Führungskräfte im sowjetischen Dorf: Ihre politisch-soziale Situation und Funktion in der Ära Chruščev [1 ed.] 9783428422418, 9783428022410


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German Pages 358 Year 1969

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Führungskräfte im sowjetischen Dorf: Ihre politisch-soziale Situation und Funktion in der Ära Chruščev [1 ed.]
 9783428422418, 9783428022410

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Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München Reihe: Wirtschaft und Gesellschaft Heft 6

Führungskräfte im sowjetischen Dorf Ihre politisch-soziale Situation und Funktion in der Ära Chruščev

Von

Karl-Eugen Wädekin

Duncker & Humblot · Berlin

KARL-EUGEN

WÄDEKIN

Führungekräfte im sowjetischen Dorf

Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München Reihe: Wirtschaft und Gesellschaft früher Schriften des Institutes zum Studium der Sowjetwirtechaft an der Hochschule für Sozialwissenechaften Wilhelmshaven

Herausgegeben von Prof. Dr. H. Raupach

Heft 6

Führungskräfte i m sowjetischen Dorf Ihre politisch-soziale Situation und Funktion in der Ära Chru^cev

Von

Karl-Eugen Wädekin

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Rheinisch-westfälischen Technischen Hochschule Aachen gedruckt m i t Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Alle Rechte vorbehalten © 1969 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1969 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany

Meiner Frau

Vorwort Die hier veröffentlichte Untersuchung ist als Habilitationsschrift der Philosophischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule zu Aachen vorgelegt und von dieser angenommen worden. Sie ist Teil einer umfassenden Thematik, deren Bearbeitung der Verfasser sich zur Aufgabe gemacht hat, und m i t der er den sozial-ökonomischen und politischen Rahmen sowjetischer Agrarpolitik und Agrarproduktion darzustellen beabsichtigt. Daß sie geschrieben und daß auch die breitere Thematik i n Angriff genommen werden konnte, war möglich dank einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, für das der Verfasser hiermit Dank sagen möchte. Ebensolchen Dank schuldet er Herrn Professor Dr. Klaus Mehnert, Aachen, der m i t Verständnis das Werden des Manuskripts verfolgte und mit seinem Rat zur endgültigen Form beitrug. Dankigebührt auch Herrn Professor Dr. Hans Raupach, München, für die Aufnahme der Arbeit in die von i h m herausgegebene Schriftenreihe sowie Freunden und Kollegen, die durch wertvolle Hinweise und durch Hilfe bei der Literaturbeschaffung Anteil nahmen, insbesondere den Herren Keith Bush, Professor Dr. Jerzy F. Farcz, Dr. Eberhard Schinke und Dr. Alexander Steininger. Dank und Verehrung sei auch Herrn Professor Dr. Otto Schiller, Heidelberg, ausgesprochen, durch den der Verfasser vor mehr als einem Jahrzehnt auf die allgemeinere Themenstellung hingelenkt worden ist. Karl-Eugen

Wädekin

Inhaltsverzeichnis

Einführung 1. Fragestellung, Begriffe, Möglichkeiten der Information

13

2. Z u m soziologischen Schrifttum der Sowjetunion

25

Erster Teil Politisch-soziale Strukturelemente I. Das Erbe Chruëëevs

33

1. Wechsel der Methoden bei K o n t i n u i t ä t des Systems u n d der Probleme 2. Spezifische Züge der Situation dörflicher Führungskräfte II. Der Kolchoznik

als Staatsbürger

minderen

Rechts

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

III.

33 37 41

Diskriminierung des Kolchoz-Sektors i m ganzen B i n d u n g an die Scholle Ausschluß v o m allgemeinen Recht Arbeitsschutz, Arbeitsrecht u n d -pflicht Sozialleistungen Diskriminierung durch das Lohnsystem Höhere Steuern, geringere staatliche Leistungen f ü r den Kolchoznik 8. A u s w i r k u n g e n auf die Psyche der Kolchozbevölkerung

41 45 57 61 67 69

Die Träger der Parteiherrschaft

85

auf dem Lande

73 77

1. Das allgemeine Zahlenbild 86 2. Unterschiede zwischen Sovchozen u n d Kolchozen u n d verschiedenen Berufsgruppen 92 3. Eine durchschnittliche Kolchoz-Parteiorganisation 101 4. Die Leiter der Grundorganisationen 104 5. Die „ L e i t u n g der Massen" 115 6. Wer w i r d Parteimitglied? 120 7. Ideologisch-politische Tätigkeit 126 8. Allmächtig, aber nicht allgegenwärtig 132 IV. Die dörfliche

Intelligenzia

136

Inhaltsverzeichnis

10

Zweiter

Teil

Berufsgruppen der Führungskräfte V. Die Leiter der Agrarbetriebe

155

1. 2. 3. 4.

Stellung i m Gesamtrahmen des sowjetischen Agrarsystems Zahlen u n d H e r k u n f t der Betriebsleiter Direktoren u n d Abteilungsleiter der Sovchoze Die Kolchozvorsitzenden a) Ohnmacht nach oben b) Machtfülle nach unten c) Typen u n d Verhaltensweisen d) Arbeitsbedingungen u n d Bezahlung 5. Die Betriebsleiter als soziale Gruppe

VI. Landwirtschaftliche 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. VII.

und mittleres

Führungspersonal

Eine kleine Minderheit i n den Betrieben Gruppen landwirtschaftlicher Fachkräfte u n d deren Zuwachs Bigadiere; Leiter von Viehabteilungen Arbeitsbedingungen Entlohnung u n d Zuwendungen Landflucht der Fachkräfte Geschlossenheit als soziale Gruppe?

Nicht-agrarische 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Fachkräfte

Führungskräfte

Allgemeines Verwaltungs- u n d Dienstleistungspersonal der Agrarbetriebe . . . Dorfsowjets u n d Polizei Ärzte u n d Apotheker Lehrer „Kulturarbeiter"

155 167 173 178 178 188 200 209 213 217 219 229 237 253 266 276 281 289 289 293 300 306 310 320

Schlußbetrachtungen

333

Benutzte Quellen und Sekundärliteratur

341

Verzeichnis der Texttabellen Tabelle

1: Parteikommunisten i n der sowjetischen Landwirtschaft, von Jahresende 1955 bis Jahresende 1964 89

Tabelle

2: Partei-Grundorganisationen u n d Parteikommunisten i n K o l chozen u n d Sovchozen, Ende 1955 bis Ende 1964

91

Tabelle

3: Arbeiter u n d Angestellte i n den Sovchozen u n d den SovchozParteiorganisationen, Ende 1955 bis Ende 1964

93

Tabelle

4: Berufliche Gliederung der i n Kolchozen beschäftigten Parteikommunisten, Ende 1955 bis Ende 1964

96

Tabelle

5: A n t e i l der Parteikommunisten an einzelnen Berufsgruppen der Kolchoze, M i t t e 1961 u n d Ende 1964 100

Tabelle

6: Vorsitzende von landwirtschaftlichen Kolchozen u n d deren hauptamtliche Stellvertreter sowie Direktoren u n d A b t e i lungsleiter von Sovchozen, 1953—1965 168

Tabelle

7: Parteimitgliedschaft u n d Ausbildung von Betriebsleitern . . . 169

Tabelle

8: Fachkräfte m i t Hoch- oder mittlerer Fachschulbildung i n der sowjetischen Landwirtschaft, 1953—1965, i n Tsd 237

Tabelle

9: Produktionsspezialisierung der Pflanzenbau-Brigaden i n den Kolchozen der UdSSR 1957—1961 243

Tabelle 10: Zahlen der Kolchoz-Brigadiere i n Pflanzenbau u n d V i e h w i r t schaft 244 Tabelle 11: K l u b - u n d Kulturhäuser, Volksbibliotheken u n d Filmtheater (bzw. -Vorführeinrichtungen) auf dem Lande, 1950, 1958 u n d 1964 322

Redaktionelle Hinweise I n der vorliegenden A r b e i t w u r d e durchweg die i m deutschen slavistischen Schrifttum übliche Transkription nach den Preußischen Bibliotheksinstruktionen angewandt; auch w o deutsche Ausgaben russischer Publikationen ein anderes Transkriptionssystem verwenden, wurde es i n den hier wörtlich zitierten Abschnitten auf das wissenschaftliche umgestellt, ebenso „die K o l chose" i n „der Kolchoz" umgewandelt. Eine Ausnahme bildet das W o r t „Sowjet", das sich i m allgemeinen deutschen Sprachgebrauch i n dieser F o r m (anstatt Sovet) bereits seit längerem eingebürgert hat. I n Zitaten w u r d e n Einfügungen des Verfassers, meist erläuternder A r t , i n eckige K l a m m e r n gesetzt; runde K l a m m e r n sind auch i m zitierten Original enthalten. Die sowjetische Verwaltungseinheit „ r a j o n " wurde durchweg als „ B e z i r k " bezeichnet, russisch „oblast'" w i e auch „ k r a j " einheitlich m i t „Provinz". Abkürzungen w u r d e n i m T e x t k a u m verwendet, außer gelegentlich M T S f ü r Maschinen-Traktoren-Station; i n Fußnoten-Texten w u r d e n sie häufiger angewandt, sind aber — außer vielleicht V O f ü r Verordnung u n d M R f ü r M i n i sterrat — allgemeinverständlich. Die T i t e l einiger Zeitungen u n d Zeitschriften w u r d e n abgekürzt; sie sind a m Anfang des Literaturverzeichnisses entschlüsselt. T i t e l von Büchern u n d Aufsätzen sind i n den Fußnoten oft stark v e r kürzt angeführt, jedoch so, daß die A b k ü r z u n g der alphabetischen Reihenfolge i m Literaturverzeichnis entspricht. Sind sie nicht i n das Literaturverzeichnis aufgenommen worden, entweder w e i l sie T e i l eines als solchen i m L i t e r a t u r verzeichnis aufgeführten Sammelbandes sind, oder w e i l i h r Gesamtinhalt wenig f ü r das Thema der Untersuchung besagt, oder w e i l es sich u m Zeitungsa r t i k e l handelt, so w i r d der volle bibliographische Nachweis gleich i n der betreffenden Fußnote gegeben.

Einführung 1. Fragestellung, Begriffe, Möglichkeiten der Information I m folgenden w i r d ein Teilaspekt der Sozialverhältnisse i n sowjetischen Dörfern unter der Fragestellung behandelt: Über welche Führungskräfte verfügt die sowjetische Agrarpolitik der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, u m ihre Ziele zu erreichen, und i n welchem Maße und i n welcher Richtung beeinflußt das Sowjetsystem auf dem Lande Einsatz und Wirkensmöglichkeiten dieser Führungskräfte? Das Thema ist eng begrenzt und schränkt, so hofft der Verfasser, allein schon dadurch die — bei Darstellung des Sowjetsystems stets drohende — „Ideologiegefahr" (Theodor Geiger) ein. Aber es umfaßt einen charakteristischen Ausschnitt sowjetischer Wirklichkeit, und es ist komplex und wichtig genug, um ergiebig zu sein. Die zeitliche Begrenzung auf die Reigierungszeit Chrusöevs ergibt sich i n erster Linie aus der Quellenlage. Zugleich liegt die Chrusòev-Zeit nahe genug, u m wesentliche Schlüsse auch auf Situation und Probleme der unmittelbaren Gegenwart zu erlauben. Mehr als die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung lebt heute i n Städten und sog. städtischen Siedlungen 1 . „ N u r " etwa ein D r i t t e l der Arbeitskräfte — auf Jahresdurchschnittszahlen umgerechnet — ist i n der Landwirtschaft tätig 2 , aber dieser A n t e i l ist doch ungewöhnlich für einen Industriestaat. Was i n der Sowjetunion von Landwirtschaft und Dorf geprägt ist, stellt nicht — wie etwa i n Deutschland — einen zahlenmäßig unbedeutenden Auschnitt des Ganzen dar. Das macht verständlich, waru m i n dem Land der Sputniks und hochentwickelter Atomforschung die Rückständigkeit der Landwirtschaft und der dörflichen Lebensverhältnisse eine so große Rolle spielen kann, wie sie i n den sowjetischen Verlautbarungen der letzten anderthalb Jahrzehnte immer wieder zutage getreten ist. 1 55 °/o zum 1.1.1967, s. Strana Sovetov, S. 15; zum 1.1.1960 waren es noch 49 °/o gewesen, s. Nar. choz. 1965, S. 7. 2 Errechnet aus den Zahlen i n Strana Sovetov, S. 162, 218 f.; auf physische Personen anstatt Jahresdurchschnitt gerechnet, w a r der Prozentsatz wegen der i n der Landwirtschaft stärker ausgeprägten jahreszeitlichen Schwankungen höher, u n d n i m m t m a n auch die landwirtschaftliche Produktionstätigkeit i m privaten Bereich (Eigenparzellen u n d private Viehhaltung) hinzu, so k o m m t man auf einen Schätzwert v o n nahezu 40 % der Arbeitskräfte.

14

Einführung

Es bedarf keines Beweises, daß i n diesem rückständigen Sektor, der dringend der Modernisierung bedarf, dem Problem der Führungskräfte eminente Bedeutung zukommt, zumal es sich i n der Sowjetunion nicht u m kleinbäuerliche Betriebe handelt, sondern u m Riesenbetriebe von einer Durchschnittsgröße, wie sie selbst Nordamerika nur i n Ausnahmefällen kennt. Hier müßte es verheerende Auswirkungen haben, wenn jener russische Volksvers (castuska) das allgemeine B i l d der Betriebsleitungen wiedergäbe, dem zufolge der Kolchozvorsitzende schlafe, der Rechnungsführer seine Konten führe und der Brigadier ins Leitungsbüro komme, u m mit dem Vorsitzenden zu trinken 3 . Hinzu kommt, daß den Führungskräften insbesondere bei genossenschaftlicher Landbewirtschaftung 4 und i n einer Zentralverwaltungswirtschaft sowie einem politischen System, wie sie i n der Sowjetunion gegeben sind, notwendig größere Bedeutung beigemessen werden muß als i n Ländern, i n denen Konkurrenz und privates Erwerbsstreben für Millionen Einzelne einen der wichtigsten A n triebe zur ständigen Verbesserung der Arbeitsmethoden bilden. Unter Führungskräften versteht der Verfasser hier Personen, die i m Dienste der staatlichen Institutionen und der formal genossenschaftlich organisierten Kolchoze stehen und funktional oder (ζ. B. Lehrer, Ärzte) auf Grund einer besonderen Beziehung ihrer Tätigkeit zur Dorfgemeinschaft eine Führungsstellung einnehmen. Gewiß gibt es i n sowjetischen Dörfern auch Menschen, die — i m Sinne der moralischen und religiösen Eliten K a r l Mannheims und/oder an der Spitze von „informal groups" 5 — eine gewisse Führungsstellung auf anderer Grundlage innehaben. Aber die Quellenlage erlaubt es nicht, über sie und ihre Rolle bestimmte oder gar detaillierte Aussagen zu machen. Über Religion und religiöse Gemeinschaften haben sich zwar i n letzter Zeit die aus sowjetischen Publikationen erhältlichen Informationen gemehrt, und die allgemeine Feststellung ist sicher berechtigt, daß „die Überbleibsel der Religion sich i m Bewußtsein der Bauern zäher halten als bei den Arbeitern" und daß die dagegen gerichtete Propaganda oft grobschlächtig und wenig wirksam ist 8 . Aber die publizierten Ergebnisse der bisher kaum systematisch und selten mit dem Willen zu objektiver Erfassung durchgeführten sowjetischen Untersuchungen reichen 3 Vlasova/Gorelov, Nr. 1502 (aufgezeichnet i m Jahr 1955); s. auch ebenda, Nr. 870. 4 Vgl. Schiller: Gemeinschaftsformen, S. 33. 5 Den Führern informeller Gruppen w i r d i n der sowjetischen Fachliteratur i n jüngster Zeit wieder Interesse gewidmet, ζ. B. von Ν. S. Zerebova: T i p y liderov neformal'nych grupp, i n : Problemy fìlosoffi, S. 49—52. Doch dürfte es noch geraume Weile dauern, bis darüber, w e n n überhaupt, ergiebige e m p i r i sche Informationen veröffentlicht werden. 6 R. P. Platonov: Dejatel'nost' p a r t i j n y c h organizacii po f o r m i r o v a n i j u ateisticeskich vzgljadov krest'jan, i n : Izmenenija, M i n s k 1965, S. 38, 41.

Einführung

nicht aus, u m sich ein umfassendes und genaues B i l d zu machen 7 . Zudem gibt es i n der Sowjetunion eine Vielfalt von Religionen und Konfessionen, manchmal — etwa bei den islamischen Völkern, wo die Religion noch recht stark verankert zu sein scheint 8 — eng m i t den nationalen Traditionen und Gefühlen verflochten, so daß das, was sich überhaupt dazu sagen läßt, Gegenstand besonderer und sehr umfangreicher Forschungen sein müßte. Das gilt vor allem für das i m Bereich der russischen Orthodoxie sehr lebendige und auf dem Land stark verbreitete Sektenwesen, das seiner Natur nach i m Schrifttum schwer zu erfassen ist und das doch, laut Sucharev, ein besonders schwieriges Problem i m Kampf gegen die Religion darstellt 9 . Da also nur die durch die politische Macht oder i n deren Auftrag bestallten Führungskräfte berücksichtigt werden können, verzichtet der Verfasser auf die Verwendung des Begriffs „Elite", auch i n einer einschränkenden Form wie etwa „Machtelite", die wiederum nur einen Teil der Führungskräfte umfassen würde. Der Begriff Elite w i r d zwar i n den meisten einschlägigen Publikationen der politischen Wissenschaft und Soziologie wertneutral verwendet, ist aber i m allgemeineren deutschen Sprachgebrauch m i t einem positiv wertenden Beiklang verbunden, den der Verfasser hier vermeiden möchte. Auch der Begriff „Klasse" w i r d hier bewußt nicht gebraucht, weder i n der Marxschen, noch i n einer anderen Bedeutung, w e i l das Sozialgefüge i n der Sowjetunion noch nicht so verfestigt ist, daß man diesen Begriff sinnvoll darauf anwenden könnte. Besonders auf dem Lande sind für die nächsten Jahre noch starke Umschichtungen zu erwarten, denn infolge der Altersstruktur und Landflucht werden große Bevölkerungsteile ausscheiden, und die Zahl der qualifizierten Kräfte w i r d relativ wie absolut stark steigen müssen, w i l l man die Produktion steigern. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß bis heute das soziale und i n Führungs-, zum Teil geradezu Herrschaftsstellung manifestierte Gefälle zwischen einer kleinen Minderheit und der großen Masse der Bevölkerung 7 Bisher das westliche Standardwerk ist Walter Kolarz: Die Religionen i n der Sowjetunion (Religion i n the Soviet Union, London 1961, dt.), Freiburg/ Basel/Wien 1963, 540 S. Über ländliche Verhältnisse s. auch Dunn & Dunn: The Peasants, S. 94—110. — E r w ä h n t seien der 1967 i n Moskau erschienene Sammelband Konkretnye issledovanija sovremennych religioznych verovanij, sow i e der Versuch einer Zusammenfassung des über Religiosität der sowjetischen Landbevölkerung publizierten sowjetischen Materials bei Ostrovskij, S. 271—290, u n d folgende sowjetischen Veröffentlichungen bzw. Äußerungen jüngster Zeit: Stroitel'stvo, M i n s k 1966, S. 184—196, 196—205; M. A. Babiö, S. A. Podokëin: Preodolenie religioznych p e r e z i t k o v . . . , i n : Vnutriklassovye, S. 31—35; Kolchoz — skola, S. 275—284; Arutjunjan: Social'naja struktura, S. 59 f. 8 Ostrovskij, S. 288, 290. 9 Sucharev , S. 103; s. auch Ethel and Stephen Dunn: Religion as an I n s t r u ment of Culture Change: The Problem of the Sects i n the Soviet Union, i n : Slavic Review, X X I I I / 3 (Sept. 1964), S. 459—478.

16

Einführung

(bei nur dünner Mittelschicht) i n sowjetischen Dörfern ungewöhnlich stark ist und i n manchen Zügen an die Gutswirtschaft des 19. Jahrhunderts (mit einem i m fernen Moskau lebenden Eigentümer) erinnert. Daher w i r d i n einem allgemeineren, nicht auf exakte deflatorische Aussage Anspruch erhebenden Sinne i m folgenden gelegentlich auch von Ober-, M i t t e l - und Unterschicht gesprochen. Solche Einstufung bezieht sich aber nur auf den dörflichen Rahmen — Teile der dörflichen Oberschicht wären i n gesamtsowjetischem, auch die Städte einbeziehendem Rahmen der Mittelschicht zuzurechnen usw. Die Frage der Schichtung der sowjetischen Dorfbevölkerung i m ganzen hofft der Verfasser demnächst an anderer Stelle ausführlich erörtern zu können. Wenn hier von Dorfbevölkerung gesprochen wird, so ist damit die Einwohnerschaft jener nicht-städtischen Siedlungen gemeint, die von agrarischer Produktion geprägt sind, also zum Beispiel nicht der sog. Datschen-Siedlungen oder Kurorte oder nicht-städtischen kleinen Außenstellen des Transportsystems 10 . Der Verfasser ist sich bewußt, daß Begriffe wie „Stadt", „Land", „Dorf" sich einer genauen — außer der rein administrativen — Definition entziehen und insbesondere i n verschiedenartigen Kulturkreisen die Frage nach der Abgrenzung jeweils neu zu stellen und nicht nach einem einheitlichen Schema zu beantworten ist 1 1 . Er macht sich hier die i m sowjetischen Schrifttum, i n Anlehnung an die administrative Einteilung, angewandte Definition zu eigen: „ E i n Dorf ist der Typ einer Siedlung, deren Bevölkerung vorwiegend i n der Landwirtschaft tätig ist 1 2 ." I m Falle der Sowjetunion war eine Abgrenzung bis etwa 1940 relativ leicht: „Land" und „Landwirtschaft" deckten sich weitgehend. Aber seitdem ist die nicht-landwirtschaftliche, jedoch auch nicht-städtische Bevölkerung dieses Staates rapide und bedeutungsvoll gewachsen 13 . I n der vorliegenden Arbeit w i r d versucht, dem gelegentlich Rechnung zu tragen, indem eine geschätzte Zahl nicht-landwirtschaftlicher Führungskräfte administrativ ländlicher, aber nicht-agrarischer Siedlungen i n Abzug gebracht wird. I n der Sowjetunion beginnt man sich, wie der Verfasser 1967 i n einem Gespräch i m Wirtschaftsinstitut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR feststellen konnte, i n jüngster Zeit des Unterschieds zwischen Landbevölkerung und landwirtschaftlicher Bevölkerung bewußt zu werden, aber i n der bisher veröffentlichten sowjetischen Fachliteratur w i r d das noch nicht oder nur i n schwachen Ansätzen 10

Z u r administrativen Abgrenzung s. Meckelein: Wandlungen i m ländlichen u n d städtischen Siedlungsbild der Sowjetunion, i n : Bilanz, S. 26. 11 So auch Kerblay: Tendances, S. 615. 12 Deniskina, S. 36. 13 Vgl. G. Ipsen: Arbeitskraft u n d Arbeitsvermögen, i n : Osteuropa-Handbuch, S. 57; Wädekin: L a n d w . Bevölkerung, S. 46.

Einführung

berücksichtigt. Es ist auch nur schwer möglich, denn i n der sowjetischen Statistik werden diese Unterschiede nicht erfaßt 14 . Deshalb ist dem westlichen Beobachter nur der unzulängliche Versuch der Heraussonderung „echter", d. h. weit überwiegend agrarisch geprägter Dorfbevölkerung auf Grund von Schätzungen möglich, keine genaue Abgrenzung. I m folgenden w i r d aber als Teil des Bildes auch der „echten" Sowjetdörfer von heute vorausgesetzt, daß ein gewisser Teil ihrer Einwohner nicht-agrarisch tätig ist, sei es i m gleichen Dorf, sei es außerhalb. Z u m Teil sind das ja Beschäftigte i n Handel und Dienstleistungen, die hauptsächlich der Agrarbevölkerung dienen, und unter ihnen befinden sich auch Führungskräfte, die unbedingt zum sozialen Organismus der Dörfer gehören, insbesondere die Vorsitzenden der Dorf sowjets, die Lehrer und Ärzte. Solange dieser Teil der Dorfbevölkerung nicht mehr als etwa ein Viertel bis ein D r i t t e l der Erwerbstätigen ausmacht, w i r d er vom Verfasser als Wesensteil „echter" sowjetischer Dörfer betrachtet. I n diesem Sinne werden i m folgenden die Begriffe Landbevölkerung (Einwohner aller administrativ nicht-städtischen Siedlungen), Dorfbevölkerung (Einwohner aller i m genannten Sinne „echten" Dörfer) und Agrarbevölkerung oder auch landwirtschaftliche Bevölkerung (in der Landwirtschaft Beschäftigte und deren abhängige Zugehörige) unterschieden. Begriffe wie Kolchoz (Kollektivgut) und Sovchoz (Staatsgut) werden als bekannt vorausgesetzt 15 . Die Mitglieder von Kolchozen (einschließlich nicht erwerbstätige Zugehörige) werden i n Übernahme des neu-russischen Worts als Kolchozniki (Einzahl: Kolchoznik, weiblich: Kolchoznica) bezeichnet, nicht als „Kolchozbauern", da dieses Wort für den deutschen Leser Assoziationen enthält, die auf sowjetische Verhältnisse nicht passen; dem entspricht es, daß von Sowjetrussen, wenn sie einen deutschen Bauern (außer Kleinstbauern) meinen, oft das deutsche Wort „Bauer" als Fremdwort verwendet w i r d anstatt der alten russischen Bezeichnung krest'janin. Ein Wort ist nötig zur Verwendung der sowjetrussischen Belletristik als Quelle. Bei den castuski (Einzahl: castuska), diesen i n unendlicher Zahl ständig neu aus dem unmittelbaren Leben entstehenden anonymen Singversen der russischen Landbevölkerung 1 6 , leuchtet die Verwendung als Quelle für politisch-soziale Sachverhalte ohne weiteres ein. Aber auch hinsichtlich der eigentlichen Belletristik ist sich die große Mehrheit der Ostforscher heute darüber einig, daß diese Quelle, sachkundig und nicht nur durch Herausgreifen vereinzelter Werke benutzt, großen Wert be14

Vgl. T. I. Zaslavskaja: Nekotorye, S. 172. Vgl. die nähere Beschreibung bei Schiller: Agrarsystem, S. 25—54, 63 ff., 80 ff.; über die A r t e n sonstiger staatlicher Agrarbetriebe s. Wädekin: Expansion, S. 2 f. 18 Über Wesen u n d F o r m der öastuski s. Vlasova/Gorelov, S. 5—27. 15

2 Wädekin

18

Einführung

sitzt und viele Informationen bietet, welche die sowjetische wissenschaftliche Literatur nicht enthält 1 7 . Die künstlerische und politische Absicht, verbunden m i t Schulung i n marxistischem Denken, läßt den sowjetischen Schriftsteller i n der Regel typische Erscheinungen herausgreifen, die, wenn nicht für das ganze Land, so doch für einen erheblichen Teil charakteristisch sind. Auch sowjetische Autoren und K r i t i k e r sehen das so, betrachten die Schöne Literatur als „sehr zuverlässige Quelle sozial-psychologischer Information" 1 8 . Sowjetische Soziologen sind sich bewußt, daß „ i n jener Periode, als ihre Wissenschaft sich i n der Lage eines Aschenputtels befand, die Sozialschriftsteller, vor allem die Autoren literarischer Skizzen, erfolgreich die Funktion gewissenhafter Erforscher der sowjetischen Gesellschaft ausübten" 19 . Selbst wenn man sich bei der Erörterung des sowjetischen Agrarsystems auf den Teilaspekt der Führungskräfte beschränkt, ist die Fragestellung komplex genug. Letztlich läuft sie darauf hinaus, warum alle Anstrengungen und Investitionen der letzten Jahre einen so geringen Nutzeffekt gebracht haben, daß die sowjetischen Erzeugerpreise zu den höchsten der Welt gehören — trotz der großbetrieblichen Formen höher als selbst i n der Bundesrepublik 2 0 — und daß die Agrarerzeugung zwischen 1958 und 1965 nicht schneller zunahm als die Gesamtbevölkerung 21 , obwohl der ungestillte Bedarf und die noch geringe Produktivität eine Steigerung als relativ leicht erreichbar erscheinen lassen. Soweit es die landwirtschaftlichen Führungskräfte betrifft, muß man aus dieser Sachlage folgern, daß es entweder nicht genug von ihnen gab, oder daß sie ihren Aufgaben nicht gewachsen waren, oder daß die Bedingungen, unter denen und das System, i n dem sie arbeiteten, ihnen keine Möglichkeit zu besserer Leistung gaben 22 . I m Blick auf die Neulandgebiete Kazachstans und Sibiriens schrieb Cerniöenko: „Die Mißernte [von 1963] ist nicht nur durch die Naturelemente verursacht, sie ist auch ein Produkt dessen, daß der Verstand und Willen einer ganzen Armee diplomierter Spezialisten gelähmt wurden 2 3 ." Das steht i n deutlichem Gegensatz zu den simplifizierenden Äußerungen der Chruscev-Zeit, als »man das System und die Agrarpolitik reinwusch, indem man die Rückständigkeit der Kolchoze „ i n den meisten Fällen" auf „geringe Qualifikation und Interesselosig17

Vgl. bezüglich des Landlebens Nove: Paysans; McAuley; Hingley; Zekulin. Lakêin, S. 241. Kantorovic, S. 169. 20 Vgl. Ν. M. Jasny: Production Costs and Prices i n Soviet Agriculture, i n : Karcz , ed., S. 216 ff. 21 Vgl. die Netto- w i e die Bruttoproduktion bei R. E. Neetz: Inside the A g r i c u l t u r a l Index of the U.S.S.R., i n : New Directions, S. 493. 22 Die A u s w i r k u n g des Vorrangs politischer vor ökonomischen Zwecken i n der F ü h r u n g sowjetischer Agrarbetriebe wurde jüngst besonders prägnant hervorgehoben von Laird: Observations, passim. 23 Cernicenko: Strelka, S. 46. 18 19

Einführung

19

keit" der Betriebsleitungen sowie auf „schwache organisatorische Arbeit" der örtlichen Partei- und Staatsorgane zurückführte 2 3 3 . Die vorliegende Arbeit w i r d zeigen, daß alle drei Ursachen zusammengewirkt haben. I n manchen Tätigkeitsbereichen der nicht-landwirtschaf t lichen Führungskräfte i n Dörfern ist die sowjetische Leistung i m ganzen besser, vor allem i m Bereich des Schulwesens. Eine Feststellung kausaler Verknüpfung ist stets auch ein Urteil, und vor jedem Urteil muß die Kenntnis der Tatsachen stehen. Dieser elementaren Forderung gerecht zu werden ist besonders schwierig für den, der sich m i t Sowjetfragen befaßt, denn er weiß i m wesentlichen nur das, was durch den Filter sowjetischer Publikationen gegangen ist. Diese aber beschränkten sich bis vor kurzem fast nur auf propagandistische Schilderungen und Willenserklärungen, gaben nicht wieder, was tatsächlich ist, sondern was nach sowjetischer Auffassung sein sollte bzw. i n Zukunft sein soll. Ein Beispiel dafür, wie mangelnde Kenntnis der Grundprobleme und -tatsachen sowjetischer Landwirtschaft auch bei einem kritisch eingestellten, scharf analysierenden westlichen Autor zu bestechend wirkenden, aber i n manchem anfechtbaren Schlüssen führen kann, ist die Darstellung der Agrarpolitik unter Chruscev bei S. I. Ploss, der sich i m wesentlichen nur auf politische Dokumente stützt 2 4 . Auch eigener Augenschein an Ort und Stelle hat i n der Sowjetunion von heute nur sehr begrenzten Wert, noch vermindert durch die geringe Auswahl der Beobachtungsmöglichkeiten infolge der Reisevorschriften für westliche Besucher. Hinzu kommt, daß nur i n seltenen Fällen ein sowjetischer Gesprächspartner offen sagt, was er weiß und denkt, und selbst wenn er es tut, kann man von i h m nur einen Ausschnitt aus dem Ganzen erhalten, das infolge der offiziellen Informationspolitik auch von den Sowjetbürgern nur sehr wenige zu überschauen vermögen. Was ein Moskauer berichtet, mag i m wesentlichen für diese Stadt zutreffen, kann aber für eine andere Großstadt der Sowjetunion und erst recht natürlich für eine entlegene mittelgroße Stadt ganz falsch sein. Entsprechendes gilt für den Gesichtskreis der Angehörigen verschiedener Berufs- und Sozialgruppen. Zur Informationsfeindlichkeit des Systems kommt die Größe und Vielfalt des Landes. Wenn, wie der Verfasser selbst, ein westlicher Besucher Agrarbetriebe bei Moskau und Leningrad, i m Gebiet von Krasnodar, bei Kiew und i n der südwestlichen Ukraine, i n Georgien, bei Taschkent, bei Samarkand und Alma-Ata besichtigt hat, so besitzt er immer noch sehr unzulängliche Maßstäbe, u m sich von der Lage durch23a

So u. a. Pavlov: Razvitie, S. 154; s. auch unten, S. 157. Sidney I. Ploss: Conflict and Decision-Making i n Soviet Russia, Princeton, New Jersey, 1965, 312 S.; s. dazu die Rezensionen von J. F. Karcz, i n : Problems of Communism, X I V / 3 ( M a i - J u n i 1965), S. 34—36, u n d von N. Nimitz, i n : A g r i cultural History, Bd. 38—39, Nr. 1 (Jan. 1966), S. 67. 24

2*

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schnittlicher Betriebe der gleichen Gebiete oder etwa von den Kolchozen i n Estland, Belorußland, an der mittleren Wolga oder i n Westsibirien und den Neulandgebieten Kazachstans ein B i l d zu machen. Unter solchen Umständen kann der direkte Augenschein nur dann brauchbare Aufschlüsse geben, wenn er gepaart ist m i t ausgedehnter Kenntnis der — ebenfalls begrenzten — Informationen, die sich aus sowjetischen Publikationen schöpfen lassen, und auch der Besonderheiten der jeweiligen Landesteile, i n denen solcher Augenschein möglich ist. Für die Mehrzahl der westlichen Reise- und Erfahrungsberichte über die Sowjetunion sind diese Voraussetzungen nicht gegeben. Die Elementarforderung der Tatsachenkenntnis und die Erschwerungen, die i m Falle der Sowjetunion ihrer Erfüllung i m Wege stehen, machen es zur vorrangigen Aufgabe jeder wissenschaftlichen Arbeit auf dem Gebiet der Sowjetkunde, ein ausreichendes Fundament an Informationen zu schaffen So mühselig es ist, die Informationen zu sammeln, so schwierig ist es auch, sie zu einem der — i n den Quellen oft bewußt verschleierten — Wirklichkeit entsprechenden Gesamtbild zu ordnen, indem Wichtiges von Unwichtigem, Allgemeingültiges von Speziellem, Propagandistisches von Faktischem gesondert und dann i n den Gesamtrahmen eingeordnet oder beiseite gelassen wird. Die i m Spiegel sowjetischer Publikationen mehr oder weniger stark verzerrte Wirklichkeit muß wieder entzerrt werden. Induktive und deduktive Methode müssen dabei i n ständigem Wechsel zusammenwirken, die Einzelergebnisse sind an anderen, zu denen eine Beziehung besteht, und an ihrem Bezug zum Gesamtbild zu prüfen. Damit gewinnt dieser Teil der Sowjetkunde einen Umfang und eine Bedeutung, die dem fremd sind, der gewohnt ist, politische, soziale und wirtschaftliche Probleme westlicher Industriestaaten zu untersuchen. Und nicht zuletzt ist es schon beim Errichten des Tatsachenfundaments hier i n besonders hohem Maße notwendig, die „erkenntnisverfälschende Wirkung" des eigenen „Vitalengagements" (Theodor Geiger), dessen sich der Verfasser durchaus bewußt ist, nach Menschenmöglichkeit auszuschalten. Eine politische Wissenschaft, wie sie als Fach i m Westen verstanden wird, gibt es i n der Sowjetunion faktisch nicht, obwohl dort eine Vereinigung für politische Wissenschaft existiert. I n Gesprächen hat der Verfasser immer wieder erlebt, daß Sowjetbürger, auch akademisch tätige, nicht verstanden, was m i t „politischer Wissenschaft" gemeint ist, und erstaunt waren, wenn man ihnen sagte, daß es auch i n ihrem Land eine Vereinigung für politische Wissenschaft gebe. Sie identifizierten dieses Fach meist m i t der Lehre des Marxismus-Leninismus, nicht ganz zu Unrecht, soweit es ihr Land betrifft, denn diese Lehre ist eminent und erklärtermaßen politisch und stellt i n ihrem auf die praktische Führung des Klassenkampfes, auf die Weltrevolution und den „Aufbau des Kom-

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munismus" gerichteten Teil das dar, was politische Wissenschaft i n kommunistischem Verständnis nur sein kann. Zur Analyse der realen Verhältnisse innerhalb der Sowjetunion ist das politische Schrifttum des Marxismus-Leninismus aber wenig ergiebig, denn es ist i n Auswahl und Wertung der Tatsachen eng an den ideologischen Bezugsrahmen gebunden. Soweit dieses Schrifttum sich m i t der praktischen Tätigkeit der Partei und des Staates i m hier interessierenden dörflichen und landwirtschaftlichen Bereich befaßt, vermittelt es jedoch teilweise auch echte I n formationen und wurde insoweit i n der vorliegenden Arbeit herangezogen. Aber es handelt sich nicht u m eine speziell abgegrenzte Fachliteratur für politische Wissenschaft. Wesentlich ergiebiger ist das, was i n der Sowjetunion zu Fragen der sozialen Entwicklung veröffentlicht wird, wenigstens i n jüngerer Zeit, zumal es sich dank der überragenden Bedeutung politischer Gesichtspunkte i n allen das öffentliche Leben betreffenden Fragen u m eine „engagierte" Soziologie und damit oft um eine recht eigentliche politische Soziologie handelt. Die i n marxistisch-leninistischem Verständnis unlösliche Verbindung von Wirtschaft, Politik und Sozialverhältnissen w i r d auch i m Falle der sowjetischen Landwirtschaft und Dorfbevölkerung schon i m Parteiprogramm (dem gegenwärtig gültigen von 1961) deutlich, dessen zweiter Hauptteil die Überschrift trägt: „Die Aufgaben der Kommunistischen Partei der Sowjetunion beim Aufbau der kommunistischen Gesellschaft", w o r i n wiederum der den Agrarverhältnissen gewidmete Teil „Die Entwicklung der Landwirtschaft und der gesellschaftlichen Beziehungen auf dem Lande" genannt w i r d und m i t den Sätzen beginnt: „Eine unerläßliche Voraussetzung der Errichtung des Kommunismus ist neben einer mächtigen Industrie der Aufbau einer blühenden, allseitig entwickelten und hochproduktiven Landwirtschaft. Die Partei [ . . . h a t . . . ] zwei eng miteinander verknüpfte Kardinalaufgaben zu lösen: a) einen Überfluß an hochwertigen Nahrungsmitteln für die Bevölkerung und an Rohstoffen für die Industrie herbeizuführen; b) den allmählichen Übergang des sowjetischen Dorfes zu kommunistischen Gesellschaftsbeziehungen zu sichern und die Unterschiede zwischen Stadt und Land i m wesentlichen aufzuheben 25 ." Die enge Verflechtung der Wirtschafts- m i t der Sozialpolitik und dem politischen Endziel ist hier für den Agrarsektor programmatisch fixiert, und es entspricht dieser Sicht, daß i n den der Organisation des Staates und den unmittelbaren Aufgaben der Partei gewidmeten Abschnitten des Programms die ländlichen Verhältnisse nicht mehr eigens apostrophiert 25

Deutsch nach Meissner: Parteiprogramm, S. 196.

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werden. Das ist auch durchaus folgerichtig i m Sinne der marxistischen Auffassung von den sog. Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als der Basis des gesamten Sozialorganismus einschließlich seiner politischen Organisation. A u f dem Lande hat diese theoretische Grundeinstellung eine für das Sowjetsystem charakteristische Verwirklichung gefunden: Der Staat und seine Verwaltung sind als solche i m Sowjetdorf nur rudimentär vorhanden, die Kommunalverwaltung ist weitgehend vom Betrieb aufgesogen. Betriebe (Kolchoz oder Sovchoz), Wohngemeinde (Dorf bzw. mehrere Dörfer zusammen) und eigentlich politische Organisation (die Partei und die von ihr dirigierten sog. Massenorganisationen) fallen i m wesentlichen zusammen. Eine öffentliche Verwaltung i m engeren Wortsinn ist zwar i n Form der Dorfsowjets (Dorfräte) vorhanden, aber diese sind — wenigstens bis Ende der Ära Chruscev — neben den Betriebsleitungen und Betriebs-Parteiorganisationen bedeutungslos geworden 28 . Darin weicht das dörfliche Leben der Sowjetunion vom städtischen ab, denn i n den Städten besitzt die Kommunalverwaltung i n der Form der Stadtsowjets und ihrer Verwaltungsstellen eine gewisse Bedeutung und Eigenständigkeit. Die Gemeinde als sozialer Organismus ist i n den Städten von den Betrieben und ihren Belegschaften unterschieden, auch die Partei hat hier ihre Organisationen einerseits nach Betriebsbelegschaften, andererseits nach Stadtbezirken. I n der theoretischen Konstruktion zwar besteht solche Unterscheidung auch auf dem Lande, i n der Praxis aber haben die Agrarbetriebe auch Kommunalfunktionen, und die Partei hat i n der Regel nur eine örtliche Organisation, die Betriebsbelegschaft und Wohngemeinde zugleich erfaßt. Der Staat und seine Verwaltung (zu unterscheiden von der KommunalVerwaltung, die i m sowjetischen Rätesystem aber i m Grunde ein Teil des Staatsapparates ist) sind i m wesentlichen nur durch die Organe des übergeordneten Bezirks-Vollzugskomitees (rajispolkom) repräsentiert sowie durch die örtlichen Dienststellen von Fachministerien auf Bezirksebene, vor allem natürlich des Landwirtschaftsministeriums und der speziellen Verwaltung für die Sovchoze, die ihrerseits (gegenwärtig) ein Ressort des Landwirtschaftsministeriums bildet. Als Beispiel weiterer staatlicher Instanzen sind das Volksbildungsministerium der jeweiligen Unionsrepubliken m i t seiner Bezirks-Schulverwaltung zu nennen, die i n den Dörfern für die Schulen zuständig ist, und das Innenministerium der jeweiligen Unionsrepublik, dem die Landpolizei untersteht. Unter diesen Umständen ist es wenig sinnvoll, eine staatliche oder kommunale Sphäre i n den Dörfern gesondert darstellen zu wollen. Man hätte es nur m i t Rudimenten bzw. m i t übergeordneten Bezirksdienst26 D a r i n weicht der Verfasser ab von der Einschätzung auch der Betriebe m i t mehreren Dörfern bei Dunn & Dunn: The Peasants, S. 40.

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stellen zu t u n und m i t einzelnen Sachbereichen (Polizei, Gesundheitswesen, Schule, ein Teil der Kultureinrichtungen u. ä.). Ein wichtiges Charakteristikum, die Aufsaugung des öffentlichen Lebens der Dörfer durch die Agrarbetriebe, würde dadurch verwischt, insbesondere i m Blick auf die dörflichen Führungskräfte und ihre Rolle. Diese sind ja vornehmlich i m Rahmen des Betriebs und seiner Parteiorganisation zusammengefaßt und erst i n zweiter Linie als Repräsentanten eigener Institutionen des Staates, der Partei oder der Betriebe zu sehen. Sie gliedern sich mehr i n berufliche und funktionelle als i n institutionelle Gruppen. Aus diesen Gründen sind i m folgenden einerseits die wichtigsten beruflichen Gruppen (Zweiter Teil) jede für sich dargestellt, andererseits (Erster Teil, Kap. I I I und IV) zwei übergreifende Kreise von Führungskräften, die sich gegenseitig und m i t den Berufsgruppen sozial und funktional durchdringen: Die Parteimitglieder und die Intelligenzschicht (Intelligenzia). Eine weitere Besonderheit der sowjetischen Dörfer ist i n der vorliegenden Arbeit behandelt worden, weil nur auf ihrem Hintergrund die Stellung und Funktion der Führungskräfte voll verstanden werden kann. Es handelt sich darum, daß der größte Teil der Agrarbevölkerung von den einfachen Kolchozniki gebildet wird, die nicht nur sozial und funktional als Gruppe zu definieren, sondern auch rechtlich als minderberechtigter Stand zu bezeichnen sind. Für die Landarbeiter der staatlichen Agrarbetriebe (Sovchoze u. a.) gilt das nicht. Die Kolchozniki aber sind nicht Vollbürger des Sowjetstaates, und wenn ihre Diskriminierung auch allmählich abgebaut wird, besonders i n den letzten vier Jahren, so war ihre sie benachteiligende Sonderstellung doch i n der Ära Chrusöev noch das hervorstechendste Merkmal des Dorflebens. I m Verhältnis dazu besaßen die Führungskräfte eine Machtposition und genossen Privilegien, die sie stärker von den Kolchozniki abhoben als i n den Städten, den nichtagrarischen Betrieben und den staatlichen Agrarbetrieben ihre Kollegen von den Arbeitern. Diese Eigenart des Dorflebens herauszuarbeiten war u m so notwendiger, als i m Westen selbst Fachleute darüber meist nur ungenaue Vorstellungen haben. Die Minderberechtigung der Kolchozbevölkerung ist der einzige Fall, i n welchem das Sowjetsystem soziale Diskriminierung und politische Macht i m Verhältnis zu einer großen sozialen Gruppe, die sogar als „Klasse" gilt, durch Rechtsakte und Rechtscharakter tragende administrative Regelungen fixiert hat, obwohl diese Tatsache nach außen bis heute weitgehend und früher völlig vertuscht worden ist. Sonst w i r d die Fiktion der Freiheit und Gleichberechtigung aller Sowjetbürger v o l l aufrechterhalten, und die realen Führungs- und Machtverhältnisse sind nur indirekt zu erschließen, vor allem durch Analyse der Funktionen und sozialen Stellung der Führungskräfte.

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Die Erweiterung und inhaltliche Verlagerung publizierter sowjetischer Quellen der jüngsten Zeit zu sozial relevanten Erscheinungen kam nicht von ungefähr. Unter den Problemen der sowjetischen Landwirtschaft und Agrarbevölkerung der Nachkriegszeit sind die des Arbeitspotentials, i n quantitativer ebenso wie i n qualitativer Hinsicht, immer mehr i n den Vordergrund gerückt. „Der Schlüssel zum Morgen liegt nicht i m Mineraldünger-Programm, sondern i n der Einstellung der Bauern 2 7 ." Diesem Urteil eines der besten westlichen Kenner der Materie entspricht es weitgehend, wenn sowjetische Autoren sagen: „Einem Aufschwung der Agrarproduktion liegen i n erster Linie sozial-ökonomische Faktoren zugrunde 2 8 ." Aber gerade über solche Faktoren der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit war und ist zu wenig bekannt. Über das Arbeitskräftepotential der sowjetischen Landwirtschaft wurde i m Westen i m Jahr 1965 eine gründliche Arbeit publiziert 2 9 , die zwar noch nicht das letzte Wort zu dieser Frage darstellt, aber doch einen gültigen Rahmen abgesteckt und gezeigt hat, wie komplex das Problem ist und wie unergiebig die Angaben der sowjetischen Statistik dazu sind, wenn man sie i n der dargebotenen Form übernimmt. Über die Führungskräfte i n der Agrarbevölkerung gibt es i m Westen keine umfassende Studie 3 0 . Für unsere Kenntnis der Führungsprobleme der sowjetischen Landwirtschaft, insbesondere auch des Verhältnisses der Agrarbetriebe zu übergeordneten Partei- und Staatsinstanzen, sind bezüglich der hier zu behandelnden Ära Chruscev vor allem von A. Nove wertvolle und wichtige Beiträge geleistet worden, die aber doch nur erste Schritte i n dieser Materie darstellen 31 . Eine solche Darstellung ist auch erst i n den letzten anderthalb Jahrzehnten bedeutungsvoll geworden, da es zuvor i n sowjetischen Dörfern nur verschwindend wenige fachlich qualifizierte Kräfte gab — dafür allerdings einen aufgeblähten Verwaltungs- und Kontrollapparat auf unterster Ebene, ohne echte Funktion — und die Führung meist von einfachen Dorfbewohnern ausgeübt wurde, die man unter politischen Gesichtspunkten i n solche Stellungen brachte und die unter detaillierten Weisungen der Bezirksinstanzen wenig eigene Initiative entfalteten 32 . 27

Kerblay: The Russian Peasant, i n : Soviet Affairs, No. 4, S. 19. M. Osad'ko , I. Kozodoev , N. Chessin, i n : Sz 24.10.1967, S. 3. 29 Nimitz : F a r m Employment; s. auch jüngst De Pauw. 30 Vgl. die Kürze der einschlägigen Abschnitte i n den drei Standardwerken der Nachkriegszeit: Jasny: Socialized, S. 331—334; Schiller: Agrarsystem, S. 50 f., 75 f., 78; Volin, S. 30—35. N u r die Zeit bis zum Kriegsende behandeln G. Bienstock, S. M. Schwarz, A. Yugow: Management i n Russian I n d u s t r y and Agriculture, Ithaca, Ν . Y., 1948. 31 s. u. a. Alee Nove: Incentives for Peasants and Administrators, i n : Laird, ed., S. 51—68; ders.: Some Thoughts on Soviet A g r i c u l t u r a l Administration, i n : Lair d! Crowley, ed., S. 1—12; ders.: Peasants and Officiais, i n : Karcz, ed., S. 57— 72. 32 Vgl. Volin, S. 23 f., 31 f. 28

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Zudem war die Fluktuation beim Führungspersonal abnorm hoch 33 . Erst die Bemühungen u m echte Modernisierung der Landwirtschaft bei gleichzeitiger Verschmelzung i n immer größere Betriebseinheiten haben die Rolle der Führungskräfte zu einem aktuellen Thema gemacht. Wie viele und welche Führungskräfte gibt es i n den sowjetischen Dörfern? Unter welchen Bedingungen arbeiten und leben sie? Was verdienen sie, und i n welcher Richtung w i r k t der Anreiz ihres Arbeitsverdienstes? Welche Rolle spielen sie funktional und sozial wirklich? Welche Leistung ist künftig von ihnen zu erwarten? — Die A n t w o r t auf solche konkreten Fragen ist einer der wichtigsten Maßstäbe zur Beurteilung dessen, was i n der sowjetischen Landwirtschaft i n ihrem gegenwärtigen Übergang von extensiver zu intensiver Produktionsweise vor sich geht. Dieser Übergang muß ja durch Menschen und m i t Menschen bewirkt werden, und die Impulse i m örtlichen, dörflichen Rahmen müssen von den Fachund Führungskräften ausgehen, die i m Rahmen einer i n ihrer großen Mehrheit nicht auf moderne Produktionsmethoden vorbereiteten Agrarbevölkerung zu wirken haben. 2. Zum soziologischen Schrifttum der Sowjetunion I n der Sowjetunion hat man die sozial-ökonomische Realität lang ignorieren zu können geglaubt. Man hatte ja i m Marxismus-Leninismus die einzig richtige Lehre von der sozialen Entwicklung der Menschheit, nach ihr handelnd konnte man nicht fehlgehen. Ob die soziale Wirklichkeit dieser Lehre entsprach, interessierte nicht, denn i m Falle der NichtÜbereinstimmung hatte sich die Wirklichkeit nach der Lehre zu richten bzw. mußte ihr entsprechend umgestaltet werden. Solange das Land i n der agrarischen Überbevölkerung ein schier unerschöpflich scheinendes Reservoir an Menschen und Arbeitskräften besaß, konnte Wirtschaftspolitik auch m i t solcher Einstellung gemacht werden, freilich auf Kosten des Lebensstandards. Aber die Menschenverluste des Zweiten Weltkriegs und seiner unmittelbaren Folgeerscheinungen (Deportationen, Hungersnot, Guerilla-Kämpfe i n einigen Westgebieten), die Landflucht und die steigenden Anforderungen an Qualität und Intensität der Arbeit infolge der Industrialisierung des Landes änderten die Voraussetzungen schon zu Lebzeiten Stalins. Höchstwahrscheinlich ist das auch i n der Sowjetunion von manchen erkannt worden, aber es durfte nicht offen gesagt werden. Die damalige Situation der Philosophie i m allgemeinen und der Sozialwissenschaften (die i n der Sowjetunion als Teil der Philosophie gelten) i m besonderen ist später von einem sowjetischen Autor m i t einer Schärfe gekennzeichnet worden, die westlichen Urteilen kaum nachsteht: 33

Jasny: Socialized, S. 334.

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„Die Lebensregungen der Philosophie wie der ganzen Sozialwissenschaft überhaupt waren geprägt von der Atmosphäre des Persönlichkeitskults [Stalins]. Unter Verhältnissen, i n denen das Hecht auf schöpferische wissenschaftliche Tätigkeit auf diesem Gebiet als das Vorrecht nur eines einzigen Menschen galt, blieb den übrigen, sonstigen, nur das Recht auf Kommentare, Popularisierung und — Begeisterung. Die Arbeitsform der Masse der Philosophen war damals die kabinettsmäßige Entwicklung der Theorie auf der Grundlage der Analyse allgemeiner philosophischer Kategorien oder der Werke der Klassiker des Marxismus-Leninismus, und die Hauptmethode des Aufbaus der Wissenschaft war die formale Logik m i t ihren Regeln der deduktiven Ableitungen und der Widerspruchsfreiheit der Urteile. Die konkrete Erforschung der Wirklichkeit aber konnte i n gewissem Sinne sogar ein riskantes Unterfangen sein, da sie zu Folgerungen zu führen drohte, die sich von denen unterschieden, welche aus dem Munde der keinen Widerspruch duldenden Autorität kamen 3 4 ." Doch auch nach Stalins Tod änderte sich i n den sowjetischen Sozialwissenschaften zunächst nicht viel. Obwohl Alarmzeichen schon zu erkennen waren, zum Beispiel der stark verzögerte und nur kurzfristige Anstieg der Geburtenquoten nach Kriegsende 85 , scheinen erst die Ergebnisse der Volkszählung von 1959 die Verantwortlichen zur vollen A n erkennung der Realitäten veranlaßt zu haben. Daß auch danach die Bevölkerungsentwicklung — i m ganzen wie i n der Aufteilung auf Stadt und Land — wider die Erwartungen verlief, die dem Sieben-Jahr-Plan zugrunde gelegen hatten 3 6 , dürfte konkreten sozial wissenschaftlichen Untersuchungen endgültig Bahn gebrochen haben, wenngleich das Versäumte sich nicht in wenigen Jahren nachholen ließ 3 7 . Die sowjetische Datierung des Neubeginns auf 195637 gilt nur für erste, zögernde Ansätze. I n den eingeweihten Kreisen wußte man nun, was erst Jahre später i n voller Offenheit ausgesprochen werden konnte: „Wenn w i r nicht wollen, daß die gesellschaftlichen Gesetze [d. h. die soziale Entwicklung] elementar zutage treten, müssen w i r die realen Prozesse i n unserer Gesellschaft konkret untersuchen 38 ." Und ebenfalls erst 1966 wurde gesagt: „Die Par34

V. GruHn, i n : L i t . gazeta, 25. 9.1965, S. 1. Vgl. G. Ipsen, a.a.O., S. 27. 36 Wädekin: Verstädterung, S. 2; M. Ja. Sonin: A k t u a l ' n y e problemy ispol'zo v a n i ja rabocej sily ν SSSR, Moskau 1965, S. 121 ; T. I. Zaslavskaja: Nekotorye, S. 150 f.; s. auch die Bemerkung über „sehr einschneidende Beschlüsse", die „ d a n n i n wesentliche Widersprüche zur wirklichen Bevölkerungsentwicklung gerieten", bei V. Pok&iSevskij: Naselenija mira i buduàòee, i n : N o v y j mir, 1/1966, S. 201. Auch noch 1966 fehlte es an fundierten demographischen Prognosen für die Planung der Volkswirtschaft, s. Belousova/Stesenko, S. 82; s. auch Jagodkin, S. 149. 37 Vgl. Ahlberg: Entwicklungsprobleme, S. 137 f. 38 V. Subkin, i n : Pravda, 13. 3.1966, S. 3. 35

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tei bringt jetzt die Lage wieder i n Ordnung, die i n den zurückliegenden Jahren entstanden ist, als die Prozesse der sozialen Entwicklung i m Grunde nicht geplant wurden 3 9 ." Für die sowjetischen Gelehrten geht es heute i n hohem Grade darum, überhaupt erst ein ädaquates B i l d von der sozialen Wirklichkeit zu gewinnen, denn „der Mangel an konkretsoziologischem Material erlaubt es nicht, m i t ausreichender Vollständigkeit eine Theorie der sozialen Verschiebungen auszuarbeiten" 40 . „ I n unserer Literatur sind die Fragen der eigentlich gesellschaftlichen Verhältnisse, das heißt der Beziehungen zwischen den Klassen, den sozialen und nationalen Gruppen und den Familien- und Lebensgruppen ungenügend bearbeitet worden 4 1 ." Die i n den 1920er Jahren stark entfalteten empirischen oder empirisch fundierten Arbeiten zur Agrarsoziologie waren i m folgenden Jahrzehnt eingestellt worden 4 2 . Nach dem Jahr 1960 begannen sich entsprechende Publikationen sprunghaft zu mehren 4 3 . Studien über Arbeitskräfteprobleme, seit 1933 unterbrochen, wurden wieder aufgenommen 44 . Erste Marksteine i n solchem Schrifttum waren für den Bereich der ländlichen Verhältnisse der von Siskin herausgegebene Sammelband über Arbeitskräfteprobleme 45 , der auch Beiträge speziell über die landwirtschaftlichen Aspekte enthielt, und das Buch von Paschaver über Arbeitskräftebilanzen der Kolchoze 46 . 1960 wurde erstmalig seit dem Kriege wieder einer Untersuchung über Arbeits- und Freizeit der Kolchozniki durchgeführt 4 7 . Ende der 1950er Jahre erschienen erstmals wieder Studien über Familienbudgets 48 . Man geht wohl nicht fehl i n der Annahme, daß von den drängenden Arbeitskräfteproblemen her — insbesondere von den noch 1964 „äußerst ungenügend" untersuchten der Kolchoze 49 — der Hauptanstoß zu den eigentlich soziologischen Forschungen und Publikationen gekommen ist, die sich um die gleiche Zeit entfalteten. Aber alles das blieb bis etwa 1964 noch zahlenmäßig begrenzt und inhaltlich eng an die Kriterien der 39

V. Semenov, i n : Radio Moskau, 31. 5.1966,16.30 h MEZ. F. R. Filippov: Srednjaja §kola k a k faktor social'noj mobirnosti, i n : Izmenenie, Sverdlovsk 1965, S. 101. 41 V. Semenov, laut Konferenzbericht Godunskaja, S. 135. 42 Aurtjunjan: Iz opyta, S. 69. 43 Zvorykin, S. 553, 560 f.; s. auch Ahlberg: Entwicklungsprobleme, S. 144. 44 Über die Entwicklung dieser Forschungsrichtung s. Feshbach: Manpower i n the U.S.S.R., i n : New Directions, S. 709—712; s. auch Ostrovskij, S. 11. 45 Trudovye resursy SSSR, pod. red. Ν. I. Siëkina , Moskau 1961,246 S. 46 Paschaver: Balans trudovych resursov kolchozov, K i e v 1961, 364 S. 47 L. Bibik: Opyt obsledovanija bjudzeta vremeni kolchoznikov, i n : T r u d i zarabotnaja piata, I V (1961), 6, S. 51. — Über den hohen Leistungsstand heutiger sowjetischer Zeitbudgetforschungen s. Ahlberg, a.a.O., S. 173. 48 Bornyöeva, S. 261. 49 Smelev, S. 3. 40

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Ideologie gebunden 50 , erst dann hat es diesen Rahmen gesprengt. Plötzlich wurde die Soziologie geradezu eine Modewissenschaft, die an Popularität sogar die etwas früher rehabilitierte Kybernetik übertraf, obwohl es noch keinen einzigen Lehrstuhl für Soziologie gab 5 1 . Diese Entwicklung ist schon von anderer Seite dargestellt worden 5 2 . Wie weit sie gediehen ist und wie sie sich wenigstens teilweise aus den ideologischen Klammern gelöst hat, läßt neben den neueren sowjetischen Dissertationen 53 die von der Volgin-Bibliothek für Gesellschaftswissenschaften bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegebene Bibliographie sowjetischer Neuerscheinungen 54 erkennen: I n ihrem Jahrgang 1966 nahm die Zahl der aufgeführten soziologischen Arbeiten stark zu, die thematische Gliederung wurde laufend verfeinert. A b Heft 3/1967 sprengte man sogar das Prokrustesbett des Oberbegriffs für das alles, indem man diesen nicht mehr nur „Klassen und Klassenkampf" nannte, sondern auf „Soziale Struktur der Gesellschaft. Klassen und Klassenkampf" erweiterte. Auch die Zunahme der Zahl speziell agrarsozialen Fragen gewidmeter Publikationen t r i t t i n den Jahrgängen 1965 bis 1967 der genannten Bibliographie deutlich hervor, wenngleich — wie noch 1966 moniert wurde — zunächst das Dorf „oft außerhalb der Grenzen der zahlreichen soziologischen Untersuchungen" blieb 5 5 . A u f diesem Gebiet ist zweifellos mehr als je zuvor gearbeitet und publiziert worden, aber für ein geschlossenes Gesamtbild reicht das schon quantitativ noch nicht aus 56 . Auch qualitativ können die sowjetischen Arbeiten nur als Material zum Gewinnen eines eigenen Bildes dienen. Ein Teil der Forschungen w i r d von Organen der Partei für Zwecke der „ideologischen Arbeit" betrieben 5 7 . Und was die statistischen Behörden der Wissenschaft zur Verfügung stellen, geht noch nicht weit über die Lage hinaus, die ein Statistiker i n Kazachstan kurz nach Chruscevs Absetzung m i t den Worten umriß: „Überhaupt führen die statistischen Behörden auf dem Gebiet sozialer Forschungen praktisch keinerlei Arbeiten durch. Mehr noch: 50 E i n Beispiel dafür bietet Kugel': Zakonomernosti, der aber selbst schon bemerkte (S. 6), daß soziologische Fragestellungen zu wenig beachtet wurden. 51 I. Kon: Celovek i ego rabota, i n : N o v y j mir, 9/1967, S. 274; Kantorovic, S. 148. 52 Ahlberg: Entwicklungsprobleme, S. 111—178; Hollander: Dilemmas; Jadov: Aktual'nye. 53 Über diese Ovsjannikov, S. 131 f. 54 No va j a sovetskaja literatura po filosofii (Akademija nauk SSSR, Fundam e n t a l s j a biblioteka obscestvennych nauk im. V. P. Volgina) (erscheint monatlich, hektographiert). 55 G. Karpov, A. Kuklin (u. a.), i n : Sovetskaja kul'tura, 23. 6.1966, S. 2. 56 So auch A. A. Amvrosov i m Konferenzbericht Kravcenko/Faddeev, S. 153, u n d Ostrovskij, S. 6, der auch einen Überblick über die wichigsten einschlägigen Buchveröffentlichungen gibt. 57 Fiëevskij, S. 57 f.

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Aus irgendwelchen Gründen verbieten sie den örtlichen Planungs- und anderen Wirtschaftsbehörden, solche Forschunigen durchzuführen 58 ." Selten sind die Zahlen und Angaben einschlägiger sowjetischer Publikationen wirklich repräsentativ 59 , „nicht immer werden die wissenschaftlichen Regeln der Auswahl und Bearbeitung der Materialien beachtet" 60 , und es herrscht eine „Tendenz zur Auswahl fortgeschrittener Betriebe" 6 1 . Das gilt schon für die Handhabung publizierter statistischer Zahlen 6 2 und erst recht für die A r t , wie soziologische Untersuchungen angelegt und durchgeführt werden, wobei aus Mangel an Fachleuten der Jugendverband Komsomol eine maßgebliche Rolle spielt 6 3 . „ M a n muß sagen, daß die Zahl der soziologischen Untersuchungen, i n denen die Folgerungen und Verallgemeinerungen sich organisch aus der Analyse empirischer Daten ergeben, bei uns noch überaus klein ist 6 4 ." Vor allem können die sowjetischen Soziologen sich nicht völlig vom marxistischen Klassenschema lösen, das über die kapitalistische Welt zur Zeit von K a r l Marx manches Wesentliche und seinerzeit Neue ausgesagt hat, das aber nur m i t gekünstelten Hilfskonstruktionen auf die Sowjetunion von heute angewandt werden kann 6 5 . Eine der Auswirkungen davon ist die Situation i n der sowjetischen Agrarsoziologie, die einer ihrer führenden und i n mancher Hinsicht eine rühmliche Ausnahme darstellenden Vertreter m i t den Worten charakterisierte: „Die philosophischen, ökonomischen und historischen Arbeiten über das Dorf leiden an einigen gemeinsamen Mängeln, die hauptsächlich durch das nicht konkrete Herangehen an die zu untersuchenden Erscheinungen hervorgerufen sind 6 6 ." Der Verfasser hat bereits an anderer Stelle dargelegt 67 , wie die sowjetischen Soziologen sich i n neuerer Zeit u m theoretische Grundlagen ihrer Arbeit bemühen, die sich m i t der marxistisch-leninistischen Lehre vereinbaren lassen und doch auch der sozialen Realität ihres Landes besser gerecht werden. Dabei w i r d auch deutlich, welche Grenzen einer empirischen wissenschaftlichen Soziologie i m Sowjetsystem noch gezogen sind, 58

I. Omarov, i n : Izvestija, 14.11.1964, S. 3. Vgl. die K r i t i k bei Arutjunjan: Konkretno-social'noe, S. 176 f., u n d i n der Rezension von V. Af anas' ev, i n : N o v y j m i r , 10/1968, S. 271, 274. 60 Starovskij, S. 23; s. auch Fisevskij, S. 59. 61 Arutjunjan: Opyt, S. 30 f. 62 Vgl. das angeführte Beispiel bei Wädekin: Landw. Bevölkerung, S. 56, Fußnote 63. 63 Vgl. die recht kritische Bestandsaufnahme des Leningrader Soziologen V. A. Jadov: Aktual'nye, passim, sowie ders.: Otvetstvennost', i n : L i t . gazeta, 12.11.1966, S. 2. 64 Ovsjannikov, S. 132. 65 Vgl. hierzu Meissner: Der soziale Strukturwandel, S. 106 ff. 86 Arutjunjan: Social'naja struktura, S. 51. 67 Wädekin: Sozialstruktur, 59

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zu welchen Gedankenkonstruktionen teilweise gegriffen wird, und daß die Einordnung vor allem der Intelligenzschicht und der Kolchozbevölkerung die größten Schwierigkeiten bereitet. Auch i n der Sowjetunion ist heute „allgemein bekannt, daß eine völlig durchgearbeitete und straffe Theorie der Sozialstruktur [ . . . ] noch nicht geschaffen ist", nicht zuletzt infolge der Unterdrückung der sozialen Thematik seit den 1930er Jahren 6 8 . Über die Probleme der ländlichen Sozialstruktur, besonders ihrer fortschreitenden Differenzierung 69 , hieß es i n einem Bericht über die erste große Konferenz sowjetischer Soziologen 70 , die Anfang 1965 i n Minsk stattfand: „ A u f diese Weise (und das wurde i n den Ausführungen mehrerer Teilnehmer betont) geht bei uns eine Komplizierung der Struktur der Landbevölkerung vor sich, insbesondere sind vielgestaltige Prozesse der Differenzierung, des Wandels der quantitativen Proportionen zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen usw. festzustellen. Das erfordert, auf neue Weise an das Studium der Beziehungen zwischen den Klassen und innerhalb der Klassen auf dem Lande heranzugehen. Es ist notwendig, durch größtmögliche Entfaltung konkreter soziologischer Untersuchungen, so unterstrich Ju. V. Arutjunjan,,allseitig die gesellschaftlichen Gruppen innerhalb der Klassen zu charakterisieren [...]'. Einige der Teilnehmer lenkten die Aufmerksamkeit auf ernste Probleme, die damit zusammenhängen, daß die heute vorgefundene Sozialstruktur der Bauernschaft und der Landarbeiterklasse hinter den Erfodernissen einer modernen Agrarproduktion zurückbleibt. F. N. Rekunov (Sverdlovsk) hob i n seinen Thesen hervor, daß die wesentlichen Unterschiede i m Niveau der technischen Austattung der Arbeit und der Bezahlung der Arbeit i n Industrie und Landwirtschaft und auch der Unterschied i n den Bedingungen der K u l t u r und Lebensweise ein ,elementares Abfließen der Bevölkerung vom Land i n die Stadt hervorbringen, das über den Rahmen der wirklichen Notwendigkeit einer Umverteilung der Arbeitskräfte hinausgeht 4 . Eine solche übermäßige Migration deformiert bis zu einem gewissen Grade die Entwicklung der Sozialstruktur des Dorfes 71 ." 68

Aurtjunjan: Opyt, S. 34. Vgl. hierzu B. Kerblay: The Russian Peasant, i n : Soviet Affairs, No. 4, S. 14 f. 70 Angeblich sind die Beiträge dieser Konferenz auf der es (laut Arutjunjan: Opyt, S. 32) eine spezielle Sektion f ü r Agrarsoziologie gab, drei Jahre später i n den beiden Bänden Problemy izmenenija . . . u n d K l a s s y . . . (s. Bibliographie) veröffentlicht worden (so G. Glezerman, S. 36). Aber sowohl die Tatsache, daß die Bände nicht als Konferenzpublikation kenntlich gemacht sind, als auch die lange Verzögerung des Erscheinens u n d — vor allem — i h r recht geschlossener Charakter (im Gegensatz zum Eindruck aus dem Konferenzbericht Kravcenko/Faddeev) sprechen dafür, daß es sich u m eine Auswahlausgabe nachträglich stark redigierter Beiträge handelt. 71 Kravëenko/Faddeev t S. 151. 69

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Es w i r d noch einige Zeit dauern, bis eine umfangreiche sowjetische Literatur über solche Fragen vorliegt, und es ist noch nicht sicher, daß i n ihr Objektivität der Präsentation und Interpretation das Übergewicht über die Schemata und Tabus der Ideologie haben wird. Aber Anfänge, wie sie noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen wären, sind immerhin gemacht, man hat die Probleme der Agrarsoziologie als besonders brennend anerkannt 7 2 . Bemerkenswert ist, zum Beispiel, wie der Präsident der sowjetischen Vereinigung für politische Wissenschaft versuchte, bei grundsätzlicher Anerkennung der ideologischen Postulate doch der Realität gerecht zu werden, indem er erklärte: „Obwohl dem Sozialismus als solchem, seiner Natur, seinem Wesen und auch den einzelnen ihrer Natur nach sozialistischen Erscheinungen und Prozesse antagonistische [Klassen-] Widersprüche fremd sind, kann es nichtsdestoweniger unter den Bedingungen der sozialistischen Gesellschaft solche Widersprüche geben und gibt es sie auch wirklich 7 3 ." Noch weiter ging bei der gleichen Gelegenheit — der Erörterung über ein maßgebliches neues Kollektivwerk über den „Aufbau des Kommunismus und die gesellschaftlichen Verhältnisse" i n der UdSSR — Frau E. I. Cernjak: „Hier [in dem Kollektivwerk] läuft die Überlegung darauf hinaus, daß die ,Muttermale' [der kapitalistischen Gesellschaftsordnung] sich von der alten, bürgerlichen Welt herüberziehen und keinerlei Beziehung zum Wesen des Sozialismus haben. Man fragt sich dabei: Wie lange noch werden denn diese Male uns anhaften? Offensichtlich gibt es ,alte', aber auch ,neue' Male, die man vielleicht i m [Voll-]Kommunismus einmal Überbleibsel des Sozialismus nennen wird. Bringt denn die Unausgereiftheit der ersten Phase des Kommunismus [d. h. des Sozialismus als Übergangsstadium] nicht Erscheinungen hervor, die an die alten ,Muttermale' erinnern? Dieses Problem bedarf tiefschürfender Untersuchung. Die Autoren haben es i n diesem Falle eilig gehabt mit der kategorischen Schlußfolgerung, daß die Nichtanerkennung ihres Standpunkts zu schädlichen politischen Resultaten führt und die Sowjetmenschen i n ihrem Kampf gegen Mängel entwaffnet. Es ist an der Zeit, daß die Wissenschaft hier ein gewichtigeres, mit Argumenten versehenes Wort spricht 7 4 ." Vielleicht hat die Sozialpsychologie, die inzwischen i n der Sowjetunion ebenfalls wieder Heimatrecht erhielt 7 5 , einen gewissen Einfluß auf die 72

Aurtjunjan: Opyt, S. 32. Diskussionsbeitrag von E. V. Tadevosjan i m Bericht Godunskaja, S. 135. 74 Ebenda, S. 134. 75 1966 fand i n Moskau die erste große Konferenz aller auf diesem Gebiet arbeitenden sowjetischen Gelehrten statt, s. A. M. Agal'cev: Naucnaja chronica, i n : V F 2/1967, S. 163, i m Januar 1968 i n Leningrad eine Tagung („Seminar") 73

32

Einführung

folgenden Überlegungen über das Verhalten von Betriebsleitern i n der UdSSR gehabt; sie wurden i m Zusammenhang m i t der Einführung des neuen „Systems der Stimulierung" (der Arbeit und der Betriebsleitungen i m Rahmen der Wirtschaftsreformen) angestellt : „Das [die Einführung] ist ein sehr komplizierter Prozeß. U n d sieht sich der Gelehrte und Forscher nicht vor die Frage gestellt, ob nicht neben dem von uns ausgearbeiteten und i n der Einführung befindlichen System noch irgendein anderes existiert, das von niemand ausgearbeitet worden ist, aber dennoch eine Realität darstellt? [ . . . ] der lebendige, nicht künstlich ausgedachte Wirtschaftsführer urteilt und handelt, wie Untersuchungen zeigen, nach einem besonderen, gemischten System der Stimulierung und Orientierung. W i r haben gelernt, von jedem Vorkommen solcher »Mischung' als von einem Fehler der betreffenden Person zu sprechen. Die Erscheinung w i r d als zufällig betrachtet. Das enthebt uns der Notwendigkeit, nach ihren Ursachen zu suchen. Aber u m die Quelle des negativen Faktums zu finden, muß man es m i t anderen, analogen Fakten zusammenhalten und deren Ursache finden, indem man sie auf einen gemeinsamen Nenner bringt. U n d vielleicht gelingt es uns auf solche Weise, zu einer gewissen Gesetzmäßigkeit vorzustoßen, sie zu entdecken 76 ." Es w i r d noch zu zeigen sein, wie sehr ein solches inoffizielles, aber äußerst wirksames System das Verhalten der Leiter von Agrarbetrieben beeinflußt (s. Kap. V). Daß aber ein solches System vom größten Teil der einschlägigen sowjetischen Literatur ignoriert wird, „ w e i l nicht sein kann, was nicht sein darf", macht es u m so notwendiger, sich ein eigenes, auf diese Literatur gestütztes, aber i n der Präsentation nicht weniger als i n der Interpretation von ihr unabhängiges B i l d zu schaffen. Daß volle Unabhängigkeit von den sowjetischen Darstellungen nicht möglich ist, versteht sich von selbst, da andere Quellen notgedrungen eine ganz untergeordnete Rolle spielen. Aber das Bemühen ist nicht deshalb als vergeblich zu betrachten, w e i l es nicht zum absoluten Erfolg führen kann; zumindest nicht, solange kein anderer Weg zu besserem Erfolg sichtbar ist.

über Sozialpsychologie, s. Α. V. Baranov, Α. P. Lyskov: Leningradskij Seminar po social'noj psichologii, i n : V F 8/1968, S. 155—157. — Bemerkenswert ist i n diesem Zusammenhang die H i n w e n d u n g zu dem lange ignorierten Narodnik Michajlovskij bei L. I. Rudakov: Κ voprosu ob ocenke social'no-psichologiceskich vozzrenij Ν . K . Michajlovskogo, i n : Problemy filosofii, S. 46—48. 7β Ν. V. Adfel'dt, i m Bericht Godunskaja, S. 136 f.

ERSTER T E I L

Politisch-soziale Strukturelemente I . Das Erbe Chruscevs 1. Wechsel der Methoden bei Kontinuität des Systems und der Probleme Wie der „Neue Kurs" i n der sowjetischen Agrarpolitik nach Stalins Tod erstmalig Informationen über die Verhältnisse der Stalin-Zeit vor die Öffentlichkeit brachte, die — obgleich immer noch stark gefärbt — zu Lebzeiten des Diktators überhaupt nicht denkbar gewesen wären, so hat die Absetzung Chruscevs m i t der nachfolgenden K r i t i k an seinen Maßnahmen eine noch größere Fülle von Informationen zutage gefördert, die zudem auf einer wesentlich höheren Stufe der Wirklichkeitsnahe lagen als das, was nach Stalins Tod bekanntgegeben worden war. „ I m allgemeinen muß man warten, bis der Erste Parteisekretär gestorben oder abgesetzt ist, u m zu erfahren, was sich i n der Zeit ereignet hat, während der er an der Macht war 1 ." Darum ist die Regierungszeit Chruscevs der Abschnitt der sowjetischen Entwicklung, über den w i r die relativ vollständigsten Informationen besitzen, ganz besonders für den Agrarsektor. Über die seither verflossenen vier Jahre ist weniger und, vor allem, weniger Kritisches bekannt. Außerdem sind die Dinge i n diesem neuen Abschnitt der sowjetischen Agrargeschichte noch zu sehr i m Fluß, als daß man sich bereits ein gesichertes B i l d davon machen könnte. Aber sie sind doch weitgehend durch die Ausgangssituation bestimmt, die m i t der A b setzung Chruscevs gegeben war. Aus diesen Gründen beschränkt sich die Thematik der vorliegenden Arbeit auf die Regierungszeit Chruscevs, wobei deren zweitem Teil, den Jahren 1958—1964, das Hauptaugenmerk gewidmet wird. Es w i r d noch geraume Zeit dauern, bis eine sinnvolle Einschätzung der gegenwärtigen Situation i n der sowjetischen Landwirtschaft und Agrarbevölkerung ohne Zurückgehen auf die Situation zu Beginn unseres Jahrzehnts möglich ist. 1

Kerblay:

3 Wädekin

Avancées, S. 505.

34

I. Das Erbe Chruscevs

Der Oktober 1964, i n dem Chruscev abgesetzt wurde, bedeutet einen tiefen Einschnitt i n der sowjetischen Agrarpolitik, wenn es auch übertrieben wäre, von einer grundsätzlichen Wende zu sprechen. Daß die Landwirtschaft i n den letzten Regierungsjähren Chruscevs i n Stagnation, sogar Krise geraten war, wurde durch die Mißernte von 1963 und die großen Getreidekäufe i m westlichen Ausland am sichtbarsten akzentuiert. Aber das waren nur Symptome unter mehreren anderen, deren Ursachen weiter zurückreichen und großenteils durch Chruscevs Maßnahmen nicht hervorgerufen, sondern allenfalls verschärft worden waren. Vermutlich kam es den nun an die Macht gelangten Männern recht gelegen, die Schuld an der Situation fast ausschließlich Chruscev i n die Schuhe schieben und so sich selbst entlasten zu können. Zwar wurde die Nennung seines Namens i n der Öffentlichkeit meist vermieden, aber jedermann wußte, was und wer gemeint war, wenn i m Blick auf die Landwirtschaft der letzten Jahre vor 1965 von „groben Fehlern i n Leitungsstil und -methoden" gesprochen wurde, von „ignoranter Einmischung i n die Technologie der Produktion" und „Quacksalberrezepten", verschiedenen „Wunderkulturen", „Wundermethoden", von „häufigen unnötigen Umorganisationen der Organe der Agrarverwaltung, Herabdrücken der Rolle der Spezialisten und Betriebsleiter", und wenn unter solchem „Abenteurertum" und „Aufzwingen von Schablonen" einige der von Chruscev besonders propagierten Maßnahmen des Landbaus aufgezählt wurden 2 . Nur indem man die Schuld allein auf Chruscev und noch einige untergeordnete Funktionäre abschob, war es möglich, nachdem man schwerste Fehler der Agrarpolitik eingestanden hatte, gleich wieder „unerschütterliche Überzeugtheit von der Richtigkeit der Politik der Partei" auf diesem Gebiet zu fordern 3 . I n einer bald nach Chruscevs Absetzung erschienenen Erzählung von V. Tendrjakov sagt ein Kolchozvorsitzender: „Wenn, sagen wir, bei m i r i m Kolchoz der Mais nicht gediehen ist, meinst du, ich laufe dann i n die Bezirksinstanzen und schreie: ,Ihr habt mich gezwungen, Mais zu säen, nun sollt ihr auch die Verantwortung dafür tragen!' Nein, w i r d man m i r sagen:,Schieb die Schuld nicht vom Kranken auf den Gesunden/ Und recht haben sie! Man muß sein Gehirn vorher gebrauchen. Nachträglicher Verstand ist dasselbe wie Dummheit — beide sind gleich wenig wert. Hast du nicht rechtzeitig dein Gehirn zu gebrauchen gewußt, dann trag auch die Verantwortung 4 !" 2 So, m i t besonderer Schärfe, der seinerzeit unter Chruscev abgesetzte u n d nach dessen Sturz wieder eingesetzte Landwirtschaftsminister der UdSSR, Mackevic, S. 4. 3 So der neue Parteichef, L . I . Breznev , i n seiner Rede v o m 24. 3.1965, i n : Plenum (1965), S. 33; s. auch K . T. Mazurov, ebenda, S. 79. 4 Tendrjakov: Podenka, S. 101/102.

1. Wechsel der Methoden bei Kontinuität des Systems und der Probleme

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A u f solche Weise w i r d i n jedem Falle der Grundsatz gewahrt: Die Partei hat immer recht. Aber die gleiche „ L o g i k " läßt sich auch gegen hohe Funktionäre wenden, die unter Chruscev dessen agrarpolitische Weisungen befolgt haben, sei es i m Glauben an deren Richtigkeit, sei es wider besseres Wissen. Nur selten wagen sowjetische Autoren der Zeit nach Chruscevs Absetzung zu sagen, daß es u m mehr geht als die Fehler eines einzelnen Mannes, die er ja nur durch die M i t w i r k u n g anderer und i m Rahmen eines bestimmten Systems i n die Wirklichkeit des riesigen Sowjetreiches umsetzen konnte 5 . I n einer halb literarischen, halb journalistischen Skizze, die sogar auf der Plenarsitzung des Zentralkomitees getadelt wurde 6 , tat G. Radov dar, daß das System selbst m i t seiner Einstellung zu den Menschen jene Führungskräfte hervorgebracht hat, die der sowjetischen Landwirtschaft und Dorfbevölkerung großen materiellen und moralischen Schaden zufügten 7 . Radov läßt keinen Zweifel daran, daß es ihm nicht um einen Einzelfall geht, sondern um grundsätzliche Fragen, er beschränkt sich aber auf die unterste Ebene, die der Kolchoze und — am Rande — der Bezirks-Parteiinstanzen. Doch es fällt nicht schwer, darin eine Parabel auf Chruscev selbst zu sehen, auf seinen Sturz und auch auf die Rolle seiner Gehilfen dabei; nicht nur der Inhalt, auch einige Formulierungen der Skizze legen diese Deutung nahe. Solche Deutung muß freilich Vermutung bleiben. Offen spricht so etwas niemand i n der Sowjetunion aus. Wenn aber die Schuld an der i m Agrarsektor entstandenen Lage nur auf Chruscev einerseits und auf die unteren Glieder der Kette, die Betriebsleiter, andererseits abgewälzt wird, erweckt das Zweifel an einer echten Wandlung des Systems, aus dem die Mißstände erwachsen sind. Denn das heißt doch implizite, daß das System als solches nicht geändert werden soll. Und man fragt sich, warum niemand von denen spricht, die i m Zuge Chruscevscher Agrarpolitik Karriere gemacht haben, zum Beispiel von jenen Kolchozvorsitzenden und Sovchozdirektoren, die sich einst durch Übereifer und Planerfüllung u m jeden Preis hervortaten, dadurch i n Bezirks- und Provinzdienststellen aufstiegen und es ihren Nachfolgern überlassen haben, i m Betrieb m i t dem von ihnen angerichteteten Schaden fertigzuwerden. Oder man denkt an jenen Mann, der sich als verantwortlicher Parteisekretär von Kazachstan in den Jahren 1954—1956, als dort auf Betreiben Chruscevs die große Neulandkampagne durchgeführt wurde, offenbar so bewährte, daß er i m Anschluß daran i n das Spitzengremium der Sowjetführung aufstieg; es ist L. I. Breznev, der heutige Parteichef. 6

Solche Ausnahmen sind, z.B. Cerniëenko: Russkaja, S. 183, 186; V. G. Venzer: Osobennosti kolchoznoj èkonomiki i problemy ee rasvitija, i n : Venzer/ Kvasa (u. a.), S. 267 f., 273 f.; Dem'janenko: Soversenstvovanie, S. 33. 6 1.1. Bodjul, i n : Plenum (1965), S. 212. 7 Georgij Radov: ,Carek' i vremja, i n : L i t . gazeta, 19.12.1964, S. 2. 3*

I. Das Erbe Chruscevs

36

A u f der ersten Plenarsitzung des Zentralkomitees der KPdSU, die nach Chruscevs Sturz unter der neuen Führung zum Thema Landwirtschaft abgehalten wurde, erklärte V. P. Mzavanadze, Erster ParteiSekretär von Georgien und zugleich Mitglied des ZK-Präsidums der Gesamtpartei, dies sei „die erste Plenarsitzung, i n der die Mitglieder des Zentralkomitees der Partei direkt und offen über die Fehler und Mängel sprechen können" 8 . Und sein lettischer Kollege sagte: „Buchstäblich alle i n der Landwirtschaft Tätigen i n jeder Unionsrepublik, jeder Provinz, richtiger: das ganze sowjetische Volk hat ja bitter die Schwere der begangenen Fehler verspürt. Und w i r alle müssen noch viel arbeiten, u m deren Folgen zu überwinden 9 ." Dieses Erbe der Regierungszeit Chruscevs war und ist tatsächlich schwer, ganz unabhängig davon, ob es das Erbe eines einzelnen Mannes, einer Gruppe oder des ganzen Systems ist. Sein schlimmster und am schwersten wieder i n Ordnung zu bringender Teil ist die Auswirkung auf die Menschen i n den Dörfern, denn sie haben das Interesse an der Landwirtschaft verloren. Das hat seinen Ausdruck i n einer Landflucht gewaltigen Ausmaßes gefunden, die vor allem junge, beruflich qualifizierte Menschen erfaßt hat 1 0 , eben jenen Teil der Dorfbevölkerung, der für eine Besserung der Lage dringend gebraucht wird. Wie ernst dieses Problem ist, erhellt aus der Tatsache, daß man das, was Breznev darüber auf der erwähnten Plenarsitzung „direkt und offen" sagte, der Öffentlichkeit vorenthielt 1 1 . Gerade die Landflucht ist aber ein Beispiel für ein wichtiges Phänomen, das man nicht nur der Ä r a Chruscev ankreiden darf. Es hat sie schon unter Stalin gegeben, und soweit es sich bisher feststellen läßt, hat sie auch i n den Jahren seit Chruscevs Absetzung angehalten 12 . Doch erreichte sie i n den Jahren 1959—1964 ein kritisches Stadium, i n dem sie nicht mehr aus agrarischem Bevölkerungsüberschuß gespeist wurde, sondern die Agrarproduktion i n weiten Teilen der Sowjetunion, wenn auch 8

Plenum (1965), S. 88. A. Ja. Pel'Se, ebenda, S. 135. 10 s. hierzu Wädekin: Landw. Bevölkerung, S. 46—52; ders.: Verstädterung, passim. 11 Die Verheimlichung geht aus folgendem Redaktionsfehler bei der — ein halbes Jahr später erfolgten — Veröffentlichung der Reden dieser Plenarsitzung hervor: Ju. V. Achundov, Erster Parteisekretär von Azerbajdzan, erwähnte i n seiner Ansprache, i n Breznevs Rechenschaftsbericht sei „ v i e l über die Migration, über das A b w a n d e r n der Landbevölkerung i n die Städte gesagt worden" (Plenum, 1965, S. 124), u n d ähnliches sagte der Komsomol-Sekretär S. P. Pavlov (ebenda, S. 162), aber i m veröffentlichten Text der Rede Breznevs (ebenda, S. 5—32) findet sich nichts zu diesem Thema. Es ist zudem höchst u n wahrscheinlich, daß Breznev diesem Problem, das sonst auf der Sitzung mehrfach angeschnitten wurde, kein Wort gewidmet haben sollte. 12 Vgl. Wädekin: I n t e r n a l Migration, passim; ders.: Manpower, S. 288 ff. 9

2. Spezifische Züge der Situation dörflicher Führungskräfte

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nicht überall, ernsthaft gefährdete 13 . Noch 1959 hatte man für den Kolchoz-Sektor m i t einer Zunahme der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte um 10 % (neben einer Zunahme i n den Sovchozen) bis zum Jahr 1965 rechnen zu können geglaubt 14 , aber tatsächlich ist trotz starker Ausschöpfung der Reserven nicht v o l l arbeitsfähiger Kräfte bis 1964 eine Verminderung u m ca. 6°/o eingetreten, i m Kolchoz-Sektor allein eine noch stärkere 15 . Natürlich kann Ausfall von Arbeitskräften weitgehend durch Mechanisierung und Rationalisierung der Produktion ausgeglichen werden, insbesondere i n der sowjetischen Landwirtschaft, i n der die niedrige A r beitsproduktivität noch manche Möglichkeit zur Steigerung bietet. Doch für eine Steigerung i n so kurzer Zeit, wie sie durch das Ausmaß der Landflucht notwendig geworden ist, bedarf es nicht nur des Kapitaleinsatzes, sondern auch der Menschen, die m i t modernen landwirtschaftlich Produktionsmitteln umgehen und die Arbeit entsprechend organisieren können. Die einfachen, älteren Menschen i n den Agrarbetrieben, überwiegend Frauen, ein Leben lang an primitiven Arbeitseinsatz und niedrigen Lohn gewöhnt, durch kein privates Gewinnstreben angestachelt, können nicht mehr umlernen. Sie bilden heute die Mehrheit der Landbevölkerung, werden aber infolge der Altersstruktur bald ganz aus dem Produktionsprozeß ausscheiden 18 . Das macht den Bedarf an jungen Menschen, die moderne Fach- und Führungskräfte sein können, um so dringender, bzw. es ist u m so bedenklicher, wenn gerade diese Menschen nicht i n der Landwirtschaft bleiben. Der Verfasser glaubt feststellen zu können 1 7 , daß gegenwärtig i n den sowjetischen Landesteilen nördlich des Schwarzerdegürtels die kritische Schwelle erreicht ist, wo Mangel an Fach- und Führungskräften die geplanten und begonnenen Investitionen i n die Landwirtschaft (insbesondere Bodenmelioration) unwirksam zu machen droht, wenn nicht die Landflucht der jüngeren, qualifizierten Kräfte i n Kürze aufhört. 2. Spezifische Züge der Situation dörflicher Führungskräfte Einige für die Führungskräfte i n sowjetischen Dörfern charakteristische Züge erscheinen dem Verfasser als besonders wichtig, teils weil sie i m Schrifttum bisher wenig beachtet wurden, teils w e i l sie von den Verhältnissen i m städtischen und nicht-agrarischen Bereich des Sowjet13

Wädekin: Landw. Bevölkerung, a.a.O. Vgl. die Zahlen bei Gol'cov, S. 114,116. 15 Vgl. Wädekin: Landw. Bevölkerung, S. 43—45. 16 s. hierzu G. Ipsen: Arbeitskraft u n d Arbeitsvermögen, i n : OsteuropaHandbuch, S. 58 f. 17 Wädekin: Manpower, S. 298 ff. 14

I. Das Erbe C h r u s e v s

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systems abweichen, also von dem, was landläufig als kennzeichnend für diesen Staat und seine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung betrachtet wird. Es handelt sich u m folgende Charakteristika: 1. Große Schwierigkeit bereitet i m Sowjetsystem der Übergang von straffer, richtiger: starrer Befehlsorganisation zu Formen der Menschenund Wirtschaftsführung, die den Erfordernissen der Zeit — und einer Weltmachtstellung — i m Zeichen der Technisierung und Urbanisierung entsprechen. I m Agrarbereich sind diese Schwierigkeiten am größten, weil hier die Organisation und technische Austattung der Produktion und der Lebensstandard der Arbeitskräfte hinter den anderen Bereichen der Sowjetwirtschaft weit zurückgeblieben sind. Das hat auch die Menschen dieses Bereichs geprägt, die Führungskräfte wie die Masse der einfachen Arbeitskräfte: Weder ihre Mentalität noch ihre Einstellung zueinander und zu ihrer Arbeit lassen sich von heute auf morgen ändern. 2. Die Polarisierung zwischen Masse und Führungskräften ist i n sowjetischen Dörfern besonders stark, weil sie unter mehreren Aspekten zugleich hervortritt. Führungskräfte, soziale Oberschicht und politische Kontroll- und Indoktrinierungszelle (Partei) sind hier großenteils identisch. Die funktionale Führungsaufgabe i n der Produktion oder i n den Dienstleistungen und die politische Führung und Kontrolle fallen m i t der ökonomischen Besserstellung i m wesentlichen zusammen. Aber dieser Personenkreis ist auch demographisch charakterisiert, indem er überwiegend aus Männern jüngeren bis mittleren Alters besteht, ausgenommen bei den Ärzten und Lehrern, jedoch besonders ausgeprägt bei den Leitern und mittleren Führungskräften der Agrarbetriebe. Ihnen steht als Masse die einfache Agrarbevölkerung gegenüber, die überwiegend aus Frauen mittleren bis höheren Alters m i t geringer Schul- oder Fachbildung besteht und i n der sich nur sehr wenige Parteimitglieder befinden. Hinzu t r i t t ein räumliches Element der Polarisierung, indem die Führungskräfte überwiegend i n den Zentraldörfern der Kolchoze und Sovchoze leben, während die Außendörfer i m wesentlichen von der einfachen Masse bewohnt sind. 3. Die Zahl der Führungskräfte ist zu gering, ihre berufliche Qualifikation nicht ausreichend, u m die modernen M i t t e l zur Erhöhung der Arbeits- und Flächenproduktivität so einzusetzen, daß nicht nur der Schwund an einfachen Arbeitskräften ausgeglichen, sondern auch die notwendige rasche Produktionssteigerung und Kostensenkung erzielt werden kann. Zumindest gilt das für die 1968 vorliegenden Zahlen, d. h. bis zum Jahr 1966. Auch die umfangreichen Bemühungen, das beruflichfachliche Niveau der breiten Agrarbevölkerung zu heben 18 , müssen — von der Frage der Qualität solcher Schulungen, Kurse, Vorträge und Bro18

s. hierüber Adams: I n f o r m a l Education.

