Sie sei durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst gewesen, ein dem Lohnsteuerabzug unterliegender Sachbezug liege nicht vor2. Vor diesem Hintergrund bedarf es in Bezug auf die (vertragswidrige) private Nutzung des betrieblichen Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer klarer Kriterien für die Abgrenzung zwischen den durch das Arbeitsverhältnis veranlassten Lohnzahlungen und den durch das Gesellschaftsverhältnis veranlassten verdeckten Gewinnausschüttungen i. S. des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG auf der Ebene der Besteuerung der Kapitalgesellschaft, zwischen Arbeitslohn und verdeckten Gewinnausschüttungen als sonstige Bezügen i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG bei der Einkommensbesteuerung des Gesellschafter-Geschäftsführers sowie – im Lohnsteuerhaftungsverfahren der Kapitalgesellschaft als Arbeitgeber – zwischen der dem Lohnsteuerabzug unterliegenden Zuwendung von geldwerten Vorteilen als Arbeitslohn an den Gesellschafter-Geschäftsführer und der durch das Gesellschaftsverhältnis veranlassten Zuwendung der Kapitalgesellschaft an den Gesellschafter-Geschäftsführer. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil für Verfahren, die die Körperschaftsteuer betreffen, der I. Senat, für Verfahren, die die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen betreffen, der VIII. Senat und für Verfahren, die die Lohnsteuer und die Lohnsteuerhaftung betreffen, der VI. Senat des Bundesfinanzhofs zuständig sind.
__________ 2 Vgl. Niedersächsisches Finanzgericht v. 19.3.2009 – 11 K 83/07, DStRE 2010, 269.
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Zudem betrifft die Frage nach dem Vorliegen einer verdeckten Gewinnausschüttung in der Gestalt einer vertragswidrigen Nutzung eines betrieblichen Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer auf der Ebene der Besteuerung der Kapitalgesellschaft die Ermittlung des zutreffenden Gewinns der Kapitalgesellschaft, wobei eine durch das Gesellschaftsverhältnis (mit-)veranlasste Minderung des Unterschiedsbetrags i. S. des § 4 Abs. 1 EStG durch eine außerbilanzielle Hinzurechung zu korrigieren ist. Hingegen ist bei der Einkommensbesteuerung des Gesellschafter-Geschäftsführers in Bezug auf eine verbotswidrige Nutzung eines betrieblichen Kfz zu klären, ob diese geldwerten Vorteile bei den Einkünften aus nicht selbständiger Arbeit (Arbeitslohn) oder bei den Einkünften aus Kapitalvermögen zu erfassen sind. Es stellt sich mithin insoweit die Frage, nach welchen Kriterien die Einkünftequalifikation im Verhältnis der beiden Einkunftsarten „Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit“ und „Einkünfte aus Kapitalvermögen“ in Bezug auf den Zufluss solcher geldwerter Vorteile beim Gesellschafter-Geschäftsführer zu erfolgen hat, welche durch das Gesellschaftsverhältnis (mit-)veranlasst sind. Im Lohnsteuerhaftungsverfahren ist hingegen zu entscheiden, ob die verbotswidrige private Nutzung eines betrieblichen Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer als Arbeitslohn der Besteuerung zu unterwerfen ist. Insoweit ist zu klären, ob der weite Arbeitslohnbegriff in Bezug auf solche Fallgestaltungen einzuschränken ist, in denen der Zufluss eines geldwerten Vorteils beim Gesellschafter-Geschäftsführer durch das Gesellschaftsverhältnis (mit-)veranlasst ist. Dabei ist zu bedenken, dass der nämliche Sachverhalt, die verbotswidrige private Nutzung eines Dienst- Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer bei der Besteuerung der Kapitalgesellschaft, bei der Besteuerung des Gesellschafter-Geschäftsführers und im Lohnsteuerhaftungsverfahren nur einheitlich beurteilt werden kann, da sich Arbeitslohn und vGA insoweit denkgesetzlich ausschließen3. Im Folgenden wird deshalb zunächst die Rechtsprechung der genannten drei Senate des Bundesfinanzhofs zum Veranlassungszusammenhang bei der vGA i. S. des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG und der vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG, beim Arbeitslohnbegriff sowie bei der Einkünftequalifikation in Abgrenzung zwischen den Einkünften aus Kapitalvermögen und den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, genauer betrachtet und nachfolgend erörtert. In einem nächsten Abschnitt erfolgt dann die Betrachtung der Rechtsprechung des VI. Senats zur „vertragswidrigen“ privaten Nutzung eines betrieblichen Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer. In einem weiteren Abschnitt werden die Aussagen des VI. Senats im Urteil v. 11.2.2010 – VI R 43/09, BFH/NV 2010, 10164, zur verbotswidrigen Privatnutzung eines betrieblichen Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer, zum bloß formalen Nutzungsverbot und einer möglichen Zuordnung der durch die verbotswidrige private Nutzung dem Gesellschafter-Geschäftsführer zugeflossenen geldwerten Vorteile zum Arbeitslohn näher untersucht.
__________ 3 Anm. ge zu BFH v. 11.2.2010 – VI R 43/09, DStR 2010, 643 (644). 4 Siehe Fn. 1.
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II. Die Rechtsprechung des I., des VIII. und des VI. Senats zum Veranlassungszusammenhang 1. Die Rechtsprechung des I. Senats zum Veranlassungszusammenhang bei der vGA i. S. des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG In Ergänzung des zwischen der Kapitalgesellschaft und dem Gesellschafter bestehenden gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzips legt § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG für das Körperschaftsteuerrecht fest, dass vGA das Einkommen ebenso wenig mindern wie offene Gewinnausschüttungen (§ 8 Abs. 3 Satz 1 KStG). Da es sich bei der offenen wie der verdeckten Gewinnausschüttung um eine Gewinnverwendung der Kapitalgesellschaft handelt, darf die Gewinnverwendung auch dann nicht das Einkommen der Körperschaft verringern, wenn sie „verdeckt“ erfolgt, also nach Art und/oder Bezeichnung unter einer anderen Zuwendungsart verborgen ist5. Nach der ständigen Rechtsprechung des I. Senats ist unter einer vGA i. S. des § 8 Abs. 3 Satz 2 des Körperschaftsteuerrechts (KStG) bei einer Kapitalgesellschaft eine Vermögensminderung (verhinderte Vermögensmehrung) zu verstehen, die durch das Gesellschaftsverhältnis (mit-)veranlasst (Hervorhebung durch den Verfasser) ist, sich auf die Höhe des Unterschiedsbetrages gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG auswirkt und in keinem Zusammenhang zu einer offenen Ausschüttung steht; dabei muss die Unterschiedsbetragsminderung die objektive Eignung haben, beim Gesellschafter einen sonstigen Bezug i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG auszulösen6. Eine Vermögensminderung bei der Kapitalgesellschaft kann dabei nicht nur durch eine Rechtshandlung bewirkt werden, sondern auch durch eine tatsächliche Handlung, z. B. Diebstahl, Unterschlagung oder Untreue7. Für die Annahme einer vGA i. S. des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG ist es nicht erforderlich, dass die Vermögensminderung (verhinderte Vermögensmehrung) bei der Kapitalgesellschaft ausschließlich oder im Wesentlichen durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist. Eine vGA i. S. des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG liegt bereits dann vor, wenn die Vermögensminderung bei der Kapitalgesellschaft durch das Gesellschaftsverhältnis (mit-)veranlasst ist. Nur dann, wenn eine Vermögensminderung bei der Kapitalgesellschaft ausschließlich betrieblich veranlasst und deshalb nicht durch das Gesellschaftsverhältnis (mit-)veranlasst ist, darf sie sich auf die Ermittlung des Einkommens der Kapitalgesellschaft i. S. des § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG auswirken. Jede Einkommensminderung bei der Kapitalgesellschaft, die durch das Gesellschaftsverhältnis (mit-)veranlasst wird, stellt sich hingegen als Einkommensverwendung der Kapitalgesellschaft dar, da sie final im Interesse des Gesellschafters erfolgt und einen unangemessenen
__________ 5 Gosch in Gosch, 2. Aufl. 2009, § 8 KStG Rz. 157. 6 Siehe z. B. BFH v. 7.8.2002 – I R 2/02, BStBl. II 2004, 131; v. 6.4.2005 – I R 15/04, BStBl. II 2006, 196; v. 3.5.2006 – I R 124/04, BFHE 214, 80, BFH/NV 2006, 1729; v. 23.1.2008 – I R 8/06, BFHE 220, 276, BFH/NV 2008, 1057. 7 BFH v. 14.10.1992 – I R 17/92, BStBl. II 1995, 353.
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Vermögenstransfer zugunsten des Gesellschafters zur Folge hat, der zu Lasten der Kapitalgesellschaft geht8. Für den größten Teil der entschiedenen Fälle hat der I. Senat in ständiger Rechtsprechung9 die Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis angenommen, wenn die Kapitalgesellschaft ihrem Gesellschafter oder einer diesem nahestehenden Person einen Vermögensvorteil zuwendet, den sie bei der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einem Nichtgesellschafter nicht gewährt hätte. Erfolgen die Zuwendungen der Kapitalgesellschaft an den beherrschenden Gesellschafter oder an eine diesem nahe stehende Person, so kann eine vGA i. S. des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG auch dann anzunehmen sein, wenn es für die Leistung an einer klaren im Voraus getroffenen, zivilrechtlich wirksamen und tatsächlich durchgeführten Vereinbarung fehlt10. Insoweit besteht die indizielle Vermutung einer gesellschaftlichen Veranlassung. Wird diese Vermutung von der Kapitalgesellschaft nicht widerlegt, so liegt eine vGA dem Grunde nach vor11. 2. Die Rechtsprechung des VIII. Senats zum Veranlassungszusammenhang bei der Einkünftequalifikation in Abgrenzung zwischen den Einkünften aus Kapitalvermögen und den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit § 20 Abs. 3 EStG regelt, dass Einkünfte aus Kapitalvermögen den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb, aus selbständiger Arbeit oder aus Vermietung und Verpachtung zuzurechen sind, wenn sie zu diesen Einkünften gehören. Eine Zurechnung zu einer dieser Einkunftsarten erfolgt, wenn Einkünfte aus Kapitalvermögen in wirtschaftlichem Zusammenhang mit den genannten anderen Einkünften erzielt werden12. Hingegen enthält § 20 Abs. 3 EStG keine Kollisionsregelung im Verhältnis der Einkünfte aus Kapitalvermögen zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit. Nach der Rechtsprechung des VIII. Senats ist die Abgrenzung in diesem Fall aus der Wesensart der jeweiligen Einkunftsart heraus zu treffen. Maßgebend sei dabei, so der VIII. Senat, die Einkunftsart, die im Vordergrund stehe und die die Beziehungen zu den anderen Einkunftsarten verdränge. Dem entsprechend hat auch der IX. Senat in seinem Urteil v. 5.4.2006 – IX R 111/00, BStBl. II 2006, 654, entschieden. Das Urteil betraf die Zuordnung von Schuldzinsen für Darlehen, mit denen ein Arbeitnehmer den Erwerb von Gesellschaftsanteilen an seiner Arbeitgeberin finanziert hatte, um damit die arbeitsvertragliche Voraussetzungen für die Erlangung einer höher dotierten Position zu erfüllen, zu den Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen.
__________ 8 9 10 11 12
Gosch (Fn. 5), Rz. 285. Vgl. z. B. BFH v. 23.2.2005 – I R 70/04, BStBl. II 2005, 882. Ständige Rspr. des I. Senats, vgl. BFH v. 23.2.2005 – I R 70/04, BStBl. II 2005, 882. Gosch (Fn. 5), Rz. 334. BFH v. 8.4.1986 – VIII R 260/82, BStBl. II 1986, 557; v. 31.10.1989 – VIII R 210/83, BStBl. II 1990, 532 zur Abgrenzung zwischen Arbeitslohn und Einkünften i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG 1987.
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U. a in seinem Urteil v. 13.12.2006 – VIII R 31/05, BStBl. II 2007, 393, hatte der VIII. Senat hingegen zu beurteilen, ob es sich bei Zuwendungen einer Kapitalgesellschaft an ihren Gesellschafter um eine bei den Einkünften aus Kapitalvermögen zu erfassende vGA (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG) oder um Arbeitslohn handelt. Insoweit hat der VIII Senat ausgeführt, ob eine Vereinbarung zwischen einer GmbH und ihrem Gesellschafter-Geschäftsführer ausschließlich betrieblich oder – stattdessen oder zugleich – durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst sei, müsse im gerichtlichen Verfahren in erster Linie das FG anhand aller Umstände des konkreten Einzelfalls beurteilen. Hingegen finden sich keine Ausführungen dazu, dass es in einem derartigen Fall, in dem der Gesellschafter-Geschäftsführer sowohl Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit als Geschäftsführer und aus Kapitalvermögen als Gesellschafter bezog, darauf ankomme, welche Einkunftsart im Vordergrund stehe und die Beziehungen zu den anderen Einkunftsarten verdränge. 3. Die Rechtsprechung des VIII. Senats zum Veranlassungszusammenhang bei der vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG Gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG gehören zu den Einkünften aus Kapitalvermögen als sonstige Bezüge auch vGA. Eine vGA einer Kapitalgesellschaft ist nach der Rechtsprechung des VIII. Senats gegeben, wenn die Kapitalgesellschaft ihrem Gesellschafter außerhalb der gesellschaftsrechtlichen Gewinnverteilung einen Vermögensvorteil zuwendet und diese Zuwendung ihren Anlass oder zumindest ihre Mitveranlassung (Hervorhebung durch den Verfasser) im Gesellschaftsverhältnis hat. Das ist der Fall, wenn ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsführer diesen Vorteil unter sonst gleichen Umständen einem Nichtgesellschafter nicht zugewendet hätte13. 4. Die Rechtsprechung des VI. Senats zum Veranlassungszusammenhang bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (Arbeitslohnbegriff) Nach der ständigen Rechtsprechung des VI. Senats werden Vorteile dann „für“ eine Beschäftigung gewährt, wenn sie durch das individuelle Dienstverhältnis des Arbeitnehmers veranlasst sind. Das ist der Fall, wenn der Vorteil mit Rücksicht auf das Dienstverhältnis eingeräumt wird und sich die Leistung im weitesten Sinne als Gegenleistung für das Zurverfügungstellen der individuellen Arbeitskraft des Arbeitnehmers erweist14. Ein Vorteil, den der Arbeitnehmer gegen den Willen des Arbeitgebers erlangt, wird hingegen nicht „für“ eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst gewährt und zählt damit nicht zum Arbeitslohn nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 8 Abs. 1 EStG15.
__________
13 BFH v. 19.12.2007 – VIII R 13/05, BStBl. II 2008, 568; v.19.6.2007 – VIII R 54/05, BStBl. II 2007, 830; v. 13.12.2006 – VIII R 31/05, BStBl. II 2007, 393; v. 25.5.2004 – VIII R 4/01, BFHE 207, 103, BFH/NV 2005, 105; v. 8.10.1985 – VIII R 284/83, BStBl. II 1986, 481. 14 Vgl. BFH v. 17.6.2009 – VI R 69/06, BStBl. II 2010, 69; v. 16.9.2004 – VI R 25/02, BStBl. II 2006, 10. 15 BFH v. 23.4.2009 – VI R 81/06, BFHE 225, 33, BFH/NV 2009, 1311.
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Die ohne Nutzungs- oder Überlassungsvereinbarung erfolgende oder darüber hinausgehende, aber auch die einem ausdrücklichen Verbot widersprechende Nutzung eines Dienst-Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer sei – so der VI. Senat – durch das Gesellschaftsverhältnis zumindest mit veranlasst16. Diese Ausführungen finden sich auch in der jüngsten Entscheidung des VI. Senats zu diesem Problemkreis17. 5. Die Rechtsprechung des VI. Senats zum Veranlassungszusammenhang bei der Einkünftequalifikation in Abgrenzung zwischen den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit und anderen Einkunftsarten Arbeitslohn liegt nach der Rechtsprechung des VI. Senats dann nicht vor, wenn eine Zuwendung nicht mit Rücksicht auf das Dienstverhältnis, sondern wegen einer anderen, neben dem Dienstverhältnis gesondert bestehenden Rechtsbeziehung, z. B. einem Mietverhältnis erfolgt18. Dies ist nach der Auffassung des VI. Senats bei der Vermietung von Garagen oder Büroräumen durch den Arbeitnehmer an den Arbeitgeber dann der Fall, wenn die Anmietung in erster Linie im betrieblichen Interesse des Arbeitgebers erfolge19. Entscheidend, so der VI. Senat, sei die tatrichterliche Gesamtwürdigung dazu, welche Einkunftsart im Vordergrund stehe20. Der Streitfall, der dem Beschluss des VI. Senats v. 28.6.2007 – VI B 23/07, BFH/NV 2007, 1870, zu Grunde lag, betraf bei der Einkommensbesteuerung des Arbeitnehmers die Zuordnung von Zinsen, die der Arbeitgeber an seinen Arbeitnehmer aufgrund eines ihm von diesem gewährten Darlehens geleistet hatte. Ob ein Leistungsaustausch zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit oder – aufgrund einer Sonderrechtsbeziehung – zu Einkünften aus Kapitalvermögen führe, könne – so der VI. Senat – nur aufgrund einer Würdigung aller wesentlichen Umstände des Einzelfalles entschieden werden. Da hinsichtlich der vorgenannten zwei Einkunftsarten die Subsidiaritätsklausel des § 20 Abs. 3 EStG nicht eingreife, sei nach ständiger Rechtsprechung entscheidend, welche Einkunftsart im Vordergrund stehe und dadurch die andere Einkunftsart verdränge21. In diesem Zusammenhang verdient auch der Beschluss des VI. Senats v. 22.4.2009 – VI B 95/08,
__________ 16 Siehe Fn. 14. 17 Siehe Fn. 1. 18 BFH v. 17.6.2009 – VI R 69/06, BStBl. II 2010, 69; v. 16.9.2004 – VI R 25/02, BStBl. II 2006, 10; v. 19.10.2001 – VI R 131/00, BStBl. II 2002, 300; v. 7.6.2002 – VI R 145/99, BStBl. II 2002, 829; vgl. dazu auch: Schneider, Die Arbeitnehmereinkünfte und weitere Einkünfte aus Rechtsbeziehungen zum Arbeitgeber in der Rechtsprechung des BFH, DB 2006, Beilage 6 zu Heft 39, 51 ff. 19 BFH v. 16.9.2004 – VI R 25/02, BStBl. II 2006, 10; v. 19.12.2005 – VI R 82/04, BFH/NV 2006, 1076. 20 BFH v. 28.6.2007 – VI B 23/07, BFH/NV 2007, 1870; v. 30.12.2004 – VI B 67/03, BFH/NV 2005, 702. 21 Vgl. z. B. BFH v. 5.4.2006 – IX R 111/00, BStBl. II 2006, 654; v. 31.10.1989 – VIII R 210/83, BStBl. II 1990, 532; v. 8.4.1986 – VIII R 260/82, BStBl. II 1986, 557; Harenberg in Herrmann/Heuer/Raupach, § 20 EStG Rz. 1322, m. w. N.
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BFH/NV 2009, 1278 Beachtung. Der Beschluss betraf im Lohnsteuerhaftungsverfahren die Frage, ob Einmalzahlungen einer GmbH aus einer Rückdeckungsversicherung als Arbeitslohn oder verdeckte Gewinnausschüttung (vGA) steuerbar sind. Die Zahlungen der GmbH erfolgten an Eheleute, die beide als Geschäftsführer der GmbH tätig waren und von denen die Ehefrau zudem als Alleingesellschafterin am Stammkapital der GmbH beteiligt war. Die Eheleute hatten sich mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde dagegen gewandt, dass das Finanzgericht die unmittelbare Auszahlung der Versicherungsleistungen als Arbeitslohn gewürdigt hatte. Da diese Zahlung nicht im Vornherein eindeutig und klar zwischen ihnen und der GmbH vereinbart worden sei, handele es sich um eine vGA und nicht um Arbeitslohn. Der VI. Senat führt dazu in dem Beschluss v. 22.4.2009 – VI B 95/08, BFH/NV 2009, 1278, aus, die Vorinstanz habe das Vorliegen einer verdeckten Gewinnausschüttung nicht rechtsmaßstäblich fehlerhaft verneint, sondern die Auszahlung der Versicherungssumme aufgrund einer wertenden Betrachtung tatbestandlich als Zuwendung der GmbH für die in den vergangenen Jahren erbrachte Arbeitsleistung der Kläger, mithin als Arbeitslohn, beurteilt. Die Sachverhaltswürdigung des Finanzgerichts, das den Rechtsgrund für die Auszahlung der Versicherungsleistung im Dienst- und nicht im Gesellschaftsverhältnis gefunden habe, sei möglich und damit revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Welche „Rechtsmaßstäbe“ der VI. Senat dabei für das Vorliegen einer vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG anlegt, ergibt sich aus seinem Beschluss allerdings nicht. Ferner lässt sich dem vorgenannten Beschluss nicht entnehmen, nach welchen Kriterien der VI. Senat die Einkünftequalifikation in Abgrenzung zwischen den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit und denen aus Kapitalvermögen in Bezug auf die hier in Rede stehende vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG vorgenommen hat. 6. Die Rechtsprechung des VI. Senats zum Arbeitslohnbegriff in Abgrenzung zur vGA Einige Anhaltspunkt für das Rechtsverständnis des VI. Senats zu einer vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG in Abgrenzung zum Arbeitslohn ergeben sich aus dem Urteil des VI. Senats v. 23.4.2009 – VI R 81/06, BFHE 225, 33, BFH/NV 2009, 1311. Das Urteil betraf vorrangig die Frage der Arbeitnehmereigenschaft eines die Gesellschaft beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführers. In Bezug auf die im Anstellungsvertrag dem Gesellschafter-Geschäftsführer gestattete private Nutzung des Dienst-Kfz hat der VI. Senat zutreffend das Vorliegen einer vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG verneint und unter Hinweis auf die Rechtsprechung des I. Senats Sachlohn angenommen. In einem obiter dictum hat sich der VI. Senat ferner zur unbefugten Benutzung eines betrieblichen Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer geäußert. Er hat dazu ausgeführt, die ohne Nutzungs- oder Überlassungsvereinbarung erfolgende oder darüber hinausgehende, aber auch die einem ausdrücklichen Verbot widersprechende Nutzung sei durch das Gesellschaftsverhältnis zumindest mit veranlasst (Hervorhebung durch den Verfasser) sei. Deshalb halte der VI. Senat auch nicht mehr an der in seinen Beschlüssen v. 14.5.1999 – VI B 728
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258/98, BFH/NV 1999, 1330, v. 19.12 2003 – VI B 281/01, BFH/NV 2004, 488, und v. 13.4.2005 – VI B 59/04, BFH/NV 2005, 1330 vertretenen Auffassung fest, dass eine vertragswidrige private Nutzung eines betrieblichen Fahrzeugs durch einen Gesellschafter-Geschäftsführer stets als Arbeitslohn zu qualifizieren sei22. Ferner führt der VI. Senat aus: „Allerdings liegt bei einer nachhaltigen ‚vertragswidrigen‘ privaten Nutzung eines betrieblichen PKW durch den anstellungsvertraglich gebundenen Gesellschafter-Geschäftsführer der Schluss nahe, dass Nutzungsbeschränkung oder -verbot nicht ernstlich gemeint sind, sondern lediglich ‚auf dem Papier stehen‘, da üblicherweise der Arbeitgeber eine unbefugte Nutzung durch den Arbeitnehmer nicht duldet. Unterbindet der Arbeitgeber (Kapitalgesellschaft) die unbefugte Nutzung durch den Arbeitnehmer (Gesellschafter-Geschäftsführer) nicht, kann dies sowohl durch das Beteiligungsverhältnis als auch durch das Arbeitsverhältnis veranlasst sein. Die Zuordnung bedarf dann der wertenden Betrachtung aller Gesamtumstände des Einzelfalls, bei der immer auch zu berücksichtigen ist, dass die ‚vertragswidrige‘ Privatnutzung auf einer vom schriftlich Vereinbarten abweichenden, mündlich oder konkludent getroffenen Nutzungs- oder Überlassungsvereinbarung beruhen und damit im Arbeitsverhältnis wurzeln kann“. Diese Auffassung hat der VI. Senat nachfolgend auch im Urteil v. 11.2.2010 – VI R 43/09, BFH/NV 2010, 1016, vertreten.
III. Diskussion der Rechtsprechung des VI. Senats zum Arbeitslohnbegriff in der Abgrenzung zur vGA im Allgemeinen und in Bezug auf die unbefugte Privatnutzung eines Dienstwagens im Besonderen 1. Die Rechtsprechung des VI. Senats zum Arbeitslohnbegriff in Abgrenzung zur vGA In der Rechtsprechung des VI. Senats findet sich bei der Definition des Arbeitslohnbegriffs keine ausdrückliche Abgrenzung zur vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG. Unter welchen Voraussetzungen der VI. Senat zu der Annahme einer vGA gelangt, ist in seiner Rechtsprechung ebenfalls nicht ausdrücklich dargelegt. Eine Einschränkung des weiten Arbeitslohnbegriffs (§ 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 8 Abs. 1 EStG) zu den nicht dem Lohnsteuerabzug unterliegenden vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG ist jedoch geboten, um eine widerspruchfreie Abgrenzung zu ermöglichen. Selbst wenn eine wertende Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu erfolgen hat, bedarf es konkreter Kriterien für die Zuordnung der verbotswidrigen privaten Nutzung eines Dienst-Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer. Diese Abgrenzung ist nicht zuletzt im Hinblick auf den nach § 32d EStG ab dem VZ 2009 geltenden gesonderten Steuertarif für Einkünfte aus Kapitalvermögen von besonderer Bedeutung, der auch für vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG gilt. Dazu folgendes Beispiel:
__________
22 Beschluss des VI. Senats v. 15.11.2007 – VI ER-S 4/07; vgl. dazu Beschluss des I. Senats v. 23.1.2008 – I R 8/06, BFHE 220, 276, BFH/NV 2008, 1057.
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X ist alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer einer GmbH. Diese schließt mit Y, der Ehefrau des X, einen Arbeitsvertrag. Zusätzlich zu einem finanziell angemessenen Gehalt erhält Y von der GmbH einen Dienstwagen zur Verfügung gestellt, den sie privat nutzen darf, während alle anderen Mitarbeiter der GmbH, die in vergleichbarer Funktion tätig sind, nicht über einen Dienstwagen verfügen. Die aus der erlaubten Privatnutzung des Dienst-Kfz resultierenden Nutzungsvorteile unterwirft die GmbH der Lohnbesteuerung nach der sog 1 v. H.-Regelung. Y, die getrennt zur Einkommensteuer veranlagt wird, macht geltend, die Nutzungsvorteile aus der privaten Pkw-Nutzung seien bei ihr nicht als geldwerter Vorteil und als Arbeitslohn zu erfassen. Insoweit handele es sich um Zuwendungen, die bei ihr nicht steuerbar seien. Trotz der Gestattung der privaten Nutzung des Dienst-Kfz im Arbeitsvertrag habe die GmbH als Arbeitgeber die Nutzungsvorteile nicht für eine Beschäftigung gewährt. Die Möglichkeit, das Dienst-Kfz zu privaten Zwecken nutzen zu können, stelle sich stattdessen als verdeckte Unterhaltsleistung ihres Ehemannes, des Gesellschafter-Geschäftsführers X, dar. Da Y, die Ehefrau des Gesellschafter-Geschäftsführers das Dienst-Kfz aufgrund der Regelung im Arbeitsvertrag befugt zu privaten Zwecken nutzt, werden ihr die geldwerten Vorteile dem äußeren Anschein nach für eine Beschäftigung gewährt. Da es sich bei dem Gesellschafter-Geschäftsführer jedoch um den Alleingesellschafter handelt, ist auf der Ebene der Besteuerung der Kapitalgesellschaft hinsichtlich der Leistungen der GmbH an die Y, die Ehefrau des X, als einer dem Anteilseigner nahestehenden Person ein – betriebsinterner – Fremdvergleich durchzuführen. Dieser ergibt, dass ein fremder Geschäftsführer der als Arbeitnehmerin tätigen Y einen solchen Vorteil nicht zugewendet hätte. Da die private Nutzung des Dienst-Kfz bei der GmbH zu einer Minderung des Unterschiedsbetrags i. S. des § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG geführt hat, der durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst gewesen ist, liegt eine vGA i. S. des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG vor. Deshalb ist bei der GmbH zur Ermittlung des zutreffenden Gewinns eine außerbilanzielle Hinzurechnung vorzunehmen. Ferner erfolgt bei der Einkommensbesteuerung des X als Anteilseigners die einkommensteuerliche Zurechnung einer vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG, die nach § 32d EStG der Definitivbesteuerung unterliegt. Hingegen sind die geldwerten Vorteile aus der privaten Nutzung des Dienst-Kfz bei der Y, der Ehefrau des X, nicht als Arbeitslohn zu erfassen, da es sich insoweit um eine nicht steuerbare Zuwendung des X an seine Ehefrau handelt. Dies entspricht der Rechtsprechung des BFH zur Versagung des Betriebsausgabenabzugs im Zusammenhang mit zwischen nahen Angehörigen geschlossen Verträgen und der damit korrespondierenden Nichterfassung von Einnahmen aus diesen Verträgen bei dem anderen Vertragspartner23.
__________ 23 So BFH v. 2.8.1994 – VIII R 65/93, BStBl. II 1995, 264 zur Ablehnung des Zinsabzugs als Betriebsausgabe beim Darlehnsnehmer bei einem zwischen nahen Angehörigen abgeschlossenen Darlehensvertrag und der damit korrespondierenden Nichterfassung der Zinsen bei den Einkünften des Darlehnsgebers aus Kapitalvermögen.
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Auch der folgende Beispielsfall verdeutlicht, dass es für die Qualifizierung einer unerlaubten privaten Nutzung des Dienst-Kfz durch den GesellschafterGeschäftsführer im Ausgangspunkt nicht darauf ankommen kann, ob der Arbeitnehmer den Vorteil gegen den Willen des Arbeitgebers erlangt: Für den Gesellschafter X, der sämtliche Anteile an der A-GmbH hält und deren alleiniger Geschäftsführer ist, ist im Anstellungsvertrag niedergelegt, dass eine Nutzung des Dienst-Kfz zu privaten Zwecken nicht gestattet ist. Diese Formulierung hatte X gewählt, um die einkommensteuerliche Erfassung der Nutzungsvorteile aus der privaten Nutzung des Dienst-Kfz zu vermeiden. X nutzt das Dienst-Kfz – wie er es von vornherein beabsichtigt hatte – auch zu privaten Zwecken. Die GmbH nimmt keine steuerliche Erfassung des Nutzungsvorteils bei der Lohnsteuer vor. Da es sich bei dem X um einen beherrschenden Gesellschafter handelt, ist bei der Besteuerung der GmbH ein formeller Fremdvergleich24 durchzuführen. Dieser ergibt, dass der Dienstvertrag nicht so wie vereinbar durchgeführt worden ist. Damit ist die durch die Privatnutzung des Dienst-Kfz verursachte Minderung des Unterschiedsbetrags bei der GmbH durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst und stellt mithin eine vGA i. S. des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG dar. Diese ist bei der Einkommensbesteuerung des X nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG bei dessen Einkünften aus Kapitalvermögen zu erfassen. So hat auch der VI. Senat in seiner Rechtsprechung bereits mehrere Fallgruppen herausgearbeitet, in denen ein geldwerter Vorteil nicht für eine Beschäftigung gewährt wird. Es sind dies die folgenden Fallgruppen: – die den Vorteil beim Arbeitnehmer bewirkenden Aufwendungen erfolgen im ganz überwiegenden eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers25, – der Arbeitnehmer erlangt den Vorteil gegen den Willen des Arbeitgebers26, – der Arbeitnehmer erhält den geldwerten Vorteil nicht auf der Grundlage des Arbeitsverhältnisses, sondern der im Rahmen eines sogenannten Vertrages unter nahen Angehörigen anzustellende Fremdvergleich ergibt, dass der Arbeitnehmer die Zuwendung als Familienangehöriger und damit als nicht steuerbare Unterhaltsleistung und somit nicht als Arbeitslohn erhält27, – der Arbeitnehmer erhält die Zuwendungen wegen anderer Rechtsbeziehungen28 oder wegen sonstiger, nicht auf dem Dienstverhältnis beruhender Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber29.
__________ 24 Zum formellen Fremdvergleich bei einem beherrschenden Gesellschafter vgl. Gosch (Fn. 5), § 8 KStG Rz. 318 ff. 25 BFH v. 17.9.1982 – VI R 75/79, BStBl. II 1983, 39; v. 22.3.1985 – VI R 170/82, BStBl. II 1985, 529; v. 22.3.1985 – VI R 82/83, BStBl. II 1985, 532. 26 BFH v. 23.4.2009 – VI R 81/06, BFHE 225, 33; BFH/NV 2009, 1311 m. w. N. 27 BFH v. 18.7.2007 – VI R 59/06, BStBl. II 2009, 200. 28 BFH v. 19.10.2001 – VI R 131/00, BStBl. II 2002, 300. 29 BFH v. 26.7.2006 – VI R 49/02, BStBl. II 2006, 917; Drenseck in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 19 EStG Rz. 29.
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Nicht als Arbeitslohn zu erfassen sind deshalb diejenigen geldwerten Vorteile, die sich bei der Besteuerung der Kapitalgesellschaft als durch das Gesellschaftsverhältnis mitveranlasste Minderungen des Unterschiedsbetrags i. S. des § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG darstellen und dementsprechend bei der Einkommensbesteuerung des Anteilseigner diesem als vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG zuzurechnen sind, bzw. wären. Unerheblich ist dabei hingegen, ob bei der Besteuerung der Körperschaft die vGA i. S. des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG als solche erkannt oder berücksichtigt worden ist, gleichfalls unerheblich ist, ob eine einkommensteuerliche Erfassung der vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG beim Anteilseigner erfolgt ist oder noch erfolgen wird. Soweit der VI. Senat bei der Einkünftequalifikation in der Abgrenzung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit zu denen aus Kapitalvermögen entscheidend darauf abhebt, welche Einkunftsart im Vordergrund steht und die anderer Einkunftsart verdrängt30, bedarf dies in Bezug auf die vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG der kritischen Prüfung. In der Abgrenzung zwischen Arbeitslohn und dem Zufluss von geldwerten Vorteilen, die durch das Gesellschaftsverhältnis zumindest (mit-)veranlasst sind, erkennt der VI. Senat zwar an, dass Nutzungsvorteile, die dem Gesellschafter-Geschäftsführer zugeflossen sind, bei Mitveranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis als vGA und nicht als Arbeitslohn zu beurteilen sein können. Die Rechtsprechung des VI. Senats zur Einkünftequalifikation berücksichtigt jedoch nicht hinreichend die Besonderheiten, die sich aus der Zuordnung von vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG zu den Einkünften aus Kapitalvermögen ergeben. Für die Zuordnung zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit oder denen aus Kapitalvermögen kommt es zwar grundsätzlich darauf an, welche Einkunftsart im Vordergrund steht. Dieser Grundsatz bedarf jedoch – soweit es um die Frage geht, ob Vermögensmehrungen als Arbeitslohn oder als eine vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG zu qualifizieren sind – der Modifikation. VGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG zeichnen sich gerade dadurch aus, dass für sie eine Mitveranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis erforderlich, aber auch ausreichend ist und es keiner überwiegenden Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis bedarf. Entsprechend dieser Eigenart der vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG ist bei der Einkünftequalifikation in der Abgrenzung zum Arbeitslohn nicht auf das Überwiegen der Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis abzustellen, sondern auf eine wertende Betrachtung. Wäre hingegen auch dann, wenn nur eine Mitveranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis gegeben ist, darauf abzustellen, welche Einkunftsart im Vordergrund steht und die anderer Einkunftsart verdrängt, hätte dies zur Folge, dass in allen Fällen der bloßen Mitveranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis eine Zuordnung der dem Gesellschafter-Geschäftsführer zufließenden Nutzungsvorteile zu der im Vordergrund stehenden Einkunftsart der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit bzw. zum Arbeitslohn vorzunehmen wäre. Auch dann, wenn der Zufluss von Vorteilen beim Gesellschafter-Geschäftsführer durch das Gesellschaftsverhältnis nur mitveranlasst ist, ergibt sich bei der Ein-
__________ 30 Vgl. dazu auch Anm. Schneider zu BFH v. 23.4.2008 – VI B 118/08, HFR 2009, 779.
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künftequalifikation hingegen bei wertender Betrachtung, dass stets eine Zuordnung dieser (Nutzungs-)Vorteile zu den Einkünften aus Kapitalvermögen (vGA i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG) und nicht zu den Einkünften aus nicht selbständiger Arbeit zu erfolgen hat. Nur diese Auffassung vermeidet Wertungswidersprüche bei der Einkünftequalifikation. Durch diese den Arbeitslohnbegriff einschränkende Definition wird die zutreffende einkommensteuerliche Erfassung der geldwerten Vorteile beim Anteilseigner in den Fällen sicher gestellt, in denen er zugleich aufgrund eines Anstellungsvertrags für die Kapitalgesellschaft als Arbeitnehmer tätig ist. Zudem wird eine mehrfache Besteuerung in den Fällen vermieden, in denen ein beherrschender Gesellschafter einer ihm nahestehenden Person, die als Arbeitnehmer der Kapitalgesellschaft tätig ist, Nutzungsvorteile zuwendet und die Zuwendung deshalb bei der Kapitalgesellschaft sowie damit korrespondierend beim Anteilseigner als vGA zu erfassen ist, weil sie durch das Gesellschaftsverhältnis mit veranlasst ist. 2. Das Urteil des VI. Senats vom 11.2.2010 – VI R 43/09, BFH/NV 2010, 1016 Das vorstehend genannte Urteil des VI. Senats enthält hingegen folgende Aussagen: 1. Die ohne Nutzungs- oder Überlassungsvereinbarung erfolgende oder darüber hinausgehende, aber auch die einem ausdrücklichen Verbot widersprechende private Nutzung eines Dienst-Kfz durch den Gesellschafts-Geschäftsführer ist durch das Gesellschaftsverhältnis zumindest mit veranlasst. 2. Unterbindet der Arbeitgeber (Kapitalgesellschaft) die unbefugte private Nutzung durch den Arbeitnehmer (Gesellschafter-Geschäftsführer) nicht, kann dies sowohl durch das Beteiligungsverhältnis als auch durch das Arbeitsverhältnis veranlasst sein. 3. Die „vertragswidrige“ Privatnutzung kann auf einer vom schriftlich Vereinbarten abweichenden, mündlich oder konkludent getroffenen Nutzungsoder Überlassungsvereinbarung beruhen und damit (Hervorhebung durch den Verfasser) im Arbeitsverhältnis wurzeln. 4. Die Zuordnung der durch die verbotswidrige private Nutzung des DienstKfz gezogenen Nutzungsvorteile bedarf der wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls. Zu Aussage 1: Zuzustimmen ist dem VI. Senat darin, dass die Übertretung eines im Anstellungsvertrag vereinbarten Nutzungsverbots oder einer Nutzungseinschränkung den Schluss auf deren mangelnde Ernstlichkeit nahe legen kann. Dies gilt jedoch nicht in jedem Fall. Insoweit ist zwischen einem die Kapitalgesellschaft beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführer und einem Geschäftsführer, der nur als Minderheitsgesellschafter an der Gesellschaft beteiligt ist, zu unterscheiden. Bei einem beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführer rechtfertigt die verbotswidrige Nutzung des Dienst-Kfz den Schluss auf die mangelnde Ernstlichkeit des im Anstellungsvertrag vereinbarten Nutzungsverbots oder einer Nutzungsbeschränkung. Die mangelnde Ernstlichkeit des Verein733
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barten deutet jedoch bei einem beherrschenden Gesellschafter auf die Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis hin. Gleiches gilt für den Fall, dass der Anstellungsvertrag nicht so durchgeführt wird, wie er vereinbart worden ist. Etwas anderes gilt jedoch für den Geschäftsführer, der als Minderheitsgesellschafter an der Gesellschaft beteiligt ist. Bei diesem rechtfertigt eine vertragswidrige Nutzung des Dienst-Kfz nicht ohne Weiteres den Schluss auf die mangelnde Ernstlichkeit des Nutzungsverbots. Setzt sich der als Minderheitsgesellschafter an der Gesellschaft beteiligte Geschäftsführer über das Nutzungsverbot hinweg, bedarf es weiterer Anhaltspunkte für die Annahme, die Gesellschaft sei – trotz des vereinbarten Nutzungsverbots – von vornherein mit der privaten Nutzung des Dienst-Kfz durch den Geschäftsführer einverstanden gewesen. Verzichtet die Gesellschaft auf eine Kontrolle des Nutzungsverbots oder der Nutzungseinschränkung stellt dies zwar ein Indiz dafür dar, dass das vereinbarte Nutzungsverbot nicht ernstlich gewollt gewesen ist. Verdeckt der als Minderheitsgesellschafter beteiligte Geschäftsführer jedoch beispielsweise seine verbotswidrige private Nutzung des Dienst-Kfz durch Manipulationen des von ihm zu führenden Fahrtenbuchs, die für die Gesellschaft auch bei entsprechender Prüfungen nicht ohne weiteres erkennbar sind, ist der Schluss auf die mangelnde Ernstlichkeit des Nutzungsverbots oder Nutzungsbeschränkung nicht gerechtfertigt. In diesen Fällen kann es dem Geschäftsleiter gelingen, sich zu exkulpieren, wenn er nachweist, dass er die Kompetenzdelegation nicht vorbehaltlos ermöglicht und darüber hinaus von seinen Kontrollrechten Gebrauch gemacht hat31. Hätte ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter die nicht im Interesse der Kapitalgesellschaft liegende zu einer Vermögensminderung führende Handlung, erkannt und verhindert, ist die durch die Handlung des Minderheitsgesellschafters bewirkte Vermögensminderung dann durch das Gesellschaftsverhältnis mitveranlasst, wenn der Geschäftsleiter diese Handlung des Minderheitsgesellschafter nicht erkennt oder sie jedenfalls nicht verhindert. Auch die Handlungen einer dem beherrschenden Gesellschafter oder dem Minderheitsgesellschafter nahestehenden Person, der die Befugnis eingeräumt worden ist, über das Vermögen der Kapitalgesellschaft zu verfügen, sind nach Auffassung des I. Senats jedenfalls dann durch das Gesellschaftsverhältnis mit veranlasst, wenn Handlungen der nahe stehenden Person durch unzureichende oder fehlende Kontrollen seitens der Gesellschafterversammlung erleichtert oder ermöglicht worden sind; anders entschied hingegen der VIII. Senat im Urteil v. 19.6.2007 – VIII R 54/05, BStBl. II 2007, 830, für die Handlungen einer dem beherrschenden Gesellschafter nahestehenden als Geschäftsführer bestellten Person. Ist die dem beherrschenden Gesellschafter nahestehende Person ihrerseits Gesellschafter wird in der Regel von einer Vorteilzuwendung an diese Person aufgrund ihrer eigenen Gesellschafterstellung auszugehen sein, nicht jedoch von einer mittelbaren Vorteilszuwendung an den beherrschenden
__________ 31 Gosch (Fn. 5), § 8 KStG Rz. 705.
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Gesellschafter32. In dem vom VI. Senat mit Urteil v. 11.2.2010 – VI R 43/09, BFH/NV 2010, 1026, entschiedenen Streitfall hatte der Gesellschafter-Geschäftsführer A kein Fahrtenbuch geführt und die GmbH hatte die Einhaltung des Nutzungsverbots nicht überwacht. Zudem war die andere GesellschafterGeschäftsführerin die Lebensgefährtin des A, der neben seinem Dienst-Kfz nur über ein älteres Cabrio mit Saisonkennzeichen für die Monate April bis Oktober verfügte. Sämtliche vorgenannte Umstände deuten in diesem Fall darauf hin, dass das Nutzungsverbot nicht ernstlich vereinbart war und somit auf eine Mitveranlassung der verbotswidrigen Kfz-Nutzung durch das Gesellschaftsverhältnis. Zu Aussage 2: Die Aussage, dass dann, wenn der Arbeitgeber (Kapitalgesellschaft) die unbefugte Nutzung durch den Arbeitnehmer (Gesellschafter-Geschäftsführer) nicht unterbinde, dies sowohl durch das Beteiligungsverhältnis als auch durch das Arbeitsverhältnis veranlasst sein könne, trifft in ihrer Allgemeinheit nicht zu. Der Umstand, dass der Arbeitgeber die unbefugte Nutzung des Dienst-Kfz durch einen Arbeitnehmer (Gesellschafter-Geschäftsführer) nicht unterbindet, wird regelmäßig durch das Beteiligungsverhältnis, nicht aber durch das Arbeitsverhältnis veranlasst sein. Handelt es sich bei dem Geschäftsführer um einen beherrschenden Gesellschafter, kommt eine Unterbindung der Privatnutzung durch den Arbeitgeber – die GmbH – nicht in Betracht, wenn der Geschäftsführer Alleingesellschafter ist, und kaum in Betracht, wenn der Geschäftsführer beherrschender Gesellschafter ist. Zum anderen wird die Duldung der unerlaubten Privatnutzung in diesen Fällen durch das Gesellschaftsverhältnis jedenfalls mitveranlasst sein. Dies folgt daraus, dass das im Anstellungsvertrag mit dem die GmbH beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführer enthaltene Verbot der privaten Privatnutzung, nicht eingehalten und der Anstellungsvertrag damit nicht so wie vereinbart durchgeführt wird. Aus diesem Umstand kann bei einem beherrschenden Gesellschafter regelmäßig auf die Tatbestandsvoraussetzungen einer vGA geschlossen werden33. Schreitet der Arbeitgeber gegen die vertragswidrige Nutzung eines Dienst-Kfz zu privaten Zwecken durch einen Geschäftsführer nicht ein, der Minderheitsgesellschafter ist, kommt dafür eine Mitveranlassung der verbotswidrigen KfzNutzung durch das Gesellschaftsverhältnis in den Fällen in Betracht, in denen der Arbeitgeber von seinen Kontrollrechten nicht hinreichend Gebrauch gemacht hat und die vertragswidrige Privatnutzung deshalb nicht erkennt oder aber die vertragswidrige Privatnutzung zwar erkannt hat, jedoch dagegen nicht eingeschritten ist. Überlässt die GmbH als Arbeitgeber dem als Geschäftsführer tätigen Minderheitsgesellschafter ein Dienst-Kfz und untersagt die GmbH dabei lediglich im Dienstvertrag formal die Nutzung des Dienst-Kfz zu privaten Zwecken, wäh-
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32 Gosch (Fn. 5), § 8 KStG Rz. 227; BFH v. 22.2.2005 – VIII R 24/03, BFH/NV 2005, 1266; v. 6.12.2005 – VIII R 70/04, BFH/NV 2006, 722; v. 13.12.2006 – VIII R 31/05, BStBl. II 2007, 393. 33 BFH v. 6.12.1995 – I R 88/94, BStBl. II 1996, 383.
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rend GmbH und Geschäftsführer sich darüber einig sind, dass letzterer das Dienst-Kfz auch zu privaten Zwecken nutzen darf, mangelt es den Vertragsparteien in Bezug auf das Nutzungsverbot an dem erforderlichen Rechtsbindungswillen. Ein Scheingeschäft liegt dann vor, wenn die Parteien einvernehmlich und einverständlich nur den äußeren Schein eines Rechtsgeschäfts hervorrufen, jedoch die damit verbundenen Rechtsfolgen nicht eintreten lassen wollen34. Vereinbart die GmbH als Arbeitgeber mit einem Fremdgeschäftsführer ein solches formales Nutzungsverbot hinsichtlich der privaten Nutzung des Dienst-Kfz, ist der Vorteil der privaten Kfz-Nutzung für eine Beschäftigung im privaten Dienst gewährt, da die Möglichkeit der privaten Nutzung des DienstKfz Teil der Entlohnung des Fremdgeschäftsführers darstellt. Vereinbart hingegen die GmbH ein solches formales Nutzungsverbot mit einem Geschäftsführer, der zugleich Minderheitsgesellschafter ist, hat die private Nutzung ihre alleinige Veranlassung nicht im Dienstverhältnis, sondern es liegt stets zumindest eine Mitveranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis vor. Steht die mangelnde Ernstlichkeit des Vereinbarten fest, ist auch bei einem Minderheitsgesellschafter eine vGA gegeben35. Zu Aussage 3: Zutreffend ist die Aussage des VI. Senats, in den Fällen des mit dem Gesellschafter-Geschäftsführer im Anstellungsvertrag bloß formal vereinbarten Nutzungsverbots sei es denkbar, dass eine vom Schriftlichen abweichende mündliche oder konkludente Nutzungs- oder Überlassungsvereinbarung getroffen worden sei. Die weitere Schlussfolgerung des VI. Senats, die „vertragswidrige“ Privatnutzung könne damit im Arbeitsverhältnis wurzeln, verdient hingegen keine Zustimmung. Maßstab für die Feststellung der gesellschaftlichen Mitveranlassung ist in erster Linie das Verhalten des ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführers als typisierte Denkfigur36. Da ein solcher ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsführer, der das Dienst-Kfz zu privaten Zwecken nutzen möchte, kein Nutzungsverbot im Anstellungsvertrag vereinbart hätte, spricht der anzustellende Fremdvergleich zumindest für eine gesellschaftliche Mitveranlassung der durch die verbotswidrige Privatnutzung des Dienst-Kfz bewirkten Minderung des Unterschiedsbetrags bei der GmbH. Es mag zwar auch vorkommen, dass eine GmbH als Arbeitgeber gegenüber einem Fremdgeschäftsführer ein solches bloß formales Nutzungsverbot hinsichtlich der Nutzung des Dienst-Kfz zu privaten Zwecken ausspricht, obwohl sich die GmbH und der Fremdgeschäftsführer darüber einig sind, dass Letzterer das Dienst-Kfz auch zu privaten Zwecken nutzen darf. Dieser Umstand führt jedoch nicht dazu, dass dann, wenn die GmbH ein entsprechendes formales Privatnutzungsverbot gegenüber einem Gesellschafter-Geschäftsführer ausspricht, keine Mitveranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis anzunehmen ist. Es liegt nämlich in letzterem Fall nahe, dass diese Vorgehensweise zumindest auch auf der Gesellschafterstellung des Geschäftsführers beruht. Die
__________ 34 Gosch (Fn. 5), § 8 KStG Rz. 347. 35 BFH v. 6.12.1995 – I R 88/94, BStBl. II 1996, 383. 36 Gosch (Fn. 5), § 8 KStG Rz. 300.
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Privatnutzung des Dienst-Kfz durch Gesellschafter-Geschäftsführer
mangelnde Ernstlichkeit des schriftlichen, bloß formal vereinbarten Privatnutzungsverbots deutet gerade auf eine verdeckte Gewinnausschüttung an den Gesellschafter-Geschäftsführer hin. Zu Aussage 4: Es trifft zu, dass in Bezug auf die Zuordnung der durch die verbotswidrige private Nutzung des Dienst-Kfz gezogenen Nutzungsvorteile eine wertende Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls anzustellen ist. Dies entspricht sowohl der Rechtsprechung des I. Senats37 wie auch der des VIII Senats38 zur vGA. Eine solche wertende Betrachtung setzt jedoch voraus, dass zuvor die Kriterien definiert sind, die für oder gegen die Annahme von Arbeitslohn bzw. von vGA i. S. des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG oder von Einkünften aus Kapitalvermögen in der Gestalt der verdeckten Gewinnausschüttungen i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG sprechen. Insoweit muss der VI. Senat den Arbeitslohnbegriff in der Abgrenzung zu den vGA als sonstigen Bezügen § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG klarer konturieren und den Arbeitslohnbegriff einschränken, um Widersprüche zu der Rechtsprechung des I. und des VIII. Senats zu vermeiden.
IV. Zusammenfassung 1. Ist eine Einkünftequalifikation geldwerter Vorteile vorzunehmen und kommt entweder eine Erfassung als Arbeitslohn bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit oder als vGA bzw. sonstige Bezüge (§ 20 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG) und damit bei den Einkünften aus Kapitalvermögen in Betracht, erfolgt bei einer Mitveranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis stets eine Zuordnung zu den Einkünften aus Kapitalvermögen. In den Fällen der Mitveranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis steht in der Abgrenzung zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit stets die Einkunftsart der Einkünfte aus Kapitalvermögen deshalb im Vordergrund, weil eine vGA bereits bei einer Mitveranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis gegeben ist. Einer überwiegenden Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis bedarf es somit in Bezug auf die Einkünftequalifikation und die Zuordnung zu den Einkünften aus Kapitalvermögen nicht. 2. Der Arbeitslohnbegriff ist dahin einzuschränken, dass zum Arbeitslohn alle geldwerten Vorteile gehören, die für eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst gewährt werden, es sei denn, die Vorteilsgewährung ist durch das Gesellschaftsverhältnis mitveranlasst. 3. Ob eine Mitveranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis vorliegt, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. Dabei sind die Maßstäbe zugrunde zu legen, die der I. und der VIII. Senat des BFH in ihrer Rechtsprechung zu der vGA i. S. des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG, bzw. der des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG herausgearbeitet haben.
__________
37 BFH v. 23.7.2003 – I R 80/02, BStBl. II 2003, 926; BFH v. 9.7.2007 – I B 123/06, BFH/NV 2007, 2148. 38 BFH v. 13.12.2006 – VIII R 31/05, BStBl. II 2007, 393.
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Ein paar Gedanken zu nachträglichen Schuldzinsen bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung Inhaltsübersicht I. Einführung II. Grundzüge der bisherigen Rechtsprechung des BFH zum Abzug nachträglicher Schuldzinsen bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung III. Neuausrichtung der Rechtsprechung zum Abzug nachträglicher Schuldzinsen? 1. Verknüpfung von nachträglichem Aufwand mit der privaten Vermögensebene? 2. Neubewertung des grundlegenden Ansatzes durch das BFH-Urteil vom 16. März 2010 – VIII R 20/08
3. Ist eine Neubewertung auch bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung angezeigt? a) Einbeziehung von zur Einkünfteerzielung genutzten Grundstücken in die einkommensteuerlich relevante Vermögensebene b) Berücksichtigung von nachträglichen Schuldzinsen in den Fällen des steuerbaren Veräußerungsverlusts c) Berücksichtigung von nachträglichen Schuldzinsen auch in anderen Fällen?
I. Einführung Schuldzinsen sind nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Satz 1 EStG Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, wenn sie mit dieser Einkunftsart in wirtschaftlichem Zusammenhang (Veranlassungszusammenhang) stehen; ein allein rechtlicher Zusammenhang, etwa aufgrund einer Belastung des Grundstücks mit einer Hypothek oder Grundschuld, reicht ebenso wenig aus1 wie eine bloße gedankliche Zuweisung des Steuerpflichtigen2. Maßgeblich dafür, ob ein solcher Zusammenhang besteht, ist zum einen die – wertende – Beurteilung des die betreffenden Aufwendungen „auslösenden Moments“, zum anderen dessen Zuweisung zur einkommensteuerrechtlich relevanten Erwerbssphäre3. Bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung kommt insoweit dem mit der Schuldaufnahme verfolgten Zweck, welcher auf die Erzielung von Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung gerichtet sein
__________ 1 BFH v. 15.1.1980 – VIII R 70/78, BStBl. II 1980, 348; v. 11.5.1993 – IX R 25/89, BStBl. II 1993, 751; v. 29.7.1997 – IX R 89/94, BStBl. II 1997, 772. 2 Z. B. BFH v. 25.1.2001 – IX R 27/97, BStBl. II 2001, 573; v. 8.4.2003 – IX R 36/00, BStBl. II 2003, 706; v. 6.10.2004 – IX R 68/01, BStBl. II 2005, 324. 3 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BFHE 227, 1, FR 2010, 225.
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muss, sowie der zweckentsprechenden Verwendung der Mittel maßgebliche Bedeutung zu4. Der notwendige wirtschaftliche Zusammenhang von Schuldzinsen mit Einkünften aus Vermietung und Verpachtung ist danach gegeben, wenn ein objektiver Zusammenhang dieser Aufwendungen mit der Überlassung eines Vermietungsobjekts zur Nutzung besteht und subjektiv die Aufwendungen zur Förderung dieser Nutzungsüberlassung gemacht werden5. Mit der erstmaligen Verwendung der Darlehensvaluta – regelmäßig zur Anschaffung des Vermietungsobjekts – wird die maßgebliche Verbindlichkeit diesem Zweck unterstellt; der Zweck besteht, sofern das Darlehen nicht vorher abgelöst wird, nach den bisher in der höchstrichterliche Rechtsprechung vertretenen Grundsätzen jedenfalls solange fort, bis die Vermietungsabsicht aufgegeben wird und die Vermietungstätigkeit6 bzw. das Rechtsverhältnis7 im Sinne der Einkunftsart endet mit der Konsequenz, dass die auf das Darlehen gezahlten Schuldzinsen nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Satz 1 EStG zwar in dem genannten Zeitraum als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung zu berücksichtigen sind, nach Ende der Vermietungstätigkeit jedoch grundsätzlich8 nicht mehr als solche anerkannt werden. Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, ob und inwieweit diese Auffassung zum zeitlich begrenzten Abzug von Schuldzinsen vor dem Hintergrund der erweiterten Erfassung von Wertsteigerungen im Privatvermögen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG in neuem9 Lichte erscheint und daher der Revision bedarf.
II. Grundzüge der bisherigen Rechtsprechung des BFH zum Abzug nachträglicher Schuldzinsen bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung Schuldzinsen, die auf den Zeitraum nach Beendigung der Nutzung eines Gebäudes zur Erzielung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung entfal-
__________ 4 Z. B. BFH v. 27.10.1998 – IX R 44/95, BStBl. II 1999, 676; v. 29.7.1997 – IX R 89/94, BStBl. II 1997, 772; Schmitz in Herrmann/Heuer/Raupach, § 9 EStG Rz. 362; Thürmer in Blümich, EStG/KStG/GewSt, § 9 EStG Rz. 203. 5 Siehe BFH v. 25.4.1995 – IX R 114/92, BFH/NV 1995, 966; v. 25.1.2001 – IX R 27/97, BStBl. II 2001, 573, zur Aufnahme eines Umschuldungsdarlehens bei Vermietung eines zurückbehaltenen ehemaligen Betriebsgrundstücks. 6 Vgl. BFH v. 25.4.1995 – IX R 114/92, BFH/NV 1995, 966. 7 So BFH v. 19.8.1998 – X R 96/95, BStBl. II 1999, 353; v. 24.4.1997 – VIII R 53/95, BStBl. II 1997, 682. 8 Zu den schon bisher hiervon anerkannten Ausnahmen siehe die Ausführungen unter II. sowie die in Fn. 12 und 13 zitierte Rechtsprechung. 9 In der Tat sind die Ansätze einer dahin gehenden Neubewertung auch schon an anderer Stelle und zu einem früheren Zeitpunkt beleuchtet worden, s. etwa Pezzer, StuW 2000, 457 (466); Heuermann, DStZ 2002, 864; Spindler in Spiegelberger/Spindler/ Wälzholz, Die Immobilie im Zivil- und Steuerrecht, 2008, Kap. 12 Rz. 36.
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Nachträgliche Schuldzinsen bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung
len (sog. nachträgliche10 Schuldzinsen), sind von der Rechtsprechung des BFH bisher grundsätzlich nicht zum Abzug zugelassen worden, und zwar auch dann nicht, wenn der Erlös aus der Veräußerung eines zuvor zur Vermietung genutzten Grundstücks nicht ausreichte, um das ursprünglich zur Anschaffung des Grundstücks aufgenommene Darlehen abzulösen11. Etwas anderes galt mit Blick auf die Regelung in § 24 Nr. 2 EStG für rückständige Zinsen, die auf die Zeit der Vermietung entfielen, jedoch erst nach Beendigung der Vermietungstätigkeit geleistet wurden12; zudem hat die Rechtsprechung nach Aufgabe der Vermietungstätigkeit gezahlte Schuldzinsen dann als nachträgliche Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung berücksichtigt, wenn mit dem Kredit Aufwendungen finanziert worden sind, die während der Vermietungstätigkeit als sofort abziehbare Werbungskosten zu beurteilen waren13. Die Finanzverwaltung ist dieser Rechtsprechung – letztendlich14 – gefolgt15. Der IX. Senat hat sich bei der Entwicklung seiner Rechtsprechung maßgebend von der Erwägung leiten lassen, dass der ursprünglich bestehende wirtschaftliche Zusammenhang zwischen dem zur Finanzierung der Anschaffungskosten aufgenommenen Darlehen und den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung mit der Veräußerung des Grundstücks beendet sei und das anschließend fortbestehende (Rest-)Darlehen seine Ursache in dem im privaten Vermögensbereich erlittenen, nicht steuerbaren Veräußerungsverlust habe16. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 EStG erfordere für einen Werbungskostenabzug von Schuldzinsen einen wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Einkunftsart im Zeitpunkt der Entstehung der Schuldzinsen17; die Aufwendungen auf das (Rest-)Darlehen seien danach nur noch Gegenleistung für die Überlassung eines Kapitals, das nicht mehr der Erzielung von steuerbaren Einnahmen diene18. Insoweit müsse zwischen der steuerrechtlich neutralen Vermögensebene und der Ebene der Einkünfteerzielung unterschieden werden19. Vor diesem Hintergrund könnten auch aus der abweichenden steuerrechtlichen Behandlung nachträglicher
__________ 10 Gelegentlich wird auch der Begriff der „nachlaufenden“ Schuldzinsen verwendet, vgl. Schell, FR 2004, 506; Nds. FG v. 27.2.2007 – 8 K 35/02, EFG 2007, 1231; Schl.Holst. FG v. 30.10.2007 – 3 K 249/05, EFG 2008, 291. 11 Z. B. BFH v. 12.11.1991 – IX R 15/90, BStBl. II 1992, 289 m. w. N.; v. 2.6.1992 – IX R 155/88, BFH/NV 1993, 12; v. 2.3.1993 – IX R 9/90, BFH/NV 1993, 532; v. 7.12.1993 – IX R 134/90, BFH/NV 1994, 624; v. 25.4.1995 – IX R 114/92, BFH/NV 1995, 966. 12 Z. B. BFH v. 21.12.1982 – VIII R 48/82, BStBl. II 1983, 373; v. 23.1.1990 – IX R 8/85, BStBl. II 1990, 464; Thürmer in Blümich (Fn. 4), Rz. 600 „Zinsen“. 13 BFH v. 16.9.1999 – IX R 42/97, BStBl. II 2001, 528; v. 12.10.2005 – IX R 28/04, BStBl. II 2006, 407. 14 Noch einschränkend: BMF-Schreiben v. 18.7.2001, BStBl. I 2001, 513; zur Entwicklung s. Spindler (Fn. 9), Rz. 29 f. 15 BMF-Schreiben v. 3.5.2006, BStBl. I 2006, 363. 16 BFH v. 25.4.1995 – IX R 114/92, BFH/NV 1995, 966. 17 Z. B. BFH v. 12.11.1991 – IX R 15/90, BStBl. II 1992, 289; krit. Paus, DStZ 1992, 634; Intemann/Cöster, DB 2007, 2059. 18 Z. B. BFH v. 25.4.1995 – IX R 114/92, BFH/NV 1995, 966, m. w. N. 19 Spindler (Fn. 9), Rz. 24; Spindler, DStZ 1999, 706 (709); Thürmer in Blümich (Fn. 4), Rz. 600 „Zinsen“.
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Schuldzinsen bei den Gewinneinkunftsarten keine Schlussfolgerungen für den Abzug derartiger Aufwendungen bei den Überschusseinkunftsarten hergeleitet werden. Denn die unterschiedliche steuerrechtliche Behandlung nachträglicher Schuldzinsen bei den Gewinneinkünften einerseits und den Überschusseinkünften andererseits beruhe auf dem Dualismus der Einkünfteermittlung, der vom Grundsatz der Nichtsteuerbarkeit von Wertveränderungen im Privatvermögen geprägt sei. Dieser Dualismus begegne auch unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) keinen verfassungsrechtlichen Bedenken20. Mit einer vergleichbaren Begründung hatte auch der VIII. Senat die Berücksichtigung nachträglicher Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen, welche der Steuerpflichtige aus einer – später veräußerten – wesentlichen Beteiligung i. S. des § 17 EStG erzielt hatte, abgelehnt21; bei den Einkünften aus § 17 EStG bestehe kein vom Privatvermögen getrenntes Betriebsvermögen, das nach Veräußerung der Beteiligung zurückbleiben könne. Auch die anderen Besonderheiten der Einkünfte aus § 17 EStG rechtfertigten keine vollständige Gleichstellung der wesentlichen Beteiligung mit der steuerlichen Behandlung von Mitunternehmeranteilen. Gegenüber der Rechtsprechung des BFH zu den nachträglichen Schuldzinsen bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung ist im Schrifttum und in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung Zustimmung22, aber auch nachhaltig Kritik23 geäußert worden. Die Kritiker vertraten u. a. die Auffassung, dass ein durch die Zweckbindung des zur Immobilienfinanzierung aufgenommenen Darlehens geschaffener Veranlassungszusammenhang durch die nachfolgende Veräußerung der Immobilie nicht überlagert oder unterbrochen werde, sondern jedenfalls dann fortbestehe, wenn der Verkaufserlös zur Abdeckung der Schuld verwendet werde24; die abweichende Rechtsprechung des BFH beachte § 24 Nr. 2 EStG nicht und sei mit dem Grundsatz der Gleichstellung der Begriffe Betriebsausgaben und Werbungskosten hinsichtlich des Veranlassungsprinzips nicht vereinbar25. Auch folge weder aus einer Beendigung des Einnahmenzuflusses noch aus dem Vorliegen eines privaten Veräußerungsverlusts, dass die ursprüngliche Veranlassung durch die Einkünfteerzielung ende und damit der Schuldzinsenabzug zu versagen sei26.
__________ 20 Spindler, DStZ 1999, 706 (709), unter Hinweis auf BVerfG v. 9.7.1969 – 2 BvL 20/65, BVerfGE 26, 302, BStBl. II 1970, 156, WM 1969, 1101. 21 Z. B. BFH v. 19.1.1993 – VIII R 74/91, BFH/NV 1993, 714. 22 Thürmer in Blümich (Fn. 4), Rz. 600 „Zinsen“; v. Bornhaupt in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, § 9 EStG Rz. C 60 ff.; Meyer, DStR 1983, 531; Selder, DStZ 1995, 8; Schell, FR 2004, 506; differenzierend Flies, DB 1998, 2438. 23 Z. B. Drenseck in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 9 EStG Rz. 40, m. w. N. zur finanzgerichtlichen Rechtsprechung; Trzaskalik in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 21 EStG Rz. B 426; Seitrich, FR 1983, 582; Söffing, FR 1984, 185; Paus, FR 1984, 135; Stuhrmann, DStR 2005, 726; Intemann/Cöster, DB 2007, 2059. 24 Vgl. Seitrich, FR 1983, 584. 25 Vgl. Söffing, FR 1984, 188. 26 So etwa Paus, FR 1984, 135 (137).
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Nachträgliche Schuldzinsen bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung
III. Neuausrichtung der Rechtsprechung zum Abzug nachträglicher Schuldzinsen? Die Kritik an der „starren Rechtsprechung“27 des IX. Senats zu den nachträglichen Schuldzinsen bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung ist bis heute nicht abgeebbt28. Die neuere Rechtsentwicklung im Bereich der steuerlichen Erfassung von Wertsteigerungen im Privatvermögen gibt daher Anlass, die Grundlagen dieser Rechtsprechung einer aktuellen Bewertung zu unterziehen. 1. Verknüpfung von nachträglichem Aufwand mit der privaten Vermögensebene? Die bisherige Rechtsprechung zur Nichtabziehbarkeit nachträglicher Schuldzinsen bei den Überschusseinkünften i. S. des § 21 EStG beruht im Grundsatz auf der Überlegung, dass nachträglicher, d. h. nach Veräußerung des zu Mietzwecken genutzten Objekts anfallender Schuldzinsenaufwand grundsätzlich nicht einer steuerlich relevanten, sondern der nicht steuerbaren und mithin privaten Vermögensebene zuzurechnen sei. Allerdings hat der VIII. Senat in zwei neueren Entscheidungen aus dem Jahr 2007 ausdrücklich offen gelassen, ob er – hinsichtlich der Einkünfte aus Kapitalvermögen aus einer Beteiligung i. S. des § 17 EStG – an diesem Grundansatz für die Zeit nach Absenkung der maßgeblichen Beteiligungsgrenzen in § 17 Abs. 1 EStG festhalten könne29. In der Tat gibt die mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/200230 begonnene und seitdem konsequent fortgeführte Rechtsentwicklung Anlass, eine gedankliche Neubewertung der Grundsätze für den Abzug nachträglicher Schuldzinsen vorzunehmen. Denn mit diesen, der Verbreiterung der Besteuerungsgrundlagen dienenden31 Änderungen hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass er bezüglich der steuerlichen Erfassung von Wertsteigerungen im Privatvermögen einen Paradigmenwechsel einleiten wollte. So knüpft § 17 EStG nach der Absenkung der Maßgeblichkeitsschwelle (bisher: Wesentlichkeitsschwelle) in Abs. 1 Satz 1 der Vorschrift von (mehr als) 25 v. H. auf (mindestens) 10 v. H. für Veranlagungszeiträume ab 199932 und auf (mindestens) 1 v. H. für Veranlagungszeiträume ab 200133 konzeptionell nicht mehr am Leitbild des Mitunternehmers an. Auch die Erfassung von Wertsteigerungen bei der Veräußerung von im Privatvermögen gehaltenen Grundstücken wurde
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27 So Drenseck in Schmidt (Fn. 23). 28 S. etwa Drenseck in Schmidt (Fn. 23), m. w. N.; FG Saarland v. 21.11.2001 – 1 K 230/98, EFG 2002, 315, rkr. 29 BFH v. 27.3.2007 – VIII R 64/05, BStBl. II 2007, 639; v. 27.3.2007 – VIII R 28/04, BStBl. II 2007, 699; krit.: Intemann/Cöster, DB 2007, 2059. 30 Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402, BStBl. I 1999, 304. 31 Vgl. BT-Drucks. 14/23, 178; 14/265, 179. 32 Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402, BStBl. I 1999, 304. 33 Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung v. 23.10.2000, BGBl. I 2000, 1433, BStBl. I 2000, 1428.
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ab 199934 mit der Verlängerung der „Spekulationsfrist“ (jetzt: Veräußerungsfrist) bei Grundstücken von zwei auf zehn Jahre in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG nicht mehr auf solche Geschäfte beschränkt, denen der Gesetzgeber bei Schaffung der Vorschrift noch „Spekulationscharakter“ zugemessen hatte35. Dieser Neuausrichtung der Vorschrift hat der Gesetzgeber auch dadurch Rechnung getragen, dass er die Überschrift von „Spekulationsgeschäfte“ in „Private Veräußerungsgeschäfte“ geändert hat. Letztlich haben diese gesetzgeberischen Eingriffe in die Systematik der grundsätzlichen Nichterfassung von Wertsteigerungen im Privatvermögen bei den Überschusseinkünften dazu geführt, dass die in der bisherigen Rechtsprechung maßgebliche „private Vermögensebene“ weit zurückgedrängt wurde. Es liegt daher nahe, diesen Umstand bei der Beurteilung des wirtschaftlichen Zusammenhangs von Schuldzinsen mit Überschusseinkünften nicht unberücksichtigt zu lassen. 2. Neubewertung des grundlegenden Ansatzes durch das BFH-Urteil vom 16. März 2010 – VIII R 20/08 Vor diesem Hintergrund ist der VIII. Senat in einer wegweisenden Entscheidung v. 16.3.201036 nunmehr davon ausgegangen, dass für die Einkünfte aus Kapitalvermögen bei Aufgabe oder Veräußerung einer Beteiligung i. S. von § 17 EStG keine sachliche Rechtfertigung mehr für die rechtliche Zuweisung nachträglicher Schuldzinsen zur (grundsätzlich) nicht steuerbaren Vermögensebene bestünde. Dem Urteil v. 16.3.2010 (VIII R 20/08) lag folgender Sachverhalt zugrunde37: Der Kläger war zu 50 v. H. an einer GmbH (Stammkapital 51 000 DM) beteiligt. 1997 erwarb er die restlichen 50 v. H. (Geschäftsanteile im Nennwert von 17 000 DM und 8 500 DM) für 300 000 DM. Dafür nahm er ein Darlehen über 225 000 DM auf. Von den später hinzuerworbenen Geschäftsanteilen veräußerte der Kläger im Dezember 2000 den Geschäftsanteil im Nennwert von 17 000 DM sowie einen durch Teilung neu gebildeten Geschäftsanteil im Nennwert von 8 000 DM (zusammen 25 000 DM) an seinen Sohn zum Preis von 5 000 DM. Den bei der Teilung des Geschäftsanteils entstandenen Zwerganteil im Nennwert von 500 DM behielt der Kläger ebenso wie seine hälftige Beteiligung am Stammkapital der Gesellschaft. Danach waren der Kläger zu etwa 51 v. H. und der Sohn des Klägers zu 49 v. H. an der GmbH beteiligt. Im Streitjahr 2001 erklärte der Kläger Schuldzinsen für das Darlehen von 9 592 DM, die er bei den Einkünften aus Kapitalvermögen geltend machte. Das Finanzamt berücksichtigte die Zinszahlungen im Einkommensteuerbescheid für 2001 nicht.
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34 Siehe § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i. d. F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/ 2002 v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402, BStBl. I 1999, 304. 35 Siehe Musil in Herrmann/Heuer/Raupach, § 23 EStG Rz. 8. 36 BFH v. 16.3.2010 – VIII R 20/08, BStBl. II 2010, 787. 37 Das Urteil führte zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung an das FG, da der BFH nicht klären konnte, ob die streitgegenständlichen Anteilsveräußerungen einem Fremdvergleich standhalten und ob im Streitfall eine gemischte Schenkung vorlag.
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Nachträgliche Schuldzinsen bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung
Der VIII. Senat hält in seinem Urteil v. 16.3.201038 an der bisherigen Rechtsprechung zum Ausschluss des nachträglichen Werbungskostenabzugs nach Veräußerung oder Aufgabe einer im Privatvermögen gehaltenen wesentlichen Beteiligung i. S. von § 17 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 EStG a. F. für die ab 1999 geltenden Gesetzesfassungen nicht mehr fest. Schuldzinsen, die für die Anschaffung einer im Privatvermögen gehaltenen Beteiligung i. S. von § 17 EStG anfallen, könnten unter den gleichen Voraussetzungen wie nachträgliche Betriebsausgaben als Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen abgezogen werden, wenn sie auf Zeiträume nach Veräußerung der Beteiligung oder Auflösung der Gesellschaft entfielen. Der Veranlassungszusammenhang der nachträglichen, nach Veräußerung der relevanten Beteiligung entstehenden Schuldzinsen mit den Einkünften aus Kapitalvermögen sei bei Aufgabe oder Veräußerung einer Beteiligung i. S. von § 17 EStG nicht mehr anders zu beurteilen als im Anwendungsbereich des § 4 Abs. 4 EStG bei den Gewinneinkünften. Denn ebenso wie nachträgliche Schuldzinsen betrieblich veranlasst seien, wenn sie nach der Veräußerung oder Aufgabe eines Betriebs weiterhin der Finanzierung der nicht ablösbaren betrieblichen Verbindlichkeiten dienten, seien nachträgliche Schuldzinsen nach der Veräußerung oder Aufgabe einer wesentlichen Beteiligung i. S. von § 17 EStG in den ab 1999 geltenden Fassungen durch die früheren Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG) veranlasst. Durch die Beendigung der Einkünfteerzielung aus Kapitalvermögen sei der ursprüngliche Veranlassungszusammenhang nicht unterbrochen, weil die nachträglichen Schuldzinsen nach wie vor durch die zur Erzielung von Einkünften aus Kapitalvermögen aufgenommenen Schulden ausgelöst seien, die bei Veräußerung oder Aufgabe der Beteiligung nicht abgelöst werden konnten. Die nachträglichen Schuldzinsen dienten mithin – ebenso wie im betrieblichen Bereich – der Finanzierung eines steuerrechtlich erheblichen Veräußerungs- oder Aufgabeverlusts. Der Gesetzgeber habe durch die Ausweitung der Besteuerung von im Privatvermögen erzielten Wertzuwächsen der bisherigen – restriktiveren – Senatsrechtsprechung die Grundlage entzogen. 3. Ist eine Neubewertung auch bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung angezeigt? Die Änderung der Rechtsprechung bei den Einkünften aus Kapitalvermögen wird aus den nachstehend erläuterten Gründen auch die Rechtsprechung des IX. Senats zu den nachträglichen Schuldzinsen bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung beeinflussen. a) Einbeziehung von zur Einkünfteerzielung genutzten Grundstücken in die einkommensteuerlich relevante Vermögensebene Wie bereits unter Punkt III. 1. gezeigt, hat der Gesetzgeber den Besteuerungszugriff nicht nur auf die im Privatvermögen erzielten Vermögenszuwächse
__________ 38 BFH v. 16.3.2010 – VIII R 20/08, BStBl. II 2010, 787.
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relevanter Beteiligungen i. S. des § 17 EStG, sondern mit der Verlängerung der Veräußerungsfrist für Grundstücke von zwei auf zehn Jahre in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG auch bei den sonstigen Einkünften i. S. des § 22 Nr. 2 EStG in nicht systemkonformer Weise – die gesetzlich vorgesehene Erfassung der Veräußerung eines zur Erzielung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung genutzten Grundstückes als „privates Veräußerungsgeschäft“ widerspricht dem den Dualismus der Einkunftsarten prägenden Grundsatz der Nichtsteuerbarkeit von (auch realisierten) Wertveränderungen im Privatvermögen – ausgedehnt. Die Vertiefung dieses Systembruchs durch Ausweitung der Besteuerung erlaubt es jedenfalls für den in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG normierten Zeitraum von zehn Jahren nicht mehr, das „Objekt“ – entsprechend der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung – der „privaten“ Vermögensebene zuzurechnen. Das Gegenteil ist vielmehr richtig: Der Gesetzgeber selbst hat durch die Ausweitung der Besteuerung von im Privatvermögen erzielten Wertzuwächsen bei vermieteten Immobilien eine Grundentscheidung dahin getroffen, dass solche Objekte nunmehr für einen gewissen – nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG deutlich erweiterten – Zeitraum der einkommensteuerlich relevanten Vermögensebene zuzurechnen sind. Dabei spielt es, wie der VIII. Senat in diesem Zusammenhang zutreffend ausgeführt hat39, keine Rolle, dass im Bereich der Überschusseinkünfte kein „Betriebsvermögen“ gebildet wird; entscheidend ist, dass die Einkunftsquelle im Falle der Veräußerung während des genannten Zeitraums dem Besteuerungszugriff unterliegt. b) Berücksichtigung von nachträglichen Schuldzinsen in den Fällen des steuerbaren Veräußerungsverlusts Richtet man den gedanklichen Fokus nun auf den für die Berücksichtigung von nachträglichen Schuldzinsen entscheidenden Veranlassungszusammenhang mit vormaligen Einkünften, kommt man angesichts des vom Gesetzgeber eingeleiteten Paradigmenwechsels auch bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung zu dem Schluss, dass das bisher von der Rechtsprechung bemühte Argument, der Fortbestand eines den Verkaufserlös der veräußerten Einkunftsquelle übersteigenden Restdarlehens habe seine Ursache in dem im privaten Vermögensbereich erlittenen, nicht steuerbaren Veräußerungsverlust40, nicht länger41 trägt. Denn die Unterscheidung zwischen der die Überschusseinkunftsarten prägenden „steuerrechtlich neutralen Vermögensebene“ und der „Ebene der Einkünfteerzielung“ hat der Gesetzgeber für den in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Zeitraum aufgegeben. Insoweit weist der VIII. Senat42 zu Recht darauf hin, dass der Veranlassungszusammenhang nachträglicher Schuldzinsen im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 EStG bei den
__________ 39 BFH v. 16.3.2010 – VIII R 20/08, BStBl. II 2010, 787. 40 BFH v. 25.4.1995 – IX R 114/92, BFH/NV 1995, 966. 41 Nach verschiedenen, gegen die bisherige Rechtsprechung erhobenen Stimmen hat diese Begründung allerdings auch bisher nicht getragen, siehe etwa Paus, FR 1984, 135 (137 f.). 42 BFH v. 16.3.2010 – VIII R 20/08, BStBl. II 2010, 787.
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Nachträgliche Schuldzinsen bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung
Überschusseinkünften nicht (mehr) anders zu beurteilen sein kann als im Anwendungsbereich des § 4 Abs. 4 EStG bei den Gewinneinkünften; denn dort ist die Rechtsprechung auch bisher schon dem Grunde nach davon ausgegangen, dass durch die Beendigung der Einkünfteerzielung der ursprüngliche Veranlassungszusammenhang nicht unterbrochen ist. Nachträgliche Schuldzinsen könnten mithin auch im Bereich der Überschusseinkünfte der Finanzierung eines steuerrechtlich erheblichen Veräußerungs- oder Aufgabeverlusts dienen; denn der Veräußerungsvorgang löst den ursprünglichen Veranlassungszusammenhang nicht. Damit wird auch dem Grundsatz der Gleichstellung der Begriffe Betriebsausgaben und Werbungskosten hinsichtlich des Veranlassungsprinzips Geltung verschafft43. Nach diesen Überlegungen kommt ein (anteilig) fortbestehender wirtschaftlicher Veranlassungszusammenhang von nachträglichen Schuldzinsen mit Einkünften aus Vermietung und Verpachtung jedenfalls dann in Betracht, wenn nach Veräußerung einer vermieteten Immobilie ein Restdarlehen verbleibt, das seine Ursache nicht in einem nicht steuerbaren („privaten“) Veräußerungsverlust hat, sondern darauf zurückzuführen ist, dass der Gesetzgeber den Veräußerungsvorgang als steuerlich erheblich erfasst. Reicht etwa der Erlös aus der Veräußerung eines zuvor zur Vermietung genutzten Grundstücks wegen des Eingreifens der Besteuerung nach § 23 EStG nicht aus, um das ursprünglich zur Anschaffung des Grundstücks aufgenommene Darlehen abzulösen, wirkt der ursprüngliche Veranlassungszusammenhang zwischen Schuldzinsen und Einkünften insoweit fort. Das Ausmaß der Besteuerung eines privaten Veräußerungsgeschäfts führt dann im Einzelfall dazu, dass Schuldzinsen auf das Restdarlehen weiter als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung Berücksichtigung finden können. Der auf der Hand liegende Einwand, dass private Veräußerungsgewinne im Sinne des § 23 EStG als sonstige Einkünfte nach § 22 Nr. 2 EStG und nicht im Rahmen der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zu versteuern sind (und daher notwendigerweise getrennt zu betrachten seien)44, greift m. E. hier nicht45; denn die Unterscheidung dieser Einkunftsarten ist lediglich steuertechnischer Natur46. Im übrigen hat der Gesetzgeber mit der Einfügung des § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG durch das JStG 199647 selbst eine inhaltliche Verknüpfung – im Sinne eines unmittelbaren Zusammenhangs48 – zwischen der Höhe eines „Gewinns“ oder „Verlusts“ aus einem privaten Immobilienveräußerungsgeschäft i. S. des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG und der einkommensteuerrechtlich relevanten Nutzung der veräußerten Immobilie im Rahmen der Einkunftsart des § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG geschaffen. Daher wäre aus dem Zusammenspiel von § 21 EStG und § 23 EStG wohl am ehesten zu folgern, dass der von Gesetzes wegen bestehende unmittelbare Zusammenhang zwischen einem steuerbaren priva-
__________ 43 44 45 46 47 48
Vgl. Söffing, FR 1984, 188. So OFD Rostock v. 2.5.2000, DStR 2000, 927. Ebenso Spindler (Fn. 9); a. A. OFD Rostock v. 2.5.2000, DStR 2000, 927. Zutreffend Pezzer, StuW 2000, 457. Jahressteuergesetz 1996 v. 11.10.1995, BGBl. I 1995, 1250; BStBl. I 1995, 438. Ebenso Heuermann, DStZ 2002, 864 (867).
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ten Veräußerungsgeschäft i. S. des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG und vorangegangenen Einkünften aus Vermietung und Verpachtung i. S. des § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG nicht nur im Anwendungsbereich des § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG, sondern – vice versa – in dem dargestellten Umfang auch bei der Prüfung des Veranlassungszusammenhangs zwischen nachträglichen Schuldzinsen und vormals erzielten Einkünften aus Vermietung und Verpachtung zu beachten sei49. c) Berücksichtigung von nachträglichen Schuldzinsen auch in anderen Fällen? Dogmatisch mag es nicht ohne weiteres einleuchten, die Berücksichtigung von nachträglichen Schuldzinsen bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung auf die Fälle des nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG steuerbaren Veräußerungsverlusts zu beschränken. Denn maßgeblich für die Berücksichtigung von Werbungskosten bei den Überschusseinkünften ist der ursprünglich gesetzte wirtschaftliche Veranlassungszusammenhang, der nicht schon durch die Veräußerung der Einkunftsquelle gelöst wird50. Daher wird die Rechtsprechung sich am Ende wohl auch mit der Frage beschäftigen müssen, ob und ggf. inwieweit die Steuerbarkeit einer Veräußerung als „Vorbedingung“ für die Anerkennung nachträglicher Schuldzinsen angesehen werden kann oder ob Schuldzinsen auch jenseits der zeitlichen Grenze der Steuerbarkeit einer Grundstücksveräußerung als abziehbare Werbungskosten in Betracht kommen könnten. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu berücksichtigen, dass ein grundsätzlich fortbestehender wirtschaftlicher Veranlassungszusammenhang immer auch durch eine daneben bestehende bedeutsame private Motivation des Steuerpflichtigen – etwa seine Entscheidung, die im Veräußerungszeit noch valutierende Darlehensschuld nicht oder nicht im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten zurückzuführen – überlagert werden kann51.
__________ 49 Die abweichende Auffassung der OFD Rostock (DStR 2000, 927) kann als wissenschaftlicher Beweis für die Richtigkeit des Zweiten Nagelmann’schen Theorems (hierzu Nagelmann, DStZ 2002, 885, 887) gelten. 50 Siehe oben Punkt III. 3. b). 51 So auch Schell, FR 2004, 506; vgl. auch BFH v. 11.12.1980 – I R 119/78, BStBl. II 1981, 460, und v. 19.1.1982 – VIII R 150/79, BStBl. II 1982, 321; v. 21.12.1982 – VIII R 48/82, BStBl. II 1983, 373.