2. Spezifische Züge der Situation dörflicher Führungskräfte

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schüren ganz abgesehen — weitgehend wirkungslos bleiben, weil sie i n einer Masse einfacher, älterer Dorfbewohner nicht auf Aufnahmefähigkeit und -Willigkeit stoßen können, an der jüngeren Generation aber verloren sind, solange diese zum Großteil aus der Landwirtschaft abwandert. 4. Zumindest bis zur Absetzung Chruscevs waren die Fach- und Führungskräfte der Landwirtschaft eng an Weisungen höherer Instanzen gebunden, die zudem oft schematisch und den Interessen der Rationalität und Rentabilität abträglich waren. Auch waren die Fach- und Führungskräfte von der allgemeinen, aus der Stalin-Zeit überkommenen und nur teilweise abgebauten Diskriminierung der Landwirtschaft mitbetroffen, weniger i n ihrer direkten Bezahlung, als i n ihren allgemeinen Lebensbedingungen (Wohnung, zivilisatorisches Niveau der Dörfer, Handel und Dienstleistungen). Arbeits- und Lebensbedingungen zusammen ließen die allgemeine Landflucht bei den Fach- und Führungskräften noch stärker auftreten als bei der Masse der Dorfbevölkerung. Das gilt auch für die nicht i n der Landwirtschaft selbst Tätigen (Ärzte, Lehrer, Handelsangestellte), so daß Personalmangel i m Bereich der Dienstleistungen die zivilisatorische Rückständigkeit der Dörfer und damit die Tendenz zur Landflucht gerade bei denjenigen verstärkte, die ihrer Vorbildung und Funktion nach ein Anrecht auf bessere Lebensbedingungen zu haben glaubten. Es bleibt abzuwarten, ob die tiefgreifende Änderung dieser Verhältnisse gelingt, um die Moskau sich gegenwärtig bemüht. 5. Vor 1953 hatte es verschwindend wenige qualifizierte Führungskräfte i n der Landwirtschaft gegeben. Da seit dem Beginn der forcierten Industrialisierung ständig überwiegend junge und männliche Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft abgezogen worden waren, Zwangskollektivierung und Zweiter Weltkrieg schwere Menschenverluste verursacht hatten, stellte die verbliebene Masse älterer Menschen (vor allem Frauen) kein geeignetes Reservoir für die Heranbildung von Führungskräften dar. Man mußte also Menschen aus den Städten einsetzen und neue Kräfte aus der nachwachsenden Jugend der Dörfer heranzuziehen suchen. Das waren aber zugleich auch besonders mobile Menschengruppen, die der Tendenz zur Landflucht leicht nachgaben, vor allem wenn die Agrarpolitik der Regierung und Partei ihre Arbeit erschwerte. 6. Arbeitsbedingungen und die allgemeine Tendenz zur Landflucht w i r k t e n zusammen dahin, daß vor allem die befähigteren und besser ausgebildeten Führungskräfte — potentielle wie bereits eingesetzte — den Dörfern den Rücken kehrten und die Zurückbleibenden eine negative Auslese darstellten 19 , natürlich nicht alle, aber doch ein bedenklich großer Teil. Ein solcher Ausleseprozeß, einmal i n Gang gekommen, wurde zu einer selbständigen psychischen Triebkraft, die die Wirkung der mate19

I n diesem Sinne auch Kerblay:

Avancées, S. 515.

I. Das Erbe C h r u s e v s

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riellen und organisatorischen Gegebenheiten verstärkte 2 0 . Wer auf dem Land blieb, deklarierte sich selbst als zweitklassig i n den Augen der meisten Menschen seiner Bildungs- und Qualifikationsstufe. Das konnte auch der Masse der Dorfbevölkerung nicht verborgen bleiben und mußte das Verhältnis zwischen ihr und den Führungskräften belasten, denn deren privilegierte Stellung konnte unter solchen Umständen kaum als gerechter Lohn für Leistung empfunden werden. Der Verfasser ist i m folgenden bemüht, diese Sachverhalte herauszuarbeiten, und hat deshalb der personellen und sozialen Zusammensetzung der Führungskräfte, ihren Arbeits- und Lebensbedingungen den größten Raum gewidmet, u m ein konkretes, der sowjetischen Wirklichkeit möglichst nahekommendes B i l d davon zu geben. Die sich daraus ergebende Prognose für die Entwicklung des sowjetischen Agrarsektors ist wenig optimistisch. Insofern unterscheidet sie sich nicht von den neueren Prognosen anderer westlicher Beobachter, aber diese waren entweder auf rein wirtschaftliche Aspekte gegründet und ließen den „Produktionsfaktor Mensch", insbesondere das Problem der dörflichen Führungskräfte weitgehend außer acht, oder aber sie waren (mit Ausnahme der bereits genannten Arbeiten von Kerblay, Nimitz und Nove) diesbezüglich auf einer zu schmalen Quellenbasis aufgebaut. Es bleibt abzuwarten, ob Wandlungen der jüngsten Zeit, die i n sowjetischen Zahlen und seriösen Publikationen noch nicht sichtbar geworden sind 2 1 , Anlaß zu einer Revision der Prognose geben.

20

Vgl. A. Janov, i n : L i t . gazeta, 52/1967, S. 10. Das bis M i t t e 1968 publizierte Material ergibt kein wesentlich gewandeltes Bild, s. Wädekin: Manpower, passim. 21

I I . Der Kolchoznik als Staatsbürger minderen Rechte 1. Diskriminierung des Kolchoz-Sektors im ganzen Unter den i n der sowjetischen Landwirtschaft Beschäftigten gibt es zwei Hauptgruppen: die Kolchozniki und die i n Sovchozen Beschäftigten. Zusammen m i t ihren abhängigen Angehörigen machten sie 1959 ungefähr 95 «/ο der Agrarbevölkerung aus, wobei auf die Kolchozniki oder Kolchozbevölkerung etwa 83 % entfielen 1 . Bis 1964 haben sich die Gewichte verschoben, der Anteil der Sovchoz-Beschäftigten wuchs, die Kolchozniki machten nur noch etwa 75 °/o der Agrarbevölkerung aus 2 , aber auch das berechtigt noch dazu, sich vorwiegend m i t den Kolchozniki als dem Hauptteil der Agrarbevölkerung zu befassen. Dieser Hauptteil nahm eine besondere Stellung ein, sowohl i m Vergleich zur restlichen Agrarbevölkerung als auch gegenüber der gesamten Landbevölkerung und der Sowjetbevölkerung i m ganzen. Der Verfasser hat bereits an anderer Stelle hervorgehoben, daß die Masse der Kolchozbevölkerung „eigentlich nicht an unterster Stelle, sondern unter- und außerhalb der Sowjetgesellschaft steht" 3 . Damit ist gemeint, daß sie nicht nur ihrem Lebensstandard und sozialen Status nach den tiefsten Rang einnahm, sondern i m ganzen Außenseiter der Gesellschaft war und nicht aus vollberechtigten sowjetischen Staatsbürgern bestand. Nach Chruscevs Absetzung sind intensive Bemühungen i n Gang gekommen, diese Situation zu ändern, ohne daß das bisher i n vollem Umfang geschehen wäre. I n der Regierungszeit Chruscevs aber war die Außenseiterrolle unverkennbar gegeben, allerdings i m Vergleich zur Stalin-Zeit bereits etwas abgeschwächt. Jede Betrachtung der politischsozialen Lage und Struktur der sowjetischen Agrar- und Dorfbevölkerung muß von dieser Tatsache ausgehen und sie zunächst klarstellen. Nur i n der Abstraktion hat man zu unterscheiden zwischen Diskriminierung der Kolchoze als Betriebe und der Kolchozbevölkerung. I n der Praxis flöß das i n eins zusammen, w e i l der Kolchoznik an seinen Betrieb gebunden war und seine materielle Existenz vom Betriebserfolg abhing. 1 Ca. 78,4 M i l l . Agrarbevölkerung, davon 65,55 M i l l . Kolchozbevölkerung, s. Wädekin: Landw. Bevölkerung, S. 41; von den Arbeitern u n d Angestellten staatlicher Agrarbetriebe wiederum waren ca. 87 °/o i n Sovchozen beschäftigt, s. Sel. choz., S. 46 f. 2 Absolute Zahlen bei Wädekin: Landw. Bevölkerung, S. 43 (Tab. 1) u n d S. 46. 3 Wädekin: Sozialschichtung, S. 329.

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I I . Der Kolchoznik als Staatsbürger minderen Rechts

Die Kolchoze als Betriebe und, durchaus beabsichtigt, auch die Kolchozn i k i als Bevölkerungsteil hatte man, als unter Stalin die forcierte Industrialisierung des Landes begann und die Zwangskollektivierung durchgeführt wurde, bewußt i n allen ihren wirtschaftlichen Beziehungen zum Staat und zu dessen Organen und Betrieben benachteiligt; auf Kosten der Landwirtschaft sollte das Kapital bereitgestellt werden, das zum Aufbau der Industrie nötig war 4 . Die erzwungene Abschöpfung und die Mangelsituation führten notwendig zu Zwangsmethoden 5 . Die Interessen des Staates wurden m i t denen des industriellen Aufbaus identifiziert und erhielten grundsätzlich den Vorrang vor denen der Kolchoze und ihrer Menschen. Das fand seinen augenfälligsten Ausdruck i n den vom Staat festgesetzten Erzeugerpreisen 6 , aber nicht nur i n ihnen. Als vorübergehende Phase wäre solche Benachteiligung noch verständlich, wenn auch i n dieser Kraßheit nicht moralisch gerechtfertigt und nicht wirtschaftlich weitsichtig gewesen, doch sie entwickelte sich darüber hinaus langfristig zur Grundlage des sowjetischen Wirtschaftssystems und führte zu einer Einstellung der Beteiligten und zu einer Situation, i n der „die einen [die staatlichen Organe] faktisch nur Rechte hatten, die anderen [die Kolchozbevölkerung] nur Pflichten" 7 . Jede Maßnahme und jede Anordnung, mochte sie noch so große Verluste für die Kolchoze nach sich ziehen, war, wenn sie dem Staat zu nützen versprach, eo ipso gerechtfertigt, selbst wenn sie an sich geradezu Nötigung und Betrug, Verletzung der vom Staat selbst geschaffenen Rechtsordnung und seiner Pflichten gegenüber den Untertanen bedeutete. Einem dogmatischen Parteifunktionär legt Stadnjuk für 1963 die Worte i n den Mund: „Bei uns gibt es keinen Unterschied zwischen den Interessen der Kolchozniki und den Interessen des Staates i m allgemeinen. Wenn der Staat das Getreide für irgendwelchen Bedarf wegnimmt, dann liegt die Befriedigung dieses Bedarfs i n gleichem Maße auch i m Interesse der Bauern 8 !" Die Diener dieses Staates gewöhnten sich daran, daß für die Unzulänglichkeiten ihrer Organisationen die Kolchoze zu bezahlen hatten, wobei die Staatsdiener selbst nicht nur ihre eigenen Unzulänglichkeiten verdecken, sondern auch ihre Karriere fördern oder sich sogar persönlich bereichern konnten. Zahlreiche Einzelzüge fügen sich zum Gesamtbild der Benachteiligung der Kolchoze zusammen, und diese Benachteiligung bedeutete Minderung 4 Vgl. u. a. Kerblay: Relations, S. 332—334. — Das w i r d auch von sowjetischen Autoren i m Grunde nicht geleugnet, vgl. Terent'ev, S. 12 f. 5 So neuerdings auch der sowjetische A u t o r Suslov: Ekonomiceskie, S. 207— 209. 6 Vgl. Morris Bornstein: Soviet Price Theory and Policy, in: New Directions, S. 77—80. 7 Dem'janenko: Soversenstvovanie, S. 35; ähnlich Dmitraëko: Vnutrikolchoznye, S. 15. 8 Stadnjuk , 9, S. 24.

1. Diskriminierung des Kolchoz-Sektors i m ganzen

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des Einkommens der Kolchozbevölkerung, das von Gewinn oder Verlust ihrer Betriebe abhängig war (s. unten). Einer der wichtigsten dieser Einzelzüge war das Verhalten der staatlichen Ablieferungs- und Aufkauforganisationen gegenüber ihren Lieferanten, den Kolchozen. Wenn sie nicht genügend Transportmöglichkeiten und Lagerraum oder Aufnahmefähigkeit hatten, mußten die Kolchoze m i t ihren Erzeugnissen eben warten, gleichgültig, ob damit für diese unproduktive Wartezeiten (z. B. der Transportfahrzeuge und Fahrer) oder Verderb ihrer Produkte (z. B. Milch und Obst) oder vermehrte Kosten (z. B. Weiterfüttern von schlachtreifem Vieh) verbunden waren 9 . Das konnte bis zum Betrug gehen, etwa wenn an den Annahmestellen die Meßgeräte nicht i n Ordnung waren — angeblich oder wirklich — und der Feuchtigkeitsgehalt des Getreides höher geschätzt wurde, als er i n Wirklichkeit war 1 0 . Allein für das Jahr 1966 ließ ein sowjetischer Autor den Betrag, u m den die Kolchoze insgesamt bei der Getreideabnahme betrogen wurden, indirekt m i t ungefähr 600 M i l l . Rbl. erkennen 11 . Überhöhte Preisforderungen der staatlichen Reparaturwerkstätten für Landmaschinen 12 gehörten dazu ebenso wie die Bedenkenlosigkeit, m i t der die staatseigenen Landmaschinenfabriken minderwertige Maschinen, Geräte und Ersatzteile lieferten 1 3 . Es lag ja i m Interesse des Staates, der so Geld für minderwertige Erzeugnisse bekam, und außerdem auch i m Interesse der Leiter dieser Industriebetriebe, die dadurch zu Planerfüllung und Prämien kamen. Da die staatlichen Organe und Betriebe i n jeder Hinsicht ein Monopol gegenüber den Kolchozen besaßen, waren diese machtlos. Das konnte so weit gehen, daß der Staat die Kolchoze zwang, Geflügelfarmen, die sie aus eigenen Mitteln aufgebaut hatten, an ihn zu übergeben, indem er ihnen einfach kein Mischfutter mehr zuteilte 1 4 . Geldforderungen der staatlichen Lieferanten buchte die Staatsbank einfach von den Konten der Kolchoze ab, ohne bei den Kolchozen rückzufragen, ob die Forderungen zu Recht bestanden. Unrechtmäßige Abbuchungen später wieder richtigzustellen und das Geld zurückzubekommen, war nur selten möglich 1 5 . Die Kolchoze hatten auch nicht die juristisch geschulten Kräfte, die zur Einreichung von Klagen und zur Prüfung von Vertragstexten nötig gewesen wären, Anwälte oder Notare gab es i n den kleinen Bezirksstädten kaum, und die Arbitrage-Gerichte befaßten sich nicht mit Streitigkeiten zwischen Kolchozen und Staatsbetrieben 16 . 9

Karcz: Soviet Inspectorates, S. 163—168. Chruëcev, I V , S. 310 f. (17.1.1961). I. Serjakov, i n : Trud, 19. 7.1967 ( M u l t i p l i k a t i o n der Summe bei den überprüften Annahmestellen auf deren Gesamtzahl). 12 Za obscety kolchozov — k otvetu, i n : Sz, 21. 5.1967, S. 2. 13 Ju. Kirtbaja, V. Finogenov, i n : Sz 23. 6.1967, S. 3. 14 Schinkel Zwischenbetriebliche, S. 156. 15 M. Golovko, i n : Sz 24. 6.1967, S. 2. 16 Ebenda. 10

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Die Kolchoze selbst aber waren, ungeachtet ihrer imposanten Betriebsgrößen, bei alledem nur Objekte der Agrarpolitik und -Verwaltung und der von außen reglementierten Betriebsführung, nicht Subjekte 1 7 . Nach ihren Rechten fragte niemand. Für die Regelung ihrer inneren Angelegenheiten erließen Staat und Partei zwar nur „Empfehlungen", aber diese galten als verbindliche Rechtsnormen 18 . „ I n der Vergangenheit [vor 1966], besonders i m Zusammenhang mit dem Umsichgreifen administrativer Leitungsmethoden i n der Landwirtschaft, verloren die Kolchoze i n ihren Beziehungen zu den Staatsorganen praktisch immer mehr die juristischen Charakteristika genossenschaftlicher Eigentümer. Durch gewisse Verordnungen, Instruktionen usw. wurden die Rechte der Kolchoze grundlos eingeschränkt. I m übrigen haben sich die Organe der Agrarverwaltung, wenn sie einem Kolchoz vorschrieben, was er wann und wie tun sollte, zuallerletzt darum gekümmert, ob ihre Handlungen i n den Gesetzen eine Grundlage fanden. Die Menschen gewöhnten sich so sehr an eine solche Einstellung zu Kolchoz-Angelegenheiten, daß man ihnen heute unablässig ins Gedächtnis rufen muß: Das Recht der Verfügung über Kolchozbesitz steht allein dem Kolchoz zu 1 9 ." Die Benachteiligung der Kolchoze, die sich infolge der niedrigen Erzeugerpreise vor allem als Mangel an Kapital zur Modernisierung und Lohnzahlung auswirkte, machte sie zu rückständigen Agrarbetrieben, i n denen Größe und Organisationsform i n klaffendem Widerspruch zum wirtschaftlichen Niveau standen und i m Grunde eine überdimensionierte Gutswirtschaft des 19. Jahrhunderts m i t sozialistischem Aushängeschild betrieben wurde. „Der heutige [ca. 1960], zahlreiche Produktionszweige umfassende Kolchoz ist i m Grunde eine ins Gigantische vergrößerte und teilweise mechanisierte Naturalwirtschaft 2 0 ." Von solchen Betrieben konnte man die benötigten Produkte und die Arbeitsleistung ihrer Belegschaft nur durch Zwang, nicht durch den — sie benachteiligenden — ökonomischen Austausch erhalten. Daher war die Beschränkung der Rechte auch des einzelnen Kolchoznik das notwendige Korrelat zur Diskriminierung seines Betriebs. I n dem 1960 erschienenen Büchlein eines sowjetischen Juristen wurde erklärt: „Als Bürger der UdSSR genießt der Kolchoznik alle Rechte und erfüllt alle Pflichten, die i n der Verfassung der UdSSR festgelegt sind. Der Kreis der verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten ist bedeutend 17 18 19 20

Bilinsky: Aktuelle, S. 47, 59. Ebenda, S. 67 f. Skedrov, S. 269. DoroS: Suchoe leto, S. 51.

2. Bindung an die Scholle

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weiter als der der statutenmäßigen [d. h. aus den Statuten der Kolchoze fließenden], wobei i n der großen Mehrheit die statutenmäßigen Rechte und Pflichten m i t den verfassungsmäßigen zusammenfallen 21 ." Es ist hier nicht der Ort, sich m i t den dann folgenden, teilweise ungenauen und widersprüchlichen Darlegungen des sowjetischen Autors auseinanderzusetzen, m i t denen er diese Behauptung zu begründen sucht, zumal er an einigen entscheidenden Punkten nicht ins Detail geht bzw. die sowjetische Wirklichkeit einfach ignoriert. Hier soll vielmehr die entgegengesetzte These vertreten und eingehend begründet werden, daß dem Kolchoznik einige verfassungsmäßige Rechte vorenthalten oder nur zum Teil gewährt wurden, so daß er ein Staatsbürger minderen Rechts war. Faktisch galt für i h n nicht die allgemeine Rechtsordnung, sondern die spezielle des Kolchozstatuts 22 . Dieses aber war nicht nur i n seinem Rahmen — dem sog. Musterstatut — vom Staat vorgeschrieben worden, sondern zumindest bis 1956 auch i n allen seinen angeblich von den Kolchozversammlungen selbst beschlossenen Einzel- und Ausführungsbestimmungen 23 und besaß Gesetzeskraft, obwohl es formell kein Gesetz war 2 4 . Zwar bestand auch für die übrigen Teile der Sowjetgesellschaft eine Diskrepanz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, aber i m Vergleich zu ihnen unterlagen, wie Stadnjuk eingesteht, die Kolchozniki einer besonderen „wirtschaftlichen und rechtlichen Diskriminierung" 2 5 . Wären die Verfassungsrechte auch in den Kolchozstatuten verankert gewesen, so hätten die Gerichte und sonstigen Staatsorgane sie besser schützen können und müssen 26 . Aber das war nicht der Fall.

2. Bindung an die Sdiolle A r t i k e l 123 der sowjetischen Verfassung erklärt: „Die Gleichberechtigung der Bürger der UdSSR auf sämtlichen Gebieten des wirtschaftlichen, staatlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens, unabhängig von ihrer Nationalität und Rasse, ist unverbrüchliches Gesetzt." Ausdrücklich genannt sind i n diesem Grundsatzartikel nur rassische und nationale Gründe möglicher Diskriminierung, nicht aber soziale und wirtschaftliche. Doch bei einem Staatswesen, das seine Form und Existenzberechtigung auf die Lehren des Marxismus gründet, darf angenommen werden, daß soziale und wirtschaftliche Diskriminierung 21 22

G. V. Ivanov: Clenstvo, S. 12.

Z u r rechtlichen Würdigung s. Bilinsky: Aktuelle, passim. Neuere sowjetische L i t e r a t u r zum Mitgliedschaftsrecht bei CharatiSvili, insb. S. 94, Fußn. 1. 23 Beljaeva/Kozyr', S. 84 f. 24 Bilinsky: Aktuelle, S. 67. 25 Stadnjuk, 9, S. 25. 26 M. G. Soloneva, laut Baëmakov : Pravovye voprosy, S. 134.

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von vornherein als unvereinbar mit wirklicher Gleichberechtigung betrachtet w i r d und deshalb nicht besonders erwähnt zu werden braucht. Denn die Aufhebung solcher Benachteiligung — der Ausbeutung und Klassenunterdrückung — ist ja das letzte Ziel der marxistischen oder kommunistischen Lehre. Bei genauerer Prüfung der bestehenden Verhältnisse stellt sich jedoch heraus, daß der Sowjetstaat nicht nur einzelne seiner Bürger — etwa Staatsfeinde, ideologische Gegner und „Diversanten" — diskriminiert hat, sondern eine sehr große Gruppe, die er selbst als „Klasse" definiert 2 7 : die Kolchozbevölkerung. Natürlich ist dieser Sachverhalt nur selten so direkt beim Namen genannt worden, wie i n den oben angeführten Worten des Schriftstellers Stadnjuk, und offiziell wurde er stets völlig geleugnet. Aber er bestand seit der Stalinschen Kollektivierung und war auch unter Chruscev eine Realität. Die Ungleichheit war zwar nicht als solche dem Buchstaben nach fixiert, aber i n einer Reihe rechtsverbindlicher A k t e und administrativer Regelungen. Das markanteste Institut dieser A r t , das es nur für die Kolchozbevölkerung gab, war die faktische Bindung an die Scholle, die freilich nicht so genannt wurde und sich i n anderen Formen realisierte als die frühere, feudalistische. Sie bestand darin, daß der Kolchoznik, wollte er nicht seine Existenz gefährden, weder seinen Arbeitsplatz noch seinen Wohnsitz auf Dauer verlassen konnte, ohne dafür die Genehmigung des Kolchoz — faktisch: der Kolchozleitung — zu haben, und daß er keinen erzwingbaren Anspruch auf die Erteilung dieser Genehmigung hatte 2 8 . Zwar w i r d von sowjetischen Autoren gelegentlich erklärt, er habe die Möglichkeit, aus dem Kolchoz auszutreten, aber dafür bestehen keine verbindlichen Verfahrensregelungen, und meist w i r d auf dieses Recht i m Zusammenhang damit hingewiesen, daß es i n der Praxis verweigert worden ist 2 9 . I m Musterstatut ist nur der Ausschluß vorgesehen. Das Recht auf Austritt auf eigenen Wunsch ist vorläufig noch ein Postulat für ein auszuarbeitendes neues Musterstatut 3 0 und w i r d i n der Praxis nach dem Ermessen der Kolchozleitungen günstigstenfalls auf Grund eines ört27 Über den Gebrauch des Klassenbegriffs i m Sowjetsystem Wädekin: Sozialstruktur, S. 23 f.; s. auch Meissner: Strukturwandel, S. 106, 116 f. Z u r Bezeichnung als „Klasse" s. auch jüngst die „Thesen des Zentralkomitees" zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution, i n : Sz 25. 6.1967, S. 3. 28 Das ist bereits von Maurach, S. 63 f., kurz erwähnt worden, während später Meissner: Strukturwandel, S. 91 f., dies — n u r auf G r u n d der Aussage eines sowjetischen Autors — bestritt, ohne den Gesamtzusammenhang von kolchoz-, arbeits-, verwaltungs- u n d fiskalrechtlichen Bestimmungen zu beachten. Dennoch gebraucht Meissner selbst den Begriff „Zwangsgenossenschaft" (ebenda, S. 88). 29 So z.B. von G. Cubukov, i n : Ekonomiceskaja gazeta, 31/1965 (4.8.1965), S. 30. Die verbreitete Praxis zeigt, daß es nötig ist, das Recht auf A u s t r i t t verfahrensmäßig zu fixieren, erklärte Komsomol-Sekretär V. Duvakin, Sz 22. 7. 1966, S. 3. I m gleichen Sinne CharatiSvili, S. 99 f. 30 So Zabelyëenskij, S. 22.

2. Bindung an die Scholle

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liehen Usus gewährt. Man schlägt nur vor, es künftig dem Recht auf Kündigung eines Arbeitsverhältnisses ähnlich zu machen 31 . Selbst wenn eine Kolchoznica einen Städter heiratet, muß der Kolchoz sie dazu „freigeben" (otpustit') 32 . Ivanov kennt nur drei Gründe für den Austritt, die alle drei mit Aufnahme an einem anderen Arbeitsplatz und/oder Niederlassung an einem anderen Ort verbunden sind 8 3 . Dazu aber brauchte der Kolchoznik die Einwilligung des neuen Betriebs und Wohnorts, es sei denn, eine Frau erwarb diese durch Einheirat. Aber schon ein Kolchoznik, der zu seinen verheirateten Töchtern i n die Stadt übersiedeln wollte, brauchte, um diese Einwilligung zu erlangen, zuerst die Zustimmung seines Kolchozvorsitzenden 34 . Verließ ein Kolchoznik eigenmächtig den Kolchoz, so hatte das seinen Ausschluß zur Folge, der i n seinen Papieren eingetragen wurde — er erhielt ein „Wolfsbillet" 3 5 und war dann weder Kolchoznik noch Arbeiter oder Angestellter, er fiel automatisch i n seinen Stand vor der Kollektivierung zurück, war „Einzelbauer" i n der entsprechend hohen Steuergruppe und m i t dem hohen Ablieferungssoll 36 . M i t anderen Worten: Ohne Zustimmung der Kolchozleitung konnte der Austritt nur auf dem Weg über den Ausschluß erfolgen, der praktisch einer schwerwiegenden Strafandrohung gleichkam. Wenn allerdings die Lage des Kolchoznik so gedrückt war, daß sie sich kaum noch verschlechtern konnte, und wenn er außerdem für keinen Angehörigen zu sorgen hatte (oder das nicht wollte), dann mochte diese Strafandrohung für ihn unerheblich sein. Er konnte hoffen, sich irgendwie i n einer Stadt durchzubringen, mit Gelegenheitsarbeiten, Übernachtungen i n Bahnhöfen und Baracken und unregistrierten Schlafstellen, und dann schließlich irgendwie doch einen festen Arbeitsplatz und eine Wohngenehmigung zu erlangen 37 . Verließ der Kolchoznik ohne Genehmigung seinen Betrieb und Wohnort, so hatte er also entweder Papiere, die ihn diskriminierten, oder gar keine. Einen normalen Personalausweis und ein Arbeitsbuch besaß er i n keinem der beiden Fälle, denn i n Kolchozen wurden keine allgemein31 V. S. Karpik , Ν. V. Storozev: Razvitie kolchoznoj demokratii na sovremennom etape, i n : Izmenenija, M i n s k 1965, S. 29; so auch Jasinskij, S. 91. 32 So der kennzeichnende Wortgebrauch für diesen F a l l bei Antipov, S. 130, u n d i n der castuska bei Vlasova/Gorelov, Nr. 835; der gleiche Wortgebrauch bei Krutilin, S. 489, für einen jungen Kolchoznik, der die Erlaubnis erhält, i m Eisenbahn-Depot zu arbeiten. 33 G. N. Ivanov: Clenstvo, S. 28; s. auch Bilinsky: Aktuelle, S. 34. 34 So bei Kazakov (dt.), S. 307 f. 35 So genannt bei Mozaev: Iz zizni, S. 61. 36 Vgl. ebenda, S. 54, 61 f. 37 Vgl. den F a l l bei Nosov: P j a t y j den', S. 116 u n d 127.

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gültigen Arbeitsbücher geführt 3 8 (Kolchozmitglieder waren ja nicht A r beitnehmer, sondern genossenschaftliche Besitzer des Betriebs), und für Bewohner ländlicher Siedlungen wurden, ähnlich wie für die unfreien Bauern des alten Rußland, keine Personalausweise (Inlandpässe) ausgegeben, außer auf besonderen Antrag; Kolchozdörfer waren und sind „nicht passportisierte" Wohngebiete 39 . Die reale Situation kommt i n dem Gespräch zum Ausdruck, das bei Abramov ein Kolchoznik mit seinem Kolchoz Vorsitzenden führt: „ ,Warum habe ich keinen Personalausweis? Ich bin keine Person, wie? 4 ,Aber du weißt doch, Pavel Ivanovic, du bist doch nicht der einzige. Alle Kolchozniki haben keinen Ausweis. 4 ,Und warum nicht?' ,Weil sie auf dem Lande noch keine Ausweise ausgegeben haben.' ,Und warum?' [..·] ,Den Personalausweis, Genösse Voronicyn, stellen w i r aus, wenn einer den Kolchoz verläßt. Aber du, hoffe ich, willst doch nicht fort?, ,Und wenn ich nun aber will?' [...] ,Gut! Reich dein Gesuch ein. Wenn der Kolchozvorstand dir die Bescheinigung gibt, hau ab, wohin du w i l l t 4 0 . ' " Man könnte die Fragen des Kolchoznik fortsetzen: Und wenn der Kolchozvorstand die Bescheinigung nicht gibt? Die A n t w o r t muß lauten: Dann stellt dir die Behörde keinen Personalausweis aus oder gibt dir ein „Wolfsbillet". Das wirkte sich .aus, wenn der Kolchoznik Arbeit suchte: Betriebsleitungen durften keinen Kolchoznik einstellen 41 , das heißt niemanden, der nicht sowohl einen Personalausweis (außer i n „nicht-passportisierten" Gegenden) als auch ein Arbeitsbuch oder die Bescheinigung eines Kolchoz (s. unten) vorlegte; war ein Bewerber zum erstenmal Arbeitnehmer (Jugendliche von 16 und mehr Jahren oder Kolchozniki), so mußte er, u m ein Arbeitsbuch zu erhalten, eine Bescheinigung der Hausverwaltung 38 Arbeitsbücher f ü r Kolchozniki waren auch Ende 1965 nur ein Vorschlag, keine Realität, s. Kolbasov, S. 98. 39 Vgl. Tovkun, S. 76, 78. — Über das Paßsystem s. Bilinsky: Das innere Ressort, S. 152—157. 40 Abramov, dt., S. 104 f. 41 So direkt gesagt bei Mozaev: Iz zizni, S. 85. — Arbeitsverträge, welche m i t Kolchozniki ohne Zustimmung des Kolchoz abgeschlossen wurden, waren u n gültig, s. Urèinskij, S. 96.

2. Bindung an die Scholle

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oder des Dorf sow jets seines bisherigen Wohnorts vorlegen 42 . Diese Bescheinigung war das zentrale „Papier", i n der Regel dürfte der Dorfsowjet, seiner untergeordneten Rolle gemäß (s. Kap. VII/3), sie nicht gegen den Willen der Kolchozleitung ausgestellt haben. A n einer Stelle heißt es bezüglich der bestehenden Praxis sogar: „Hier hängt alles vom Willen des Kolchozvorsitzenden ab. I n diesem Fall hat der Vorsitzende eine der Funktionen der örtlichen Sowjets i n seine Hände genommen 43 ." Wie sich das auswirken konnte, illustriert Doros am Fall eines Mädchens, das Mathematik studieren, also von ihrem „Recht auf Bildung" (Art. 121 der Verfassung der UdSSR) Gebrauch machen wollte: „ U m [in eine Hochschule] einzutreten, war eine Bescheinigung über ihren Wohnsitz erforderlich, doch der Vorsitzende des Dorfsowjets weigerte sich, ihr eine solche Bescheinigung zu geben. Er sagte: Soll sie ein Papierchen vom Kolchozvorsitzenden beibringen, daß dieser sie für das Studium freigibt. Doch Nikolaj Leonidovic, so sagt das Mädchen, mich schräg anblickend, hat ein solches Papierchen nicht gegeben [...] Den ganzen Abend geht sie m i r nicht aus dem Kopf. Ich mache Nikolaj Leonidovic keinen Vorwurf — er braucht Leute, und ich zweifle auch nicht, daß das Mädchen letzten Endes doch seinen Willen durchsetzt und i n die psysikalisch-mathematische Fakultät eintritt [ . . . ] Aber irgendwie ist da etwas nicht i n Ordnung — der Traum von der Mathematik und das Interesse des Vorsitzenden an Arbeitskräften 4 4 ." I n einem umfangreichen sowjetischen A r t i k e l über Doros's „Ländliches Tagebuch" w i r d diese Episode erwähnt und dabei die treffende Bezeichnung für das „Papierchen" gebraucht: „ ,enthörigende' Bescheinigung" ('otkrepitel'naja spravka) 45 . Wenn aber jemandem, der i m Kolchoz lebte, ein Paß, den er bereits besaß, entzogen wurde, war er wieder an den Kolchoz bzw. dessen Vorsitzenden gebunden 46 . Aus alledem ergibt sich von selbst, daß der Übergang von einem Kolchoz i n einen anderen leichter zu bewerkstelligen war, denn Kolchoze — meist an zusätzlichen Vollarbeitskräften interessiert — waren an die Vorschriften über Arbeitseinstellung nicht gebunden, wer der Aufnahme i m neuen Kolchoz sicher war, brauchte den eventuellen Ausschluß aus 42 Kiselev, S. 70; s. auch Edmund Nash: Recent Changes i n Labor Controls i n the Soviet Union, i n : New Directions, S. 853; eine noch genauere Darstellung bei M. Feshbach: Soviet Statistical, S. 14, wo aber die Frage des Personalausweises unnötig kompliziert gesehen w i r d , da an dessen Stelle i n „nicht passportisierten" Gegenden offensichtlich die Bescheinigung der Hausverwaltung oder des Dorf sowjet? trat. 43 P. Zalnin , i n : L i t . gaz., 6/1968, S. 10. 44 Doroë: Dozd', S. 21 f.; ein ähnlicher F a l l bei Abramov, dt., S. 85. 45 Burtin, S. 84. 46 So bei V. Tendrjakov: KonSina, i n : Moskva, 3/1968, S. 120.

4 Wädekin

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dem alten nicht zu fürchten; bei Heirat zwischen Kolchozniki verschiedener Kolchoze war sowieso die Übersiedlung des Partners vorgesehen 47 . Bei Schulbesuch oder Studium handelte es sich — wenigstens zunächst — nicht u m einen endgültigen Weggang aus dem Kolchoz, aber das änderte die Sachlage nicht, denn ohne Zustimmung des Kolchoz darf der Kolchoznik nirgends anders als i n diesem arbeiten 48 . „Der Kolchoznik ist nicht berechtigt, sich i m ,Weggang4 [otchod] zu befinden, d. h. ohne Erlaubnis des Artel' [Kolchoz] zeitweilig (saisonweise) oder ständig außerhalb des Kolchoz zu arbeiten. Mitgliedern des Artel', die zu ständiger oder saisonaler Arbeit entlassen sind, hat die Kolchozleitung diesbezügliche Bescheinigungen zu geben. [Für die gelegentlich Bezahlung verlangt wurde, welche Poltorackij m i t dem „obrok", dem Zins der Feudalzeit, vergleicht] 40 . Den Leitern von Betrieben uud Baustellen ist es verboten, Kolchozniki ohne solche Bescheinigungen zuständiger oder zeitweiliger Arbeit anzunehmen 50 ." Das betraf auch die von oben organisierte Rekrutierung (orgnabor = organizovannyj nabor) von Kolchozniki als Arbeitskräfte für andere Betriebe. Arbeitsverträge, die von den zuständigen Behörden mit K o l chozniki abgeschlossen wurden, bedurften der schriftlichen Einwilligung der Kolchozleitung 51 . Das galt auch für die Einstellung von Kolchozniki als Saison-Arbeitskräfte i n Sovchozen 52 oder i n fern gelegenen Industriebetrieben. I n den Jahresberichten der Kolchoze mußten auch jene K o l chozniki als ansässige Mitglieder geführt werden, die zur Arbeit außerhalb des Kolchoz die Erlaubnis hatten und für diese Zeit nicht i m Kolchoz wohnten 5 3 . Zur Umsiedlung auf Dauer war das Ausscheiden aus dem Kolchoz notwendig 5 4 , „ständige Lohnarbeit" i n einem anderen Betrieb war m i t Kolchozmitgliedschaft nicht vereinbar 5 5 . Natürlich war die „Freigabe" aus dem Kolchoz unschwer zu erlangen, wenn es sich u m eine von übergeordneten Stellen i n Gang gesetzte A k t i o n handelte, doch waren diese Stellen gehalten, den Arbeitskräftebedarf der Kolchoze zu berücksichtigen 56 . Die organisierte Rekrutierung war als der Hauptweg der Überführung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte i n die Industrie gedacht 57 . Ob sie diese 47

G. V. Ivanov: Clenstvo, S. 29—31. Bilinsky: Aktuelle, S. 47. Poltorackij, S. 152. 50 Baëmakov : Prav. reg., S. 31. — Über „otchodnifcestvo", die zeitweilige Tätigkeit außerhalb des Dorfes, einst u n d heute, s. Dunn & Dunn, S. 81—85. 51 Kiselev, S. 74. 52 Panova, S. 28 f. w De Pauw, S. 8. 54 Volkov: Pravovye voprosy, S. 45/46 (Fußnote 6). 55 G. V. Ivanov : Clenstvo, S. 7. M Ebenda, S. 28. 67 Ebenda. 48

4e

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Rolle i n der Stalin-Zeit tatsächlich i n der gewünschten Weise spielte 58 , braucht hier nicht untersucht zu werden, aber für die Zeit Chruscevs steht fest, daß sie nur einen Teil der Migrationsvorgänge erfaßte, der größere Teil planwidrig vor sich ging 5 9 . Offenbar kam es recht häufig vor, daß Kolchozniki, die auf solche organisierte Weise für begrenzte Zeit angeworben worden waren, M i t t e l und Wege fanden, sich am neuen Arbeitsplatz auf Dauer festzusetzen oder auf Dauer i n weitere überzuwechseln 60 . Damit beginnt das weite Feld der Nichtbeachtung oder Umgehung der Vorschriften i n der Praxis (s. auch unten, Kap. VI/6, das über Fachkräfte nach dem Studium Gesagte). Von Sovchozen wurde vermerkt, daß sie nicht immer nach den vorgeschriebenen Bescheinigungen fragten, wenn sie Kolchozniki als Saison-Arbeiter einstellten 61 . Bei der Einwohner-Anund -Abmeldung gab es Verstöße gegen die Vorschriften 62 . „Der Paß [Inlandspaß, d. h. Personalausweis] war eine A r t Schranke auf dem Weg aus dem Dorf fort. Wer jedoch aus dem Dorf fortziehen wollte, zog dennoch fort und kam trotz des Verbots zu einem Paß 6 3 ." Informationen über Lücken i n der Verwirklichung der Vorschriften werden ihrer Natur nach i n einem Staat wie dem sowjetischen selten publik, aber daß es solche Fälle i n nicht geringer Zahl gegeben haben muß, verraten die Worte eines sowjetischen Autors, daß bei zu schlechter Bezahlung der landwirtschaftlichen Arbeit „ein Abströmen der Arbeitskräfte i n andere Zweige der Volkswirtschaft unvermeidlich ist, welche juristischen und organisatorischen Einschränkungsmaßnahmen auch angewandt werden mögen" 6 4 . Man kann sich ohne übermäßig viel Phantasie vorstellen, daß der Personalchef eines großen Industriebetriebs, der interessiert war, einen kräftigen jungen Traktorfahrer vom Land i n seinem Werk einzustellen, M i t t e l und Wege gehabt hat, diesem einen Personalausweis und eine Zuzugsgenehmigung zu verschaffen. Erst recht ist das vom Direktor eines Sovchoz anzunehmen, dessen Wunsch dem Dorfsowjet seines Betriebs Befehl gewesen sein dürfte. Chruscevs Neuland-Kampagne und später, i m Rahmen des SiebenJahr-Plans, die Propagierung hochgesteckter Entwicklungsziele für Sibirien haben sicher solche Fälle erleichtert, denn da konnte argumentiert werden, daß es u m die Erfüllung der großen Aufgaben gehe, die nicht durch kleinlichen Bürokratismus gefährdet werden dürfe. Das mag einer 58

Vgl. hierzu Volin, S. 36. Wädekin: Landw. Bevölkerung, S. 50—52., G. V. Ivanov: Clenstvo, S. 29; Voloëin, S. 52. 61 Panova, S. 42. 62 Tovkun, S. 77. 63 A. Archipov, i n : Pravda, 21. 7.1965, S. 2; ebenso G. Sinakova , A. Janov, i n : L i t . gazeta, 26. 7.1966, S. 2. β4 V. N. Ladenkov: Vosproizvodstvo i ispol'zovanie kvalifìcirovanno j raboöej sily ν kolchozach, i n : Ispol'zovanie, Moskau 1964, S. 104. 59

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der Gründe dafür sein, daß ein Teil der unorganisierten Abwanderung vom Lande erst auf dem Umweg über die Städte Sibiriens i n die Städte der europäischen Landesteile ging 6 5 . Schwierig dürfte es gewesen sein, sich direkt vom Kolchoz aus i n einer der großen Städte der europäischen Landesteile oder gar i n Moskau niederzulassen, i n denen nach dem Zweiten Weltkrieg ein „besonderes Paß- und Meldesystem" Anwendung fand, das i n den 1960er Jahren wieder gelockert wurde 6 6 . Aber auch da gab es Möglichkeiten zur Umgehung der Vorschriften: „Dennoch weiß jedermann, daß es, zum Beispiel, i n Moskau eine sehr beträchtliche fluktuierende Masse von Menschen gibt, die dort ohne Aufenthaltserlaubnis leben und von denen man nicht den Eindruck hat, daß sie sich deswegen schlechter stehen. Manche behaupten, daß sie das können, weil sie ,gute Beziehungen zur Polizei' haben. Niemand hat m i r übrigens gesagt, daß es ein recht einfaches M i t t e l gibt, um i n Moskau ohne Erlaubnis zu leben. Es genügt dazu, daß man erklärt, man habe ,seinen Personalausweis verloren'. Man kommt mit einer Buße von hundert Rubeln [ = zehn heutige Rubel] davon, man hat für die Zeit, die es zur Neuausstellung des Dokuments bedarf, seine Ruhe, und man richtet es ein, daß ein Vermerk hineinkommt, demzufolge man i n der Hauptstadt eingeschrieben ist. Wenigstens w i r d das erzählt. Man kann seinen Personalausweis auch ein zweites M a l verlieren [.. .] 6 7 ." Aber solche und andere Möglichkeiten änderten nichts an der Grundtatsache, daß es zum legalen Verlassen des Kolchoz-Dorfes der Zustimmung der Betriebsleitung bedurfte und daß diese sie nach eigenem Ermessen verweigern konnte. Daß letztlich die allgemeine Mitgliederversammlung darüber zu entscheiden hatte, hat angesichts der Scheinrolle, welche diese Institution spielte (s. unten, Kap. V/4/b), wenig zu besagen. Es handelte sich also faktisch um eine Schollenbindung, einen „außerökonomischen Zwang", den Stalin selbst als eines der wesentlichen Merkmale feudalistischer Abhängigkeitsverhältnisse bezeichnet hat 6 8 . Darauf hatten zur Zeit der Kollektivierung auch Stalins Gegner i n der „Rechten Opposition" hingewiesen, indem sie die Kolchoz-Ordnung als 65

Zajonökovskaja/Perevedencev, S. 25—44; s. auch Wädekin: Sibirien, S. 156. Sonin/Zil'cov, S. 17 f. 67 France—U.S.S.R., Januar 1959 (hier angeführt nach Dumont, S. 295); über ähnliche P r a k t i k e n u n d Vorkommnisse berichtete die belorussische Zeitung Zvjazda, 20. 7.1965 (hier angeführt nach Information Supplement to ,Soviet Studies', Nr. 8, Okt. 1965, S. 1). 68 J. W. Stalin: ökonomische Probleme des Sozialismus i n der UdSSR (Voprosy èkonomiki socializma ν SSSR, dt.), i n : Boris Meissner: Die K o m m u nistische Partei der Sowjetunion vor u n d nach dem Tode Stalins, F r a n k f u r t / M . 1954, S. 88. — I n der Tschechoslowakei ist eine Parallele zwischen K o l l e k t i v gütern u n d feudalistischer Hörigkeit schon 1963 von Seluky öffentlich gezogen worden, wie Novotny tadelnd mitteilte, i n : Rudé pravo, 24. 3.1963, S. 4. 68

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ein „feudal-militaristisches System" bezeichneten 69 , und das scheint zumindest ein Teil der Kolchozbevölkerung auch so empfunden zu haben 70 . Dieser Bindung fehlte nur zweierlei: die direkte und offene juristische Verankerung und — ein wichtiger Unterschied zur feudalen Schollenbindung — der Anspruch auf zwangsweise Rückführung entlaufener Kolchozniki. Aber davon abgesehen, w i r d auf Grund der Tatsache, daß auch i n Mittelalter und beginnender Neuzeit russische Bauern ihren Herren entflohen und zum Teil freie Kosaken wurden, niemand behaupten wollen, daß eine Schollenbindung für sie nicht existiert habe. Ebensowenig kann man wegen der Umgehungsmöglichkeiten i m Sowjetsystem die Existenz der spezifisch sowjetischen Form der Schollenbindung negieren. Doch bleibt es eine Tatsache, daß immerhin viele Millionen aus den Kolchozen entkommen sind, mehr als sich allein aus Nichteinhaltung und Umgehung der Vorschriften erklären läßt. Aber es gab drei Institutionen und eine Lücke i m Kolchoz-Recht, die den Umfang der Abwanderung aus den Kolchozen hinreichend erklären: 1. Die Lehranstalten der sog. Arbeitsreserven erfaßten einen großen Teil der Kolchoz-Jugend und entließen ihn nach Abschluß der Ausbildung i n die nicht-agrarischen Wirtschaftsbereiche 71 . Sie verloren nach Stalins Tod an Bedeutung und wurden bald ganz abgeschafft 72 . 2. Die Eheschließung eines Mädchens aus dem Kolchoz mit einem Mann, der nicht dem Kolchoz-Recht unterstand. Dieser i n der sowjetischen Literatur ab und zu erwähnte Weg konnte deshalb eine zahlenmäßig erhebliche Rolle spielen, weil viele junge Männer abgewandert waren. 3. Der Militärdienst der jungen Männer. I m Jahr 1959 befanden sich 767 000 Kolchozniki beim M i l i t ä r 7 3 ; bei dreijähriger Militärpflicht bedeutete das alljährlich mindestens 200 000 junge Männer aus den Kolchozdörfern (ohne Berufssoldaten und i n Stadtgebieten lebende Kolchozniki). I n früheren Jahren, als der Mannschaftsbestand des Heeres größer war, bedeutete es noch mehr. Zahlreiche sowjetische Publikationen lassen erkennen, daß man diesen Soldaten freistellte, wo sie nach Entlassung vom Militär Arbeit nahmen, und daß von ihnen nur wenige wieder i n die 69 Nach Meissner: Strukturwandel, S. 88. — Die Parallele zu den Verhältnissen vor der Bauernbefreiung von 1861 w i r d i n aller Schärfe gezogen bei Czugunov, passim. Leider beeinträchtigt dieser A u t o r seinen an sich richtigen Grundgedanken durch Utrierung, polemische Argumentation u n d ungenaue Quellennachweise. 70 Fainsod, S. 570. 71 G. V. Ivanov: Clenstvo, S. 28. 72 Über sie O. Anweiler: Ausbildung u n d Produktion, i n : Osteuropa-Handbuch, S. 88 f.; s. auch Maurach, S. 330. 73 Itogi, Tab. 33.

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Dörfer zurückkehrten 74 . „ E i n bedeutender Teil der jungen Männer geht nach dem Militärdienst auf Baustellen, i n die Industrie usw. 7 5 ." Bei ihnen diente als das notwendige „Papier" bei der Arbeitsaufnahme der „Militärschein" (voennyj bilet) 7 6 . Hier handelte es sich also u m durchaus legale und offenbar auch von vielen Menschen begangene Wege zum Verlassen des Kolchoz. Aber wieder kann man aus der Existenz solcher Möglichkeiten nicht folgern, daß die Bindung als solche nicht bestanden habe. Es w i r d ja auch niemand behaupten wollen, daß es i m mittelalterlichen Deutschland die Institution der Hörigkeit nicht gegeben habe, nur weil ihr der Rechtsgrundsatz „Stadtluft macht frei" (nach „Jahr und Tag") entgegenstand. Die legalen Möglichkeiten hatten die gemeinsame Eigenart, daß sie fast ausschließlich für junge Menschen bestanden. „Der junge Bursche, der nach dem Militärdienst einen Paß erhalten hat, kehrt nicht i n einen ,paßlosen' Kolchoz zurück, und das junge Mädchen ist zu jedem Trick bereit, um eben diesen Paß zu erhalten 7 7 ." Das gleiche gilt m i t Einschränkungen, wie oben dargelegt, auch für die illegalen Möglichkeiten. Die sowjetische A r t der Schollenbindung hat also die für jede Land-StadtMigration charakteristische Tendenz noch zusätzlich verstärkt, daß meist die Jungen abwandern, die Alten aber i n den Dörfern bleiben. So ist die heutige Überalterung der Kolchozbevölkerung nicht nur eine Folge der Urbanisierung i m allgemeinen, sondern auch ein spezifischer Ausfluß des Kolchoz-Rechts und des ganzen Sowjetsystems. Zusätzlich w i r k t e i n dieser Richtung eine Lücke i m Kolchoz-Recht, die zugleich einen wesentlichen Zug der Schollenbindung erkennen läßt, nämlich deren faktische Erblichkeit. Das Musterstatut legte nur fest, daß „alle Werktätigen, Männer und Frauen, die das 16. Lebensjahr erreicht haben", Kolchozmitglieder werden können 7 8 , aber es sah nichts für den Fall vor, daß sie das nicht werden wollten. I n der Praxis hatte es sich weitgehend eingebürgert, daß man die jungen Menschen gar nicht erst nach ihrem Willen fragte. Das kam andeutungsweise schon i n den allgemeinen Darstellungen zum Ausdruck, z. B. i n den Worten: „Die Ordnung für die formelle Entstehung der Artel' [Kolchoz-] Mitgliedschaft von Kindern von Kolchozniki, wenn sie 16 Jahre alt 74 U . a . Ignatovskij: Social'no-èkonomiceskie, S. 304/305; G. Sinakova , Α. Janov, i n : L i t . gazeta, 23.7.1966, S. 2; Ν. P. Golubkova: Pereraspredelenie raboòej sily iz sel'skogo chozjajstva ν nesel'skochozjajstvennye otrasli ν period razvernutogo stroitel'stva kommunizma, i n : Problemy proizvoditel'nosti truda, S. 12; Ivanov: Licom, S. 221.

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Subkin: Molodez', S. 69.

Otvety na voprosy è i t a t e l e j . . . , i n : Socialistiöeskij trud, 2/1966, S. 140.

Cernicenko: Pomoscnik, S. 148.

Musterstatut, V/7, dt., S. 15.

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geworden sind und i m Kolchoz arbeiten, hat sich derart herausgebildet, daß sie keinen schriftlichen Antrag auf Aufnahme unter die Kolchozmitglieder zu stellen brauchen. Die Artel'-Leitung trägt sie i n die Liste der Kolchozmitjglieder ein, die dann von der allgemeinen Versammlung oder der Bevollmächtigten- oder Vertrauensleute-Versammlung bestätigt w i r d 7 9 . " Die Bestätigung durch die Versammlung, auf die Ivanov i m folgenden besonderen Nachdruck legte, indem er einen — offenbar auch nicht seltenen — einfachen Beschluß der Kolchozleitung als unzulässig bezeichnete, hatte wenig praktische Bedeutung. Wichtiger war der Vorbehalt, daß Jugendliche, welche „nicht i m Kolchoz arbeiten und i h n zwecks Ausbildung oder zu ständiger Arbeit i n der Industrie verlassen haben", nicht zu Mitgliedern gemacht werden durften 8 0 . Aber viele Kolchoze hatten für Jugendliche schon vor deren 16. Lebensjahr eine Arbeitspflicht eingeführt, iso daß diese Voraussetzung erfüllt war, obwohl eigentlich nicht die Mitgliedschaft auf Arbeitspflicht beruhen sollte, sondern umgekehrt 81 . Später wurde klarer gesagt: „ I n Übereinstimmung mit dem heutigen Kolchozrecht werden die Kinder von Kolchozniki, die 16 Jahre alt geworden sind, juristisch und faktisch als Mitglieder des landwirtschaftlichen Artel' betrachtet (in der Regel ohne daß sie eine diesbezügliche Erklärung abgegeben haben) 82 ." Sie wurden und werden „automatisch" unter die Kolchozniki eingereiht 83 , also i n eine soziale Klasse. Das kommt auch darin zum Ausdruck, daß i n den Jahresberichten der Kolchoze Kinder und Jugendliche auch dann aufzuzählen waren, wenn sie gar nicht an Kolchozarbeit teilgenommen hatten 8 4 . I m Rahmen der Aufsätze, Diskussionsbeiträge und Leserbriefe über das zu schaffende neue Musterstatut schrieben zu dieser Frage der stellvertretende Landwirtschaftsminister der Tataren-ASSR und ein Dozent: „Das bisher bestehende Musterstatut stellt nicht klar, i n welcher Form die Aufnahme von Kindern von Kolchozmitgliedern i n den Kolchoz vorzunehmen ist. Die Mehrzahl der Kolchoze der Tataren-ASSR sprach sich dafür aus, das System der sogenannten ,automatischen Mitgliedschaft' gesetzlich zu verankern, demzufolge die Mitglieder der Familie eines Kolchoznik vorbehaltlos i n die Mitgliederliste des betreffenden 79

G. V. Ivanov: Clenstvo, S. 11; wortgleich i n : Kolchoznoe pravo, S. 112. Ebenda. Baëmakov : Pravovoe regulirovanie, S. 66; Charatiëvili , S. 96. 82 Ispol'zovanie, Frunze 1968, S. 88. 83 Suslov: Ekonomiöeskie, S. 208; i m gleichen Sinne Kozlov: NaS kolchoz, S. 60; s. auch Jasinskij, S. 59; Cubukov, a.a.O., S. 30; V. Duvakin , i n : Sz 22. 7. 1966, S. 3; Ν. I. Titova: Nekotorye rezul'taty konkretno-sociologiöeskich issledov a n i j ukreplenija zakonnosti ν kolchozach, i n : Konkretno-sociologiëeskie issledovanija, S. 82. 84 De Pauw, S. 62. 80

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Kolchoz eingetragen werden, sobald sie 16 Jahre alt geworden sind. Uns scheint die Ansicht der Kolchozniki des Bezirks Aksubaevo richtig zu sein, die die Aufnahmeordnung so regeln wollen, daß die jungen Mädchen und Männer i m Alter von 18 Jahren persönlich ihre Aufnahme i n den Kolchoz beantragen. Die Kollektivwirtschaft ist ein freiwilliger Zusammenschluß werktätiger Bauern. Folglich geht die E r gänzung ihres Mitgliederbestandes auf den Wunsch jedes einzelnen Eintretenden vor sich und nicht auf Grund familiärer und verwandtschaftlicher Bindungen. [ . . . ] Eine solche Ordnung würde die Kolchozleitungen, die örtlichen Staatsorgane zwingen, der vollen Befriedigung der materiellen und zivilisatorischen Bedürfnisse der dörflichen Werktätigen größere Aufmerksamkeit zu widmen 8 5 ." Es ist vermutlich symptomatisch, daß hier die Kolchoze (als Betriebe, also faktisch ihre Leitungen) für die gesetzliche Fixierung der automatischen Mitgliedschaft eintraten, die ihnen den erforderlichen Nachwuchs sichert, ohne daß sie auf die „materiellen und zivilisatorischen Bedürfnisse" der Mitglieder besondere Rücksicht zu nehmen brauchen, während die Kolchozniki selbst den entgegengesetzten Standpunkt einnahmen. Deren Auffassung wurde auch sonst i m Schrifttum nach Chruscevs Absetzung vertreten, wobei aber stets deutlich wurde, daß die Forderung nach Freiwilligkeit des Beitritts und schriftlicher Beitrittserklärung durchaus nicht dem faktisch allgemein geübten Verfahren entsprach 86 . Ein lettischer Kolchozvorsitzender dagegen trat für die „automatische Mitgliedschaft" ein 8 7 . Festzustehen scheint, daß vor Vollendung ihres 16. Lebensjahres Jugendliche trotz allem nur schwer daran gehindert werden konnten, den Kolchoz zu verlassen; wenn sie bei Erreichen dieses Alters i n einer Stadt wohnten (etwa bei Verwandten oder i n einem Internat), erhielten sie automatisch einen Inlandspaß 88 . Der Direktor einer ländlichen Mittelschule i n der Provinz Smolensk kam auf Grund „einer Vielzahl vertraulicher Gespräche m i t Schülern" zu der Überzeugung: „Diese Regelung übt einen starken negativen Einfluß auf die Entschlüsse der Kinder aus. Denn wenn sie nur ein Jahr nach Beendigung der Schule i m Kolchoz bleiben, verlieren sie die Möglichkeit, über sich und ihren Weg selbst zu bestimmen [svobodnoe samoopredelenie]. Das verleiht ihrem Bestreben, sofort i n die Stadt wegzuziehen, einen etwas hysterisch-hastigen Einschlag. Von den Absolventen der achten 85

Ajmetdinov/Petrov, S. 111. Jasinskij , S. 90 f.; Zabelyëinskij, S. 22; V. S. Karpik, Ν . V. Storoèev : Razv i t i e kolchoznoj demokratii na sovremennom étape, i n : Izmenenija, Minsk 1965, S. 29; Charatiëvili, S. 99. 87 A. Brejdak, i n : Sovetskaja L a t v i j a , 11.11.1965, S. 2. 88 B. Archipov, i n : Pravda, 21. 7.1965, S. 2. 88

3. Ausschluß v o m allgemeinen Recht

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Klassen aber braucht man schon gar nicht zu reden — sie eilen, u m vor Vollendung des 16. Lebensjahres i n die Stadt zu geraten und dort einen Paß zu erhalten 8 0 ." Wahrscheinlich war es dieses Phänomen, das Komsomol-ZK-Sekretär Duvakin zu der Forderung veranlaßte, i n einem neuen Musterstatut solle ausdrücklich festgelegt werden, daß jungen Leuten (auch von mehr als 16 Jahren), die eine Hochschule oder mittlere Fachschule zu besuchen wünschen, von den Kolchozen keine Hindernisse i n den Weg gelegt werden dürfen 9 0 . Aber i n der Ausrichtung auf einen speziellen Personenkreis, i n der Forderung eines besonderen Rechts für diesen, zeigt das auch, was die übliche Praxis war. Die Haushalts- und Standesregister (Kniga uceta clenov kolchoza i ich semej), die i n den Dorfsowjets geführt und zu jedem Jahresbeginn auf den neuesten Stand gebracht werden, hatten dabei nebenher die Funktion der „Seelenregister" der Zeit vor 1861. I n ihnen war nicht nur festgehalten, welche Haushalte als Kolchozhöfe galten, sondern auch, i n welchen Minderjährige, also die künftigen „automatischen" Mitglieder des Kolchozhofs heranwuchsen 91 , der als solcher zum Kolchoz gehörte. Das ergab sich logisch aus der mangelnden Unterscheidung der Mitgliedschaft in einer Kolchoz-Familie (bzw. einem Kolchozhof) von der M i t gliedschaft i m Kolchoz selbst, Begriffe, die nicht einmal i n der staatlichen Gesetzgebung auseinandergehalten wurden 9 2 . 3. Ausschluß vom allgemeinen Recht Wurden einerseits i n der Zwangsmitgliedschaft und Schollenbindung feudale Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse i n neuer Form errichtet, so wiesen andererseits die Institution des Kolchozhofs ( = Familienhaushalt i m Kolchoz) und das für ihn geltende Besitzrecht Züge alten russischen Bauernrechts auf. Sie wurden nicht wie bei den übrigen sowjetischen Staatsbürgern durch das allgemeine Zivilrecht geregelt, sondern durch das spezielle Kolchoz-Recht und das ältere Bodenrecht. Der „Hof" gehörte der „Familien- und Arbeitsgemeinschaft" i n Gesamthand, die den Boden (Hofland und Hausgrundstück) zu dauernder Nutzung erhalten hatte, ein Recht, das erblich, aber nicht veräußerlich w a r 9 3 . Auch bei Aufnahme i n einen Kolchoz hatte man oft die ganze Familie i m Auge, nicht die einzelne Person 94 . Wer als das Haupt einer Kolchozniki89 90 91 92 93 94

G. Sinakova, A. Janov, i n : L i t . gazeta, 26. 7.1966, S. 2. V. Duvakin, i n : Sz 22. 7.1966, S. 3. Er emina/ Mar Salova, S. 48 f. ; Voloëin, S. 20, 41 ; Kolchoznoe pravo, S. 476. Vgl. die diesbezügliche K r i t i k bei Ν. I. Titova, a.a.O. Näheres hierzu bei Shinn: The L a w , u n d bei Bilinsky: Aktuelle, S. 34 f. CharatiSvili, S. 97 f.

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Familie zu betrachten war, darüber gab es keine gesetzliche Bestimmung; es hing von der Regelung ab, die innerhalb der jeweiligen Familie getroffen wurde. Doch Tradition und Sitte bewirkten, daß in der Regel das älteste männliche Haushaltsmitglied als Haupt galt; seine Stellung war aber nicht mehr so beherrschend wie früher 9 5 . Es war eigentlich nur eine extensive Auslegung solcher Verhältnisse, wenn die Kolchoze diese „Familien- und Arbeitsgemeinschaften" für Fehler und Vergehen ihrer einzelnen Mitglieder haftbar machten und gegebenenfalls gesamthaft m i t Ausschluß bedrohten 96 , oder wenn man einer Frau ihre Hoflandprazelle m i t der Begründung wegnahm, sie habe es zugelassen, daß ihre Tochter i n einen anderen Kolchoz heiratete 97 . Charakteristisch, aber schon mehr als nur eine extensive Auslegung war es, wenn der Kolchoz seinerseits häufig für private Zahlungsverpflichtungen seiner Mitglieder, ja sogar der auf seinem Territorium lebenden Nicht-Mitglieder haftbar gemacht wurde, indem staatliche Stellen bestimmte Zahlungen, z. B. für elektrischen Strom, Landwirtschaftssteuer usw. nicht von den einzelnen Familien eintrieben, sondern vom Bankkonto des Kolchoz abbuchten, der nun seinerseits sehen konnte, wie er das Geld wieder eintrieb 9 8 . Eine Rechtfertigung solcher Praktiken ließ sich immerhin aus der Fiktion ableiten, daß der ganze Kolchoz sich i m gemeinsamen Besitz aller Kolchozniki befand, er also m i t ihren Anteilen für ihre Zahlungsverpflichtungen aufkam. Das Kolchoz-Musterstatut war viel zu „kurz und lakonisch", u m i n allen solchen Dingen klare Verhältnisse zu schaffen, und hatte schon 1935 viele Fragen offen gelassen, zu denen seitdem neue hinzugekommen sind 9 9 . Wie wenig Bedeutung sein Buchstabe i n Wirklichkeit hatte, erhellt besonders deutlich aus der Tatsache, daß man bei der Schaffung neuer Kolchoze gelegentlich einfach vergaß, auf seiner Grundlage ein Statut für die einzelnen Kolchoze zu fixieren 1 0 0 , oder daß man, ohne die Mitgliederversammlung zu fragen, „ m i t dem Bleistift von oben" Veränderungen oder Ergänzungen am Statut vornahm 1 0 1 . Gewohnheitsrecht und Verwaltungsrecht waren oft faktisch wichtiger als das Statut, das doch die Grundlage des ganzen Kolchoz-Rechts darstellte. Und trotz seiner Kürze waren einzelne seiner Bestimmungen ebenso wie Entschließungen der Mitgliederversammlungen manchen 95 Voloëin , S. 109; Kolchoz — âkola, S. 249; V. I. Selivanov: Perviönye k o l l e k t i v y i ich v l i j a n i e na formirovanie liònosti, i n : Sociologija, I, S. 462. 96 Beljaeva, S. 23. 97 Izvestija, Nr. 156/1965 (hier angeführt nach Hastrich , S. 177). 98 Kaz'min: Usilit', S. 6; A. Leont'ev, i n : Sz 25.11.1966, S. 3. 99 Pavlov : Ο principach, S. 96. 100 Pis'ma s kommentarijami, i n : Izvestija, 19.9.1959, S. 3. 101 Ν. I. Titova , a.a.O., S. 81.

3. Ausschluß v o m allgemeinen Recht

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Kolchozleitungen nicht mehr oder angeblich nicht bewußt, insbesondere jene, die den Kolchozniki ein Recht auf Leistungen des Kolchoz gaben 102 . Desto klarer ausgeprägt und praktiziert war die Macht, welche der Kolchoz gegenüber seinen Mitgliedern besaß und die i m Grunde darauf beruhte, daß die Kolchozbevölkerung von vielen allgemeinen Rechtsmitteln und -instituten, insbesondere des Arbeitsrechts 103 , ausgeschlossen war. I n vielem war die Kolchozleitung Kläger, Verteidiger und Richter i n einem, und gegen ihre Entscheidungen gab es dann keine Berufung außer an die weitgehend machtlose allgemeine Mitgliederversammlung (vgl. unten, Kap. V/4/b). Nur i n Ausnahmefällen konnte der Kolchoznik gerichtliche Klage gegen den Kolchoz erheben 104 . Auch sowjetische Autoren haben das in jüngerer Zeit zum Ausdruck gebracht. „Nach unserer Meinung kann man auch die gegenwärtig bestehnde Situation nicht für richtig halten, i n der der Schutz der Rechte der Kolchozniki (darunter das Mitgliedsrecht bei Ausschluß aus dem K o l choz, das Recht auf Führen einer privaten Hoflandwirtschaft, i n Fällen, wo diese eingeschränkt wird, u. a.) dem Kolchoz selbst, seinen Leitungsorganen nach deren endgültigem Ermessen überlassen ist. I n diesen Fragen muß man unseres Erachtens von der prinzipiell richtigen Regel ausgehen, daß i n Fällen, wo es sich u m die Beseitigung von Verletzungen [des Rechts] und u m die Entscheidung von Streitigkeiten handelt, das entscheidende Wort nicht dem Betrieb gehören soll, sondern letzten Endes eben dem Staat, seinen gerichtlichen und anderen Organen 1 0 5 ." Das i n diesen Worten enthaltene Postulat ist eine Sache künftiger Regelungen, aber Realität war die darin wiedergegebene Situation, i n der faktisch die Kolchozleitung eine A r t „niedere Gerichtsbarkeit" besaß. Die ordentlichen Gerichte und die Staatsanwälte interessierten sich selten dafür, wie diese Gerichtsbarkeit ausgeübt wurde 1 0 6 , obwohl i n ihr Gesetzwidrigkeiten nicht selten vorkamen 1 0 7 und sie zum Teil sogar auf das Gebiet der eigentlichen Strafjustiz übergriff 1 0 7 3 . Das machte sich besonders seit 1956 bemerkbar, als die Kolchoze selbständig gewisse Änderungen an den — zum Teil veralteten — Statuten vornehmen konnten, so daß das Kolchozrecht keine einheitliche Rechtsgrundlage mehr darstellte und die Kompetenzen der Betriebsleitungen noch weniger klar abgesteckt waren als f r ü h e r 1 0 7 b . 102

N. Smeleva, i n : Sz 10. 7.1966, S. 2. Vgl. Bilinsky: Aktuelle, S. 54 f. 104 Bilinsky, a.a.O. 105 Pavlov : Ο principach, S. 93. 106 Antipov, S. 131. 107 iV. I . Titova, a.a.O., S. 82. 107a Pavlov: Razvitie, S. 91,134. 107 b Ebenda, S. 77. 103

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echts

Ein Grenzgebiet zum Arbeitsrecht bildeten die Geldstrafen, welche die Kolchozleitungen für Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin und für Schäden, die dadurch oder durch Unachtsamkeit und Fehler bei der Arbeit entstanden, verhängen konnten. Die Kolchozleitung konnte allen M i t gliedern solche Disziplinarstrafen auferlegen — i n der Regel auf Antrag der Führungskräfte —, und wenn sie i n Fällen des Widerspruchs der Betroffenen die Zustimmung der allgemeinen Mitgliederversammlung zu erlangen verstand, war ihre Entscheidung endgültig 1 0 8 . Die Gerichte waren angewiesen, sich für diesbezügliche Klagen von Kolchozniki für nicht zuständig zu erklären 1 0 9 . Gegenüber Arbeitern und Angestellten, also außerhalb des Kolchoz-Sektors, hatten die Betriebe keine derartigen Befugnisse 110 , das allgemeine sowjetische Arbeitsrecht kannte solche Strafgelder nicht 1 1 1 , die i m alten Rußland weithin üblich und verhaßt gewesen waren. Den Kolchozleitungen aber wurde dieses Recht i n der einschlägigen sowjetischen Literatur kaum bestritten 1 1 2 , es ging meist nur darum, bis zu welcher Höhe die Kolchoze eigenmächtig Geldstrafen verhängen durften, und daß das Höchstmaß verbindlich festgelegt werden sollte 1 1 3 . Einen ähnlichen Charakter trug die Festlegung von Schadensersatzzahlungen der Kolchozniki an ihren Betrieb. Hier war zwar eine Berufung an die Gerichte möglich, aber dafür wurde bei Kolchozniki, anders als bei Arbeitern und Angestellten, i m Grundsatz keine Rücksicht auf Zahlungsfähigkeit und Existenzminimum genommen 114 . Eine Autorin bezeichnete die i n der Praxis oft nach dem höchstmöglichen, nur für besonders schweres Verschulden vorgesehenen Maß festgesetzte Haftung der Kolchozniki bis zu zehnfacher Höhe des materiellen Schadens als " i m Gesetz nicht begründet" 1 1 5 , ging aber damit am Kern der Sache vorbei, denn auf Kolchozniki erstreckte sich kein diesbezügliches Gesetz. Weder die zivilrechtlichen Vorschriften, die auf Kolchozmitglieder angewandt werden sollten 1 1 6 , noch die arbeitsrechtlichen Regelungen waren auf sie wirklich anwendbar 1 1 7 . Obwohl es analogen arbeitsrechtlichen Regelungen 108

G. V. Ivanov: Clenstvo, S. 26; Baëmakov: Pravovoe regulirovanie, S. 145. Sov. justicija, 7/1960, S. 28 (hier angeführt nach Hazard/Shapiro, S. 149). 110 Ajmetdinov/Petrov, S. 111. 111 Beljaeva, S. 23. 112 Eine Ausnahme ist der Vorschlag zur Abschaffung dieses Rechts bei Ajmetdinov/Petrov, a.a.O., der aber auch n u r die Z u k u n f t i m Auge hat, nicht die bestehende Situation; dies noch deutlicher, unter Gutheißung der bisherigen Praxis, i n : Kolchoz — skola, S. 252. 113 Vgl. Antipov, S. 130 f. 114 Ryèikova, S. 6. 115 Beljaeva, S. 21; s. auch Bilinsky: Aktuelle, S. 73. 118 V O des Plenums des Obersten Gerichts der RSFSR v o m 20. 4.1962 „O nekotorych voprosach sudebnoj p r a k t i k i po grazdanskim kolchoznym delam", i n : SpravoSnik buchgal'tera, 2. Aufl., S. 698. 117 Storoéev, S. 86 f. 109

4. Arbeitsschutz, Arbeitsrecht u n d -pflicht

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zuwiderlief, wurde bei Schäden, die bei Stockungen der Maschinenarbeit durch Verschulden der Kolchozniki entstanden, bis 1958 der entgangene Gewinn als Schadenersatz beansprucht, formal dadurch, daß die Maschinen-Traktor-Station vom Kolchoz den entgangenen Gewinn einforderte, der Kolchoz von seinen Mitgliedern den i h m so entstandenen Verlust eintreiben durfte 1 1 8 . Seit es die Maschinen-Traktoren-Stationen nicht mehr gab, fand man andere Praktiken, solche Schäden möglichst hoch festzusetzen, oder kümmerte sich u m die rechtlichen Bestimmungen nicht, so daß dieses Problem auch 1966 noch aktuell war 1 1 9 . Gerade nach 1958 nahm die Tendenz zu, solche Schadenersatzforderunigen autonom, ohne Hinzuziehung der Gerichte, festsetzen und eintreiben zu lassen 1193 . Andererseits haftete aber die Kolchozleitung ihrerseits gegenüber den Kolchozniki nicht, wenn durch ihre Schuld die Maschinenarbeit stockte, denn auf Grund des Normensystems brauchte sie i n solchen Fällen keinen Lohn zu zahlen 1 2 0 . Und wenn durch ihre Schuld ein Kolchoznik bei einem Arbeitsunfall verletzt und zeitweise oder dauernd, teilweise oder ganz arbeitsunfähig wurde, so haftete sie nur ausgehend von seinem — meist sehr geringen — durchschnittlichen Einkommen aus Kolchozarbeit, sein Einkommen aus der eigenen Hoflandwirtschaft blieb unberücksichtigt 121 , obwohl man dieses sonst als lebensnotwendig anerkannte und bei Einkommensvergleichen ungeniert i n Rechnung stellte 1 2 2 .

4. Arbeitsschutz, Arbeitsrecht und -pflicht I n arbeitsrechtlichen Belangen bestand der grundsätzliche Unterschied zwischen den Kolchozniki und dem Rest der arbeitenden Bevölkerung darin, daß die kodifizierten Normen des allgemeinen Arbeitsrechts sich nicht auf sie erstreckten 123 . Formell waren sie ja keine Arbeitnehmer, ihre Mitgliedschaft, also Mitbesitzerschaft war „die Grundlage des Entstehens aller Rechtsbeziehungen i m Kolchoz" 1 2 4 , also auch der arbeitsrechtlichen. Zwar weist Paserstnik darauf hin, daß es auch ohne Gesetze ein Arbeitsrecht gebe, das die i n den Kolchozen bestehenden Normen (mit dem Musterstatut und den Beschlüssen und Verordnungen der Partei und Regierung als Grundlage) umfasse 125 , aber es kennzeichnet die 118

Ebenda, S. 88. Bilinsky: Aktuelle, S. 73 f. 119a Pavlov: Razvitie, S. 51 f. 120 Storozev, S. 88; s. auch Sajbekov, S. 145. 121 Kazackin, S. 35; V O des Obersten Gerichts der UdSSR v o m 26. 3.1960, i n : Spravocnik buchgal'tera, 2. Aufl., S. 719. 122 V g L wädekin: Privatproduzenten, S. 118—122,125 f. 123 Paserstnik, S. 92. 124 Ebenda, S. 95; s. auch Bilinsky: Aktuelle, S. 46. 125 Paserstnik, S. 99. 119

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I I . Der Kolchoznik als Staatsbürger minderen Rechts

Situation und die verbreitete Auffassung, daß i n einem für Studenten bestimmten Aufgabenbuch über Arbeitsrecht unter 244 Aufgaben keine einzige das Arbeitsverhältnis der Kolchozniki zum Gegenstand hatte (und nur vier den Bereich der Landwirtschaft betrafen) 1 2 6 und daß auch ein neueres Buch über den „gerichtlichen Schutz der Arbeitsrechte der Staatsbürger" 1 2 7 die Kolchozverhältnisse völlig außer Betracht läßt. Für Kiselevs „Grundlagen der Arbeitsgesetzgebung" (s. Bibliographie) existierten die Kolchoz-Arbeitsverhältnisse nicht. Bei der Einführung von Schlichtungskommissionen für Arbeitsstreitigkeiten wurden die Kolchoze gar nicht erwähnt 1 2 8 . Die faktische Lage, vor allem den Mangel an Institutionen zum Schutz der Rechte der Kolchozniki auf diesem Gebiet, kennzeichnen die Worte eines sowjetischen Arbeitsrechtlers: „Die Unerschütterlichkeit der Arbeitsrechte der Arbeiter und Angestellten w i r d durch den einwandfrei funktionierenden Mechanismus des Schutzes der Rechte der Werktätigen durch die Kommissionen für Arbeitsstreitigkeiten, die Gerichte usw. gesichert. Einen solchen ausgearbeiteten Mechanismus für den Schutz der Arbeitsrechte gibt es i n den Kolchozen noch nicht 1 2 9 ." Dieser Mangel war durchaus gewollt, denn einerseits wurde die „innere Arbeitsordnung" als vom allgemeinen Arbeitsrecht unabhängige eigene Angelegenheit der Kolchoze betrachtet, andererseits haben die Staatsorgane eben diese unzulängliche Ordnung durch den Erlaß verbindlicher „Musterarbeitsordnungen" für die Kolchoze selbst geschaffen 1 3 0 . Bei Streitigkeiten über die Höhe des Arbeitsentgelts war die Lage des Kolchoznik viel ungünstiger als die der Arbeiter und Angestellten. Eine Gewerkschaft gab es für i h n nicht (mit wenigen Ausnahmen, s. unten), und die Gerichte konnte er nur anrufen, wenn die von i h m geleistete Arbeit, d. h. die Arbeitseinheiten oder Tarifnormen, deren Bezahlung er beanspruchte, bereits „durch die Kolchozleitung zur Bezahlung akzeptiert [...], jedoch aus irgendwelchen Gründen nicht bezahlt worden waren" 1 3 1 . I n allen anderen Fällen war der Weg an die Gerichte ausge126 A. A. Abramova, A. D. Zajkin (u. a.): Sbornik zadaö po trudovomu pravu, Moskau 1966, 166 S. (Von den vier Aufgaben aus dem Bereich der L a n d w i r t schaft bezogen sich zwei auf Sovchoze u n d zwei auf Lohnarbeiter — nicht M i t glieder — i n Kolchozen.) 127 L. A. Nikolaeva: Sudebnaja zaSöita trudovych prav grazdan, Moskau 1968,192 S. 128 Vgl. die am 31.1.1957 bestätigte Musterordnung f ü r solche Kommissionen i n : Spravofcnik po ochrane truda, S. 79 ff. 129 Gincburg, S. 37/38. 130 Bilinsky: Aktuelle, S. 68—70. 181 V O des Plenums des Obersten Gerichts der UdSSR v o m 26. 3.1960 „O sudebnoj p r a k t i k e po grazdanskim kolchoznym delam", Spravoönik buchgal'tera, 2. Aufl., S. 719.

4. Arbeitsschutz, Arbeitsrecht u n d -pflicht

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schlossen. „ K r a f t dessen sind die Gerichte gezwungen, an sie gelangende Klagen und Erklärungen von Kolchozniki bezüglich einer Verletzung ihrer Arbeitsrechte an den Kolchoz zurückzuverweisen, obwohl die Verletzung manchmal ganz offensichtlich i s t 1 3 2 . " Ältere Vorschläge, den Gerichten wenigstens bezüglich des sog. Zusatzlohns Eingriffsmöglichkeiten zu geben 1 33 , hatten zu nichts geführt. Unter dem Vorwand der — sonst wenig respektierten — Autonomie des Kolchoz als Genossenschaft 134 verweigerte der Staat dem Kolchoznik den Rechtsschutz. Arbeitsschutzbestimmungen waren i n den Kolchozen lange Zeit unbekannt; sie betrafen nur andere Betriebe. Erst m i t der Überführung der staatlichen Maschinen-Traktoren-Stationen und ihres Personals i n die Kolchoze drang auch i n diesen der Arbeitsschutz ein, dessen Einhaltung von technischen Kommissionen der Gewerkschaft überwacht w u r de 1 3 5 . Aber faktisch fand das nur auf das Maschinenpersonal Anwendung 1 3 6 , das der Gewerkschaft angehörte; die seit 1959 vorgesehene ehrenamtliche Funktion eines Arbeitsschutzinspektors auch i n Kolchozen 1 3 7 scheint daran wenig geändert zu haben. Der Vorsitzende des Zentralrats der Gewerkschaften rügte i m Frühjahr 1965: „ I n den Sovchozen und Kolchozen w i r d gegen die Arbeitsschutzbestimmungen oft verstoßen, die Zahl der Verletzungen i n der Produktion ist hoch 1 3 8 ." U n d er wies auf die erhöhte A k t u a l i t ä t des Arbeitsschutzes beim Umgang m i t den i n zunehmenden Mengen i n die Agrarbetriebe gelangenden Pflanzenschutzund Düngemitteln h i n 1 3 9 . Eine kurz darauf erlassene Verordnung des Ministerrats der Kirgizischen SSR sah speziell die Unterweisung i n der Handhabung solcher chemischen M i t t e l v o r 1 4 0 , was offenbar etwas Neues war. Ein trübes B i l d von den Verhältnissen und insbesondere von der Gleichgültigkeit der Betriebsleiter gegenüber den Arbeitsschutzbestimmungen gab auch der Stellvertretende Landwirtschaftsminister der UdSSR 1 4 1 . Zwar bezogen sich solche K r i t i k e n auf die Landwirtschaft i m ganzen, aber zwischen den Betriebsarten bestanden krasse Unterschiede. Außer132 133

Sajbekov, S. 291.

So P. P. Pjatnickij, laut BaSmakov: Pravovye voprosy, S. 132. V O v o m 26. 3.1960, a.a.O., S. 714. 135 Kazaökin, S. 24; die einzelnen Bestimmungen i n Spravoönik po ochrane truda, S. 540 f. 136 A. Muradov, i n : Sz 20. 3.1966, S. 2. 137 V O des Präsidiums des Unions-Zentralrats der Gewerkschaften v o m 20. 2.1959 m i t dem „Polozenie ob obsòestvennom inspektore po ochrane truda ν kolchozach", i n : Spravoönik po ochrane truda, S. 546—549; auffallenderweise dauerte es einen ganzen Monat, bis darüber eine Notiz i n der Presse erschien, s. Pravda, 18. 3.1959, S. 2. 138 V. V. Griêin, i n : Trud, 16. 4.1965. S. 3. 139 Ebenda. 140 Ilebaev, S. 7. 141 I . Volovöenko, i n : Sz 29. 6.1967, S. 3. 134

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I I . Der Kolchoznik als Staatsbürger minderen Rechts

halb der technischen Abteilungen und Werkstätten, die seit der Auflösung der Maschinen-Traktoren-Stationen auch i m Rahmen von Kolchozen bessere Arbeitsschutzverhältnisse hatten, lag noch vieles i m argen, denn die hier Tätigen waren i n ihrer Masse gewöhnliche Kolchozn i k i und keine Gewerschaftsmitglieder 142 . Die Diskriminierung des K o l choznik machte sich so auch innerhalb der Kolchoze bemerkbar. Der erste Satz des Artikels 118 der Verfassung der UdSSR lautet: „Die Bürger der UdSSR haben das Recht auf Arbeit, das heißt das Recht auf garantierte Beschäftigung m i t Entlohnung ihrer Arbeit nach Quantität und Qualität." Da es sich u m ein subjektives Recht aller Sowjetbürger handelt 1 4 3 , das auch der Kolchoznik besitzt 1 4 4 , ergibt sich daraus folgerichtig, daß „der Kolchoz verpflichtet ist, i h m Arbeit zu geben unter Berücksichtigung seiner Qualifikation, seiner physischen und sonstigen Möglichkeiten" 1 4 5 . Er darf i h n auch nicht entlassen, es sei denn durch Ausschluß i m Falle schwerwiegender Verstöße gegen das Kolchozstatut146. Es gibt aber keinen Hinweis auf eine staatliche Institution, die darüber wachte, daß die Kolchoze dieser ihrer Verpflichtung auch nachkamen, oder an die die Kolchozniki sich zur Erzwingung ihres Rechts wenden konnten. I m Gegenteil: Der Staat selbst hat durch Maßnahmen gegen die nicht-agrarischen Nebenbetriebe der Kolchoze 147 deren Möglichkeiten zur Arbeitsbeschaffung eingeschränkt. Unbefangen w i r d festgestellt, daß „ i m Laufe von vier bis fünf Monaten des Jahres viele Kolchozen gegenwärtig nicht allen Artel'-Mitgliedern Arbeit geben können" 1 4 8 . Ein A r beitsentgelt w i r d i n der arbeitslosen Zeit nicht bezahlt 1 4 9 . Daraus ergibt sich, daß entweder der Verfassungsartikel, der nach neuerer Auslegung auch die „freie und freiwillige Wahl der Arbeit" einschließt 150 , leerer Buchstabe, oder das der Kolchoznik nicht Bürger, wenigstens nicht Vollbürger, der UdSSR ist, w e i l i h m ein Teil der verfassungsmäßigen Bürgerrechte vorenthalten ist 1 5 1 . Wenn es dazu noch 142

G. Osipenko, i n : Sz 24.1.1967, S. 2. Urzinskij, S. 28; s. jedoch die Bezugnahme auf das „ K o l l e k t i v " des K o l choz, nicht den einzelnen Kolchoznik bei Suslov: Èkonomiceskie, S. 225. 144 G. V. Ivanov: Clenstvo, S. 13. 145 Kaz'min: Organizacija, S. 99; s. auch Baêmakov: Pravovoe regulirovanie, S. 30. 148 Dmitrasko : Vnutrikolchoznye, S. 6. 147 Vasilenko/Kolesnev, S. 69; Cerniëenko : Pomoâcnik, S. 154 f.; Problemy ispol'zovanija, S. 89. 148 Pikul'kin/Satin, S. 89. 149 Sajbekov, S. 145. 150 Èkonomiceskie zakonomernosti, S. 309. 151 Recht gekünstelt w i r k t der Versuch, die „Vollbeschäftigung i m Sozialismus" dennoch zu behaupten, bei V. A. Boldyrev: Èkonomièeskij zakon naselen i j a p r i socializme, Moskau 1968, S. 58 f. Dort w i r d die Tätigkeit i n den p r i v a ten Nebenerwerbswirtschaften u n d i m Haushalt als Komponente der V o l l 143

4. Arbeitsschutz, Arbeitsrecht und -pflicht

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einer Illustration bedarf, so ist sie darin zu sehen, daß ein Kolchoznik auch dann keine Entschädigung für Verdienstausfall erhielt, wenn er unbegründet oder rechtswidrig aus dem Kolchoz ausgeschlossen oder von der Arbeit ferngehalten und später rehabilitiert worden w a r 1 5 2 . Desto nachdrücklicher w i r d immer wieder auf die Arbeitspflicht hingewiesen, die für alle Sowjetbürger ebenfalls i n der Verfassung (Art. 12) verankert ist» Sie realisiert sich für die Kolchozniki vor allem i n der Festlegung eines obligatorischen Arbeitsminimums für alle arbeitsfähigen Mitglieder, zum Teil sogar für Jugendliche, Alte, Invalide, kinderreiche M ü t t e r 1 5 3 . Während allgemein i n der Sowjetunion das arbeitspflichtige Alter m i t 16 Jahren beginnt, wurde die i m Krieg auch für Kolchozniki von 12 bis 15 Jahren eingeführte Arbeitspflicht 1 5 4 nie formell aufgehoben 1 5 5 , sondern nur überlagert durch das 1956 den Kolchozen gewährte Recht, das Arbeitsminimum selbst festzulegen 156 . Hinzu kommt: „Die Erfüllung des Minimums an Arbeitseinheiten befreit den Kolchoznik nicht von seiner Pflicht zu weiterer Teilnahme durch persönliche Arbeit i n der gesellschaftlichen Wirtschaft 1 5 7 ." Ein Kolchozmitglied, das i n irgendeine innerbetriebliche Funktion gewählt worden war, hatte kein Recht, die Übernahme dieser Aufgabe abzulehnen 158 . Für andere Sowjetbürger bestand eine derart extensiv ausgelegte Arbeitspflicht faktisch nicht: Die Millionenzahl verheirateter Frauen außerhalb der Kolchoze, die sich nur Haushalt und Kindern widmeten 1 5 9 , zeigt das eindeutig. Die von Kerblay gezogene Parallele der Kolchoz-Arbeitspflicht zur barscina 160 , der Fron des Rußland vor der Bauernbefreiung von 1861, ist daher berechtigt. Besonders augenfällig trat der Fronarbeitscharakter i n der Pflicht zum Wegebau zutage, durch die der Staat einen Teil seiner Lasten auf die Kolchozbevölkerung abwälzte. Diese Fron, die schon i n einer Verordnung vom Jahre 1936 festgelegt worden war, wurde neu geregelt i n einem Ukaz des Obersten Sowjets vom 26. November 1958 161 . Er sah beschäftigung i n Anspruch genommen, da sie, w e i l „notwendig zur Reprodukt i o n des Lebens", „ m i t t e l b a r gesellschaftlichen Charakter" trage. A b e r ob sie i n jedem F a l l notwendig ist u n d auch tatsächlich alle sonst arbeitslosen K r ä f t e v o l l beschäftigt, erörtert Boldyrev nicht, von der Fragwürdigkeit seines A r g u ments i m allgemeinen ganz zu schweigen. 152 pervuSin/Sinicyn, S. 18. 153 Vgl. Kaz'min: Organizacija, S. 100 f.; G. V. Ivanov: Clenstvo, S. 22; G. Ipsen: Arbeitskraft u n d Arbeitsvermögen, i n : Osteuropa-Handbuch, S. 50. 154 Arutjunjan: Sovetskoe krest'janstvo, S. 77. 155 Jasny: Socialized Agriculture, S. 398. m· v o v o m 6. 3.1956, i n : D i r e k t i v y , I V , S. 610. 157 Paschaver: Balans, S. 264. 158 G. V. Ivanov: Clenstvo, S. 20. 159 Vgl. Itogi, Tab. 32; Ipsen f a.a.O., S. 58. 160 B. Kerblay: The Russian Peasant, i n : Soviet Affairs, No. 4, S. 17. 161 „Ob uöastii kolchozov, sovchozov, promyslennych, transportnych, stroitel·nych i drugich p r e d p r i j a t i j i chozjajstvennych organizacij ν stroitél'stve i remonte avtomobil'nych dorog", i n : Pravda, 27.11.1958, S. 4. 5 Wädekin

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I I . Der Kolchoznik als Staatsbürger minderen

echts

Arbeitsleistungen der Kolchoze auf eigene Rechnung für Straßenbau und -unterhalt i m Umfang von jährlich 3 bis 4 Tagesnormen pro arbeitsfähigem Kolchoznik (einschließlich Frauen) und 2 bis 4 Tagesnormen pro Lastwagen, Traktor usw. v o r 1 6 2 . Zwar war eine ähnliche Pflicht auch den Sovchozen und anderen Staatsbetrieben auferlegt, aber deren Arbeitskräfte erhielten für diese Arbeit den vorgesehenen Lohn von ihrem Betrieb, also letztlich aus der Staatskasse. Die Kolchoze dagegen bezahlten die für den Straßenbau geleistete Arbeit ihrer Mitglieder aus ihrem Lohnfonds, der ja dadurch nicht wuchs, sondern dessen für die eigenen Kolchozarbeiten zur Verfügung stehender Rest (s. unten) dadurch entsprechend gemindert wurde. Faktisch handelte es sich also u m befohlene, unbezahlte Arbeit, die lediglich dem einzelnen (nach den meist minimalen Kolchozsätzen) auf Kosten aller Kolchoz-Arbeitskräfte vergütet wurde. Daß die Pflicht — wie beim alten Frondienst — durch Geldzahlungen der Kolchoze und sonstigen Betriebe an die Staatsorgane von Fall zu Fall abgelöst werden konnte 1 6 3 , unterstreicht nur ihren Charakter. Der Arbeitstag des Kolchoznik war i n seiner Länge, obwohl die Verfassung (Art. 119) den achtstündigen, später den siebenstündigen A r beitstag vorschrieb, nicht gesetzlich geregelt; er richtete sich nach dem Arbeitsanfall, wurde nicht nach Stunden gerechnet, und die Tagesnormen waren oft nach der Dauer des Tageslichts bemessen 164 . Für Jugendliche — von 18 bis herab zu 12 Jahren — gab es i n den meisten Kolchozen keinerlei Arbeitszeitregelung 165 . Zwar bestand, zum Beispiel, eine Vorschrift, daß die i m Baumwollbau Beschäftigten nicht jünger als 16 bis 17 Jahre sein durften, aber zur Erntezeit waren von den Pflückern ein Viertel bis zwei Fünftel Schüler, zum Teil des fünften und sechsten Schuljahrs, und sie arbeiteten wie die Erwachsenen „von A u f gang bis Untergang der Sonne" 1 6 6 . Ihre Bezahlung war nur formal die gleiche wie die der Erwachsenen, da die Normenerfüllung bezahlt wurde, die naturgemäß Jugendlichen schwerer fiel. I n der Industrie dagegen wurde der verkürzte Arbeitstag Jugendlicher voll bezahlt 1 6 7 . Wiederum war es nur ein Postulat für die Zukunft, daß auch i n Kolchozen Regelungen eingeführt würden, „die sich m i t analogen Regeln des Arbeitsschutzes für die i n staatlichen Agrarbetrieben arbeitenden Frauen und Jugendlichen decken" 1 6 8 . 162 s. den entsprechenden Ausführungs-Ukaz der RSFSR v o m 7. 4.1959 (auszugsweise) i n : Spravoònik buchgal'tera, 2. Aufl., S. 562—564, sowie Dodge: Women, S. 66. 163 Ebenda. 184 Kolchoz — skola, S. 286; Karnauchova: Povysenie, S. 31; Karnauchova: Ispol'zovanie, S. 81. 185 Kaz'min : Organizacija, S. 101; V. Duvakin , i n : Sz 22. 7.1966, S. 3. 188 A. Muradov, i n : Sz 20. 3.1966, S. 2. 187 Ivanov : Licom, S. 219. 188 Pervuéin/Sinicyn, S. 18.

5. Sozialleistungen

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Auch die Frauen waren i n Kolchozen benachteiligt gegenüber anderen berufstätigen Frauen. Sie erhielten nur einen Monat vor und einen Monat nach einer Entbindung Schwangerschaftsurlaub und i n dieser Zeit eine Bezahlung, die nur die Hälfte des jahresdurchschnittlichen Monatslohns — also gemindert durch die meist arbeitslosen Wintermonate — betrug169. 5. Sozialleistungen Die finanziellen Mutterschaftsbeihilfen waren für Kolchoznicy geringer als für andere Frauen 1 7 0 , aber daß sie überhaupt gewährt wurden, scheint ein Zugeständnis an die Bevölkerungspolitik der 1930er Jahre gewesen zu sein. Außer für Frauen bei Schwangerschaften gab es nämlich sonst keine obligatorische, auch nur teilweise gewährte Lohnfortzahlung oder Beihilfe für Kolchozniki i m Fall zeitweiliger Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit und anderer Ursachen — sie war auch 1965 noch ein Zukunftswunsch 1 7 1 . Zwar waren die Kolchoze gehalten, selbst einen Fonds für soziale Leistungen anzulegen, aber erstens waren die jährlichen Abführungen i n diesen auf maximal 2 % der Bruttoproduktion für sämtliche Arten solcher Leistungen begrenzt 1 7 2 , später auf 2 °/o der Naturalprodukproduktion und 1 °/o des Geld-Roheinkommens 173 , und zweitens war bei der schlechten Finanzlage der meisten Kolchoze und dem geringen Umfang der zur Verfügung stehenden M i t t e l mit nur geringfügigen Leistungen dieser A r t — meist als einmalige Beihilfen 1 7 4 — zu rechnen. Eine Verpflichtung zur Zahlung von Krankheitsbeihilfen, Alters- und Invalidenrenten usw. wie bei Arbeitern und Angestellten bestand nicht. Sajbekov gesteht bezüglich aller Sozialleistungen wie auch der Arbeitszeitregelung und Urlaubsgewährung offen ein: „ K r a f t einer Reihe bekannter sozialer, historischer Bedingungen w u r den jedoch diese Rechte i m Hinblick auf die Kolchozbauernschaft entweder faktisch überhaupt nicht verwirklicht, oder sie wurden unter den Bedingungen jedes Kolchoz m i t diesen oder jenen Einschränkungen angewandt 1 7 5 ." Das verfassungsmäßige Recht auf Erholung und bezahlten Urlaub war von vornherein nur für Arbeiter und Angestellte stipuliert (Art. 119 169 Musterstatut, VII/14, dt., S. 21/22; s. auch Dodge: Women, S. 69 (insb. Fußnote 66, w o die i n der Sowjetunion sonst üblichen, günstigeren Regelungen zusammengefaßt sind). 170 Dodge: Women, S. 73. 171 Vgl. V. V. GriHn, i n : Plenum (1965), S. 111; s. auch I . Gorëkov , i n : Sz 22.1. 1966, S. 3; Ruskol: Social'noe, S. 95 f. 172 Musterstatut, VI/11, dt., S. 17/18. 173 G. V. Ivanov: Clenstvo, S. 17. 174 Dmitraèko: Vnutrikolchoznye, S. 236.

175

5*

Sajbekov, S. 272.

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I I . Der Kolchoznik als Staatsbürger minderen Rechts

der Verfassung der UdSSR), hier lag die Diskriminierung der Kolchozbevölkerung also schon i m Wortlaut der Verfassung selbst. Ivanov wagt nur i n sehr allgemeinen Wendungen zu behaupten, daß dieses Recht den Kolchozniki i m Rahmen von innerbetrieblichen Regelungen gewährt werde 1 7 6 , während Sajbekov ganz auf solche Beschönigung verzichtet (s. oben) 177 . Noch nach 1964 gewährten nur „wenige, fortschrittliche" Kolchozbetriebe bezahlten Urlaub 1 7 8 . Zahlreich sind die Feststellungen sowjetischer Autoren, daß die sozialen Leistungen zugunsten der Kolchozniki zu gering seien und daß die Leistungen der Kolchoze selbst darin einen sehr kleinen Teil ausmachten, i n den Jahren 1958 und 1959 nur 10 °/ο 17θ . Die staatlichen Sozialleistungen und die der Kolchoze zusammen waren, pro Arbeitsfähigem gerechnet, nur halb so groß wie pro Industriearbeiter und betrugen rund 55 % von denen pro Sovchozarbeiter 180 . Die Relation war i m Jahr 1965 noch ungefähr die gleiche 181 . Das Verhältnis war i m ganzen noch etwas ungünstiger, weil außerhalb der Kolchoze der A n t e i l der Arbeitsunfähigen an der Bevölkerung wesentlich geringer war. 1965 wandte der Staat von seinen Sozialleistungen der Kolchozbevölkerung, die fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachte, nur 13 °/o zu 1 8 2 . Doch muß daneben auch gesehen werden, daß i n den 1960er Jahren die Sozialleistungen der Kolchoze selbst rasch gestiegen sind, von 7,7 Rbl. pro Kolchoz-Einwohner i m Jahr 1961 auf 13,5 Rbl. i m Jahr 1964. Pro Hof waren es 27 bzw. 47,4 Rbl. 1 8 3 . Ende 1962 kamen auf je drei Höfe zwei Personen i m nicht mehr arbeitspflichtigen A l t e r 1 8 4 , aber nur etwa jede fünfte von diesen erhielt eine Rente 1 8 5 — i n sehr geringer Höhe, denn vom Gesamteinkommen der Kolchozbevölkerung machten Renten und ähnliche Zuwendungen nur 2 bis 3 o/o aus 1 8 6 . Wenn man auch noch die Invaliden, Waisen und anderen möglichen Empfänger von Renten berücksichtigt, so t r i t t das völlig ungenügende Ausmaß der Sozialleistungen deutlich hervor. Auch die 1958 bis 1959 neunmal (s. oben), 1965 siebenmal so großen Leistungen 1 8 7 , die 176

G. V. Ivanov: Clenstvo, S. 16 f. Vgl. auch S. Zdanov, V. Kitaev (u. a.), i n : Sz 13. 9.1967, S. 4. Êkonomiôeskie zakonomernosti, S. 571. 179 Obscestvennye fondy, S. 292. 180 Ebenda, S. 293. Chozrascet, S. 112. 181 Tajcinova, S. 73. 182 Ebenda, S. 72. — Sidorova, S. 45 ff., bemüht sich darzulegen, daß die staatlichen Leistungen größer waren als gewöhnlich i n der Statistik ausgewiesen, k o m m t aber auch n u r (S. 48) auf 13—15 °/o. 183 Tajcinova, S. 72 (Tab. 1). 184 Etwa 11 M i l l , auf 16,3 M i l l . Höfe, errechnet nach Nar. choz. 1962, S. 344, u n d Lagutin: Problemy, S. 69. 185 Ca. 2,3 M i l l . Personen, nach Lagutin, a.a.O.; zum Jahresanfang 1964 waren es 2.,6 Mill., s. G. Sarkisjan: Povysenie, S. 12. 186 Errechnet aus den Angaben bei Lagutin: Problemy, S. 93. 187 Errechnet nach Tajèinov a, S. 72. 177

178

6. Diskriminierung durch das Lohnsystem

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von Seiten des Staates hinzukamen, änderten das nicht, denn i n diese M i t t e l ist auch der Unterhalt von Kindergärten und Schulen, sind Ausbildungsbeihilfen und die „kulturelle Massenarbeit" usw. mit eingerechnet 1 8 8 . Das hier Wesentlichste ist das oben dargelegte Verhältnis zu den Leistungen, die der übrigen Bevölkerung zukamen 1 8 9 , insbesondere den i n Sovchozen Tätigen, die ja i m gleichen Wirtschaftsbereich arbeiteten. Selbst die staatlichen Renten, ζ. B. für Kriegsinvalide, auf dem Lande oder für Landbewohner außerhalb der Kolchoze waren u m 15 °/o niedriger angesetzt als i n den Städten, wenn der Empfänger entweder Mitglied eines Kochozhofes oder eines Haushalts m i t einer privaten Bodenparzelle von 0,15 ha und mehr w a r 1 9 0 . Diese Bestimmung richtete sich zwar nicht ausschließlich gegen die Kolchozbevölkerung, traf aber i n der Hauptsache doch sie und ihre Angehörigen. Sie bestand auch 1965 noch, wurde aber anscheinend nicht mehr i n allen Fällen angewandt 1 9 1 . Das neue Rentengesetz speziell für die Kolchozbevölkerung vom 15. J u l i 1964 192 hat auf diesem Gebiet die Diskriminierung der Kolchozbevölkerung nur verringert, nicht aufgehoben. Es setzte das Rentenalter vorerst um fünf Jahre höher an als bei der übrigen Bevölkerung, und die Renten betrugen faktisch nur ein Drittel bis die Hälfte der Arbeiter- und Angestelltenrenten 19 3 , weil sie auf den sehr niedrigen Arbeitseinkommen der Kolchozinki, vor allem früherer Jahre, beruhten. Das Gesetz, unter Chruscev verkündet, trat erst nach dessen Absetzung, zum 1. Januar 1965, i n Kraft. 6. Diskriminierung durch das Lohnsystem Die materiell schwerwiegendste Diskriminierung der Kolchozbevölkerung stellte das zu niedrige Arbeitsentgelt dar, von dem auch nach sowjetischen Eingeständnissen der jüngeren Zeit eine Familie „nicht normal leben" konnte 1 9 4 und i n dem eine „Unterschätzung der Rolle des Arbeitenden" 1 9 5 ihren Niederschlag fand. Das t r i t t am klarsten hervor, wenn man einen Vergleich zu den Löhnen staatlicher Agrarbetriebe zieht, 188

Ebenda, S. 71. Über deren A r t u n d Organisation s. G. Hedtkamp: Finanzsysrtem u n d Geldwesen, i n : Osteuropa-Handbuch, S. 282—285. 190 „Polozenie ο porjadke naznaäenija i v y p l a t y gosudarstvennych pensij" v o m 4. 8.1956, Absatz V I I , P u n k t 102, i n : Sbornik postanovlenij, S. 147. 191 Karavaev, S. 10; dort auch über das sowjetische Rentensystem i m allgemeinen, das f ü r alle Sowjetbürger galt, die als Arbeiter oder Angestellte gearbeitet hatten. 192 „ O pensijach i posobijach élenam kolchozov", i n : Zakonodatel'stvo, S. 3— 8; dazu Ausführungsverordnungen, ebenda, S. 8 ff. 193 Volkov: Vsemerno ochranjat'. 194 Volosenkov, S. 26. 195 Suslov: Ob o p t i m a l e m , S. 49. 189

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denn bei einem Vergleich m i t nicht-agrarischen Wirtschaftsbereichen kämen andere Faktoren mit ins Spiel. Das durchschnittliche Arbeitseinkommen aus der „gesellschaftlichen Wirtschaft" (also ohne privaten Nebenerwerb, aber möglicherweise einschließlich Lohn von außerhalb des Kolchoz) betrug pro Kolchozhof, d. h. Familienhaushalt, i m Jahr 1961 ca. 473 Rbl., stieg auf 582 Rbl. zwei Jahre später und schließlich auf 688 Rbl. i m Jahr 1964 1θβ . Da i n diesen Jahren knapp 1,3 arbeitsfähige Kolchozniki auf einen Hof kamen 1 9 7 und etwas über 10 % der gesamten Arbeitsleistungen auf Alte, Invalide und Jugendliche entfielen 198 , kann man davon ausgehen, daß dieses Arbeitseinkommen — umgerechnet — auf etwas mehr als 1,4 voll Arbeitsfähigen pro Hof kam. Das bedeutet i m Durchschnitt (auch die wesentlich höheren Löhne der sog. Mechanisatoren, Fach- und Führungskräfte eingerechnet) ca. 25 Rbl. monatlich pro Vollarbeitskraft i m Jahr 1958 199 , ca. 26 Rbl. i m Jahr 1961, ca. 33 Rbl. 1963 und ca. 39 Rbl. i m letzten Regierungsjahr Chruâcevs. (Sonst i n der Literatur zu findende, auch durchaus seriöse 200 Angaben sind meist überhöht, w e i l sie von der Fiktion eines das ganze Jahr hindurch beschäftigten Kolchoznik ausgehen, der eben nicht den Durchschnitt darstellt.) Bei diesen Zahlen ist zu berücksichtigen, daß sie auch den Naturalteil des Arbeitsentgelts m i t umfassen, und zwar statistisch zu Einzelhandels- bzw. Marktpreisen gerechnet. Daneben sind die Durchschnittslöhne i n den Sovchosen zu sehen, die 53,1 Rbl. i m Jahr 1958 und 53,9 Rbl. zwei Jahre später betrugen (für 1961 liegt keine Zahl vor), i m Jahr 1963 auf 67,1 Rbl. gestiegen waren und i m letzten Regierungsjahr Chrusôecs 70,6 Rbl. ausmachten 201 . Ein etwa gleiches Verhältnis der Arbeitsentgelte pro Arbeitsfähigem gibt auch Zaslavskaja an, ohne absolute Zahlen zu nennen 2 0 2 . Die gleiche Autorin stellt fest, daß die Diskrepanz der Kolchoz- und Sovchozlöhne sich zwischen 1955 und 1964 nur wenig verringert hat 2 0 3 . Zieht man die geringeren Sozialleistungen i n Betracht, so kommt man zu dem Schluß, daß die Einkommen aus Sovchozarbeit auch noch 1964 doppelt so hoch waren wie die aus Kolchozarbeit. Den größeren Anteil qualifizierter A r 198 Errechnet aus den Zahlen bei Tajèinova , S. 72 (Tab. 1), u n d aus den Zahlen der Kolchozhöfe. 197 Wädekin: Landw. Bevölkerung, S. 43 (Tab. 1), errechnet. 198 Karnauchova: Ispol'zovanie, S. 60 (Tab. 2). 199 Geschätzt nach der Relation zu den Sovchoz-Löhnen bei Zaslavskaja: Raspredelenie, S. 43 (s. auch unten). 200 So etwa De Pauw, S. 43, sowie E. Schinke: Sowjetische A g r a r p o l i t i k unter Chrusèev, i n : Ludat, Hrsg., S. 287, der, anscheinend f ü r 1964, 50 bis 60 Rbl. pro Monat annimmt. 201 Nar. choz. 1965, S. 567. 202 Zaslavskaja: Raspredelenie, S. 43 (Tab. 5); hier sind aber Z w e i j a h r - D u r c h schnitte genommen. 203 Ebenda; eine ähnliche Feststellung f ü r 1956—1959, i n : ObScestvennye fondy, S. 251.

6. Diskriminierung durch das Lohnsystem

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beitskräfte i n Sovchozen bringt Zaslavskaja m i t einem Faktor von 3 °/o pro Arbeitstag i n Anschlag 204 , was etwas mehr als 4 °/o pro Vollarbeitskraft bedeutet 2 0 5 . Dieser Unterschied spielte also eine untergeordnete Rolle. Gegen das i m sowjetischen Schrifttum oft vorgebrachte Argument, die Arbeit i n Sovchozen sei produktiver und deshalb die höhere Bezahlung berechtigt, wendet sich die gleiche A u t o r i n m i t Nachdruck. Sie weist darauf hin, daß i n Wirklichkeit die Arbeitsproduktivität pro Arbeitstag i n Sovchozen nur u m 6,5 °/o höher war, wenn man den größeren Kapitalaufwand pro Arbeitseinheit berücksichtigt, und auch nur u m 16 %>, wenn man das nicht t u t 2 0 6 . Die künstlich niedrig gehaltenen Ablieferungs- und Aufkaufpreise des Staates für Agrarerzeugnisse truigen früher wesentlich zum niedrigen Niveau der Kolchozeinkommen bei. Aber nach den Preiserhöhungen der Chrusöev-Zeit — zum Teil wurden die Preise zwischen 1953 und 1962 vervielfacht — war das nicht mehr der F a l l 2 0 7 , vielmehr spielten die systembedingten überhöhten Erzeugerkosten, insbesondere i n der tierischen Produktion, nun eine wichtige Rolle 2 0 8 . Doch das war auch i n den Sovchozen der Fall. Der Unterschied bestand darin, daß dort der Staat feste, nur teilweise vom Betriebserfolg abhängige Löhne zahlte. I n den Kolchozen aber wurde der Lohnfonds gebildet, nachdem alle anderen finanziellen Verpflichtungen, auch innerbetriebliche Sachaufwendungen, abgedeckt waren, so daß nur der verbleibende Rest an die Kolchozniki ausbezahlt wurde, aufgeteilt nach ihrer Beteiligung an den Kolchozarbeiten 2 0 9 . Das war der berüchtigte „Restcharakter" der Kolchoz-Arbeitsentgelte. Er bedeutete, daß für jeden Betriebsverlust oder zu geringen Gewinn die Kolchozniki m i t ihrem Arbeitseinkommen bezahlten. Verluste aber wurden nur zum kleineren Teil durch schlechte Arbeit der einfachen Kolchozniki verursacht, zum größeren Teil durch die den Kolchozen auferlegte Produktionspolitik, die staatlichen Preisfestsetzungen, die Naturbedingungen usw. 2 1 0 , nicht zuletzt auch durch die von außen eingesetzten Betriebsleiter (vgl. unten). Grund für herabgesetzte Arbeitsentgelte brauchte nicht ein Verschulden der Kolchozniki zu sein, es genügte „die Tatsache an sich, daß die Ernte niedriger war als geplant" 2 1 1 . 204 205 208

S. 70. 207

Zaslavskaja: Raspredelenie, S. 42/43. 193 Arbeitstage pro Jahr i n Kolchozen, 280 i n Sovchozen, ebenda, S. 40. Ebenda, S. 40 f.; zum K a p i t a l a u f w a n d s. auch EmeVjanov: Neobchodimyj,

Eine Übersicht der Preisentwicklung bei M. Bornstein: Soviet Price Theory and Policy, i n : New Directions, S. 77—80. 208 Z u diesem Gesamtkomplex Ν. M. Jasny: Production Costs and Prices i n Soviet Agriculture, i n : Karcz , ed., S. 212—257. 209 Musterstatut, VI/12/f, dt., S. 19. 210 Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 141. 211 Baëmakov : Pravovye voprosy, S. 131.

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Landwirtschaftsminister Mackevic hat nach der Absetzung Chruscevs i n vernichtender Form zusammengefaßt, wie dessen agrarpolitische Entscheidungen die Ertragslage der gesamten Landwirtschaft beeinträchtigten 2 1 2 — und damit i n erster Linie Einkommen und Lebensstandard der Kolchozbevölkerung. Infolge des Lohnsystems hatte sie wie kein anderer Bevölkerungsteil darunter zu leiden. A u f solche Weise wurde auch schlechtes Wirtschaften der Betriebsführung von den Kolchozniki mit ihrem Arbeitsentgelt gebüßt 2 1 3 . Was unter diesen Bedingungen die K o l choze an Einkommen 2 1 4 erwirtschafteten und wieder investierten, das war „größtenteils m i t dem noch relativ niedrigen Niveau des Arbeitsentgelts der Kolchozniki verbunden" 2 1 5 . Gerechtfertigt wurde das m i t der Fiktion, daß es ja von den Kolchozniki selbst als genossenschaftlichen Betriebsbesitzern bzw. von ihrer Produktionsleistung abhinge, was ihre Arbeit wert war, und daß sie dementsprechend m i t ihrem Einkommen für die Ergebnisse ihrer Arbeit einzustehen hatten 2 1 6 . Geflissentlich übersehen wurde dabei, daß sie i n diesem „mittelbaren staatlichen Regiebetrieb i n der juristischen Form einer Genossenschaft" 2 1 7 nur wenig Einfluß auf den Betriebserfolg hatten. Und wenn sie doch einmal höhere Einnahmen erzielten, bot die Preis- und Ablieferungspolitik dem Staat genügend Möglichkeiten, sie abzuschöpfen 218 . „Der Kolchoznik fühlt oft keine reale Verknüpfung zwischen der Steigerung seiner Arbeitsaktivität und der Möglichkeit, seine materielle Lage zu verbessern 219 ." Emerjanov hat die Scheinheiligkeit der bis mindestens 1965 herrschenden, aber auch danach noch verbreiteten Lehrmeinung mit den Worten angeprangert, daß ihr zufolge „der Kolchoznik das erhält, was i h m zukommt, und daß i h m genau so viel zukommt, wie er erhält" 2 2 0 . „Einige Wirtschaftswissenschaftler, die die Notwendigkeit einer staatlichen Garantie des Arbeitsentgelts der Kolchozniki leugnen, meinen, daß i m Vordergrund nicht die Einheit, sondern die Unterschiede zwischen Kolchozen und Staatsbetrieben stehen. I n der Praxis w i r d diese 112

Mackevië, S. 4. Vgl. Emel'janov: Metodologiöeskie, S. 47. Der Verfasser vermeidet bewußt Begriffe wie „ G e w i n n " oder „ R e i n - E i n kommen", w e i l diese i n der sowjetischen Wirtschaftslehre einen anderen I n h a l t haben als i n der westlichen; zur Definition von „Bruttoproduktion", „Roheinkommen", „Geldeinkommen", „Reineinkommen" usw. i n der sowjetischen Landwirtschaft s. Cogoev, S. 105 ff. 215 Kassirov: Planovye pokazateli, S. 53. 216 Vgl. Emel'janov: Neobchodimyj, S. 72; DmitraSko: Vnutrikolchoznye, S. 6 f. 217 So die treffende Definition bei Maurach, S. 64. 218 Vgl. Zaslavskaja: Raspredelenie, S. 106 f. 219 Α. P. Terjaeva: Material'noe stimulirovanie rosta proizvoditel'nosti truda ν kolchozach, i n : P u t i povysenija, S. 103. 220 Emel'janov: Ekonomiceskie, S. 79; fast wörtlich ders.: Neobchodimyj, S. 64. 213 214

7. Höhere Steuern, geringere staatliche Leistungen f ü r den Kolchoznik

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methodologische These äußerst inkonsequent angewandt. Bei der Beantwortung der Fragen, wie die von den Kochozniki geschaffenen Produkte zwischen Kolchozen und Staat aufzuteilen, wie ein Teil des Werts der Kolchozproduktion für gesamtvolkliche Zwecke abzuzweigen sei, ging man immer von der Einheit der Kolchoze und der ganzen Gesellschaft aus, von der Stellung der Kolchozniki als Teilhaber am gesamtvolklichen Eigentum. Wenn aber die Bede darauf kommt, den Kolchozen die lebensnotwendigen M i t t e l zur Verfügung zu stellen (richtiger: sie ihnen zu belassen), dann werden sofort die Unterschiede zwischen den Kolchozen und den Staatsbetrieben i n den Vordergrund gerückt, w i r d der Gruppen [eigentums] Charakter der Kolchoze verabsolutiert und die damit verbundene Verantwortlichkeit der Kolchozn i k i für die Ergebnisse ihrer Arbeit. Da aber die Gesellschaft den K o l chozen nicht die nötigen ökonomischen Voraussetzungen für ihre A r beit zur Verfügung stellte, war deren Initiative äußerst beschränkt, alle Fragen wurden auf zentralisierte Weise geregelt, so daß dadurch die Kolchozniki materiell einzustehen hatten für die Qualität durchaus nicht ihrer eigenen Leistung, für die Ergebnisse nicht ihrer eigenen Arbeit 221." Worum es letzten Endes ging, war die Abschöpfung von M i t t e l n für den industriellen Aufbau, den Staatsapparat und den überhöhten Kostenaufwand des ganzen Wirtschaftssystems. „Der große Abzug vom Roheinkommen der Kolchoze erleichterte die Finanzierung der Volkswirtschaft, war aber zugleich eine Bremse für die Entwicklung der K o l chozproduktion 222 ." 7. Höhere Steuern, geringere staatliche Leistungen für den Kolchoznik Das dem Kolchoznik gezahlte Arbeitsentgelt stellte einen Nettolohn dar. Es wurde schon vor der Auszahlung besteuert, und zwar höher als die Löhne und Gehälter von Arbeitern und Angestellten. Das geschah versteckt und gab die Möglichkeit zu behaupten, das Einkommen aus Kolchozarbeit werde überhaupt nicht besteuert, sondern nur das Einkommen aus der privaten Hoflandwirtschaft 2 2 3 . Besonders Emerjanov hat den Scheincharakter dieser Steuerfreiheit klar aufgezeigt 224 . Von den Kolchozen als Betrieben wurde eine Einkommensteuer erhoben, die die bei staatlichen Betrieben Steuercharakter tragende 2 2 5 Gewinn221

Emel'janov: Neobchodimyj, S. 74. Zaslavskaja: Raspredelenie, S. 49. 223 ChruSöev, Rede v o m 5. 5.1960, i n : Pravda, 6. 5.1960, S. 3. — Letztere Besteuerung machte 1963 etwa 3 °/o des Gesamteinkommens der Kolchozniki aus der Landwirtschaft aus, laut Lagutin: Problemy, S. 9. 224 Emel'janov: Metodologièeskie, S. 301—304. 225 Vgl. G. Hedtkamp: Finanzsystem u n d Geldwesen, i n : Osteuropa-Handbuch, S. 262. 222

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entnähme angeblich nur ersetzte 226 , die aber, anders als bei den staatlichen Betrieben, auch dann bezahlt werden mußte, wenn der Kolchoz gar keinen „Gewinn" erzielt hatte, denn diese Steuer wurde mit 12,5 °/o aus dem „Roheinkommen" (unter Ausklammerung bestimmter Posten) berechnet 227 . Als Teil dieses Roheinkommens wurde der Lohnfonds der Kolchoze i n vollem Umfang mitbesteuert 2 2 8 . I m wesentlichen war dieses Steuersystem die ganze Regierungszeit ChruSöevs i n Kraft, Änderungen betrafen nur Einzelheiten untergeordneter Bedeutung 2 2 9 . Der Steuersatz wurde für einzelne Landesteile etwas differenziert 2 3 0 . I n der praktischen Anwendung ergab sich daraus und aus der Steuerfreiheit bestimmter Teile des Roheinkommens ein Satz von weniger als 12,5 o/o. Für die RSFSR, die man wegen ihrer Größe als weitgehend repräsentativ betrachten kann, bedeutete das eine Steuererhebung i n Höhe von 10,2 °/o des Roheinkommens der Kolchoze i m Jahr 1960 und i n den folgenden Jahren etwas weniger, so daß es 8,6 °/o i m Durchschnitt der Jahre 1959 bis 1963 waren 2 3 1 . A u f das Reineinkommen bezogen, waren das 31 °/o i m Jahr 1959 232 ; i m Gesamtdurchschnitt der UdSSR handelte es sich i n den Jahren vor 1965 u m Größenordnungen zwischen 21,5 und 33,3 °/o 233 . Das war mehr als die „bis zu 20 % " der zaristischen Zeit, die Lagutin als „gewaltige Summen" anprangert 2 3 4 . Hinzu kam noch die obligatorische staatliche Versicherung, für welche die Kolchoze der RSFSR weitere 9 % ihres Reineinkommens auf zuwenden hatten 2 3 5 ; ihre Bedingungen waren sehr ungünstig für die Kolchoze, so daß der Staat alljährlich erhebliche Gewinne aus ihr zog 2 3 6 . Da das Arbeitsentgelt — außer den Zusatzzahlungen und Prämien — i n der Kolchoz-Bilanz der letzte Posten vor dem Reineinkommen war, fiel die Steuerlast voll darauf, alle i m Rang vorangehenden Posten wurden 22β ChruSöev a.a.O. 227 Abrjutina, S. 144; Chozrasöet, S. 195. — Z u r Definition des „Roheinkommens" (valovoj dochod) s. Cogoev, a.a.O.; die nicht besteuerten Teile des Roheinkommens (im wesentlichen die Geld- u n d Materialaufwendungen f ü r Produktionszwecke u n d der Sozialfonds) genannt bei Emel'janov: Metodologiöeskie, S. 302, und, detailliert, i n der I n s t r u k t i o n des Finanzministeriums der UdSSR v o m 12.1.1959 „ O porjadke isöislenija i u p l a t y podochodnogo naloga s kolchozov", i n : Spravoènik buchgal'tera, 2. Aufl., S. 432—451, dazu Brief des Finanzministeriums v o m 4. 2.1961, ebenda, S. 451—459. 228 Emel'janov: Metodologiöeskie, S. 303; Dmitraëko: Vnutrikolchoznye, S. 25. 229 Emel'janov, a.a.O., S. 302; G. Hedtkamp, a.a.O., S. 264. 230 ObSfcestvennye fondy, S. 86. 231 Kassirov: Planirovanie, S. 60. 232 Abrjutina, a.a.O.; i n einer P u b l i k a t i o n der Chru§£ev-Zeit (Ob§öestvennye fondy, S. 88 f.) w a r der A n t e i l am Reineinkommen noch auf 19 °/o berechnet worden. 233 Chozrasöet, S. 196; s. auch ebenda, S. 71. 234 Lagutin: Problemy, S. 9. 235 Ebenda. 23e Finansy SSSR, 11/1965, S. 73 f.

7. Höhere Steuern, geringere staatliche Leistungen f ü r den Kolchoznik

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von der Steuererhebung nicht gemindert. Genau genommen war deshalb der Steuersatz, bezogen auf den Lohnfonds allein, noch höher, w e i l dieser, der 1960 i n der RSFSR 61,8 % des Roheinkommens der Kolchoze ausmachte 237 , u m so viel hätte größer sein können, wie auch das übrige Roheinkommen durch die Steuer gemindert worden war. Allerdings brauchten die Kolchoze keine Umsatzsteuer zu entrichten 2 3 8 , außer der bereits i n den Gütern enthaltenen, die sie von außen erwarben. Weitere Härten des Steuersystems für den Kolchoznik, i m Unterschied zum Arbeiter und Angestellten, kamen hinzu. Die Naturalien, die er als Teil seines Arbeitsentgelts erhielt, wurden meist nach Einzelhandelspreisen verrechnet 289 , also zu einem für i h n als den unmittelbaren Produzenten überhöhten Wert, und entsprechend ging der Steuersatz von diesem Wert aus 240 . Schlimmer war, daß dieses System auch das geringste Arbeitsentgelt besteuerte, denn es traf ja den Lohnfonds i m ganzen, gleichgültig, ob der einzelne Kolchoznik daraus viel oder wenig erhielt. Für i h n gab es also kein steuerfreies Mindesteinkommen wie für den Arbeiter oder Angestellten, bei dem seit 1960 Lohn oder Gehalt unter 60 Rbl. monatlich steuerfrei waren 2 4 1 . Erst nach ChrusSevs Absetzung ist auch für den Kolchoznik indirekt die gleiche Untergrenze der Besteuerung eingeführt worden 2 4 2 . Einer indirekten Besteuerung speziell der Landbevölkerung — allerdings nicht nur der Kolchozniki — kam es gleich, daß die staatlichen Einzelhandelspreise für viele Waren auf dem Lande höher angesetzt waren als i n den Städten. Die Differenz (die sog. sel'skaja nacenka) betrug seit 1950 i m ganzen etwa 7 °/o und war vorher fast doppelt so groß gewesen 243 . Sie wurde 1960 und noch einmal 1961 durch Abschaffung des Zuschlags auf verschiedene Waren verringert, nach Chruäöevs Absetzung ganz aufgehoben 244 . Was sie praktisch bedeutete, läßt sich an den Angaben ablesen, die anläßlich der einzelnen Schritte zur Senkung dieses Preiszuschlags gemacht wurden. Demnach betrugen die Einsparungen für die ländlichen Konsumenten 1960: 76 M i l l . Rbl., 1961: 160 Mill., zum 25. A p r i l 1965: 67,5 Mill., und zum 1. Januar 1966, als der Zuschlag ganz abgeschafft wurde, 400 M i l l . Rbl. 2 4 5 ; insgesamt bezahlte also vor 1960 der Landbewohner jährlich um 500—700 Mill. Rbl. mehr für seine Einkäufe i n den Läden des Staates und der Genossenschaften, als er i n städti257

L. Kassirov, a.a.O. G. Hedtkamp, a.a.O., S. 265. Obèôestvennye fondy, S. 82. 240 Emel'janov, a.a.O., S. 303. 241 Zaslavskaja: Raspredelenie, S. 120; V. F. Majer: period perechoda k kommunizmu, Moskau 1963, S. 113. 242 Paevskij, S. 75. 243 Vorkunov, S. 99. 244 Ebenda. 245 Ebenda. 238 239

Zarabotnaja piata ν

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echts

sehen Läden hätte bezahlen müssen, das sind pro Erwerbstätigem 2 4 6 10 bis 13 Rbl. jährlich. Lagutin schätzte den Betrag sogar noch höher, auf 550—600 M i l l . Rubel (anstatt 400 + 67,5 Mill., s. oben) vor 196 5 2 4 7 , und das ist möglicherweise auch noch nicht das ganze Ausmaß. Die angegebenen Unterschiede betreffen ja nur industrielle Konsumgüter, aber es scheint auch bei anderen Waren erhebliche Unterschiede gegeben zu haben. Dumont stellte u m 1962 i n einem Sovchoz der Moldau-SSR Preise von 21 Kopeken für ein K i l o Weißbrot und 17 Kopeken für ein K i l o Graubrot fest, während i n Moskau die entsprechenden Preise 15 und 12 Kopeken betrugen 2 4 8 . Trotz der höheren Preise erhielt der Landbewohner weniger und schlechtere Waren als der Städter. Als gegen Ende der Chruscev-Zeit i n den Kolchozen die Geldlöhne erhöht, zugleich aber die Naturalabgaben scharf eingeschränkt wurden, entstand auf dem Lande ein starker Kaufkraftüberhang 2 4 9 . Z u m Einkaufen i n die Städte zu fahren, w i e es oft getan wurde, war nicht überall und nicht immer möglich, insbesondere nicht bei Waren des täglichen Bedarfs. Der Warenmangel auf dem Lande ergab sich daraus, daß alle Waren, bei denen i m ganzen mehr Nachfrage als Angebot bestand, von den zuständigen Handelsorganisationen bewußt vorrangig i n die Städte geschickt und dafür die Kontingente für das flache Land herabgesetzt wurden 2 5 0 . I n ähnlicher Weise hat der Staat ganz gezielt die Elektrizitätsversorgung der Dörfer zugunsten der Städte gedrosselt; bis 1953 w a r es geradezu verboten gewesen, Agrarbetriebe an das staatliche Elektrizitätsnetz anzuschließen 251 : Die Kolchoze sollten sich ihre Energieversorgung m i t eigenen M i t t e l n schaffen 252 . Infolgedessen waren 1955 nur 25 °/o der K o l choze „elektrifiziert" 2 5 3 , wobei unter diesem Ausdruck zu verstehen ist, daß das Zentraldorf Strom hatte, nicht notwendig auch die anderen Dörfer eines Betriebs 2 5 4 . Erst seit Anfang 1961 ging man energisch daran, die Situation zu bessern 255 , i n den 1960er Jahren erhielten jährlich 1,5 246 52,3 M i l l , ländliche Beschäftigte (nach sowjetischer Definition) zum 15.1. 1959, Itogi, Tab. 33. — Die sich theoretisch ergebende Summe von 700 M i l l . bzw. 13,5 Rbl. wurde f a k t i s d i nicht erreicht, da i n der älteren Zeit auch der Umfang der Einkäufe geringer war, so daß die älteren u n d neueren Zahlen nicht vergleichbar sind. 247 Lagutin: Problemy, S. 11. 248 Dumont, S. 76; vgl. die hohen Mehlpreise i n den Dörfern der Moldau-SSR, i n : Spravoènik èkonomista, S. 140. 249 Morozov: Trudoden', S. 217 f. 250 P. Seiest, i n : Sz 15. 4.1967, S. 2. 251 Ostrovskij , S. 114—117; s. auch Chruèëev , I I , S. 204 f. (14. 2.1956). 252 Chruëèev, I V , S. 53 (28.11.1959). 253 Rede von V. V. Mackevië, i n : Pravda, 25. 2.1956, S. 10. 254 E. Peëatnikov , i n : Sz 26. 5.1967, S. 2. 255 Ostrovskij , S. 117 f.

8. Auswirkungen auf die Psyche der Kolchozbevölkerung

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M i l l . Kolchozhöfe eine Stromzuführung, aber noch lange waren Elektrogeräte „gleichsam ein Privileg der Städter" 2 5 6 . Auch bei anderen öffentlichen Aufgaben hielt der Staat sich gegenüber den Kolchozen zurück, als ob dort, i m Vergleich zu den Städten, keine vollwertigen Staatsbürger lebten. Sie mußten durch zusätzliche „Selbstbesteuerung" zahlreiche öffentliche Aufgaben finanzieren, und betriebseigene Wohnungen gab es hier — anders als i n den staatlichen Sovchozen — nicht 2 5 7 . Manchen Kolchozen wurde die Post nicht zugestellt, und fast alle waren gezwungen, sich Briefträger auf eigene Kosten zu halten 2 5 8 . Auch die Auszahlung von Renten wälzte die Post meist auf die Kolchoze ab, obwohl sie selber dafür von der Sozialversicherung bezahlt wurde 2 5 9 . Ähnlich stand es m i t dem Bau von Schulen, Krankenhäusern u. ä. Es wurde rühmend hervorgehoben, wenn „wirtschaftlich starke" Kolchoze dem Staat diese Aufgaben abnahmen 260 , aber da solche Kolchoze eine Minderheit darstellten, ist das keine Begründung dafür, daß von 1956 bis 1962 mehr als die Hälfte aller Schulen auf dem Lande von Kolchozen aus Eigenmitteln gebaut wurden 2 6 1 , und daß auch von Krankenhäusern und Ambulanzstationen ein großer Teil aus Kolchozmitteln errichtet wurde 2 6 2 . Lagutin bemerkt mit Recht, daß das dem Lohnfonds der Kolchoze beträchtliche M i t t e l entzog 263 , also i m Grunde eine A r t Schulbausteuer darstellte. Chruscev, an sich ein eifriger Befürworter solcher Aufwendungen der Kolchoze, hat selbst einmal darauf hingewiesen, daß diese Ausgaben den Kolchozen oft aufgezwungen w u r den 2 6 4 . Auch die Straßenbaupflicht (s. S. 65 f.) ist in solchem Zusammenhang zu nennen, denn m i t der Zeit wurde sie überwiegend i n Geld abgegolten und verwandelte sich faktisch i n eine Sondersteuer 265 . 8. Auswirkungen auf die Psyche der Kolchozbevölkerung Die Folge dieser Gesamtsituation war, daß der Kolchoznik das Interesse an seiner Arbeit, seinem Betrieb, seiner Produktionsleistung verlor. Lange hat man geglaubt, das ignorieren, das mangelnde Interesse durch Zwang ersetzen zu können. Aber die Entwicklung der Landwirtschaft blieb immer weiter hinter der der anderen Wirtschaftsbereiche zurück, i n ihrer Rückständigkeit band sie übermäßig viele Arbeitskräfte, welche 256 257 258 259 260 261 262 263 284 265

P. Neporoènij, i n : Sz 25.10.1967, S. 3. Suslov: Ékonomièeskie, S. 227 f. I . Sevelev, P. Semuchin, i n : Sz 17. 3.1966, S. 2. P. Vajnëtejn, V. Micheev, N. Smeleva, i n : Sz 18. 6.1967, S. 2 Kolchoz — Skola, S. 181. Lagutin: Problemy, S. 64 (Tab. 17). Ostrovskij, S. 204. Lagutin: Problemy, S. 63. Chruëëev, V I , S. 433 (5. 3.1962). Zaluznyj, S. 133.

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die Industrie, selbst von der Disproportion i n Mitleidenschaft gezogen und i n vielen Bereichen unwirtschaftlich produzierend, gebraucht hätte. Der Landwirtschaft wurden später zwar Preise gezahlt, die weit über dem Weltmarktniveau lagen 2 6 6 , aber sie produzierte zu teuer, u m daraus N u t zen ziehen zu können, Subventionen und verlorene Darlehen konnten die Agrarproduktion nur i n Gang halten, nicht sie i m erforderlichen Ausmaß steigern. Eine Landflucht epochalen Ausmaßes flöß unkontrollierbar durch das Maschennetz der Schollenbindung und drohte ganze Provinzen veröden zu lassen 267 . Erst als die Symptome alarmierend wurden, hat die Sowjetführung i m Winterhalbjahr 1964/65 das Steuer herumgeworfen. Die Situation läßt sich m i t dem Vorabend der fast genau ein Jahrhundert zurückliegenden russischen Bauernbefreiung von 1861 vergleichen. Nun wurden maßgebliche kritische Stimmen auch i n der Öffentlichkeit laut, wie, zum Beispiel, die des Ersten Parteisekretärs der Provinz Kostroma: „Ehrlich und aufrichtig gesagt, haben w i r i n den Jahren des Persönlichkeitskults [Stalins] und i n den darauf folgenden Jahren vieles getan, u m die Liebe des Bauern zur Erde zu vermindern. Für niemand ist es ein Geheimnis, daß i n einigen Regionen unseres Landes, besonders i n der Zone nördlich des Schwarzerdegebiets, der Bauer für die Erde nichts mehr empfindet, er sie aufgibt, veröden läßt, bittet, sie abzuschreiben, den Umfang der Nutzflächen zu verringern. Und der Grund einer so anomalen Lage besteht darin, daß die Erde ihn, den Bauern, schlecht nährt, i h m nicht den Lebensstandard gewährleistet, den man leicht erlangen kann, wenn man die Erde aufgibt und i n die Stadt arbeiten geht 2 6 8 ." Das ist ganz wörtlich zu nehmen, die Erde warf dem Kolchoznik nicht nur keinen oder einen minimalen Ertrag zum Kauf industrieller Güter aber, sondern nährte i h n tatsächlich schlecht. I n dieser Hinsicht kommt es nicht so sehr auf die absolute Kalorienmenge an, sondern auf die Relation zum Lebensstandard und zur Ernährung der Städter. Zwar hat sich der Verbrauch von Nahrungsmitteln auf dem Lande i m Vergleich zu früheren Zeiten erhöht, und darauf w i r d von sowjetischen Autoren stets gern hingewiesen 269 , aber der Abstand zu den Städten blieb enorm. Dabei war immer noch der Verbrauch an Kohlehydraten (Brot, Mehl, Kartoffeln) groß, der an Fetten und Eiweiß gering, während i n den Städten der Verbrauch sich viel stärker zu den hochwertigen Lebensmitteln 2ββ Vgl. Ν. M . Jasny: Production Costs and Prices i n Soviet Agriculture, i n : Karcz, ed., S. 212—257. 267 Vgl. u. a. I. S. Gustov, i n : Plenum (1965), S. 142. 268 L. Ja. Florent' ev, i n : Plenum (1965), S. 176. 269 Etwa von A. N. Malafeev: Istorija cenoobrazovanija ν SSSR, Moskau 1964, S. 345 f.; Lagutin : PovySenie, S. 25.

8. Auswirkungen auf die Psyche der Kolchozbevölkerung

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verlagerte. Aus den für das Jahr 1958 vorliegenden direkten Angaben über den Pro-Kopf-Verbrauch der Kolchozbevölkerung 270 und über den der Sowjetbevölkerung i m ganzen 271 , lassen sich folgende Vergleichszahlen ermitteln: Pro-Kopf-Verbrauch

(kg im Jahr 1958) der

Kolchozbevölkerung Brot u n d Getreideerzeugnisse Kartoffeln Fleisch u n d tierische Fette . . . Milch u n d Milchprodukte Eier (Stück)

214,6 220,1 24,9 174,6 87,3

Stadt- u. resti. Landbevölkerung ca. ca. ca. ca. ca.

144 118 41 267 118

* f ^ 1 " £!vòlkerung 172 150 36 238 108

Der Unterschied zwischen Stadt und Land war bei der Versorgung m i t Industriegütern noch größer. Die eigenen Beobachtungen des Verfassers bestätigen, was Chombart de Lauwe feststellte: Einen Kolchoznik konnte man schon nach seinem Aussehen, nach Haltung und Kleidung, ohne weiteres vom städtischen Arbeiter oder Angestellten unterscheiden 272 . Das schließt nicht aus, daß es auch dem Kolchoznik besser ging als vor der Revolution oder vor der Kollektivierung, vor allem i n kulturell-zivilisatorischer Hinsicht, wie es Hindus, etwas idealisierend, beschreibt 273 . Hindus übersieht aber, daß die i n der Literatur überkommenen sozialkritischen Beschreibungen des bäuerlichen Rußland vor der Revolution meist die ärmsten und entlegensten Gegenden und Dörfer betrafen, während das, was der Ausländer heute zu sehen bekommt, die Landesteile sind, die i n der Regel auch früher schon besser daran waren. Aber wie groß oder gering der Abstand zur Zeit vor 1917 auch sein mag — auf i h n kommt es weniger an. Was die überwältigende Mehrheit der K o l chozbevölkerung unter Chru§cev kannte und sah, war der Kontrast zum Leben nicht nur der Städte, sondern auch der Sovchoze und der nichtagrarischen Landbevölkerung. Und dieser Kontrast war zu groß, wurde zudem täglich empfunden. Der Kolchoznik hatte deshalb i n jeder Hinsicht Anlaß, sich vom sozialistischen Staat und dessen tragender Partei diskriminiert zu fühlen, selbst wenn er der bäuerlichen Selbständigkeit nicht nachgetrauert haben sollte. Seine Einstellung zu diesem Staat und dieser Partei muß daher 270 271 272 273

Lagutin: PovySenie, S. 25 (Tab.). Nar. choz. 1965, S. 597. Chombart, S. 292. Hindus, S. 217, 236 f., 261—278.

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. Der Kolchoznik als Staatsbürger minderen Rechts

überwiegend negativ gewesen sein. Auch i n sowjetischen Publikationen schimmert das h i n und wieder durch, wenn auch nur andeutungsweise. So heißt es i n der Studie über den Kolchoz „Rossija" : „Die Überbleibsel der Vergangenheit i m Bewußtsein der Kolchozniki halten sich nicht nur infolge des Zurückbleibens hinter der materiellen Lebensweise [der Sowjetbürger i m ganzen], hinter den geänderten Lebensbedingungen, sondern auch infolge bestimmter Schwierigkeiten i n der Entwicklung der Kolchoz-Ordnung. Die Verstöße gegen das Prinzip der materiellen Interessiertheit der Kolchozniki i n den Nachkriegsjahren haben i n bestimmtem Grade den Formungsprozeß eines sozialistischen Bewußtseins gehemmt. Ernste Versäumnisse i m kollektiven Wirtschaften, der Verstoß gegen das Prinzip der Kombination des Gesellschaftlichen und des Persönlichen waren der Grund dafür, daß Undiszipliniertheit und individualistische Einstellungen auftraten. Belebt und aufrechterhalten werden die Überbleibsel der alten Moral durch verschiedenerlei Lebensschwierigkeiten und Ungeregeltheiten, durch persönliche U n b i l l der Menschen 274 ." Verallgemeinernd für die Kolchozbevölkerung i m ganzen sprach sich Aitov i n ähnlichem Sinne aus: „Die K r a f t alter Gewohnheit, die K r a f t der Tradition w i r k t auf die Kolchozniki stärker ein als auf die Arbeiter. Hier macht sich auch das i m Vergleich zur Stadt niedrigere Kulturniveau bemerkbar und die Existenz der persönlichen [Nebenerwerbs-] Wirtschaft, die Beschäftigung i m Haushalt und auch die noch nicht ganz vergessenen Jahre der Schwierigkeiten [gemeint ist die Stalin-Zeit], die ein Streben, einen Zug ,zu Reserven 4 geboren haben, nämlich seinen »Reichtum' nicht nach außen zur Schau zu stellen, i h n vor den Nachbarn zu verbergen. Die Unterschiede i n den Produktionsverhältnissen, aber auch die aus den Produktionsverhältnissen geborenen Unterschiede i n der Lebensweise, ebenso wie die historisch gewordenen Traditionen und Gewohnheiten, wirken sich i n der Sozialpsychologie der Bauern aus. Daraus entspringen eine Reihe widerspruchsvoller Momente i n der Psychologie der Kolchozniki und ein gewisser Unterschied zur Psychologie der Arbeiter 2 7 5 ." Aitov möchte zwar dann alles damit erklären, daß es sehr schwierig sei, „ i n einigen dreißig Jahren, gänzlich und bis zum Grund, das Bewußtsein einer Klasse umzuwandeln, die jahrhundertelang unter den Bedingunigen des Privateigentums lebte" 2 7 0 , aber das darf man als zu 274

Kolchoz — gkola, S. 251 f. Ν. A. Aitov: Izmenenija social'noj prirody i klassovych osobennostej krest'janstva, i n : Sociologija, I, S. 368. 27β Ebenda. 275

8. Auswirkungen auf die Psyche der Kolchozbevölkerung

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einseitigen Erklärungsversuch abtun. Es sind die Erlebnisinhalte nicht nur der ferneren, sondern noch mehr der jüngeren und jüngsten Vergangenheit, die die Sozialpsyche der Kolchozbevölkerung geprägt haben, und diese Erlebnisinhalte sind unzweifelhaft die von Dostojevskijs „Erniedrigten und Beleidigten", aber i m Zeichen des sowjetischen Sozialismus. Der neue Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion erklärte 1967 zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution: „Das Wort »Kolchoznik' sprechen alle Sowjetmenschen m i t großem Respekt aus 2 7 7 ." Das ist — wohlwollend — als ein Postulat zu interpretieren, als die Deklaration einer von der Führung gewollten anderen Einstellung zur Kolchozbevölkerung, aber den Tatsachen der jüngsten Vergangenheit entspricht es nicht. Der Kolchoznik selbst war sich dessen durchaus bewußt. Er empfand sich als Staatsbürger zweiter Klasse, fühlte sich dem Stadtbewohner gegenüber benachteiligt und wußte, daß dieser i h n nicht als vollwertigen Menschen betrachtete. „Als ob i m Dorfe keine Menschen lebten . . . " , sagt eine alte Frau i n einer Erzählung A. Nekrasovs, und ihre Gesprächspartnerin setzt den Gedanken fort: „Sie alle, die Städter, blicken herab auf unsereinen, auf die Dörfler. K a u m kommt die Rede auf uns, so heißt es: Kolchozniki, Hinterwäldler, T ö l p e l . . . 2 7 8 . " Jemand einen Kolchoznik nennen hat einen verächtlichen Klang, „von jemand, der nicht modisch gekleidet ist, sagt man: Kolchoznik" 2 7 9 . I n ein besseres städtisches Restaurant w i l l man einen Kolchozvorsitzenden nicht einlassen, w e i l er die übliche Kleidung des einfachen Kolchoznik trägt: Wattegesteppte Hosen und Überjacke 2 8 0 . Das Wissen u m diese Verachtung gegenüber der K o l chozbevölkerung dürfte es auch gewesen sein, das einen jungen Burschen zu der Bitte veranlaßte, i n seinen Paß nicht einzutragen, daß er aus einem Kolchoz stammte, und er war nicht der einzige, der so einen „sauberen Paß" haben wollte 2 8 1 . Selbst i n Propagandaschriften für das Ausland schimmerte der wahre Sachverhalt durch, so wenn i n der Beschreibung eines besonders blühenden Kolchoz — aber eben eines solchen — der Journalist erzählte, viele Kolchozniki dort hätten i h m gesagt, „sie würden bald ,nicht schlechter als die Städter 4 leben. Das heißt, daß der Neid i m Dorf gegenüber dem Stadtbewohner abstirbt" 2 8 2 . Was abstirbt, muß aber erst einmal da sein — ein Menschenalter nach der „sozialistischen Umgestaltung des Dorfes", 277 278 279 280 281 282

L. I. Breznev , Rede v o m 3.11.1967, i n : Sz 4.11.1967, S. 3. Nekrasov, S. 84/85. Kto, esli ne my, i n : Koms. pravda, 17. 7. u n d 31. 5.1965. Doroë: Rajgorod, S. 38. V. Bodganek, i n : Koms. pravda, 13. 8.1965, S. 2. A. Gurjanow, i n : Die Sowjetunion heute, 1/1960, S. 20.

6 Wädekin

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I I . Der Kolchoznik als Staatsbürger minderen Rechts

die unter dem Versprechen vollzogen worden war, daß mit ihr ein neues, besseres Leben und volle Gleichberechtigung Einzug hielten. Kein Wunder, daß es als unverständlich galt, wenn jemand aus der Stadt freiwillig i n einen Kolchoz ging, u m dort als einfaches Mitglied zu arbeiten. Bei Doroâ sagen über eine Mutter, die ihre Tochter dies t u n ließ, die Nachbarsfrauen empört: „ M a n denke nur: das leibliche K i n d — ins D o r f 2 8 3 ! " Und daß zeitweilig die — wirklichen oder angeblichen — „Nichtstuer" (tunejadcy) aus den Städten i n die Kolchoze zwangsverschickt wurden, übrigens ohne die Kolchoze erst zu fragen, was dem Kolchozstatut zuwiderlief 2 8 4 , verrät auf andere Weise die gleiche Einstellung. Über die — bewußte oder unbewußte — Einstellung der sowjetischen Partei- und Staatsführung, aus der dies alles herrührt, stellte E. Doros einige Überlegungen an, die den wahren Ursachen sehr nahe kommen: „Einige leitende Genossen hier, die für den Stand der Dinge in der Landwirtschaft Verantwortung tragen, stellen sich den [Kolchoz-]Bauern gleichsam als schwererziehbares K i n d oder als faulen Einfaltspinsel vor, belehren ihn, lehren ihn Wahrheiten, die er oft von Kindesbeinen an schon kennt. Und sie sind dabei so überzeugt von ihrer Überlegenheit i h m gegenüber, daß sie nicht die unter solchen Umständen natürlichen Hemmungen empfinden 285 ." „Ist er [der Kolchoznik] Herr und Meister [chozjain] i n seinem Kolchoz, wie es dem eigentlichen Wortsinn des Begriffs Kollektivwirtschaft' zufolge sein müßte? Bezüglich der Frage, ob er Herr und Meister oder Arbeitskraft ist, sagt Ljuda, daß er bei ihnen i m Kolchoz Arbeitskraft ist. Niemand spricht hier m i t den Kolchozniki, niemand erläutert ihnen, welche Arbeiten geplant sind, was getan w i r d und was schon getan ist. Ich sage, daß Produktionskonferenzen und erzieherische Arbeit natürlich notwendig sind. Aber das ist nicht das Wesentliche. Dem Kolchoznik garantiert niemand seinen Arbeitslohn, folglich muß er die Möglichkeit haben, die Wirtschaft so zu führen, daß keine Verluste entstehen, denn sonst erhält er eben nichts. Es ist seltsam, seit wieviel Jahren man nun schon, wenn bei uns i n der Bezirksstadt — und auch i n der Provinzverwaltung — die Rede auf die Landwirtschaft kommt, hauptsächlich über die Vergrößerung der Kolchoze spricht, über die Entsendung von Menschen aus der Stadt als Kolchozvorsitzende, über den Futterwert von Mais, über Ställe mit Gewölberippenkonstruktion. 283 Doroë: Cetyre vremeni, S. 17. — Vgl. das mißtrauische Staunen eines Kolchozvorsitzenden über ein solches Mädchen bei Kuznecov: U sebja, S. 4 f. 284 Dem'janenko: SoverSenstvovanie. 285 Doroë: Rajgorod, S. 42.

8. Auswirkungen auf die Psyche der Kolchozbevölkerung

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Und nicht allen kommt es dabei i n den Sinn, sich zu fragen, wieviel der Kolchoznik verdient, ob er mehr verdienen wird, wenn man den Kolchoz vergrößert und einen neuen Vorsitzenden schickt, und was er überhaupt von dem allen hält, ob -er es unter den örtlichen Gegebenheiten nicht als angebrachter ansieht, einen [herkömmlichen] Stall i n Ziegelbauweise zu errichten, anstatt einen m i t Gewölberippen, ob er nicht findet, es sei i n unserer Gegend vorteilhafter, ein Hafer-WickenGemisch anzusäen anstatt Mais [ . . . ] [ . . . ] Es ist Zeit, sich von der gelegentlich anzutreffenden Einstellung loszusagen, welche die Interessen des Kolchoznik als den Staatsinteressen zuwiderlauf end betrachtet.. . 2 8 e . " Die Frage, wie man dem Kolchoznik das Gefühl geben könne, kollektiver Herr und Meister (chozjain) auf seinem Grund und Boden zu sein, u m damit sein Interesse am Betrieb zu wecken, w i r d heute i m sowjetischen Schrifttum viel erörtert. Sehr milde i n der Form, aber i n der Sache zutreffend, sagte darüber Skedrov, auf die Stalin-Zeit und die Regierungszeit Chruscevs zurückblickend: „Die vielleicht schwerwiegendste Folge des Voluntarismus i n der Landwirtschaft besteht darin, daß dieser bei den Kolchozniki das Bewußtsein, Herr und Meister zu sein, unterhöhlte 2 8 7 ." Auf die Chruäcev-Zeit bezieht sich auch, was der Schriftsteller-Stadnjuk einen ukrainischen Kolchozvorsitzenden sagen ließ: „Er ist tatsächlich Herr und Meister [chozjain], man hat i h m sogar Schriftstücke über das ewige Nutzungsrecht am Boden ausgehändigt. Aber das Unglück liegt darin, daß man den Dorfbewohner nicht frei wirtschaften läßt. Ich sage über die letzten Jahre: Man hat angefangen, für i h n zu denken, i m Bezirk, i n der Provinz und höher oben. I h r wißt ja so gut wie ich: Man gibt dem Kolchoz nicht nur eine Auflage, wieviel und was er dem Staat verkaufen soll, sondern auch einen obligatorischen Plan der Saatflächen und für die Entwicklung der Viehwirtschaft. Man führt den Bauern wie ein kleines K i n d : Das sä' hier und das dort, und das sä* überhaupt nicht; diese A r t Vieh sollst du halten und jene nicht. Und der Bauer ist verpflichtet, alles zu tun, was man i h m sagt, obwohl sein Inneres stumm aufschreit, denn er weiß ja bei weitem besser als manche Leute, was er zu t u n hat und wie, damit er sowohl die staatlichen Pläne erfüllt als auch selber nicht zu kurz kommt. Und dafür gibt es übrigens i n den Kolchozen auch wissenschaftlich gebildete Agronomen und Techniker, und auch w i r Kolchozvorsitzenden mitsamt den Kolchozleitungen sind keine Hohlköpfe. Denn, u m die Wahrheit zu sagen, nicht die Dürre ist schuld, daß i n 288 287

6*

Doroê : Dozd', S. 56 f.

Skedrov, S. 269.

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I I . Der Kolchoznik als Staatsbürger minderen Rechts

diesem Jahr [1963] der Bezirk kein Getreide hat! Schuld ist die Schablonenhaftigkeit des Landbaus 2 8 8 ." A u f diesem Hintergrund werden die Gedanken verständlich, die u m 1955 einen höheren Funktionär heimsuchten, der anläßlich des Begräbnisses seiner Mutter nach langer Abwesenheit wieder einmal i n sein heimatliches Dorf gekommen war und die dortigen Verhältnisse gesehen hatte. Er versuchte, die i h n bedrängenden Gedanken beiseite zu schieben, aber auf der Heimreise, i m Zug, verfolgten sie i h n und brachten ihn i n eine seelische Situation, die auffallend der des „bereuenden Adels" i m Rußland des 19. Jahrhunderts ähnelt: „Befriedigt dachte er daran, wie er morgen i n sein warmes, sorgfältig eingerichtetes Arbeitszimmer gehen und sich i n den bequemen Stuhl vor dem Schreibtisch setzen würde. Aber ein eigenartiges Gefühl von Schuld blieb zurück. Der Schlaf kam nicht, und m i t seinem inneren Auge sah er das hölzerne Kreuz gegen den grauen Himmel ragen, sah er das vertraute Haus, die lange Bretterbank an der Wand und den alten Samowar i n der Ecke. U n d hinter dem klobigen Tisch saß seine Mutter m i t dem kleinen, umschatteten Gesicht, wie er es zum letztenmal i n der Kirche gesehen hatte. Sie kam auf i h n zu, und i n die Dunkelheit hinein wiederholte sie m i t zaghafter Hoffnung und gläubigem Vertrauen i n der Stimme jene Frage der alten Frau i n der Uniformjacke: ,Ist es Recht, oder ist es Unrecht, was sie mit uns getan haben28»?' "

288

Stadnjuk, 9, S. 22/23. Nikolai Shdanow (Nikolaj Zdanov): Die Fahrt i n die Heimat (Poezdka na rodinu, i n : L i t e r a t u r n a j a Moskva, I I , Moskau 1956; dt.), Rühle, Hrsg., S. 204 (Hervorhebungen v o m Verf. — KEW). 289

I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande Staatsmacht und Lenkung des gesamten öffentlichen Lebens, einschließlich der Wirtschaft, liegen i n der Sowjetunion i n den Händen der Partei. Das w i r d von niemand innerhalb und außerhalb der Sowjetunion ernsthaft bestritten. Unklarheiten und Meinungsverschiedenheiten bestehen lediglich über die A r t , wie diese Macht ausgeübt wird, und über die Bewertung. I m folgenden w i r d von einer Bewertung und von einer Darstellung der Verhältnisse auf höherer und gesamtstaatlicher Ebene abgesehen. Gezeigt werden sollen der Wirkungsmechanismus und die personelle Basis der Parteiherrschaft i n sowjetischen Dörfern. Unter Stalin war das flache Land von Parteiorganisationen und Parteimitgliedern kaum durchdrungen; die Partei hatte ihre Basis i n den Bezirksstädten und i n den sog. Maschinen-Traktoren-Stationen und herrschte von da aus über die Dörfer und Kolchoze mit ihren wenigen und/oder kleinen Parteiorganisationen 1 . Anders verhielt es sich i n den relativ wenigen Sovchozen, wo von Anfang an Partei-Grundorganisationen bestanden 2 . Sehr bald nach Stalins Tod begann die damalige neue sowjetische Führung m i t dem Versuch, diese Situation zu ändern, indem sie Parteifunktionäre und Fachkräfte, die zum großen Teil Parteimitglieder waren, aufs Land entsandte und zugleich jüngere Menschen aus den Dörfern selbst als Parteimitglieder zu gewinnen suchte. Der Erfolg war trotz intensiver Bemühungen die ganze Regierungszeit Chruscevs hindurch nur begrenzt. I h m w i r k t e vor allem die Landflucht entgegen, das Abströmen gerade der jüngeren und qualifizierten Kräfte vom Lande, das nicht nur die Schicht der fachlichen, sondern zugleich auch die der politischen Führungskräfte ständig wieder verdünnte. Die Folge dieser Bemühungen und ihrer nur begrenzten praktischen Wirkung war, daß die Partei i n den Dörfern weiterhin eine kleine Minorität blieb, viel kleiner als i n den Städten, und daß diese Minorität weit überwiegend aus den Führungskräften und Vertretern der Oberschicht bestand. Die soziale Charakteristik ist unverkennbar: Je wichtiger und höher die Funktion eines Menschen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß er zur Partei gehört — von fast hundert Prozent Mitgliedern unter den Betriebsleitern über verschiedene soziale Abstufungen bis zu 1 2

Vgl. Rigby, S. 290—295, insbes. die Zahlen f ü r die Provinz Orel, S. 291. Zoerb, S. 94.

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I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

weniger als einem Prozent unter der Masse der einfachen Kolchozniki. Das ist, obwohl auf Grund einzelner Eindrücke oft vermutet, bisher noch nicht allgemeingültig nachgewiesen worden, w e i l der soziale Sachverhalt i m sowjetischen Schrifttum bewußt verwischt wird. Deshalb w i r d i m folgenden dem zahlenmäßigen Nachweis dieses Sachverhalts breiter Raum gewidmet. Gezwungen, mit einem nur kleinen Personenkreis die Agrarbetriebe und Dörfer zu durchdringen und — den Parteiprinzipien gemäß — von innen her zu lenken, mußte die Partei auf dem Lande noch mehr als sonst i n der Sowjetgesellschaft die führenden Kräfte i n sich zu vereinigen suchen, sei es, daß sie vor allem jene i n ihre Reihen aufnahm, die bereits eine Führungsposition innehatten, sei es, daß sie i n Führungspositionen vor allem die brachte, die bereits Mitglieder waren. Parteiorganisation i m Kolchoz oder Sovchoz und wirtschaftliche und kulturelle Führungskräfte waren weitgehend identisch und überwiegend i m Zentraldorf des Betriebs konzentriert. A n der Spitze dieses zugleich politisch und sozial profilierten örtlichen Führungskreises stand der Parteisekretär, der neben dem Betriebsleiter, i n der faktischen Machtausübung sogar etwas über ihm, die wichtigste Funktion i m Dorf bekleidete, aber nur i n der Minderzahl der Fälle zur Intelligenzia i m hier verwendeten Wortsinn (s. unten, Kap. IV) gehörte. 1. Das allgemeine Zahlenbild Nach Mitteilung des Ersten ZK-Sekretärs Breznev gab es Anfang 1965 auf dem Lande 50 000 Grundorganisationen (perviönye organizacii) der Partei m i t „mehr als zwei Millionen Kommunisten" 3 . (Mit „Kommunisten" sind stets sowohl Vollmitglieder als auch Mitgliedschafts-Anwärter gemeint, i m folgenden beide als „Parteikommunisten" bezeichnet, um Verwechslungen m i t bloßem Bekenntnis zum Kommunismus auszuschließen.) Darunter ist, wie die folgenden Zahlen zeigen, i m wesentlichen die Stärke der Partei i n der landwirtschaftlichen Bevölkerung zu verstehen; Breznevs — offensichtlich abgerundete — Zahl der Grundorganisationen „auf dem Lande" entspricht ziemlich genau der Zahl der Grundorganisationen i n Kolchozen und Sovchozen und der Zahl dieser Betriebe selbst 4 . „Mehr als zwei Millionen" — das stimmt m i t der Zahl von 2 164 255 überein, die später für sämtliche zum Jahresbeginn 1965 „ i n der Landwirtschaft beschäftigten Kommunisten" (Vollmitglieder und M i t 3

Breènev, i n : Plenum (1965), S. 31/32. Z u m 1.1.1965 bzw. Jahresende 1964: 10 078 Sovchoze u n d 38 298 Kolchoze (Nar. choz. 1964, S. 402, 409) u n d 11601 bzw. 38 251 Grundorganisationen (s. unten, Tab. 2); manche Sovchoze haben i n einer großen Betriebsabteilung eine zweite Grundorganisation, s. unten). 4

1. Das allgemeine Zahlenbild

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gliedschaftskandidaten) bekanntgegeben wurde (s. Tab. 1) und zeigt ein übriges Mal, 'daß man Aussagen wie die von Breznev stets auf ihren definitorischen Inhalt prüfen muß, denn das ist natürlich etwas anderes als allgemein „auf dem Lande" Lebende 5 . A u f die Forst- und Holzwirtschaft dürften Anfang 1965 knapp 40 000 Parteikommunisten entfallen sein 6 , demnach gab es damals i n Land-, Holz- und Forstwirtschaft zusammen rund 2 200 000 Parteikommunisten. Diese Zahl w i r d i n einer offiziösen sowjetischen Quelle m i t einem Anteil von 22,6 % an allen i n der Volkswirtschaft berufstätigen Parteikommunisten gleichgesetzt 7 . Daraus ist zu errechnen, daß die Zahl der i n der Volkswirtschaft berufstätigen Parteikommunisten insgesamt 9,7 bis 9,8 Mill, betrug und die restlichen ca. 2,0 Mill, auf Parteikommunisten i n der Armee und Polizei und auf einen nicht näher bekannten Anteil von nicht erwerbstätigen Parteiangehörigen, z. B. Studenten, Hausfrauen und Rentner, entfielen 8 . Die gleiche Berechnung ergibt zum 1. Januar 1957 6,19 Mill, berufstätige und ca. 810 000 sonstige Parteikommunisten 9 . Insgesamt gab es 4248 Partei-Bezirkskomitees von Landbezirken zum 1.1.1956, die durchschnittlich m i t ihren Unter- und Grundorganisationen je 720 Parteikommunisten erfaßten, und 3202 solche Bezirkskomitees zum 1.10.1961 m i t je 1200 Parteikommunisten 1 0 . Zum 1. A p r i l 1965 wurde nur die Zahl solcher Landbezirksorganisationen mitgeteilt, nämlich 2434, nicht deren durchschnittlicher Mitgliederbestand, aber es wurde hinzugefügt, daß es auch unter den Stadt-Parteikomitees 208 gab, die ländliche Organisationen mit umfaßten 11 . Parteikommunisten, welche i n der Landwirtschaft tätig waren und/oder zur Agrarbevölkerung gehörten, gab es also — i n relativ kleiner Zahl — auch außerhalb der ländlichen Bezirksorganisationen. Allerdings waren sie zum Teil i n landwirtschaftlichen Unterorganisationen, z. B. Grundorganisationen städtischer Parteibezirke erfaßt, etwa i n Kolchozen oder staatlichen Agrarbetrieben, die auf städtischem Territorium lagen; sie dürften zu diesem ihrem Teil i n den oben genannten 50 000 Grundorganisationen mitgezählt sein. 5

Ä h n l i c h 1953 die U n k l a r h e i t bei ChruSSev, s. Rigby, S. 489. Unter der Annahme, daß sich unter den Beschäftigten dieses Wirtschaftszweiges (350 000 bis 400 000 i m mehrjährigen Durchschnitt, s. Nar. choz. 1965, S. 558) etwa ein gleicher Prozentsatz Parteikommunisten befand wie i m Unionsdurchschnitt, nämlich r u n d 10 °/o, vgl. KPSS 1961—64, S. 8, u n d Beschäftigtenzahlen i n Nar. choz. 1965, S. 557, incl. Kolchozniki. 7 KPSS 1961—64, S. 14 u n d 15; dafür, daß i n dem Prozentanteil auch die Holz- u n d Forstwirtschaft Inbegriffen ist, spricht die verwendete Definition u n d der entsprechende Prozentsatz zum 1. 7.1961, i n : KPSS 1956—61, S. 50. 8 So auch Meissner: Soziale Struktur, S. 599/600; Meissner rechnet allerdings aus nicht ersichtlichen Gründen m i t den Zahlen 10 M i l l , u n d 1,8 M i l l . ; s. auch die Definition i n KPSS ν cifrach, S. 99 (Tab.), sowie Rigby, S. 338 f. 9 Nach KPSS ν cifrach, S. 91, 99 f. — Prozentzahlen für andere Jahre bei Rigby, S. 327. 10 KPSS 1956—61, S. 52/53. 11 KPSS 1961—64, S. 17. 8

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I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

Andererseits bestanden die Landbezirksorganisationen nicht nur aus landwirtschaftlich tätigen und/oder zur Agrarbevölkerung gehörenden Parteikommunisten, wie schon die Zahlen zeigen, denn in Landbezirksorganisationen gab es 3 060 000 Parteikommunisten Ende 1955 und 3 840 000 Anfang Oktober 196112. Das sind um 1,8 bzw. 2,0 M i l l , mehr, als der Landwirtschaft zuzurechnen waren. I n kleinen Kolchozen m i t zahlenschwachen Parteiorganisationen wurde früher geradezu empfohlen, alle dort lebenden Parteikommunisten i n die Kolchoz-Parteiorganisationen einzubeziehen, auch wenn sie anderswo arbeiteten 13 . Für Anfang 1954 hat Chruscev eine Aufschlüsselung der damals ca. 3 M i l l . Parteikommunisten i n ländlichen Organisationen gegeben: Ca. 1,13 M i l l , von ihnen gehörten zu Kolchoz-Grundorganisationen 14 , aber nur ca. 900 000, nämlich 31 °/o, waren i n den Kolchozen selbst tätig — darunter 695 992 Kolchozmitglieder 15 —, außerdem arbeiteten 8 % der 3 Mill, i n Maschinen-Traktoren-Stationen und 4,3 % i n Sovchozen, dagegen 20 °/o i n Industriebetrieben und 30 % i n verschiedenen Organisationen und Behörden der Bezirkszentren 16 . Noch i m September 1953 hatten nur i n vier Fünfteln aller Kolchoze Parteiorganisationen bestanden 17 , und auch das war erst durch die Betriebszusammenlegungen von 1950—1952 möglich geworden, so daß die rund 700 000 Kolchoz-Parteimitglieder und rund 230 000 sonstigen i n Kolchozen lebenden Parteikommunisten 1 8 sich nicht mehr auf 254 000, sondern nur noch auf 97 000 Kolchoze verteilten; zuvor dagegen hat es, zum Beispiel, 1939 nur i n 5 °/o, 1949 i n 15 °/o der Kolchoze Parteiorganisationen gegeben 19 , allerdings i n der Ukraine schon 1948 i n 42 °/o (11 895 von insgesamt 28 207 Kolchozen, einschließlich der erst wenige Jahre zuvor annektierten west-ukrainischen Provinzen) 20 . Erst 1954 und 1955 wurden wieder Anstrengungen zur Steigerung der Zahl der Parteikommunisten auf dem Lande unternommen, insbesondere 12

Errechnet durch M u l t i p l i k a t i o n der Landbezirke m i t deren durchschnittlichem Mitgliederbestand, s. oben. — Rigby, der diese Berechnung nicht anstellt, schätzt (S. 490) die Z a h l der nicht-agrarisch tätigen Parteikommunisten u. E. viel zu niedrig. 13 N. Barsukov, i n : Sz 20. 7.1968, S. 3. 14 Nämlich u m „über 230 000" weniger als 1958 (Chruscev, I I I , S. 82), als es „über" 1,35 M i l l . Parteikommunisten i n Kolchoz-Organisationen gab, ca. 20 pro Kolchoz (Chruscev, I I I , S. 428). 15 Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 150. 16 ChruUev, I, S. 281 (23. 2.1954). 17 Chrusöev, I I I , S. 427 (15.12.1958). 18 Dies sind Zahlen zum 1.1.1954 (Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 150) und des Jahres 1953 (s. Fainsod, S. 277); i m Laufe des Jahres 1953 haben sich die Zahlen nicht nennenswert verändert (s. Fainsod, S. 273), so daß es Ende 1952 etwa die gleichen gewesen sein müssen. 19 Laird: Collective, S. 138 f.; s. auch Rigby, S. 292 f. 20 Fainsod, S. 271.

1. Das allgemeine Zahlenbild

89

durch Entsendung von über 100 000 Parteimitgliedern aus den Städten 21 . Für die Zeit seit 1955 liegen folgende Zahlen der i n der Landwirtschaft tätigen Parteikommunisten v o r 2 1 a : Tabelle 1: Parteikommunisten in der sowjetischen Landwirtschaft, von Jahresende 1955 bis Jahresende 1964

Datum

1.1.1956 1.1.1957 1.1.1962 1.1.1963 1.1.1964 1.1.1965

Insg. i n L a n d - u. „Insg. i n der Forstwirtsch., i n Landw. tätige °/o d. Gesamtpartei Kommunisten" 22,6% 23,6 °/o •



22,6 °/o

ca. 1310 000* 1 442 571 1 840 301 1 940 814 2 035 573 2 164 255

I n Kol. u. Sov. tätige Parteikommunisten ca.

920 000* 1 064 102 1 732 561 1 815 939 1 898 385 2 018 787

Sonstige i. L a n d w . (=Rest aus Col. 2) ca. 390 000* 378 469 107 740 124 875 137 188 145 468

* Die von Rigby, S. 332, Tab. 24, errechneten Zahlen weichen nur geringfügig ab. Quellen: Prozentsatz an den Berufstätigen der Gesamtpartei 1965: KPSS 1961—64, S. 14; 1956: KPSS 1956—61, S. 51; 1957: KPSS ν cifrach, S. 99. Zahlen der Gesamtpartei: KPSS ν cifrach, S. 91. „Insgesamt in der Landwirtschaft tätige Kommunisten" sowie davon in Kolchozen und Sovchozen Tätige 1.1. 1962 und 1. 1. 1965: KPSS 1961—64, S. 15; 1. 1. 1957: KPSS ν cifrach, S. 100; 1956: geschätzt u. a. auf Grund der Mitteilung, daß die Zahl seit dem X X . Parteitag (Februar 1956) bis zum 1. 7.1961 um eine halbe Million zunahm (KPSS 1956—61, S. 51); betr. Kolchoze und Sovchoze, s. unten, Tabelle 2.

Die i n der Agrarverwaltung, i m Beschaffungs-, Erfassungs- und A u f kaufwesen tätigen Parteikommunisten können i n den obigen Zahlen nicht m i t enthalten sein. Vielmehr ist anzunehmen, daß die sonstigen i n der Landwirtschaft tätigen Parteikommunisten (Rest aus den insgesamt i n der Landwirtschaft und aus den i n Kolchozen und Sovchozen tätigen) diejenigen sind, welche zum Teil als Invaliden- und Altersrentner K o l chozen angehören, aber nicht mehr i n ihnen arbeiten, zum Teil i n staatlichen Agrarbetrieben tätig sind, welche nicht Sovchoze sind (ζ. B. Kantinenversorgungsbetriebe, Versuchs- und Meliorationsstationen u. ä., bis 1958 auch MTS). Da solche staatlichen Agrarbetriebe nach der Auflösung der MTS annähernd gleichbleibend 800 000 Beschäftigte hatten 2 2 , so würde für 1961 und 1965 hier der Prozentsatz der Parteikommunisten unter den Beschäftigten — nach Abzug der Kolchoz-Rentner — ungefähr den Verhältnissen i n Sovchozen (s. unten) entsprechen, was plausibel ist. Der starke Rückgang dieser Restzahl zwischen 1957 und 1962 ist aller Wahrscheinlichkeit nach mit der Auflösung der Maschinen-Traktoren21 21a 22

Fainsod, S. 276 f.; s. auch Pronin: Podgotovka, S. 24; Rigby, S. 297 ff., 331 ff. F ü r 1953,1954,1958,1961 u n d 1967 s. Rigby, S. 332, Tab. 24. Vgl. Nar. choz. 1965, S. 424, 558, und Sei. choz., S. 46 f.