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Silvia Schuster
Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die historische Herleitung der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen III. Die steuerliche Grundkonzeption der Vermögensübertragung gegen Versorgungsleistungen IV. Die Beschlüsse des Großen Senats von 2003 V. Die Folgerechtsprechung 1. Ablösung der privaten Versorgungsrente 2. Veräußerung des übergebenen Vermögens – Umschichtung 3. Empfänger der Versorgungsleistungen 4. Gleitende Vermögensübergabe 5. Beerdigungs-/Grabmalkosten 6. Übergabe von Geld- und Wertpapiervermögen 7. Ertragsprognose VI. Abänderung des Versorgungsvertrags und Rechtsbindungswille 1. Erhöhtes Versorgungsbedürfnis des Vermögensübergebers 2. Verringerte Leistungsfähigkeit des Übernehmers nach einer Vermögensumschichtung
3. Spätere Rückkehr zur Vertragstreue VII. Rechtsfolgen bei nicht nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG begünstigten Vermögensübergaben VIII. Die Neuregelung der Vermögensübergabe und ihre Konsequenzen für die Praxis 1. Einschränkung der Vermögensübergabe auf den Kernbereich 2. Begünstigt übertragbares Vermögen a) Übertragung von Mitunternehmeranteilen (§ 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. a EStG) b) Betriebe und Teilbetriebe (§ 10 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. b EStG) in besonderen Fällen c) Übergabe von mindestens 50 % der Anteile einer GmbH (§ 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG) 3. Vermögensumschichtungen a) Ursprüngliche Vermögensübertragung nach dem 31.12.2007 b) Ursprüngliche Vermögensübertragung vor dem 1.1.2008 4. Weitergeltung der bisherigen Rechtssprechungsgrundsätze IX. Fazit
I. Einleitung Die Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen ist Kernmaterie des X. Senats des BFH. Allerdings spielt dieses Rechtsinstitut auch in der Rechtsprechung des IX. Senats, dem der Jubilar seit Beginn seiner Tätigkeit im BFH 1991 angehört und dessen Vorsitzender er seit 2000 ist, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zu denken ist beispielsweise an das Urteil v. 16.12.1997 – IX R 11/941, mit dem erstmals höchstrichterlich entschieden wurde, dass eine
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1 BFHE 185, 208, BStBl. II 1998, 718.
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Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen mit steuerrechtlicher Wirkung grundsätzlich auch unter Fremden möglich ist oder an die Entscheidungen zum sog. Stuttgarter Modell2. Im folgenden Beitrag wird die Rechtsprechung des BFH zur Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen der letzten Jahre dargestellt. Zudem soll die Frage beleuchtet werden, welche Anforderungen an den Rechtsbindungswillen der Parteien eines Vermögensübergabevertrags zu stellen sind. Abschließend wird die zum 1.1.2008 geänderte Rechtslage kurz skizziert und geprüft, inwieweit die Rechtsprechung zu § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung weiterhin Gültigkeit hat.
II. Die historische Herleitung der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen Die Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen hat eine lange Tradition. Sie geht zurück auf das landwirtschaftliche Altenteil. Der Hofübergeber überträgt zu Lebzeiten seinen landwirtschaftlichen Betrieb auf einen einzelnen Hofnachfolger und bedingt sich und ggf. seinem Ehegatten ein Altenteil aus. Hierzu gehören neben Sach-, Natural- und Dienstleistungen auch regelmäßige Geldzahlungen. Abfindungszahlungen an die weichenden Erben können Übergabeverträge ebenfalls vorsehen. Auf der Grundlage des Vorbehalts in Art. 96 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch bestehen hierzu gegenwärtig besondere landesrechtliche Vorschriften. Vermögensübergaben gegen Versorgungsleistungen sind aber nicht auf landwirtschaftliches Vermögen beschränkt. Auch nach der Neuregelung des § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG durch das JStG 2008 v. 20.12.20073 können jedenfalls Betriebe oder Teilbetriebe, Mitunternehmeranteile und – bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen – auch GmbH-Anteile nach den Grundsätzen der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen auf die folgende Generation übertragen werden.
III. Die steuerliche Grundkonzeption der Vermögensübertragung gegen Versorgungsleistungen Versorgungsleistungen, die in Verbindung mit einer Vermögensübergabe stehen, hat die Rechtsprechung seit jeher nicht als Gegenleistung für das übertragene Vermögen angesehen. So hat bereits der RFH die Übergabe eines landwirtschaftlichen Betriebs, eines Gewerbebetriebs, aber auch von Grundvermögen an Abkömmlinge gegen die Zusage von Versorgungsleistungen an den Übergeber, seine Ehefrau, und an Geschwister als einen Vorgang des Familien-
__________ 2 BFH v. 10.12.2003 – IX R 12/01, BFHE 205, 62, BStBl. II 2004, 643; IX R 41/01, BFH/NV 2004, 1267; IX R 22/03, BFH/NV 2004, 1268; v. 17.12.2003 – IX R 8/98, BFH/NV 2004, 939; IX R 9/01, BFH/NV 2004, 1274; IX R 11/01, BFH/NV 2004, 1275; IX R 60/01, BFH/NV 2004, 1276. 3 BGBl. I 2007, 3150.
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und Erbrechts bezeichnet4. Die Leistungen konnte der Übernehmer als dauernde Lasten von seinem Gesamteinkommen absetzen; seinen Gewinn oder seine Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung minderten sie nicht5. Zeitweise wurden allerdings Aufwendungen des übernehmenden Landwirts als Betriebsausgaben behandelt6. Der Rechtsprechung des RFH folgend hat der BFH in zahlreichen Entscheidungen ausgeführt, im Falle der Übertragung eines Betriebes an Kinder oder nahe Angehörige bestehe eine nur in Ausnahmefällen zu widerlegende Vermutung dahingehend, dass sie aus familiären Gründen, nicht aber im Wege eines Veräußerungsgeschäfts unter kaufmännischer Abwägung von Leistung und Gegenleistung erfolge. Die Leistungen des Übernehmers hätten deshalb keinen Zusammenhang mit betrieblichen Einkünften; eine dem Übergeber zugesagte Rente stelle in der Regel eine außerbetriebliche Versorgungsrente und keine Veräußerungsrente dar7. Die Leistungen seien beim Übergeber als wiederkehrende Bezüge i. S. v. § 22 Nr. 1 EStG zu versteuern und beim Übernehmer als Sonderausgaben i. S. v. § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG abzusetzen. Lebenslängliche Versorgungsleistungen in Form regelmäßiger Geldzahlungen hat der BFH als Leibrenten behandelt, sofern nicht ihre Abänderung entsprechend der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten und den Bedürfnissen des Berechtigten – insbesondere durch Bezugnahme auf § 323 ZPO – vereinbart war.
IV. Die Beschlüsse des Großen Senats von 2003 In den Beschlüssen v. 12.5.20038 hat der Große Senat des BFH die Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen neu justiert. Im Beschluss GrS 1/009 wurde die lange in der Literatur, aber auch in den verschiedenen Senaten des BFH nicht einheitlich beurteilte Frage entschieden, ob nur ausreichend ertragbringende Wirtschaftseinheiten (der sog. Typus 1 nach Auffassung der Verwaltung im 1. Rentenerlass10) oder auch andere existenzsichernde Wirtschaftsgüter Gegenstand einer Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen sein können, sofern deren Wert im Zeitpunkt der Vermögensübergabe bei überschlägiger und großzügiger Berechnung mindestens die Hälfte des Kapital- oder Barwerts der wiederkehrenden Leistungen beträgt (der sog. Typus 2 des 1. Renten-
__________ 4 Z. B. RFH v. 25.6.1930 – VI A 38/30, StuW 1930, Teil II Nr. 1000; v. 8.10.1931 – VI A 770/31, RStBl. 1931, 946; v. 1.2.1933 – VI A 2056/32, RStBl. 1933, 583. 5 RFH v. 12.3.1930 – VI A 143/29, StuW 1930, Teil II Nr. 484; v. 8.8.1934 – VI A 2012/32, StuW 1934, Teil II Nr. 654. 6 RFH v. 12.9.1934 – VI A 360/34, StuW 1934, Teil II Nr. 744; aufgegeben durch BFH v. 16.9.1965 – IV 67/61 S, BFHE 83, 568, BStBl. III 1965, 706. 7 Vgl. z. B. BFH v. 23.1.1964 – IV 8/62 U, BFHE 79, 516, BStBl. III 1964, 422; v. 16.11. 1972 – IV R 38/68, BFHE 108, 28, BStBl. II 1973, 184; v. 30.10.1984 – IX R 2/84, BFHE 143, 317, BStBl. II 1985, 610. 8 BFH v. 12.5.2003 – GrS 1/00, BFHE 202, 464, BStBl. II 2004, 95, und GrS 2/00, BFHE 202, 477, BStBl. 2004, 100. 9 BFHE 202, 464, BStBl. II 2004, 95, unter C. I. 10 BMF v. 23.12.1996 – IV B 3-S 2257-54/96, BStBl. I 1996, 1508.
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erlasses11). Nach Auffassung des Großen Senats ist maßgebendes Kriterium für die Frage, ob ein Wirtschaftsgut Gegenstand einer unentgeltlichen Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen sein kann, stets die Vergleichbarkeit mit dem Vorbehaltsnießbrauch. Die vom Übernehmer zugesagten Leistungen müssten sich – auch wenn sie von ihm erwirtschaftet werden müssen – als zuvor vom Übergeber vorbehaltene, abgespaltene Nettoerträge darstellen. Deshalb sei eine unentgeltliche Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen nur dann anzuerkennen, wenn die erzielbaren Nettoerträge ausreichen, die Versorgungsleistungen abzudecken. Den von der Verwaltung und der Literatur12 gegen die Rechtsfigur der vorbehaltenen Erträge geltend gemachten Bedenken, dass eine Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen häufig nicht mehr möglich wäre bzw. die Erträge nicht zuverlässig vorausgesagt werden könnten und – so die Erträge wider Erwarten nicht ausreichten – die Gefahr einer unbeabsichtigten und existenzvernichtenden Aufdeckung der stillen Reserven bestehe, begegnete der Große Senat des BFH im Beschluss v. 12.5.2003 – GrS 1/00 mit folgenden Überlegungen: – Der erzielbare Nettoertrag des überlassenen Vermögensgegenstands ist nicht notwendigerweise mit den steuerlichen Einkünften identisch. Absetzungen für Abnutzung, erhöhte Absetzungen und Sonderabschreibungen werden dem Nettoertrag hinzugerechnet. Zinszahlungen erhöhen den Nettoertrag hingegen nur, wenn außerbetriebliche Schulden übernommen werden, deren Umfang geringer ist als der Wert des übernommenen Vermögens. Ein Unternehmerlohn ist vom Nettoertrag nur dann abzusetzen, wenn die Frage zu klären ist, ob überhaupt „Vermögen“ übergeben wurde13. Als maßgeblicher Nettoertrag können nicht nur steuerliche Einkünfte, sondern auch Einkommen im finanzwirtschaftlichen Sinn14 berücksichtigt werden. Deshalb sind auch Versorgungsleistungen, die für die Übertragung eines durch den Übernehmer genutzten Einfamilienhauses oder einer Eigentumswohnung erbracht werden, als Sonderausgaben abziehbar, wenn die ersparte Nettomiete (der Nutzungsvorteil) nicht geringer ist als die versprochenen Leistungen. Verwendet der Übernehmer vereinbarungsgemäß übergebenes Geldvermögen zur Schuldentilgung, ist ein Sonderausgabenabzug ebenfalls möglich, wenn die Versorgungsleistungen geringer als die ersparten Zinsaufwendungen sind. – Bei der Ertragsprognose wird grundsätzlich auf die Verhältnisse in der Vergangenheit abgestellt. Entscheidend sind die Nettoerträge des Jahres der Vermögensübertragung und der beiden Vorjahre. Reichen diese nicht aus, kann der Übernehmer nachweisen, dass künftig ausreichend hohe Nettoerträge zu erwarten sind. Die tatsächliche spätere Entwicklung wird als Be-
__________ 11 BMF v. 23.12.1996 (Fn. 10), Tz. 17 f. 12 Weber-Grellet, FR 2000, 401; Spiegelberger, DStR 2000, 1073 ff.; Spiegelberger, Stbg 2001, 253 ff.; Groh, FR 2001, 277. 13 Vgl. BFH v. 12.5.2003 (Fn. 8), unter C. II. 6. b. 14 P. Fischer, Wiederkehrende Bezüge und Leistungen, Rz. 340.
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weisanzeichen herangezogen15. Bei der Übertragung von Unternehmen gegen wiederkehrende Bezüge gibt es Beweiserleichterungen. Bei gewerblichen Unternehmen und Betrieben der Land- und Forstwirtschaft besteht nach Auffassung des Großen Senats des BFH eine nur in seltenen Ausnahmefällen widerlegliche Vermutung dafür, dass mit dem Betrieb ausreichend hohe Nettoerträge erwirtschaftet werden können. Gleiches gilt für Unternehmen, mit denen Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit erwirtschaftet werden. Ist vor der Vermögensübergabe der Übergeber Geschäftsführer einer GmbH und übt nach der Übergabe der Übernehmer diese Tätigkeit aus, gilt die Vermutung, dass ausreichend ertragbringendes Vermögen überlassen worden ist, auch für die Übertragung von GmbH-Anteilen16. Obwohl nach Auffassung des Großen Senats des BFH maßgebendes Kriterium für die Frage, ob ein Wirtschaftsgut Gegenstand einer unentgeltlichen Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen sein kann, die Vergleichbarkeit mit dem Vorbehaltsnießbrauch ist, kann nach dem Beschluss GrS 1/00 auch ertragloses (ein unbebautes Grundstück, Kunst- oder Sammlerobjekte) oder nicht ausreichend ertragbringendes Vermögen Gegenstand einer Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen sein. Voraussetzung ist allerdings, dass sich der Übernehmer im Übergabevertrag verpflichtet, den übertragenen Vermögensgegenstand zu veräußern und – in Absprache mit dem Übergeber – eine der Art nach bestimmte Vermögensanlage zu erwerben17. Offen blieb im Beschluss des Großen Senats des BFH GrS 1/00, ob die Abziehbarkeit der Versorgungsleistungen als dauernde Last endet, wenn das übergebene existenzsichernde Vermögen vom Übernehmer später veräußert wird18. Der X. Senats des BFH war zu diesem Zeitpunkt der Auffassung, der Sonderausgabenabzug entfalle selbst dann, wenn der Übernehmer ein ausreichend ertragbringendes Ersatzwirtschaftsgut anschaffe19. Die Finanzverwaltung, die zunächst in diesen Fällen eine andere Auffassung vertreten hatte20, schloss sich dieser Rechtsprechung an21.
V. Die Folgerechtsprechung Die Folgerechtsprechung zum Beschluss des Großen Senats v. 12.5.2003 – GrS 1/0022 – formte die im sachlichen Zusammenhang mit einer Vermögensübergabe abziehbare dauernde Last konsequent am rechtlichen Vergleichsmaßstab des Vorbehaltsnießbrauchs aus.
__________ 15 16 17 18 19
BFH v. 12.5.2003 (Fn. 8), unter C. II. 6. c. BFH v. 12.5.2003 (Fn. 8), unter C. II. 6. d. BFH v. 12.5.2003 (Fn. 8), unter C. II. 6. a. BFH v. 12.5.2003 (Fn. 8), unter C. II. 6. e. BFH v. 17.6.1998 – X R 104/94, BFHE 186, 280, BStBl. II 2002, 646; X R 129/96, BFH/NV 1999, 294. 20 BMF-Schreiben v. 23.12.1996 (Fn. 10), Tz. 20, 21. 21 BMF-Schreiben v. 26.8.2002 – IV C 3-S 2255-420/02, BStBl. I 2002, 893, Tz. 20. 22 BFH v. 12.5.2003 (Fn. 8).
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1. Ablösung der privaten Versorgungsrente 2004 musste sich der X. Senat des BFH erstmals mit dem Problem der Veräußerung des gegen Versorgungsleistungen übertragenen Vermögens und der Ablösung der Rentenverpflichtung befassen23. Der Kläger hatte das von der Mutter überlassene Betriebsgrundstück lastenfrei verkauft und an die Vermögensübergeberin 62500 DM für den Verzicht auf den dinglich gesicherten Leibrentenanspruch bezahlt. Der BFH ist der Auffassung des Klägers nicht gefolgt, die Ablösezahlung mindere den Veräußerungsgewinn. Bei der Zuordnung des Vermögensübergangs als privat und unentgeltlich verbleibe es auch dann, wenn die wiederkehrenden Leistungen mit ihrem kapitalisierten Betrag abgelöst werden. Diese Aufwendungen seien weder Veräußerungskosten noch nachträgliche Anschaffungskosten. Das von den Parteien des Vermögensübergabevertrags als unentgeltlich gewollte Geschäft ermögliche es, Betriebsvermögen zu Buchwerten und damit ohne Gewinnrealisierung auf einen Rechtsnachfolger zu übertragen. Die Ablösung der Rentenverpflichtung ändere diese steuerrechtliche Wertung nicht; sie vollziehe sich in der Privatsphäre. Diese – in der Literatur, soweit ersichtlich, nur oberflächlich zur Kenntnis genommene – Entscheidung hat immense Bedeutung für die Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen im betrieblichen Bereich. Hätte der BFH die Ablösezahlung als nachträgliche Anschaffungskosten behandelt, hätte der Vermögensübergeber, der sich auf ein steuerlich unentgeltliches Rechtsgeschäft eingestellt hat und auf die Veräußerung keinen Einfluss nehmen kann, oft Jahrzehnte nach der Überlassung des Betriebsvermögens auf die nachfolgende Generation oder Dritte einen Veräußerungsgewinn versteuern müssen, sofern die Ablösezahlung den Buchwert des überlassenen Vermögens überstiegen hätte. Zudem hat der BFH in dieser Entscheidung auch die Abziehbarkeit der Ablösezahlung als dauernde Last verneint. Mit ausschlaggebend für dieses Votum war die materiell-rechtliche Korrespondenz der Abziehbarkeit und Steuerbarkeit der vorbehaltenen Vermögenserträge. Könnte der Vermögensübernehmer die Ablösezahlung als Sonderausgabe nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG abziehen, müsste der Vermögensübergeber diese in voller Höhe versteuern. Ihm würde damit eine steuerliche Belastung auferlegt, die im Gegensatz zu der üblicherweise mit der Vermögensübergabe verbundenen Folge des Ausnutzens eines generationenübergreifenden Progressionsgefälles stünde. Nach Auffassung des X. Senat des BFH wäre eine solche Rechtsfolge nicht angemessen. Die von Spiegelberger beschworene „Sippenhaftung der Eltern“24 wurde mit der Entscheidung abgewendet. 2. Veräußerung des übergebenen Vermögens – Umschichtung Im Urteil v. 31.3.200425 hatte der BFH auch – ohne dass es entscheidungserheblich gewesen wäre – angedeutet, dass mit der Veräußerung des übergebenen Vermögens die Abziehbarkeit der wiederkehrenden Zahlungen als Sonder-
__________ 23 BFH v. 31.3.2004 – X R 66/98, BFHE 205, 285, BStBl. II 2004, 830. 24 Spiegelberger, DStR 2004, 1105 (1110). 25 BFH v. 31.3.2004 (Fn. 23).
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ausgaben jedenfalls dann enden dürfte, wenn kein Ersatzwirtschaftsgut („Surrogat“) erworben wird. Aufmerksame Leser konnten dieser Entscheidung bereits entnehmen, dass der für das Rechtsinstitut der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen zuständige X. Senat des BFH in Abweichung von seiner früheren Rechtsprechung eine die Steuerfolgen der Vermögensübergabe nicht berührende Surrogation des ertragbringenden Vermögens für angemessen hält. Im Urteil v. 31.5.200526 hat der BFH dann erkannt, dass nicht nur ertragloses, sondern auch nicht ausreichend ertragbringendes Vermögen in Absprache mit dem Vermögensübergeber in ein rentableres Wirtschaftsgut surrogiert werden kann (im Streitfall Immobilien- in Wertpapiervermögen). 201027 hat der BFH dann die nachträgliche Umschichtung auch ausreichend ertragbringenden Vermögens endgültig „abgesegnet“. Veräußert der Vermögensübernehmer das überlassene Wirtschaftsgut und erwirbt er mit dem Veräußerungserlös oder Teilen davon eine ausreichend ertragbringende Wirtschaftseinheit, endet die Abziehbarkeit der Versorgungsleistungen als Sonderausgaben nicht. Diese Form der Umschichtung ist nicht an die Zustimmung des Vermögensübergebers, sei es in Form einer generellen Gestattung im Übergabevertrag oder in einer späteren ergänzenden Regelung, gebunden. Dem Prinzip der generationenübergreifenden „Perpetuierung“ des Übergebervermögens als Leitgedanken der Vermögensübergabe28 ist genügt, wenn nach der Umschichtung in das Reinvestitionsgut die zugesagten Versorgungsleistungen weiterhin auf der Grundlage des Übergabevertrags an den Übergeber erbracht werden. Jedoch kann die Vermögensumschichtung steuerlich nur dann anerkannt werden, wenn die mit dem Reinvestitionsgut erzielten Nettoerträge die Versorgungsleistungen höchstens geringfügig unterschreiten29. Andernfalls greift insgesamt § 12 EStG30. 3. Empfänger der Versorgungsleistungen Bereits 1997 hatte der BFH entschieden, dass eine Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen mit steuerrechtlicher Wirkung grundsätzlich auch unter Fremden möglich ist31 und diese Rechtsprechung 2001 bestätigt32. Der Vermögensübernehmer muss kein Angehöriger des Vermögensübergebers sein. Hiervon zu unterscheiden ist jedoch die Frage, wer Empfänger der Versorgungsleistungen sein kann. Im Wege der vorweggenommenen Erbfolge zugesagte oder auf einem Vermächtnis beruhende Versorgungsaufwendungen sind nur dann als Sonderausgaben abziehbar, wenn der Empfänger dem sog. Genera-
__________ 26 27 28 29
BFH v. 31.5.2005 – X R 26/04, BFH/NV 2005, 1789. BFH v. 17.3.2010 – X R 38/06, BFHE n.n., BStBl. II n.n. BFH v. 1.3.2005 – X R 45/03, BFHE 209, 302, BStBl. II 2007, 103. Vgl. hierzu auch Rz. 31 des BMF-Schreibens v. 16.9.2004 – IV C 3-S 2255-354/04, BStBl. I 2004, 922, das nach Rz. 81 des BMF-Schreibens v. 11.3.2010, IV C 3-S 2221/09/10004, BStBl. I 2010, 227, für vor dem 1.1.2008 geschlossene Überlassungsverträge weiterhin anwendbar ist. 30 BFH v. 17.3.2010 (Fn. 27), unter II. 6, wonach auch die im Steuerrecht allgemein anerkannte Geringfügigkeitsgrenze von 10 % gilt. 31 BFH v. 16.12.1997 – IX R 11/94, BFHE 185, 208, BStBl. II 1998, 718. 32 BFH v. 16.5.2001 – X R 53/99, BFH/NV 2001, 1388.
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tionennachfolge-Verbund angehört33. Zu diesem zählen grundsätzlich nur solche Personen, die gegenüber dem Erben bzw. den sonstigen letztwillig bedachten Vermögensübernehmern Pflichtteils- oder ähnliche Ansprüche (Zugewinnausgleich) hätten geltend machen können und sich stattdessen mit den ihnen (vermächtnisweise) ausgesetzten Versorgungsleistungen bescheiden. Empfänger der Versorgungsleistungen können neben dem Vermögensübergeber dessen überlebender Ehepartner sowie seine Abkömmlinge sein. Die Eltern des Vermögensübergebers gehören ausnahmsweise dann zum GenerationennachfolgeVerbund, wenn der Übergeber das Vermögen seinerseits von den Eltern im Wege der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen erhalten hatte34. Geschwister des Vermögensübergebers können allenfalls dann zum begünstigten Personenkreis gehören, wenn sie bei einer früheren Vermögensübergabe übergangen worden waren und der Vermögensübergeber nunmehr seinem unentgeltlichen Rechtsnachfolger Versorgungsleistungen zu ihren Gunsten auferlegt35. Werden Geschwister des Vermögensübernehmers mit wiederkehrenden Leistungen bedacht, gilt die allgemeine Vermutung, dass sie nicht versorgt, sondern gleichgestellt werden sollen36. Die Zahlungen für den Erb- oder Pflichtteilsverzicht sind als entgeltliches Rechtsgeschäft zu beurteilen. Versorgungsleistungen gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG können nur anerkannt werden, wenn ausnahmsweise das Versorgungsbedürfnis der Geschwister im Vordergrund steht. Ob eine Person dem Generationennachfolge-Verbund angehört, richtet sich nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Vermögensübergabe oder bei Eintritt des Erbfalls. Deshalb scheiden Angehörige, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt auf ihr Pflichtteilsrecht verzichtet hatten, als Empfänger der Versorgungsleistungen aus. Andererseits können Personen, die bei Abschluss eines Erbvertrags nicht gesetzlich erbberechtigt waren, durch spätere Heirat oder Adoption zum Generationennachfolge-Verbund gehören37. Dem Abzug von Rentenzahlungen als dauernde Last steht nicht entgegen, dass der Begünstigte durch Erbeinsetzung oder Vermächtnis neben den Versorgungsleistungen existenzsicherndes Vermögen aus der Erbmasse erhält38. Da die Charakterisierung als Versorgungsleistung nicht von der Versorgungsbedürftigkeit des jeweiligen Empfängers abhängt, sind auch eigene Einkünfte (Renten, Erwerbseinkünfte etc.) des Empfängers der Versorgungsleistungen unschädlich39.
__________ 33 BFH v. 26.11.2003 – X R 11/01, BFHE 204, 192, BStBl. II 2004, 820; v. 17.12.2003 – X R 31/00, BFH/NV 2004, 1083 und X R 2/01, BFH/NV 2004, 1086. 34 BFH v. 23.1.1997 – IV R 45/96, BFHE 182, 539, BStBl. II 1997, 458. 35 BFH v. 26.11.2003 (Fn. 33). 36 BFH v. 20.10.1999 – X R 86/96, BFHE 190, 365, BStBl. II 2000, 602. 37 BFH v. 11.10.2007 – X R 14/06, BFHE 219, 160, BStBl. II 2008, 123. 38 BFH v. 11.10.2007 (Fn. 37); anders noch BFH v. 26.1.1994 – X R 54/92, BFHE 173, 360, BStBl. II 1994, 633. 39 BFH v. 16.9.2004 – X R 7/04, BFH/NV 2005, 201.
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4. Gleitende Vermögensübergabe Als Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen wird von der Rechtsprechung auch anerkannt, wenn ein anlässlich der Übergabe von Vermögen zur Vorwegnahme der Erbfolge zugunsten des Übergebers und/oder seines Ehegatten vorbehaltenes Nutzungsrecht (Nießbrauch, dingliches Wohnungsrecht) zu einem späteren Zeitpunkt gegen wiederkehrende Versorgungsleistungen auf die Lebenszeit des Berechtigten mit der Folge abgelöst wird, dass sich der bisherige Ertragsvorbehalt fortsetzt und an die Stelle des vorbehaltenen Nießbrauchs die private Versorgungsrente tritt40. Es handelt sich dann um eine sog. gleitende Vermögensübergabe, bei der die Versorgungsrente das ursprünglich vereinbarte Nutzungsrecht ersetzt. Auch der Verzicht auf einen Zuwendungsnießbrauch, den der spätere Vermögensübernehmer dem Übergeber bestellt hat, kann Gegenstand einer Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen sein41, sofern nicht § 42 AO entgegensteht. Unverzichtbare Voraussetzung für eine Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen ist jedoch auch bei einer gleitenden Vermögensübergabe der sachliche Zusammenhang zwischen der Übergabe von Vermögen einerseits und der Verpflichtung zum Erbringen von Versorgungsleistungen andererseits. Wird deshalb der Nießbrauch bzw. das sonstige Nutzungsrecht aufgegeben, ohne dass sich im Gegenzug der Vermögensübernehmer zu Versorgungsleistungen verpflichtet, so bleibt die spätere Vereinbarung von Versorgungsleistungen ohne steuerliche Wirkung42. 5. Beerdigungs-/Grabmalkosten Die steuerrechtliche Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen orientiert sich am zivilrechtlichen Altenteils-/Leibgedingvertrag. Danach richten sich auch die als Sonderausgaben abziehbaren Versorgungsleistungen. Aufwendungen, die zum Kernbestand des bürgerlich-rechtlichen Altenteils-/Leibgedingvertrages gehören, sind steuerlich ebenfalls zu berücksichtigen. Der Rechtsbegriff „Versorgungsleistungen“ umfasst damit Zuwendungen zur Existenzsicherung, durch die laufende Grundbedürfnisse des Bezugsberechtigten wie Wohnen und Ernährung und der sonstige Lebensbedarf abgedeckt werden. Darüber hinaus sind als Sonderausgaben abziehbar aber auch die Aufwendungen für die Beerdigung und das Grabmal des Altenteilers, obwohl diese nicht wiederkehrend sind43. Deren Abziehbarkeit folgt aus der Zugehörigkeit zum „Inbegriff der Versorgungsleistungen“, die insgesamt eine zivilrechtliche und damit zusammenhängend steuerrechtliche Einheit sind. Diese „Bündelung“ verschiedenartiger Versorgungsleistungen verhindert, einen einmalig zu erbringenden Leistungsbestandteil isoliert zu betrachten, zumal wenn dieser sich – wie die Kosten für das Begräbnis – als zeitlich letzter in einer Reihe unterschiedlicher laufender Zuwendungen an den Vermögensübergeber darstellt.
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40 BFH v. 16.6.2004 – X R 50/01, BFHE 207, 114, BStBl. II 2005, 130; v. 31.5.2005 (Fn. 26). 41 BFH v. 13.12.2005 – X R 61/01, BFHE 212, 195, BStBl. II 2008, 16. 42 BFH v. 17.5.2006 – X R 2/05, BFH/NV 2006, 1824. 43 BFH v. 15.2.2006 – X R 5/04, BFHE 212, 450, BStBl. II 2007, 160.
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Besondere Bedeutung kommt hier dem sich aus dem „Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit“ ergebenden materiell-rechtlichen Korrespondenzprinzip zu, das ab dem 1.1.2008 in § 22 Nr. 1a EStG auch normiert ist. Ein Sonderausgabenabzug scheidet aus, wenn entsprechende Einkünfte i. S. d. § 22 EStG niemandem mehr steuerlich wirksam zugerechnet werden können. Da nach Altenteilsrecht die Versorgungsleistungen an beide Ehegatten als Gesamtberechtigte zu erbringen sind, werden die den Erstversterbenden betreffenden Beerdigungskosten dem überlebenden Ehegatten zugerechnet44. Die angemessenen Bestattungskosten des letztverstorbenen Vermögensübergebers sind als dauernde Last i. S. v. § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG abziehbar, soweit nicht der Vermögensübernehmer, sondern ein Dritter Erbe ist45. Da der Erbe, der nach § 1968 BGB die Begräbniskosten zu tragen hat, im Innenverhältnis von der Verpflichtung zur Tragung der Beerdigungskosten entbunden wird, ist von einem Vertrag zugunsten eines Dritten, des Erben, auszugehen. Ihm und nicht dem verstorbenen Vermögensübergeber sind Einnahmen in Höhe der ersparten Beerdigungskosten zugeflossen. Ihm müssen deshalb die vorbehaltenen Erträge in Gestalt der Beerdigungskosten als wiederkehrende Einkünfte (§ 24 Nr. 2, § 22 Nr. 1 Satz 1 EStG) zugerechnet werden. Ist hingegen der Vermögensübernehmer Alleinerbe des Übergebers, scheidet ein Abzug der Beerdigungskosten als dauernde Last aus46. Die Beerdigungskosten als vorbehaltene Erträge könnten ihm allenfalls nach § 22 Nr. 1 EStG zugerechnet werden. Forderung (Anspruch auf Entlastung von den Beerdigungskosten) und Schuld (Verpflichtung aus dem Altenteilsvertrag zur Tragung der Beerdigungskosten) würden sich in einer Person vereinen mit der Folge, dass Forderung und Schuld erlöschen (Konfusion) und dementsprechend weder der Ansatz von steuerbaren Einkünften noch der Abzug von Sonderausgaben in Betracht kommt. 6. Übergabe von Geld- und Wertpapiervermögen Nach der neueren Rechtsprechung kann – bei vor dem 1.1.2008 geschlossenen Übergabeverträgen – auch Geld- und Wertpapiervermögen Gegenstand einer Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen sein. Voraussetzung ist, dass der übergebene Geldbetrag entweder – ebenso wie der Erlös aus der Veräußerung der vom Großen Senat47 ausdrücklich erwähnten „ihrer Art nach ertraglosen Wirtschaftsgüter“ – ertragbringend angelegt wird48 und die Versorgungsleistungen aus den erzielten Erträgen geleistet werden können. Die Übergabe von Geld kann aber ebenfalls dem Ziel einer Entschuldung dienen, sofern das finanzierte Wirtschaftsgut der Erzielung von Erträgen (auch in Form eines Nutzungsvorteils) dient49 und die ersparten Zinsaufwendungen nicht geringer
__________ 44 45 46 47 48 49
BFH v. 15.2.2006 (Fn. 49), unter II. 5. b. BFH v. 19.1.2010 – X R 17/09, BFHE 228, 77, BStBl. II 2010, 544, unter II. 3. b. BFH v. 19.1.2010 – X R 32/09, BFH/NV 2010, 1168. BFH v. 12.5.2003 (Fn. 8). BFH v. 16.6.2004 – X R 22/99, BFHE 206, 400, BStBl. II 2004, 1053. BFH v. 12.5.2003 (Fn. 8), unter C. II. 6. b bb a. E.; a. A. BMF v. 16.9.2004 (Fn. 29), Rz. 21 letzter Absatz, das nach Tz. 81 des BMF-Schreibens v. 11.3.2010 (Fn. 29) für vor dem 1.1.2008 geschlossene Überlassungsverträge weiterhin anwendbar ist.
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Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen
als die zugesagten Versorgungsleistungen sind. Wird ein Wirtschaftsgut veräußert, bildet die einen Zinsanteil enthaltende Kaufpreisforderung eine der Art nach ertragbringende Wirtschaftseinheit50. Der BFH hat der Auffassung, nur verbriefte, einem Wertpapier vergleichbare Forderungen könnten als ertragbringendes Vermögen angesehen werden, eine Absage erteilt51. 7. Ertragsprognose In Übereinstimmung mit der Praxis der Finanzverwaltung legt der BFH der Ertragsprognose den durchschnittlichen Nettoertrag des Jahres der Übergabe und der beiden vorangegangenen Jahre zugrunde. Doch soll der Sonderausgabenabzug nicht daran scheitern, dass die erzielbaren Nettoerträge die Summe der versprochenen Vermögenserträge geringfügig unterschreiten. Die im Steuerrecht allgemein anerkannte Geringfügigkeitsgrenze von 10 v. H. akzeptiert die Rechtsprechung bei der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen ebenfalls52. Der Nettoertrag kann aber auch nach der günstigeren Prognose des Übernehmers ermittelt werden, wenn bei diesem ausreichende Erträge zu erwarten sind. In diesem Fall ist wiederum ein überschaubarer Prognosezeitraum zugrunde zu legen. Dieser umfasst neben dem Jahr der Übergabe die beiden folgenden Jahre. In die Ertragsprognose sind vor allem die Erträge einzubeziehen, die auf eine veränderte Unternehmensführung bzw. Bewirtschaftung zurückzuführen sind. Soweit die Ergebnissteigerung Folge vom Übernehmer vorgenommener wesentlicher, über die bloße Erhaltung und Reparatur hinausgehender Investitionen in das übergebene Vermögen ist, bleibt sie für die Ertragsprognose ohne Bedeutung. In einem solchen Fall handelt es sich nicht mehr um den Ertrag des „übergebenen“ Vermögens53. Wird eine wesentliche Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft (GmbH) im Wege der vorweggenommenen Erbfolge übertragen, ist für die Ermittlung des erzielbaren Nettoertrags nicht auf die tatsächliche Gewinnausschüttung, sondern auf das Jahresergebnis der Gesellschaft abzustellen, das auf die übertragenen Anteile entfällt. Zudem fließt auch die Tätigkeitsvergütung des Gesellschafter-Geschäftsführers in die erzielbaren Nettoerträge der überlassenen Wirtschaftseinheit ein54.
VI. Abänderung des Versorgungsvertrags und Rechtsbindungswille Die Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen („private Versorgungsrente“) wurde durch den Beschluss des Großen Senats des BFH GrS 1/0055 und die Folgerechtsprechung zu einem flexiblen Instrument der Vermögensnachfolge fortentwickelt. Mit ihm können die Vertragsbeteiligten auf Änderungen
__________ 50 51 52 53 54 55
BFH v. 17.3.2010 (Fn. 27). Vgl. hierzu auch BMF-Schreiben v. 16.9.2004 (Fn. 29), Tz. 10. BFH v. 16.6.2004 (Fn. 48). BFH v. 16.6.2004 (Fn. 48), unter II. 4. c. BFH v. 21.7.2004 – X R 44/01, BFHE 207, 179, BStBl. II 2005, 133. BFH v. 12.5.2003 (Fn. 8).
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ihrer Interessen- und Bedarfslage angemessen reagieren. Bereits im Urteil v. 11.3.199256 hatte der BFH entschieden, dass die Abänderbarkeit der Zahlungen aus der Rechtsnatur des typischen Versorgungsvertrags folgt, wenn sich aus dem Übergabevertrag nicht ergibt, dass die Parteien ausnahmsweise gleich bleibende Leistungen vereinbart haben57. Die dauernde Last ist – anders als die Leibrente – nicht nur mit dem Ertragsanteil, sondern in voller Höhe als Sonderausgabe abziehbar. Im Urteil v. 3.3.200458 hat der BFH den Parteien einer Vermögensübergabe zur Vorwegnahme der Erbfolge, die zunächst die Nichtabänderbarkeit der Leistungen und damit eine Leibrente vereinbart hatten, zugestanden, dass sie im Nachhinein mit steuerlicher Wirkung für die Zukunft die Abänderbarkeit der Leistungen vereinbaren und damit die Leibrente in eine dauernde Last umwandeln können. Wie aber sind die Fälle zu beurteilen, in denen das Versorgungsbedürfnis des Vermögensübergebers steigt oder die Erträge nach einer Vermögensumschichtung die Versorgungsleistungen nicht mehr decken? 1. Erhöhtes Versorgungsbedürfnis des Vermögensübergebers Angesichts der zunehmenden Alterung der Bevölkerung und der Tatsache, dass häufig Pflegebedürftige nicht mehr von ihren Angehörigen, sondern im Heim betreut werden, kommt der Frage, ob und ggf. bis zu welcher Höhe nachträglich angehobene Versorgungsleistungen steuerlich wirksam geltend gemacht werden können, eine besondere Bedeutung zu. Reichen die Erträge des überlassenen Vermögens nicht aus, um die infolge der Pflegebedürftigkeit des Berechtigten notwendigen Zahlungen zu decken, scheidet die Abziehbarkeit dieser Versorgungsleistungen aus59. Nicht nur die Versorgungsbedürftigkeit des Empfängers, sondern auch die aus dem übertragenen Wirtschaftsgut resultierende Leistungsfähigkeit des Verpflichteten bestimmt den Korridor, innerhalb dessen die Beteiligten auf eine Änderung des Bedarfs des Berechtigten reagieren können. Es spricht viel dafür, dass bereits zivilrechtlich der Übergeber keine über die Ertragskraft des übergebenen Vermögens hinausgehenden finanziellen Forderungen geltend machen kann. Die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten ist „erschöpft“, wenn er zur Erfüllung seiner Schuld auf das übergebene oder auf sein sonstiges Vermögen zurückgreifen muss. Jedenfalls in steuerlicher Hinsicht sind die Versorgungsleistungen der Höhe nach begrenzt auf die aus dem übertragenen Wirtschaftsgut erzielbaren Erträge. Dies folgt bereits daraus, dass die steuerrechtliche Behandlung der Versorgungsleistungen als dauernde Last bzw. wiederkehrende Bezüge auf der Vorstellung beruht, der Übergeber überträgt das Vermögen – vergleichbar dem Vorbehaltsnießbrauch – ohne die vorbehaltenen Erträge, die ihm nunmehr als Versorgungsleistungen zufließen. Die nicht durch den Ertrag des übergebenen Vermögens gedeckten Zahlungen sind freiwillige Leistungen i. S. d. § 12 Nr. 2 EStG.
__________ 56 57 58 59
BFH v. 11.3.1992 – X R 141/88, BFHE 166, 564, BStBl. II 1992, 499, unter 3., 4. BFH v. 27.11.1996 – X R 85/94, BFHE 182, 110, BStBl. II 1997, 284. BFH v. 3.3.2004 – X R 135/98, BFHE 205, 447, BStBl. II 2004, 824. BFH v. 13.12.2005 (Fn. 41).
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2. Verringerte Leistungsfähigkeit des Übernehmers nach einer Vermögensumschichtung Im Urteil v. 17.3.201060 hat der BFH die nachträgliche Umschichtung des überlassenen Vermögens steuerlich anerkannt, sofern die Erträge des Reinvestitionsguts die Versorgungsleistungen decken. Liegt diese Voraussetzung nicht vor, greift insgesamt § 12 EStG. Es stellt sich deshalb die Frage, ob die Parteien des Vermögensübergabevertrages nachträglich die Versorgungsleistungen an die verminderten Erträge „anpassen“ und so die weitere Abziehbarkeit der Versorgungsleistungen erreichen können. Schließlich ist die Abänderbarkeit nach der materiellen Rechtsnatur des Übergabevertrages konstitutives Element der als dauernde Last abziehbaren Versorgungsleistungen, deren Höhe sich nach dem Versorgungsbedürfnis des Berechtigten und der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten richten. Jedoch können die Grundsätze der Rechtsprechung zur steuerlichen Anerkennung von Verträgen unter nahen Angehörigen einer „Anpassung“ der Versorgungsleistungen an die Erträge des Reinvestitionsguts entgegenstehen. a) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH sind Vertragsverhältnisse zwischen nahen Angehörigen steuerrechtlich nur anzuerkennen, wenn die Verträge bürgerlich-rechtlich wirksam vereinbart worden sind und sowohl die Gestaltung als auch die Durchführung des Vereinbarten dem zwischen Fremden Üblichen entsprechen. Die besonderen Anforderungen der Rechtsprechung bilden Beweisanzeichen (Indizien) bei der im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu treffenden Entscheidung, ob die streitigen Aufwendungen in einem sachlichen Zusammenhang mit dem Erzielen von Einkünften stehen oder dem nicht steuerbaren privaten Bereich (§ 12 EStG) zugehörig sind61. Maßgebend für die Beurteilung ist die Gesamtheit der objektiven Gegebenheiten. Dabei kann einzelnen Beweisanzeichen je nach Lage des Falles im Rahmen der Gesamtbetrachtung eine unterschiedliche Bedeutung zukommen. Dementsprechend schließt nicht jede Abweichung vom Üblichen notwendigerweise die steuerliche Anerkennung des Vertragsverhältnisses aus62. Diese Rechtsprechung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden63. Sie trägt den innerhalb eines Familienverbundes typischerweise fehlenden Interessengegensätzen und der daraus resultierenden Gefahr des steuerlichen Missbrauchs zivilrechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten durch nahe Angehörige Rechnung. b) Die Funktion des anzustellenden Fremdvergleichs in Fällen der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen unterscheidet sich jedoch von denjenigen des Fremdvergleichs bei sonstigen Vertragsverhältnissen zwischen An-
__________
60 BFH v. 17.3.2010 (Fn. 27). 61 BFH v. 7.5.1996 – IX R 69/94, BFHE 180, 377, BStBl. II 1997, 196 unter 1.; v. 17.2. 1998 – IX R 30/96, BFHE 185, 397, BStBl. II 1998, 349 unter 1.; v. 7.7.2005 – IX R 77/03, BFH/NV 2006, 31; v. 12.5.2009 – IX R 46/08, BFHE 225, 112. 62 BFH v. 7.5.1996 (Fn. 61); v. 26.6.1996 – X R 155/94, BFH/NV 1997, 182; v. 28.1.1997 – IX R 23/94, BFHE 182, 542, BStBl. II 1997, 655; v. 10.11.1998 – VIII R 28/97, BFH/NV 1999, 616; v. 14.5.2003 – X R 14/99, BFH/NV 2003, 1547 unter II. 1. 63 Vgl. z. B. BVerfG v. 16.7.1991 – 2 BvR 47/90, HFR 1992, 426; v. 7.11.1995 – 2 BvR 802/90, BStBl. II 1996, 34 unter B. I. 1.; v. 27.11.2002 – 2 BvR 483/00, HFR 2003, 171.
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gehörigen: Bei Letzteren geht es um die Frage, ob eine Vereinbarung in dem einkommensteuerrechtlich vorausgesetzten sachlichen Zusammenhang mit der Erzielung von Einkünften (§ 2 Abs. 1, § 4 Abs. 4, § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG) oder mit dem nach § 12 EStG unbeachtlichen privaten Bereich steht64. Der Fremdvergleich dient der alternativen Zuordnung eines Wertflusses zu seinem steuerrechtlich maßgebenden Rechtsgrund („causa“). c) Diese Zuordnungsentscheidung entfällt bei der Anerkennung einer dauernden Last. Denn die Versorgungsleistungen sind nach der gesetzlichen Systematik (Einleitungssatz des § 10 Abs. 1 EStG) ohnehin stets privat veranlasst: Der Vermögensübergeber erhält Unterhaltsleistungen, die im Anwendungsbereich der privaten Versorgungsrente (§§ 10 Abs. 1 Nr. 1a, 22 Nr. 1 EStG) steuerlich begünstigt sind. Der Vermögensübernehmer erhält nach dem Willen der Beteiligten „wenigstens teilweise eine unentgeltliche Zuwendung“65, was unter Fremden ausgeschlossen wäre. Durch den Fremdvergleich sollen Versorgungsverträge, denen beide Parteien – durch äußere Merkmale erkennbar – rechtliche Bindungswirkung beimessen, von Vereinbarungen abgegrenzt werden, die zwar der äußeren Form nach als bindend erscheinen, für die Parteien selbst jedoch den Charakter der Beliebigkeit haben und von denen sie nur Gebrauch machen, wenn es ihnen opportun erscheint66. Entscheidend ist deshalb, ob die Vertragsparteien mit dem erforderlichen Rechtsbindungswillen handeln. d) Im Jahr 2004 hat der BFH in verschiedenen Entscheidungen erkannt, dass allein der Umstand, dass die Versorgungsleistungen trotz vereinbarter Wertsicherungsklausel dauerhaft mit ihrem ursprünglich vereinbarten Nennbetrag bezahlt werden, ohne weitere Indizien noch nicht den Schluss auf einen fehlenden Rechtsbindungswillen der Vertragsparteien zulässt67. Ähnlich dürfte der Fall zu beurteilen sein, dass der Vermögensübernehmer die Versorgungsleistungen dem Übergeber mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung überweist, die beispielsweise auch private Vermieter akzeptieren oder angesichts der Rechtsprechung der Mietgerichte tolerieren müssen. Hingegen ist nach der Rechtsprechung von einem fehlenden Rechtsbindungswillen auszugehen, wenn der Übernehmer zwar die Sach-, nicht aber die vereinbarten Barleistungen erbringt. Da beide Arten von Versorgungsleistungen gleichermaßen typusprägend und damit gleichwertig und gleichgewichtig sind68, scheidet ein Sonderausgabenabzug der unbaren Altenteilsleistungen in diesen Fällen aus69. e) Verständigen sich die Parteien des Versorgungsvertrags nur deshalb auf verringerte Zahlungen, weil sich die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten infolge
__________ 64 Vgl. BVerfG v. 7.11.1995 (Fn. 63); BFH v. 28.6.2002 IX R 68/99, BFHE 199, 380, BStBl. II 2002, 699. 65 Vgl. BFH v. 5.7.1990 – GrS 4-6/89, GrS 4/89, GrS 5/89, GrS 6/89, BFHE 161, 317, BStBl. II 1990, 847. 66 Vgl. BFH v. 3.3.2004 – X R 14/01, BFHE 205, 261, BStBl. II 2004, 826. 67 Vgl. BFH v. 3.3.2004 (Fn. 66); X R 38/01 BFH/NV 2004, 1095; X R 43/01, BFH/NV 2004, 1097; X R 3/02 BFH/NV 2004, 1098; X R 17/02, BFH/NV 2004, 1238; ähnlich bereits BFH v. 8.4.1992 – X R 52/89, BFH/NV 1992, 657. 68 Schönfelder, ZEV 2005, 223. 69 BFH v. 19.1.2005 – X R 23/04, BFHE 209, 91, BStBl. II 2005, 434.
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der Veräußerung des übertragenen Vermögens und der Anschaffung einer weniger ertragbringenden Wirtschaftseinheit verschlechtert, fehlt ihnen der Rechtsbindungswille. Ein am Versorgungsvertrag festhaltender Vermögensübernehmer würde niemals das ihm im Wege der vorweggenommenen Erbfolge überlassene Objekt veräußern und ein Wirtschaftsgut erwerben, mit dessen Erträgen er die Versorgungsleistungen nicht erfüllen kann und so ggf. die Versorgung desjenigen gefährden, der ihm Vermögen – wirtschaftlich betrachtet – jedenfalls teilweise unentgeltlich übertragen hat. Ein solches Verhalten ist nicht vom Rechtsbindungswillen getragen, dem bei Vermögensübergabeverträgen eine besondere Bedeutung beizumessen ist. Auch wenn den geschuldeten Leistungen angesichts des konkreten Versorgungsbedürfnisses des Vermögensübergebers im Einzelfall keine besondere Bedeutung zukommt, lässt sich dessen Zustimmung zu künftig verringerten Versorgungsleistungen nur durch den fehlenden Interessengegensatz zwischen Angehörigen erklären. Würde man den auf den geringeren Ertrag des Reinvestitionsguts abgestimmten Versorgungsvertrag weiterhin steuerlich berücksichtigen, stünde es im Belieben der Vertragsparteien eines Vermögensübergabevertrags, in welchem Umfang sie den Vertrag als bindend anerkennen und erfüllen wollen. 3. Spätere Rückkehr zur Vertragstreue Die Frage, ob die spätere Rückkehr zur Vertragstreue steuerlich zu berücksichtigen ist, stellt sich bei der Veräußerung des übergebenen Vermögens und der „Anpassung“ der Versorgungsleistungen auf die Erträge des Reinvestitionsguts nicht. Sie ist aber zu beantworten, wenn (bare und/oder unbare) Versorgungsleistungen zeitweise nicht oder nicht wie vereinbart erbracht, später dann aber wieder erfüllt werden. Das BFH-Urteil vom Januar 200570 lässt den Schluss zu, dass spätere Abweichungen vom Versorgungsvertrag nicht dazu führen, dass vertragsgetreu geleistete Versorgungszahlungen in früheren Jahren nicht als Sonderausgaben abziehbar sind. Nach Auffassung der Finanzverwaltung71 scheidet der Sonderausgabenabzug aus, sofern die auf der Grundlage des Übergabevertrags geschuldeten Versorgungsleistungen ohne Änderung der Verhältnisse, also willkürlich nicht erbracht werden, auch wenn später Zahlungen wieder vereinbarungsgemäß erfolgen. Dem ist zuzustimmen, falls der Verpflichtete die Versorgungszahlungen über einen längeren Zeitraum völlig aussetzt, ohne dass dies durch eine veränderte Leistungsfähigkeit gerechtfertigt wäre. Ein derart gravierendes vertragswidriges Verhalten zeigt den fehlenden Rechtsbindungswillen der Parteien und lässt deshalb den Übergabevertrag als Ganzes nicht unberührt72. Anders dürfte es hingegen sein, wenn nur vereinzelt Versorgungsleistungen nicht oder nicht in voller Höhe erbracht werden. Da der Vermögensübernehmer in solchen Fällen seine sich aus dem Sinn und Zweck des Versorgungsvertrags ergebende Hauptpflicht, nämlich die Siche-
__________ 70 BFH v. 19.1.2005 (Fn. 69). 71 BMF v. 16.9.2004 (Fn. 29), Rz. 39 bzw. v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 63; so auch P. Fischer in Kirchhof, 9. Aufl. 2010, § 22 EStG Rz. 39. 72 Schönfelder, ZEV 2005, 223.
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rung des finanziellen Unterhalts des Vermögensübergebers, nicht gefährdet, sind die geleisteten Rentenzahlungen als Sonderausgaben abziehbar.
VII. Rechtsfolgen bei nicht nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG begünstigten Vermögensübergaben Die steuerliche Charakterisierung der Versorgungsleistungen als „vorbehaltene Vermögenserträge“ besagt gleichzeitig, dass die Zahlungen weder Veräußerungsentgelt noch Unterhaltsleistungen sind. Der Übergeber erzielt keinen Veräußerungsgewinn, beim Übernehmer entstehen keine eigenen Anschaffungskosten. Da es sich um einen im steuerrechtlichen Sinn unentgeltlichen Vorgang handelt, führt der Erwerber im Betriebsvermögen die Buchwerte (§ 6 Abs. 3 EStG) und im Privatvermögen die Abschreibung (§ 11d EStDV) des Übergebers fort. Kommt das Sonderrecht der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen jedoch nicht zur Anwendung, weil Vermögen übergeben wird, das nicht unter § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG i. d. F des JStG 2008 fällt (vgl. hierzu unten VII.), oder wird zwar unternehmerisches Vermögen überlassen, aber liegen dennoch die Voraussetzungen für den Sonderausgabenabzug nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG nicht vor (z. B. die vereinbarten wiederkehrenden Leistungen können nicht aus den Nettoerträgen des übergebenen Vermögens erbracht werden; der Bezieher der wiederkehrenden Leistungen gehört nicht zum Generationen-Nachfolgeverbund), stellt sich die Frage, ob die wiederkehrenden Leistungen als Anschaffungskosten des übertragenen Wirtschaftsguts zu beurteilen oder steuerlich irrelevante Unterhaltsleistungen (§ 12 EStG) darstellen. Diese Frage ist vor dem Hintergrund der generellen Systematik des Ertragsteuerrechts zu beurteilen. Werden im Zuge einer Vermögensübertragung laufende Zahlungen erbracht, handelt es sich – sofern der Vertrag zivilrechtlich anzuerkennen ist – grds. um ein Entgelt für das übertragene Wirtschaftsgut73. Sind Leistung und Gegenleistung nicht wirtschaftlich ausgewogen, ist – gleichgültig ob Betriebs- oder Privatvermögen übertragen wird – zu prüfen, ob der Barwert der wiederkehrenden Leistungen den realen Wert des übertragenen Wirtschaftsguts unter- oder überschreitet. Ist der Barwert des übertragenen Privatvermögens geringer, liegt ein teilentgeltliches Rechtsgeschäft vor. Der Barwert führt zu Anschaffungskosten i. S. v. § 7 EStG; der in den einzelnen Zahlungen enthaltene Zinsanteil ist – ebenso wie Abschreibungen auf die Anschaffungskosten – zu berücksichtigen, wenn er entweder als Werbungskosten oder sonst ausdrücklich gesetzlich zum Abzug zugelassen ist74. Bei einer teilentgeltlichen Veräußerung von Betrieben und Mitunternehmeranteilen geht das EStG von einem einheitlichen Anschaffungs- und Veräußerungsvorgang aus, falls der Barwert den Buchwert des übertragenen Betriebsvermögens oder des Kapitalkontos des Veräußerers übersteigt. Eine Aufspaltung in eine entgelt-
__________ 73 Risthaus, DB 2010, 744 (749). 74 BFH v. 21.10.1999 – X R 75/97, BFHE 190, 197, BStBl. II 2002, 650.
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liche und eine unentgeltliche Übertragung entfällt (sog. Einheitstheorie)75. Übersteigt der Barwert hingegen den Wert des überlassenen Vermögens, sind die darüber hinausgehenden wiederkehrenden Leistungen als Unterhaltszahlungen zu qualifizieren. Der dem Verkehrswert des überlassenen Vermögens entsprechende Barwert führt auch hier zu Anschaffungskosten und der in den einzelnen Zahlungen enthaltene Zinsanteil kann ggf. als Werbungskosten oder Betriebsausgaben geltend gemacht werden76. Unterhaltszahlungen in voller Höhe der wiederkehrenden Leistungen können ausnahmsweise dann bejaht werden, wenn nach der Vereinbarung davon auszugehen ist, dass die wiederkehrenden Leistungen und die Überlassung von Vermögen nicht in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen sollen, die Übertragung eines Wirtschaftsguts insgesamt unentgeltlich sein soll77. Der Auffassung der Verwaltung, dass insgesamt eine Zuwendung i. S. d. § 12 Nr. 2 EStG vorliegt, wenn der Barwert der wiederkehrenden Leistungen mehr als doppelt so hoch ist wie der Wert des übertragenen Vermögens78, ist nicht zu folgen.
VIII. Die Neuregelung der Vermögensübergabe und ihre Konsequenzen für die Praxis 1. Einschränkung der Vermögensübergabe auf den Kernbereich Der Gesetzgeber hat im Jahressteuergesetz 200879 das Rechtsinstitut der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen kodifiziert und für nach dem 31.12.2007 geschlossene Verträge in zwei wichtigen Punkten geändert: – Das begünstigte Vermögen, das die Rechtsprechung seit dem Beschluss des Großen Senats des BFH v. 12.5.200380 weit verstanden und auch ertragsloses Vermögen als Gegenstand der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen anerkannt hat, wurde erheblich eingeschränkt. Der Sonderausgabenabzug kommt nur noch bei der Übertragung von unternehmerischem Vermögen81 in Betracht.
__________ 75 BFH v. 7.11.2000 – VIII R 27/98, BFHE 193, 549. 76 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 65 f.; vgl. auch Risthaus, DB 2010, 744 (749). 77 A. A. Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, Jahresband 2008, § 10 EStG Rz. J 07-22, der davon ausgeht, dass sowohl bei der Übertragung von Betriebs- wie Privatvermögen ein insgesamt unentgeltlicher Vorgang vorliegt, wenn die wiederkehrenden Leistungen nicht nach dem Wert des übernommenen Vermögens, sondern nach dem Versorgungsbedürfnis des Übergebers bemessen sind. Folge wäre, dass die Zahlungen insgesamt als steuerlich nicht abziehbare Unterhaltsleistungen einzuordnen wären und der Übernehmer ggf. die Afa-Bemessungsgrundlage des Rechtsvorgängers fortzuführen hätte. Ein Abzug des Zinsanteils als Betriebsausgaben käme nicht in Betracht; ein Veräußerunsgewinn würde nicht anfallen. 78 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 66. 79 BGBl. I 2007, 3150. 80 BFH v. 12.5.2003 (Fn. 8). 81 Betriebe und Teilbetriebe, Mitunternehmeranteile an nicht lediglich vermögensverwaltenden Personengesellschaften sowie – bei Vorliegen verschiedener Voraussetzungen – GmbH-Anteile.
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– Die Unterscheidung zwischen dauernder Last (voller Sonderausgabenabzug beim Verpflichteten und volle Besteuerung beim Berechtigten) und Leibrente (Abziehbarkeit bzw. Besteuerung nur des Ertragsanteils) wurde aufgegeben. Unabhängig von der zivilrechtlichen Ausgestaltung des Vertrags sind in Neufällen alle Leistungen in vollem Umfang als Sonderausgaben abziehbar bzw. als wiederkehrende Bezüge (§ 22 Nr. 1b EStG) steuerbar. Obwohl nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG unter bestimmten Voraussetzungen auch GmbH-Anteile und damit Wertpapiervermögen gegen Versorgungsleistungen übertragen werden können, hat der Gesetzgeber mit der gegenständlichen Einschränkung den Anwendungsbereich der privaten Versorgungsrente auf seinen Kernbereich zurückgeführt. Vom Sonderausgabenabzug sind nun ausgeschlossen Versorgungsleistungen in Zusammenhang mit der Übergabe von privaten Immobilien, Geldvermögen, Wertpapieren sowie ertraglosem Vermögen (z. B. selbstgenutztes Wohneigentum). Ein Verstoß gegen das Willkürverbot dürfte in dieser Beschränkung schon deshalb nicht zu sehen sein, weil Steuerpflichtige nach der Neufassung des § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG nicht mehr begünstigtes Vermögen unter dem Vorbehalt eines (Teil-)Nießbrauchrechts übertragen und so – wirtschaftlich betrachtet – weitgehend das gleiche Ergebnis erreichen können82. Der Nießbrauch unterliegt klaren rechtlichen Vorgaben, ist weniger missbrauchsanfällig und erleichtert der Finanzverwaltung die Rechtsanwendung, da im Regelfall nur die steuerlichen Verhältnisse des Vermögensübergebers zu beurteilen sind. 2. Begünstigt übertragbares Vermögen Trotz den umfangreichen Erläuterungen im 4. Rentenerlass83 ergeben sich aus der Einschränkung des begünstigt übertragbaren Vermögens Zweifelsfragen, die in den kommenden Jahren wohl durch die Rechtsprechung geklärt werden müssen. a) Übertragung von Mitunternehmeranteilen (§ 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. a EStG) Begünstigt ist die Übertragung eines Mitunternehmeranteils an einer Personengesellschaft für nach dem 31.12.2007 abgeschlossene Vermögensübergabeverträge nur dann, wenn die Gesellschaft eine Tätigkeit i. S. d. §§ 13, 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder des § 18 Abs. 1 EStG ausübt. Deshalb sind Mitunternehmeranteile an gewerblich geprägten Personengesellschaften i. S. d. § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG von einer Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen ausgeschlossen. Nicht begünstigt ist auch die Übertragung von Mitunternehmeranteilen an vermögensverwaltenden Personengesellschaften, die lediglich an gewerb-
__________ 82 So auch Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10 EStG Rz. 72 in Bezug auf Immobilienvermögen. Nach Auffassung von Fleischer in FS Spiegelberger, 2009, S. 120 (122), ist hingegen der Ausschluss von vermietetem Grundvermögen willkürlich. 83 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 7 ff.
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lich tätigen Gesellschaften beteiligt sind84. Gewerblich infizierte Personengesellschaften nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 Alt. 1 EStG üben hingegen – wenigstens teilweise – eine gewerbliche Tätigkeit aus. Mitunternehmeranteile an ihnen können daher begünstigt übertragen werden85. Nach dem Gesetzeswortlaut ist unklar, ob nur die Übertragung des ganzen Mitunternehmeranteils begünstigt ist oder ob auch ein Teil eines Mitunternehmeranteils gegen Versorgungsleistungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG übertragen werden kann. Die Finanzverwaltung lässt letzteres mit steuerlicher Wirkung zu86. Zwar spricht § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. a EStG – anders als § 16 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG – nicht ausdrücklich vom „gesamten Anteil“, doch bestehen angesichts des Sinn und Zwecks der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen, im Wege der vorweggenommenen Erbfolge der nachfolgenden Generation die Bewirtschaftung des Vermögens unter Zurückbehaltung eines Teils der Erträge zu übertragen, Zweifel, ob die Auffassung der Verwaltung zutreffend ist. Zudem ist die Übertragung von GmbH-Anteilen nur dann nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG begünstigt, wenn u. a. wenigstens 50 % der Anteile dem Vermögensübernehmer überlassen werden. Auch wenn GmbH-Anteile rechtlich als Wertpapiere einzustufen sind und sich ihre Begünstigung nur durch den Umstand rechtfertigen lässt, dass viele Einzelunternehmer die Rechtsform der GmbH ausschließlich wegen der damit verbundenen Haftungsbeschränkung wählen, in der Praxis die GmbH jedoch wie ein Einzelunternehmen führen, stellt sich die Frage, welcher gleichheitsrechtlich tragende Grund sich dafür finden lässt, dass mindestens ein GmbHAnteil i. H. von 50 % übertragen werden muss, Mitunternehmeranteile aber in beliebiger Höhe steuerlich begünstigt übertragen werden können. b) Betriebe und Teilbetriebe (§ 10 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. b EStG) in besonderen Fällen In Fällen der Betriebsaufspaltung ist auch das Besitzunternehmen gewerblich tätig. Deshalb ist auch dessen Übergabe bzw. die Übergabe eines Mitunternehmeranteils an einem solchen steuerlich begünstigt. Die Forderung der Verwaltung, dass mit dem Besitzunternehmen auch nach der Vermögensübertragung gewerbliche Einkünfte erzielt werden, der Besitzgesellschaft also noch immer die gewerbliche Tätigkeit der Betriebsgesellschaft zugerechnet werden kann87, ist angesichts der gesetzgeberischen Intention, nur unternehmerisches Vermögen zu begünstigen, berechtigt. Das Verpächterwahlrecht wurde von der Rechtsprechung entwickelt, um in Verpachtungsfällen die Aufdeckung und Besteuerung der stillen Reserven zu
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84 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 9; Risthaus DB 2010, 744 (745). 85 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 9. 86 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 8., ebenso Wälzholz, DStR 2008, 273 (275); Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10 EStG Rz. 87; v. Oertzen/Stein, DStR 2009, 1117; Geck, KÖSDI 2009, 16444 (16448); a. A. Heinicke in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 10 EStG Rz. 60. 87 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 9.
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verhindern, weil Steuerpflichtigen, die ihren Betrieb nicht veräußern, kein Erlös für die Begleichung der daraus resultierenden Steuerlast zufließt88. Eine gewerbliche Tätigkeit im eigentlichen Sinn übt der Verpächter eines solchen Betriebs nicht aus. Es stellt sich daher die Frage, ob die von der Finanzverwaltung bejahte Möglichkeit der begünstigten Übergabe eines Verpachtungsbetriebs89 wirklich angemessen ist und den Vorstellungen des Gesetzgebers des § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG entspricht90. c) Übergabe von mindestens 50 % der Anteile einer GmbH (§ 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG) Der Wortlaut des § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG fordert nicht, dass die GmbH, deren Anteile übertragen werden, eine gewerbliche Tätigkeit i. S. d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG ausübt. Daher wäre es grundsätzlich möglich, auch Anteile einer GmbH, die lediglich Grundbesitz oder Wertpapiere verwaltet, gegen Versorgungsleistungen zu übertragen. Angesichts des Wertungswiderspruchs zu § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. a EStG, wonach Mitunternehmeranteile an vermögensverwaltenden Personengesellschaften ausdrücklich von der Begünstigung ausgeschlossen sind, ist § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG teleologisch zu reduzieren. Auch wenn eine lediglich vermögensverwaltende GmbH stets gewerbliche Einkünfte erzielt, ist zu fordern, dass sie – ebenso wie Personengesellschaften – eine originäre gewerbliche Tätigkeit ausübt. Im Übrigen dürfte § 42 AO greifen, wenn Privatvermögen (Wertpapiere, Immobilien) nur deshalb auf eine GmbH übertragen wird, um die gesetzlichen Voraussetzungen einer Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen zu schaffen. Der Wortlaut des § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG fordert die Übertragung eines mindestens 50 %-igen Anteils an einer GmbH. Die Auffassung der Verwaltung, dass verschiedene Übertragungen jeweils getrennt zu betrachten sind91, ist mit dem Gesetz problemlos vereinbar. Überträgt deshalb ein GmbHGesellschafter im Wege der vorweggenommenen Erbfolge zuerst 20 % der GmbH-Anteile und in einem späteren Schritt weitere 40 % auf seinen Nachfolger, liegt keine begünstigte Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen vor. Auch wenn der Vermögensübergeber seinen 90 %-igen GmbH-Anteil zu gleichen Teilen auf seine Kinder überträgt, sind die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG nicht erfüllt. Veräußert der Übernehmer GmbHAnteile und wird damit die 50 %-Grenze unterschritten, entfallen die Voraussetzungen für einen weiteren Sonderausgabenabzug der Versorgungsleistungen92.
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88 Schuster, FR 2007, 584. 89 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 12; ebenso Risthaus, DB 2010, 744 (746); Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10 EStG Rz. 87. 90 Zweifelnd auch P. Fischer in Kirchhof (Fn. 71), § 22 EStG Rz. 17; Wälzholz in FS Spiegelberger (Fn. 82), S. 556 (563) vertritt hingegen die Auffassung der Verwaltung. 91 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 16. 92 Vgl. hierzu auch Wälzholz, DStR 2010, 850 (852); das BMF-Schreiben v. 11.3.2010 (Fn. 29), lässt diese Frage offen.
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Die Forderung, dass eine begünstigte Vermögensübergabe von Anteilen an einer GmbH nur dann möglich ist, wenn vor der Übergabe der Übergeber und danach der Übernehmer Geschäftsführer der Gesellschaft sind, dürfte der Gesetzgeber wohl dem Beschluss des Großen Senats des BFH von 200393 entnommen haben. Die Vermutung, dass die übertragenen GmbH-Anteile ausreichend Ertrag erbringen, um die Versorgungsleistungen zu decken, hängt nach dieser Entscheidung von der Geschäftsführertätigkeit der Vertragsparteien des Vermögensübergabevertrages ab. Mit dem Verlangen hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass eine reine Gesellschafterstellung nicht ausreicht. Damit dürfte ihm die gleichheitsrechtlich unbedenkliche Abgrenzung zur nicht begünstigten Übertragung von Aktien bzw. anderen Wertpapieren gelungen sein94. Auch die – mit dem Gesetzeswortlaut zweifellos vereinbare – Auffassung der Verwaltung, dass die begünstigte Vermögensübergabe endet, wenn der Übernehmer seine Geschäftsführertätigkeit aufgibt und dies nicht mit einer weiteren Generationennachfolge zusammenhängt95, unterstreicht die Verfassungsmäßigkeit des § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG96. Nicht erforderlich ist, dass Übergeber bzw. Übernehmer einzige GmbH-Geschäftsführer sind97. Mit der Regelung, dass die Tätigkeit des Vermögensübernehmers als Geschäftsführer bereits vor der Übertragung der GmbH-Anteile unschädlich ist98, hat die Verwaltung den Erfordernissen der Praxis Rechnung getragen. Häufig dürften GmbH-Gesellschafter aus Altersgründen zwar die Leitung ihrer Unternehmen abgeben, zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht bereit sein, sich von ihrem Vermögen zu trennen. 3. Vermögensumschichtungen a) Ursprüngliche Vermögensübertragung nach dem 31.12.2007 Eine Umschichtung von nicht begünstigtem Vermögen in begünstigtes Vermögen selbst kurz nach der Übergabe ist angesichts des insoweit eindeutigen Gesetzeswortlauts steuerlich nicht begünstigt99. Auch wenn begünstigtes Vermögen i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 EStG später in nicht begünstigtes Vermögen umgeschichtet wird, entfällt die Abziehbarkeit der Versorgungsleistungen als Sonderausgabe100, aber auch die Steuerbarkeit nach § 22 Nr. 1a EStG. Erwirbt der Übergeber das begünstigte Vermögen und überträgt es unter Wah-
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BFH v. 12.5.2003 (Fn. 8). Zweifelnd P. Fischer in Kirchhof (Fn. 71), § 22 EStG Rz. 17. BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 18. Ähnlich auch Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10 EStG Rz. 90, wonach der Gesetzgeber typisierend davon ausgehen durfte, die GmbH sei diejenige Rechtsform unter den Kapitalgesellschaften, bei der die engste Verknüpfung zwischen Kapitalbeteiligung und tatsächlicher Geschäftsführungstätigkeit bestehe; a. A. Wälzholz, DStR 2008, 273 (276). Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10 EStG Rz. 91. BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 18. BFH v. 12.5.2003 (Fn. 8), Rz. 36; so auch P. Fischer in Kirchhof (Fn. 71), § 22 EStG Rz. 17; a. A. Geck, KÖSDI 2009, 16450. P. Fischer in Kirchhof (Fn. 71), § 22 EStG Rz. 17.
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rung einer „Schamfrist“, dürfte § 42 AO greifen101. Unschädlich ist, wenn der Übernehmer begünstigt übernommenes Vermögen auf einen Dritten überträgt und art- und funktionsgleiches Vermögen i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 EStG erwirbt, sofern aus dessen Erträgen die Versorgungsleistungen erbracht werden können. Die Verwaltung fordert hier allerdings eine zeitnahe Reinvestition102. Welcher Zeitraum noch als „zeitnah“ zu beurteilen ist, lässt der 4. Rentenerlass offen. Entscheidend dürften die konkreten Umstände des Einzelfalles sein (z. B. Anlass des Verkaufs: Notverkauf oder günstige Gelegenheit; Schwierigkeiten bei der Wiederanlage). b) Ursprüngliche Vermögensübertragung vor dem 1.1.2008 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang vor allem, ob die Umschichtung in nicht begünstigtes Vermögen nach dem 31.12.2007 den Sonderausgabenabzug entfallen lässt. Angesichts der gesetzgeberischen Grundentscheidung, ab 1.1.2008 nur noch unternehmerisches Vermögen als Gegenstand der Vermögensübertragung anzuerkennen, ist diese Frage auch für vor dem 1.1.2008 vereinbarte Übergaben zu bejahen103. Nach Auffassung der Finanzverwaltung104 muss überlassenes Vermögen jedoch auch nach dem 31.12.2008 nicht in Vermögen i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 EStG i. d. F. des JStG 2008 umgeschichtet werden. Eine Begründung hierzu findet sich im 4. Rentenerlass nicht. Offensichtlich geht die Verwaltung davon aus, dass auch bei einer nachträglichen Vermögensumschichtung der in § 52 Abs. 23 Buchst. f EStG normierte Bestandsschutz, das Rückwirkungsverbot, greift. Gleichgültig, welche Haltung das BVerfG zum Rückwirkungsverbot aufgrund verschiedener Richtervorlagen105 einnehmen wird, wäre die Forderung, Vermögensumschichtungen nach dem 31.12.2007 nur noch dann steuerlich zu begünstigen, wenn der Veräußerungserlös in ein Wirtschaftsgut i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 EStG i. d. F. des JStG 2008 reinvestitiert wird, verfassungsrechtlich völlig unbedenklich. Die Verwaltung, die in diesem Punkt eine sehr großzügige Auffassung vertritt, sollte zudem bedenken, dass sich schwerlich ein gleichheitsrechtlich tragender Grund dafür finden lässt, ab dem 1.1.2008 steuerlich begünstigte Vermögensübergaben nur noch bei unternehmerischem Vermögen anzunehmen, nachträgliche Umschichtungen nach dem 31.12.2007 jedoch auch in andere Vermögenswerte zuzulassen. Bleibt die Verwaltung bei ihrer Rechtsauffassung, dürfte das Problem jedoch niemals höchstrichterlich entschieden werden. Die von der Verwaltungsauffassung Begünstigten werden nicht klagen (bzw. ihnen würde das Rechtsschutzbedürfnis fehlen). Diejenigen, die nach dem 1.1.2008 wegen der Überlassung von nichtunternehmerischem Vermögen (z. B. privater Grund-
__________ 101 Wälzholz, FR 2009, 644. 102 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29). 103 So auch Fischer in Kirchhof (Fn. 71), Rz. 17; Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10 EStG Rz. 94; Brandenberg, HLBSSt-Fachtagung 2009, S. 10 f. 104 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 88. 105 Z. B. BFH v. 6.11.2002 – XI R 42/01, BFHE 200, 560, BStBl. II 2003, 257; v. 16.12. 2003 – IX R 46/02, BFHE 204, 228, BStBl. II 2004, 284.
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besitz, Wertpapiere) von der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen ausgeschlossen sind, dürften kaum bereit sein, eine solche dennoch zu vereinbaren und die Folgen eines entgeltlichen Rechtsgeschäfts hinzunehmen, falls die Rechtsprechung die Differenzierung zwischen Übertragung und Umschichtung nach dem 21.12.2007 bestätigen sollte. Dieser Personenkreis dürfte den sicheren Weg des Nießbrauchs vorziehen. 4. Weitergeltung der bisherigen Rechtssprechungsgrundsätze Auch nach der Neuregelung des § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG haben die Rechtsprechungsgrundsätze zur Abziehbarkeit/Steuerbarkeit der „dauernden Last“ noch in großem Umfang Bestand: – Obwohl der Begriff „Übertragung“ in § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG üblicherweise rechtsgeschäftliche Übertragungsvorgänge voraussetzt, sind weiterhin Übertragungen von Todes wegen von der Begünstigung nicht ausgeschlossen106. – Die Versorgungsleistungen müssen nach dem eindeutigen Gesetzeswort „lebenslang“, d. h. auf Lebenszeit des Berechtigten, erbracht werden107. Andernfalls fehlt der Versorgungscharakter. Da dieser nun in § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG normierte Grundsatz der bisherigen Rechtsprechung108 und Verwaltungsauffassung109 entspricht, sind die von Risthaus110 geäußerten Zweifel an einer insoweit bewussten gesetzgeberischen Entscheidung verbunden mit der Forderung nach einer gesetzlichen Nachbesserung nicht ganz verständlich. – Nach wie vor gilt der Grundsatz, dass eine Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen nur dann anerkannt werden kann, wenn das übergebene Vermögen ausreichend Ertrag bringt, um die wiederkehrenden Leistungen abzudecken111. § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG i. d. F. des JStG 2008 ermöglicht nicht die Rückkehr zum sog. Typus 2 des 1. Rentenerlasses112. Die Beweiserleichterungen nach dem Beschluss des Großen Senats des BFH113 gelten jedoch grundsätzlich fort114. Der Betrieb muss auch über einen positiven Substanzwert oder – nach Kürzung um den Unternehmerlohn115 – über einen positiven Ertragswert verfügen.
__________ 106 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 2; Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10 EStG Rz. 86; Wälzholz, FR 2008, 641 (642); Wälzholz, DStR 2008, 273 (278). 107 A. A. trotz des eindeutigen Gesetzeswortlauts Wälzholz, DStR 2008, 273 (277), zweifelnd auch Fleischer in FS Spiegelberger (Fn. 82), S. 126. 108 Vgl. z. B. BFH v. 1.3.2005 (Fn. 28); v. 5.11.2003 – X R 55/99, BFHE 205, 30, BStBl. II 2004, 706. 109 BMF v. 16.9.2004 (Fn. 29), Rz. 34. 110 Risthaus, DB 2010, 803 (806). 111 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 26 ff. 112 BMF v. 23.12.1996 (Fn. 10), Tz. 17 f. 113 BFH v. 12.5.2003 (Fn. 8), unter C. II. 6. d. 114 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 29. 115 BFH v. 12.5.2003 (Fn. 8); zur Bedeutung des Unternehmerlohns vgl. Kempermann, DStR 2003, 1740 f.
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– Empfänger der Versorgungsleistungen kann nur eine dem Generationennachfolgeverbund116 angehörende Person sein117. Nach der Neufassung des § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG muss der Empfänger zudem unbeschränkt steuerpflichtig sein bzw. seinen Wohnsitz in einem EU-/EWR-Mitgliedstaat haben und die Besteuerung der Versorgungsleistungen durch eine Bescheinigung der ausländischen Steuerbehörde nachweisen (§ 1a Abs. 1 Nr. 1a i. d. F. des JStG 2008). – Möglich ist weiterhin die sog. gleitende Vermögensübergabe (Ablösung eines Vorbehaltsnießbrauchs gegen Gewährung wiederkehrender Leistungen) bei unternehmerischem Vermögen. Obwohl der Nießbraucher weder rechtlicher noch wirtschaftlicher Eigentümer des betrieblichen Vermögens ist, führt er doch weiterhin den Betrieb bzw. ist als Mitunternehmer anzusehen118. Wurde allerdings vor dem 1.1.2008 eine Mietimmobilie unter Vorbehalt des Nießbrauchs übertragen und dieser später gegen Versorgungsleistungen aufgegeben, scheidet deren Abziehbarkeit als Versorgungsleistungen aus119. – Dass nur wiederkehrende Leistungen als Sonderausgaben abziehbar sein können, ergibt sich nun unmittelbar aus dem Gesetz. Bislang hat die Rechtsprechung dieses Kriterium aus dem Umstand abgeleitet, dass einmalige Leistungen grundsätzlich nicht der Versorgung dienen können. Gleichwohl dürften aber wie schon bislang die typischen Altenteilsleistungen, die ihrer Natur nach nur einmalig anfallen können (z. B. die Kosten der Beerdigung des Versorgungsberechtigten) jedenfalls dann als Sonderausgaben abziehbar sein, wenn entsprechende Einkünfte dem überlebenden Ehegatten bzw. einem Erben zugerechnet werden können120. – Einigen sich die Vertragsbeteiligten in Anbetracht des gestiegenen Versorgungsbedürfnisses auf ein neues Versorgungskonzept, sind Zahlungen, die ab diesem Zeitpunkt nicht mehr aus dem Ertrag des übergebenen Vermögens erbracht werden können, freiwillige Leistungen i. S. d. § 12 Nr. 2 EStG121. – Werden die künftig zu erbringenden Versorgungsleistungen durch eine Einmalzahlung abgelöst, ist diese nicht als Sonderausgabe abziehbar122.
__________ 116 BFH v. 26.11.2003 (Fn. 33). 117 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 50; Heinicke in Schmidt (Fn. 86), § 10 EStG Rz. 61; a. A. Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10 EStG Rz. J 07-13; Fleischer in FS Spiegelberger (Fn. 82), S. 126; Levedag, GmbH-Report 23/2007/R 358. 118 Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10 EStG Rz. 86; Heinicke in Schmidt (Fn. 86), § 10 EStG Rz. 60; Wälzholz, FR 2008, 641 (646); Wälzholz in FS Spiegelberger (Fn. 82), S. 562. 119 Wälzholz in FS Spiegelberger (Fn. 81), S. 562. 120 So auch Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10 EStG Rz. J 07-13; Heinicke in Schmidt (Fn. 86), § 10 EStG Rz. 58, 65. 121 BMF v. 11.3.2010 (Fn. 29), Rz. 61. 122 Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10 EStG Rz. 79.
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Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen
IX. Fazit Die gesetzgeberische Intention, das Rechtsinstitut der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen auf seine Ursprünge zurückzuführen, ist auch aus Sicht einer BFH-Richterin zu begrüßen. Erfreulich ist ebenfalls, dass der Gesetzgeber der Versuchung widerstanden hat, sämtliche Details der Vermögensübergabe gesetzlich zu regeln, sondern darauf vertraut, dass die Rechtsprechung neue Fragestellungen in Bezug auf das begünstigt übertragbare Vermögen sinnvoll klären wird. Schließlich bringt die Weitergeltung der bisherigen Rechtsprechungsgrundsätze zur Abziehbarkeit/Steuerbarkeit der dauernden Last Vermögensübergebern und -übernehmern Rechtssicherheit. Im unternehmerischen Bereich ist sie deshalb auch künftig eine ernsthafte Möglichkeit zur Gestaltung der Generationennachfolge.
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Der Verlust als Gegenstand der Steuerpolitik aus Sicht der steuerberatenden Berufe Inhaltsübersicht I. Ausgangslage II. Ökonomische Vorgaben für die Verlustverrechnung III. Verfassungsrechtliche Vorgaben 1. Horizontaler und vertikaler Verlustausgleich 2. Intertemporaler Verlustausgleich 3. Nettoprinzip IV. Finanzielle Rahmenbedingungen V. Zwischenergebnis
VI. Beispiele aktueller Problembereiche 1. Mindestbesteuerung (§ 10d EStG) 2. Keine Vererbbarkeit des Verlustvortrages 3. Verlustabzug bei Körperschaften (§ 8c KStG) VII. Lösungsmöglichkeiten 1. Mindestbesteuerung (§ 10d Abs. 2 EStG, § 10a GewStG) 2. Verlustuntergang im Todesfall 3. Verlustabzug bei Körperschaften (§ 8c KStG) VIII. Schlussfolgerungen
I. Ausgangslage Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Steuerstaat1. Seine wichtigste Einnahmequelle sind Steuern. Bereits diese wenigen Worte machen das Dilemma sichtbar. Erzielen die Steuerpflichtigen positive Einkünfte, tragen sie durch darauf zu entrichtende Steuern zur Finanzierung des Staatshaushalts bei. Erzielen sie hingegen negative Einkünfte, bleibt der Finanzierungsbeitrag aus. Vor diesem Hintergrund mag es verständlich sein, dass der Fiskus Verluste2 möglichst gar nicht, nur teilweise oder aber zeitlich verzögert steuerwirksam berücksichtigen möchte. Auf der anderen Seite ist zutreffend festgestellt worden, dass Steuern die Teilhabe der öffentlichen Hand am privatnützigen Markterfolg des einzelnen Einkommensbeziehers sind3. Dies bedeutet aber auch, dass im Falle eines negativen „Markterfolges“ der Fiskus diesen Misserfolg ebenfalls zur Kenntnis nehmen und daran – allgemein gesprochen – partizipieren muss. Es ist jedoch eine
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1 Heintzen, Die unterschiedliche Behandlung von Gewinnen und Verlusten, in DStJG 28 (2005), S. 163 (164). 2 Der Begriff Gewinn wird im Einkommensteuerrecht lediglich bei den Gewinneinkunftsarten verwendet, der Begriff Verlust wird hingegen einkommensartübergreifend verwendet. Im Rahmen dieses Beitrags soll vereinfachend einheitlich von Gewinn und Verlusten gesprochen werden. 3 Kirchhof, Verfassungsrechtliche und steuersystematische Grundlagen der Einkommensteuer, in DStJG 24 (2001), S. 9 (13).
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seit Jahrzehnten gepflegte Tradition, dass das deutsche Ertragssteuerrecht durch eine Vielzahl von Normen gerade diesen Gleichlauf zu verhindern sucht. Auch dem Jubilar sind Verluste aus seiner täglichen Arbeit im IX. Senat des Bundesfinanzhofs – zuständig unter anderem für die Einkunftsart Vermietung und Verpachtung – sicherlich wohl bekannt. Ist doch diese Einkunftsart geradezu prädestiniert, aufgrund geringer laufender Einnahmen insbesondere im Bereich der Wohnungsimmobilien, hoher Fremdfinanzierungskosten und nicht zuletzt häufig gewährter großzügiger Sonderabschreibungen zu negativen Einkünften zu führen. Dass dennoch viele Steuerpflichtige bereit sind, diesem Marktsegment Kapital zur Verfügung zu stellen, liegt nicht zuletzt an der prinzipiellen Möglichkeit, durch eine Verrechnung der hierbei realisierten Verluste mit anderen positiven Einnahmen die Steuerlast zu senken. In Kombination mit der Möglichkeit, nach Ablauf der Spekulationsfrist die Wertsteigerung der Immobilie steuerfrei zu realisieren, macht dies eine Investition für viele Steuerpflichtige unter dem Gesichtspunkt der Rendite nach Steuern im Ergebnis attraktiv. Dieser Beitrag will den Versuch unternehmen, anhand einer Analyse ausgewählter Probleme der derzeitigen Situation Vorschläge für eine Neuordnung der steuerlichen Rahmenbedingungen für eine Verlustverrechnung in Deutschland zu unterbreiten. Naturgemäß kann schon mit Rücksicht auf den vorgegebenen Umfang diese Untersuchung nur Anstöße bieten. Im Mittelpunkt stehen dabei insbesondere die Erkenntnisse aus der täglichen praktischen Arbeit eines Steuerberaters. Dabei soll neben dem Blick auf Vorgaben des übergeordneten Rechts vor allem aufgezeigt werden, dass eine derartige Reform ein wirksamer Beitrag zu einer von allen Beteiligten eindringlich angemahnten Vereinfachung des Steuerrechts darstellen kann. Gleichzeitig bietet sich die Chance, den Wirtschaftsstandort Deutschland durch eine den betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten folgende Abgabenpolitik zu stärken. Der Gesetzgeber selbst scheint jedoch häufig die steuerliche Verlustverrechnungsmöglichkeit als eine Steuervergünstigung zu verkennen4. In der öffentlichen Diskussion werden darüber hinaus Verlustverrechnungsmöglichkeiten nicht selten mit „Steuerschlupflöchern“ gleichgesetzt, die es Steuerpflichtigen ermöglichen, sich „arm zu rechnen“. Es soll hier freilich nicht bestritten werden, dass in der Vergangenheit eine ganze Branche davon gelebt hat, Verlustzuweisungsgesellschaften zu konzipieren, deren Geschäftsmodell im Wesentlichen darin bestand, möglichst hohe Buchverluste beispielsweise durch die Inanspruchnahme von Sonderabschreibungen, erhöhten Absetzungen sowie anderer bilanzieller Gegebenheiten zu generieren, die die Gesellschafter (Mitunternehmer) dieser Publikumsgesellschaften dann anteilig mit anderen positiven Einkünften verrechnen konnten. Ausgehend von der Absicht, diese unerwünschten Modelle der Abschreibungsgesellschaften zu verhindern, hat sich der Gesetzgeber auf ein „Hase-Igel-Spiel“
__________ 4 Entwurf eines Gesetzes zum Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen (Steuervergünstigungsabbaugesetz – StVergAbG), BT-Drucks. 15/119, 21.