90

I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

Stationen (MTS) zu erklären, von deren ca. 2,6 M i l l . Beschäftigten (darunter eine relativ große Anzahl Parteimitglieder) 2 3 zwar nicht alle, aber viele nun i n die Kolchoze und Sovchoze überführt wurden, überwiegend i n die Kolchoze 24 . Da man generell bestrebt war, die Zunahme der Zahl der Parteikommunisten i n den Kolchozen als möglichst groß erscheinen zu lassen, ist nicht anzunehmen, daß man diese — wie es sonst i n der sowjetischen Statistik m i t Recht oft getan w i r d — rückwirkend bereits für 1957 den Kolchozen zugerechnet hat. Die Angaben, die von sowjetischer Seite über den Mitgliederbestand der Partei „nach der sozialen Zugehörigkeit" gemacht werden, besagen über die tatsächliche soziale Zusammensetzung wenig bzw. führen sogar irre, w e i l sie auf der Zugehörigkeit zu den drei Hauptgruppen der A r beiter, Angestellten und Kolchozniki zur Zeit des Eintritts i n die Partei beruhen 25 . Wer nach dem Parteieintritt, zum Beispiel, aus einem Kolchoznik zu einem Angestellten wurde (und das war nicht selten der Fall, w e i l auch Parteimitglieder von der Landflucht erfaßt wurden und weil die Laufbahn gerade als Parteimitglied i n eine leitende Stellung außerhalb des Kolchoz oder zu einer Ausbildung als „Spezialist" führen konnte), zählt nach dieser Klassifizierung weiterhin als Kolchoznik. Daraus erklärt sich die Tatsache, daß die Zahl der Kolchozniki-Parteimitglieder „nach der sozialen Zugehörigkeit" bedeutend größer ist als die der tatsächlich i n Kolchozen tätigen Kolchozniki-Parteimitglieder. Sie betrug 17,1 % aller Parteikommunisten Ende 1955, 17,3 % Ende 1956 wie auch Ende 1961 und 16,5 °/o Ende 1964, d. h. etwa 1,23 Millionen bzw. 1,21, 1,66 und 1,94 Millionen 2 6 . Die Zahlen der tatsächlich i n Kolchozen und Sovchozen tätigen Parteikommunisten sind aus der folgenden Tabelle ersichtlich. Die Differenz zwischen den Zahlen der Parteikommunisten, die i n Kolchozen und Sovchozen beschäftigt waren, und den Zahlen jener, die zu den Kolchoz- und Sovchoz-Grundorganisationen gehörten, zeigt offenbar jene Parteikommunisten, welche i n den betreffenden Dörfern wohnten und arbeiteten, jedoch nicht dem Betrieb selbst angehörten, z. B. Lehrer, Bibliothekare, Handelsangestellte usw. sowie Altersrentner und Invaliden oder auch Pendler, die ihren Arbeitsplatz außerhalb der K o l choz· oder Sovchoz-Dörfer hatten 2 7 . Diese Differenz betrug i n den K o l 23

Vgl. Nar. choz. 1959, S. 435; Laird: Collective, S. 102; Rigby, S. 436. Vgl. zu der damals für die Parteiorganisationen neu entstandenen Situation. T. Kiselev, i n : Pravda, 18. 8.1958, S. 2; s. auch Rigby, S. 331/333. 25 Meissner: Soziale Struktur, S. 595, übersetzt das — rein sprachlich zutreffend — m i t „Soziale H e r k u n f t " " , was jedoch nicht ganz dasselbe ist wie die tatsächlich gemeinte soziale Zugehörigkeit zur Zeit des E i n t r i t t s i n die Partei. 26 Prozentzahlen zum 1.1.1962 u n d 1.1.1965: KPSS 1961—64, S. 11; zum 1.1.1956: KPSS 1956—61, S. 47; zum 1.1.1957: KPSS ν cifrach, S. 95 (alle Gesamtmitgliederzahlen ebenda, S. 91); s. auch Rigby, S. 325, Tab. 21. 27 Vgl. Territorial'naja partorganizacija, S. 45 f. — Ist die Z a h l solcher nicht dem Kolchoz oder Sovchoz angehörenden Parteikommunisten groß genug und 24

1. D a s a l l g e m e i n e Z a h l e n b i l d

91

T a b e l l e 2: P a r t e i - G r u n d o r g a n i s a t i o n e n u n d P a r t e i k o m m u n i s t e n i n K o l c h o z e n u n d Sovchozen, E n d e 1955 bis E n d e 1964 ( i n K l a m m e r n : einschließlich P a r t e i k o m m u n i s t e n , die nicht i n d e n K o l c h o z e n u n d Sovchozen beschäftigt sind) I n Kolchozen Zahl d. Zahl d. ParteiGrundkommuorgani- nisten pro sationen Grundorganisation 1.1.1956

13

1.1.1957 1. 7.1961

41 387

34

1.1.1962

41119

34

1.1.1965

38 251

40

I n Sovchozen

insgesamt

Zahl d. Zahl d. ParteiGrundkommuorgani- nisten pro sationen Grundorganisation

ca. 5 100 ca. 800 000— 900 000 • 931 340 9 206 1 172 830* (1,39—1,43 Mill.) 1 154 045 9 351 (1,38—1,42 Mill.) 11601 1 285 077 (1,51—1,55 Mill.)

insgesamt

ca. 120 000 (ca. 135 000) 132 761 557 800 (681 000) 578 516 (711 000) 733 710 (905 000)

25

74 76 78

* Zum 1.1.1961. Eingeklammerte Zahlen der Parteikommunisten incl. solche, die nicht in den betr. Kolchozen und Sovchozen beschäftigt sind: Errechnet durch Multiplikation der Zahlen der Grundorganisationen mit denen ihrer durchschnittlichen Mitgliederzahlen, d. h. incl. Kandidaten. Quellen: Zahlen der Grundorganisationen zum 1. 1. 1962 und 1.1.1965: KPSS 1961—64, S. 16; zum 1. 7.1961: KPSS 1956—61, S. 53; für Sovchoze zum 1.1.1956 geschätzt auf Grund der Zahl der Sovchoze zum Jahresende 1955, Nar. choz. 1958, S. 519, und der Annahme, daß es damals zwar auch in faktisch jedem Sovchoz eine Grundorganisation gab, aber nur in wenigen eine zweite in einer Sovchozabteilung. Zahlen der Parteikommunisten pro Grundorganisation zum 1.1.1962 und 1.1.1965: KPSS 1961—64, S. 17; zum 1. 7. 1961 und 1. 1. 1956: KPSS 1956—61, S. 54. Zahlen der Parteikommunisten zum 1.1.1961: Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 150; zum 1.1.1962 und 1.1.1965: KPSS 1961—64, S. 15; zum 1. 1.1957: KPSS ν cifrach, S. 100; zum 1.1. 1956 geschätzt auf Grund der Mitteilung, daß die Zahl seit dem X X . Parteitag (Februar 1956) bis zum 1. 7.1961 in den Kolchozen um „über 300 000" zunahm und in den Sovchozen sich „fast" verfünffachte, s. KPSS ν cifrach, 1956—61, S. 51; in Sovchozen zum 1. 7.1961: KPSS 1956—61, S. 51. c h o z e n c a . 2 5 0 0 0 0 o d e r c a . 18 °/o d e r G e s a m t z a h l ( E n d e 1961) b z w .

ca.

2 2 0 0 0 0 o d e r c a . 15 %> ( E n d e 1964) u n d i n d e n S o v c h o z e n c a . 130 0 0 0 b z w . c a . 170 0 0 0 o d e r 19 °/o i n b e i d e n J a h r e n ; i n d e n S o v c h o z e n l ä ß t s i e s i c h a u c h f ü r E n d e 1955 ( c a . 15 0 0 0 o d e r c a . 1 1 °/o) u n d f ü r M i t t e 1 9 6 1 ( c a . 123 0 0 0 o d e r 18 %>) e r r e c h n e n . D i e A b n a h m e d e s A n t e i l s i n d e n K o l c h o z e n u n d die Z u n a h m e i n d e n Sovchozen d ü r f t e d a m i t z u e r k l ä r e n sein, daß die U m w a n d l u n g v o n Kolchozen i n Sovchoze großenteils i n

stadtnahen

B e t r i e b e n e r f o l g t e n 2 8 , w o es m e h r E i n w o h n e r g a b , d i e n i c h t i n d e r L a n d wirtschaft tätig waren. V o n der Möglichkeit, territoriale

Grundorganisa-

t i o n e n zu bilden, ist offensichtlich selten Gebrauch gemacht

worden283.

g e h ö r e n sie n i c h t e i n e r a n d e r e n B e t r i e b s z e l l e d e r P a r t e i a n , so k ö n n e n sie e i n e e i g e n e t e r r i t o r i a l e Z e l l e — ζ . B . des D o r f e s — b i l d e n , s. e b e n d a . 88 V g l . Wädekin: D i e E x p a n s i o n , S. 6 , 1 0 . 24a I m G e g e n s a t z z u r f r ü h e r e n Z e i t (s. Rigby, S. 291 f.) s p i e l e n t e r r i t o r i a l e D o r f - P a r t e i o r g a n i s a t i o n e n seit der B i l d u n g d e r Großkolchoze k e i n e n e n n e n s werte Rolle mehr.

92

I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

Umfaßte die Grundorganisation i n einem Kolchoz mindestens fünfzig, i n einem Sovchoz mindestens hundert Mitglieder, so konnte sie ihr eigenes Parteikomitee mit einem Sekretär an der Spitze haben 29 . Die geringere durchschnittliche Mitgliederzahl pro Kolchoz i m Verhältnis zu den Sovchozen macht verständlich, daß Anfang 1965 i n den Sovchozen 33 °/o (3827) aller Grundorganisationen ein eigenes Parteikomitee hatten, 1961 etwas weniger: 30 °/o (2718), i n den Kolchozen Anfang 1965 nur 23 °/o (8630), 1961 sogar nur 14 % (5721)30. Parteiorganisationen von 300 Personen i n einem Sovchoz und von 150 Personen i n einem Kolchoz, wie sie von westlichen Besuchern vorgefunden wurden 3 1 , stellten Sonderfälle dar; auch die Stärke der Parteiorganisationen zeigt hier, daß es sich u m besonders große, überdurchschnittlich gut m i t Führungskräften ausgestattete Betriebe handelte. Von sämtlichen Grundorganisationen der KPdSU (auch außerhalb der Landwirtschaft) hatten nur wenige mehr als hundert Mitglieder 3 2 . Die Grundorganisationen waren — meist i n Anlehnung an die Betriebsgliederung oder die Siedlungen — in Parteigruppen unterteilt 3 3 . Besonders große Parteiorganisationen von Kolchozen oder Sovchozen konnten nach Bedarf für einzelne Brigaden oder Betriebsabteilungen untergeordnete Grundorganisationen bilden, i n denen es wieder Parteigruppen geben konnte 3 4 . 2. Unterschiede zwischen Sovchozen und Kolchozen und verschiedenen Berufsgruppen Die Angaben über die Mitglieder der Sovchoz-Parteiorganisationen lassen eine Aufgliederung i n Arbeiter und Angestellte zu. Hinsichtlich der Zahlen der nachstehenden Tabelle sind allerdings Vorbehalte angebracht. Die Tatsache, daß sie zu einem großen Teil aus anderen Zahlen errechnet werden mußten, bringt von vornherein ein gewisses Unsicherheitsmoment mit sich. Schwerer fällt ins Gewicht, daß die Zahlen der Beschäftigten und der Parteikommunisten nicht v o l l vergleichbar sind, 29 Meissner: Sowjetunion, S. 699 f.; so auch wieder i m Parteistatut von 1961 (§ 57), allerdings bei n u r indirekter, nicht ausdrücklicher Nennung der Sovchoze, s. X X I I s"ezd, I I I , S. 351. Erst seit dem X X I I I . Parteitag (1966) können auch i n Sovchozen oder Sovchozabteilungen schon bei mehr als fünfzig Parteimitgliedern Parteikomitees errichtet werden, s. X X I I I s"ezd, I I , S. 319. 30 KPSS 1956—61, S. 53; KPSS 1961—64, S. 16. 31 Ballard: Sovkhoz, S. 75; Miller, S. 39. 32 KPSS 1956—61, S. 54; KPSS 1961—64, S. 16. 33 Parteistatut, § 54. — I n dem Landbezirk Zernograd (Provinz Rostov), einem günstigen Getreidebaugebiet, w o die Kolchoze u n d Sovchoze groß sind, gab es 1965 i n insgesamt 19 Kolchozen u n d Sovchozen 90 Parteigruppen, zuvor r u n d 50; m i t durchschnittlich 110 Parteikommunisten w a r auch die Mitgliederzahl pro Betrieb überdurchschnittlich groß; nach Kulikov: Sel'skij, S. 64 f. 34 Parteistatut, § 57; s. auch N. Barsukov, i n : Sz 20. 7.1968, S. 3.

2. Unterschiede zwischen Sovchozen und Kolchozen

93

denn bei ersteren handelt es sich u m Jahresdurchschnittszahlen. Diese aber sind wegen der Heranziehung auswärtiger Saison-Arbeitskräfte größer als die Zahlen der zum festen Stamm Gehörenden, und nur letztere sind Mitglieder der Parteiorganisationen der Sovchoze. A l l e r dings ist der Anteil der Saisonkräfte unter den Angestellten praktisch mit N u l l zu veranschlagen, so daß diese Fehlerquelle nur bei den A r beitern erheblich ist. Und schließlich umfassen die Parteiorganisationen auch fast ein Fünftel (bzw. 1956 etwas mehr als ein Zehntel) Mitglieder, welche nicht i n den Sovchozen beschäftigt sind (s. oben). Bei der prozentualen Aufgliederung soll daher i m folgenden von der Annahme ausgegangen werden, daß der Anteil der Arbeiter und Angestellten unter den nicht i n den Sovchozen beschäftigten Parteikommunisten ungefähr ebenso war wie i n den ganzen Grundorganisationen; selbst wenn er etwas größer oder kleiner war, fällt das aber, da diese Gruppe eine Minderheit von knapp einem Fünftel bzw. etwas mehr als einem Zehntel bildet, bei der großen Mehrheit der i n Sovchozen Beschäftigten nur wenig ins Gewicht 3 5 . Tabelle 3: Arbeiter und Angestellte in den Sovchozen und den Sovchoz-Parteiorganisationen, Ende 1955 bis Ende 1964 Beschäftigte in Sovchozen (im ZweiJahresdurchschnitt), davon in Tsd. Arbeiter Angestellte

1.1.1956 1. 7.1961 1.1.1962 1.1.1965

2004 6218* 6361 7052

131 353* 371 450

Parteikommunisten in Sovchoz-Organisationen davon Arbeiter MechaniAngestellte in °/· in Tsd. satoren in °/o in Tsd.

Insg. (Tsd.)

ca.135 681 711 905

53,2 ca. 72 480 70,3 500 70,3 640 70,9

ca.130 ca.200

46,8 ca. 63 29,7 201 29,7 211 29,1 265

* Durchschnitt nur des Jahres 1961. Quellen: Sovchoz-Beschäftigte (Angestellte durch Subtraktion der Arbeiter von der Gesamtzahl errechnet) 1955/56: Nar. choz. 1958, S. 519; 1961 und 1961/62: Nar. choz. 1962, S. 357; 1964/65: Nar. choz. 1965, S. 424. Die geringfügigen Zahlen der nicht in der „Grundproduktion", sondern in nicht-agrarischen Nebenprodukten Beschäftigten blieben dabei unberücksichtigt. Prozentzahlen der Arbeiter in den Grundorganisationen, zum 1.1.1956 und 1.7.1961: KPSS 1956—61, S. 51; zum 1. 1. 1962 und 1. 1. 1965: KPSS 1961—64, S. 14. Zahlen der sog. Mechanisatoren: Die Gesamtzahl der Parteikommunisten unter allen Mechanisatoren betrug 520 000 Ende 1964 und ca. 352 000 Ende 1961 (s. KPSS 1961—64, Zahl für 1961 dort indirekt zu entnehmen, S. 15); davon sind 322 000 (1964) bzw. „über" 220 000 (1961) der Kolchoze (s. unten, Tab. 4) abzuziehen. Die Zahl der Mechanisatoren in anderen staatlichen Agrarbetrieben dürfte 1962 und 1965 unerheblich gewesen sein. Gesamtzahl der Parteikommunisten s. Tabelle 2. Prozentzahl der Angestellten: als Restzahl errechnet. Absolute Zahlen der Arbeiter und Angestellten, die Parteikommunisten sind: aus Gesamtzahlen und Prozentzahlen errechnet. 35 Die beiden möglichen Extremfälle wären: 1. A l l e nicht i n Sovchozen beschäftigten Parteikommunisten waren Angestellte; dann hätte unter den i n Sovchozen beschäftigten Parteikommunisten der A n t e i l der Arbeiter Ende 1955 etwa 6 0 % (anstatt 53,2%) betragen, Ende 1961 u n d Ende 1964 etwa 86— 87 % (anstatt 70,3 bzw. 70,9 %) u n d der A n t e i l der Angestellten entsprechend weniger. 2. Annahme: Die nicht i n den Sovchozen beschäftigten Parteikommunisten waren sämtlich Arbeiter; dann hätte unter den i n Sovchozen be-

94

I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

Da das Angestelltenverhältnis i n der Sowjetunion, insbesondere i n Agrarbetrieben, wo es naturgemäß weniger niederes Büropersonal oder Putzfrauen und ähnliche Berufe gibt (das sind die unteren Angestelltenkategorien) 36 , überwiegend eine gehobene Stellung — als „Spezialist" (incl. sog. ITR, d. h. ingenieur-technische Arbeitskraft) oder als Führungskraft — bedeutet, ist die Gruppe der Angestellten hier von besonderem Interesse. Es überrascht daher auch nicht, daß unter ihnen der Anteil der Parteikommunisten u m ein Mehrfaches größer war als unter den Sovchoz-Arbeitern — m i t Ausnahme der Mechanisatoren. Unter diesen betrug er ca. 12—13 % (Ende 1961) bzw. ca. 16—17 °/o (Ende 1964)37. Bei den restlichen Sovchoz-Arbeitern aber — nach Abzug der Mechanisatoren fast durchweg ohne berufliche Qualifikation 3 8 — belief sich der A n t e i l nur auf 2 °/o Parteikommunisten Ende 1955 und stieg auf 5 °/o (1961/62) und 5—6 °/o Ende 196439. Diese einfachen Mitglieder waren es oft auch, die keinen aktiven A n t e i l am Geschehen i n der Parteiorganisation nahmen 4 0 . Unter den Angestellten der Sovchoze dagegen belief sich der Anteil der Parteikommunisten auf 43 °/o Ende 1955 und stieg noch weiter, auf 46—47 °/o (1961/62) und sogar 53 °/o Ende 1964 (s. Tab. 3, Col. 2 und 8) 41 . Die Gruppe der Sovchozdirektoren, die ebenfalls i m Angestelltenverhältnis standen, wurde fast ausschließlich von Parteikommunisten gebildet 4 2 . Ungefähr jeder zweite Sovchoz-Angestellte war also Mitglied oder M i t gliedschaftskandidat der Partei, während unter den Sovchoz-Arbeitern der Prozentsatz der Parteikommunisten dem Landesdurchschnitt nahekam 4 8 . Allerdings dürfte der Prozentsatz bei den ständigen Arbeitern schäftigten Parteikommunisten der A n t e i l der Arbeiter Ende 1955 etwa 48 °/o (anstatt 53,2 °/o) betragen, Ende 1961 u n d Ende 1964 etwa 64 %> (anstatt 70,3 bzw. 70,9 °/o) u n d der A n t e i l der Angestellten entsprechend mehr. Selbst die beiden Extremannahmen ergeben also innerhalb der Sovchoz-Beschäftigten zwar merkliche, aber keine entscheidenden Veränderungen der Relation. 36 Vgl. die unteren Angestellten (mladSij obsluzivajusöij personal) i n Nar. choz. 1958, S. 532, u n d i n T r u d ν SSSR, Moskau 1968, S. 127. 87 Vgl. die Gesamtzahlen der Mechanisatoren i n Nar. choz. 1964, S. 427, und Nar. choz. 1965, S. 443. 38 Vgl. Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 75, 80. 30 Unter der Annahme, daß die Relation bei den Landarbeitern der Sovchoze u n d denen des sonstigen staatlichen Agrarbereichs ungefähr gleich w a r ; die beiden oben, i n Fußnote 35, angeführten Extremannahmen verändern angesichts der Millionenzahlen aller Sovchoz-Arbeiter die Prozentsätze n u r geringfügig. Gesamtzahlen der Sovchoz-Arbeiter i n den zu Tabelle 3 angegebenen Quellen. 40 N. Vasil'ev, i n : Sz 27.1.1968, S. 3. 41 Auch beim ersten der oben, i n Fußnote 35, angeführten Extremfälle hätte der A n t e i l prozentual noch ein Mehrfaches des Anteils unter den A r b e i tern betragen, beim zweiten, nicht ganz so irrealen, E x t r e m f a l l wäre er recht ähnlich w i e bei unserer Annahme gewesen: 48°/o (1955) bzw. 5 7 % (1961/62) bzw. 65 %> (1964). 42 Vgl. ChruSöev, V I , S. 132 (22.11.1961), V I I I , S. 67 (31. 7.1963); Rigby, S. 436. 43 Vgl. die Gesamtzahlen der KPdSU, i n : KPSS 1956—61, S. 44, u n d KPSS 1961—64, S. 8, sowie die Beschäftigtenzahlen der Sowjetunion i n den entspre-

2. Unterschiede zwischen Sovchozen u n d Kolchozen

95

der Sovchoze — ohne auswärtige Saisonarbeiter — etwas höher gewesen sein, wie er ja auch bei den Beschäftigten i m Landesdurchschnitt höher war. Wesentlich geringer war der A n t e i l der Parteikommunisten i n den Kolchozen, sowohl bei den einfachen Kolchozniki i m Vergleich zu den Sovchoz-Arbeitern als auch bei den landwirtschaftlichen Spezialisten i m Vergleich zu den Sovchoz-Angestellten. 1963 oder 1964 waren i n den Provinzen Krasnodar und Stavropol' 4 °/o der Kolchozbevölkerung Parteikommunisten 4 4 , und diese Provinzen sind hinsichtlich der Parteimitgliedschaft auf dem Lande vermutlich als überdurchschnittlich zu betrachten. Immerhin ist die Zahl der Parteikommunisten, die Kolchoz-Mitglieder sind, seit dem 1. Januar 1954, als sie nur knapp 700 000 betrug (s. oben, S. 88), stark gestiegen. 1948 wurden parteiamtliche Zahlen der beruflichen Aufgliederung der Kolchoz-Parteimitglieder veröffentlicht 4 4 3 , und ab 1955/56 lassen sich indirekt entsprechende Zahlen der Chruscev-Zeit (s. Tab. 4) erschließen. Tabelle 4 (S. 96) macht deutlich, daß die Zahl der Parteikommunisten i n Kolchozen i n der Hauptsache deshalb gestiegen ist, w e i l die Zahl der Spezialisten und der sog. Mechanisatoren und damit der Parteikommunisten unter ihnen stark zugenommen hat. Während 1954—55 die Entsendung von Parteikommunisten aufs Land (s. auch unten, S. 170 f.) die Stärke und Zahl der Kolchoz-Parteiorganisationen wachsen ließ 4 5 , liegt von 1955 auf 1961 die Hauptursache i m Übergang einer großen Zahl Fachkräfte und Mechanisatoren aus den aufgelösten MTS i n die Kolchoze. Aber seitdem ist der Zuwachs i n erster Linie darauf zurückzuführen, daß die Partei verhältnismäßig viel mehr Personen aus diesen relativ kleinen Gruppen qualifizierter Kräfte aufgenommen hat (oder Parteimitglieder zu Fachkräften ausgebildet wurden) als aus den sonstigen Gruppen der Kolchozbevölkerung. Während i n der gesamten Kolchozbevölkerung die landwirtschaftlichen Spezialisten weniger als ein halbes Prozent (vgl. unten, S. 220 f.) und die sog. Mechanisatoren weniger als vier Prozent ausmachten 46 , waren unter den Kolchoz-Beschäftigten, die 1960 i n die Partei eintraten, 6 °/o Spezialisten und rund 30 °/o Mechanisatoren, 1964 ebenfalls 6 %> Spezialisten und sogar 40 °/o Mechanisatoren 47 . Da chenden Jahren, Nar. choz. 1965, S. 557. — Eine ähnliche Abstufung i n einem ukrainischen Sovchoz stellte 1965 Arutjunjan: Opyt, S. 100 f. (Tab. X I I ) fest: Unter den „geistig Tätigen" waren 25 bzw. 27 °/o Parteikommunisten, unter den „qualifizierten physisch Tätigen" 5,6 °/o, unter „nicht-qualifizierten physisch Tätigen" 4,2 °/o. 44 Kolchoz — δ kola, S. 172. 44a s. diese bei Rigby , S. 334. 45 Vgl. die Zahlen f ü r die Ukraine, i n : Pravda, 27.11.1955, S. 2. 46 Vgl. die Zahlen der Mechanisatoren i n Nar. choz. 1965, S. 443, u n d die der Kolchozbevölkerung bei Wädekin: L a n d w . Bevölkerung, S. 43 (Tab. 1). 47 Errechnet aus KPSS 1956—61, S. 46, u n d KPSS 1961—64, S. 9 f.

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I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

Tabelle 4: Berufliche Gliederung der in Kolchozen beschäftigten Parteikommunisten41, Ende 1955 bis Ende 1964 1.1.1956 in % i n Tsd. Insgesamt 100 D a v o n beschäftigt i n pflanzl. u n d tier. Produktion 66,7 davon: Mechanisatoren . . . 3 l a n d w . Spezialisten R e s t l i c h e M a s s e . . . 5563 davon i n tierischer Produktion in nicht-landw. Produktionsbrigaden, in Verwaltung und L e i t u n g s o w i e sonst. Kolchozniki 33,3 davon: nicht-lw. Produktionsbrigaden Verwaltung, Leit u n g u. sonst davon: Kolchozvorsitzende u. deren hauptamtl. Stellvertreter 11—13

800—900

535—600

1. 7 . 1 9 6 1 i n °/o i n Tsd.

1.1.1965 i n °/o i n Tsd.

100

100

77,4 19

ca. 25 500—550

265—300

98—102

4,5 52—55

22,6

ca. 5,1

1160-1180

1285

900—915

79,0

946

„ ü b e r " 220 53 620—640

25,1 5,3 48,6

322 68 624

17,9

230

21,0

270**

3,7

47,5

17,3

222**

262—266

59—60

ca. 3,6

45—48

* Die Zahl der Parteikommunisten („Kolchozniki-Kommunisten") schließt für 1.1.1958 und 1. 7.1961 auch Kolchozniki ein, die Alters- oder Invalidenrentner sind, da diese unter den „sonstigen" ausdrücklich genannt werden, für 1965 dagegen nicht, vgl. auch die nachstehende Anmerkung. I n den Zahlen der Tabelle nicht Inbegriffen sind diejenigen, die zwar zur Kolchoz-Parteiorganisation gehören, jedoch nicht im Kolchoz beschäftigt sind; wäre es anders, so müßte die Zahl der „sonstigen" weit größer sein, da die nicht im Kolchoz beschäftigten Parteikommunisten allein schon fast ein Fünftel aller zur KolchozParteiorganisation Gehörenden ausmachen, s. oben, Tabelle 2. * * Zum 1.1.1965 wurden die Rentner in der Rubrik der „sonstigen" nicht mehr genannt und sind wahrscheinlich auch nicht mehr Inbegriffen, auch nicht in der Gesamtzahl der Kolchozniki-Kommunisten, so daß diese nur die „in Kolchozen Arbeitenden" umfaßt, vgl. KPSS 1961—64, S. 15. Quellen: Absolute Gesamtzahlen s. oben, Tabelle 2; die Gesamtzahl zum 1. 7.1961 wurde in Anlehnung an die vom 1.1.1962 geschätzt, und zwar unter Berücksichtigung des Umstandes, daß in der vom 1. 1.1962 keine Rentner mehr enthalten sind (vgl. KPSS 1961—64, S. 15, sowie die obige Anmerkung zur Tabelle), die zum 1.1.1962 also kleiner gewesen sein muß, zumal inzwischen auch eine Anzahl Kolchoze in Sovchoze umgewandelt worden ist. Das entspricht auch der Tatsache, daß die Zahl zum 1.1.1961 mit 1 172 830 (Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 150) größer war als die zum 1.1.1962 (1 154 045, s. KPSS 1961— 64, S. 15). Prozentzahlen (soweit nicht kursiv gedruckt) zum 1. 1. 1956 und 1. 7.1961: KPSS 1956—61, S. 52; zum 1.1.1965: KPSS 1961—64, S. 15. — Kursiv gedruckte Prozentzahlen aus den entsprechenden absoluten Zahlen errechnet. (Prozentzahl des Verwaltungs- und Leitungspersonals usw. zum 1.1.1965 als Rest aus den übrigen Prozentzahlen dieses Datums.) Absolute Teilzahlen zum 1.1.1965 und, wo nicht anders angegeben (s. unten), zum 1. 1. 1956 und 1. 7.1961: aus den Prozentzahlen und den Gesamtzahlen errechnet. Absolute Zahl der landw. Spezialisten (Agronomen usw.) zum 1.1.1956 und 1. 7.1961 und der Mechanisatoren zum 1. 7.1961: KPSS 1956—61, S. 52. Absolute Summe (und entsprechend auch Prozentzahlen) der in pflanzlicher und tierischer Produktion Beschäftigten zum 1.1.1956 und 1. 7.1961: als Restzahlen errechnet. Absolute Zahlen der Kolchozvorsitzenden und deren hauptamtlicher Stellvertreter s. unten, S. 99; Prozentzahlen daraus errechnet.

2. Unterschiede zwischen Sovchozen u n d Kolchozen

97

außerdem die Mechanisatoren überwiegend junge Männer waren 4 8 , bewirkte das auch eine Verjüngung des Mitgliederbestandes der Partei i n den Kolchozen; die Entwicklung bei den Spezialisten w i r k t e i n der gleichen Richtung. Die Repräsentanten der Partei auf dem Lande dürften gegen Ende von Chruscevs Regierungszeit bereits zu einem guten D r i t t e l aus jüngeren Leuten von unter oder wenig mehr als dreißig Jahren bestanden haben. Diese Entwicklung, die sicher von der Partei bewußt angestrebt wurde, hat auch dazu geführt, daß seit 1961 der Prozentsatz der Parteikommunisten unter den Mechanisatoren i n Kolchozen und Sovchozen annähernd der gleiche ist: ca. 12—13% (1961) bzw. ca. 16—17% (1964) i n den Sovchozen (s. oben, S. 94), ca. 1 4 % bzw. 17 % i n den Kolchozen 49 . Zum Teil hängt das einfach damit zusammen, daß viele heutige Sovchoze noch vor einigen Jahren Kolchoze waren, zu einem anderen Teil dürfte es sich aber u m eine bewußte parteipolitische Bemühung um diese i n ihrer produktionstechnischen Funktion — unabhängig von der Betriebsart — entscheidend wichtige Gruppe handeln, denn: „Den Erfolg i n der Durchführung der Feldarbeiten entscheiden heute die Mechanisatoren. Die Parteiorganisationen der Kolchoze und Sovchoze, die Bezirkskomitees der KPdSU sind verpflichtet, sie m i t ihrer Sorge und Aufmerksamkeit zu umgeben 50 ." Unter der Masse der i n der pflanzlichen und tierischen Produktion beschäftigten Kolchozniki hat die absolute Zahl der Parteikommunisten von 1955 auf 1961 relativ wenig, dann weiter bis 1964 überhaupt nicht mehr zugenommen. Die Steigerung der Zahl zwischen 1955 und 1961 dürfte überwiegend auf den Ausbau der Viehwirtschaft und die damit zusammenhängende Entsendung jüngerer Kräfte i n diese Betriebsart bzw. Betriebsabteilungen zurückgehen. Das zeigen schon die Neueintritte i n die Partei. A u f je 63 Kolchozniki, die 1955 i n die Partei aufgenommen wurden und i n der pflanzlichen Produktion arbeiteten, kamen weitere 37, die i n der tierischen Produktion arbeiteten, 1960 war die Relation wie 53:47 und 1964 wie 54:46 5 1 , und das, obwohl es, der Volkszählung von 1959 zufolge, i n der pflanzlichen Produktion etwa sechsmal so viele K o l chozniki gab wie i n der tierischen 52 . Infolge dieser stärkeren und nach 1955 wachsenden Neuaufnahmen i m Bereich der Viehwirtschaft ist Ende 1964 ein Stand erreicht worden, bei dem sich die dort tätigen Parteikommunisten zu denen des Feldbaus usw. zahlenmäßig wie 37:63, also 48

Vgl. Itogi, Tab. 42, 45, 46. Vgl. die Gesamtzahlen i n Nar. choz. 1964, S. 427, u n d Nar. choz. 1965, S. 443. 50 Bol'sie zadaòi, S. 7. 51 Errechnet aus den absoluten Zahlen (1955: 20 711 u n d 12 339, 1960: 32 264 u n d 28 302), s. KPSS 1956—61, S. 46, u n d (1964: 22 729 u n d 19 514) KPSS 1961— 64, S. 10. 52 Vgl. Itogi, Tab. 44. 49

7 Wädekin

I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

98

annähernd wie 1: 2 verhielten (vgl. Tab. 4). Man kann daher annehmen, daß vor 1964 das quantitative Gewicht der i n der tierischen Produktion tätigen Parteikommunisten geringer war, schätzungsweise Ende 1955 fast wie 1: 3. Die Zahl der Parteikommunisten unter den (einfachen) i m Feldbau usw. tätigen Kolchozniki ist also von 1955 bis 1964 ungefähr konstant geblieben, i n der Viehwirtschaft hat sie stark zugenommen. Hier wie auch bei den anderen Gruppen ist aber zu berücksichtigen, daß zwischen 1955 und 1964 die Gesamtzahl aller Kolchozniki ständig und stark abgenommen hat 5 3 , daß also prozentual auch i n der einfachen K o l chozbevölkerung der Anteil der Parteikommunisten gewachsen ist. I m Verwaltungs- und Leitungspersonal, i n sonstigen Produktionsbrigaden und i m Rest der Kolchozniki ist die Zahl der Parteikommunisten annähernd konstant geblieben, allerdings von 1961 auf 1964 etwas mehr als aus der Tabelle ersichtlich gestiegen, weil zum letzteren Datum die Alters- und Invalidenrentner nicht mehr eingerechnet sind. Doch muß deren Zahl vor 1964 sehr klein gewesen sein, und man hat sie vermutlich ab 1964 deshalb nicht mehr einbegriffen, w e i l sie nun — zum Teil wegen der neuen Rentengesetze, zum Teil wegen der Überalterung der Kolchozbevölkerung — wesentlich zugenommen hatte 5 4 . Die größte, zahlenmäßig faßbare Einzelgruppe unter den Parteikommunisten des Verwaltungs- und Leitungspersonals sind die Kolchozvorsitzenden und deren hauptamtliche Stellvertreter. Unter den Kolchozvorsitzenden gab es zum Jahresende 1956 75 600 Parteikommunisten 5 5 , i m Frühjahr 1961: 39 000—40 000, i m Frühjahr 1965 : 35 00—36 0 00 5e . Man kann m i t einiger Sicherheit annehmen, daß die hauptamtlichen Stellvertreter der Kolchozvorsitzenden zu einem wenig geringeren Prozentsatz als diese von Parteikommunisten gestellt wurden, da es sich i n den meisten Fällen u m ehemalige Kolchozvorsitzende handelte, die i m Zuge von Betriebszusammenlegungen zu Stellvertretern wurden. (1955/56 dürfte es verhältnismäßig weniger hauptamtliche Stellvertreter gegeben haben.) Das sind dann ca. 20 000 zum 1. A p r i l 1961 und ca. 11 000 zum 1. A p r i l 1965, und für 1955/56 ist anzunehmen, daß es sich u m eine Zahl i n der Größenordnung von 19 000—23 000 handelte 57 . Zusammen bildeten 53

Wädekin: Landw. Bevölkerung, S. 43 (Tab. 1). 1961 u n d erst recht 1955 k a n n die Z a h l der Altersrentner unter den echten Kolchozniki n u r verschwindend k l e i n gewesen sein, w e i l eine allgemeine A l tersrente für diesen Bevölkerungsteil noch nicht eingeführt w a r (s. oben). D a gegen gab es hier sicher auch damals eine erhebliche Z a h l von Kriegsinvaliden, die v o m Staat Renten bezogen, aber n u r ein T e i l von ihnen waren V o l l invaliden u n d sind als solche i n der Tabelle enthalten. 55 Dostiêenija , S. 192. 56 Errechnet aus den Zahlen der Kolchozvorsitzenden u n d dem Prozentsatz der Parteikommunisten unter ihnen, der f ü r die Zeit nach 1960 auf r u n d 95 °/o zu schätzen ist (s. unten, Tab. 7). 57 Vgl. die Gesamtzahlen unten, Tab. 6. Es soll angenommen werden, daß sich i m .Tahr 1956 unter ihnen 60—70 °/o Parteikommunisten befanden; vgl. Rigby, S. 435. 54

2. Unterschiede zwischen Sovchozen u n d Kolchozen

99

Vorsitzende und deren hauptamtliche Stellvertreter, deren Gesamtzahlen zurückgingen, auch unter den Parteimitgliedern der Kolchoze eine kleiner werdende Gruppe, und zwar: zum 1.4.1956: ca. 98 000—102 000 Parteikommunisten, zum 1.4.1961: ca. 59 000— 60 000 Parteikommunisten, zum 1.4.1965: ca. 45 000— 48 000 Parteikommunisten.

Sie machten also Ende 1955 mehr als ein D r i t t e l der i n Verwaltung, Leitung und nicht-landwirtschaftlichen Brigaden der Kolchoze tätigen Parteikommunisten aus (vgl. Tab. 4), Mitte 1961 etwa ein Viertel und Anfang 1965 knapp ein Fünftel. Annähernd i n dem Maße, wie ihr A n t e i l zurückging, dürfte der der Brigadiere und Abteilungsleiter gestiegen sein, da bei Betriebszusammenlegungen viele ehemalige Kolchozvorsitzende zu Brigadieren und Abteilungsleitern wurden. Die Zahlen, die die beruflich-soziale Struktur innerhalb der KolchozParteiorganisationen zeigen, lassen sich auch zur Kolchozbevölkerung und zu den gesamten Kolchoz-Beschäftigten i n Bezug setzen. Für die Kolchozbevölkerung i m ganzen 58 ergibt sich dabei folgender Prozentsatz von Parteikommunisten (ohne die Nicht-Kolchozniki i n den Parteiorganisationen): Ende 1955: 1,1 %, Mitte 1961: 2 % , Ende 1964: 2,3%. Dieser Prozentsatz ist weniger als die Hälfte des Landesdurchschnitts, aber er ist seit Ende 1955 relativ rasch gestiegen, einerseits infolge der wachsenden Zahl der Parteikommunisten, andererseits wegen des Rückgangs der Kolchozbevölkerung. W i l l man die einzelnen Gruppen von Kolchoz-Parteikommunisten auf die Gesamtzahlen der entsprechenden Berufsgruppen beziehen, so ist zu berücksichtigen, daß diese für die Hauptmasse der Beschäftigten gewöhnlich nur als Jahresdurchschnittszahlen des Arbeitseinsatzes vorliegen und lediglich bei den Volkszählungsergebnissen von Anfang 1959 auch i n absoluten Personenzahlen veröffentlicht wurden. Dagegen sind sie für die Kolchozvorsitzenden und deren hauptamtliche Stellvertreter, für die gehobenen landwirtschaftlichen Fachkräfte und die Mechanisatoren auch zu bestimmten Stichdaten publiziert. Man erkennt die eindeutige beruflich-soziale Abstufung: I n der Masse der Kolchozniki gab es verschwindend wenige Parteimitglieder, aber m i t steigender fachlicher Qualifikation oder gar Führungsposition stieg auch der Anteil der Parteimitglieder, bis h i n zu den Kolchozvorsitzenden, von denen fast jeder der Partei angehörte. I m bereits angeführten Bezirk 58 Deren Zahlen bei Wädekin: Landw. Bevölkerung, S. 43 (Ende 1955: 76,7 Mill., Ende 1960: 60,5 Mill., Ende 1961: 57,8 Mill., Ende 1964: 56,4 Mill.).

7*

100

I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

Tabelle 5: Anteil der Parteikommunisten an einzelnen Berufsgruppen der Kolchoze, Mitte 1961 und Ende 1964

Kolchozvorsitzende u n d deren hauptamtl. Stellvertreter davon Parteikommunisten Landwirtschaftl. Spezialisten davon Parteikommunisten Mechanisatoren davon Parteikommunisten Sonstige i n Viehwirtschaft Beschäftigte davon Parteikommunisten Sonstige i n pflanzl. Produktion u. sonst. Bereichen davon Parteikommunisten

M i t t e 1961

Ende 1964

62 561 ca 90 °/o 171 744 31 °/o ca. 1,6 M i l l . ca. 14°lo ca. 3,8 M i l l . 4—5 °/o

50 686 ca. 90 Ό/ο 164 000 41°/o 1876 000 17°/o

ca. 21—22 M i l l . 1,8—2,1 °/o

Quellen: Prozentzahlen errechnet aus den Zahlen der Tabelle 4 und den absoluten Zahlen, außer bei Kolchozvorsitzenden (über diese s. oben, S. 98 f.). Gesamtzahlen der Kolchozvorsitzenden und deren Stellvertreter zum 1. 4.1961: Nar. choz. 1960, S. 525, zum 1. 4. 1965: Nar. choz. 1964, S. 423; „Spezialisten" zum 1. 4.1961: Nar. choz. 1960, S. 525, zum 15.11. 1964: Nar. choz. 1964, S. 421; Mechanisatoren zum 1. 4.1961: Nar. choz. 1962, S. 376 (geschätzt unter Berücksichtigung des Umstandes, daß ein kleiner Teil dieser Mechanisatoren in RTS tätig war), zum 1. 4.1965: Nar. choz. 1964, S. 427; in Viehwirtschaft Beschäftigte: geschätzt in Anlehnung an die Angaben für 1960 und 1962, in: Ekonomika soc. sei. choz., S. 206 f.; in pflanzlicher Produktion und sonstige Beschäftigte: auf Grund von Itogi, Tab. 45, geschätzt unter Berücksichtigung des Umstandes, daß seit Anfang 1959 die Zahl der Kolchozniki zurückgegangen ist, und zwar hauptsächlich bei den i m Feldbau usw. Tätigen.

Zernograd waren 1965 die Prozentsätze i n den gehobenen Funktionen noch höher, als sie die obige Tabelle für den Landesdurchschnitt zeigt, und zwar 5 9 : bei bei bei bei

Brigadieren u n d Abteilungsleitern Viehwirtschafts-Brigadieren Spezialisten Mechanisatoren

93 °/o ( 77 von 83), 4 4 % ( 72 von 194), 49 °/o (118 von 240), 23 °/o.

Es ist plausibel, daß diese Anteilszahlen über dem Landesdurchschnitt von Ende 1964 liegen, da es sich u m einen Bezirk i n landwirtschaftlich begünstigter Gegend (Provinz Rostov), m i t hohem Mechanisierungsgrad der Arbeit (überwiegend großflächiger Getreidebau) und sehr großen Betrieben handelt. Wahrscheinlich waren auch dort 1961 die Prozentsätze niedriger, denn K u l i k o v läßt durchblicken, daß die Prozentzahlen der Parteikommunisten erst i n jüngster Zeit erheblich gesteigert worden waren. Aber die Abstufung selbst ist sehr ähnlich der i n unserer Tabelle. Es ist noch zu berücksichtigen, daß zu den unmittelbar i n der landwirtschaftlichen Produktion Tätigen, die weder Spezialisten noch Mechanisatoren sind, auch die Brigadiere und ähnlichen Führungskräfte gerech59

Kulikov:

Sel'skij rajkom, S. 64, 67.

3. Eine durchschnittliche Kolchoz-Parteiorganisation

101

net werden, die ihre Arbeit nicht oder nicht überwiegend i n Büros verrichten. Es gab zum 1. A p r i l 1961 i n den Kolchozen 206 071 Brigadiere von Produktionsbrigaden (d. h. ohne Traktoristen-, Handwerker-Brigaden und ähnliche) und 104 677 Leiter von Viehwirtschaftsabteilungen 60 . Man darf annehmen, daß es darunter 40—50 °/o bzw. i n der Viehwirtschaft 30—40 °/o Parteikommunisten gab 6 0 a , also 30 000—40 000 i n tierischer und 80 000—100 000 i n pflanzlicher Produktion. Zieht man sie von den direkt i n tierischer, pflanzlicher und sonstiger Produktion beschäftigten Parteikommunisten ab, so sinkt der Prozentsatz der einfachen K o l chozniki, die der Partei angehörten, noch weiter als i n der obigen Zusammenstellung angegeben, nämlich auf 2—3 °/o in der tierischen und knapp 1 % i n der pflanzlichen Produktion. 3. Eine durchschnittliche Kolchoz-Parteiorganisation Man kann sich anhand der obigen Zahlen eine Kolchoz-Parteiorganisation vom Jahresende 1964 mit ihren durchschnittlich vierzig Mitgliedern und Anwärtern etwa folgendermaßen zusammengesetzt vorstellen: 1 1 1 4—5

Kolchozvorsitzender u n d eventuell (nicht immer) hauptamtlicher stellvertretender Kolchozvorsitzender, Vorsitzender des Dorfsowjets (vgl. unten, S. 303), sonstige nicht unmittelbar i n der landwirtschaftlichen Produktion tätige Kolchozmitglieder,

5—6 Lehrer, Bibliothekare, Handelsangestellte u n d sonstige Berufstätige, die nicht Kolchozmitglieder bzw. außerhalb des Kolchoz beschäftigt waren, sowie Altersrentner dieser Gruppe, 2 landwirtschaftliche Spezialisten, 8—9 Mechanisatoren, 1 6—7 1—2 7—8

Leiter(in) einer Viehwirtschaftsabteilung oder -brigade, sonstige i n der Viehwirtschaft Beschäftigte, Brigadiere der pflanzlichen Produktion, sonstige i n Feldbau etc. Beschäftigte,

1—2 Alters- oder Invalidenrentner, die Kolchozmitglieder waren.

Etwa ein Fünftel davon oder weniger dürften Frauen gewesen sein, denn die Gesamtpartei bestand sowohl 1956 als audi 1961 zu knapp einem Fünftel aus weiblichen Mitgliedern 6 1 . Angesichts der Tatsache, daß die Frauen besonders zahlreich unter den einfachen Kolchozniki waren, die den niedrigsten Prozentsatz Parteikommunisten hatten, dürfte der A n t e i l 60 e

Nar. choz. 1960, S. 525. °a Vgl. Rigby, S. 335 f., 435, sowie die obigen Zahlen des Bez. Zernograd. KPSS 1956—61, S. 49.

el

102

I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

der Frauen i n der Partei auf dem Lande i m ganzen niedriger gewesen sein als i n den Städten und i m Unionsdurchschnitt 62 . Andererseits ist er wohl vornehmlich unter den ländlichen Lehrern, Bibliothekaren usw. und unter den i n der Viehwirtschaft tätigen Parteikommunisten relativ groß gewesen. I n den Parteiorganisationen waren Frauen, ebenso wie i n den Betrieben selbst (s. unten), nur selten i n leitenden Positionen zu finden 63. Feststellungen darüber, wie hoch der Prozentsatz der Parteimitglieder i n der nicht-agrarischen Landbevölkerung außerhalb der Kolchoze und Sovchoze war, lassen sich nicht treffen; sicherlich war er i n den Behörden, Organisationen und ähnlichen Einrichtungen besonders groß. Analog zu den Behörden, Organisationen etc. der gesamten Sowjetunion des Jahres 195664 dürfte hier jeder dritte Parteimitglied gewesen sein, ähnlich wie bei den landwirtschaftlichen Spezialisten der Kolchoze (s. oben) und den sowjetischen „Spezialisten" i m allgemeinen 65 . I m Gesamtdurchschnitt der Sowjetunion kamen 1961 auf einen Agrarbetrieb drei bis vier Dörfer — kleine Weiler nicht gerechnet 66 . Da die Spezialisten, Führungskräfte, Mechanisatoren und Verwaltungsangestellten, unter denen es die meisten Parteimitglieder gab, vorwiegend i m Hauptdorf des Betriebes wohnten (s. S. 228, 292), dürfte von den M i t gliedern einer Kolchoz-Parteiorganisation der größere Teil i m Hauptdorf gelebt haben, und bei den Sovchozen war es sicher ähnlich. Es muß daher eine ganze Anzahl Dörfer — und erst recht kleine Weiler von weniger als hundert Einwohnern — ohne ein einziges Parteimitglied, geschweige denn eine Parteigruppe gegeben haben. Entsprechend schwach war die politisch-ideologische Einwirkung der Partei i n solchen Dörfern, selbst bei Betrieben m i t starker Parteiorganisation i m Zentraldorf 6 7 . „Die lenkende K r a f t i n der gesamten Produktionstätigkeit und i m gesellschaftlichen Leben des Kolchozdorfes sind die Parteiorganisationen [...]. Das Parteikollektiv stellt jenen leitenden K e r n dar, u m den herum sich die ländliche sowjetische Öffentlichkeit formiert 6 8 ." Solche Schilde62 Unter den sieben Provinzen, für die 1961 ein besonders hoher Prozentsatz von weiblichen Parteimitgliedern genannt wurde (KPSS 1956—61, S. 49), befand sich n u r eine m i t einem überdurchschnittlich hohen Prozentsatz Landbevölkerung; 1964 waren es von zwölf Provinzen bzw. Unionsrepubliken vier (KPSS 1961—64, S. 13). 63 Vgl. Chrusöev, I I , S. 220 (14. 2.1956). 64 F ü r 1956 s. Meissner: Das Ende, S. 19. 65 Z u letzteren vgl. Meissner: Rußland, S. 194, sowie ders.: Soziale Struktur, S. 603; s. auch Rigby, S. 439. 66 Die A n z a h l der ländlichen Siedlungen — n u r solche i n Agrarbetrieben u n d m i t mehr als 100 Einwohnern gerechnet — betrug 182 565 zum 15.1.1959 (Itogi, Tab. 9). Die Z a h l der landwirtschaftlichen Kolchoze u n d der Sovchoze belief sich Ende 1961 auf r u n d 49 000 (Nar. choz. 1961, S. 291). 67 Vgl. Chruëcev, I, S. 278 f. (23.2.1954); G. P. Davidjuk: Ο cem govorjat konkretno-sociologiceskie issledovanija ν kolchoze „Rodina", i n : V n u t r i k l a s sovye izmenenija, S. 46. 68 Anochina/Smeleva, S. 289.

3. Eine durchschnittliche Kolchoz-Parteiorganisation

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rungen waren, soweit es die echte Öffentlichkeit und mehr als rein organisatorische und agitatorische Tätigkeit betraf, eher als Postulat denn als allgemein gegebene Realität zu verstehen 69 . Wie u m das Jahr 1960 die Wirklichkeit aussehen konnte, schildert F. Abramov: „ I m Bezirkskomitee rechnen sie so: I n ,Neues Leben* gibt's fünfundzwanzig Kommunisten. Ein kraftvoller Kern. Ja, kraftvoll, auf dem Papier; und i n Wirklichkeit? Acht bis neun Pensionierte, sieben Lehrer, der Vorsitzende des Dorfsowjets, der Sekretär [der Parteiorganisation], der Leiter der Selpo [Dorfladen] m i t seinem Buchhalter, der Vorsitzende der holzverarbeitenden und chemischen Arbeitergenossenschaft [...]. Und wer arbeitet tatsächlich i m Kolchos? Wer lebt davon, wer verdient sich wirklich dort sein Brot? Das ist doch alles nur Schein, immer die alte Vorspiegelung falscher Tatsachen. Angenommen, die Parteiorganisation fällt eine Entscheidung — eine richtige Entscheidung. Wer führt sie aus? Immer die gleichen, der Vorsitzende und noch zwei, drei Brigadiere. Die anderen schauen bloß zu. Die haben ihren eigenen Wirkungskreis. I m Grunde sind sie [die anderen] i n der Parteiorganisation so eine A r t Ratgeber, Sonderberater 7 0 ." Die Zusammensetzung, so wie sie hier aufgezählt ist — der i m zweiten Absatz genannte Kolchosvorsitzende und die Brigadiere gehören auch zu den Aufgezählten — war noch etwas ungünstiger als unser errechneter Durchschnitt (der für 1960 auf ca. 34 Personen pro Parteiorganisation umzurechnen wäre, s. oben, Tab. 2), w e i l es sich u m ein agrarisch sehr armes nordrussisches Gebiet m i t starker Landflucht handelt. 23—25 Personen sind genannt, für einfache Kolchozmitglieder bleibt kaum Raum i n dieser Parteiorganisation. Noch trüber war das B i l d bei A. JaSin, doch betrifft es einen noch nicht vergrößerten Kolchoz i m Winter 1955/56, also vor der Zeit, als die M i t gliederzahl der Partei auf dem Lande sich relativ und absolut wesentlich erhöhte. Hier waren es nur fünf Mitglieder: Der Leiter der Viehwirtschaftsabteilung als Leiter dieser Parteizelle, der Kolchozvorsitzende, der Feldbau-Brigadier, der Lagerverwalter und die Lehrerin 7 1 . Es gab „ i n der Parteiorganisation keine einfachen Kolchozniki mehr. Akulina Semenovna [die Lehrerin] gehörte, wenn sie auch aus demselben Dorf stammte, 69 Eine kurzgefaßte, gute Übersicht über die Funktionen der Parteiorganisation i m Kolchoz bei Laird : Collective, S. 85—88; sie bezieht sich auf die M i t t e der 1950er Jahre, t r i f f t aber i n den Grundzügen auch f ü r die Folgezeit zu. 70 Abramov, dt., S. 86/87. 71 I m Landesdurchschnitt hatte Anfang 1956 eine Kolchoz-Parteiorganisation 13 Mitglieder (s. oben, Tab. 2), u n d das hatte sich ein Jahr später noch nicht wesentlich geändert: 14 zum 1.1.1957, s. Kulikov: Sovetskoe, S. 92.

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I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

schon ganz zur Intelligenzia und war i n allem von der Verwaltung abhängig" 7 2 (d. h. sie unterstand dem Volksbildungsministerium, nicht dem Kolchoz). Und von einer solchen Gruppe verlangte die Partei: „ I h r seid unsere Hebel i m Dorfe 7 3 ." Jasin wollte m i t seiner Novelle, die danach ihren Namen „Die Hebel" erhalten hat, unter anderem zeigen, wie unsinnig diese Anforderung unter den gegebenen Verhältnissen war und wie sie zwangsläufig zu leerer, propagandistischer, nur für die Meldung „nach oben" bestimmter Tätigkeit führen mußte. Gewiß war es damals nicht überall so — Jasins Erzählung spielt i n einem Depressionsgebiet der sowjetischen Landwirtschaft — und war es i n späteren Jahren erst recht nicht. Aber die Vergrößerung der Kolchoze an und für sich konnte nichts Wesentliches ändern — eine Tatsache, die bei Betrachtungen über die Holle der ebenfalls vergrößerten ParteiGrundorganisationen manchmal übersehen wurde 7 4 —, denn das Zahlenverhältnis zwischen Parteikommunisten und landwirtschaftlicher Bevölkerung i m ganzen wurde dadurch ja nicht geändert. Wesentlicher war die Auflösung der Maschinen-Traktoren-Stationen (1958), die von dort manches Parteimitglied i n die Kolchoze brachte. Es mag der späteren Wirklichkeit recht nahekommen, wenn i n einem „Seminar" der BezirksParteisekretäre der Provinz Voronez Ende 1965 von zwei i n ihrer Gegensätzlichkeit offenbar als typisch betrachteten Fällen berichtet wurde: I n einem Kolchoz gab es „Dutzende von Kommunisten", die unmittelbar i n den Ställen und auf den Feldern arbeiteten (zu solcher Tätigkeit w i r d auch die der mittleren Führungskräfte gerechnet, s. Kap. VI/3); dort übten sie tatsächlich maßgebenden Einfluß auf das Leben i m Kolchoz aus. I m anderen Fall wurden sie ihrer Aufgabe nicht gerecht; „und das ist auch nicht verwunderlich. Von 49 Kommunisten sind nur 29 [ = 59 % ] i n der Produktion tätig" 7 5 . Man w i r d allerdings annehmen können, daß Fälle wie der letztgenannte 1964 oder 1965 i n der Minderzahl waren, denn sie entsprachen, wenn man die mittleren Führungskräfte als unmittelbar i n der Produktion tätig betrachtet, nicht mehr dem Unionsdurchschnitt von über 75 °/o i n der Produktion Tätigen (seit 1961, s. Tab. 4). 4. Die Leiter der Grundorganisationen Die entscheidende Person i n einer Parteiorganisation war ihr Sekretär oder „Partorg" (in Parteigruppen) 76 . Er war zwar theoretisch nur Expo72

Jaêin: Ryöagi, dt., S. 182. Ebenda, S. 172. Z. B. von Roy D. Laird: Khrushchev's Administrative Reforms i n A g r i c u l ture, i n : Karcz, ed., S. 33, der die „Durchdringung" der „Masse der Kolchoze" durch die Partei bereits auf M i t t e der 1950er Jahre datiert. 75 V. Vinokurov, i n : Sz 8.1.1966, S. 2; noch wesentlich niedrigere Prozentsätze bei Bagdagjuljan, S. 52. 78 Dem Parteistatut von 1961 (§§ 56—57) zufolge w i r d ein Sekretär samt 73

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nent ihres kollektiven Willens, praktisch aber handelte und sprach er weitgehend für sie, so daß sein persönliches Handeln als das des Kollektivs erschien 77 , i n Wirklichkeit aber mehr m i t den höheren Parteiinstanzen abgestimmt sein mußte als m i t der Meinung der Mitglieder der Grundorganisation. Die Funktion des Parteisekretärs oder Parteiorganisators und die des Betriebsleiters wurden nie i n einer Person vereinigt. Solche Gewaltenteilung war nicht nur eine Sicherung gegen Verselbständigung der Betriebsinteressen, insbesondere der Kolchoze; sie war auch wertvoll, weil sie zwei voneinander unabhängige Kanäle der Information über die wahre Lage, die Erfordernisse und die Mißstände innerhalb der Betriebe darbot 7 8 . Von einem positiv geschilderten langjährigen Parteisekretär eines Sovchoz hieß es, er sei „überzeugt, daß er als Kommunist für alles verantwortlich ist, was i m Sovchoz geschieht" 79 . Damit war i n erster Linie natürlich das Recht der Parteiorganisationen und ihrer Sekretäre auf „Kontrolle" der Tätigkeit der Verwaltung 8 0 gemeint, das der allgemeinen Kontrolle der Partei über alle Angelegenheiten des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens i n der Sowjetunion entspricht. Aber die Überzeugung von der Verantwortlichkeit bedeutete auch mehr, insbesondere i n den Kolchozen. Besonders i n den letzten Regierungsjahren Chruscevs beteiligten sich die Parteisekretäre immer mehr direkt an der wirtschaftlichen Leitung der Agrarbetriebe (s. unten, S. 110 f.). Parteileiter und Betriebsleiter sollten stets eng zusammenarbeiten, ohne daß der eine dem anderen formell über- oder untergeordnet w a r 8 1 . Nicht selten war der Betriebsleiter zuvor selbst Parteisekretär i n einem anderen Betrieb gewesen 82 ; die Funktionen waren weitgehend auswechselbar. Wer von beiden sich i n der Praxis als der Stärkere erwies, hing oft von örtlichen und persönlichen Umständen ab 8 3 . Aber der Parteileiter war doch von vornherein i n einer etwas stärkeren Position, denn Stellvertreter, ohne sonstiges Parteibüro, bei weniger als 15 Mitgliedern gew ä h l t ; i n Betrieben m i t über 100 Mitgliedern (in Kolchozen: 50 u n d mehr M i t gliedern) k a n n ein Parteikomitee gebildet werden, das ebenfalls einen leitenden Sekretär hat. 77 Vgl. Hough, S. 222 f. 78 Hough, S. 235. 79 Κ . Fajzullin, i n : L i t . gazeta, 20. 4.1965, S. 2. 80 Parteistatut, § 59; s. auch Kozlov : Partijnye, S. 39; Hough, S. 220, 223. — M i t Verordnung des Zentralkomitees der K P d S U v o m 26. 6.1959 ist die B i l dung spezieller Kommissionen i n den Partei-Grundorganisationen der Betriebe angeordnet worden, die „das Recht der K o n t r o l l e über die Tätigkeit der Betriebsverwaltung" wahrnehmen sollen, s. KommunistiSeskaja P a r t i j a Sovetskogo Sojuza ν r e z o l j u c i j a c h . . . , I V , Moskau 1960, S. 525—530. 81 Hough, S. 226 f. 82 Vgl. die Beispiele bei Ivanov: Licom, S. 202, aber auch bei vielen anderen Autoren. 83 So Hough, S. 226 f.

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das „Recht der Kontrolle" galt nur i n einer Richtung, bzw. der Betriebsleiter seinerseits besaß es, außer für reine Betriebsangelegenheiten, nicht ex officio, sondern nur i n seiner Eigenschaft als Parteimitglied, das er ja fast immer war. Allerdings erhöhte sich sein Gewicht auch i n der Parteiorganisation dadurch, daß er i n der Regel „fast schon automatisch" i n das Parteikomitee des Betriebs gewählt wurde 8 4 . I n diesem Gremium mußte seine Stimme notwendig immer dann besondere Bedeutung haben, wenn betriebliche Fragen erörtert und darüber Beschlüsse gefaßt w u r den. Aber umgekehrt hatte die Stimme des Parteileiters nicht nur i n diesem Gremium und i n reinen Parteiangelegenheiten starkes Gewicht: I n allen Fragen, die über die tägliche Routine des Betriebs hinausgingen, die also „prinzipiell" oder — i n sowjetischem Verständnis ein Synonym — „politisch" waren, hatte die Zustimmung des Parteileiters, ob innerhalb oder außerhalb einer Sitzung des Parteikomitees eingeholt, für den Betriebsleiter entscheidende Bedeutung, war er geradezu verpflichtet, sie einzuholen 85 . Noch 1966 wurde gesagt, es gebe nach wie vor Betriebsleiter, „die sich bemühen, für jede beliebige Anordnung sich des Einverständnisses des Sekretärs des Parteikomitees zu versichern" 86 . Als Parteimitglied aber stand der Betriebsleiter unter dem Parteileiter. Bei Meinungsverschiedenheiten mit dem Betriebsleiter hatte der Parteileiter das Recht, sich an die übergeordnete Parteiinstanz — auf dem Lande: das Bezirkskomitee — zu wenden, und dessen Entscheidung war für den Betriebleiter als Parteimitglied i n allen, also auch i n betrieblichen Fragen bindend 8 7 . War aber der Betriebsleiter sehr erfolgreich und berühmt, oder hatte er einen starken persönlichen Rückhalt „ i m Bezirk", so konnte er die beherrschende Stellung gegenüber dem Parteisekretär einnehmen 88 oder konnte sich i n einer Auseinandersetzung als der Stärkere erweisen 89 , denn für Betriebleiter wie Parteileiter war das Verhältnis zu den Bezirksinstanzen von überragender Bedeutung 90 . Doch der Normalfall dürfte gewesen sein, daß der Betriebsleiter auf die Dauer den kürzeren zog 91 . Bei Doros sagt der Parteisekretär eines Kolchoz über den Vorsit84

Petrenko, S. 40; ebenso Hough , S. 223. Hough , S. 226 f. ββ Soversenstvovat', S. 51. 87 Hough, S. 224, 228 f. 88 Ζ. Β . bei V. Tendrjakov: Konöina, i n : Moskva, 3/1968, S. 87. 89 I n einem solchen — publizierten — F a l l gehörte jedoch dazu, daß er das Ansehen des Sekretärs innerhalb der Parteiorganisation untergrub, er also gegen i h n als Person, nicht als Exponenten der Parteiorganisation die Oberhand behielt; s. Fajzullin, a.a.O. 90 Vgl. Bilinsky: Aktuelle, S. 78. 91 E i n Beispiel dafür, aus dem Anfang der 1960er Jahre, w o ein Sovchozdirektor i n seiner betrieblichen Personalpolitik „die Meinung der Parteikommunisten mißachtete" u n d dafür zur Rechenschaft gezogen wurde, bei N. Bulavskij, i n : Sz 22. 3.1967, S. 2. 85

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zenden, der — ein seltener Fall — nicht Parteikommunist ist und einem Wunsch des Bezirks-Parteikomitees zu widerstreben versucht: „Wenn er Parteimitglied wäre, [ . . . ] ich würde ihn vor mich zitieren, [ . . . ] würde i h n strammstehen lassen 92 ." Die obige Darstellung der Verhältnisse, die weitgehend der ausgezeichneten Untersuchung von J.F. Hough folgt, muß durch einige Besonderheiten der Landwirtschaft ergänzt werden, denn diese werden bei Hough nicht berücksichtigt. Sie lassen sich aus vier Hauptpunkten ableiten: 1. Anders als i n sonstigen Wirtschaftsbereichen sind i n der L a n d w i r t schaft i m allgemeinen Betriebs- und Territorial-Grundorganisation der Partei identisch, es gibt nur selten die sonst übliche Parallelität der Parteiorganisationen. Das entspricht der Einheit von Kolchoz bzw. Sovchoz (als Betrieb) und Dorf (als Wohnort) und stärkt die Stellung der Parteiorganisation gegenüber der Bevölkerung ebenso wie die der Betriebsleitung gegenüber den Belegschaftsmitgliedern. Dadurch gibt es mehr Berührungspunkte zwischen Betriebs- und Parteileitung als sonst, wo beide sich nur u m die innerhalb des Betriebes und i m Rahmen seiner Aufgaben anfallenden Probleme zu kümmern haben, andere Fragen Sache der örtlichen Verwaltung und der Parteiorganisation des Wohnbezirks sind. Entsprechend gibt es auch mehr Fragen, i n denen beide sich an übergeordnete Instanzen wenden müssen. 2. Die große Mehrzahl der Agrarbetriebe befand sich i n einem Zustand chronischer Nichterfüllung der Produktionspläne. Ihre Leiter hatten sich — von Ausnahmen abgesehen — ständig dafür zu rechtfertigen, und i n dieser schwachen Stellung waren sie besonders darauf angewiesen, daß der Parteisekretär des Betriebs sie dabei unterstützte und nicht noch zusätzlich auf Mängel ihrer Arbeit hinwies. Entsprechendes gilt für die auch sonst extrem schwache Stellung der Leiter von Agrarbetrieben i m Verhältnis zu übergeordneten Staats- und Parteiinstanzen (s. hierzu Kap. V/1, 3, 4a), so daß sie mehr als etwa die Leiter von Industriebetrieben auf die M i t w i r k u n g der Parteisekretäre i n der Vertretung betrieblicher Belange angewiesen waren. Notlagen, Aushilfen, Verstöße gegen die einen Vorschriften, u m die anderen befolgen zu können (insbesondere bezüglich der Produktionspläne), waren eine i m Sowjetsystem weit verbreitete Erscheinung und erforderten die Kooperation oder zumindest stillschweigende Duldung durch die zur Kontrolle berufenen Parteisekretäre 93 , aber nirgends waren sie so allgemein wie i n der Landwirtschaft. Infolgedessen war der Leiter eines Agrarbetriebs nicht nur auf solche M i t w i r k u n g und Duldung angewiesen, sondern bot auch ständig besonders viele Ansatzpunkte für Kontrolle, K r i t i k und Einmischung seitens des Parteisekretärs. 92 93

Doroë : Dva dnja, S. 15. Hough , S. 225 f., 232.

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3. Die vorherrschende Betriebsform, der Kolchoz, hatte entsprechend seiner genossenschaftlichen Konstruktion, anders als sonstige sowjetische Betriebe (z. B. Sovchoze), einerseits ein kollektives Leitungsgremium und war andererseits, insbesondere seit der Beseitigung (1953) der Bezirks-Bodenabteilungen (rajzo) und der Auflösung (1958/59) der Maschinen-Traktoren-Stationen, nicht einer speziellen Landwirtschaftsverwaltungs-Hierarchie unterstellt (wenngleich faktisch der Unterschied zum Sovchozdirektor geringer war und das Landwirtschaftsministerium mit seinen Dienststellen i n manchem eine Verwaltungshierarchie für die K o l choze darstellte). Das kollektive Leitungsorgan ermöglichte es, daß i n der Regel nicht nur der Kolchozvorsitzende Mitglied des Parteikomitees seines Betriebs war (s. oben), sondern auch der Parteisekretär seinerseits Mitglied der Kolchozleitung 94 . Da eine zuständige Verwaltungshierarchie fehlte, gab es — zumindest formal — für den Kolchozvorsitzenden keine Instanz, an die er appellieren konnte, wenn der Parteisekretär Maßnahmen verlangte (oder ablehnte), die dem Kolchozvorsitzenden als falsch (oder notwendig) erschienen. Die ausschlaggebende Instanz war faktisch für i h n wie für den Parteileiter das Bezirkskomitee der Partei (s. Kap. V/4/a), weniger die staatliche Bezirksverwaltung (rajispolkom). I n dieser Hinsicht war ein Sovchozdirektor i n einer besseren Position, sozusagen i n der für einen sowjetischen Betriebsleiter normalen: Er konnte sich an die für ihn zuständige Stelle des Verwaltungssystems der Sovchoze wenden und von dieser strikte Anweisung i n der jeweiligen Frage anfordern, oder diese konnte sich — m i t ganz anderer Autorität — an die nächsthöhere Parteiinstanz wenden. Die Abhängigkeit des Sovchozdirektors von seiner eigenen Befehlshierarchie und von deren Instruktionen (s. Kap. V/3) mußte, wie immer sie ihn sonst hemmte, seine Stellung gegenüber dem Betriebs-Parteisekretär stärker machen als die eines Kolchozvorsitzenden. Das entsprach durchaus der Logik des Sowjetsystems: Zur formalen Unabhängigkeit der Kolchoze (als Genossenschaften) von staatlichen Stellen bildete die straffere Unterordnung unter die Parteiinstanzen das Gegengewicht; bei der straffen Befehlshierarchie des Sovchoz-Systems brauchten die lokalen Parteiinstanzen sich weniger i n innerbetriebliche Angelegenheiten einzuschalten, u m die genaue Befolgung der von oben kommenden Anweisungen zu sichern. 4. Die personelle Basis der Partei war auf dem Lande und insbesondere i m rein agrarischen Bereich außerordentlich schmal, und die Aufgabe der Agrarbetriebe bestand angesichts der Knappheit an Nahrungsmitteln vor allem i n der Steigerung der Produktion, alle anderen Belange — kulturelle, politische, soziale — traten dahinter zurück. Infolgedessen 94

Vgl. Kozlov: Partijnye, S. 39.

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hatte die Parteiorganisation weder die Möglichkeit wirklicher Breitenw i r k u n g unter der Bevölkerung, noch viel Spielraum für ihre Aufgaben i m engeren Sinn, die nicht direkt wirtschaftlich waren. Auch i n der sog. Kaderpolitik, d. h. bei der Auswahl und Empfehlung von Personen für Führungspositionen, an sich eine der Hauptaufgaben der Parteikomitees 95 , waren ihre Möglichkeiten i n der Praxis stark begrenzt, w e i l es angesichts des Mangels an qualifizierten Kräften (s. unten) nicht viel auszuwählen gab. Alles das schränkte die Machtstellung des Parteileiters faktisch mehr ein, als seine institutionelle Funktion vermuten läßt, denn für die übergeordneten Stellen war der Produktionserfalg wichtiger als alles andere, und für i h n hielt man sich i n erster Linie an den Betriebsleiter. Alle Anliegen des Parteileiters, die nicht direkt der Produktionssteigerung dienten — und viele seiner Aufgaben betrafen ja nur indirekt die Produktion — waren deshalb zweitrangig. Wenn dennoch der Parteisekretär dem Betriebsleiter, vor allem dem Kolchozvorsitzenden gegenüber eine starke Position hatte, so beruhte das mehr auf der allgemein schwachen Stellung des letzteren gegenüber höheren Instanzen als auf dem Wirken des Parteileiters selbst. Die Parteiarbeit innerhalb der Kolchoze wie auch der Sovchoze sollte seit 1959 grundsätzlich nicht von hauptamtlichen (osvobozdennye) Funktionären geleitet werden 9 6 , was bis dahin ziemlich weitgehend der Fall gewesen war. Hatte aber der Betrieb ein eigenes Parteikomitee (bei über fünfzig Mitgliedern i n Kolchozen und über hundert i n Sovchozen, s. oben), so dürfte auch nach 1959 i n der Praxis der Sekretär recht häufig doch hauptamtlich tätig gewesen sein 97 , besonders i n großen Kolchozen 98 , wahrscheinlich fast nie i n kleinen Grundorganisationen. Aber i n jedem Falle hatte seine Funktion einen Doppelcharakter: Sie war sowohl auf die wirtschaftliche Tätigkeit des Betriebes gerichtet als auch auf die eigentlich politischen Aufgaben i m Betrieb 9 9 , allerdings m i t nicht stetig gleich starker Betonung i n der einen oder der anderen Richtung. 85

Hough, S. 226. Meissner: Sowjetunion, S. 700. Vgl. die Zahl aller Parteikomitees von Grundorganisationen der Gesamtpartei, die sich zum 1.10.1961 auf 13 220 belief (KPSS 1956—61, S. 53), u n d die Zahl von 29 000 hauptamtlichen Funktionären auf dieser Ebene, die 1957 einer Delegation italienischer Kommunisten von sowjetischer Seite mitgeteilt wurde (Fischer, S. 331). Da seit 1956 die Z a h l der hauptamtlichen Funktionäre u m ein Viertel reduziert worden ist (ebenda, S. 330), auf den unteren Rängen w a h r scheinlich u m mehr, kommen die beiden Zahlen sich recht nahe; der verbleibende Rest mag auf Stellvertreter, Instrukteure usw. i n besonders großen Grundorganisationen entfallen. 98 Vgl. Anochina/Smeleva, S. 289. 99 Vgl. die Darstellung am Beispiel eines Kolchoz bei Miller, S. 39 f., u n d eines Sovchoz bei Ballard: Sovkhoz, S. 75. — Bei DoroS: Dozd', S. 75, konnte der Parteisekretär, der neu w a r u n d aus der Stadt stammte, eine wichtige — u n d zudem verderbliche — betriebswirtschaftliche Anweisung geben. I n einer anderen Erzählung (Kuznecov: U sebja) spielte der Parteisekretär i n innerbe98

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Bis Mitte der 1950er Jahre war die Hauptaufgabe der örtlichen Parteiorganisationen auf dem Lande — i m Unterschied zur staatlichen Verwaltung — vor allem die politische Schulung und Indoktrinierung i n den Kolchozen, besonders von deren Führungskräften gewesen 100 . Aber auf dem X X . Parteitag (1956) sagte Chruscev m i t dem Blick auf die zurückliegende Zeit und die neue Linie der Parteiarbeit auf dem Lande: „ M a n muß zugeben, daß unsere Parteikader viele Jahre hindurch nicht genügend i m Geiste hoher Verantwortlichkeit für die Lösung der praktischen Fragen des Wirtschaftsaufbaus erzogen wurden. Das führte dazu, daß kanzleibürokratische Methoden der Wirtschaftsführung weit verbreitet waren, daß viele Parteifunktionäre sich nicht wirklich m i t organisatorischer Arbeit auf dem Gebiet des Wirtschaftsaufbaus befaßten, nicht tief i n die Wirtschaftsstruktur eindrangen und die lebendige Beschäftigung m i t der Organisation der Massen häufig durch Redereien ersetzten, i m uferlosen Meer von Papieren ertranken. [ . . . ] Scharfer K r i t i k beginnen jetzt jene Parteifunktionäre ausgesetzt zu werden, die wie bisher ernsthaftes Studium der Sachfragen und lebendige organisatorische Arbeit durch Geschwätz über die w i r t schaftlichen Aufgaben ,im allgemeinen' und durch Papierkrieg ersetzten 101 ." Ende 1958 erklärte Chruscev i n schärferer Zuspitzung: „Die Aufgabe der Parteiorganisationen besteht darin, durch ihre tägliche organisatorische Arbeit die Entwicklung der gesellschaftlichen Wirtschaft [der Kolchoze], insbesondere der Viehzucht, zu beschleunigen 1 0 2 ." I m Frühjahr 1962 sagte er sogar: „Man muß die Dinge so regeln, daß w i r vor dem Volk m i t der Autorität der Partei die Verantwortung tragen für die Leitung der Landwirtschaft. So und nur so muß man die Verantwortlichkeit der Parteiorganisationen verstehen 1 0 3 ." Solche Betonung der praktischen wirtschaftlichen Arbeit hat i n der Reorganisation des ländlichen Bezirks-Parteiapparats von Ende 1962, d. h. seiner Konzentration auf die sog. Territorialen Produktionsverwaltungen und deren Tätigkeit 1 0 4 , ihren Niederschlag gefunden, als Chruscev trieblichen Angelegenheiten eine nicht minder wichtige Rolle als der Kolchozvorsitzende. 100 Laird: Collective, S. 96. 101 ChruSëev, I I , S. 213; s. auch ebenda, S. 216 f. 102 Chruëëev , I I I , S. 406 (15.12.1958). 103 ChruSëev, V I , S. 417 (5. 3.1962). 104 s. dazu Meissner: Verwaltungsreform, insb. S. 87—96; Bilinsky : Aktuelle, S. 60—63.

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die Losung ausgab: „Die Hauptsache ist die Produktion 1 0 5 ." A m 14. Feberuar 1964 erklärte er vor dem Zentralkomitee i n einem allgemeinen Sinn, aber auch i m Blick auf innerbetriebliche Verhältnisse: „Unter den heutigen Bedingungen sollen die Parteifunktionäre und -Organisatoren nicht nur das Parteiprogramm kennen, sondern sich auch konkret i n ihrem Produktionszweig auskennen, die Wirtschaft qualifiziert leiten 1 0 6 ." Die angestrebte und zum Teil wohl auch verwirklichte Schwerpunktverlagerung i n den Aufgaben der Parteifunktionäre bedeutete nicht nur Tätigkeiten, für die diese nicht ausgebildet und ihrem ganzen Werdegang und der damit verbundenen geistigen Einstellung nach wenig geeignet waren, sondern außerdem unbequeme direkte Verantwortung für konkrete Leistungen und Fehlschläge der Produktion. Dadurch waren die Parteisekretäre gezwungen, oder der Betriebsleiter konnte sie dazu zwingen, „sich zum Schaden der Parteiarbeit m i t aller möglichen w i r t schaftlich-betriebsorganisatorischen Tätigkeit zu befassen" 107 . Vielen von ihnen dürfte der Erste Parteisekretär der Provinz Novosibirsk aus dem Herzen gesprochen haben, als er auf der März-Plenarsitzung 1965 des Zentralkomitees sagte: „Früher [d. h. i n den letzten Regierungsjahren Cruscevs] waren die Maßnahmen zur Verbesserung der innerparteilichen Arbeit ein formales Anhängsel an die wirtschaftlichen Aufgaben, was bei den Parteifunktionären ein berechtigtes Gefühl der Unzufriedenheit hervorrief [...]. Die A r t , wie die Tätigkeit der aktiv und leitend i n Partei und Staat Tätigen bewertet wurde, war manchmal sogar kränkend. Ich erinnere mich daran, wie Genösse Chruscev auf dem Juni-Plenum des Z K ihnen den Vorwurf machte, daß sie ,nicht säen und nicht ernten, sondern nur Brot verzehren' 1 0 8 ." Zugleich wies er darauf hin, daß unter diesen Umständen Parteikarrieren wenig verlockend waren, indem er fortfuhr: „ I n den letzten Jahren hat es Schwierigkeiten i n der Heranziehung von Kadern für die Parteiarbeit gegeben, zum Beispiel als Sekretäre von Sovchoz-Parteiorganisationen, obwohl solche Tätigkeit früher eine Ehrensache war." (Worauf Stimmen aus dem Auditorium ertönten: „Richtig.") 1 0 0 105

Chrusëev, V I I , S. 327 (19.11.1962). ChruScev, V I I I , S. 415. 107 I . Fedorov , i n : Sz 31.1.1967, S. 2 (ein Beispiel, das von Fedorov, dem Provinz-Parteisekretär von Novgorod, als charakteristisch f ü r die jüngste V e r gangenheit hingestellt wird). 108 F. S. Gorjaöev, i n : Plenum (1965), S. 83. 109 Ebenda. 106

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Rückblickend wurde auch Klage geführt, daß „viele Parteisekretäre sich i n Gehilfen der Sovchozdirektoren für Wirtschaftsfragen" verwandelten 1 1 0 . Gorjacev machte deutlich genug, was i h m erstrebenswert erschien: der Parteifunktionär sollte zwar die eigentlich entscheidende K r a f t i m Betrieb sein, aber von der Verantwortung auf wirtschaftlichem Gebiet befreit werden. Andererseits ließ Gorjaòev auch erkennen, daß die Parteifunktionäre nicht immer befriedigend arbeiteten, daß sie sich zu oft auf leere Reden und Aufrufe beschränkten und den hohen Anforderungen der Parteidisziplin sich selbst und anderen gegenüber nicht immer entsprachen 111 . Man kann hier die Frage beseite lassen, ob Chruscevs Einstellung und Anforderungen i m Sinne der Partei ein Fehler waren, aber man muß folgenden Zusammenhang i m Auge behalten: Ein moralisches — von den Betroffenen als solches empfundenes — Recht, sich aus der Verantwortung für wirtschaftliche Fehlschläge zurückzuziehen, hat die Partei nur dann, wenn sie den Betriebsführern freie Hand läßt und auch die eventuellen Erfolge i n erster Linie den Betriebsführern und nicht den Parteifunktionären anrechnet. Daran aber haperte es unter Chruscev angesichts der ständigen, allzu oft mittels der Parteiorganisationen erfolgenden Einmischung von oben i n innerbetriebliche Belange. Gorjacev klagte auch: „Es ist jetzt manchmal schwierig geworden, einen Funktionär aus einer Bezirks- oder Stadt-Organisation auf das Land oder i n einen zurückgebliebenen [Produktions-] Abschnitt, auf eine geringer bezahlte Arbeit zu schicken 112 ." Das dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß unter Chruscev häufig, besonders i n Kolchozen, der Parteisekretär nicht als solcher hauptamtlich tätig (und damit direkt von der Partei bezahlt) war, sondern offiziell als Stellvertreter des K o l chozvorsitzenden fungierte 1 1 3 oder eine andere Funktion bekleidete, ζ. B. als Leiter des Kulturhauses 1 1 4 . Vorzugsweise wählte man jemand, der Büroarbeit oder sonstige leichtere Arbeit leistete, weil er eher Zeit für seine Parteifunktion erübrigen konnte 1 1 5 . Angesichts der Bedeutung, die seiner politischen Funktion beigemessen wurde, konnte aber kaum jemand den Parteileiter, auch wenn dieser 110

Antonov, S. 38. Penlum (1965), S. 85. Plenum (1965), S. 85; vgl. ähnlich N. F. Ignatov, ebenda, S. 187 f. 118 E i n Beispiel dafür bei N. Smeleva: Batja, i n : Sz 27.8.1967, S. 3: „Die Parteikommunisten w ä h l t e n i h n zum Sekretär der Parteiorganisation, die Kolchozniki zum M i t g l i e d der Kolchozleitung u n d Stellvertreter des Vorsitzenden." 114 So bei Stadnjuk, 8, S. 77. 115 N. Abbasov, i n : Sz 4.1.1968, S. 3; s. auch N. Burlakova, i n : Koms. pravda, 13. 8.1965, S. 2. 111 112

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eigentlich andere Arbeit hatte, daran hindern, seinen politischen A u f gaben, so wie die Partei sie jeweils verstand, soviel Zeit zu widmen, wie er für erforderlich hielt. Notfalls mußte i h m eben jemand zur Seite gestellt werden, der i h m die außerparteiliche Arbeit erledigen half, für die er vom Betrieb eigentlich bezahlt wurde, so daß i m Grunde die Frage der hauptamtlichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit mehr darauf hinauslief, ob der Parteisekretär von der Partei selbst oder vom Betrieb bezahlt wurde. Der Unterschied zwischen hauptamtlicher und ehrenamtlicher Funktion der Betriebs-Parteisekretäre war jedoch unter Chruscev i n einem anderen Sinne wesentlich, als es auf den ersten Blick scheint. Er konnte für den Parteisekretär persönlich wichtiger sein als für seine Tätigkeit, denn bei nur ehrenamtlicher Parteifunktion hing die Höhe seines Einkommens wesentlich vom Lohn- und Gehaltsniveau des Betriebes ab, von dessen Größe und Leistung und nicht zuletzt den damit verbundenen Prämienzulagen. Für den ehrenamtlichen Funktionär war sein persönliches Wohlergehen stärker m i t der wirtschaftlichen Lage des Betriebs verknüpft, und das strebte Chruscev unverkennbar an. A u f diesem H i n tergrunde — wenn auch nicht auf diesem allein (die wachsende M i t gliederzahl pro Grundorganisation spielte gewiß auch eine Rolle) — ist die Bedeutung des Satzes zu sehen, den fünf Monate nach Chruscevs Absetzung der neue Parteichef Breznev sprach: „Möglicherweise müssen w i r eine gewisse Vergrößerung der Zahl der hauptamtlichen Sekretäre der Parteiorganisationen der Kolchoze und Sovchoze ins Auge fassen 1 1 6 ." A u f einen weiteren Grund, warum die Position eines Parteisekretärs i n einer Grundorganisation unter Chruscev an Anziehungskraft verlor, wies i m März 1965 der Erste Parteisekretär der Provinz Rostov hin: „Bekanntlich können entsprechend den Entschließungen des X X I I . Parteitags und dem dort angenommenen Parteistatut die Sekretäre von Partei-Grundorganisationen nur für zwei Amtsperioden gewählt werden, das heißt, sie können i n ein und derselben Grundorganisation zwei Jahre arbeiten 1 1 7 . Wozu hat das geführt? Dazu, daß bei uns eine große Fluktuation und Auswechselbarkeit der Sekretäre von Parteiorganisationen entstand. Es ist jetzt schwierig für uns, einen Sekretär für eine Grundorganisation zu finden, denn er muß nach zwei Jahren von dem einen Betrieb i n einen anderen übersiedeln, aus einem Bezirk i n einen anderen. Ich meine, daß das eine ziemlich künstlich ausgedachte und ziemlich falsche Demokratie ist. (Stimmen: Richtig!) 116

Plenum (1965), S. 32. Vgl. Parteistatut, § 25, i n : X X I I s"ezd, I I I , S. 344; dazu: Izmenenija ν Ustave, S. 10 (seit 1961 w u r d e n alljährlich ca. 6 0 % der Parteisekretäre von Grundorganisationen ausgewechselt). 117

8 Wädekin

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I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

Die Parteikommunisten sagen zu uns: Genossen, was tut ihr, ein guter Sekretär ist gewählt worden, er hat sich noch gar nicht richtig einarbeiten können, sich gerade erst mit dem Betrieb vertraut gemacht, und da w i r d er woandershin gewählt 1 1 8 ." I n diesem Argument w i r d indirekt auch deutlich, daß Parteisekretäre — gleichgültig ob hauptamtliche oder ehrenamtliche — eben doch Berufsfunktionäre waren. Denn wären sie echt ehrenamtlich tätig gewesen, so hätte es ihnen weniger ausgemacht, nach zwei Jahren ihre Funktion wieder abzugeben: sie hätten ja i n ihrem eigentlichen Beruf i m gleichen Betrieb bleiben können, hätten nicht „woandershin gewählt" zu werden brauchen. Aber einen außerparteilichen Beruf höherer Qualifikation (Hochschul- oder mittlere Fachschulbildung) hatten nicht viele unter ihnen, die meisten nur eine allgemeine Bildung zwischen vier und zehn Schulklassen 110 . Auch zur sog. Intelligenzia i m engeren Wortsinn (siehe Kap. IV) kann man sie i n ihrer Masse nicht rechnen. Das Bezirks-Parteikomitee übte stets — ähnlich wie bei den Kolchozvorsitzenden (s. unten, S. 179 f.) — den entscheidenden Einfluß auf die Wahl des Parteileiters aus, ernannte i h n faktisch 1 2 0 . Der Mechanismus, durch den — immer i m Beisein eines Vertreters des Bezirkskomitees — die Wahl gelenkt wurde, war ebenso einfach wie wirksam. Zunächst erfolgte die Wahl des kollektiven Parteikomitees oder -büros der Grundorganisation durch geheime Stimmabgabe 121 . Die Kandidaten dafür standen auf einer vorbereiteten Liste oder wurden aus der versammelten Mitgliederschaft genannt, und zwar riefen sogleich einige vom bisherigen Parteisekretär und vom Vertreter des Bezirkskomitees vorher instruierte Mitglieder die Namen, die man auf der Liste haben wollte. Sobald sie alle — d. h. so viele, wie gewählt werden sollten, und nicht mehr — genannt waren, sprang jemand auf und schlug vor, die Kandidatenliste damit abzuschließen. Nach ungeschriebenen und allgemein respektierten Regeln wagte fast nie jemand, sich diesem Vorschlag zu widersetzen. Damit wurde die eigentliche Wahl zur reinen Formsache, 118

M. S. Solomencev, i n : Plenum (1965), S. 120. Detaillierte Zahlen liegen nicht vor, aber eine ungefähre Vorstellung verm i t t e l n die publizierten Volkszählungsergebnisse: 1959 hatten i m Durchschnitt der Gesamtpartei u n d aller Massenorganisationen (nicht n u r der Partei) 39,4 % aller hauptberuflich dort Tätigen eine Hochschul- oder mittlere Fachschulbildung, zum T e i l w o h l auf speziell politischen Bildungsstätten w i e der Parteihochschule erworben, 42,6% eine sieben- bis zehnjährige allgemeine Schulbildung, 18 % weniger als sieben Schuljahre (Itogi, Tab. 40), u n d auf dem Lande w a r das Bildungsniveau sicher niedriger. Die hauptamtlichen Leiter der Grundeinheiten solcher Organisationen hatten zu 6,3 °/o weniger als eine siebenjährige Schulbildung (Itogi, Tab. 52, als Rest errechnet), und auf dem Lande w a r wahrscheinlich der Prozentsatz von Funktionären m i t dieser geringen Vorbildung höher. 120 Hough , S. 223, Fußnote 30; s. auch JaSin: RyCagi, dt., S. 182. 121 Petrenko, S. 40. 119

5. Die „ L e i t u n g der Massen"

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weil es keine Auswahl unter mehreren Kandidaten gab. Der Sekretär wurde anschließend von den Mitgliedern des neugewählten Parteikomitees oder -büros, wieder i n Anwesenheit des Bezirksvertreters, „gewählt", nun i n offener Abstimmung, und i n diesem kleinen Kreis konnte man leicht deutlich machen, wer gewählt werden sollte 1 2 2 .

5. Die „Leitung der Massen" Die beherrschende Stellung der Kommunistischen Partei i n der Sowjetgesellschaft beruht seit jeher auf zwei Einwirkungsmöglichkeiten: Von der Spitze her, wo Zentralkomitee der Gesamtpartei und Ministerrat des Staates personell und funktionell eng verflochten sind, bestimmt sie die Willensbildung und Handlungsweise der staatlichen Verwaltung: „Eine Parteidirektive hat Gesetzeskraft 123 ." Zugleich aber hat die Partei ihre Mitglieder auf den wichtigsten Posten i n allen Bereichen und auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens bis hinunter zur Betriebsabteilung und zum Dorf. Auch innerhalb der Kolchoze als formal selbständiger Genossenschaften gilt: „Eine isoliert genommene Form der sozialistischen Demokratie ohne den leitenden, richtungweisenden Einfluß der Kommunistischen Partei ist undenkbar 1 2 4 ." „Das revolutionäre Schöpfertum des Volkes hat ein breites und gut organisiertes System geschaffen, durch welches die Partei Tag für Tag mit den Massen verbunden ist, die Leitung der Massen verwirklicht. Das sind die Sowjets, die Gewerkschaften, der Jugendverband, die freiwilligen Gesellschaften der Werktätigen [.. .] 1 2 5 ." Z u nennen sind darüber hinaus die Betriebsleitungen, die Massenmedien, die Armee (als Schulungsorgan) usw., überhaupt die der Partei angehörenden Fachkräfte i n allen Bereichen des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens. Über ihre innere Befehlshierarchie kann die Partei auf jeder Ebene durch ihre Mitglieder — den „leitenden K e r n aller Organisationen der Werktätig e n "i26 — v o n innen her auf das Verhalten und die Beschlüsse der In122 Anschaulich schildert diese ganze Prozedur Borisov, S. 34 f. B e i Oveckin sagt eine seiner positiven Gestalten darüber: „ S i n d f ü r das B ü r o oder fürs K o m i t e e f ü n f bzw. dreißig M a n n zu wählen, dann steht genau die gleiche A n zahl auf der Liste; k a u m hat m a n sie verlesen, da springt schon einer auf u n d e r k l ä r t : ,Ich schlage vor, die Wahlliste abzuschließen!' " (Oveckin, dt., S. 361). — Auch i m Jahre 1965 w u r d e n solche u n d ähnliche Methoden noch p r a k t i z i e r t — angeblich selten, aber offenbar doch häufig genug, u m sich m i t ihnen i n der maßgebenden Parteizeitschrift auseinanderzusetzen, s. Petrenko, S. 37 f. 123 V. A. Vlasov, S. S. Studenikin: Sovetskoe administrativnoe pravo, Moskau 1959, S. 34. 124 I . V. Pavlov: Bazvitie kolchoznoj d e m o k r a t i i ν period razvernutogo stroitel'stva kommunizma, Moskau 1962, S. 38. 125 L . I . Breznev , Rede v o m 3.11.1967, i n : Sz 4.11.1967, S. 5. ΐ2β Verfassung der UdSSR, A r t . 126, s. Maurach, S. 366 ff.

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I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

stanzen einwirken, die ihr formal nicht unterstehen 127 . Hierzu bedient sie sich der Parteigruppe und vor allem des — offiziell so benannten, wenn auch keine organisatorisch fixierte Einheit darstellenden — ParteiAktivs i n diesen Instanzen und i m öffentlichen Leben, d. h. der politisch aktiven und der beruflich i n gehobenen bzw. einflußreichen Stellungen befindlichen Parteikommunisten 1 2 8 . Ein Beispiel dafür war auch die enge Zusammenarbeit staatlicher Inspekteure (meist Parteimitglieder) m i t den Parteiorganisationen und -aktivs der Kolchoze 129 . Es gab aber auch Grenzen für diese Einwirkungsmöglichkeiten: I n vielen Parteiorganisationen nahm ein Teil der Parteikommunisten, bis zu einem Drittel der Mitglieder, wenig A n t e i l am Parteileben 1 3 0 . Wie man sich i m Idealfall solche Einwirkung vorstellt, schilderte ein Erster Bezirks-Parteisekretär i n der Provinz Pskov: „Die Kolchozniki sind bestrebt, i n den Bestand der [Kolchoz-]Leitung die besten Genossen zu wählen. Es ist natürlich, daß sich unter den Gewählten nicht wenige Parteimitglieder befinden, darunter i n der Regel die Sekretäre der Parteiorganisationen [der Kolchoze]. Das gibt uns die Möglichkeit, i n den Leitungen vollwertige Parteigruppen zu haben. Ich weiß nicht, wie es sich anderswo verhält, aber bei uns entfalten sie eine sehr aktive Tätigkeit. Zur Leitung des Lenin-Kolchoz, zum Beispiel, gehören vier Parteikommunisten. Vor der Leitungssitzung, auf der über die Frage des Übergangs zur wirtschaftlichen Rechnungsführung und direkten Geldentlohnung zu beschließen war, wurde bekannt, daß an der Zweckmäßigkeit dieser Maßnahme sogar einige [Betriebs-] Leitungsmitglieder zweifelten. Die Parteigruppe besprach sich über die Lage. Die Parteikommunisten gelangten i n der Frage zur Klarheit, verstanden es, den zweifelnden Genossen die Lebenswichtigkeit und Realität des Beabsichtigten zu beweisen. Der Beschluß wurde einstimmig gefaßt. Und dann, als die Leitung und die Parteiorganisation i n voller Übereinstimmung auftraten, war es leichter, die übrigen Kolchozniki zu überzeugen 131 ." Generell für die Praxis auf dem Lande wurde dieser Wirkungsmechanismus so definiert: „Das Bezirks-Parteikomitee w i r k t auf die Produk127

Vgl. Inkeles/Bauer, S. 323. — Als Beispiel für die A r t und F o r m der E i n w i r k u n g innerhalb eines Ministeriums, w i e die Partei selbst es offiziell sieht, s. P a r t i j n y j komitet ministerstva, i n : Kommunist, 16/1966, S. 50—58. 128 Über das „ P a r t e i - A k t i v " , auch auf höherer als Betriebsebene, s. L. Petrov: P a r t i j n y j a k t i v : ego formirovanie i vospitanie, i n : Kommunist, 16/1966, S. 41— 49; V. Jazykovià: A k t i v — opora parti jnych komitetov, i n : Partijnaja zizn', 7/ 1966, S. 15—19; Paul Kozokaru: Nasa nadeznaja opora, ebenda, 11/1966, S. 67— 69. 129 Karcz: Soviet Inspectorates, S. 152,155. 130 Oblastnye i kraevye partijnye konferencii Rossijskoj Federacii, i n : P a r t i j naja zizn', 6/1966, S. 14. 131 Kozlov : Partijnye S. 39. (Der A u t o r meint offenkundig auch frühere Jahre.)

5. Die „ L e i t u n g der Massen"

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tion durch die Grundorganisationen, durch die Menschen ein ." Oft allerdings machte es sich die Umstände dieses Umwegs erst gar nicht und griff direkt ein, wenn es das für angebracht hielt 1 3 3 . Bezirks-Parteifunktionäre nahmen an allen Mitgliederversammlungen der Kolchoze teil und hatten maßgeblichen Einfluß auf deren Entscheidungen 134 . Über die i n der Regierungszeit Chruscevs weit verbreitete Praxis sagte rückblickend der Erste Parteisekretär der Provinz Moskau: „Es ist kein Geheimnis, daß i n den letzten Jahren vom führenden Parteifunktionär hauptsächlich verlangt wurde, daß er m i t Hilfe administrativer Maßnahmen zu leiten verstehe. Faktisch lief das darauf hinaus, daß man die Spezialisten und wirtschaftlichen Führungskräfte ersetzte. Deshalb ging es nicht selten folgendermaßen zu: Der BezirksParteisekretär kommt i n einen Betrieb gefahren, geht über die Felder, spricht m i t dem Sovchozdirektor, Kolchozvorsitzenden, Agronomen, Zootechniker, sieht sich das Vieh an, schätzt, wie hoch der Maisertrag ausfallen wird, wieviel Silage pro K u h eingelegt werden w i r d — aber er empfindet kein Bedürfnis, sich m i t den Menschen zu unterhalten, mit dem Sekretär der Parteiorganisation zusammenzutreffen, an einer Parteiversammlung teilzunehmen, die Stimmung und die Interessen des Kollektivs kennenzulernen 135 ." I n solchen Fällen wurde die unterste Parteiorganisation übergangen 136 , ähnlich wie gerade auf dem Lande diese wie auch die übergeordneten Parteiorganisationen die Tätigkeit des untersten staatlichen Verwaltungsorgans — des Dorf sow jets — weitgehend dominierten bzw. ersetzten 137 . Aber i n solcher K r i t i k wurde nicht das Primat der Partei an sich i n Frage gestellt, es wurden nur andere Methoden seiner Verwirklichung gefordert: "Ja, es gibt nur einen einzigen Schlüssel zum Erfolg und w i r d auch nur einen geben: die eigene A k t i v i t ä t der ländlichen Parteimitglieder, der ländlichen Parteiorganisationen entfalten, die Wirtschaft durch sie leiten. Das ist bei weitem vernünftiger als zu kommandieren, Funktionäre ein- und abzusetzen 138 ." 182

V. Vinokurov, i n : Sz 8.1.1966, S. 2; i m gleichen Sinne Kozlov, a.a.O., S. 38. Vgl. den V o r w u r f gegen solche Mißachtung der Grundorganisation bei Lubnin, S. 156. 184 Bilinsky: Aktuelle, S. 78. 135 Konotop, S. 20. 136 s. dazu Kulikov: Sel'skij rajkom, S. 60 f. 137 Dazu parteioffiziell: Ο rabote. (Entgegen der Überschrift hat diese V e r lautbarung des Zentralkomitees allgemeine, nicht allein auf die Provinz Poltava bezogene Bedeutung.) — s. auch unten, Kap. VI/3. 138 R a j k o m ν éti dni, i n : Êkonomiôeskaja gazeta, 29/1965, S. 4. 183

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I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

Je größer die Zahl der Parteikommunisten i m jeweiligen Bereich war, desto bessere Möglichkeiten besaß die Partei für den indirekten, den i n der Alltagspraxis unter Chruäöev nicht häufig begangenen, aber nicht nur vernünftigeren, sondern auch korrekteren (im Sinne der Verfassung der UdSSR) Weg, desto sorgfältiger konnte sie diejenigen Genossen auswählen, denen dabei die verschiedenen Aufgaben zufielen. Solche Kaderpolitik wurde dadurch erleichtert, daß ein Parteimitglied seinen Arbeitsplatz nicht ohne Zustimmung seiner Partei-Grundorganisation wechseln durfte, was als „seit langem üblich" bezeichnet, aber nicht als Verletzung des Arbeitsrechts betrachtet wurde, da es eine innere Angelegenheit der Partei sei, hinter der als Strafandrohung die Ausstoßung aus der Partei steht 1 3 9 . Die geringe Mitgliederzahl i n der Agrarbevölkerung w i r k t e sich hier hemmend aus, denn die Partei mußte i n der Landwirtschaft ihre Zwecke m i t Hilfe einer prozentual sehr kleinen Personengruppe zu erreichen suchen. Soweit sie direkt einwirkte, d. h. von den den Agrarbetrieben übergeordneten Partei- und Staatsinstanzen aus offen Befehle erteilte, brauchte das keine Beeinträchtigung ihrer Möglichkeiten zu bedeuten. Was aber die Einwirkung von unten, von innerhalb des Betriebs her betrifft, so wurde den Parteikommunisten durch ihre geringe Zahl die Erfüllung der gestellten Aufgaben erschwert. Angesichts der Zahlenverhältnisse unter den einfachen Kolchozniki (ca. 1 :40 i n der Viehwirtschaft, 1 :100 i m Feldbau, s. oben) war es hier einfach unmöglich, auf kollegiale Weise der Forderung nachzukommen: „Der Parteikommunist muß nicht nur selbst ein Vorbild i n Arbeit und Leben sein, sondern er ist verantwortlich für die Führung und Arbeitsleistung seiner K o l legen 1 4 0 ." Man konnte ja i n dem gegebenen Wirtschaftssystem den i n der Landwirtschaft tätigen Menschen nicht zutrauen, daß sie allein und von sich aus oder durch die Entlohnung angereizt ihre Pflichten ordentlich erfüllten. Nur so ist die folgende Feststellung des Leiters der AgitpropAbteilung des Provinz-Parteikomitees Leningrad verständlich: „Dort, wo die Parteiorganisationen die Erziehung der Menschen zur Arbeitsehre vernachläsisgen, treten Undiszipliniertheit, Gleichgültigkeit gegenüber den Ergebnissen der Arbeit auf 1 4 1 ." Die propagandistische Arbeit der Partei und ihrer Mitglieder hatte hier eine Ersatzfunktion, die ihrer Natur nach den Angesprochenen nicht immer sympathisch sein konnte, eben w e i l sie andere Antriebe zu ersetzen suchte. I n verallgemeinernder Form hat diesen Sachverhalt G. Grossmann treffend m i t den Worten

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Ο trudovom zakonodatel'stve, S. 49. Glavnaja zadafca, i n : Sz 18. 2.1966, S. 2; s. auch Parteistatut, § 2. E. Zazerskij, i n : Sz 21. 3.1967, S. 3.

5. Die „ L e i t u n g der Massen"

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wiedergegeben: „Die untere und mittlere Ebene [der Parteiorganisation] verdankt heute ihre Funktion und Macht i n der Wirtschaft gerade dem Versagen der wirtschaftlichen Institutionen. Bis jetzt haben diese Ebenen des Apparats eine Aufgabe gehabt, w e i l die [wirtschaftlichen] Stimuli ungenügend, die »Signale' ungeeignet, die Koordination innerhalb der Wirtschaft unzulänglich waren, die Ziele und Maßstäbe Widersprüche enthielten, alle möglichen Engpässe und funktionelle Fehler auftraten. I n allen solchen Fällen mußte die Partei eingreifen, um das Räderwerk der Wirtschaft in Gang zu halten 1 4 2 ." Die ohnehin nicht nur Vorteile m i t sich bringende 1 4 3 Position des Parteikommunisten i m Arbeits- und Lebensalltag war unter solchen Voraussetzungen i n der Landwirtschaft besonders schwierig. Nur wenige Menschen haben ja die Fähigkeit, ständig und nur durch persönliches Vorb i l d und Zureden w i r k e n zu können; der Ausweg, daß der Parteikommunist statt dessen das Kommandieren anfing, lag nahe. I n solchen Problemen und Aufgaben mag eine zusätzliche Ursache dafür liegen, daß sowohl die Partei- als auch die Staatsinstanzen unter Chrusöev i n der Landwirtschaft i n so besonders starkem Maße alle Angelegenheiten von oben zu dirigieren suchten. Jedenfalls geht man an den Realitäten vorbei, wenn man solche Tendenzen einfach auf stalinistische Traditionen oder Bürokratismus zurückführt oder auf den persönlichen Stil Chruscevs. Gewiß spielten diese eine Rolle, doch Chruscev selber hat ja auch die Schädlichkeit „kleinlicher Bevormundung" der Agrarbetriebe und ihrer Leiter erkannt 1 4 4 , nur hat er i n der Praxis je länger, desto weniger danach gehandelt — oder nicht danach handeln können. Es gehört zu den Obliegenheiten der Grundorganisationen, „sich u m die Erhöhung der Avantgarde-Rolle der Parteikommunisten i n der A r beit, i m gesellschaftlich-politischen und wirtschaftlichen Leben des Betriebs, des Kolchoz, der Behörde oder der Lehranstalt zu bemühen" (Parteistatut, § 58), und von der Bezirksorganisation an ist geradezu „Auswahl und Verteilung der führenden Kader" i n allen Sphären A u f gabe der Partei (§ 42). Da der Partei i n den Dörfern wenig Personen zur Verfügung standen, konnten deren Einwirkungsmöglichkeiten dadurch gesteigert werden, daß jede von ihnen größeren Einfluß i n ihrem Bereich besaß. Das ließ sich am besten durch die beruflichen Stellung i m Betrieb oder Wohnort gewährleisten, so daß entweder zu Parteimitgliedern vor allem diejenigen werden sollten, die bereits leitende Tätigkeiten i m Betrieb ausübten oder durch Leistungen die Fähigkeit dazu bewiesen hatten, oder daß 142

G. Grossman: Economic Reforms, S. 55. Vgl. Laird: Collective, S. 87 (insb. Fußnote 43); für die ältere Zeit s. auch Inkeles/Bauer, S. 325. 144 Vgl. ChruSëev, V I I , S. 448 (12. 3.1963). 143

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I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

diejenigen i n leitende Positionen gebracht werden mußten, die bereits Parteimitglieder waren. Das i m großen Durchschnitt niedrige Bildungsniveau der einfachen Dorfbevölkerung 1 4 5 w i r k t e i n der gleichen Richtung einer Konzentration der Parteimitgliedschaft auf die i n gehobenen Stellungen Befindlichen. Dem entsprach es, daß vor allem „das Verwaltungsund Leitungspersonal und die Spezialisten der Landwirtschaft, vor allem Männer", der „gesellschaftlichen Arbeit" (d. h. i n erster Linie der A g i tation und Propaganda) einen großen Teil ihrer Freizeit widmeten: „ [ . . . ] die gesellschaftliche Arbeit w i r d i n der Hauptsache von einem engen Kreis von Aktivisten ausgeführt, von denen jeder mehrere [solche] Aufträge hat, während die Hauptmasse der Kolchozniki nicht i n die aktive gesellschaftliche Tätigkeit einbezogen ist 1 4 6 ." I n einem besonders florierenden Kolchoz der Provinz Stavropol', i n dem auch der A n t e i l der Parteikommunisten m i t 8 % weit über dem Durchschnitt lag 1 4 7 , waren 1963 oder 1964 von den „Vertretern geistiger Arbeit" 90 %>, von den Mechanisatoren fast 75 °/o i n irgendeiner Weise neben ihrem Beruf in „gesellschaftlicher Arbeit" tätig 1 4 8 . 6. Wer wird Parteimitglied? I n sozialer Hinsicht war die Zusammensetzung der Parteimitgliederschaft stets auf aktuelle Bedürfnisse und politische Zweckmäßigkeit ausgerichtet 149 . Generell gilt heute wie früher: „Obwohl es dem NichtParteimitglied möglich ist, i n verantwortliche Positionen und Vertrauensstellungen zu gelangen, ist es doch sehr viel wahrscheinlicher, daß man Parteimitglieder i n solchen Positionen findet 150." Denn zumindest bis vor einigen Jahren war „fast das einzige K r i t e r i u m bei der Auswahl eines Kandidaten für eine leitende Stellung [in Agrarbetrieben] seine Redlichkeit, seine Ergebenheit für unsere [d. h. der Partei] Sache", und erst heute (1968) können auch Sachkenntnisse berücksichtigt werden 1 5 1 . Es dürfte i n der Regel den Parteimitgliedern auch leichter gefallen sein, sich i n leitenden Stellungen zu halten; sie hatten einen gewissen Rückhalt durch die Partei, nicht selten so weit, daß diese auch Amtsmißbrauch 1 5 2 oder kleinere persönliche Vergehen deckte 153 — nicht i m Prinzip, aber i n der Alltagspraxis. Bis zum heutigen Tage hat i n der Be145

Vgl. Itogi, Tab. 35. Bajkova/Duöal/Zemcov, S. 260. 147 Kolchoz — skola, S. 172. 148 Kolchoz — skola, S. 178. 149 Lewytzkyj: Kommunistische Partei, S. 70. 150 Inkeles/Bauer, S. 326; s. auch ebenda, S. 328 f. 151 V. Lukaseviöius, i n : Sz 10.12.1968, S. 2. 152 Vgl. Chruëëev, V I I , S. 404 (19.11.1962). iss V g L Fm Kaiita, i n : Sz 28. 8.1966, S. 2. 148

6. Wer w i r d Parteimitglied?

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Setzung verantwortlicher Posten (nicht nur auf dem Lande 1 5 4 ) die Partei den entscheidenden Einfluß, auf dem Lande i n erster Linie das BezirksParteikomitee, i n zweiter — und das gilt schon als Fortschritt i n der Demokratie — die Parteiorganisation des betreffenden Betriebs: „ I n den letzten Jahren haben die Parteiorganisationen, dem Rat des BezirksParteikomitees folgend, aus ihrer Mitte eine große Schar Autorität besitzender und ihre Sache verstehender Leiter auf die Posten von Kolchozvorsitzenden und Sovchozdirektoren, Brigadieren und Leitern von Viehwirtschaftsabteilungen gebracht 155 ." Die beiden Motive — Aufnahme besonders qualifizierter Kräfte i n die Partei, oder aber Beförderung von Parteikommunisten i n Positionen besonderer Qualifikation und Verantwortlichkeit — ergänzten sich und haben den oben aufgezeigten steigenden Prozensatz von Parteikommunisten auf jeweils der nächsthöheren beruflich-sozialen Stufe hervorgebracht. Das eine Motiv bewirkte immerhin, daß die Partei eine gewisse Auslese von Menschen m i t beruflicher Tüchtigkeit und Bildung an sich zog. „Es versteht sich, daß die ländlichen Parteiorganisationen sich aus den Reihen derer vergrößern, die Spitzenleistungen i n der Produktion vollbringen 1 5 6 ." Eine Melkerin, die inzwischen i n eine leitende Position i n der Viehabteilung ihres Kolchoz aufgerückt war, erzählte über die A r t , wie sie Parteimitglied wurde, daß der Kolchoz-Parteisekretär sie kommen ließ und zu ihr sagte: „ K l a v d i j a Andrijanovna, w i r kennen dich seit langem. Sowohl als Arbeiterin wie auch als Menschen. W i r beabsichtigen, dich zur Aufnahme i n die Partei zu empfehlen. Wie denkst du darüber?" Und natürlich war ihre Reaktion: „Ich konnte nur hervorbringen: ,Danke!' 1 5 7 ." Vorgang wie Reaktion der Betroffenen mögen nicht unbedingt als typisch anzusehen sein, zeigen jedoch anschaulich, wie die Partei sich den Idealfall vorstellt, wobei wahrscheinlich absichtlich der i n der Praxis weniger häufige Fall (vgl. die Zahlen i n Tab. 5) gewählt ist, daß einer einfachen Melkerin der E i n t r i t t i n die Partei offeriert wird. Weitgehend charakteristisch, wenn auch vielleicht etwas extremer als sonst dürfte sein, was über eine Sovchoz-Parteiorganisation des Jahres 1963 berichtet wurde: „Die Parteiorganisation bestand vorwiegend aus Spezialisten, Betriebsleitern, Brigadieren, Normenkontrolleuren und Lagerverwaltern. I n ihren Reihen gab es keinen einzigen Stallknecht, keine Melkerin keine Kälbermagd. Und es war doch ein ViehzuchtSovchoz 158 ." Bis 1966 haben sich dann die Gewichte verschoben, aber 154 155 156 157 158

Vgl. Hough , S. 226. N. Bulavskij, i n : Sz 22. 3.1967, S. 2. (Hervorhebung vom Verf. — KEW.) Astrauskas, S. 20. A. Iëcejkin, i n : Sz 4. 4.1967, S. 2. V. Pavlov: Tak prichodit uspech, S. 38.

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I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

weiterhin war das Auswahlprinzip nach der beruflichen Qualifikation unverkennbar: „ I n den folgenden drei Jahren sind 50 Personen aufgenommen worden [in die Parteiorganisation], darunter 46 der besten Mechanisatoren und i n der Viehwirtschaft Tätigen des Sovchoz 159 ." Freilich bot ein solches Auswahlprinzip nicht notwendig die Gewähr, charakterlich einwandfreie und ideologisch wahrhaft überzeugte Menschen i n die Partei zu bekommen, denn: „ E i n i n der Produktion guter, i n der Arbeit vorbildlicher Mensch führt sich manchmal i m Alltagsleben schlecht, kommt mit den Genossen i m Kollektiv nicht aus. Fortschrittliche politische Auffassungen bestehen nicht selten zugleich m i t rückständigen Zügen des psychischen Bildes 1 6 0 ." Ein solches Ausleseprinzip hatte auch den Nachteil einer Tendenz, die Parteiorganisationen von den breiten dörflichen Unterschichten sozial abzusondern 161 . Außerdem hatten Mitglieder dieser A r t nicht notwendig ein besonderes Eigeninteresse an den politisch-ideologischen Zielen der Partei: Sie hatten ihren sozialen Aufstieg bereits ohne sie gemacht oder wenigstens begonnen; durch die Mitgliedschaft konnten sie höchstens ihren weiteren Aufstieg beschleunigen. Das andere Motiv, das der Beförderung von Parteikommunisten i n gehobene Positionen, mochte zwar eher Menschen aus den unteren sozialen Schichten i n die Partei locken, gewährleistete aber keine Auslese nach Tüchtigkeit oder auch nur charakterlicher Integrität. I m Gegenteil: A l l zusehr wurden dadurch Ehrgeizige angezogen, deren fachliche Begabung und Strebsamkeit sonst für einen sozialen Aufstieg nicht ausgereicht hätten; politische Rhetorik — Agitation und Propaganda i m Sinne der Parteilinie unter der Landbevölkerung gehören ja auch zu den A u f gaben der Parteimitglieder 1 6 2 —, Willfährigkeit gegenüber den höheren Parteistellen, Rücksichtslosigkeit gegen außerparteiliche Interessen der breiten Bevölkerung waren für solche Menschen Garanten des persönlichen Erfolgs. Ehrgeiz und politische Dogmatik gingen hier oft eine wenig erfreuliche und letztlich unproduktive Verbindung 1 6 3 i m Sinne einer „Erfolgstüchtigkeit" 1 6 4 à la soviétique ein. Solche Parteikommunisten waren meist auch diejenigen, i n deren Gegenwart man seine Worte vorsichtig setzen mußte, w e i l sie zur Denunziation neigten — was 159

Ebenda. Kolchoz — §kola, S. 251. Über solche Isolierung vor dem Zweiten Weltkrieg: Inkeles/Bauer, S. 322 f., 336 f. 182 Vgl. Inkeles/Bauer, S. 172, 323; Laird: Collective, S. 85—87. 183 E i n besonders widerwärtiges Beispiel eines Dorflehrers bei Krutilin, S. 506—523. 184 Nach Meissner: Strukturwandel, S. 108, der solche „Erfolgstüchtigkeit" von echter „Leistungstüchtigkeit" unterscheidet, das aber auf die Hochbürokratie beschränkt; s. auch ders.: Machtelite, S. 749. 160

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6. Wer w i r d Parteimitglied?

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durchaus nicht für alle Parteimitglieder galt 1 6 5 . Sie waren die eigentlichen Träger der ideologischen Parteiherrschaft, und zugleich neigten sie — uneingestandenermaßen — dazu zu vergessen, wer das Volk war, aus dem sie gekommen waren, und wo dessen wahre Interessen lagen. Die ländlichen Verhältnisse boten i n besonderem Maße die Voraussetzung für eine solche negative Auslese, weil hier der ständige, krasse Widerspruch zwischen dem ideologischen Ziel, bzw. dessen propagandistischem Scheinbild, und der deprimierenden Wirklichkeit niemandem verborgen bleiben konnte, der unter diesen Verhältnissen lebte und arbeitete. Auch ein Funktionär, der dank organisatorischer Begabung und persönlicher Integrität Positives hätte leisten können, war durch die jahrzehntelange verfehlte Agrarpolitik weitgehend zur Frustration verurteilt und konnte sich kaum über die Unglaubwürdigkeit dessen täuschen, was er von Amts wegen öffentlich zu vertreten hatte. Dann blieb i h m nur noch Resignation oder das skrupellose Bemühen um seine persönliche Karriere — die nach Möglichkeit wegführte aus diesem ländlichen Milieu. Das muß naturgemäß i n besonderem Maße für wirtschaftlich schlecht gestellte Kolchoze gelten. Von ihnen hieß es noch 1967, daß die Fälle „nicht selten" seien, da „die Mehrzahl der Mitglieder der Parteiorganisationen entweder ,Kommando'-Dienststellungen oder ,warme 4 Plätze einnehmen: als Lagerveçwalter, Fouragier usw." 1 6 6 Wie eine derartige Laufbahn ihren Anfang nehmen konnte, ist i n der neueren Sowjetliteratur verschiedentlich geschildert worden, meistens i n städtischem Milieu, zum Beispiel i n der Gestalt des Agapov bei D. Granin 1 6 7 oder bei V. Tendrjakov i n dem Studenten Ivan My§ des Romans „Begegnung m i t Nofretete" 1 6 8 . Für das ländliche Milieu gab Jasin das folgende Beispiel, das, w e i l nicht spektakulär, besonders lebensnah sein dürfte: „Sergej Scukin war noch vor kurzem ein gewöhnlicher Kolchoznik gewesen. Vor einem Monat war er i n die Partei eingetreten und hatte begonnen, darüber zu reden, daß alle wichtigen Posten i m Kolchoz von Kommunisten besetzt werden müßten und daß es i h n schmerze, i m Beruf noch nicht weiter gekommen zu sein. Nun, man war m i t i h m zufrieden und erinnerte sich, daß der bisherige Lagerverwalter schon etliche Verweise wegen Diebstahl erhalten hatte. So gab man Scukin den Posten. I n der darauf folgenden Versammlung hatte niemand etwas gegen diesen Beschluß einzuwenden. Da kaufte sich Söukin einen Füllfederhalter und begann, einen Schlips zu tragen 1 6 9 ." 165

InkelesfBauer, S. 331. Bagdagjuljan, S. 52. Daniii Granin: Zähmung des Himmels (Idu na grozu, dt.), Stuttgart 1963. 168 Hier angeführt nach B. Bode: Sowjetliteratur 1964, i n : Osteuropa, 1/1966, S. 42—45 ; s. auch das Beispiel bei Rigby, S. 319. 169 Jaëin: RyCagi, dt., S. 169. 1ββ

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I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

Ein Beispiel anderer A r t von Parteizugehörigkeit und beruflichem Aufstieg findet sich bei Doros: „,Er ist irgendwie verklemmt und gezwungen', sagt Son'ka, ,er sagt nichts, tut nichts.' ,Man hätte i h n nicht zum Brigadier machen sollen', sagt Lizaveta, gewissermaßen zur Entschuldigung Vanj as, ,er ist doch Chauffeur von Beruf, von der Landwirtschaft versteht er nichts. Und er wollte auch nicht, lehnte ab, aber man zwang ihn — er ist doch Parteikommunist, sagten sie 1 7 0 .'" I n diesem Falle spielte offensichtlich persönlicher Ehrgeiz keine Rolle. Aber dafür war ein solcher Brigadier weder dem Betrieb noch der Partei viel nütze. Hätte er auf seiner Ablehnung bestanden, so hätte i h m Parteiausschluß drohen können wie jenem Parteifunktionär, den man mit dieser Drohung wider seinen Willen zum Kolchozvorsitzenden machte 171 . Für junge Menschen führt der Weg i n die Partei fast ausschließlich über den kommunistischen Jugendverband Komsomol; er ist das wichtigste personelle Reservoir der Partei, steht ihr von allen Organisationen am nächsten 172 . Er stellt zugleich — neben rein fachlicher, weit überdurchschnittlicher Leistung — den Hauptweg des sozialen Aufstiegs für die Jugend dar. Wo es keine Parteiorganisationen gibt, kann die örtliche Komsomol-Organisation zum Teil deren Rolle übernehmen (Parteistatut, § 61). Aus den eifrigsten und aktivsten Komsomol-Mitgliedern und -Funktionären rekrutiert die Partei auch viele ihrer Helfer. „Die Komsomolzen sind gute Helfer der Parteiorganisationen [ . . . ] Z u Zeiten politischer Kampagnen führen die Komsomolzen zusammen m i t den Partenmitgliedern die Agitationsarbeit 1 7 3 ." Die Tätigkeit der KomsomolGruppen steht unter Einfluß und Kontrolle der Parteiorganisationen vom Bezirkskomitee aufwärts (Parteistatut, § 62). Aber Partei- und zugleich Komsomol-Mitglied kann nur sein, wer eine leitende Funktion i m Komsomol hat (Parteistatut, § 63). I n den Jahren 1963 bis 1965 waren 15 bis 18 °/o der Leiter von Komsomol-Grundorganisationen zugleich auch Parteikommunisten 1 7 4 . Doch auch beim Komsomol war auf dem Lande das Reservoir zahlenmäßig nicht groß, und es ist — anders als i n den Städten bzw. i m GesamtKomsomol der Sowjetunion — nicht oder nicht nennenswert gewach170

DoroS: Dozd', S. 34. Ebenda, S. 46. Lewytzkyj: Kommunistische Partei, S. 69. 173 Anochina/Smeleva, S. 289 f.; s. auch den Abschnitt V I I : „Komsomol u n d Partei" i m Parteistatut v o n 1961, i n : X X I I s"ezd, I I I , S. 353 f., sowie die Sonderstellung der Komsomol-Organisationen bei der Empfehlung zur Aufnahme neuer Parteimitglieder, ebenda, S. 340 (§ 4). 174 Kuliöenko, S. 52; s. auch Rigby, S. 458—464. 171 172

6. Wer w i r d Parteimitglied?

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sen. Zur Zeit des Komsomol-Kongresses vom März 1954 hatte der damalige Erste ZK-Sekretär des Komsomol, Selepin, mitgeteilt, daß es i n den Organisationen des Jugendverbandes i n Kolchozen, MTS und Sovchozen insgesamt 2,5 M i l l . Mitglieder gebe 175 , wobei also noch nicht die Organisationen i n sonstigen Agrarbetrieben oder landwirtschaftlichen Institutionen berücksichtigt waren. A m 15. Dezember 1958 teilte Chruscev mit: „Gegenwärtig arbeiten i n der Landwirtschaft drei Millionen Komsomolzen 176 ." Weitere siebeneinhalb Jahre später ließ KomsomolZK-Sekretär Duvakin indirekt eine etwa gleiche Zahl für Anfang 1966 erkennen, wobei der Zusammenhang — insgesamt 10 M i l l . Jugendliche der entsprechenden Altersstufe — klar macht, daß er nur die zur eigentlichen Agrarbevölkerung gehörenden Jugendlichen meinte 1 7 7 . Neben der Steigerung 1954—58, die — je nachdem, wie man die A n gaben hinsichtlich der Abgrenzung des Personenkreises deutet — vielleicht gar keine war, muß man die Mitgliederzahl des Komsomol i m ganzen sehen: sie betrug 18,8 M i l l . Anfang 1954 und 19,4 M i l l , i m A p r i l 1962 178 , und bis zum X V . Komsomol-Kongreß (Mai 1966) ist sie auf 23 M i l l , gestiegen 179 (darunter 270 000 = 1,2 °/o Parteikommunisten 1 8 0 ). I n den städtischen und nicht-agrarischen ländlichen Komsomol-Organisationen muß also die Mitgliederzahl von — anfänglich gleichbleibend — ca. 16 M i l l . (1954 und 1958) auf ca. 20 M i l l . (1966) gewachsen sein. Es liegt auf der Hand, daß vor allem die seit Ende der 1950er Jahre verstärkt einsetzende Landflucht der Jugend 1 8 1 diese Diskrepanz der Entwicklung seit 1958 bewirkt hat. Zur Zeit der Volkszählung (15.1.1959) gab es auf dem Lande ungefähr 26 M i l l . Jugendliche i m Komsomolalter (15. bis 28. Lebensjahr) 1 8 2 , und ohne die Abwanderung hätten es Anfang 1966 sogar ca. 31 M i l l gewesen sein müssen 183 . Aber die Zahl der Komsomolzen auf dem Lande hat nicht zugenommen, vermutlich w e i l mindestens ebensoviele — wahrscheinlich mehr — Jugendliche vom Lande abgewandert sind als infolge 175

Pravda, 20. 3.1954. Chruëcev, I I I , S. 429. V. Duvakin, i n : Sz 15. 5.1966, S. 2; ebenso V. Duvakin, i n : Sz 29.10.1967, S. 2, dazu Bildunterschrift ebenda; es handelt sich u m „fast" drei M i l l i o n e n Komsomol-Mitglieder, s. F. Kijasko: Trudovye delà sel'skoj molodezi, i n : ESCh 10/1968, S. 13. 178 Fainsod, S. 292. 179 Rede Breinevs v o m 17.5.1966, i n : Pravda, 18.5.1966, S. 1; ebenso V. Smirnova, i n : Pravda, 20. 5.1966, S. 2. 180 Kulicenko, S. 52. 181 Vgl. Wädekin: Verstädterung, passim; s. auch f ü r die 1930er Jahre Zoerb, S. 94. 182 Errechnet u n d geschätzt nach Itogi, Tab. 15 u n d 32; Komsomolalter nach Fainsod, S. 294. 183 Errechnet u n d geschätzt nach Itogi, Tab. 15. 176

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der Altersstruktur neu hinzukamen 1 8 4 . Zudem gehörte nur der kleinere Teil — zehn Millionen (s. oben) von schätzungsweise 20 bis 25 Millionen Jugendlichen auf dem Lande — zur eigentlichen Agrarbevölkerung. 1966 gehörte bei ca. drei M i l l . Komsomolmitgliedern knapp jeder dritte i n der entsprechenden Gruppe der Agrarbevölkerung dieser Jugendorganisation an 185 ,1958 dürfte es jeder zweite bis dritte gewesen sein. Immerhin w i r d deutlich, daß von den i n Frage kommenden Altersgruppen der Agrarbevölkerung der Komsomol einen wesentlich größeren Teil erfaßt als die Partei. Bei Aufnahme seiner Mitglieder i n die Partei ist also eine gewisse Auslese möglich, und das verstärkt seine Rolle als Nachwuchsreservoir. Oft mögen bei solchen jungen Menschen, die i n die Partei streben, Idealismus und Aktivismus gegenüber dem auf persönliche Karriere gerichteten Ehrgeiz überwiegen. Aber völlig lassen sich die Motive w o h l nur selten auseinanderhalten, und m i t zunehmendem Alter dürfte der jugendliche Enthusiasmus naturgemäß zurücktreten, jedenfalls das Interesse an politischer Tätigkeit und Information; bei den Kolchozniki rücken i m Alter von 30 und mehr Jahren „an die erste Stelle der Interessen die materiellen" 1 8 6 . 7. Ideologisch-politische Tätigkeit Als Folge der sozialen Zusammensetzung der Parteimitgliederschaft, der Art, wie man i n der Partei rasch zu einer „nicht staubigen" Arbeit (s. unten, S. 290) kommen konnte, und der Aufgaben, die den Parteimitgliedern und Funktionären gestellt waren, scheint i n der sowjetischen Dorfbevölkerung die Auffassung verbreitet gewesen zu sein, daß Parteimitglieder — und auch deren Familienangehörige 187 — sich für gewöhnliche Arbeit zu gut seien. Unter anderen Verhältnissen gibt es solche Auffassungen — ob zu Recht oder zu Unrecht — auch, aber i n der Sowjetunion haben sie einen spezifischen Beiklang, der durch die ideologische Rolle der Partei bedingt ist. Natürlich wurde dieser Auffassung offiziell und offiziös entgegengetreten, aber sie bestand nichtsdestoweniger, zumindest auf dem Lande und zur Regierungszeit Chruscevs, denn es gab für die Schlüsselpositionen relativ wenige Parteikommunisten, und Arbeit und Einkommen 184 Selbst i n einem blühenden Kolchoz der Nord-Kaukasus-Region hat die Z a h l der Komsomolzen wegen der Abwanderung „etwas abgenommen", s. Kolchoz — skola, S. 176. 185 V. Duvakin, i n : Sz 15. 5.1966, S. 2. 186 I . T. Levykin: Duchovnye interesy sovremennogo kolchoznogo krest'janstva, i n : Izmenenija, M i n s k 1965, S. 35 f. 187 Bei Bukovskij: PoreSno-stepnye, S. 174, machte ein Kolchozvorsitzender dem Partei-Organisator des Betriebs Vorwürfe, „ w a r u m die Frauen der Parteikommunisten nicht auf dem Feld arbeiten".

7. Ideologisch-politische Tätigkeit

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des einfachen Kolchoznik waren alles andere als verlockend. Vielleicht besonders kraß, aber sicher nicht lebensfremd schilderte das Oveökin: „ I n einem Industriebetrieb kommt es wahrhaftig nicht vor, daß sich die Hälfte der Kommunisten, die der Parteiorganisation angehören, ohne klar umrissene Aufgabe herumtreibt und keinerlei Anteil am Produktionsleben hat. Kann man sich vorstellen, daß dort Kommunisten, die nichts m i t dem Betrieb, m i t der Produktion zu t u n haben, zu einer Parteiversammlung zusammenkommen und Fragen aus dem Leben des Werkes besprechen? Müßige Kommunisten? Minister ohne Portefeuille? [ . . . ] Beim Genossen Bywalych i m Kolchoz Morgendämmerung' ist das jedoch der Fall. Dort sind vier ehemalige Kolchozvorsitzende, die abgesetzt wurden, weil sie sich alles mögliche zuschulden kommen ließen, und ein ehemaliger Aufkäufer. Sie machen keine Arbeit wie andere Leute, sondern schlendern untätig i m Dorf herum und warten, bis sich ihnen irgendeine Stellung bietet, sei es auch nur als Lagerverwalter i m Dorfkonsum oder als Fährenwärter 1 8 8 ." Das Verhalten solcher Parteimitglieder — die i n einem Kolchoz von den Frauen unter sich „zavy" [zavedujuscie = Leiter] genannt wurden 1 8 9 —, auch wenn sie keine besondere Parteifunktion hatten, w i r d i n einer A n klagerede gegen die faule Leiterin einer Viehabteilung geschildert: „ ,Daß Sie sich nicht schämen', sagte Gal ja, die nun i n Feuer geriet, ,daß Sie sich nicht schämen, große Worte zu machen, u m daraus persönlichen Gewinn zu ziehen. Sie reden vom Vaterland, von Verpflichtungen, Pflicht und Partei, aber Sie pfeifen doch auf diese Pflicht und Verpflichtungen. Denn Sie selbst leisten ja nichts Nützliches für das Vaterland! Sie geben nur die Worte von sich, die Sie speziell auswendig gelernt haben, die für Sie ein M i t t e l darstellen, u m die anderen zu täuschen und einzuschüchtern: Seht nur her, was für ein ideentreuer Mensch ich bin, wagt nur nicht, m i r etwas anhaben zu wollen! Hinter diesen Phrasen nehmen Sie Deckung, wie hinter einem Palisadenzaun. M i t ihnen tun Sie sich i n den Augen der Vorgesetzten hervor, u m das warme Plätzchen, das hübsche Gehalt nicht zu verlieren, denn sonst müßten Sie auf dem Feld oder an der Werkbank einer Fabrik arbeiten, und das paßt Ihrer faulen Seele nicht. So halten Sie Reden aus Worten, deren Sinn Sie besudeln, und selbst glauben Sie schwerlich an sie. Sie sind einfach eine untaugliche und unnütze A r beitskraft 1 9 0 .'" 188 Oveëkin, dt., S. 258; daß diese Charakteristik eines gewissen Teils der Parteikommunisten auch gegen Ende der Ä r a ChruScev noch galt, w i r d deutlich bei Krutilin, S. 407. 189 Krutilin, a.a.O. 190 Kuznecov: U sebja, S. 36.

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I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

Nicht ganz so kraß, aber i m gleichen Sinne sagte ein Mechanisator aus einem Neuland-Sovchoz über diesen Typ von Parteimitgliedern: „Nicht jeder Kommunist arbeitet m i t voller Hingabe. Es gibt bei uns immer noch Liebhaber lauttönender Phrasen. Wenn es aber an die Verwirklichung geht, schlagen sie sich i n die Büsche. Da ist, zum Beispiel, Ivan Danilovic Scenin, der Sovchoz-Zimmermann. I n Parteiversammlungen t r i t t er kühn hervor, kritisiert, ruft auf. Wer i h n hört, denkt: Der Mann hat recht, seine Ratschläge sind gut. Aber warum t u t er sich bei der Arbeit nicht ebenso k ü h n hervor 1 9 1 ?" I n solchen Fällen klaffte der Widerspruch zwischen Worten und Leistung besonders empfindlich, weil die Beschuldigten eigentlich einen produktiven Beruf hatten und nicht dazu bestellt waren, Reden zu halten. Das taten sie i n ihrer Eigenschaft als Parteimitglieder, meist nicht ohne Eigennutz. Beim hauptamtlichen Parteifunktionär, beim politischen I n strukteur waren aber solche Reden ein Teil seiner Berufsarbeit. Und oft traf auf solche Reden zu: „Sie haben auf der Versammlung gesprochen, haben ein Protokoll verfaßt, und damit ist alles erledigt 1 9 2 ." Auch innerhalb der Parteiorganisation war es nicht selten, wie man i n der Provinz Belgorod feststellte, „daß jahraus, jahrein die Parteiorganisationen die gleichen Fragen erörterten, die gefaßten Entschlüsse oft nicht ausgeführt wurden und häufig allgemeinen Charakters waren" 1 9 3 . Überhaupt war es immer wieder ein Problem, der sog. Agitationsarbeit — i n der Regel eine Aufgabe der Parteikommunisten und Komsomolmitglieder — einen nicht nur formal-rituellen, sondern realen, der Bevölkerung einleuchtenden Sinn und Inhalt zu geben 194 . Nur wenn letzteres gelang, übte sie eine echte Wirkung aus und verlieh ihren Trägern Ansehen. Aber das war oft nicht der Fall. I n einem sonst als vorbildlich geschilderten Kolchoz erzählte ein Kolchoznik: „Da kam er [der Kolchoznik], es war wohl am 1. Mai, [ins KolchozKontor] und traf auf Semenenkov, den Sekretär der Parteiorganisation. Du, sagt er zu ihm, schmückst dauernd dein Kabinett und das Kolchoz-Kontor, hängst immerfort Plakätchen und Bildchen auf, wartest ständig — wie sagte er doch? — m i t deiner allerliebsten Agitation auf! Sitzest und hast deine Freude an ihr! D u solltest aber einmal i n einen Viehstall gehen und sehen, wie die Leute arbeiten! — Und die Schwester gab ihren Kommentar zu dieser Erzählung: Was er sagt, ist die reine Wahrheit. Wirklich, wie auf einer Tribüne steht der und liest Reden ab 1 9 5 ." 191

N. Surjadnov, i n : Sz 17. 3.1966, S. 3. E. Zazerskij, i n : Sz 21. 3.1967, S. 3. N. Vasil'ev, i n : Sz 27.1.1968, S. 3. 1Θ4 V g L Mel'nik, i n : Sz 30. 9.1966, S. 2; Kolchoz — skola, S. 274. 195 Vorob'ev: Selo, S. 26. 192 193

7. Ideologisch-politische Tätigkeit

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Oft reichte auch einfach der geistige Horizont sog. Agitatoren zu nichts anderem aus. Darüber sagte, i m Rückblick auf die jüngste Vergangenheit, i m Winter 1966/67 ein Kolchoz-Parteisekretär der Provinz Cerkassy: „ Z u m Agitationskollektiv rechnete man auch jene, deren allgemeines Bildungsniveau und politische Vorbereitung sich als niedriger erwiesen als die ihrer Zuhörer. Ein solcher Agitator las nur die Zeitung vor oder erzählte das Gelesene nach. Die Leute verloren das Interesse an den Gesprächen [mit Agitatoren], deren Wirksamkeit ließ nach 1 9 6 ." Nach Chruscevs Absetzung wurde ähnliches i n allgemeingültiger Form, für die Gegenwart wie die Vergangenheit, gesagt und dabei auf die besonderen Probleme verwiesen, die für die dörflichen Siedlungen außerhalb der Zentraldörfer bestanden: „Falsch handeln jene Leiter und Parteifunktionäre, die sich m i t großen Zahlen gehaltener Vorlesungen, durchgeführter Gespräche und Referate einlullen. Man muß sehen, was hinter diesen Zahlen steckt. Oft erfaßt die politische Agitation nur den Teil der Kolchozniki und Sovchoz-Arbeiter, die i n den Zentraldörfern wohnen, und gelangt nicht bis zu jenen, die i n den abgelegenen Viehabteilungen und Brigaden arbeiten 1 9 7 ." I n einer sowjetischen Untersuchung über die Freizeitgestaltung der Kolchozniki wurde i m Blick auf das Jahre 1964 festgestellt: „ [ . . . ] unter den ländlichen Werktätigen hat immerhin das Interesse an Versammlungen, Sitzungen, Konferenzen, Gemeindeversammlungen und anderen Massenveranstaltungen nachgelassen [...], deren schablonenhafte Durchführung und die langen Reden immer ein und derselben Person über längst bekannte Wahrheiten ohne kritische Analyse der wirklichen Sachlage wecken nicht die Aufmerksamkeit des ländlichen Werktätigen, lassen ihn uninteressiert 1 9 8 ." Das stimmt m i t dem Eindruck überein, den ein Amerikaner aus eigenem Miterleben i m Sovchoz „ K u b a n " von einem sog. Produktionsseminar und von einer Protestversammlung gegen den bekannten U-2Flug vom A p r i l 1960 gewann: „Das Produktionsseminar lief nach dem Schema ab, das jeder kennt, der jemals eine Anzahl Seiten i n der Zeitschrift ,Partijnaja zizn' 1 [Parteileben] gelesen hat. Nachdem der Parteisekretär die Sitzung eröffnet hatte, verlas ein Abteilungsleiter, der bemüht war, Wissenschaft und Leben eng zu verbinden', ein langes Referat über die neue196 197 198

V. Storoèuk, i n : Sz 11.1.1967, S. 3. Leitartikel, i n : Sz 20. 4.1966, S. 1. Bajkova/Duëal/Zemcov, S. 260/61.

9 Wädekin

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sten Verfahren beim Zuckerrübenanbau. Während des ganzen Referats las der Gewerkschaftsvorsitzende alte Nummern von ,Ogonëk', dem sowjetischen Gegenstück zur Zeitschrift ,Life'. Nach einer kurzen Diskussion berichtete dann der Parteisekretär, daß er gerade von der Ständigen Landwirtschaftsausstellung i n Moskau zurückgekehrt sei, wo i h m eine Darstellung der Erfolge der Provinz Rjazan bei der Steigerung der Milchproduktion i n die Augen gefallen sei. Besonders eindrucksvoll, sagte er, waren die Leistungen einer zweiundsiebzig jährigen Frau, die eine neue und wirksamere Methode zur Erhöhung der Milcherträge gefunden hatte. Sollte man es m i t dieser Methode i m ,Kuban' 4 nicht auch versuchen? Niemand hielt es der Mühe wert zu antworten. Der Direktor spielte während des größten Teils dieser Rede müßig mit einem Bleistift, während der Gewerkschaftsfunktionär weiter sein ,Ogonëk' las. Tatsächlich kam erst Leben i n die Versammlung, als Maksimov [der Direktor des Sovchoz] die Rednertribüne betrat und seinen Untergebenen scharf vorwarf, daß sie unfähig seien, ,alle diese Reden über Wissenschaft' i n die Praxis umzusetzen. Es gab Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen über Unfähigkeit und Unwissenheit, welche die versammelten leitenden Mitarbeiter gegeneinander erhoben. I n dieser Hinsicht erreichte das Produktionsseminar einen seiner Zwecke, indem es Informationen über Engpässe i m Betrieb zutage brachte. Aber über die zweiundsiebzig jährige Melkerin aus Rjazan wurde kein Wort mehr verloren. Bei der Protestversammlung gegen den U-2-Flug, die i m Klubhaus vor einer überwiegend weiblichen Zuhörerschaft abgehalten wurde, demonstrierte der Parteisekretär seine Rolle als Agitator. Er eröffnete die Versammlung m i t einer papierenen Rede, die wie ein Kondensat aus der ,Pravda'-Ausgabe des Vortages klang. Dann teilte er mit, daß drei Redner um das Wort gebeten hatten, u m zu den Sovchoz-Arbeitern zu sprechen. Der erste war der Sekretär des Komsomol, dessen A n sprache auch nicht mehr Feuer hatte als die des Parteisekretärs. Aber die letzten beiden — der Sohn eines i m Kriege Gefallenen und eine Kriegswitwe — appellierten an die Emotionen der Anwesenden mit Fragen wie: Wie viele von uns sind ohne Männer? Wie viele Kinder ohne Väter? Wie viele unserer Lieben liegen begraben zwischen unseren grünen Feldern und Berlin? Und i n wenigen Sekunden war die Versammlung aus einem rituellen Protest gegen die amerikanische Politik zu einem echten Ausbruch kriegsfeindlicher Gefühle geworden. [ . . . ] Doch ich verließ die Versammlung m i t dem Eindruck, daß ihr Zorn nicht so sehr gegen Francis Powers gerichtet war als vielmehr gegen alle jene unpersönlichen Gewalten, von denen ihnen eine Wiederholung ihrer Kriegsleiden zu drohen schien 199 ." 199

Ballard:

Sovkhoz, S. 75/76.

7. Ideologisch-politische Tätigkeit

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Die Propaganda und Agitation w i r k t e n auf die Menschen, wenn deren echte Interessen angesprochen wurden, sie blieben farblos und fanden nur ein formales Echo, wenn sie sich auf die Dogmen der Partei oder die sattsam bekannte Aufzählung von Erfolgen und Produktionszielen usw. beschränkten. Das galt auch für die Versammlungen „ i n vielen Parteiorganisationen", wo Vorsitz, Rednerliste, Dikussionsbeiträge i m voraus festgelegt wurden und entsprechend „das Interesse an solchen Versammlungen gering" w a r 2 0 0 . Diese Erscheinungen sind nicht allein m i t geistiger Stumpfheit der Parteifunktionäre und -mitglieder zu erklären. I m festen Reglement von Sitzungen und Versammlungen, i n langen, bereits vorliegende Leitartikel kopierenden, möglichst viele Zitate und Bezugnahmen auf Partei- und Regierungserlasse verwendenden Reden lag auch ein Element der A b sicherung gegen persönliche Fehler, gegen Folgen unerwünschter Eigeninitiative und gegen eventuelle K r i t i k i m Falle später wechselnder Richtlinien. Nicht nur unter sowjetischen Bedingungen sind solche Erscheinungen das Produkt autokratischer oder autoritärer Verhältnisse, aber auch i n der Sowjetunion ist man sich ihrer durchaus bewußt; man spricht es nur selten aus 2 0 1 . Ob eigene Überzeugung und Wissen hinter den Worten eines Vertreters der Partei steckten, oder ob er sich nur eines Auftrages entledigte — „Uns, die Sekretäre, hat man i m Bezirkskomitee so instruiert, und ich gebe euch das w i e d e r " 2 0 2 — merkten die Angesprochenen sofort und reagierten demgemäß m i t Interesse oder Gleichgültigkeit. Die Menschen selber, auf die die Partei sich stützte, schieden sich an diesen Kriterien, so wie i n der obigen Schilderung der Parteisekretär und der Direktor des Sovchoz „Kuban 7 ". Entsprechend vermieden die wirklich produktiv tätigen Parteikommunisten nach Möglichkeit die Übernahme von Aufgaben der formalen Propaganda. Ein amerikanischer Besucher begleitete i n einem Kolchoz der Provinz Moskau den Parteisekretär auf einer von dessen Rundfahrten durch den Betrieb und berichtete darüber: „Eine der Hauptaufgaben des Sekretärs an diesem Morgen bestand darin, ein Parteimitglied zu finden, das die Agitations- und Propaganda-Kampagne für die bevorstehenden Wahlen zum Provinz-Sowjet führen würde. Er suchte jemand, der eine gewisse Autorität genoß, aber alle, die i n Frage kamen, lehnten die Aufgabe m i t der Begründung ab, daß ihre Tätigkeit i n der Produktion ihnen dafür keine Zeit lasse [...] Der Direktor der Schule schien einer der Hauptratgeber des Sekretärs i n solchen Angelegenheiten zu sein. Der Direktor selbst hatte 200

Vgl. „Nezaplanirovannye" oratory, i n : P a r t i j n a j a zizn', 13/1966, S. 42 f. Einer der wenigen Fälle sind die Feststellungen von Zametin, i n : Izvestija, Nr. 95/1964 (hier angeführt nach Hastrich, S. 166 f.). 202 I . Mosnin, i n : Sz 17. 3.1967, S. 3. 201



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die Ehre m i t der üblichen Begründung abgelehnt, aber er schlug einen pensionierten Kolchoznik vor, den verschiedene andere auch schon erwähnt hatten. Damit war das Problem gelöst. Der Anwärter selbst war nicht gefragt worden, aber der Sekretär war sicher, daß er annehmen würde. Er hatte ihnen schon früher i n schwierigen Situationen solcher A r t immer geholfen 2 0 3 ." Vermutlich handelte es sich dabei u m einen der von Abramov apostrophierten „Ratgeber, Sonderberater" (s. oben, S. 103). Generell gilt für solche Aufgaben, daß sie nicht ständig m i t der gleichen Intensität wahrgenommen werden, aber bei bestimmten Anlässen stark i n den Vordergrund treten: „Die Arbeit von Lektoren, Agitatoren, Propagandisten erreicht besonders große Ausmaße zur Zeit der Wahlkampagnen und anderer wichtiger politischer Ereignisse i m Lande 2 0 4 ." 8. Allmächtig, aber nidit allgegenwärtig Die Machtstellung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und ihrer Mitglieder w i r d durch die Tatsache verstärkt, daß sie und die von ihr gelenkten Körperschaften das Organisationsmonopol besitzen. „Außer der Kommunistischen Partei gibt es bei uns keine andere politische Organisation und kann es keine geben", und zwar für alle Klassen, sozialen Gruppen und Nationalitäten 2 0 5 . „Die Partei kümmert sich darum, daß auch die kleinen und kleinsten Rinnsale der tagtäglichen Angelegenheiten harmonisch i n einen einheitlichen, mächtigen Strom zusammenfließen 200." Dieses Monopol besteht nicht nur nach ungeschriebenen Regeln des sowjetischen Lebens, sondern ist auch i m Buchstaben der Verfassung verankert. I n dieser ist zwar „den Bürgern der UdSSR das Recht gewährleistet, sich i n gesellschaftlichen Organisationen zu vereinigen", jedoch nur unter der Voraussetzung, daß dies „ i n Übereinstimmung m i t den Interessen der Werktätigen" geschieht 207 . Die Partei aber bezeichnet sich als „das Hirn, die Ehre und das Gewissen unserer Epoche, des Sowjetvolkes", als die „führende und lenkende K r a f t der Sowjetgesellschaft", sie „weist dem Volk die wissenschaftlich fundierten Wege des Fortschritts" 2 0 8 . Nach solcher Definition muß, was den Interessen der Partei 203

Miller, S. 39/40. BajkovafDuöal/Zemcov, S. 260. L. I . Breènev, Rede v o m 3.11.1967, i n : Sz 4.11.1967, S. 6. 206 Ebenda. 207 Verfassung der UdSSR, A r t . 126, zit. nach Maurach, S. 366 ff.; s. auch ebenda die näheren Erläuterungen zu diesem einschränkenden Charakter des Vereinsrechts. 208 Programm der K P d S U von 1961, i n : X X I I s"ezd, I I I , S. 330 (dt. Meissner: Das Parteiprogramm, S. 240). 204

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8. Allmächtiger,-aber nicht allgegenwärtig

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zuwiderläuft, auch gegen die „Interessen der Werktätigen" gehen. Es darf i n der Sowjetunion nur organisatorische Zusammenschlüsse geben, „die von den Parteistellen inspiriert sind und i m Rahmen der ihnen von der Partei gezogenen Schranken tätig werden" 2 0 9 . I n der Praxis des sowjetischen Landlebens bedeutet das, daß innerhalb eines Kolchoz nicht nur jede feste Organisation außer den offiziell zugelassenen verboten ist, sondern auch daß jemand, der etwa vor einer Kolchoz-Mitgliederversammlung gegen eine bevorstehende Entscheidung oder einen Vorschlag der Kolchozleitung opponieren und dazu Gesinnungsgenossen gewinnen w i l l , dies nur i m Rahmen der zugelassenen Organisationen t u n kann. Andernfalls betreibt er unerlaubte „Organisierung" der öffentlichen Meinung. Wie weit solche Auslegung gehen kann, zeigt ein Fall, wo eine Beschwerde von Dorfbewohnern gegen eine Behörde m i t 203 Unterschriften versehen war und allein schon deshalb von einem Funktionär als „organisiert" und daher unzulässig betrachtet wurde 2 1 0 . Solange also ein Betriebsleiter und sein Stab sich m i t der Parteiorganisation des Betriebs einig sind — und weitgehend sind sie ja schon personell identisch (s. oben) —, ist wirksame Opposition gegen sie fast unmöglich. Das gilt zumindest so lange, wie sie sich nicht das Wohlwollen oder die Duldung höherer Partei- und Regierungsstellen verscherzen (vgl. unten, S. 180 ff.). Die privilegierte Stellung der Parteimitglieder war infolgedessen auf dieses Monopol der öffentlichen Meinungsbildung ebensosehr gegründet wie auf ihre soziale und wirtschaftliche Position. Beides bedingte sich gegenseitig. Das galt überall i n der Sowjetgesellschaft, w i r k t e sich aber auf dem Lande stärker aus, wo die Partei schwach vertreten war und darauf Wert legen mußte, trotz geringerer Mitgliederzahl ihren Einfluß zu wahren. Daher dürfte hier stärker als i n den Städten noch jene K l u f t zwischen Parteikommunisten und übriger Bevölkerung zu spüren gewesen sein, die für die Stalin-Zeit charakteristisch war und alle anderen sozialen Differenzierungen überlagert hatte 2 1 1 . Auch die Unterschiede zwischen Intelligenzschicht und Kolchozbevölkerung (s. Kap. IV) deckten sich hier infolge der oben aufgezeigten Zahlenverhältnisse zu einem besonders großen Teil m i t dem Unterschied von Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zur Partei. Die innenpolitische Entwicklung, das Nachlassen des Terrors und die relative Versachlichung der Parteipolitik unter Chrusòev mögen die K l u f t verringert haben. A u f eine solche Verringerung h i n mußte vor allem auch die Tatsache wirken, daß Staat und Partei der Sowjetunion 200 210 211

Maurach, a.a.O. TroepoVskij: Ο rekach, S. 194. s. hierzu Inkeles/Bauer, S. 300, 308, 310,312, 326.

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I I I . Die Träger der Parteiherrschaft auf dem Lande

eine immer größere Zahl von Fachkräften, und zwar nicht nur rein technischen, benötigten, daß die Partei, wollte sie i n diesen wachsenden Fachund Führungsgruppen nicht eine hoffnungslose Minderheit politischer Funktionäre bilden, ihren Mitgliederbestand rasch vergrößern mußte. Doch damit war die Gefahr noch nicht beseitigt, die Fainsod m i t den Worten umriß: „Bei der Konsolidierung ihrer Position als regierende Elite ist die Partei genötigt, sich die aufsteigende Schicht i n der Sowjetgesellschaft einzugliedern — die Ingenieure und Techniker, die Fabrikdirektoren, die Bürokraten und anderen Repräsentanten der neuen technischen, administrativen und kulturellen Intelligenzia. I n dem Maße, wie die Partei ihre Macht auf die Unterstützung allein durch diese Gruppen basiert, läuft sie die Gefahr, sich zunehmend von der Masse der Arbeiter und Bauern zu isolieren, die außerhalb ihrer Reihen bleibt 2 1 2 ." Fainsod hat sicher recht m i t der Annahme, daß die Parteiführung sich dieser Gefahr bewußt war und vor allem deshalb mehr neue Mitglieder aus den Reihen der Arbeiter und Kolchozniki zu rekrutieren suchte 213 . Aber obwohl die Zahl der Parteikommunisten i n dem Jahrzehnt von Ende 1955 bis Frühjahr 1966 u m 5,3 Millionen ( = + 7 4 % ) gewachsen ist 2 1 4 , bildeten die Angestellten gleichbleibend nahezu die Hälfte davon, wahrscheinlich faktisch noch mehr, da man den Anteil der Arbeiter und Kolchozniki als so groß wie nur möglich erscheinen lassen w i l l und die betreffenden Zahlen entsprechend frisiert sein dürften 2 1 5 . Unter diesen Umständen waren einerseits die Parteikommunisten zwar nicht mehr so stark wie früher eine isolierte Minderheit, andererseits aber unterschieden sie sich i n ihrer Masse der sozialen und politischen Stellung nach doch noch sehr erheblich von anderen Teilen der Bevölkerung. Das galt vor allem für das Land und den agrarischen Wirtschaftsbereich. Denn obwohl i n der Landwirtschaft immer noch rund ein D r i t t e l aller Beschäftigten tätig war, hatte die Partei hier nur etwas mehr als ein Sechstel ihrer Mitglieder (s. oben). Diesen quantitativen Nachteil suchte die Partei unter anderem qualitativ, durch politische Bildungsarbeit, a b zugleichen. Dabei wurden i n wachsendem Maße auch jene Teile der ländlichen Intelligenzia herangezogen, die nicht der Partei angehörten. M i t ihrer Hilfe wurden i m Lehrjahr 1958/59 auf dem Lande 2,2 M i l l . Nicht-Parteimitglieder geschult, 1962/63 bereits 15 M i l l . 2 1 6 . Vermutlich stellten solche Kurse auch ein M i t t e l zur Werbung und Prüfung von Personen dar, die i n die Partei eintreten sollten. 212

Fainsod, S. 282. Ebenda, S. 275—277, 282. Z a h l zum 1.1.1956; 7 173 521, s. KPSS 1956—61, S. 44; zur Zeit des X X I I I . Parteitags (März 1966): 12 471 079, s. X X I I I s"ezd, I, S. 280 (Referat Kapitanovs). 215 Meissner: Die soziale Struktur, S. 601 f. 216 Sucharev, S. 94. 213

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8. Allmächtiger, aber nicht allgegenwärtig

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Aber auch noch zu Beginn der 1960er Jahre galt, daß die Parteikommunisten auf dem Lande eine Minderheit von rund 3 °/o der Bevölkerung darstellten. Diese Minderheit bestand überwiegend aus Fach- und Führungskräften; von der einfachen Agrarbevölkerung gehörte nur etwa jeder hundertste Erwachsene der Partei an. Solche Zahlenverhältnisse begünstigten auf dem Lande — i m Unterschied zu den Städten — eine Konservierung des alten Verhältnisses der Partei zur Masse der Bevölkerung, ließen weiterhin eine fühlbare K l u f t bestehen. Darum galt auf dem Lande auch noch unter Chrusöev, trotz einer gewissen Verbreiterung der Basis i m Vergleich zur Stalin-Zeit: Die Kommunistische Partei ist überwiegend eine Organisation des sozial und wirtschaftlich privilegierten und politisch maßgebenden Bevölkerungsteils; auf den unteren Stufen der Sozialpyramide ist sie kaum vertreten. Etwas überspitzt kann man formulieren: A u f dem Lande war und ist die KPdSU allmächtig, aber nicht allgegenwärtig.

I V . Die dörfliche Intelligenzia Über die sowjetische Intelligenz-Schicht — hier i n Anlehnung an den russischen Sprachgebrauch „Intelligenzia" genannt 1 — gibt es eine ausgedehnte Literatur i n Ost und West, aber über die Intelligenzia i n sowjetischen Dörfern oder überhaupt auf dem Lande hat es bis i n die jüngste Zeit sehr wenig sowjetische und keine westlichen Publikationen gegeben 2 . Außer dem 1963 erschienenen kleinen Buch von Α. I. Sucharev, „Die ländliche Intelligenzia und ihre Rolle i m Aufbau des Kommunismus" (s. Bibliographie), ist dem Verfasser keine ernstzunehmende Spezialuntersuchung aus der Regierungszeit Chruscevs bekannt. Veröffentlichungen, die dieses Thema streiften, behandelten es, wie Mamaeva ausführt, entweder unter dem Gesichtspunkt der „Entwicklung der Prinzipien der sowjetischen Demokratie" oder i m Zusammenhang organisatorischer Fragen der Produktion und der Heranbildung technischer Fachkräfte, jedoch kaum i m Blick auf die „Sozial- und Klassen Veränderungen i n der sowjetischen Gesellschaft" 3 . Aber einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der Gegenwart und der Vorkriegszeit besteht i n sowjetischen Dörfern gerade darin, daß sie damals von einer „einheitlichen, kaum des Lesens und Schreibens kundigen Masse" bewohnt waren und es jetzt eine „Zwischenschicht gebildeter Menschen" gibt 4 . Das Wiederaufleben der Soziologie i n der Sowjetunion hat einen Wandel i n der Betrachtung dieses Phänomens herbeigeführt, aber bis zu entsprechenden größeren Publikationen scheint es doch einige Zeit zu dauern. Die erste Soziologenkonferenz auf Unionsebene, die i m Januar 1965 i n Minsk stattfand, hat erkennen lassen, daß i n der Frage der sowje1 Z u r Entstehung dieses Wortes w i e auch des russischen Wortes „intelligent" (etwa: Intelligenzler) s. die Schlußnotiz bei Martin Malia i n dem von R. Pipes herausgegebenen Band (s. folgende Fußnote). 2 So auch festgestellt von Mamaeva, S. 4. — Das v i e l erörterte Problem der russischen „Intelligenzia" einst u n d heute k a n n hier nicht i m ganzen behandelt werden. Es sei verwiesen auf den Sammelband Richard Pipes, Hrsg.: Die russische Intelligentsia (The Russian Intelligentsia, New Y o r k 1961, ursprünglich erschienen i m Sommer 1960 als Bd. 89, Nr. 3, der Proceedings of The American Academy of A r t s and Sciences bzw. Daedalus, Journal of the A m e r i can Academy of A r t s and Sciences), dt. Stuttgart 1962 (darin u. a., S. 83—101, Leopold Labedz: Die S t r u k t u r der sowjetischen Intelligentsia), s. auch Werner Markert: Z u r geschichtlichen Bedeutung der russischen „Intelligenzia", i n : Rußland-Studien, Gedenkschrift f ü r Otto Hoetzsch, Stuttgart 1957, S. 56—62; Mehnert: Der Sowjetmensch, 5. Aufl., insb. S. 145—172,193—222. 8 Mamaeva, S. 15. 4 Arutjunjan: Opyt, S. 61.

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tischen Intelligenzia grundsätzliche ideologische Schwierigkeiten bestehen, die umfassenden Untersuchungen nicht förderlich sein können 5 . Es geht vor allem darum, daß nach dem i m wesentlichen weiterhin gültigen Schema die „Intelligenzia" nur eine „besondere Zwischenschicht" darstellen darf, deren Heraussonderung nicht aus Eigentums- und Einkommensunterschieden resultiert, sondern aus spezifischen Funktionen i n Produktion und Arbeitsteilung®. Dabei w i r d eine klare Aussage darüber vermieden, ob sie zwischen, über oder unter den beiden „Klassen" der Arbeiter und Bauern zu sehen ist, aber ohne daß eine „sozial freischwebende Intelligenz" (Alfred Weber) gemeint ist. Diese unbefriedigende dogmatische Festlegung wurde auf der Soziologenkonferenz ausgiebig erörtert, man unternahm Versuche, zu brauchbareren Definitionen zu gelangen, konnte aber weder das alte Schema offen beiseite schieben, noch sich darüber einigen, wie es zu ergänzen oder abzuwandeln sei 7 . Auch i n der sowjetischen Literatur w i r d gelegentlich die Auffassung vertreten, daß es eine „Ausbeutung der Menschen körperlicher Arbeit von Seiten der Vertreter geistiger Arbeit" gebe 8 . Den realen Verhältnissen kam i n seinem Minsker Referat M. N. Rutkeviö recht nahe, als er sagte: „Ein gewisser Unterschied zwischen Arbeiterklasse und Intelligenzia w i r d vor allem durch ihre verschiedenartige Rolle i m Produktionsprozeß bestimmt. Indessen gehört auch hier ein besonderer Platz i m Sozialismus nicht der ganzen Intelligenzia, sondern den Personen, die i m Namen der Gesellschaft, i n ihrem Auftrag und unter ihrer Kontrolle organisatorische Funktionen i n der Produktion und i n allen anderen Sphären des gesellschaftlichen Lebens ausüben 9 ." Das gleiche läßt sich auch über das Verhältnis von Kolchozniki und Intelligenzia feststellen. RutkeviS selbst hat allerdings i n einem späteren Aufsatz einschränkend gesagt: „Doch kann man unter unseren Verhältnissen nicht alle organisatorischen Funktionen der Kompetenz der Intelligenzia und alle ausführenden den Arbeitern und Bauern zuweisen, d. h. die Intelligenzia nicht als Schicht der Organisatoren der Produktion und des ganzen gesellschaftlichen Lebens her aussondern 10 ." δ

s. den Konferenzbericht Kravöenko/Faddeev. Ekonomiöeskie zakonomernosti, S. 323; Problemy izmenenija, S. 139, 143; A. P. Kirsanov : Ο sostave sovetskoj proizvodstvennoj intelligencii, i n : Processy, S. 71, 74; s. auch Meissner: Sozialer Strukturwandel, S. 92 ff. 7 Ausführlicher dazu Wädekin: Sozialstruktur, passim. 8 Ekonomiöeskie zakonomernosti, S. 323; s. auch M. N. Rutkevië: Ο k r i t e r i jach social'nych razlifcij i ich primenenii k intelligencii, i n : Processy, S. 89. 9 Wiedergegeben bei Kravöenko/Faddeev, S. 146. 10 Rutkevià: Ο ponjatii, S. 25. 6

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Da Rutkevic zugleich den Intelligenzia-Begriff enger als sonst i n der Sowjetunion üblich faßte (s. unten), war das berechtigt, ließ aber offen, ob denn die übrigen „Organisatoren" wirklich als Arbeiter und Bauern zu bezeichnen sind. Hinter den recht scholastisch anmutenden Auseinandersetzungen stand das sicher manchem sowjetischen Soziologen bewußte Dilemma, daß man mit einer klaren, empirisch und theoretisch fundierten Aussage über den Platz der Intelligenzia i n Sowjetgesellschaft und -staat auch Aussagen über die Führungs- und Herrschaftsverhältnisse machen müßte, die das Selbstverständnis der Partei sprengen 11 . Es wäre zwar auch dann durchaus möglich, die Kennzeichnung der Kolchoz-Intelligenzia als „herrschende Elite" der Kolchozdörfer — wie „bourgeoise Soziologen sie verleumderisch darstellen" 1 2 — zurückzuweisen, aber dazu müßte man entweder den Begriff der Intelligenzia sehr viel enger als bisher abgrenzen, oder man müßte nur den Teil der Intelligenzia als „führend" bezeichnen, der zur Partei oder Betriebsführung gehört. Auffallend ist Ju. E. Volkovs Bemühen u m den Nachweis, daß es sich beim Verwaltungs- und Leitungspersonal zwar um eine besondere Gruppe der Intelligenzia, nicht jedoch um „irgendeine besondere Klasse" handle 13 . Das soll keinesfalls heißen, daß i n der Sowjetunion Intelligenzia und organisatorische Führungskräfte oder gar Machtelite identisch seien 14 , aber nach den üblichen sowjetischen Definitionen des Begriffs „Intelligenzia" gibt es kaum einen Angehörigen der Führungsschicht oder Machtelite, der nicht auch der Intelligenzia zuzurechnen wäre — was natürlich i n der Umkehrung nicht gilt. Da es i n der Sowjetunion überwiegend die Kinder von „Spezialisten" und zu einem erheblichen Teil aus „gut gestellten [obespecennye] Familien", und zwar überwiegend aus städtischem Milieu, sind, die Zugang zum Vollstudium finden 15, und da fast alle „Spezialisten" das für ihre Kinder anstreben 16 , w i r d m i t dem allmählichen Absterben der älteren Generation unter den Personen mit Hochschulbildung der A n t e i l jener wachsen, die schon mindestens i n der zweiten Generation zu diesem Bevölkerungsteil gehören. Die Intelligenzia als spezifische soziale Gruppe dürfte sich dadurch deutlicher vom Rest der Bevölkerung abheben, aber wegen ihrer wachsenden Zahl sich nicht stärker m i t der Machtelite decken. I n der Agrarbevölkerung kommt zu dieser allgemeinen Sachlage etwas Spezifisches hinzu: Die Intelligenzia ist hier prozentual viel schwächer 11

Vgl. Wädekin, a.a.O., S. 27. Kolchoz — s k o l a , S . 98. 13 I n : Problemy izmenenija, S. 234—236. 14 Z u dieser Frage s. Meissner: Sozialer Strukturwandel, S. 92 ff. u n d 112 ff. 15 Rutkeviö: Social'nye, S. 17 f., 21; s. auch die Zahlen bei L. I . Sennikova: Vecernee i zaoCnoe obucenie ν vyssej skole kak faktor izmenenija social'nogo polozenija, i n : Processy, S. 135. 18 Ja. M. Tkaö: Roditeli ο sud'bach svoich detej, i n : Processy, S. 150. 12

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vertreten als i n den Städten, und i n diesem engeren Kreis gehört ein relativ größerer Teil von ihr zwar nicht zur örtlichen Machtelite, aber zu dem Personenkreis, den man seiner materiellen Lage nach allgemein als Oberschicht bezeichnen kann. Daraus ergibt sich die eminente Bedeutung der Intelligenzia in den sowjetischen Dörfern. Diese soziale Gruppe — Schicht kann man sie eigentlich nicht nennen (s. unten) — ist numerisch relativ klein, doch werden manchmal große Zahlen für sie angegeben. So wurde bei der Volkszählung von 1959 der Begriff des „Angestellten" so gefaßt, daß er bestimmt war durch Berufstätigkeiten, „die Aufwand überwiegend geistiger Arbeit erfordern" 1 7 , obwohl es auch nach Auffassung mancher sowjetischer Wissenschaftler an einer hinreichend genauen Definition des Begriffs „geistige Arbeit" fehlt 1 8 . Solche Tätigkeit wiederum wurde oft als Kennzeichen der I n telligenzia betrachtet, und daraus ergab sich die von den Sowjets auch schon vorher gern wahrgenommene 19 Möglichkeit, alle Angestellten zur „Intelligenzia" zu rechnen und diese als ungewöhnlich zahlenstark erscheinen zu lassen, auch auf dem Lande 2 0 . Damit umfaßte nämlich die ländliche Intelligenzschicht 6 111145 Personen „überwiegend geistiger A r b e i t " 2 1 , darunter 5 302 285 Angestellte 2 2 und einen verbleibenden, überraschend großen Rest von 808 860 Personen, „hauptsächlich die Zahl der Kolchoz-Intelligenzia, d. h. der i n geistiger Arbeit Tätigen, die Kolchozmitglieder sind und deshalb nicht i n die Kategorie der Angestellten eingehen" 23 , denn die geringe Restzahl nicht i n einem Angestelltenverhältnis stehender Berufsschriftsteller, Komponisten u. ä. 24 war auf dem Lande so gut wie nicht-existent. Einschließlich abhängige Familienangehörige und sonstige Zugehörige ergab sich dann eine ländliche Angestelltenbevölkerung — und zugleich Intelligenzia — von 11 425 473 Personen 25 , unter Hinzurechnung der „Kolchoz-Intelligenzia" rund 13 260 000, also fast ein Achtel der Landbevölkerung. Man konnte auch ein rapides Wachstum dieser „ländlichen Intelligenzia" auf 8,5 M i l l . Berufstätige i m Jahr 1965 konstatieren 26 , also einschließlich abhängige Zugehörige auf 18—19 Mill. Menschen, bereits über ein Sechstel der Landbevölkerung. 17

Itogi, S. 11 (Erläuterungen). So etwa V. I . Zuev i m Konferenzbericht Kravcenko/Faddeev, S. 152. S. A. Kugel' y i n : Klassy, S. 171; s. auch die K r i t i k von Κ . P. Buslov an dieser E i n teilung, i n : Problemy izmenenija, S. 138. 19 Vgl. die K r i t i k daran bei Mehnert: Sowjetmensch, 5. Aufl., S. 48. 20 So z.B. unlängst wieder A. Amvrosov, i n : Izvestija, 11.8.1967, S. 3. — Allgemein über Angestelltenschaft u n d Intelligenzia i n der UdSSR Ahlberg: Entwicklungsprobleme, S. 100—110, der aber (S. 101) die nicht angestellten Teile der Intelligenzia zu sehr als quantité négligeable behandelt. 21 Itogi, Tab. 41a. 22 Itogi, Tab. 33. 23 Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 172; hier i r r t Meissner: Machtelite, S. 746, der annimmt, es handle sich bei diesem Rest hauptsächlich u m Arbeiter. 24 Vgl. Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 168, Fußnote 9. 25 Itogi, Tab. 27. 26 A. Amvrosov, a.a.O. 18

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Die Fragwürdigkeit solcher Definition w i r d schon an folgenden Zahlen der gleichen Volkszählung evident: Von den auf dem Lande „überwiegend geistig" Beschäftigten hatten nur 44,9 °/o eine Hochschule besucht (einschließlich derer, die zu keinem Studienabschluß gelangt waren) oder besaßen eine mittlere Fachschulbildung (von meist sieben allgemeinen Schuljahren und drei bis vier Fachschuljahren 27 ), und 40,8 °/o hatten nur sieben bis zehn Klassen der allgemeinen Schule absolviert 28 , der Rest von 14,3 % besaß sogar weniger als eine siebenjährige Schulbildung. A u f einen so weit gefaßten Personenkreis ließ sich nicht i m Ernst anwenden, was Breznev auf dem X V . Komsomol-Kongreß sagte: „Die ländlichen Intelligenzler — das sind nicht einfach Lehrer, Agronomen, Ökonomen, Ingenieure. Sie bestimmen i n vielem auch das Niveau des geistigen Lebens i m Dorf i m ganzen 29 ." Die seriöseren unter den sowjetischen Autoren distanzieren sich von dem propagandistisch weit gefaßten Intelligenzia-Begriff. L. E. Manevic 3 0 engt den Personenkreis auf diejenigen ein, „die dem Charakter ihrer beruflichen Tätigkeit nach zur sozialen Schicht der Intelligenzia gerechnet werden können", von denen wiederum die m i t Hochschul- und mittlerer Fachschulbildung einen Teil darstellen. Rutkevic stellt fest, daß „Angestellter" und „Intelligenzler" (russ.: intelligent) nicht identisch seien, zwar jeder „Intelligent" zu den Angestellten gehöre (was nicht ganz richtig ist, s. oben Kolchoz-Intelligenzia und freie Künstler), aber nicht jeder Angestellte ein „Intelligent" sei 31 . Er sieht einerseits die Schwierigkeit genauer Abgrenzung physischer und geistiger A r b e i t 3 2 und w i l l andererseits zur Intelligenzia i m engeren Wortsinn nur jene „Spezialisten" rechnen, die eine Arbeit leisten, zu der Hochschul- oder mittlere Fachschulbildung Voraussetzung ist 3 3 . Er ist sich darüber hinaus bewußt, daß seine Definition der „sozialen Zwischenschicht" der Intelligenzia zwar enger ist als die i n der Sowjetunion gewöhnlich angewandte, daß es aber i n der einschlägigen marxistischen Literatur auch andere, weit engere Definitionen gibt, z. B. bei polnischen und jugoslowischen K o l -

27 Vgl. Oskar Auweiler: Ausbildung u n d Produktion, i n : Osteuropa-Handbuch, S. 92. 28 Itogi, Tab. 50. 29 Rede v o m 17. 5.1966, i n : Sz 18. 5.1966, S. 2. 80 I n : EkonomiCeskie zakonomernosti, S. 313. 81 M . N. Rutkevië : Intelligence a k a k social'naja gruppa socialistifceskogo obSCestva i ee sblizenie s raboöim klassom, i n : Izmenenie, Sverdlovsk 1965, S. 9; eine etwas weitere Begriffsfassung z. B. bei V. S. Semenov: Ob izmenenii intelligencii i sluzaâcich ν processe razvernutogo stroitel'stva kommunizma, i n : Sociology a, I , S. 418 f. 82 Rutkevië, a.a.O., S. 8. 33 Ebenda, S. 7, sowie M. Ν. Rutkevië: Izmenenie social'noj s t r u k t u r y Sovetskogo obsöestva i intelligence a, i n : Sociologija, I , S. 394; ders.: Ο ponjatii, S. 22; ebenso die Abgrenzung schon bei Zajonëkovskaja/Perevedencev, S. 78.

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legen 34 . Κ . P. Buslov bezeichnet als „Hauptkern" (osnovnoj kostjak) der Intelligenzia „Gelehrte, Schriftsteller, Künstler sowie auch Lehrer, Ärzte, Juristen, Werktätige des Staats-, Partei- und Ideologie-Apparats" 35 . Nach Rutkeviös Abgrenzung würde sich die ländliche Intelligenzia auf Grund der oben angeführten Prozentsätze des Bildungsniveaus für 1959 bereits auf rund 3 M i l l , reduzieren, einschließlich Zugehörige auf rund 6,5 M i l l . Aber das umfaßt auch die nicht-agrarischen ländlichen Siedlungen, i n denen der A n t e i l der Intelligenzschicht städtischen Verhältnissen nähersteht, d. h. höher ist als i n rein agrarischen 36 . Auf die Lettische Unionsrepublik beziehen sich die Worte: „ I n den Dörfern ist i n allen Berufsgruppen der Intelligenzia der Prozentsatz von Spezialisten m i t Hochschulbildung gering 3 7 ." Für einen Kolchoz und einen Sovchoz der Provinz Sverdlovsk hat Kirsanov auf Grund von Befragungen festgestellt, daß dort das durchschnittliche Bildungsniveau bei den Angestellten und Spezialisten bedeutend niedriger war als bei denen i n einer städtischen Siedlung der gleichen Provinz und i n einem Stadtteil der Großstadt Sverdlovsk. Von den befragten Angestellten (außer Spezialisten) i m Kolchoz hatten 60,5 % weniger als sieben Schulklassen absolviert, i m Sovchoz 49,7 °/o; kein Angestellter i m Kolchoz hatte eine Hochschul- oder mittlere Fachschulbildung bzw. i m Sovchoz 1,4 °/o eine mittlere Fachschulbildung 38 . Selbst von den sog. Spezialisten hatten 15,7 °/o (im Kolchoz) bzw. 1,2 °/o (im Sovchoz) weniger als sieben Schulklassen, 29,0 °/o bzw. 24,4 % eine abgeschlossene zehnjährige allgemeine Schulbildung und nicht mehr als 44,8 °/o bzw. 55,8 °/o eine Hochschul- oder mittlere Fachschulbildung 39 . Die Prozentsätze bei den Spezialisten allein waren also annähernd so, wie sie, wenn die nicht-agrarischen ländlichen Siedlungen einbegriffen werden, einschließlich aller Angestellten auf dem Lande waren (s. oben). Das gibt zwar kein genaues Bild, aber doch einen Begriff von dem Unterschied auch auf dem Lande zwischen agrarischen und nicht-agrarischen Siedlungen. Daher wäre, wenn man Rutkeviés Abgrenzung anwendet, i n Anlehnung an die feststellbaren Zahlen der Intelligenz-Berufe und der landwirtschaftlichen Spezialisten (s. diese i n Kap. V I und VII), die Zahl der eigentlich dörflichen Intelligenzia für 34 Rutkevic: Intelligencea, a.a.O., S. 6, sowie ders.: Izmenenie, a.a.O., S. 395 (Fußnote 2); ders.: Ο ponjatii, S. 20 f., 26. 35 I n : Problemy izmenenija, S. 138. 36 Das höhere Bildungs- u n d Qualifikationsniveau der städtischen I n t e l l i genzia u.a. bei Sucharev, S. 17, u n d bei F. N. Rekunov: V l i j a n i e migracii naselenija na social'nuju s t r u k t u r u derevni, i n : Izmenenie, Sverdlovsk 1965, S. 135. 37 Mamaeva, S. 8. 38 A. P. Kirsanov : Osobennosti processa sblizenija rabotnikov fizifceskogo i umstvennogo truda ν derevne, i n : Izmenenie, Sverdlovsk 1965, S. 121 (Tab.). 39 Ebenda.

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1959 auf etwa 2,5 M i l l . Personen zu schätzen, einschließlich Zugehörige etwa 5 Millionen. Freilich ist auch diese Abgrenzung problematisch und vor allem zu schematisch. Sie berücksichtigt, zum Beispiel, nicht genügend jene meist älteren „Praktiker-Spezialisten" 4 0 , die zwar keine entsprechende Schulbildung besitzen, sich aber als Autodidakten oder durch langjährige Berufspraxis ein vergleichbares Fachwissen angeeignet haben. Ihre Zahl ist beträchtlich: Noch 1960 waren von allen (nicht nur i n der Landwirtschaft) sog. Spezialisten 39,6% solche „Praktiker", von allen Betriebsleitern 50 ®/of von allen Chef-Ingenieuren 22,5 % 4 1 . Bis Mitte der 1950er Jahre haben die landwirtschaftlichen Führungskräfte fast ausschließlich aus „Praktikern" bestanden 42 . Zur „eigentlichen ländlichen Intelligenzia" rechnet Kirsanov die „Spezialisten" und nennt als solche: agrozootechnische Fachkräfte, Leiter der Agrarproduktion, Lehrer, medizinische und kulturelle Fachkräfte, fügt aber hinzu, daß insbesondere bei den landwirtschaftlichen Fachkräften „sich i n den Dienststellungen von Spezialisten nicht wenige Praktiker befinden, wodurch die Kennzahlen gesenkt werden, die das allgemeine Bildungsniveau dieser Kategorie charakterisieren" 43 . Sucharev rechnet neben den Kolchozvorsitzenden auch die Brigadiere und die Leiter von Viehabteilungen zur Intelligenzia, obwohl viele von diesen keine Mitteloder Fachschulbildung haben (s. unten, Kap. VI), außerdem generell die Lehrer, das medizinische Personal und die „Kulturarbeiter" 4 4 . A n anderen Stellen werden detaillierter aufgeführt: Agronomen, Zootechniker, Ingenieure, Tierärzte, Ökonomen, Buchhalter und Rechnungsfüherer sowie als „nicht-produzierende Intelligenzia" auf dem Lande Lehrer, Ärzte und mittleres medizinisches Personal, i n K l u b - und Kulturhäusern und Bibliotheken Tätige 4 5 . Es w i r d aber auch eine Unterscheidung zwischen den i n „eigentlich geistiger Arbeit" und den i n „ausführender Dienstleistung" Tätigen getroffen, für die „keine so hohe allgemeine oder spezielle Bildung erforderlich ist", und zu letzteren „die Hauptmasse der Angestellten" i n Kanzleien und Rechnungswesen, Transport, Postwesen, Handel und Gast40 Darauf weist Rutkevic: Izmenenie, a.a.O., S. 385 (insb. Fußnote 2) selbst h i n ; s. auch ders.: Ο ponjatii, S. 22, u n d Social'nye, S. 16. 41 Lewytzkyj: Kommunistische Partei, S. 180. 42 Klassy, S. 180 f. 43 Kirsanov , a.a.O., S. 122. 44 Sucharev, S. 15 f., 19. 45 Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 149; ebenso Rutkevic: Izmenenie, a.a.O., S. 396; A. Amvrosov, i n : Izvestija, 11. 8.1967, S. 3; s. auch die Unterteilung i n „ p r o d u k t i v e " u n d „ n i c h t - p r o d u k t i v e " sowie außerdem i n städtische u n d ländliche Intelligenzia bei A. Kirsanov: Ο sosta ve sovetskoj proizvodstvennoj intelligencii, i n : Processy, S. 70—74.