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Der Verlust als Gegenstand der Steuerpolitik
eingelassen, indem er seit Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts5 nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden öffentlichen Kritik den Versuch unternommen hat, hiergegen Abwehrmaßnahmen zu ergreifen. Anstatt jedoch das Übel an einer seiner Wurzeln zu packen und die Lenkungsnormen zu streichen, die häufig zu den Verlusten führen, entscheidet sich der Gesetzgeber für eine andere Lösung. So wurde nicht die Ebene der Entstehung der Verluste beispielsweise durch Sonderabschreibungen in den Blick genommen; vielmehr wählte er den vermeintlich politisch einfacheren Weg und versuchte, das Problem auf der Stufe der bereits entstandenen Verluste durch eine Begrenzung der Verlustverrechnungen in den Griff zu bekommen. Die erlassenen Regelungen weisen jedoch systembedingt einen ganz erheblichen Fehler auf: Auf der Ebene der Verlustverrechnung ist kaum noch zwischen „echten“ und „unechten“ Verlusten zu unterscheiden6. Gerade die Diskussion im Vorfeld der Einführung des § 2 Abs. 3 EStG durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/20027 um Verluste aus aktiven und passiven Einkünften hat dies deutlich gemacht8. Damit erfassen derartige Regelungen oftmals Fälle, in denen der Steuerpflichtige einen realen, wirtschaftlichen Verlust erleidet, der sich jenseits von Buchverlusten allein dadurch einstellt, weil die Einnahmen die Ausgaben durch einen Auftragsrückgang nicht mehr decken. Und nicht selten kommen auch zu geplanten (Buch-)Verlusten reale Verluste hinzu. Dies musste eine Vielzahl von Investoren in den neuen Bundesländern erkennen, als Objekte mangels Mietern neben den versprochenen Buchverlusten auch tatsächliche Verluste produzierten. Die Verlustverrechnungsregeln in der Bundesrepublik stehen seit Jahren in der Kritik9. Angesichts der Auswirkungen der ab 2007 deutlich werdenden Finanzkrise auf die Realwirtschaft verwundert es nicht, dass die Diskussion um eine Reform in der Steuerliteratur in jüngster Zeit einen neuen Höhepunkt erreicht hat10. Der Gesetzgeber hat wiederholt den Versuch unternommen, diesen Bereich zu überarbeiten. Auch die derzeitige Bundesregierung plant ausweislich des Koalitionsvertrages „eine Neustrukturierung der Regelungen zur Verlustverrechnung“11. Ein Grund, der jedenfalls aus Sicht der politischen Entscheidungsträger eine Reform erschwert, sind die immer wieder genannten extrem hohen Beträge aufgelaufener Verlustvorträge sowohl in der Einkommen-, Gewerbe- als auch der Körperschaftsteuer. Unter Hinweis auf diesen Umstand wurde insbesondere die Verlustverrechnungsbeschränkung des Korb-II-Geset-
__________ 5 Vgl. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, S. 482 f. 6 Zu den Begriffen vgl. bspw. Eckhoff, Verluste im Einkommensteuerrecht, in DStJG 28 (2005), S. 36 ff. 7 Vgl. BT-Drucks. 14/23, 166; vgl. hierzu Beschl. des BVerfG v. 12.10.2010 – 2 BvL 59/06. 8 Birk/Kulosa, Verfassungsrechtliche Aspekte des Steuerentlastungsgesetzes 1999/ 2000/2002, FR 1999, 433 (438). 9 Die DStJG hat diesem Problem bspw. ihre 29. Jahrestagung im Jahre 2004 gewidmet. 10 Vgl. Lüdicke/Kempf/Brink (Hrsg.), Verluste im Steuerrecht, 2010, sowie Dorenkamp, Systemgerechte Neuordnung der Verlustverrechnung – Haushaltsverträglicher Ausstieg aus der Mindestbesteuerung, IFSt-Schrift Nr. 461, 2010. 11 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP für die 17. Legislaturperiode, S. 14.
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zes allein mit fiskalischen Erwägungen erklärt12. Diese Einwände müssen natürlich ernst genommen werden, dürfen jedoch wirtschaftlich notwendige Reformen nicht von vornherein ausschließen.
II. Ökonomische Vorgaben für die Verlustverrechnung Verluste sind zunächst ein (betriebs-)wirtschaftliches Phänomen. Nicht zuletzt die tiefe Konjunkturkrise der 90er Jahre sowie den in Folge der Turbulenzen auf den Finanzmärkten ab 2007 in der Realwirtschaft eingetretenen Konsequenzen hat bei einer Vielzahl von Unternehmen in der Bundesrepublik dazu geführt, dass sie jedenfalls temporär in die Verlustzone gerieten. Auf der anderen Seite führen Kosten im Zusammenhang mit der Forschung und Entwicklung bei neuen Produkten und deren Markteinführung nicht selten zu Anfangsverlusten. Allein diese wenigen Beispiele machen jedoch deutlich, dass das Phänomen der Verluste von gesamtwirtschaftlicher Bedeutung ist und dass deren steuerliche Behandlung Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft hat. Nähert man sich nun einer sachgerechten Behandlung der Verluste, muss man sowohl ökonomische als verfassungsrechtliche Grundlagen in Betracht ziehen. In der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre ist anerkannt, dass ein Ertragsteuersystem entscheidungsneutral ausgestaltet werden sollte13. Staatliche Abgaben sind hiernach so zu erheben, dass sie privatwirtschaftliche Entscheidungen nicht beeinflussen. Für die hier interessierenden Verlustverrechnungsvorschriften ist die Investitionsneutralität als eine Ausprägung des betriebswirtschaftlichen Grundsatzes der Entscheidungsneutralität von besonderem Interesse. Sie fordert, dass zwischen verschiedenen Investitionen mit gleichen Gegenwartswerten nicht deshalb ein Unterschied bestehen darf, weil ihre Zahlungsreihen, beispielsweise durch Anfangsverluste der einen Investition, verschiedenartig sind. Hieraus lässt sich ohne weiteres die Forderung einer unbeschränkten Verlustverrechnung ableiten14. Hierzu gehört ein zeitlich unbefristeter Verlustrücktrag in Kombination mit einem verzinslichen Verlustvortrag15. Alternativ kommt die Gewährung eines unmittelbar zahlungswirksamen Verlustausgleichs im Sinne einer negativen Einkommensteuer in Betracht16.
III. Verfassungsrechtliche Vorgaben Eine Neuordnung der Verlustverrechnung muss aber auch den Anforderungen des Grundgesetzes genügen. Dabei ist von der banalen Kernaussage auszugehen, dass derjenige, der einen Verlust erleidet, eine Einbuße seiner Leistungs-
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12 BT-Drucks. 15/1518, 13: „Der Grund für die Beschränkung ist in dem gewaltigen Verlustvortragspotenzial der Unternehmen zu sehen […]“. 13 Schneider, Was verlangt eine marktwirtschaftliche Steuerreform, BB 1988, 1222 (1224). 14 Schneider, BB 1988, 1222 (1224). 15 Schneider, Investition, Finanzierung und Besteuerung, 1992, S. 206 ff., 266 ff. 16 Vgl. Dorenkamp (Fn. 10), S. 9.
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fähigkeit hinnehmen muss. Welche Folgerungen sich für die verfassungsrechtlich gebotene Verlustberücksichtigung ergeben, ist jedoch damit noch nicht einmal im Ansatz geklärt. Der in erster Linie aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitete Grundsatz der Leistungsfähigkeit belässt dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung der Indikatoren zur Bestimmung der Leistungsfähigkeit, der nur durch das Willkürverbot begrenzt wird17. Allerdings ist die Belastungsentscheidung folgerichtig umzusetzen, Ausnahmen bedürfen einer besonderen Rechtfertigung. Damit wird insbesondere verhindert, dass innerhalb eines Systems Einzelaspekte isoliert betrachtet und einer besonderen Regelung zugeführt werden können18. 1. Horizontaler und vertikaler Verlustausgleich Wie § 2 EStG entnommen werden kann, hat sich der Gesetzgeber mit Ausnahme der Einkünfte aus Kapitalvermögen für den synthetischen Einkommensteuerbegriff entschieden. Diese Entscheidung verlangt im Grundsatz einen vollständigen Verlustausgleich zwischen den Einkunftsarten. Voraussetzung ist jedoch, dass die Einkünfte die reale Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen abbilden. Daher sollten Verluste, die durch die Inanspruchnahme von Lenkungstatbeständen entstanden sind, ohne weitere Rechtfertigung von der Verlustverrechnung ausgenommen werden können19. Da jedoch die Ermittlung dieser realen Einkünfte praktisch nicht zu bewerkstelligen ist und darüber hinaus eine belastbare Definition des nicht realen Verlustes nicht existiert, sollte der Gesetzgeber von der Umsetzung derartiger Verlustverrechnungsverbote tunlichst absehen. Wie bereits oben dargelegt, ist hier die Eliminierung von Lenkungselementen der richtigere Weg. In welche Sackgasse andere Überlegungen führen, hat § 2 Abs. 3 EStG i. d. F. des StEntlG 1999/2000/ 200220 gezeigt. War die ursprüngliche Idee, das Steuersubstrat nicht durch die Verrechnung mit sog. passiven Einkünften zu gefährden, blieb am Ende des Gesetzgebungsprozesses eine reine Fiskalzwecknorm übrig. Diese stand, ohne hier nochmals eingehend die Argumente auszutauschen, in vielfacher verfassungsrechtlicher Kritik21. Nicht zuletzt erwies sich die Regelung jedoch in der Praxis als nicht umsetzbar, so dass deren Aufhebung aus Sicht der Praxis der einzig richtige Weg war22.
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17 Vgl. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, DStR 2008, 2460 (2461); Wendt, Prinzipen der Verlustberücksichtigung, in DStJG 28 (2005), S. 41 (43). 18 Vgl. BVerfG v. 9.12.2008, DStR 2008, 2460 (2461). 19 Wie hier: Wendt in DStJG 28 (2005), S. 41 (46). 20 Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402. 21 Eingehend bspw. Stapperfend, Verluste im Einkommensteuerrecht, in DStJG 24 (2001), S. 328; vgl. aber den Beschl. des BVerfG v. 12.10.2010 – 2 BvL 59/06. 22 Der BFH hat mit Vorlagebeschluss v. 6.9.2006 – XI R 26/04 dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob die Vorschriften zur seinerzeitigen Mindestbesteuerung (§ 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8, § 10d Abs. 1 Sätze 2 bis 4, Abs. 2 Sätze 2 bis 4, Satz 5 Halbs. 2 soweit auf Sätze 2 bis 4 verweisend, und Abs. 3 EStG i. d. F. des StEntlG 1999/2000/2002) wegen Verletzung des Grundsatzes der Normenklarheit verfassungswidrig sind; vgl. aber den Beschl. des BVerfG v. 12.10.2010 – 2 BvL 59/06.
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Zum horizontalen Verlustausgleich findet sich im Gesetz keine Regelung. Da dieses lediglich die Einkünfte, nicht aber die Einkunftsquellen erwähnt, ist davon auszugehen, dass ein umfassender horizontaler Verlustausgleich vom Gesetz vorgesehen ist23. Anders liegt der Fall nach Einführung der Abgeltungsteuer auf Einkünfte aus Kapitalvermögen. Der Gesetzgeber besitzt nach dem oben Gesagten bei der Bestimmung des Steuergegenstandes einen weiten Gestaltungsspielraum. Danach ist es ihm möglich, eine Einkunftsart aus dem synthetischen Einkommensbegriff auszuscheiden und einer besonderen Besteuerung zu unterwerfen, wenn sachliche Gründe für eine unterschiedliche Behandlung angeführt werden können. Im Bereich der privaten Kapitaleinkünfte werden die Inflationsanfälligkeit, der Umstand des internationalen Wettbewerbs um Finanzkapital sowie bisherige Defizite im Vollzug der Besteuerung genannt. Folge einer derartigen Schedulenbesteuerung ist jedoch, dass folgerichtig eine Beschränkung der Verrechnungsmöglichkeit von Verlusten aus dieser Einkunftsart vorgesehen wird; vgl. § 20 Abs. 6 Satz 2 bis 4 EStG. Eine Abschottung der Schedulen untereinander ist systemimmanent und muss sich auch auf negative Einkünfte beziehen24. 2. Intertemporaler Verlustausgleich Insbesondere bei der Besteuerung des Einkommens muss zudem berücksichtigt werden, dass die Besteuerung in der Praxis der Bildung von Abschnitten bedarf. Ob darüber hinaus dieses Periodizitätsprinzip neben dem rein praktischen Erfordernis eine weitergehende Bedeutung besitzt, weil das Periodeneinkommen ein zutreffender Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit ist, oder nicht vielmehr das Lebenseinkommen zu wählen ist, kann vorliegend nicht abschließend erörtert werden. Mit Wendt25 ist jedoch festzustellen, dass die Bestimmung der Periode durch das Gestaltungsermessen des Gesetzgebers gedeckt ist. Die derzeitige Ausgestaltung insbesondere des Einkommensteuerrechts mit der steuerlichen Erfassung stiller Reserven am Ende des Berufslebens (§ 16 EStG) zeigt jedoch, dass das Periodizitätsprinzip nicht umgesetzt wurde. Zudem erscheint eine überperiodische Betrachtung mit der Realität eher vereinbar, denn wirtschaftliche Vorgänge und damit die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit enden nicht am 31.12. eines Jahres. Folgt man im Grundsatz somit einer Erfassung des Lebenseinkommens als Bemessungsgrundlage (Totalitätsprinzip), ist jede Einschränkung des Verlustvortrages rechtfertigungsbedürftig. Freilich sind damit Einschränkungen des Verlustvor- und Verlustrücktrags nicht ausgeschlossen. Insbesondere erscheinen Regeln, die einen Verlustausgleich nicht völlig versagen, sondern lediglich zeitlich strecken, verfassungsrechtlich durchaus zulässig26. Allerdings ist die gestalterische Grenze erreicht,
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Vgl. Brandis, Einkommensbegriffe und Verlustausgleichsverbot, FR 1986, 60 (61). Vgl. Wendt in DStJG 28 (2005), S. 41 (43). Vgl. Wendt in DStJG 28 (2005), S. 41 (47 f.). Vgl. BVerfG v. 22.7.1991 – 1 BvR 313/88, DStR 1991, 1278; FG München v. 31.7.2008 – 8 V 1588/08, EFG 2008, 1736.
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wenn der periodenübergreifende Verlustausgleich gänzlich ausgeschlossen oder in seinem Kernbereich ausgehöhlt wird27. In diesem Zusammenhang muss auch der Zeitfaktor berücksichtigt werden. Ein steuermindernder Abzug von Erwerbsaufwendungen muss zeitnah erfolgen, da anderenfalls bei wirtschaftlicher Betrachtung der zwischenzeitliche Zinsverlust das Verlustvortragspotenzial zu einer bloßen Leerformel degradieren würde28. Insoweit kann man im Grundsatz meines Erachtens für die betriebswirtschaftlichen und verfassungsrechtlichen Ideale einen gewissen Gleichlauf feststellen. Diese aufgezeigten Anforderungen an ein idealtypisches System der Verlustverrechnung sind hoch und reiben sich naturgemäß unter anderem mit den Vorgaben der Planungssicherheit der Einnahmen im Haushaltsrecht. Insoweit bedarf es eines Ausgleichs der verschiedenen Positionen. Dabei kann gerade auch der betriebswirtschaftliche Ansatz als Optimierungsgebot begriffen werden, der mit den widerstreitenden Interessen in Einklang zu bringen ist29. 3. Nettoprinzip Verfassungsrechtlich sind die dabei entstehenden Verstöße gegen den oben ausgeführten Inhalt des Leistungsfähigkeitsprinzips als eine Verletzung des Gleichheitssatzes zu werten, die jedoch durch sachliche Gründe gerechtfertigt werden können30. Allein die Tatsache, dass die Verlustverrechnung vom Leistungsfähigkeitsprinzip als bereichstypische Ausgestaltung des allgemeinen Gleichheitssatzes geschützt ist, besagt demnach noch wenig über die Grenzen der gesetzgeberischen Kompetenzen. Um diesen Konturen zu verleihen, muss vielmehr auf die Konkretisierungen des Prinzips in Form des objektiven und subjektiven Nettoprinzips abgestellt werden31. Hierbei ist jedoch das objektive Nettoprinzip für den Verlustausgleich zwischen verschiedenen Einkunftsarten in einem Jahr prinzipiell wenig ergiebig. Denn Zweck des objektiven Nettoprinzips ist es, eine Bruttobesteuerung zu vermeiden. Mithin stellt es sicher, dass Erwerbsaufwendungen von den Einnahmen bis zum Betrag von Null Euro abgezogen werden können. Da diese Betrachtung jedoch die jeweilige Erwerbsquelle betrifft, kann die Notwendigkeit weder eines horizontalen, noch des vertikalen Verlustausgleichs diesem Prinzip entnommen werden32. Wesentlich ergiebiger ist für diesen Bereich das subjektive Nettoprinzip, dessen verfassungsrechtliche Verbürgung heute nicht mehr bestritten ist33. Dieser
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FG München v. 31.7.2008 – 8 V 1588/08, EFG 2008, 1736. Alternativ könnte eine Verzinsung des Verlustvortrags erfolgen. Vgl. Lüdicke in Lüdicke/Kempf/Brink (Fn. 10), S. 314. Vgl. Wendt in DStJG 28 (2005), S. 41 (50). Ob dem objektiven Nettoprinzip dabei selbst Verfassungsrang zukommt, soll vorliegend nicht erörtert werden; das BVerfG hat dies bisher stets offen gelassen; BVerfG v. 9.12.2008 (Fn. 17), DStR 2008, 2460 (2462). Für das subjektive Nettoprinzip ist ein verfassungsrechtlicher Schutz demgegenüber anerkannt, ebenda. 32 Wie hier Wendt in DStJG 28 (2005), S. 41 (53); a. A. Stapperfend, Verluste im Einkommensteuerrecht, in DStJG 24 (2001), S. 329 (364). 33 Ständige Rspr. des BVerfG, bspw. BVerfG v. 9.12.2008 (Fn. 17), DStR 2008, 2460 (2462).
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Grundsatz gebietet es, das Existenzminimum einkommensteuerlich zu verschonen34. In dieser Ausprägung35 ist es Ausfluss des Schutzes der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG). Bei Ausschluss eines umfassenden horizontalen und vertikalen Verlustausgleichs kann ein Verstoß vorliegen, wenn im Ergebnis durch Verrechnungsverbote rechnerisch eine positive Bemessungsgrundlage für die Steuer verbleibt, obwohl dem Steuerpflichtigen tatsächlich lediglich ein Einkommen unterhalb des Existenzminimums zur Verfügung steht. Hinsichtlich des intertemporalen Verlustabzugs kann jedoch prinzipiell das objektive Nettoprinzip nutzbar gemacht werden. Nach dem Grundsatz, dass der Abzug aller Erwerbsaufwendungen von den Einnahmen geboten ist, erfordert das objektive Nettoprinzip die zeitlichen Verschiebungen in Folge einer Abschnittsbesteuerung durch einen Verlustabzug auszugleichen. Freilich wurde bisher seine verfassungsrechtliche Verankerung nicht abschließend geklärt, so dass im Ergebnis das Schutzpotential wohl nicht viel weiter trägt als das durch den Gleichheitssatz verbürgten Leistungsfähigkeitsprinzips36. Damit entfaltet es aber im Grundsatz das Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung der legislativen Grundsatzentscheidung, deren Verletzung nur durch besondere Gründe gerechtfertigt werden kann37.
IV. Finanzielle Rahmenbedingungen Wie ausgeführt, wurden in der Vergangenheit Einschränkungen der Verlustverrechnungsmöglichkeiten nicht selten durch Hinweis auf die gewaltigen Verlustvortragspotenziale erklärt38. Insbesondere bei der Einführung der Mindestbesteuerung des § 10d Abs. 2 EStG hat der Gesetzgeber freimütig bekannt, dass die gesetzliche Regelung vor dem Hintergrund der Verlustvorträge rein fiskalisch motiviert ist. In der öffentlichen Diskussion wird allerdings der hohe Bestand an Verlustvorträgen häufig mit deren fiskalischen Auswirkungen in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht. Bei dieser oberflächlichen Betrachtung erscheinen Diskussionen um eine Erweiterung der Verlustverrechnungsmöglichkeiten angesichts der Sparzwänge der öffentlichen Haushalte unangebracht. Wendet man sich der Thematik jedoch etwas genauer zu, erscheinen systemgerechte Änderungen durchaus finanzierbar. Die neuesten verfügbaren Zahlen des Statistischen Bundesamtes liegen für den Veranlagungszeitraum 2004 vor. Diese sind auf den ersten Blick in der Tat beeindruckend. Die Körperschaftsteuerstatistik weist per 31.12.2004 Verlust-
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34 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 (169 ff.). 35 Weiterhin fordert das subjektive Nettoprinzip den Abzug unvermeidbarer Privataufwendungen von der steuerlichen Bemessungsgrundlage, vgl. BVerfG v. 25.9.1992 (Fn. 34), BVerfGE 87, 153 (169 ff.). 36 Diese Einschätzung teilt auch Wendt in DStJG 28 (2005), S. 41 (50). 37 Vgl. Wendt in DStJG 28 (2005), S. 41 (50 f.). 38 Es soll an dieser Stelle nicht geprüft werden, ob diese Argumente eine Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips und damit des Leistungsfähigkeitsprinzips überhaupt tragen. Dies unterliegt jedenfalls erheblichen Bedenken.
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vorträge von insgesamt 473 Mrd. Euro aus39. Daneben waren zum gleichen Stichtag gewerbesteuerliche Verlustvorträge von 569 Mrd. Euro sowie ca. 60 Mrd. Euro Verlustvorträge in der Einkommensteuer zu verzeichnen40. Darin sind die wirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise noch nicht berücksichtigt, so dass eine weitere erhebliche Steigerung der Vorträge als sicher angenommen werden kann. Die genannten Summen bedürfen aber einiger Anmerkungen. Zunächst muss berücksichtigt werden, dass Verlustverrechnungssperren die Beträge weiter erhöhen; folglich ist ein Teil des Problems nicht Resultat, sondern Ursache des Phänomens. Viel entscheidender ist jedoch, dass die Summe der vortragsfähigen Verluste keine Auskunft darüber gibt, in welchem Maße künftig eine Verlustverrechnung möglich ist. Denn Aufkommenseinbußen resultieren nicht aus den akkumulierten Verlustvorträgen, sondern ausschließlich aus der Höhe der mit positiven Einkünften verrechneten Verluste. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der betreffende Steuerpflichtige positive Einkünfte in einem entsprechenden Umfang besitzt. Dorenkamp41 hat in einer Untersuchung zur Streichung der Mindestbesteuerung des § 10d Abs. 2 EStG jüngst nachgewiesen, dass die Kassenwirkung dieser beachtlichen Verlustvorträge bei einer Wiedereinführung der vollständigen Verlustverrechnung jedoch nur von begrenzter Natur ist. So kommt er in seiner Analyse zu dem Ergebnis, dass eine Streichung der Regelung zur Mindestbesteuerung in den §§ 10d Abs. 2 EStG, 10a GewStG jährliche Einnahmeverluste von insgesamt (also Körperschaft-, Gewerbe- und Einkommensteuer) zwischen 1,8 bis max. 2,5 Mrd. Euro zur Folge hätte42.
V. Zwischenergebnis Bereits dieser kurze Überblick über die verfassungsrechtlichen Grenzen des Gestaltungsrahmens der Verlustbehandlung durch den Gesetzgeber macht deutlich, dass dem Parlament erhebliche Spielräume zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite hat die Betrachtung der Haushaltswirkungen gezeigt, dass bei einer genaueren Analyse der Zahlen die Risiken für die Einnahmen des Staates deutlich geringer sind, als ein erster Blick vermuten lässt.
VI. Beispiele aktueller Problembereiche Nachfolgend sollen anhand zweier ausgewählter Verlustverrechnungstatbestände des deutschen Steuerrechts exemplarisch Brennpunkte aus der Beratungspraxis aufgezeigt werden. Bewusst wird hierbei die Darstellung solcher
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39 Vgl. Statistisches Bundesamt, Finanzen und Steuern, Körperschaftsteuerstatistik 2004, Fachserie 14 Reihe 7.2., Addition der Verlustvorträge von Gewinn- und Verlustfällen gemäß Tabelle 1.1a und 1.2a. 40 Vgl. Dorenkamp (Fn. 10), S. 35 f. m. w. N. 41 Vgl. Dorenkamp (Fn. 10), S. 35 ff. 42 Vgl. Dorenkamp (Fn. 10), S. 41 ff., 47.
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Probleme in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt, die eine Vielzahl von Berufskollegen insbesondere bei der Betreuung mittelständischer Mandate derzeit beschäftigen43. Im Anschluss wird der Versuch unternommen, Lösungsmöglichkeiten für künftige Regelungen anzubieten. 1. Mindestbesteuerung (§ 10d EStG) Nach dem oben Gesagten erscheint die Regelung des § 10d EStG grundsätzlich mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Verlustberücksichtigung vereinbar. Im Jahr der Verlustentstehung wird der Steuerpflichtige seiner Leistungsfähigkeit entsprechend besteuert. Darüber hinaus ist durch die Regelung des § 10 Abs. 2 EStG sichergestellt, dass eine Einkommensteuererhebung nicht erfolgt, wenn dem Steuerpflichtigen in einem Jahr lediglich Einkünfte in Höhe des Existenzminimums zur Verfügung stehen. Durch die Regelung zur Mindestbesteuerung wird im Grundsatz auch das Leistungsfähigkeitsprinzip unter dem Gesichtspunkt der Lebenseinkommensbesteuerung nicht verletzt, da durch die Norm lediglich eine zeitliche Streckung der Verlustberücksichtigung erfolgt, jedoch prinzipiell sämtliche Verluste genutzt werden können. Abschließend erscheint durch die gewählten Parameter (Sockelbetrag von 1 Mio. Euro sowie eine Abzugsfähigkeit von 60 % des darüber hinausgehenden Betrages) im Grundsatz auch sichergestellt, dass eine zeitnahe Verlustberücksichtigung erfolgt44. Dennoch ist die Regelung des § 10d EStG nicht frei von verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere bei Branchen mit hohen Anfangsverlusten sowie bei jungen Unternehmen (Start-Ups, Projektgesellschaften, Halbleiterindustrie) wird die Unternehmensgründung erschwert, da diese unter Umständen Verluste nicht in vollem Umfang mit zukünftigen Gewinnen verrechnen können. Außerdem haben Unternehmen in volatilen Branchen große Probleme mit der Mindestbesteuerung, da besonders hier die Gefahr besteht, dass Verluste aufgebaut werden, die niemals vollständig verrechnet werden45. In weiteren Fallkonstellationen kann es darüber hinaus durch die Regelung zu einem Verstoß gegen das objektive Nettoprinzip kommen. Erzielt der Steuerpflichtige während der restlichen Erwerbstätigkeit im Anschluss an den Verlust keine ausreichend positiven Einkünfte, um den Verlustvortrag vollständig zu nutzen, bleibt dieser endgültig unberücksichtigt. Diese Fälle sind zunächst bei Körperschaften denkbar, wenn § 8c KStG eine Verlustnutzung nach einer erfolgten Umstrukturierung verhindert46. Die durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz47 eingefügte Regelung zum Erhalt von Verlustvorträgen im Falle bestehender stiller Reserven (§ 8c Abs. 1 Satz 6 ff. KStG) mildert das beschrie-
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Für weitere Beispiele vgl. bspw. Lüdicke/Kempf/Brink (Fn. 10). Vgl. Wendt in DStJG 28 (2005), S. 41 (74 ff.). Vgl. Wendt in DStJG 28 (2005), S. 41 (76 f.). Zur Kritik an der Regelung des § 8c KStG selbst vgl. bspw.: Zerwas/Fröhlich in Lüdicke/Kempf/Brink (Fn. 10), S. 230; wie hier BFH v. 26.8.2010 – I B 49/10. 47 Gesetz zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums (Wachstumsbeschleunigungsgesetz) v. 22.12.2009, BGBl. I, 3950.
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bene Problem ab, kann die verfassungsrechtlichen Einwände jedoch nicht beseitigen. Hier zeigt sich augenfällig, dass verschiedene Verlustverrechnungsvorschriften unabgestimmt nebeneinander existieren, die im Zusammenspiel existenzbedrohende Wirkungen zeitigen. 2. Keine Vererbbarkeit des Verlustvortrages Ein weiterer, durch die Rechtsprechung48 zur Vererbbarkeit von Verlustvorträgen neu geschaffener Anwendungsfall dieser Überlegungen ist der Untergang von Verlustvorträgen durch den Tod des Steuerpflichtigen. Besonders bedenklich erscheint zunächst ein Verlustuntergang durch den Tod des Steuerpflichtigen immer dann, wenn allein aufgrund der Mindestbesteuerungsregel des § 10d Abs. 2 EStG ein Verlustvortrag beim Erblasser nicht verrechnet werden konnte und dieser nunmehr endgültig untergeht. Auch hier wandelt sich die vom Gesetzgeber intendierte zeitliche Streckung der Verlustberücksichtigung in eine endgültige Vernichtung des Verrechnungspotentials. Jedoch sind auch die Fälle neu zu bewerten, in denen der Verlustuntergang deshalb erfolgt, weil der Erblasser über nicht ausreichend positive Einkünfte verfügte, um den Verlustvortrag zu verrechnen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in dem Beschluss v. 22.7.199149 eine zeitliche Begrenzung des Verlustvortrages als verfassungsgemäß anerkannt, so dass man argumentieren könnte, dass ein Ausschluss des Verlustüberganges nicht zu beanstanden ist. Allerdings rechtfertigt der Beschluss die Begrenzung lediglich mit einem willkürfreien Ausgleich des abschnittsübergreifenden Nettoprinzips mit dem Grundsatz der Abschnittsbesteuerung. Wie oben ausgeführt, sollte jedoch dem Nettoprinzip bei steuerpolitischen Überlegungen ein stärkeres Gewicht eingeräumt werden50. Bis zur Entscheidung des Großen Senats51 konnte der Gesetzgeber davon ausgehen, dass ein Regelungsbedarf nicht bestand, da jedenfalls eine Berücksichtigung der Verluste beim Erben möglich war. Aufgrund der nunmehr veränderten Rechtslage ist zur Gewährleistung einer Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Erblassers der Gesetzgeber aufgerufen, die steuerliche Behandlung von Verlustvorträgen im Todesfall gesetzlich zu regeln. Nach der hier bevorzugten Ansicht, dass das Abschnittsprinzip lediglich den praktischen Bedürfnissen der Steuererhebung Rechnung trägt, dürfen noch nicht genutzte Verlustvorträge am Lebensende nicht ohne weiteres untergehen. Im Übrigen kann auch der Entscheidung des Großen Senats keine entgegenstehende Aussage entnommen werden, da dieser die Frage nach der Klärung des Spannungsverhältnisses zwischen dem Abschnittsprinzip und dem – verfassungsrechtlich durch Art. 3 Abs. 1 GG in Gestalt des Leistungs-
__________ 48 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608. 49 BVerfG v. 22.7.1991 – 1 BvR 313/88, DStR 1991, 1278. 50 Vgl. zur Zulässigkeit einer zeitlichen Begrenzung des Verlustvortrages auch Dorenkamp (Fn. 10), S. 52 ff. 51 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608.
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fähigkeitsprinzips geschützten – abschnittsübergreifenden Nettoprinzips ausdrücklich offen gelassen hat52. Zudem spricht für eine gesetzliche Regelung der Verlustberücksichtigung im Todesfall, dass die derzeitige Rechtslage einen Verstoß gegen das Gebot der rechtsformunabhängigen Unternehmensbesteuerung darstellt und damit im Widerspruch zu einer Grundannahme eines ökonomisch rationalen Steuersystems steht. Bei Kapitalgesellschaften bleiben die auf Gesellschaftsebene vorhandenen Verlustvorträge im Falle des Todes des oder eines Gesellschafters erhalten, da die Finanzverwaltung § 8c KStG zutreffend für Anteilseignerwechsel durch Erbfall nicht anwenden will53. Damit werden unbeschränkt54 haftende Gesellschafter einer Personengesellschaft sowie Einzelunternehmer gegenüber Gesellschaftern einer Kapitalgesellschaft benachteiligt. 3. Verlustabzug bei Körperschaften (§ 8c KStG) Als weiteres aktuelles Beispiel von Problempunkten der steuerlichen Beratung im Zusammenhang mit der Behandlung steuerlicher Verluste soll § 8c KStG selbst in den Blick genommen werden. Die nachfolgende Darstellung kann und soll keine umfassende Kritik55 dieser Regelung bilden. Im Rahmen der vorliegenden Erörterung sollen vielmehr die Probleme aufgezeigt werden, die durch eine Gesetzgebung hervorgerufen werden können, die unter Inkaufnahme systematischer Brüche lediglich fiskalpolitisch motiviert ist. Die durch das Unternehmensteuerreformgesetz 200856 eingeführte Regelung, die vom Telos keine Gemeinsamkeit mit der Vorgängerregelung zum Mantelkauf (§ 8 Abs. 4 KStG) aufweist und die letztlich in einer völlig unsystematischen Vorgehensweise allein der Beseitigung vorhandener Verlustvorträge dient, ist bereits mannigfaltig kritisiert worden. Daher soll im vorliegenden Beitrag insbesondere auf das Zusammenspiel des Grundtatbestandes des § 8c Abs. 1 KStG mit der Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG eingegangen werden und anhand der Diskussion um den europarechtlichen Beihilfecharakter der Regelung des Abs. 1a aufgezeigt werden, dass eine gegen die grundlegenden Prinzipien sowohl der verfassungsrechtlichen als auch betriebswirtschaft-
__________ 52 Diese war im Rahmen der Vorlagefrage durch den GrS nicht entscheidungsbedürftig. Zutreffend hat der GrS dargelegt, dass „aus den für einen interperiodischen Verlustausgleich sprechenden Grundsätzen keine Anhaltspunkte für einen interpersonellen Verlustausgleich gewonnen werden (können), BStBl. II 2008, 608 (613). 53 BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 – S 2745 – a/08/10001, BStBl. I, 736 Rz. 4. 54 Verrechenbare Verluste nach § 15a EStG knüpfen unmittelbar an die Mitunternehmerstellung des Steuerpflichtigen und damit an eine konkrete Steuerquelle an. Folgerichtig hat der BFH in seinem Urteil v. 10.3.1998 (VIII R 76/96, BStBl. II 1999, 269) festgestellt, dass der Verlust auf den das Unternehmen fortführenden Gesellschafter übergehen muss. Wenn dieses Urteil auch für einen Fall der vorweggenommenen Erbfolge ergangen ist, kann für den Erbfall nichts anderes gelten; wie hier Heinrich, Verluste im Falle der Rechtsnachfolge und des Gesellschafterwechsels, in DStJG 28 (2005), S. 121 (132). 55 Vgl. hierzu bespw. Zerwas/Fröhlich in Lüdicke/Kempf/Brink (Fn. 10), S. 230. 56 Unternehmensteuerreformgesetz 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I, 1912.
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lichen Steuerlehre verstoßende Regelung zu einer enormen Verkomplizierung des deutschen Steuerrechts beiträgt und die steuerliche Gestaltungsberatung vor mannigfaltige und gleichzeitig vermeidbare Probleme stellt. Die Krux der Regelung liegt im Grunde – jedenfalls in der ursprünglichen57 Fassung der Norm – in der Tatsache begründet, dass der Gesetzgeber das Regel-Ausnahme-Verhältnis auf den Kopf gestellt hat. Die ökonomisch wie verfassungsrechtlich anerkannte Grundregel der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erfordert aus juristischer Sicht im Zusammenspiel mit dem Gebot der Folgerichtigkeit58 bei Körperschaften eine grundsätzlich unbeschränkte Verlustverrechnung unabhängig vom Gesellschafterbestand. Die hiervon abweichende Regelung des § 8c Abs. 1 KStG, die ohne Missbrauchsfälle ins Auge fassend, allein an einen qualifizierten Gesellschafterwechsel anknüpfend einen Untergang von Verlustvorträgen anordnet, hat in der Krise ihr wahres Gesicht gezeigt. Sie verhinderte unter anderem die dringend notwendige Beteiligung von sanierungswilligen Investoren und hat damit volkswirtschaftlich ebenso sinnvolle wie erforderliche Rettungen überlebensfähiger Unternehmen erschwert, wenn nicht verhindert. Dies hat letztlich auch der Gesetzgeber erkannt und sah sich zu Korrekturen aufgefordert. Insbesondere sollte durch das Bürgerentlastungsgesetz eine zunächst befristete59 Sanierungsklausel Abhilfe schaffen. Diese, in ihren Anwendungsvoraussetzungen sehr enge Ausnahmevorschrift zur Grundregel des § 8c Abs. 1 KStG, sollte den zuvor beschriebenen Einstieg von Investoren ermöglichen. Obwohl die Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG allgemein60 als Schritt in die richtige Richtung bewertet wird, droht nunmehr wegen eines möglichen Verstoßes gegen das europäische Beihilferecht deren Aus. Die Europäische Kommission hat mit Schreiben v. 24.2.2010 mitgeteilt, dass ein förmliches Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV eingeleitet wird, da die Norm notleidende Unternehmen gegenüber „gesunden“ Unternehmen privilegieren könnte61. Das BMF62 hat daraufhin am 30.4.2010 dargelegt, dass die Sanierungsklausel bis zu einem abschließenden Beschluss der Kommission nicht mehr anzuwenden ist. Eine unzulässige Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV liegt vor, wenn aus staatlichen Mitteln ein Vorteil gewährt wird, der bestimmte Unternehmen begünstigt (also selektiv wirkt) und dadurch den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten beeinträchtigt und den Wettbewerb verfälscht oder
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57 Dies meint die Fassung der Norm vor den Korrekturen durch das Bürgerentlastungsgesetz (Gesetz zur verbesserten steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung v. 16.7.2009, BGBl. I, 1959) sowie durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. 58 Ein Verstoß gegen das körperschaftsteuerliche Trennungsgebot ist offensichtlich. 59 Das Bürgerentlastungsgesetz sah zunächst vor, dass die Sanierungsklausel lediglich auf Anteilsübertragungen nach dem 31.12.2007 und vor dem 1.1.2010 beschränkt sein sollte; im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes wurde durch § 34 Abs. 7c Satz 1 KStG diese zeitliche Beschränkung aufgehoben. 60 Vgl. aber auch Lüdicke, Der Verlust im Steuerrecht, DStZ 2010, 434 (437). 61 Europäische Kommission v. 24.2.2010 – C 7/10 (ex NN 5/10), ABl. C 90 v. 8.4.2010, S. 8. 62 BMF v. 30.4.2010 – IV C 2 – 2745-a/08/1000:002, BStBl. I, 488.
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zu verfälschen droht. Die Kommission geht in der Begründung davon aus, dass die Sanierungsklausel einen Vorteil vermittelt und selektiv wirkt, da Verlustvorträge bei einem (qualifizierten) Beteiligungserwerb nach der allgemeinen Regel untergehen. Von diesem Normalfall des Verlustunterganges weiche § 8c Abs. 1a KStG ab; zudem sei zweifelhaft, ob dies durch die Natur oder den inneren Aufbau des Systems gerechtfertigt sei. Diese Argumentation zeigt das Dilemma. Wenn der Gesetzgeber aus rein fiskalischen Gründen das System der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vernachlässigt oder gar außer Acht lässt, unterliegen ökonomisch dringend erforderliche Regelungen Bedenken, da das Referenzsystem unklar bleibt und ein zutreffendes Regel-Ausnahme-Prinzip nur schwer oder gar nicht zu ermitteln ist63. Parallel zur oben dargestellten Problematik der Verlustbehandlung im Todesfall natürlicher Personen besteht im Übrigen ein vergleichbares Problem des Verlustunterganges auch bei Körperschaften. Zwar hatte die Rechtsprechung des BFH64 – anders als in den Erbfällen – den Verlustübergang zwischen Körperschaften stets mit Hinweis darauf abgelehnt, dass der Verlustabzug an die Gesellschaft gebunden sei, die den Verlust erlitten habe. Der Gesetzgeber hatte jedoch im Jahre 1994 auf den Grundsatz der Identität der Körperschaft verzichtet und es unter anderem im Rahmen von Verschmelzungen (12 Abs. 2 Satz 3 UmwStG a. F.) zugelassen, dass der Verlustabzug der übertragenden Kapitalgesellschaft unter bestimmten Voraussetzungen auf die übernehmende Kapitalgesellschaft übergeht. Diese Möglichkeit wurde durch das Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften v. 7.12.2006 (SEStEG)65 gestrichen. Nunmehr fallen der Übergang verrechenbarer Verluste, verbleibender Verlustvorträge, vom übertragenden Rechtsträger nicht ausge-
__________ 63 Freilich ist anzumerken, dass meines Erachtens die Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG keine verbotene Beihilfe darstellt. Denn die Kommission übersieht, dass entgegen der Aussage in ihrem Schreiben v. 24.2.2010 nicht auf das Körperschaftsteuersystem in seiner derzeitigen Fassung abgestellt wird, sondern die Rechtslage vor dem Inkrafttreten des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes in Bezug nimmt. Durch die Ergänzung des § 8c Abs. 1 KStG um die Sätze 5 und 6 (Konzern- und StilleReserven-Klausel) durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz v. 22.12.2009 wird meines Erachtens die bisher telosfreie Norm des § 8c KStG dahingehend weiterentwickelt, dass ein Verlusthandel – entweder innerhalb eines Konzerns oder außerhalb – unterbunden werden soll. § 8c KStG soll somit nunmehr sicherstellen, dass der Verlustvortrag einer Körperschaft selbst nicht Zweck der Übertragung ist. Damit aber wird der § 8c KStG wieder dem Charakter einer Missbrauchsverhinderungsnorm zumindest angenähert. Dementsprechend ist für die Prüfung des Referenzsystems bei der Frage nach dem Vorliegen einer verbotenen Beihilfe auf die grundsätzliche Abzugsmöglichkeit von Verlusten als Ausfluss des Prinzips einer Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abzustellen. 64 BFH v. 8.4.1964 – VI 205/61 S, BStBl. III 1964, 306; BFH v. 5.11.1969 – I R 60/67, BStBl. II 1970, 149. 65 Gesetzes über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG), BGBl. I 2006, 2782.
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glichene negative Einkünfte, der Zinsvortrag sowie über den Verweis des § 19 Abs. 2 UmwStG auf § 12 Abs. 3 UmwStG ebenfalls sämtliche vortragsfähigen Fehlbeträge i. S. des § 10a GewStG weg. Wenn auch die Gelegenheit eröffnet ist, bei der übertragenden Gesellschaft bestehende Verlustvorträge mit dem durch Ansatz der Wirtschaftsgüter mit dem gemeinen Wert (§ 11 Abs. 1 UmwStG) oder einem Zwischenwert (§ 11 Abs. 2 UmwStG) entstehenden Übertragungsgewinn zu verrechnen, führt die durch das SEStEG kodifizierte Beschränkung zu einer deutlichen Verschlechterung der Verlustverrechnung. Insbesondere können sich Verlustverrechnungsbeschränkungen aus der Summe der vorhandenen stillen Reserven sowie aus der auch in diesen Fällen anwendbaren Mindestbesteuerung des § 10d Abs. 2 EStG ergeben. Der hierdurch potentiell mögliche endgültige Verlustuntergang bei der übertragenden Gesellschaft erscheint ebenfalls vor dem Hintergrund einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verfassungsrechtlich bedenklich66. Auch hier ließ sich der Gesetzgeber offensichtlich von fiskalischen Motiven leiten67.
VII. Lösungsmöglichkeiten 1. Mindestbesteuerung (§ 10d Abs. 2 EStG, § 10a GewStG) Die Ausführungen oben unter Punkt IV 1. haben gezeigt, dass es durch die Mindestbesteuerung in einer Vielzahl von Fällen dazu kommen kann, dass entgegen der Intention des Gesetzes die bloße zeitliche Streckung der Verlustverrechnung in eine endgültige Vernichtung der Verlustvorträge umschlagen kann. Dabei handelt es sich nicht lediglich um wenige atypische Fälle, die dem vom Gesetzgeber bezweckten Ziel der Reglung ausnahmsweise nicht entsprechen. Im Gegenteil, es handelt sich bei den aufgezeigten Fällen um typische Problemfelder im Zusammenhang mit einer zeitlichen Streckung der Verlustverrechnung. Ob man die Regelung des § 10d Abs. 2 EStG durch eine verfassungskonforme Auslegung in diesen Fällen retten kann, erscheint meines Erachtens zweifelhaft. Der Aufruf an den Gesetzgeber kann jedoch nur lauten, die Mindestbesteuerung vor dem Hintergrund der vielfältigen Probleme zu streichen. Es wurde schon ausgeführt, dass die Wirkung einer derartigen Streichung auf den Haushalt begrenzt ist. Dennoch erscheint eine sofortige Streichung der Mindestbesteuerung politisch jedenfalls schwierig durchsetzbar. Aus diesem Grunde ist der Vorschlag Dorenkamps, künftige Verluste wieder ohne die Limitierung des § 10d Abs. 2 EStG verrechnen zu können, während Altverluste bis zu ihrer vollständigen Verrechnung weiterhin dem bisherigen Regime folgen, zu begrüßen68. Damit wären sowohl die Interessen der Steuerpflichtigen als auch des Fiskus berücksichtigt. Die damit verbundene parallele Geltung zweier Steuerregime für die Verlustverrechnung erscheint auch mit Blick
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66 Wie hier Körner, Anmerkungen zum SEStEG-Entwurf v. 21.4.2006, IStR 2006, 469. 67 Vgl. Maiterth/Müller, Abschaffung der Verlustübernahme bei Verschmelzung von Körperschaften – systematisch geboten oder fiskalisch motiviert?, DStR 2006, 1861. 68 Dorenkamp (Fn. 10), S. 73 f.
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auf den erforderlichen Administrierungsaufwand vertretbar, da Verluste gesondert festgestellt werden und damit die erforderliche Trennung der Summen ohne weiteres zu leisten ist. 2. Verlustuntergang im Todesfall Wie der Große Senat in seinem Beschluss v. 17.12.200769 ausgeführt hat, widerspricht die Vererbbarkeit des Verlustvortrages dem Grundgedanken der Einkommensteuer als einer Personensteuer. Sie erfasst die durch das Einkommen bewertete Leistungsfähigkeit jeder einzelnen natürlichen Person. Sie folgt daher dem Grundsatz der Individualbesteuerung und wird vom Prinzip der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit geleitetet. Insoweit ist ein interpersoneller Verlustübertrag abzulehnen. Freilich stellt der Untergang noch nicht genutzter Verlustvorträge im Todeszeitpunkt des Steuerpflichtigen unter dem Gesichtspunkt einer Besteuerung nach der individualen Leistungsfähigkeit ein ebenfalls bedenkliches Ergebnis dar. Eine Lösungsmöglichkeit wäre, die bisher nicht verwerteten Verluste bei der Besteuerung des Erblassers zu berücksichtigen, im dem man einen unbeschränkten Verlustrücktrag ermöglichen würde und den daraus resultierenden Steuererstattungsanspruch den Erben zuspräche. Diese Lösung würde dem Grundsatz der Individualbesteuerung am besten Rechnung tragen. Allerdings ist zu befürchten, dass der Gesetzgeber aufgrund der daraus resultierenden Steuerwirkungen vor dieser Lösung zurückschrecken wird. Alternativ70 könnte eine (teilweise) Besteuerung der steuerpflichtigen stillen Reserven beim Erblasser durch Ausübung einer Besteuerungsoption im Gesetz vorgesehen werden, die einer fiktiven Veräußerung gleichkommt und so beim Erblasser eine letztmalige Nutzung der Verlustvorträge ermöglicht. Unter Beachtung der obigen Forderung nach Streichung der Mindestbesteuerung des § 10d Abs. 2 EStG führt dieses Modell zu einer konsequenten Umsetzung der Besteuerung nach dem Nettoprinzip und beachtet das Prinzip der Individualbesteuerung. Allerdings sollte diese Möglichkeit als Wahlrecht ausgestaltet sein und auf den Betrag des Verlustvortrages begrenzt werden können, damit die Aufdeckung der stillen Reserven nicht mit einem Liquiditätsabfluss für Steuerzahlung verbunden ist. Es ist zuzugeben, dass auch dieses Modell keine befriedigende Lösung für Fälle bereithält, in denen die Verlustvorträge die stillen Reserven übersteigen. Insoweit könnte für den überschießenden Betrag ein unbegrenzter Verlustrücktrag in Betracht kommen, der aufgrund der vorrangigen Verrechnung mit stillen Reserven die öffentlichen Haushalte geringer belasten würde. Freilich erfordert dies ein aufwendiges Verwaltungsverfahren. Mit Rickert71 ist daher zu überlegen, ob eine pauschale Steuererstattung auf Basis eines durchschnittlichen Steuersatzes vorzunehmen ist.
__________ 69 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608. 70 Vgl. hierzu auch Rickert, Plädoyer für eine gesetzliche Regelung des Verlustabzugs im Erbfall, DStR 2010, 410 (414). 71 Rickert, DStR 2010, 410 (414).
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Der Verlust als Gegenstand der Steuerpolitik
3. Verlustabzug bei Körperschaften (§ 8c KStG) Es wurde bereits ausgeführt, dass für die Regelung des § 8c KStG in ihrer ursprünglichen Form keinerlei systematische Rechtfertigung zu finden war. Durch die Ergänzungen der Norm durch das Bürgerentlastungs- und Wachstumsbeschleunigungsgesetz in Form der Konzern-, Sanierungs- sowie StilleReserven-Klausel wurden zwar Verbesserungen erzielt und der Weg zurück zu einer Missbrauchsabwehrnorm eingeschlagen. Dennoch bleibt – neben Kritik72 an der handwerklichen Umsetzung der Ergänzungen – die grundlegende Beanstandung, dass durch die Regelung das für Körperschaften prägende Prinzip der Trennung zwischen Gesellschaft und Gesellschafter teilweise durchbrochen wurde. Diese „Teiltransparenz“ war und ist ein Widerspruch, der unter dem Gesichtspunkt der Folgerichtigkeit Zweifel an der Zulässigkeit der Norm weckt. Es erscheint dringend angeraten, sich auf das Grundanliegen des § 8 Abs. 4 KStG a. F. zu besinnen und eine Regelung zu schaffen, die explizit die Fälle des sog. Mantelkaufs als reine Missbrauchsabwehrnorm zu unterbinden sucht. Eine darüber hinausgehende Begrenzung der Verlustvorträge ist abzulehnen. Hinsichtlich der Regelungen zum Verlustübergang in Verschmelzungsfällen sollte meines Erachtens die Rückkehr zur Regelung vor dem SEStEG erfolgen und damit unter den seinerzeit bestimmten Voraussetzungen ein Übergang des Verlustabzugs auf die übernehmende Kapitalgesellschaft zulassen. Dies steht auch nicht im Widerspruch zu den Erwägungen, mit denen durch den Großen Senat des BFH73 ein Übergang des Verlustübertrages in Erbfällen abgelehnt wurde. Es erfassen – in Parallele zu Erbfällen – zwar auch die im Umwandlungssteuergesetz geregelten Tatbestände zumeist Sachverhalte der (gänzlichen oder partiellen) Gesamtrechtsnachfolge. Jedoch weisen die erbrechtliche und die umwandlungssteuerrechtliche Gesamtrechtsnachfolge einen gravierenden Unterschied auf, den auch die Rechtsprechung des BFH mehrfach herausgestellt hat. Erbfälle sind unentgeltliche Vorgänge, während die Umwandlung wesentliche Elemente eines entgeltlichen Tauschgeschäfts enthält und somit auch anderen Regeln folgen kann74.
VIII. Schlussfolgerungen Diese wenigen, exemplarisch herausgegriffenen Beispiele zeigen, dass die derzeitigen Regelungen zur Verlustbehandlung in Deutschland unsystematisch, zum Teil in sich widersprüchlich und streitanfällig sind. Diese Feststellungen können aus Sicht des Berufsstandes der Steuerberater nur in dem dringenden Appell münden, die im Koalitionsvertrag75 niedergelegte Reform der Verlust-
__________ 72 Vgl. hierzu bspw. Breuninger/Ernst, Der Beitritt eines rettenden Investors als (stiller) Gesellschafter und der „neue“ § 8c KStG, GmbHR 2010, 561 (563); Lüdicke, Der Verlust im Steuerrecht, DStZ 2010, 434 (437). 73 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608. 74 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 (615) m. w. N. 75 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP für die 17. Legislaturperiode, S. 14.
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berücksichtigung im deutschen Steuerrecht möglichst zeitnah umzusetzen. Der vorliegende Aufsatz will durch das Aufzeigen einiger dringender Problemfelder sowie möglicher Lösungsmodelle einen Beitrag hierzu leisten. Die Überlegungen zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen haben gezeigt, dass der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum besitzt. Er ist damit gleichzeitig aufgerufen, seinen Gestaltungsspielraum zu nutzen. Diese Neuordnung muss sich dabei stärker als bisher an den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen orientieren. Gleichzeitig kann damit auch verfassungsrechtlichen und systematischen Erwägungen Rechnung getragen werden. Dabei ist aus Sicht des Rechtsanwenders zu betonen, dass Regelungen nur dann Akzeptanz genießen, wenn diese nicht das gerade noch verfassungsrechtlich Zulässige ausloten, sondern ein in sich widerspruchsfreies System bilden, dass sich an wirtschaftlichen Notwendigkeiten orientiert. Die in den letzen Jahren leider immer wieder zu beobachtende Vorgehensweise des Gesetzgebers, Regelungen zu setzen, die bereits vor ihrer Verkündung mit dem Verdikt der Verfassungsmäßigkeit belegt werden, erzeugt den oft beklagten Verdruss der Steuerpflichtigen gegenüber dem Abgabenrecht. Die Klärung der Streitfrage, ob eine derartige Regelung gerade noch verfassungsgemäß ist, bindet darüber hinaus sowohl bei Steuerpflichtigen, Steuerberatern und auch in der Finanzverwaltung Ressourcen und ist kein Beitrag zu der immer wieder betonten Vereinfachung des Steuerrechts. Normen, die eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit umsetzen, dienen in aller Regel auch der Steuervereinfachung. Ein seit Jahren immer wieder betontes, aber leider noch immer nicht umgesetztes Ziel ist dabei die Streichung von Lenkungsnormen aus dem Ertragssteuerrecht. Zudem ergibt sich durch die zuvor beschriebene Gesetzgebungspraxis des „gerade noch Möglichen“ eine Vielzahl von Wechselwirkungen. Hier sei nur an die für die Praxis mit erheblicher Bedeutung verbundene Frage des Rechtsschutzes des Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 AO erinnert, der in derartigen Fällen Masseneinspruchsverfahren verhindern soll und dessen Rechtsschutz nicht abschließend geklärt ist. Gleichzeitig müssen – auch dies soll gesagt werden – wirkungsvolle Missbrauchsverhinderungstatbestände geschaffen werden. Jedoch sind diese punktgenau und möglichst eindeutig zu formulieren. Dies alles ist – das haben die obigen Ausführungen zu den finanziellen Wirkungen gezeigt – mit Einnahmeverlusten der öffentlichen Haushalte verbunden. Diese sind, insbesondere was die Mindestbesteuerung des § 10d EStG betrifft, jedoch bei weitem nicht so hoch, wie die Verlustvorträge in den Steuerstatistiken zunächst befürchten lassen. Wie dargelegt, sind systemgerechte Normen meist einfach in der Anwendung und daher einfach administrierbar. Ein derartiges Steuerrecht verursacht daher erheblich weniger Verwaltungsaufwand. Wenn diese Kostenersparnis sicherlich auch schwer bezifferbar ist, sollte dieser Aspekt bei der Diskussion nicht vernachlässigt werden. Unbestreitbar bleibt aber, dass sich die Politik gewissermaßen in einer Zwickmühle befindet. Werden die vorhandenen Verlustverrechnungsmöglichkeiten beibehalten oder gar weiter eingeschränkt, baut sich das Volumen der steuer792
Der Verlust als Gegenstand der Steuerpolitik
lichen Verlustvorträge kontinuierlich aus. Wird hingegen die Möglichkeit der Verlustverrechnung ausgeweitet, hat dies Auswirkungen auf das Steueraufkommen. Dennoch darf dies die Politik nicht daran hindern, die Verlustverrechnungsvorschriften des deutschen Steuerrechts zu überarbeiten. Denn gerade die derzeitig wirtschaftlich schwierige Lage hat deutlich gemacht, dass das deutsche Steuerrecht in Teilen nur als „Schönwetterrecht“ bezeichnet werden kann. Dies bedarf im Interesse des Wirtschaftsstandortes Deutschland einer schnellen Änderung.
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Aufteilbarkeit gemischt veranlasster Aufwendungen Zum Beschluss des Großen Senats des BFH vom 21.9.2009 – GrS 1/06*
Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Zur Beurteilung gemischter Aufwendungen 1. Reisekosten a) „Verabschiedung“ eines allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbots b) Maßgeblichkeit des Veranlassungsprinzips; objektives und subjektives Nettoprinzip
c) Aufteilung gemischt veranlasster Reisekosten nach Zeitanteilen d) Untrennbare Reisekosten e) Andere Aufteilungskriterien; Absehen von einer Aufteilung 2. Gemischt veranlasste Aufwendungen – allgemeine Grundsätze a) Konkurrenzen b) Aufteilungskriterien III. Zusammenfassung
I. Einleitung Der Große Senat des BFH hat entschieden, dass Aufwendungen für die Hinund Rückreise bei gemischt beruflich/betrieblich und privat veranlassten Reisen grundsätzlich in abziehbare Werbungskosten/Betriebsausgaben und nicht abziehbare Aufwendungen für die private Lebensführung aufgeteilt werden können, wenn die beruflich veranlassten Zeitanteile feststehen und nicht von untergeordneter Bedeutung sind1. Die insbesondere seit den Entscheidungen des Großen Senats v. 19.10.19702 und v. 27.11.19783 vertretene Auffassung, dass § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG ein allgemeines Aufteilungs- und Abzugsverbot für gemischte veranlasste Aufwendungen normiere, wird ausdrücklich aufgegeben4. Die auf Vorlage des VI. Senats tenorierte Entscheidung betrifft zwar nur Reisekosten, soll aber (wohl) allgemein für gemischt veranlasste Aufwendungen gelten, so dass das bisher von der Rechtsprechung auf § 12 Satz 1 Nr. 1 EStG gestützte Aufteilungs- und Abzugsverbot durch ein regelmäßiges Aufteilungsgebot ersetzt wird. Anders gewendet: Der bisherige Grundsatz (Nichtaufteilbarkeit) wird zur Ausnahme, die in der Vergangenheit praktizierten Ausnahmen (Aufteilbarkeit) werden die Regel.
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* BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 = BFH/NV 2010, 285 = BFHE 227, 1. 1 Ebenso jetzt BFH v. 21.4.2010 – VI R 66/04, BStBl. II 2010, 685 (686 f.); BFH v. 21.4.2010 – VI R 5/07, BStBl. II 2010, 687; BFH v. 1.6.2010 – VIII R 80/05, BFH/NV 2010, 1805. 2 BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17; BFH v. 19.10.1970 – GrS 3/70, BStBl. II 1971, 21. 3 BFH v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213 = BFHE 126, 533. 4 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 (680 ff.)
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Die Auffassung des Großen Senats hat in der Verwaltung und im Schrifttum im Grundsätzlichen (Aufgabe eines auf § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG gestützten allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbots) durchweg Zustimmung gefunden5, im Detail sind die Stellungnahmen differenzierter und z. T. kritisch.
II. Zur Beurteilung gemischter Aufwendungen 1. Reisekosten Der Große Senat hat die unterschiedliche, wechselnde und zum Teil widersprüchliche Beurteilung gemischter Aufwendungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung seit dem Preuß. EStG 18916 im Allgemeinen und von Aufwendungen für Reisen im Besonderen umfassend aufgelistet7 und sich im Grundsatz der Auffassung des vorlegenden 6. Senats8 angeschlossen, dass Aufwendungen für die Hin- und Rückreise bei gemischt beruflich/betrieblich und privat veranlassten Reisen grundsätzlich in abziehbare Werbungskosten/Betriebsausgaben und nicht abziehbare Aufwendungen für die private Lebensführung aufzuteilen seien. Als sachgerechter Aufteilungsmaßstab komme in erster Linie das Verhältnis der beruflich/betrieblich und privat veranlassten Zeitanteile in Betracht. Aus § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG lasse sich nichts gegen die Aufteilbarkeit folgern. a) „Verabschiedung“ eines allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbots Die Ableitung eines allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbots aus § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG ist im Schrifttum von Anfang an nahezu einhellig abgelehnt worden9. Denn § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG gilt nach seinem insoweit eindeutigen Wortlaut nur für sog. Repräsentationsaufwendungen. Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bestätigt diesen (engen) Gesetzeszweck10 und aus dem vom Großen Senat im Beschluss v. 19.10.197011 zur Begründung eines allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbots herangezogenen Grundsatz der Steuergerechtigkeit lässt sich nichts Gegenteiliges ableiten12. Das verhindert werden müsse, dass Steuerpflichtige Aufwendungen für ihre Lebensführung zum Teil in den einkommensteuerlich relevanten Bereich verlagern könnten, ist zwar rich-
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5 Vgl. BMF v. 5.7.2010, BStBl. I 2010, 614 ff.; Drenseck in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 12 EStG Rz. 2 ff.; P. Fischer, NWB 2010, 412 ff.; Kempermann, FR 2010, 233 f.; G. Kirchhof in FS Lang, 2010, S. 563 ff.; Ortmann-Babel, BB 2010, 296 f.; Pezzer, DStR 2010, 93 ff.; Spindler in FS Lang, 2010, S. 589 ff.; kritisch Urban, DS 2010, 87 (91). 6 Gesetz-Sammlung für die Königliche Preußischen Staaten, 1891, S. 175. 7 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 (674 ff.). 8 BFH v. 20.7.2006 – VI R 94/01, BStBl. II 2007, 121. 9 Vgl. bereits Söhn in DStJG 3 (1980), S. 13 (51 ff.), ferner BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BFH/NV 2010, 285 (292) mit erschöpfenden Nachweisen; Pezzer, DStR 2010, 93 f. 10 Söhn in DStJG 3 (1980), S. 13 (51 ff.); BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BFH/NV 2010, 285 jeweils m. w. N. 11 BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17 = BFHE 100, 309. 12 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BFH/NV 2010, 285 (294 f.).
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tig („gerecht“), dass aufteilbare Aufwendungen nicht aufgeteilt und ein nur beruflich/betrieblich veranlasster Kostenanteil nicht abzugsfähig sind, widerspricht indes dem Grundsatz der Steuergerechtigkeit im Sinne der Lastengleichheit bei gleicher Leistungsfähigkeit, ist also „ungerecht“. Steuerpflichtige, denen derartige Aufwendungen entstanden sind, werden nur bei einer Abzugsfähigkeit der beruflich/betrieblich veranlassten Kostenanteile nach Maßgabe des objektiven Nettoprinzips leistungsfähigkeitskonform („gerecht“) besteuert. Hinzu kam, dass die Rechtsprechung von dem auf § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG gestützten allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbot für gemischt veranlasste Aufwendungen Ausnahmen zugelassen hat. Das galt von Anfang an für die fixen Kfz-Kosten und nach einigem Hin und Her für die Abziehbarkeit von Telefongrundgebühren13, obwohl die Grundgebühren nicht nur für ausgehende, sondern auch für eingehende Anrufe gezahlt werden und jedenfalls insoweit nicht verifizierbar ist, ob ein einzelner Anruf beruflich (betrieblich) oder privat oder gemischt veranlasst ist14. In der Folgezeit kamen weitere (Ausnahme-) Fallgruppen hinzu15. So wurde zuletzt insbesondere eine regelmäßig hälftige Aufteilung der Kosten eines privat angeschafften, in der privaten Wohnung aufgestellten und gemischt genutzten PC erlaubt16. Speziell bei Reiseaufwendungen hat die Rechtsprechung zwar in jüngerer Zeit u. a. den Werbungskosten-/Betriebsausgabenabzug der Aufwendungen für die Teilnahme an einer beruflichen Fortbildungsveranstaltung auch dann zugelassen, wenn der Veranstaltung ein Urlaubsaufenthalt an demselben Ort vorangegangen war17, aber bis zum Beschluss des Großen Senats v. 21.9.2009 an dem Grundsatz festgehalten, dass die Kosten der An- und Rückreise einschließlich Reisenebenkosten „einheitlich“ betrachtet werden müssten und deshalb bei einer nicht unwesentlichen beruflichen/betrieblichen Mitveranlassung der Reise nicht als Werbungskosten/Betriebsausgaben abzugsfähig seien18. Erst mit Aufgabe eines allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbots ist der Weg für eine weitergehende Aufteilbarkeit von Reiseaufwendungen frei geworden b) Maßgeblichkeit des Veranlassungsprinzips; objektives und subjektives Nettoprinzip Aufwendungen für die Hin- und Rückreise bei gemischt beruflich/betrieblich und privat veranlassten Reisen können nach Ansicht des Großen Senats grundsätzlich „nach Maßgabe der beruflich und privat veranlassten Zeitanteile der Reise“ in abziehbare Werbungskosten (Betriebsausgaben) und nicht abziehbare Aufwendungen für die private Lebensführung aufgeteilt werden, wenn die
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BFH v. 21.11.1980 – VI R 202/79, BStBl. II 1981, 131 = BFHE 132, 63. Das übersieht P. Fischer, NWB 2010, 412 (416). Vgl. BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 (676 ff.) m. w. N. BFH v. 19.2.2004 – VI R 135/01, BStBl. II 2004, 958 (961 f.) = BFHE 205, 220. BFH v. 23.4.1992 – IV R 27/91, BStBl. II 1992, 898 = BFHE 168, 254. BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672; BFH v. 21.4.2010 – VI R 5/07, BStBl. II 2010, 687 (688 f.).
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beruflich veranlassten Zeitanteile feststehen und nicht von untergeordneter Bedeutung sind. Der Große Senat stützt diese Änderung der Rechtsprechung auf allgemein anerkannte Besteuerungsgrundsätze. Für die Einkommensbesteuerung ist (erstens) die Unterscheidung zwischen der durch die einzelnen Einkunftsarten definierten Erwerbssphäre und der Sphäre der Einkommensverwendung prägend. Deshalb bedarf es der Trennung zwischen den den jeweiligen Einkünften zuzuordnenden Erwerbsaufwendungen (Betriebsausgaben, Werbungskosten) einerseits und den – grundsätzlich nicht abziehbaren – Kosten der Lebensführung andererseits. Aufwendungen sind nach dem Regelungsziel des Einkommensteuergesetzes dann als durch eine Einkunftsart veranlasst anzusehen, wenn sie hierzu in einem steuerrechtlich anzuerkennenden wirtschaftlichen Zusammenhang stehen (Veranlassungsprinzip). Maßgeblich dafür, ob ein solcher Zusammenhang besteht, ist zum einen die – wertende – Beurteilung des die betreffenden Aufwendungen „auslösenden Moments“, zum andern dessen Zuweisung zur einkommensteuerrechtlich relevanten Erwerbssphäre19. Ergibt diese Prüfung z. B. bei Reisekosten, dass die Aufwendungen für Reiseabschnitte bzw. Reisebestandteile nicht oder in nur unbedeutenden Maße auf privaten, der Lebensführung des Steuerpflichtigen zuzurechnende Umständen beruhen, sind die Kosten grundsätzlich als Betriebsausgaben oder Werbungskosten abzuziehen. Beruhen die Aufwendungen dagegen nicht oder in nur unbedeutenden Maße auf beruflichen/betrieblichen Umständen, so sind sie insgesamt nicht abziehbar20. Zweitens: Die gesetzlichen Abzugstatbestände für Betriebsausgaben und Werbungskosten sind Ausdruck des objektiven Nettoprinzips, nach dem der Steuergesetzgeber die für die Lastengleichheit im Einkommensteuerrecht maßgebliche objektive finanzielle Leistungsfähigkeit bemisst. Danach unterliegt der Einkommensteuer grundsätzlich nur das Nettoeinkommen, d. h. der Saldo aus den Erwerbseinnahmen einerseits und den betrieblichen/beruflichen Erwerbsaufwendungen andererseits21. Ob und inwieweit Reisekosten (nur darüber hatte der Große Senat zu entscheiden) in wirtschaftlichem Zusammenhang mit einer Einkunftsart stehen, hängt nach Ansicht des Gerichts von den „Gründen“ ab, aus denen der Steuerpflichtige die Reise oder verschiedene Teile einer Reise unternimmt. Die Gründe bildeten das „auslösende Moment“. Gemeint sind damit die steuerrelevanten Anlässe/Ursachen einer Reise, die anhand der gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalles im Wege einer wertenden Beurteilung aus einer möglichen Vielzahl tatsächlicher Ursachen (im Sinne der Äquivalenztheorie)
__________ 19 Vgl. auch BFH v. 21.4.2010 – VI R 5/07, BStBl. II 2010. 20 BFH v. 4.7.1990 – GrS 2–3/8, BStBl. II 1990, 817 (822 ff.) = BFHE 161, 290. 21 Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung des objektiven Nettoprinzips (Anforderungen an die hinreichende Folgerichtigkeit bei der näheren Ausgestaltung der gesetzgeberischen Grundentscheidungen; Auslegungsrichtschnur bei der Rechtsanwendung) vgl. z. B. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 (234 f.) m. w. N.; BFH v. 30.1.1995 – GrS 4/92, BStBl. II 1995, 281 (284 f.) = BFHE 176, 267; BFH v. 23.8.1999 – GrS 1/97, BStBl. II 1999, 778 (780) = BFHE 189, 151; BFH v. 29.4.2008 – VIII R 98/04, BStBl. II 2008, 749 = BFHE 221, 129.
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ermittelt werden müssen. Dabei obliegt dem Steuerpflichtigen eine umfassende Darlegungs- und Nachweispflicht. Insbesondere für Auslandsgruppenreisen gelten insoweit die im Beschluss des Großen Senats v. 27.11.197822 entwickelten (strengen) Abgrenzungsmerkmale unverändert weiter, so dass für eine berufliche/betriebliche Veranlassung neben einer fachlichen Organisation vor allem maßgebend ist, dass das Programm auf die besonderen beruflichen Bedürfnisse der Teilnehmer zugeschnitten und der Teilnehmerkreis im wesentlichen gleichartig (homogen) ist23. Erst nach einer dem Grunde nach nachgewiesenen beruflichen/betrieblichen Mitveranlassung kommt eine schätzungsweise Aufteilung in Betracht. Sind Aufwendungen zugleich beruflich/betrieblich und privat veranlasst, gilt Folgendes: (1) Einen qualitativ unbedeutenden privaten oder einen qualitativ unbedeutenden beruflicher/betrieblicher Anlass lässt die Rechtsprechung seit jeher unberücksichtigt24. Ein unbedeutender Veranlassungsbeitrag ist kein steuerrelevanter Anlass; er wird im Wege einer wertenden Beurteilung als „auslösender Moment“ ausgeschieden (Theorie der Unbeachtlichkeit einer qualitativ unbedeutenden Mitveranlassung). Das bedeutet: Eine unbedeutende private Mitveranlassung schließt den vollständigen Abzug von Betriebsausgaben oder Werbungskosten nicht aus und umgekehrt eröffnet eine unbedeutende berufliche/betriebliche Mitveranlassung keinen Werbungskosten-/Betriebsausgabenabzug25. Die Frage einer Aufteilung gemischt veranlasster Aufwendungen stellt sich nicht (mehr). Ob eine Mitveranlassung/Mitverursachung unbedeutend ist, ist durch eine wertende Beurteilung des Einzelfalles zu entscheiden. Dass eine private Veranlassung „überwiegt“ oder „den Schwerpunkt“ bildet, indiziert noch nicht zwangsläufig eine „unbedeutende“ berufliche/betriebliche Mitveranlassung, und umgekehrt26; und ob ein fester Prozentsatz, z. B. die in anderen Zusammenhängen praktizierte 10 %-Bagatellgrenze, ohne weiteres auf gemischt veranlasste Aufwendungen übertragbar ist27, ist jedenfalls nicht zweifelsfrei. Der 6. Senat des BFH hat vor seinem Vorlagebeschluss an den Großen Senat einen 1-tägigen, rein beruflich genutzten Tag auf einer längeren privaten Studienreise als „unbedeutend“ qualifiziert, weil der Reiseteil nicht „ins Gewicht falle“28. Das überzeugt nicht. Ein (ganzer) Tag ist grundsätzlich kein unbedeu-
__________ 22 BFH v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213. 23 Vgl. zuletzt BFH v. 21.4.2010 – VI R 5/07, BStBl. II 2010, 687 (688 f.); Drenseck in Schmidt (Fn. 5), § 12 EStG Rz. 9 m. w. N. 24 Vgl. dazu Söhn in DStJG 3 (1980), S. 13 (66 ff.); Söhn in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 4 EStG Rz. E 110 ff. 25 Vgl. z. B. BFH v. 17.12.2009 – X B 115/09, BFH/NV 2010, 1248; Söhn in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 4 EStG Rz. E 110 ff. m. w. N. 26 Vgl. P. Fischer, NWB 2010, 412 (419). 27 BFH v. 18.8.2005 – VI R 32/03, BStBl. II 2006, 30; BMF v. 6.7.2010, BStBl. I 2010, 614 (615); Albert, FR 2010, 220 (222, 224); Drenseck in Schmidt (Fn. 6), § 12 EStG Rz. 4; kritisch P. Fischer, NWB 2010, 412 (418). 28 BFH v. 20.7.2006 – VI R 94/01, BStBl. II 2007, 121.
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tender Zeitanteil mehr29, eine Aufteilung der Reisekosten „nach Tagen“ richtig30. Lediglich eine ganz kurzfristige berufliche Unterbrechung einer privaten Reise, z. B. der keine zusätzlichen Kosten verursachende Kurzbesuch eines Geschäftsfreundes auf einer Urlaubsfahrt oder die Mitnahme einer Person aus privaten Gründen auf einer Dienstreise, können als „unbedeutend“ vernachlässigt werden31. Ist eine Aufteilung nach Stunden möglich, ist nach der neueren Rechtsprechung im Zweifel aufzuteilen. (2) Sind Kosten zum Teil nur dem beruflich/betrieblichen und zum Teil nur dem privaten Bereich und jeweils nicht nur qualitativ unbedeutend – Beispiele: Tagungskosten einer Fortbildungsveranstaltung am Ort eines Urlaubsaufenthalts; Aufwendungen für ein Wirtschaftsgut, das zeitlich nacheinander oder im Wechsel beruflich/betrieblich oder privat genutzt wird32 –, sind die Gesamtaufwendungen entsprechend aufzuteilen und die beruflich/betrieblich veranlassten Kostenanteile als Werbungskosten/Betriebsausgaben abzugsfähig. (3) Betreffen Reisekosten sowohl den beruflichen/betrieblichen als auch den privaten Reiseteil – das gilt insbesondere für die Kosten der Hin- und Rückreise zu einem beruflich/betrieblich und privat veranlassten Auslandsaufenthalt – sind die Kosten nach der vom Großen Senat „weiterentwickelten Rechtsauffassung“ (kein allgemeines Aufteilungs- und Abzugsverbot) grundsätzlich ebenfalls aufzuteilen, sofern die berufliche/betriebliche oder private Mitveranlassung nicht von völlig untergeordneter Bedeutung ist. Als nahe liegender und sachgerechter Aufteilungsmaßstab kommen nach Ansicht des Großen Senats die beruflichen/betrieblichen oder privaten Zeitanteile einer Reise in Betracht. Dem ist zuzustimmen. Denn eine Verifikation ist hier nicht schwieriger als die umfassende Würdigung der einzelnen Merkmale, die aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des BFH der Finanzverwaltung und den Finanzgerichten abverlangt worden ist. Das gilt umso mehr, als die Aufteilung auch im Wege der Schätzung erfolgen kann und ein Abzug als Werbungskosten/Betriebsausgaben ohnehin ausscheidet, wenn die berufliche/betriebliche Veranlassung nicht durch zureichende Gründe belegt ist. Denn entsprechende Zweifel gehen zulasten des Steuerpflichtigen (materielle Beweislast). c) Aufteilung gemischt veranlasster Reisekosten nach Zeitanteilen Eine Aufteilung von gemischten veranlassten Reisekosten nach beruflichen und privaten Zeitanteilen ist im grundsätzlichen möglich, da die Zeitanteile einer Reise objektivierbare Kriterien darstellen. Fraglich ist nur, welche Zeitanteile in Betracht kommen können. Eine Aufteilung „nach Tagen“ dürfte die
__________ 29 A. A. Kempermann, FR 2010, 225 (226). 30 Etwas anderes kann nur bei außergewöhnlich langen (halbjährigen, ganzjährigen usw.) privaten Reisen in Betracht kommen. 31 Drenseck in Schmidt (Fn. 5), § 12 EStG Rz. 11; vgl. auch Albert, FR 2010, 220 (224). 32 Vgl. dazu Söhn in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 4 EStG Rz. E 98 m. w. N.
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praktische Regel sein (werden)33, eine Aufteilung nach „kleineren Zeiteinheiten“ (Stunden) aber ebenfalls möglich sein34. So lassen sich z. B. 120 Stunden für den Besuch beruflich veranlasster Kurse eines angehenden Sportmediziners von den im übrigen privat veranlassten Zeitanteilen eines „sportmedizinischen Wochenkurses“ abgrenzen35. Beträgt der private Anteil einer Reise mehrere Tage, der berufliche hingegen nur mehrere Stunden, kann nur durch eine Wertung des Einzelfalles entschieden werden, ob der berufliche Anteil „unbedeutend“ ist oder aufgeteilt werden muss36. d) Untrennbare Reisekosten Greifen berufliche/betriebliche und private Veranlassungsbeiträge einer Reise, die für sich betrachtet nicht unbedeutend sind, so ineinander, dass objektivierbare Kriterien für eine Aufteilung fehlen – Beispiel: Ein Religionslehrer unternimmt mit dem Schulkollegium eine Pauschalreise nach Israel37 (berufliche/ private Doppelmotivation) –, sind die Aufwendungen insgesamt mangels Trennbarkeit nicht abzugsfähig38. Der Große Senat hat damit die z. T. im Schrifttum vertretene Ansicht, dass jede gemischt veranlasste Aufwendung aufteilbar sei und erforderlichenfalls im Schätzungswege aufgeteilt werden müsse39, zutreffend zurückgewiesen. Fehlen objektivierbare Aufteilungskriterien sind gemischt veranlasste Aufwendungen für den Rechtsanwender (Steuerpflichtiger; Finanzbehörde) „steuerlich untrennbar“; eine schätzungsweise Aufteilung wäre in einem solchen Fall willkürlich und ist deshalb unzulässig40. e) Andere Aufteilungskriterien; Absehen von einer Aufteilung Der Große Senat hat im Beschluss v. 21.9.2009 entschieden, dass das unterschiedliche Gewicht der verschiedenen Veranlassungsbeiträge im Einzelfall erfordern könne, einen anderen Aufteilungsmaßstab heranzuziehen oder ganz von einer Aufteilung abzusehen. Diese Feststellung in Leitsatz 2 betrifft – nur – gemischt veranlasste Reisekosten. Dass zwar regelmäßig eine Aufteilung nach Zeitanteilen in Betracht kommt, aber auch andere Aufteilungsmaßstäbe denkbar sind, ist theoretisch zweifelsfrei. Ein Beispiel für einen anderen Aufteilungs-
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33 Vgl. auch FG Köln v. 18.3.2010 – 15 K 2441/08, EFG 2010, 1397 (1398); Neufang, BB 2010, 2409 ff.; Urban, DS 2010, 87 (89 ff.). Der An- und Abreisetag sind bei der Bemessung der Zeitanteile nur zu berücksichtigen, wenn diese Tage zumindest teilweise für berufliche bzw. private Zwecke zur Verfügung gestanden haben; ansonsten sind diese Tage bei der Aufteilung als „neutral“ zu behandeln (BFH v. 21.4.2010 – VI R 5/07, BStBl. II 2010, 687 (689). 34 Vgl. auch Kempermann, FR 2010, 225 (226). 35 BFH v. 21.4.2010 – VI R 66/04, BStBl. II 2010, 685. 36 A. A. Albert, FR 2010, 220 (224). 37 Vgl. BFH v. 29.11.2006 – VI R 36/02, BFH/NV 2007, 681; Drenseck in Schmidt (Fn. 6), § 12 EStG Rz. 12. 38 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 (684); BMF v. 6.7.2010, BStBl. I 2010, 614 (616); vgl. bereits Söhn in FS Offerhaus, 1999, S. 477 (485); ferner Kempermann, FR 2010, 225 (226); Pezzer, DStR 2010, 93 (95). 39 Vgl. z. B. Ruppe in DStJG 3 (1980), S. 103 (140 ff.); Tipke in DStJG 3 (1980), S. 1 (9). 40 BFH v. 29.10.1985 – IX R 56/82, BStBl. II 1986, 143 (146).
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maßstab nennt der Große Senat allerdings nicht, sondern für ein „Absehen von einer Aufteilung“41. Nehme der Steuerpflichtige etwa aufgrund einer Weisung seines Arbeitgebers einen beruflichen Termin wahr, so könnten die Kosten der Hin- und Rückreise auch dann in vollem Umfang beruflich veranlasst sein, wenn der Steuerpflichtige den beruflichen Pflichttermin mit einem vorangehenden oder nachfolgenden privaten Aufenthalt verbinde. Dabei komme es nicht notwendig darauf an, ob der private Teil der Reise kürzer oder länger sei als der berufliche Teil42. Diese Feststellungen sind zu Recht auf Kritik gestoßen43. Zum einen geht es in dem angeführten Beispiel nicht eigentlich um eine Aufteilung nach anderen Kriterien. Vielmehr soll bei einem „beruflichen Pflichttermin“ die berufliche Veranlassung der Hin- und Rückreise das alleinige „auslösende Moment“ und die private Mitveranlassung selbst bei einem längeren vorangehenden oder nachfolgenden Privataufenthalt qualitativ „unbedeutend“ sein. Diese „(Be)Wertung“ der privaten Mitveranlassung kann nicht überzeugen44. Dass ein beruflicher Termin aufgrund einer dienstlichen Weisung zwingend ist, die Kosten für Hin- und Rückreise in jedem Fall anfallen und sich durch den privaten Aufenthalt nicht erhöhen, ist zwar richtig, stellt aber nicht infrage, dass die Reisekosten durch den privaten Aufenthalt keineswegs nur „unbedeutend“ mitveranlasst (mitverursacht) sind45, so dass die Kosten aufzuteilen sind. Insbesondere das „Argument“, dass sich Reisekosten durch einen anschließenden privaten Aufenthalt nicht erhöhen, rechtfertigt allgemein noch nicht, eine wesentliche private Mitveranlassung und eine Aufteilung der Kosten auszuschließen46. Allenfalls eine ganz kurzfristige Unterbrechung eines Privataufenthalts durch einen geschäftlichen Termin (und umgekehrt) ist qualitativ unbedeutend. Dass z. B. bei einem beruflichen Pflichttermin, der 2–3 Tage dauert, und einem vorausgehenden oder nachfolgenden Ferienaufenthalt von 14 Tagen, lediglich eine Aufteilung der Reisekosten nach Zeitanteilen „gerecht“ ist, dürfte offensichtlich sein. Die gegenteilige Ansicht des Großen Senats eröffnet zudem unerwünschte Gestaltungsmöglichkeiten und unnötigen Prüfungsaufwand. Die regelmäßige Aufteilung der Reisekosten ist einfacher und auch in einem solchen Fall richtig47. 2. Gemischt veranlasste Aufwendungen – allgemeine Grundsätze a) Konkurrenzen Der Große Senat des BFH hat zwar nur über gemischt veranlasste Reisekosten entschieden, die Aufgabe eines auf § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG gestützten Auftei-
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41 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 (684). 42 Zustimmend: BMF v. 6.7.2010, BStBl. I 2010, 614 (615); Kempermann, FR 2010, 225 (226); Pezzer, DStR 2010, 93 (95); Spindler in FS Lang (Fn. 5), S. 589 (599). 43 P. Fischer, NWB 2010, 412 (420). 44 Ebenso i. E. P. Fischer, NWB 2010, 412 (420); vgl. ferner Urban, DS 2010, 87 (89). 45 A. A. Drenseck in Schmidt (Fn. 5), § 12 EStG Rz. 7, der aber anschließend (ebenda) richtigerweise eine Aufteilung befürwortet. 46 So i. E. auch Drenseck in Schmidt (Fn. 5), § 12 EStG Rz. 7; a. A. FG Köln v. 29.8.2007 – 10 K 3758/04, EFG 2009, 391. 47 A. A. Drenseck in Schmidt (Fn. 5), § 12 EStG Rz. 7.
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lungs- und Abzugsverbots gilt jedoch allgemein48, so dass gemischt veranlasste Aufwendungen allgemein in Betriebsausgaben/Werbungskosten und Privatausgaben aufzuteilen sind („Aufteilungsgebot“), falls objektivierbare Aufteilungsmerkmale vorliegen und der betriebliche/berufliche oder der private Anlass nicht nur unbedeutend ist. Gesetzliche Sonderregelungen können jedoch etwas anderes vorsehen. So scheidet (erstens) eine Aufteilung gemischt veranlasster Aufwendungen und ein (partieller) Abzug als Betriebsausgaben/Werbungskosten aus, wenn Spezialvorschriften die steuerliche Behandlung bestimmter gemischt veranlasster Aufwendungen abweichend regeln. Zweitens können untrennbare und deshalb an sich insgesamt nicht abzugsfähige Mischaufwendungen aufgrund einer konstitutiven Ausnahmevorschrift teilweise steuerlich abzugsfähig sein. aa) Steuerliches Existenzminimum Aufwendungen für das sog. steuerliche Existenzminimum werden nach § 32a EStG pauschal abgegolten (subjektives Nettoprinzip). Kosten des Existenzminimums sind die „normalen“ Aufwendungen für die persönliche Lebensführung eines (jedes) Menschen, insbesondere für Wohnen (einschließlich Übernachtung), Verpflegung, Bekleidung und Gesundheit49. Als Kosten der persönlichen (privaten) Existenz sind derartige Aufwendungen immer wesentlich privat, aber keineswegs „der Natur nach“ immer nur privat veranlasst50. Beispiele für beruflich/betrieblich mitveranlasste Aufwendungen sind Übernachtungskosten und Verpflegungsaufwendungen auf einer Dienstreise, Kosten zur Förderung der Gesundheit (das Erkrankungsrisiko liegt in der privaten menschlichen Existenz), die zugleich der Erhaltung/Wiederherstellung der Arbeitskraft dienen51, die Kosten für die bei der Arbeit getragenen bürgerlichen Kleidung, Aufwendungen für eine eine Sehschwäche korrigierende Brille oder eines auch während der beruflichen Tätigkeit wegen Schwerhörigkeit verwendeten Hörgeräts. Soweit Kosten des Existenzminimums auch beruflich/betrieblich mitveranlasst sind, liegen regelmäßig untrennbar beruflich/privat veranlasste Aufwendungen vor, weil objektivierbare Aufteilungskriterien fehlen. Ein Abzug als Werbungskosten/Betriebsausgaben käme folglich mangels Aufteilbarkeit in einen nur betrieblich/beruflich und einen nur privat veranlassten Teil nicht in Betracht. Das bedeutet: Die steuerliche Berücksichtigung im Rahmen des Existenzminimums ist in diesen Fällen eine konstitutive Ausnahme von dem Grundsatz, dass untrennbare Mischaufwendungen insgesamt nicht abzugsfähig sind. Beispiele: Kosten für Wohnen (einschließlich Übernachtung) und Ver-
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48 Vgl. auch Albert, FR 2010, 220 (223); Drenseck in Schmidt (Fn. 5), § 12 EStG Rz. 4. 49 Vgl. BFH v. 18.4.1991 – IV R 13/90, BStBl. II 1991, 751; BMF v. 6.7.2010, BStBl. I 2010, 614 (615) m. w. N. 50 A. A. Pezzer, DStR 2010, 93 (94). 51 Eine Ausnahme gilt lediglich für Krankheitskosten, die durch eine sog. typische Berufskrankheit oder einem Berufsunfall veranlasst sind (Söhn in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, § 4 EStG Rz. E 1200, Stichwort „Krankheitskosten“).