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Stätten, i n kommunalen, wirtschaftlichen und allgemeinen materiellen Dienstleistungen gerechnet 46 . Das w i r d innerhalb der zusammengefaßten Schicht der Intelligenzia und Angestellten als die „Hauptunterteilung" angesehen, „die sozialen Charakter trägt" und die eigentliche Intelligenzia von den gewöhnlichen Angestellten unterscheidet 47 . Von letzteren wäre besonders auf dem Lande ein großer Teil „seiner sozialen Lage nach" eher den Arbeitern und Kolchozniki zuzurechnen 48 . Etwas anders werden nach dem Grad beruflicher Qualifikation drei Gruppen unterschieden: 1. mit „einfacher Qualifikation", zu der aus der technisch-ökonomischen Intelligenzia die meisten Laboranten und Zeichner zu rechnen seien, dazu von den einfachen Angestellten viele i m Postwesen Tätige, die Verkäufer, Kanzlei- und Registrierpersonal, Wächter usw., die „gewöhnlich keine mittlere Fachschulbildung haben"; 2. m i t „mittlerer Qualifikation", wozu — als Beispiel angeführt — die Techniker, auch die m i t nur praktischer Qualifikation, gehören, die „gewöhnlich (aber nicht immer)" eine mittlere Fachschulbildung besitzen; 3. m i t „hoher Qualifikation", wozu ein Teil der „technisch-ökonomischen, der wissenschaftlich-kulturellen Intelligenzia, der i m Staatsapparat Tätigen, ein gewisser Teil (gewöhnlich das leitende Personal) der Angestellten des Handels und der Kommunalbetriebe" gehört. Z u dieser dritten Gruppe „gehören praktisch alle geistig Tätigen, welche komplizierte Obliegenheiten der Leitung und Verwaltung i n der sozialistischen Gesellschaft und Produktion ausführen. I n der überwältigenden Mehrheit der Fälle haben die Berufstätigen der genannten Gruppe eine Hochschulbildung, die höchste kulturell-technische Vorbildung" 4 9 . Dieses hohe Bildungskriterium t r i f f t aber beim größeren Teil der Leiter von Agrarbetrieben nicht zu (s. Kap. V/2) und ist bei den ländlichen Parteisekretären erst recht zweifelhaft (s. oben, Abschnitt III/4). Unter diesen Umständen erscheint es als angebrachter, auf ein starr einheitliches und allein ausschlaggebendes Bildungskriterium zu verzichten und stattdessen einzeln die eventuell i n Frage kommenden Berufsgruppen zu betrachten und von Fall zu Fall ihre Zuordnung festzustellen, auch wenn dabei Unklarheiten und Ungenauigkeiten bleiben. Das berührt sich m i t der Einteilung von V. E. Vigdorcik i n drei funktionale Gruppen der Intelligenzia, i n technisch-ökonomisch Tätige, hauptberufliche Funktionäre des Staates und gesellschaftlicher Organisationen (incl. Partei) und wissenschaftlich-kulturelle Intelligenzia 5 0 . M i t dieser Einteilung soll hier das Bildungskriterium kombiniert und dabei der Begriff der „ I n 46 Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 170 f. (Hiergegen wendet sich Rutkeviö: ponjatii, S. 25 f.) 47 Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 172. 48 Klassy, S. 179; s. auch R. Ahlberg: Sozialstruktur, S. 364 f. 49 Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 176 f. 50 Klassy, S. 169.

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telligenzia" weiter gefaßt werden, als er für mittel- oder westeuropäische Verhältnisse angebracht erscheint und meist gebraucht w i r d 5 1 . I n der Sowjetunion ist das Bildungsniveau i m ganzen etwas niedriger, so daß insbesondere auf dem Lande schon eine bescheidenere Bildung (Grad von Intellektualität) genügt, u m deren Träger als „Geistesarbeiter" deutlich von der Masse der körperlich arbeitenden Landbevölkerung abzuheben 52 . Κ . I. Mamaeva, die die ländliche Intelligenzia zwar nicht als gesonderte soziale Schicht betrachtet, i h r aber m i t Recht doch einige „von der städtischen Intelligenzia unterschiedliche Besonderheiten, charakteristische Züge und Eigenschaften" zuschreibt, schließt auch alle Spezialisten und Angestellten m i t mittlerer Fachschulbildung ein, die ebenso wie die m i t Hochschulbildung „berufsmäßig Funktionen geistiger Arbeit i n der Sphäre der Agrarproduktion und i m ganzen gesellschaftlichen Leben des Dorfes ausüben" 53 . Als verbreitetste dieser Berufe auf dem Land nennt sie: landwirtschaftliche Spezialisten, Lehrer und i n Kultureinrichtungen Tätige, medizinische Fachkräfte, Spezialisten und Angestellte i n staatlichen, kolchoz-genossenschaftlichen und gesellschaftlichen Organisationen 5 4 . Der Verfasser möchte von den landwirtschaftlichen Fach- und Führungskräften des sowjetischen Dorfes nur jene zur Intelligenzia rechnen, die eine Hochschulbildung besaßen, denn: „ U m ein Spezialist höchster Qualifikation zu werden — und das [diese Qualifikation] eröffnet wirklich weite Möglichkeiten dienstlichen und gesellschaftlichen Wachsens — muß man eine Hochschule absolvieren, entweder i m Vollstudium oder neben der Produktionstätigkeit i m Fern- oder Abendstudium 5 5 ." Diesem K r i terium entsprachen i n den Agrarbetrieben außer einer Minderheit der Betriebsleiter 5 6 von den Agronomen und sog. Zootechnikern, den Ingenieuren, Tierärzten, Forstleuten usw. 106 000 am 1. Dezember 1957 und 116 000 zum 15. November 196457. Bei anderen Berufsgruppen ist der Kreis etwas weiter zu ziehen, weil ihre Tätigkeit stärker intellektuellen Charakter trägt, so daß u m das Jahr 1959 die rund 75 000 Hauptbuchhalter, 8000 bis 15 000 Apotheker, rund 40 000 Ärzte und 70 000 bis 100 000 Bibliothekare (s. Kap. VII) einbezogen werden sowie von den „Kulturarbeitern" der Klubhäuser und Volksbildungseinrichtungen ein — recht w i l l k ü r l i c h geschätztes — Drittel, d. h. ca. 150 000 zum Jahr 1959 (s. Kap. VII/6). 51 Vgl. Theodor Geiger: Intelligenz, i n : Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 5, Stuttgart/Tübingen/Göttingen 1956, S. 303 f. 62 Vgl. Sucharev, S. 15. M I n : Klassy, S. 174. 64 Ebenda. δ5 Rutkevië: Social'nye istoòniki, S. 16. δβ Vgl. f ü r die Kolchozvorsitzenden: Sei. choz., S. 474. 87 Nar. choz. 1958, S. 529; Nar. choz. 1964, S. 422.

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Ganz einbezogen werden sollen die — rund eine M i l l i o n ausmachenden — Lehrer, obwohl von ihnen nicht alle eine mittlere Fachschul- oder gar Hochschulbildung besaßen (s. Kap. VII/5) oder dem Ideal des „vielseitig entwickelten Menschen" entsprachen 58 . Ihre Zurechnung gründet sich darauf, daß sowohl ihre Tätigkeit als auch ihre mittlere Ausbildung geistig bzw. geistig lehrenden Charakter trägt. Gerade von ihnen erwartete man auch nebenberufliche Tätigkeit auf kulturellem Gebiet, zum Beispiel als Leiter von Laien-Theatergruppen 50 . Hinzuzurechnen sind noch eine unbekannte, aber sicher nicht große Zahl von Menschen m i t Hochschulbildung unter den hauptamtlichen Partei- und Verwaltungsfunktionären auf dem Lande sowie die ebenfalls unbekannte Zahl von Altersrentnern der Intelligenzia-Berufe, die i n den Dörfern lebten. Das ergibt eine Gesamtzahl von 1,2—1,5 Mill., dazu die unbekannte, aber sicher insgesamt 150 000 nicht übersteigende Zahl der Funktionäre und Altersrentner sowie nicht genannter, w e i l zu kleiner und i m Schriftt u m nicht erwähnter Gruppen, also eine Größenordnung, die u m 1,5 M i l l , liegt. Das sind 1,5—1,7 °/o der gesamten Dorfbevölkerung von 1959 (ca. 73—74 M i l l . 6 0 , dazu die i n echten Dörfern lebende nicht-agrarische Bevölkerung), davon fast zwei D r i t t e l Lehrer. Diese Menschen sind auch dann als ländliche Führungskräfte zu betrachten, wenn sie organisatorisch keine Führungsposition bekleideten, weil sie auf Grund ihres allgemeinen Einflusses eine nicht formell fixierte Führungsstellung einnahmen. Die Gesamtzahl und die Relation haben sich von 1958 bis 1964 wenig verändert, w e i l diese Intelligenzia nicht stark zugenommen hat (s. unten die Zahlen ihrer einzelnen Berufsgruppen), während zwar die Agrarbevölkerung abnahm, die nicht-agrarische Dorfbevölkerung aber wuchs 61 . Mehr als die Hälfte der so abgegrenzten Intelligenzia (die landwirtschaftlichen Fachkräfte m i t Hochschulbildung, der zur Intelligenzia zu zählende Teil der „Kulturarbeiter", die Bibliothekare und etwa 400 000 bis 500 000 Lehrer, s. unten, S. 312) kann man als Teil auch der Oberschicht betrachten. Aber andererseits werden aus der Oberschicht die organisatorischen Führungskräfte der Agrarbetriebe (incl. Brigadiere) und hauptamtlichen Parteifunktionäre — außer dem kleinen Teil von ihnen, der eine Hochschulbildung besaß 62 — hier nicht zur Intelligenzia 58 S. P. Caplygina, Ο. V. Kozlovskaja: Social'nye izmenenija ν intelligencii ν svjazi s izmenenijami ν urovne obrazovanija i Charaktere truda, in: Processy, S. 63. 59 Vgl. Anochina/Smeleva, S. 332. 80 Vgl. Wädekin: Landw. Bevölkerung, S. 42. 61 Ebenda, S. 46. 62 Vgl. Meissner: Machtelite, S. 747.

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gerechnet. Von der dörflichen Machtelite, auch wenn man die Brigadiere nicht zu dieser rechnet, gehörte nur der kleinere Teil zur Intelligenzia i m hier verwendeten engeren Wortsinn, während umgekehrt von solcher Intelligenzia nur ein kleiner Teil zur Machtelite zu zählen war. I n diesem engeren Bereich dürften sich — anders als bei der Oberschicht i m allgemeinen — auf dem Lande die beiden Personenkreise i n geringerem Grade gedeckt haben als i n den Städten, weil das allgemeine Bildungsniveau der ländlichen organisatorischen Führungskräfte und Funktionäre niedriger war als das der städtischen. Rutkevic schätzt für die Sowjetunion i m ganzen, daß etwa 20 °/o der Intelligenzia (in Rutkevics engerem Sinn) „ m i t eigentlich organisatorischer Tätigkeit beschäftigt" waren 6 3 . Der gleiche Prozentsatz ergäbe auf dem Lande rund 600 000 Personen — eine sicher weit über die Wirklichkeit hinausgehende Zahl. N i m m t man jedoch den weiter gefaßten sowjetischen Begriff der Intelligenzia, so war sowohl die Machtelite als auch die gesamte Oberschicht ein Teil von ihr. Aber i n unserer wie i n der sowjetischen Abgrenzung gehörten außerdem Teile der Intelligenzia zu dem, was man als M i t t e l schicht der Dörfer betrachten kann (vgl. unten das über die einzelnen Berufsgruppen Gesagte). Die ländliche Intelligenzia war demnach keine eigene soziale Schicht, auch kein Teil nur einer Schicht, sondern bildete eine spezifische Gruppe i n der Mittel- wie auch Oberschicht. Wenn auch innerhalb der Mittelschicht die Unterschiede der dörflichen Intelligenzia zu anderen Berufsgruppen nicht so deutlich ausgeprägt gewesen sein mögen wie zwischen dem zur Oberschicht gehörenden, größeren Teil dieser Intelligenzia und der Masse der Dorfbevölkerung, so scheint sich doch die gesamte Intelligenzia, auch i h r zur Mittelschicht gehörender Teil, i n ihrem Habitus von der übrigen Dorfbevölkerung merklich abgehoben zu haben, und zwar i n einer A r t , die nicht allein auf ihre Funktion i m öffentlichen Leben und ihr Einkommen zurückzuführen ist. Wenn A. Janov bedauert, die Dorf-Intelligenzia bilde keine zusammenhängende Gruppe — „die Lehrer für sich, die Mediziner für sich, die [landwirtschaftlichen] Spezialisten auch" 6 4 —, so hat er, wie der Zusammenhang seiner Worte zeigt, mehr deren öffentlich-gesellschaftliche Tätigkeit i m Dorf i m Auge. „ K u l t i v i e r t aussehen, höflich reden, gebildet sein", das w i r d an einer Stelle als — allein nicht ausreichendes — Merkmal der Zugehörigkeit zur Intelligenzia herausgestellt (is. unten, S. 150), und das sind andererseits Züge, die durchaus nicht jedem Betriebsleiter zu eigen waren (vgl. Kap. V/2), obwohl dieser sozial gewiß über den meisten Intelligenzia-Vertretern stand. Das von A. M. Rumjancev populär gemachte russische 63 64

Rutkevië: Ο ponjatii, S. 25. A. Janov , i n : L i t . gazeta, 52/1967, S. 10.

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Wort „intelligentnost' i m Sprachgebrauch häufig zur Bezeichnung solcher Besonderheiten gebraucht, w i r d zwar oft m i t moralischen und sogar politischen Qualitäten befrachtet 65 , umreißt aber zumindest gefühlsmäßig auch einen sozialen Sachverhalt. René Dumont berichtet, daß I I ja Ehrenburg i m Gespräch das „echte Lebensdrama einer jungen Bibliothekarin" hervorgehoben habe, „die oft am schlechtesten i m Kolchoz bezahlt ist [kaum i m Vergleich mit einfachen Kolchozniki igemeint] und die sich dennoch sehr korrekt anziehen muß — was i n der Sowjetunion viel kostet — und die oft recht wenig ißt; wenigstens sofern sie keinen Traktoristen geheiratet h a t " 6 6 . Das ist eine für sowjetische Verhältnisse überraschende ungeschriebene Verpflichtung zu Kleidung, die der Intelligenzia und „intelligentnost' " angemessen — fast möchte man sagen: standesgemäß — ist 6 7 . Eine Neigung zum Umgang möglichst nur unter Gebildeten kommt zum Ausdruck, wenn Lehrerinnen i n einem Dorf sich gegenseitig besuchen, aber auf jede Weise vermeiden, i n die Häuser einfacher Kolchozniki zu gehen 68 . Das mag es — mutatis mutandis — i n Städten ebenfalls geben, aber auch Rekunov sagt, i n allgemeingültiger Form die Besonderheiten dörflicher Verhältnisse charakterisierend: „ [ . . . ] mit (größeren Schwierigkeiten als in der Stadt werden i m Dorf die Unterschiede zwischen der Intelligenzia, den Kolchozniki und den Sovchoz-Arbeitern überwunden, komplizierter verläuft der Prozeß der Entstehung sozialer Einheitlichkeit 6 9 ." Das soll hier nicht so gedeutet werden, als ob auf dem Lande ein akuter Gegensatz zwischen der Intelligenzia und der Masse der Bevölkerung bestanden hätte. Ein Gegensatz war i n der größten Notzeit der sowjetischen Landbevölkerung, i n den 1930er Jahren, zwar i n Ansätzen und eher i m Blick auf die städtische Intelligenzia vorhanden gewesen 70 ; i h m stand auch Anerkennung der Leistungen dieser Schicht gegenüber 71 , die i m übrigen ja damals auf dem Lande außerordentlich schwach vertreten war. Ein etwa vorhandener Gegensatz war sicher geringer als i n der Zeit vor der Oktoberrevolution 7 2 . Dagegen ist für die letzten Jahrzehnte doch 65

Vgl. hierzu Rutkevië: Ο ponjatii, S. 26. Dumont , S. 74. Eine ähnliche Heraushebung durch die K l e i d u n g i n einer Provinzstadt 1962 beobachtet von Ingrid Parigi : Die Sowjetdeutschen, Gütersloh 1965, S. 64; s. auch die castuska über den Kleidungsunterschied zur einfachen Kolchoznica bei Vlasova/Gorelov, Nr. 4845, S. 227, sowie die verächtlich gemeinte Beschreibung bei A. Kuznecov: U sebja, S. 33. 68 So bei Bukovskij: Porecno-stepnye, S. 176. 69 F. N. Rekunov: V l i j a n i e migracii naselenija na social'nuju s t r u k t u r u derevni, i n : Izmenenie, Sverdlovsk 1965, S. 135. 70 Inkeles! Bauer, S. 302, 304, 307, 312. 71 Inkeles!Bauer, S. 314. 72 So, w o h l zu Recht, w e n n auch vielleicht zu stark prononciert festgestellt von Hindus, S. 271. ββ

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recht zweifelhaft, ob auf dem Lande „die Kennzeichen der Intelligenzia als besonderer sozialer Gruppe" sich weiter „verwischen", wie Rutkeviö generell behauptet 73 . Es w i r f t ein kleines, aber aufschlußreiches Schlaglicht auf die beim Ende der Chrusöev-Zeit bestehende Situation, daß i n einem Sovchoz viele Angehörige der Intelligenzia als ihre Freunde neben Angestellten auch Mechanisatoren bezeichneten, die Mechanisatoren aber seltener Intelligenzler als ihre Freunde betrachteten; das bezeugte auch nach Auffassung des sowjetischen Beobachters „eine beträchtliche Eigenart der Auffassung von der eigenen sozialen Stellung i n unserem Lande" 7 4 . Unterschiede der Herkunft können dabei keine ausschlaggebende Rolle gespielt haben, denn „die ländliche Intelligenzia [ . . . ] formiert sich i n ihrer überwältigenden Mehrheit aus den gleichen sozialen Quellen wie auch die anderen Kategorien dörflicher Werktätiger" 7 5 . Die seit Mitte der 1950er Jahre aus den Städten zugezogenen Vertreter der Intelligenzia 7 6 spielten also eine untergeordnete Rolle bzw. haben die Dörfer oft wieder verlassen. Auch die Unterschiede i m Arbeitseinkommen der Intelligenzia und der Masse der Bevölkerung waren auf dem Lande größer als i n den Städten. Während nämlich die Gehälter i n Intelligenzia-Berufen auf dem Lande zwar bis 1964 oft etwas niedriger waren als vergleichbare Gehälter i n den Städten (s. Kap. VII/4—5), lagen die Löhne bei der Masse der Kolchozbevölkerung weit unter dem Niveau städtischer Arbeiterlöhne, und selbst i n den Sovchosen betrug der Abstand zu Industrie, Bauwesen und Transport mehr als 20 °/o77. Es ist kaum vorstellbar, daß ein solcher Sachverhalt nicht auch sozialpsychologische Folgen gezeitigt hat. Nicht nur ein deutlicher Unterschied der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Intelligenzia von denen der anderen Bevölkerungsteile war vorhanden, sondern i n Umrissen auch ein bewußtes Sich-anders-Geben, und zwar auch gegenüber weniger gebildeten Vertretern der Oberschicht. Es gibt nicht viele Anzeichen wie die oben genannten dafür, auch bei Besuchen i n sowjetischen Kolchozen und Sovchozen war das nur i n A n deutungen festzustellen. Aber wo eine solche Haltung bemerkbar war, basierte sie nicht primär auf Macht und Einkommen, sondern auf einem Lebensstil, der bei der Intelligenzia m i t deren Kenntnissen und Hilfemöglichkeiten zusammenhing, die der Masse der Dorfbevölkerung auch 78 Rutkevië: Izmenenie, a.a.O., S. 398; ähnlich Kugel': Zakonomernosti, S. 47 f. 74 Arutjunjan: Podviznost', S. 24. 75 Arutjunjan: Social'nye aspekty, S. 130. — I m Jahr 1964 oder 1965 stammten i n der Provinz Saratov ca. 70 °/o der dörflichen Intelligenzia v o m Lande, lt. Ostrovskij, S. 127. 76 Klassy, S. 181. 77 Vgl. Nar. choz. 1965, S. 567.

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zugute kamen 7 8 . Es ist bemerkenswert, daß i n einer sibirischen Provinz die Berufe der Volksbildung sowie des K u l t u r - und Gesundheitswesens den ländlichen Schulabsolventen erstrebenswerter erschienen als den städtischen 79 . Der Unterschied zwischen Intelligenzia und einfacher Dorfbevölkerung barg offenbar weniger soziale Schärfe als ein nur auf Macht und Einkommen beruhender, gewährte aber Ansehen. Das mußte für die Partei ein zusätzlicher Grund sein, auf dem Lande besonders die Intelligenzia an sich heranzuziehen und deren Sozialprestige politisch zu nutzen. Tatsächlich wurde zur Zeit ChruScevs und auch danach die Intelligenzia i n starkem Maße und zielbewußt i n das politische Leben, die ideologische Indoktrinierung und auch i n die Verwirklichung wirtschaftspolitischer Zielsetzungen auf dem Lande hineingezogen. Es gab auch wenig andere Kräfte, die dafür einzusetzen waren. Weiter oben wurde bereits gezeigt (s. S. 94 und Tab. 5), daß sich unter den landwirtschaftlichen Spezialisten ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz von Parteikommunisten befand, nämlich über 30 % i m Jahre 1961 und über 40 %> i m Jahre 1964, und i n Ermangelung von entsprechenden Zahlen für die anderen IntelligenziaBerufe darf man wohl davon ausgehen, daß ein etwas geringerer Prozentsatz für Lehrer, Hauptbuchhalter, Ärzte usw. galt 8 0 . Etwa ein Viertel aller Parteikommunisten i n den Dörfern muß zur Intelligenzia i m hier verwendeten engeren Wortsinn gehört haben (vgl. die Zahlen oben, S. 101). Schon das macht deutlich: Nach den Funktionären des Staates, der Partei und der Massenorganisationen, die i n der Hegel Parteimitglieder waren — und die Sucharev als „besondere Abteilung der ländlichen Intelligenzia" betrachtet 81 —, sowie den organisatorischen Führungskräften der Agrarbetriebe gehörte auch ein Teil der echten Intelligenzia zu jenem Personenkreis, durch den die Partei ihre Herrschaft, ihre „führende Rolle" 8 2 , auf dem Lande ausübte. Auch jene Teile der Intelligenzia, die der Partei noch nicht angehörten, suchte diese zur Mitarbeit auf wirtschaftlichem, kulturellem und gesell78 Das entspricht, auf dörfliche u n d praktische Verhältnisse übertragen, dem, was Meissner: Machtelite, S. 750, 752, über das Ansehen der Wirtschaftsmanager u n d der geistigen Elite ausführt. 79 V. Ν. Subkin: Ob ustojfcivosti ocenok privlekatel'nosti professij, i n : Sociologiöeskie issledovanija, S. 254 f. 80 Dafür spricht u. a., daß Anfang 1959 i n der Provinz Tula mehr als die Hälfte aller Parteimitglieder der Landbezirke nicht „ i n der Produktion" a r beiteten ( Chruèèev , I I I , S. 510 f., Rede v o m 17. 2.1959), also entweder Betriebsleiter oder i m Handels- u n d Dienstleistungsbereich tätig waren. Ebenso entspricht es dieser Schätzung, daß 1964 i n der Provinz Saratov von tausend befragten ländlichen Vertretern der Intelligenzia-Berufe die Hälfte Partei- oder Komsomol-Mitglieder waren, s. Ostrovskij, S. 269; s. auch die Zahlen für L e h rer, Ärzte u n d Ingenieure i n der Sowjetunion insgesamt bei Rigby, S. 439. 81 Sucharev, S. 20. 82 s. auch Wädekin: Sozialstruktur, S. 27 f.

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schaftlichem Gebiet, d. h. überhaupt i m öffentlichen Leben, heranzuziehen. I n einigen Landesteilen gliederten die Kolchoz- und SovchozParteiorganisationen sich sog. „Räte der Intelligenzia" an, die ehrenamtlich tätig waren 8 3 . Als Beispiel für den „verstärkten Zug der fortschrittlichen geistig Arbeitenden i n die Partei und den Komsomol", dafür, daß „die der Partei angehörende Zwischenschicht der ländlichen Intelligenzia unablässig wächst", führte Sucharev 1963 einen Bezirk der Provinz Orel an, wo sich seit Mitte der 1950er Jahre die Zahl solcher IntelligenziaParteikommunisten verdoppelt habe, und er fügte hinzu: „Diese Tendenz ist charakteristisch für die ländliche Intelligenzia des ganzen Landes 84 ." Die Zunahme ist besonders deshalb eindrucksvoll, weil in jenen Jahren die ländliche Intelligenzia — darunter auch die nicht-agrarische — i m ganzen zahlenmäßig nur wenig zugenommen hat. Aber vor allem zeigt sie die Zielrichtung, i n der die Intelligenzia als „wichtige politische Kraft, welche aktiv die Politik der Partei und der Regierung ins Leben umsetzt" 8 5 , gesehen wurde. Es hat einen starken politisch-ideologischen Unterton, wenn von einem Provinz-Komsomolsekretär folgende Betrachtungen angestellt wurden: „Was ist ein Mensch der Intelligenzia [intelligentnyj celovek]? Hier genügt es nicht, kultiviert auszusehen, höflich zu reden, gebildet zu sein. Man muß außerdem den Puls der Zeit spüren, interessant zu leben, zu begeistern, andere nach sich zu ziehen wissen. [ . . . ] der Spezialist, Intelligenzler von heute auf dem Lande ist nicht nur eine Führungskraft, die auf ihrem Gebiet Bescheid weiß [gramotnyj rukovoditel']. Er ist auch ein Anleiter auf geistigem Gebiet. Deshalb ist es für jeden jungen Spezialisten wichtig, außer seinem Diplom auch noch einen gesellschaftlichen Beruf zu haben, für den er sich selbst begeistert und für den er andere zu begeistern versteht 8 6 ." Man wollte „alle Abteilungen der ländlichen Intelligenzia" so stark wie möglich zur „ideell-politischen Erziehung und kulturell-aufklärerischen Arbeit i n der Bauernschaft", zur „gesellschaftlichen A k t i v i t ä t unter der Leitung der Parteiorganisationen" heranziehen, und das nicht zuletzt auch, weil man i n solcher Aktivierung einen „sozialen Faktor der ideell-politischen Erziehung der Intelligenzia" selber sah 87 . Für Versammlungen der Kolchozniki wurde es als charakteristisch bezeichnet, daß an ihnen Vertreter der „örtlichen Intelligenzia" teilnahmen, auch wenn diese i n ihrer Mehrheit nicht Mitglieder des Kolchoz waren 8 8 , und 83 84 85 88 87 88

Sucharev, S. 115. Sucharev, S. 117 f. Sucharev, S. 12. Ja. Fedoröuk, i n : Sz 21.11.1967, S. 3. Mamaeva, S. 18. Anochina/Smeleva, S. 292 f.

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es wurden eigene „Versammlungen der ländlichen Intelligenzia" auf Kolchoz-, Sovchoz- oder Bezirksebene durchgeführt 89 . Fraglich bleibt freilich, ob die Masse der Dorfbevölkerung sich von solchen Aktivitäten angesprochen fühlte, ob sie nicht dachte wie ein von Troepol'skij geschilderter Kolchoznik i m Hinblick auf landwirtschaftliche Lehrversammlungen: „Das ist nichts für uns 9 0 ." „Eine traditionelle, vom Ablauf der Zeit erprobte Form der gesellschaftlichen Bewegung der Intelligenzia ist auch die Arbeit als Agitatoren [ . . . ] Man kann ohne Überteibung sagen, daß mehr als die Hälfte der Intelligenzler der Kolchoze und Sovchoze Agitatoren sind 9 1 ." Diese „Agitatoren"- oder auch „Propagandisten"-Rolle der Intelligenzia, besonders der ländlichen, wurde auch sonst oft betont 9 2 . Ein Teil von ihr war die Tätigkeit von Vertretern aller Teile der Intelligenzia als Lektoren oder Propagandisten i m „Netz der politischen Volksbildung" 9 3 , und i n diesem Zusammenhang ist auch der Kampf gegen die Religion als der Intelligenzia zugedachte Aufgabe 9 4 zu erwähnen. Dazu zog man auch jene Teile der ländlichen Intelligenzschicht heran, die nicht Parteimitglieder waren 9 5 . A l l e i n m i t der geringeren Zahl ländlicher Parteikommunisten wäre diese Indoktrinierungsarbeit gar nicht zu bewältigen gewesen, denn i m Lehrjahr 1958/59 wurden i n „politischen Schulen, Zirkeln und Seminaren" auf dem Lande 6,7 M i l l . Menschen geschult, 1962/63 bereits 23 M i l l . 9 6 . Ob i n der Praxis die Intelligenzia immer und aus eigenem Antrieb aktiv die i h r zugedachte Aufgabe erfüllte, ist eine andere Frage. Schon die Tatsache ihrer Tendenz zur Landflucht 97 , die die erwünschte Vergrößerung dieser Schicht stark beeinträchtigte 98 , spricht dagegen, denn wer auf Landflucht sinnt, w i r d selten besondere Neigung zu aktiver Teilnahme am Dorfleben haben. Verschiedentlich wurde Vertretern der ländlichen Intelligenzia vorgeworfen, daß sie sich am kulturellen und allgemein öffentlichen Leben des Dorfes außerhalb ihrer Berufstätigkeit nicht beteiligten 9 9 . Allerdings standen sie damit, soweit es rein kulturelle Ver89

Sucharev, S. 115. Troepol'skij: V kamySach, 10, S. 23. 91 Sucharev, S. 100. 92 z. B. bei Gluëko, S. 90. 93 Sucharev, S. 95. 94 Sucharev, S. 103. 95 Sucharev, S. 94; s. auch A. Kuznecov, i n : Sz 17.8.1966, S. 2. 98 Sucharev, S. 94. 97 Sucharev, S. 106. 98 F. Ν. Rekunov: V l i j a n i e migracii naselenija na social'nuju s t r u k t u r u derevni, i n : Izmenenie, Sverdlovsk 1965, S. 135. 99 ζ. B. von VI. Luk'janov, i n : Sz 7. 6.1966, S. 4; Ja. Fedorëuk, i n : Sz 21.11. 1967, S. 3; M. Karpovië, i n : Izvestija, 17.6.1967; A. Janov, i n : L i t . gazeta, 52/ 1967 (27.12.1967), S. 10. — I n der Provinz Saratov beteiligten sich 1964 von 90

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anstaltungen betraf, nicht allein, Betriebsführern wurde das ebenfalls nachgesagt 100 . Auch objektive Faktoren erschwerten eine „gesellschaftliche A k t i v i t ä t " der Intelligenzia: „Die Tatsache, daß ein großer Teil der [ländlichen] Intelligenzia wegen der Verstreutheit der Siedlungen und der Einrichtungen, i n denen sie arbeitet, vereinzelt ist, erschwert die Organisation der politischen Aufklärung. Zudem hat ein bedeutender Teil der ländlichen Intelligenzia noch weniger freie Zeit als die Mehrheit der städtischen. [ . . . ] der Arbeitstag ist bei den Leitern und Spezialisten der L a n d w i r t schaft praktisch nicht fixiert und dauert elf bis zwölf Stunden. Bedeutend ist die Überlastung bei den Lehrern und einigen anderen Berufstätigen 1 0 1 ." Besonders wichtig war, daß die dörfliche Intelligenzia hinsichtlich ihres Einkommens und Lebensstandards einige Züge aufwies, die praktisch allen ihren Vertretern gemeinsam waren, sie von der städtischen I n telligenzia unterschieden und überwiegend einer Aktivierung i m gewünschten Sinne nicht günstig waren. Da war zunächst das allgemein i n den Dörfern niedrigere kulturelle und materielle Niveau, das als „die Wurzel der Unterschiede" zur städtischen Intelligenzia bezeichnet w i r d 1 0 2 . Dies und das spezifische Milieu i n den Kolchozdörfern, i n dem die meisten Vertreter der ländlichen Intelligenzia lebten und arbeiteten, beeinflußte „ihre Psychologie, Gewohnheiten und Traditionen" 1 0 8 , und zwar gewiß nicht i m Sinne der Partei, so daß „einige von ihnen i n kultureller Beziehung absinken" 1 0 4 . Bis zu den Gehaltsaufbesserungen vom Sommer 1964 (s. Kap VII/4—5) war die ländliche Intelligenzia materiell selber auch benachteiligt, denn ihre Gehälter lagen vor allem bei ihrem größten Teil, den Lehrern, niedriger als bei entsprechenden Berufen und Dienststellungen i n den Städten 1 0 5 ; jedoch trat der Anspruch auf Pensionierung schon nach 25 (anstatt 30) Dienstjähren ein 1 0 6 , bzw. setzte seit 1964 bei Weiterarbeit über das Pensionsalter hinaus die damit verbundene Gehaltserhöhung entsprechend früher ein 1 0 7 . Andererseits hatte man i n Intelligenzia-Berufen auf tausend befragten ländlichen Vertretern der Intelligenzia-Berufe 521 nicht an der Tätigkeit der dörflichen Kulturhäuser, 321 hatten keinerlei „gesellschaftliche Aufträge" übernommen, lt. Ostrovskij, S. 269. 100 GluSko, S. 90. 101 Sucharev, S. 116. 102 Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 175. 103 Ebenda. 104 Sucharev, S. 107. 105 Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 175; Sucharev, S. 17. 106 G. Hedtkamp: Finanzsystem u n d Geldwesen, i n : Osteuropa-Handbuch, S. 284. 107 Panov/Charin, S. 53—55; Popov -Cerkasov, S. 23, 27,35,44.

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dem Lande Anspruch auf kostenlose Wohnung, Heizung, Beleuchtung u. a., und nur aus pragmatischen Erwägungen ist bei der Angleichung der ländlichen an die städtischen Intelligenzia-Gehälter (1964) auf die — von manchen vorgeschlagene und an sich logische — Konsequenz verzichtet worden, diese Vergünstigungen nun zu streichen 108 . Der A n spruch darauf hatte mehr als Geldwert, wo Wohnung und öffentliche Dienste knapp waren 1 0 9 , konnte aber auch nahezu wertlos sein, wo die Knappheit so groß war, daß der Anspruch nicht zu realisieren war, und das kam auf dem Lande nicht selten vor. Schließlich hatten fast alle Vertreter von Intelligenzia-Berufen auf dem Lande Anspruch — der von ihrer „absoluten Mehrheit" auch wahrgenommen w u r d e 1 1 0 — auf eine landwirtschaftliche Nebenerwerbswirtschaft (Bodenparzelle und Viehhaltung) i n einem über das bei nichtagrarischen Angestellten sonst übliche Maß hinausgehenden Umfang von meist 0,25 ha pro Familienhaushalt 1 1 1 , die zudem schon seit 1953 von Naturalablieferungen an den Staat befreit w a r 1 1 2 . Das w i r d i n einschlägigen sowjetischen Publikationen i n der Regel auch hervorgehoben 113 und diesen Nebenerwerbswirtschaften ein negativer Einfluß auf die A k t i v i t ä t der ländlichen Intelligenzia i n Produktion und öffentlichem Leben zugeschrieben 114 . Auch Sucharev hob die damit verbundenen „Überreste privateigentümlerischer Psychologie" hervor und fuhr dann fort, obwohl er Enteignungsmaßnahmen ablehnte: „Das Vorhandensein der Nebenerwerbswirtschaft bei der ländlichen Intelligenzia erzeugt gelegentlich bei einigen ihrer Vertreter eine Tendenz zu wirtschaftlichem ,Fettansetzen', Elemente der Gewinnsucht [elementy stjazatel'stva]. [ . . . ] einige Lehrer der Mittelschule von Chotiml'-Kuz'menkov [Provinz Orel] verletzten alle Normen der persönlichen Wirtschaft und wurden zu einer A r t , F a r m e r ' . Noch größere Verbreitung haben diese Überbleibsel bei der produktiven I n telligenzia" [d. h. den landwirtschaftlichen Fachkräften] 1 1 5 . Aber es wurden auch noch andere, nicht oder nur sehr indirekt auf die materielle Lage zurückzuführende „Überbleibsel der Vergangenheit" angeführt, die „einen gewissen Teil der Intelligenzia des Dorfes [...] hindern, eine fortschrittliche Rolle i m Dorf zu erfüllen" 1 1 8 . Dazu 108

Panov/Charin, S. 68. Vgl. Venler: Ispol'zovanie, S. 242 (Fußnote 1). Sucharev, S. 16. 111 Wädekin: Privatproduzenten, S. 38. 112 V O v o m 21. 9.1953, i n : D i r e k t i v y , I V , S. 80 f. 113 So, außer bei Sucharev, a.a.O., auch i n Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 175 f., u n d bei Aurtjunjan: Social'naja struktura, S. 56. 114 Mamaeva, S. 17. 115 Sucharev, S. 109. 116 Sucharev, S. 108. 109

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I V . Die dörfliche Intelligenzia

gehörten u. a. „Überbleibsel nationaler Beschränktheit" 1 1 7 , religiöse Einflüsse 118 , „Individualismus" 1 1 0 , und „man findet i n ihren Reihen noch ideell und politisch unreife Menschen, die sich unkritisch verhalten gegenüber der bourgeoisen Rundfunkpropaganda, gegenüber Filmen usw." 1 2 0 . Einen wie großen Teil der dörflichen Intelligenzia, besonders der i n unserem engeren Wortsinn, diese Vorwürfe wirklich betrafen, ist unmöglich zu sagen. Der des privaten Nebenerwerbsstrebens dürfte für einen großen Teil gelten, der der „nationalen Beschränktheit" bezieht sich ohnehin wohl nur auf den nicht-russischen Teil (der aber auf dem Lande vermutlich relativ größer war als i n den Städten), über den Umfang des „Individualismus" und der Einflüsse der Religion und der ausländischen Propaganda läßt sich überhaupt nichts sagen, außer daß er nicht völlig unbedeutend sein kann, weil er sonst kaum erwähnt worden wäre. Das so entstehende B i l d der sowjetischen Dorf-Intelligenzia ist widerspruchsvoll: Einerseits der hohe Anteil von Parteikommunisten, die ausgedehnte Schulungstätigkeit, die ohne ihre M i t w i r k u n g nicht möglich wäre, die Maßnahmen der Partei, u m auch die ihr nicht angehörenden Vertreter dieser Bevölkerungsgruppe zur öffentlichen Betätigung heranzuziehen, andererseits die genannten Vorwürfe geringer A k t i v i t ä t außerhalb des Berufs, die objektiven Faktoren, die solche Betätigung erschweren. Zweifellos sind beide Seiten des Bildes real, beziehen sich zum Teil auf verschiedenartige Vertreter der Intelligenzschicht, und sicher gibt es dazwischen auch jene — vielleicht sehr viele —, die einerseits mehr oder weniger bereitwillig an „gesellschaftlicher A k t i v i t ä t " teilnehmen, andererseits ihr eigenes Privatleben scharf getrennt davon halten, i n privatem Kreise anders sind als i n der Öffentlichkeit. Oder aber eine A k t i v i t ä t wie die der „Agitatoren" steht großenteils nur auf dem Papier 1 2 1 . Aber wesentlicher als solche nur i n allgemeiner Form möglichen Feststellungen ist etwas anderes: I m Vergleich zur Masse der Landbevölkerung war die „gesellschaftliche A k t i v i t ä t " der Intelligenzia sehr bedeutend. Ein solcher Unterschied mag auch i n den Städten bestanden haben, aber er war nicht so ausgeprägt wie i n den Dörfern, weil i n den Städten i m nahen Zusammenleben der Menschen, insbesondere an den überwiegend auf engem Raum konzentrierten großbetrieblichen Arbeitsplätzen, die Tätigkeit und die Einflußmöglichkeiten der Partei und der von ihr gesteuerten Massenorganisationen i m ganzen und auch ohne die Intelligenzia größer waren als auf dem Lande. 117 118 119 120 121

Ebenda. Ebenda, S. 106. Ebenda, S. 111 f. Ebenda, S. 106. N. Kamenskij, i n : Sz 20. 8.1966, S. 2.

ZWEITER T E I L

Berufsgruppen der Führungskräfte V. Die Leiter der Agrarbetriebe 1. Stellung im Gesamtrahmen des sowjetischen Agrarsystems Das bestimmende Element für das Verhältnis der Staats- und Parteiinstanzen zu den Sovchozen und den Kolchozen war der Bedarf an Lebensmitteln. Er wurde durch Ablieferungen, später Aufkäufe befriedigt, die — von bestimmten Fällen abgesehen — für die Betriebe keinen Anreiz zur Produktionssteigerung boten und daher durch andere als ökonomische Hebel bewirkt werden mußten. Wirtschaftlicher Anreiz wurde durch Produktion auf Befehl ersetzt 1 . Da Produktion und Ablieferungen dem Bedarf nicht genügten, wurde ihre Steigerung zur wichtigsten Frage zwischen Staat bzw. Partei und Agrarbetrieben, und zwar vor allem die Ablieferungen und Aufkäufe, d. h. der Teil der Produktion, den der Staat erhielt. Nach ihnen wurde die Leistung eines Kolchoz bewertet 2 . Das war i n den Kolchozen besonders deutlich, galt aber i m wesentlichen auch für die Sovchoze; dem entsprach es auch, daß i n beiden Betriebsarten die Gehälter der Leiter und der gehobenen Fachkräfte meist von den Ablieferungen bzw. den Verkäufen anstatt vom Produktionsumfang abhingen (s. unten). „Es ist wohl schwierig, einen Kolchozvorsitzenden zu finden, der nicht schon für Rückstände i n der Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse k r i tisiert worden wäre. Aber es gibt kaum welche, die streng, i n der A r t der Partei, dafür zur Rechenschaft gezogen worden wären, daß sie sich jahrelang nicht m i t Fragen der K u l t u r [in ihren Dörfern] befaßt haben 3 ." Das gilt auch für alle anderen Fragen — m i t Ausnahme der politischen —, die keinen direkten Bezug zu Produktion und Ablieferungen hatten, so daß hinsichtlich der Dienstleistungen eine verbreitete Redensart der Betriebsleiter war: „Baue ich kein Bad, w i r d man mich nicht schelten, aber wegen eines Kuhstalls kann es einen strengen Verweis geben 4 ." 1

Vgl. Alee Nove : Peasants and Officials, i n : Karcz, ed., S. 66. Dmitraëko: Vnutrikolchoznye, S. 43. Gluëko , S. 87; i m gleichen Sinne M . Kolosov, i n : Sz 27.9.1966, S. 3; Vikulov/ Suëinov , S. 186. 4 D. D. Bojko: Krepkie korni, i n : Rajonnoe zveno, S. 25. 2

3

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

Diese Priorität i m Bereich der Landwirtschaft setzte sich nach oben fort. „Nach der Menge der an den Staat verkauften Erzeugnisse wurde die Arbeit nicht nur der Kolchoze, sondern auch der Staats- und Parteiorgane bewertet 5 ." Man kann auch sagen: Die Partei- und Staatsorgane eines Landbezirks (und auf der nächsthöheren Ebene: einer Provinz) wurden für die Ablieferungen der Kolchoze verantwortlich gemacht und hatten daher i n erster Linie ein Interesse daran, daß die Ablieferungspläne erfüllt oder womöglich übererfüllt wurden. Das brachte nicht nur den Kolchozvorsitzenden, sondern auch den übergeordneten Funktionären entweder Lob und eventuell Beförderung, oder Rüffel und eventuell Absetzung. „ I n vielen Unionsrepubliken beruhte die Erfüllung der Ablieferungspläne für Agrarprodukte auf der Methode der Gesamtbürgschaft, derzufolge jeder Kolchoz für den Bezirk verantwortlich gemacht wurde, der Bezirk für die Provinz, die Provinz für die Republik 6 ." Die durch das System bedingte Interessenverbindung zwischen Betrieben und untergeordneten Verwaltungsorganen konnte sich, zum Beispiel, auch darin äußern, daß eine Bezirksleitung, u m des äußeren Ruhmes „ihres" erfolgreichen Kolchoz und damit auch ihres eigenen Ruhmes willen, diesen gegen wirtschaftliche Vernunft m i t anderen K o l chozen zu einem überdimensionerten Betrieb Zusammenschloß und damit auch gleich die Verantwortung für die so verschwundenen schwachen Betriebe los wurde 7 . U n d oft schickte sie den erfolgreichen Kolchozvorsitzenden i m Lande umher, u m Reden und Vorlesungen zu halten 8 , natürlich ebenfalls u m des Publizitätseffektes willen, der ihr ebenso wie dem Kolchoz zugute kam. Innerbetrieblich konnte das schädliche Auswirkungen haben. Formell waren die Kolchoze eigenständige Genossenschaften und damit ihre Betriebsleiter unabhängig. Man hätte ihnen daher, anders als den staatseigenen Sovchozen, i n innerbetrieblichen Angelegenheiten eigentlich keine Befehle erteilen können. Doch erhielten sie „Empfehlungen" und „Musterordnungen", die als Rechtsnormen für die Kolchozleitungen verbindlich waren 9 . „Die Willensäußerung jedes einzelnen Kolchoz [ . . . ] muß unbedingt i m Einklang stehen m i t dem Willen des ganzen Sowjetvolkes, der seinen Ausdruck i m gesamtstaatlichen Willen findet 10." I n ihrem Verhältnis zu den Kolchozen hielten sich die Verwaltungsorgane i n erster Linie an deren Vorsitzende, so wie es die Sovchoze8

Zaslavskaja: Raspredelenie, S. 106. • Ebenda, S. 149. 7 Antipov, S. 128; ein solcher F a l l auch bei DoroS: Do2d', S. 64 ff. 8 Vgl. DoroS, a.a.O. 9 Bilinsky: Aktuelle, S. 67 f. 10 I. V. Pavlov: Razvitie kolchoznoj demokratii ν period razvernutogo stroitel'stva kommunizma, Moskau 1962, S. 37.

1. Stellung i m Gesamtrahmen des sowjetischen Agrarsystems

157

Verwaltung gegenüber den von ihr eingesetzten Direktoren tat. Zwar gab es auch andere Möglichkeiten der Einwirkung auf die Betriebe, doch dies war die einfachste und direkteste, so daß faktisch galt: „Die Bezirksorganisationen [ . . . ] bewirken die Leitung der Kolchoze hauptsächlich durch deren Vorsitzende 11 ." Das auf Terror gegründete straffe Befehlssystem der Stalin-Zeit war durch ein anderes, nicht so grausames, aber ebenso wirksames System ersetzt, das nur wenigen Kolchozen Raum zu selbständigem Wirtschaften und Disponieren ließ. Naturgemäß erstreckten sich die Gängelung von oben und die Interessenverbindung auch auf Maßnahmen zur Produktionssteigerung, denn m i t ihrer Hilfe sollten ja die Ablieferungen gesteigert werden. Chruscevs verschiedene Kampagnen spielten dabei eine Hauptrolle, i n ihnen konnte man sich hervortun oder unbeliebt machen. Das ging bis zu jener extremen Logik Chrusöevs bei seiner Mais-Kampagne: „Der Mais hat seine Möglichkeiten i n allen Regionen der Sowjetunion gezeigt. Wenn i n einzelnen Landesteilen der Maisanbau nur formal eingeführt wird, die Kolchoze und Sovchoze niedrige [Mais-]Ernten haben, so ist daran nicht das K l i m a schuld, sondern es sind die leitenden Funktionäre. Wo Mais nicht gedeiht, ist eine ,Komponente 4 vorhanden, die seinem Wachsen nicht förderlich ist. Diese »Komponente1 muß man i n der Leitung suchen. A u f welcher Ebene? Vor allem der Kolchoze und Sovchoze, aber auch auf der Ebene der Bezirke, Provinzen und sogar Unionsrepubliken. Man muß jene Funktionäre ersetzen, die selbst vertrocknet sind und eine K u l t u r wie den Mais verdorren lassen, ihr nicht die Möglichkeit geben, sich v o l l zu entfalten 1 2 ." Damit waren alle Einwände sachlicher A r t abgeschnitten. Auch bei anderen Kulturen waren nach dieser Logik die Hektarerträge einer bestimmten Gegend nicht durch objektive Verhältnisse wie Boden, Klima, Kapitaleinsatz bedingt, sondern „durch die Fähigkeit des Leitenden, durch sein organisatorisches Talent, seinen Willen", auf Betriebs- wie auf Bezirksebene 13 . „Die Ursache des Zurückbleibens besteht meist darin, daß der K o l choz oder Sovchoz eine rückständige Leitung hat. Andere Ursachen gibt es unter den Bedingungen des sozialistischen Wirtschaftssystems nicht 1 4 ." Ganz besonders i n der Landwirtschaft machte sich dieser „Glaube an die Möglichkeiten der Auswechselung von Kadern" als Allheilmittel 11

Antipov, S. 130. Chruëèev, V I , S. 26 (17.10.1961). Ebenda, S. 102 (16.11.1961). 14 Ebenda, S. 116 (16.11.1961); ähnlich schon am 26.12.1957, Chruèôev , I I , S. 497. 12

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

bemerkbar, der gekoppelt war m i t dem Glauben an „die detailliertesten, wissenschaftlichsten Systeme von Produktionsnormen und an ein straffes System der material-technischen Versorgung" 1 5 . Infolgedessen regnete es auf Kolchozvorsitzende und Sovchozdirektoren mehr Rügen und Strafen als auf sonstige Betriebsleiter i m Sowjetsystem 16 . Auch unter den sowjetischen Wirtschaftswissenschaftlern wissen die klarsehenden: „Eine solche Auffassung von den Ursachen der i n der Wirtschaft auftauchenden unerwünschten Erscheinungen leidet daran, daß sie die Bedeutung der Normensysteme überschätzt, offenkundig die Rolle des administrativen Faktors für den zu erreichenden Erfolg übertreibt und gar keinen Raum läßt für die Berücksichtigung und Untersuchung des Wirkens objektiver Kategorien, die auf den ganzen Gang der Entwicklung der sozialistischen Ökonomik ihren Einfluß ausüben 17 ." Aber es geht hier nicht darum, Chruâcevs „ L o g i k " zu widerlegen, sondern zu zeigen, wohin es i n einem System wie dem sowjetischen führen mußte, wenn die übergeordneten Partei- und Staatsorgane ebenso wie die Leiter von Agrarbetrieben persönlich für Erfolg oder Mißerfolg der Betriebe i n der Planerfüllung verantwortlich gemacht wurden, ohne Rücksicht auf objektive Schwierigkeiten. Nach Chruscevs Sturz hat der Erste Stellvertretende Ministerpräsident der Russischen Unionsrepublik die praktischen Folgen geschildert: „ I n einigen Landbezirken der RSFSR gibt es leider i n der Leitung der Kolchoze und Sovchoze immer noch das zweifelhafte Erbe der Vergangenheit — Administriererei (einer der schlimmsten Fehler i n der Leitung der Landwirtschaft) und eine Atmosphäre des Druckausübens und des Aufzwingens von Schablonen, der respektlosen Einstellung zur Meinung der Fachleute; das hat sich noch nicht überlebt. Bis heute ist es den Betrieben nicht erlaubt, ohne Zustimmung der Provinzen Vieh, insbesondere Kühe, auszumustern, die Betriebsleiter und Fachkräfte sind i n der Auswahl der Sorten verschiedener landwirtschaftlicher K u l t u r e n gebunden, auch i n der Auswahl der Viehrassen. Es heißt, man dürfe keine anderen als die für das Gebiet approbierten Sorten ansäen und kein Vieh halten, das nicht i m Plan der für das Gebiet approbierten Rassen vorgesehen ist (wobei der Plan schon vor zwanzig Jahren i n K r a f t gesetzt wurde), man zwingt ihnen die Saatzeiten auf, zwingt ihnen Anbaumethoden auf, die nicht unter den Bedingungen des Betriebs erprobt wurden, verbietet den Kolchozen und Sovchozen, ihre überplanmäßige Produktion zu verkaufen [d. h. 15 16 17

Lisickin: Plan i rynok, S. 5. Volkov/Lisiökin, S. 172. Lisiökin: Plan i rynok, S. 6.

1. Stellung i m Gesamtrahmen des sowjetischen A g r a r s y s t e m s 1 5 9

auf dem freien M a r k t oder direkt an staatliche Verbraucher], zwingt gelegentlich den Betrieben, besonders den Sovchozen, unnötige Maschinen und gewisse Arten von Düngemiteln auf. Die Bauorganisationen, zum Beispiel, lehnen es ab, örtliche Baumaterialien wie Holz, Ziegel- und Bruchstein zu verwenden. I n Waldgebieten hat man angefangen, Viehställe aus Eisenbeton zu bauen, die fünf- bis sechsmal teurer [als hölzerne] sind. Das hat bis i n die jüngste Zeit angedauert 18 ." I n einzelnen Fällen ging die Bevormundung noch weiter: Es kam vor, daß eine Provinzverwaltung für einen Kolchoz Bestellungen vornahm, von denen dieser gar nichts wußte; daß sämtliche Ernennungen und A b setzungen bei Stellen von auch nur einiger Bedeutung i m Betrieb nicht von dessen Leitung vorgenommen wurden, sondern von der Bezirksproduktionsverwaltung, daß diese auch über den Urlaub der Kolchozvorsitzenden entschied und — fast schon selbstverständlich — bis ins einzelne über die Ansaatpläne. „ U n d solche Tatsachen waren bis i n die letzte Zeit leider nicht vereinzelt 1 9 ." Bei alledem bestanden die Einmischungen der Behörden oft i n sinnlosen Detailvorschriften, umfangreichem Schriftverkehr, wie Chrusöev sie i n seiner Rede vom 12. März 1963 gegeißelt hat 2 0 , und i n „Kritisieren und Schimpfen" anstatt sachkundigen Verbesserungsvorschlägen, so daß manche Betriebsleiter völlig den M u t verloren und eigenes Handeln verlernten 2 1 . I m Mißerntejahr 1963 wurde i n der Ukraine von einem Bezirks-Parteikomitee den Kolchozvorsitzenden kurzerhand verboten, mehr als ein Pfund Weizen pro Arbeitseinheit zu bezahlen 22 , und das dürfte kaum ein Einzelfall gewesen sein. Charakteristisch waren unter solchen Verhältnissen die Inspektoren und Bevollmächtigten der Bezirksleitungen, die besonders für wirtschaftlich schwache Kolchoze eine wahre „Pest" waren 2 3 . Sie kamen alljährlich bereits zur Saatzeit i n hellen Scharen i n die Kolchoze 24 und sahen ihre Aufgabe vor allem darin, „Dampf zu machen, die Schrauben anzuziehen, i n Trab zu bringen, Ordnung zu schaffen" (nazat', zazat', zakrutit', regul'nut') 25 . Die weitgehende Leitungs- und Aufsichtsfunktion der MaschinenTraktoren-Stationen gegenüber den Kolchozen war 1953—54 zunächst 18

K. G. Pysin, i n : Plenum (1965), S. 50. Dem'janenko: Soverâenstvovanie, S. 33. 20 Chruëëev, V I I , S. 441—445; s. auch Κ. Orlovskij: Kolchozy — skola k o m munizma d l j a krest'janstva, i n : Kommunist, 11/1961, S. 107; Tagebuch von I . A. Jachimovià, i n : Koms. pravda, 30.10.1964; P. V. Korobejnikov: Opirajas' na perviönye organizacii, na kommunistov, i n : Rajonnoe zveno, S. 37. 21 Chruëëev, V I I , S. 439. 22 Stadnjuk , 9, S. 10, 24. 23 V. Tendrjakov: Konöina, i n : Moskva, 3/1968, S. 92. 24 D. D. Bojko: Krepkie korni, i n : Rajonnoe zveno, S. 18 f. 25 VI. Voronov, S. 4; s. auch V. Ivanov: Fakty, S. 6. 19

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

verstärkt worden, natürlich unter M i t w i r k u n g der Bezirksbehörden, besonders der Bezirks-Parteikomitees 26 . Bei der Auflösung der MTS (1958) wies Chruscev die neue Richtung m i t den Worten: „Die Rolle der Bezirksorganisationen [der Partei] i n der Leitung der Kolchoze gewinnt jetzt noch mehr an Bedeutung 2 7 ." Es waren nun die Bezirks-Parteikomitees, die ziemlich direkt die Herrschaft über die Kolchoze ausübten, Betriebsleiter bestrafen oder absetzen konnten und das auch häufig taten 2 8 , obwohl diese ihnen formell gar nicht unterstanden. Die gewählten staatlichen Organe auf Bezirksebene, die Bezirkssowjets und deren Dienststellen, hatten fast keinen Einfluß auf die Agrarbetriebe 2 9 . Der Bezirks-Parteisekretär war auf dem Lande das eigentliche „Haupt des Bezirks" 3 0 . Während des kurzen Intermezzos der Inspektorate für A u f kauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse (1961/62) stellten diese Inspekteure eine zusätzliche Instanz dar, die i n der Praxis weitgehende Weisungsbefugnise gegenüber den Betriebsleitern hatte, und hielten sich auch oft i n den Betrieben auf 3 1 . Gegen Ende der Regierungszeit Chrusfcevs waren die Kolchozvorsitzenden fast nur noch Befehlsempfänger der 1962 i m Zuge der Verwaltungsreform entstandenen Territorialen Produktionsverwaltungen 32 , deren „Inspektoren-Organisatoren" ebenfalls einen großen Teil ihrer Zeit unmittelbar in den Betrieben wirken sollten 3 2 3 . Nach Chruscevs Absetzung wurde i m wesentlichen, wenn auch nicht ganz, der administrative Rahmen von vorher i m Partei- wie i m Staatsbereich wieder hergestellt 33 . Die damals entstandene Situation der Kolchoze wurde schlaglichtartig beleuchtet, als der sowjetische Jurist Α. A. Ruskol sich später dafür einsetzte, daß man für das Verhältnis des Staates zu den Kolchozen nicht mehr den Begriff „Verwaltung" (upravlenie) verwenden, sondern zu dem Wort „Leitung" (rukovodstvo) zurückkehren solle, weil die Kolchoze, wenn sie von oben verwaltet würden, nicht als selbständige Wirtschaftsorgane auftreten könnten 3 4 . M i t der Unterscheidung zwischen „Leitung" und „Verwaltung" sollte auch der Unterschied zu den Sovchozen deutlich 26

Alee Nove : Die Agrarwirtschaft, i n : Osteuropa-Handbuch, S. 356 f. ChruSèev, I I I , S. 152 (27. 3.1958). 28 L. Novikov, i n : Sz 25. 4.1965, S. 2. 29 Savenkov: Ο povysenii, S. 13 f. 30 So die Bezeichnung i n Sz 2.11.1960, S. 4 (nach Hough , S. 230). 31 Karcz: Soviet Inspectorates, insb. S. 158,162. 32 Über diese ChruScev, V I , S. 397—422 (5. 3.1962); Text der entsprechenden V O des Z K d. K P d S U u n d des M R d. UdSSR v o m 22. 3.1962 „ O perestrojke upravlenija sel'skim chozjajstvom", i n : Spravoènik part, rab., vyp. 4, S. 321— 331; s. dazu Meissner: Verwaltungsreform, S. 81—107; Bilinsky: Aktuelle, S. 61 f., 65 ; Laird: Reformen, S. 394—398. 32a Pavlov: Razvitie, S. 155. 33 Vgl. Meissner: Chruschtschowismus, S. 149, 161 f.; Bilinsky: Aktuelle, S. 65 f.; V O des Z K d. K P d S U u n d M R d. UdSSR v o m 1.3.1965, i n : Spravocnik part, rab., vyp. 6, S. 163 ; dazu Syrodoev, S. 22—24. 34 Laut Baëmakov: Teoretiöeskaja konfereneija, S. 52. 27

1. Stellung i m Gesamtrahmen des sowjetischen Agrarsystems

161

gemacht werden, die als Staatsbetriebe eben unter staatlicher „Verwaltung" (upravlenie) stehen 35 . Die Umorganisation der ländlichen Verwaltung i m Jahr 1962 hatte diesen Unterschied faktisch aufgehoben und war von manchen sowjetischen Autoren so interpretiert worden, daß nun „die Methode der Vorschriften, der bindenden Befehle" auch auf die K o l choze anzuwenden sei 3e . „Es kann nicht überraschen, daß i n der Vorstellung der Bauern nicht die Kolchoze selbst und die von ihnen gebildeten Organe die Wirtschaft führten, sondern die übergeordneten Organe der staatlichen Verwaltung: die Inspektionen, Verwaltungen, Kommissionen usw. [ . . . ] Das kann man nicht nur den örtlichen Funktionären zum V o r w u r f machen, von denen angeblich alles Übel ausging. Es liegt alles an dem System der Leitung, das i n der Landwirtschaft bestand 37 ." Die Position eines Sovchozdirektors gegenüber den staatlichen Dienststellen war durch die Stellung und Funktion seines Betriebes fixiert: Er war gleichsam Verwalter einer Abteilung eines „gigantischen Supersovchoz" (der Gesamtheit aller Sovchoze), der seinerseits wieder Teil eines „Superkombinats", nämlich aller i n Staatsbesitz befindlichen, den allergrößten Teil der ganzen sowjetischen Volkswirtschaft ausmachenden Betriebe war: „So, wie der Leiter einer Abteilung des Sovchoz i m Hinblick auf seine Brigade und die ihr zugewiesenen Vermögenswerte nicht selbständig, ohne Wissen des Direktors, derartige Fragen [als Beispiele hatte der Autor zuvor genannt: Bau eines Kuhstalls oder eines Kindergartens, Verkauf der Erzeugnisse, Kauf und Verkauf technischer Ausrüstung, Personalfragen] entscheiden kann, befinden sich der Sovchozdirektor und sein Kollektiv i n genau der gleichen Abhängigkeit von der zentralen Leitung jenes Superbetriebes, von dem dieser Sovchoz ein Teil ist 3 8 ." „Der Staat teilt ihnen das Investitionskapital zu, setzt die Pläne für Ablieferung der Erzeugnisse und die Höhe der Preise fest, bestimmt den Lohnfonds und sogar den zahlenmäßigen Bestand und die Kategorien von Arbeitern und Verwaltungs- und Dienstleistungspersonal. Verluste, die i n den Sovchozen entstehen, werden ebenfalls durch den Staat gedeckt 39 ." Der Direktor eines Sovchoz war „durch verschiedene Instruktionen, Ordnungen, Normative [ = Planstellenschlüssel]" gebunden, die „bis35 36 37 38 39

11

s. auch den Hinweis von M. I. Kozyr', ebenda. Dem'janenko: Soversenstvovanie, S. 32. Dem'janenko: Sover§enstvovanie, S. 33. Lisickin: Gektary, S. 214. L. I. BreZnev, i n : Plenum (1965), S. 28. Wädekin

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

weilen lebensfremd sind und nicht die Besonderheiten der Betriebe berücksichtigen", er hatte einfach Instruktionen auszuführen 40 . Grundsätzlich galt diese Charakteristik für alle Leiter staatseigener sowjetischer Betriebe, aber i m Agrarsektor hatte sie aus zwei Gründen etwas Auffallendes. Erstens fügte sich die Landwirtschaft m i t ihrer starken Abhängigkeit von Naturbedingungen und auch von menschlichen Faktoren besonders schlecht i n ein so straffes Leitungs- und Planungssystem ein; die vergangenen Jahrzehnte hatten das zur Genüge gezeigt. Zweitens stellte der überwiegende Teil der sowjetischen Agrarbetriebe, die Kolchoze, eine bedeutsame Ausnahme i m allgemeinen System der sowjetischen Staatswirtschaft dar und ließ seinerseits die Sovchoze i m agrarischen Bereich fast wie eine Ausnahme erscheinen. Aus dieser institutionellen Regelung ergab sich die Stellung des Sovchozdirektors i n seinem Verhältnis sowohl zu übergeordneten Stellen wie zu seinen Untergebenen. Ob sie i n der Lebenspraxis immer so eindeutig und klar war, ist eine andere, hier zu untersuchende Frage. Sowjetische Publikationen geben darüber sehr wenig Aufschlüsse, wahrscheinlich w e i l man die Stellung der Sovchozdirektoren für weniger problematisch hielt als die der Kolchozvorsitzenden. I m westlichen Schrifttum findet sich darüber, wie überhaupt über die Sovchoze, ebenfalls sehr wenig, „eher aus Mangel an Informationen, denn aus gewollter Vernachlässigung der Sovchoze" 41 . Doch hat Bilinsky i m wesentlichen recht, wenn er i n der Stellung der beiden Arten von Betriebsleitern faktisch kaum Unterschiede sieht und meint, die Kolchozvorsitzenden seien „auf eine besondere A r t und Weise berufene Staatsfunktionäre, die sich i n dieser Eigenschaft von den Direktoren der Sovchoze kaum unterscheiden" 42 . Ein Sovchozdirektor schien einerseits der Sovchoze-Verwaltung (dem Verwaltungsystem aller Sovchoze) eindeutig und straff eingegliedert zu sein, andererseits i m Rahmen seiner ausführenden Funktion Herr i n seinem Betrieb, der auch seine Fach- und Führungskräfte selber einoder absetzte, m i t Ausnahme der sag. Chef-Spezialisten (s. unten, S. 254). Natürlich wurde er selbst, wie alle Leiter staatseigener sowjetischer Betriebe, nicht gewählt, sondern von der übergeordneten Verwaltung eingesetzt, und ebenso selbstverständlich hatte die Partei dabei ein wichtiges Wort mitzureden. Aber letzteres unterschied ihn weder von den Kolchozvorsitzenden noch von anderen Betriebsleitern. Von Bedeutung war aber, daß der Staat die Sovchoze nicht seinen örtlichen Verwaltungsorganen unterstellt hatte, sondern für sie eine eigene 40

N. Razlivanov, i n : Sz 18.1.1967, S. 3. So Alee Nove: Peasants and Officials, i n : Karcz , ed., S. 62; zwei der ganz wenigen Ausnahmen sind Ballard: Problems, u n d Zoerb. 42 Bilinsky: Aktuelle, S. 79; s. auch ebenda, S. 76. 41

1. Stellung i m Gesamtrahmen des sowjetischen Agrarsystems

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Verwaltungsbehörde besaß, m i t einem Instanzenweg von der Zentrale bis hinunter zum Einzelbetrieb. Die Befehlshierarchie war anders strukturiert als bei den Kolchozen, gewährte aber, entgegen Bilinskys A n nahme 43 , wohl kaum größere Entscheidungsbefugnisse auf Betriebsebene. Allerdings war diese Verwaltungsstruktur häufigen Veränderungen unterworfen und nicht immer gleichmäßig straff 4 4 . Über die Sovchoze hatte Chruscev am 5. Februar 1954 gesagt: „ I n den Sovchozen w i r d alles durch Direktiven vorgesehen, die von oben, aus dem Ministerium [der Sovchoze] kommen. Alles, was man i n den Kanzleien des Ministeriums und seiner Verwaltungen schrieb und hinunter an die [betreffenden] Stellen schickte, mußten die i n den Sovchozen Tätigen unbedingt ausführen, i n die Tat umsetzen 45 ." Das daraus vielenorts entstandene Verhältnis der provinzialen A d m i nistration und sogar der Provinz-Parteidiensstellen zu den Sovchozen umriß er ein Jahr später m i t den Worten: „Einige Sekretäre von Provinzkomitees der Partei und andere Leiter von Organisationen auf Provinzebene betrachten die Sovchoze als eine A r t von Konzessionen. Sie denken etwa so: Unsere Sache ist es, die Kolchoze zu leiten, m i t den Sovchozen aber soll sich das SovchozeMinisterium befassen 46 ." Einen Bezirksparteisekretär ließ der Publizist Vinniëenko einige Jahre später sogar das Wort „votcina" gebrauchen, womit man einst die Erbgüter (zum Unterschied von den Dienstgütern) des Adels und auch die Teilfürstentümer bezeichnete. Er sagte: „ I n der Vergangenheit haben w i r — ich spreche von uns, den leitenden Funktionären des Bezirks — uns ja m i t den Sovchozen fast gar nicht befaßt. Unsere ganze Aufmerksamkeit war auf die Kolchoze konzentriert. W i r meinten, die Sovchoze seien sozusagen die votcina des Landwirtschaftsministeriums 47 ." (Zu der Zeit gab es kein spezielles Sovchoze-Ministerium mehr, sondern eine Abteilung für Sovchoze i m Landwirtschaftsministerium.) Aber zeitweise und i n bestimmten Landesteilen, wahrscheinlich besonders dort, wo es viele Sovchoze gab, scheinen die Bezirks-Parteistellen doch starken Einfluß auf die Sovchoze ihres Bereichs gehabt zu haben 48 . 43

Bilinsky: Aktuelle, S. 47. Ballard: Problems, S. 341/342. 45 Chruëëev , I, S. 161. 46 Chruëëev , I I , S. 87 (7. 4.1955). 47 I. Vinnicenko: Duma, S. 129. 48 Vgl. Ballard: Problems, S. 344 f.; e i n neueres Beispiel aus der A l t a i - P r o vinz bei V. T. Christenko: Glavnoe — rasstanovka i vospitanie kadrov, i n : Rajonnoe zveno, S. 72. 44

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

Eine neue Entwicklung bahnte sich 1961 an mit der Schaffung des Staatskomitees für Aufkauf und Ablieferung und seiner Organe 49 , vollends aber m i t der Verwaltungsreform von 1962 (s. oben). Sie war von Anfang an unter anderem darauf angelegt, i n den Wirkungsbereich der sog. Territorialen Produktionsverwaltungen sowohl die Sovchoze wie die Kolchoze einzubeziehen, also die besondere, exempte Stellung der Sovchoze auf lokaler Ebene weitgehend aufzuheben 50 . Zugleich wurde mit den neuen Instanzen, die ausdrücklich territoriale „Kolchoz-Sovchoz"oder „Sovchoz-Kolchoz"-Verwaltungen benannt wurden, eine untere Einheit geschaffen, die zwar unter der Provinzebene, aber über den Bezirken stand, indem sie mehrere von diesen umfaßte; die Sovchoze wurden also nicht den alten Bezirken unterstellt 5 1 . Die neue Verwaltungseinheit übernahm die Befugnisse der Bezirke gegenüber den Agrarbetrieben und hatte eine besonders starke Stellung dadurch, daß sie sowohl Staats- wie auch Parteifunktionen i n sich vereinte 5 2 . Sie erhielt auch den Sovchozen gegenüber Befugnisse 53 . Offenbar eine A r t Gegenwirkung zwecks Wiederherstellung der Sonderstellung wenigstens eines Teils der Sovchoze war der „Prozeß ständiger Überführung einer Anzahl von Sovchozen i n direkte Kompetenz der Unionsrepubliken oder sogar der Gesamtunion durch ihren Zusammenschluß i n entsprechende unionsrepublikanische Trusts der Sovchoze oder durch ihre unmittelbare Unterstellung unter die Landwirtschaftsministerien der Unionsrepubliken oder der Gesamtunion" 54 . I n welchem Umfang es auf solche Weise gelang, die Sovchoze der beabsichtigten Unterstellung unter die örtlichen Organe (nunmehr Territoriale Produktionsverwaltungen) zu entziehen, läßt sich nicht abschätzen. Es ist auch nicht von großer Bedeutung, da diese Verwaltungseinheit nach Chruscevs Absetzung nur noch rudimentär und auf der wiederhergestellten Bezirksebene erhalten blieb und auf höherer Ebene die alten einheitlichen Parteiorgane wieder hergestellt wurden (s. oben). Die Sovchozdirektoren bzw. ihre Posten hatten vor 1962 ohnehin i n der „Nomenklatur" höherer Parteiorgane, zum Teil w o h l sogar der Unionsrepubliken, gestanden 55 , und sie dürften auch 1962—64 kaum i n die „Nomenklatur" niedrigerer Organe übergeben worden sein. 49

s. darüber Karcz: Soviet Inspectorates, S. 149—172. Vgl. ChruSöevs Rede v o m 27. 3.1962, Chruëëev, V I I , S. 5; s. auch seine Z u schrift an das Z K - P r ä s i d i u m v o m 10.11.1962, ebenda, S. 299. 51 Vgl. Ballard: Problems, S. 345. 52 Meissner, Verwaltungsreform, S. 87, 93—95; Bilinsky: Aktuelle, S. 61 f. 53 Novoe ν izuöenii, S. 5. 54 Kljukin, S. 45. 55 Lewytzky: Nomenklatur, S. 409. — Es ist wenig wahrscheinlich, daß, wie Ballard: Problems, S. 345, annimmt, auch auf Bezirksebene über E i n - u n d A b setzung von Sovchozdirektoren entschieden werden konnte. 50

1. Stellung i m Gesamtrahmen des sowjetischen Agrarsystems

165

Kennzeichnend war, von diesem i n seinen tatsächlichen Auswirkungen nicht klar überschaubaren Zwischenspiel abgesehen, die institutionelle Abhängigkeit der Sovchozdirektoren von ihren Vorgesetzten i n der Sovchoze-Verwaltung, die ihnen Detailanweisungen geben konnten, auch gegen die bessere Einsicht der Direktoren und ihrer betrieblichen Fachkräfte 5 6 . Bezeichnend dafür, wie das Volk über die praktische Auswirkung dachte, ist ein sowjetischer Witz über die Position der Direktoren i m allgemeinen. A. JaSin läßt i h n durch eine seiner literarischen, aber erklärtermaßen aus dem Leben gegriffenen Gestalten erzählen: „ E i n Ausländer prahlte m i t seiner bewundernswerten Technik. ,Seht', sagte er, ,was man bei uns fertigbringt. Da ist, zum Beispiel, ein Huhn' — Len'ka öffnete vor der Nase des Direktors der Leinenfabrik die Faust zur Hand und blies darauf: ,Pfff — und anstelle des Huhns ist da ein Ei. Pfff — und es ist wieder ein Huhn.' Unserem [sowjetischen] Ingenieur ging das gegen den Strich, und er sagte: ,Was soll das schon für ein Wunder sein! Bei uns bringt man noch ganz anderes fertig/ — Len'ka öffnete wieder die Faust zur flachen Hand: ,Hier, sagen w i r , ist ein Direktor! . . . Pfff — ein Stückchen Mist. Pfff — und es ist wieder ein Direktor 5 7 . 4 " Es darf als allgemein anerkannt gelten, daß derartige Witze stets einen charakteristischen Zug der Wirklichkeit widerspiegeln, i h n allerdings oft karikierend übertreiben. Dieser hier erscheint aber hinsichtlich der Sovchozdirektoren kaum noch als Übertreibung, wenn man daneben die Mitteilung Chrusfcevs hält, daß i n drei Provinzen des Neulandgebietes von Kazachstan innerhalb dreier Jahre — anscheinend 1958 bis 1960 — 78 % aller Sovchozdirektoren ausgewechselt wurden 5 8 . Außerhalb der Neulandgebiete dürfte der Sachverhalt nicht ganz so kraß gewesen sein, aber i m Sovchoz-Sektor nahm gerade das Neuland eine beherrschende Stellung ein, i n i h m befanden sich besonders viele und große Sovchoze, es war also nicht ein Grenzfall. Und auch aus einem Sovchoz i n einem anderen Landesteil (Provinz Stavropol') wurden für Mitte der 1950er Jahre folgende an einen neuen Sovchozdirektor gerichtete Worte mitgeteilt: „Vor Ihrer A n k u n f t wechselten hier i n zwei Jahren zwölf Direktoren. Bei uns halten sich die Chefs nicht 5 9 ." (Der neue Direktor hielt sich dann allerdings bis i n die Gegenwart.) ChrusSev sagte i m Zusammenhang mit den Verhältnissen i m Neulandgebiet: „ M a n darf nicht zulassen, daß die Direktoren und Spezialisten bei jedem A n laß abgesetzt und versetzt werden, daß man sie bevormundet und wegen 56 57 58 δβ

Vgl. Ballard: Problems, S. 342 ff. JaSin: Vologodskaja svad'ba, S. 17. Chruscev , V, S. 344 (31. 3.1961); s. auch Dunn & Dunn: The Peasants, S. 89. V. Filipenko, i n : Sz 26.1.1967, S. 1.

166

V. Die Leiter der Agrarbetriebe

Kleinigkeiten piesackt 60 ." Aber er wandte sich auch dagegen, daß gute und erfolgreiche Sovchozdirektoren aus ihren Betrieben weggeholt und i n höhere Posten auf Bezirks- oder Provinzebene versetzt wurden 6 1 . Auch i n solchem Aufstieg konnte es sich also auswirken, daß die Sovchozdirektoren Staatsangestellte waren, und mancher von ihnen dürfte nur zu gern auf diese Weise dem Dorfleben entkommen sein 62 . Lag aber i n alledem ein praktisch wesentlicher Unterschied zur Stellung der Kolchozvorsitzenden? Auch Kolchozvorsitzende wurden ja i n großer Zahl von übergeordneten Behörden ein- oder abgesetzt (s. unten, S. 179), auch sie wurden i n ihrer Tätigkeit als Betriebsleiter durch zahllose Anweisungen (die meistens nur nicht die Bezeichnung „Instruktionen" trugen) gegängelt und kontrolliert. Und auch beim Sovchozdirektor gab es neben der Sovchoze-Verwaltung noch zahlreiche andere Dieststellen, die i h m i n seine Betriebsführung hineinredeten 63 , bei i h m dürfte es ebenso wie beim Kolchozvorsitzenden i n der Praxis wesentlich darauf angekommen sein, wie er sich m i t übergeordneten Funktionären zu stellen vermochte — nicht selten nach dem Prinzip: Eine Hand wäscht die andere 64 . Von seinen Fähigkeiten und seiner Persönlichkeit dürfte es oft abgehangen haben, i n welchem Grade er die betrieblichen Erfordernisse und seine persönlichen Auffassungen i m Rahmen des „Supersovchoz" (s. oben) zur Geltung bringen bzw. dort den Segen für geplante Maßnahmen erhalten konnte. (Vielleicht führte er sie manchmal sogar eigenmächtig durch und verheimlichte sie oder verschaffte sich nachträglich die Billigung der Vorgesetzten.) Das ist i n jeder zentralistischen Organisation denkbar, und auch das KolchozSystem war straffer zentralisiert, als es scheinen mochte. Freilich dürfte es seltener vorgekommen sein, daß erfolgreiche Kolchozvorsitzende i n die Staats- oder Parteihierarchie aufrückten, weil keine direkte Verbindung zu dieser Stufenleiter bestand. Aber zu Beginn der 1960er Jahre wurden auch solche Fälle gemeldet, allerdings i n ablehnendem Sinne 6 4 3 . Die wesentlicheren Unterschiede lagen i m Finanzierungs- und Absatzsystem: Der Sovchoz hatte kein Betriebsrisiko zu tragen wie der K o l choz, die Absatzpreise und die Kosten von Anschaffungen spielten für i h n eine untergeordnete Rolle, alles war geplant, auch Betriebsverluste (s. oben). Das mußte wesentliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation der Sovchoze und auf das Verhalten ihrer Leiter als Ökonomen haben. Es konnte i n den Sovchozdirektoren die „Neigung zum Existie60

ChruSöev, a.a.O. Ebenda, S. 345. 62 Vgl. Ballard: Problems, S. 343. 63 O. Pavlov , i n : Izvestija, 28.1.1968, S. 3. 64 Vgl. Ballard: Problems, S. 343; s. auch Laird : Observations, S. 293. e4a Pavlov : Razvitie, S. 162 f. 61

2. Zahlen und H e r k u n f t der Betriebsleiter

167

ren auf Kosten anderer" [izdivenSeskaja strunka] 6 5 erzeugen, sie zu bürokratischen Verwaltern anstatt Betriebswirten machen, aber ihre Stellung i m politisch-sozialen Gesamtsystem berührte es nicht direkt. Die Abhängigkeit als solche vom Staat als dem allein über die w i r t schaftlichen Hilfsquellen Verfügenden war ohnehin i n den Sovchozen institutionell und i n den Kolchozen praktisch gegeben. 2. Z a h l e n und H e r k u n f t der Betriebsleiter

Wie groß die Zahl der Kolchoze, Sovchoze und anderen Agrarbetriebe der Sowjetunion zur Zeit der Volkszählung war, läßt sich nicht genau angeben, weil i n jenen Monaten starke Veränderungen durch Betriebszusammenlegungen, Umwandlungen von Kolchozen i n Sovchoze und wahrscheinlich auch Entstehung ganz neuer Sovchoze i m Gang waren. Gezählt wurden zum 15. Januar 195966 insgesamt 179 744 „Leiter landwirtschaftlicher Betriebe und ihrer strukturellen Unterabteilungen", darunter Direktoren, Chefs u n d Leiter von Betrieben 42 882 Chefs von produktionstechnischen Abteilungen, Sektoren, Gruppen, Büros 957 Leiter von Betriebsabteilungen, Werkstätten usw. (darunter ca. 20 000 Sovchoz-Abteilungsleiter)® 7 34 395 Kolchozvorsitzende u n d deren Stellvertreter (darunter 32 000 bis 34 000 Stellvertreter) 6 8 101 291

A n Sovchozen gab es 6 002 Ende 1958 und 6 496 ein Jahr später 69 . Bei der Vielzahl sonstiger staatlicher Agrarbetriebe, die oft sehr klein — Fabrikkantinen oder Kommunalbetrieben beigegeben — sind 7 0 , w u r den offensichtlich deren Leiter nicht alle als echte Betriebsleiter betrachtet. Die Zahl solcher Betriebe war nämlich m i t 107 894 zum Jahresende 1958 71 fast dreimal so groß wie die zum 15. Janaur 1959 genannte 65

N. Razlivanov, i n : Sz 18.1.1967, S. 3; s. auch O. Pavlov, a.a.O. Itogi, Tab. 44. — Die Umorganisationen erfolgten meist i n den W i n t e r monaten, w e i l während der landwirtschaftlichen Saison der Produktionsprozeß noch mehr gestört worden wäre. 67 Die Z a h l der Sovchoz-Abteilungsleiter ist eine grobe Schätzung anhand der Z a h l von 1963 (s. unten, Tab. 6) u n d der allgemeinen Entwicklung der Sovchoze. 68 Die Z a h l der Stellv. Kolchozvorsitzenden ist geschätzt auf G r u n d der Z a h l der landw. Kolchoze zum Jahresende (67 681, Sei. choz., S. 51), der die Z a h l der Vorsitzenden etwa entsprochen haben muß, u n d der Differenz zur Z a h l der Volkszählung, die die Stellvertreter m i t einschließt. 69 Sei. choz., S. 47. 70 Vgl. Wädekin: Die Expansion, S. 2. 71 Sei. choz., S. 47 (durch Subtraktion der Sovchoze errechnet). 66

V. Die Leiter der Agrarbetriebe

168

Zahl von Direktoren und Leitern staatlicher Agrarbetriebe (außer Sovchoze, vgl. oben). I n der obigen ersten Rubrik können also nur Leiter größerer Betriebe oder Betriebsteile enthalten sein. Aussagen lassen sich nur über die Kolchozvorsitzenden und deren hauptamtliche Stellvertreter, über die Sovchozdirektoren und deren Abteilungsleiter machen, insgesamt rund 140 000, und auch dabei recht wenig über die Stellvertreter und Abteilungsleiter. Über die restlichen Leiter von landwirtschaftlichen Betrieben, Ableitungen, Werkstätten usw. sind keine Feststellungen möglich. Die Zahlen der erstgenannten vier Gruppen entwickelten sich über die Zeit von Stalins Tod bis zur Absetzung Chruscevs wie folgt: Tabelle 6: Vorsitzende von landwirtschaftlichen Kolchozen and deren hauptamtliche Stellvertreter sowie Direktoren und Abteilungsleiter von Sovchozen, 1953—1965 (in Klammern: Zahlen der entsprechenden Betriebe zum Jahresende)

Ende 1953 1.12.1956 Ende 1957 1. 4.1959 1. 4.1961 1. 4.1963 1. 4.1965

Vorsitzende von landw. Kolchozen

deren h a u p t amtl. Stellvertreter

(91177)*) 83 100C) 76 500 e ) 58 704*) 41 550h) 39 012D 37 427k)

33 900 c ) 29 000 e ) 29 435*) 24 261h) 16 274i) 13 259k)

.

Sovchozdirektoren

SovchozAbteilungsleiter

(4857)b) (5134)Φ (5098)*) (6002)g> (7375)6) 8299 3) 10 475 1)

30 816i) 33 5151)

Quellen: a) Sei. choz., S. 51. — b) Sei. choz., S. 47. — c) DostiZenija, S. 192. — d) Nar. choz. 1956, S. 147. — e) SSSR ν cifrach, Moskau 1958, S. 232. — f) Sei. choz., S. 470 f. — g) Nar. choz. 1962, S. 357. — h) Nar. choz. 1960, S. 525. — i) Nar. choz. 1962, S. 372. — j) Nar. choz. 1962, S. 374. — k) Nar. choz. 1964, S. 423. — 1) Nar. choz. 1964, S. 425.

Die Zahlen der Kolchozvorsitzenden bzw. von deren Stellvertretern nahmen also ziemlich rasch ab, die der Sovchozdirektoren zu, jedoch nicht entfernt i m entsprechenden Ausmaß, w e i l die aus Kolchozen entstehenden Sovchoze i n der Regel mehrere ehemalige Kolchoze umfaßten, manche Kolchoze auch einfach bestehenden Sovchozen oder Kolchozen eingegliedert wurden 7 2 . Viele ehemalige Kolchozvorsitzende sind offenbar zu Stellvertretern oder Brigadieren oder auch zu Abteilungsleitern i n Sovchozen geworden. M i t den schwindenden Zahlen der Kolchozvorsitzenden stiegen bei ihnen die Prozentsätze der Parteimitglieder und derer, die eine Hochschul- oder mittlere Fachschulbildung hatten: 72

Vgl. Wädekin: Die Expansion, S. 15.

2. Zahlen und H e r k u n f t der Betriebsleiter

169

Tabelle 7: Parteimitgliedschaft und Ausbildung von Kolchoz-Betriebsleitern Parteimitglieder Hochschul- oder mittlere Fachschulbildung (incl. Kandidaten) i n Prozent der i n Prozent der „ , hauptamtl. Kolchozvorstellvertr. sitzenden suzenaen Kolchozvors. 1. 7.1953 1.12.1956 Ende 1957 1. 4.1959 1. 4.1960 1. 4.1961 1. 4.1963 1. 4.1965

79,6% 91 % 91,3 % 93,5% 95,3% · · ·

ca. 20 % 33 % 36 % 50,4% 55,6% 58,4% 63,3% 67,3%

22,4% 33,8% 40,6%

Quellen: DostiZenija, S. 192 (zum 1.12.1956); SSSR ν cifrach, Moskau 1958, S. 232 (für Ende 1957); Sei. choz., S. 470 f. (Stellvertreter 1. 4. 1959) und S. 475 (Parteimitgliedschaft 1. 7. 1953 und 1. 4.1959); Bildungsgrad zum 1. 7. 1953 geschätzt nach Klassy, S. 181; Nar. choz. 1959, s. 452 (für I960); Nar. choz. 1960, S. 526 (Bildung 1959 und 1961); Nar. choz. 1962, S. 373 (für 1963); Nar. choz. 1964, S. 423 (für 1965); s. auch die Zusammenstellung bei Roy D. Laird: Khrushchev's Administrative Reforms in Agriculture, Karcz, ed., S. 34.

Von den Kolchozvorsitzenden und deren Stellvertretern, zusammengenommen, hatten bei der Volkszählung 29,6% weniger als sieben Schulklassen absolviert 73 . Bei den Sovchozdirektoren und -abteilungsleitern war das Bildungsund Qualifikationsniveau besser: 1954 waren ohne landwirtschaftliche Fachausbildung nur ein D r i t t e l von ihnen, i n der RSFSR 1962 nur 28 °/o 74. 1964 und 1965 besaßen mehr als 90 % der Sovchozdirektoren eine Hochschul- oder mittlere Fachschulbildung, von den Abteilungsleitern aber nur rund 40 % 7 5 . Über die Parteimitgliedschaft sind i n der Statistik keine Angaben gemacht worden (s. aber unten). Die Zahl der Frauen unter den Betriebsleitern war minimal. Anfang 1960 gab es unter insgesamt etwas über 52 000 Kolchozvorsitzenden und Sovchozdirektoren rund tausend weibliche 70 , also ca. 1,9 %. Bei den Kolchozvorsitzenden allein betrug der A n t e i l 1,7 °/o zum Jahresende 195677 (also rund 1400) und ein Jahr später 1,3 °/o 78 (also rund tausend), jedoch zum 1. A p r i l 1961 nur noch 339 79 (also 0,96 °/o). Für spätere Jahre 73

Itogi, Tab. 52. Ballard: Problems, S. 347. Nar. choz. 1962, S. 375; Nar. choz. 1964, S. 426. 76 Ν. I . Tatarinova: Ispol'zovanie zenskogo truda ν narodnom chozjajstve, i n : Trudovye resursy, S. 140; s. auch Dodge: Women, S. 202. 77 Dostizenija, S. 192. 78 SSSR v. cifrach, Moskau 1958, S. 232. 74

75

79

Smelev, S. 123.

170

V. Die Leiter der Agrarbetriebe

sind dem Verfasser keine Angaben bekannt, doch ist ein Wiederansteigen des Frauenanteils wenig wahrscheinlich. Die abnehmende Tendenz seit 1956 erscheint als eine Fortsetzung der Abnahme des Frauenanteils unter den Kolchozvorsitzenden seit dem Zweiten Weltkrieg, als er 1943 m i t 14,2 °/o einen Höhepunkt erreicht hatte, aber 1944 und 1945 bereits wieder absank 80 . Zuerst dürften zurückgekehrte Kriegsinvaliden, dann auch gesunde Demobilisierte zahlreiche Posten als Kolchozvorsitzende erhalten haben. Später, bis i n die 1960er Jahre, kamen auch demobilisierte aktive Offiziere hinzu, eine Personalreserve, auf die Chruscev ausdrücklich hinwies 8 1 . Zugleich dürften bei der Verringerung der Zahl der Kolchoze überwiegend Frauen von den Leitungsposten verdrängt worden sein 82 . Die die Sovchozdirektoren einbeziehende Prozentzahl von 1960 und die Zahlen für die Kolchoze lassen die Schätzung zu, daß der Anteil der Frauen unter den Sovchozdirektoren m i t etwa 8 bis 11 °/o bedeutend höher war als unter den Kolchozvorsitzenden. Aber auch das war nicht viel, und es ist verständlich, daß eine sowjetische Autorin monierte: „Die Herausstellung von Frauen i n leitender Arbeit w i r d i n der Landwirtschaft unbefriedigend verwirklicht 8 3 ." Fast ausschließlich Männer standen also an der Spitze von Kolchozen, und zwar Männer meist mittleren Alters. Von den Vorsitzenden und deren Stellvertretern, zusammengenommen, waren zur Zeit der Volkszählung 76,8 °/o zwischen 30 und 50 Jahren alt (davon der größere Teil 30 bis 40 Jahre), naturgemäß nur wenige (6,1 °/o) unter 30 Jahre, der Rest (17,1 °/o) 50 und mehr Jahre alt 8 4 . Von den 83 100 Kolchozvorsitzenden des Jahresendes 1956 (s. oben, Tab.6) dürfte etwa die Hälfte von außerhalb der Kolchoze, meist von städtischen Arbeitsplätzen gekommen sein, und vermutlich hat sich i n den folgenden Jahren ihr Anteil noch vergrößert, obwohl auch manche wieder abwanderten. Das ergibt sich aus den Zahlen der von außen i n die Kolchoze entsandten Vorsitzenden. Schon 1951/52 war eine A k t i o n i n Gang gesetzt worden, die landwirtschaftliche Fachkräfte — und die gab es damals in den Kolchozen kaum (s. unten, S. 221) — an die Spitzen von Kolchozen bringen sollte und insgesamt 12 000 neue Kolchozvorsitzende dieser A r t aufs Land brachte 85 . Seit 1953 wurden auch andere „Spezialisten" (ζ. B. Ingenieure) oder Parteifunktionäre aus den Städten 80 Arutjunjan: Sovetskoe, S. 289; s. auch die Äußerung eines Bezirks-Parteisekretärs ein halbes Jahr nach Kriegsende bei F. Abramov: Dve zimy i t r i leta, i n : N o v y j m i r , 1/1968, S. 66. 81 ChruSöev, V, S. 136 (2. 3.1961); s. auch Senjavskij, S. 84. 82 Vgl. Norton T. Dodge , Murr ay Feshbach: The Role of Women i n Soviet Agriculture, i n : Karcz, ed., S. 281 f. 83 Tatarinova, a.a.O.; s. auch Dem'janenko: Gosudarstvennoe, S. 18. 84 Itogi, Tab. 42. 85 Laird : Collective Farming, S. 94.

2. Zahlen und H e r k u n f t der Betriebsleiter

171

aufgefordert, eine leitende Tätigkeit i n der Landwirtschaft zu übernehmen bzw. i n sie zurückzukehren 86 . I m Winterhalbjahr 1953/54 w u r den über 100 000 Agronomen und Zootechniker i n die Maschinen-Traktoren-Stationen „zur Bedienung der Kolchoze" entsandt (großenteils aus der unteren Ebene der Agrarverwaltung) und weitere 23 000 Ingenieure aus der Industrie 8 7 . „ N u r aus den örtlichen Funktionären fähige und erfahrene Leiter für alle Kolchoze auszuwählen, ist gegenwärtig i n vielen Parteiorganisationen nicht möglich. Natürlich kann man i n jedem Kolchoz einen Menschen auswählen, der m i t der Zeit ein guter Vorsitzender wird, doch dazu braucht es viel Zeit. Die Zeit aber wartet nicht, w i r müssen i n kurzer Zeit eine starke Steigerung der Agrarproduktion erzielen [.. .] 8 8 ." Die A k t i o n scheint sich auch auf die Sovchoze erstreckt zu haben 89 , doch ist darüber i m Schrifttum nur selten etwas zu finden 90, vermutlich weil die Personalprobleme dort nicht ganz so brennend waren. Zunächst war der Erfolg, wenigstens hinsichtlich der Verbesserung des Bestandes an Kolchozvorsitzenden, nicht befriedigend gewesen 91 . Deshalb trat kurz nach der Absetzung Malenkows Chruscev m i t dem Vorschlag hervor, zusätzlich 30 000 Funktionäre und sonstige Fachleute aus den Städten als Kolchozvorsitzende aufs Land zu schicken, „am besten solche, die selbst den Wunsch aussprechen" 92 . A m 25. März 1955 folgten ein entsprechender Aufruf und eine Ausführungsverordnung des Zentralkomitees und Ministerrats 9 3 . Die 30 000 sollten bis zum 1. J u l i 1955 alle entsandt sein, und sie sollten das als langfristigen A u f trag der Partei betrachten und zusammen m i t ihren Familien ihren Wohnsitz i n die Kolchozdörfer verlegen 94 . Derartige Entsendungen w u r den auch über die A k t i o n dieser sog. „Dreißigtausender" hinaus fort86

Schiller: Der neue Kurs, S. 412. V O des Plenums des Z K d. K P d S U v o m 2.3.1954, i n : D i r e k t i v y , I V , S. 162. — s. auch Chruëcev, I, S. 65, 425, sowie I. S. Kuvëinov: MTS — reâajusôaja sila kolchoznogo proizvodstva, Moskau 1955, S. 13. 88 V O v o m 25. 3.1955 (s. die nachstehende Fußnote 93), S. 393 (ähnlich i m A u f r u f v o m gleichen Datum, a.a.O., S. 388). 89 Vgl. die Bemerkung von Chruëëev, I I I , S. 415 (15.12.1958); s. auch Ballard: Problems, S. 344. 90 Eine Ausnahme w a r die V O des Z K d. K P d S U v o m 2. 3.1954, i n : D i r e k t i v y , I V , S. 184,186 f. 91 V O v o m 25. 3.1955, a.a.O. 92 Chruëëev, I I , S. 18 (18. 2.1955). 93 A u f r u f „Ob okazanii pomosèi kolchoznoj derevne ν ukreplenii otstajusëich kolchozov rukovodj ascimi k a d r a m i " u n d V O „O merach po dal'nejsemu ukrepl e n i j u kolchozov rukovodjasfcimi kadrami, i n : D i r e k t i v y , I V , S. 372—392 u n d 392—398. 94 a.a.O., S. 394 bzw. 391. 87

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

gesetzt 95 , m i t an- oder abschwellender Intensität, insbesondere i m Zusammenhang m i t der Neulanderschließung. Die Begeisterung für eine Versetzung aufs Land scheint aber begrenzt gewesen zu sein. Aus den Reihen der Partei waren bis Anfang 1956 oder Ende 1955 nur 20 000 neue Kolchozvorsitzende gekommen 96 , und auch später erfolgten Freiwilligenmeldungen oft nur sehr zögernd 97 . Dabei ergab sich nicht selten eine negative Auslese, indem, wie schon für die Zeit 1953—1955 kritisch vermerkt worden w a r 9 8 , Leute aufs Land kamen, die man i n anderen Dieststellen recht gerne loswurde 9 9 , oder die weder zur Landwirtschaft i m allgemeinen, noch zu ihrem neuen Arbeitsplatz eine innere Beziehung hatten 1 0 0 . „Bis heute kam es aus irgendwelchen Gründen vor, daß Sparkassenleiter, Apotheker oder ganz frisch gebackene, allerdings i n Broschüren sehr belesene Instrukteure die Kolchozinki über bäuerliche Arbeit belehrten 1 0 1 ." Auch Richter, Staatsanwälte 1 0 2 und ehemalige Funktionäre der Staatssicherheitspolizei 103 gab es unter ihnen und häufig ehemalige Offiziere und Unteroffiziere (vgl. oben). Man findet i n der sowjetischen Fachliteratur, i n Reden Chrusöevs, i n der Belletristik immer wieder Hinweise auf die Fremdheit solcher Menschen gegenüber dem Dorfleben, oft mit dem Tadel verbunden, daß diese Leute ihre Wohnung i n der Stadt nicht aufgaben oder sich i n der nächsten Bezirksstadt ein Haus bauten und ihre Familie nicht mit aufs Land nehmen wollten 1 0 4 . Wenn ein aus der Stadt gekommener neuer Betriebsleiter auch seine Familie m i t ins Dorf brachte, wurde das als etwas Besonderes positiv hervorgehoben 105 . Auch befanden sich „ U n würdige" unter ihnen, die wieder abgesetzt werden mußten 1 0 6 . Gewöhnlich blieben sie nicht lange auf ihren Posten — „ i n einigen Provinzen wechselt man die Kolchozvorsitzenden sehr o f t " 1 0 7 —, sei es, daß sie abgelöst wurden, sei es, daß sie selber wegstrebten. Das waren dann „jene, von denen man hören kann: ,Ich habe schon eine Zeitlang

95

Vgl. Chruëëev , V I , S. 98 (16.11.1961); Krutilin, S. 385. Chrusëev , I I , S. 192 (14. 2.1956). Schilderungen solcher Vorgänge bei Krutilin, S. 385, 417, u n d G. Radov, i n : L i t . gazeta, 19.12.1964, S. 2. 08 A u f r u f v o m 25. 3.1955, a.a.O., S. 389. 99 Chruëëev , I I , S. 365 (30.3.1957), u n d I I I , S. 415 (15.12.1958); Krutilin, S. 385, 416. 100 Chruëëev , V, S. 34 (14. 2.1961). 101 Doroë : Dva dnja, S. 21. 102 Chruëëev , I I I , S. 434, u n d V, S. 34. 103 Bukovskij: Porecno-stepnye, S. 171. 104 Chruëëev , V, S. 32 (11. 2.1961); Doroë : Dva dnja, S. 24; Doroë: Dozd', S. 75; M. Ivankov , i n : Sz 18.1.1967, S. 2; A. Emel'janov , i n : Sz 24.11.1966, S. 3. 105 ζ. B. bei Vorob'ev: Selo, S. 28. 108 Chruëëev , I I , S. 286 (19.12.1956); A u f r u f v o m 25. 3.1955, a.a.O., S. 389. 107 Chruëëev , I I , S. 377 (30. 3.1957). 96

97

3. Direktoren und Abteilungsleiter der Sovchoze

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i m Kolchoz gearbeitet, ich weiß, was ein Kolchoz ist, mich ödet das Landleben an'" 1 0 8 . 3. D i r e k t o r e n u n d Abteilungsleiter der Sovchoze

Über die Sovchozdirektoren — ihr Durchschnittsalter, ihre Arbeitsbedingungen, ihr Verhalten zu Untergebenen — liegen bedeutend weniger Zahlen und Angaben vor als über die Kolchozvorsitzenden. Sie dürften aber für beide Arten von Betriebsleitern i m großen und ganzen keine einschneidenden Unterschiede auf weisen. Es handelte sich ja zu einem wachsenden Teil um ehemalige Vorsitzende von Kolchozen, die i n Sovchoze umgewandelt worden waren. Der Verfasser schließt sich der Vermutung von A. Nove an, daß der Typ des Sovchozdirektors, der sich zur Zeit Stalins deutlich von dem des Kolchozvorsitzenden abhob, gegen Ende von Chruséevs Begierungszeit weniger Unterscheidungsmerkmale aufwies 1 0 9 . Allerdings dürfte das weniger an einer Wandlung der Sovchozdirektoren als an einer der Kolchozvorsitzenden liegen. Der schon traditionell gewordene Typ des Kolchozvorsitzenden, wie i h n die sowjetische Literatur bis i n das Ende der 1950er Jahre zeichnete, war bereits damals i m Verschwinden begriffen. Die Altersstruktur der Kolchozvorsitzenden (s. oben) zeigt, daß von denen der Vorkriegszeit nur noch wenige übrig waren; teils hatte der Krieg sie verschlungen, teils hatten sie seit 1950 bei den Zusammenlegungen von Kolchozen und der Entsendung von Funktionären aufs Land jüngeren Kräften Platz machen müssen. Anders als früher waren sie nun fast alle Parteimitglieder, und rund zwei D r i t t e l von ihnen hatten eine Hochschul- oder mittlere Fachschulbildung, hatten also das Stadtleben kennengelernt oder stammten sogar aus Städten. Alles das waren Merkmale auch der Sovchozdirektoren, soweit der Verfasser sie auf Grund eigener Beobachtungen und von Berichten anderer Besucher der Sowjetunion feststellen konnte. Man darf annehmen, daß es sich dort, wo ehemalige Kolchozvorsitzende Direktoren neu geschaffener Sovchoze wurden, u m Vertreter dieses von der Sowjetführung offensichtlich angestrebten Typs handelte. Andererseits war es bei der rasch wachsenden Zahl der Sovchoze und dem für sie wie für die Kolchoze charakteristischen häufigen Wechsel der Führungskräfte (s. oben, S. 165) nicht möglich, einen sehr strengen Maßstab bei der Auswahl der Sovchozdirektoren anzulegen. Die Kriterien der Fachausbildung, der Parteizugehörigkeit — so gut wie alle Sovchoz108

Chruëëev , I I I , S. 491 (13. 2.1959). A. Nove: Peasants and Officials, i n : Karcz, ed., S. 62; s. auch Zoerb, S. 94, über das niedrige Durchschnittsalter der Sovchozdirektoren i n den 1930er Jahren. 109

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

direktoren gehörten der Partei a n 1 1 0 —, des Alters und der Bereitschaft, einen Posten i n der Landwirtschaft zu übernehmen, engten von vornherein den Kreis der i n Frage kommenden Personen ein. Vielleicht war der Typ des Instruktionen ausführenden gehobenen Funktionärs unter ihnen etwas stärker verbreitet als unter den Kolchozvorsitzenden. Aber schon das kann nur eine vage Vermutung sein, die sich darauf gründet, daß es i m Prinzip i n den Sovchozen noch weniger Raum für eigene Initiative gab als i n den Kolchozen 111 . Denn einerseits waren zwar Plan, Produktion, Belieferung mit Maschinen, Saatgut und Düngemitteln, Versorgung mit Arbeitskräften i n den Sovchozen besser und genauer geregelt, aber andererseits mußte doch auch hier oft improvisiert werden, mußten Bestimmungen umgangen oder sogar verletzt werden, sollte der Betrieb funktionieren. Dafür spricht auch der i m Durchschnitt überlange Arbeitstag der Sovchozdirektoren, von dem zwei D r i t t e l auf „Organisation der Beschaffung und technische Kontrolle" entfielen 112 . Das Verhalten der Sovchozdirektoren unterschied sich vielleicht graduell, aber nicht absolut von dem der Kolchozvorsitzenden, wie es i m folgenden Abschnitt dargestellt wird, ob es sich nun u m das Bestreben handelte, sich durch Übererfüllung der Pläne hervorzutun 1 1 3 , oder u m den verbotenen Kauf von Ersatzteilen aus Privathand 1 1 4 , u m die Erlangung möglichst niedriger, leicht erfüllbarer Planauflagen oder hoher Finanz- und Materialzuteilungen 1 1 5 usw. Chruscev hat einmal gesagt: „Obwohl die Sovchoze Staatsbetriebe sind und, sollte man meinen, sich streng nach den Interessen des Staates richten, eine Planwirtschaft führen müssen, w i r d die Wirtschaft auch hier faktisch autonom geführt 1 1 6 ." Seine K r i t i k richtete sich bei dieser Gelegenheit dagegen, daß nicht alle Sovchoze seine Kampagne gegen die Brachhaltung m i t machten, aber gerade damit zeigt sie, daß es auch i n diesem straffen Befehlssystem Kräfte gab, die versuchten, Weisungen zu umgehen, die ihnen für ihre Betriebe als schädlich erschienen. Für seine Tätigkeit hatte man dem Sovchozdirektor wie allen Direktoren sowjetischer Staatsbetriebe Organe an die Seite gestellt, denen eine ähnliche Funktion zugedacht war, wie sie — von den Wahlen abgesehen — auch die allgemeinen Mitgliederversammlungen und Bevollmächtigtenversammlungen der Kolchoze haben sollten. Das waren die sog. Produktionsberatungen, die, unter der Ägide der Gewerkschaften, 110

Chruscev, V I , S. 132 (22.11.1961), u n d V I I I , S. 67 (31. 7.1963); Rigby, S. 436. Vgl. O. Pavlov , i n : Izvestija, 28.1.1968, S. 3; s. auch oben. O. Pavlov , i n : Izvestija, 30.1.1968, S. 3. 113 Vgl. A. Sarov, i n : Znamja, 4/1965, S. 170 (hier angeführt nach A. Nove, a.a.O., S. 64). 114 Ivanov: Licom, S. 204. 115 O. Pavlov, a.a.O. 118 Chrusöev, V I , S. 405 (5. 3.1962). 111 112

3. Direktoren und Abteilungsleiter der Sovchoze

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seit 1958 zu einer ständigen Einrichtung geworden sind 1 1 7 . I m Zuge der Umwandlungen zahlreicher Kolchoze i n Sovchoze und der Bestrebungen, diese beiden Formen von Agrarbetrieben einander anzunähern, gewann der Gedanke, die Leitung der Sovchoze zu demokratisieren, weiter Raum und wurde i m Parteiprogramm von 1961 bereits i n folgendes auf die unmittelbar bevorstehende Zukunft gemünztes Postulat gefaßt: „Bei der Leitung der Staatsgüter sind die demokratischen Prinzipien immer stärker zur Geltung zu bringen, indem die Rolle der Belegschaften sowie der Belegschaftsversammlungen und Produktionsberatungen bei der Entscheidung von Wirtschafts-, K u l t u r - und Sozialangelegenheiten gesteigert w i r d 1 1 8 . " Auch wenn damit noch nicht Wahlen der Direktoren durch die Belegschaft gemeint sein mochten, wie Strumilin und Vinnicenko sie schon früher i n die Debatte geworfen hatten 1 1 9 , verringert sich damit die A b solutheit der Direktorenstellung. Dazu ist i m Auge zu behalten, daß die faktische Stellung der Kolchozvorsitzenden ebenfalls weit weniger „demokratisch" war, als sie institutionell zu sein schien (s. Kap. V/4/b). Der wesentlichere Unterschied zwischen der Wahl eines Kolchozvorsitzenden und der Ernennung eines Sovchozdirektors dürfte darin bestanden haben, daß i m ersteren Falle der Einfluß der Verwaltungsinstanzen auf Bezirksebene, besonders der Bezirksparteikomitees (außer zwischen 1962 und 1964) vorherrschte, i m letzteren dagegen die von den örtlichen Behörden unabhängige Sovchoze-Verwaltung und die auf deren — nicht lokaler — Ebene zuständige Parteiorganisation. Entsprechendes gilt auch für das Verhältnis des einmal eingesetzten Direktors zu diesen Organen. Der Unterschied zwischen Sovchozen und Kolchozen ist auch innerhalb der Betriebe nicht so klar, wie er i m Prinzip zu sein und auch von sowjetischen Autoren auf gefaßt zu werden scheint. Ein Kolchoz Vorsitzender soll i n vertraulichem Gespräch gesagt haben: „Ich hab' genug von dieser Demokratie. Einen Sovchoz sollte man bekommen. Dort kommandiert man — und fertig 1 2 0 ." Das scheint zu bestätigen, daß der K o l chozvorsitzende mehr Rücksicht auf die Meinung seiner Untergebenen und Wähler nehmen mußte. Aber erstens war das Kommandieren i n Wirklichkeit auch i n den Kolchozen weit verbreitet (s. Kap. V/4/b), und zweitens bezog sich unseres Erachtens diese „Demokratie" faktisch nur 117 Das Zentralkomitee hat i m Dezember 1957 ihre Schaffung beschlossen, zusammen m i t dem Ministerrat erließ es am 9. 6.1958 eine Musterordnung solcher ständigen Produktionsberatungen f ü r Staatsbetriebe aller Wirtschaftsbereiche, einschließlich der Landwirtschaft; s. Skuratov, S. 31. 118 X X I I s"ezd, I I I , S. 291 (dt.: Meissner: Parteiprogramm, S. 202). 119 Vinnicenko: Duma, S. 154 f. 120 N. Karotamm, i n : Sovetskaja Rossija, 16.7.1965; i m gleichen Sinne VI. Voronov, S. 4.

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

auf die Parteimitglieder, und m i t denen konnte auch ein Sovchozdirektor nicht immer nach Belieben umspringen, denn i m Sovchoz-System gab es ebenfalls neben der staatlichen Hierarchie (hier identisch m i t der Sovchoze-Verwaltung) die der Partei. Außerdem gab es i n den Sovchozen eine breite Mittelschicht und keine materiell und juristisch so tief stehende Unterschicht wie i n den Kolchozen. Der soziale Abstand zur Betriebsleitung war also nicht so groß, und alle Untergebenen genossen als staatliche Arbeiter und Angestellte den Schutz des allgemeinen Arbeitsund Zivilrechts und der Gewerkschaftsorganisationen. So unzulänglich i n der Praxis der Schutz durch diese Einrichtungen gewesen sein mag 1 2 1 , er bildete doch ein ähnliches Gegengewicht wie i n den Kolchozen, die solchen Rechtsschutz nicht kannten (s. Kap. II/4), die Institutionen der „Kolchoz-Demokratie". Ein wesentlicher Unterschied der Sovchoze zu den Kolchozen bestand i n den Betriebsgrößen. Sovchoze waren i m Durchschnitt zwei- bis dreimal so groß wie Kolchoze und hatten anderthalb- bis zweimal so viel Arbeitskräfte 1 2 2 . Deshalb hatten sie meist zwischen Direktion und Brigaden sog. Abteilungen als organisatorische Zwischenstufe; der Leiter einer solchen Sovchoz-Abteilung stand, was sein Arbeitsfeld betraf, einem Kolchozvorsitzenden wenig nach. Oft war die Abteilung ein eingegliederter ehemaliger Kolchoz oder Sovchoz 123 . Das alles läßt schon auf größere A u f gaben und einen höheren sozialen Status der Sovchozdirektoren i m Vergleich zu den Kolchozvorsitzenden schließen. I m Durchschnitt entfielen i m Frühjahr 1963 (wie auch 1965, frühere Zahlen liegen nicht vor) auf einen Sovchoz drei bis vier Abteilungsleiter 1 2 4 . Sie müssen unterschieden werden von den Brigadieren. Zwar entsprach i m Prinzip eine Komplex-Brigade oder Viehabteilung eines Kolchoz der Abteilung eines Sovchoz, da es die nächste Einheit unter der Leitung des Gesamtbetriebs war, aber die Kolchoz-Brigaden waren, als Abteilungen kleinerer Gesamtbetriebe, wesentlich kleiner. (Über B r i gadiere i n Sovchozen ohne Abteilungen s. unten, S. 241.) A n den SovchozAbteilungsleiter mußten höhere Anforderungen gestellt werden, und seine Bezahlung war i n ähnlicher Weise geregelt wie die der Fachkräfte und des Sovchozdirektors, das heißt, er erhielt seit 1961 ein Grundgehalt i n Abhängigkeit vom Produktionsumf ang seiner Abteilung. Die Direktoren und Abteilungsleiter von Sovchozen erhielten vor 1957 ein festes Grundgehalt, das unter verschiedenen Gesichtspunkten differenziert sein konnte 1 2 5 (s. unten, S. 272, das über die Sovchoz-Fachkräfte 121 122 123 124 125

Vgl. V. Butenko, i n : Sz 6. 3.1966, S. 2. Vgl. die Zahlen i n Nar. choz. 1964, S. 391, 411. Chozjajstvennyj rasSet, S. 242. Vgl. Nar. choz. 1962, S. 357 u n d 375; Nar. choz. 1964, S. 408 u n d 425. Panova, S. 143.

3. Direktoren u n d Abteilungsleiter der Sovchoze

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Gesagte). Danach bekamen sie Gehälter i n Abhängigkeit vom geplanten Geldwert der Ablieferungen des Sovchoz (Direktor) bzw. vom geplanten Geldwert der Produktion der Abteilung (Abteilungsleiter), die maximal 200—250 Rbl. (damals 2000—2500 Rbl.) bzw. bei Abteilungsleitern 190 (1900) Rbl. betragen konnten; bei Nichterfüllung der Pläne erhielten sie mindestens 70 °/o davon, die als „garantiertes M i n i m u m " zu betrachten waren 1 2 0 . Hinzu konnten bei Planerfüllung und überplanmäßigen Gewinnen Prämien bis zur Höhe von insgesamt fünf Monatsgehältern pro Jahr (in Neuland-Sovchozen sechs Monatsgehältern) kommen 1 2 7 . Bei der Neuregelung der Entlohnung i n Sovchozen i m Jahr 1961 wurde das Prinzip beibehalten. Für Sovchozdirektoren wurden nun acht Gehaltsgruppen zwischen 140 und 250 Rbl., für Abteilungsleiter fünf Gruppen zwischen 90 und 140 Rbl. Monatsgehalt festgelegt 128 . Abteilungsleiter erhielten also ungefähr soviel wie die verschiedenen A r t e n gehobener Fachkräfte (s. unten, S. 273), aber weniger als die sog. Chef-Spezialisten und Hauptbuchhalter der Sovchoze oder, anders ausgedrückt, ungefähr zwei D r i t t e l des Direktorengehalts. Bei allen diesen Zahlen muß aber berücksichtigt werden, daß Nichterfüllung der Pläne i n den Sovchozen den Regelfall darstellte 1 2 9 , so daß von den obigen Zahlen nur 70 % (das Mindestgehalt) bzw. ein Betrag zwischen 70 und 100 °/o als reale Gehälter anzusehen sind. Entsprechend waren auch Prämien die Ausnahme: „Das spezifische Gewicht von Prämien für Betriebsgewinne stellt i m Lohnfonds [sogar] rentabel w i r t schaftender Sovchoze einen völlig unbedeutenden Prozentsatz dar, um so mehr, als alle Zurechnungen [von Betriebsgewinnen] i m wesentlichen nicht vom faktischen, sondern vom sogenannten geplanten Gewinn ausgehen 1 3 0 ." Bei der Festsetzung der Grundgehälter wie auch der Prämien war es möglich, nicht nur durch Produktionssteigerung oder erhöhte Rentabilität höhere Einkommen zu erlangen, sondern auch durch niedrige Planansätze bzw. durch Prämien für deren Übererfüllung. Wie bei den Kolchozvorsitzenden konnte der erfolgreichere Sovchozdirektor der sein, der zwar nicht die Leistungsfähigkeit seines Betriebes steigerte, aber sich m i t 126

Ebenda, S. 143 f., 146. Ebenda, S. 144 f. Spravofcnik po opiate, 2. Aufl., S. 31—33. — Die höchste Direktoren-Gehaltsstufe wurde i n Sovchozen m i t mehr als 1,0 M i l l . Rbl. geplantem Wert der Ablieferungen bezahlt, nämlich 200—250 Rbl., die niedrigste bei weniger als 100 000 Rbl. geplantem W e r t ; die höchste Stufe bei Abteilungsleitern bezog sich auf mehr als 400 000 Rbl. Produktionswert, die niedrigste auf weniger als 50 000 Rbl. — Betr. Bezahlung i n sonstigen staatlichen Agrarbetrieben u n d -Organisationen s. Sbornik polozenij, S. 5—19 u n d 31 ff. 129 Vgl. Wädekin: Expansion, S. 8; Kassirov: Planovye, S. 54; Efimov/Karpov, S. 79. 130 Lisiëkin : Gektary, S. 216. 127

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Wädekin

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

den Stellen gut stand, die Einfluß auf die Planauflagen für seinen Betrieb hatten. Auch für die Sovchoze war niedrige Planfestsetzung vorteilhafter als Produktionssteigerung 131 , w o r i n m i t Recht „Widersprüche zwischen den gesellschaftlichen und den persönlichen Interessen" ihrer Führungskräfte gesehen werden 1 3 2 . Für einen — mit Hilfe solcher Beziehungen oder aus echter Leistung oder aus Glück — erfolgreich wirtschaftenden Direktor gab es materielle Vergünstigungen, Beförderungschancen, nebenberufliche Mitgliedschaft i n einflußreichen Parteigremien usw. Einem erfolglosen oder einem, der sich aus sachlichen, persönlichen oder gar politischen Gründen m i t höheren Dienststellen überwarf, drohte Entlassung oder vielleicht sogar Parteiausschluß. Die Stellung eines Sovchozdirektors war etwas besser bezahlt und auf andere A r t verankert als die eines Kolchozvorsitzenden, sie lag auf einer höheren, staatlich-dienstlichen Ebene, aber i m ganzen genommen dürfte sie nicht stabiler gewesen sein als die seines Kollegen i m Kolchoz. Sein Erfolg oder Mißerfolg war für die i n seinem Betrieb Beschäftigten durchaus nicht gleichgültig und konnte vermehrte oder verminderte Einkommen für alle bedeuten. Aber dank der festen Mindestlöhne und -gehälter war das für die Belegschaft keine Frage von erträglichem Auskommen oder hoffnungslosem Vegetieren wie i n den Kolchozen, sondern nur eine des mehr oder minder ausreichenden, an seiner Untergrenze garantierten Arbeitslohns. 4. D i e Kolchozvorsitzenden

a) Ohnmacht nach oben „Der Kolchozvorsitzende ist die zentrale Figur i m Dorf 1 3 3 ." Dieser Satz Chruscevs entsprach nicht nur den Tatsachen, sondern zeigte auch, daß diese i n den Absichten der Führung lagen. Auch i m engeren Kreis der „Kolchoz-Kader", also der landwirtschaftlichen Fach- und Führungskräfte der Kolchoze, war der Vorsitzende „die zentrale F i g u r " 1 3 4 . Natürlich war er das nicht nur für jeweils ein Dorf, sondern meist für mehrere Dörfer, je nachdem wie viele zu seinem Betrieb gehörten. Dieser ihrer Bedeutung entsprechend standen die Kolchozvorsitzenden in der „Nomenklatur"-Liste 1 3 5 , seit Mitte der 1950er Jahre vorübergehend 131 Pachomov: Ο material'nych, S. 69; auch hohe Festsetzung der geplanten Selbstkosten konnte v o n V o r t e i l sein, w e i l sich dann leichter Selbstkostensenkungen — die prämiiert w u r d e n — erwirtschaften ließen, s. O. Pavlov , a.a.O.; P o l n y j chozrascet ν sovchozach, i n : Ekon. gazeta, 36/1967, S. 3. 132 Ekonomiöeskie zakonomernosti, S. 315. 133 Chruëëev , I I , S. 377 (30. 3.1957). 134 Chruëëev , I I I , S. 143 (27. 3.1958). 135 A. Nove : Die Agrarwirtschaft, i n : Osteuropa-Handbuch, S. 340; zum Beg r i f f „ N o m e n k l a t u r " s. Lewytzky: Nomenklatur, u n d ders.: Kommunistische Partei, S. 165—172.

4. Die Kolchozvorsitzenden

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sogar i n der Nomenklatur der Provinz-Parteikomitees, sonst der BezirksParteikomitees 136 . Ein Kolchozvorsitzender mußte, anders als die Fachkräfte (s. unten, S. 221 f.), Mitglied seines Kolchoz, also ein Kolchoznik sein oder werden, wenn er seinen Posten als „Vorsitzender der Kolchozleitung" übernahm 1 3 7 . Er war von der Gesamtheit der Mitglieder i n der allgemeinen Versammlung zu wählen und — gemeinsam m i t dem kollegialen Organ der Kolchozleitung — der Mitgliederschaft verantwortlich 1 3 8 . Theoretisch war damit der demokratische Charakter innerhalb des Kolchoz gewahrt und die Stellung des Kolchozvorsitzenden nach außen gestärkt, auch gegenüber der staatlichen Verwaltung, da er i n seiner Eigenschaft als Betriebsleiter — solange er sich nicht gegen bestehende Gesetze verging — nur den Kolchozmitgliedern Rechenschaft schuldig sein sollte. Aber i n Wirklichkeit übte das Bezirks-Parteikomitee den stets maßgebenden, oft allein entscheidenden Einfluß auf die Wahlen und deren Ergebnisse aus 1 3 9 , i n zweiter Linie auch die Bezirkssowjets und deren Organe, die i m Verhältnis zu den Kolchozen ihre Kompetenzen oft überschritten 1 4 0 . „Entscheiden, ob ein Traktor oder eine K u h gekauft werden soll, kann der Kolchoznik, aber wer Vorsitzender sein soll, das ist nicht seine Sache 141 ." Chrusèev hat das einmal ausdrücklich bejaht und hinzugefügt: „ M a n kann die Beziehungen zwischen Genossenschaft und Staat nicht auf dem Prinzip der Nichteinmischung aufbauen 1 4 2 ." Nach Chrusöevs Absetzung ist von der „gesetzwidrigen Einmischung der Staats-, Räteund Landwirtschaftsorgane i n ihre [der Kolchoze] T ä t i g k e i t " 1 4 3 gesprochen, dabei aber die Einmischung der Parteiorgane nicht erwähnt worden; auch blieb unklar, ob sich solcher Tadel nur auf die Regierungszeit Chruscevs bezog. Meist nahmen die Kolchozniki diesen Zustand hin, nur i n besonders krassen Fällen versuchten sie, sich dagegen aufzulehnen und von ihrem Wahlrecht echten Gebrauch zu machen — oft ohne Erfolg 1 4 4 . Wenn tatsächlich eine Kandidatur i n der allgemeinen Mitgliederversammlung 138 Lewytzkyj: Kommunistische Partei, S. 166; V O des Z K d. K P d S U v o m 2. 3.1954, i n : D i r e k t i v y , I V , S. 190. 137 G. V. Ivanov: Clenstvo, S. 11 ; Bilinsky: Aktuelle, S. 75. 138 Musterstatut, VIII/21—22, dt., S. 28. 139 Lewytzkyj: Nomenklatur, S. 410 f.; Laird: Collective, S. 94; Hazard / Shapiro , T e i l I I I , S. 133; Pavlov : Razvitie, S. 87. 140 Aimbetov (u. a.), S. 153 f. 141 Dem'janenko: Gosudarstvennoe, S. 18. 142 ChruSëev, V I , S. 403 f. (5. 3.1962). 143 Beljaeva/Kozyr', S. 84. 144 Die Schilderung eines solchen, m i t k a u m verhüllten Drohungen erstickten Versuchs bei DoroS: Suchoe leto, S. 17 f., u n d DoroS: Rajgorod, S. 12. Einen noch krasseren F a l l berichtete die Pravda, 29.7.1959; s. auch ChruSëev, I V , S. 412 f. (28.1.1961). 12*

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

abgelehnt oder ein Kolchozvorsitzender abgewählt wurde, so dürfte das i n der Regel nur dann geschehen sein, wenn hinter den ablehnenden Stimmen die Parteiorganisation des Betriebs stand 1 4 5 . Denn da erfahrungsgemäß spontane Proteste i n der Versammlung und i n der — offenen 1 4 6 — Abstimmung wenig Aussicht auf Erfolg hatten, mußte jeder es sich gut überlegen, ob er sich auf solche Weise die künftige — oder weiter amtierende — „zentrale Figur i m Dorf" zum Feind machen wollte 1 4 7 . Schon vor und erst recht nach Chruscevs Absetzung ist verschiedentlich geheime Abstimmung für die Wahlen der Vorsitzenden und sonstigen Leitungsorgane der Kolchoze vorgeschlagen, aber nur vereinzelt eingeführt worden 1 4 8 . Bei solcher Sachlage war für einen Kolchozvorsitzenden das Wohlwollen der Bezirksinstanzen, besonders des dortigen Parteikomitees, bei weitem wichtiger als die Zustimmung der Kolchozmitglieder. Er fühlte sich i n erster Linie nicht seinen Wählern verantwortlich, sondern den Bezirksinstanzen 149 . Sie waren auch für seine ganze weitere Tätigkeit maßgebend: „Keinen Schritt konnte man [ohne sie] tun. A n Händen und Füßen war ein Kolchozvorsitzender gebunden 1 5 0 ." So konnte bisweilen eine Haltung zu übergeordneten Dienststellen entstehen, wie sie der Schriftsteller Stadnjuk von einer seiner negativen Gestalten einem Kolchozvorsitzenden empfehlen läßt: „Pavel Platonovic, dir fehlt es an Schlauheit und der A r t , wie man m i t leitenden Funktionären umgehen muß. Aber ich habe das! Ich kann immer gerade der sein, den die Vorgesetzten brauchen! Demokratie? Her m i t der Demokratie! Ich weiß, wie ich eine Schuld eingestehe, bereue, mich selbst auf Versammlungen so kritisiere, daß die Spreu nur so aus m i r herausrieselt... Der Plan? Ich erfülle den P l a n ! . . . Und die Hauptsache — menschlich muß man den Chefs angenehm auffallen 1 5 1 ." Von solchen Extremfällen abgesehen, konnte ein Kolchozvorsitzender sich Wohlwollen auf verschiedene Arten zu sichern versuchen: Indem 145

S. 166. 146

E i n solcher Vorgang bei Krutilin,

S. 390—394; vgl. auch Pavlov:

Razvitie,

Musterstatut, VIII/20, dt., S. 28. Vgl. Krivokobyl'skij/Martynjuk, S. 102 f.; dasselbe, nicht n u r auf die Kolchoze bezogen, bei G. Nemëenko, i n : Koms. pravda, 11.4.1967. 148 Vgl. u . a . Α. E. Kraeva, laut Kolbasov, S. 94; M . V. Aleskov: Prava i objazannosti organov upra v i e n ij a ν kolchozadh, Moskau 1965 (nach der Rezension von Α. A. Ruskol u n d P. D. Bogolepov, i n : Sov. gos. i pravo, 3/1966, S. 145); I. V. Pavlov, laut Baêmakov: Teoreticeskaja konferencija, S. 5; Pavlov: Razvitie, S. 114 f., 160; Perelygin/Roslov, S. 119 f.; Jasinskij, S. 91; N. Karotamm, i n : Sovetskaja Rossija, 16. 7.1965; M. Kozyr', S. 23. 149 LukaUn, S. 20 f. 150 A. Fesenko, i n : Sz 20. 8.1966, S. 4. 151 Stadnjuk, 9, S. 17. 147

4. Die Kolchozvorsitzenden

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er bedingungslos und m i t großem Eifer alle von oben kommenden Weisungen ausführte, „politisch reif" war und möglichst auch persönlich gute Beziehungen zu den Bezirksinstanzen unterhielt; beides ging i n der Regel auf Kosten des Lebensstandards seiner Kolchozniki, w e i l ein solcher Betriebsleiter meist „nicht aus einer Kopeke zwei zu machen" 1 5 2 verstand. Oder er brachte seinen Betrieb zum Blühen, erfüllte und übererfüllte alle Pläne und verschaffte sich auf diese Weise eine relativ starke Stellung, i n der man i h m manche Eigenmächtigkeit nachsah 153 . A u f die Dauer mußte er aber auch dabei darauf achten, daß er sich die Bezirksfunktionäre wenigstens nicht zu Feinden machte; unter dieser Bedingung konnte er auch seinen Untergebenen zu erträglichen Lebensbedingungen und einem bescheidenen Wohlstand verhelfen 1 5 4 . Ein Extremfall war es, wenn er i m Kolchoz die Zügel völlig schleifen ließ, so daß jeder sich nahm oder stahl, was er brauchte; damit machte er sich vielleicht bei den Kolchozniki beliebt, hielt sich aber selten lange auf seinem Posten 1 5 5 . Natürlich war i n der Praxis eine ganze Skala von Übergangserscheinungen zwischen den beiden prinzipiell vorhandenen Wegen möglich — gerade die guten Kolchozvorsitzenden suchten einen Mittelweg —, aber i n jedem Falle war ein gutes oder wenigstens erträgliches Verhältnis zu den übergeordneten Funktionären für den Kolchoz i m ganzen wie für dessen Vorsitzenden persönlich von entscheidender Bedeutung. Auch der wirtschaftliche Erfolg an sich und die Löhne, die ein Vorsitzender seinen Kolchozniki — und damit sich selbst! (s. unten, S. 211 f.) — bezahlen konnte, hingen zu einem großen Teil von guten Beziehungen nach „oben" ab. Wichtiger als der objektive Produktionserfolg konnte es, zum Beispiel, für einen Betrieb sein, vom Bezirk einen niedrigen Produktionsplan zugeteilt zu erhalten, den man relativ leicht erfüllen oder übererfüllen konnte 1 5 6 ; ein zu hoch angesetzter Plan war auch unter großen Anstrengungen nicht zu erfüllen. Wer aber seinen Plan erfüllt hatte, konnte, vor allem wenn eine Großstadt nahe w a r 1 5 7 , darüber hinausgehende Erzeugnisse auf dem freien Markt zu höheren Preisen verkaufen und so zu zusätzlichen M i t t e l n für Investitionen und für Lohnzahlungen kommen 1 5 8 . Freilich ist dieses offiziell nie aufgehobene Recht seit etwa 1958 i n Verruf gebracht, seiner 152 158

S. 5.

Cerniöenko: Pomosfcnik, S. 159.

E i n Beispiel bei P. Kozyr', i n : Sz 12. 8.1967, S. 2; s. a u d i V. Ivanov:

Fakty,

154 Ausführlicher über diese beiden möglichen Wege Wädekin: Betriebsleiter, S. 685—695; s. auch Sakoff: Aspetti, S. 501. 155 Z w e i Beispiele bei A. Emel'janov, i n : Sz 24.11.1966, S. 3, u n d V. Logvinov, A. Janov, i n : Koms. pravda, 15. 3.1967, S. 2; s. auch Dunn & Dunn, S. 91. 156 V i n t e r e s a c h . . . , i n : Pravda, 5.1.1965, S. 2; Cerniöenko: U nas, S. 101 f. 157 S. Surtakov, i n : L i t . gazeta, 9.12.1965, S. 2.

iss vinnicenko: Duma, S. 16.

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

Wahrnehmung sind immer mehr Hindernisse i n den Weg gelegt worden 1 5 9 , so daß die faktische Bedeutung solcher Verkäufe, gemessen an den Ablieferungen an den Staat, zurückging 1 6 0 . Leicht kamen Kolchozvorsitzende dabei i n den nach sowjetischen Maßstäben sehr bedenklichen Ruf, daß sie „die genossenschaftlichen Interessen den staatlichen entgegenstellen" 161 , sich „Spekulationsbestrebungen" hingeben 1 6 2 . Aber auch hier waren es die Erfolgreichen m i t guten Beziehungen, die ungestraft gegen diese offiziösen Richtlinien verstoßen konnten 1 6 3 . Ein Betrieb, der sich durch Planerfüllung hervorgetan hatte und deshalb zu den fortschrittlichen gezählt wurde, konnte auch auf mancherlei Hilfe von der Bezirksverwaltung rechnen 164 , er hatte eine „Sternenrente" 1 6 5 , nicht nur bei Zuteilung knapper Materialien und Ausstattungen, sondern auch bei Krediten 1 6 6 und bei der Festsetzung der Pläne für das nächste Jahr. „Die Verteilung der Ablieferungen [d. h. der Planquoten] unter den Kolchozen unterlag i n nicht geringem Maße dem Einfluß von Faktoren subjektiver Art, insbesondere der Fähigkeit einzelner Kolchozleiter, dem von außen kommenden Druck zu widerstehen und die Interessen des Betriebs und der Kolchozniki zu vertreten 1 6 7 ." A n dererseits machten einem florierenden Kolchoz m i t guten Produktionsleistungen die Planquoten weniger aus. Beides w i r k t e zusammen. Der hochdekorierte Vorsitzende des Suvorov-Kolchoz (Provinz Vinnica) erklärte deutschen Besuchern i m Juni 1965, mit den Behörden habe er keine Schwierigkeiten, diese mischten sich i n seine Produktionsplanung nicht ein, da er seine Pläne erfülle und übererfülle. Doch nicht nur die Höhe der auferlegten Ablieferungsverpflichtungen war wichtig, sondern auch ihre A r t . Es gab Erzeugnisse, für die der Staat besonders hohe Preise zahlte; ein hohes Plansoll solcher Erzeugnisse bei entsprechend niedrigeren Quoten für andere konnte eine große Hilfe für einen Kolchoz sein und dessen Betriebserfolg wesentlich beein159 Morozov: Trudoden', S. 41/42. Wädekin: Privatproduzenten, S. 105 f.; s. auch das tendenziöse, später aufgehobene Gerichtsurteil v o m Sommer 1958, i n : Bulleten' Verchovnogo Suda SSSR, 3/1960, S. 43 (hier angeführt nach Hazard / Shapiro , I I , S. 145 f.). 160 Infolge der Preiserhöhungen sind sie i n absoluten Zahlen etwas gestiegen: von 1,46 M r d . (1952) auf 1,6 M r d . Rbl. i m Jahr 1964, s. Ostrovskij, S. 52. 181 Sucharev, S. 111. 182 Suslov: Ob optimal'nom, S. 56; s. auch Cerniàenko: U nas, S. 101 f. 183 G. Radov, i n : L i t . gazeta, 19.12.1964, S. 2; S. Surtakov, i n : L i t . gazeta, 9.12.1965, S. 2. 184 Vinniöenko: Duma, S. 34. 185 D. h. die Vorteile der m i t Orden Ausgezeichneten; der Ausdruck „Sternenrente" (zvezdnaja renta) bei Volkov/Lisiökin, S. 168; i m gleichen Sinne spricht Cerniöenko: Strelka, S. 148 f., von einer „Differentialrente I I I " . 188 G. Radov, a.a.O. 187 Zaslavskaja: Raspredelenie, S. 106/107.

4. Die Kolchozvorsitzenden

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Aussen 168 . Wurde, was nicht selten geschah, einem Agrarbetrieb von oben plötzlich eine andere Produktionsrichtung auferlegt, so konnte dieser rasch aus einem florierenden wieder zu einem rückständigen Betrieb werden 1 6 9 . Unter solchen Umständen w i r d „der betriebsame Wunsch, sich auszuzeichnen, Aufsehen zu erregen" 1 7 0 , verständlich, auch wenn er, nur „ u m i n den Abrechnungs- und Statistik-Daten besser dazustehen" 171 , zu Maßnahmen Anlaß gab, die rein wirtschaftlich absurd waren, wie etwa die Aufstockung der Viehbestände, obwohl es an Ställen und Futter für sie fehlte 1 7 2 . Ohnehin wurde der Kolchozvorsitzende, wie die Fachkräfte auch (s. unten, S. 259), für Fehler seiner Betriebsführung nur selten zur Leistung von Schadenersatz herangezogen. Interessen und Ehrgeiz des Kolchozvorsitzenden und die allgemeineren Interessen des Kolchoz und seiner Bevölkerung konnten dabei i n krassen Widerspruch geraten, konnten sich aber auch ununterscheidbar verflechten. Solche Interessenverflechtung verschärfte die Situation und die i n ihr liegenden Versuchungen, die ohnehin durch den Zwiespalt zwischen der großen Machtfülle des Vorsitzenden innerhalb seines Kolchoz (s. unten) und der weitgehenden Machtlosigkeit i n seinem Verhältnis zu übergeordneten Instanzen gegeben waren. Nekrasovs Kolchozvorsitzender, der stets seinen persönlichen Nutzen i m Auge hatte, war doch „fest überzeugt, daß alles, was er tat, dem Kolchoz und den Kolchozniki zum Nutzen gereichte" (is. unten, S. 203), und darin drückte sich eine Einschätzung seiner Bedeutung für den Kolchoz aus, die ihre Wurzeln i n objektiven Gegebenheiten hatte. „ I n der bestehenden, realen Situation hängt wirklich vom Vorsitzenden vieles, fast alles ab 1 7 3 ." Wenn Funktionäre mittleren oder höheren Ranges einen „rückständigen" Kolchoz übernahmen und i n kurzer Zeit zur Blüte brachten 1 7 4 — lag das wirklich nur an ihren überragenden Fähigkeiten und nicht auch daran, daß sie von vornherein gute persönliche Beziehungen zu höheren Instanzen mitbrachten? „ I n der Provinz, i m Bezirk w i r d alles [gemeint sind Landmaschinen, Lastkraftwagen u. ä.] zugeteilt. Und wie teilt man zu? Welche grenzenlosen Möglichkeiten gibt es da für willkürliche Entscheidungen. Einige Kolchoze bei uns stehen sogar nicht deswegen i m Rufe besonderer Fortschrittlichkeit [v peredoviki chodjat], w e i l sie gut arbeiten, sondern weil ihre Vorsitzenden Beziehungen, Durchschlagskraft, einen guten Riecher haben 1 7 5 ." 188

Zaslavskaja:

Raspredelenie, S. 113; Ekonomiòeskie zakonomernosti, S.

506; Cerniöenko: Strelka, S. 144. 189 170 171 172 173 174 175

Chozjajstvennyj rasfcet, S. 207. Efim DoroS, i n : Izvestija, 8.10.1961, S. 2. ChruSöev , V I I I , S. 81 (31. 7.1963). DoroS, a.a.O. Vinogradov, S. 183. Beispiele bei ChruScev, V I I I , S. 433 (14.2.1964); G. Radov, a.a.O. B. Mozaev, i n : L i t . gazeta, 4.10.1966, S. 2.

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

Wer solche Beziehungen nicht von vornherein hatte, der konnte auch versuchen, sie sich zu schaffen, indem er die „notwendigen" Leute m i t Nahrungsmitteln zum Selbstkostenpreis belieferte 1 7 6 , sie üppig bewirtete, wenn sie — dienstlich oder außerdienstlich — i n seinen Kolchoz kamen 1 7 7 . Wie sehr insbesondere solche Bewirtungen auf Kolchozkosten als Selbstverständlichkeit galten, erhellt aus folgendem Vorfall: Der Leiter einer Kolchoz-Geflügelfarm beschwerte sich nicht deshalb, w e i l der Vorsitzende sich einfach einen Hahn zum Braten nahm, als er Besuch vom Leiter der Bezirksverwaltung bekam, sondern war nur darüber erbost, daß man i h n — entgegen der festgesetzten Ordnung — nicht befragt und deshalb versehentlich einen wertvollen Zuchthahn geschlachtet hatte 1 7 8 . „Wenn du nicht trinkst und nicht einen für dich nützlichen Menschen bewirtest, wie kannst du dann irgend etwas beschaffen, erreichen..." — diese Worte (s. unten, S. 203) des von Nekrasov geschilderten Kolchozvorsitzenden erscheinen unter solchen Umständen nicht als Maxime eines beschränkten, einseitig urteilenden Menschen, sondern als eine durchaus verständliche Auffassung. Unter „Beschaffen" (dobyvat') ist dabei weniger ein Raffen für den persönlichen Nutzen zu verstehen, sondern eine Tätigkeit, die für den Betrieb und sein Funktionieren lebenswichtig war. Es ging dabei um Material und Ausrüstungen, die für den Betrieb notwendig oder sinnvoll, aber auf dem vorgeschriebenen Weg nicht zu bekommen waren, selbst wenn der Anspruch darauf anerkannt war, und die nun eben auf anderen Wegen beschafft werden mußten, sei es legal m i t Hilfe von Beziehungen und Hartnäckigkeit 1 7 9 , sei es illegal durch dunkle Mittelspersonen bzw. — streng verbotenen — Kauf aus Privathand zu stark erhöhten Preisen 1 8 0 . Besonders nachdrücklich weist L. Ivanov auf dieses Dilemma hin, daß die Kolchozvorsitzenden für solche Geschäfte gerichtlich belangt werden sollten, anders aber die Maschinen und Fahrzeuge nicht fahren konnten und die Ernte verkommen, die Produktion ins Stocken geraten mußte, wenn die erforderlichen Ersatzteile oder auch Baumaterial nicht auf solche Weise beschafft wurden. „Warum aber lassen die Kolchozleiter sich darauf ein, obwohl sie genau wissen, daß sie dafür zur Verantwortung gezogen werden können? Aus der großen Not heraus . . . Ich kenne viele gute Kolchozleiter, die sehr streng dafür bestraft worden sind, daß 176

So i n Izvestija, Nr. 41/1964 (nach Hastrich, S. 165). Vgl. Krutilin, S. 448; Roëéin , S. 89—91. 178 TroepoVskij: V kamySach, 4, S. 46 f. 179 Vgl. Denisenkov, S. 21, 23; Gluëko , S. 89. 180 Vinniöenko: Duma, S. 16; Chozjajstvovat' ν ramkach zakona, i n : Izvestija, 26.3.1958, S. 2; I n t e r v i e w m i t V. M . Chruniéev, i n : Pravda, 30.8.1959; M. Kolosov, i n : Sz 29. 9.1966, S. 3; Doroë: Rajgorod, S. 24 f. 177

4. Die Kolchozvorsitzenden

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sie Materialien schwarz [na storone] kauften 1 8 1 ." Auch i m Finanzgebaren waren angesichts der strengen Bank- und Kreditbestimmungen illegale Täuschungsmanöver häufig i m Interesse einer vernünftigen Betriebsführung geboten 182 , ohne daß sich der Vorsitzende persönlich daran bereicherte. Von hier aus war es nur ein Schritt bis zu jenem Vorsitzenden, der seinen Kolchoz durch ländliches Kleingewerbe zum Blühen brachte, obwohl das nicht gern gesehen wurde, bei dem man es aber durchgehen ließ, denn sein Kolchoz war „der Stolz der Provinz" (Vladimir) 1 8 3 . M i t dem Geld, das er so erlöste, machte er alle die verschiedenen kurzlebigen Neuerungen der ChrusSev-Zeit mit. Er selbst glaubte nicht an sie, aber „er kaufte sich gleichsam los durch Propagierung des Maisanbaus und der sonstigen irrealen Neuerungen", damit man dafür über die gewerbliche Nebenproduktion seines Kolchoz hinwegsah, die i h m die wesentlichen Einnahmen brachte 1 8 4 . I n solchen Fällen konnte eine Interessengemeinschaft zwischen Kolchoz und Bezirksleitung bestehen, denn: „Es gibt auch Bezirkskomitees der Partei, denen fortschrittliche K o l choze als eine A r t Schutzschild dienen. Einige versuchen, hinter den Erfolgen eines fortschrittlichen Betriebs Mißerfolge i n der Arbeit des Bezirks zu verstecken, oder sogar durch dessen Erfolge Ruhm zu erwerben 1 8 5 ." Allerdings ging so etwas nicht immer gut. Den ebenfalls berühmten und erfolgreichen Kolchozvorsitzenden Lyskin hat Chruscev scharf dafür kritisiert, daß er, „ u m den Kolchozniki die Möglichkeit zu geben, mehr Arbeitseinheiten zu verdienen", Sonnenblumen i n Reihen ansähen ließ anstatt i m empfohlenen sog. Quadratnestverfahren 186 . Es kann dabei offen bleiben, was das wirkliche Motiv Lyskins war, ob er nicht ein anderes hatte — etwa Unzuverlässigkeit oder hohe Kosten der für das neue Verfahren nötigen Maschinen. Wesentlich ist, daß Lyskin i m Interesse entweder seiner Untergebenen oder seines Betriebs den von oben kommenden Weisungen zuwiderhandelte. Damals hat ihn das noch nicht seinen Posten gekostet, aber etwa zwei Jahre später wurde i h m zum Verhängnis, daß er sich i m Interesse seines Kolchoz zu sehr m i t dem zwar nicht verbotenen, aber unerwünschten freien Handel auf Kolchozmärkten (vgl. oben) befaßte 187 . Trotz seiner Berühmtheit und seiner Erfolge — Lyskin war Anfang 1957 auch der erste, der eine Maschinen-Traktoren181 182

183 184 185 186 187

Ivanov: Licom, S. 203. Pommer, S. 25.

Cerniöenko: Pomosönik, S. 155.

Ebenda. Chruëëev, I V , S. 411 (28.1.1961). Chruëcev, I I , S. 328 (8. 3.1957); ähnlich Chruëëev, I V , S. 8 (14. 5.1959). V. OVchovskaja, i n : Izvestija, 28. 8.1959, S. 2.

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

Station i n seinen Kolchoz einbezog und damit den Anstoß zur späteren Auflösung der MTS gab 1 8 8 — hat sich dieser Kolchozvorsitzende auf die Dauer nicht halten können 1 8 9 . Es konnte auch vorkommen, daß den Bezirks- oder Provinzfunktionären ein eigenwilliger, erfolgreicher Kolchozvorsitzender m i t der Zeit lästig wurde und sie glaubten, i h n abschieden und den bereits florierenden Betrieb ohne Schaden von einem anderen weiterführen lassen zu können. Wie rasch der Niedergang dann einsetzen konnte, beschrieb Doros i n einer melancholischen Skizze 190 . „Ein guter Kolchozvorsitzender weiß meistens gar nicht, welchen Plan man i h m auferlegt hat. Er hat seinen eigenen Plan, nach dem er sich richtet 1 9 1 ." Diese Worte Chruscevs aus dem Jahr 1954 waren vor allem auf die Stalin-Zeit gemünzt, er meinte wohl kaum, daß die Kolchoze sich auch seinen Plänen und Neuerungen gegenüber so verhalten sollten. Denn nun galt solches nüchtern-wirtschaftliches Verhalten als „kleinkarrierter Praktizismus" und „kleinbürgerliche Sünde", dem die zu ständigen Neuerungen bereiten, aber schlechte Erträge erzielenden Betriebsleiter als Vorbilder entgegengestellt wurden 1 9 2 . Doch nach Chruscevs Absetzung wurden auch Fälle publiziert, i n denen Kolchozvorsitzende zwar nicht offen opponierten, aber wenigstens zum Teil das taten, was „das bäuerliche Gewissen" ihnen gebot, und insgeheim den Weisungen zuwiderhandelten, „die nicht von der Kenntnis aller Kompliziertheiten der Ackerbau-Arbeit ausgingen, sondern von irgendwelchen höchsten' Vorstellungen. Hier mußten die Ackerbauer, ob sie wollten oder nicht, sich verstellen und List gebrauchen" 193 . Sie hatten wiederum oft zwei Pläne, nach denen sie arbeiteten, einen i n genauer Übereinstimmung m i t den von oben kommenden Auflagen, den anderen aber für die tatsächliche Arbeit i m Betrieb 1 9 4 . Auch jener Kolchozvorsitzende ist i n solchem Zusammenhang zu erwähnen, der trotz des „lärmenden Feldzugs gegen perennierende Gräser" an seinen Fruchtfolgen festhielt 1 9 5 , oder jener, der trotz heftiger Zeitungskritiken die einkömmlichen Nebengewerbe seines Betriebs nicht aufgab 1 9 6 , oder schließlich jener, der ent188

Kolchoz — skola, S. 39. Über Lyskins weiteren beruflichen Weg, der i h n i n agrarwissenschaftliche Versuchsstationen führte, s. Chruëëev , V I , S. 395 (5. 3.1962). 1968 wurde er als Direktor eines Sovchoz der Provinz Kaluga erwähnt (Tvorceskij poisk, i n : Sz 5. 6.1968, S. 4), w a r also sozusagen rehabilitiert. 190 Doroë: Poezdka, S. 81—87. 191 Chruëcev , I, S. 215 (15. 2.1954). 192 L. Zuchovickij , i n : L i t . gazeta, 23/1967, S. 10. 193 Semen Surtakov: Zemlja i l j u d i , i n : L i t . gazeta, 9.12.1965, S. 2. 194 Ivanov : Licom, S. 205; s. auch Β. Mozaev, i n : L i t . gazeta, 18.5.1965, S. 2. 105 L. Ivanov , i n : L i t . gazeta, 39/1968, S. 10. 196 Cernicenko : U nas, S. 102—106. 189

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gegen den überhöhten offiziellen Normen für die Rübenhackerinnen heimlich (podpol no) eine niedrigere Norm festsetzte 197 . Auch dabei spielte es eine wesentliche Rolle, wie stark die Stellung des jeweiligen Kolchozvorsitzenden war. Wer höhere Erträge erzielte als andere, konnte es sich, zum Beispiel, leisten, nur 500 Hektar Mais anzusäen, aber i m Bericht 800 Hektar anzugeben; später erlaubte sein höherer Ertrag es ihm, m i t der Ernte von 500 Hektar den Ablieferungsplan von 800 zu erfüllen, die übrigen 300 Hektar unter der verpönten Brache zu halten 1 9 8 . Freilich gehörten dazu neben Leistung und Sachkenntnis auch M u t und Standhaftigkeit gegenüber öffentlichen K r i t i k e n und Parteiverweisen 1 9 9 . Mozaev behauptet, daß es i n der Chruscev-Zeit solche „Widerspenstigen mit klarem Verstand und festem Charakter" i n jeder Provinz gegeben habe 2 0 0 . Aber es ist wenig wahrscheinlich, daß ein wirklich großer Teil der Betriebsführer — einschließlich ihrer Fachund Führungskräfte, die ja eingeweiht sein mußten — alle diese Voraussetzungen zum zivilen Ungehorsam aufbrachte. Der gleiche Schriftsteller fügt j a auch hinzu, daß solche Haltung meist zu Parteirügen oder Ausschlüssen aus der Partei führte 2 0 1 . Immerhin ist bemerkenswert, sowohl für die Agrarpolitik der Chruscev-Zeit als auch für die Verhältnisse danach, daß man es für richtig hielt, i n einem System wie dem sowjetischen solchen zivilen Ungehorsam nachträglich zu preisen, allerdings nur vereinzelt. Noch seltener dürften die Fälle offenen Widerstandes gewesen sein, wie der bei Abramov geschilderte (s. unten, S. 206) oder der des Kolchozvorsitzenden, der sich i m Jahr 1955 dem Aufpflügen eines erosionsgefährdeten Hanges i m Neulandgebiet der Kulunda-Steppe i n den Weg stellte — und prompt abgesetzt wurde 2 0 2 . I h m geschah, was ein anderer Kolchoz Vorsitzender vorwegnahm, indem er zurücktrat; als man diesen überreden wollte, auf seinem Posten zu bleiben, erwiderte er: „Ich kann nicht. Heute zwingt ihr uns das eine auf, morgen etwas anderes; haben w i r m i t den Kolchozniki etwas beschlossen, so schreibt man es uns anders v o r 2 0 3 . " Auch solche Fälle sind, außer wenn es sich nur u m einen Vorwand handelte, um von der Landwirtschaft loszukommen, sicher nicht häufig gewesen. Aber sie wogen relativ schwer, weil sie gerade die fähigen und charakterstarken Führungskräfte verdrängten.

197 198 199

S. 2.

200 201

202 203

Bukovskij: T r i pis'ma, S. 136. P. Rébrin, i n : Koms. pravda, 25. 6.1966, S. 2. Vgl. den F a l l eines Agronomen bei G. Radov, i n : L i t . gazeta, 17.4.1965, B. Mozaev, i n : L i t . gazeta, 18. 5.1965, S. 1. Ebenda, S. 2.

Cerniöenko: Chleb, S. 36.

L. Novikov,

i n : Sz 25. 4.1965, S. 2.

188

V. Die Leiter der Agrarbetriebe

b) Machtfülle nach unten Der gedrückten, bisweilen zur Unterwürfigkeit führenden Stellung des Kolchozvorsitzenden i m Verhältnis zu Funktionären der Partei- und Staatsdienststellen stand i m Verhältnis zu seinen Untergebenen, zur ganzen Kolchozbevölkerung, eine ungewöhnliche Machtfülle gegenüber. Sie war schon deshalb größer als die anderer Betriebsleiter i m Sowjetsystem, w e i l das allgemeine Arbeitsrecht i m Kolchoz nicht bzw. nur m i t großen Einschränkungen galt und schützte (s. Kap. II/4). Hinzu kamen mannigfaltige andere Machtpositionen, die sich daraus ergaben, daß der Kolchoz nicht nur Arbeitsplatz war, sondern gleichzeitig viele Funktionen einer Gemeindeverwaltung besaß (vgl. unten), und nicht zuletzt daraus, daß der materielle und soziale Abstand zwischen der Masse der Kolchozniki, die keine Vollbürger des Sowjetsystems waren (s. Kap. II), und dem Betriebsleiter samt seinem Führungsstab größer war als irgendwo sonst i m Sowjetsystem. „Ich als alter Genossenschaftler weiß gut: Wenn die Leute den A n gelegenheiten der Gemeinschaft gegenüber gleichgültig sind [und das war oft der Fall, s. unten], sich an der Leitung der Produktion nicht beteiligen, dann bedeutet das, daß der von den Kolchozniki gewählte Leiter des Artel' [Kolchoz] deren Meinung mißachtet. Und wenn ein solcher Leiter auch noch bei den einen oder anderen Bezirksleitern Unterstützung genießt, dann w i r d diese Krankheit chronisch. Unter solchen Bedingungen kommt der genossenschaftliche Charakter des Betriebs fast gar nicht zur Geltung, und der Vorsitzende verwandelt sich faktisch i n eine ernannte Person. [ . . . ] Leider gibt es noch Leiter, die meinen, man kann die Produktion führen, ohne auf die Stimme der Artel'-Mitglieder zu hören 2 0 4 ." Zwar war, laut Musterstatut (§ 12—21), i n der Zeit zwischen den allgemeinen Mitgliederversammlungen die gewählte Kolchozleitung das kollegiale höchste Vollzugsorgan des Kolchoz, aber i n der Praxis war der mit der „täglichen Leitung der Arbeit" betraute Vorsitzende dieses Organs, eben der Kolchozvorsitzende, die eigentlich entscheidende Person und amtete i n „Ein-Mann-Führung" (edinonacalie) 205 , auch wenn dieser sowjetische Begriff sehr cum grano salis zu verstehen und vor allem durch die Funktionen der Parteiorganisationen eingeschränkt ist 2 0 6 . „Ohne die Verfügungsgewalt und Kontrolle einer einzelpersönlichen Leitung ist es einfach undenkbar, einen so komplizierten und großen gesellschaftlichen Betrieb wie einen Kolchoz zu leiten 2 0 7 ." So kam es häufig vor, daß, ent204

P. Kozlov: Nas kolchoz, S. 57. Ruskol: Demokratizacija, S. 94; Bilinsky: Aktuelle, S. 74 f. Z u r „ E i n - M a n n - F ü h r u n g " s. Hough , S. 216—220, sowie Pavlov : Razvitie, S. 68—72. 207 Kozlov : Partijnye organizacii, S. 40. 205

208

4. Die Kolchozvorsitzenden

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gegen den Satzungen, „manche Kolchozleiter sich der Kontrolle durch die Massen und die gesellschaftlichen Organisationen entziehen und sich i n einfache Administratoren verwandeln, aufhören, die Meinung der einfachen Kolchozniki zu berücksichtigen" 208 . Sie wurden i m Volksmund auch „Kolchoz-Direktoren" genannt und betrachteten Einrichtungen wie die Mitgliederversammlungen als Hemmschuh einer „operativen" und „festen" Betriebsleitung 2 0 9 . Von „gewissen Kolchozvorsitzenden" wurde gesagt, daß „sie allein und persönlich [edinolicno] über alle Angelegenheiten bestimmen" und die kollektive Kolchozleitung entweder gar nicht oder nur der Form halber einberufen 2 1 0 . Ähnliches wurde i m Jahr 1966 erneut festgestellt und dazu gesagt, daß „der Arbeitsstil der Kolchozvorsitzenden" geändert werden müsse 211 . I n seinem Rückblick auf die Regierungszeit Chruscevs stellte L. I. Breznev fest, daß „ i n vielen Fällen" das Musterstatut — „die Grundlage der Grundlagen der Leitung und des gesellschaftlichen Lebens des Artel' " — und „die demokratischen Grundlagen der Kolchoz-Ordnung grob verletzt werden" 2 1 2 . Das geschah „sowohl i n den Kolchozen selbst als auch von Seiten gewisser örtlicher Organe" 2 1 3 . Oft sind bei den Abänderungen von einzelnen Kolchozstatuten die Grundgedanken der „Kolchoz-Demokratie" und sogar die Gesetze schon i n den Statuten selbst nicht genügend beachtet worden, und daran trugen neben den Leitungsorganen der Kolchoze auch die Bezirksbehörden eine „große Schuld", w e i l sie, entgegen ihrer Pflicht, die Statuten nicht überprüften und amtlich registrierten 2 1 4 . Eine Gruppe sowjetischer Juristen bereiste i m März/April 1964 die Provinz Krasnodar (Kuban'-Gebiet), die als einer der wirtschaftlich blühendsten und gut verwalteten Landesteile zu gelten hat, und stellte dabei fest: „ I m ganzen werden i n der Mehrzahl der Kolchoze der Provinz die wichtigsten Fragen gegenwärtig nicht durch die Statuten entschieden, sondern durch zahlreiche Beschlüsse der innerbetrieblichen Leitungsorgane, die oft der gültigen Gesetzgebung zuwiderlaufen. Die an den Statuten vorbeigehende Entscheidung von Fragen des Kolchozlebens [ . . . ] schafft nicht selten die Voraussetzungen für Verletzungen der 208 Zuschrift von S. Semin, wiedergegeben i n : Vosprosy materiarnogo stimulirovanija, S. 113; ausführlicher, i m gleichen Sinne, Lukasin, S. 20. 209 Efimov, S. 48. 210 Nekotorye èkonomiceskie, S. 120; s. auch Krivokobyl'skij/Martynjuk, S. 104, u n d Pavlov : Razvitie, S. 93,136 f., 170. 211 P. Obydenko, i n : Sz 13.1.1967, S. 2. 212 Plenum (1965), S. 28. 218 Leitartikel, i n : Sz 28.1.1966, S. 1. 214 Jasinskij, S. 90; s. auch Ν. I. Titova: Nekotorye rezul'taty konkretnosociologiöeskiöh issledovanij ν oblasti ukreplenija zakonnosti ν kolchozach, i n : Konkretno-soziologiöeskie, S. 81.

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

Gesetzlichkeit i n der Tätigkeit der Kolchoze, [ . . . ] die Kolchozleitungen setzen sich nicht selten an die Stelle der Verwaltungsorgane und erlegen Strafzahlungen für Handlungen auf, für welche die Kolchozniki sich vor dem Staat verantworten müßten. [ . . . ] Verletzungen der Gesetzlichkeit finden statt, wenn den Kolchozniki Ersatzleistungen für Schäden auferlegt werden, die sie dem Kolchoz verursacht haben. Dabei führen die Kolchoze die Eintreibung wie auch die Festlegung der Höhe der Ersatzleistungen oft selbst durch, ohne sich an ein Gericht zu wenden, auch wenn die Kolchozniki ihre Schuld bestreiten 2 1 5 ." Gegen eigenmächtige, ungerechte oder rechtswidrige Handlungen der Kolchozvorsitzenden hatten die Kolchozniki theoretisch wenig und praktisch fast keine Handhaben, weil Verhältnisse und Streitfälle innerhalb der Kolchoze, soweit nicht das Strafrecht und die politische Ordnung betroffen waren, nicht vor die Gerichte gezogen werden durften 2 1 6 . Sie wurden nicht durch das allgemeine Zivilrecht geregelt, sondern durch das spezielle Kolchoz-Recht, das i n den Kolchozstatuten für jeden einzelnen Kolchoz festgelegt war, aber nur i n sehr groben Umrissen. E i n sowjetischer Jurist sagt darüber, nachdem er dargelegt hat, daß es diesbezüglich keine allgemein-verbindlichen Prozedurnormen gab: „Klagen jedoch gegen unrichtige Handlungen des Kolchozvorsitzenden mußten bei der Kolchozleitung [das Kollegium, i n dem eben dieser den Vorsitz hat] oder der allgemeinen Versammlung der Kolchozniki (bzw. der Versammlung der Bevollmächtigten) vorgebracht werden. Weiter müssen i m Falle einer unbefriedigenden Entscheidung der Frage die interessierten Personen das Recht haben, eine Klage, eine Erklärung entweder bei den übergeordneten staatlichen Organen (Bezirks-Exekutivkomitee, Kolchoz-Sovchoz-Produktionsverwaltung) oder bei Gericht und Staatsanwaltschaft, je nach der A r t der Frage, anzubringen. [Es handelt sich nur u m Vorschläge des Autors, nicht um bereits bestehende Möglichkeiten] [ . . . ] Tatsächlich werden die Kolchozleiter gewöhnlich für bestimmte w i r t schaftliche Versäumnisse i m Kolchoz (Eingehen von Vieh, Verderb oder Beschädigung von Vermögenswerten, Verstöße gegen die Finanzbestimmungen usw.) zur Rechenschaft gezogen. I n Fällen jedoch, wo innerhalb des Kolchoz die gesetzlichen Rechte der Kolchozniki grob verletzt werden, gegen das Prinzip der materiellen Interessiertheit verstoßen w i r d (z.B. zustehende Vorschüsse auf das Arbeitsentgelt nicht ausbezahlt, Naturalien oder Gelder der Zusatzbezahlung zurückbehalten werden, nicht rechtzeitig m i t den Kolchozniki über die Geldentlohnung abgerechnet, der Lohnfonds zweckwidrig verwendet wird), 215 Novoe ν izucenii, S. 6; s. auch Ν. I. Titova, a.a.O., S. 82. Pavlov: Ο principach, S. 93.

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4. Die Kolchozvorsitzenden

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stellt sich i n der Regel die Frage der Verantwortung des Vorsitzenden oder anderer leitender Personen nicht 2 1 7 ." Ein Organ, das an sich gegen gesetzwidrige Handlungen von Personen auf seinem Territorium, also auch von Kolchozvorsitzenden, einzuschreiten berufen gewesen wäre, war der Dorf sowjet. Aber sein Kontrollrecht war unklar formuliert, i n einigen Unionsrepubliken gar nicht verank e r t 2 1 8 . Außerdem konnte er nur sehr begrenzte praktische Maßnahmen ergreifen: „den entsprechenden Leitern die [von ihnen selber begangene] Tatsache der Verletzung oder Nichtbefolgung des Gesetzes zur Kenntnis bringen, den Inhalt des Gesetzes erläutern, Aufhebung der Verletzungen verlangen, der Staatsanwaltschaft und den höherstehenden Organen M i t teilung machen, sich u m eine bedingungslose Beachtung der Gesetzlichkeit bemühen" 2 1 9 . Eine Ausnahme bildeten gesetzwidrige Beschlüsse — für statutenwidrige war das nicht vorgesehen — der Kolchozleitungen und -Versammlungen. Hier konnte der Dorf Sowjet den Beschluß suspendieren und unverzüglich der Bezirksverwaltung Mitteilung machen, nachdem er zuvor der Kolchozleitung die Sachlage klargelegt und sie zur Änderung oder Rücknahme des Beschlusses zu veranlassen versucht hatte; die Bezirksverwaltung entschied dann 2 2 0 . Angesichts der untergeordneten Rolle der Dorf sow jets und ihres wenig qualifizierten Personals (s. Kap. VII/3) ist es nicht verwunderlich, daß sie „noch wenig von ihrem Recht Gebrauch machen" und „ i n der Praxis noch ziemlich häufig gesetzwidrige Entscheidungen der Kolchozleitungen vorkommen" 2 2 1 . Auch die innerhalb des Kolchoz instituierte, durch die Mitgliederversammlung zu wählende Revisionskommission 222 war nicht sehr wirksam. Den Satzungen gemäß war ihre Kontrollfunktion i n erster Linie auf „Wirtschafts- und Finanztätigkeit" i n «größerem Rahmen, auf die „Verpflichtungen gegenüber dem Staat" und — i n den inneren Angelegenheiten des Kolchoz — auf die „Abrechnungen [in Geld und Naturalien] des Artel' m i t seinen Mitgliedern" gerichtet; erst an letzter Stelle werden kurz „andere Verstöße gegen die Interessen des Artel' und seiner M i t glieder" genannt 223 . 1959/60 wurden i n sog. Musterordnungen die Aufgaben und Rechte der Revisionskommission ausführlicher umrissen und dabei die „Kontrolle der Einhaltung der Satzung" an die erste Stelle gerückt 2 2 4 . Zwar war nach wie vor die Kontrolle des Finanzgebarens des 217 218

Sajbekov, S. 281 f., 282 f.

Seremet: Sel'skij sovet, S. 126 f. Ebenda, S. 127. 220 Ebenda. 221 Ebenda, s. auch a.a.O., S. 94. 222 Über diese Einrichtung Basmakov: Pravovoe regulirovanie, S. 132 ff., u n d Pavlov: Razvitie, S. 172 ff. 223 Musterstatut, VIII/25, dt., S. 29 f. 224 V O des Ministerrats der RSFSR v o m 18.1.1960 „Primernoe polozenie ο revizionnoj kommissii sel'skochozjajstvennoj arteli", i n : Spravocnik buchgal'219

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

Kolchoz ihre Hauptaufgabe, aber sie erhielt auch das Recht, an den Sitzungen der Kolchozleitung m i t beratender Stimme teilzunehmen, Vorschläge zur Abstellung von Mißständen einzubringen, die Einberufung einer außerordentlichen Mitgliederversammlung zu beantragen und „Klagen von Mitgliedern des Artel' gegen unrichtige Handlungen des Vorsitzenden, der Leitungsmitglieder und anderer Personen m i t Dienststellung entgegenzunehmen"; i n die „operative Tätigkeit der Artel'Leitung" durfte sie sich aber nicht einmischen 225 , ihre Beanstandungen hatten keinerlei verpflichtenden Charakter 2 2 6 . Z u bedenken ist aber, daß die Mitglieder der Revisionskommission nicht hauptamtlich tätig und i m übrigen einfache, i n Gesetzen und Bestimmungen wenig bewanderte 2 2 7 Kolchozniki waren, außerdem jeder einzelne persönlich i n manchem vom Kolchozvorsitzenden abhing. Auch nach der Musterordnung von 1960 wurde geklagt, daß die Revisionskommissionen ihren Aufgaben nicht gerecht würden 2 2 8 . Das wurde allerdings von einem Autor auf Parallelismus m i t der Tätigkeit der staatlichen Kontrollorgane zurückgeführt 2 2 9 , während ein anderer i n der Größe der Kolchoze das Haupthindernis sah 2 3 0 . I m Frühjahr 1964 wurde für die Provinz Krasnodar festgestellt, daß die Tätigkeit der Revisionskommissionen der Kolchoze oft zur Formalität abgesunken sei und außerdem von den höheren Kontrollorganen zu wenig beachtet werde 2 3 1 . Wirksamer konnten der Macht des Kolchozvorsitzenden von innen her durch die Parteiorganisation des Kolchos und vor allem durch ihr ParteiA k t i v Grenzen gesetzt werden. Sich m i t dem Parteisekretär oder dem Partei-Aktiv zu überwerfen, mußte ein Kolchozvorsitzender tunlichst vermeiden, denn von dort führte eine direkte Verbindung ins BezirksParteikomitee, also zu der Stelle, die i h m gegenüber die größte Macht hatte. Aber die Gruppe des Partei-Aktivs war klein und meistens personell m i t der Kolchozleitung verflochten, der Vorsitzende war i n der Regel auch Mitglied der Parteileitung des Kolchoz (vgl. Kap. III/3—4). Wenn er m i t dem Partei-Aktiv und dem Parteisekretär gut stand, war er innerhalb des Kolchoz praktisch unangreifbar. tera, 2. Aufl., S. 30; die anderen Unionsrepubliken erließen ähnliche Musterordnungen, s. Pavlov : Razvitie, S. 172 f. 225 Ebenda, S. 32 f.; vgl. hierzu Perelygin/Roslov, S. 120, w o diese Funktionen extensiv, als „durch keinerlei Rahmen begrenzt" ausgelegt werden u n d deshalb eine Umbenennung i n K o n t r o l l - u n d Revisionskommission vorgeschlagen wird. 226 Ν. I . Titova, a.a.O., S. 83. 227 Ebenda. 228 Volkov: Vsemerno ochranjat'; Pavlov : Razvitie, S. 177. 229 Antipov, S. 131. 230 Kozyr': K a k i m dolzen, S. 23. 231 Novoe ν izuöenii, S. 5; ein Beispiel f ü r erfolglosen Widerstand des L e i ters einer Revisionskommission gegen die finanziellen Machenschaften eines Kolchozvorsitzenden bei Nekrasov, S. 75, 78, 81.

4. Die Kolchozvorsitzenden

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Dem Buchstaben der Statuten nach war die allgemeine Versammlung der Kolchozmitglieder das Organ, vor dem sich der Vorsitzende vor allem zu verantworten hatte; von ihr konnte er auch abgewählt werden 2 3 2 . I n der Idealisierung ergab sich daraus: „Die sozialistische Demokratie t r i t t schon ganz ,unten 4 — i m Kolchoz — zutage. Grundlage ihres Lebens ist, daß alle Dinge gemeinsam beschlossen werden. Ohne Zustimmung der Massen der Kolchozniki kann keine einzige Frage entschieden werden, welche die gemeinsamen Interessen betrifft, angefangen bei der Entlohnung des Kolchozvorsitzenden bis hin zu Bauplänen oder der Ausarbeitung wichtiger w i r t schaftlicher Maßnahmen 2 3 3 ." I n der Praxis und von „unten" gesehen, lagen die Dinge anders: „Wie oft erscheinen bei uns i n der Vorstellung der Arbeitenden als diejenigen, welche i m Betrieb bestimmen, nur Kolchozleitung, der Sovchozdirektor und die übergeordneten Verwaltungsorgane 2 3 4 ." Die i m Westen 2 8 5 geäußerten Zweifel am Idealbild waren nur zu berechtigt. Von vornherein ist anzunehmen, daß die einfachen Kolchozniki die Einzelheiten und den realen Sinn der zur Debatte gestellten Fragen — i n der Regel handelte es sich u m Entschließungen, die von der Kolchozleitung vorbereitet waren — oft nicht erfassen und beurteilen konnten. Das mag i n jeder direkten Demokratie mehr oder weniger der Fall sein. Aber außerdem erfolgten die Abstimmungen i n den Kolchozversammlungen offen 2 3 6 . Und schließlich war i m Musterstatut gar nicht festgelegt, wie oft Versammlungen stattfinden sollten, was i n manchen Kolchozen dazu führte, daß man sie jahrelang überhaupt nicht mehr abhielt 2 3 7 . I m Durchschnitt dürften die allgemeinen Versammlungen selten häufiger als einmal i m Jahr durchgeführt worden sein 2 3 8 , und es versteht sich von selbst, daß dabei selbst die wichtigen Angelegenheiten eines so langen Zeitraums nicht annähernd alle erörtert werden konnten. Manche K o l 232 Musterstatut, VIII/21, dt., S. 26 ff.; ausführlicher Baëmakov: Pravovoe, S. 108 ff. 233 Α. I. Todorskij, Ju. A. Arbatov: Issledovanie social'nych izmenenij ν sel'skom rajone, i n : Sociologija, I I , S. 305. 234 A r i f m e t i k a socializma na zemle, i n : Koms. pravda, 29.9.1965, S. 3. 235 ζ. B. von Chombart, S. 145—147, u n d Bilinsky: Aktuelle, S. 74—79. 238 Musterstatut, VIII/20, dt., S. 28. 237 Krivokobyl'skij/Martynjuk, S. 104; A. Zabelysenskij, S. 22. 238 Die Unregelmäßigkeit u n d Seltenheit der Durchführung ist i n sowjetischen Publikationen häufig kritisiert worden, s. u.a. den Leitartikel, i n : Sz 28.1.1966, S. 1; Lukaëin, S. 20; P. Obydenko, i n : Sz 13.1.1967, S. 2. Allgemeine Versammlungen waren i n den sehr groß gewordenen Kolchozen m i t mehreren Dörfern auch schwer durchzuführen, „ihre Anerkennung als höchstes Leitungsorgan verwandelte sich nicht selten i n eine F i k t i o n " ; Pavlov: O principach, S. 95.

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Wädekin

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

chozleitungen setzten auch bewußt nur zweitrangige Fragen auf die Tagesordnung 239 oder kümmerten sich nicht u m die gefaßten Beschlüsse 240 , oder Fragen, für die die allgemeine Mitgliederversammlung zuständig war, wurden von der Kolchozleitung eigenmächtig entschieden 2 4 0 3 . Außer aus dem Zentraldorf konnte ohnehin nur eine Minderheit der Kolchozniki teilnehmen, das Quorum — „mindestens die Hälfte aller Mitglieder" — wurde oft nicht erreicht 2 4 1 , i n den Protokollen gab es dann keine oder falsche Angaben über die Teilnehmerzahl 2 4 2 . Die Kolchozniki selber interessierten sich i m allgemeinen auch wenig für die Versammlungen 2 4 3 . „Die Schablonenhaftigkeit ihrer Durchführung und die langen Reden ein und derselben Leute über längst bekannte Wahrheiten ohne k r i tische Analyse der wirklichen Lage ziehen die Aufmerksamkeit des ländlichen Werktätigen nicht an, wecken bei i h m kein Interesse. [...] Und solche Tatsachen sind nicht vereinzelt. Die Kolchozniki erklären das einfach: Wozu dahin gehen, das haben w i r alles schon über und übergenug gehört, und auf unsere Meinung hört niemand; die Leitung [nacal'stvo] t u t sowieso, was sie sich gedacht hat, wie sie es w i l l 2 4 4 . " A n einer anderen Stelle w i r d das Desinteresse fast unverhüllt m i t der Agrarpolitik Chruscevs i n Verbindung gebracht: „Der Bauer erfaßte die Ungereimtheit mancher ,weisen Ratschläge', lächelte sauer und sagte: ,Die Chefs (lies: die die Wirtschaft Führenden) müssen es ja wissen.' " [nacal'stvu v i d n e j ] 2 4 5 Zu alledem kam hinzu, daß das Wirken der allgemeinen Versammlung zunehmend durch die „Bevollmächtigten-Versammlung" unterhöhlt worden ist, wenn diese auch theoretisch der allgemeinen Mitgliederversammlung untergeordnet bleiben sollte 2 4 6 . Der offizielle Anstoß dazu war bereits 1956 gegeben worden, die Einrichtung und ihre Benennung haben „ i n der Praxis große Verbreitung gewonnen" 2 4 7 . Einer ihrer eifrigsten 239

P. Obydenko, i n : Sz 13.1.1967, S. 2. E. Zazerskij, i n : Sz 21. 3.1967, S. 3. 240a Pavlov: Razvitie, S. 88, 92 f. 241 Musterstatut, VIII/20, dt., S. 27; dazu LukaSin, S. 20, und Pavlov: Razvitie, S. 88 f., 165. 242 Perelygin/Roslov, S. 116; Kolbasov, S. 98. 243 Antipov, S. 127 f.; Voprosy material'nogo stimulirovanija, S. 112. V. Kokasinskij, i n : L i t . gazeta, 49/1968, S. 11. 244 Bajkova/Duöal/Zemcov, S. 260/261. 245 A r i f m e t i k a socializma na zemle, i n : Koms. pravda, 29.9.1965, S. 3. 246 Vgl. hierzu BaSmakov: Pravovoe regulirovanie, S. 119 ff. 247 V O des Z K d. K P d S U u n d M R d. UdSSR „Ob ustave sel'skochozjajstvennoj arteli i dal'nejsem r a z v i t i i i n i c i a t i v y kolchoznikov ν organizacii kolchoznogo proizvodstva i u p r a v l e n i i delami arteli", i n : D i r e k t i v y , I V , S. 611; Perelygin/Roslov, S. 117. 240

4. Die Kolchozvorsitzenden

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Befürworter war und ist der Jurist Pavlov 2 4 8 . Nach Chruscevs Absetzung hat sich eine lebhafte Diskussion darüber entsponnen 249 . Das Aufkommen von Bevollmächtigtenversammlungen zur Ergänzung und Entlastung der allgemeinen Mitgliederversammlungen w i r d im sowjetischen Schrifttum meistens — und wohl zu recht — damit begründet, daß die Kolchoze nun viel größer waren als früher. Sie umfaßten mehrere bis viele, zum Teil weit verstreute und verkehrsmäßig abgelegene Dörfer, so daß es für die Kolchozniki, außer denen des Zentraldorfs, praktisch sehr schwierig geworden ist, selbst an den Mitgliederversammlungen teilzunehmen, bzw. es schwerfällt, sie zur Teilnahme zu veranlassen. Das ändert aber nichts daran, daß durch die Bevollmächtigtenversammlung als Zwischenglied die — ohnehin meist nur formale — direkte Beteiligung der Masse der Mitglieder an der Willensbildung i m Kolchoz weiter vermindert und umgekehrt die Machtstellung der Kolchozleitung und »Verwaltung gegenüber den einfachen Mitgliedern verstärkt wurde. Betriebsorganisatorische und sozial-politische Auswirkungen der wachsenden Betriebsgrößen waren zwei Seiten ein und desselben Prozesses. Ähnliches gilt für die ebenfalls seit 1956 zunehmend — freilich noch nicht überall — entstandenen sog. Brigadenversammlungen und -räte, die zum Teil das System der Bevollmächtigtenversammlungen nach unten ergänzten 2 4 9 3 . Auch ihrer Entstehung und Funktion lag vor allem zugrunde, daß die Durchschnittsgrößen der Kolchoze stark (gewachsen, daß viele Brigaden ebenso groß wie die früheren Kolchoze und oft mit diesen identisch waren (vigl. unten, S. 242). Aufgaben und Formen dieser Organe auf Brigadeebene waren noch nicht einheitlich geregelt, doch zeichnete sich ein allgemeines Grundmuster ab, demzufolge sie vor allem für eigene Angelegenheiten der einzelnen Brigaden zuständig waren und bei Angelegenheiten des Gesamtkolchoz hauptsächlich einer nach Brigaden organisierten Meinungsartikulierung dienen sollten. Das faktische Wirken der neuen Zwischenorgane angeblich demokratischer Willensbildung w i r d i n folgender Schilderung aus der Provinz Kalinin deutlich: „ I m Zusammenhang damit, daß einige Kolchoze sich vergrößerten, sehr groß wurden und es praktisch unmöglich wurde, alle Kolchozniki 248 s. seinen Beitrag i n dem Band Ot socialisticeskoj gosudarstvennosti k kommunisticeskomu obscestvennomu samoupra vieniju, Moskau 1961, S. 156— 173 (nach Hazard/Shapiro, T e i l I I , S. 152 ff.); Pavlov: O principach, S. 95; ders.: Razvitie, S. 98 f., 109 f., 116—123. 249 Ajmetdinov/Petrov , S. 112; vgl. auch Krivokobyl'skij/Martynjuk, S. 104; M. V. Aleèkov: Prava i objazannosti organov upra vieni ja ν kolchozach, Moskau 1965 (hier nach der Rezension von Α. A. Ruskol u n d P. D. Bogolepov, i n : Sov. gos. i pravo, 3/1966, S. 144 f.); Kozlov: Partijnye, S. 38; Novoe ν izucenii, S. 7. 249a s. dazu Pavlov: Razvitie, S. 98 f., 142—153.

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

zu versammeln, wurden i n den letzten Jahren von den Brigaden Bevollmächtigte (in der Relation von einem Bevollmächtigten für je 8 bis 10 Kolchozniki) zu den allgemeinen Versammlungen entsandt. I m gesellschaftlichen und politischen Leben und i n der Produktionstätigkeit solcher Kolchoze ist die Bedeutung der Brigadenversammlungen stark gewachsen, auf ihnen werden Angelegenheiten sowohl der B r i gaden wie auch des ganzen Kolchoz erörtert. [Die Entscheidung über Brigaden-Angelegenheiten hatte nach wie vor die Kolchozleitung.] Wenn man i m Kolchoz eine größere Maßnahme vorbereitet, w i r d sie vorbereitend in der Brigade i m einzelnen erörtert, die konkreten Vorschläge der Kolchozniki werden gesammelt, und auf ihrer Grundlage bereitet die Kolchozleitung ein Projekt vor, das sie dann der allgemeinen Kolchozv er Sammlung vorlegt 250." Damit wurde die entfernte Möglichkeit einer spontanen, aus der allgemeinen Stimmung der Kolchozmitglieder entstehenden Willensäußerung, etwa gar die Ablehnung eines Vorschlags der Kolchozleitung, völlig irreal 2 5 1 . Die Stellung der Kolchozvorsitzenden wurde so zusätzlich gestärkt, und auch für Einwirkungen von weiter „oben" auf die Beschlüsse der allgemeinen Mitgliederversammlungen öffneten sich neue Kanäle. Hinzu kam, daß dort, wo Bevollmächtigtenversammlungen bestanden, die allgemeinen Mitgliederversammlungen seltener abgehalten wurden und der Kreis der ihnen vorgelegten Fragen sich verengte (oft nur noch auf Wahl der Leitungsorgane und Bestätigung des Jahresberichts), daß aber auch die Brigaden- und Bevollmächtigtenversammlungen nicht überall regelmäßig abgehalten wurden 2 5 2 . I m ganzen kann man sagen, daß nicht nur praktisch, sondern großenteils auch schon institutionell für eine Kontrolle und Machtbeschränkung des Kolchozvorsitzenden durch seine Untergebenen fast keine Möglichkeiten bestanden, außer durch die Parteiorganisation des Betriebs. Es war diese Machtstellung innerhalb des Betriebs und Dorfs, welche allzu leicht Vorsitzende hervorbrachte, denen man ins Gedächtnis rufen muß te: „Ein Kolchozvorsitzender ist kein Teilfürst" 2 5 3 , „die an einer übersteigerten Meinung von sich selbst leiden und meinen, daß sie alles wissen und daß ein Rat, ein Vorschlag eines einfachen Werktätigen für sie nichts be250 Anochina/Smeleva, S. 294 (Hervorhebungen v o m Verf. — KEW.); s. auch Ruskol: Demokratizacija, S. 98 f., der davor warnt, auf den Brigadenversammlungen andere als Brigadenangelegenheiten behandeln zu lassen; ähnlich Pavlov: Razvitie, S. 89 f. 251 Vgl. P. Seiest, i n : Sz 5. 2.1966, S. 4, w o i m Bericht über die Jahreshauptversammlung eines Kolchoz die Vordiskussionen i n den Brigadenversammlungen als G r u n d dafür angeführt werden, daß so wenig K r i t i k an der Kolchozleitung laut wurde. 252 Pavlov : Razvitie, S. 109 f., 112,114; Zabelyëenskij, S. 22. 253 Predsedatel' kolchoza — ne udel'nyj knjaz', i n : Izvestija, 19. 9.1959, S. 3.