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pflegung gehören zu den Lebensführungskosten. Sie stellen begrifflich private veranlasste Aufwendungen dar, weil sie elementare Grundbedürfnisse des (jeden) Menschen befriedigen und Voraussetzung für eine private Existenz schlechthin sind52. Wenn Aufwendungen für Unterkunft und Verpflegung bei einem berufstätigen Steuerpflichtigen auch die Durchführung einer steuerbaren Tätigkeit gewährleisten, sind die Kosten lediglich „auch“ betrieblich/ beruflich veranlasst. „Wohnen (Schlafen) und Essen“ lassen sich als Befriedigung privater Grundbedürfnisse nicht in einen ausschließlich privaten und einen ausschließlich beruflichen/betrieblichen Teil aufspalten53. Das gilt auch, wenn der Steuerpflichtige zwangsläufig außerhalb des Lebensmittelpunktes, z. B. in einem Hotelzimmer, in einer Zweitwohnung o. Ä. wohnt54, so dass zusätzliche Kosten entstehen. Wo der Lebensmittelpunkt ist, ist nicht entscheidend55, weil jedenfalls das Übernachten („Schlafen“) auch in einem Hotelzimmer, eine Zweitwohnung u.ä begrifflich nicht rein beruflich, sondern immer zugleich wesentlich privat mitveranlasst ist56. Eine etwaige besonders gewichtige berufliche Mitveranlassung kann lediglich den Gesetzgeber veranlassen, einen (Teil-)Abzug der Wohnungskosten/Verpflegungskosten zuzulassen. Auch Aufwendungen für bürgerliche Kleidung, für eine Brille oder ein Hörgerät sind nicht teilbar, selbst wenn die Arbeitszeit eines Steuerpflichtigen feststeht57. Bürgerliche Kleidung wird während der Arbeitszeit immer auch und regelmäßig vorrangig getragen, um „bekleidet zu sein“58 und das „Bekleidetsein“ ist immer ein wesentlicher privater Anlass59. Soweit Kleidungsstücke, die ihrer Art nach zur bürgerlichen Kleidung gehören, zur typischen Berufskleidung gezählt werden, weil eine Benutzung für private Zwecke „aufgrund berufsspezifischer Eigenschaften so gut wie ausgeschlossen ist“ (Beispiel: Schwarzer Anzug des Leichenbestatters; schwarzer Kellner-Frack u.ä.60), sind die Anschaffungskosten mangels objektivierbare Aufteilungskriterien untrennbar beruflich/betrieblich und privat veranlasst. § 9 Abs. 1 Nr. 6 EStG ist deshalb konstitutiv, soweit Aufwendungen für typische Berufskleidung allge-
__________ 52 Vgl. bereits BFH v. 5.12.1997 – VI R 94/96, BStBl. II 1998, 211 ff.; BFH v. 5.12.1997 – VI R 104/96, BFH/NV 1998, 696 (697); FG Münster v. 18.9.1996 – 10 K 1993/96 L, EFG 1997, 160 (161); FG Baden-Württemberg v. 28.11.1996 – 6 K 149/96, EFG 1997, 352 (353); FG Bremen v. 22.10.1997 – 290059 K 4, EFG 1998, 361; Söhn in FS Offerhaus (Fn. 38), S. 477 (479) m. w. N. 53 Söhn, StuW 1983, 193 (199 f.) m. w. N. 54 A. A. Drenseck in Schmidt (Fn. 5), § 12 EStG Rz. 25, Stichwort „Wohnungskosten“. 55 A. A. Bergkemper, FR 2005, 103 (104); Drenseck in Schmidt (Fn. 5), § 12 EStG Rz. 25, Stichwort „Wohnungskosten“. 56 Söhn in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 4 EStG Rz. E 535. 57 A. A. BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 (684); Pezzer, DStR 2010, 93 (96). 58 Vgl. bereits Tipke, StuW 1979, 193 (202); BFH v. 18.4.1991 – IV R 13/90, BStBl. II 1991, 751. 59 Das gilt z. B. auch für den „Frack des Dirigenten“ a. A. P. Fischer, NWB 2010, 412 (417). 60 Vgl. Söhn in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 4 EStG Rz. E 1200, Stichwort“ Arbeitskleidung, Berufskleidung“ m. w. N.
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mein als Werbungskosten abzugsfähig sind61. Die Anschaffungskosten für eine eine Sehschwäche korrigierende Brille oder ein Hörgerät sind ebenfalls immer wesentlich privat mitveranlasst, weil Brille/Hörgerät nicht nur rein beruflich getragen werden, sondern um allgemein richtig sehen und hören zu können. Etwas anderes gilt nur für die Kosten einer speziellen Arbeitsschutzbrille oder einer Brille, die als Folge einer typischen Berufskrankheit/Berufsunfall getragen werden muss62. Für Aufwendungen für das persönliche Existenzminimum, die beruflich/betrieblich mitveranlasst sind, ist § 32a EStG eine vorrangige Sonderregelung, die eine Anwendung der §§ 4 Abs. 4, 9 EStG ausschließt, um eine doppelte steuerliche Berücksichtigung zu vermeiden63. Entsprechendes gilt für gemischt veranlasster Aufwendungen, die als Sonderausgaben oder als außergewöhnliche Belastung abzugsfähig sind, z. B. außergewöhnliche Krankheitskosten. bb) Spezielle steuergesetzliche Abzugstatbestände Aufwendungen, die untrennbar betrieblich/beruflich und privat veranlasst sind, sind grundsätzlich insgesamt nicht abzugsfähig, falls die private Mitveranlassung nicht nur qualitativ unbedeutend ist. Dass die betriebliche/berufliche Mitveranlassung qualitativ besonders gewichtig ist, stellt die grundsätzliche Nichtabzugsfähigkeit nicht infrage. Klassische Beispiele sind Aufwendungen für Übernachtung und Verpflegung auf einer Dienstreise/Geschäftsreise. Die Kosten für Übernachtung und Verpflegung auf Dienstreisen usw. sind zwar höher als die normalen Übernachtungskosten/Verpflegungsaufwendungen, aber insgesamt wesentlich privat mitveranlasst, da sie immer der Befriedigung eines privaten Grundbedürfnisses (Schlafen, Essen) dienen. Was ein Steuerpflichtiger für Übernachtung und Verpflegung am Beschäftigungsort im Vergleich zu einem Steuerpflichtigen, der Ort seines Hausstandes betrieblich/ beruflich tätig ist, mehr ausgeben muss, ist zusammen mit den „normalen“ Kosten für Übernachtung und Verpflegung der für die privaten Grundbedürfnisse „Schlafen“ und „Essen“ notwendige Aufwand64. Übernachtungskosten und Verpflegungskosten lassen sich nicht in einen nur privat veranlassten und einen nur betrieblich/beruflich veranlassten Teil aufteilen. Überspitzt formuliert: Niemand „schläft und isst nur beruflich“. Eine Ausnahme könnte nur in Betracht kommen, wenn ein Steuerpflichtiger nachweislich einen beruflich veranlassten erhöhten Ernährungsbedarf hat65. Fraglich wäre allerdings ein objektivierbarer Aufteilungsmaßstab. Soll eine qualitativ besonders gewichtige betriebliche/berufliche Mitveranlassung untrennbarer Mischaufwendungen steuerlich berücksichtigt werden,
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61 Söhn in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 4 EStG Rz. E 1200, Stichwort „Arbeitskleidung, Berufskleidung“ m. w. N. 62 BFH v. 23.10.1992 – VI R 31/92, BStBl. II 1993, 193. 63 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 (684). 64 Entsprechendes gilt für Verpflegungsmehraufwendungen im Rahmen einer doppelten Haushaltsführung (vgl. Söhn in FS Offerhaus [Fn. 38], S. 477 ff. m. w. N.). 65 Drenseck in Schmidt (Fn. 5), § 12 EStG Rz. 25, Stichwort „Verpflegungskosten“.
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muss der Gesetzgeber eine entsprechende Sonderregelung treffen66. Das ist z. B. in § 4 Abs. 5 Nr. 5, § 9 Abs. 5 EStG für Verpflegungsmehraufwendungen (Abzugsfähigkeit als Betriebsausgaben/Werbungskosten) und in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 EStG für die Kosten der Anschaffung typischer Berufskleidung (Abzug als Werbungskosten) der Fall. Da hier untrennbare Mischausgaben als Betriebsausgaben/Werbungskosten abzugsfähig sind, sind derartige Sonderregelungen konstitutiv67. b) Aufteilungskriterien Nach Ansicht des Großen Senats sind Aufwendungen für die Hin- und Rückreise bei gemischt veranlasste Reisen zwar regelmäßig nach Maßgabe der beruflich und privat veranlassten Zeitanteile der Reise aufzuteilen, jedoch könne das unterschiedliche Gewicht der verschiedenen Veranlassungsbeiträge im Einzelfall auch die Heranziehung eines anderen Aufteilungsmaßstab erfordern. Andere Aufteilungskriterien dürften indes bei Reisen selten möglich sein68, bei anderen Mischaufwendungen kommt hingegen sowohl eine Aufteilung nach Zeitanteilen als auch nach anderen Maßstäben in Betracht. Beispiele: – Aufwendungen für eine Arbeitskraft, die stundenweise im privaten Haushalt des Steuerpflichtigen beschäftigt ist, sind „nach Stunden“ aufzuteilen69. – Aufwendungen für eine an ein Wohnhaus angebaute Schwimmhalle mit Sauna, die der Steuerpflichtige für geschäftliche Zwecke (Bau und Vertrieb von Schwimmbecken, Saunen, Solarien) und privat nutzt, sind nach Ansicht des 10. Senats des BFH70 nicht nach objektivierbaren Maßstäben trennbar. P. Fischer71 hält diese Einschätzung für überholt. Das ist indes zweifelhaft, es sei denn, Schwimmhalle und Sauna werden nachweislich während der „normalen Geschäftszeiten“ lediglich betrieblich und außerhalb der Geschäftszeiten privat genutzt (Aufteilung nach Stunden). – Aufwendungen für eine Geburtstagsfeier, zu der der Steuerpflichtige Geschäftsfreunde (geschäftlicher Anlass) und private Bekannte, Freunde (privater Anlass) einlädt, sind „nach Köpfen“ aufteilbar72. Dass die Feier im Privathaus des Steuerpflichtigen stattfindet, schließt eine Trennung der Kosten nicht von vornherein aus.
__________ 66 Vgl. auch BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 (684); ferner Söhn in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 4 EStG Rz. E 120 m. w. N. 67 Söhn in FS Offerhaus (Fn. 38), S. 477 (486); a. A. Drenseck, DB 1987, 2485; Zitzelsberger, BB 1995, 2296 (2298). 68 Vgl. auch oben sub II. 1. e). 69 Vgl. auch Drenseck in Schmidt (Fn. 5), § 12 EStG Rz. 25, Stichwort „Hausgehilfin“; P. Fischer, NBW 2010, 412 (416). 70 BFH v. 23.4.2009 – X B 229/08, n. v. 71 NWB 2010, 412 (420). 72 Vgl. BMF v. 6.7.2010, BStBl. I 2010, 614 (616); Drenseck in Schmidt (Fn. 5), § 12 EStG Rz. 5; P. Fischer, NWB 2010, 412 (417), aber auch Pezzer, DStR 2010, 93 (95).
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Aufteilbarkeit gemischt veranlasster Aufwendungen
– Bei einer sozialpädagogischen Lebensgemeinschaft sind die Aufwendungen für Gemeinschaftsräume, die sowohl der eigenen Wohnnutzung des Steuerpflichtigen als auch der (entgeltlichen) Betreuung der in die Familie integrierten fremden Kinder dienen, regelmäßig nach der Zahl der der Haushaltsgemeinschaft gehörenden Personen aufzuteilen73. – Aufwendungen für eine teilweise nur beruflich und teilweise nur privat genutzten Raum sind nach dem „Flächenverhältnis“ aufzuteilen74. – Zweifelhaft ist die steuerliche Behandlung der Anschaffungskosten von Rundfunk- und Fernsehgeräten, Telefon, Fax, Internet u.ä., die der Steuerpflichtige in seiner Privatwohnung aufstellt und nachweislich dem Grunde nach auch wesentlich beruflich/betrieblich nutzt. Hier kommt nach der neuen Rechtsprechung eine schätzungsweise Aufteilung – ähnlich wie bei einem häuslichen PC – in Betracht. Beispiele für gemischt veranlasste Aufwendungen, die mangels objektivierbarer Aufteilungsmaßstäbe insgesamt nicht abzugsfähig sind: Kosten für die Anschaffung allgemein bildender Werke, für Zeitungen und Zeitschriften, für die Mitgliedschaft in einem Golfclub, für den Konzertbesuch eines Musiklehrers, für Sicherheitsmaßnahmen im Haus/in der Wohnung des Steuerpflichtigen75 oder für einen auch berufsfördernden Yogakurs.
III. Zusammenfassung 1. Die „Verabschiedung“ eines auf § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG gestützten allgemeinen „Aufteilungs- und Abzugsverbots“ für gemischte Aufwendungen war überfällig. 2. Gemischt beruflich/betrieblich und privat veranlasste Aufwendungen sind regelmäßig aufzuteilen („Aufteilungsgebot“), falls ein objektivierbarer Aufteilungsmaßstab vorliegt und der berufliche/betriebliche Anteil oder der private Anteil nicht qualitativ unbedeutend ist. 3. Bei gemischt veranlassten Reisen kommt regelmäßig eine Aufteilung nach Zeitanteilen in Betracht, bei sonstigen Mischaufwendungen auch eine Aufteilung z. B. „nach Köpfen“ oder „nach Flächen“. 4. Untrennbare Mischaufwendungen sind insgesamt nicht abzugsfähig. 5. Die neuen Grundsätze über die Aufteilung gemischt veranlasster Aufwendungen gelten nicht, soweit Sondervorschriften einen (Teil-)Abzug zulassen. 6. Ob die regelmäßige Aufteilbarkeit vereinfachend wirkt oder neue Streitfälle verursachen wird, bleibt abzuwarten.
__________ 73 BFH v. 25.6.2009 – IX R 49/08, DStR 2009, 1424; FG Düss. v. 25.9.2008 – 11 K 1232/07, EFG 2009, 475; Drenseck in Schmidt (Fn. 5), § 12 EStG Rz. 5; Heuermann, BFH/PR 2010, 5 f. 74 Drenseck in Schmidt (Fn. 5), § 12 EStG Rz. 5. 75 BMF v. 6.7.2010, BStBl. I 2010, 614 (617).
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Rechtsmissbräuchlicher Gesamtplan bei der Kettenschenkung Inhaltsübersicht I. Überblick II. Gesamtplan im Schenkungsteuerrecht 1. Grundbesitzübertragung auf Kinder und sofortige Anteilsübertragung auf den Ehegatten (Schwiegerkind) in einer Urkunde
2. Mehraktige Gestaltungen im engen zeitlichen Zusammenhang 3. Erforderliche Schamfrist? 4. Gleichgerichtete Interessen 5. Entgeltlicher Zwischenerwerb 6. Steuerklausel
I. Überblick Wolfgang Spindler als oberster Repräsentant der Steuerrechtsprechung hat immer darauf hingewiesen, dass die Besteuerung des Bürgers einen Eingriff in dessen Rechte darstellt, so dass nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung die Finanzverwaltung nur auf der Basis normierter Tatbestandsmerkmale Vermögenseingriffe vornehmen darf. Als Gerichtspräsident hat er die Zusage des Finanzministers erreicht, dass die Finanzverwaltung künftig nicht eigenmächtig ohne dessen Zustimmung durch Nichtanwendungserlasse die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs negieren darf. Als Vorsitzender Richter des für Vermietungs- und Verpachtungseinkünfte zuständigen IX. Senats konnte er dieser Einkunftsart klare Rechtsstrukturen verleihen. Auf innere Tatsachen, z. B. die Einkünfteerzielungsabsicht, darf aus einzelnen äußeren Umständen geschlossen werden, die einen Anscheinsbeweis (prima-facieBeweis) oder Beweisanzeichen (Indizien) liefern; der Steuerpflichtige kann aber diese Indizien durch eigenen Tatsachenvortrag widerlegen, also gemäß § 42 Abs. 2 Satz 2 AO die bürgerlich-rechtlichen Gründe für die Gestaltung vortragen1. Aufgrund des Rückgriffs auf den Tatbestand des § 255 Abs. 2 Satz 1 HGB ist es dem IX. Senat gelungen, einkommensteuerlich Anschaffungs- und Herstellungskosten einerseits und Erhaltungsaufwand andererseits voneinander abzugrenzen, indem darauf abgestellt wird, ob die durchgeführten Maßnahmen zu einer „wesentlichen Verbesserung“ eines Wirtschaftsgutes geführt haben. Seit einigen Jahren verwenden die Finanzgerichte den Begriff des „Gesamtplans“, dessen Rechtsgrundlage fraglich ist. Drüen2 sieht den § 32d Abs. 2 Satz 3 und 4 EStG als spezialgesetzliche Gesetzesdefinition des Gesamtplans.
__________ 1 Vgl. Spindler in StbJb (2002/2003), S. 61. 2 Drüen in Tipke/Kruse, vor § 42 AO Rz. 34.
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Sebastian Spiegelberger
Danach ist zwischen einer Kapitalanlage und einer Kapitalüberlassung ein Zusammenhang anzunehmen, wenn diese auf einem einheitlichen Plan beruhen. Hiervon ist insbesondere dann auszugehen, wenn die Kapitalüberlassung in engem zeitlichem Zusammenhang mit der Kapitalanlage steht oder die jeweiligen Zinsvereinbarungen miteinander verknüpft sind. Dem gegenüber werden mehrheitlich die Bestimmungen der § 41 AO über die Besteuerung von Scheingeschäften und § 42 AO über den Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten als Rechtsgrundlage dafür angesehen, dass eine Mehrzahl von Rechtsgeschäften, die in einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang stehen, für die steuerliche Beurteilung zu einem einheitlichen wirtschaftlichen Vorgang zusammengefasst werden, welcher der Subsumtion zugrunde gelegt wird. Auch die im Steuerrecht gebotene wirtschaftliche Betrachtungsweise wird als Grundlage für den Gesamtplan angeführt3. Mehrstufige Rechtsgeschäfte, bei deren Durchführung regelmäßig Notare, Rechtsanwälte und Steuerberater gestaltend mitwirken, beruhen in aller Regel auf einem Gesamtplan, so dass nicht grenzenlos alle in einem sachlichen oder zeitlichen Zusammenhang stehenden Rechtsgeschäfte als steuerlich einheitlicher Akt beurteilt werden dürfen. Die vom Gesetzgeber selbst vorgegebenen Sperrfristen in zahlreichen Vorschriften sind ein Hinweis darauf, dass grundsätzlich einzelne Rechtsgeschäfte mit den dafür normierten Tatbestandsfolgen erfasst werden müssen und eine Gesamtschau mehrerer Rechtsgeschäfte als Teilakte eines einheitlichen Gesamtplans einer besonderen Rechtfertigung bedarf. Einigkeit besteht auch darüber, dass nicht alle Steuerarten über einen Leisten geschlagen werden können, also steuerartspezifische Differenzierungen erforderlich sind. Im Einkommensteuerrecht erfolgt die Gesamtplanbetrachtung sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten des Steuerpflichtigen. Förster/Schmidtmann4 schlagen als Zeitgrenze für das Vorliegen einer einkommensteuerlichen Betriebsaufgabe mit den Tarif- und Freibetragsvergünstigungen der §§ 16 und 34 EStG den Ablauf von 36 Monaten vor. Fischer5 meint, dass ein zeitlicher Zusammenhang nicht mehr angenommen werden kann, wenn 18 Monate seit dem ersten Teilschritt vergangen sind. Zu Lasten des Steuerpflichtigen zieht das BMF-Schreiben Erbauseinandersetzung, BStBl. 2006 I 253 Tz. 58, umgekehrte Teilauseinandersetzungen, die innerhalb von fünf Jahren erfolgen, zu einem einheitlichen Vorgang zusammen. Im Hinblick auf die Rechtsprechung zum gewerblichen Grundstückshandel hat Spindler6 als oberste zeitliche Grenze einen Zeitraum von fünf Jahren vorgeschlagen. Zu Ungunsten des Steuerpflichtigen kann die Gesamtplanrechtsprechung nur Platz greifen, wenn der aus der zeitlichen Abfolge ersichtliche Gesamtplan miss-
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Spindler, DStR 2005, 1 (2). Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114 (123). Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rz. 370. Spindler, DStR 2005, 1 (4).
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Rechtsmissbräuchlicher Gesamtplan bei der Kettenschenkung
bräuchlich i. S. d. § 42 AO erscheint. Mehrerer selbständige Rechtsgeschäfte können somit nur zu einer einheitlichen Betrachtung führen, wenn der enge zeitliche Zusammenhang ein Indiz für eine Zusammenrechnung gibt. Die Gesamtplanvermutung ist widerlegt, wenn ein Teilakt eines mehrstufigen Ablaufs dem durch den Teilakt Begünstigten eine eigene Dispositionsmöglichkeit eröffnet, also der „Zwischengeschaltete“ vom vermuteten Gesamtplan abweichende Dispositionen hätte treffen können7 und somit das Gesamtgeschehen nicht von einer Person oder einer Personengruppe beherrscht wird. Eine besondere Bedeutung hat die Gesamtplanrechtsprechung im Schenkungsteuerrecht in den vergangenen Jahren erlangt, so dass die hierzu ergangene Rechtsprechung besondere Beachtung verdient, wobei im Folgenden einzelne Fallgruppen näher untersucht werden.
II. Gesamtplan im Schenkungsteuerrecht Selbst wenn für einen Teilakt ein selbständiger Steueranspruch entstanden, also z. B. eine Schenkung an eine zwischengeschaltete Person vollzogen und damit grundsätzlich gemäß § 9 ErbStG zu besteuern wäre, ist zu prüfen, ob dem Zwischengeschalteten eine eigene Dispositionsmöglichkeit verblieben ist. Eine Bereicherung für eine juristische Sekunde oder einen anderen kurzen Zeitraum reicht nicht aus, um eine selbständige Schenkung anzunehmen. Eine eigene Dispositionsmöglichkeit entsteht nicht, wenn das zwischengeschaltete Rechtsgeschäft die Verpflichtung enthält, im Sinne eines Gesamtplans zu verfahren. Dies ergibt sich schon aus § 7 Abs. 1 Satz 2 ErbStG, wonach auf Auflagen oder Bedingungen beruhende Bereicherungen nicht bei der zwischengeschalteten Person, sondern bei dem Endbegünstigten zu besteuern sind. 1. Grundbesitzübertragung auf Kinder und sofortige Anteilsübertragung auf den Ehegatten (Schwiegerkind) in einer Urkunde Moench/Kien-Hümbert8 vertraten die Auffassung, dass bei einer Kettenschenkung der Eltern an ein Kind mit sofortiger Weiterschenkung eines Anteils an dessen Ehegatten (Schwiegerkind) auch bei der Erklärung der Auflassung unmittelbar von den Eltern auf das Schwiegerkind kein Gestaltungsmissbrauch vorliege, wenn außersteuerliche Motive, z. B. die Anrechnung auf den Pflichtteil der Kinder, die Möglichkeit eines gesetzlichen Rückforderungsrechts wegen groben Undanks oder die Anrechnung auf eine mögliche Ausgleichsforderung im Fall der Scheidung nach § 1383 BGB glaubhaft vorgetragen wurden. Das FG Rheinland-Pfalz9 hat eine steuerlich beachtliche Kettenschenkung angenommen, wenn (Schwieger-)Eltern unter Mitwirkung ihres Kindes schenkweise Grundstückseigentum unmittelbar auf den Ehegatten ihres Kindes
__________ 7 Spindler, DStR 2005, 1 (4). 8 Kien-Hümbert in Moench, § 7 ErbStG Rz. 11. 9 FG Rheinland-Pfalz v. 18.2.1999 4 K 2011/98, EFG 1999, 617.
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(Schwiegerkind) übertragen, wenn die Zuwendung auf Veranlassung des Kindes erfolgt und als ehebedingte Zuwendung des Kindes bezeichnet wird. In den Urteilsgründen legt das Finanzgericht überzeugend dar, dass Eltern bei Zuwendungen an ein verheiratetes Kind und dessen Ehepartner in erster Linie ihr Kind bereichern wollen und den Ehepartner (Schwiegerkind) nur um der Ehe willen in die Zuwendung mit einbeziehen. Diese besondere Interessenlage unterscheide Zuwendungsvorgänge, die letztlich zu einem Vermögenszuwachs beim Ehepartner des am Vorgang beteiligten Kindes führen, von anderen mehrstufigen Vermögensübertragungen. Der BFH10 hat die Entscheidung des FG Rheinland-Pfalz aufgehoben und in der gewählten Gestaltung keinen schenkungsteuerrechtlich beachtlichen Durchgangserwerb des Kindes gesehen, ebenso Fischer11, der eine unmittelbare Schenkung an das Schwiegerkind annimmt, so dass eine Missbrauchsgestaltung gemäß § 42 AO nur geprüft werden müsse, wenn das „transitorische Ausweichgeschäft“ – die Schenkung an die Tochter – keinen außersteuerlichen wirtschaftlichen Sinn habe und gesamtplanmäßig durch die Weiterübertragung auf den Schwiegersohn bzw. Ehemann korrigiert werden solle. Gebel12 kritisiert die Entscheidung des BFH mit folgendem Hinweis: „Wird ein Kind als Erstempfänger am Zuwendungsvorgang beteiligt, ist es nicht einzusehen, warum eine vertraglich vorgesehene Weiterschenkung des Kindes an seinen Ehepartner, für die es eine Fülle ehebedingter Gründe geben kann, steuerlich nicht anerkannt und ein unmittelbarer Vermögenstransfer von den Schwiegereltern auf das Schwiegerkind angenommen werden soll. Dies widerspreche einer verständigen Würdigung der Interessenlage der Beteiligten.“
In der Tat betont der BFH13 (ständige Rechtsprechung), dass die objektive Bereicherung für die Annahme einer Schenkung nicht ausreichend sei, sondern dass auch der subjektive Tatbestand des § 7 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG erfüllt sein muss, also ein Bereicherungswille des Zuwendenden erforderlich ist. Im geschilderten Fall ist der subjektive Tatbestand der Schenkung an ein Schwiegerkind fraglich. Die Entscheidung des BFH14 erscheint aus einem anderen Gesichtspunkt zutreffend. Sämtliche in einer Urkunde getroffenen Vereinbarungen werden, selbst wenn die Beteiligten subjektiv von einer zeitlichen Reihenfolge ausgehen, gleichzeitig mit der Unterschrift des Notars wirksam, so dass aufgrund der Urkundengestaltung der objektive Tatbestand einer Zuwendung von Schwiegereltern an ein Schwiegerkind nicht in Abrede gestellt werden kann, d. h. dass ein Durchgangserwerb durch das eigene Kind nicht stattgefunden hat.
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BFH v. 10.3.2005 – II R 54/03, BStBl. II 2005, 412, BFHE 208, 447. Fischer, DB 1996, 649. Gebel, ZEV 2005, 262 (264). BFH v. 2.3.1994 – II R 59/92, BStBl. II 1994, 366, BFHE 173, 432. BFH v. 10.3.2005 – II R 54/03, BStBl. II 2005, 412, BFHE 208, 447.
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Rechtsmissbräuchlicher Gesamtplan bei der Kettenschenkung
Zweifel an dieser Auffassung könnten sich aufgrund einer Entscheidung des BFH15 zur Güterstandsschaukel ergeben. In dieser Entscheidung hat der BFH es als nicht rechtsmissbräuchlich gemäß § 42 AO angesehen, wenn die Aufhebung der Zugewinngemeinschaft durch Gütertrennung und die Wiederherstellung der Zugewinngemeinschaft in einer Urkunde erfolgen. Wenn die Aufhebung der Zugewinngemeinschaft und die Wiedervereinbarung der Zugewinngemeinschaft erst bei der Unterschriftsleistung durch den Notar gleichzeitig wirksam werden, ist zivilrechtlich nicht einmal für eine juristische Sekunde eine Aufhebung der Zugewinngemeinschaft erfolgt. In der notariellen Praxis wird zurecht davon abgeraten, mehraktige Gestaltungen in eine Urkunde aufzunehmen, einerseits um Rechtsklarheit zu schaffen, andererseits um nicht dem Einwand der Missbrauchgestaltung gemäß § 42 AO zu unterliegen16. 2. Mehraktige Gestaltungen im engen zeitlichen Zusammenhang Ergibt sich nach Auffassung des Hessischen FG17 aus dem Abschluss zweier Schenkungsverträge in einem Zuge, der inhaltlichen Abstimmung der Verträge aufeinander sowie aus den sonstigen Umständen, dass die zunächst beschenkte Person das Erhaltene nach dem von dem Willen aller Beteiligten getragenen Gesamtplan als bloße Durchgangs- oder Mittelsperson ohne eigene Dispositionsmöglichkeit an einen Dritten weiterzugeben hat, liegt keine schenkungsteuerrechtlich beachtliche Kettenschenkung, sondern nur eine Zuwendung aus dem Vermögen des Zuwendenden an den Dritten vor. Aus den wesentlichen Indizien, nämlich zeitlicher Abschluss beider Verträge zum gleichen Notartermin, die Beteiligung der Zuwendenden auch an dem zweiten Schenkungsvertrag, die inhaltliche Abstimmung beider Verträge sowie den umfangreichen Vereinbarungen zum Erb- und Unterhaltsrecht ergebe sich ein Gesamtplan auf eine einheitliche Regelung der vorweggenommenen Erbfolge. Auf den Einwand, dass bereits bei der Erstschenkung die Auflassung erklärt wurde und somit nach der Rechtsprechung des BFH18 mit Abschluss dieser Urkunde eine vollzogene Schenkung vorlag, kommt es nach Auffassung des Hessischen FG nicht an, da ein eigener Entscheidungsspielraum der Zwischenerwerberin nach den äußeren Umständen nicht gegeben war. Hingegen ist die vom Hessischen FG festgestellte „inhaltliche Abstimmung der Verträge aufeinander“ kein Indiz für einen Gesamtplan. Bei mehraktigen Sachverhalten ist der beurkundende Notar selbstverständlich verpflichtet, die einzelnen Akte aufeinander abzustimmen, um den Vollzug der beurkundeten Rechtsgeschäfte zu ermöglichen. Die inhaltliche Bezugnahme auf von den Beteiligten chronologisch geordnete Sachverhalte ist keine „steuerschädliche“ Gestaltung, sondern vielmehr eine den Berufspflichten entsprechende Erledigung der Amtsgeschäfte.
__________ 15 16 17 18
BFH v. 12.7.2005 – II R 29/02, BStBl. II 2005, 843. Vgl. z. B. Münch, Ehebezogene Rechtsgeschäfte, 2004, Rz. 300. Hessisches FG v. 24.10.2007 – 1 K 268/04, ZErb 2008, 174. BFH v. 14.3.1979 – II R 67/76, BStBl. II 1979, 642, BFHE 127, 437; v. 26.9.1990 – II R 150/88, BStBl. II 1991, 320, BFHE 163, 215.
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3. Erforderliche Schamfrist? Ist es zur steuerlichen Anerkennung einer Schenkung erforderlich, dass der Beschenkte den erworbenen Gegenstand eine bestimmte Frist behält und erst danach eine Weiterübertragung an einen Dritten ins Auge fasst? Bonefeld/ Daragan/Wachter19 empfehlen, zwischen zwei Schenkungen eine Schamfrist einzuhalten, über deren Länge in der Literatur unterschiedliche Auffassungen bestehen; ebenso Ebeling20. Piltz21 hält einen Zeitraum von einem Jahr für angemessen. Nach Auffassung von Obermeier22 könne auch ein Zeitraum von einem Monat genügen, wenn der Schenker den Erstempfänger nicht zur Weiterschenkung an den Zweitempfänger veranlasst habe. Bei einer Gestaltung, dass die Eltern auf ihre Kinder ein Grundstück im Wege der vorweggenommenen Erbfolge übertragen und diese das Grundstück nach vier Tagen an einen Bauträger weiterveräußern, hat der BFH23 das Finanzgericht angewiesen festzustellen, ob bei diesem zeitlichen Ablauf die Kinder rechtlich in der Lage waren, über das von den Eltern erhaltene Grundstück zu verfügen oder ob tatsächlich den Kindern nur der Kauferlös zugeflossen ist. Die sofortige Weitergabe eines geschenkten Gegenstandes kann in der Tat ein Indiz dafür sein, dass der Zwischenerwerber nicht zu einer eigenen Dispositionsmöglichkeit in der Lage war und faktisch den Willen des Erstzuwendenden durch die Weitergabe erfüllt. 4. Gleichgerichtete Interessen Bei Verträgen unter fremden Dritten besteht in der Regel ein natürlicher Interessengegensatz, der sogar dazu führt, dass gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 AO selbst unwirksame Rechtsgeschäfte besteuert werden, soweit und solange die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis dieses Rechtsgeschäfts eintreten oder bestehen lassen. Unter Familienangehörigen bestehen regelmäßig gleichgerichtete Interessen. Zur steuerlichen Anerkennung ist erforderlich, dass die Vereinbarungen wirksam getroffen und wie vereinbart vollzogen werden, der Inhalt dem zwischen Fremden Üblichen entspricht und die Beteiligten alle steuerrechtlichen und bürgerlich-rechtlichen Konsequenzen auf sich genommen haben24. Nach ständiger Rechtsprechung ist § 41 AO im Ertragsteuerrecht bei Verträgen zwischen nahen Angehörigen nicht anzuwenden, weil hier besondere Verhältnisse gegeben sind25. Besonderheiten gelten sogar bei einer EinPersonen-GmbH sowie bei Familiengesellschaften. Danach besteht bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung, deren einziger Gesellschafter zugleich Geschäftsführer ist, keine Vermutung, dass der Geschäftsführer Angestellter ist
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Bonefeld/Daragan/Wachter, Der Fachanwalt für Erbrecht, 2005, 25. Kap. Rz. 382. Kapp/Ebeling, § 7 ErbStG Rz. 396.3. Piltz, ZEV 1994, 55. Obermeier, Vorweggenommene Erbfolge und Erbauseinandersetzung, 1995, Rz. 1663. BFH v. 26.9.1990 – II R 150/88, BStBl. II 1991, 320, BFHE 163, 215. BFH v. 24.3.1976 – I R 138/73, BStBl. II 1976, 537. BFH v. 3.10.1989 – IX R 216/84, BStBl. II 1992, 506.
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Rechtsmissbräuchlicher Gesamtplan bei der Kettenschenkung
und darum seine Bezüge bei der Gesellschaft abzugsfähige Betriebsausgaben darstellen. Diese Grundsätze gelten auch bei Familiengesellschaften, bei denen wirtschaftlich betrachtet eine gleichartige Lage gegeben ist26. Wenn ein Ehegatte dem anderen Ehegatten Geld oder Grundstücke zuwendet und der damit bereicherte Ehegatte diese Gegenstände ganz oder teilweise sofort weitergibt, ist von gleichlaufenden Interessen auszugehen, so dass keine anerkennungsfähige Kettenschenkung vorliegt. Die Bereicherung der gemeinsamen Kinder erfolgt ohne Beachtung des zwischengeschalteten Ehegatten. Wenn der Steuerpflichtige jedoch für die gewählte Gestaltung außersteuerliche Gründe nachweist, die nach dem Gesamtbild der Verhältnisse beachtlich sind, ist die Vermutung der gleichlaufenden Interessen nach dem Rechtsgedanken des § 42 Abs. 2 Satz 2 AO widerlegt. Im Verhältnis zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern ist eine gleichgerichtete Interessenlage fraglich. Da nahezu jede zweite Ehe geschieden wird, legen die zuwendenden Eltern größten Wert auf die Bereicherung des eigenen Kindes; die ganze oder teilweise Weitergabe des geschenkten Gegenstandes an das Schwiegerkind beruht in aller Regel auf dem Willen des beschenkten Kindes; ein eigenes Interesse der Schwiegereltern an der Bereicherung des Schwiegerkindes besteht regelmäßig nicht, so dass auch nicht von einer subjektiven Bereicherungsabsicht der Schwiegereltern zugunsten des Schwiegerkindes ausgegangen werden kann. Eine Vermutung, dass Schwiegereltern nicht das eigene Kind, sondern das Schwiegerkind bereichern wollen, besteht gerade nicht. Der eigene Wille des Kindes führt zur Bereicherung seines Ehegatten, so dass auch bei einem engen zeitlichen Zusammenhang zwischen Schenkung und Weiterschenkung keine Vermutung besteht, die Weitergabe beruhe auf dem Willen des Erstzuwendenden. Der XII. BFH-Senat27 hat seine langjährige Rechtsprechung aufgegeben, wonach Zuwendungen der Eltern, die um der Ehe des Kindes willen an das (künftige) Schwiegerkind erfolgen, als unbenannte Zuwendung zu werten seien. Vielmehr sind derartige Zuwendungen als Schenkung zu qualifizieren. Im Falle schwiegerelterlicher, um der Ehe des eigenen Kindes mit dem Beschenkten willen erfolgter Schenkungen sind nach Scheitern der Ehe Ansprüche aus § 812 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 BGB (Zweckvereitelung) denkbar. Auch diese neue Rechtsprechung des XII. BFH-Senats belegt, dass zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern keine gleichgerichteten Interessen bestehen, was spätestens im Falle der Scheidung offenbar wird. Mit dieser geänderten Rechtsprechung wird die Rückforderung von Zuwendungen an Schwiegerkinder erleichtert. Anders verhält es sich selbstverständlich, wenn ein Ehegatte den anderen Ehegatten beschenkt und der Beschenkte die Schenkung unverzüglich ganz oder teilweise an die gemeinsamen Kinder weitergibt. Hier besteht ohne Zweifel die berechtigte Vermutung, dass nur Freibeträge des beschenkten Ehegatten im Verhältnis zu den Kindern genutzt werden sollen.
__________ 26 BGH v. 11.10.1955 – I 47/55 U, BStBl. III 1955, 397, BFHE 61, 515. 27 BFH v. 3.2.2010 – XII ZR 189/06, ZEV 2010, 371.
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Die steuerliche Anerkennung der Zwischenschenkung steigt mit dem verstrichenen Zeitraum zwischen der Erst- und der Zweitschenkung. Nach Auffassung von Wachter28 hat es sich bewährt, den Steuerbescheid für die Erstschenkung abzuwarten. Zutreffend weist Wachter darauf hin, dass der fehlende registermäßige Vollzug der Zwischenschenkung im Grundbuch oder Handelsregister für die Finanzverwaltung ein Indiz für die mangelnde Dispositionsmöglichkeit des Zwischenerwerbers sein kann. Umgekehrt ist davon auszugehen, dass der registermäßige Zwischenvollzug die unwiderlegbare Dokumentation der freien Dispositionsmöglichkeit des Zwischenerwerbers darstellt und somit einen Gesamtplan widerlegt. Das bloße Wissen, selbst das Einverständnis des Schenkers damit, dass der Beschenkte seinerseits mit Mitteln der Schenkung eine Zuwendung ausführen wird, genügt nicht, um eine schädliche Weitergabe anzunehmen29. Bei Geldschenkungen, die keines Registervollzuges bedürfen, ist wohl entscheidend, welche Dispositionen der beschenkte Ehegatte zwischenzeitlich mit dem geschenkten Gegenstand trifft. Hilfreich kann hierbei ein Blick auf die einkommensteuerliche Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu Darlehensverträgen unter Angehörigen mit geschenkten Darlehensbeträgen sein, wobei der Bundesfinanzhof zwischen betrieblichen und privaten Gestaltungen differenziert. Während auch bei längeren Abständen zwischen Schenkung und Darlehensvertrag, wenn zwischen beiden Verträgen eine auf einen Gesamtplan beruhende sachliche Verknüpfung besteht, der betriebliche Schuldzinsenabzug nicht gestattet wird30, ist bei steuerlichem Privatvermögen ein größerer Gestaltungsspielraum gegeben. Für den Fall, dass den Kindern steuerliches Privatvermögen zugeführt wird und diese – nach zwischenzeitlicher Anlage des Schenkungsbetrages auf Bankkonten – zwei Monate nach der Schenkung die Beträge durch Darlehensvereinbarungen dem Betrieb des Schenkers zur Verfügung stellen und ein Unterhaltsanspruch der Kinder nicht bestand, hat der BFH31 das Darlehensverhältnis sogar für den Fall anerkannt, dass keine dinglichen Sicherheiten bestellt wurden. Wenn danach mit dem geschenkten Geld für einige Monate der beschenkte Ehegatte eigene Einkünfte als Kapitalanleger erzielt, kann er eine steuerlich anerkennungsfähige Weiterschenkung an gemeinsame Kinder durchführen. 5. Entgeltlicher Zwischenerwerb Zwei getrennte Erwerbsvorgänge sind anzunehmen, wenn ein Ehegatte entgeltlich von seinem Ehegatten erwirbt und anschließend den erworbenen Gegenstand an gemeinsame Kinder verschenkt. Wenn Ehegatten die Zugewinngemeinschaft beenden und den steuerfreien Zugewinnausgleich gemäß § 5
__________ 28 Wachter, ZErb 2008, 177. 29 BFH v. 10.11.1961 – III 279/58 S, BStBl. III 1962, 145; Spiegelberger, Vermögensnachfolge, 2. Aufl. 2010, § 7 Rz. 35. 30 BFH v. 22.1.2002 – VIII R 46/00, BStBl. II 2002, 685. 31 BFH v. 18.12.1990 – VIII R 1/88, DB 1991, 1099.
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Rechtsmissbräuchlicher Gesamtplan bei der Kettenschenkung
Abs. 2 ErbStG durchführen, liegt einkommensteuerlich eine entgeltliche Gestaltung vor, bei der die Finanzverwaltung im Bereich des Privatvermögens den Veräußerungsgewinn gemäß § 23 EStG und im Fall von Betriebsvermögen gemäß § 16 EStG versteuert. Auch die eherechtliche Wirkung der Beendigung des Güterstandes der Zugewinngemeinschaft mit dem dadurch entstandenen Zugewinnausgleichsanspruch kann nicht negiert werden. Der Ehegatte, der entgeltlich durch Einsatz seines Zugewinnausgleichsanspruches erworben hat, kann ohne Zweifel anschließend Schenkungen an die gemeinsamen Kinder vornehmen, ohne dem Vorwurf des Missbrauchs gemäß § 42 AO unterworfen zu sein. Das Erfordernis eines zeitlichen Abstandes zwischen beiden Übertragungen kann dem Gesetz nicht entnommen werden. Der gemäß § 42 Abs. 2 Satz 2 AO maßgebende außersteuerliche Grund für die Gestaltung besteht darin, dass der weiterübertragende Ehegatte über entgeltlich erworbenes Vermögen verfügt und nicht eine Auflage eines Schenkers erfüllt. Der maßgebliche bürgerlich-rechtliche Gesichtspunkt ist die Beendigung des Güterstandes der Zugewinngemeinschaft mit der damit verbundenen freien Dispositionsmöglichkeit über entgeltlich erworbenes Vermögen. Bei einer steuerpflichtigen Ehegattenschenkung kann sogar nach der vollzogenen Schenkung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG durch die Beendigung des Güterstandes der Zugewinngemeinschaft rückwirkend die Schenkungsteuerpflicht beseitigt und die steuerfreie Ausgleichung des Zugewinns gemäß § 5 Abs. 2 ErbStG vorgenommen werden. Der somit rückwirkend eingetretene entgeltliche Erwerb verhindert die Fiktion zweier aufeinanderfolgender unentgeltlicher Übertragungen und ergibt somit eine „escape-Wirkung“32. 6. Steuerklausel Die vom Schenker übernommene Schenkungsteuer für eine Grundstückszuwendung kann auch dann gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG rückwirkend erlöschen, wenn das Grundstück wegen eines Irrtums über die Höhe der Steuerlast zurückübertragen wird33. Dies gilt insbesondere, wenn die tatsächlich festgestellte Steuer weit außerhalb der Vorstellungen der Beteiligten liegt. In dem vom Finanzgericht entschiedenen Fall hatte der Bürovorsteher des beurkundenden Notars den Beteiligten eine voraussichtliche Steuerlast von ca. 3 500 DM genannt, während die tatsächlich festgesetzte Steuer 16 300 DM betrug. Wachter34 empfiehlt die Aufnahme einer entsprechenden Steuerklausel in die Zweitübertragung, wonach für den Fall des Entstehens einer – unerwarteten – Schenkungsteuerpflicht die steuerfreie Rückübertragung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG verlangt werden kann. Eine derartige Steuerklausel stellt keinen
__________ 32 So auch Götz, DStR 2001, 417; Geck, DNotZ 2007, 279; Spiegelberger, Vermögensnachfolge (Fn. 29), § 16 Rz. 30; Lehnen/Hanau, ZErb 2006, 154, die sogar die sofortige Rückkehr zur Zugewinngemeinschaft für steuerunschädlich halten. 33 FG Rheinland-Pfalz v. 23.3.2001 – 4 K 2805/99, DStRE 2001, 765. 34 Wachter, ZErb 2008, 174 (178).
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Sebastian Spiegelberger
Missbrauch steuerlicher Gestaltungsmöglichkeiten gemäß § 42 AO dar35. Dem Gesetzgeber steht es selbstverständlich wieder frei, an derartige Rückforderungsrechte Sanktionen für künftige Übertragungen zu statuieren, wie dies in § 37 Abs. 3 Satz 2 ErbStG n. F. erfolgt ist. Danach ist § 13a ErbStG nicht anzuwenden, wenn das begünstigte Vermögen vor dem 1.1.2011 von Todes wegen oder durch Schenkung unter Lebenden erworben wird, bereits Gegenstand einer vor dem 1.1.2007 ausgeführten Schenkung desselben Schenkers an dieselbe Person war und wegen eines vertraglichen Rückforderungsrechts nach dem 11.11.2005 herausgegeben werden musste.
__________ 35 BMF v. 17.7.2008 – IV A 3 – S 0062/08/10006, BStBl. I 2008, 694 Tz. 2.6.
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Die Erzielung nichtsteuerbarer Einnahmen – systematisiert am Beispiel von Preis- und Fördergeldern Inhaltsübersicht I. Motive II. Aktuelle Rechtsprechung 1. Ausgangssituation 2. BFH-Urteil vom 28.11.2007 „Dating-Show“ 3. BFH-Urteil vom 23.4.2009 „Nachwuchsförderpreis Marktleiter“ 4. BFH-Urteil vom 14.3.1989 „Meisterprüfungsprämie“
5. FG Schleswig-Holstein, Urteil vom 15.3.2000 „Habilitationspreis“ 6. FG Köln, Urteil vom 29.10.2009 „Big Brother-Container“ 7. Zwischenfazit III. Versuch einer Systematisierung IV. Ausblick
I. Motive Zunächst überrascht die Koinzidenz der Ereignisse: Im vergangenen Jahr 2010 wurden zum 10. Mal die Ottmar-Bühler-Förderpreise an Studierende der Betriebswirtschaftslehre der Ludwig-Maximilians-Universität München verliehen. Diese Förderpreise wurden im Jahr 1998 in Erinnerung und Achtung des nachhaltigen Wirkens des emeritierten Steuerrechtswissenschaftlers der Universität Münster, zuletzt aber Lehrbeauftragten an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Prof. Dr. iur. Dr. rer. pol. h.c. Ottmar Bühler1, von einem seiner (erfolgreichen) Doktoranden, Prof. Dr. Albert Rädler, ins Leben gerufen und im Jahr 2001 erstmals verliehen. Dem Kuratorium, das mit der Auslobung, Preisträgerauswahl sowie Vergabe der jährlich auszureichenden Preise beauftragt wurde, gehörte von der ersten Stunde an der zu Ehrende, Herr Dr. Wolfgang Spindler, an. Der nachfolgende Beitrag darf daher thematisch wie faktisch auch als Dank für die engagierte Mitarbeit des Jubilars verstanden werden. Zugleich oblag es dem Präsidenten-Senat des BFH unter dem Vorsitz des zu Ehrenden eine der jüngsten, thematisch einschlägigen Entscheidungen zur steuerlichen Behandlung von Preisgeldern für die Teilnahme an einer Fernsehshow zu treffen2, sodass wir mit einigem Optimismus davon ausgehen, dass der Adressat dieses Beitrags auch fachliches Interesse an den Ausführungen haben könnte. Als Vorsitzender des Kuratoriums zur Verleihung der OttmarBühler-Förderpreise unternehme ich aus steuerwissenschaftlicher Perspektive daher den Versuch einer Systematisierung, nicht ohne mich der Mitarbeit
__________ 1 Vgl. dazu Rädler in Beck (Hrsg.), Juristen im Portrait, 1988, S. 195–204. 2 BFH v. 28.11.2007 – IX R 39/06, BStBl. II 2008, 469.
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eines der langjährig für den Lehrstuhl tätigen Assistenten und zweifachen Ottmar-Bühler-Preisträgers, Dr. Martin Raßhofer, zu versichern. Die Motivation, das ausgewählte Thema aufzugreifen, ist dreifacher Natur: 1. Die erwähnte Verleihung der Ottmar-Bühler-Förderpreise an die Studierenden der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre lässt es angezeigt erscheinen, die steuerlichen Konsequenzen für die Preisträger zu erörtern und gegebenenfalls einer Systematisierung zuzuführen. Die „einschlägige“ Auseinandersetzung des langjährigen Kuratoriumsmitglieds als BFH-Senatsvorsitzender und hier zu Ehrenden liefert dazu einen nachdrücklichen Anschub. 2. Mein erster wissenschaftlicher Fachbeitrag als Privatdozent befasste sich 1988, vor 23 Jahren, in „Steuer und Wirtschaft“ mit der „Gewinnerzielungsabsicht als Besteuerungsmerkmal unternehmerischen Handelns“3, ein weiterer 1999 war der „Liebhaberei“ gewidmet4. Die Abgrenzung nichtsteuerbarer Einnahmen begleitet mich also über eine weite Strecke meines bisherigen Forscherlebens. 3. Schließlich mag als zusätzliches, praxisgeleitetes Motiv angeführt werden, dass nach meiner Kenntnis zwei junge Nachwuchswissenschaftler im Bereich der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, die gemeinsam einen höchst beachtlichen nationalen Förderpreis auf dem Gebiet der Steuerwissenschaften erhalten haben, (zunächst) eine sehr unterschiedliche steuerliche Würdigung durch die bayerische Finanzverwaltung erfahren haben: Gutwillig interpretierend könnte dieses Vorgehen eine noch bestehende Unsicherheit der Finanzverwaltung im Umgang mit Preis- und Fördergeldern dokumentieren, die zu reduzieren oder gar zu beseitigen wir einen Versuch unternehmen möchten.
II. Aktuelle Rechtsprechung 1. Ausgangssituation Die Möglichkeiten und Chancen der neuen Medien sowie ein gewandeltes Konsumschema der Bevölkerung haben einen neuen Typus der Unterhaltung generiert, der konzeptionell auf die mehr oder weniger umfassende TV-Mitarbeit ausgewählter Bürger abstellt: In einem spielerisch aufbereiteten Rahmen unter Nutzung des Sendeformats „Fernsehshow“ werden Geldpreise ausgelobt, die vom Mitwirkenden erlangt werden können, soweit ein zuvor definiertes Ereignis tatsächlich eintritt. Der jeweils ausgelobte Geldpreis kann – je nach konkretem Format – sowohl bewusst und gezielt, z. B. durch eigene Leistungen, angestrebt werden, aber auch das Resultat einer spielerischen (Zufalls-) Situation, also eines aleatorischen Ereigniseintritts, sein. Insoweit sind diese neuen Konstellationen thematisch dem weit umfassenderen Bereich der traditionellen Preis- und Fördergelder und deren steuerrechtlichen Qualifikation
__________ 3 Theisen, StuW 1988, 39 ff. 4 Theisen, StuW 1999, 255 ff.
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zuzuordnen: Die Frage der Zuordnung derartiger Geldpreise zu dem Bereich der steuerbaren Einkünfte i. S. d. EStG, und damit der Sphäre der Einkommenserzielung, gilt es zu beantworten. Aus der Fülle der in der Vergangenheit ergangenen einschlägigen Rechtsprechung sollen hier zunächst ausgewählte aktuelle Fallkonstellationen aufgezeigt werden. 2. BFH-Urteil vom 28.11.2007 „Dating-Show“ Wie einleitend erwähnt, hatte sich der Präsidenten-Senat des BFH zuletzt 2007 mit der steuerlichen Behandlung von Preisgeldern zu beschäftigen: Die Chance, ein Honorar in Höhe von 9 000 Euro sowie eines bei Eintritt des ausgelobten „Erfolgs“ – der Verheiratung mit einem (fingierten) Datingpartner – erlangbaren Erfolgshonorars in Höhe von 250 000 Euro zu erhalten, wurde vom IX. Senat in toto als (hinreichende) Gegenleistung für die Teilnahme an der TV-Show qualifiziert: Unbeachtlich bleiben für die so ausnahmslos und nicht differenzierend mit dem Leistungs-Gegenleistungsverhältnis begründete Steuerbarkeit nach § 22 Nr. 3 EStG nach den Ausführungen des Senats dabei sowohl die Höhe der (statistischen) Gewinnwahrscheinlichkeit als auch die (regelmäßig gegebene) Einmaligkeit der Tätigkeit. Der BFH-Senat unter dem Vorsitz des Jubilars stellte auf die – vertraglich vereinbarte – Teilnahmeverpflichtung der Dating-Kandidatin ab, differenzierte aber nicht weiter hinsichtlich der Qualifikation der fest vereinbarten Pauschalvergütung in Höhe von 9000 Euro für die insgesamt 12 Tage Dreharbeit einerseits und die „Erfolgsprämie“ in Höhe von 250 000 Euro andererseits. Eine solche Differenzierung aber wäre unter Berücksichtigung der steuerlichen Behandlung von Spiel- und Wettgewinnen dann angezeigt, wenn die Erfolgsprämie faktisch für eine Spielertätigkeit und eben nicht für eine konkrete „Gegenleistung“ ausgelobt worden wäre. Der im Urteil mitgeteilte Sachverhalt lässt eine diesbezügliche Beurteilung nicht zu, da nur am Rande erwähnt wird, dass das professionelle „Gegenspielerteam“ von der Sendeleitung beauftragt war, den Eintritt des zu prämierenden Erfolgs mit allen Mitteln zu verhindern. Nähere Aufklärung diesbezüglich könnte das der Show unterlegte Konzept geben: So könnte beispielsweise vorgesehen sein, in einer gewissen Zahl von „Fällen“ nach zufälliger, aber einseitiger Entscheidung des Veranstalters, den als Chance ausgelobten Erfolg eintreten zu lassen, die Kandidatin also „gewinnen zu lassen“, um die Einschaltquote entsprechend positiv zu beeinflussen bzw. auf dem erreichten Niveau zu halten. Wenn und soweit nach einem solchen „Spielplan“ verfahren würde und somit seitens der Kandidatin kein Einfluss auf das Ergebnis genommen werden könnte, die „Erfolgsprämie“ durch eigene (Gegen-)Leistung zu erlangen, wäre eine Behandlung als „Spielgewinn“ und damit als nicht steuerbarer Tatbestand möglich bzw. gegebenenfalls sogar geboten. Die konkrete BFH-Entscheidung gab zudem Anlass zu einem BMF-Schreiben, mit dem alternative Anhaltspunkte „für ein … zur Steuerbarkeit führendes gegenseitiges Leistungsverhältnis“ wie folgt präzisiert wurden5: (1.) Konkrete
__________ 5 BMF-Schreiben v. 30.5.2008 – IV C 3 – S 2257/08/10001, BStBl. I 2008, 645.
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Verhaltensvorgaben seitens des Produzenten, (2.) erfolgsunabhängiges Antrittsoder Tagesgeld neben einer Gewinnchance, (3.) kein einmaliger Auftritt, sondern mehrere Folgen verbunden mit Arbeitsfreistellung oder Urlaub bzw. (4.) Entlohnung für eine Leistung im Sinne eines Erfolgshonorars. Diese (deutlich) restriktiv(er)en Vorgaben lassen klar erkennen, dass nach Auffassung des Bundesministeriums der Finanzen die einkommensteuerrechtliche Erfassung der Erträge aus den neuen Sendeformaten durchaus differenziert erfasst werden können und zudem ein abgrenzbarer Bereich der Nichtsteuerbarkeit entsprechender Preise, Prämien und Gewinnchancen bestehen kann. 3. BFH-Urteil vom 23.4.2009 „Nachwuchsförderpreis Marktleiter“ Der angestellte Marktleiter eines Lebensmitteleinzelhandelsbetriebs hatte von sich aus – ohne Veranlassung oder auf Betreiben seines Arbeitgebers – sich um einen, von einer regionalen Großhandels-Genossenschaft ausgelobten Nachwuchsförderpreis in der Kategorie „Marktleiter“ erfolgreich beworben. Der ihm zugesprochene Förderpreis in Höhe von 10 000 DM wurde vom zuständigen Senat des BFH als Zuwendung eines Dritten qualifiziert, die dem Preisträger und Arbeitnehmer „als Frucht seiner Arbeit“ und damit in Zusammenhang mit seinem Dienstverhältnis zugeflossen sei6. Eine solche Zuwendung muss, „unbeschadet ihres besonderen Rechtsgrundes (Auslobung nach § 657 BGB) wirtschaftlich den Charakter eines leistungsbezogenen Entgelts“ haben7. Im konkreten Fall sah der Senat diese Voraussetzungen – unter Berufung auf die tatrichterliche Würdigung durch das FG – als gegeben an und erkannte auch keine Anzeichen, die für die Qualifikation als privat veranlasste, nicht steuerbare Auszeichnung der Persönlichkeit bzw. des Lebenswerkes des Preisträgers gesprochen hätten: „Vielmehr spricht der Umstand, dass es sich bei dem Preis ausdrücklich um eine ‚Nachwuchsförderung‘ im Rahmen eines auf kommerzielle Interessen ausgerichteten größeren Verbundes von Einzel- und Großhandelsunternehmen gehandelt hat, gerade dafür, dass die Bewertung der Fähigkeiten des Klägers im Rahmen der wirtschaftlichen Zielverfolgung innerhalb seiner nichtselbstständigen Arbeit und nicht die von der Berufsausübung des Klägers losgelöste Ehrung der Persönlichkeit im Vordergrund gestanden hat“8. Ausdrücklich offen lassen konnte der BFH-Senat die weiterreichende Entscheidung, ob subsidiär steuerbare (sonstige) Einkünfte aus Leistungen i. S. d. § 22 Nr. 3 EStG vorgelegen hätten. 4. BFH-Urteil vom 14.3.1989 „Meisterprüfungsprämie“ Das Kuratorium der „Stiftung Y“ erkannte einem Handwerker, der seine Meisterprüfung mit herausragenden Noten abgelegt hatte, eine nach den Förderungsrichtlinien der Stiftung ausgelobte Prämie in Höhe von 5 000 DM zu.
__________ 6 BFH v. 23.4.2009 – VI R 39/08, BStBl. II 2009, 668. 7 BFH v. 23.4.2009 – VI R 39/08, BStBl. II 2009, 668. 8 BFH v. 23.4.2009 – VI R 39/08, BStBl. II 2009, 668.
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Nach den Richtlinien durften derartige Prämien nur an Handwerker ausgereicht werden, die einen Antrag auf Gewährung der Prämie im Jahr der Eintragung in die Handwerksrolle und im Jahr der Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit gestellt haben. Abweichend von dem FG-Urteil sah der I. Senat des BFH in der Gewährung eine „betriebsbezogene Preisverleihung“ und qualifizierte die Prämie als Betriebseinnahme, da sie „untrennbar mit der betrieblichen Tätigkeit verbunden“ sei9. Nach Auffassung des erkennenden Senats „infizierte“ bereits eine der Nebenbedingungen für die Prämiengewährung, die Aufnahme einer selbstständigen gewerblichen Tätigkeit, die Prämie als „betrieblich veranlasst“. Die weiteren Ausführungen unter Bezug auf die abweichende FG-Entscheidung mit dem Hinweis, die Steuerbarkeit würde bei einem anlaufenden Betrieb wie dem des Klägers (vermutlich) niedrig ausfallen, sodass „ihr Charakter als Starthilfe“ erhalten bleibe, macht aber deutlich, dass der Senat möglicherweise von der eigenen Begründung nicht uneingeschränkt überzeugt war10. Im Ergebnis lässt die Entscheidung auch Fragen offen, denn der Anlass für die ausgelobte Geldleistung der Stiftung ist eine mit herausragendem Ergebnis abgelegte Meisterprüfung, die ihrerseits eine weiterführende Chance zu einer entsprechenden Berufsausübung bietet, aber als persönliche Qualifikation der privaten Lebenssphäre zuzuordnen ist; damit ist die Prämie u. E. durch private Umstände veranlasst und den nichtsteuerbaren Einnahmen zuzuordnen. 5. FG Schleswig-Holstein, Urteil vom 15.3.2000 „Habilitationspreis“ Einem wissenschaftlichen Assistenten mit befristetem Arbeitsverhältnis („Beamtenverhältnis auf Zeit“) wurde für seine Habilitationsschrift der mit 10 000 DM dotierte „Förderpreis des Deutschen Bundestages für wissenschaftlichen und publizistischen Nachwuchs“ verliehen. Das erkennende FG qualifizierte das Preisgeld als Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit. Es sah in der von Dritten geleisteten Zahlung ein Entgelt für eine Leistung, „die er (der Kläger) im Rahmen seines Dienstverhältnisses für den Arbeitgeber erbringt, erbracht hat oder erbringen soll“11. Nach Auffassung des FG „besteht im Streitfall ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der Anstellung als C1-Professor und dem Preisgeld. Das Preisgeld stellt [im weitesten Sinne …] ein – zusätzliches Entgelt für die zuvor erbrachte Dienstleistung dar. … Dann liegt es nahe, Einnahmen, die im Zusammenhang mit den Aufwendungen [eines Habilitanden; Anm. d. Verf.] stehen, ebenfalls als durch das Dienstverhältnis veranlasst zu sehen, auch wenn die Einnahmen unverhofft erzielt worden sind“12. Die Begründung wie das Ergebnis der Entscheidung kann u. E. nur schwer nachvollzogen werden. Die Habilitation ist eine Form der wissen-
__________
9 BFH v. 14.3.1989 – I R 83/85, BStBl. II 1989, 650. 10 Ein weiterer Hinweis für die Ambivalenz in der Urteilsbegründung findet sich in der kryptischen Formulierung: „Besteuert wird nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 EStG nicht die Prämie, sondern der Gewinn, der durch den Betriebsvermögensvergleich zu ermitteln ist“. 11 FG Schleswig-Holstein v. 15.3.2000 – I 210/95, EFG 2000, 787. 12 FG Schleswig-Holstein v. 15.3.2000 – I 210/95, EFG 2000, 787.
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schaftlichen Weiterqualifikation, sie ist in der Regel zwingende Voraussetzung für die Berufung auf einen Lehrstuhl an einer deutschen Universität. Als individuelle Qualifikations-Entscheidung jedes Einzelnen kann sie aber nicht zu einem obligatorischen Leistungsbestandteil eines Arbeitsvertrags gemacht werden, dementsprechend besteht auch seitens des Arbeitgebers kein Anspruch auf eine solche Arbeitsleistung; unstreitig kann dessen ungeachtet im Rahmen eines befristeten Arbeitsverhältnisses ein gewisses Zeitkontingent für die Möglichkeit der Erstellung einer (Dissertations- oder) Habilitationsschrift eingeräumt werden. Die seit langem anerkannte Möglichkeit, die mit einer solchen Qualifikationsmaßnahme verbundenen Aufwendungen als (vorweggenommene oder laufende) Werbungskosten steuerlich geltend machen zu können13, macht aus der Habilitationsleistung per se keine eigene Einkunftsquelle. Darüber hinaus prämiert nach den vom FG zitierten Ausschreibungsbedingungen für die Erlangung des „Förderpreis des Deutschen Bundestages“ der Auslobende „besondere Verdienste um die Erforschung und Darstellung des Parlamentarismus, […] um damit zur Transparenz und zum Verständnis der parlamentarischen Arbeit beizutragen“14 – erkennbar besteht hier kein Bezug zur Art der potenziell preiswürdigen Arbeit oder des jeweiligen Arbeitsumfelds des hier prämierten Habilitanden. Nicht nachvollziehbar erscheint daher auch die zuletzt angeführte weitergehende diesbezügliche Begründung des FG, „die Tatsache der Berufsbezogenheit könne nicht durch die Frage, ob die preisgekrönte Arbeit durch Eigenbewerbung oder durch Vorschlag eines Dritten der Jury zugeleitet worden sein, willkürlich beeinflusst werden“15. Die zugelassene Revision („die Frage, wann ein Zusammenhang zwischen Preisgeldern und Einkünften aus nichtselbstständiger Tätigkeit anzunehmen ist, [bedarf] höchstrichterlicher Klärung“16) wurde nicht eingelegt. 6. FG Köln, Urteil vom 29.10.2009 „Big Brother-Container“ Das bekannteste wie wohl auch umstrittenste der einleitend angesprochenen neuen Sendeformate unter Beteiligung von ausgewählten Bürgern hat ebenfalls bereits die Schranken eines Finanzgerichts erreicht: Der „Big Brother-Container“-Fall unterscheidet sich von dem vorstehend zitierten „Dating-Show“Fall insoweit, als ein umfassender Vertrag zwischen den einzelnen Teilnehmern abgeschlossen wird, der in vielfacher Weise dem steuerlich erheblichen Leistungs-Gegenleistungs-Verhältnis Rechnung trägt. Während aber die „Grundleistungen“ definiert werden, ist die Leistungsdauer ungewiss, da von dem TVPublikumsvotum, und damit von einer Entscheidung Dritter, abhängig. Neben der für die „Verweildauer im Container“ geleisteten Pauschalzahlungen aber wird demjenigen, der nach dem TV-Publikumsvotum als Letzter im Container verbleibt, ein gesonderter „Projektgewinn“ in Aussicht gestellt: „Der Projekt-
__________ 13 BFH v. 7.8.1967 – VI R 25/67, BStBl. III 1967, 778; dazu Theisen, Wissenschaftliches Arbeiten, 14. Aufl. 2009, S. 16 f. 14 FG Schleswig-Holstein v. 15.3.2000 – I 210/95, EFG 2000, 787. 15 FG Schleswig-Holstein v. 15.3.2000 – I 210/95, EFG 2000, 787. 16 FG Schleswig-Holstein v. 15.3.2000 – I 210/95, EFG 2000, 787.
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gewinn gebührt demjenigen, der zum Ende des Projekts BB von den Zuschauern gemäß Ziffer 1.2.3 dieser Vereinbarung als Gewinner ausgewählt wird. Die übrigen Finalisten erhalten keinen, auch keinen Anteil am Projektgewinn“17. Der Kläger hat sowohl die vertraglichen Pauschalleistungen als auch – als vom Publikum auserkorener Sieger seiner BB-Staffel – die Projektprämie vereinnahmt. In der FG-Entscheidung werden beide Leistungselemente gleichermaßen als steuerbare Einkünfte i. S. d. § 22 Nr. 3 EStG qualifiziert. Von zentraler Bedeutung ist nach Auffassung des erkennenden Gerichts dabei, dass (auch) die „Gewinnauszahlung als Realisierung der Gewinnchance subjektiv als Lohn für seine Leistung angenommen und diese damit der erwerbswirtschaftlichen Sphäre zugeordnet“18 wird. Diese subjektive Widmung – zudem nicht frei von spekulativen, vom Veranstalter getriebenen Momenten – als maßgebliches Qualifikationskriterium für eine steuerbare Einnahme zu verwenden, muss überraschen. Das FG weist im Folgenden wiederholt darauf hin, dass „man im vorliegenden Fall [noch] zur Annahme einer Leistung des Klägers im Sinne des § 22 Nr. 3 EStG durch sein Verhalten gegenüber G [der Produktionsfirma])“ gelangt19. Bei einer – u. E. gebotenen – differenzierenden Betrachtung von Pauschalleistung und Projektprämie hätten die beiden Einnahmen einer getrennten Würdigung unterzogen werden müssen, um dabei insbesondere nach einer Abgrenzung zwischen Leistungsentgelt einerseits und Spielgewinn andererseits unterscheiden zu können. Zur Verdeutlichung sei hier nochmals erwähnt, dass eine (wie entschieden) erfolgsabhängige Aufstockung der Vergütung hier u. E. zu verneinen ist, da der Gewinn der Projektprämie nicht alleine im Handlungs- und Machtbereich des Steuerpflichtigen lag und somit eine differenzierende Betrachtung der Geldleistungen erfolgen müsste. Die vom FG für die Revisionszulassung angeführte Begründung könnte als eine entsprechende Anregung verstanden werden, wenn es dort heißt: „Dem BFH wird damit Gelegenheit gegeben, seine Rechtsprechung zur Steuerbarkeit von Preisgeldern für die Teilnahme an Fernsehshows […] zu bestätigen und ggf. zu präzisieren“20. 7. Zwischenfazit Aus der Fülle der ergangenen Rechtsprechung sind einige wichtige Elemente herauszustellen, um die konkrete Fragestellung einer Beantwortung und möglichst auch systematischen Einordnung zuführen zu können. Preisgelder, die sowohl aus objektiver wie subjektiver Betrachtung durch eine Erwerbstätigkeit erzielt werden und (kumulativ) die Voraussetzung erfüllen, einer konkreten, im § 2 EStG erfassten Einkunftsart (Gewinn- oder Überschusseinkunftsart) zugeordnet werden zu können, sind nach unzweifelhafter Auffassung der Steuergerichte regelmäßig steuerpflichtig, soweit sie nicht im
__________ 17 18 19 20
FG Köln v. 29.10.2009 – 15 K 291/06, EFG 2010, 570. FG Köln v. 29.10.2009 – 15 K 291/06, EFG 2010, 570. FG Köln v. 29.10.2009 – 15 K 291/06, EFG 2010, 570. FG Köln v. 29.10.2009 – 15 K 291/06, EFG 2010, 570.
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Einzelfall nach Maßgabe des § 3 EStG steuerbefreit sind. Wir wollen in diesen Fällen von einer originären Steuerpflichtigkeit der Preisgelder sprechen. Beispiel: Ein angestellter oder (alternativ) selbstständiger Architekt beteiligt sich wiederholt an Ideen- oder Realisierungswettbewerben für ausgeschriebene Bauprojekte. Gelegentlich ihm zugesprochene Preisgelder für eine Platzierung bedeuten nicht automatisch auch den Zuschlag für das ausgelobte Projekt bzw. die Erteilung eines Architektenauftrags, aber regelmäßig eine steuerpflichtige Geldleistung; soweit keine Platzierung erreicht wird, „gewinnt“ der sich bewerbende Architekt nichts, alle Aufwendungen in diesem Zusammenhang aber sind uneingeschränkt abzugsfähige Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben. Die Preisvergabe mag dem Einzelnen zwar als „zufällig“ erscheinen, gehört jedoch zum Berufsbild eines Architekten und steht bei objektiver Betrachtung in einem strikten Verhältnis zu dem Maß der Zielerreichung der Vorgaben durch den Auslobenden21. Preisgelder, denen die beiden (oder auch nur eines) der oben genannten Eigenschaften („Erzielung durch Erwerbstätigkeit“ und „Zuordnung zu einer Einkunftsart“) fehlen, können dagegen definitionsgemäß nicht zu originären Einkünften im Sinne von § 2 EStG führen. Dabei kann es u. E. regelmäßig unerheblich sein, ob im Einzelfall aus objektiver Perspektive die „Zielgerichtetheit der Erwerbstätigkeit“ oder der „wirtschaftliche Leistungsaustausch“ fehlen, oder ob aus subjektiver Perspektive eine „Einkunftserzielungsabsicht“ nicht gegeben ist. Ohne eine „zielgerichtete, marktorientierte Betätigung“ wird somit objektiv kein Steuertatbestand begründet22. Lehrbuchbeispiele sind diesbezüglich: – Geldpreise und Belohnungen für die Ergreifung von Straftätern23. – Geldpreise im Rahmen u. a. von „Jugend forscht“ und anderen Forschungswettbewerben. – Geldpreise für besondere Studienleistungen24. – Spiel- und Lottogewinne25.
__________ 21 Vgl. zuletzt FG Münster v. 16.9.2009 – 10 K 4647/07 F, BeckRS 2009 26028196, etwas anders gelagert – aber im Ergebnis gleich behandelt worden – ist der Fall der noch nicht als Architekten eingetragenen Diplom-Ingenieure, die sich bereits erfolgreich an Ideenwettbewerben beteiligt haben: BFH v. 16.1.1975 – IV R 75/74, BStBl. 1975 II, 558. 22 Vgl. Biergans, Einkommensteuer und Steuerbilanz, 5. Aufl. 1990, S. 6; Koller, Abgrenzung von Einkunftstatbeständen im Einkommensteuerrecht, 1992, S. 5; Kirchhof in Kirchhof/Söhn, § 2 EStG Rz. B180–183. 23 Von aktuellem Interesse könnte hier auch die Steuerpflicht der von den Finanzverwaltungen des Bundes und ausgewählter Länder ausgereichten Vergütungen für die (gestohlenen bzw. entwendeten) Bankdaten im Rahmen sog. „Steuer-CDs“ sein, die dem Vernehmen nach im Einzelfall der „Künstlerbesteuerung“ nach § 50a Abs. 1 Nr. 1 EStG mit pauschal 15 % unterworfen worden sein sollen. 24 Vgl. Kirchhof in Kirchhof/Söhn, § 2 EStG Rz. A112. 25 RFH v. 30.6.1927 – VI A 261/27, RStBl. 1927, 197; RFH v. 14.3.1928, RStBl. 1928, 181; RFH v. 6.4.1932, RStBl. 1932, 574; BFH v. 10.11.1961 – IV 359/58, HFR 1962, 353; BFH v. 3.8.1966 – IV R 75/66, BStBl. III 1966, 650; BFH v. 24.10.1969 – IV R 139/68, BStBl. II 1970, 411; BFH v. 16.9.1970 – I R 133/68, BStBl. II 1970, 865.
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Fallbezogene weitere Beispiele nicht originär steuerpflichtiger Einkünfte liefern nach der BFH-Rechtsprechung alle diejenigen Preisgelder, bei denen es an dem erforderlichen wirtschaftlichen Leistungsaustausch („Leistung-Gegenleistung“) fehlt: – Geldpreise für das Lebenswerk oder Gesamtschaffen26. – Geldpreise für eine vorbildliche Grundhaltung, Persönlichkeit oder eine beeindruckende Vorbildfunktion des Empfängers27. – Geldpreise für Quizsendungen, Preisausschreiben und vergleichbare Wettbewerbe, bei denen der unterhaltende Charakter im Vordergrund steht, eine Gegenleistung also regelmäßig nicht vereinbart wurde28. Ist ein objektiver Tatbestand für die steuerliche Erfassung gegeben, fehlt bei dem, die konkrete Tätigkeit Ausübenden – also subjektiv betrachtet – aber die (erforderliche) Einkommenserzielungsabsicht, definiert als eine auf die Erzielung von Gewinnen bzw. Überschüssen gerichtete Erwerbstätigkeit, liegen mit den (über die Totalperiode also höchstwahrscheinlich negativen) Ergebnissen insoweit regelmäßig ebenfalls keine einkommensteuerrechtlich relevanten Einkünfte vor29. Die Einkommensteuerpflicht stellt diesbezüglich auf eine tatsächlich ermittelbare Vermögensmehrung und nicht alleine auf den Willen oder Wunsch des Steuerpflichtigen ab30. Die innerhalb einer Totalperiode auf einen positiven Vermögenssaldo ausgelegte, materielle Zielgerichtetheit des Steuerpflichtigen kann aufgrund einer „inneren Tatsache“ des Steuerpflichtigen nicht an dessen subjektiven Vorstellungen gemessen werden, sondern muss innerhalb eines Prognosezeitraums anhand objektiver Beweisanzeichen beurteilt werden31. Die Einkommensteuerpflicht stellt also auf eine tatsächlich ermittelbare Vermögensmehrung und nicht alleine auf den Willen oder Wunsch des Steuerpflichtigen ab32. Es ist jedoch darauf zu achten, dass Indizien nicht als materiell-rechtliche Tatbestandsmerkmale ex post verwendet werden und eine „objektiv willkürliche“ Einschätzung der Rechtsprechung
__________ 26 BFH v. 1.10.1964 – IV 183/62 U, BStBl. III 1964, 629; BFH v. 23.4.2009 – VI R 39/08, BStBl. II 2009, 668; BFH v. 9.5.1985 – IV R 184/82, BStBl. II 1985, 427. Vgl. dazu auch das BMF-Schreiben v. 5.9.1996 – IV B 1 – S 2121 – 34/96 zur Steuerbarkeit der Geldleistungen in Zusammenhang mit einer Nobelpreisverleihung. 27 BFH v. 9.5.1985 – IV R 184/82, BStBl. II 1985, 427. 28 BFH v. 19.7.1990 – IV R 82/89, BStBl. II 1991, 333; siehe auch BFH v. 22.1.1981 – IV B 41/80, BStBl. II 1981, 424. 29 Originell zuletzt Falkner, DStR 2010, 792: „Maßgeblich ist demnach, ob sich der Steuerpflichtige ‚wie ein Einkünfteerzieler‘ oder wie ein ‚Liebhaber‘ verhält“, dort mit Verweis auf Weber-Grellet (nicht nachvollziehbar). 30 Vgl. Kirchhof in Kirchhof/Söhn, § 2 EStG Rz. A120; Kirchhof, DStR 2007, 13; Pezzer, DStR 2007, 17. 31 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 766; BFH v. 19.4.2005 – III B 19/04 (NV), BeckRS 2005 Dok. 25008016; Theisen, StuW 1988, 41; Kirchhof in Kirchhof/Söhn, § 2 EStG Rz. A121; Raupach/Schencking in Herrmann/Heuer/Raupach, § 2 EStG Rz. 355. 32 Vgl. Kirchhof in Kirchhof/Söhn, § 2 EStG Rz. A120; Kirchhof, DStR 2007, 13; Pezzer, DStR 2007, 17.
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vermieden wird33, sondern grundsätzlich zunächst auf der Grundlage einer Prognose beurteilt werden, die allerdings im Zeitablauf in qualitativer und quantitativer Hinsicht überprüft und evtl. korrigiert werden muss. Bezogen auf Preis- und Fördergelder führt diese subjektive Tatbestandsmäßigkeit zu nichtsteuerbaren Einnahmen bei: – Preisgeldern, für die, um sie zu erhalten, „nur eine theoretische, unter außergewöhnlich glücklichen Umständen zu realisierende Gewinnchance besteht“34. – Preisgelder, für die, um sie zugesprochen zu bekommen, nicht nur eine Chance als (einzige) Gegenleistung für die Teilnahme besteht, sondern die Gewinn-Wahrscheinlichkeit (und gegebenenfalls Höhe) im Vorhinein überhaupt nicht bestimmbar ist, die also durch den entscheidungstheoretischen Zustand der „Ungewissheit“ charakterisiert wird35. Gesondert von den vorstehend dargestellten, durch die Rechtsprechung überwiegend perpetuierten, originär steuerpflichtigen Preis- und Fördergeldfällen wurde für eine zusätzliche – aber eigenständige – Kategorie von Einnahmen das Charakteristikum des „ursächlichen Zusammenhangs“ solcher Einnahmen mit einer konkreten Einkunftsart entwickelt. Preisgelder unterliegen danach nicht nur der Steuerpflicht, wenn sie originär die Tatbestandsmerkmale einer Einkunftsart erfüllen, sondern auch, wenn und soweit sie als in einem untrennbaren wirtschaftlichen Zusammenhang mit einer Einkunftsart i. S. d. § 2 EStG stehend an den jeweiligen Empfänger ausgezahlt werden. Steuerpflichtig sind demnach Preisgelder, die in „unlösbarem ursächlichen Zusammenhang“36 mit einer Erwerbstätigkeit des Steuerpflichtigen stehen – somit „wirtschaftlich den Charakter eines leistungsbezogenen Entgelts“37 haben – und das Preisgeld sowohl Ziel als auch unmittelbare Folge einer steuerbaren (Erwerbs-)Tätigkeit38 ist39. Ein derartiger „Veranlassungszusammenhang“ führt nach der Rechtsprechung zur (in unserem Sprachgebrauch: abgeleiteten) Steuerpflicht von:
__________ 33 Vgl. Theisen, StuW 1999, 259; Pezzer, DStR 2007, 16 (18 f.); Sieker, DStR 2007, 38. 34 BFH v. 19.7.1990 – IV R 82/89, BStBl. II 1991, 333; siehe auch BFH v. 22.1.1981 – IV B 41/80, BStBl. II 1981, 424. 35 BFH v. 19.7.1990 – IV R 82/89, BStBl. II 1991, 333; BFH v. 28.11.2007 – IX R 39/06, BStBl. II 2008, 469; dazu BMF-Schreiben v. 30.5.2008 – IV C 3 – S 2257/08/10001, BStBl. I 2008, 645. In dem zuletzt zitierten Fall wurde nicht zwischen Gegenleistung und Erfolgsprämie differenziert, so dass die Gewinnchance und -wahrscheinlichkeit – insoweit konsequent – isoliert nicht zu würdigen war. 36 BFH v. 1.10.1964 – IV 183/62 U, BStBl. III 1964, 629. 37 BFH v. 9.5.1985 – IV R 184/82, BStBl. II 1985, 427. 38 BFH v. 1.10.1964 – IV 183/62 U, BStBl. III 1964, 629; BFH v. 16.1.1975 – IV R 75/74, BStBl. II 1975, 558. 39 Vgl. auch Pferdmenges, Einkünfteerzielungsabsicht, 1990, S. 33–35; BMF-Schreiben v. 5.9.1996 – IV B 1 – S 2121 – 34/96, BStBl. I 1996, 1150; Zugmaier in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 2 EStG Rz. 80, Stichwort „Preise“.
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– Preisgeldern, für die weder eine in der Vergangenheit erbrachte Leistung noch ein zuvor begründeter Rechtsanspruch vorliegen („Incentive-Reisen“)40. – Preisgelder, die im Rahmen eines innerbetrieblichen Wettbewerbs, einer Verlosung oder eines betrieblichen Vorschlagswettbewerbs ausgereicht werden41. – Preisgelder, die für ein im Rahmen arbeitsvertraglicher Vereinbarungen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses erstellten Werkes vergeben werden42. – Preisgelder, die über einen wirksamen Werbeeffekt und den Erwerb eines geschäftlichen Rufes die übrige gewerbliche Tätigkeit des Steuerpflichtigen fördern43. Kein ausreichender Veranlassungszusammenhang und damit regelmäßig keine (abgeleitete) Steuerpflichtigkeit liegt dagegen nach Auffassung der Rechtsprechung und/oder Finanzverwaltung vor bei: – Preisgeldern, die für eine wissenschaftliche oder handwerkliche Leistung ausgereicht werden, die im Rahmen einer beruflichen oder betrieblichen Tätigkeit erstellt wurden44. – Preisgeldern, die als solches durch den ausgeübten Beruf oder das dabei erworbene Wissen ermöglicht wurden45. Ein Veranlassungszusammenhang mit einer Einkunftsart liegt somit nur vor, wenn das Kriterium des leistungsbezogenen Entgelts erfüllt ist und das Preisgeld sowohl Ziel als auch unmittelbare Folge einer regulären, auf Erwerb abzielenden Tätigkeit ist, die im Rahmen des Einkünftekatalogs der originären Steuerpflicht unterliegt46. In Abbildung 1 werden diese kumulativen Voraussetzungen systematisch im Sinne eines Prüfschemas aufgezeigt.
__________ 40 BFH v. 6.10.2004 – X R 36/03 (NV), BFH/NV 2005, 682; BFH v. 14.3.2006 – VIII R 60/03, BStBl. II 2006, 650. 41 BFH v. 25.11.1993 – VI R 45/93, BStBl. II 1994, 254; BFH v. 2.9.2008 – X R 25/07, DStR 2008, 2359; BFH v. 23.4.2009 – VI R 39/08, BStBl. II 2009, 668. 42 FG Schleswig-Holstein v. 15.3.2000 – I 210/95, EFG 2000, 787; FG Berlin v. 17.5.2000 – 6 K 6422/97, EFG 2000, 936. 43 BFH v. 1.10.1964 – IV-183/62 U, BStBl. III 1964, 629. 44 Siehe Erlass des Finanzministeriums Saarland v. 3.12.2002 – B/2-2 186/2002 S 2520, DStR 2003, 157. 45 BFH v. 24.4.2003 – VI B 62/02, BFH/NV 2003, 1054. 46 BFH v. 1.10.1964 – IV 183/62 U, BStBl. III 1964, 629; BFH v. 16.1.1975 – IV R 75/74, BStBl. II 1975, 559; vgl. BMF-Schreiben v. 5.9.1996 – IV B 1 – S 2121 – 34/96, BStBl. I 1996, 1150.
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Abb. 1: Originäre und abgeleitete Steuerpflicht bzw. Nichtsteuerbarkeit von Preisgeldern
III. Versuch einer Systematisierung Die Behandlung von Preisgeldern hat in der jüngeren Rechtsprechung der Steuergerichte, aber auch vereinzelt durch Veröffentlichungen der Finanzverwaltung und der Finanzministerien eine beachtliche Aufmerksamkeit gefunden: Die dabei zugrunde gelegten steuerlichen Qualifikationen und Klassifikationen sind (fast) so unterschiedlich wie die meisten der, die Streitigkeiten auslösenden Sachverhalte. Eine überzeugende Systematik ist nur schwer zu erkennen, möglicherweise aber unter dem Diktat der Haushaltslage derzeit auch nicht vorrangig. Für die grundlegende Fragestellung aber soll abschließend zumindest eine Typisierung entwickelt werden, die es möglicherweise erlaubt, die zwingend erforderliche weiterführende Diskussion zu fundieren und erste Anregungen zu einer geschlossenen, gegebenenfalls sogar systematischen Betrachtungs- und Behandlungsweise zu ermöglichen. Zusammenfassend stellt sich für uns die aktuelle Situation wie in Abbildung 2 aufgezeigt dar. Danach ergeben sich drei Grundkonstellationen, die als Subsumtionskategorien Verwendung finden könnten.
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Abb. 2: Kategorisierung der Grundsachverhalte von steuerbaren und nichtsteuerbaren Preisgeldern
(1) Der ersten Kategorie sind alle diejenigen Preis- und Fördergelder sowie Gewinne und Sachleistungen zuzurechnen, bei denen der aleatorische Charakter eindeutig im Vordergrund steht: Sowohl alle Wetten, Lotterien und reinen Gewinnspiele und die in diesem Zusammenhang erlangten Gelder sind hier zuzuordnen als auch alle Einnahmen, denen keine konkrete Gegenleistung gegenübersteht, denen kein Leistungsaustausch bei objektiver Betrachtung unterlegt werden kann sowie solchen Auszeichnungen, Belobigungen und Ehrungen, zu deren Erhalt durch den Begünstigten keine eigenen zielgerichteten Aktivitäten im engeren Sinne unternommen werden bzw. werden können oder müssen. (2) Geld- und Sachleistungen, bei denen ein Leistungsbezug oder/und ein untrennbarer wirtschaftlicher Zusammenhang mit einer originär steuerpflichtigen Erwerbstätigkeit besteht, sind im Einzelfall unter Berücksichtigung des Veranlassungszusammenhangs den steuerbaren Einkünften in diesem Rahmen zuzurechnen und entsprechend steuerlich zu erfassen. (3) Preisgelder und Sachleistungen, denen bei objektiver Betrachtung ein Entlohnungscharakter zukommt, sind regelmäßig steuerbar, soweit dabei eine der einkommensteuerpflichtigen Einkunftsarten i. S. d. § 2 EStG unterlegt werden kann. Die hier ausdifferenzierten Grundtatbestände lassen eine Zuordnung nach den aufgegriffenen Unterschieden zu. Dessen ungeachtet erscheint damit aber noch keinesfalls abschließend eine systematische Behandlung sichergestellt, die konkreten Ausprägungen sind nicht selten ausgesprochen vielfältig und schaffen weder für den Steuerpflichtigen noch die Finanzverwaltung wirklich eine verlässliche Beurteilungslage in jedem Einzelfall. Diese Situation wird dazu führen, dass noch eine Fülle von Klagen zu Preis- und Fördergeldern und deren Steuerbarkeit in Zukunft zu erwarten sein wird: Die Steuergerichte sind daher gefordert, eine systematisch überzeugende Kategorisierung von Preisgeldern zu entwerfen, damit diese eine über den Einzelfall hinausreichende Anwendung in der Praxis und Finanzverwaltung finden kann.
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IV. Ausblick Die Ergebnisse der Analyse sind im Detail nicht überraschend. Da die Väter und Mütter des deutschen Einkommensteuerrechts sich seinerzeit nicht darüber verständigen konnten, welches grundlegende Prinzip – die Quellentheorie oder die Reinvermögenszugangstheorie – der Besteuerung des Einkommens zugrunde gelegt werden soll, wurde mit dem Geburtsfehler des diesbezüglich generierten „in-between“ die Grundlage auch für die hier aufgeworfene Frage geschaffen. Klare Antworten gibt es nur, soweit klare Prinzipien konsequent durchgehalten werden. Wenn der deutschen Einkommensbesteuerung die Reinvermögenszugangstheorie ausnahmslos zugrunde gelegt worden wäre, wäre die Frage schnell beantwortet: Alle Vermögensmehrungen, periodisch oder einmalig, gehörten danach zu der steuerlich relevanten Bemessungsgrundlage in der Periode des entsprechenden Vermögenszugangs bzw. -zuflusses und wären unterschiedslos zu besteuern. Weder objektive noch subjektive zusätzliche Kriterien wären zu beachten, insbesondere käme es nicht darauf an, ob ein solcher Vermögenszuwachs bewusst angestrebt oder zufällig als „windfall profit“ oder „Lottogewinn“ im weiteren Sinne erzielt würde. Aber: Kein klares Besteuerungskonzept, keine klaren Antworten. Die Besteuerungsrealität auf der Basis des geltenden Rechts und der dazu ergangenen Rechtsprechung zwingt dazu, letztlich in jedem Einzelfall die Grundlagen und Kriterien der Einkommenserzielung und der Einkünftezuordnung zu prüfen. Hierbei ist vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Behandlung einmaliger Vermögensänderungen im Bereich der Gewinneinkünfte einerseits und im Bereich der Überschusseinkünfte andererseits zwingend nach der Art der Einkünfte zu differenzieren. Damit aber ergeben sich regelmäßig immer zahlreicher werdende „Prüfsteine“ im Detail: Wie viel intrinsische oder extrinsische Motivation liegt bei der Erwartung von Preisgeldern bei den potenziellen Kandidaten vor? Überwiegt der aleatorische Charakter, der reizt, aber nichts sicher erwarten lässt, oder ist eine notorische Zockermentalität und ein entsprechend berufliches Umfeld steuerschädlich zu berücksichtigen? Ist die prämierte Leistung tendenziell Ausfluss einer konkreten Berufstätigkeit oder reicht es zur Qualifikation als steuerfreies (Abschnitts-)Lebenswerk? Wird die gegebenenfalls steuerbare wissenschaftliche Einzelleistung oder eine nichtsteuerbare persönlichkeitsbildende Gesamtperformance geehrt? Wird die einzelne wissenschaftliche Leistung (nur) geschrieben, um einen Preis zu bekommen oder erhalten Einzelne einen Förderpreis, weil sie – möglicherweise sogar ohne von einer potenziellen Preiswürdigkeit zu wissen – eine hervorragende, eben preiswürdige Arbeit geschrieben haben. Unverändert viele Fragen und nur der Versuch einer ersten systematisch angelegten Analyse. Abschließend aber sei einmal mehr auf tendenzielle zeitgeistige Strömungen hingewiesen, die zu berücksichtigen auch hier vermieden werden sollte. Die absolute Höhe entsprechender Preisgelder als solche darf bei der Qualifizierung der Steuerbarkeit von derartigen Einnahmen grundsätzlich keine Rolle spielen, denn nicht die Haushaltslage sollte hier berücksichtigt werden, sondern der Volksmund: „Wer wagt, gewinnt“, oder neudeutsch: „Nothing ventured, nothing gained“ – und zwar steuerfrei. 832
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Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zur Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung bei Ferienwohnungen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Ausgangspunkt (die frühere Rechtslage) 1. Rechtsprechung des BFH a) Zum Liebhabereibegriff b) Liebhaberei bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung im Allgemeinen c) Liebhaberei bei den Einkünften aus dem Vermieten von Ferienwohnungen/Zuordnung von Leerstandszeiten 2. Auffassung der Finanzgerichte, der Finanzverwaltung und in der Literatur a) Finanzgerichte b) Finanzverwaltung c) Literatur III. Rechtsprechungsänderung im Jahre 2001 1. Entscheidungen des IX. Senats des BFH a) Ohne (Vorbehalt der) Selbstnutzung vermietete Ferienwohnungen
b) Vermietete und (auch) selbstgenutzte Ferienwohnungen c) Selbstnutzung/Vorbehalt der Selbstnutzung d) Totalüberschussprognose 2. Stellungnahmen zu der neuen Rechtsprechung a) Reaktion der Finanzverwaltung b) Beurteilung durch die Finanzgerichte c) Stellungnahmen in der Literatur IV. Weiterentwicklung der im Jahre 2001 aufgestellten Rechtsprechungsgrundsätze 1. Entscheidungen des BFH 2. Urteile der Finanzgerichte 3. Übernahme durch die Finanzverwaltung 4. Stellungnahmen in der Literatur V. Schlussbetrachtung
I. Einleitung Der scheidende Präsident des BFH, Dr. h.c. Wolfgang Spindler, hat sich in seiner Funktion als Vorsitzender und Mitglied des IX. Senats des BFH sowie auch selbst als Autor1 in der Vergangenheit u. a. mit einem Thema befasst, das der unbefangene Betrachter eher dem Bereich Urlaub zuordnet. Sinn dieses Beitrags ist aber natürlich nicht, Wolfgang Spindler für die Zeit als Pensionär
__________ 1 Spindler, z. B. NWB 2002 Fach 3, 11881; ders. in FS Korn, 2005, S. 166 (171 f.); ders., DB 2007, 185 (186 f.); ders. in Spiegelberger/Spindler/Wälzholz, Die Immobilie im Steuerrecht, 2008, Kap. 10 Rz. 19 f.
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Bernd Thürmer
Anregungen zur Gestaltung seiner Freizeit zu geben. Zahlreiche Bundesrichterbeispiele belegen ohnehin, dass das eine (Pension) mit dem anderen (Freizeit) nicht unbedingt etwas zu tun haben muss. Es geht im vorliegenden Beitrag – wie damals auch beim IX. Senat des BFH und bei Wolfgang Spindler als Autor – natürlich nur um die steuerlichen Aspekte des Vermietens von Ferienwohnungen, d. h. um die Frage, unter welchen Voraussetzungen die hieraus erzielten Einkünfte (und damit auch etwaige Werbungskostenüberschüsse) steuerlich zu berücksichtigen sind. Hierzu hat der IX. Senat des BFH in einer Entscheidung aus dem Jahre 20012 neue Grundsätze aufgestellt und sie in den Folgejahren weiter entwickelt. Der vorliegende Beitrag soll in Form einer Bestandsaufnahme die Rechtsprechung des BFH und die Aufnahme der neuen Rechtsprechungsgrundsätze bei den Finanzgerichten sowie in Finanzverwaltung und Literatur darstellen.
II. Ausgangspunkt (die frühere Rechtslage) 1. Rechtsprechung des BFH a) Zum Liebhabereibegriff Verluste wirken sich nur steuermindernd aus, wenn sie im Bereich steuerbarer Einkünfte entstehen. Der Steuerpflichtige muss dazu eine Tätigkeit (oder Vermögensnutzung) i. S. des § 2 Abs. 1 EStG mit Einkünfteerzielungsabsicht ausüben, d. h. mit der Absicht, durch sie auf Dauer gesehen ein positives Ergebnis zu erzielen. Fehlt es hieran, ist eine steuerlich unbeachtliche Liebhaberei gegeben. Seit diesen im Beschluss des Großen Senats des BFH vom 25.6.19843 formulierten Grundsätzen geht der BFH in ständiger Rechtsprechung von einem zweigliedrigen subjektiven Liebhabereibegriff aus. Danach setzt die Annahme von Liebhaberei (objektiv) eine negative Totalprognose und (subjektiv) ein Handeln aus privaten Gründen voraus. Deuten längere Verlustperioden auf das Fehlen der Gewinn-/Überschusserzielungsabsicht hin, führt dies für sich noch nicht zur Bejahung der Liebhaberei. Notwendig ist vielmehr die aus weiteren Beweisanzeichen folgende Feststellung, dass der Steuerpflichtige die Tätigkeit nur aus im Bereich seiner Lebensführung liegenden persönlichen Gründen oder Neigungen ausübt4. Als solche Gründe kommen alle einkommensteuerrechtlich unbeachtlichen Motive in Betracht5 und daher z. B. auch die Absicht, nichtsteuerbare Veräußerungsgewinne zu erzielen6.
__________ 2 BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726. 3 GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751, unter C IV 3 c aa (1); siehe dazu auch z. B. Hutter, DStZ 1998, 344; Weber-Grellet, DStR 1998, 873; Pezzer in Gedächtnisschrift für Trzaskalik, 2005, S. 239 (243 f.); Raupach/Schenking in Herrmann/Heuer/Raupach, § 2 EStG Rz. 370 f. 4 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751, unter C IV 3 c bb (1). 5 BFH v. 19.11.1985 – VIII R 4/83, BStBl. II 1986, 289. 6 Trzaskalik in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 21 EStG Rz. B 252, 278 f.
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Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung bei Ferienwohnungen
b) Liebhaberei bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung im Allgemeinen Der seinerzeit für Entscheidungen über die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zuständige VIII. Senat des BFH hat in seinem Urteil v. 21.10.19807 – auf das der Große Senat des BFH in seiner Entscheidung (siehe Abschn. II. 1. a) ausdrücklich Bezug genommen hat8 – betont, dass sich bei dieser Einkunftsart die Frage der Liebhaberei auch bei jahrelangen Werbungskostenüberschüssen nur in Ausnahmefällen stelle; denn es sei nur schwer vorstellbar, dass jemand Gebäude oder Räume darin ohne Einkünfteerzielungsabsicht aus persönlichen Gründen an Fremde vermiete9. Eine Fremdvermietung geschehe regelmäßig mit der Absicht, ein positives Gesamtergebnis zu erzielen10. Für die bis 1986 steuerbare11 Selbstnutzung von Wohnungen hat der (nunmehr für die Entscheidung zuständige) IX. Senat des BFH die Möglichkeit der Liebhaberei generell ausgeschlossen. Der Steuerpflichtige übe die verlustbringende Tätigkeit nicht aus im Bereich der Lebensführung liegenden persönlichen Gründen oder Neigungen aus, sondern entspreche mit ihr den Zielsetzungen des Gesetzgebers12. Liebhaberei hat der IX. Senat des BFH – sieht man von den Entscheidungen zur Beteiligung an Mietkaufmodellen13 und Bauherrenmodellen mit Rückkauf- oder Verkaufsgarantie14 ab – im Bereich der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung lediglich in einem Fall angenommen, in dem eine Hauseigentümerin ihr aufwendig (für rd. 1,5 Millionen DM) umgebautes Einfamilienhaus an ihren Sohn zu einer nicht einmal ein Drittel der (geltend gemachten) Werbungskosten erreichenden Miete überlies15.
__________ 7 VIII R 81/79, BStBl. II 1981, 452; Pezzer in GS Trzaskalik (Fn. 3), S. 239 (245); ders., DStR 2007, Beihefter zu Heft 39, 16 (19). 8 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751, unter C IV 3 c aa (2); siehe dazu Pezzer in GS Trzaskalik (Fn. 3), S. 239 (245). 9 BFH v. 21.10.1980 – VIII R 81/79, BStBl. II 1981, 452; ebenso auch BFH v. 21.1.1986 – IX R 7/79, BStBl. II 1986, 394. 10 Z. B. BFH v. 31.3.1987 – IX R 112/83, BStBl. II 1987, 774. 11 Siehe dazu Trzaskalik in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 21 EStG Rz. A 34 f., C 1 f. 12 Z. B. BFH v. 25.6.1991 – IX R 163/84, BStBl. II 1992, 23 – zur Selbstnutzung i. S. des (aufgehobenen) § 21a EStG; BFH v. 22.10.1993 – IX R 35/92, BStBl. II 1995, 98 – zum Nutzungswert der Wohnung im eigenen – aufwendigen – Zweifamilienhaus gemäß § 21 Abs. 2 EStG a. F.; BFH v. 8.11.1993 – IX R 42/92, BStBl. II 1995, 102 – zur Selbstnutzung und Vermietung von Wohnungen in einem Zweifamilienhaus bis zum Auslaufen der Übergangsregelung des § 52 Abs. 21 EStG. 13 Z. B. BFH v. 9.2.1993 – IX R 42/90, BStBl. II 1993, 658. 14 Z. B. BFH v. 14.9.1994 – IX R 71/93, BStBl. II 1995, 116; v. 10.10.2000 – IX R 52/97, BFH/NV 2001, 587. 15 BFH v. 25.1.1994 – IX R 139/92, BFH/NV 1995, 11: Die persönlichen Gründe für die Inkaufnahme der hohen, auch später zu erwartenden Werbungskostenüberschüsse lägen in den engen verwandtschaftlichen Beziehungen der Klägerin zu dem Mieter, ihrem Sohn, und dem aus ihrem Rechtsschutzbegehren ersichtlichen Bestreben, durch Verrechnung der Werbungskostenüberschüsse mit positiven Einkünften Einkommensteuer zu sparen.
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Die Rechtsprechung wurde durch das Urteil v. 30.9.199716 fortgesetzt17. Der IX. Senat des BFH hat in dieser Entscheidung den Grundsatz aufgestellt, dass der Steuerpflichtige in den üblichen Fällen einer Dauervermietung beabsichtige, letztlich einen Einnahmeüberschuss zu erwirtschaften. Deshalb sei grundsätzlich ohne Prüfung von der Einkünfteerzielungsabsicht auszugehen. Dies ergebe sich aus dem Regelungszweck des § 21 Abs. 1 Satz Nr. 1 EStG; denn obwohl mit Immobilien ohne Berücksichtigung der Wertsteigerungen und Steuervorteile je nach Umfang der Fremdfinanzierung allenfalls erst nach sehr langen Zeiträumen eine Rendite zu erwirtschaften sei, habe der Gesetzgeber die Vermietung unbeweglichen Vermögens nicht von der Besteuerung ausgenommen18. c) Liebhaberei bei den Einkünften aus dem Vermieten von Ferienwohnungen/Zuordnung von Leerstandszeiten Den im Urteil v. 30.9.1997 aufgestellten Grundsatz (siehe Abschn. II. 1. b am Ende) hat der IX. Senat des BFH noch nicht (siehe dazu Abschn. III. 1) auf Ferienwohnungen erstreckt19. Schon in der Vergangenheit hatten der VIII. Senat des BFH20 und (nach dem Wechsel der Entscheidungszuständigkeit) auch der IX. Senat des BFH21 bei Zweitwohnungen (Ferienwohnungen) stets betont, dass sich in einem solchen Fall die Frage der Liebhaberei stelle. Es sei zu prüfen, ob der Steuerpflichtige trotz ständiger Werbungskostenüberschüsse in einem überschaubaren Zeitraum einen Gesamtüberschuss der Einnahmen über die Werbungskosten erzielen könne22. Zu einer solchen Prüfung kam es – soweit ersichtlich – in der Vergangenheit jedoch nicht. Denn der BFH vertrat in seiner früheren Rechtsprechung23 die Auffassung, dass bei teils selbstgenutzten und teils vermieteten Ferienwohnungen zur Selbstnutzung auch der Zeitraum (die Leerstandszeit) gehöre, in dem die Ferienwohnung weder vermietet noch selbst bewohnt werde, sie dem Steuerpflichtigen aber zur jederzeitigen Nutzung zur Verfügung stehe. Dies sei jedenfalls dann der Fall, wenn er sie selbst vermiete oder sich bei der Vermietung über eine Feriendienstorganisation die Entscheidung, die Wohnung selbst zu nutzen, vorbehalte, z. B. weil er nach Belieben Eigennutzung anmelden, Sperrzeiten aussprechen und selbst Gäste einweisen
__________ 16 IX R 80/94, BStBl. II 1998, 771; ebenso z. B. BFH v. 27.7.1999 – IX R 64/96, BStBl. II 1999, 826; v. 21.8.2001 – IX R 45/98, BFH/NV 2002, 22; zum Streit um diese Rechtsprechung, siehe z. B. Heuermann in Blümich, § 21 EStG Rz. 151 f.; Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 21 EStG Rz. 70 f., jeweils m. w. N. 17 Siehe dazu z. B. Spindler in FS Korn (Fn. 1), S. 166 (168). 18 BFH v. 30.9.1997 – IX R 80/94, BStBl. II 1998, 771 (772 f.): siehe dazu z. B. Spindler in FS Korn (Fn. 1), S. 166 (169 f.). 19 Siehe dazu BFH v. 30.9.1997 – IX R 80/94, BStBl. II 1998, 771 (773). 20 Z. B. BFH v. 22.1.1980 – VIII R 134/78, BStBl. II 1980, 447; v. 21.10.1980 – VIII R 81/79, BStBl. II 1981, 452. 21 Z. B. BFH v. 31.3.1992 – IX R 299/87, BFH/NV 1992, 656; v. 3.5.1994 – IX R 73/90, BFH/NV 1995, 194. 22 BFH-Urteil v. 13.8.1996 – IX R 48/94, BStBl. II 1997, 42. 23 Siehe dazu z. B. BFH v. 25.6.1991 – IX R 7/85, BStBl. II 1992, 24; v. 30.7.1991 – IX R 49/90, BStBl. II 1992, 27; v. 12.9.1995 – IX R 117/92, BStBl. II 1996, 355; v. 13.8.1996 – IX R 48/94, BStBl. II 1997, 42; v. 15.10.1996 – IX R 81–82/94, BStBl. II 1997, 496.
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Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung bei Ferienwohnungen
könne24. Ob und für welchen Zeitraum die Ferienwohnung dem Steuerpflichtigen zur Verfügung stehe, sei weitgehend die Frage der dem Finanzgericht vorbehaltenen tatsächlichen Würdigung25. Die Würdigung bestätigte der BFH allerdings auch in Fällen, in denen die Steuerpflichtigen (nach dem mitgeteilten Sachverhalt) vorgebracht hatten, die in Eigenregie vermietete Ferienwohnung selbst nur zum Reinigen und Renovieren aufgesucht zu haben26. Das Ergebnis war, dass die Frage der Liebhaberei bei teils selbstgenutzten und teils vermieteten Ferienwohnungen in aller Regel kaum Bedeutung erlangte27; denn die das gesamte Gebäude betreffenden Werbungskosten wurden nur anteilig für die Zeit der Vermietung berücksichtigt und überstiegen in der Regel nicht die Einnahmen28. Einen Schritt in die Zukunft brachten dann zwei Entscheidungen aus dem Jahre 2000, die (nach den tatsächlichen Feststellungen der jeweiligen Vorinstanz) an wechselnde Feriengäste vermietete und in der übrigen Zeit ausschließlich zur Vermietung an Feriengäste bereitgehaltene Ferienwohnungen im ansonsten selbstgenutzten Haus betrafen. Der IX. Senat des BFH entschied29, in einem solchen Fall sei die Leerstandszeit nicht der Eigennutzung zuzurechnen und außerdem nach den Grundsätzen des Urteils v. 30.9.1997 (siehe Abschn. II. 1. b am Ende) ohne Prüfung von der Einkünfteerzielungsabsicht auszugehen. 2. Auffassung der Finanzgerichte, der Finanzverwaltung und in der Literatur a) Finanzgerichte Die Meinung der Finanzgerichte zur Totalüberschussprognose reichte von einem Prognosezeitraum von 20 Jahren30, 25 Jahren31, 30 Jahren32, 50 Jahren33,
__________ 24 Z. B. BFH v. 12.9.1995 – IX R 117/92, BStBl. II 1996, 355. 25 Z. B. BFH v. 25.6.1991 – IX R 7/85, BStBl. II 1992, 24; v. 12.9.1995 – IX R 117/92, BStBl. II 1996, 355; v. 13.8.1996 – IX R 48/94, BStBl. II 1997, 42. 26 Z. B. BFH v. 30.7.1991 – IX R 49/90, BStBl. II 1992, 27. 27 Der IX. Senat des BFH hat z. B. in den Urteilen v. 31.3.1992 – IX R 299/87, BFH/NV 1992, 656; v. 7.6.1994 – IX R 125/92, BFH/NV 1994, 858; v. 13.8.1996 – IX R 48/94, BStBl. II 1997, 42, der Vorinstanz jeweils im Rahmen einer Zurückverweisung aufgegeben, (auch) die Frage der Liebhaberei zu prüfen. 28 Siehe z. B. den mitgeteilten Sachverhalt in BFH v. 6.11.2001 (Fn. 2); vgl. dazu auch Roemer, INF 1996, 522 (523). 29 BFH v. 21.11.2000 – IX R 37/98, BStBl. II 2001, 705; v. 21.11.2000 – IX R 69/96, BFH/NV 2001, 754. 30 Z. B. FG Baden-Württemberg v. 31.8.1999 – 4 K 143/96, EFG 1999, 1226 (nachgehend BFH v. 6.11.2001 – IX R 63/99, n. v.); Schleswig-Holsteinisches FG v. 28.6.2000 – I 210/99 (V), EFG 2000, 1079 (nachgehend BFH v. 6.11.2001 – IX R 64/00, n. v.); Schleswig-Holsteinisches FG v. 14.9.2000 – III 1552/97, EFG 2001, 212 (aufgehoben durch BFH v. 6.11.2001, BStBl. II 2002, 726. 31 Z. B. Hessisches FG v. 30.9.1996 – 2 K 2970/95, EFG 1997, 71 (aufgehoben durch BFH v. 27.7.1999 – IX R 64/96, BStBl. II 1999, 826). 32 Z. B. FG Hamburg v. 1.12.1999 – V 102/96, EFG 2000, 1076 (nachgehend BFH v. 6.11.2001 – 27/00, n. v.). 33 Z. B. FG Berlin v. 15.4.1997 – VII 47/95, EFG 1998, 307, rkr.
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50 bis 70 Jahren34, deutlich mehr als 70 Jahren35 oder – wie die Finanzverwaltung (siehe Abschn. II. 2. b) – bis zu 100 Jahren36. Die Rechtsprechung des BFH zur Zuordnung der Leerstandszeiten (siehe Abschn. II. 1. c) wurde von einigen Finanzgerichten (als klare und praktikable Lösung) begrüßt37, andere lehnten sie ab und rechneten die Leerstandszeiten (unter Billigung der Auffassung der Finanzverwaltung) nicht der Selbstnutzung zu38 oder suchten eigene Abgrenzungsmöglichkeiten39. b) Finanzverwaltung Die Finanzverwaltung legte bei der Prüfung der Einkünfteerzielungsabsicht bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung die voraussichtliche Nutzungsdauer eines Gebäudes und damit 100 Jahre zugrunde40. Die Rechtsprechung des BFH zur Zuordnung der Leerstandszeiten (siehe Abschn. II. 1. c) übernahm sie nur mit Einschränkungen. Nach dem BMF-Schreiben v. 4.5.199441 waren auch bei der Eigenvermietung durch einen Steuerpflichtigen die Leerstandszeiten einer Ferienwohnung ausnahmsweise nicht der Eigennutzung zuzurechnen, wenn der Steuerpflichtige die Wohnung weder selbst nutzte noch
__________ 34 FG Düsseldorf v. 11.11.1993 – 8 K 401/90 E, EFG 1994, 358, rkr., m. w. N. 35 FG Düsseldorf v. 12.12.1996 – 15 K 1932/91 E, EFG 1997, 667, rkr. 36 Z. B. Niedersächsisches FG v. 1.12.1980 – IX 284/75, EFG 1981, 454, rkr.; FG Hamburg v. 11.12.1995 – V 87/93, EFG 1996, 469, rkr. 37 Z. B. FG Münster v. 12.10.1995 – 14 K 1906/93 E, EFG 1996, 262, rkr.; FG Münster v. 25.4.1997 – 4 K 5242/94 F, EFG 1998 S. 300, rkr.; FG Düsseldorf v. 19.11.1998 – 10 K 2221/96 E, EFG 1999, 231, rkr. 38 Z. B. FG Münster v. 17.8.1993 – 1 K 2593/93 E, EFG 1994, 21, rkr. – bei Vermietung an 218 Tagen im Jahr nahezu lückenlos während der ganzen Saison; FG Hamburg v. 11.12.1995 – V 87/93, EFG 1996, 469, rkr. – bei zwei Ferienwohnungen an demselben Ort; FG Münster v. 30.11.1995 – 14 K 1728/94 E, EFG 1996, 470, rkr. – bei zwei nebeneinander liegenden Ferienwohnungen; Hessisches FG v. 6.12.1995 – 13 K 1708/95, EFG 1996, 806, rkr. – Vermietung an 149 Tagen nahezu über die gesamte Saison, Selbstnutzung nur an 17 Tagen in der für diesen Ferienort nicht attraktiven Frühjahrs- und Winterszeit. 39 Z. B. Schleswig-Holsteinisches FG v. 3.9.1997 – I 1270/94, EFG 1998, 301, rkr. Bei geringfügiger Eigennutzung außerhalb der Saison und nach dem Gesamtbild im Vordergrund stehender Vermietung keine Zurechnung der Leerstandszeiten zur Selbstnutzung; Niedersächsisches FG v. 3.3.1998 – VII 533/97, EFG 1999, 233 (aufgehoben durch BFH v. 6.11.2001 – IX R 2/99, BFH/NV 2002, 771) – Aufteilung der nutzungsabhängigen Werbungskosten im Verhältnis der tatsächlichen Vermietung zur durchschnittlichen Vermietbarkeit, denn bei einer Ferienwohnung sei die Nutzungswahrscheinlichkeit (durch Vermietung) typischerweise auf einen Teil des Jahres beschränkt. Lediglich die saisonunabhängig zu leistenden Schuldzinsen seien auf das gesamte Kalenderjahr zu verteilen. 40 BMF-Schreiben v. 23.7.1992 – IV B 3 – S 2253 – 29/92, BStBl. I 1992, 434. 41 IV B 3 – S 2253 – 34/94, BStBl. I 1994, 285, unter 2. 2. 2.
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unentgeltlich überlassen hatte und seine (auch während der Leerstandszeit bestehende) Vermietungsabsicht glaubhaft machte42. c) Literatur In der Literatur reichten die Meinungen zum Prognosezeitraum von 10 Jahren43, 20 oder 25 Jahren44, 25 Jahren45, 50 Jahren46, 50 bis 70 Jahren47, regelmäßig ca. 100 Jahren48 bis zu den Aussagen, dass keine ins Detail gehende Berechnung erfolgen müsse, sondern eine grobe Pauschalprognose genüge49 oder, dass eine Prognose im Grunde nicht machbar und sachgerecht sei, weil sie weitgehend spekulativ bleiben müsse50. Die die Leerstandszeiten betreffende Rechtsprechung des BFH (siehe Abschn. II. 1. c) wurde in der Literatur nahezu einhellig abgelehnt. Sie zwinge den Steuerpflichtigen, zur Vermeidung der Zurechnung der Leerstandszeiten zur Selbstnutzung seine Überschüsse durch Einschalten eines kostspieligen Vermittlers zu schmälern51. Charakteristisch für eine Ferienwohnung sei, dass sie gewisse Zeiten innerhalb des Jahres leer stehe52; ebenso charakteristisch sei deshalb aber auch, dass in der kürzeren Vermietungszeit – bei einer passablen Auslastung53 – höhere Einnahmen zu erzielen seien als bei einer Dauervermietung54. Eine Aufteilung der Leerstandszeiten im Wege der Schätzung sei sachgerechter.
__________ 42 Dies wurde insbesondere angenommen, wenn – die Ferienwohnung in der (regional) unterschiedlichen Saison mit Ausnahme eines kurzzeitigen Leerstands nahezu durchgängig vermietet wurde und die tatsächliche Vermietungsdauer mindestens 100 Tage betrug; – der Steuerpflichtige an demselben Ort mehr als eine Ferienwohnung hatte und nur eine von diesen zu eigenen Wohnzwecken oder durch unentgeltliche Überlassung nutzte. Hiervon konnte ausgegangen werden, wenn beispielsweise Ausstattung und Größe einer der Wohnungen auf die besonderen Verhältnisse des Steuerpflichtigen zugeschnitten war. Die Leerstandszeiten der anderen Ferienwohnung(en) war(en) in einem solchen Fall nicht als Eigennutzung zu werten. 43 Paus, DStZ 1985, 450 (451 f.). 44 Mellinghoff in Kirchhof, 2. Aufl. 2002, § 21 EStG Rz. 25. 45 Grube, DB 1991, 2220. 46 Jurkat, GmbHR 1985, 86 (90); Wollny, DStZ 1985, 107 (111). 47 Urbahns/Becker, INF 1999, 673 (676). 48 Hergarten, BB 1984, 2121 (2123); Jakob/Hörmann, FR 1989, 665 (674); Horlemann, DStZ 1993, 38 (41); Lang, FR 1997, 201 (207); Voos, DStR 1999, 877 (878); Seeger in Schmidt, 20. Aufl. 2001, § 2 EStG Rz. 30. 49 Vgl. dazu im Einzelnen Ebling in FS Offerhaus, 1999, S. 567 (578 f.). 50 Pezzer, StuW 2000, 457 (460 f.). 51 Lt. Schuler, DB 1993, 1318 betrug die Provision ca. 25 v. H. der Mieteinnahmen; lt. Schempp/Urbahns, INF 1998, 422 (425) betrug sie zwischen 10 v. H. und 20 v. H. der Mieteinnahmen. 52 Schuler, DB 1993, 1318; Schempp/Urbahns, INF 1998, 422 (425). 53 Leu, DStZ 2000, 129 (131). 54 Schuler, DB 1993, 1318.
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III. Rechtsprechungsänderung im Jahre 2001 1. Entscheidungen des IX. Senats des BFH In seinem Grundsatzurteil v. 6.11.200155 und weiteren an diesem Tage ergangenen Entscheidungen56 hat der IX. Senat des BFH für die Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung bei Ferienwohnungen unter Änderung der früheren Rechtsprechung neue Grundsätze aufgestellt und in den folgenden Jahren wiederholt bekräftigt57. Er hat dabei zwischen den ohne und den mit Selbstnutzung an wechselnde Feriengäste vermieteten Ferienwohnungen unterschieden und außerdem die Kriterien für die (im Einzelfall notwendig werdende) Totalüberschussprognose festgelegt. Die Grundsätze lauten wie folgt: a) Ohne (Vorbehalt der) Selbstnutzung vermietete Ferienwohnungen Nutzt der Steuerpflichtige eine Ferienwohnung nicht selbst, sondern vermietet sie ausschließlich an wechselnde Feriengäste und hält sie in der übrigen Zeit hierfür bereit, ist ohne weitere Prüfung von dem Vorliegen einer Einkünfteerzielungsabsicht auszugehen. Dabei ist unerheblich, ob der Steuerpflichtige die Ferienwohnung in Eigenregie oder durch Einschalten eines Dritten vermietet58. Die zur Dauervermietung aufgestellten Grundsätze (siehe Abschn. II. 1. b am Ende) gelten damit (auch) bei Ferienwohnungen. Ihre Anwendung ist allerdings schon dann ausgeschlossen, wenn eine Selbstnutzung lediglich vorbehalten ist (siehe Abschn. III. 1. c). Hat der Steuerpflichtige in vergangenen Veranlagungszeiträumen ohne Selbstnutzung vermietet und geht er anschließend zur Vermietung und Selbstnutzung über oder behält er sich die Selbstnutzung zumindest vor, ist ab diesem Zeitpunkt die Einkünfteerzielungsabsicht zu prüfen59. b) Vermietete und (auch) selbstgenutzte Ferienwohnungen Vermietet der Steuerpflichtige die Ferienwohnung nicht nur an wechselnde Feriengäste, sondern nutzt er sie auch selbst, ist diese Art der Nutzung der Immobilie schon für sich allein Beweisanzeichen für eine (auch) private, nicht
__________
55 Siehe Fn. 2. 56 BFH v. 6.11.2001 – IX R 25/00, BFH/NV 2002, 764; v. 6.11.2001 – IX R 35/00, BFH/NV 2002, 765; v. 6.11.2001 – IX R 85/00, BFH/NV 2002, 767; v. 6.11.2001 – IX R 34/97, BFH/NV 2002, 768; v. 6.11.2001 – IX R 84/97, BFH/NV 2002, 769; v. 6.11.2001 – IX R 38/98, BFH/NV 2002, 770; v. 6.11.2002 – IX R 2/99, BFH/NV 2002, 771; v. 6.11.2001 – IX R 43/99, BFH/NV 2002, 772; v. 6.11.2002 – IX R 44/99, BFH/NV 2002, 773. 57 Z. B. BFH v. 14.5.2002 – IX R 52/01, BFH/NV 2002, 1552; v. 25.6.2002 – IX R 61/01, BFH/NV 2002, 1442; v. 16.7.2002 – IX R 6/01, BFH/NV 2002, 1454; v. 20.8.2002 – IX R 70/01, BFH/NV 2003, 453; v. 17.9.2002 – IX R 11/02, BFH/NV 2003, 155; v. 17.9.2002 – IX R 63/01, BFH/NV 2003, 454; v. 5.11.2002 – IX R 50/01, BFH/NV 2003, 598; v. 29.8.2007 – IX R 48/06, BFH/NV 2008, 34; v. 22.9.2009 – IX B 82/09, BFH/NV 2010, 36. 58 BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 b. 59 BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 b.
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Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung bei Ferienwohnungen
mit der Erzielung von Einkünften zusammenhängende Veranlassung der Aufwendungen60. Deshalb ist in derartigen Fällen die Einkünfteerzielungsabsicht zu prüfen61. Dies hat durch eine in der Regel einen Zeitraum von dreißig Jahren umfassende Prognose zu geschehen. c) Selbstnutzung/Vorbehalt der Selbstnutzung Eine Selbstnutzung liegt vor, wenn der Steuerpflichtige die Ferienwohnung auch zur privaten Erholung nutzt oder vorhält62 oder sie zu diesem Zwecke Angehörigen, Freunden oder sonstigen Dritten unentgeltlich überlässt63. Der Selbstnutzung steht ein entsprechender vertraglicher Vorbehalt gleich; es kommt dann nicht darauf an, ob eine Nutzung tatsächlich erfolgt64. Der Vorbehalt kann sich auch aus einer vorformulierten Vertragsbedingung ergeben65. Keine Selbstnutzung sind kurzfristige Aufenthalte in der Ferienwohnung anlässlich eines Mieterwechsels (z. B. Endreinigung, Schlüsselübergabe) oder zur Erhaltung der Mietsache (z. B. Beseitigung von Schäden, die Mieter verursacht haben; Durchführung von Schönheitsreparaturen)66. d) Totalüberschussprognose aa) Allgemeines/Prognosezeitraum Bei der Totalüberschussprognose handelt es sich um eine Schätzung der im Prognosezeitraum voraussichtlich zu erwartenden Einnahmen und Ausgaben; die Ermittlung erfolgt nach den einkommensteuerrechtlichen Vorschriften67. Der Prognose ist zugunsten des Steuerpflichtigen typisierend eine Zeitspanne von 30 Jahren als noch überschaubar zugrunde zu legen68. Bei dieser bleibt es auch, wenn der Steuerpflichtige die Vermietung an wechselnde Feriengäste mit Einkünfteerzielungsabsicht begonnen und sich erst später unter dem Eindruck der zwischenzeitlich erkannten Unwirtschaftlichkeit der Vermietungstätigkeit um den Verkauf bemüht hat69. Hat er allerdings bereits beim Erwerb
__________ 60 61 62 63 64 65 66
67 68 69
BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 c, m. w. N. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 c. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 c. BFH v. 6.11.2001 – IX R 2/99, BFH/NV 2002, 771 (772); v. 20.8.2002 – IX R 70/01, BFH/NV 2003, 453 (454). BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 b; ebenso z. B. BFH v. 16.3.2004 – IX B 140/03, BFH/NV 2004, 957; v. 9.3.2006 – IX B 143/05, BFH/NV 2006, 1281. BFH v. 7.6.2002 – IX B 15/02, BFH/NV 2002, 1300 (1301). BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 b, m. w. N.; BFH v. 6.11.2001 – IX R 38/98, BFH/NV 2002, 770; BFH v. 18.12.2003 – IX B 114/03, n. v. – ein Aufenthalt an 14 Tagen mit den Kindern ist weder kurzfristig noch ausschließlich durch die Vermietung veranlasst. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 e dd, f und h. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 e cc. BFH v. 14.1.2003 – IX R 74/00, BFH/NV 2003, 752 (754).
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ernsthaft eine Veräußerung in Betracht gezogen und später vorgenommen, gilt der kürzere Zeitraum der tatsächlichen Vermögensnutzung70. bb) Berechnungsgrundlagen Trägt der Steuerpflichtige keine ausreichenden objektiven Umstände über eine bereits im (jeweiligen) Streitjahr ersichtliche zukünftige Entwicklung der Mieteinnahmen und Werbungskosten vor, so ist für die Prognose der Durchschnitt der über einen repräsentativen Zeitraum in der Vergangenheit (in der Regel den letzten fünf Veranlagungszeiträumen) erzielten Einnahmen und die in diesem Zeitraum auf die Vermietung (d. h. auf die tatsächlichen Vermietungstage und auf die der Vermietung zuzurechnende Zeit des Bereithaltens/Leerstandes) entfallenden Werbungskosten zu berücksichtigen71. Der Berechnung sind (damit) nur die im jeweiligen Entscheidungsjahr (Streitjahr) für den Steuerpflichtigen objektiv erkennbaren Fakten und Erfahrungswerte zugrunde zu legen72. Legt dieser dar, dass er auf die in der Vergangenheit entstandenen Werbungskostenüberschüsse reagiert und die Art und Weise der Vermietung geändert hat, ist der Schätzung der Durchschnitt der Einnahmen und Ausgaben der zukünftigen (z. B. fünf) Veranlagungszeiträume zugrunde zu legen, in denen sich die im (jeweiligen) Streitjahr objektiv erkennbar angelegten Maßnahmen erstmals ausgewirkt haben. Die sich so ergebenden Einnahmen und Ausgaben sind auf den Rest des (mit dem Erwerb oder der Herstellung der Ferienwohnung beginnenden) Prognosezeitraums hochzurechnen73. Für die Schätzung der (mit dem Alter der Immobilie erfahrungsgemäß zunehmenden) Aufwendungen zur Instandhaltung der Ferienwohnung kann auf die Wertansätze (Höchstbeträge) der Zweiten Berechnungsverordnung (in der bei Beginn der Investition in die Ferienimmobilie geltenden Fassung) zurückgegriffen werden. Die AfA auf in der Ferienwohnung enthaltene Einrichtungsgegenstände ist im Regelfall nach den Sätzen der amtlichen AfA-Tabelle Gastgewerbe zu bemessen74. Da es sich bei der Totalüberschussprognose um eine bloße Schätzung handelt, sind inflationsbedingte Erhöhungen der Einnahmen und Werbungskosten nicht zu berücksichtigen75. Den sich aus dem Zeitraum von 30 Jahren ergebenden Unsicherheitsfaktoren ist vielmehr dadurch Rechnung zu tragen, dass bei der Gesamtsumme der geschätzten Einnahmen ein Sicherheitszuschlag von 10 v. H. und bei der Gesamtsumme der geschätzten Ausgaben ein Sicherheitsabschlag von 10 v. H. vorgenommen wird76.
__________ 70 71 72 73 74 75 76
BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 2. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 e dd. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 e. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 g. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 e ee. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 e dd. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 f.
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cc) Aufteilung der Ferienwohnungsaufwendungen Die dem Vermieten unmittelbar zuordenbaren Aufwendungen (z. B. Reinigungskosten, Entgelte für die Aufnahme in das Gastgeberverzeichnis, Zeitungsinserate, Anschaffungskosten für Wirtschaftsgüter, die ausschließlich der Vermietung dienen) sind voll in die Prognose einzubeziehen77. Dagegen werden die durch die Selbstnutzung und die Vermietung veranlassten Aufwendungen (z. B. Schuldzinsen, Haus- und Grundbesitzabgaben, Gebäude-AfA, Versicherungsbeiträge) nur im zeitlichen Verhältnis der tatsächlichen Selbstnutzung zur tatsächlichen Vermietung berücksichtigt78. dd) Zuordnung der Leerstandszeiten der Ferienwohnung Bei einer vorbehaltenen Selbstnutzung (siehe Abschn. III. 1. c) ist nur diese Zeit der Selbstnutzung und im Übrigen die Leerstandszeit der Vermietung zuzurechnen79. Ist eine Selbstnutzung jederzeit möglich, sind die Leerstandszeiten entsprechend dem Verhältnis der tatsächlichen Selbstnutzung zur tatsächlichen Vermietung aufzuteilen80. Diese Aufteilung gilt – bei teils selbstgenutzten und teils vermieteten Ferienwohnungen (siehe Abschn. III. 1. b u. c) – auch für die Zeiten, in denen sich der Steuerpflichtige zur Vornahme von Schönheitsreparaturen in der Ferienwohnung aufhält81. Steht nach der Überzeugung des Finanzgerichts die (jederzeit mögliche) Selbstnutzung fest, nicht aber deren Umfang, ist die nach Abzug der Vermietungstage verbleibende Zeit zu 50 v. H. der Vermietung zuzurechnen und der Rest als Selbstnutzung zu behandeln82. ee) Berücksichtigung von Subventions- und Lenkungsnormen Da der voraussichtliche „Totalüberschuss“ aus Vermietung und Verpachtung nach einkommensteuerrechtlichen Vorschriften zu ermitteln ist, ist die Gebäudeabnutzung in der Prognose mit der gemäß § 7 Abs. 4 EStG in Betracht kommenden „Normal-AfA“ zu berücksichtigen und steuerliche Subventionsund Lenkungsnormen sind außer Ansatz zu lassen83. 2. Stellungnahmen zu der neuen Rechtsprechung a) Reaktion der Finanzverwaltung aa) BMF-Schreiben vom 14.10.2002 Die Finanzverwaltung hat – nach längerem Zögern – die neuere Rechtsprechung des BFH mit Einschränkungen angewandt. Sie übernahm im BMF-Schreiben
__________ 77 78 79 80 81 82 83
BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 e aa. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 e bb. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 e bb (1). BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 e bb (2). BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 b. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 e bb (4). BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726, unter II 1 e ff.
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v. 14.10.200284 die neuen Rechtsprechungsgrundsätze, vertrat aber zur ausschließlichen Vermietung einer Ferienwohnung die Auffassung, dass auch in diesem Fall die Einkünfteerzielungsabsicht zu prüfen sei, wenn sich deren Fehlen aus besonderen Beweisanzeichen ergebe. Zur Begründung führte die Finanzverwaltung an, der BFH habe im Urteil v. 6.11.200185 auf die Grundsätze des BFH-Urteils v. 30.9.1997 (siehe Abschn. II. 1. b am Ende) Bezug genommen und so seine (die Nichtprüfung der Einkünfteerzielungsabsicht betreffende) Aussage eingeschränkt. Besondere Beweisanzeichen für das Fehlen der Einkünfteerzielungsabsicht seien insbesondere gegeben, wenn – die Einkünfteerzielungsabsicht beim Vermieten in Eigenregie nicht oder nicht überzeugend nachgewiesen werden könne, – sich die Jahre mit ausschließlicher Vermietung und Jahre mit gelegentlicher Selbstnutzung abwechselten, – Höhe und Dauer der Werbungskostenüberschüsse (auch bei ausschließlicher Vermietung über eine Vermittlungsorganisation) der Annahme der Einkünfteerzielungsabsicht widersprächen, insbesondere wenn – trotz nachgewiesener Vermietungsbemühungen mehrjährig keine Vermietung stattfinde, – die Anzahl der Vermietungstage unter dem Durchschnitt der saisonalen Vermietungen am Ferienort liege, – längere Leerstandszeiten aufgrund unterbliebener Vermietungsbemühungen gegeben seien. Zur Selbstnutzung ist in dem Schreiben ausgeführt, sie sei nicht gegeben bei kurzfristigen Aufenthalten des Steuerpflichtigen in der Ferienwohnung zu Wartungsarbeiten, zur Schlüsselübergabe an Feriengäste, Reinigung bei Mieterwechseln, allgemeiner Kontrolle, Beseitigung von durch Mieter verursachten Schäden, Durchführung von Schönheitsreparaturen oder zur Teilnahme an Eigentümerversammlungen. bb) Gegenreaktion des BFH und als Folge das BMF-Schreiben vom 20.11.2003 Der IX. Senat des BFH reagierte auf das BMF-Schreiben v. 14.10.2002 (siehe Abschn. III. 2. a aa) mit dem Urteil v. 5.11.200286. Er bekräftigte, dass nach seiner Auffassung bei einer ohne Selbstnutzung vermieteten Ferienwohnung ohne weitere Prüfung von der Einkünfteerzielungsabsicht des Steuerpflichtigen auszugehen sei. Dies gelte selbst bei einer geringen Anzahl von Vermietungstagen, denn diese allein sagten noch nichts über das Fehlen einer auf Dauer angelegten Vermietung aus87. Die Finanzverwaltung übernahm daraufhin im BMF-Schreiben v. 20.11.200388 die neuen Rechtsprechungsgrundsätze. Zur Anwendung in der Praxis fügte sie
__________ 84 85 86 87 88
IV C 3 – S 2253 – 77/02, BStBl. I 2002, 1039. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726. IX R 18/02, BStBl. II 2003, 914. BFH v. 5.11.2002 – IX R 18/02, BStBl. II 2003, 914 (915). IV C 3 – S 2253 – 98/03 II, BStBl. I 2003, 640.
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hinzu, von der ausschließlichen Vermietung einer Ferienwohnung könne ausgegangen werden, wenn der Steuerpflichtige folgende Umstände glaubhaft mache: – Der Steuerpflichtige habe die Entscheidung über die Vermietung der Ferienwohnung einem ihm nicht nahe stehenden Vermittler (überregionaler Reiseveranstalter, Kurverwaltung o. a.) übertragen und eine Eigennutzung vertraglich für das gesamte Jahr ausgeschlossen. – Die Ferienwohnung befinde sich im ansonsten selbst genutzten Zwei- oder Mehrfamilienhaus des Steuerpflichtigen oder in unmittelbarer Nähe zu seiner selbst genutzten Wohnung. Voraussetzung sei jedoch, dass die selbst genutzte Wohnung nach Größe und Ausstattung den Wohnbedürfnissen des Steuerpflichtigen entspreche. Nur wenn die selbst genutzte Wohnung die Möglichkeit zur Unterbringung von Gästen biete, könne davon ausgegangen werden, dass der Steuerpflichtige die Ferienwohnung nicht selbst nutze. – Der Steuerpflichtige habe an demselben Ort mehr als eine Ferienwohnung und nutze nur eine dieser Ferienwohnungen für eigene Wohnzwecke oder in Form der unentgeltlichen Überlassung. Hiervon könne ausgegangen werden, wenn Ausstattung und Größe einer Wohnung auf die besonderen Verhältnisse des Steuerpflichtigen zugeschnitten seien. – Die Dauer der Vermietung der Ferienwohnung entspreche zumindest dem Durchschnitt der Vermietungen in der am Ferienort üblichen Saison. In den übrigen Fällen müsse der Steuerpflichtige das Fehlen der Selbstnutzung schlüssig darlegen und gegebenenfalls nachweisen. Bei einer zu geringen Zahl der Vermietungstage müsse der Steuerpflichtige die Absicht einer auf Dauer angelegten Vermietungstätigkeit durch entsprechend gesteigerte Werbemaßnahmen – z. B. durch häufige Zeitungsanzeigen – nachweisen. Zum Fehlen der Selbstnutzung bei kurzfristigen Aufenthalten des Steuerpflichtigen in der Ferienwohnung ist über die bereits im BMF-Schreiben v. 14.10.2002 enthaltenen Ausführungen (siehe Abschn. III. 2. a aa) hinaus noch ergänzt, dass im Falle der Begleitung durch Familienangehörige oder Dritte oder bei einem mehr als einen Tag dauernden Aufenthalt die dafür maßgebenden Gründe zu erläutern seien. Dabei sei darzulegen und nachzuweisen, dass der (mehrtägige) Aufenthalt während der normalen Arbeitszeit vollständig mit Arbeiten für die Wohnung ausgefüllt gewesen sei. Dies gelte insbesondere dann, wenn es sich um Aufenthalte während der am Ferienort üblichen Saison handele. cc) BMF-Schreiben vom 8.10.2004 Im BMF-Schreiben v. 8.10.200489 hat sich die Finanzverwaltung umfassend zu der Rechtsprechung des IX. Senats des BFH zur Einkünfteerzielung bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung geäußert und dabei u. a. auch
__________ 89 IV C 3 – S 2253 – 91/04, BStBl. I 2004, 933 i. V. m. Nr. 758 der Anlage zu BMF v. 23.4.2010 – IV A 6 – O 1000/09/10095, BStBl. I 2010, 391 (438).
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ihre im BMF-Schreiben v. 20.11.2003 (siehe Abschn. III. 2. a bb) enthaltenen Grundsätze zur Behandlung von Ferienwohnungen eingearbeitet90. b) Beurteilung durch die Finanzgerichte Die Finanzgerichte wenden – soweit ersichtlich – überwiegend die neuen Rechtsprechungsgrundsätze an91. Einige (Senate der) Finanzgerichte waren jedoch anderer Meinung und formulierten ihren Widerstand. Der Protest richtete sich (ohne Erfolg, denn die entsprechenden Urteile wurden jeweils auf die eingelegte Revision hin aufgehoben) gegen den vom IX. Senat des BFH (typisierend) für die Dauervermietung aufgestellten Grundsatz des Nichtprüfens der Einkünfteerzielungsabsicht (siehe Abschn. II. 1. b am Ende) und (damit natürlich auch) gegen dessen Anwendung bei ohne Selbstnutzung vermieteten Ferienwohnungen (siehe Abschn. III. 1. a). So vertrat das Finanzgericht Köln im Urteil v. 19.9.200292 die Auffassung, der im Randbereich offenen und demnach Ausnahmen zulassenden Formulierung im BFH-Urteil v. 6.11.200193 sei zu entnehmen, dass die Überprüfung der Einkünfteerzielungsabsicht anhand einer Prognose nicht generell ausgeschlossen, sondern zumindest in Extremfällen zulässig sei. Ein solcher Ausnahmefall liege bei der Vermietung einer Ferienwohnung vor, wenn auch bei Außerachtlassung von Zinsaufwendungen und AfA jährlich erhebliche Werbungskostenüberschüsse entstünden und eine Zukunftsprognose deshalb ergebe, dass auch in kommenden Jahren selbst dann kein Überschuss erzielt werde, wenn es dem Steuerpflichtigen wider Erwarten gelingen sollte, den Vermietungserfolg zu steigern. Auch das Finanzgericht Münster entschied in zwei Urteilen v. 11.6.200394, dass in besonders gelagerten Ausnahmefällen eine Prognose geboten sei. Ein solcher Ausnahmefall liege dann vor, wenn über einen längeren Zeitraum die vereinnahmten Mieten nicht einmal ausreichten, die laufenden Bewirtschaftungskosten der Ferienwohnung zu decken. In zwei weiteren Urteilen v. 20.1. 200495 und v. 8.11.200596 sah das Finanzgericht Münster den eine Prognose rechtfertigenden Ausnahmefall in einem krassen Missverhältnis zwischen Miet-
__________ 90 Vgl. BMF-Schreiben v. 8.10.2004 – IV C 3 – S 2253 – 91/04, BStBl. I 2004, 933, Tz. 16 f. 91 Z. B. Niedersächsisches FG v. 3.12.2003 – 2 K 395/01, EFG 2004, 731; FG Hamburg v. 23.5.2005 u. 13.7.2005 – V 202/99, n. v.; FG Köln v. 23.6.2005 – 10 K 660/05, StEd 2007, 213; Niedersächsisches FG v. 25.2.2010 – 11 K 100/08, StEd 2010, 322. 92 10 K 6870/97, EFG 2003, 91; aufgehoben durch BFH v. 26.10.2004 – IX R 57/02, BStBl. II 2005, 388. 93 Siehe Fn. 2. 94 1 K 6534/99 E, F und 1 K 4464/99 F (Leitsatz jeweils in EFG 2003, 1698); 1 K 6534/99 E, F aufgehoben durch BFH v. 15.2.2005 – IX R 53/03, BFH/NV 2005, 1059; 1 K 4464/99 F aufgehoben durch BFH v. 15.2.2005 – IX R 54/03, n. v. 95 6 K 5226/00 E, EFG 2004, 1213; aufgehoben durch BFH v. 19.4.2005 – IX R 15/04, BStBl. II 2005, 754. 96 6 K 6518/02 E, EFG 2006, 496; aufgehoben durch BFH v. 24.8.2006 – IX R 15/06, BStBl. II 2007, 256.
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einnahmen und Schuldzinsen. Dies entsprach auch der Auffassung des Hessischen Finanzgerichts im Urteil v. 18.9.200697. Die Argumentation der Finanzgerichte ist am ausführlichsten im (bereits genannten) Urteil des Finanzgerichts Münster v. 8.11.2005 dargestellt. Sie geht – zusammengefasst – dahin, dass sich aus § 21 EStG und § 2 Abs. 1 Nr. 6 EStG kein die Typisierung der Einkünfteerzielungsabsicht rechtfertigender Grundsatz herleiten lasse. Ein solcher sei auch nicht systemgerecht. Die pauschalierende und typisierende Rechtsprechung des IX. Senats des BFH stehe im Widerspruch zu den vom Großen Senat des BFH im Beschluss v. 25.6.1984 aufgestellten Grundsätzen (siehe Abschn. II. 1. a). Dem entgegnete der BFH in seinem die Vorentscheidung aufhebenden Urteil v. 24.8.200698 unter Wiederholung seiner bereits in früheren Entscheidungen dargelegten Grundsätze, es sei unerheblich, ob durch die auf Dauer angelegte Fremdvermietung tatsächlich einen Totalüberschuss zu erzielen sei. Denn zu einer dies überprüfenden Prognose komme es nicht. Es sei für die typisierende Annahme der Einkünfteerzielungsabsicht kennzeichnend, auf den typischen statt auf den verwirklichten Geschehensablauf abzustellen99. Weil diese Typisierung in § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG angelegt sei, handele es sich entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht um eine (unzulässige) Unterstellung oder unwiderlegliche Vermutung der Einkünfteerzielungsabsicht durch die Rechtsprechung, sondern um Gesetzesauslegung. Deshalb weiche der BFH mit seiner Interpretation des § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG auch nicht vom Beschluss des Großen Senats v. 25.6.1984 ab. c) Stellungnahmen in der Literatur In der Literatur stimmt der (wohl) überwiegende Teil der Autoren den neuen Rechtsprechungsgrundsätzen uneingeschränkt zu100. Ein anderer Teil auch, aber nur mit Vorbehalten101. Angegriffen wird insbesondere der auch in der Finanzgerichtsrechtsprechung herausgehobene Punkt, dass bei einer auf Dauer angelegten Vermietung und auch bei einer in vergleichbarer Weise ohne Selbstnutzung vermieteten Ferienwohnung die Einkünfteerzielungsabsicht nicht zu
__________ 97 13 K 21/04, EFG 2007, 124; aufgehoben durch BFH v. 29.8.2007 – IX R 48/06, BFH/NV 2008, 34. 98 IX R 15/06, BStBl. II 2007, 256 (257). 99 So schon BFH v. 19.4.2005 – IX R 15/04, BStBl. II 2005, 754, m. w. N. 100 Z. B. Spindler in FS Korn (Fn. 1), S. 166 (171 f.); Serafini, GStB 2002, 185; Thürmer, DB 2002, 444; ders., DStZ 2002, 855; Hoffmann, EFG 2002, 462; Bilsdorfer, SteuerStud 2002, 518; Ritzrow, EStB 2010, 19 (21 f.); Heuermann in Blümich, § 21 EStG Rz. 172 f.; Drenseck in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 21 EStG Rz. 10 f.; Mellinghoff in Kirchhof, 9. Aufl. 2010, § 21 EStG Rz. 15 f.; v. Reden in Littmann, § 21 EStG Rz. 8a f. 101 Z. B. Stein, DStZ 2004, 189; ders., DStZ 2009, 768; Credo, FR 2005, 835; ders., BB 2005, 1819; Paus, StW 2004, 66; Schalburg, StW 2008, 35; Brehm, SteuerStud 2009, 127; Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 21 EStG Rz. 70 f.
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prüfen sei102. In Sonderfällen, wenn die Vermietungstätigkeit erkennbar zu strukturellen Werbungskostenüberschüssen führe, müsse dies zulässig sein103. Das „Liebhaberei-Prüfungsverbot“ des IX. Senats des BFH sei weder vom Wortlaut des Gesetzes gedeckt noch systemgerecht. Beim Abschaffen der Nutzungswertbesteuerung (§ 21 Abs. 2 Satz 1 EStG a. F., § 21a EStG a. F.) sei zwar die Vorschrift des § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG unverändert beibehalten worden. Dies erlaube jedoch nicht den Schluss auf die Absicht des Gesetzgebers, bei der Dauervermietung die Einkünfteerzielungsabsicht ungeprüft unterstellen zu wollen. Weder aus dem Wortlaut des § 21 EStG noch aus anderen Erwägungen sei dieses vom IX. Senat des BFH angenommene Prognoseverbot herzuleiten104. § 21 EStG sei keine Sozial-, sondern eine Fiskalzwecknorm105. Dieser Zweck sei nur zu erreichen, wenn durch die Vermietungstätigkeit auf die Dauer gesehen positive Einkünfte für die Besteuerung erfasst werden könnten, was eine Prüfung der Einkünfteerzielungsabsicht bedinge106. Der IX. Senat des BFH sei mit der Einführung seiner Fiktion im Ergebnis vom zweigliedrigen Liebhabereibegriff des Großen Senats des BFH abgewichen107.
IV. Weiterentwicklung der im Jahre 2001 aufgestellten Rechtsprechungsgrundsätze 1. Entscheidungen des BFH Mit Urteil v. 26.10.2004108 entwickelte der IX. Senat des BFH seine bisherige Rechtsprechung dahin fort, dass beim Vermieten von Ferienwohnungen – in Eigenregie oder durch Beauftragung eines Dritten – die Einkünfteerzielungsabsicht des Steuerpflichtigen immer dann anhand einer Prognose nach den Grundsätzen (siehe Abschn. III. 1. d) des Urteils v. 6.11.2001109 zu überprüfen ist, wenn das Vermieten die ortsübliche Vermietungszeit von Ferienwohnungen – ohne dass Vermietungshindernisse gegeben sind – erheblich unterschrei-
__________ 102 Z. B. Stein, DStZ 2004, 189 (192 f.); ders., DStZ 2009, 768 (776 f.); Credo, FR 2005, 835 (837); ders., BB 2005, 1819 (1822 f.); Paus, StW 2004, 66 (68); Brehm, SteuerStud 2009, 127 (133 f.). 103 Stein, DStZ 2004, 189 (192 f.); Credo, FR 2005, 835 (837 f.); Brehm, SteuerStud 2009, 127 (133). 104 Stein, DStZ 2004, 189 (193 f.); ders., DStZ 2009, 768 (771); a. A. z. B. Ebling in FS Offerhaus (Fn. 49), S. 567 (572); Heuermann, StuW 2003, 101 (104); Spindler in FS Korn (Fn. 1), S. 166 (169 f.); Pezzer in GS Trzaskalik (Fn. 3), S. 239 (247 f.). 105 Stein, DStZ 2004, 189 (192 f.); ders., DStZ 2009, 768 (771); a. A. z. B. Eckhoff in DStJG 28 (2005), S. 11 (17 f.); Pezzer in GS Trzaskalik (Fn. 3), S. 239 (248). 106 Stein, DStZ 2004, 189 (192 f.); ders., DStZ 2009, 768 (771). 107 Stein, DStZ 2004, 189 (192 f.), m. w. N.; a. A. z. B. Ebling in FS Offerhaus (Fn. 49), S. 567 (569 f.); Heuermann, StuW 2003, 101 (104 f.); Pezzer in GS Trzaskalik (Fn. 3), S. 239 (245). 108 IX R 57/02, BStBl. II 2005, 388; seitdem ständige Rspr, vgl. z. B. BFH v. 15.2.2005 – IX R 53/03, BFH/NV 2005, 1059; v. 29.11.2005 – IX B 109/05, BFH/NV 2006, 719; v. 24.8.2006 – IX R 15/06, BStBl. II 2007, 256; v. 29.8.2007 – IX R 48/06, BFH/NV 2008, 34; v. 7.10.2008 – IX B 92/08, BFH/NV 2009, 22; v. 28.10.2009 – IX R 30/08, BFH/NV 2010, 850; v. 14.1.2010 – IX B 146/09, BFH/NV 2010, 869. 109 BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726.
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tet; aus Vereinfachungsgründen und um den bei einer solchen Prüfung gegebenen Unsicherheiten Rechnung zu tragen, setzte der IX. Senat des BFH die zur Prognose führende Unterschreitensgrenze – als Ergänzung zum BMF-Schreiben v. 8.10.2004 (siehe Abschn. III. 2. a cc) – bei mindestens 25 v. H. an. Zur Begründung führte er aus, das Vermieten einer Ferienwohnung sei einer auf Dauer angelegten Vermietung nur dann vergleichbar, wenn die Ferienwohnung im ganzen Jahr – bis auf die üblicherweise vorkommenden Leerstandszeiten – an wechselnde Feriengäste vermietet werde. Nur so zeige sich auch in nachprüfbarer Weise, dass die Ferienwohnung in geeigneter Form am Markt angeboten werde und alle in Betracht kommenden Interessenten berücksichtigt würden. Je mehr das Vermieten der Ferienwohnung die ortsüblichen Vermietungszeiten unterschreite, umso mehr gewinne deshalb die Frage nach den Gründen des Leerstandes an Bedeutung (in Betracht kämen z. B. einerseits Unbenutzbarkeit der Wohnung wegen Instandsetzungsarbeiten oder anderer Vermietungshindernisse; andererseits aber auch Leerstand wegen unzureichender Vermietungsbemühungen, z. B. als Ausdruck der Absicht, die Ferienwohnung letztlich nur als Vermögensanlage und/oder für eine zukünftige Selbstnutzung vorzuhalten). Da die dem Finanzgericht als Tatsacheninstanz obliegende Feststellung des ausschließlichen Vermietens der Ferienwohnung trotz der dem Steuerpflichtigen auferlegten Feststellungslast in der Praxis offensichtlich erhebliche Schwierigkeiten bereite, sei die Fortentwicklung der Rechtsprechung geboten. Im Beschluss v. 29.11.2005110 hat sich der IX. Senat des BFH zur Frage des Vermietungshindernisses geäußert. Ein solches liege vor, wenn die Ferienwohnung aus tatsächlichen Gründen (z. B. wegen einer notwendigen Renovierung oder wegen höherer Gewalt) nicht vermietet werden könne; eine allgemein schlechte Vermietbarkeit falle nicht darunter. Ein weiterer Schritt ergibt sich aus dem Urteil des IX. Senats des BFH v. 19.8. 2008111. Danach muss die Einkünfteerzielungsabsicht auch dann durch eine Prognose überprüft werden, wenn eine Ferienwohnung nicht durchweg im ganzen Jahr an wechselnde Feriengäste vermietet wird und ortsübliche Vermietungszeiten nicht festgestellt werden können. Denn in einem solchen Fall sei die Ferienwohnungsvermietung nicht mit einer auf Dauer ausgerichteten Vermietungstätigkeit vergleichbar. Die Feststellungslast für die ortsüblichen Vermietungszeiten obliege dem Steuerpflichtigen damit in gleicher Weise wie für die Voraussetzungen der Typisierung (der Einkünfteerzielungsabsicht)112. Das Urteil enthält darüber hinaus auch Aussagen zur Frage der Ortsüblichkeit der Vermietung. Danach müssen die individuellen Vermietungszeiten mit dem Durchschnitt des gesamten Ortes verglichen werden, wobei der „Ort“ nicht mit dem Gebiet einer Gemeinde identisch ist, sondern je nach Struktur des Ferienwohnungsmarktes das Gebiet einer oder mehrerer vergleichbarer Gemeinden sowie lediglich Teile davon umfassen kann113. Individuelle Vermie-
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110 IX B 109/05, BFH/NV 2006, 719 (720). 111 IX R 39/07, BStBl. II 2009, 138; ebenso BFH v. 14.1.2010 – IX B 146/09, BFH/NV 2010, 869 (870). 112 BFH v. 19.8.2008 – IX R 39/07, BStBl. II 2009, 138 (139). 113 BFH v. 19.8.2008 – IX R 39/07, BStBl. II 2009, 138 (139).
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tungszeiten anderer Vermieter sind nur dann geeignete Vergleichsobjekte, wenn diese für den jeweiligen Ort repräsentativ sind114. In diesem Zusammenhang ist auch noch das Urteil des IX. Senats des BFH v. 28.10.2009115 zu nennen. Danach ist (in Ermangelung eines der Dauervermietung vergleichbaren Sachverhaltes) eine Totalüberschussprognose auch dann erforderlich, wenn ein Ferienobjekt (Wohnung oder Haus) nur halbjährig (z. B. über die Sommersaison) vermietet werden soll und in der übrigen Zeit (z. B. während der Wintersaison) weder vermietet noch zur Vermietung bereitgehalten wird. Das Urteil stellt darüber hinaus klar, dass das Finanzgericht bei der ihm obliegenden Tatsachenwürdigung, ob ein Ferienobjekt mit oder ohne Selbstnutzung zur Vermietung angeboten wird, auch (bei objektiver Betrachtung vorhersehbare) spätere Tatsachen und Ereignisse berücksichtigen muss116. 2. Urteile der Finanzgerichte Das Niedersächsische Finanzgericht hat im Urteil v. 11.12.2006117 die weiterentwickelten Rechtsprechungsgrundsätze angewandt und u. a. zur Frage der ortsüblichen Vermietungszeiten entschieden, dass es zu Lasten des FA gehe, wenn sie in einem Ferienort nicht zuverlässig zu ermitteln seien; denn das FA trage insoweit die Feststellungslast. Diese Auffassung hat der IX. Senat des BFH in seinem die Vorentscheidung aufhebenden Urteil v. 19.8.2008118 nicht geteilt (siehe Abschn. IV. 1.). Auch das Sächsische Finanzgericht hat im Urteil v. 4.4.2008119 die weiterentwickelten Rechtsprechungsgrundsätze angewandt. Der IX. Senat des BFH hat jedoch die Vorentscheidung aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht zurückverwiesen120. Dieses zwar – ungeachtet fehlender Feststellungen zu örtlichen Vermietungszeiten im Unterschied zur regionalen Bettenauslastung – im Ergebnis zu Recht von der Notwendigkeit einer Überschussprognose ausgegangen. Die Prognose sei jedoch nicht nach den im BFH-Urteil v. 6.11.2001121 niedergelegten Grundsätzen (siehe Abschn. III. 1. d) erstellt worden122. Im Urteil v. 25.2.2010123 hat das Niedersächsische Finanzgericht (ebenfalls unter Anwendung der weiterentwickelten Rechtsprechungsgrundsätze) entschieden, dass eine Selbstnutzung einer Ferienwohnung auch dann vorliegen
__________ 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123
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BFH v. 19.8.2008 – IX R 39/07, BStBl. II 2009, 138 (140). IX R 30/08, BFH/NV 2010, 850. BFH v. 28.10.2009 – IX R 30/08, BFH/NV 2010, 850 (851), m. w. N. 14 K 92/05, EFG 2007, 1774. IX R 39/07, BStBl. II 2009, 138; ebenso BFH v. 14.1.2010 – IX B 146/09, BFH/NV 2010, 869 (870). 2 K 2298/07, EFG 2009, 107. BFH v. 28.10.2009 – IX R 30/08, BFH/NV 2010, 850 (851). Siehe Fn. 2. BFH v. 28.10.2009 – IX R 30/08, BFH/NV 2010, 850 (851 f.). 11 K 100/08, EFG 2010, 1038.
Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung bei Ferienwohnungen
könne, wenn die Wohnung nur wenige Tage im Jahr genutzt werde, und dass sich der Steuerpflichtige bei der Frage (der Bemessung) des Prognosezeitraums nicht auf den Vertrauenstatbestand des § 176 AO berufen könne. 3. Übernahme durch die Finanzverwaltung Die Finanzverwaltung hat sich (in Bezug auf die weiterentwickelten Rechtsprechungsgrundsätze) zunächst nur zum BFH-Urteil v. 26.10.2004 (siehe Abschn. IV. 1.) geäußert und erklärt, dass dieses ohne Übergangsregelung auf alle in Rz. 17 des BMF-Schreibens v. 8.10.2004124 genannten Vermietungsvarianten anzuwenden ist125. In neuerer Zeit126 hat sie das genannte BMF-Schreiben durch Hinweise ergänzt, die auch die zwischenzeitlich ergangenen (einschlägigen) BFH-Urteile berücksichtigen. 4. Stellungnahmen in der Literatur Die weiterentwickelten neuen Rechtsprechungsgrundsätze haben – soweit ersichtlich – die Kritiker des vom IX. Senat des BFH in Dauervermietungsfällen verordneten „Liebhaberei-Prüfungsverbots“ – zumindest soweit es das Vermieten von Ferienwohnungen angeht – offensichtlich besänftigt127, wenn auch nicht ganz verstummen lassen128.
V. Schlussbetrachtung Der Gedanke, dass die Besonderheiten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung eine „gemäßigte“ Prüfung der Einkünfteerzielungsabsicht erfordern, prägte schon die frühere Rechtsprechung des VIII. und des IX. Senats des BFH. Es ist davon auszugehen, dass dies auch dem Großen Senat des BFH bei seiner Entscheidung im Jahre 1984 (siehe Abschn. II. 1. a.) durchaus bewusst war129. Wenn bei einer solchen Ausgangslage der Gesetzgeber im Jahre 1986 die Nutzungswertbesteuerung abgeschafft und § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG
__________ 124 IV C 3 – S 2253 – 91/04, BStBl. I 2004, 933. 125 OFD München v. 25.7.2005 – S 2253 – 86 St 41, FR 2005, 905. 126 Vgl. FinMin Niedersachsen v. 18.6.2010 – S 2254 - 52 - St 233/St 234, DStR 2010, 1842. 127 Vgl. z. B. Stein, StBP 2010, 101 f., der einen umfassenden Überblick über die neue Rechtslage bei der Ermittlung der Einkünfte aus der Vermietung von Ferienwohnungen gibt und dabei – im Gegensatz zu früher (siehe z. B. Stein, DStZ 2004, 192 [194 f.]) – in diesem Zusammenhang nur die vom IX. Senat des BFH im Rahmen der Prognose vorgegebene Aufteilung der Leerstandszeiten kritisiert. 128 Z. B. Credo, FR 2005, 835 (837 f.); ders., BB 2005, 1819 (1823). Er wirft die Frage auf, ob der BFH zur Aufstellung einer festen Grenze berechtigt sei, bis zu der ein Unterschreiten der ortsüblichen Vermietungszeiten als unerheblich angesehen werde und schlägt als sachgerechtere Lösung eine Einzelprüfung ohne feste Grenze vor. Wüllenkemper, EFG 2010, 1045 f., hält die vom BFH aufgestellten Grundsätze für nicht unproblematisch und (in der Praxis) nur mühsam umsetzbar. 129 So zutreffend z. B. Pezzer in GS Trzaskalik (Fn. 3), S. 239 (245 f.).
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unverändert gelassen hat, spricht dies für die vom IX. Senat des BFH vorgenommene Auslegung der Vorschrift, bei einer Dauervermietung und anderen vergleichbaren Sachverhalten sei ohne Prüfung von der Einkünfteerzielungsabsicht auszugehen. Im Übrigen ist festzuhalten, dass sich der IX. Senat des BFH bei seiner Ferienwohnungsrechtsprechung bewegt und die gegen seine Auffassung erhobene Kritik nicht unberücksichtigt gelassen hat. Er hat es zwar abgelehnt, das auf einer Wertung beruhende Kriterium eines (wie auch immer gearteten) Missverhältnisses zwischen Mieteinnahmen und Werbungskosten als LiebhabereiPrüfpunkt einzuführen. Seine Rechtsprechung hat sich jedoch dahin weiter entwickelt, dass auch bei einer ohne Selbstnutzung vermieteten Ferienwohnung unter bestimmten Sachverhaltsvoraussetzungen die Einkünfteerzielungsabsicht durch eine Totalüberschussprognose überprüft werden kann und muss.
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Struktur und Funktion des Steuertatbestands Inhaltsübersicht I. Die rechtsdogmatische Kategorie des Tatbestands 1. Mehrdeutigkeit der Begrifflichkeit: Gesetzes- und Urteilstatbestand 2. Unterschiedliche Konzepte des Steuertatbestands a) Dogmengeschichte b) Aktuelle Kontroversen: „klassischer“ versus „Stufentatbestand“, Verhaltens-/Handlungs- versus Erfolgstatbestand II. Die steuerrechtsdogmatische Funktion des Steuertatbestands 1. (Steuer-)Rechtsdogmatik 2. Die dogmatische Funktion des Steuertatbestands a) Als Vergleichsebene: Die Funktion des Straftatbestands b) Die dogmatische Funktion des Steuertatbestands
III. Die steuerverfassungsrechtliche Funktion des Steuertatbestands 1. Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung als sachbereichsspezifischer Ausfluss des Gesetzesvorbehalts a) Einschränkung von Delegationsmöglichkeiten b) Bestimmtheitsanforderungen 2. Steuertatbestand und bundesstaatliche Finanzverfassung a) Das Verbot gleichartiger Steuern als Problem des Vergleichs von Steuertatbeständen? b) Steuertypen der Einzelsteuerbegriffe und Steuertatbestände IV. Die international-steuerrechtliche Funktion des Steuertatbestands und abkommensrechtliche Tatbestände V. Zusammenfassung
Wolfgang Spindler ist nicht nur an herausragender Stelle in der Steuerrechtsprechung tätig. Biographisch bestärkt durch sein Wirken als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht von 1979 bis 1982 hat er stets die Verbindung zwischen Steuer- und Verfassungsrecht in ihrer Bedeutung erkannt und gepflegt. Zudem hat er sich mit großem Gespür für den Nachwuchs auf dem Gebiet des Steuerrechts auf allen Ebenen eingesetzt: Der Steuermootcourt, der unter seiner Federführung seit einigen Jahren vom Bundesfinanzhof erfolgreich ausgerichtet wird, ist nur ein Zeichen für dieses kaum zu überschätzende Engagement. Es wird sich in dem ihm zum 65. Geburtstag gewidmeten Beitrag zeigen, dass die scheinbar so selbstverständliche und klare Kategorie des Steuertatbestands gerade auch in den damit angesprochenen Dimensionen wesentliche Aspekte ihrer Funktionalität findet: der wissenschaftlichen und didaktischen Vermittlung und damit Anwendbarmachung sowie der verfassungsrechtlichen Rückbindung der steuerlichen Belastungsentscheidung. Aus meiner ersten steuerrechtlichen Vorlesung als Münchener Student bei Klaus Vogel in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre habe ich noch lebhaft jene Stunde in Erinnerung, in der uns der Steuertatbestand mit dem Hinweis erläutert wurde, lediglich in § 10 Abs. 1 Rennwett- und Lotteriegesetz – nicht gerade 853
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eine Zentralnorm des deutschen Steuerrechts – finde sich in einem einzigen Satz ein Steuersubjekt, Steuerobjekt und Steuersatz umfassender vollständiger Steuertatbestand: „Von den am Totalisator gewetteten Beträgen hat der Unternehmer des Totalisators eine Steuer von sechzehn zwei Drittel vom Hundert an das Reich abzuführen.“ Diese Norm verwende ich noch heute in den Einführungsvorlesungen zum Steuerrecht und hoffe schon aus diesem didaktischen Anliegen, dass sie nicht zu schnell weiteren Steuervereinfachungen zum Opfer fallen wird. Vogel erläuterte dann weiter, dass manche Schwierigkeiten der Studierenden beim Zugang zum Steuerrecht nicht zuletzt damit zusammenhingen, dass sich „normale“ Steuertatbestände – etwa des Einkommen- oder des Körperschaftsteuerrechts – über zahlreiche Rechtnormen u. U. sogar auf verschiedene Gesetze verteilt fänden1. Der damit angesprochene „Steuertatbestand“ gehört zu den zentralen steuerrechtlichen Kategorien: Nach § 38 AO entsteht die Steuerschuld durch die Verwirklichung eines Steuertatbestands, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Diese Tatbestände finden sich in den Einzelsteuergesetzen. Die Kategorie des Steuertatbestands verbindet demnach die einzelnen Steuerarten mit dem allgemeinen Steuerschuldrecht der Abgabenordnung2. Sofern der Tatbestand in der Legaldefinition der Steuer in § 3 AO erwähnt wird, kann es sich freilich kaum um ein notwendiges Begriffsmerkmal i. e. S. handeln, da bei Steuertatbeständen wie bei jeder vollständigen Rechtsnorm der Eintritt der Rechtsfolge an das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale geknüpft ist3. Durch die Erwähnung des Steuertatbestands in § 3 AO wird also jenseits der Begriffsbestimmung der Steuer eine andere rechtliche Anforderung an das, was begrifflich als Steuer gefasst wird, benannt4.
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1 Vgl. etwa Spanner, Art. „Steuertatbestand“, in Handwörterbuch des Steuerrechts, Bd. 2, 1. Aufl. 1972, S. 1051 (1052); Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. 1, 1991, S. 112; Mössner, Typusbegriffe im Steuerrecht, in FS Kruse, 2001, S. 161 (164); für § 2 EStG plastisch umschrieben durch Paul Kirchhof: „§ 2 nimmt gegenüber der Alternative von programmatischer Aussage und tatbestandlicher Regelung die Zwischenstellung einer systematisierenden, aber auf tatbestandliche Vervollständigung angelegten Grundsatzregel ein.“, in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 2 EStG Rz. A 17; insgesamt instruktiv zu diesem Problem auch Ruppe in Herrmann/Heuer/Raupach, Einf. ESt Rz. 632, der in diesem Zusammenhang zwischen Grundnormen, Erläuterungsnormen, einschränkenden Normen, erweiternden Normen und Ausnahmenormen, die u. U. erst in ihrer Gesamtheit einen Steuertatbestand bilden, differenziert. 2 Kruse (Fn. 1), S. 112 ff. 3 Auch die Verwendung in Kommunalabgabengesetzen ist unpräzise, vgl. nur § 2 Abs. 1 Satz 2 KAG NRW: „Die Satzung muss den Kreis der Abgabeschuldner, den die Abgabe begründenden Tatbestand, den Maßstab und den Satz der Abgabe sowie den Zeitpunkt ihrer Fälligkeit erhalten.“ In ähnlichem Zusammenhang PrOVGE 57, 131 (133); PrVBl. 1912/13, S. 380; 1920/21, S. 214; dazu insgesamt Hahn, Die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung in rechtsvergleichender Sicht, 1984, S. 94. 4 Die „notwendigen“ begrifflichen Merkmale kommen deutlicher in der Bestimmung des verfassungsrechtlichen Steuerbegriffs heraus, vgl. statt vieler nur Vogel/Waldhoff in Bonner Kommentar, Vorb. z. Art. 104a–115 GG Rz. 352 ff.; a. A., freilich undifferenziert, Jochum, Steuerrecht I, 2010, Rz. 42; eingehend und differenziert Selmer, Zur Tatbestandsmäßigkeit öffentlich-rechtlicher Geldleistungspflichten, in FS Starck, 2007, S. 435 (438 ff.).
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„Das Erfordernis des Vorhandenseins eines ‚Tatbestandes‘ soll eines derjenigen Merkmale sein, die dem Steuerrecht in besonderer Weise das Gepräge geben“5. In den steuerrechtlichen Lehrbüchern6 und – zumeist auf einzelne Steuern bezogen – in der Kommentarliteratur7 wird er mehr oder weniger ausführlich abgehandelt. Tiefergreifende Erörterungen sind gleichwohl selten bzw. erfolgen unter einem spezifischen, zumeist verfassungsrechtlichen Blickwinkel8. Dieses vergleichsweise geringe Interesse mag daran liegen, dass die Figur als so selbstverständlich und wenig erklärungsbedürftig erscheint, dass eine nähere Auseinandersetzung nicht lohnt. Es könnte seinen Grund auch darin finden, dass die praktischen Folgen der Kategorie gering zu sein scheinen. In jedem Fall erfüllt die Lehre vom Steuertatbestand im akademischen Unterricht im Steuerrecht eine zentrale Funktion – ohne ein derartiges dogmatisch-didaktisches Raster könnten weder das Steuerschuldrecht der Abgabenordnung noch die Einzelsteuern erklärt werden. Im Folgenden soll unter Überwindung eines engen Erkenntnisinteresses die Kategorie des Steuertatbestands in ihrer Begrifflichkeit und Funktion insgesamt näher untersucht und eingeordnet werden.
I. Die rechtsdogmatische Kategorie des Tatbestands 1. Mehrdeutigkeit der Begrifflichkeit: Gesetzes- und Urteilstatbestand In der Juristensprache ist der Begriff „Tatbestand“ mehrdeutig. Als Tatbestand einer Rechtsnorm (Gesetzestatbestand) bezeichnet er die normativ umschriebenen Voraussetzungen, die als tatsächliches Geschehen vorliegen müssen, damit die von der Rechtsnorm vorgesehene Rechtsfolge eintritt9. Im (Zivil-) Urteil meint Tatbestand demgegenüber diejenige Passage, die den Sach- und Streitstand aufgrund der Anträge und der mündlichen Verhandlung zusammenfasst10. Diese beiden Bedeutungen hängen historisch zusammen11: Im Straf-
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5 Bayer, Der Stufenbau des Steuertatbestandes, FR 1985, 337. 6 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 7 Rz. 17 ff.; Birk, Steuerrecht, 12. Aufl. 2009, Rz. 100 ff.; Bayer, Steuerlehre, 1998, Rz. 380 ff.; Tiedtke, Einkommensteuer- und Bilanzsteuerrecht, 1989; Kruse (Fn. 1), S. 54 ff., 112 ff.; Arndt, Steuerrecht, 3. Aufl. 2002, S. 72 f.; Fehrenbacher, Steuerrecht, 2. Aufl. 2008, S. 36 f.; Jochum (Fn. 4), Rz. 198 ff.; aus der älteren Lehrbuchliteratur: Hensel, Steuerrecht, 3. Aufl. 1933, S. 56 ff.; Bühler, Steuerrecht. Grundriss in zwei Bänden, I. Allgemeines Steuerrecht, 1950, S. 106 ff., 182 ff.; Bühler/Strickrodt, Steuerrecht, Bd. 1: Allgemeines Steuerrecht, 3. Aufl. 1960, S. 70 f.; Crisolli, Lehrbuch des Steuerrechts, 1933, S. 96 ff.; Meilicke, Steuerrecht. Allgemeiner Teil, 1965, S. 90 ff.; Paulick, Lehrbuch des allgemeinen Steuerrechts, 3. Aufl. 1977, Rz. 537 ff.; für die betriebswirtschaftliche Steuerlehre: Biergans, Einkommensteuer, 6. Aufl. 1992, S. 4 ff.; für die Schweiz: Reich, Steuerrecht, 2009, S. 113 ff.; für Österreich: Doralt/Ruppe, Grundriss des österreichischen Steuerrechts, Bd. 1, 2000, S. 8 ff.; Bd. 2, 2001, Rz. 366 ff. 7 Ruppe in Herrmann/Heuer/Raupach, Einf. ESt Rz. 631. 8 Hier sind vorrangig zwei Dissertationen zu Beginn der 1980er Jahre zu erwähnen: Brinkmann, Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung und formeller Gesetzesbegriff, 1982; Hahn (Fn. 3), dort S. 92 ähnliche Beobachtungen wie hier. 9 Rüthers, Rechtstheorie, 1999, Rz. 130. 10 Vgl. nur Avenarius, Kleines Rechtswörterbuch, 1985, S. 431. 11 Schweikert, Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling, 1957, S. 7 ff.; zusammenfassend Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, S. 153 ff.
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recht wurde der Tatbestand als dogmatische Kategorie aus der Lehre vom corpus delicti gewonnen. Dabei handelte es sich zunächst um eine prozessuale Kategorie. Mit der Abkehr von der prozessualen zur materiell-rechtlichen Sichtweise auch12 im Strafrecht wanderte der Blick entsprechend von den geschehenen Tatsachen zu den abstrakten Voraussetzungen einer Straftat: „Auch nach dieser Wendung – die nur Hand in Hand mit einem Wandel der Prozessformen möglich war – wird zunächst noch mit corpus delicti oder Tatbestand das konkret Geschehene (in heutiger Terminologie: ein Sachverhalt) bezeichnet, aber nicht mehr als prozessual relevanter Sachverhalt, sondern als ein nach materiell-rechtlicher Erheblichkeit bestimmter Sachverhalt“13. Aus den Tatsachen eines Verbrechens wurden so in einer längeren dogmengeschichtlichen Entwicklung durch den Wandel der Perspektive die abstrakt-normativen Voraussetzungen desselben als Tatbestand gewonnen. Die – moderne – zweite, prozessuale Bedeutung, die etwa in §§ 313 Abs. 1 Nr. 5, 314 ZPO als „eigentliche Beurkundung des Parteivorbringens“14 ihren positivrechtlichen Niederschlag gefunden hat, bleibt im Folgenden außer Betracht. Ein vollständiger Rechtssatz als normative Anordnung für den Adressaten – den Rechtsunterworfenen wie den Rechtsanwender – enthält Verhaltensnormen und Entscheidungsnormen im Sinne einer generell-abstrakten Regel15: „Der Rechtssatz verknüpft wie jeder Satz eines mit einem anderen. Er ordnet dem generell umschriebenen Sachverhalt, dem ‚Tatbestand‘, eine ebenso generell umschriebene ‚Rechtsfolge‘ zu. Der Sinn dieser Zuordnung ist, dass immer dann, wenn der im Tatbestand bezeichnete Sachverhalt vorliegt, die Rechtsfolge eintritt, d. h. im konkreten Fall gilt“16. Oder in den Worten Karl Engischs: „Der Tatbestand umschreibt als abstrakter Bestandteil des Rechtssatzes begrifflich die Bedingungen, unter denen die Rechtsfolgenanordnung Platz greift“17. Dabei tritt die Rechtsfolge nur in der normativen Sphäre ein:
__________ 12 Für das Zivilrecht paradigmatisch Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts vom Standpunkte des heutigen Rechts, 1856, S. 3 ff.; vgl. dazu Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 187, insbes. Fn. 48; Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, 482 (488). 13 Jakobs (Fn. 11), S. 154; vgl. auch Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 3, 1976, S. 171 ff. 14 Leipold in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2008, § 313 ZPO Rz. 30 f.; Vollkommer in Zöller, 28. Aufl. 2010, § 313 ZPO Rz. 11. Bis zur sog. ZPO-Vereinfachungsnovelle 1976 wurde der Gegenstand des Tatbestands umschrieben als „gedrängte Darstellung des Sach- und Streitstandes auf Grundlage der mündlichen Vorträge der Parteien unter Hervorhebung der gestellten Anträge“. 15 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 250; ausführlich K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 189 ff. 16 Larenz (Fn. 15), S. 251 f.; Rüthers (Fn. 9), Rz. 130: „Die Zuordnung der Rechtsfolge enthält immer zugleich eine rechtliche Bewertung des im Tatbestand erfassten Lebensvorganges durch den Gesetzgeber. In jeder vollständigen Rechtsnorm erfasst der Gesetzgeber bestimmte typische Lebensvorgänge oder Interessenlagen und bewertet sie rechtlich. Die Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge ist also der erste, wichtigste Sinngehalt vollständiger Rechtsnormen.“ 17 Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 35.
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Sie verändert – ohne Rechtsausführungsakt – die Rechtslage (das Eigentum ist übergegangen; die Klage ist verwirkt) oder sie wird durch einen Rechtsanwendungsakt – ein Urteil und dessen Vollstreckung – in die Wirklichkeit umgesetzt (Verurteilung zur Herausgabe eines Gegenstands und Wegnahme desselben durch den Gerichtsvollzieher). Karl Larenz hat auch dies auf den Begriff gebracht: „Die Verknüpfung eines tatsächlichen Vorgangs, wie er in dem Tatbestand der Norm beschrieben ist, mit einer Rechtsfolge, die auf dem Gebiet des rechtlich Geltenden liegt, daher mit der Verwirklichung des Tatbestandes ‚in Geltung tritt‘, ist das Spezifikum des Rechtssatzes als der sprachlichen Ausdrucksform einer Norm“18. Hier zeigt sich auch die Verbindung der doppelten Verwendung des Begriffs des Tatbestands in der juristischen Terminologie: Als Gesetzestatbestand meint er die abstrakt generell umschriebenen Voraussetzungen, von denen der Rechtsfolgeneintritt abhängt, als Bestandteil gerichtlicher Entscheidungen umschreibt er die als Ergebnis des Verfahrens – und damit im Sinne einer „prozessualen Wahrheit“ – konkret geschehenen Ereignisse in Bezug auf die normativen Anforderungen der entscheidungserheblichen Norm(en), stellt also die Aufbereitung des Sachverhalts zur Vorbereitung des Subsumtionsschlusses dar19. Dieser juristische Grundmodus von Tatbestandsbildung, Tatbestandsverwirklichung, Eintreten und ggf. Verwirklichung der angeordneten Rechtsfolge hat auch durch moderne Normstrukturen, wie sie etwa mit den Schlagworten von der konditionalen zur finalen Programmierung umschrieben werden20, seine Bedeutung nicht verloren. Letztlich dürfte es sich nur um Variationen des klassischen „wenn-dann-Schemas“ handeln. Für das Steuerrecht spielen derartige neuere Normstrukturen ohnehin keine besondere Rolle21.
__________ 18 Larenz (Fn. 15), S. 252 f. 19 Larenz (Fn. 15), S. 271 ff.; Fikentscher (Fn. 13), S. 739 ff., der freilich selbst mit seinem Konzept der „Fallnorm“ einen davon teilweise abweichenden Ansatz verfolgt; beide Sphären verschwimmen bei Hans Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 1941, S. 193 f.: „Die Rechtstatsachen [!], deren Vorliegen von der Rechtsnorm als Voraussetzung für die Begründung, Beendigung oder Wandlung eines Rechtsverhältnisses betrachtet wird, nennt man den rechtlichen Tatbestand. […] Wenn solche rechtlichen Tatsachen vorliegen, die von der Rechtsnorm als Erfordernisse für das Einstehen, Vergehen oder die Veränderung von Rechtsverhältnissen aufgestellt sind, dann werden jene rechtlichen Verpflichtungen bzw. Berechtigungen aktuell, die den vorgesehenen Rechtsverhältnissen entsprechen. Man spricht von dem Eintritt der Rechtswirkungen oder Rechtsfolgen, welche die Rechtsnorm mit dem rechtlichen Tatbestand verknüpft hat.“ Vgl. demgegenüber auf die abstrakt-normativen Rechtsbegriffe bezogen und damit wie hier im Haupttext verwendet ebd., S. 26 f. Eine ähnliche Verwirrung in der steuerrechtlichen Literatur etwa bei Paulick (Fn. 6), S. 387 f.: „Tatsachen sind Teile des Tatbestands, an den die Steuergesetze die Leistungspflicht knüpfen. Alle rechtserheblichen Tatsachen in ihrer Gesamtheit begründen den steuerlichen Tatbestand und tragen zu seiner Verwirklichung bei.“ Vgl. treffend zu derartigen Verwechslungen oder Vermengungen Spanner (Fn. 1), S. 1052. 20 Breuer, Konditionale und finale Rechtssetzung, AöR 127 (2002), S. 523 ff.; Röhl/Röhl (Fn. 15), S. 242 ff. 21 Differenzierter in diesen Fragen freilich Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 285 ff.
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2. Unterschiedliche Konzepte des Steuertatbestands a) Dogmengeschichte Auch für die Dogmatisierung des Steuerrechts spielt noch vor den Größen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg Otto Mayer, der die „Finanzgewalt“ als Teil seines Verwaltungsrechts behandelt, eine herausragende Rolle22. Die „Steuerauflage“, welche die „Zahlungspflicht bei dem dadurch Betroffenen erzeugt“, wird in die Rechtsstaatsdoktrin der Zeit eingeordnet: „Die Steuerauflage bedarf, als Eingriff, selbstverständlich der gesetzlichen Grundlage. Sie muss überdies, dem Wesen der Steuer entsprechend, das einen allgemeinen Maßstab verlangt, rechtssatzmäßig geregelt sein, ohne Zutat irgend welchen freien Ermessens. […] Ein solches Steuergesetz hat dann einen dreifachen Inhalt: es bestimmt die äußerlichen Merkmale, an welche die Steuer sich knüpft, den Gegenstand der Besteuerung; sodann die Höhe des Betrages, mit welchem die Steuerpflicht den Einzelfall treffen soll, der sich berechnet aus Steuerfuß und Steuersatz, und endlich das Verfahren, in welchem die Steuerpflicht zur Durchführung kommt, die Erhebungsform“23. Dies wird dann mit der RAO 1919, dessen erste begriffsbestimmende Norm freilich selbst auf die Vorarbeiten Mayers zurückgeht, rückgekoppelt24: „Das gehört alles dazu, damit das Gesetz i. S. von R. A. O. § 1 ‚die Leistungspflicht an einen bestimmten allgemeinen Tatbestand knüpft‘.“ Daraus folge dann zum einen, dass die Delegation auf Verordnungen stark eingeschränkt sei, zum anderen, dass dem Gesetz die Dauerhaftigkeit eigne und somit temporäre Steuergesetze, wie sie noch im 19. Jh. üblich waren, untunlich seien25. Der Steuertatbestand selbst – terminologisch nur indirekt benannt – bezieht, systemwidrig, das Erhebungsverfahren ein, flaggt demgegenüber das Steuersubjekt noch nicht explizit aus26. Andere Autoren sprachen vom „Steueranspruch“ und reservierten die Terminologie
__________ 22 Vgl. etwa Wacke, Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit, StuW 1947, Sp. 21 (25); zu ihm – auf das Verwaltungsrecht bezogen – Meyer-Hesemann, Methodenwandel in der Verwaltungsrechtswissenschaft, 1981, v. a. S. 15 ff.; ders., Die paradigmatische Bedeutung Otto Mayers für die Entwicklung der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft, Rechtstheorie 13 (1982), S. 496 ff.; Heyen, Otto Mayer, 1981; Hueber, Otto Mayer, 1982; eher kritisch zu Mayers steuerrechtlicher Bedeutung allerdings Hensel, Der Einfluss des Steuerrechts auf die Begriffsbildung des öffentlichen Rechts, in VVDStRL 3 (1927), S. 39 (77). 23 Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 3. Aufl. 1924, S. 316 f.; ähnlich Crisolli (Fn. 6), S. 96 ff. (99). 24 Vgl. dazu treffend Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1931, S. 393: „Die Begriffsbestimmung [des § 1 RAO 1919] knüpft offensichtlich an die von Otto Mayer an, was diesen in seiner übergroßen Bescheidenheit nicht gehindert hat, auf die Definition der AO. so zu verweisen, als habe er sie von dort übernommen.“ 25 Ebd., S. 317 f. 26 Vgl. aus der zeitgenössischen verwaltungsrechtlichen Literatur demgegenüber Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl. 1928, S. 422 f., der zwischen Steuersubjekt und Steuerobjekt unterscheidet; der Begriff „Steuertatbestand“ fällt freilich auch hier nicht, vgl. ebd., S. 429; vgl. demgegenüber als weiteres verwaltungsrechtliches Standardwerk Jellinek (Fn. 24), S. 397: „Die Entstehung der Steuerpflicht hängt von dem in den einzelnen Gesetzen geregelten Steuertatbestand ab.“
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vom Steuertatbestand auf die von der RAO entschiedene Frage, wann der Steueranspruch entstehe27. Vor allem Wilhelm Merk mit seinem „Steuerschuldrecht“ von 1926 hat sich der Tatbestandslehre eingehender gewidmet: Unter „Tatbestand im weiteren Sinne“ versteht er „die Gesamtheit der Voraussetzungen oder der Inbegriff der gesetzlich bestimmten Merkmale, die vorliegen müssen, damit ein Steuerschuldverhältnis entsteht.“ „Tatbestand im engeren Sinne“ seien dann nur die sachlichen Voraussetzungen der Steuerschuld, als „Entstehungstatbestand“28. Diese Entstehungstatbestände seien ausnahmslos durch Gesetz festgelegt und zwar sowohl hinsichtlich des „Ob“ als auch des „Wie“ der Besteuerung. Für die Entwicklung der Steuerrechtsdogmatik insgesamt kann das Wirken Albert Hensels kaum überschätzt werden29. Er entwickelt den Steuertatbestand, auf dem sein steuerrechtsdogmatisches System aufbaut, aus der Charakterisierung des Steuerrechts als Eingriffsverwaltungsrecht in der besonderen Form des „gesetzlichen Schuldverhältnisses des öffentlichen Rechts“30. Der Tatbestandsbegriff wird aus dem Eingriffscharakter entwickelt: „Die rechtliche Eigenart des neuen Steuerrechts liegt in der Ausbildung des rechtlichen Eingriffsrechts; dessen wichtigste Elemente sind: Aufstellung abstrakter Tatbestände durch den Gesetzgeber, – Entstehung des Grundpflichtverhältnisses durch Verwirklichung des Tatbestandes – keine Möglichkeit zur Eingriffsgestaltung durch freies Ermessen, soweit das Grundverhältnis zu Lasten des Verpflichteten abgeändert werden soll“31. Zusammengefasst wurde das Ganze dann in der dritten und letzten Auflage seines Lehrbuchs: „Der gesetzliche Tatbestand ersetzt im Steuerschuldrecht das privatrechtliche Willensmoment. […] Die Steuerschuld wird nach der AO. […] durch Tatbestandsverwirklichung zur Entstehung gebracht […]. Die systematische Darstellung des Steuerschuld-
__________ 27 So etwa Schranil, Besteuerungsrecht und Steueranspruch, 1925, S. 72 ff., 92 ff. 28 Steuerschuldrecht, 1926, S. 35 f. 29 Zu Leben und Werk statt aller m. w. N. Reimer/Waldhoff, Steuerrechtliche Systembildung und Steuerverfassungsrecht in der Entstehungszeit des modernen Steuerrechts in Deutschland. Zu Leben und Werk Albert Hensels (1895–1933), in dies. (Hrsg.), Albert Hensel. System des Familiensteuerrechts und andere Schriften, 2000, S. 1 ff.; zu Hensels Bedeutung für die steuerrechtliche Tatbestandslehre Bayer, FR 1985, 341 f.; ders. (Fn. 6), Rz. 392; zur internationalen Ausstrahlungskraft dieses Aspekts Hahn (Fn. 3), S. 89 f. mit Fn. 6. 30 Vgl. etwa Hensel, Der Einfluss des Steuerrechts auf die Begriffsbildung des öffentlichen Rechts, in VVDStRL 3 (1927), S. 63 (64, 77 ff.). 31 Hensel (Fn. 30), S. 64; ebd., S. 81: „Ich bin der Überzeugung, dass die Klarstellung der rechtsstaatlichen Bedeutung des Normtypus, den man als ‚Tatbestandsrecht‘ bezeichnen könnte, und der im Steuerrecht (ebenso wie im Strafrecht) mit besonderer Deutlichkeit vorhanden ist, methodisch und systematisch fruchtbar wäre. Das Tatbestandsrecht gehört nicht zum Verwaltungsrecht im engeren Sinne (d. h. zum Recht des aktiv verwaltenden Staates), wie ja auch Strafrecht und Strafprozessrecht geschieden sind. Die abstrakte Tatbestandsnorm, deren Abänderung durch freies Ermessen zuungunsten des den Tatbestand konkret Erfüllenden ausgeschlossen erscheint, ist die rechtsstaatliche Grundlage zum Eingriff in Freiheit und Vermögen des ‚Rechtsunterstellten‘, wie man vom Standpunkt des Rechtsstaats aus an Stelle von ‚Untertan‘ sagen sollte.“
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rechts hat sich daher in erster Linie mit dem Steuertatbestande zu befassen. Als Steuertatbestand bezeichnen wir die Gesamtheit der in den materiellen Steuerrechtsnormen enthaltenen abstrakten Voraussetzungen, bei deren konkretem Vorliegen (Tatbestandsverwirklichung) bestimmte Rechtsfolgen eintreten sollen. Der Steuertatbestand ist also sozusagen das abstrakte Spiegelbild des konkreten ‚Sachverhalts‘ […]“32. Dieser Steuertatbestand bezeichne den anspruchsberechtigten Steuergläubiger, den Steuerschuldner (persönliche Seite des Steuertatbestands) sowie mit der „sachlichen Seite des Tatbestands“ den Vorgang, der zur Besteuerung führt. Schließlich müsse noch die Zurechnung zwischen persönlicher und sachlicher Seite sowie der Steuermaßstab und der Steuersatz festgesetzt werden. In der Folgezeit konnte dem – bei Unterschieden in Einzelheiten – nichts Neues hinzugefügt werden. Der Stand der Erkenntnis vor 1933 wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit von Gerhard Wacke zusammengefasst. Er interpretiert die „Tatbestandsmäßigkeit als Inhalt der Gesetzmäßigkeit“. Im Anschluss an die RAO wird konstatiert: „Es ist kennzeichnend für die ganze geschichtlich begründete und verfassungsmäßig festliegende Gestalt des Steuerrechts, dass gerade hier die Tatbestandsmäßigkeit des Rechts so oft ausdrücklich ausgesprochen worden ist. So wie schon die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung für das ganze deutsche Recht ausdrücklich nur im Steuerrecht normiert ist, ist auch die Tatbestandsmäßigkeit als Voraussetzung der Rechtsfolge vom ganzen deutschen Recht allein im Steuerrecht ausgesprochen“33. Dies sei nicht lediglich die Explizierung einer Selbstverständlichkeit, sondern ziehe zahlreiche praktische Folgen nach sich. b) Aktuelle Kontroversen: „klassischer“ versus „Stufentatbestand“, Verhaltens-/Handlungs- versus Erfolgstatbestand In der Gegenwart herrscht – zumindest auf den ersten Blick – große Einigkeit über den Steuertatbestand. Er wird als Umschreibung der persönlichen, sachlich-qualitativen und rein quantitativen Voraussetzungen, unter denen als Rechtsfolge i. d. R. die Steuerpflicht eintritt drei- oder vierstufig als Steuersubjekt, Steuergegenstand (Steuerobjekt) aufbereitet in der Steuerbemessungsgrundlage und Steuersatz/Steuertarif umschrieben34. Drei- oder Vierstufigkeit
__________ 32 Hensel (Fn. 6), S. 57. 33 Wacke, StuW 1947, Sp. 21 (27 f.). 34 Mit Differenzen in Einzelfragen Spanner (Fn. 1); J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, 1974, S. 30 ff.; Kruse (Fn. 1), S. 112 ff.; J. Lang in Tipke/Lang (Fn. 6), § 7 Rz. 17 ff.; Birk (Fn. 6), Rz. 100 ff.; Klaus Drüen in Tipke/Kruse, § 3 AO Rz. 33; Lehner/Waldhoff in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 1 EStG Rz. A 40; P. Kirchhof, Die Steuern, in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 118 Rz. 220 ff.; Reimer, Der Ort des Unterlassens, 2004, S. 43; Fehrenbacher (Fn. 6), § 1 Rz. 21; Jochum (Fn. 4), Rz. 198 ff.; zusammenfassend Stollenwerk, Dogmatischer Gegenstand versus instrumentaler Gegenstand des EStG. Ein Beitrag zum Aufbau des Einkommensteuertatbestandes, StVj. 1989, 217 (219); ferner Schick, Der Begriff der Besteuerungsgrundlage in der Abgabenordnung. Ein Beitrag zur Lehre vom Stufenbau des Steuertatbestandes, 1985, S. 8 ff.
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resultiert aus der Unterscheidung zwischen Steuerobjekt/Steuergegenstand als „abstraktem Steuerobjekt“ (Dieter Birk) einerseits, Steuerbemessungsgrundlage als die für die Anwendung des Steuertarifs aufbereitete (quantifizierte) Größe und damit als „konkretes Steuerobjekt“ andererseits: „Der Steuergegenstand wird in der Steuerbemessungsgrundlage tatbestandlich deutlicher gefasst und umgrenzt und zugleich in einer zählbaren Größe ausgedrückt“35. Auch die steuerrechtliche Rechtsprechung geht von der Lehre vom Steuertatbestand aus, ohne freilich sich näher dogmatisch festzulegen36. Ein alternatives Konzept – dessen theoretische und praktische Bedeutung freilich nicht überschätzt werden darf37 – hat Hermann-Wilfried Bayer mit seiner Lehre vom „Steuerstufentatbestand“38 vorgelegt. Er kommt zu einem vielschichtigeren Aufbau mit mindestens fünf (Haupt-)Stufen, von denen mindestens zwei wiederum in zwei Unterstufen zerfallen39. Dabei besteht hinsichtlich der Grundfunktion zunächst Einigkeit: „Der Steuertatbestand ist die Form, in der das einzelne Steuergesetz die Voraussetzungen für die Entstehung eines Steueranspruchs […] umschreibt“40. Als „Vorstufe“ differenziert Bayer einen „Raumtatbestand“ und meint damit den räumlichen Anwendungsbereich der Steuernorm. Das kann man so systematisieren, birgt jedoch keine Vorteile in sich, denn für jede Rechtsnorm muss stets eine entsprechende Überlegung durchgeführt werden41. Auch das Strafgesetzbuch bestimmt in den §§ 3 ff. seinen räumlichen Anwendungsbereich, ohne dass man diese Vorschriften des „Internationalen Strafrechts“ ohne Not zum Straftatbestand zählen würde – wenngleich dies wiederum nicht falsch, sondern unzweckmäßig wäre. Zudem werden diese Prüfungen nach der überkommenen Lehre beim „Steuersubjekt“ vorgenommen: Nur bei Ansässigkeit im Inland handelt es sich bei der natürlichen Person um ein unbeschränkt einkommensteuerpflichtiges Steuersubjekt, § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG42. Im Weiteren wird für den Steuertatbestand ein „Grund-“ von einem „Höhentatbestand“ unterschieden, wobei der Grundtatbestand mit seinen Unterelementen „Steuersubjekt“ und „Steuergegenstand“ den „Grund“ der Besteuerung bezeichnen soll, während
__________ 35 Kirchhof (Fn. 34), Rz. 266. 36 Vgl. exemplarisch nur BFHE 118, 379 (381); 150, 140 (142); 152, 500 (503). 37 Ähnliche Einschätzung auch bei Stollenwerk, StVj. 1989, 217 f.; Behrends, Die Lehre vom Steuertatbestand in bezug auf die Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung, 1999, S. 87 ff. 38 Diese Terminologie wird freilich auch in anderen Zusammenhängen, etwa durch die betriebswirtschaftliche Steuerlehre, verwendet, vgl. nur Wasmer, Die Zurechnung von Einkünften bei der unentgeltlichen Übertragung von Betriebsvermögen durch Erbfall und Schenkung, 1985, S. 1 ff.; Bayers Auffassung haben sich teilweise seine Schüler angeschlossen, vgl. nur Birtel, Die Zeit im Einkommensteuerrecht, 1985, S. 29 ff.; Schick, Der Begriff der Besteuerungsgrundlage in der Abgabenordnung, 1985; Oechsle, Das System des Steuerrechts, StuW 1999, 120 (126 ff.). 39 Zur Verschiedenstufigkeit aus der Sicht Bayers vgl. dens., Der Mensch, sein Leben, sein Einkommen und das Einkommensteuerrecht, 2. Teil, BB 1991, 517 (518 ff.). 40 Bayer (Fn. 6), Rz. 386. 41 Vgl. etwa Behrends (Fn. 37), S. 111 f.; das sieht auch Bayer (Fn. 6), Rz. 393. 42 Stollenwerk (Fn. 34), S. 233 f.
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der Höhentatbestand mit seinen Teilelementen „Steuermaßstab“ und „Steuersatz“ die Höhe der zu entrichtenden Steuer festlegt43. Dieser Aufteilung liegt die Prämisse einer Unterscheidung zwischen Steuergrund und Steuerhöhe zugrunde44. Abgesehen von den eher Zweckmäßigkeitserwägungen darstellenden Aufteilungs- und Gliederungsfragen bestehen inhaltliche Differenzen zur h. M. vor allem in zwei Punkten: (1.) Bayer sieht – ähnlich wie im Strafrecht – die Handlung als die Grundfigur von Steuerrecht und Steuertatbestand45. Freilich ist die Fixierung auf die Handlung als Grundkategorie auch für das Strafrecht mehr oder weniger aufgegeben worden46. Für das Steuerrecht ist eine solche Sichtweise besonders problematisch, da die Steuergesetze zumindest nicht stets offen an Handlungen anknüpfen47. Gemeint ist wohl die Zurechnung von Einkommen oder anderen Steuergegenständen zu Personen48; dies muss freilich nicht zwingend über Handlungen geschehen49. Die Zurechnungen zwischen den verschiedenen Stufen eines Tatbestands sind kein Spezifikum des Steuertatbestands, sondern finden sich mit der Lehre von der objektiven Zurechnung im Strafrecht, mit Kausalitätsfragen etwa im zivilrechtlichen Deliktsrecht, mit der Bestimmung des Störers im Recht der Gefahrenabwehr und in weiteren Fällen. Die Zurechnung zählt zu den Grundkategorien von Rechtsdogmatik schlechthin50. Be-
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43 Bayer, FR 1985, 338; erläuternd Stollenwerk, StVj. 1989, 217 (233). 44 Vgl. auch Bayer/Birtel, Die Liebhaberei im Steuerrecht, 1981, S. 7 und passim. 45 Bayer/F. P. Müller, Das Einkommen – der Steuergegenstand der Einkommensteuer? BB 1978, 1 (4 ff.); Bayer/Birtel (Fn. 44), S. 10 ff.; erläuternd und zusammenfassend Stollenwerk, StVj. 1989, 217 (220); Oechsle, StuW 1999, 120 (127). 46 Vgl. zum Streitstand etwa Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 8 Rz. 42 f.; prägnant Jakobs (Fn. 11), 6. Abschn. Rz. 67 f. 47 Zwar mag die Entfernung aus dem Herstellerbetrieb bestimmte Verbrauchsteuern auslösen oder das Verbringen in das Zollgebiet den Zolltatbestand, schon die Terminologie „Steuerobjekt“ oder „Steuergegenstand“ deutet jedoch eher darauf hin, das mit dem „Einkommen“ nicht eine Handlung, sondern eine – wie auch immer bestimmte oder aufbereitete – „Größe“ „Gegenstand“ einer Steuer ist. Treffend Hey, Rezension, StuW 1998, 285 (287): „Besteuert wird der Steuerpflichtige nicht, weil er handelt, sondern weil er Einkommen erzielt. Nicht die Handlung als solche interessiert das Steuerrecht, sondern nur der wirtschaftliche Erfolg dieser Handlung.“ Insbesondere auch der „Anfall“ der Erbschaft oder Schenkung kann aus Sicht des Steuerpflichtigen kaum als „Handlung“ sinnvoll verstanden werden. Anders als im Strafrecht spielt „Handlungsunrecht“ im Steuerrecht praktisch keine Rolle, die starke Tatsachenprägung und das Zurücktreten subjektiver Momente zeigt sich auch hier. 48 Behrends (Fn. 37), S. 103 f. Vgl. grundsätzlich zu subjektiven Elementen/Zurechnungselementen im Steuerrecht Wassermeyer, Das Erfordernis objektiver und subjektiver Tatbestandsmerkmale in der ertragsteuerlichen Rechtsprechung des BFH, StuW 1982, 352 ff. 49 Für das Einkommensteuerrecht unterscheidet Kirchhof in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 2 EStG Rz. A 37 ff., A 105 ff., zwischen „Zustands-“ und „Handlungstatbestand“, wobei auch dort deutlich wird, dass es um Zurechnungsprobleme geht. 50 Maßgeblich in dieser Hinsicht Hans Kelsen, vgl. aus seinem Oeuvre nur: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (1911), in HKW 2, S. 21 (insbes. 160 ff., 249 ff., 292 ff., 677 f., 762 f.); Kausalität und Zurechnung, ZÖR 6 (1955), S. 125 ff.; ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, insbes. S. 79 ff., 86 ff., 93 ff., 97 ff., 103 ff., 154; ders., Kausalität und Zurechnung, ARSP 46 (1960), S. 321 ff.; ders., Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 19 f.; es stellte ein
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rücksichtigt man dies, bricht die Kritik Bayers an der Zusammenfassung von Steuergegenstand und Steuermaßstab jedoch weitgehend zusammen, denn es handelt sich dann nicht mehr um eine kategoriale Unterscheidung51. Die Frage wird zur reinen Zweckmäßigkeit52. (2.) Ein zweiter Unterschied scheint darin zu bestehen, dass Bayer betont, seine Tatbestandselemente seien nicht gleichrangig, sondern der Tatbestand als „Stufentatbestand“ beschreibe eine zwingende Reihenfolge, da die Tatbestandselemente aufeinander aufbauten53. Freilich ist auch das unzutreffend bzw. beruht auf Missverständnissen. Ähnlich wie in einem Straf- oder deliktsrechtlichen Tatbestand müssen grundsätzlich sämtliche Tatbestandsmerkmale erfüllt sein, damit die angeordnete Rechtsfolge eintritt. Ob es am räumlichen Anwendungsbereich der Norm fehlt oder ob in dem konkreten Fall der Steuersatz Null ist, ist dabei grundsätzlich unerheblich. Insbesondere aus den Steuergesetzen selbst ergibt sich eine solche Rangfolge nicht. Die Reihenfolge hat zunächst vor allem didaktische Funktion54; daher wird in akademischen Prüfungen auch regelmäßig auf einer konkreten Prüfungsreihenfolge bestanden, während in der praktischen, insbesondere der richterlichen Tätigkeit auch das Nichteintreten der geprüften Rechtsfolge mit dem Fehlen des „letzten“ Tatbestandsmerkmals begründet werden kann55. Nähere Betrachtung verdient noch der bereits bei den Auseinandersetzungen mit Bayers Stufenlehre angeklungenen Unklarheiten hinsichtlich der Funktion des Handlungsbegriffs im Steuerrecht bzw. im Steuertatbestand: Handelt es sich bei Steuertatbeständen um Handlungs- oder um Erfolgstatbestände?56 Diese Frage kann nicht ganz einfach beantwortet werden. Starke Stimmen – etwa in der Einkommensteuerdogmatik – betonen das Handlungselement im Steuertatbestand: So differenziert etwa Paul Kirchhof einen einkommensteuerlichen Handlungs- und einen Erfolgstatbestand, die in § 2 EStG zu einem „erfolgsqualifizierten Handlungstatbestand“ zusammengefasst werden; da nur die durch den Steuerpflichtigen „erzielten“ Einkünfte steuerbar seien, entstünden steuerbare Einkünfte nur, „wenn die in § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1–7 genannten Erwerbsgrundlagen (Zustandstatbestand) durch einen Handlungs-
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wissenschaftlich höchst verdienstvolles Unterfangen dar, die unterschiedlichen Strukturen und Handhabungen der Zurechnungsproblematik in den verschiedenen Teilrechtsgebieten einmal „intradisziplinär“-vergleichend zu analysieren. Dies wird etwa deutlich, wenn Bayer ausführt, die Funktion des Steuergegenstands im Unterschied zum Steuermaßstab bestehe darin, „dass die einzelne natürliche Person Aufschluss darüber erhalten soll, ob sie ‚im großen und ganzen‘ oder ‚überhaupt‘ mit der Entstehung eines Einkommensteueranspruchs zu rechnen hat.“, in Zum Systemgedanken im deutschen Einkommensteuerrecht, FR 1983, 105 (108). Das ist jedoch vollkommen vernachlässigbar, kann kein tragender Grund für eine sinnvolle Differenzierung im Steuertatbestand sein. So i. E. auch Zugmaier in Herrmann/Heuer/Raupach, § 2 EStG Rz. 15. Bayer (Fn. 6), Rz. 392; ders., FR 1985, 338. Behrends (Fn. 37), S. 108; Hey, StuW 1998, 285 (287); Stollenwerk (Fn. 34), S. 219, 235; inkonsequent freilich m. E. dann ders., ebd., S. 220 mit Fn. 15. Vgl. für das Strafrecht Jakobs (Fn. 11), 6. Abschn. Rz. 46 f. Die m. E. beste aktuelle Analyse bei Reimer (Fn. 34), S. 43 ff.
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tatbestand erfolgreich genutzt werden […] Entstehensvoraussetzung (§ 38 AO) für den Tatbestand des steuerbaren Einkommens ist neben der in § 2 Abs. 1 Nr. 1–7 definierten, die Erwerbsfähigkeit am Markt begründenden Erwerbsgrundlage eine Tätigkeit des Steuerpflichtigen, das Erzielen von ‚Einkünften aus‘ dieser Grundlage, der Erfolg eines Gewinns oder Überschusses aus den sieben Erwerbsgrundlagen. Das zweite für § 2 konstitutive Tatbestandselement ist deshalb ein erfolgsqualifizierter Handlungstatbestand, der den Gegenstand des Steuerzugriffs, das Einkommen, mit den gemeinschaftsabhängigen Entstehensvoraussetzungen für Einkommen, die Erwerbsgrundlage, durch einen sozialpflichtigen Handlungstatbestand, die Erwerbshandlung, in Verbindung bringt“57. Die wohl h. M. sieht im Handlungselement demgegenüber eher ein Zurechnungsproblem: Die erzielten Einkünfte sind einem Steuersubjekt nach den Vorgaben des (Einkommen-)Steuertatbestands zuzurechnen58. Dies zeigt, dass es auch in der Lehre vom Steuertatbestand – wie stets im Recht – nicht ohne subjektive Tatbestandselemente und Zurechnungsfiguren geht59. Ob die Handlung – die in der Strafrechtswissenschaft wegen der zahlreichen theoretischen Untiefen ebenfalls kaum mehr im Zentrum der dogmatischen Diskussion steht60 – Kernelement des Einkommen- oder gar allgemein des Steuertatbestands ist, erscheint jedoch zweifelhaft61. Spätestens bei anderen Steuerarten stehen eindeutig keine menschlichen Handlungen – zumindest nicht notwendig des Steuersubjekts – im Vordergrund. Im Rahmen der als Erbanfallsteuer konzipierten Erbschaftsteuer wird allein der – trotz der Formulierung „Erwerb von Todes wegen“ – vollkommen passivische Vermögenszuwachs beim Erben erfasst und besteuert62. Von einer „Handlung“ des steuerpflichtigen Erben kann keine Rede sein. Die Diskussion sollte insgesamt nicht überbewertet werden63, sie zeigt jedoch zugleich die Anstoßfunktion der Steuertatbestandslehren: Durch den Versuch der Rückführung auf allgemeinere juristische Kategorien wird Klarheit über die Struktur der untersuchten Rechtsnormen gewonnen; Unklarheiten zeigen demgegenüber Forschungsbedarf auf. Diese Beobachtungen leiten zur rechtsdogmatischen Funktion des Steuertatbestands über.
__________ 57 Kirchhof in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 2 EStG Rz. A 37. 58 Vgl. etwa J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 229 ff.; ders. in Tipke/Lang (Fn. 6), § 7 Rz. 17 ff., § 9 Rz. 40 ff., 121 ff., 150 ff.; Ruppe in Herrmann/Heuer/Raupach, Einf. ESt Rz. 631. 59 Vgl. nur etwa Schön, Unternehmerrisiko und Unternehmerinitiative im Lichte der Einkommenstheorien, in FS Klaus Offerhaus, 1999, S. 385 (394 ff., 399 ff.); von Groll, Zur Finalität im Einkommensteuer- und Umsatzsteuerrecht, in FS Vogel, 2000, S. 687 ff. 60 Vgl. dazu etwa die Nachweise in den Fn. 93 ff. 61 Wiederum Schön (Fn. 59), S. 394 ff. 62 Vgl. statt aller nur Seer in Tipke/Lang (Fn. 6), § 13 Rz. 122 f. 63 Vgl. auch Reimer (Fn. 34), S. 43 ff.
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II. Die steuerrechtsdogmatische Funktion des Steuertatbestands 1. (Steuer-)Rechtsdogmatik Recht als normative zwangsbewehrte Sollensordnung ist stets anwendungsorientiert. Rechtsnormen werden nicht um ihrer selbst willen geschaffen, sondern in der konkreten Erwartung, dadurch etwas zu bewirken64. Rechtswissenschaft besitzt im Kern und im Ausgangspunkt daher ebenfalls eine praktische Aufgabe65. Im Recht sind politische Entscheidungen in Rechtsnormen gegossen, um soziale Konflikte friedlich, aber verbindlich mit juridischer Sachlogik entscheidbar zu machen66. Das gilt in dieser Abstraktion für alle Teilrechtsgebiete: Im öffentlichen Recht einschließlich des Strafrechts und des Steuerrechts steuert der Rechtsetzer, d. h. der Staat verbindlich-autoritativ, mit der Zivilrechtsordnung wird der Gesellschaft ein Fundus an Rechtsnormen und -modellen zum privatautonomen Gebrauch mit staatlicher Rechtsdurchsetzungsgarantie zur Verfügung gestellt. Recht dient somit der sozialen Steuerung67 – wobei der Begriff der „Steuerung“ hier ohne die vielfältigen Konnotationen der sog. Steuerungsdiskussion68 verwendet wird. Im demokratischen Verfassungsstaat, der zugleich Rechtsstaat ist, handelt es sich um eine demokratisch legitimierte Steuerung der Gesellschaft durch Rechtsnormen. Unsere Verfassung legt demnach ein Herrschaftsmodell zugrunde, in dem demokratisch legitimiert in Formen des Rechts Steuerung und Konfliktbehebung betrieben wird. Die Rechtsverwirklichung, d. h. die Anwendung und ggf. Durchsetzung der generell-abstrakt gefassten Sollenssätze, ist dabei ein vielfach gestufter Prozess, der mit der demokratischen Rechtsetzung beginnt, zur Rechtsanwendung durch den Bürger, die Verwaltung und die Gerichte im Einzelfall führt und im Ernstfall auch zur zwangsweisen Durchsetzung, d. h. zur direkten physischen Einwirkung auf die Wirklichkeit (Personen oder Sachen) führen kann69. Die „demokratische Steuerung“ der Gesellschaft durch das Recht nimmt von vornherein den großen Bogen von der generell-abstrakten Norm zur Einzelanwendung und Einzeldurchsetzung in Bezug70. Die konkreten Akte der Rechtsanwendung erlangen ihre Legitimität in der Sache, d. h. inhaltlich in erster Linie durch das demokratische Gesetz sowie – ergänzend –
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64 Zur Gestaltungs- und Steuerungsfunktion von Recht allgemein Rüthers (Fn. 9), Rz. 72 ff. 65 Larenz (Fn. 15), S. 234; Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 154 und öfter. 66 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2000, S. 390 f. und öfter; Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 3 f., 38 ff. und öfter. 67 Röhl/Röhl (Fn. 15), S. 251. 68 Vgl. dazu m. w. N. allgemein Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2006, § 1 Rz. 18 ff. 69 Waldhoff, Staat und Zwang, 2008, S. 13 ff.; ders., Vollstreckung und Sanktionen, in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 3, 2009, § 46 Rz. 6. 70 Waldhoff (Fn. 69), S. 16 ff.; allgemein zum Spannungsverhältnis von Norm und Einzelanwendung Röhl/Röhl (Fn. 15), S. 151 f.; zum „intentionalen Charakter der Sanktion“ und von Normen ebd., S. 218, 268.
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durch die ebenfalls, wenn auch nur indirekt/mittelbar demokratisch legitimierten Mitglieder des sog. Rechtsstabes (Richter oder Beamte)71. Das skizzierte Modell kann auf sämtlichen Ebenen weiter differenziert werden; der Grundgedanke bleibt doch gleich. Auch symbolische oder final programmierte Normen, verschiedene Stufen der Rechtssetzung unter Einbeziehung untergesetzlicher Normen, indirekte und private Formen der Rechtsanwendung und -durchsetzung, Verwischungen und Überlagerungen zwischen den traditionellen Rechtsgebieten und die Einbettung in eine supranationale und in internationale Strukturen verändern das Modell im Kern nicht, sind modellkompatibel. Der entscheidende, m. E. bisher vernachlässigte Aspekt in diesem Kontext ist folgender: Auch die Rechtsanwendung, die Methodik des Umgangs mit diesen ihrer Anlage und Funktion nach stets finalen Normen gehört zum Modell. Der demokratische Verfassungsstaat würde sich seiner Steuerungsund Gestaltungsoptionen begeben, hätte er keinerlei Einfluss auf die Rechtsverwirklichung im Einzelfall. Die im Gesetz vorhandenen generell-abstrakten Normen als solche sind nur der Ausgangspunkt, der wesentliche Teil der inneren Steuerung des beschriebenen Herrschaftsmodus. Wenn hier von „demokratischer Steuerung der Gesellschaft“ oder von „Herrschaftsmodus“ gesprochen wird, gilt dies auch für das Steuerrecht. Für die Lenkungsfunktion von Steuergesetzen gilt es ohnehin, aber auch für die im Kern instrumentale Staatsaufgabe der Steuer, dem Staat Einnahmen zu seiner Finanzierung zu verschaffen, gelten die oben gemachten Ausführungen, da sich Herrschaft auch in derartigen instrumentalen Aufgaben verwirklicht, diese untrennbar mit inhaltlicher Gestaltung und Steuerung verbunden sind. Ulrich Meyer-Cording hat 1973 den Tod der Rechtsdogmatik diagnostiziert72. Damit war er weder der Erste, noch der Letzte. Totgeglaubte leben bekanntlich länger: Die Rechtsdogmatik bestimmt nach wie vor die Tätigkeit der Juristen – in der Wissenschaft, wie in der Praxis – auch des Steuerrechts. Was juristische Dogmatik oder Rechtsdogmatik ist, ist allerdings bis heute reichlich unklar73. In der Wissenschaft sind dazu verschiedene, sich freilich vielfach über-
__________ 71 Zu den verschiedenen, einander ergänzenden Modi demokratischer Legitimation Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 24 Rz. 14 ff. 72 Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein? 1973, S. 32, unter der Fehlannahme Dogmatik habe etwas mit Dogmatismus zu tun; um mit Esser, Methodik des Privatrechts, in Methoden der Rechtswissenschaft, Teil 1, 1972, S. 3 (19), zu sprechen, handelt es sich nicht um „Glaubenssätze“, sondern um „Orientierungsgrundlagen“, „Axiome“; vgl. zu der Tendenz, bei Angriffen auf die juristische Dogmatik Strohpuppen zu exekutieren, Bachof, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, in VVDStRL 30 (1972), S. 193 (198). Immerhin taucht „Dogmatik“ in dem wohl aktuellsten Lehrwerk über Rechtstheorie und juristische Grundbegriffe, der Allgemeinen Rechtslehre von Röhl/Röhl (Fn. 15), nur noch im Zusammenhang mit dem „System“ auf, ebd., S. 438; Zusammenstellung zur Dogmatikkritik etwa bei Paul, Kritische Rechtsdogmatik und Dogmatikkritik, in Kaufmann (Hrsg.), Rechtstheorie, 1971, S. 53 ff. 73 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983 (Taschenbuchausgabe) S. 307; Rüthers (Fn. 9), Rz. 309; Harenburg (Fn. 65), S. 37.
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schneidende und ergänzende Konzeptionen entwickelt worden, die hier nicht dargestellt werden können74. Bei dem Blick auf die unterschiedlichen Konzeptionen von Rechtsdogmatik bestätigt sich eine Beobachtung Franz Wieackers, dass es stets eine Mehrzahl leistungsfähiger dogmatischer Methoden gegeben habe75. Hier wird eine typologisch arbeitende eigene Konzeption aus den vorgeschlagenen Modellen destilliert. Aus der so entwickelten Funktion von Dogmatik sollen dann Rückschlüsse auf die Funktion des Steuertatbestands innerhalb der Steuerrechtsdogmatik gezogen werden. Das bisher Ausgeführte macht deutlich, dass wir keine exakte Definition von Rechtsdogmatik erwarten können, sondern uns umschreibend dem Gegenstand nähern76. Im Folgenden sollen daher die sich bisher ergebenden inhaltlichen Essentialien anhand von sechs Punkten zusammengestellt werden: (1.) Dogmatik ist auf Anwendungsbezug ausgerichtete methodisch konsentierte Aufbereitung der geltenden generell-abstrakten Normen für Einzelfallentscheidungen; Rechtsdogmatik befasst sich dadurch, dass sie die Frage beantwortet, was in bestimmten Situationen als Recht gilt, mit der Normativität des Rechts77; Rechtsnormbindung und Entscheidungszwang werden so verkoppelt; dabei wird sogleich der Zwang, in einer Vielzahl von Fällen entscheiden zu müssen berücksichtigt, gerade hier sind die durch Rechtsdogmatik zu erwartenden Konsistenzen wie Rechtssicherheit, Berechenbarkeit, Verlässlichkeit usw. entscheidend; Rechtsdogmatik besitzt insoweit Entlastungsfunktion, da sie die ständige Neuvergewisserung über bestimmte Grundannahmen erübrigt78; sie macht Vorschläge für die Gestaltung von Recht, sofern sie von der Wissenschaft betrieben wird, wird sie von Richtern, Verwaltungsbeamten oder sonst kompetentiell Ermächtigten betrieben, umfasst sie auch Rechtserzeugung; (2.) Dogmatik macht durch die Strukturierung des Rechtsstoffes diesen verstehbar, sie besitzt insofern eine didaktische, eine Verständigungsfunktion; sie sorgt im Vergleich zu zahlreichen geistes- und sozialwissenschaftlichen Nachbarwissenschaften für eine außerordentlich hohe Verständigungsfähigkeit unter
__________ 74 Vgl. nur als weiterführende Konzeptionen: Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in FS Gadamer, Bd. 2, 1970, S. 311 ff.; Esser, Dogmatik zwischen Theorie und Praxis, in FS Raiser, 1974, S. 517 ff.; vgl. auch bereits dens., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 87 ff.; Möllers, Methoden, in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Fn. 68), § 3 Rz. 35; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983 (Taschenbuchausgabe), S. 307 ff.; vgl. jetzt auch Waldhoff, Lob und Kritik der Dogmatik: Rechtsdogmatik im Spannungsfeld von Gesetzesbindung und Funktionenorientierung, in G. Kirchhof/Magen/ K. Schneider (Hrsg.), Was können wir über Rechtsdogmatik wissen?, erscheint 2011. 75 Wieacker in FS Gadamer (Fn. 74), S. 311 (322 ff.); vgl. auch Struck, Dogmatische Diskussion über Dogmatik, JZ 1975, 84. 76 Vgl. auch Struck, JZ 1975, 84. 77 Brohm, Kurzlebigkeit und Langzeitwirkungen der Rechtsdogmatik, in FS Maurer, 2001, S. 1079 f. 78 Bachof, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung in VVDStRL 30 (1972), S. 193 (198); Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, in VVDStRL 30 (1972), S. 245 (247); ders. in FS Maurer (Fn. 77), S. 1082 f.
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Juristen79; sie ist Interpretation, Auslegung, Konkretisierung, geht mit Ansprüchen von Systembildung u.ä. darüber jedoch hinaus; sie stellt auf einer mittleren Abstraktionsebene80 zwischen den Rechtstexten einerseits, der außerhalb des Rechtssystems stehenden Reflektion über Recht andererseits das geltende Recht systematisch dar; sie ist damit zugleich Erkenntnisverfahren wie eine Summe von Begriffen, Lehrsätzen und Rechtsinstituten; die Methodik der Auslegung zählt zur Dogmatik81; Dogmatik ist nicht Rechts-, sondern Rechtserkenntnisquelle82; (3.) Dogmatik ist damit stets rechtsnormakzessorisch83 und kann sich im demokratischen Verfassungsstaat nicht gegen klare Entscheidungen des Gesetzgebers wenden (dies allenfalls in ihrer rechtspolitischen Instrumentalisierung); der Gesetzgeber kann vielmehr dogmatische Konzeptionen, welche die Rechtsanwendung prägen, durch Gesetzesänderung ausschalten; andersherum kann Dogmatik auch die Gesetzgebung beeinflussen – dies obliegt jedoch der Entscheidung des Gesetzgebers; nicht entscheidend ist, ob Gesetze in Form einer Kodifikation oder in sonstiger Form vorliegen; (4.) Dogmatik bewegt sich „im“ Rechtssystem84, ist als wissenschaftliche Tätigkeit oder als entwerfende Praxis aber als solche nicht rechtserzeugend, da erst durch kompetentiell ermächtigte Mitglieder des Rechtsstabes verbindliche Entscheidungen generiert werden; (5.) Dogmatik ist dynamisch, auf Veränderung auch unabhängig von Veränderungen der zugrundeliegenden Rechtsnormen angelegt85; neue Erkenntnisse können die Dogmatik stets verändern; als unumstößlich gelten nur theologische Dogmen, wobei die Geschichte zeigt, dass auch diese zeit- und kontextabhängig sind; (6.) eine „aufgeklärte“ Dogmatik86 hat Begriffsjurisprudenz, Logizismen und stur formal-logischen Ableitungszusammenhänge überwunden, macht vielmehr die stets notwendigen Wertungen systematisch deutlich und überhaupt erkennbar und nimmt auch Erkenntnisse aus den rechtswissenschaftlichen Grundlagendisziplinen zur Kenntnis und verarbeitet sie insoweit, als dies die zugrundelie-
__________ 79 Vgl. auch Schlink, Juristische Methodik zwischen Verfassungstheorie und Wissenschaftstheorie, Rechtstheorie 7 (1976), S. 94, der die Anschlussfähigkeit zwischen Juristen vorrangig auf die Existenz von Höchstgerichtsbarkeiten zurückführt: „intakte Autorität eines Verfassungsgerichts“ und „kooperative Kommunikation der Verfassungsrechtswissenschaft“. 80 Viehweg, Zwei Rechtsdogmatiken, in FS Emge, 1960, S. 106 (111 f.). 81 Zu den diesbezüglichen Unklarheiten Struck, JZ 1975, 84. 82 Müller, Juristische Methodik, 5. Aufl. 1993, S. 230; ausführlich Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, 2006, S. 62 ff. 83 Insofern nicht unproblematisch Struck, JZ 1975, 85; zum Gesetzesbezug in historischer Perspektive Koschaker, Europa und das römische Recht, 2. Aufl. 1953, S. 337 ff. 84 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 19. 85 Brohm (Fn. 77), S. 1085. 86 Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, AcP 172 (1972), 97 (98) spricht insofern von pragmatischen Konzepten von Dogmatik.
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genden Rechtsnormen bzw. die Dogmatik selbst gestatten; das Ringen um eine angemessene Dogmatik stellt selbst dogmatisches Streben dar87. Diese Kriterien gelten für jedes Rechtsgebiet, somit auch für das Steuerrecht. 2. Die dogmatische Funktion des Steuertatbestands Vor diesem Hintergrund gilt es die Funktion des Steuertatbestands für die Steuerrechtsdogmatik näher zu entwickeln. Waren die exemplarisch herangezogenen Umschreibungsversuche, was unter Rechtsdogmatik zu verstehen ist, aus dem Zivilrecht bzw. dem öffentlichen Recht entlehnt88, soll hier ein Blick auf die dogmatischen Funktionen der strafrechtlichen Tatbestandslehren Aufschluss geben; zum einen deshalb, weil dort die dogmatische Feinarbeit von allen Rechtsgebieten vermutlich am weitesten fortgeschritten ist89, zum anderen, weil Straf- und Steuerrecht als Eingriffsrecht zahlreiche Parallelen aufweisen90. a) Als Vergleichsebene: Die Funktion des Straftatbestands Auch der Straftatbestand ist die Zusammenstellung der Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit die Rechtsfolge – Anordnung einer Strafe oder anderen Rechtsfolge – eintritt. In der Strafrechtsdogmatik verbinden sich mit der
__________ 87 Vgl. auch de Lazzer, Rechtsdogmatik als Kompromissformular, in FS Esser, 1975, S. 85 (86); nicht unproblematisch wiederum Struck, JZ 1975, 84, der Diskussionen über Dogmatik nicht als „Dogmatik“ ansieht. 88 Vgl. oben Fn. 74. 89 Vgl. Fikentscher (Fn. 13), S. 170 f.: „Die Begeisterung vieler junger Juristen vor allem für das Strafrecht und die pädagogische Funktion des Strafrechts für das Studium des gesamten Rechts hängen wesentlich mit dieser Gliederung des Strafrechtstatbestandes zusammen. Es ist im Grunde eine erstaunliche Tatsache, dass gerade dasjenige Rechtsgebiet, das am empfindlichsten in die Sphäre des Menschen hineingreift, das es mit dem schreiendsten Unrecht zu tun hat und das doch zugleich die höchsten Anforderungen an menschliche und psychologische Einfühlungsgabe stellt, mit dem saubersten begrifflichen Instrumentarium an die Beurteilung menschlichen Verhaltens herangeht.“ 90 Vgl. bereits Hensel (Fn. 6), S. 57: „Bei dieser Deutung des Verhältnisses von Tatbestand und Sachverhalt lassen sich gewisse Parallelen zum Strafrecht nicht ableugnen. Auch hier stellt der Gesetzgeber abstrakt hypothetisch Tatbestandsnormen auf, die nur dann den staatlichen Strafanspruch zu erzeugen vermögen, wenn ein konkreter Sachverhalt den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht. Das Gemeinsame liegt in dem Aufbau von Steuerrecht wie Strafrecht als rechtsstaatlich geordnetem Eingriffsrecht beschlossen.“ Pointiert auch Flume, Richterrecht im Steuerrecht, in StBJb (1964/65), S. 55 (68): „Es ist die Besonderheit des Steuerrechts als eines einseitigen Eingriffsrechts, dass es ganz und gar positivistisches Recht ist. Insofern steht das Steuerrecht dem Strafrecht gleich. Man darf sogar wohl sagen, dass das Steuerrecht noch positivistischer als das Strafrecht ist.“ Zur Parallele zum Polizeirecht Mayer (Fn. 23), S. 315; ausführlich zu beiden Vergleichsebenen wiederum Hensel, Die Abänderung des Steuertatbestandes durch freies Ermessen und der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, in StVjSchr 1 (1927), S. 39 (41 ff.); ders. (Fn. 30), S. 81 ff., 94 ff.
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Lehre vom Straftatbestand freilich weit darüber hinausgehende Funktionen91. Letztlich hängen die ganze Verbrechenslehre, die ganzen Streitigkeiten und Erörterungen der allgemeinen Strafrechtslehre an dieser Figur. Claus Roxin unterscheidet mit dem Systemtatbestand, dem Garantietatbestand und dem Irrtumstatbestand drei Funktionen strafrechtlicher Tatbestandslehren und damit drei Tatbestände92. Während der Irrtumstatbestand eine Folge der Grundunterscheidung zwischen Tatbestands- und Verbotsirrtum und damit letztlich eine sehr spezielle strafrechtsdogmatische Differenzierung aufnimmt und der Garantietatbestand die strafrechtliche Formulierung des Gesetzesvorbehalts in Art. 103 Abs. 2 GG (wortgleich § 1 Abs. 1 StGB) mit der Bindung des strafrechtlichen Eingriffs an hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlagen darstellt, ist mit Systemtatbestand die die – wirklich oder vermeintlich vorgeschaltete – menschliche Handlung mit der abstrakt-normativen Unrechtsdefinition in den gesetzlichen Umschreibungen desjenigen, das wegen seiner besonderen Sozialschädlichkeit Strafe verdient, verknüpfende Kategorie gemeint. Der Garantietatbestand ist weiter, da er auch die für eine Bestrafung erforderlichen Merkmale der Rechtswidrigkeit und der Schuld umfasst, der Irrtumstatbestand ist enger als der Systemtatbestand, da der Tatbestandsirrtum i. S. v. § 16 StGB sich logischerweise kaum auf die heute allgemein anerkannten subjektiven Tatbestandsmerkmale beziehen kann. Für unsere Fragestellung interessiert nur der Systemtatbestand im Sinne der Roxinschen Unterscheidung. Eine Handlung wird strafrechtlich als Tatbestandsmäßig bezeichnet, wenn sie jener Verbrechensbeschreibung entspricht, deren wichtigste Teile im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs zusammengefasst sind: „Im Tatbestand wird die Handlung unter dem Gesichtspunkt der abstrakten Strafbedürftigkeit gewürdigt“93. Wer durch eine Handlung eine fremde, bewegliche Sache einem anderen mit Zueignungsabsicht wegnimmt, handelt in Bezug auf § 242 StGB tatbestandsmäßig, „verwirklicht“ den Diebstahlstatbestand. Diese strikte Bindung an einen Strafrechtstatbestand ist wiederum das dogmatische Instrument, um die von Art. 103 Abs. 2 GG geforderte Bindung an das Gesetz verwirklichen zu können: Die möglichst exakte und wortlautgetreue Gesetzesbestimmtheit verwirklicht die Verortung des Tatbestands im „Spannungsfeld von Gesetzeszweck und Gesetzesbestimmtheit“94. Schon diese kurze Reflexion verdeutlicht, dass dem Strafrechtstatbestand in dem hier interessierenden Sinne als Systemtatbestand Multifunktionalität zukommt: Zum einen stellt er die Verbindung zu den verfassungsrechtlichen Eingriffs- und Bestimmtheitsanforderungen her; zum anderen dient er der strafrechtsdogmatischen Durchdringung des Rechtsstoffes, um die umschriebenen dogmatischen Funktionen der Verständigung auf einer mittleren, anwendungsbezogene Sprachebene zu ermöglichen. Der Straftatbestand als Kernelement der Diskussion um den Verbrechensaufbau dient damit der Vergewisserung über Inhalt, Struktur und Anwendung der Strafgesetze. Dies geht über rein
__________ 91 92 93 94
Roxin (Fn. 46), §§ 7, 10; Jakobs (Fn. 11), S. 150 ff. Roxin (Fn. 46), § 10, § 7 Rz. 6, 61 ff. Roxin (Fn. 46), § 7 Rz. 61. Roxin (Fn. 46), § 7 Rz. 6, 62.
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didaktische Ziele, wie der Stoff Studierenden vermittelt werden kann, hinaus. Dogmatik und damit die dogmatische Funktion des Straftatbestands erschöpft sich nicht in Didaktik95. Der Tatbestand dient der dogmatischen Verdeutlichung, damit dem Verständnis und angesichts der Funktion von Recht schlechthin der Anwendbarmachung der Strafrechtsnormen. Die sich im Tatbestand zeigende „Gliederung“ erklärt und konkretisiert die Norminhalte; ohne diese Zwischenstufe wäre eine konsistente Rechtsanwendung regelmäßig nicht möglich. Wie Rechtsdogmatik überhaupt ist somit auch die Tatbestandsbildung von der Verfassung vorausgesetzt. Innerhalb dieser Funktion ist die Frage der Tatbestandsbildung und -abgrenzung weitgehend eine Zweckmäßigkeitsfrage. Wird als Tatbestand in großer Abstraktion und Rückkopplung an die Struktur von Rechtsnormen „jeder Inbegriff von Merkmalen […], der ein rechtlich relevantes Urteil begründet“ verstanden, können auch Rechtfertigungstatbestände, Gesamtunrechtestatbestände, Schuldtatbestände, Gesamtschuldtatbestände, Entschuldigungstatbestände usf. gebildet werden96 und dienen damit der juristischen Verständigung über die jeweiligen Fragen. b) Die dogmatische Funktion des Steuertatbestands Die dogmatische Funktion des Steuertatbestands entspricht derjenigen, die aus der Analyse des Strafrechts entwickelt wurde mit den für das Steuerrecht notwendigen Unterschieden: Der Steuertatbestand stellt zum einen die Verbindung zu bestimmten rechtsstaatlichen Anforderungen an die Besteuerung dar, wie sie aus der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes folgen (dazu sogleich unter III 1). Im Kern besteht die Funktion des Steuertatbestands und seiner Lehre jedoch in der jeder Rechtsdogmatik im Verfassungssystem des Grundgesetzes zukommenden Aufgabe, als Zwischenstufe mittlerer Abstraktionshöhe die in den Gesetzestexten verdeutlichten politischen, in Rechtsform gegossenen Entscheidungen für die Rechtspraxis anwendbar zu machen, eine konsistente Rechtsanwendung durch die Möglichkeit juristischer Verständigung zu ermöglichen97. Ohne die die Rechtsetzung begleitende rechtsdogmatische Arbeit mit den Gesetzestexten wäre diese von der Verfassung vorausgesetzte Aufgabe kaum durchführbar, die Rechtsanwendung verliefe mangels juridischer Verständigungsmöglichkeit zwischen den Rechtsanwendern und zwischen Rechtsanwender und Bürger, also zwischen den vielfältigen Adressaten der Rechtssätze mehr oder weniger beliebig. Gleichmäßigkeit und Konsistenz von Rechtsanwendung wären kaum zu gewährleisten. Schließlich – drittens – folgt aus dieser Verortung eine didaktische Funktion. Anhand der Kategorie des
__________ 95 Vgl. etwa Jakobs (Fn. 11), 6. Abschn. Rz. 46 f. 96 Jakobs (Fn. 11), 6. Abschn. Rz. 53. 97 Zumindest missverständlich Hahn (Fn. 3), S. 89, der den Steuertatbestand nicht als „Rechtsbegriff“ (gemeint ist wohl: Gesetzesbegriff, wobei auch das angesichts von §§ 3 Satz 1; 38 AO falsch wäre) ansieht, sondern ihm „eine mehr heuristische“ Aufgabe zuweist; darüber geht die hier vertretene Auffassung von Rechtsdogmatik und der damit verbundenen Funktion des Steuertatbestands hinaus.
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Steuertatbestands kann sich der Studierende oder derjenige, der sich über Steuerrecht informieren möchte, schon allein durch dieses gedankliche Gerüst jedem ihm unbekannten Steuergesetz nähern und es leichter verstehen. Ohne die steuerliche Tatbestandslehre wäre die Vermittlung fremder Einzelsteuern im akademischen Unterricht wenn nicht unmöglich, so doch entscheidend erschwert. Gleichwohl wäre es ein Missverständnis, die Funktion der steuerlichen Tatbestandslehre auf diese didaktische Dimension zu verkürzen. Im Kern steht nicht die Vermittlung von Rechtsstoff, sondern die Anwendbarmachung der Rechtssätze im Sinne ihrer Aufbereitung für die intersubjektive Verständigung von Juristen über diese.
III. Die steuerverfassungsrechtliche Funktion des Steuertatbestands 1. Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung als sachbereichsspezifischer Ausfluss des Gesetzesvorbehalts „Der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips im Bereich des Abgabenwesens fordert, dass steuerbegründende Tatbestände so bestimmt sein müssen, dass der Steuerpflichtige die auf ihn entfallende Steuer vorausberechnen kann“98. Er bringt als bereichsspezifische Ausprägung der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes für das Steuerrecht die besondere Gesetzesgebundenheit dieses Regelungsfelds auf den Begriff99. Was vor der vollen Anwendung des Verfassungsrechts auf Besteuerungsvorgänge aus dem Steuerbegriff bzw. der Abgabenordnung hergeleitet wurde, erscheint nun konstitutionalisiert100. a) Einschränkung von Delegationsmöglichkeiten Bei der Anwendung dieses Grundsatzes auf mehrstufige Rechtssetzungsvorgänge, d. h. bei der Delegation von Steuerrechtsetzungsbefugnissen, sind Modifikationen anzubringen. Das Bundesverfassungsgericht lehnt einen zwingenden gesetzesförmlichen Gesetzesvorbehalt (Parlamentsvorbehalt), der die Delegation der Regelung von Abgaben verbieten würde, ab101. Die entscheidende Frage ist dann, welche Elemente des Steuertatbestands von der formellgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage geregelt werden müssen und welche der untergesetzlichen Normstufe überlassen bleiben dürfen102. Das Bundesverfassungsgericht kommt zu unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem um welche Form der Delegation es sich handelt. Im Bereich der Delegation auf einen Ver-
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98 BVerfGE 19, 253 (267); 34, 348 (365); 49, 343 (362). 99 Vgl. statt anderer Brinkmann (Fn. 8); Vogel/Waldhoff in Bonner Kommentar (Fn. 4), Rz. 476, 479 ff.; Ruppe in Herrmann/Heuer/Raupach, Einf. ESt Rz. 512; kritisch demgegenüber Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze, 1992; Eckhoff (Fn. 21), S. 288 ff. 100 Vgl. Kruse (Fn. 1), S. 56, 58 f. 101 BVerfGE 16, 64 (77); 21, 54 (60 f.). 102 Näher Waldhoff, Satzungsautonomie und Abgabenerhebung, in FS Vogel, 2000, S. 495 (499 ff.).
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ordnungsgeber, d. h. der Dekonzentration der Staatsgewalt, steht mit Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG ein spezieller verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab zur Verfügung; danach muss das „Wesentliche“ im Gesetz, nicht in der Verordnung geregelt sein103. Deutlich geringere Anforderungen werden Ermächtigungsgrundlagen für Abgabensatzungen, d. h. für den Bereich der Steuerrechtsetzung, der dem staatsrechtlichen Prinzip der Dekonzentration folgt, gestellt104. In diesen Einschränkungen der Gesetzesdelegation liegt – das hatte schon Otto Mayer erkannt – über die allgemeine Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes hinaus die Besonderheit des steuerrechtlichen Tatbestandsprinzips105. b) Bestimmtheitsanforderungen Mit der rechtsstaatlichen Lehre vom Steuergesetzesvorbehalt sind zugleich Bestimmtheitsanforderungen an den Steuertatbestand verbunden106. Wurde zunächst auf den Steuerbegriff rekurriert, trat schon seit Mitte der 1960er Jahre das Rechtsstaatsprinzip an diese Stelle. Die Bestimmtheitsanforderungen resultieren in diesem Zusammenhang zunächst aus dem allgemeinen Erfordernis der Bestimmtheit von Eingriffstatbeständen, wie es für das Strafrecht etwa in Art. 103 Abs. 2 GG eine besondere Positivierung gefunden hat. Aber auch aus dem oben entwickelten weitreichenden Delegationsverbot, wonach sich etwa die wesentlichen Elemente des Steuertatbestands aus dem formellen Parlamentsgesetz selbst ergeben müssen, folgen Bestimmtheitsstandards für das Steuergesetz. Der Vorbehalt des Gesetzes ohne damit zusammenhängende Bestimmtheitsgebote wäre funktionslos. Auf die Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden; daraus folgt insbesondere das Analogieverbot zu Lasten des Steuerpflichtigen, der Ausschluss von Gewohnheitsrecht und wohl auch von völkerrechtlichen Verträgen zur Begründung von Steuern, der weitgehende Ausschluss von Ermessenstatbeständen im Steuertatbestand (nicht zwingend im Steuerverwaltungsverfahren). Auf die Verwendung von Generalklauseln und
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103 BVerfGE 7, 282 f.; eingehend P. Kirchhof, Besteuerung nach Gesetz, in FS Kruse (Fn. 1), S. 17 ff. 104 BVerfGE 19, 253 (267); 73, 388 (400); vgl. bereits PrOVGE 57, 131 (133) sowie Hensel (Fn. 6), S. 45 ff.; nähere Begründung bei Waldhoff (Fn. 102); strenger Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, S. 65 ff., 139 ff., 211; Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 3 AO Rz. 191. 105 Kruse, Gesetzmäßige Verwaltung, tatbestandsmäßige Besteuerung, in Felix (Hrsg.), Vom Rechtsschutz im Steuerrecht, 1960, S. 93 (109 ff.); Papier (Fn. 104), S. 153 ff., 155; Drüen in Tipke/Kruse, § 3 AO Rz. 34. 106 BVerfGE 13, 153 (160); 13, 318 (328); 19, 253 (267); 21, 209 (215); 49, 343 (362); 73, 388 (400), st. Rspr.; ferner Jehke, Bestimmtheit und Klarheit im Steuerrecht, 2005; Papier, Der Bestimmtheitsgrundsatz, in Friauf (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, 1989, S. 61 ff.; Schulze-Osterloh, Unbestimmtes Steuerrecht und strafrechtlicher Bestimmtheitsgrundsatz, in Kohlmann (Hrsg.), Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht, 1983, S. 43 ff.; Ruppe in Herrmann/Heuer/Raupach, Einf. ESt Rz. 513; Vogel/Waldhoff in Bonner Kommentar (Fn. 4), Rz. 482 ff.; Kruse (Fn. 1), S. 55 f.; Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 3 AO Rz. 192 ff.; Drüen in Tipke/Kruse, § 3 AO Rz. 40; kritisch Osterloh (Fn. 99), S. 139 ff.; Eckhoff (Fn. 21), S. 285 ff.
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unbestimmten Rechtsbegriffen im Steuertatbestand kann demgegenüber nicht ganz verzichtet werden; sie steht freilich unter verfassungsrechtlichem Rechtfertigungsdruck. 2. Steuertatbestand und bundesstaatliche Finanzverfassung a) Das Verbot gleichartiger Steuern als Problem des Vergleichs von Steuertatbeständen? In den finanzverfassungsrechtlichen Kompetenznormen spielt das Verbot „gleichartiger“ Steuern seit der Weimarer Zeit eine wichtige Rolle107. Die „Gleichartigkeit“ von Rechtssätzen ist zunächst ein allgemeines Problem der Normkonkurrenz und der Normkollision. Auf dem Gebiet der Steuern stellt sich dieses Problem jedoch verschärft, da – anders als bei üblichen Verhaltensoder Sanktionsnormen – verschiedene Steuern nebeneinander bezahlt werden können, insofern kein Widerspruch auftritt. Die Rechtsfolge Steuern zahlen zu müssen kann mithin als solche keine Normenkonkurrenz indizieren108. Im geltenden Finanzverfassungsrecht tritt das Problem der Gleichartigkeit, d. h. des Vergleichs von Steuern zum einen durch die (teils explizite hinsichtlich des Abs. 2, teils implizite hinsichtlich des Abs. 1) Verweisung in Art. 105 Abs. 2 GG auf Art. 72 GG auf109. Auch hier gilt: Wenn und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht hat, tritt eine Sperrwirkung für die Länder ein. Zudem weist Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG den Ländern die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz über die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern zu, „solange und soweit sie nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind“. Der Steuertatbestand kommt in dieser Diskussion zum Tragen, da in den zahlreichen Vorschlägen, wie die Gleichartigkeit von Steuern zu bestimmen ist, neben der „Steuerquelle“, dem „Steuermaßstab“ oder den „wirtschaftlichen Auswirkungen der Steuer“ auf den Steuertatbestand als entscheidendem Vergleichskriterium abgestellt wurde. Insbesondere Klaus Vogel hat gezeigt, dass einzig ein wertender Gesamtvergleich von Steuern im Sinne einer Steuertypenlehre Erfolge zeitigen kann. Die in der Verfassung verwendeten Einzelsteuerbegriffe bilden demnach aus der relevanten Geschichte der jeweiligen Steuern in Deutschland generierte, durch charakteristische Merkmale geprägte (Steuer-)Typen ab. Unter einen solchen Typus lässt sich – anders als unter einen Tatbestand – nicht subsumieren, nur ein wertender Gesamtvergleich kann die Entsprechung bejahen oder verneinen. Das hat zur Folge, dass die Einzelsteuerbegriffe der Art. 105 und 106 GG Steuertypen mit – zumindest in rudimentärer Form – inhaltlichen
__________ 107 Vgl. als maßgebend für die Weimarer Zeit Markull, Gleichartige Steuern, in VJSchrStFR 4 (1930), S. 535 ff.; insgesamt m. w. N. Vogel/Walter, Art. 105 GG Rz. 86 ff.; Korte, Die konkurrierende Steuergesetzgebung des Bundes im Bereich der Finanzverfassung, 2008, S. 104 ff. 108 Vogel/Walter, Art. 105 GG Rz. 96. 109 Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 6, 3. Aufl. 2008, § 139 Rz. 39.
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Vorgaben für den Steuergesetzgeber bilden, die jedoch keinesfalls die Präzision von Steuertatbeständen erreichen können. b) Steuertypen der Einzelsteuerbegriffe und Steuertatbestände Die Kompetenznormen des Art. 105 und 106 GG, welche die Steuergesetzgebungskompetenzen und die Steuerertragshoheit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden verteilen, besitzen auch materielle Gehalte. Sie können ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn die dort verwendeten Steuerbegriffe inhaltlich aufgeladen sind; nur dann kann verfassungsrechtlich auch abgegrenzt und entschieden werden. Neben dem allgemeinen verfassungsrechtlichen Steuerbegriff110 stehen dabei die verfassungsrechtlichen Einzelsteuerbegriffe im Vordergrund: „Zölle“, „örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern“, „Grunderwerbsteuer“ im Rahmen von Art. 105 GG, „Verbrauchsteuern“, „Straßengüterverkehrsteuer“, „Kraftfahrzeugsteuer“, „Kapitalverkehrsteuern“, „Versicherungsteuer“, „Wechselsteuer“, „Vermögensteuer“, „Erbschaftsteuer“, „Biersteuer“, „Einkommensteuer“, „Körperschaftsteuer“ und „Umsatzsteuer“ – um nur einige zu nennen – in Art. 106 GG. Dogmatisch hat sich zunächst ein Streit darüber entzündet, ob außerhalb des Katalogs der in diesen Kompetenznormen aufgeführten Steuern ein „Steuererfindungsrecht“ besteht111. Damit zusammen hängt die Frage nach inhaltlichen Vorgaben aus den dort verwendeten Einzelsteuerbegriffen112. Auch das Bundesverfassungsgericht hat vereinzelt die Unterordnung einer reformierten Steuer unter einen steuerlichen Typusbegriff vorgenommen113. Die Schlussfolgerung aus diesen Beobachtungen lautet: Steuertatbestände sind eine Kategorie des einfachen Steuerrechts und der Steuerrechtsdogmatik; auf Verfassungsebene können sinnvollerweise lediglich Steuertypen unterschieden werden. Setzte man die im Grundgesetz verwendeten Einzelsteuerbegriffe mit konkreten Steuertatbeständen, wie sie die Steuergesetze ausprägen, gleich, führte dies zu einer Zementierung des einmal gegebenen Steuersystems. Dies wurde in der Tat in der Frühzeit des Grundgesetzes von Gerhard Wacke vertreten114, ist inzwischen jedoch klar als Irrweg erkannt worden.
__________ 110 Vgl. statt aller nur Vogel/Waldhoff in Bonner Kommentar (Fn. 4), Rz. 352 ff. 111 Dazu etwa (bejahend) Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 138 ff.; Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, in Isensee/Kirchhof (Fn. 109), § 139 Rz. 29 ff.; verneinend: Vogel, Finanzverfassung und politisches Ermessen, 1972, S. 9 f.; ders., Zur Auslegung des Art. 106 Grundgesetz, in FS Tipke, 1995, S. 93 ff.; Vogel/Walter, Art. 105 GG Rz. 63 ff.; Maunz in Maunz/Dürig, Art. 105 GG Rz. 46, Art. 106 Rz. 59 f.; Siekmann in Sachs, 5. Aufl. 2009, Art. 105 GG Rz. 37; Küssner, Die Abgrenzung der Kompetenzen des Bundes und der Länder im Bereich der Steuergesetzgebung sowie der Begriff der Gleichartigkeit von Steuern, 1992, S. 56 ff.; Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland-Schweiz, 1997, S. 184 ff. 112 Eingehend Waldhoff (Fn. 111), S. 184 ff. 113 BVerfGE 31, 314 (331) – Umsatzbesteuerung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten. 114 Das Finanzwesen der Bundesrepublik, 1950, S. 63 f.; ders., Die Finanzverfassung, DÖV 1955, 577 (579).
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Um Missverständnisse zu vermeiden: Diese finanzverfassungsrechtlichen, kompetenziellen Typenbegriffe haben nichts mit Typusbegriffen innerhalb von Steuertatbeständen oder typisierender Betrachtungsweise im Steuerrecht o. Ä.115 zu tun.
IV. Die international-steuerrechtliche Funktion des Steuertatbestands und abkommensrechtliche Tatbestände Der Steuertatbestand besitzt auch im Internationalen Steuerrecht eine Funktion. Schon der Tatbestand der internationalen Doppelbesteuerung im juristischen Sinne setzt u. a. „die Erhebung vergleichbarer Steuern“ in zwei oder mehr Staaten von demselben Steuerpflichtigen in derselben Zeitperiode voraus116. Auch hier bedeutet „vergleichbar“, „gleichartig“ und nicht „gleich“ im Sinne von „identisch“: Es kann sinnvollerweise auch hier nur um einen Typenvergleich gehen, der die Charakteristika der involvierten Steuern aus zwei oder mehr Steuerrechtsordnungen wertend vergleicht. Ausgangspunkt eines derartigen Vergleichs sind wiederum die Steuertatbestände, ohne dass freilich bei einem Textvergleich stehen geblieben werden könnte117. Die Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) als zielgerichtete, unmittelbar anwendbare völkerrechtliche Verträge besitzen als ihren Kern die sog. Verteilungsnormen, welche die „Verteilung“ der Besteuerungszuständigkeiten bei grenzüberschreitenden Steuerfällen vornehmen. Auch für solche Verteilungsnormen wurde eine Art Tatbestand entwickelt, der von Klaus Vogel – neben den Anwendungsvoraussetzungen des Abkommens – in einen „Objekttatbestand“ und einen „Metatatbestand“ differenziert wird118. Die Verteilungsnorm verbindet den nationalen Steuertatbestand mit einem eigenen, die Verteilungsentscheidung in Rechtssätze fassenden Tatbestand. Von „Metatatbestand“ wird deshalb gesprochen, weil die DBA selbst keine steuerbegründenden Normen enthalten, sondern nur darüber befinden, welche innerstaatlichen Steuertatbestände in grenzüberschreitenden Steuerfällen angewendet werden, welche nicht. In den Worten Ekkehart Reimers: „Diese strenge Unterscheidung zwi-
__________ 115 Vgl. in je unterschiedlichen Zusammenhängen nur Ruppe in Herrmann/Heuer/ Raupach, Einf. ESt Rz. 633; Strahl, Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht, 1996; Drüen, Typus und Typisierung im Steuerrecht, StuW 1997, 261 ff.; Mössner, Typusbegriffe im Steuerrecht, in FS Kruse (Fn. 1), S. 161 ff. 116 Vgl. Kommentar zum OECD-Musterabkommen, hier zitiert nach Vogel in Vogel/ Lehner, DBA Kommentar, 5. Aufl. 2008, Einl. S. 102 sowie Rz. 1; vgl. schon früh zum Problem Wengler, Beiträge zum Problem der internationalen Doppelbesteuerung, 1935, S. 142 ff.; ferner – auf den Steuertatbestand bezogen – J. Lang (Fn. 34), S. 36 ff. 117 Zu den methodischen Problemen der Steuerrechtsvergleichung jetzt maßgebend Reimer, Der Rechtsvergleich im Internationalen Steuerrecht. Fragestellungen und Methoden, in Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken an Klaus Vogel, 2010, S. 89 ff.; vgl. zuvor bereits Bayer, Die Rechtsvergleichung – eine terra incognita des deutschen Steuerrechts, in FS Bachof, 1984, S. 245 ff.; Mössner, Why and how to compare tax law, in Liber amicorum Hinnekens, 2002, S. 305 ff. 118 Vogel (Fn. 116), Rz. 76 ff.
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Struktur und Funktion des Steuertatbestands
schen innerstaatlichen Objekttatbeständen und abkommensrechtlichen Metatatbeständen beruht auf den verschiedenartigen Rechtsfolgen beider Normtypen“119. Die sich daraus ergebende Tatbestandsstruktur der Abkommensnormen besitzt zwar Ähnlichkeiten mit innerstaatlichen Steuertatbeständen, unterscheidet sich aufgrund der unterschiedlichen Funktionen beider Tatbestände letztlich jedoch charakteristisch von diesen120. Als „persönlichen Metatatbestand“ kann man die persönliche Abkommensberechtigung sowie personenbezogene Merkmale der Metatatbestände beschreiben. Demgegenüber bezeichnet der „sachliche Metatatbestand“ der DBA die „steuerpflichtbegründenden Elemente des Objekttatbestands“, kurz also: die abkommensrechtlichen Einkunftsarten und ihre Zuweisung an den Steuerpflichtigen. In einer Art „Zuweisungstatbestand“ muss die Einkunftsart dann noch einem der Staaten über bestimmte Anknüpfungsmerkmale zugeordnet werden (Ansässigkeit des Veräußerers; Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung; Ansässigkeit der Gesellschaft; Tätigkeitsort; Ort des Vermögens usw.). Die Rechtsfolgen der Verteilungsnormen finden sich in diesen selbst oder in den Methodenartikeln, die das OECD-Musterabkommen zur Verfügung stellt: Anrechnung oder Freistellung (Art. 23 A und B OECD-Musterabkommen). Die Unterscheidung zwischen Objekt- und Metatatbeständen bei den DBA und ihrer Anwendung zeigt, dass die Abkommen keinen Selbststand besitzen, sondern auf nationalen Steuertatbeständen aufbauen und an diese anknüpfen, sie gleichsam als „Objekt“ betrachten, um auf einer Metaebene Verteilungsentscheidungen, die niemals selbst steuerpflichtbegründend sind, zu treffen.
V. Zusammenfassung Als Kern der Funktionen des Steuertatbestands wurde die „dogmatische Funktion“ als über heuristische und didaktische Aufgaben hinausreichende rechtswissenschaftliche Durchdringung und Aufbereitung des in den Gesetzen gegebenen Rechtsstoffs mit dem Ziel der konsistenten Anwendbarmachung von Rechtsnormen im Einzelfall herausgearbeitet. Damit ist unlösbar die Funktion des Steuertatbestands als Brücke zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen geschlagen: Das, was in den Kompetenznormen der Finanzverfassung bzw. in den grundrechtlichen und sonstigen inhaltlichen Postulaten des Grundgesetzes dem Steuergesetz abverlangt wird, kann auf Verfassungsstufe nur in dem dort möglichen, begrenzten Detaillierungsgrad postuliert werden; es bedarf des „Herunterbrechens“ auf die anwendungsfähige Detaillierungsstufe des Gesetzes. Dies erfolgt über die Tatbestandsbildung, die damit zugleich auch eine genuin verfassungsrechtliche Funktion erfüllt. In Zeiten ohne einen ausgebauten Vorrang der Verfassung und ohne ausgebaute und wirkmächtige Verfassungsgerichtsbarkeit wurden diese Funktionen ebenfalls bereits durch den Tatbestand einer vollständigen Rechtsnorm erfüllt: Wenn etwa in Bezug auf das Strafrecht Franz von Liszt von dem strafrechtlichen nulla poena-Satz
__________
119 Reimer (Fn. 34), S. 267. 120 Das Folgende wiederum in Anlehnung an Reimer (Fn. 34), S. 268 ff.
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(heute: § 1 StGB; konstitutionalisiert in Art. 103 Abs. 2 GG) als der „Magna Charta des Verbrechers“ sprach121, waren damit – ohne dass die Verfassung im Kaiserreich eine relevante Bedeutung in diesen Fragen gespielt hätte – genau die (modern gesprochen) rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Anforderung hinsichtlich der Bestrafung von Menschen gemeint, die heute über Verfassungsnormen und Verfassungsgerichtsbarkeit die Diskussion bisweilen dominieren. Für den Steuertatbestand könnte Entsprechendes gezeigt werden. Ohne die verfassungsrechtlichen Bindungen des Steuerrechts relativieren zu wollen – dies würde den Intentionen des hier zu ehrenden Jubilars Wolfgang Spindler auch widersprechen – sollte am Beispiel des Steuertatbestands damit doch eine Lanze für den Eigenstand des einfachgesetzlichen Steuerrechts gebrochen werden.
__________ 121 Ueber den Einfluss der soziologischen und anthropologischen Forschungen auf die Grundbegriffe des Strafrechts, in ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, 1905, S. 75 (80); zu beachten ist dann freilich der Zusatz, nachdem der nulla poena sine lege-Satz auch „das Bollwerk des Staatsbürgers gegenüber der staatlichen Allgewalt“ bilde, der die liberale Stoßrichtung dieser markigen Formulierung verdeutlicht.
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Anschaffungsnahe Herstellungskosten – Erste Erfahrungen mit § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Entwicklung der Rechtsprechung zu anschaffungsnahen Herstellungskosten 1. Rechtsprechung bis 2001 2. Geänderte Rechtsprechung ab 2001 III. Gesetzliche Regelung zu anschaffungsnahen Instandsetzungs- und Modernisierungskosten IV. Erste Rechtsprechung zu dem neuen § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG 1. BFH-Urteil vom 25.8.2009 2. BFH-Beschluss vom 24.2.2009 3. FG Münster vom 20.1.2010
4. Niedersächsisches FG vom 12.4.2007 V. Ungeklärte Einzelfragen zur Anwendung des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG 1. Drei-Jahres-Frist 2. Abgrenzung zu sonstigen Herstellungskosten 3. Begriff der jährlich üblicherweise anfallenden Erhaltungsarbeiten 4. Objekt im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG 5. 15 %-Grenze bei teilentgeltlichem Erwerb 6. Bilanzielle Folgen des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG VI. Schluss
I. Einleitung Oft haben sich die beruflichen Wege des Jubilars und des Verfassers gekreuzt, ein gutes Stück des Wegs verliefen sie parallel, in den letzten fünf Jahren sogar eng beieinander. Literarisch führten die Wege allerdings durch weiter voneinander entfernte Gebiete, so dass es nur in zwei Fällen zu einer Begegnung kam. Eine davon1 betrifft ein Thema, mit dem sich Wolfgang Spindler als Richter des IX. Senats des BFH besonders intensiv beschäftigt hat, nämlich die Abgrenzung von Herstellungskosten und Erhaltungsaufwand bei Gebäuden. Man wird wohl ohne Übertreibung sagen können, dass die heute ständige Rechtsprechung stark von den Ideen Wolfgang Spindlers geprägt ist. Diese Ideen waren anscheinend nicht nur für den BFH, sondern auch für die Finanzverwaltung überzeugend, denn die Rechtsprechungsgrundsätze werden heute allgemein angewendet2. Für einen Teilaspekt der Abgrenzung von Herstellungskosten und Erhaltungsaufwand gilt dies allerdings nicht: Die geänderte Rechtsprechung des IX. Senats zu den sog. anschaffungsnahen Herstellungskosten hat den Gesetzgeber auf den Plan treten lassen, der den neuen Rechtsprechungs-
__________ 1 Spindler, BB 2002, 2041; ders., DB 2004, 507; Wendt, EStB 2004, 329. 2 BMF v. 18.7.2003 – IV C 3 – S 2211 – 94/03, BStBl. I 2003, 386; H 21.1 EStH.
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grundsätzen mit § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG den Boden entzogen hat. Von jener nun schon einige Jahre geltenden Regelung handelt dieser Beitrag.
II. Entwicklung der Rechtsprechung zu anschaffungsnahen Herstellungskosten 1. Rechtsprechung bis 2001 Nach früherer Auffassung des BFH und der Verwaltung gehörten zu den Herstellungskosten im Rahmen der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung ungeachtet der allgemeinen Definition der Herstellungskosten3 auch Aufwendungen für Instandhaltung und Modernisierung eines Gebäudes, die in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Anschaffung durchgeführt wurden und im Verhältnis zu den Anschaffungskosten bedeutend waren4. Die damalige Rechtsprechung ging bis auf Entscheidungen des RFH zurück, der unter Geltung des EStG 1934 größere Instandhaltungsaufwendungen nach dem Erwerb eines „verwahrlosten“ betrieblichen Grundstücks als auf die Nutzungsdauer des Gebäudes zu verteilenden Anschaffungs- oder Herstellungsaufwand beurteilt hatte5. Das Verhältnis zwischen Anschaffungs- und Instandhaltungskosten spielte dabei noch keine entscheidende Rolle. Auf Grundstücke des Privatvermögens hatte der RFH diese Rechtsprechung zunächst bewusst nicht übertragen und den Werbungskostenabzug auch bei einem Instandhaltungsrückstand des erworbenen Gebäudes zugelassen, dies allerdings mit dem Hinweis, dass sorgfältig zwischen Herstellungs- und Erhaltungsaufwand zu unterscheiden sei6. Zu einer Änderung dieser Rechtsprechung kam es im Jahr 1943, als der RFH auch bei einem Mietwohngrundstück reinen Erhaltungsaufwand größeren Umfangs, der innerhalb von zwei Jahren nach Anschaffung entstanden war, als Herstellungsaufwand behandelte7. Damit folgte die Rechtsprechung den damaligen EStR 1941, nach denen die Aufwendungen für umfangreiche Instandsetzungsarbeiten als Herstellungsaufwand zu behandeln waren. Das Merkmal „umfangreich“ konkretisierte der RFH in Anlehnung an die praktische Handhabung der Finanzverwaltung mit 20 % des Gebäudewerts. Der BFH führte die Rechtsprechung des RFH später fort, erweiterte aber den zeitlichen Zusammenhang zwischen Instandsetzungsmaßnahmen und Erwerb
__________ 3 Vgl. dazu aus den Anfängen der BFH-Rechtsprechung etwa BFH v. 9.7.1953 – IV 8/53 U, BFHE 57, 639, BStBl. III 1953, 245. 4 BFH v. 26.10.1962 – VI 212/61 U, VI 213/61 U, VI 212, 213/61 U, BFHE 76, 104, BStBl. III 1963, 39; v. 2.8.1966 GrS 2/66, BFHE 86, 792, BStBl. III 1966, 672; v. 30.7.1991 – IX R 123/90, BFHE 165, 253, BStBl. II 1992, 30; R 157 Abs. 4 Satz 2 f. EStR 2001. 5 RFH v. 13.4.1937 – I A 112/37, RStBl. 1937, 681; v. 1.3.1939 – VI 125/39, RStBl. 1939, 630; v. 25.10.1939 – VI 605/39, RStBl. 1940, 354. 6 RFH v. 17.4.1940 – IV 342/39, RStBl. 1940, 674. 7 RFH v. 13.10.1943 – VI 241/43, RStBl. 1944, 58; v. 9.12.1943 – IV 21/43, RStBl. 1944, 163.
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des Grundstücks8. Kleinere Instandhaltungsaufwendungen waren weiter unbegrenzt abziehbar, wobei als Vergleichsmaßstab die Anschaffungskosten dienten9. Die Grenze sah der BFH bei 20 % der Anschaffungskosten, wobei der Prozentsatz keine feste Größe, sondern nur eine Aufgriffsgrenze sein sollte10. Die Finanzverwaltung schloss sich dieser Auffassung an11, setzte allerdings ab 1994 die Grenze auf 15 % der Anschaffungskosten herab12. Grund für die Sichtweise von RFH und BFH war die Annahme, dass der Erwerber eines „vernachlässigten“ Grundstücks einen geringeren Kaufpreis und damit geringere Anschaffungskosten zu tragen habe, als wenn sich das Grundstück in einem einwandfreien und für Zwecke des Erwerbers geeigneten Zustand befunden hätte. Es sei dann wirtschaftlich ungerechtfertigt, dem Erwerber des vernachlässigten Grundstücks den sofortigen Werbungskostenabzug zuzubilligen, während der Erwerb eines nicht vernachlässigten und darum teureren Grundstücks nur in Höhe der AfA zur Minderung der Einkünfte geführt hätte13. Die anschaffungsnahen Instandhaltungskosten wurden zunächst als nachträgliche Anschaffungskosten behandelt. Seit dem Beschluss des Großen Senats v. 2.8.1966 – GrS 2/6614 sah der BFH derartige Aufwendungen als Herstellungskosten an. Ausgenommen blieben die Kosten für die Beseitigung versteckter Mängel, weil diese den Kaufpreis nicht gemindert haben konnten15. 2. Geänderte Rechtsprechung ab 2001 Nach der handelsbilanziellen Regelung des Begriffs der Anschaffungs- und Herstellungskosten durch das BiRiLiG16 in § 255 HGB hatte der IX. Senat des BFH diese Norm auch bei den außerbetrieblichen Einkünften für anwendbar erklärt. Daraus ergaben sich Konsequenzen für die Abgrenzung von Herstellungskosten und Erhaltungsaufwand bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, die sich in einer geänderten Rechtsprechung zur sog. Generalüberholung niederschlugen17. Auswirkungen auf die überkommene Rechtspre-
__________ 8 BFH v. 11.12.1953 – IV 386/52 U, BFHE 58, 424, BStBl. III 1954, 74 (kein ausreichender Zusammenhang bei zeitlichem Abstand von 9 Jahren); BFH v. 26.10.1962 – VI 212/61 U, VI 213/61 U, VI 212, 213/61 U, BStBl. III 1963, 39 (Billigung der 3-JahresFrist nach Abschn. 157 Abs. 3 EStR 1958). 9 Demgegenüber hatte die Finanzverwaltung in Abschn. 157 Abs. 4 EStR die Grenze zunächst bei 25 % der Mieteinnahmen gesehen. 10 BFH v. 26.10.1962 – VI 212/61 U, VI 213/61 U, VI 212, 213/61 U, BFHE 76, 104, BStBl. III 1963, 39; v. 30.7.1991 – IX R 123/90, BFHE 165, 253, BStBl. II 1992, 30; v. 23.9.1992 – X R 10/92, BFHE 169, 331, BStBl. II 1993, 338. 11 Abschn. 157 Abs. 5 Satz 7 EStR 1984. 12 Abschn. 157 Abs. 5 Satz 6 EStR 1994. 13 So etwa in BFH v. 25.10.1955 – I 176/54 U, BFHE 61, 489, BStBl. III 1955, 388. 14 BFHE 86, 792, BStBl. III 1966, 672. 15 BFH v. 2.8.1966 – GrS 2/66, BFHE 86, 792, BStBl. III 1966, 672 unter Hinweis auf BFH v. 31.1.1963 – IV 119/59 S, BFHE 77, 23, BStBl. III 1963, 325, und v. 20.10.1965 – VI 185/65 U, BFHE 84, 44, BStBl. III 1966, 16. 16 Bilanzrichtliniengesetz v. 19.12.1985, BGBl. I 1985, 2355. 17 BFH v. 9.5.1995 – IX R 116/92, BFHE 177, 454, BStBl. II 1996, 632.
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chung zu anschaffungsnahen Herstellungskosten hatte der BFH zwar zunächst verneint18. Es mehrten sich aber die Anzeichen für eine Neuorientierung auch in dieser Frage19, bis es schließlich mit zwei Urteilen des IX. Senats20 v. 12.9.2001 (IX R 39/9721 und IX R 52/00)22 zu einer Aufgabe der Rechtsprechung zu anschaffungsnahen Herstellungskosten kam. Der BFH entschied, dass Kosten für eine reine Instandhaltung nicht allein deshalb als Herstellungskosten behandelt werden könnten, weil sie in zeitlichem Zusammenhang mit der Anschaffung entstanden sind. Herstellungskosten lägen unabhängig vom Zeitpunkt der Entstehung nur vor, wenn es sich um Kosten von Maßnahmen zur Herstellung der Betriebsbereitschaft, Kosten einer Erweiterung oder einer wesentlichen Verbesserung handele. Der Begriff des anschaffungsnahen Aufwands hatte damit aus Sicht der Rechtsprechung keine Bedeutung mehr23. Die Finanzverwaltung tat sich mit der geänderten Rechtsprechung des BFH zu anschaffungsnahen Herstellungskosten erkennbar schwer. Erst mit BMFSchreiben v. 18.7.200324 erklärte sie die Urteile v. 12.9.2001 für allgemein anwendbar. Zugleich gewährte sie Vertrauensschutz, indem die alten Rechtsprechungsgrundsätze auf Wunsch des Stpfl. für solche Baumaßnahmen weiter angewendet werden konnten, mit denen vor Veröffentlichung des BMF-Schreibens begonnen worden war25.
III. Gesetzliche Regelung zu anschaffungsnahen Instandsetzungsund Modernisierungskosten Bei Erlass des BMF-Schreibens v. 18.7.2003 war der Fachöffentlichkeit bereits klar, dass die geänderte BFH-Rechtsprechung nicht mehr lange von Bedeutung sein würde. Denn schon in einem Gesetzentwurf v. 2.12.200226 hatten die Mehrheitsfraktionen eine gesetzliche Zuweisung hoher anschaffungsnaher Erhaltungsaufwendungen zu den Herstellungskosten durch Schaffung eines neuen § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG vorgesehen. In der Begründung zu dem Gesetzentwurf hieß es, die bisherige Verwaltungspraxis nach Abschn. 157 Abs. 4
__________ 18 BFH v. 11.8.1989 – IX R 44/86, BFHE 158, 240, BStBl. II 1990, 53; v. 9.5.1995 – IX R 116/92, BFHE 177, 454, BStBl. II 1996, 632; v. 16.12.1998 – X R 89/95, BFH/NV 1999, 776. 19 Der X. Senat hielt die Frage im Beschluss vom 21.2.2001 – X S 10/00 (BFH/NV 2001, 780) für ernstlich zweifelhaft und gewährte Aussetzung der Vollziehung. 20 Jeweils unter Hinweis auf eine Zustimmung des X. Senats. 21 BFHE 198, 74, BStBl. II 2003, 569. 22 BFHE 198, 85, BStBl. II 2003, 574. 23 Umfassend zu den Auswirkungen der Rechtsprechungsänderung die damals beteiligten Mitglieder des IX. Senats Spindler, BB 2002, 2041, und Wolff-Diepenbrock, DB 2002, 1286. 24 BStBl. I 2003, 386. 25 BMF v. 18.7.2003 – IV C 3 – S 2211 – 94/03, BStBl. I 2003, 386 Rz. 39. 26 Entwurf eines Gesetzes zum Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen (StVergAbG) v. 2.12.2002, BT-Drucks. 15/119, Art. 1 Nr. 6.
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EStR solle festgeschrieben werden27. Zwar wurde dieser Bestandteil des Gesetzentwurfs in einem späteren Vermittlungsverfahren vom Vermittlungsausschuss nicht übernommen28. Wortgleich fand sich die Regelung aber ein halbes Jahr später im Gesetzentwurf der Mehrheitsfraktionen für ein Steueränderungsgesetz 2003 wieder29 und wurde dann nahezu unverändert als Bestandteil des Steueränderungsgesetzes 200330 in das EStG eingefügt. § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG, der über einen Verweis in § 9 Abs. 5 Satz 2 EStG entsprechend auch für Überschusseinkünfte gilt, lautet: „Zu den Herstellungskosten eines Gebäudes gehören auch Aufwendungen für Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen, die innerhalb von drei Jahren nach der Anschaffung des Gebäudes durchgeführt werden, wenn die Aufwendungen ohne die Umsatzsteuer 15 vom Hundert der Anschaffungskosten des Gebäudes übersteigen (anschaffungsnahe Herstellungskosten). Zu diesen Aufwendungen gehören nicht die Aufwendungen für Erweiterungen im Sinne des § 255 Abs. 2 Satz 1 des Handelsgesetzbuchs sowie Aufwendungen für Erhaltungsarbeiten, die jährlich üblicherweise anfallen.“
„Aus Gründen der Rechtsvereinfachung und -sicherheit für den Bürger und die Verwaltung“ sollte „die bisherige Regelung gesetzlich festgeschrieben“ werden, wie es in der Begründung zum Gesetzentwurf heißt31. Diese Begründung stieß zu Recht auf Kritik32, denn sie verschweigt, dass die gesetzliche Regelung erheblich von der Regelung in dem vormaligen Abschn. 157 Abs. 4 EStR abweicht. Ein Unterschied besteht insbesondere insoweit, als die zeitliche Grenze von drei Jahren und die betragsmäßige Grenze von 15 % bindend sind. Die Rechtsprechung hatte beide Grenzen zuvor lediglich als Aufgriffsgrenzen angesehen33 und auch die Richtlinien hatten vorgesehen, dass bei Unterschreiten der Grenzen „in der Regel“ nicht zu prüfen war, ob anschaffungsnaher Herstellungsaufwand vorlag34. Hinzu kommt, dass die Verwaltungsregelung nur Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung betraf35, während § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG darüber hinausgehend auch für Gewinneinkünfte, zumindest jedenfalls bei Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich36 gilt. Dem erweiterten Regelungsinhalt entspricht, dass die neue Vorschrift nicht unbegrenzt rückwirkend in Kraft gesetzt wurde37, sondern erstmals für Bau-
__________ 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37
BT-Drucks. 15/119, 37. Beschlussempfehlung v. 9.4.2003, BT-Drucks. 15/841, 2. BT-Drucks. 15/1562, 3. StÄndG 2003 v. 15.12.2003, BGBl. I 2003, 2645. BT-Drucks. 15/1562, 32. Carlé in FS Korn, 2005, S. 41 (54); Ehmcke in Blümich, § 6 EStG Rz. 412; Hergarten, DStR 2003, 397 (398); Köster in Herrmann/Heuer/Raupach, § 6 EStG Anm. J 03-4; Pezzer, DStR 2004, 525 (527); Söffing, DB 2004, 946 (947); Spindler, DB 2004, 507 (508). So etwa BFH v. 23.9.1992 – X R 10/92, BFHE 169, 331, BStBl. II 1993, 338. Abschn. 157 Abs. 4 Satz 2 EStR. Die Rechtsprechung hatte ihre Grundsätze zu anschaffungsnahen Herstellungskosten allerdings auch bisher schon auf Gewinneinkünfte erstreckt, BFH v. 4.3.1998 – X R 151/94, BFH/NV 1998, 1086. Gegen eine Anwendung bei Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG Bäuml, FR 2010, 924. Anders noch in Art. 1 Nr. 25 Buchst. f) aa) des Entwurfs für ein StVergAbG, BTDrucks. 15/119, 7.
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maßnahmen gilt, mit denen nach dem 31.12.2003 begonnen wurde. Für den Beginn ist auf den Bauantrag bzw. bei genehmigungsfreien Vorhaben auf die Einreichung der Bauunterlagen abzustellen (§ 52 Abs. 16 Sätze 79 EStG). Wirkungen entfaltet die Neuregelung danach nur für Gebäude, die nach dem 31.12.2000 angeschafft worden sind. Für früher angeschaffte Gebäude war die Drei-Jahres-Frist bei Inkrafttreten der Änderung durch das StÄndG 2003 am 16.12.200338 bereits abgelaufen. Dass auf zwischen dem 1.1.2001 und dem 16.12.2003 angeschaffte Gebäude § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG Anwendung findet, ist nicht als rechtfertigungsbedürftige Rückwirkung zu beurteilen. Denn maßgebliches Anknüpfungsmerkmal ist die Durchführung von Baumaßnahmen, die zu einer Aktivierung nur führen können, wenn mit ihnen nach dem Inkrafttreten der Regelung begonnen worden ist. Bemerkenswert ist die Behandlung von Gebäuden, an denen vor dem Stichtag bereits eine Instandhaltungsmaßnahme durchgeführt wurde und bei denen nach dem Stichtag mit einer weiteren Instandhaltungsmaßnahme begonnen wird. In diesem Fall greift § 52 Abs. 16 Satz 9 EStG, wonach sämtliche Baumaßnahmen i. S. des § 6 Abs. 1 Nr. 1a Satz 1 EStG als eine Baumaßnahme i. S. des § 52 Abs. 16 Satz 7 EStG gelten. Eine vor dem Stichtag begonnene Maßnahme verbindet sich also mit den nach dem Stichtag begonnenen Maßnahmen zu einer einheitlichen und vor dem Stichtag begonnenen Baumaßnahme, so dass es zur Anwendung des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG in solchen Fällen nicht kommt39.
IV. Erste Rechtsprechung zu dem neuen § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG 1. BFH-Urteil vom 25.8.2009 Trotz seiner mittlerweile schon siebenjährigen Geltung hat der neue § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG die Rechtsprechung bisher nur in wenigen Fällen beschäftigt. Nur ein Hauptsacheverfahren hat überhaupt den BFH erreicht und wurde unter dem Vorsitz von Wolfgang Spindler vom IX. Senat entschieden40. In jenem Fall hatte ein Versicherungskaufmann ein 1935 errichtetes und nach Beschädigungen im Krieg 1955 wieder aufgebautes Zweifamilienhaus im Februar 2004 für 195 000 Euro zuzüglich Nebenkosten von 10 263 Euro erworben. Das Haus war zu diesem Zeitpunkt vermietet. Noch im Jahr 2004 erneuerte der Versicherungskaufmann Fliesen und Sanitärobjekte in Bädern und Küche, verlegte Laminatboden, ersetzte Türen, tauschte einzelne Fenster, zog Rigipsdecken ein und ließ neuen Putz, neue Tapeten und Wandfarbe aufbringen. Die Kosten für diese Baumaßnahmen betrugen 31 462 Euro und wurden vom FA wegen Überschreitung der 15 %-Grenze als anschaffungsnahe Herstellungskosten behandelt. Der Versicherungskaufmann machte geltend, es seien keine Maß-
__________ 38 Art. 25 Abs. 1 StÄndG 2003. 39 Ebenso OFD Frankfurt v. 12.2.2009 – S 2171a A – 2 – St 17 Tz. 4; OFD Rheinland v. 6.7.2010 – S 2211 – 1001 – St 232 Tz. 4. 40 BFH v. 25.8.2009 – IX R 20/08, BFHE 226, 256, BStBl. II 2010, 125, mit Anm. der Senatsmitglieder Heuermann, HFR 2010, 122; ders., BFH/PR 2010, 50; ders., StBp 2010, 30; Jachmann, jurisPR-SteuerR 4/2010 Anm. 1.
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nahmen zur Instandhaltung, sondern zur Verbesserung der Optik durchgeführt worden. Jedenfalls dürften die Maßnahmen nicht zusammengefasst werden, denn Schönheitsreparaturen seien keine Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen i. S. des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG. Dieser Argumentation folgten weder FG41 noch BFH. Der BFH verneinte zunächst, dass sich alle Aufwendungen auf Schönheitsreparaturen bezogen hätten. Als Schönheitsreparaturen kämen nach § 28 Abs. 4 Satz 3 der II. BVO42 nur das Tapezieren, Anstreichen oder Kalken der Wände und Decken, das Streichen der Fußböden, Heizkörper einschließlich Heizrohre, der Innentüren sowie der Fenster und Außentüren von innen in Betracht. Darüber gingen die hier vorgenommenen Baumaßnahmen hinaus. Es könne dahinstehen, ob – wie das FG angenommen hatte – Schönheitsreparaturen zu den jährlich üblicherweise anfallenden Erhaltungsarbeiten gehörten. Denn in jedem Fall seien alle im Zusammenhang mit einer umfassenden Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahme entstehenden Aufwendungen einheitlich zu behandeln und bei Überschreiten der 15 %-Grenze insgesamt als Herstellungskosten zu beurteilen. 2. BFH-Beschluss vom 24.2.2009 Die erste Begegnung mit dem neuen § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG hatte schon vor dem vorstehend erwähnten Urteil stattgefunden. Der IX. Senat hatte in einem Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung über die Beschwerde gegen einen Beschluss des FG Sachsen-Anhalt43 zu entscheiden, der eine mit § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG zusammenhängende verfahrensrechtliche Frage betraf. Eheleute hatten im Jahr 2004 ein Einfamilienhaus erworben, das nach einer Erneuerung der Bäder, Fußböden und Elektroinstallation ab 2006 vermietet wurde. Die auf das Gebäude entfallenden Anschaffungskosten betrugen 119 035 Euro, die Kosten der Sanierung, die im Jahr 2005 abgeschlossen wurde, beliefen sich auf 67 466 Euro. Die Eheleute machten im Jahr 2005 nach § 82b EStDV die Hälfte der Renovierungskosten geltend (33 733 Euro). Das FA erkannte die negativen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung an, erklärte den ESt-Bescheid aber als teilweise vorläufig nach § 165 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AO. Zur Erläuterung hieß es: „Die Festsetzung der Einkommensteuer ist vorläufig hinsichtlich der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, weil zurzeit die Überschusserzielungsabsicht nicht abschließend beurteilt werden kann.“ Im Jahr 2006 machten die Eheleute die zweite Hälfte der Modernisierungskosten geltend. Die Einnahmen aus der Vermietung betrugen 4 300 Euro. Das FA lehnte den Abzug der Modernisierungskosten ab und behandelte die Kosten unter Hinweis auf § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG als Herstellungskosten. Es erging nicht nur ein dementsprechender ESt-Bescheid 2006, sondern auch ein insoweit nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO geänderter ESt-Bescheid 2005.
__________
41 FG Baden-Württemberg v. 14.4.2008 – 10 K 120/07, EFG 2008, 1541. 42 Verordnung über wohnungswirtschaftliche Berechnungen nach dem Zweiten Wohnungsbaugesetz v. 12.10.1990 (BGBl. I 1990, 2178). 43 FG Sachsen-Anhalt v. 15.9.2008 – 1 V 1704/07, EFG 2009, 6.
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Nachdem zunächst Einsprüche und später Klagen gegen beide Bescheide erhoben worden waren, hatte das FG über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Änderungsbescheids für 2005 zu befinden. Es lehnte den Antrag ab. Der Vorläufigkeitsvermerk sei bestandskräftig geworden, so dass es auf seine Rechtmäßigkeit nicht ankomme. Die Änderung sei von dem Vorläufigkeitsvermerk gedeckt, weil dieser die gesamten Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung umfasse. Dennoch ließ das FG die Beschwerde gegen seinen Beschluss zu, weil es für möglich hielt, mit der Entscheidung von der Rechtsprechung des BFH abzuweichen. Zwar habe der BFH entschieden, dass ein mit möglicher Liebhaberei begründeter Vorläufigkeitsvermerk auch Änderungen wegen der nachrangigen Höhe der Einkünfte erlaube44. Diese Rechtsprechung sei aber möglicherweise überholt, weil der BFH zuletzt den Umfang der Vorläufigkeit nicht nur von der Begründung, sondern auch von sonstigen, den Beteiligten bekannten Umständen abhängig gemacht habe45. In einem Urteil v. 12.7.200746 habe der BFH sogar angenommen, dass ein die ganze Einkunftsart betreffender Vorläufigkeitsvermerk nicht wirksam sei, weil er nicht erkennen lasse, ob sich die Vorläufigkeit auf Betriebseinnahmen, Betriebsausgaben oder Einkünfteerzielungsabsicht beziehen solle. Dieser Auffassung sei nicht zu folgen. Mit diesen Argumenten, die zur Zulassung der Beschwerde geführt hatten, setzte sich der BFH in seiner Beschwerdeentscheidung47 nur kurz auseinander. Er teilte zwar im Ergebnis die Auffassung des FG, dass der ESt-Bescheid 2005 zu Recht geändert worden sei, und wies deshalb die Beschwerde zurück. Es könne aber offen bleiben, inwieweit zwischen Entscheidung und Begründung des Vorläufigkeitsvermerks zu differenzieren sei. Bei der Entscheidung über die Behandlung von Erhaltungsaufwand als anschaffungsnahe Herstellungskosten handele es sich um eine gegenüber der hier als ungewiss bezeichneten Einkünfteerzielungsabsicht nachrangige Frage. Bei Erlass des endgültigen Bescheids dürfe die zunächst hingenommene Fehlbeurteilung der Werbungskosten nach dem BFH-Beschluss v. 22.12.1987 – IV B 174/8648 korrigiert werden. 3. FG Münster vom 20.1.2010 Abgesehen von den Vorentscheidungen zu den beiden vorstehend erläuterten Entscheidungen des BFH haben FG erst in zwei weiteren Fällen Entscheidungen im Zusammenhang mit § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG getroffen. Mit der Behandlung von Aufwendungen zur Beseitigung versteckter Mängel betrifft das rechtskräftig gewordene Urteil des FG Münster v. 20.1.201049 eine
__________ 44 BFH v. 22.12.1987 – IV B 174/86, BFHE 152, 43, BStBl. II 1988, 234. 45 BFH v. 2.3.1991 – IX R 282/87, BFH/NV 1991, 506; v. 6.3.1992 – III R 47/91, BFHE 167, 290, BStBl. II 1992, 588; v. 23.9.1992 – X R 10/92, BFHE 169, 331, BStBl. II 1993, 338; v. 29.6.2004 – R 14/02, BFH/NV 2005, 2. 46 BFH v. 12.7.2007 – X R 22/05, BFH/NV 2007, 2377. 47 BFH v. 24.2.2009 – IX B 176/08, BFH/NV 2009, 889. 48 BFH v. 22.12.1987 – IV B 174/86, BFHE 152, 43, BStBl. II 1988, 234. 49 FG Münster v. 20.1.2010 – 10 K 526/08 E, BB 2010, 243.
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zentrale Frage der Norm. Eheleute hatten im Jahr 2004 ein Mehrfamilienhaus erworben, von dem sie später eine Wohnung selbst nutzten. Die auf das Gebäude entfallenden Anschaffungskosten betrugen ca. 267 000 Euro. Nach Erwerb stellte sich heraus, dass entgegen der vor dem Kauf durchgeführten Begutachtung im Auftrag der Erwerber aufwändige Sanitärinstallationen, Abdichtungs- und Drainagearbeiten sowie der Einbau einer neuen Heizung erforderlich wurden. Die anteilig auf die vermieteten Gebäudeteile entfallenden Kosten für diese Maßnahmen betrugen etwa 141 000 Euro. Hiervon entfielen nach der Ermittlung des FA ca. 47 000 Euro auf jährlich üblicherweise anfallende Erhaltungsarbeiten. Den Restbetrag von 94 000 Euro behandelte das FA als anschaffungsnahe Herstellungskosten. Das FG hielt diese Handhabung für richtig. Es ließ offen, inwieweit Kosten im Zusammenhang mit der Beseitigung versteckter Mängel angefallen waren. Denn auch solche Kosten seien entgegen der früheren Regelung in R 157 Abs. 4 Satz 6 EStR nicht von der Zuordnung zu den anschaffungsnahen Herstellungskosten auszunehmen. Wenn der Gesetzgeber die frühere Richtlinienregelung habe gesetzlich festschreiben wollen, könne er Satz 6 der bisherigen Richtlinie nicht übersehen haben. Der Verzicht auf eine Sonderregelung zu Kosten für die Beseitigung versteckter Mängel sei also eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers. Es gebe außerdem keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber auch insoweit ein „Nichtanwendungsgesetz“ habe erlassen wollen, als der BFH zuletzt in Abänderung seiner bisherigen Rechtsprechung die Kosten für die Beseitigung versteckter Mängel den Herstellungskosten zugeordnet habe, weil es auf die objektive Natur einer Maßnahme und nicht die subjektiven Vorstellungen des Erwerbers ankomme50. 4. Niedersächsisches FG vom 12.4.2007 Nur am Rande Erwähnung findet § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG in einem Urteil des Niedersächsischen FG v. 12.4.200751. Dort waren nach Entnahme eines vermieteten Grundstücks im Jahr 1991 in den folgenden fünf Jahren Kosten zur Beseitigung einer Kontaminierung des Grund und Bodens angefallen. Das FA hatte seine Entscheidung, die betreffenden Kosten als Herstellungskosten des Grund und Bodens zu behandeln, mit den Grundsätzen zum anschaffungsnahen Aufwand begründet. Das FG folgte dem jedoch nicht und verwies einerseits auf die zwischenzeitlich geänderte Rechtsprechung des BFH. Andererseits ging das FG auf die neue Regelung in § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG ein und führte aus, das Gesetz betreffe nur Baumaßnahmen und erstrecke sich außerdem nicht auf den Grund und Boden52, sondern nur auf nachträgliche Herstellungskosten an Gebäuden.
__________ 50 Hinweis auf BFH v. 22.1.2003 – X R 9/99, BFHE 201, 256, BStBl. II 2003, 596, und X R 36/01, BFH/NV 2003, 765. 51 Nds. FG v. 12.4.2007 – 10 K 415/00, EFG 2007, 1756. 52 Anders nach den früheren Rechtsprechungsgrundsätzen, siehe BFH v. 8.11.1979 – IV R 42/78, BFHE 129, 138, BStBl. II 1980, 147; vgl. auch R 157 Abs. 4 Satz 10 EStR a. F.: Einbeziehung von Gartenanlagen.
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V. Ungeklärte Einzelfragen zur Anwendung des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG Nachdem bis jetzt erst wenige Fragen zu § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG von der Rechtsprechung entschieden werden konnten, sind viele Einzelfragen zu dieser Vorschrift noch in der Diskussion. Die Finanzverwaltung hat solche Fragen zuletzt in drei Verwaltungsanweisungen behandelt53. Der Umstand, dass diese Verwaltungsanweisungen für notwendig gehalten wurden, zeigt die praktische Relevanz der dort behandelten Probleme. Ihnen soll hier an erster Stelle nachgegangen werden. 1. Drei-Jahres-Frist Zu anschaffungsnahen Herstellungskosten führen nach dem Gesetzeswortlaut „Aufwendungen für Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen, die innerhalb von drei Jahren nach der Anschaffung des Gebäudes durchgeführt werden“. Die Frist beginnt mit dem wirtschaftlichen Übergang des Gebäudes. Sie endet genau drei Kalenderjahre später. Auf die betroffenen Wirtschaftsjahre oder Veranlagungszeiträume kommt es nicht an. Für die Einhaltung der Drei-Jahres-Frist ist also nicht von Bedeutung, wann es nach den Regeln der Ermittlung der Einkünfte aus dem betreffenden Objekt zum Abzug der Aufwendungen kommen würde, wenn diese sofort abziehbar wären. Vielmehr kommt es auf den Zeitpunkt an, zu dem die Baumaßnahmen „durchgeführt“ werden. Nach Meinung der Finanzverwaltung ist darauf abzustellen, wann die Leistung „getätigt“ worden ist54, was kaum für mehr Klarheit als der Wortlaut des Gesetzes sorgt. M. E. ist eine Maßnahme durchgeführt, wenn die Bauleistung i. S. des § 640 BGB abnahmefähig erbracht worden ist; auf die tatsächliche Abnahme kommt es nicht an55. Dass Ausstellung der Rechnung oder gar Zahlung nicht innerhalb der Frist erfolgt sein müssen, ist wohl einhellige Meinung. Schwierigkeiten bestehen bei der Definition des Begriffs der „Maßnahme“. Die Finanzverwaltung scheint als Maßnahme mehr als nur einzelne Bauleistungen zu verstehen, denn eine Maßnahme soll nach ihrer Auffassung „insoweit“ in die 15 %-Grenze einbezogen werden, als die Leistungen innerhalb der Frist getätigt worden sind56. Im Ergebnis ist dem m. E. beizupflichten. Einfacher käme man allerdings zu diesem Ergebnis, wenn jede einzelne Bauleistung als „Maßnahme“ angesehen würde. Für eine derart kleinteilige Betrachtung spricht
__________ 53 OFD Frankfurt v. 12.2.2009 – S 2171a A – 2 – St 17; OFD Koblenz v. 10.3.2010 – S 2171c A – St 31 2; OFD Rheinland v. 6.7.2010 – S 2211 – 1001 – St 232. 54 OFD Koblenz v. 10.3.2010 – S 2171c A – St 31 2. 55 Manipulationsmöglichkeiten zum Hinausschieben der „Durchführung“ bestehen bei einer solchen Auslegung kaum; für Anknüpfung an Abnahme aber Carlé in FS Korn (Fn. 32), S. 41 (59); Kulosa in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 6 EStG Rz. 384. 56 OFD Koblenz v. 10.3.2010 – S 2171c A – St 31 2; OFD Rheinland v. 6.7.2010 – S 2211 – 1001 – St 232 Tz. 6; Bayer. Landesamt für Steuern v. 6.8.2010 – S 2211.1.1-4/2 St 32, DStG 2010, 1941.
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die Regelung in § 52 Abs. 16 Satz 9 EStG zur erstmaligen Anwendung des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG, wonach „sämtliche Baumaßnahmen i. S. des § 6 Abs. 1 Nr. 1a Satz 1 an einem Objekt […] als eine Baumaßnahme [gelten]“. Aufwendungen für nach Ablauf der Frist durchgeführte Maßnahmen gehen nicht in den schädlichen Betrag ein, können also weder selbst als Herstellungskosten qualifiziert werden noch zu einer solchen Qualifikation für frühere Aufwendungen beitragen. Dies betrifft allerdings nur Aufwendungen, die nicht schon für sich genommen als Herstellungskosten anzusehen sind. Das ist etwa bei einer sog. Sanierung auf Raten der Fall57. 2. Abgrenzung zu sonstigen Herstellungskosten Mit § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG sollten – wie ausgeführt – Aufwendungen zu Herstellungskosten erklärt werden, die nach dem allgemeinen Herstellungskostenbegriff des § 255 Abs. 2 HGB in der revidierten Auslegung durch den BFH keine Herstellungskosten und deshalb sofort abziehbare Werbungskosten oder Betriebsausgaben sind. Maßnahmen, die zu originären Herstellungskosten führen, fallen unter § 6 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 EStG und können nicht Regelungsgegenstand des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG sein, der lediglich andere Aufwendungen „auch“ zu Herstellungskosten erklärt. Die schon erwähnte „Sanierung auf Raten“ fällt also nicht unter § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG, denn sie betrifft definitionsgemäß originäre Herstellungskosten, die nur zeitlich abgestuft anfallen58. Es kann sich etwa um Fälle handeln, in denen über mehrere Jahre verteilt Sanierungsarbeiten durchgeführt werden, die bei einer Gesamtbetrachtung zu einem sog. Standardsprung i. S. d. der Rechtsprechung des BFH führen59. Die entstehenden Kosten sind dann von Anfang an Herstellungskosten, die über mehrere Veranlagungszeiträume verteilt anfallen60. Der Zeitraum ist mangels Anwendbarkeit des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG nicht auf drei Jahre beschränkt61. Keine solche Sanierung auf Raten liegt allerdings vor, wenn Sanierungsarbeiten nacheinander in verschiedenen Wohnungen eines Gebäudes durchgeführt werden, ohne dass es zu einem Standard-
__________ 57 Ebenso OFD Koblenz v. 10.3.2010 – S 2171c A – St 31 2. 58 Gl.A. Fischer in Kirchhof, 9. Aufl. 2010, § 6 EStG Rz. 66; a. A. wohl Werndl in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 6 EStG Anm. Ba 47, der von einem engeren Begriff ausgeht. 59 BFH v. 12.9.2001 – IX R 39/97 BFHE 198, 74, BStBl. II 2003, 569 unter II.3.a)dd). 60 Die Maßnahme, die letztlich zum Standardsprung führt, stellt ein rückwirkendes Ereignis i. S. d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dar, so dass bisher als Erhaltungsaufwand behandelte Kosten rückwirkend noch als Herstellungskosten behandelt werden können (ebenso OFD Frankfurt v. 12.2.2009 – S 2171a A – 2 – St 17 Tz. 3). 61 Auch die 15 %-Grenze gilt nicht; trotzdem betrachtet die Finanzverwaltung auch beim Standardsprung 15 % der Anschaffungskosten als Nichtaufgriffsgrenze (OFD Frankfurt v. 12.2.2009 – S 2171a A – 2 – St 17 Tz. 2 unter Hinweis auf BMF v. 18.7.2003 – IV C 3 – S 2211 – 94/03, BStBl. I 2003, 386 Tz. 38).
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sprung kommt62. Derartige Maßnahmen führen nur unter den zeitlich beschränkten Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG zu Herstellungskosten. Werden Instandhaltungsmaßnahmen in zeitlichem Zusammenhang mit einer Erweiterung oder wesentlichen Verbesserung des Objekts durchgeführt, steht dies einer isolierten Betrachtung der einzelnen Maßnahmen grundsätzlich nicht im Wege. Die angefallenen Kosten sind entsprechend aufzuteilen, ggf. auch im Wege der Schätzung63. Eine Ausnahme gilt jedoch, wenn die Maßnahmen bautechnisch ineinander greifen. Dann handelt es sich insgesamt um Herstellungskosten (z. B. Erneuerung der Dacheindeckung in Verbindung mit einer Vergrößerung der Nutzfläche im Dachgeschoss64). Ein derartiger Zusammenhang kann auch vorliegen, wenn sich die Arbeiten über mehrere Jahre erstrecken. Fallen nun im Zeitraum des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG separierbare Instandhaltungskosten und „echte“ Herstellungskosten an, muss die Frage beantwortet werden, ob diese Herstellungskosten in den für die 15 %-Grenze maßgeblichen Betrag einzubeziehen sind. Die Antwort hat der BFH mit seinem oben dargestellten65 ersten Revisionsurteil zu § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG wohl gegeben: Der Typisierungszweck des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG erfordert es danach, eine einheitliche Modernisierungsmaßnahme einheitlich zu beurteilen. Das dürfte wohl nicht nur für Schönheitsreparaturen gelten, wie in jenem Fall, sondern muss erst recht auch „echte“ Herstellungskosten mit einschließen. „Echte“ Herstellungskosten fallen nach § 255 Abs. 2 Satz 1 HGB an, wenn das Objekt erweitert oder wesentlich verbessert wird. Im Drei-Jahres-Zeitraum anfallende Kosten für Erweiterungen und wesentliche Verbesserungen müssten also auf die 15 %-Grenze angerechnet werden, wenn sie Bestandteil einer einheitlichen Modernisierungsmaßnahme sind66. Eine solche Betrachtung steht allerdings im Widerspruch zu § 6 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Alt. 1 EStG, der anordnet, dass Aufwendungen für Erweiterungen i. S. des § 255 Abs. 2 Satz 1 HGB nicht zu den anschaffungsnahen Herstellungskosten gehören. Dem muss wohl entnommen werden, dass zwar Kosten für wesentliche Verbesserungen, nicht aber Kosten für Erweiterungen auf die 15 %-Grenze angerechnet werden dürfen, wenn sie Bestandteil einer einheitlichen Modernisierungsmaßnahme sind67.
__________ 62 So wohl im Fall des BFH v. 23.6.1988 – IX B 178/87, BFH/NV 1989, 165, der als erster Fall der Sanierung auf Raten erwähnt wird und nach heutiger Rechtslage dann anders zu behandeln wäre; ebenso im Fall des BFH v. 30.7.1991 – IX R 123/90, BFHE 165, 253, BStBl. II 1992, 30, in dem von einem „erheblichen Instandhaltungsrückstand“ ausgegangen wurde und der Sachverhalt keinen Hinweis auf einen Standardsprung enthält. 63 BFH v. 9.5.1995 – IX R 116/92, BFHE 177, 454, BStBl. II 1996, 632, und v. 3.12.2002 – IX R 64/99, BFHE 201, 148, BStBl. II 2003, 590. 64 BFH vom 9.5.1995 – IX R 88/90, BFHE 178, 32, BStBl. II 1996, 628. 65 Unter IV.1. 66 Ebenso OFD Rheinland v. 6.7.2010 – S 2211 – 1001 – St 232 Tz. 1; a. A. Fahlenbach, DStR 2010, 2066. 67 Für eine Anrechnung der Kosten für wesentliche Verbesserung selbst bei Fehlen des Zusammenhangs mit der Modernisierung wohl Kulosa in Schmidt (Fn. 55), § 6 EStG Rz. 385.
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Anschaffungsnahe Herstellungskosten
Ein sachlicher Grund für diese Differenzierung, die der Gesetzgeber aus der bisherigen Regelung in R 157 Abs. 4 Satz 5 EStR übernommen hat, mag darin zu sehen sein, dass nur Kosten, die auf den bisherigen Wohn/Nutzflächenbestand entfallen, in die Berechnung des Grenzwerts einbezogen werden sollen. 3. Begriff der jährlich üblicherweise anfallenden Erhaltungsarbeiten Ebenfalls aus den bisherigen EStR (R 157 Abs. 4 Satz 6) übernommen wurde § 6 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Alt. 2 EStG. Nicht zu den anschaffungsnahen Herstellungskosten gehören danach auch Aufwendungen für Erhaltungsarbeiten, die jährlich üblicherweise anfallen. Der Wortlaut der Vorschrift weicht allerdings insoweit von den früheren EStR ab, als früher „laufender Erhaltungsaufwand“ aus den Gesamtkosten auszuscheiden war. Vom Wortsinn her besteht aber m. E. kein Unterschied zwischen „Aufwendungen für Erhaltungsarbeiten“ und „laufendem Erhaltungsaufwand“, die jeweils jährlich üblicherweise anfallen68. Beide Formulierungen nehmen einen Gedanken auf, der erstmals wohl im BFH-Urteil v. 26.10.196269 geäußert worden ist. Dort heißt es: „Aufwendungen, die weder mit einem Umbau oder einer Modernisierung des erworbenen Hauses zusammenhängen, noch nachgeholte Instandsetzungen betreffen, sondern die sich aus irgendwelchen nach dem Grundstückserwerb eingetretenen Umständen ergeben, sind als Werbungskosten zu berücksichtigen. Hierzu können z. B. die Kosten für den Ersatz zerbrochener Fensterscheiben, Reparaturen an Herden und Öfen, Öffnen von Türschlössern und Neuanfertigungen von verlorenen Schlüsseln sowie ähnliche kleinere Ausgaben gehören.“ Später verwies der BFH auf dieses Urteil mit dem Hinweis, es sei anerkannt, dass Erhaltungsaufwand, der jährlich üblicherweise anfalle, auch bei neu erworbenen Gebäuden sofort als Werbungskosten abziehbar sei70. Aus den anschaffungsnahen Kosten sind danach nur Aufwendungen für kleinere Erhaltungsarbeiten auszuscheiden. Schönheitsreparaturen i. S. des § 28 Abs. 4 Satz 3 der II. BVO gehören grundsätzlich nicht zu diesen Kosten, und zwar einerseits deshalb, weil sie regelmäßig nicht derart geringfügig sind, wie die seinerzeit vom BFH genannten Erhaltungsarbeiten, andererseits deshalb, weil sie nicht in jedem Jahr anfallen, sondern nur in größeren Abständen. Allerdings fallen Schönheitsreparaturen nach dem BFH-Urteil v. 25.8.200971 auch nicht unter den Begriff der Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen i. S. des § 6 Abs. 1 Nr. 1a Satz 1 EStG. Das legt es nahe, sie doch den Erhaltungsarbeiten nach Satz 2 zuzuordnen, auch wenn sie höhere Kosten verur-
__________ 68 Im Ergebnis ebenso Köster in Herrmann/Heuer/Raupach, § 6 EStG Anm. J 03-11; Spindler, DB 2004, 507 (510); offen gelassen in BFH v. 25.8.2009 – IX R 20/08, BFHE 226, 256, BStBl. II 2010, 125 unter II.2.b)bb)(1). 69 BFH v. 26.10.1962 – VI 212/61 U, VI 213/61 U, VI 212, 213/61 U, BFHE 76, 104, BStBl. III 1963, 39. 70 BFH v. 23.6.1988 – IX B 178/87, BFH/NV 1989, 16. 71 BFH v. 25.8.2009 – IX R 20/08, BFHE 226, 256, BStBl. II 2010, 125.
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sachen und nicht in jedem Jahr anfallen72. M. E. ist die Regelung deshalb dahin zu verstehen, dass alle regelmäßig anfallenden Kosten für Erhaltungsarbeiten bis zur Höhe des durchschnittlichen Jahresbetrags aus den Gesamtkosten auszuscheiden sind73. Dies gebietet der Gleichheitssatz, weil anderenfalls etwa derjenige, der über ein Objekt mit vielen vermieteten Einheiten verfügt, für das in jedem Jahr Erhaltungsarbeiten dieser Art anfallen, besser behandelt wird als der Eigentümer eines Objekts mit wenig Einheiten, für das Erhaltungsaufwendungen zwar regelmäßig, aber nicht in jedem Jahr anfallen. Abzustellen ist insoweit auf die nach objektiven Kriterien im Jahresdurchschnitt erforderlichen Erhaltungsarbeiten. 4. Objekt im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG ordnet Aufwendungen für Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen den Herstellungskosten eines Gebäudes zu. Die Vorschrift setzt den Begriff des Gebäudes voraus und unterscheidet sich in diesem Punkt nicht von § 7 Abs. 4 und 5 EStG. Es liegt danach nicht fern, beide Gebäudebegriffe deckungsgleich auszulegen. Nun ist allerdings nicht jedes Gebäude als ein einheitliches Wirtschaftsgut anzusehen. Vielmehr kommt es zu einer Aufteilung eines Gebäudes in unterschiedliche Wirtschaftsgüter, soweit Teile des Gebäudes in unterschiedlichen Nutzungs- und Funktionszusammenhängen stehen. Die Rechtsprechung unterscheidet Nutzungen zu eigenen und fremden gewerblichen Zwecken sowie eigenen und fremden Wohnzwecken74. Dem wird für Zwecke der AfA durch eine ausdrückliche gesetzliche Regelung in § 7 Abs. 5a EStG Rechnung getragen. Eine entsprechende Anwendung dieser Regelung im Anwendungsbereich des § 6 EStG drängt sich geradezu auf, denn als Bewertungsvorschrift knüpft § 6 EStG ebenfalls an einzelne Wirtschaftsgüter an. Allerdings hat der BFH zur bisherigen Rechtslage entschieden, dass anschaffungsnahe Herstellungskosten in Bezug auf ein physikalisch einheitliches Gebäude und unabhängig von der Aufgliederung in verschiedene Wirtschaftsgüter zu bestimmen seien75. Dieser Rechtsprechung kann m. E. für die heutige Rechtslage wegen der gleichlaufenden Auslegung des Gebäudebegriffs in § 6 und § 7 EStG keine Bedeutung mehr zukommen76. Da die Rechtsprechung bei originären Herstellungskosten auf das jeweilige
__________ 72 Gl.A. Fischer in Kirchhof (Fn. 58), § 6 EStG Rz. 67; Korn/Strahl in Korn, § 6 EStG Rz. 183.6; ebenso im Ergebnis Werndl in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 6 EStG Anm. Ba 31; für weite Auslegung unter Hinweis auf IAS 16.38 („costs of day-to-dayservicing“) Hoffmann in Littmann/Bitz/Pust, § 6 EStG Rz. 311; a. A. Ehmcke in Blümich, § 6 EStG Rz. 418. 73 A. A. Carlé in FS Korn (Fn. 32), S. 41 (57) wegen fehlender Praktikabilität. 74 BFH v. 26.11.1973 – GrS 5/71, BFHE 111, 242, BStBl. II 1974, 132. 75 BFH v. 30.7.1991 – IX R 59/89, BFHE 166, 42, BStBl. II 1992, 940. 76 Gl.A. Kulosa in Schmidt (Fn. 55), § 6 EStG Rz. 383; a. A. OFD Frankfurt v. 12.2.2009 – S 2171a A – 2 – St 17 Tz. 2; OFD Rheinland v. 6.7.2010 – S 2211 – 1001 – St 232 Tz. 5; Ehmcke in Blümich, § 6 EStG Rz. 427; Günther, GStB 2010, 48 (49); Hiller, INF 2004, 663 (665).
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Wirtschaftsgut abstellt77, gibt es keine Veranlassung dafür, bei anschaffungsnahen Herstellungskosten anders zu verfahren. Daraus folgt, dass nur solche Aufwendungen für Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen zu anschaffungsnahen Herstellungskosten führen können, die für Arbeiten an dem betreffenden Wirtschaftsgut entstanden sind. Mehrere Wirtschaftsgüter betreffende Maßnahmen müssen dann sachgerecht aufgeteilt werden. Die sich dabei für das jeweilige Wirtschaftsgut ergebenden Beträge werden berücksichtigt, wenn die Überschreitung der 15 %-Grenze für das betreffende Wirtschaftsgut geprüft wird. Innerhalb eines Wirtschaftsguts ist m. E. nicht zu differenzieren. Werden etwa in einem Mehrfamilienhaus mehrere Wohnungen vermietet, bilden diese ein einheitliches Objekt i. S. des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG. Anders verhält es sich, wenn in einem Gebäudekomplex mehrere Eigentumswohnungen vermietet werden. Da jede Eigentumswohnung ein eigenständiges Wirtschaftsgut ist, bildet auch jede Eigentumswohnung ein eigenständiges Objekt im Hinblick auf die Entstehung anschaffungsnaher Herstellungskosten78. 5. 15 %-Grenze bei teilentgeltlichem Erwerb Die schädliche Grenze von 15 % orientiert sich gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1a Satz 1 EStG an den Anschaffungskosten des Gebäudes. Inwieweit die Anschaffungskosten dem Verkehrswert entsprechen und ob sie nach unten oder oben durch Umstände beeinflusst sind, die außerhalb der Einkunftserzielung liegen, ist dem Gesetzeswortlaut nach ohne Bedeutung. Bei voll unentgeltlichem Erwerb findet § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG schon deshalb keine Anwendung, weil es an einer Anschaffung fehlt. Allerdings sind dem Rechtsnachfolger die Anschaffung des Rechtsvorgängers und dessen anschließende Kosten für Instandsetzungsund Modernisierungsarbeiten zuzurechnen79. Ein teilentgeltlicher Erwerb ist m. E. wie ein vollentgeltlicher Erwerb zu behandeln; die schädlichen Kosten sind nicht etwa nur mit dem Prozentsatz auf die 15 %-Grenze anzurechnen, der dem Verhältnis der Anschaffungskosten zum Verkehrswert entspricht80. Die Finanzverwaltung hat bereits zur früheren Rechtslage eine andere Auffassung vertreten81 und hält an dieser für den Stpfl. günstigen Handhabung auch weiter fest82.
__________
77 BFH v. 25.9.2007 – IX R 28/07, BFHE 219, 96, BStBl. II 2008, 218. 78 Insoweit gl.A. OFD Frankfurt v. 12.2.2009 – S 2171a A – 2 – St 17 Tz. 2; OFD Rheinland v. 6.7.2010 – S 2211 – 1001 – St 232 Tz. 5. 79 BFH v. 3.12.2002 – IX R 64/99, BFHE 201, 148, BStBl. II 2003, 590; Günther, GStB 2010, 48 (49); Korn/Strahl in Korn, § 6 EStG Rz. 183.11; Werndl in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, § 6 EStG Anm. Ba 61. 80 A. A. Ehmcke in Blümich, § 6 EStG Rz. 430; Fischer in Kirchhof (Fn. 58), § 6 EStG Rz. 67; Günther, GStB 2010, 48 (51); Korn/Strahl in Korn, § 6 EStG Rz. 183.12; Kulosa in Schmidt (Fn. 55), § 6 EStG Rz. 383; a. A. ursprünglich auch BFH v. 9.5.1995 – IX R 5/93, BFHE 178, 40, BStBl. II 1996, 588, aber aufgegeben durch BFH v. 3.12.2002 – IX R 64/99, BFHE 201, 148, BStBl. II 2003, 590. 81 R 157 Abs. 4 Satz 8 EStR 2001. 82 R 6.4 Abs. 1 Satz 2 EStR.
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Michael Wendt
6. Bilanzielle Folgen des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG Schon die früheren Rechtsprechungsgrundsätze zum anschaffungsnahen Aufwand hatte der BFH auch auf Gewinneinkunftsarten einschließlich der Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich erstreckt83. Dies war eine zwingende Folge der systematischen Rechtfertigung mit dem handelsrechtlichen Herstellungskostenbegriff. Die Erstreckung der jetzigen gesetzlichen Regelung auf die Gewinneinkünfte entspricht damit dem Wunsch des Gesetzgebers nach einer gesetzlichen Wiederherstellung der früheren Rechtsprechungsgrundsätze. Anders als früher führt die Neuregelung aber nun zu einem Auseinanderfallen von Handels- und Steuerbilanz. § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG ist eine steuerliche Bewertungsregel i. S. des § 5 Abs. 6 EStG. Zu einer solchen Regelung ist der deutsche Steuergesetzgeber befugt; er ist insoweit europarechtlich nicht an einen möglicherweise von der Bilanzrichtlinie vorgeprägten Herstellungskostenbegriff gebunden84. Das damit bewirkte Auseinanderfallen der Herstellungskostenbegriffe von Handels- und Steuerbilanzrecht hat Auswirkungen auf die handelsrechtlich zu bilanzierenden latenten Steuern. Im Hinblick darauf, dass ein Gebäude in der Steuerbilanz nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 EStG mit den fortgeführten Herstellungskosten, wahlweise aber mit dem niedrigeren Teilwert zu bewerten ist, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG zum Teilwert. Würde nämlich der Teilwert von anschaffungsnahen Herstellungskosten nicht beeinflusst, könnte eine Teilwertabschreibung auf die Teilwertvermutung gestützt werden, wonach der Teilwert eines Gebäudes den fortgeführten historischen Anschaffungs- und Herstellungskosten entspricht85. Die Umqualifikation der Instandhaltungs- und Modernisierungskosten in Herstellungskosten wirkt sich aber auch auf die Teilwertvermutung aus: es wird danach vermutet, dass der Teilwert den fortgeführten historischen Anschaffungs- und Herstellungskosten einschließlich anschaffungsnaher Herstellungskosten entspricht86. Eine Teilwertabschreibung ist dann nur bei Nachweis eines niedrigeren Teilwerts durch den Stpfl. möglich.
VI. Schluss Die gesetzliche Erweiterung steuerlicher Herstellungskosten um anschaffungsnahe Aufwendungen für Instandhaltungs- und Modernisierungsarbeiten hat erwartungsgemäß und entgegen der „irreführenden“87, „schlicht unzutreffen-
__________ 83 BFH v. 4.3.1998 – X R 151/94, BFH/NV 1998, 1086. 84 So auch ausdrücklich BFH v. 25.8.2009 – IX R 20/08, BFHE 226, 256, BStBl. II 2010, 125, unter Hinweis auf Werndl in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 6 EStG Anm. Ba 25 f. 85 Ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. etwa BFH v. 11.7.1961 – I 311/60 S, BFHE 73, 537, BStBl. III 1961, 462. 86 So schon zur alten Rechtslage BFH v. 4.3.1998 – X R 151/94, BFH/NV 1998, 1086. 87 Söffing, DB 2004, 946 (947).
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Anschaffungsnahe Herstellungskosten
den“88 Begründung des „Nichtanwendungsgesetzes“89 keine „Rechtsvereinfachung und -sicherheit“90 für den Bürger und die Verwaltung geschaffen. Nach siebenjähriger Geltung des Gesetzes sind nur wenige der neu aufgeworfenen Auslegungsfragen geklärt. Für die Finanzgerichte und den BFH bleibt noch viel zu tun. Wolfgang Spindler wird an der weiteren Klärung all dieser Rechtsfragen nicht mehr als Richter mitwirken können. Seine Ideen werden aber weiter wirken und die Rechtsprechung „seines“ IX. Senats und aller mit diesen Fragen künftig befassten Finanzrichter beeinflussen. Ob er noch dann und wann die Feder ergreifen und dem BFH auf diesem Weg weitere Ratschläge geben wird? Wer weiß, vielleicht hat Wolfgang Spindler ja schon ganz andere Ideen für seinen jetzt beginnenden Lebensabschnitt. Die besten Wünsche des Verfassers sollen ihn jedenfalls dabei begleiten.
__________ 88 Spindler, DB 2004, 507 (509). 89 Pezzer, DStR 2004, 525 (526). 90 BT-Drucks. 15/1562, 32.
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Einnahmen und Schneeballsystem – Überlegungen zur Forderung als Gegenstand einer Einnahme gemäß § 8 EStG Inhaltsübersicht I. Einführung II. Einnahmen im Rahmen der Überschussrechnung 1. Geld als Gegenstand der Einnahme 2. Zufluss bei Geld III. Die Forderung in der Überschussrechnung 1. Ein Gut in Geldeswert 2. Zufluss einer Forderung 3. Bewertung einer Forderung 4. Gründe für die Nichterfassung einer Forderung als Einnahme 5. Ausnahmsweise Zufluss einer Forderung als Einnahme
IV. Sonderfall Novation 1. Novation im Zivilrecht 2. Novation in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs V. Würdigung der tatsächlichen Feststellungen des Bundesfinanzhofs in den Schneeballurteilen 1. Die Beteiligten haben eine Schuldumwandlung vereinbart 2. Die Schuldnerin war nicht zahlungsfähig VI. Eigene Lösung der sog. Schneeballfälle
Dieser Aufsatz ist Wolfgang Spindler gewidmet, einem Kollegen seit unserer gemeinsamen Zeit am Finanzgericht Düsseldorf, dessen Präsident damals Dieter Rönitz war. Als Richter am BFH und später Vorsitzender des IX. Senats, dem auch ich angehörte, hat er eine Reihe von interessanten und grundsätzlichen Fragen mit entschieden, um deren Lösung wir manchmal lange und heftig gerungen haben. Das geschah von seiner Seite mit souveräner Sachlichkeit und mir als Kollegen gegenüber mit einer Haltung, die uns über das kollegiale Verhältnis hinaus verbunden hat.
I. Einführung Fragen betreffend die Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und allgemein die Einnahmen und Werbungskosten standen im Mittelpunkt der Arbeit des Senats. Der scheinbar einfache Begriff der Einnahme hat seine Tücken. Eine davon ist der Umgang mit der Forderung, deren Erwerb grundsätzlich nicht zu einer Einnahme führt. Es gibt aber eine Reihe von Fällen, in denen auch eine Forderung zu einer Einnahme führen muss, zum Beispiel bei der Verfügung über eine Forderung im Rahmen einer Schuldumwandlung (Novation), bei der die Forderung gegen eine andere Forderung ausgetauscht wird. Das kann auch im Rahmen eines sog. Schneeballsystems geschehen: 897
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So haben unseriöse Unternehmen Anleger mit der Aussicht auf hohe Zinsen gewonnen und sie zugleich zu der Vereinbarung angeregt, die zukünftig fälligen Zinsen sich nicht auszahlen zu lassen, sondern dem Kapital zuzuschlagen. Die meisten taten das auch. Als das Unternehmen längst hohe Verluste erwirtschaftete, wurden die versprochenen Zinsen gleichwohl weiter gutgeschrieben. Bei denjenigen, die sich die Zinsen auszahlen ließen, geschah dies anstandslos. In zunehmendem Umfang allerdings nur mit Geldern neuer Anleger (Schneeballsystem), bis die Blase dann, wie nicht zu vermeiden, platzte1. Der BFH hat mit Urteil v. 22.7.19972 und seitdem immer wieder3 den Anlegern die beim Kapital gutgeschriebenen Zinsen unter Hinweis darauf, dass das Unternehmen (die Schuldnerin) die Zinsen auf Verlangen auch ausgezahlt hätte, im Zeitpunkt der Gutschrift und Umwandlung in eine Beteiligung als Einnahmen zugerechnet. Dieses Ergebnis schien mir von Anfang an problematisch4. Auch andere5, vor allem auch Finanzgerichte6, haben immer wieder ihre Bedenken gegen dieses Ergebnis und seine Begründung geäußert. Der BFH hat deshalb jedoch keine Veranlassung zu einer Änderung seiner Rechtsprechung gesehen. Das BVerfG scheint jedenfalls keine verfassungsrechtlichen Bedenken zu haben7. So können auch die folgenden Ausführungen sich realistischerweise nicht das Ziel setzten, eine vierzehnjährige ständige Rechtsprechung zu ändern. Als Motiv bleibt nur der Eifer für die Systematik des Einkommensteuerrechts. Schon deshalb scheint ein grundsätzlicher Ansatz geboten:
__________ 1 Zu Varianten der Anlage vgl. Schmidt-Liebig, FR 2007, 409 ff. 2 VIII R 57/95, BStBl. II 1997, 755, und 8 weitere Urteile vom gleichen Tage, z. B. VII R 73/95, BFH/NV 1998, 300, VIII R 40/97, BFH/NV 1998, 958; nach anfänglichen Bedenken im Aussetzungsverfahren, vgl. BFH v. 20.12.1994 – VIII B 143/94, BStBl. II 1995, 262; BFH v. 16.3.1995 – VIII B 158/94, BFH/NV 1995, 680; BFH v. 8.2.1995 – VIII B 157/94, BFH/NV 1995, 773. 3 Zuletzt BFH v. 28.10.2008 – VIII R 36/04, BStBl. II 2009, 190, BFH v. 19.6.2007 – VIII R 63/03, BFH/NV 2008, 194; BFH v. 10.7.2001 – VIII R 35/00, BStBl. II 2001, 646. 4 Vgl. Wolff-Diepenbrock in Littmann/Bitz/Pust, § 11 EStG Rz. 65 ff. 5 Mertens, Information 1994, Editorial zu Heft 10, 1; Carl/Klos, Information 1994, 680; Dendl/Popp/Wagner, Stbg 2000, 459; Schmidt-Liebig, FR 2007, 409; ders., Anmerkung zum BFH-Urteil v. 19.6.2007 – VIII R 63/03, NWB Fach 3, 15105; Hackenberg, SteuerConsultant 2008, Heft 7, 28. 6 FG Nürnberg v. 6.4.2000 – III 151/98, EFG 2000, 1124, aufgehoben durch BFH v. 10.7.2001 – VIII 35/00, BStBl. II 2001, 646; FG Köln v. 30.10.2002 – 5 K 4592/94, EFG 2003, 387; FG Baden-Württemberg v. 8.7.2003 – 4 K 27/99, EFG 2003, 1695, aufgehoben durch BFH v. 14.12.2004 – VIII R 81/03, BStBl. II 2005, 748; FG Saarland v. 6.12.2006 – 1 K 165/03, EFG 2007, 506, Rev. BFH v. 16.3.2010 – VIII R 4/07, BFH/NV 2010, 1527; FG Rheinland-Pfalz v. 28.5.2002 – 2 K 3229/99, n. v., zitiert bei Hackenberg, SteuerConsultant 2008, Heft 7, 29; FG Rheinland-Pfalz v. 17.6.2003 – 6 V 2563/02, rkr. n. v., zitiert bei Hackenberg, SteuerConsultant 2008, Heft 7, 29; FG München v. 21.11.2002 – 11 K 3610/99, aufgehoben durch BFH v. 19.6.2007 – VIII R 63/03, BFH/NV 2008, 194; FG Rheinland-Pfalz v. 10.2.2004 – 2 K 1550/03, EFG 2004, 1211, aufgehoben durch BFH v. 28.10.2008 – VIII R 36/04, BStBl. II 2009, 190. 7 Die Beschwerde gegen das Urteil des BFH v. 28.10.2008 – VIII R 36/04, BStBl. II 2009, 190 wurde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG v. 9.7.2009 – 2 BvR 2525/08.
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II. Einnahmen im Rahmen der Überschussrechnung Nach § 8 Abs. 1 EStG sind Einnahmen alle Güter, die in Geld oder Geldeswert bestehen und dem Steuerpflichtigen im Rahmen einer der Einkunftsarten des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 bis 7 EStG zufließen. Die Einnahmen sind natürlich nicht die Güter, sondern der Zufluss dieser Güter beim Steuerpflichtigen; die Grundregelung des § 11 Abs. 1 EStG ist Bestandteil des § 8 Abs. 1 EStG. Eine Einnahme ist also der Zufluss von Geld oder eines geldwerten Gutes im Rahmen einer der genannten Einkunftsarten8. 1. Geld als Gegenstand der Einnahme Das Gesetz unterscheidet als Gegenstand der Einnahme Geld und geldwerte Güter. Mit Geld ist nicht nur Bargeld gemeint, sondern die gesetzlichen Zahlungsmittel9, also auch Buchgeld10. An sich ist Buchgeld eine Forderung gegen die Bank11, mithin ein geldwertes Gut, dessen Wert nicht ohne weiteres seinem Nennwert gleichzusetzen ist. Allerdings spricht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass es so ist, beide sind i. d. R. wirtschaftlich gleichwertig12. Das Schicksal von Lehman Brothers und die Bankenkrise überhaupt lehren aber, dass es nicht immer so sein muss. Jedenfalls kann man aus der Gleichsetzung von Bar- und Buchgeld nicht darauf schließen, dass jede Geldforderung als Geld i. S. d. § 8 Abs. 1 EStG zu werten ist. 2. Zufluss bei Geld Zufluss ist der Beginn der Verfügungsmacht über das Gut13 und damit der Zuordnung des Guts zum Vermögen des Steuerpflichtigen14. Sobald der Steuerpflichtige die Verfügungsmacht über ein Gut, § 39 AO, im Rahmen einer Einkunftsart (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG) erlangt, ist der Tatbestand der Einnahme, § 8 Abs. 1 EStG, erfüllt. Normalerweise wird die Verfügungsmacht erlangt durch Übereignung des geschuldeten Geldes oder geldwerten Gutes, bei Geld gilt als Zufluss auch die Gutschrift auf einem Bankkonto, weil das Buchgeld dem Geld gleichgestellt wird (siehe oben).
__________ 8 Vgl. BFH v. 21.7.1987 – VIII R 211/82 (NV), BFH/NV 1988, 224, zu 2. b): „Der Zufluss ist Bestandteil des Begriffs der Einnahme (§ 8 Abs. 1 EStG)“; ferner BFH v. 11.11.2009 – IX R 57/08, BFH/NV 2010, 717 Rz. 19; Pust in Littmann/Bitz/Pust, § 8 EStG Rz. 26. 9 Vgl. § 1 Abs. 1 WährungsG gültig bis 31.12.2001; Grüneberg in Palandt, 70. Aufl. 2011, § 245 BGB Rz. 3; Glenk in Blümich, § 8 EStG Rz. 11. 10 BFH v. 27.10.2004 – VI R 29/02, BStBl. II 2005, 135; zu 2. m. w. N., allg. Ansicht: Birk/Kister in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8 EStG Rz. 22; Gröpl in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, § 8 EStG Anm. B 6; Birk/Kister in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8 EStG Rz. 22. 11 Grüneberg in Palandt (Fn. 9), § 245 BGB Rz. 4; Pust in Littmann/Bitz/Pust, § 8 EStG Rz. 27. 12 Grüneberg in Palandt (Fn. 9), § 245 BGB Rz. 4. 13 BFH v. 29.11.2000 – I R 102/99, BStBl. II 2001, 195, zu 2. 14 Wolff-Diepenbrock in Littmann/Bitz/Pust, § 11 EStG Rz. 102.
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Zufluss von Geld wird vom BFH15 auch dann angenommen, wenn der geforderte Geldbetrag zwar noch nicht ausgezahlt oder einem Bankkonto des Gläubigers gutgeschrieben wurde, jedoch in den Büchern des Schuldners gutgeschrieben wurde und „in der Gutschrift nicht nur das buchmäßige Festhalten einer Schuldbuchverpflichtung zu sehen ist, sondern darüber hinaus zum Ausdruck kommt, dass der Betrag dem Berechtigten von nun an zur Verfügung steht. Allerdings muss der Gläubiger in der Lage sein, den Leistungserfolg (m. E. also wohl die Auszahlung des Geldes oder die Gutschrift auf seinem Bankkonto) ohne weiteres Zutun des im Übrigen leistungsbereiten und leistungsfähigen16 Schuldners herbeizuführen.“ Entscheidend ist, dass der Betrag im Interesse des Gläubigers nicht ausgezahlt wird17. Die vielen Worte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Tatbestand höchst vage ist. Vor allem wird nicht klar unterschieden zwischen der Verfügungsmacht über die Forderung (dazu siehe unten „Zufluss einer Forderung“) und ihrem Gegenstand, dem Geld. Worin genau liegt der Unterschied zur internen Gutschrift bzw. zum internen Festhalten einer konkreten Zahlungsverpflichtung, was heißt also „zum Ausdruck bringen“? Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft des Schuldners ist der Normalfall, sie ersetzen gleichwohl nicht eine letzte Erfüllungshandlung des Schuldners18. Was soll „ohne weiteres Zutun“ heißen? Zivilrechtlich ist der Betrag dem Schuldner so lange zuzurechnen, wie er noch nicht ausgezahlt wurde19. Es ist verständlich, dass Verwaltung und Finanzgerichtsbarkeit schon bei Gutschriften eine Einnahme bejahen wollen, um die willkürliche Verzögerung der Auszahlung zu verhindern20. Problematisch ist dabei nur die Unterstellung einer Auszahlung. So lässt der BFH im Rahmen der Überschussrechnung (§§ 8, 11 EStG) den Geldbetrag zum gleichen Zeitpunkt zufließen, in dem er im Rahmen der Gewinnermittlung (§ 4 Abs. 1, § 5 EStG) nur eine Forderung als
__________ 15 BFH v. 11.2.2010 – VI R 47/08, BFH/NV 2010, 1094, Rz. 12, m. w. N.; ähnlich BFH v. 19.6.2007 – VIII R 63/03, BFH/NV 2008, 194, zu 2. b); BFH v. 10.7.2001 – VIII R 35/00, BStBl. II 2001, 646, BFH v. 14.2.1984 – VIII R 221/80, BStBl. II 1984, 480, unter 2. a) m. w. N.; vgl. auch: Hingabe eines gedeckten Schecks führt zum Zufluss des entsprechenden Geldbetrages, BFH v. 28.10.2008 – VIII R 36/04, BStBl. II 2009, 190, zu II. 4. b) aa), m. N. betr. stillen Gesellschafter; BFH v. 18.12.2001 – IX R 74/98, BFH/NV 2002, 643, zu 2. a) m. w. N., betr. Provisionen; zu Bedenken dagegen vgl. BFH v. 20.12.1994 – VIII B 143/94, BStBl. II 1995, 262, a. E., m. w. N. 16 Andernfalls keine Einnahme, z. B. BFH v. 28.1.2010 – VIII B 128/09, BFH/NV 2010, 877, zu 9. 17 BFH v. 14.2.1984 – VIII R 221/80, BStBl. II 1984, 480, unter 2. c) m. w. N. 18 Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 29 GmbHG Rz. 49, 55: Die Auszahlung hat in Geld zu erfolgen, Vereinbarung einer Leistung an Erfüllungs statt (§ 364 Abs. 1 BGB) ist möglich. 19 Der Anteilseigner erwirbt lediglich einen Gewinnanspruch, dem die Verpflichtung des Schuldners zur Auszahlung gegenübersteht: BGH v. 14.9.1998 – II ZR 172/97, DB 1998, 2212; zum Mehrheitsgesellschafter: BGH v. 12.1.1998 – II ZR 82/93, DB 1998, 567; insofern übereinstimmend BFH v. 7.8.2000 – GrS 2/99, BStBl. II 2000, 632, zu C. II. 3. 20 Vgl. BFH v. 24.3.1993 – X R 55/91, BStBl. II 1993, 499, zu 1., im Interesse einer zeitnahen Heranziehung zur Einkommensteuer.
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Ertrag erfasst21 – ein Ding der Unmöglichkeit, weil in beiden Fällen der gleiche tatsächliche Vermögenszuwachs gemeint ist. Im Überschussbereich eine Einnahme in Form des Zuflusses einer Forderung anzunehmen, scheint dem BFH aber nicht denkbar. Möglicherweise, weil die Bewertung der Forderung (dazu siehe unten) vermieden werden soll, denn der Zufluss des Geldes geschieht in diesen Fällen natürlich immer zum Nennwert. Die Ersetzung einer Geldforderung durch eine neue Forderung (Novation) führt nach der Rechtsprechung des BFH ebenfalls zum Zufluss des Gegenstands der Forderung22, also von Geld – und nicht etwa der neuen Geldforderung. Dazu später.
III. Die Forderung in der Überschussrechnung 1. Ein Gut in Geldeswert Außer Geld kann Gegenstand einer Einnahme ein Gut in Geldeswert sein, d. h. jeder geldwerte Vorteil23. Darunter fällt auch eine Forderung, z. B. eine Geldforderung24. Das ist zwar noch nicht das Geld selbst – ihm gegenüber ist sie ein Minus –, aber ein Anspruch auf Geld ist ebenfalls ein wirtschaftlicher Vorteil, und je sicherer der Anspruch ist, umso mehr entspricht sein Wert dem des Geldes selbst. Das ist der Grund, warum der Erwerb einer Geldforderung im Rahmen der Gewinnermittlung durch Vermögensvergleich (§§ 4 Abs. 1, 5 EStG) regelmäßig Ertrag in Höhe der Anschaffungskosten, d. h. in Höhe des Nennwerts ist25. Obwohl der Erwerb einer Forderung im Rahmen der Ermittlung des Überschusses der Einnahmen über die Werbungskosten (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG) grundsätzlich nicht zu einer Einnahme führt, ist eine Forderung auch hier ein geldwertes Gut i. S. d. § 8 Abs. 1 EStG26. Ob etwas ein geldwertes Gut, das heißt ein wirtschaftlicher Vorteil ist, ist keine Frage der Art der Einkünfteermittlung. Ein geldwerter Vorteil ist ein objektiver Wert, dessen Zufluss die
__________ 21 Nämlich im Zeitpunkt der Beschlussfassung über die Gewinnverwendung beim beherrschenden Gesellschafter, BFH v. 17.11.1998 – VIII R 24/98, BStBl. II 1999, 223, zu 1. betr. § 11 Abs. 1 EStG, BFH v. 7.8.2000 – GrS 2/99, BStBl. II 2000, 632, zu C. II., betr. Gewinnermittlung; vgl. auch BFH v. 10.7.2001 – VIII R 35/00, BStBl. II 2001, 646, zu 2. c): Zufluss, weil der Schuldner auf Verlangen gezahlt hätte! 22 BFH v. 21.7.1987 – VIII R 211/82, BFH/NV 1988, 224, zu 2. b); BFH v. 14.2.1984 – VIII R 221/80, BStBl. II 1984, 480, zu 2. c) m. w. N. 23 BFH v. 1.9.1998 – VIII R 3/97, BStBl. II 1999, 213, zu 2. a) m. w. N.; Drenseck in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 8 EStG Rz. 12: „jeder wirtschaftliche Vorteil“; Glenk in Blümich, § 8 EStG Rz. 12: „jeder greifbare Vorteil“; also nicht nur ein Wirtschaftsgut, vgl. Gröpl in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 8 EStG Anm. B 5 und 10. 24 Vgl. § 240 Abs. 1 HGB. 25 Vgl. auch § 12 Abs. 1 BewG. 26 Pust in Littmann/Bitz/Pust, § 8 EStG Rz. 36; Birk/Kister in Herrmann/Heuer/ Raupach, § 8 EStG Rz. 29; Weber-Grellet in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 4 EStG Anm. D 65, zur Überschussrechnung nach § 4 Abs. 3 EStG.
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Leistungsfähigkeit des Empfängers unabhängig davon steigert, ob sie durch die Ermittlung des Gewinns (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 EStG) und in diesem Rahmen durch Vermögensvergleich (§§ 4 Abs. 1, 5 EStG) oder Überschussrechnung (§ 4 Abs. 3 EStG) oder die Ermittlung der Einnahmen über die Werbungskosten (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG) ermittelt wird. Das Einkommensteuergesetz will diese Steigerung der Leistungsfähigkeit erfassen, die Verschiedenheiten der Einkünfteermittlung dürfen diesen Grundgedanken nicht vergessen lassen27. 2. Zufluss einer Forderung Wie jedes geldwerte Gut i. S. d. § 8 Abs. 1 EStG kann auch eine Forderung zufließen, d. h. in die tatsächliche Verfügungsmacht des Gläubigers gelangen (vgl. oben „Zufluss bei Geld“). Nach dem BFH-Urteil v. 10.7.200128 tritt allerdings „ein Zufließen in diesem Sinne (m. E. wohl § 11 Abs. 1 Satz 1 EStG) stets erst dann ein, wenn der Steuerpflichtige über den Gegenstand der Forderung […] verfügen kann, was im Regelfall erst dann zutrifft, wenn die Forderung durch tatsächliche Zahlung erfüllt wird“29. Dies kann m. E. nur ein Hinweis auf die Grundsätze der Überschussermittlung sein. Damit kann jedenfalls nicht ein tatsächlicher Vorgang wie der Zufluss eines Gegenstandes (hier einer Forderung) übergangen werden. Eine Forderung ist dem Steuerpflichtigen normalerweise zugeflossen, sobald er zivilrechtlich Forderungsinhaber ist30. Entscheidend ist auch hier die tatsächliche oder wirtschaftliche Verfügungsmacht, § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO31. Ausdruck dieser Verfügungsmacht über die Forderung ist z. B. das Recht, die Leistung des Gegenstands der Forderung an sich oder einen anderen verlangen zu können, sie gegen Entgelt oder unentgeltlich übertragen (§ 398 BGB) zu können, sie aufrechnen (§ 387 BGB)32, erlassen (§ 397 Abs. 1 BGB), verpfänden (§§ 1279 ff. BGB), ändern (vgl. § 364 Abs. 2 BGB) oder umwandeln (novieren, vgl. § 364 BGB) zu können. Für die Zuordnung des Wirtschaftsguts Forderung zum Vermögen des Gläubigers werden sich die Voraussetzungen der Aktivierung33, einer Betriebseinnahme oder der Zugehörigkeit zum Betriebsvermögen gemäß § 4 Abs. 3 EStG34 oder einer Einnahme gemäß § 8 Abs. 1 EStG nicht wesent-
__________ 27 Vgl. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl. 2003, S. 668 ff. (676): „Das […] Einkommen ist ein einkunftsartindifferenter Begriff“. 28 VIII R 35/00, BStBl. II 2001, 646, zu II. 2. b) bb) bbb). 29 Unter Hinweis auf Dötsch, DStZ 1997, 837 (841). 30 Vgl. Brockmeyer in Klein, 10. Aufl. 2009, § 39 AO Rz. 9: bei immateriellen WG entspricht dem Eigentum die Inhaberschaft. 31 BFH v. 29.11.2000 – I R 102/99, BStBl. II 2001, 195, zu 2., dazu Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, § 4 EStG Rz. 558 bzgl. § 4 Abs. 3 EStG. 32 Vgl. E. Becker, Die Grundlage der Einkommensteuer, 1940, S. 49. 33 Dazu BFH v. 14.5.2002 – VIII R 30/98, BStBl. II 2002, 741, zu I. 1. a) unter Hinweis auf § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO; BFH v. 14.2.2007 – XI R 18/06, BFH/NV 2007, 1239, zu II.2; Weber-Grellet in Schmidt (Fn. 23), § 5 EStG Rz. 150, 152 f.: wirtschaftliches Eigentum maßgebend. 34 Wied in Blümich, § 4 EStG Rz. 156, 271 ff.
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lich voneinander unterscheiden35, sie orientieren sich alle an § 39 AO. Das gilt besonders für die hier zu erörternden Geldforderungen. 3. Bewertung einer Forderung Eine Forderung muss, wie jedes Gut in Geldeswert, gemäß § 8 Abs. 2 EStG bewertet werden36, und zwar auf den Zeitpunkt des Zuflusses37. Zu ermitteln ist ihr wirtschaftlicher Wert38 oder Geldwert39. Das gescheht durch Schätzung, § 162 AO40. Dabei wird man die Grundsätze der Bewertung von Forderungen im Bereich der Bilanzierung entsprechend heranziehen können, denn es handelt sich hier wie dort um objektive Werte, die letztlich mit dem gleichen Ziel erfasst werden41. Danach wird der Wert der Forderung in der Regel ihrem Nennwert entsprechen42. Aber Ausnahmen sind denkbar. Dabei ist die Zweifelhaftigkeit einer Forderung nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Schuldner andere Forderungen z. T. erfüllt hat43. Ist die Forderung nichts wert, fließt nichts zu44.
__________ 35 BFH v. 22.7.1988 – III R 175/85, BStBl. II 1988, 995, zu II. 1. a): ob der einem Steuerpflichtigen zugewendete Vermögenswert sein steuerpflichtiges Einkommen erhöht, (ist) schon im Hinblick auf das für das Einkommensteuerrecht maßgebende Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit für alle Einkunftsarten nach einheitlichen Maßstäben zu entscheiden; ferner BFH v. 16.1.1975 – IV R 180/71, BStBl. II 1975, 526, zu 1. c) bb); zum Grundsatz der Totalgewinngleichheit; vgl. auch BFH v. 14.11.2007 – XI R 37/06, BFH/NV 2008, 365; BFH v. 22.7.1988 – III R 175/85, BStBl. II 1988, 995, zu 1. a) aa): Die Begriffe Betriebseinnahmen und Einnahmen gemäß § 8 EStG stimmen weitgehend überein; BFH v. 28.11.1977 – GrS 2-3/77, BStBl. II 1978, 105, zu B. II. 1, betr. Betriebsausgaben und Werbungskosten; Tipke, Die Steuerrechtsordnung (Fn. 27), S. 717 ff.; Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 180 ff.; Ratschow in Blümich, § 2 EStG Rz. 62. Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, § 4 EStG Rz. 558; Gröpl in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 8 EStG Anm. A9. 36 Vgl. Birk/Kister in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8 EStG Rz. 23 i. V. m. Rz. 29 und 55. 37 BFH v. 22.4.1966 – VI 137/65, BStBl. III 1966, 394. 38 BFH v. 30.10.1980 – IV R 97/78, BStBl. II 1981, 305, zu 1. c); vgl. ferner BFH v. 20.8.2003 – I R 49/02, BStBl. II 2003, 941, zu II. 1. und 2; BFH v. 23.11.1967 – IV 123/63, BStBl. II 1968, 176; BFH v. 15.6.2009 – I B 46/09, BFH/NV 2009, 1843, zu 2. a. 39 Gröpl in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 8 EStG Anm. B 7. 40 BFH v. 20.8.2003 – I R 49/02, BStBl. II 2003, 941, zu II. 2; BFH v. 22.7.1988 – III R 175/85, BStBl. II 1988, 995, zu 3. b); BFH v. 7.12.1984 – VI R 164/79, BStBl. II 1985, 164, zu 2.; Pust in Littmann/Bitz/Pust, § 8 EStG Rz. 323. 41 Vgl. BFH v. 22.7.1988 – III R 175/85, BStBl. II 1988, 995, zu II.1.a); allg. Kleinle in Herrmann/Heuer/Raupach, § 6 EStG Rz. 907 ff. 42 BFH v. 20.8.2003 – I R 49/02, BStBl. II 2003, 941, zu II. 1. 43 BFH v. 20.8.2003 – I R 49/02, BStBl. II 2003, 941, zu II. 2. und 3; EStH 2009, H 6.7. 44 BFH v. 22.4.1966 – VI 137/65, BStBl. III 1966, 394; BFH v. 21.7.1987 – VIII R 211/82, BFH/NV 1988, 224, zu 2. b), gleich ob die Forderung erfüllungshalber oder an Erfüllungsstatt übertragen wurde; Hackenberg, Steuer-Consultant 2008, Heft 7, 28, 30.
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4. Gründe für die Nichterfassung einer Forderung als Einnahme Wenn gleichwohl eine Forderung bei der Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG und der Überschussrechnung gemäß §§ 8, 9 EStG nicht als Betriebseinnahme bzw. Einnahme erfasst wird, dann also nicht, weil sie kein geldwertes Gut darstellt oder nicht zufließen kann oder weil der Wortlaut des Gesetzes dem entgegenstünde. Abgesehen von historischen Gründen45 geschieht es allein zur Vereinfachung der Einkünfteermittlung46. Wird erst der Zufluss des Gegenstands der Forderung als Einnahme erfasst („Zahlungsprinzip“)47, erübrigt sich z. B. die Bewertung der Forderung als geldwertes Gut, die Fragen ihrer Realisierung entfallen48, Wertschwankungen zwischen Entstehung der Forderung und ihrem Erlöschen brauchen nicht beachtet zu werden, der buchhalterische Aufwand, um die spätere Erfüllung der Forderung festzuhalten, entfällt. 5. Ausnahmsweise Zufluss einer Forderung als Einnahme Derartige Gründe der Verfahrensvereinfachung dürfen aber nicht dazu führen, dass ein Zuwachs an Leistungsfähigkeit (eine Vermögensmehrung) endgültig nicht erfasst wird. Im Interesse der gleichmäßigen Belastung der Leistungsfähigkeit im Rahmen der Einkommensteuer muss daher auch im Bereich der Überschussermittlung nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG der Zufluss einer Forderung ausnahmsweise zu einer Einnahme führen. So kann auch im Bereich der Überschussrechnung eine Forderung gegen einen Dritten als Entgelt einer Leistung vereinbart werden, § 311 Abs. 1 BGB; sie fließt dann als solche mit ihrer Entstehung dem Gläubiger als Einnahme zu49. Eine Forderung fließt ferner zu, wenn der Arbeitgeber (Schuldner) dem Arbeitnehmer (Gläubiger) eine Forderung an Erfüllungs statt überträgt50 – jedenfalls dann, wenn die neue Forderung nicht alsbald erfüllt wird. Der BFH51 lässt
__________ 45 Vgl. Tipke, Die Steuerrechtsordnung (Fn. 27), S. 716 f. 46 BT-Drucks. II/481, 785 f. zum EStG 1954; BFH v. 16.1.1975 – IV R 180/71, BStBl. II 1975, 526, zu 1. c) bb): zu § 4 Abs. 3 EStG „nur eine vereinfachte Technik der Gewinnermittlung“; Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht (Fn. 35), § 9 Rz. 192 f.; Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, § 4 EStG Rz. 501; E. Becker, Die Grundlagen der Einkommensteuer, 1940, S. 48: „Leichtigkeit und Sicherheit der Besteuerung“; WeberGrellet in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 4 EStG Anm. D 6. 47 Vgl. BFH v. 18.12.2001 – IX R 74/98 (NV), BFH/NV 2002, 643, zu 2. A). 48 Vgl. § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB, dazu EStH 2009, H 4.2 (1). 49 BFH v. 29.11.2000 – I R 102/99, BStBl. II 2001, 195, zu 2. m. N.; tatsächliche Auszahlung dagegen, wenn der Arbeitgeber für Rechnung des Arbeitnehmers Beiträge an eine Versorgungseinrichtung zahlt, BFH v. 27.5.1993 – VI R 19/92, BStBl. II 1994, 246, m. w. N., BFH v. 23.7.1999 – VI B 116/99, BStBl. II 1999, 684, zu 2. a), oder zu viel LSt entrichtet, BFH v. 17.6.2009 – VI R 46/07, BStBl. II 2010, 72, zu 2. b). 50 BFH v. 22.4.1966 – VI 137/65, BStBl. III 1966, 394; zust. BFH v. 30.10.1980 – IV R 97/78, BStBl. II 1981, 305, zu 1. c); RFH v. 20.6.1934 – VI A 1667/32, RStBl. 1934, 1030, RFH v. 7.11.1934 – VI A 1105/33, RStBl. 1935, 698, zur Abtretung einer Forderung an Zahlungs statt als Lohn. 51 V. 26.11.2002 – VI R 68/01, BStBl. II 2003, 492, zu II. 2. c), dazu Pust, HFR 2003, 577, Gröpl in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 8 EStG Anm. B12, Arbeitnehmer erwirbt Anspruch – Einnahme bejaht.
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offen, ob die Verschaffung von Versicherungsschutz zugunsten des Arbeitnehmers Lohn in Form eines geldwerten Vorteils ist. Meines Erachtens müsste auch dann der Zufluss eines geldwerten Vorteils als Einnahme erfasst werden, wenn dem Gläubiger (Arbeitnehmer) eine handelbare Option eingeräumt wird52. Und schließlich ist auch die Übergabe eines Gutscheins z. B. für die Neuinszenierungen einer Opern- oder alle Spiele einer Fußballsaison als Zufluss einer Forderung und als Einnahme zu werten53. Eine Forderung kann z. B. auch dann zu einer Einnahme führen, wenn der Arbeitnehmer (Gläubiger) verbunden mit einer Verwendungsvereinbarung auf Arbeitslohn verzichtet54, oder wenn der Gesellschafter auf Entgelt gegenüber der Gesellschaft verzichtet, wenn damit eine Einlage bewirkt werden soll55, oder wenn der Gläubiger eine einkommensteuerrechtlich relevante Forderung aus privaten Gründen erlässt56, wenn er sie aufrechnet (§ 387 BGB) oder wenn er die Forderung schenkweise oder an Erfüllungs statt auf einen Dritten überträgt57. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Steuerpflichtige wie in diesen Beispielen im eigenen Interesse58 über seine Forderung mit der Folge verfügt, dass der Zufluss des Gegenstands der Forderung (Geld) endgültig ausgeschlossen ist. Ein analoger Vorgang ist der Wegfall einer Verpflichtung als Einnahme59. Die Annahme des Zuflusses einer Forderung als Einnahme in derartigen Ausnahmefällen verwässert die Klarheit der Überschussrechung nicht. Abgesehen davon, dass die Forderung bewertet werden muss, bleibt es bei ihrer für die Überschussermittlung grundsätzlich geltenden60 einmaligen Erfassung. Soweit sie nicht ohnehin untergeht, bleibt ihr weiteres Schicksal – Wertschwankungen, Nichterfüllung – einkommensteuerrechtlich unbeachtlich. Denn solange
__________
52 A. A. BFH v. 20.11.2008 – VI R 4/05, BStBl. II 2008, 826; LoStH 2010, H 38.2; die Option ist ein vermögenswerter Vorteil, BFH v. 14.12.2004 – VIII R 5/02, BStBl. II 2005, 739, zu II. 3. d). 53 Im Ergebnis ebenso OFD Hannover v. 23.6.2000 – S 2334 – 373 – StH 212/S 2334 – 182 – StO 211 zu 1., Haufe Index 448427; a. A. wohl Pust, HFR 2003, 577: Was ist, wenn der Empfänger wegen Krankheit die Vorstellungen nicht besuchen kann? M. E. unerheblich, wenn Vorteil (Anspruch) einmal zugeflossen ist. 54 Vgl. BFH v. 5.12.1990 – I R 5/88, BStBl. II 1993, 884, zu II. 1. unter Hinweis auf Giloy, BB 1984, 715. 55 BFH v. 9.6.1997 – GrS 1/94, BStBl. II 1998, 307, zu C. I. 4. u II. 1. b). 56 Vgl. BFH v. 16.1.1975 – IV R 180/71, BStBl. II 1975, 526, zu 1. c) bb): Entnahme bzgl. § 4 Abs. 3 EStG; vgl. dagegen BFH v. 5.12.1990 – I R 5/88, BStBl. II 1991, 308, zu 1. b) zur sofortigen Zurückzahlung des Lohns als „Verzicht“, Zufluss verneint. 57 Überträgt er sie entgeltlich, tritt das Entgelt an die Stelle der Forderung BFH v. 20.11.2008 – VI R 4/05, BStBl. II 2008, 826, zu 2. d) e), zur Veräußerung eines Optionsrechts. 58 Geschieht es gegen sein Interesse, heben sich Zufluss und Abfluss der Forderung gegenseitig auf. 59 Z. B. der Erlass einer Schadenersatzforderung gegen den Arbeitnehmer durch den Arbeitgeber, BFH v. 27.3.1992 – VI R 145/89, BStBl. II 1992, 837, ferner BFH v. 5.3.2007 – VI B 41/06, BFH/NV 2007, 1122, zu 1., zum Verzicht auf den Haftungsbetrag; EStH 2010, H 19.3; vgl. zur Annahme einer Betriebsausgabe bei Verlust einer Forderung, BFH v. 2.9.1971 – IV 342/65, BStBl. II 1972, 334; RFH v. 21.11.1935 – VI A 878/34, RStBl 1936, 215, betr. Schuldnachlass als Lohn. 60 Weber-Grellet in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 4 EStG Anm. D 64.
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es bei den Einkünften gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG kein Erwerbsvermögen gibt, ist die zugeflossene Forderung dem privaten Vermögensbereich zuzurechnen61.
IV. Sonderfall Novation Ob bei der Novation der Gegenstand der untergehenden Forderung zufließt oder aber die neue Forderung, die an die Stelle der alten Forderung tritt, ist einkommensteuerrechtlich nicht ganz klar. Der BFH bejaht bei einer Novation einerseits den Zufluss des Gegenstands der untergehenden Forderung (des Geldes)62. Andererseits bejaht der BFH bei der Vereinbarung einer Forderung an Erfüllungs statt den Zufluss der neuen Forderung als Einnahme des Gläubigers63. Nun ist die Vereinbarung einer neuen Forderung anstelle der alten Forderung auch eine Novation des Schuldverhältnisses64, die Entscheidungen scheinen sich also zu widersprechen. Um diese Frage, die für die Lösung der sog. Schneeballfälle von entscheidender Bedeutung ist, zu beantworten, muss zunächst klargestellt werden, was grundsätzlich bei einer Novation geschieht. 1. Novation im Zivilrecht Novation (auch Schuldumwandlung, Schuldersetzung) ist zunächst ein zivilrechtlicher Begriff und Vorgang. Er bedeutet65 die Vereinbarung der Aufhebung eines Schuldverhältnisses verbunden mit der Begründung eines neuen Schuldverhältnisses an seiner Stelle66. Die alte Forderung/Verpflichtung erlischt, ohne dass der Schuldner seine Leistung erbracht hätte67. Gegenstand und/oder
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61 Vgl. BFH v. 22.4.1966 – VI 137/65, BStBl. III 1966, 394; zum Verlust vgl. BFH v. 10.7.2001 – VIII R 35/00, BStBl. II 2001, 646, zu II. 3; BFH v. 22.7.1997 – VIII R 57/95, BStBl. II 1997, 775, zu II. 3.; Carl/Klos, Information 1994, 680, 684. 62 BFH v. 21.7.1987 – VIII R 211/82, BFH/NV 1988, 224, zu 2. b); BFH v. 14.2.1984 – VIII R 221/80, BStBl. II 1984, 480, zu 2. c) m. w. N. 63 Siehe oben Fn. 50. 64 Grüneberg in Palandt (Fn. 9), § 364 BGB Rz. 5, § 311 BGB Rz. 10; vgl. RFH v. 7.11.1934 – VI A 1105/33, RStBl 1935, 698. 65 Vgl. RG v. 3.7.1928 – II 12/28, Juristische Rundschau 1928 Nr. 1970: wenn dem Anspruch eine neue rechtliche Grundlage gegeben wird; RG v. 12.11.1931 – VI 246/31, RGZ 134, 154 ff.; RG v. 7.3.1938 – VI 261/37, JW 1938, 1391: „[…] wenn […] ein bestehendes Vertragsverhältnis völlig aufgehoben und durch einen ganz neuen Vertrag ersetzt wird; RG v. 12.4.1934, HRR 1934 Nr. 1105 zum Vereinbarungsdarlehen – § 607 Abs. 2 BGB alt; BGH v. 14.11.1985 – III ZR 80/84, NJW 86, 1490; BGH v. 26.11.1999 – V ZR 432/98, DNotZ 2000, 639, dazu Wacke, DNotZ 2000, 615 ff. (618 f.); ferner Grüneberg in Palandt (Fn. 9), § 311 BGB Rz. 8, § 364 BGB Rz. 5; vgl. auch Wenzel in Münchener Kommentar, 5. Aufl. 2007, vor § 362 BGB Rz. 6; ausführlich Enneccerus-Lehmann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Recht der Schuldverhältnisse, 15. Aufl. 1958, § 75 S. 298 ff. 66 Auf die steuerrechtlichen Folgen, wenn lediglich eine Schuld- oder Vertragsänderung vorliegt, ferner die Unterschiede der abstrakten und kausalen Novation, braucht hier nicht eingegangen zu werden, dazu Grüneberg in Palandt (Fn. 9), § 311 BGB Rz. 8. 67 Olzen in Staudinger, 2006, Einl. zu §§ 362 ff. BGB Rz. 36.
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Schuldgrund des alten Schuldverhältnisses werden geändert. Die neue Forderung/Verpflichtung tritt an die Stelle der alten. Die alte Forderung wird also gegen die neue Forderung ausgetauscht68. Wird eine Geldforderung durch eine andere Geldforderung ersetzt, dann schuldet der Schuldner den gleichen Betrag aus einem neuen Rechtsgrund. Die Begründung der neuen Forderung gegen den Schuldner kann eine Leistung an Erfüllungs statt sein, § 364 Abs. 1 BGB, das ist „eine andere als die geschuldete Leistung“, also keine Erfüllung der alten Schuld69. 2. Novation in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs Nach Ansicht des BFH70 ist die Novation „eine gesonderte Vereinbarung zwischen Schuldner und Gläubiger […], dass der Betrag fortan aus einem anderen Rechtsgrund geschuldet werden soll“. Damit ist eigentlich das Wesentliche in Übereinstimmung mit dem Zivilrecht gesagt. Der BFH führt jedoch weiter aus71, dass die Schuldumwandlung eine Verfügung über die bisherige Forderung – an anderer Stelle72: „über den Gegenstand der Altforderung“ – enthalten könne, „die einkommensteuerrechtlich so zu werten ist, als ob der Schuldner die Altschuld durch tatsächliche Zahlung beglichen hätte (= Zufluss beim Gläubiger) und der Gläubiger den vereinnahmten Betrag infolge des neu geschaffenen Verpflichtungsgrundes dem Schuldner sofort wieder zur Verfügung gestellt hätte (= Wiederabfluss des Geldbetrages beim Gläubiger (Zitate)). Der zuletzt beschriebene lange Leistungsweg wird durch die Novationsvereinbarung lediglich verkürzt, indem auf den überflüssigen Umweg der Aus- und Rückzahlung des Geldbetrages verzichtet wird.“ Dabei geht der BFH wohl davon aus, dass die Novation selbst kein selbständiger Zuflusstatbestand neben § 8 Abs. 1 i. V. m. § 11 Abs. 1 EStG ist73, denn er fährt fort, dass ein Zufluss der Altforderung74 i. S. von § 11 Abs. 1 EStG nur dann gegeben sei, wenn der Gläubiger frei und im eigenen Interesse gehandelt habe.
__________ 68 BGH v. 18.1.1967 – VIII 2 R 209/64, NJW 1967, 553, zu 3., ob es ein Tausch gemäß § 480 BGB ist, erscheint mir zweifelhaft – worin sollte die Gegenleistung bestehen? 69 Auch wenn die andere Leistung schon beim Abschluss des Kaufvertrags vereinbart war, vgl. BGH v. 18.1.1967 – VIII 2 R 209/64, NJW 1967, 553, zu 3. 70 BFH v. 22.7.1997 – VIII R 57/95, BStBl. II 1997, 755, zu II. 2. a) bb). 71 BFH v. 10.7.2001 – VIII R 35/00, BStBl. II 2001, 646, zu 2. a) cc), so bereits BFH v. 14.2.1984 – VIII R 221/80, BStBl. II 1984, 480, zu 2. c); BFH v. 24.3.1993 – X R 55/91, BStBl. II 1993, 499, zu 3. c) aa) zur Gutschrift auf einem Kautionskonto. 72 BFH v. 19.6.2007 – VIII R 63/03, BFH/NV 2008, 194, zu 2. c). 73 Vgl. BFH v. 10.7.2001 – VIII R 35/00, BStBl. II 2001, 646, zu II. 2. b) cc) bbb), ebenso Schmidt-Liebig, NWB Fach 3, 15105, 15108; nicht ganz eindeutig: BFH v. 21.7.1987 – VIII R 211/82, BFH/NV 1988, 224, zu 2. a). 74 Der BFH meint wohl „Gegenstand der Altforderung“, andernfalls stünde diese Formulierung mit der zuvor gegebenen Erläuterung in Widerspruch.
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Wenn das der Inhalt der Novation wäre, dann wäre es jedenfalls keine Novation i. S. d. Zivilrechts75. Bereits mit der Behauptung, bei der Novation verfüge der Gläubiger „über den Gegenstand“ der Altforderung76 – also nicht die Forderung selbst, sondern den Geldbetrag, den sie zum Gegenstand hat –, stellt sich der BFH in Gegensatz zum Zivilrecht. Denn danach wird lediglich über die Altforderung verfügt, ihr Gegenstand – das Geld – tritt gar nicht in Erscheinung, denn dafür müsste der Gläubiger es erst einmal haben, d. h. die Altforderung müsste erfüllt worden sein. Das ist aber nicht der Fall, das ist auch weder Voraussetzung der Novation noch entspricht das ihrem wirtschaftlichen Zweck. Zweck ist die Ersetzung der alten Forderung durch eine neue Forderung, gerade weil die alte Forderung nicht erfüllt werden kann oder soll. Statt dieses Austauschs sieht der BFH dagegen zwei selbständige Vorgänge, die mit einem Ersetzen der Altforderung nichts zu tun haben77. Bei den sog. Schneeballfällen erlischt die alte Zinsforderung lt. BFH nicht durch ihre Ersetzung, sondern weil die Schuldnerin die geschuldete Leistung – die Auszahlung der Zinsen – tatsächlich erbringt, vgl. § 362 Abs. 1 BGB. Der BFH formuliert zwar „als ob der Schuldner die Altschuld durch tatsächliche Zahlung beglichen hätte“, gleichwohl meint er damit nicht einen analogen Vorgang, denn er prüft im konkreten Fall die Voraussetzungen des tatsächlichen Zuflusses der geschuldeten Zinsen, § 11 Abs. 1 EStG (dazu oben „Zufluss bei Geld“), und bejaht sie auch78. Nachdem nun der geschuldete Betrag zugeflossen und das Schuldverhältnis durch Erfüllung erloschen sein soll, wird ein neues Schuldverhältnis begründet und der zugeflossene Betrag der Schuldnerin (als Einlage) „zur Verfügung gestellt“, der dem Gläubiger zugeflossene Betrag fließt also beim ihm wieder ab und der Schuldnerin zu. Das sind zwei rechtlich selbständige Vorgänge, die nur zeitlich verbunden sind. Folgerichtig geht der BFH nicht davon aus, dass es sich bei der Einräumung der Beteiligung um eine Leistung an Erfüllungs statt, § 364 Abs. 1 BGB, handelt, denn für ihn erfüllt die Schuldnerin ihre ursprüngliche Verpflichtung. Für eine Ersetzung der Zinsforderung durch eine stille Beteiligung steht danach keine Zinsforderung mehr zur Verfügung, für eine Novation ist kein Raum. Der Reichsfinanzhof hat die Novation noch in Übereinstimmung mit dem Zivilrecht gesehen79.
__________ 75 Davon geht der BFH jedoch aus, vgl. BFH v. 28.10.2008 – VIII R 36/04, BStBl. II 2009, 190, zu 4. b) dd), BFH v. 10.7.2001 – VIII R 35/00, BStBl. II 2001, 646, zu II. 2. b) bb) aaa). 76 BFH v. 19.6.2007 – VIII R 63/03, BFH/NV 2008, 194, zu 2. c). 77 Kommt es dem BFH insoweit nicht darauf an, ob eine Novation vorliegt? Vgl. BFH v. 10.7.2001 – VIII R 35/00, BStBl. II 2001, 646, zu II. 2. b) bb) bbb). 78 Vgl. z. B. BFH v. 10.7.2001 – VIII R 35/00, BStBl. II 2001, 646, zu 2. b) bb) aaa); siehe oben „Zufluss bei Geld“. 79 RFH v. 20.6.1934 – VI A 1667/32, RStBl. 1934, 1030, Abtretung einer Forderung an Zahlungsstatt als Lohn; RFH v. 7.11.1934 – VI A 1105/33, RStBl. 1935, 698 Umwandlung einer Tantieme in ein Darlehn, Darlehn als Lohn; vgl. E. Becker, Die Grundlage der Einkommensteuer, 1940, S. 49: „Zufließen im wirtschaftlichen Sinne“.
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Einnahmen und Schneeballsystem
Der BFH deutet zwar an, dass diese Sicht der Novation nicht die einzig mögliche ist („In dieser Schuldumschaffung […] kann eine Verfügung des Gläubigers über seine bisherige Forderung liegen, die einkommensteuerrechtlich so zu werten ist, […]“)80, er sagt aber nicht, welche Sicht noch in Frage kommt. Die Frage kann hier offen bleiben, denn er hat der Entscheidung über den Zufluss der Zinsen bei den sog. Schneeballfällen nur den soeben beschriebenen Inhalt der Novation zugrunde gelegt.
V. Würdigung der tatsächlichen Feststellungen des Bundesfinanzhofs in den Schneeballurteilen Soweit zur rechtlichen Grundlage der Schneeball-Entscheidungen des BFH. Geht man einmal von dieser Sicht der Novation durch den BFH aus, scheint mir sein Ergebnis gleichwohl aus folgenden Überlegungen problematisch: Nach dem festgestellten Sachverhalt wollten die Beteiligten keine tatsächliche Zahlung der Zinsen durch den Schuldner, um sie ihm anschließend – zeitlich zusammenfallend – wieder zur Erweiterung der stillen Beteiligung, § 20 Abs. 1 Nr. 4 EStG, zurückzuzahlen, denn das war zur Erreichung ihres Ziels nicht erforderlich, darüber hinaus war die Auszahlung der Zinsen tatsächlich unmöglich. 1. Die Beteiligten haben eine Schuldumwandlung vereinbart Im Urteil v. 22.7.199781 gibt der BFH die Feststellungen des FG folgendermaßen wieder: „Der Kläger hatte die ihm zu Gebote stehende freie Wahl zwischen Auszahlung der Renditen und deren Wiederanlage im eigenen Interesse […] im Sinne der letztgenannten Alternative ausgeübt“. Danach hat sich der Gläubiger gerade nicht für die Auszahlung der Zinsen entschieden. Nicht der Gläubiger also82 und schon gar nicht die Schuldnerin hatten ein Interesse an der Auszahlung. Vielmehr war der Gläubiger von vornherein daran interessiert, dass ihm anstelle der Auszahlung der Zinsen die Beteiligung eingeräumt wurde, also eine Leistung an Erfüllungs statt, § 364 Abs. 1 BGB. Das Ziel ihrer Vereinbarung, die Einräumung der Beteiligung anstelle der Auszahlung, konnten sie mit der Ersetzung der Zinsforderung durch die Beteiligung auf direktem Wege – ohne den Umweg der Auszahlung der Zinsen – erreichen. Der vom BFH erwähnten „Verkürzung des langen Leistungsweges“ bedurfte es nicht, es gab nur eine Leistung.
__________ 80 BFH v. 22.7.1997 – VIII R 57/95, BStBl. II 1997, 755, zu II. 2. a) bb). 81 VIII R 57/95, BStBl. II 1997, 755, zu II. 2. b) bb) bbb) und Tatbestand. 82 Ein überwiegendes eigenes Interesse des Gläubigers bestreitend FG Rheinland-Pfalz v. 10.2.2004 – 2 K 1550/03, EFG 2004, 1211, dazu Schmidt-Liebig, NWB Fach 3, 15105, 15108; Hackenberg, SteuerConsultant 2008, Heft 7, 28.
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2. Die Schuldnerin war nicht zahlungsfähig Ein Zufluss der gutgeschriebenen Zinsen war schließlich gar nicht möglich, weil die Schuldnerin die Zinsen nicht hätte zahlen können. Der BFH hat die Zahlungsfähigkeit und Zahlungswilligkeit der Schuldnerin bejaht, weil sie dem Zahlungsverlangen anderer Anleger in dem zu beurteilenden Zeitraum prompt nachgekommen sei83; unerheblich sei, ob sie in diesem Zeitraum auch imstande gewesen wäre, die noch nicht innerhalb eines absehbaren Zeitraums fällig werdenden Renditen und gekündigten Kapitaleinlagen, auf einmal auszuzahlen. Mit einer solchen Konstellation habe sie nicht rechnen müssen84. Und man darf ergänzen: In diesem Fall hätte die Schuldnerin diese Zinsen auch nicht zahlen können. Diese „Konstellation“ ist hier aber gegeben: Zu Unrecht schließt das Finanzgericht auf die Zahlungsfähigkeit der Schuldnerin nur mit Blick auf die Barauszahlungen. Die Zahlung der Zinsen im Rahmen der Novation entspricht nach der Rechtsprechung des BFH der Barzahlung. Beide führen zum Abfluss des Geldes beim Schuldner und zu objektiven Vermögensmehrungen bei den Gläubigern (siehe oben „Zufluss bei Geld“). Beide sind tatsächliche Vorgänge und als solche zu würdigen85. Dabei kann aber nicht außer Acht gelassen werden, dass der Fall des Klägers nur einer von gleich gelagerten Fällen ist, in denen die Anleger die Umwandlung ihres Zinsanspruchs vereinbart haben. Es gibt keinen Einzelfall der Schuldumwandlung und somit der Auszahlung der Zinsen in diesem Zusammenhang. Die Schlussfolgerung, dem Kläger seien die Zinsen im Streitjahr zugeflossen, weil die Schuldnerin damals zahlungsfähig war, ist folglich als Beurteilung der damaligen Situation nur zulässig, wenn sie auch für die anderen zutreffen würde. Bejaht man die Zahlungsfähigkeit im Fall des Klägers, bejaht man sie unausgesprochen in all den Fällen, in denen ein Zinsanspruch gutgeschrieben und in eine Kapitalbeteiligung umgewandelt wurde; das läuft auf eine Zahlung an 100 % der Beteiligten hinaus, was tatsächlich unmöglich war. War die Schuldnerin jedoch nicht in der Lage, die Zinsen allen Gläubigern auszuzahlen, wäre zu begründen, warum dem Steuerpflichtigen im Gegensatz zu den anderen Beteiligten in gleicher Situation die Zinsen zugeflossen sind. Das ist nicht geschehen. Der Einwand, nur der Einzelfall sei zu beurteilen und deswegen sei ein Zufluss der Zinsen in anderen Fällen außer acht zu lassen, scheint mir nicht begründet. Steht fest, dass die Schuldnerin die Zinsen im Rahmen der Umwandlung nicht an alle Gläubiger zahlen kann, ist die Frage unerlässlich, ob neben dem Kläger auch anderen Gläubigern in gleicher Weise Zahlungen geleistet wurden.
__________ 83 BFH v. 22.7.1997 – VIII R 57/95, BStBl. II 1997, 755, zu II. 2. b) cc) bbb); BFH v. 28.10.2008 – VIII R 36/04, BStBl. II 2009, 190, zu 4. b) ff). 84 Hinweis auf BFH v. 8.3.1984 – I R 44/80, BStBl. II 1984, 415, zu 1. a). 85 Oder geht der BFH von einer Vermögensmehrung beim Gläubiger aus, die die leistende Schuldnerin wirtschaftlich nicht belastet? Dann erübrigte sich hier jede Prüfung der Zahlungsfähigkeit. Die Zinsen würden dann einerseits dem Gläubiger und gleichzeitig noch der Schuldnerin zugerechnet.
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Schmidt-Liebig86 weist deshalb zu Recht darauf hin, dass der BFH die tatsächliche Zahlungsfähigkeit in zig. Fällen betreffend denselben Schuldner und Zeitraum annimmt87. Die Vorstellung, dass zig Steuerbeamte in hunderten von Fällen unter Betonung, dass nur der Einzelfall zu entscheiden sei, die gleichen miteinander unvereinbaren Schlussfolgerungen ziehen, hat etwas Absurdes, es sei denn, man könnte sich auf eine Fiktion berufen, dafür mangelt es aber an einer Rechtsgrundlage.
VI. Eigene Lösung der sog. Schneeballfälle Meine Bedenken setzen nicht bei dieser Vorstellung an. Denn m. E. ist die Frage, ob dem Gläubiger die Zinsen zugeflossen sind und also auch, ob die Schuldnerin zu ihrer Zahlung tatsächlich in der Lage war, hier in dieser Weise gar nicht zu entscheiden. Die Vereinbarung zwischen Gläubiger und Schuldnerin erfüllt m. E. alle zivilrechtlichen Merkmale einer Novation, das heißt, die Zinsforderung/Verpflichtung ging ohne Erfüllung unter. Statt der Erfüllung trat an ihre Stelle eine Kapitalforderung infolge Erhöhung der Kapitaleinlagen88. Nur sie und nicht die Zinsen ist dem Gläubiger als geldwertes Gut gemäß § 8 Abs. 1 und 2 EStG zugeflossen. Sie muss bewertet werden. Ob sie etwas und was sie wert war, ist eine tatsächliche Frage des Einzelfalls. Wie die Dinge hier liegen, wird die eingeräumte Beteiligung nicht viel wert gewesen und eine Einnahme möglicherweise ganz zu verneinen sein. Diese Lösung hätte u. a. den Vorteil, dass sie auf das hinausläuft, was sich ergeben würde, wenn die Beteiligung zum Betriebsvermögen des Steuerpflichtigen gehörte. Die Lösung des BFH geht zum einen von einem besonderen Inhalt der Novation aus und zum anderen von einer problematischen Beurteilung der Zahlungsfähigkeit der Schuldnerin. Beides scheint mir letztlich eine Folge der unsystematischen Behandlung der Forderung im Rahmen der Überschusseinkünfte zu sein. Das fängt mit der Scheu an, eine Forderung als ein geldwertes Gut i. S. d. § 8 Abs. 1 EStG anzusehen (siehe oben zu „Die Forderung als Gut in Geldeswert“). Weiter ist die Abgrenzung zwischen der Verfügungsmacht über die Forderung und dem Gegenstand der Forderung m. E. sehr unscharf und kaum ein Gegenstand der Erörterung (siehe oben zu „Zufluss bei Geld“ und „Zufluss einer Forderung“). Mir scheint die mitunter gezwungene Annahme des Zuflusses des Gegenstands der Forderung von Zweckmäßigkeitserwägungen beeinflusst zu sein (siehe oben zu „Zufluss bei Geld“). Andererseits wird der Zufluss einer Forderung zwar vereinzelt bejaht, jedoch ohne jede Systematik und Grundsätzlichkeit. (siehe oben zu „Ausnahmsweise Zufluss einer Forderung als Einnahme“). Das zeigt sich besonders bei der Umwandlung einer
__________ 86 NWB Fach 3, 15105, 15110; FR 2007, 409, 415, dort auch zum Unterschied bzgl. der Liquidität der Banken. 87 Vgl. FG des Saarlandes v. 6.12.2006 – 1 K 165/03, EFG 2007, 506, Rev. BFH v. 16.3.2010 – VIII R 4/07, BFH/NV 2010, 1527. 88 Vgl. BFH v. 10.7.2001 – VIII R 35/00, BStBl. II 2001, 646, zu II. 2. b) bb) bbb).
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Schuld. Entgegen ihrem zivilrechtlichen Gehalt unterstellt der BFH den Zufluss des geschuldeten Geldes, also Erfüllung der Schuld, was letztlich dazu führt, dass eine Umwandlung der Schuld gar nicht mehr möglich ist (siehe oben „Novation in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs“). Sicher kann eine Forderung nur ausnahmsweise Gegenstand der Einnahme gemäß § 8 EStG sein, sonst würde der Sinn der Überschussermittlung in Frage gestellt. Um eine Diskussion anzustoßen schlage ich vor, dies aber einmal dann zuzulassen, wenn die Forderung als Gegenstand der Leistung vereinbart wurde, darunter im Falle der Vereinbarung einer neuen Forderung als Leistung an Erfüllungs statt, § 364 Abs. 1 BGB89. In diesen Fällen fließt die Forderung mit ihrer Begründung zu. Darüber hinaus sollte eine Forderung dann zu einer Einnahme führen, wenn sie durch Verfügung des Inhabers im eigenen Interesse endgültig untergeht. In diesen Fällen ist sie zwar bereits früher zugeflossen, gemäß den Regeln der Überschussrechnung aber nicht erfasst worden. Im höher zu bewertenden Interesse der Gleichmäßigkeit der Besteuerung ist der Geldwert der Forderung deshalb in dem Augenblick zu erfassen, in dem sie aus dem Vermögen des Steuerpflichtigen ausscheidet (siehe dazu „Ausnahmsweise Zufluss einer Forderung als Einnahme“). Ob man die Forderung auch dann als Einnahme behandelt, wenn der Steuerpflichtige den Zufluss ihres Gegenstandes hinauszögert, wäre zu diskutieren.
__________ 89 Anders bei Übertragung einer Forderung erfüllungshalber, vgl. Grüneberg in Palandt (Fn. 9), § 364 BGB Rz. 8.
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Schriftenverzeichnis Wolfgang Spindler
Inhaltsübersicht I. Monographie II. Kommentierung III. Aufsätze
IV. Entscheidungsbesprechungen V. Kommentare/Editorials/Laudationes VI. Buchbesprechungen
I. Monographie Spiegelberger/Spindler/Wälzholz, Die Immobilie im Zivil- und Steuerrecht, Köln 2008
II. Kommentierung Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung – Finanzgerichtsordnung: §§ 51– 52 FGO, §§ 53–55 FGO, §§ 57–62 FGO
III. Aufsätze 1. Offensichtlich unhaltbar – oder: Von der Kunst einer zulässigen Richtervorlage, in: Umbach (Hrsg.), Das wahre Verfassungsrecht, 1984, S. 329 2. Verfassungsrechtliche Fragen zur Besteuerung der Kapitaleinkünfte, DB 1987, S. 2536 3. Vorläufiger finanzgerichtlicher Rechtsschutz bei behaupteter Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen, DB 1989, S. 596 4. Die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen, StVJ 1989, S. 341 5. Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3 AO, DB 1991, S. 1296 6. Schadenersatz und Steuern, in: Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft der Rechtsanwälte für Verkehrsrecht, Bd. 16 7. Zur steuerrechtlichen Behandlung von Zahlungen zur Ablösung dinglicher Nutzungsrechte an Grundstücken beim Eigentümer, DB 1993, S. 297 8. Vermietung und Verpachtung – Problemfälle rund um das Haus, in: Protokolle des 16. Deutschen Steuerberatertages 1993, S. 133 9. Zur steuerrechtlichen Behandlung der vom Erbbauberechtigten übernommenen Erschließungskosten, DB 1994, S. 650 10. Zur Einkünftezurechnung bei geschlossenem Immobilienfonds mit Treuhänder und zur Begrenzung des Verlustabzuges nach § 15a EStG bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, WPg 1995, S. 203 913
Schriftenverzeichnis Wolfgang Spindler
11. Privateinkünfte und private Aufwendungen, in: Studienbrief des Hessischen Rundfunks/DIFF 1995, Heft Nr. 8 12. Zur steuerrechtlichen Bedeutung von Rück- und Verkaufsgarantien bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, DB 1995, S. 894 13. Kauf eines Mietwohngrundstücks gegen dauernde Last, NWB, Fach 3, S. 2165 14. Einkünfteerzielungsabsicht bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, NWB, Fach 3, S. 9597 15. Zur steuerrechtlichen Behandlung nachträglicher Erschließungskosten, DB 1996, S. 444 16. Zur Abgrenzung von Herstellungs- und Erhaltungsaufwand bei Instandsetzungs- und Modernisierungsaufwendungen an Gebäuden, DStR 1996, S. 765 17. Zur steuerrechtlichen Beurteilung von Mietverträgen zwischen nahen Angehörigen, FuR 1996, S. 278 18. Der gewerbliche Grundstückshandel in der Rechtsprechung des BFH, DStZ 1997, S. 10 19. Zur Begrenzung des Verlustabzuges nach § 15a EStG bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, FR 1997, S. 147 20. Neuere Tendenzen in der steuerrechtlichen Beurteilung von Mietverträgen zwischen nahen Angehörigen, DB 1997, S. 643 21. Aktuelle Rechtsprechung zum gewerblichen Grundstückshandel, ZfIR 1997, S. 377 22. Die Erfahrungen mit der Finanzgerichtsbarkeit in Deutschland, JRP 1998, S. 13 23. Die steuerrechtliche Beurteilung nachträglicher Erschließungskosten durch den Bundesfinanz-hof, ZNotP 1998, S. 90 24. Gewerblicher Grundstückshandel, in: Dornfeld (Hrsg.), Handbuch der Bauinvestitionen, 94. Erglfg. April 1998, Neubearbeitung 2002 und 2006 25. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Rückwirkung von Steuergesetzen, DStR 1998, S. 953 26. Zum Schuldzinsenabzug bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, DStZ 1999, S. 706 27. Der Bundesfinanzhof und der Golfsport, in: Kirchhof/Jakob/Beermann (Hrsg.), Festschrift für Klaus Offerhaus, 1999, S. 315 28. Grenzen einer Rückwirkung von Steuergesetzen, Broschüre des Fachkongresses der StBK Stuttgart vom 10. November 2000, S. 9 29. Das Zweite FGO-Änderungsgesetz, DB 2001, S. 61 30. Schuldzinsenabzug bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, Stbg 2001, S. 49 914
Schriftenverzeichnis Wolfgang Spindler
31. Deutsche Finanzgerichtsbarkeit – Kontrolle finanzgerichtlicher Entscheidungen durch den Bundesfinanzhof, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), Senatsverfahren in Steuersachen, Wien 2001, S. 107 32. Vertrauensschutz im Steuerrecht, DStR 2001, S. 725 33. Neue Rechtsprechungsgrundsätze zur einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Ferienwohnungen, NWB 2002, Fach 3, S. 553 34. Zur Abgrenzung von Anschaffungskosten, Herstellungskosten und Erhaltungsaufwendungen bei grundlegenden Instandsetzungen und Modernisierungen an Gebäuden, BB 2002, S. 2041 35. Zur Bedeutung von Indizien in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, StbJb 2002/2003, S. 61 36. Qualität in der Justiz, in: Festschrift 50 Jahre Deutsches Anwaltsinstitut, 2003, S. 145 37. Rückwirkung von Steuergesetzen, in: Pezzer (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht, Jahresband der DStJG Nr. 27 (2003), S. 69 38. BFH stärkt Vertrauensschutz, Berater-Brief Vermögen, Heft 3/2004 39. Wie geht es weiter mit dem anschaffungsnahen Aufwand?, DB 2004, S. 507 40. Zur Einkünfteerzielungsabsicht bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, in: Carlé/Stahl/Strahl (Hrsg.), Festschrift für Klaus Korn, 2005, S. 165 41. Der Gesamtplan in der Rechtsprechung des BFH, DStR 2005, S. 1 42. Das Steuerrecht zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, in: Kirchhof/Graf Lambsdorff/Pinkwart (Hrsg.), Festschrift für Hermann Otto Solms, 2005, S. 53 43. Finanz-, Steuer- und Zollrecht – ein Überblick, in: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für juristisches Bibliotheks- und Dokumentationswesen, Bd. 36/2006, S. 2 44. Steuerrecht im Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, Stbg 2006, S. 1 45. Die Gesamtplan-Rechtsprechung des BFH, ZNotP 2006, S. 442 46. Vertrauensschutz im Steuerrecht, DNotZ 2007, S. 105 47. Verfassungsrechtliche Vorgaben für ein berechenbares Steuerrecht, in: Ballwieser/Grewe (Hrsg.), Festgabe 100 Jahre Südtreu/Deloitte, 2008, S. 475 48. Einkünfteerzielungsabsicht bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung – eine Bestandsaufnahme, DB 2007, S. 185 49. Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht, DStR 2007, S. 1061 50. Der Minister verweigert dem Finanzhof die Gefolgschaft, FAZ v. 15.11.2007, S. 18 51. Unverrückbare Prinzipien im Steuerrecht; in: Nachhaltige Steuerpolitik, DIHK August 2008, S. 49 915
Schriftenverzeichnis Wolfgang Spindler
52. Die Neuregelung des Vertretungsrechts im finanzgerichtlichen Verfahren, DB 2008, S. 1283 53. Aktuelle Rechtsprechung des BFH zum KFZ, DAR 2008, S. 497 54. § 42 AO – was hat sich geändert?, StbJb 2008/2009, S. 39 55. Steuerrecht und Verfassungsrecht – eine Bestandsaufnahme, in: Wachter (Hrsg.), Festschrift für Sebastian Spiegelberger, 2009, S. 471 56. Der Bundesfinanzhof und das Bundesverfassungsgericht im Zusammenwirken für ein verfassungskonformes Steuerrecht, in Spindler/Tipke/Rödder (Hrsg.), Festschrift für Harald Schaumburg, 2009, S. 169 57. Wer ist Schuld am komplizierten Steuerrecht?, Bayerischer Monatsspiegel Juli 2009, S. 14 58. Werte im Steuerrecht, Stbg 2010, S. 49 59. Der Bundesfinanzhof verabschiedet sich vom allgemeinen Aufteilungsund Abzugsverbot, in: Tipke/Seer/Hey/Englisch (Hrsg.), Festschrift für Joachim Lang, 2010, S. 589 60. Der Anwalt als „Organ der Steuerrechtspflege“ und Interessenvertreter, in: Spatscheck/Binnewies (Hrsg.), Festschrift für Michael Streck, 2011, S. 417
IV. Entscheidungsbesprechungen 1. Fortgeführte Nutzungswertbesteuerung, KFR 1995, S. 189 2. Anerkennung einer Vermietung an unterhaltsberechtigte Kinder, KFR 1995, S. 247 3. Abgrenzung von Herstellungs- und Erhaltungsaufwand bei Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßmahmen an Gebäuden, KFR 1995, S. 343 und ZfIR 1997, S. 180 4. Die Bedeutung des „Oderkontos“ bei Ehegattenarbeitsverträgen; zu BVerfG vom 7. Nov. 1995, 2 BvR 802/90, DB 1995, S. 2574 5. Steuerrechtliche Behandlung nachträglicher Erschließungskosten, KFR 1996, S. 89 6. Steuerrechtliche Behandlung von Aufwendungen für einen Garten, KFR 1996, S. 203 7. Zur Frage des Rechtsmißbrauchs bei Vermietung an unterhaltsberechtigte Angehörige, KFR 1996, S. 259 8. Abgrenzung zwischen Erhaltungs- und Herstellungsaufwand bei Dachgeschoßausbau und Dacherneuerung, KFR 1996, S. 331 9. Bindungswirkung eines Antrags auf Wegfall der Nutzungswertbesteuerung, KFR 1997, S. 109 10. Bindungswirkung einer Bescheinigung einer Denkmalbehörde, KFR 1997, S. 127 916
Schriftenverzeichnis Wolfgang Spindler
11. Erwerb einer Eigentumswohnung mit gleichzeitigem Abschluß eines Werkvertrages über Umbau- und Modernisierungsarbeiten, KFR 1997, S. 163 12. Rückverkaufsrecht und Überschußerzielungsabsicht bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, KFR 1997, S. 321 13. Steuerrechtliche Beurteilung von Mietverträgen unter nahen Angehörigen, KFR 1998, S. 143 14. Gleichzeitige Vereinbarung von Mietvertrag und Sicherungsnießbrauch nach Grundstücksübertragung, KFR 1998, S. 283 15. Schuldzinsenabzug bei Baudarlehn für die Errichtung eines teilweise fremdvermieteten und teilweise selbstgenutzten Gebäudes, KFR 1999, S. 113 16. Steuerliche Anerkennung der Vermietung an Kinder auch bei Mietzahlung aus dem Barunterhalt, ZfIR 2000, 146 17. Zur Einkünfteerzielungsabsicht bei geschlossenen Immobilienfonds, ZfIR 2001, 237 18. Ertragsteuerrechtliche Behandlung von Ferienwohnungen, ZfIR 2002, S. 229 19. Anschaffungsnaher Aufwand, ZfIR 2002, 576 20. Grundstücksübertragungen und anschließende Nutzungsvereinbarungen, ZfIR 2004, 393
V. Kommentare/Editorials/Laudationes 1. Zur Besteuerung der Kapitaleinkünfte, DB1989, Heft 33 S. I 2. DDR-Justiz vor einem schweren Weg, DRiZ 1990, S. 226 3. Das Zinsabschlaggesetz, StVJ 1992, S. 389 4. Dieter Rönitz zum Gedenken, DB 1996, Heft 17 S. I 5. Warum diskutieren wir über „Qualität in der Justiz“?, DRiZ 2002, S. 78 6. Neue Grundsätze zum Anschaffungsnahen Aufwand, NJW 2002, Heft 34 7. Johannes Wolff-Diepenbrock tritt in den Ruhestand, DStZ 2002, S. 845 8. Franz Klein zum Gedenken, DStZ 2004, S. 469 9. Klaus Offerhaus zum 70. Geburtstag, DB 2004, Heft 41 S. I 10. Heinrich List 90 Jahre, DStR 2005, S. 445 11. BFH-Präsidentin Dr. Iris Ebling im Ruhestand, DB 2005, Heft 21 S. I 12. Dr. Klaus Ebling zum Siebzigsten, DStR 2005, S. 1337 13. Rechtsanwälte und Richter: Ihre gemeinsame Verantwortung, NJW 2006, Heft 37 S. III 14. BFH-Vizepräsident Dr. Wilfried Wagner im Ruhestand, UVR 2008, S. 1 15. DER BETRIEB und die Münchener Steuerfachtagung, DB 2008, Heft 10 S. I
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Schriftenverzeichnis Wolfgang Spindler
16. Moris Lehner zum 60. Geburtstag, IStR 2009, S. 365 17. Klaus Offerhaus 75 Jahre, DStR 2009, S. 2077 18. Abschied vom allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbot, DB 2010, Heft 3 S. M 1 19. Zum Verhältnis von Besteuerungsmoral und Steuermoral, BB 2010, Heft 10 S. III 20. Heinrich List 95 Jahre, DB 2010, Heft 11 S. M 1
VI. Buchbesprechungen 1. Klinkhardt, Die Feststellung der nichtehelichen Vaterschaft von Ausländern und ihre Wirkungen, ZAR 1982, S. 161 2. Weitz, Inlandsbeziehung und ordre public in der deutschen Rechtsprechung zum internationalen Familienrecht, ZAR 1983, S. 155 3. Söffing, Besteuerung der Mitunternehmer, NWB, Heft 4/1995 S. 294 4. Festschrift für Franz Wassermeyer, DStR 2005, Heft 39 S. XVI („Spiegel breiten wissenschaftlichen Wirkens“)
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Stichwortverzeichnis Verfasser: Carlo Pohlhausen 1 %-Regelung 554 Abgabenrecht – finanzverfassungsrechtliche Vorgaben 44 Abgeltungsteuer – Anwendungsbereich 556 – gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum 780 – Steuergestaltung 49 – Steuerwettbewerb 150 – Veräußerung von Wertpapieren 626 Altersversorgungslasten 588 Anrechnungsmethode – und Auslandsdividenden 295 Arbeitnehmerfreizügigkeit – Grenzgängerbesteuerung 302, 340 Aufwandsentschädigungen aus öffentlichen Kassen – Steuerfreiheit 17, 293 Aufwendungen s. Gemischt veranlasste Aufwendungen Auskunft 694 Auslegung – im europäischen Recht s. Europarecht – im Steuerrecht 641 Außergewöhnliche Belastung – Kinderbetreuungskosten 168 Avoir Fiscal (EuGH-Urteil) 297 Bachmann (EuGH-Urteil) 305 Beihilfen – Beihilfebegriff 46 – Leitlinien der Europäischen Kommission 46 – Sanierungsklausel 47 – steuerliche 190 – und Steuerrecht 46 – Verbot 46
– Verschonungssubvention 46 Belastung – Belastungsgleichheit 75, 162, 190, 201, 628 – Belastungsgrund 190, 654 – Belastungsobergrenze 176 – Belastungsverteilung 631 ff. Besteuerung – Belastungsobergrenze 176 – Bruttobesteuerung 241 – Gleichmäßigkeit 160, 205, 250, 421, 531, 582 – konfiskatorische 176 – und demokratischer Prozess 197 Bestimmtheitsgebot 22, 180, 215, 873 Betriebsaufspaltung 767 Betriebsausgaben 207, 388, 742, 795 – nachträgliche 745 Betriebsprüfung 570 – RMS-Betriebsprüfung 544 Betriebsstätte 144 – Diskriminierung 301 – Gewinne 320 – Nichtanwendung 382 – Niederlassungsfreiheit 286, 315 – Personengesellschaften 286 Betriebsvermögen – Betriebsvermögensmehrungen 556 – Betriebsvermögensvergleich s. Einkünfteermittlung – Betriebsvermögenszuführung 413 – Bewertung 662 – stille Reserven 396 Bewertung – AEBewAntBV 667 – Discounted-Cash-Flow-Verfahren 664 – Ertragswertverfahren 664 – gemeiner Wert 662, 665 – Gesamtbewertung 671 919
Stichwortverzeichnis
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IDW S 1 663 Kapitalisierungsfaktor 673 Nutzenpräferenzen 664 Rechtsformneutralität 672 steuerrechtliches Bewertungsverfahren 665 – Unternehmensbewertungstheorie 663 – Unternehmensnachfolge 662 – vereinfachtes Ertragswertverfahren 668 – verfassungsrechtliche Vorgaben 665, 674 – Verkehrswert 662, 765, 893 – Zukunftserfolgswertverfahren 667 Biersteuergesetz 111 Bilanz – Allokationseffizienz 582 – außerplanmäßige Abschreibungen 583 – Bilanzgewinn 613 – Bilanzrechtsprechung des Bundesfinanzhofs 586 – Bilanzsteuerrecht 577, 582, 591 – Drohverlustrückstellungen 583 – Entscheidungsneutralität 582, 778 – Firmenwert 583, 587 – Gesamthandsbilanz 596 – Gesellschaftsbilanz KG 596 – Investitionsneutralität 778 – Konsolidierung 86 – Maßgeblichkeitsprinzip 578, 584 ff. – Rückstellungsbewertung 591 – Verbindlichkeitsrückstellungen 585, 629, 632 – Wahlrechte 579, 586 Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz 577 BiRiLiG 881 Blanckaert (EuGH-Urteil) 313 Bundesfinanzhof – Dienstaufsicht 495 – Führungsinstrumente im 493 – Funktion des Präsidenten 494 – Individualrechtsschutz 116 – Judikative Aufgaben 116 920
– Rechtsschöpfung 117 Bundessteuerberaterkammer 203, 217 Bundesverfassungsgericht – judicial self-restraint 154, 157 – Kompetenzüberschreitung 155 – Legitimation der Befugnisse des 156 – Normenkontrolle 157 – verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat 158 – Verhältnis zum Gesetzgeber 153 – Verkürzung des Grundrechtsschutzes 154 – Verwerfungsmonopol 222 Cadbury Schweppes (EuGH-Urteil) 285, 315 CEBS 364, 366 CILFIT Kriterien 280, 332, 342 CLT UFA (EuGH-Urteil) 315 Collée (EuGH-Urteil) 439 Columbus Container (EuGH-Urteil) 316 Dauernde Lasten – Abziehbarkeit 771 – Rentenzahlungen 756 – Steuerbarkeit 771 De Lasteyrie du Saillant (EuGHUrteil) 299 Demokratie 649 – „reale“ 476 – Gesellschaftsvertrag 239 – parlamentarische 236 – partizipative 236 – und Rechtsstaatsprinzip 92 Denkavit Internationaal (EuGHUrteil) 316 Deutsche Shell (EuGH-Urteil) 315 Deutsches wissenschaftliches Institut der Steuerberater 204 Diskriminierung 225, 301 – Diskriminierungsverbot 300, 406 – Diskriminierungsvorbehalt 407 – Inländerdiskriminierung 296 – offene 301
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– verdeckte 301 Dispositionsschutz s. Vertrauensschutz Dividenden 260, 295 – Auslandsdividenden 295 – Niederlassungsfreiheit 316 – Stripping 285, 401 Doppelbesteuerungsabkommen 308, 319, 406, 876 – des Reiches 509 – Diskriminierungsverbote 406 – Entwicklung des Rechts der 522 – Steuerfreistellung 186 – Vereinigte Staaten von Amerika 526 Dorn, Herbert 507 Drittlandsverluste 179 EBA 366 – Befugnisse 369 – Sachbereiche 366 Einkommensbegriff 60, 780 Einkommensteuerbescheid 229, 744 – Vorläufigkeitsvermerk 54 Einkommensteuererklärung 59 – per ELSTER 543 Einkünfte – aus Kapitalvermögen 722 ff., 743, 745, 779 – betriebliche 751 – Einkünfteerzielungsabsicht 826, 834 ff., s.a. Gewinnerzielungsabsicht – Maßgeblichkeitsschwelle 743 – Werbungskostenabzug 745 Einkünfte aus Gewerbebetrieb 383, 393, 558, 596 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit 725 – Arbeitslohnbegriff 726 Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften 621 ff., 744 ff. – Anschaffungsfiktion 552 – beschränkte Verlustverrechnung 624 – Einkünfteerzielungsabsicht 621, s.a. Gewinnerzielungsabsicht
– Gestaltungsmissbrauch 624, s.a. dort – gestreckter oder zweiaktiger Tatbestand 621 – Spekulationsfrist 24, 26, 621 ff., 744, 776 Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung 718 ff., 739 ff., 833 ff., 880 ff. – 15 %-Grenze 890, 893 – Abgrenzung 889 – anschaffungsnahe Instandsetzungsund Modernisierungskosten 882 – Bauherrenmodellen mit Rückkaufoder Verkaufsgarantie 835 – bilanzielle Folgen von § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG 894 – Drei-Jahres-Frist des § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG 888 – Erhaltungsaufwand 809, 880, 891 – Ferienwohnungen 836 – Ferienwohnungen mit Selbstnutzung 840 – Herstellungskosten 880 – Liebhaberei 834 f. – Mietkaufmodelle mit Rückkaufoder Verkaufsgarantie 835 – Objekt i.S.d. § 6 Abs. 1 Nr. 1a 892 – Schuldzinsen 739 – Totalgewinnprognose 708, 834, 841 Einkünfte aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften 694 ff., 717 – Abzugsverbot bei Aufgabeverlusten 556 Einkünfteermittlung – Betriebsvermögensvergleich 583, 630 ff., 883, 894 – Einnahmenüberschussrechnung 585, s.a. Überschusseinkünfte – Periodizitätsprinzip 780 – Totalitätsprinzip 780, s.a. Totalgewinnperiode Einkunftsarten – Dualismus der 742, 746 – „Einsteuer“ 60 921
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– Gewinneinkünfte 883 – Umqualifizierung 725 Einnahme – Einnahmenüberschuss 706, 718, 899 – Forderungen 901 – Geld als Gegenstand 899 – Novation 906 – Schneeballsystem 897, 909 – Schuldumwandlung 909 Einnahmen, nichtsteuerbare – Einkünfteerzielungsabsicht 826 – Lottogewinne 826 – Meisterprüfungsprämie 822 – Nachwuchsförderpreis Marktleiter 822 – Preisgelder 822, 826 – Systematisierung 830 – Urteil Big Brother-Container 824 – Urteil Dating Show 821 – Urteil Habilitationspreis 823 – Veranlassungszusammenhang 828 – wirtschaftlicher Leistungsaustausch 826 – Zielgerichtetheit der Erwerbstätigkeit 826 ELSTER-Verfahren 543 Entstrickung – finale 394 Erbschaftsteuer – Bewertung 662 – Unternehmensnachfolge 662 Erbschaftsteuerreformgesetz 222, 661 – Verfassungswidrigkeit 225, 661 Erdrosselungssteuer 180 EuGH-Rechtsprechung 297 – Bindungswirkung 283 – Umsetzung durch vorlegendes Gericht 288 Europäische Integration 339 Europäische Union – Kompetenzordnung 363 – Kooperationsstrukturen 364 Europarecht – acte claire 280 922
– belastende Einzelmaßnahmen gegenüber Dritten 372 – Doppelbesteuerung 322 – dynamische Verweisung 92 ff. – Gebot der Entscheidungsharmonie 343 – Grundsatz der Äquivalenz 284 – justizielle Kooperation 342 – Lissaboner Vertrag 363 – Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 373 – Sekundärrecht 372 – unionsrechtskonforme Auslegung 288, 336 – Verhältnis zu innerstaatlichem Recht 279 ff. – Vollzug 284, 373 – Vorabentscheidungsverfahren s. dort Eurowings (EuGH-Urteil) 318 Exekutive, s.a. Finanzverwaltung – Handlungsspielraum 215 – Initiativrecht 557 – und Bundesfinanzhof 116, 121 Existenzminimum 803 – Verschonung 162 Fidium Finanz (EuGH-Urteil) 310 Finanzgerichte – Berlin-Brandenburg 473 – Fusion 483 Finanzhilfe 189 ff., 196 – Steuersubvention s. dort Finanzverwaltung, s.a. Exekutive – Bindung durch Rechtsprechung 124 – elektronische Kommunikation 568 – Loyalitätspflicht gegenüber Rechtsprechung 554 – Öffnungszeiten der Finanzämter 568 – Verhaltenskodex mit Steuerberatern 571 Fiskalismus 144 Fiskalzwecknorm 635, 779, 848
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Folgerichtigkeit 17, 29 ff., 62 ff., 164 ff., 192 ff., 627 ff. – Belastungsgrund s. Belastung – Dreistufenmodell 629 – Durchbrechung der gesetzgeberischen Grundentscheidung 42 – Folgerichtigkeitsjudikatur 42 – Gebot der Folgerichtigkeit 21, 36 ff., 126, 164, 448, 629 – Gefahr einer „verfassungsgerichtlichen Zementierung“ 37 – Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers 37, 40 ff. – Kompromiss 37 – Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen 627 ff. – Selbstbindung 129 – Systemaufstellungspflicht 34 – Systembindung 34 – verfassungsrechtliche Vorgaben 43 Freistellungsmethode 320 – Auslandsdividenden 295 Fremdvergleich 181 – formeller 731 – Fremdvergleichsgrundsatz 182, 285 – Gewinnerzielungsabsicht 703 ff. – Mitveranlassung 732 Funktionsverlagerung 150 – Fremdvergleich 181 – Funktionsverlagerungsbesteuerung 182 – Funktionsverlagerungsverordnung 181 Futura Participations (EuGH-Urteil) 306 GbR 348 Gebot der Folgerichtigkeit s. Folgerichtigkeit Gemeinsinn 17 Gemischt veranlasste Aufwendungen – Ablehnung eines Aufteilungsverbots 796 – Abzugstatbestände 805 – Abzugsverbot 795
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allgemeine Grundsätze 802 Aufteilbarkeit 795 Aufteilungskriterien 801, 806 Existenzminimum 803 Großer Senat 795 KFZ 797 PC 797 Reisekosten 796 Repräsentationsaufwendungen 796 – Telefongrundgebühren 797 – Urlaub 797 Gerechtigkeit – Steuergerechtigkeit s. dort – subjektive Vorstellungen 647 Gerichtsbarkeit – im Nationalsozialismus 525 Gesamtplan 677 ff., 809 ff. – BFH-Rechtsprechung 684 – Darlehensverträge unter nahen Angehörigen 684 – Fortsetzungszusammenhang 683 – Gesamtvorsatz 683 – Grundstückshandel 681 – Indizien 679 – Kettenschenkung 686 – konstitutive Merkmale 678 – Sachverhaltsumdeutung 680 – Umsatzsteuer 681 – Veräußerung von Mitunternehmeranteilen 685 – wirklicher Wille 680 – zusammenfassende Betrachtung 680 – zwischengeschaltete Kapitalgesellschaft 687 Gesellschafter-Geschäftsführer – Arbeitslohnbegriff 726 – Mitveranlassung 732 – private Nutzung von Betriebs-KFZ 721 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 524 Gesetzesvollzug, s.a. Normvollzug – Gesetzesvollziehungsanspruch 225 – strukturelles Vollzugsdefizit 225 923
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Gesetzesvorbehalt – steuerlicher 197 f., 873 – Tatbestandsmäßigkeit 872 Gesetzgeber – Gestaltungsspielraum 153, 159 – Loyalitätspflicht 172 – Verfassungsbindung 153 ff. – Wille 647 Gesetzgebung – folgerichtige 198 – Gesetzgebungsverfahren 195 – Mehrheitsprinzip 198 – Omnibusgesetzgebung 108 – Steuergesetzgebung 197 Gesetzgebungsverfahren – einstufiges 195 – Prinzipien 203 – zweistufiges 195 Gestaltungsmissbrauch – außersteuerliche Gründe 620, 622, 811 ff. – Gesamtplan 624 – Mantelkauf 791 – Ringtausch von Gesellschaftsanteilen 625 – Tatbestand 621 – Verlustnutzung 624 – Wiederkauf von Wertpapieren 619 ff. – wirtschaftliche Betätigungsfreiheit 620 Gewaltenteilungsprinzip, s.a. Verfassungsrecht – Stärkung 549 – Verwerfungen 173 Gewerbesteuer – Abzugsfähigkeit 207, 558 – Steuervereinfachung 144 – Verfassungsmäßigkeit 639 Gewinn – Gewinnverteilung 401 ff., 597, 605, 726 – Realisierung 754 Gewinnermittlung – Altersversorgungslasten 588 – Betriebsvermögensvergleich 583 – Einzelbewertungsprinzip 591 924
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faktische Verpflichtung 590 Kulanzrückstellungen 590 Niederstwertprinzip 591 Pensionslasten 579, 592 Saldierungsverbot 591 Schuldenansatz 589 f. Stetigkeitsgebot 591 Stichtagsprinzip 588 Systemrationalität 631 Überschussrechnung 585 Vorsichtsprinzip 166, 589 f., 631 Zahlungsbemessungsfunktion 580 Gewinnerzielungsabsicht – als innere Tatsache 705 – Einkunftsarten 715 – Feststellung persönlicher Motive 709 – Grundlagen 704 – Liebhaberei 703 ff., s.a. dort – Totalgewinnprognose 706, s.a. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung – zweigliedriger Liebhabereibegriff 706 Gilly (EuGH-Urteil) 318 Glaxo Wellcome (EuGH-Urteil) 285, 311 Gleichheitssatz 174, 206 – Abwehranspruch 228 – Besteuerungsgleichheit 189 – Dreistufenmodell 629 – Ergebnisoffenheit 226 – Gleichheit im Recht 228 – Gleichheit im Unrecht 228 – im Steuerrecht 160 – Lenkungszweck 193 – neue Formel 174 – Prüfungsmaßstab 160 – Subventionsgleichheit 189 – Willkür-Formel 174 – Willkürverbot 160, 174, 631, 634, 766 GmbH – Geschäftsführerhaftung 713 – Gesellschafter-Geschäftsführer 728 ff.
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GNOFÄ – 1976 534 – 1997 534 Grundfreiheiten 299 – Abgrenzung der Anwendungsbereiche 337 – Beschränkungsverbote 300 – Diskriminierungsverbote 300 – Kapitalverkehrsfreiheit s. dort – Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen 322 – Niederlassungsfreiheit s. dort – Rechtfertigungsprüfung 303, 317, 326 – Vergleichbarkeitsprüfung 300, 312, 326 – Verhältnismäßigkeitsprüfung 307, 322, 326 Grundgesetz – Antwortcharakter 647 – Besteuerungs- und Subventionsgleichheit 189 – Bundesverfassungsgericht 159 – Individualrechtsschutz 225 – Länderfusion 486 – Neugliederung der Länder 488 – Spielgerätesteuer 68 – Stellung des Richters 117 – Verfassungsrecht s. dort – Wertentscheidung 20 – Werteordnung des 205 Grundrechte – auf wirtschaftliche Betätigungsfreiheit 623 – Berufsfreiheit 175 – DDR 476 – Eigentumsgarantie 176 – Grundrechtseingriffe 109 – Justizgrundrechte 481 – Recht auf informationelle Selbstbestimmung 173, 229 – steuerlicher Grundrechtsschutz 198 Halbteilungsgrundsatz 176 Halifax (EuGH-Urteil) 439 Haribo (EuGH-Urteil) 294
Haushalt – Haushaltsführung 221 – Haushaltskonsolidierung 55, 629 – Haushaltsplanung 104, 221 – Vorbehalt 221 Haushaltsbegleitgesetz 2004 97 ff. – Verfassungswidrigkeit 98 Häusliches Arbeitszimmer 63 Herstellungskosten – anschaffungsnahe 880, 884 – Erhaltungsaufwand 880 – Rechtsprechungsänderung 881 – vorsteuerbelastete 356 ICI (EuGH-Urteil) 304 IFRS – als Verfassungsproblem 84 – Begriff 84 – europarechtliche Vorgaben 88 – Funktion 85 – IAS-Verordnung 88 – International Accounting Standard Committee Foundation 84 – International Accounting Standards Board 84 – International Financial Reporting Committee 84 – Komitologie-Beschluss 88 – Rechtsqualität 91 – Standards Advisory Council 84 – Zinsschranke 86 ff. Institute for Inter-American Study and Research 526 Irrtum – über Steuerfolgen 693 Jäger (EuGH-Urteil) 322 Jahressteuergesetz 2007 186 Jahressteuergesetz 2008 558, 750, 765 Jahressteuergesetz 2010 108, 111, 126, 557, 568 Jubiläumsrückstellungen – Passivierungsverbot 627 ff. Justiz – Bedeutung für Bürger 479 – in der DDR 474 925
Stichwortverzeichnis
– Strafjustiz 430 Kapitalkonto in der KG 595 ff. – Darlehenskonto 599 – Dreikonten-Modell 598 – echtes 605 – Entnahmebeschränkungen 601, 604 – entnahmefähige Gewinnanteile 599 – Entnahmen 595 ff. – Mehrkontenmodell 598 – negatives 558 – Rechtsnatur 600, 610 – stehengelassene Gewinnanteile 599 – Verlustvortragskonto 599 – Verrechnungskonto 599 – Vierkonten-Modell 599 – Zweikonten-Modell 598 Kapitalverkehrsfreiheit 260, 310 ff., 338 – Reichweite 410 ff. – und Niederlassungsfreiheit 410 ff. KG – Eigenkapital 596 f., 601 – Finanzplandarlehen 603 – Gesellschafterkonten s. Kapitalkonto – Gesellschaftsvertrag 598, 600 Kommanditisten – Auseinandersetzungsguthaben 603, 609 – Gewinnanteile 599 – Nachschusspflicht 602 – Pflichteinlage 597 ff. – Sonderbilanz 596 – Verlustanteile 601 ff. Kommission vs Niederlande 2009 (EuGH-Urteil) 316 KONSENS 535 Krankenheim Ruhesitz am Wannsee (EuGH-Urteil) 320 Kriegsschädenschlussgesetz 509 Legislative s. Gesetzgeber Leistungsfähigkeitsprinzip 162, 175 926
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Einzelfallgerechtigkeit 64 Folgerichtigkeit 162 ff. Gestaltungsmissbrauch 632 Gewerbesteuer 144, 207 Nettoprinzip 206, 781, s.a. dort Neugliederung der Länder 488 Realisationsprinzip als Gradmesser 588 – Rückstellungen 632 ff. – Spielgerätesteuer 75 – Steuergerechtigkeit s. dort – Verlustuntergang 790, 792, 797 – Verschonung des Existenzminimums 162 – Versorgungsbedürftigkeit 760 ff. Leitsatzwesen – am Reichsfinanzhof 519 Lenkungsnormen 24, 199, 777, 792, 843 Lenkungszweck 198 ff. – außerfiskalischer 165 – und Belastungsgleichheit 199 – Verhältnismäßigkeit 198 Lidl Belgium (EuGH-Urteil) 287, 318 Liebhaberei 703 – Anerkennung von Verlusten 712 – Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung 834 f. – Fremdvergleich 712, s.a. dort – zweigliedriger Begriff 706, 834 Lohnsteuerhaftungsverfahren 723 Manninen (EuGH-Urteil) 309 Marks & Spencer (EuGH-Urteil) 287, 317 Maßgeblichkeit – Abweichungen von HGB und EStG 787 – Maßgeblichkeitsprinzip 578 ff. – umgekehrte 586 f. Menschenwürde 162, 173, 644, 782 – Existenzminimum 162 Metallgesellschaft/Hoechst (EuGHUrteil) 323 Mindestbesteuerung 139, 180, 782 ff. – Nettoprinzip 140, s.a. dort – Verfassungsgemäßheit 784
Stichwortverzeichnis
Missbrauch 656 ff. – Gestaltungsmissbrauch s. dort Missbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz 348 Mitunternehmerschaft – Gesamtbilanz 596 Mutter-Tochter-Richtlinie 295 N (EuGH-Urteil) 309 Nettoertrag – erzielbarer 752 – vorbehaltener 752, 754 Nettoprinzip – Existenzminimum 803 – Folgen eines Verstoßes 205 – gemischt veranlasste Aufwendungen 797 ff. – objektives 163, 178, 204 ff., 632, 781 ff., 797 – Pendlerpauschale 207 – subjektives 781, 797 – Zweck 781 Nichtanwendung – Abzugsverbot bei Aufgabeverlusten 556 – Ausgleichszahlungen an außenstehende Anteilseigner 560 – durch BMF-Schreiben 448 ff. – durch Gesetzesänderung 187, 446 ff. – durch Klaglosstellung 457 – durch unterlassene oder verzögerte Veröffentlichung im BStBl. 126 f., 450 – Gewaltenteilungsprinzip 453 – Koalitionsvertrag CDU, CSU und FDP 549 – Loyalitätspflicht gegenüber Rechtsprechung 554 – Nebenleistungen zu Übernachtungsumsätzen 559 – Nicht- oder verspätete Veröffentlichung 550 – Nichtanwendungserlass s. dort – Transferzahlungen an ausländische Fußballvereine 557
– umsatzsteuerrechtliche Organschaft 560 – Zulässigkeit 553 Nichtanwendungserlass 116, 381 ff., 448 ff., 549 ff. – Arten und Gründe 451 – Definition 449 – historische Entwicklung 449 – Rechtssprechungsübersicht 383 ff., 555 ff. – Vermeidungsstrategien 126 f. – Zulässigkeit 553 ff. Niederlassungsfreiheit 179, 286, 299, 309 – doppelte Verlustberücksichtigung 322 – Gebietsfremde 302 – und Kapitalverkehrsfreiheit 410 ff. – und Territorialitätsprinzip 306 – Ungleichbehandlung 321 – Zweigniederlassung 302 Normenkontrolle – Grenzen der 157 – konkrete 54 – Normenkontrollvorlagen 219 Notverordnungsrecht 511 OEEC – Steuerausschuss 521 OESF (EuGH-Urteil) 316 Organschaft – Gewinnabführungsvertrag 214 – Personengesellschaft als Organträger 213 f. Österreich – Administrativverfahren 256 – Finanzgerichtsbarkeit 254 ff. – Grundsätze des Finanzverwaltungsverfahrens 250 ff. – Rechtsschutz im (Steuer-)Verwaltungsrecht 246 ff. – Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit des Verfassungsgerichtshofes 255 – Unabhängiger Finanzsenat (UFS) 246 ff. – Verwaltungsgerichtshof 258 927
Stichwortverzeichnis
Österreichische Salinen (EuGHUrteil) 294 Oy Aa (EuGH-Urteil) 318 Pendlerpauschale 165 f., 205 Personengesellschaft – als Organträger 213 f. – Bewertung 666, 672 f. – im Internationalen Steuerrecht 421 ff. – Kommanditgesellschaft 587 ff. – Übertragung von Mitunternehmeranteil 766 f. Planungssicherheit 26, 140, 204, 463 – Rückwirkung 210 ff., s.a. dort Principal-Agent-Beziehung 582 Pro futuro-Rechtsprechung s. Rückwirkung Recht – als äußere Verhaltensordnung 644 – Normativität des Rechts 867 – und Moral 643 – und Staat 237 Rechtsanwendungsgleichheit 129 f., 330, 531 Rechtsdogmatik 865 ff. – aufgeklärte 868 – demokratische Steuerung der Gesellschaft 865 – Offenheit 130 – Rechtsnormakzessorietät 868 – Steuerrechtsdogmatik 859, 865 – Steuerungsdiskussion 865 – und Fiskalismus 147 Rechtsfortbildung – als Maßstabsbildung 117 – Auftrag 277 – Grenzen 127, 268 – inhaltliche Anforderungen 118 – Normativität 119 – Präjudizienbindung 129 ff. – Quelle (EuGH-Urteil) 296 – Rechtsschöpfung 117 ff. – und Auslegung 649 ff. – unionsrechtskonforme 289 – Verhältnis zur Exekutive 121 ff. 928
Rechtsgeschäfte – Aufhebung 695 – Ausweichgeschäfte 625 – Gesamtplan 679 – Irrtum über Steuerfolgen von 693 – mehrstufige 810 Rechtsordnung – Einheit 38, 452, 466, 582 – empirisches Fundament 63 – europäische 85 – Integrität 290 – Konstitutionalisierung der 37 – Lückenlosigkeit 117 – Stimmigkeit 124 – Verlässlichkeit 211 – Widerspruchsfreiheit der 38 – Zementierung 155 Rechtsprechung – Ideologie in der 525 – Kontinuität 128 ff., 265 ff. – Präjudizienbindung 129 ff. – Selbstbindung 129, 272 Rechtsschutz – Dritt-Anfechtungsklage 229 – Drittschutz 224 – effektiver 228 – Feststellungsklage 229 – finanzrichterlicher in Verfassungsfragen 219 – Nichtigkeitsfeststellung 222 – Popularklage 224 – Rückwirkung s. dort – Unvereinbarkeitsrechtsprechung 222 – verfassungsunmittelbarer Auskunftsanspruch 228 – vorläufiger 220 Rechtssicherheit 867 Rechtsstaat – Ankauf von Steuerdaten 18 – Rechtsstaatlichkeit 20 Rechtsstaatsprinzip 173, 180, 644 – Bestimmtheitsgebot 22, 180, 215 – Dispositionsschutz s. Vertrauensschutz – Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit 872
Stichwortverzeichnis
– Normenklarheit 16, 22, 139, 180 – Verhältnismäßigkeit 185 Reichsabgabenordnung 520 Reichsfinanzhof 507 – Leitzsatzwesen 519 – Präsidenten 508 Reichsfinanzministerium 510, 513 Reichsverwaltungsgericht 517 Reinvermögenszugangstheorie 142 Rente – Veräußerungsrente 751 – Versorgungsrente 751 Richtlinie 77/388/EWG 349 Risikomanagement – 100 %-Doktrin 544 – Anwendungsbereiche 541 – Einkommenssteuer 541 – elektronisches 545 – in der Steuerverwaltung 529, 534, 541 – Methoden 541 – Restrisiko 545 – RMS Veranlagung 542 f. – RMS-FsE 543 – Umsatzsteuer 543 Rückwirkung 98 ff., 182 ff., 210 ff., 267 ff. – Budgetschutz 104 – echte 184, 210 f., 346 – Europarecht 347 ff. – Evidenzrechtsprechung 101 – Fiskalinteressen 223 – gemeinschaftsrechtlicher Ermächtigungen 351 – im Umsatzsteuerrecht 345 – pro futuro-Rechtsprechung 98 ff., 221, 267 – Rückwirkungsverbot 183 ff., 276, 347, 364 ff. – Seeling-Modell 356 – unechte 184, 211 – Unvereinbarkeitsrechtsprechung 99 – veranlagungsbezogener Rückwirkungsbegriff 23 f. – Vertrauensschutz s. ebd.
Schempp (EuGH-Urteil) 312 Schenkungsteuer – Anteilsübertragung auf den Ehegatten 811 – Bereicherungswille 812 – entgeltlicher Zwischenerwerb 816 – Gesamtplan 811 – Grundbesitzübertragung auf Kinder 811 – mehraktige Gestaltungen 813 – Steuerklausel 817 – Urkundengestaltung 812 Schuldzinsen – Abzugsfähigkeit 740 – nachträgliche 740 – Neuausrichtung der Rechtsprechung 743 – Veranlassungszusammenhang 740, 747 – Zinsschranke 597 Schumacker (EuGH-Urteil) 302 Scorpio (EuGH-Urteil) 294, 321 Selbstanzeige 17, 240, 564 SEStEG 788 SGI (EuGH-Urteil) 319 Sicherstellungsauftrag 541 Sicherung künftigen Verwaltungshandelns – Auskunft 468 f. – Auskunftsbescheid 464 – im Allgemeinen Verwaltungsrecht 465 – im Sozialrecht 466 – im Steuerrecht 468 – Vorbescheid 464 – Zusage 465 – Zusicherung 465 Simmenthal (EuGH-Urteil) 281 Solange II (BVerfG-Urteil) 330 Sonderabschreibungen 587, 752, 776 Sonderausgaben 208, 752 Sonderprüfung 348 – Umsatzsteuer 542 Sondervergütungen 421 ff. Sozialstaatsgrundsatz 162, 200, 782 929
Stichwortverzeichnis
Spielgerätesteuer – Abwälzbarkeit 69 ff. – Belastungsgleichheit 75 – Gesetzgebungskompetenz 69 – Hamburgisches Spielgerätesteuergesetz 74 – Mindest- und Höchstsätze 79 f. – Rückwirkungsproblematik 79 – Spielverordnung 77 – Stückzahlmaßstab 70 ff. – Verfassungsmäßigkeit 68 – Vergnügungsaufwand 70 ff. Staat – als Herrschaftsverband 231 – der Berliner Republik 235 – der Weimarer Verfassung 234 – Finanzen 14, 564 – in der Rechtsprechung des BVerfG 232 – nach der französischen Revolution 233 – partizipative Demokratie 236 – Rechtsstaat s. dort – Steuerstaat 240 ff., 573 – und Gesellschaft 231 Staatsrechtslehre 231 Stahlwerke Ergste Westig (EuGHUrteil) 286 StEntlG 1999/2000/2002 552 Steuer – in der DDR 474 – Steueramnestie 18 – Steuerbilanz s. Bilanz – Steuerbürger 197, 217 – Steuerentlastung 142, 227, 409 – Steuerentstehung 24 – Steuergegenstand 861 – Steuergeheimnis 173 – Steuerhinterziehung 18, 431 ff., 655 – Steuerkultur 19 ff., 564, 652 – Steuermoral 13 ff., 564 – Steuerobjekt 861 – Steuerrechtsgestaltung 577 – Steuerschlupflöcher 52, 776 – Steuerschuldrecht 859 – Steuerstaat s. Staat – Steuersubjekt 861 930
– Steuersubvention s. dort – Steuersystem 35 f., 45, 51 – Steuertypen 875 – Steuerverweigerung 14 – Verbot gleichartiger Steuern 874 – Vergünstigung 198 Steueränderungsgesetz – Steueränderungsgesetz 2003 352, 883 – Steueränderungsgesetz 2007 105, 207 – Steueränderungsgesetzgebung 146 Steuerbelastungstransparenz 207 Steuerberatungskosten – Sonderausgabenabzug 208 Steuerbürokratieabbaugesetz 541 Steuerdaten – Ankauf 18 – Verifikation 536 Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/ 2002 743 Steuererkläung 57 ff. – vorausgefüllte 539 Steuerfolgen 693 – Aufhebung von 695 – Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit 694 – Irrtum über 693 – Irrtumsanfechtung 696 – Wegfall der Geschäftsgrundlage 697 Steuerfreiheit – der „Zulage Ost“ 192 – der Kostenpauschale für Abgeordnete 226 – des Existenzminimums 162 – des Veräußerungsgewinns 623 – von innergemeinschaftlichen Lieferungen 440 – von öffentlichen Aufwandsentschädigungen 17, 293 – von Vermietungsumsätzen 348 – von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit 16, 61, 149 Steuergerechtigkeit 204, s.a. Systemgerechtigkeit
Stichwortverzeichnis
– absolute 65 – Einzelfallgerechtigkeit 64, 119, 148, 539 – kalte Progression 64 – Leistungsträger 59 – Pauschalierungen 64 – persönliches Belastungsempfinden 63 Steuergesetze – Fehleranfälligkeit 216 – Fiskalzweck 530 – Qualität 13 Steuergesetzgebung – BVerfG als Schranke der 176 – des Deutschen Reiches 68 – diffuses Bild 145 – Folgerichtigkeit 190, s.a. dort – prinzipienbasierte und systemgerechte 50 – systemfremde 31 Steuergestaltung – Ausweich- und Optimierungsgestaltungen 49 – Gestaltungsmissbrauch s. dort – Steuerumgehungskunde 49 – Umgehungsschutz 50 Steuerklauseln 699 ff. – Ertragssteuer 700 – Grunderwerbssteuer 700 – Schenkungssteuer 700, 817 Steuerlehre – Betriebswirtschaftliche 778 – Grundsatz der Entscheidungsneutralität 778 – Grundsatz der Investitionsneutralität 778 Steuerpflichtiger – Mitwirkungspflichten 531 Steuerrecht – Autoritätsverlust 66 – Geheimwissenschaft 51 – Kontinuität im 19 – legislativer Gehorsam im 171 – Wertorientierung 20 Steuerreform – Bareis-Kommission 56 – Brühler Kommission 147
– Erzbergersche 142 – Karlsruher Entwurf zur Reform des Einkommensteuergesetzes 56, 149 – Koch-Steinbrück-Liste 56, 98, 110 – Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes 56, 149 – Kommission „Steuergesetzbuch“ 56, 148 – Lobbyismus 142 – Parteipolitik 145 – Petersberger Steuervorschläge 56 – politische Bedingungen 151 – Umsetzungschancen 61 – Unternehmenssteuerreform 2008 150, 207, 786 Steuerstrafrecht – schuldangemessene Strafe 442, 644 – Vorfragenkompetenz der Strafgerichte 430 Steuersubstratwettbewerb 150 Steuersubvention 189 ff. – Erbschaftsteuerbeschluss 191 – Ökosteuerurteil 191 – Subventionsgleichheit 189 ff. – verfassungsrechtliche Anforderungen 190 Steuersystem – Ablösung des Zwangsabgabensystems 564 Steuertarif – Erdrosselungssteuer 62 – kalte Progression 64 – Mittelstandsbauch 58 – progressiver 58 Steuertatbestand – Bestimmtheitsanforderungen 873 – dogmatische Funktion 869 – Dogmengeschichte 858 – international-steuerrechtliche Funktion 876 – Mehrdeutigkeit 853 – rechtsdogmatische Kategorie 855 – steuerrechtsdogmatische Funktion 865 – Steuerstufentatbestand 861 931
Stichwortverzeichnis
– steuerverfassungsrechtliche Funktion 872 – Tatbestandslehre 859 – und bundesstaatliche Finanzverfassung 874 Steuervereinfachung 241 – durch Rechtsreform 148 – Koalitionsvertrag 139 – per Notverordnung 66 – Stimmenfangpolitik 141 – und Verständlichkeit 21 – Unfähigkeit deutscher Politik zur 139 ff. Steuervergünstigungsabbaugesetz 213 Steuerverwaltung – als Verifikationsinstanz 530 – Außenprüfung 173 – Compliance 534 – Data-Mining-Verfahren 542 – Datenerfassung 535 – ELSTER-Verfahren 543 – Gesetzesvollzug 529 – Gesetzmäßigkeit des Handels 531 – ID-Merkmal 537 – Mitwirkungspflichten 531 – Risikomanagement 529, 534, 541 – Sofortprüfung s. Steuervollzug – Steuerfahndung 173 – Verwaltungswirklichkeit 533 Steuervollzug 20 f., 123 – Abbuchungsermächtigungen 570 – Black-Box-Verfahren 569 – Durchsetzungsbefugnisse 566 – elektronischen Kommunikation 568 – gleichmäßiger 531, 563 – Liquiditätsprüfung 570 – maßvoller 529 – Öffnungszeiten der Finanzämter 568 – PROFIN 567 – Rechtsanwendungsgleichheit 531 – Risikomanagement 569 – Sofortprüfung 570 – Tax Compliance 564 – Tax Partnership 567 932
– Übermaßverbot 531 – Untermaßverbot 531 – Verhaltenskodex mit Steuerberatern 571 – Verhältnismäßigkeit 531 – Vollzugsdefizite 563 – Vollzugsziele 530 Stille Reserven – Aufdeckung 752 Strafbefreiungserklärungsgesetz 18 Strafprozess – Aussetzungsmöglichkeit 431, 442 – Präklusionsvorschriften 434 – strafprozessuale Verfahrensmaximen 434 Subsumption – fehlgeschlagene 656 Subventionen s. Steuersubventionen Sudholz (EuGH-Urteil) 351 System – Systemrationalität 32, 631 – Systemsensibilität 47 – Systemtransparenz 31 – Systemtreue 41, 44, 48 Systembildung im Steuerrecht – als Verfassungspostulat 35 – äußere u. innere Systematik 33 – Modelle der 39 – Ordnungsauftrag 31 – Ordnungsmerkmale 33 – Systematisierungsauftrag 31 – Systemaufstellungspflicht 34 – Systembegriff 38 – Systemerhaltungsgebot 41 – Systemreinheit 41 – Systemwechsel 41 – und Unionsrecht 44 f. – unsystematisches Recht 32 Systemgerechtigkeit, s.a. Steuergerechtigkeit – plurale Gerechtigkeitsvorstellungen 41 – Strukturgerechtigkeit 35 – Systemgerechtigkeitsdebatte 44 Tarifvergünstigung 685 Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht
Stichwortverzeichnis
– subjektive 641, 870 Terra Baubedarf (EuGH-Urteil) 350 Thesaurierungsbegünstigung – technische Umsetzungsschwierigkeiten 216 Tobinsteuer 241 Totalgewinnperiode 707 treaty override 186 Trennungsprinzip 180 Truck Center (EuGH-Urteil) 314 Übermaßbesteuerung 180 Übermaßverbot 180, 198, 215, 532 Überregulierung 52 Überschusseinkünfte 741, s.a. Einkünfteermittlung – Nichtsteuerbarkeit von Wertveränderungen im Privatvermögen 742 Umsatzsteuer – Gemeinschaftsrecht 349 – Grundsatz der Einheitlichkeit der Leistung 682 – Grundsatz des vollen Mehrwertsteuerabzugs 352 – Mehrwertsteuersystem 290, 346 ff. – Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie 565 – Repräsentationsaufwendungen 358 – Rückerstattung 284 – Rückwirkungsverbot 347 ff. – Umsatzsteuer-Sparmodell 356 – Vorsteuerberichtigung 349 Unternehmensnachfolge – Bewertung 662 Unternehmensteuerreformgesetz 2008 150, 202, 216, 786 Van Hilten (EuGH-Urteil) 314 Veranlagung – Arbeitnehmer 542 Veranlagungssteuern 23, 211 Veranlagungszeitraum-Rechtsprechung 211 Veranlassungszusammenhang 384, 724 ff., 742, 828
Verdeckte Gewinnausschüttung 713 – Arbeitslohnbegriff 728 – Fremdvergleich s. Fremdvergleich – private Nutzung von Betriebs-KFZ 721 – Veranlassungszusammenhang 726 Verfassungsgerichtsbarkeit – Grenzen der 159 Verfassungsrecht – dynamische Verweisung 92 ff. – finanzrichterlicher Rechtsschutz 220 ff. – Folgerichtigkeit 17, 29 ff., 62 ff., 164 ff., 192 ff., 627 ff., s.a. dort – Gewaltenteilung 121 ff., 159, 187, 292, 453, 474, 551 – Gleichheitssatz 160 ff., 174 ff., 189 ff., 226 ff., 631 ff., s.a. dort – Grundgesetz s. dort – Grundrechte s. dort – Nettoprinzip s. dort – richterliche Unabhängigkeit 121, 130, 476, 495 ff., 527 – Rückwirkungsproblematik 22 ff., 98 ff., 183 ff., 210 ff., 270 ff., s.a. Rückwirkung – Spielgerätesteuer im 68 ff. – Staat 232 ff., s.a. dort – Subprinzipien 205 – Systembindung durch 35 ff., s.a. Folgerichtigkeit – und Steuerrecht 203 ff. – Verfassungsbindung s. Gesetzgeber Verfassungswidrigkeit – aufgrund Verfahrensfehler 97 ff. – formelle 177 – materielle 177 – Rechtsfolgen 167 – Rückwirkung s. dort Verfassungswirklichkeit 173 Vergnügungssteuer – Kartensteuer 68 – Pauschsteuer 68 – Preußisches Allgemeines Landrecht 68 Verlustausgleich 178 f. 933
Stichwortverzeichnis
– – – – – – – –
bei Körperschaften 786, 789 horizontaler 779, 782 Lösungsmöglichkeiten 789 Mindestbesteuerung 782, 784, 789 ökonomische Vorgaben 777 Sanierungsklausel 47, 786 ff. Steuerstundungsmodelle 212 Verlustabzugsbeschränkung 180, 212, 778, 787 – Verlustverrechnungsregeln 776 – vertikaler 779, 782 – Verschmelzungen 788 Verluste – als Gegenstand der Steuerpolitik 775 – Korb-II-Gesetzgebung 776 – Mindestbesteuerung 782, 784 – Steuerschlupflöcher 776 – Steuerstaat 775 – Verlustuntergang 179 – Verlustverrechnung 776 – Verlustzuweisungsmodell 179 Verlustvortrag – stille Reserven 784 – Vererblichkeit 133, 785, 789 Vermögensteuer – Belastungsobergrenze 176 Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen 749 ff. – Abänderung des Versorgungsvertrags 759 – Beerdigungskosten 757 – begünstigt übertragbares Vermögen 766 – Betriebsaufspaltung 767 – Erbeinsetzung 756 – ertragbringende Wirtschaftsgüter 751 – Ertragsprognose 759 – existenzsichernde Wirtschaftsgüter 751 – Generationennachfolge-Verbund 755 – historische Herleitung 750 – Leistungsfähigkeit des Übernehmers 761 – Neuregelung 765 934
– – – –
Nutzungsrechte 757 Rechtssprechungsgrundsätze 771 steuerliche Grundkonzeption 750 Übergabe von Geld- und Wertpapiervermögen 758 – unentgeltliche 752 – Veräußerung übergebenen Vermögens 754 – Vergleichbarkeit mit dem Vorbehaltsnießbrauch 752 – Vermächtnis 756 – Vermögensumschichtung 761, 769 – Versorgungsbedürfnis 760 – vorbehaltene Vermögenserträge 764 – wiederkehrenden Leistungen 751, 772 – Zahlungen für den Erb- oder Pflichtteilsverzicht 756 Verrechnungspreise – Fremdvergleich 713 Versorgungsleistungen s.u. Vermögensübergabe Vertrauensschutz – Dispositionen 19, 23 ff., 135, 185, 272 – Fortbestandsvertrauen 26 – Großer Senat 267 ff. – Planungssicherheit s. dort – prospective overruling 275 – Rückwirkung s. dort – stare decisis-Doktrin 271 Vorabentscheidungsverfahren 279, 329 – Entscheidungserheblichkeit 332, 336 – Vorlagepraxis des BFH 337 Vorbehalt der Nachprüfung 349 Vorbehaltsnießbrauch 753 Vorhersehbarkeitsrechtsprechung – traditionelle 184 Wachstumsbeschleunigungsgesetz 559 Wegfall der Geschäftsgrundlage – durch Rechtsänderungen 698 – Steuerfolgen 697
Stichwortverzeichnis
Welteinkommensprinzip 179 Werbungskosten – nachträgliche 742 – Veranlassungszusammenhang 745 Wielockx (EuGH-Urteil) 308 Willensbildung – parlamentarische 196 Willkür s. Gleichheitssatz Wirtschaftsgut 621, 625, 654 – Bewertung 671 f., 789 – einheitliches 892 – Entnahme 685
– ertragbringendes 751 – existenzsicherndes 751 – wesentliche Verbesserung 809 Wohnungseigentumsbesteuerung – Abschaffung der 26 Wollny (EuGH-Urteil) 356 X Holding BV (EuGH-Urteil) 313 Zinsschranke 86, 385, 597 Zurechnung – wirtschaftliche 589
935