4. Die Kolchozvorsitzenden

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deuten 2 5 4 ." Leicht erscheinen gegenüber der „absoluten Alleinmacht eines bestimmten Leiters" die Kolchozniki als eine „schicksalsergebene, gesichtslose Masse" 255 . Die zahlreichen Erwähnungen gerade dieses Fehlers i n sowjetischen Publikationen 2 5 6 zeigen, daß es sich hier nicht u m Ausnahmefälle handelte, sondern u m häufige Symptome einer tiefer greifenden Problematik. Auch das „Wohlwollen", das Nekrasovs Vorsitzender zu erweisen liebte (s. unten, S. 202), war ja nicht frei von Überheblichkeit und Eigennutz, und Nekrasov läßt offen, wie dieser Kolchozvorsitzende sich seinen Untergebenen gegenüber verhielt, wenn i h m jemand „schon gleich am Morgen [ . . . ] die Laune verdorben" hatte. „Leider findet man noch Leiter, die sich wenig u m die Interessen der Gesellschaft kümmern, ihre Dienststellung mißbrauchen, Herrentum [barstvo] und Überheblichkeit zeigen, sich unaufmerksam und manchmal auch grob ihren Untergebenen gegenüber verhalten. Es gibt auch immer noch solche Leiter, die nicht widersprechen, wenn ihnen offen geschmeichelt wird, wenn man ihre Verdienste und ihren Wert über die Maßen preist, und die auch selber gelegentlich nicht abgeneigt sind, ihre eigene Person herauszustreichen 257 ." Man kann füglich bezweifeln, daß es sich hier nur u m vereinzelte Überbleibsel der „Zeit des Persönlichkeitskultes Stalins" handelte, wie Sucharev zu glauben vorgibt, wenn er die gleichen Erscheinungen k r i t i siert 2 5 8 . I m Rückblick vom Jahr 1967 aus, bei dem offensichtlich nicht nur die Stalin-Zeit gemeint war, sagte eine sowjetische Journalistin: „Vor einer gewissen Zeit galten die Grobheit und Geradlinigkeit solcher Leiter, ihre demonstrative Verachtung kultivierten Umgangs m i t den Menschen fast schon als Verdienst und wurden sogar i n gewissen Filmen, Theaterstücken, Büchern ,verherrlicht' 2 5 9 ." Solche Betriebsleiter konnten ja für sich i n Anspruch nehmen — ob zu Recht oder nicht —, daß sie nicht für sich selbst, sondern für das große Ganze die Menschen zur Arbeit angetrieben, sie angeschrien und die Widerstrebenden schikaniert hatten 2 6 0 , denn als ihre Aufgabe galt allzu oft das „Anziehen der Schrauben" 261 .

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E. Zazerskij, i n : Sz 21. 3.1967, S. 3. V. Ivanov: Fakty, S. 5. 256 Außer den hier u n d nachstehend zitierten s. auch Kto, esli ne my!, i n : Koms. pravda, 17. 7.1965, S. 2; I. Kazinec, i n : Sz 26. 5.1967, S. 2; s. insbesondere die Zentralfigur des sehr erfolgreichen, aber despotischen u n d charakterlich minderwertigen Kolchozvorsitzenden L y k o v bei V. Tendrjakov: Koncina, i n : Moskva, 3/1968, passim. 257 I. Pronin: Podgotovka, S. 29/30. 258 Sucharev, S. 110 f. 259 L. Ordanskaja, i n : Sz 4.1.1967, S. 4; s. auch V. OVchovskaja, i n : Izvestija, 26. 5.1967. 260 Volkov/Lisiëkin, S. 166. 261 P. A. Elagin: K o l l e k t i v n y j razum, i n : Rajonnoe zveno, S. 187. 255

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

Chruscev selbst hat bekanntlich i n dieser Hinsicht bei seinen öffentlichen Auftritten nicht immer ein gutes Beispiel gegeben, obwohl er einmal sagte: „Wenn der Leiter zu kommandieren versucht, so bedeutet das, daß er m i t dem Verstand nicht auf die Menschen einzuwirken vermag, die er leitet 2 6 2 ." Schlimmer aber war, daß seine Politik und seine organisatorischen Maßnahmen i n der Landwirtschaft die Atmosphäre aufrechterhielten, zum Teil wieder schufen, i n der solches Verhalten nahelag. G. Radov hat diese Atmosphäre glänzend analysiert, hat gezeigt, wie sie vor allem daraus entstand, daß man i m Namen des großen Ziels den Produktionserfolg, die Fähigkeit, Menschen als Arbeitskräfte „an ihre Plätze zu stellen, zu organisieren, anzutreiben und zu ernähren", über alles stellte und dafür Grobheit und Hochmut i n Kauf nahm 2 6 3 , sie mit der Bezeichnung „ein steiler Charakter" 2 6 4 beschönigte. Und vor allem zeigte Radov, daß alles das seine tieferen Ursachen nicht nur i n der Person Stalins — oder Chruscevs — hatte. Nicht zufällig hat ein hoher Parteifunktionär sich besonders über die Allgemeingültigkeit erregt, die Radov für seine Überlegungen beanspruchte 265 . Treffend und anschaulich wurde jüngst von einem der besten sowjetischen Kenner dörflicher Sozialverhältnisse die Macht der Kolchozvorsitzenden m i t folgenden Sätzen umrissen: „ U m der Kürze w i l l e n nehme ich einen Vergleich zu Hilfe . . . Bei Ihnen i n der städtischen Wohnung kommt Wasser durch die Decke, oder i m nahegelegenen Laden gibt es keine Milch mehr, oder Sie brauchen ein Taxi — werden Sie sich m i t allen diesen Bedürfnissen etwa an Ihren dienstlichen Vorgesetzten wenden? I m Kolchoz aber entspricht das der Lage der Dinge. Ob Sie eine Milchzuweisung aus dem Lagerhaus für Ihre Kinder brauchen oder die Zufuhr von Torf oder Brennholz, oder wenn Sie ein Haus bauen oder reparieren oder Maisstroh beschaffen wollen o d e r . . . — was braucht ein Dorfbewohner nicht alles! — am Kolchozvorsitzenden kommen Sie nicht vorbei. Und deshalb besteht der Doppelcharakter seiner Rolle i n der ländlichen Gesellschaft darin, daß er i n ihr zwei völlig verschiedene Funktionen zugleich ausübt. Er t r i t t gleichsam i n zwei Personen auf — sowohl als Organisator der Produktion als auch als Führer der Gesellschaft. Denn i n wessen Händen sich Baustoffe, Heizmaterial, Futter für das i n persönlichem Besitz befindliche Vieh und das Wichtigste vom Wichtigen auf dem Lande, die Transportmittel, befinden, bei dem konzentriert sich auch der übermächtige gesellschaftliche Einfluß, anders gesagt: die reale 262

Chruëëev, V, S. 238 (14. 3.1961). G. Radov: ,Carek' i vremja, i n : L i t . gazeta, 19.12.1964, S. 2. So die Überschrift des i n dieser Hinsicht ebenfalls aufschlußreichen A r t i kels von N. Demichovskij: K r u t o j nrav, i n : Sz 7.12.1967, S. 3. 285 1. 1. Bodjul, i n : Plenum ( 1965), S. 212. 283

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4. Die Kolchozvorsitzenden

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Macht. Natürlich verfügt die ländliche Gesellschaft über viele demokratische Institutionen — die allgemeine Mitgliederversammlung, der Dorf sowjet, die Parteiorganisation und schließlich auch die Kolchozleitung [als kollegiales Organ]. Aber wenn du heute dringend ein Auto brauchst oder Milch oder andere äußerst wesentliche Güter des Lebens, dann wirst du ja nicht warten, bis die allgemeine Mitgliederversammlung zusammentritt, und wirst dich nicht an den Dorf sowjet wenden, der solche Güter einfach deshalb nicht zuteilen kann, w e i l er nicht über sie verfügt. I m wirklichen und realen Leben führen alle Wege sowieso, wie man sagt, nach Rom — zum Vorsitzenden der Kolchozleitung 2 6 6 ." Dem ist hinzuzufügen, daß die Möglichkeit, Inlandspässe zu gewähren oder zu verweigern (s. oben, S. 48 f.), ein weiteres wichtiges Machtinstrument des Kolchozvorsitzenden darstellte. Der zitierte Autor deutet auch an, daß die übermächtige Stellung des Kolchozvorsitzenden ursprünglich durchaus beabsichtigt war, nämlich als es galt, aus der wider Willen i n die Kolchoze gezwungenen Dorfbevölkerung nahezu unentgeltlich so viel an Leistung und Produktion herauszuholen, wie nur möglich war: „Historisch ist dieser Doppelcharakter der Funktionen des Vorsitzenden aus der harten Notwendigkeit erwachsen, auf einer bestimmten Etappe das ganze Leben der ländlichen Gesellschaft den Interessen der Produktion unterzuordnen. Doch ist es nötig, aus der zeitweiligen Not eine Tugend zu machen? Noch dazu heute, da sie an einigen Orten schon die weitere Demokratisierung der ländlichen Gesellschaft und die Teilnahme der beiden entscheidenden sozialen Kräfte des Dorfs — der Jugend und der Intelligenzia — an der Leitung der Gesellschaft hemmt 2 6 7 ?" Hier klingt durch, daß die Machtfülle des Kolchozvorsitzenden nicht nur objektiv gegeben ist, sondern von seinen Untergebenen auch subjekt i v — und zwar i n negativem Sinne — empfunden w i r d (s. auch unten, S. 208 f.), daß sie der Modernisierung des sowjetischen Dorflebens i m Wege steht und die Landflucht fördert. Nicht mehr u m gute oder schlechte Kolchozvorsitzende dreht sich — wie es unter Chruscev üblich war — das Denken Janovs, sondern um die institutionelle Stellung des Kolchozvorsitzenden, die für Machtmißbrauch zu viele und für demokratische Kontrolle zu wenige Ansatzpunkte bot und so einen Typ des Kolchozvorsitzenden i n der A r t von Kleists Richter Adam prägte.

2ββ A. Janov, i n : L i t . gazeta, 52/1967 (27.12.1967), S. 10. Z u Janovs Darstellung, sie bekräftigend, P. Zainin, i n : L i t . gazeta, 6/1968, S. 10; s. auch die von Pavlov : Razvitie, S. 92 f. u n d 170, erwähnten Kompetenzerweiterungen und -anmaßungen von Kolchozvorsitzenden. 267 A. Janov, a.a.O.

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c) Typen und Verhaltensweisen Es war nur natürlich, daß die Bevölkerung die ortsfremden Kolchozvorsitzenden noch mehr als die einheimischen als von außen über sie gesetzte Obrigkeit empfand. Der soziale Abstand — sogar Antagonismus — trat gegenüber solchen Vorsitzenden, die aus städtischem Milieu, oft aus einem ganz anderen Beruf kamen, besonders stark hervor. „Er gehört einer anderen Klasse an. Er ist ein Mensch i n weißen Filzstiefeln" 2 6 8 , faßte ein sibirischer Kolchoznik seine Meinung über einen Kolchozvorsitzenden zusammen, der zwar ursprünglich auch vom Land stammte, aber lange i n der Stadt gearbeitet hatte. A u f die Frage: „Geht denn I h r Vorsitzender wirklich i n weißen Filzstiefeln? Warum sagen Sie, daß er ein Mensch aus einer anderen Klasse sei?" brach es aus dem Kolchoznik heraus: „,Er fühlt sich dem ländlichen Leben nicht tief verbunden. Er kann fortgehen. Und ist auch schon einmal fortgegangen. Machte Lebkuchen. Als es nach dem Kriege i n den Kolchozen schwer war, ging er davon, ins System [d. h. i n staatliche Dienststellen oder Betriebe] . . . Machte Lebkuchen und ging i n weißen Filzstiefeln und spuckte auf uns, die Kolchozniki. Überhaupt gibt es von denen i n weißen Filzstiefeln dort, i m System, viele. Sie ziehen weiße Filzstiefel und Reithosen an und laufen so herum. Eine solche Fresse, er spuckt auf dich herunter, ganz von oben, und hat vergessen, auf wessen Kosten er sich n ä h r t . . . Was für Löwen sich i m System durchbringen . . . Stiernacken, breites Maul, die setzen sich i m System fest . . . i n der Bezirkskonsumgenossenschaft, i n der Viehannahmestelle; Löwen m i t Zentnerfäusten sitzen sich dort die Hosenböden blank. Und auf uns, die Kolchozniki, blicken sie von oben herab.. [ . . . ] Ich verstand sehr gut, daß Cernostan [der Kolchoznik] jene entarteten Menschen i m Auge hatte, die nie gepflügt und gesät, nie m i t Spaten und Mistgabel gearbeitet haben, aber sobald sie eine Aktentasche tragen, gleich anfangen, hochmütig gegenüber dem zu sein, der hinter dem Pflug geht 2 6 9 ." Eine ähnliche Haltung gegenüber der Kolchozbevölkerung nahm auch die Frau eines neuen Kolchozvorsiteznden i n einer Erzählung Solzenicyns ein: „Der Vorsitzende ist neu, erst vor kurzem eingesetzt, aus der Stadt geschickt [ . . . ] die Frau des Vorsitzenden ging zu Matrëna. Sie war eine städtische Frau; m i t ihrer Entschiedenheit, ihrem kurzen grauen 268 269

Rebrin : Golovyrino, S. 59. Ebenda, S. 60 f.

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Halbmantel und dem drohenden Blick w i r k t e sie wie eine M i l i t ä r person. Sie kam i n das Haus herein und sah, ohne zu grüßen, Matrëna streng an. Matrëna geriet i n Verwirrung. ,Also', sagte die Frau des Vorsitzenden, das Wort auseinanderziehend. ,Genossin Grigor'evna! Man muß dem Kolchoz helfen! Man muß morgen kommen und Mist auf die Felder fahren!' [Matrëna war wegen Krankheit nicht mehr zur Kolchozarbeit verpflichtet.] [...] ,Und bring auch deine eigene Mitsgabel mit!' befahl die Frau des Vorsitzenden und ging hinaus, m i t dem steifen Rock raschelnd 270 ." Der K r i t i k e r Laksin kommentierte diese Szene m i t den Worten: „Übrigens bin ich nicht überzeugt, daß die Frau des Vorsitzenden selbst eine Gabel i n die Hände nehmen w i r d 2 7 1 . " Etwas anders, weniger hart, aber nicht weniger weit klaffte der A b stand zwischen der Bevölkerung und einem aus der Stadt gekommenen Kolchozvorsitzenden bei E. Doros: „Als Vorsitzenden empfahl, sozusagen, das Bezirks-Parteikomitee einen gewissen jungen Agronomen, einen ausgeprägt städtischen Menschen, genauer: hauptstädtischen, der zudem noch eine schwache Gesundheit hatte. Dieser junge Mann war der einzige Sohn eines Generals oder Admirals. Wahrscheinlich hatten seine Eltern, als er i n eine landwirtschaftliche Hochschule eintrat, angenommen, die Arbeit an der frischen L u f t werde seiner Gesundheit guttun. Zur Kolchozversammlung kam er i m eigenen Wagen gefahren, i n einem großen, lackglänzenden, schwarzen Auto. [ . . . ] Immerhin sagt niemand i n Uzbol' etwas Schlechtes über den neuen Vorsitzenden. Sie verzeihen es ihm, sozusagen, daß er i m Frühling das Blaue vom Himmel verspricht, sie aber i m Herbst, bei der Endabrechnung, nichts erhalten. Es kränkt sie auch nicht, daß man ihn nie auf den Feldern findet, auch nicht bei den Brigaden, und daß, wenn es notwendig ist, man ihn nur i m Kolchoz-Kontor antreffen kann, zu streng festgesetzten Tagen und Stunden für Besucher. Diesem gebildeten Agronomen gegenüber hat sich hier jene gleichgültige, jedoch nicht ganz respektvolle Einstellung herausgebildet, die der Bauer i n südlicheren Provinzen gewöhnlich dadurch ausdrückt, daß er i m H i n blick auf einen jungen Mann das sächliche Fürwort ,es' gebraucht 272 ." Der Schriftsteller A. Nekrasov hat überaus anschaulich einen Kolchozvorsitzenden beschrieben, den man als einen Typ vom alten Schlag, durch 270 271 272

Soléenicyn, S. 49. Laksin, S. 228. Doros: Suchoe leto, S. 18 f.

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die Unteroffizierslaufbahn gegangen, aber i m Kolchoz selbst geboren und auf gewachsen, bezeichnen darf: „Vasilij Grigor'evic Kacalov war ein Einheimischer, das heißt, er stammte aus diesem Dorf. Seine Bildung war gering, von Maschinen verstand er nichts, und dennoch w i l l ich die Möglichkeit nicht ausschließen, daß aus i h m ein annehmbarer Kolchozvorsitzender gewordden wäre, wenn er nur ein wenig davon verstanden hätte, wie man einen großen Kolchozbetrieb richtig führen muß, wenn die örtlichen Instanzen ihn ständig kontrolliert hätten, wenn er nicht seine eigene Kasse mit der des Kolchoz verwechselt hätte, und wenn es, schließlich, i m Dorf mehr Männer gegeben hätte, die i h m eine Arbeitsleistung abverlangen konnten. Vasilij Grigor'evic selbst sah seine Obliegenheiten darin, erstens, allen Anordnungen der Vorgesetzten [d. h. der Bezirksinstanzen] nachzukommen, wenn möglich fristgerecht, da er — wie jeder ungebildete Mensch seiner vielen Mängel bewußt — die Vorgesetzten schrecklich fürchtete; zweitens, für den Kolchoz alles mögliche Notwendige und Überflüssige zu beschaffen, ohne Rücksicht auf den Preis; drittens, den Kolchozniki ,Wohlwollen zu erweisen 4 , wie er sich auszudrücken pflegte. I n diesen Ausdruck legte Vasilij Grigor'evic den folgenden Inhalt: Wenn da einmal eine Kolchoznica ihn u m ein Pferd bittet, u m i n die Stadt auf den M a r k t oder i n den Wald nach Holz zu fahren, gibt Vasilij Grigor'evic es ihr natürlich, er weist sie nicht ab. Und aus falscher Dankbarkeit, damit der Vorsitzende ihr auch i n Zukunft nichts abschlage, beeilt sich die Kolchoznica, möglichst gleich Schnaps zu kaufen, Dünnbier zu brauen und den Vorsitzenden mitsamt dem B r i gadier zu Gast zu laden. Oder Vasilij Grigor'evic schickt die Leute hinaus zur Arbeit, geht dann ohne viel Aufhebens zu irgend jemand ins Haus, t r i n k t und ißt etwas, kommt nach einer Stunde oder länger noch röter und energiegeladener wieder heraus, zupft die Uniformbluse unter dem breiten Offiziersriemen zurecht und stolziert so ins Dorf. Dann läßt er den Hengst einspannen und fährt aufs Feld, um den Gang der Arbeiten zu kontrollieren. Wenn i h m nicht schon gleich am Morgen seine Frau oder jemand von den Kolchozniki die Laune verdorben hat, beginnt er dort unvermeidlich, Späße zu machen, lacht, und manchmal balgt er sich auch mit den jungen Kolchoznicy auf dem duftigen Heu herum. Die Wirtschaft des Kolchoz führte Vasilij Grigor'evic nicht weniger seltsam. Wenn, zum Beispiel, der Kolchoz Kohlen brauchte, wandte er sich m i t dieser Bitte nicht an den Leiter des Schachtes, der die Patenschaft über seinen Kolchoz übernommen hatte, nicht an die Planungsorgane des Bezirks-Sowjets, sondern an seine zahlreichen Freunde,

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die er unter den Leitern von Lagerhäusern, Depots, Garagen, Versorgungs- und Absatzbüros hatte. [ . . . ] Aber es wäre völlig falsch, nach alledem zu denken, Vasilij Grigor'eviö sei ein Gauner gewesen. I m Gegenteil: Er war fest überzeugt, daß alles, was er tat, dem Kolchoz und den Kolchozniki zum Nutzen gereichte. Auch wenn er trank, tat er es, nach seiner festen Überzeugung, aus den gleichen Erwägungen: ,Wenn du nicht trinkst und nicht einen für dich nützlichen Menschen bewirtest, wie kannst du dann irgend etwas beschaffen, etwas erreichen. 4 [ . . . ] Vasilij Grigor'eviö ist nun schon längst abgelöst, an seiner Stelle hat man einen anderen aus der Stadt geschickt, aber ich sehe noch wie heute seine große, gedrungene Gestalt i n der Feldbluse mit dem breiten Offiziersriemen (er war i m Range eines Feldwebels demobilisiert worden) und in den gut sitzenden Chromleder-Stiefeln 273 . 44 „Sie ist natürlich nicht sehr bedeutend, die Stellung eines Kolchozvorsitzenden, aber wenn man es m i t Verstand anfaßte, hatte sie ihren Sinn: Man konnte, um irgendwohin zu reiten, sich ein Pferd nehmen, ohne jemand zu fragen; und man konnte die eigenen Schafe i n der Kolchoz-Herde mitweiden lassen, damit man nicht überflüssig Geld für den Hirten [der privat das Eigenvieh der Kolchozniki weidete] auszugeben brauchte (dann, i m Herbst, konnte man sich aus der K o l choz-Herde die größten Schafe heraussuchen, denn was bedeutete das schon für den Kolchoz: wenn nur die Stückzahl stimmte, kam es nicht darauf an, welche Schafe i n der Herde waren); auch einen Lastwagen Kohlen konnte man sich auf Kolchozkosten anfahren lassen; und Geld konnte man sich aus der Kolchoz-Kasse nehmen, wenn eine günstige Einkaufsgelegenheit sich bot, man selbst aber gerade kein Geld hatte (später kann man dieses Geld ja wieder auf Kolchoz-Zwecke übertragen); und Bauholz und Dachblech für das Haus, das man sich baute (das alte Haus war noch gut instand, so daß Vasilij Grigor'evic, wäre er nicht Vorsitzender gewesen, gar nicht auf den Gedanken gekommen wäre, sich ein neues zu bauen); und noch vieles andere, man kann es ja nicht alles aufzählen, was so unmerklich aus dem Kolchoz herausgezogen wurde. Und so hatte er, eben aus diesen Erwähungen heraus, gar keine Lust, von der Stelle des Kolchozvorsitzenden zurückzutreten 274 . 44 Bis Mitte der 1950er Jahre oder sogar bis 1958 (als die MaschinenTraktoren-Stationen aufgelöst wurden und eine neue Welle der Zusammenlegungen von Kolchozen einsetzte) war der von Nekrasov ge273 274

Nekrasov, S. 79 f. Ebenda, S. 92.

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zeichnete Typ sicher weit verbreitet, wo er noch nicht von einem aus den Städten gekommenen Funktionär oder „Spezialisten" abgelöst war. (Auch darin war er typisch, daß i h m dieses Schicksal widerfuhr, vgl. oben, S. 170 ff.) Daß es sich hier um einen noch nicht stark vergrößerten Kolchoz handelte, erkennt man daran, daß die Kolchozfrauen sich wegen Fuhrwerk an i h n wenden; später waren dafür vor allem die Brigadiere zuständig (vgl. unten, S. 250). Auch andere verbreitete Kennzeichen findet man i n i h m wieder: Er war demobilisierter Feldwebel, er lebte i n ständiger, aus der weiter oben geschilderten Situation nur allzu verständlicher Furcht vor übergeordneten Instanzen, sein Bildungsniveau war niedrig (s. oben, S. 169). Und schließlich besteht von der Handlung von Nekrasovs Erzählung her keine Notwendigkeit, ihn als besonders negativ oder positiv zu schildern, so daß auch deshalb, angesichts des bei russischen und sowjetrussischen Schriftstellern traditionellen Bestrebens, Typisches darzustellen 275 , anzunehmen ist, daß der Autor keinen seltenen Typ beschreiben wollte. Angebracht ist vielleicht die Einschränkung, daß aller Wahrscheinlichkeit nach ein gebildeterer, i n Organisation und Menschenführung befähigterer Typ mehr i n den großen Kolchozen der fruchtbaren Schwarzerde-Zone und der südlichen Steppen anzutreffen war sowie auch i n jenen Betrieben des Südens, wo Spezialkulturen höhere Anforderungen an agrotechnisches Wissen stellten 2 7 6 . Angesichts des Gesamtdurchschnitts der Sowjetunion müßte dann der Typ Nekrasovs i n den weniger begünstigten Gebieten, darunter Zentral-, West- und Nordrußland, häufig anzutreffen gewesen sein. Dieser Kolchozvorsitzende trug noch weitere Züge, die man i m sowjetischen Schrifttum öfters genannt findet, denn es gab „auf dem Lande immer noch Leute, die es lieben, ihre Macht für ihre persönlichen Interessen zu mißbrauchen" 2 7 7 . Daß der Kolchozvorsitzende das beste Haus i m Dorf oder eines der besten hat bzw. sich neu baut, nachdem er Vorsitzender geworden ist, w i r d oft erwähnt 2 7 8 und ist an sich nichts Auffälliges. Sein Einkommen ist ja das höchste i m Dorf. Aber bedenklich ist die Beschaffung des Baumaterials, das Mangelware ist, die der Kolchoz ebenfalls dringend braucht, und dazu konnte noch, mehr oder 275

Vgl. Kantorovië, S. 171. I n der Ukraine hatten bei der Volkszählung 81,5 °/o der Kolchozvorsitzenden u n d -Stellvertreter eine siebenjährige oder umfangreichere Schulbildung gegenüber n u r 64,2 °/o i n der RSFSR, Tab. 52, I t o g i . . . Ukrainskaja SSR u n d I t o g i . . . RSFSR; zum 1.4.1966 hatten von den Kolchozvorsitzenden der Ukraine 78,5 °/o eine Hoch- oder mittlere Fachschuldbildung (Narodne hospodarstvo U k r a j i n s ' k o j i RSR ν 1965 roci, K i e w 1966, S. 386), von denen der RSFSR n u r 64 %> (Nar. choz. RSFSR ν 1965 g., Moskau 1966, S. 347). 277 Sucharev, S. 111. 278 Vgl. ζ. B. Kazakov , dt., S. 302; Krutilin , S. 213 f. 278

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weniger bewußt, die Beanspruchung der Kolchozkasse oder des Geldes von Untergebenen für den eigenen Hausbau kommen 2 7 9 ; oder, i n schlimmeren Fällen, derartiger Hausbau auch für Familienangehörige und sogar Freundinnen 2 8 0 oder i n der Bezirksstadt aus unehrlich dem Kolchoz entzogenen Geldern 2 8 1 . Problematisch war auch die Anschaffung eines Personenautos — ein ausgesprochener Luxusgegenstand i n der Sowjetunion — aus Kolchozgeldern für den Vorsitzenden, vor allem, wenn die Anschaffung eines anderen Autos vordringlicher gewesen wäre 2 8 2 . Auch das „Entleihen" aus der Kolchozkasse scheint oft vorgekommen zu sein, und verdächtig selten haben die Kolchoze auf der Rückzahlung solcher Gelder bestanden 283 . Von hier war der Schritt zu vollgültigem Betrug und Unterschlagung 284 nicht mehr weit, wobei die fehlbaren Kolchozvorsitzenden, wenn sie bei den Bezirksbehörden gut angeschrieben waren, dort nicht selten gesetzwidrige Rückendeckung fanden 2 8 5 . „Manche meinen, daß ein Vorsitzender, da er große Macht hat, sich alles umsonst aus dem Kolchoz holt", läßt Doros seinen Idealtyp Ivan Fedoseeviö sagen und hinzufügen, daß er selbst gerade deshalb auf strengste Korrektheit achte 286 . Dabei bleibt kaum ein Zweifel, was die weit verbreitete Praxis war. Ähnlich bei der Frau eines Kolchozvorsitzenden, die keine Milch für den Haushalt bekam — „Das Soll ist nicht erfüllt, w i r haben sogar den Kindergarten auf Hungerration gesetzt, für die Lehrer gibt's, daß weiß sie genau, schon seit langem nichts mehr" — und die ihrem Mann vorwarf: "Was bist du denn für eine Vorsitzender, wenn du i m Kolchoz keine Milch bekommen kannst? 2 8 7 " Hier w i r d ebenso deutlich, was die verbreitete Auffassung war: Für den Kolchozvorsitzenden persönlich hat trotz aller Knappheit noch etwas da zu sein. Der Verfasser ist geneigt, einen verbreiteten Typ auch i n jenem K o l chozvorsitzenden aus der Provinz K a l i n i n zu sehen, von dem seine Untergebenen sagten: „Er bemüht sich u m den Betrieb, nur . . . man [d. h. die 279

1961). 280

Vgl. G. Radov, i n : L i t . gazeta, 19.12.1964, S. 2; Chruëëev, V, S. 92 (23. 2.

Vgl. Izvestija, Nr. 41/1964 (hier angeführt nach Hastrich, S. 165); ganz so puritanisch, wie man sich i m Westen manchmal das Sowjetleben vorstellt, w a r das der Kolchozvorsitzenden nicht immer, vgl. auch Krutilin, S. 205; Nosov: P j a t y j den', S. 121,124; V. Tendrjakov: Konöina, i n : Moskva, 3/1968, S. 101—108, 115. 281 Tendrjakov, a.a.O., S. 92. 282 Vgl. Krutilin, S. 214, 623. 283 Kaz'min: Usilit', S. 6 f. 284 Vgl. zu solchen Erscheinungen einige Volksverse, i n : K u r s k i e castuski, K u r s k 1960, angeführt bei Cugunov, S. 497, u n d einen weiteren bei Vlasova/ Gorelov, Nr. 4231. 285 Chruëëev, V, S. 91 f. (23.2.1961), V, S. 348 (31.3.1961); Beispiele bei Nekrasov, S. 84; Doroë : Suchoe, S. 17 f.; Izvestija, Nr. 41/1964 (nach Hastrich, S. 165); Kogda ne Scitajutsja . . . , i n : Pravda, 29. 7.1959, S. 3. 288 Doroë: Dva dnja, S. 23. 287 Abramov, dt., S. 108.

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

übergeordneten Organe] läßt ihn nicht immer tun, was richtig wäre 2 8 8 ." Das gilt auch für die Hauptperson i n F. Abramovs Erzählung, den K o l chozvorsitzenden, der i m Grunde recht gut weiß, was wirtschaftlich und menschlich not täte, der aber weitgehend resigniert hat, w e i l er ständig unter dem Druck von Direktiven steht, weil i h m Arbeitskräfte fehlen, w e i l die Kolchozniki verbittert sind. So schleppt er seinen Betrieb dahin, so gut es eben geht, grundehrlich (auf ihn beziehen sich die oben angeführten Worte wegen Milchbeschaffung) und ohne sich etwas zuschulden kommen zu lassen, aber auch ohne merkliche Erfolge. Aber i n einem hebt er sich von einem u m das Jahr 1960 vielleicht vorherrschenden Durchschnitt ab: Er wagt am Schluß und Höhepunkt der Erzählung offenen Widerstand gegen die Bezirksfunktionäre, und das ist offensichtlich etwas für ihn selbst wie für die Umwelt völlig Ungewohntes. Solcher Widerstand kommt einem von Tendrjakov geschilderten K o l chozvorsitzenden 289 nicht i n den Sinn. Auch er weiß, was eigentlich für seinen Betrieb not tut, aber er hat gelernt: „ E i n kluger Mann besteigt den Berg nicht, er geht um ihn herum 2 9 0 ." So macht er zum Schein die verschiedenen Kampagnen eifrig mit, sucht sie aber i n seinem Kolchoz auf ein M i n i m u m zu beschränken, das i h m ermöglicht, mit den Bezirksbehörden nicht i n Konflikt zu geraten und doch seinen Betrieb nicht zu ruinieren. Dabei hat er sein eigenes Wohlergehen ebenso i m Auge wie das seiner Kolchozniki. Er ist nicht frei von Eigennutz und Lüge, aber i m ganzen fahren sowohl der Staat (mit den Ablieferungen) als auch die Kolchozbevölkerung (mit den Arbeitsentgelten) nicht schlecht dabei 2 9 1 . I n Anbetracht der Umstände, unter denen er arbeiten muß, kann man i h m kaum einen Vorwurf machen, er ist ganz und gar ein adaptiertes Produkt des Kolchoz-Systems, aber auf einer etwas höheren Stufe als Nekrasovs Kolchoz Vorsitzender. Deutlich hat Tendrjakov mit dieser Gestalt ebenfalls einen weit verbreiteten Typ zeigen wollen. Abramovs menschlich sympathischerer Kolchozvorsitzender wäre vielleicht ein guter und erfolgreicher Betriebsleiter gewesen, wenn er unter anderen Voraussetzungen hätte arbeiten können. Es gab sicher nicht wenige seinesgleichen, aber diejenigen unter ihnen, die auch Erfolg hatten und ihre Betriebe zum Gedeihen, ihre Untergebenen zu bescheidenem Wohlstand brachten, müssen Ausnahmen gewesen sein. A l l z u leicht 288

Ivanov: V rodnych, S. 186; ausführlich sind „ M ü h e n u n d Freuden" eines solchen positiven, zugleich parteitreuen Typs geschildert i n der 1955 spielenden Erzählung von Borisov, S. 9—57. 289 Tendrjakov: Podenka, S. 101—104. 290 Ebenda, S. 103. 291 Ä h n l i c h der erfolgreiche Kolchozvorsitzende L y k o v bei V. Tendrjakov: Koncina (Moskva, 3/1968, S. 3—138), s. dazu V. Ivanov: Fakty, S. 5.

4. Die Kolchozvorsitzenden

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konnte es dann i n der Bezirksleitung über sie heißen: „Er sorgt sich um die Kolchozniki, aber nicht u m den Plan, u m den Staat 2 9 2 ." Die tiefe Krise, i n der sich die sowjetische Landwirtschaft am Ende von Chruscevs Regierungszeit befand, läßt es als ausgeschlossen erscheinen, daß die Zahl der florierenden Betriebe und damit der erfolgreichen Betriebsleiter groß war, so oft auch i n der Presse gerade über diese berichtet wurde. Doros schildert einen solchen Kolchozvorsitzenden, der Erfolg hatte und stets auf das Wohl nicht nur seines Betriebes, sondern auch seiner Kolchozniki bedacht war. Aber selbst dieser hatte einen für viele andere Leiter von sowjetischen Agrarbetrieben charakteristischen Zug: Er lernte erst spät, i n seinen Untergebenen etwas anderes zu sehen als nur „Produzenten des Sozialprodukts" 2 9 8 , und beachtete gegenüber einfachen Kolchozniki nicht immer die Grundformen menschlichen Respekts 294 , hielt sich nicht immer an die Gesetze unid Statuten, wenn er „ m i t machtvoller Hand Ordnung schuf" 2 9 5 . Das sind freilich Züge, wie sie die Position als Leiter eines großen Betriebes mit Hunderten von Arbeitskräften überall i n der Welt m i t sich bringen kann, und sie gehen i n dem genannten Fall auch nicht über ein erträgliches Maß hinaus, werden außerdem durch vieles Positive aufgewogen. Aber es ist sicher kein Zufall und keine ausgefallene Laune, daß ein sowjetischer K r i t i k e r auch diese scheinbar unwichtige Seite i m Charakerbild des Kolchozvorsitzenden aufgriff und daran eine allgemeinere Bemerkung knüpfte über die Situation, i n der sie sich ergeben konnte: „Hier besteht immer die Möglichkeit, selbst für einen bescheidenen, nicht ehrsüchtigen Menschen, allmählich stolz und anmaßend zu werden, sich einen Kommandoton — die Unsitte eines solchen KolchozAutokraten — anzueignen. Nicht umsonst erstarrt selbst der grundehrenhafte und grundbescheidene Ivan Fedoseeviè [der genannte K o l chozvorsitzende] vor Verblüffung, als i h m auf eine Bemerkung hin, die ihr nicht gefallen hat, eine Kolchoznica von Uzbol' [ein Dorf des Nachbarkolchoz] sagt: ,So einen wie dich hätten w i r längst als Vorsitzenden weggejagt. 4 Nicht ohne Ironie gegenüber seinem Freund bemerkt E. Doros, daß die Kolchozniki von Ljubogosticy es nicht gewagt hätten, so m i t ihrem mächtigen Vorsitzenden zu sprechen 298 ." Zu welchem Verhalten gegenüber Untergebenen die Machtstellung der Kolchozvorsitzenden i n weniger günstig gelagerten Fällen führen konnte, 292 293 294 205 296

B. Mozaev, i n : L i t . gazeta, 18. 5.1965, S. 2. Doroë: Rajgorod, S. 23. Doroë: Dozd', S. 38/39. Doroë : Rajgorod, S. 25/26. Vinogradov, S. 246/247.

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

wurde oben bereits gezeigt. Diese Machtstellung beruhte nicht nur auf der Bedeutung, welche die Person des Vorsitzenden für alle Kolchozniki hatte, auf der ungünstigen arbeits- und zivilrechtlichen Position seiner Untergebenen und den fragwürdigen Formen der „Kolchoz-Demokratie", sondern auch auf zahlreichen Dingen des Alltags, i n denen der Kolchoznik auf das Wohlwollen seines Betriebsleiters angewiesen war (vgl. oben). Bei Stadnjuk sagt ein Kolchoznik, dem von der Kolchozleitung offenkundig Unrecht geschieht und dem man den Rat gibt, sich höheren Orts zu beschweren: „Bei uns ist es nicht Brauch, sich zu beschweren. Wer sich mit den Chefs auf Streit einläßt, bezahlt es hinterher m i t Tränen 2 9 7 ." I n einem sowjetischen Aufsatz werden einige solche Dinge i m Zusammenhang m i t der Frage genannt, ob ein Kolchoznik wirklich wagen kann, i n offener Versammlung gegen den Vorsitzenden zu sprechen. Es heißt da: „Man darf auch die große Abhängigkeit des Dorfbewohners von den Leitern des Artel' [Kolchoz] nicht vergessen. Die dem Kolchoznik zugeteilte Hoflandparzelle kann mehr oder weniger fruchtbaren Boden haben, nahe beim Haus oder weit entfernt davon liegen. Der Kolchoznik kann eine mehr oder weniger vorteilhafte Arbeit zugewiesen erhalten, eine größere oder kleinere Menge Futter für das Vieh, das er persönlich besitzt. Man kann i h m Transportmittel für Holzfuhren oder Material zum Dachdecken verweigern. Ein Arbeiter i n der Stadt, der m i t seiner Betriebsleitung nicht auskommt, kann leicht i n einen anderen Betrieb übergehen. Der Kolchoznik hat keine solche Möglichkeit, denn i m Dorf gibt es keinen anderen Produktionsbetrieb 2 9 8 ." Da aus Hoflandparzelle und Eiigenvieh i m Durchschnitt ebensoviel, oft auch mehr Einkommen erzielt wurde wie aus der Kolchozarbeit 299 , konnten dagegen gerichtete Schikanen die Familien einfacher Kolchozn i k i sehr empfindlich treffen. Ebenso war Zuweisung „vorteilhafter" oder „unvorteilhafter" Arbeit für den Kolchoznik sehr schwerwiegend: Das komplizierte Lohnsystem bezahlte gleiche Arbeiten besser, wenn sie auf dem einen Feld m i t einer bestimmten K u l t u r geleistet wurden, und schlechter, wenn auf einem anderen 300 . Für eine Melkerin konnte es enorm wichtig sein, ob sie gute oder schlechte Kühe zur Betreuung, gutes und reichliches Futter für diese zugeteilt erhielt oder nicht. „Für Menschen, die zur Kolchozleitung gehören, gibt es tausend Arten, wie sie einen Untergebenen benachteiligen können. I m Herbst gerieten die schlechtesten Kühe i n Fan'kas Obhut, ihr Verdienst ging herunter, 207 298 299 300

Stadnjuk, 9, S. 18. Krivokobyl'skij/Martynjuk, S. 103. Wädekin: Privatproduzenten, S. 121. Sajbekov, S. 258.

4. Die Kolchozvorsitzenden

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sie verlor das Interesse an der Arbeit, wurde zur letzten der letzten i m Viehstall 3 0 1 ." Umgekehrt konnten die Kolchozvorsitzenden — und natürlich auch andere Führungskräfte — für bestimmte Kolchozniki besonders günstige Bedingungen schaffen, womit sie unter Umständen auch sich selbst nutzten: „Es gibt Leiter, die [ . . . ] für die einen bessere Bedingungen schaffen, u m sich dann i n deren Erfolgen zu sonnen, die anderen aber unter schlechtere Bedingungen stellen 3 0 2 ." „Der Name des besonders Fortschrittlichen [peredovik] w i r d zu einer A r t Schild, hinter dem die Leiter des Kolchoz Deckung finden 303." Rekordleistungen, auch wenn sie nur von einzelnen vollbracht wurden, verhalfen dem ganzen Betrieb zu Publizität, zu besseren Materialzuteilungen, besseren Möglichkeiten, die eigenen A n liegen geltend zu machen, usw., sie gewährten dem, der sie vollbrachte, höheres Einkommen und die Aussicht, auch künftig bevorzugte Arbeitsbedingungen zu erhalten, verhalfen aber auch dem Kolchozvorsitzenden zu Ansehen und Beziehungen für sich persönlich. „ W i r wissen doch, wie das alles gemacht w i r d " — i n diesen Worten kommt die weit verbreitete Einschätzung solcher Erscheinungen zum Ausdruck 3 0 4 . Hier konnten sich „sozialistischer Wettbewerb", Betriebsinteressen und persönliche Interessen unentwirrbar verfilzen 3 0 5 . Auch die Betriebsleitung hatte dann ein Interesse daran, daß der „Leuchtturm" (majak) nicht erlosch. Selbst wenn sich später herausstellte, daß nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war, Schloß sie nach Möglichkeit die Augen davor oder suchte sogar den Betrug zu decken 306 . I m Mittelpunkt solcher Vorgänge stand notwendig der Betriebsleiter. Ähnliches gab es auch i n nicht-agrarischen sowjetischen Betrieben m i t ihrem System der Normen und Prämien, der „sozialistischen Wettbewerbe" und der Herausstellung von „Stoßarbeitern". I m Kolchoz (und i n geringerem Ausmaß auch i m Sovchoz) kam hinzu, daß Betrieb und Wohnort identisch waren, die Macht des Betriebsleiters weit über das Arbeitsverhältnis hinausreichte. d) Arbeitsbedingungen und Bezahlung Die Kolchozvorsitzenden gehörten zu den am meisten beschäftigten Leuten ihrer Betriebe. I m Jahre 1962 arbeiteten sie durchschnittlich 312 301 Rebrin : Golovyrino, S. 69; ein ähnlicher Fall, dem nicht einmal böse A b sicht zugrunde lag, bei Nosov: P j a t y j den', S. 116. 302 Pravda, 3. 4.1961, S. 1 (Leitartikel). 303 Chruscev , I V , S. 263 (5.1.1961). 304 A. Dergaëev , i n : Koms. pravda, 22. 8.1965, S. 2. 305 Vgl. Chruëëev , I V , S. 435 (7. 2.1961). 306 Diese Problematik ist das Thema der Novelle von V. Tendrjakov: Podenka. — s. auch einen solchen F a l l i n einem Sovchoz bei G. Palamarëuk , i n : Sz 16. 7.1966, S. 6.

14

Wädekin

V. Die Leiter der Agrarbetriebe

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Tage: i n dieser Hinsicht wurden sie nur von den Brigadieren übertroffen, und die Hauptbuchhalter kamen ihnen gleich 3 0 7 . I n den Hauptzeiten des landwirtschaftlichen Arbeitseinsatzes kannten sie keine Feier- und Ruhetage 3 0 8 , was die über das normale Maß von jährlich 290 Arbeitstagen 3 0 9 hinausgehende Zahl i m wesentlichen bewirkt haben dürfte. Ihre tägliche Arbeitszeit betrug 10 bis 12 Stunden und manchmal auch mehr 3 1 0 , war vermutlich i m Sommerhalbjahr noch länger, i m Winterhalbjahr dafür etwas kürzer. Ein erheblicher Teil dieser Arbeitszeit war durch die unzulängliche innerbetriebliche Organisation und die spezifischen Anforderungen des sowjetischen Wirtschaftssystems und der übergeordneten Verwaltungsorgane bedingt. Hier sind die allmorgendlichen Arbeitseinteilungen (narj ad) m i t den Brigadieren und Fachkräften zu nennen (über die gleiche Erscheinung auf niedrigerer Ebene s. unten, S. 245 f.) und die „Beschaffer"-Tätigkeit (vgl. oben, S. 184), von der auch die Betriebsleiter beansprucht wurden, wenngleich nicht ganz so stark wie ihre Fachkräfte 3 1 1 (über diese Kap. VI/4). Der Mangel an modernen Kommunikationsmitteln wie Telefon und Kurzwellen-Sprechgeräten sowie an Büromaschinen und Transportmitteln (bzw. an guten Straßen) erforderte bei dem Riesenmaß der Betriebe zusätzlichen Zeitaufwand 3 1 2 . Grob gerechnet verschlangen Arbeitseinteilungen und Konferenzen ein Viertel der Arbeitszeit, „Beschaffung" und Absatz sowie Fahrten und Wege ein weiteres Viertel; zehn Prozent gingen auf innerbetriebliche Kontrollen und Erlangung von Informationen über Gang und Stand der Arbeiten, ein Fünftel bis ein Viertel auf routinemäßige Schreib- und Büroarbeit, der Rest entfiel auf Empfang von Funktionären, Kommissionen, Delegationen, Gästen des Kolchoz sowie der eigenen Untergebenen m i t ihren verschiedenen Anliegen 3 1 3 . Als besonders störend und unproduktiv wurde der Zeitaufwand empfunden, den die Korrespondenz und das Ausfüllen von Formularen, Fragebogen usw. beanspruchte, welche die verschiedensten Behörden und Organisationen i n bis zur Sinnlosigkeit verallgemeinerter Form von den Kolchozvorsitzenden verlangten 3 1 4 . Das betraf oft Nichtigkeiten, wegen denen niemand den Leiter eines ähnlich großen Industriebetriebes 307

Karnauchova: Ispol'zovanie, S. 68. Loza, S. 28; Volkov/Lisièkin, S. 166. Karnauchova: Ispol'zovanie, S. 68. 310 Loza, S. 28; s. auch das Tagebuch von I. A. Jachimoviè, i n : Koms. pravda, 30.10.1964. 311 L . Zalevskij, E. Juêkevië , A. Simurov , i n : Pravda, 22. 7.1967, S. 2; s. auch V. Zasorin , i n : Sz 28. 7.1967, S. 3. 312 Zalevskij /JuSkeviö/ Simurov, a.a.O. 313 Ebenda; s. auch P. Seiest, i n : Sz 27. 7.1966, S. 3. 308 309

314

P. Seiest, a.a.O.

4. Die Kolchozvorsitzenden

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zu behelligen gewagt hätte, doch den Leitern von Agrarbetrieben gegenüber hatte man keine Bedenken 3 1 5 . Hinzu kamen allzu häufige Konferenzen i m Bezirkszentrum, zu denen unbedingt immer der Betriebsleiter selbst erscheinen mußte und die meist ganze Tage beanspruchten — „Sitzungen, Befehle, Anschnauzer, Rügen" —, obwohl ihr sachlicher Inhalt sich auch i n zwei bis drei Stunden oder noch weniger hätte abhandeln lassen 316 . „Man fragt sich: Wo soll denn der Vorsitzende Zeit finden nicht nur zur Entscheidung operativer Fragen, sondern auch zum Nachdenken über Neues i n der Wirtschaft, u m sich über die Analyse der Quartalsabrechnung zu setzen, über ein bestimmtes Problem nachzusinnen? Und wo soll er schließlich unter solchen Umständen eine oder zwei Stunden aus seinem Zeitbudget für eigenes Lernen erübrigen 3 1 7 ?" Für die starke Beanspruchung, die Unannehmlichkeiten des Landlebens, für das Risiko einer Dienststellung, die eng m i t dem — unter schwierigen Bedingungen anzustrebenden — Betriebserfolg verknüpft war, sollte die Bezahlung der Kolchozvorsitzenden einen Ausgleich gewähren. Schon zu der Zeit, als i n den Kolchozen ausschließlich das System der nicht fixierten Arbeitseinheiten (trudoden') galt, erhielten die K o l chozvorsitzenden einen Teil ihres Gehalts i n einem nach der Saatfläche des Betriebs und den Roheinnahmen berechneten Geldbetrag, also eine A r t garantiertes Mindestgehalt 3 1 8 . Was man i m ganzen als angemessen betrachtete, läßt sich aus dem ersehen, was 1955 den „Dreißigtausendern" (s. oben, S. 171) i n Aussicht gestellt wurde. Sie sollten, wenn sie sich bewährten, ein monatliches Einkommen von 200 Rbl. (2000 damalige Rubel) haben 3 1 9 , wobei der Staat ihnen für das erste Jahr 150 Rbl. garantierte, für das zweite Jahr 120 Rbl., für das dritte Jahr 100 Rbl., dann nichts mehr 3 2 0 . Der zugrundeliegende Gedanke war, daß sie die übernommenen rückständigen Kolchoze schrittweise zur Blüte brachten, ihr vom Kolchoz bezogenes Einkommen damit stieg und die staatliche Zusatzzahlung sich vermindern konnte. Dieses Schema läßt erkennen, daß man für rückständige Kolchoze damals m i t einem Monatseinkommen des Vorsitzenden von etwa 50 Rbl. rechnete (die Differenz zwischen Chrusfcevs Richtzahl und der staatlichen Garantie des ersten Jahres), für mittelmäßige Kolchoze mit Einkommen um und über 100 Rbl. Den Betrag von 200 Rbl. bezeichnete Chruscev 315

Ebenda. A. Fesenko, i n : Sz 20. 8.1966, S. 4; P. Seiest, a.a.O.; Ivanov: 317 R Seiest, a.a.O. 318 Wronski: Rémunération, S. 42 ff. 319 Chruëëev , I I , S. 19 (18. 2.1955), u n d S. 51 (30. 3.1955). 320 V O vom 25. 3.1955, i n : D i r e k t i v y , I V , S. 396. 316

14*

Licom, S. 213.

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

als „hohen Satz" 3 2 1 . Er lag auch i m Jahr 1963 noch über dem Unionsdurchschnitt der Gehälter der Kolchozvorsitzenden, der nunmehr 170 Rbl. betrug 3 2 2 , obwohl man bis dahin verschiedene Maßnahmen zur Erhöhung der Kolchozeinkommen getroffen und i n der Zwischenzeit die Durchschnittsgröße der Betriebe sich nahezu verdoppelt hatte 3 2 3 . Darin bestand ein Unterschied zu den Sovchozdirektoren, deren Gehälter zwar ebenfalls von der Betriebsgröße abhingen und ungefähr i n der gleichen Größenordnung wie die der Kolchozvorsitzenden lagen (s. oben, S. 177), bei denen aber das alljährliche Wirtschaftsergebnis geringeren Einfluß auf die Höhe des Gehalts und örtliche Sonderregelungen — außer den i n der Gehaltsordnung vorgesehenen — gar keinen hatten. I m übrigen galten die Gehälter der Sovchozdirektoren als eine A r t Richtmaß, über das i n den Kolchozen nicht hinausgegangen werden sollte 3 2 4 . Die Durchschnittszahlen lassen aber erkennen, daß die immer wieder erklingenden Warnungen 3 2 5 vor zu hohen Gehaltsfestsetzungen i n den Kolchozen — an denen zwischen Vorsitzenden und Fachkräften ein gemeinsames Interesse bestand (s. unten, S. 271 f.) — nur bei relativ wenigen Betrieben berechtigt gewesen sein dürften. Anders als bei den Staatsbetrieben gab es keine verbindlichen Gehälterskalen für die Kolchoze, sondern nur eine Anzahl von Empfehlungen und Musterordnungen i n den verschiedenen Unionsrepubliken und Provinzen 3 2 6 , die den gemeinsamen Grundgedanken hatten, daß die Höhe der Gehälter der Kolchozvorsitzenden i n Relation zur Höhe der Verkaufserlöse (Roheinnahmen) — also der Ablieferungen, nicht des Produktionsumfangs — ihrer Betriebe stehen sollte. I m Durchschnitt entsprachen die Gehälter den Empfehlungen, aber es gab starke örtliche Abweichungen i n A r t und Form der Anwendung 3 2 7 . Bei Überwiegen der Gehaltsfestsetzungen nach der Höhe der Ablieferungen wurde in manchen Kolchozen auch der Umfang der Saatflächen und Viehbestände oder der Bruttoproduktion zugrundegelegt 328 . Erhebliche regionale Unterschiede und innerhalb der Regionen zwischen einzelnen Betrieben ergaben sich auch daraus, daß sowohl Betriebsgröße als auch Betriebserfolg (der sich zum großen Teil, aber nicht ausschließlich i n den Roh321

Chruëëev, I I , S. 286 (19.12.1956). Ivin/Chramova, S. 96. 323 Vgl. die Kennzahlen pro Kolchoz Ende 1954 i n Nar. choz. (Moskau 1956), S. 129, u n d Ende 1963 i n Nar. choz 1963, S. 342. 324 Vgl. Chruëëev, V I I I , S. 435 (14. 2.1964). 325 ζ. B. Chruëëev, V I I I , S. 435 f. (14. 2.1964); Sajbekov, S. 224, 226; u. a. m. 326 Sajbekov , S. 229 ff.; Ivin/Chramova, S. 92,94. 327 Ivin/Chramova, S. 96; s. auch Ruban, S. 165 f., wo f ü r das Jahr 1959 Gehaltsangaben aus der Ukraine zusammengestellt sind. 328 Dmitraëko: Vnutrikolchoznye, S. 206 f. — I n der Moldau-SSR wurde 1963 festgelegt, daß die B r u t t o p r o d u k t i o n i n gleichem Maße wie die Geldeinnahmen (aus Ablieferungen) maßgebend sein sollte, s. V. S. Martynovskij: Oplata truda ν kolchozach, i n : V pomosè', S. 303. 322

5. Die Betriebsleiter als soziale Gruppe

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einnahmen spiegelte) von Fall zu Fall sehr verschieden sein konnten. 1963 war der Durchschnitt der Gehälter i n manchen Unionsrepubliken doppelt so hoch und noch mehr als i n anderen; innerhalb der Republiken, Provinzen und sogar Bezirke schwankte er u m noch mehr 3 2 9 , und für frühere Jahre sind eher noch größere Divergenzen anzunehmen. Ähnlich wie bei den Fachkräften (s. unten, Kap.VI/5) ist man auch bei den Kolchozvorsitzenden dazu übergegangen, ihnen die für einfache Kolchozniki nicht vorgesehenen Leistungen der öffentlichen Sozialversicherung zukommen zu lassen. Das drängte sich bereits 1955 für diejenigen auf, die aus staatlichem Arbeiter- oder Angestelltenverhältnis i n die Kolchoze gingen, und wurde ihnen ausdrücklich zugesagt 330 . Es verstand sich von selbst, daß sie außerdem die gleichen Vergünstigungen — Steuer- und Ablieferungsfreiheit für ihre private Nebenerwerbswirtschaft — genossen wie die landwirtschaftlichen Fachkräfte 3 3 1 . Schließlich hat 1964 die Neuregelung der Sozialversicherung auf dem Lande die Kolchozvorsitzenden i n gleicher Weise wie die Fachkräfte und die Mechanisatoren den Angestellten und Arbeitern von Staatsbetrieben gleichgestellt 3 3 2 . Damit wurde dieser Unterschied, der, obzwar i n abnehmendem Maße, bis dahin zu den Sovchozdirektoren bestanden hatte, ganz aufgehoben. 5. Die Betriebsleiter als soziale Gruppe Über das Verhalten von Sovchozdirektoren zu ihren Untergebenen und über die Frage, ob sie untereinander eine soziale Solidarität empfanden, gibt es relativ wenige Anhaltspunkte i n sowjetischen Publikationen. Daß viele sowjetische „Chefs" (nacal'niki) ihren Untergebenen und sonstigen tiefer Stehenden gegenüber eine deutliche soziale Distanz empfinden und einhalten und daß sie sich zugleich untereinander solidarisch fühlen, ist seinerzeit schon von K . Mehnert nachgewiesen und an zahlreichen Beispielen anschaulich gemacht worden 3 3 3 . Die soziale Distanz dessen, der unter die „Chefs" aufgerückt ist, wurde zweifellos auch von seinen Dorfgenossen empfunden 3 3 4 . Man darf annehmen, daß es sich bei den Sovchozdirektoren nicht anders verhielt; einige von A. Ballard gesammelte Nachweise bestätigen diese Vermutung 3 3 5 . Auch die Sovchozdirektoren sind „Chefs" i m Sowjetsystem, sind es sogar i n doppelter Weise, einerseits als Leiter bedeutender Produktionsbetriebe, andererseits auch als 329 Ivin/Chramova, S. 96. 330 v o v o m 25. 3.1955, i n : D i r e k t i v y , I V , S. 397. 331 Ebenda. 332 Ruskol: Social'noe obespeèenie, S. 93. 333 Mehnert: Der Sowjetmensch, 5. Aufl., S. 162—192. 334 Vgl. V. Ivanov: Fakty, S. 5, der sich allerdings gegen' diese Deutung wendet. 335 Ballard: Problems, S. 348.

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

Leiter eines beträchtlichen Kommunalbereichs, da i n Sovchoz-Dörfern ähnlich wie i n Kolchozen viele Verwaltungsfunktionen auf die Betriebsleitungen übergegangen sind oder unter deren faktisch dominierendem Einfluß stehen (s. auch Kap. VII/3). Wie bereits dargelegt, änderten die Wählbarkeit der Kolchozvorsitzenden und die Institutionen der „Kolchoz-Demokratie" nichts an der Tatsache, daß ein Kolchozvorsitzender i n seinem Betrieb außerordentlich viel Macht über seine Untergebenen besaß und sie auch oft genug ausnutzte, fühlen ließ und zur Schau trug. Kleine Einzelzüge bestätigen diesen Sachverhalt, so wenn ein Kolchozvorsitzender seine Kolchozniki i m Gespräch bewußt stehen ließ, während er selbst saß 336 , wenn es als ungewöhnlich galt, daß ein Kolchozvorsitzender i n seinem Geländewagen einen einfachen Landbewohner mitnahm 3 3 7 , daß es sich für einen „leitenden Genossen" nicht ziemte und seiner Autorität schadete, wenn er an einfachen Volksvergnügen i m dörflichen Klubhaus aktiv teilnahm 3 3 8 . Es waren auch die Betriebsleiter, darunter Kolchozvorsitzende ebenso wie Sovchozdirektoren, die sich oft die Aufnahmebedingungen der Hochschulen zunutze machten, u m ihren Kindern eine Aufnahme ohne den sonst dafür notwendigen Leistungswettbewerb zu ermöglichen: Sie erklärten sie einfach als von ihrem Betrieb, dem sie vorstanden, zum Studium „delegiert" und schrieben ihnen fälschlich das dafür notwendige vorhergehende zweijährige Arbeitspraktikum zu 3 3 9 . Bei der Knappheit der Studienplätze wurde damit automatisch eine entsprechende Zahl anderer Bewerber verdrängt, deren Väter solche Möglichkeiten nicht besaßen. I n diesen Zusammenhang gehört auch, daß es kaum vorkam, daß die engeren Familienmitglieder eines Sovchozdirektors als einfache A r beiter oder die eines Kolchozvorsitzenden als einfache Kolchozniki arbeiteten. Der einzige Fall solcher A r t , den der Verfasser i m sowjetischen Schrifttum gefunden hat, ist ein von Chruscev als leuchtendes Beispiel herausgestellter, und auch da handelte es sich u m einen zu der Zeit bereits verstorbenen Kolchozvorsitzenden, dessen Frau zwar nicht einfache Arbeiterin war, aber immerhin als Vorarbeiterin selbst auf dem Feld mitarbeitete 3 4 0 . A n sich wäre es eher überraschend, wenn solche Fälle häufig gewesen wären, aber es geht hier nicht um die Frage, ob der Sachverhalt dem sozialutopischen Ideal des Kommunismus widerspricht oder nicht, sondern nur darum, daß sich hierin ein sozial relevanter Abstand zur Masse der Dorfbevölkerung ausdrückte. 33β Mozaev: Iz zizni, S. 44. 387 Makarov: Doma, S. 81. 388 G. Palamarëuk, i n : Sz 1.12.1966, S. 4. 339 I d u naprolom, i n : Izvestija, 17. 3.1967. 340 Chruëëev , V, S. 33 (11. 2.1961).

5. Die Betriebsleiter als soziale Gruppe

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Daß Kolchozvorsitzende als eine besondere Schicht 341 betrachtet w u r den, zeigt sich auch an der Tatsache ihrer häufigen Wiederverwendung, selbst wenn sie sich als untauglich erwiesen hatten, was Chruscev als die „Praxis der Versetzung untauglicher, Schiffbruch erlitten habender Funktionäre von einem Kolchoz i n den anderen" bezeichnete und von der er zugleich einige Beispiele gab 3 4 2 . Die A r t , wie das auch sonst gelegentlich kritisiert wurde, ließ deutlich erkennen, daß es nicht selten vorkam 3 4 3 . Auch ein Sovchoz-Abteilungsleiter, der sich mehrere k r i m i nelle Vergehen hatte zuschulden kommen lassen und den man trotz vieler Klagen lange gehalten hatte, wurde schließlich, als das nicht mehr möglich war, lediglich i n einen benachbarten Sovchoz i n die gleiche Dienststellung versetzt 3 4 4 . Zum Teil waren solche Erscheinungen auch eine Folge der Organisation der Personalpolitik. Pronin sagte darüber, nachdem er einen solchen Fall angeführt hatte: „Nirgends hat dieser ,Funktionär' die i h m gestellte Aufgabe gemeistert, überall setzte man ihn ab und bestrafte ihn. Aber da er i n der »Nomenklatur' stand (znacilsja nomenklaturnym rabotnikom), stellte man ihn gleich wieder auf den nächsten Kommandoposten 3 4 5 ." Ähnlich ging es auch bei der Wiederverwendung von Kolchozvorsitzenden, die ohne eigenes Verschulden bei Betriebszusammenlegungen ihre Posten verloren hatten 3 4 6 . Hier t r i t t hervor, daß die „Nomenklatur" der Partei (vgl. S. 164 und 178 f.), obzwar als politisches Instrument gedacht, praktisch auch als Faktor sozialer Gruppenbildung wirkte. Die „Nomenklaturfunktionäre" bildeten eine relativ geschlossene Sondergruppe von Parteimitgliedern, fast ausschließlich Männern, die immer wieder m i t leitenden Posten versorgt wurden 3 4 7 . Wer einmal „dazugehörte", ging so leicht nicht unter, und jemand, der nicht i n der Nomenklatur stand, kam offenbar für die Entsendung auf „Kommandoposten" nicht i n Frage. Andererseits waren abgesetzte Kolchozvorsitzende, ähnlich wie andere Funktionäre auf dem Lande, sich oft zu gut, eine einfache Arbeit anzunehmen, und blieben lieber ganz untätig 3 4 8 . Zu einem anderen Teil mag die ständige Wiederverwendung ein und derselben Leute, auch wenn sie sich als untauglich erwiesen hatten, m i t dem Mangel an geeigneteren zusammenhängen, die bereit gewesen wären, an die Spitze eines Kolchoz zu treten. Die objektiven Bedingun341

So Bilinsky: Aktuelle, S. 75. Chrusöev, V, S. 88 f. (23. 2.1961). So bei LukaSin, S. 20. 344 M. Nizamov, i n : Koms. pravda, 31. 7.1965, S. 2. 345 Pronin: Podgotovka, S. 27. 34β y^ Tendrjakov: Konèina, i n : Moskva, 3/1968, S. 84. 347 Lewytzkyj: Kommunistische Partei, S. 167—169. 348 Vgl. Oveökin, dt., S. 258, sowie f ü r die 1960er Jahre V. Lipatov: kost', i n : Znamja, 8/1967, S. 83; s. auch unten, S. 290 f. 342

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Losinaja

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V. Die Leiter der Agrarbetriebe

gen, die i m Sinne einer negativen Auslese wirkten, schränkten die Ausw a h l auch von dieser Seite her ein. Für die, welche gewohnt waren, führende Posten zu bekleiden, war die Leitung eines Kolchoz schon eine sehr tiefe Stufe 3 4 9 ; Menschen, die wirklich fähig waren, so große Betriebe zu leiten, konnten wenig Interesse am Posten eines Kolchozvorsitzenden haben, zumal von hier aus ein weiterer Aufstieg in übergeordnete Staats- und Parteistellungen nicht so leicht möglich war. Das dürfte neben der allgemeinen Geringschätzung des Dorflebens dazu beilgetragen haben, daß außerhalb ihrer Kolchoze die Kolchozvorsitzenden sehr geringes Ansehen genossen und als „Provinzler" abgefertigt wurden, selbst von ganz subalternen Angestellten, wie es K r u t i l i n i n deutlich verallgemeinernder Form schildert 3 5 0 . Ungeklärt wie so vieles, was die Sovchoze betrifft, muß auch i n diesem Falle bleiben, i n welchem Ausmaß das Sozialprestige der Sovchozdirektoren höher war als das der Kolchozvorsitzenden. Deduktiv läßt sich dazu sagen, daß es wahrscheinlich höher war, nicht nur w e i l die Sovchoze i n der Regel größere Betriebe als die Kolchoze und ihre Direktoren Staatsangestellte waren, sondern auch, w e i l das geringe Sozialprestige der Kolchozvorsitzenden zum Teil ein sozialpsychologisches Überbleibsel aus der Stalin-Zeit war. Damals, vor der Vergrößerung und allmählich i n Gang kommenden Modernisierung, hatte i n der landläufigen Meinung über das Sozialprestige von Berufsgruppen der Kolchozvorsitzende nach dem einfachen Kolchoznik an zweitletzter Stelle gestanden 351 . Zu jener Zeit aber gab es nur wenige Sovchoze, sie nahmen als Musterbetriebe eine Sonderstellung ein, ihre Arbeiter und ihre Leiter gehörten nicht zur minderberechtigten Schicht der Kolchozniki. Deshalb ist anzunehmen, daß der Sovchozdirektor niemals so tief i m Ansehen stand wie der K o l chozvorsitzende. Die Vergrößerung der Kolchoze, die allmähliche Besserung ihrer Wirtschaftslage und der Gehälter der Kolchozvorsitzenden i m Vergleich zur Zeit Stalins, das steigende Bildungsniveau der K o l chozvorsitzenden — das alles mußte zusammenwirken, u m das Prestige dieser Gruppe zu heben, so daß sie auch i n dieser Hinsicht den Sovchozdirektoren näherkamen. Nur haben die Krise der Landwirtschaft und die Agrarpolitik zu Beginn der 1960er Jahre diesen Prozeß vermutlich eher gehemmt als gefördert.

849 Vgl. den ehemaligen Funktionär des Staatssicherheitsdienstes, der der Überzeugung war, „weiter als i n die Landwirtschaft [ . . . ] konnte man i h n w i r k lich nicht »herunterjagen' bei Bukovskij: Poreòno-stepnye, S. 174. 850 Krutilin, S. 204. 351 Inkeles!Bauer, S. 77 (Tab. 12).

VI. Landwirtschaftliche Fachkräfte und mittleres Führungepersonal I n der sowjetischen Landwirtschaft haben Modernisierung und Technisierung Einzug gehalten, ohne daß sie von den entsprechenden Formen der Arbeitsorganisation und Menschenführung begleitet waren und ohne daß die nach wie vor allzu große Masse der landwirtschaftlich Tätigen daran interessiert war oder sich davon éine Einkommenssteigerung oder sonst Vorteile erhoffen konnte. Was die Organisation der Arbeit und der Menschen betrifft, stand der Kolchoz und Sovchoz m i t seinen vielen gering qualifizierten und unterbezahlten Arbeitskräften dem Gutsbetrieb des 19. Jahrhunderts näher als einem agrarischen Großbetrieb, der einer industrialisierten und urbanisierten Umgebung angepaßt ist. Das hat die Probleme der modernen Arbeitswelt i n einer für die sowjetische Landwirtschaft charakteristischen Weise verschärft. Der Schriftsteller Stadnjuk hat das emotional, aber allgemeingültig i n die Worte gefaßt: „Maschinen nahmen dem Ackerbauern die schwere Arbeit und die beunruhigenden Sorgen ab und füllten m i t einem neuen Inhalt die seit Jahrhunderten herrschende Poesie des Umgangs des Menschen m i t der Erde. [ . . . ] Es entstand eine unvergleichlich-neue Poesie, die sich i n den Herzen der wahren Herren der Felder, der Mechanisatoren, einnistete. Und diese Poesie ist i n ihrem Wesen ganz anders. Es ist nicht einmal leicht zu definieren, was das Herz des Traktoristen oder Mähdrescherfahrers mehr bewegt — die Liebe zu den Maschinen und das Gefühl seiner Macht über sie, oder die Liebe zur Erde und das Gefühl, an den Geheimnissen ihrer Fruchtbarkeit teilzuhaben. [ . . . ] Aber i n wessen Herzen lebt denn heute diese Liebe, ohne welche die Erde wie das Leben keine Hoffnung hat? I n wessen Herzen? Natürlich i n seinem, des Pavel JarSuk! [der Kolchozvorsitzende] Und i m Herzen des Agronomen. Und auch i n den Herzen der Mechanisatoren. Aber das ist ja nur eine Handvoll Menschen i n der Masse der Landbevölkerung Viele bäuerliche Männer [russ.: muziki] sind zu Tagelöhnern i m Kolchoz geworden. Da w i r f t Ivan oder Petro Dünger auf dem Feld aus, oder häuft auf dem Stoppelacker Stroh zusammen, oder Heu auf der Wiese — das ist eine Arbeit ohne Anfang und ohne Ende, und der Bauer nimmt an ihr teil wie, sagen wir, der Zimmermann am Bau eines steinernen Hauses. Da ist Poesie der Arbeit, doch nicht Poesie

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V I . Landwirtschaftliche Fachkräfte und mittleres Führungspersonal

des Schaffens i m konkreten Sinn. [ . . . ] Und wenn man noch an die Dorfbewohner denkt, die i n den Ställen, i n den Werkstätten und auf den Baustellen arbeiten Sie sind schon längst nicht mehr Ackerbauer i m früheren Sinn des Wortes. Sie denken i n anderen Kategorien über ihre Arbeit und ihren Platz i n der vielgestaltigen Kolchozproduktion. [...] Natürlich doch, der Kolchoz ist zu einer Produktionsstätte geworden! Natürlich doch, die Bauern sind Herren über Maschinen (freilich noch über verteufelt wenige) oder Gehilfen neben Maschinen geworden. Und die Psychologie des Bauern ist jetzt anders, fast so wie die Psychologie des A r b e i t e r s . . . . Vielleicht liegt irgendwo hier der Schlüssel zu einem neuen Verhältnis zwischen dem Betrieb und dem K o l choznik? Und warum denn nicht? . . . Man garantiere dem Dorfbewohner einen Arbeitsverdienst und lege eine Zusatzzahlung für Qualität der Arbeit und Übererfüllung der Arbeitsnormen fest — dann versetzt er Berge und zerbröselt sie noch 1 !" Gewiß ist hier die Tätigkeit der Fach- und Führungskräfte und erst recht die der Mechanisatoren idealisiert, aber zwei wesentliche Aspekte sind getroffen: Der Agronom (oder sonstige „Spezialist") und der Betriebs· oder Abteilungsleiter hatten eine Arbeit, die sie selbst gestalteten und deren Ganzes und größeren Zusammenhang sie überschauten, der Kolchoznik (und einfache Sovchoz-Arbeiter) aber war eingesetzt wie ein Arbeiter i n eintöniger Fließbandarbeit, noch dazu i n primitiver und anstrengender. Die Fach- und Führungskräfte hatten ein gewisses festes, wenigstens an einer Untergrenze garantiertes Arbeitseinkommen, der Kolchoznik (anders als der Sovchoz-Arbeiter) hatte ein sehr niedriges, noch dazu ungewisses und von seiner persönlichen Leistung weitgehend unabhängiges, dafür ständig durch Weisungen von oben beeinträchtigtes Arbeitsentgelt. Mußte daraus einerseits ein negatives Verhältnis der Masse der K o l chozniki zu ihrer Arbeit und ihren Führungskräften resultieren, so war andererseits ein positives Verhältnis der Fach- und Führungskräfte zu ihrer Tätigkeit auch nicht gesichert, weil auf deren Arbeitsbedingungen zu viele andere Einflüsse ebenfalls negativ einwirkten. Aber der Unterschied zwischen diesen Berufsgruppen, nicht nur i m Einkommen, sondern auch i m Verhältnis zur eigenen Arbeit und Funktion war unverkennbar. Dieser Sachverhalt hat die sowjetischen Soziologen veranlaßt, nach einer Formel zu suchen, m i t der dieser Unterschied ausgedrückt werden kann, ohne daß man die ideologisch postulierte Einheit von Intelligenzia 1

Stadnjuk,

9, S. 32/33.

1. Eine kleine Minderheit i n den Betrieben

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und Kolchozniki bzw. Arbeitern preiszugeben brauchte, und i n der doch zugleich die Unterschiede zwischen agrarischer und nicht-agrischer I n telligenzia (in der weitgefaßten sowjetischen Definition) deutlich werden, etwa i n der Formulierung von S. A. Kugel': „Wenn i n beruflich-technischer Hinsicht, i m Charakter ihrer Arbeit die Intelligenzia, sowohl die i m gesamtvolklichen [d. h. staatlichen] wie die i m kolchozeigenen Sektor beschäftigte, als bestimmte Schicht erhalten bleibt, so stellen i n sozial-ökonomischer Hinsicht die Spezialisten der Staatsbetriebe einen Teil eines ,Gesamtarbeiters' dar, die Kolchoz-Spezialisten eine besondere Schicht der Kolchoz-Bauernschaft 2 ." Ju. I. Siraev wollte die Fachkräfte der Kolchoze als „Zwischenschicht der Klasse der Kolchozniki" definieren, parallel zu einer entsprechenden „Zwischenschicht der Arbeiterklasse" 3 (u. a. i n den Sovchozen). Solche und ähnliche Definitionen wurden auf der Minsker Soziologenkonferenz i m Januar 1965 vorgebracht und diskutiert, ohne daß man zu einer einhelligen Auffassung kam. „Die Analyse der wesentlichen Unterschiede zwischen Werktätigen nach ihrer Beteiligung an der Realisierung der Leitungsfunktion und die Erforschung der Wege zur Aufhebung solcher Unterschiede stellt ein wichtiges theoretisches und praktisches Problem dar, dem bisher noch nicht genügend Beachtung geschenkt worden ist 4 ." Diese Unterschiede waren i n den Kolchozen schärfer als sonst i r gendwo i n der Sowjetunion ausgeprägt, weil die Organisationsform dieser Riesenbetriebe bei einem hohen Anteil einfacher Hand- und Gespannarbeiten notwendig eine starke soziale Polarisierung bewirkte. Die Folgen davon waren u m so fühlbarer, als die mittlere Führungsschicht nicht nur fachlich nicht ausreichend qualifiziert war, sondern auch zahlenmäßig viel langsamer wuchs, als es Produktion und Sozialgefüge erforderten, denn die Landflucht erfaßte gerade den qualifizierteren, jüngeren Teil der Agrarbevölkerung i n besonders starkem Maße. 1. Eine kleine Minderheit in den Betrieben Von den Betriebsleitern selbst und deren Stellvertretern abgesehen, wurden i n den Volkszählungsergebnissen folgende Zahlen der i n der Landwirtschaft tätigen gehobenen „Spezialisten" und mittleren Führungskräfte ausgewiesen5: 2 3 4 5

Nach dem Konferenzbericht Kravëenko/Faddeev, S. 152. Ebenda, S. 149. Ausführungen von Ju. E. Volkov, ebenda, S. 148. Itogi, Tab. 44.

220

V I . Landwirtschaftliche Fachkräfte und mittleres Führungspersonal

Chef Spezialisten der Landwirtschaft Agronomen Zootechniker Tierärzte Ingenieure u n d Chefingenieure

12 278 123 199 90 413 34 024 22 126

Also sog. Spezialisten insgesamt

282 040

Leiter von Vieh-Abteilungen (incl. W i l d t i e r - u n d Geflügelfarmen) Brigadiere von Traktoristen-Brigaden Brigadiere von K o m p l e x - B r i g a d e n Brigadiere von Feldbau-Brigaden Brigadiere v o n Viehzucht-Brigaden sonstige Brigadiere Also organisatorische Führungskräfte der m i t t l e r e n Ebene insgesamt Zusammen:

142 433 118 468 51 004 257 514 73 181 88 772 731 372 1013 412

M i t den „sonstigen Brigadieren" dürften zu einem großen Teil Leiter von Bau-Brigaden und ähnlichen, nicht landwirtschaftlichen Brigaden i n Agrarbetrieben gemeint sein, so daß die eigentlich landwirtschaftlichen Führungskräfte etwas weniger als eine M i l l i o n Menschen umfaßten. Nicht berücksichtigt sind i n dieser Aufstellung die Leiter von SovchozAbteilungen. Ihre Funktion ähnelt zwar derjenigen von Kolchoz-Brigadieren, aber i n einem größeren Aufgabenbereich mit höheren Anforrungen. Sie wurden daher, wie es auch i n den Volkszählungsergebnissen geschah, den Leitern von Agrarbetrieben und von deren „strukturellen Unterabteilungen" zugerechnet (s. oben, Kap. V/3). Auch das Büro- und Rechnungsführungspersonal, einschließlich Buchhalter und Hauptbuchhalter, w i r d an anderer Stelle behandelt (s. Kap. VII/2). Da die Agrarbetriebe i n erheblichem Umfang auch Kommunalfunktionen ausübten und die Tätigkeit dieses Personals alle diese Aufgaben betraf, ihrer A r t nach aber nicht landwirtschaftlich war, w i r d diese Gruppe von Erwerbstätigen hier den nicht-agrarischen Berufen auf dem Lande zugerechnet, obwohl sie organisatorisch zu den Agrarbetrieben gehörte. Wirklich fachlich spezialisiert und/oder organisatorisch führend war nur ein kleiner Teil von ihr. Die Brigadiere und Leiter von Viehabteilungen galten, obwohl solche Zuordnung sehr fragwürdig ist (s. unten, S. 238 f.), statistisch als physisch Arbeitende 6 , waren dementsprechend i n den Sovchozen Arbeiter. Die Fachkräfte dagegen galten als „überwiegend geistig" Arbeitende und waren demnach i n staatlichen Betrieben, also auch i n Sovchozen, Angestellte. 6

Vgl. Itogi, Tab. 45.

1. Eine kleine Minderheit i n den Betrieben

221

Kompliziert ist die Bestimmung der arbeitsrechtlichen Stellung i n den Kolchozen. Grundsätzlich konnte ein Kolchoznik nicht zugleich auch Arbeiter oder Angestellter (außer vorübergehend) sein, sei es i n einem anderen Betrieb, sei es i n seinem eigenen Kolchoz 7 , und grundsätzlich sollten die Arbeitskräfte des Kolchoz von dessen eigenen Mitgliedern gestellt werden, ausgenommen Personen, „die über Spezialkenntnisse und eine entsprechende Ausbildung verfügen (Agronomen, Ingenieure, Techniker u. ä.)" und die auf begrenzte Zeit i n ein vertragliches Arbeitsverhältnis zum Kolchoz treten konnten, ohne Mitglieder zu werden 8 . Daraus ergab sich, daß die Brigadiere, die früher i n der Regel über keine Spezialkenntnisse verfügten 9 , Kolchozniki waren, wenn auch i n gehobener Stellung, die Fachkräfte dagegen Angestellte des Kolchoz sein konnten, wenn auch nicht notwendig waren. Das arbeitsrechtliche Verhältnis der Fachkräfte zum Kolchoz erlangte erst Bedeutung, seit es eine nennenswerte Zahl von ihnen gab und diese überwiegend nicht aus den Kolchoz-Mitgliedern hervorgegangen waren, also seit Mitte der 1950er Jahre 1 0 . I m Sommer 1953 hatte es i n den Kolchozen höchstens 40 000 landwirtschaftliche und 10 000 sonstige Fachkräfte gegeben (davon ein Teil als Kolchozvorsitzende tätig) 1 1 , aber bis Ende 1957 war ihre Zahl auf etwa 150 000 (darunter 27 600 Kolchozvorsitzende) gestiegen 12 . Die Auflösung der Maschinen-Traktoren-Stationen (1958) brachte weitere Fachkräfte von dort i n die K o l choze, wenn auch die Gesamtzahl später wieder abnahm (s. unten). Die Absicht war, möglichst viele Fachkräfte i n die Landwirtschaft, auch i n die Kolchoze, zu bringen, und damit gewann die Fixierung sowohl ihrer dienstlichen Stellung (darüber s. auch unten, Kap. VI/4) als auch ihres arbeitsrechtlichen Verhältnisses zu den Kolchozen „besondere praktische Bedeutung" 1 3 . Das sowjetische Schrifttum befaßt sich nirgends näher m i t jenen Fachkräften der Kolchoze, die nicht Mitglieder waren oder wurden, aber i m Kolchoz arbeiteten. Es scheint, daß sie statistisch nicht als Angestellte zählten, denn dieser Begriff „umfaßt nur jenen Teil der Intelligenzler 7

G. V. Ivanov: Clenstvo, S. 7. Musterstatut, VII/13, dt., S. 20; G. V. Ivanov, a.a.O. I m Jahre 1939 hatten n u r r u n d 2 °/o aller Brigadiere (incl. Sovchoz-Brigadiere) eine B i l d u n g von sieben Schulklassen oder mehr, s. Itogi, Tab. 52. 10 Vgl. Klassy, S. 180 f. 11 Geschätzt auf G r u n d der Tatsache, daß es zum 1. 7.1953 i n M T S u n d Kolchozen zusammengenommen n u r 83 000 Fachkräfte, darunter 69 000 landwirtschaftliche, gab, s. Nar. choz. 1958, S. 528. 12 SSSR ν cifrach, S. 232: 138 100 landwirtschaftliche Fachkräfte (nach F u n k tion, nicht Ausbildung) i n Kolchozen, schätzungsweise 10 000 sonstige Fachkräfte, dazu die Kolchozvorsitzenden m i t Hochschul- u n d mittlerer Fachschulbildung u n d eine geschätzte kleine Z a h l ebenso Qualifizierter unter den stellvertretenden Kolchozvorsitzenden. 18 Kalandadze, S. 87. 8 ö

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V I . Landwirtschaftliche Fachkräfte und mittleres Führungspersonal

und Angestellten, der m i t dem gesamtvolklichen Eigentum verbunden ist" 1 4 , also nicht die mit Kolchozeigentum arbeitsrechtlich Verbundenen. Andererseits w i r d für den Rest der „ i n überwiegend geistiger Tätigkeit Beschäftigten" nur von denen gesprochen, die Kolchozmitglieder sind 1 5 . Die Zahl der anderen, der Nicht-Mitglieder, wurde an einer Stelle für 1963 mit „nicht mehr als 2 °/o" des „Verwaltungs- und Leitungspersonals" angegeben 16 , also etwa 15 000 Personen von dem nirgends i n genauen Zahlen und Begriffen umrissenen Personenkreis von schätzungsweise 700 000—800 000 (vgl. unten, S. 297 f.). Aber es ist möglich, daß die Zahl tendenziös herabgemindert ist 1 7 , denn ein solches Anstellungsverhältnis ohne Mitgliedschaft i n Kolchozen wurde offenbar als Anomalität empfunden 1 8 . Zu denken gibt, zum Beispiel, die Tatsache, daß Anfang 1954 ca. 900 000 Parteikommunisten i n Kolchozen tätig waren, aber nur rund 700 000 von ihnen als Kolchozmitglieder bezeichnet wurden (s. oben, S. 88). Man betonte gern, daß die Vorsitzenden und Führungskräfte der Kolchoze deren „vollberechtigte Mitglieder" seien, sagte dasselbe aber nur von „vielen" Fachkräften der Landwirtschaft 1 9 . Es gibt weitere Anhaltspunkte dafür, daß die Zahl der Fachkräfte, die nur als Angestellte i n Kolchozen arbeiteten, doch nicht ganz so unbedeutend oder daß sie es nur vorübergehend zu einem bestimmten Zeitpunkt war. So erwähnt Karnauchova, daß „viele Kolchoze" wegen Mangel an Fachkräften gezwungen waren, „besonders Spezialisten und Mechanisatoren von außerhalb durch Andingen [po najmu] heranzuziehen" 2 0 . Titov erklärt, daß Kolchoz-Fachkräfte, die nicht Mitglieder waren, „eine große Rolle bei der Festsetzung von Kadern i n den K o l chozen" gespielt haben, und fügt etwas kryptisch hinzu, daß das Kaderproblem der Kolchoze „nicht auf dem Wege künstlicher Verdrängung von Personen mit Dienststellung [dolznostnye lica 2 1 ], die Mitglieder sind, durch Personen m i t Dienststellung, die angedingt arbeiten", gelöst werden solle 22 . Bei der Überführung des Personals der ehemaligen Ma-

14

Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 166, Fußnote 8. Ebenda. 18 Ebenda, S. 125; dem entspricht ungefähr bei Paschaver: Balans, S. 154 (Tab. 29), die Z a h l für eine ukrainische Provinz i m Jahr 1958: ca. 0,2 °/o (errechnet) aller Arbeitskräfte, also etwa 1,5—2,0 %> der gehobenen oder nicht-agrarischen Arbeitskräfte der Kolchoze. 17 1962 waren i n den Kolchozen der Provinz Leningrad n u r 90 °/o des F ü h rungs- u n d Verwaltungspersonals u n d der Spezialisten Mitglieder der K o l choze (Kugel': Zakonomernosti, S. 47), also 10 % Nicht-Mitglieder. 18 Vgl. Kaz'min: Organizacija, S. 99. 19 Sucharev, S. 15. 20 Karnauchova: Obespeèit', S. 24. 21 Bilinsky: Aktuelle, S. 57, übersetzt: „Amtspersonen", was wörtlich richtig ist, aber das Wesen dieses Arbeitsverhältnisses zu sehr vereinfacht. 22 Titov: SoverSenstvovat', S. 20. 15

1. Eine kleine Minderheit i n den Betrieben

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schinen-Traktoren-Stationen i n Kolchoze wurde deutlich u n d offiziell dem Erwerb der Kolchozmitgliedschaft das W o r t geredet 2 3 , auch bei der Zuteilung von Bodenparzellen zu privater Nutzung wurde damals der Erwerb der Mitgliedschaft begünstigt 2 4 , aber dabei wurde doch auch klar, daß die andere Möglichkeit — ein reines Arbeiter- oder Angestelltenverhältnis — nicht ausgeschlossen war. Auch für ein neues KolchozMusterstatut forderte Kalandadze Mitgliedschaft als Bedingung n u r für die organisatorischen Führungskräfte 2 5 u n d berührte die Frage nicht i m Blick auf die eigentlichen Fachkräfte, die er doch auch als „Personen m i t Dienststellung" betrachtete. T i t o v erklärt: „Die Rechtsstellung von Personen m i t Dienststellung, die Kolchozmitglieder sind, unterscheidet sich wesentlich von der Rechtsstellung von Personen, die angedingt arbeiten", u n d spricht sich i m Blick auf ein neues Kolchoz-Musterstatut gegen die Möglichkeit solcher E i n stellung von Nicht-Mitgliedern aus 2 6 . Aber als konkreten Unterschied nennt er dann nur, daß letztere „faktisch nicht der Kolchoz Versammlung unterstehen, unabhängig v o m K o l l e k t i v sind, die Satzungen des Statuts sich auf sie nicht erstrecken" 2 7 . Vielleicht meint er damit Einmischungsmöglichkeiten von Verwaltungsorganen i n Kolchozangelegenheiten, f ü r die solche Personen als Hebel dienen konnten, wenn sie von anderen Instanzen als den Kolchozen selbst abhingen, aber das bleibt ungewiß. Selbst w e n n man unterstellt, daß die überwältigende Mehrheit der Fachkräfte — u n d so gut w i e alle organisatorischen Führungskräfte — Kolchozmitglieder waren bzw. bei Dienstantritt wurden, so erinnert deren Stellung doch i n vielem an die von Angestellten, insbesondere i n der F o r m der Entlohnung, i n den gewährten Sozialleistungen, i n der Urlaubsregelung usw. (s. unten). Aber auch die Tatsache, daß es sich nicht u m ein volles u n d normales Angestelltenverhältnis handelte, t r i t t gelegentlich hervor, so etwa darin, daß seit 1964 finanzielle Sozialleistungen des Staates für solche Fach- u n d Führungskräfte zwar von der Gewerkschaft bezahlt wurden, aber nicht direkt, sondern über die Kolchozleitung 2 8 . Die Frage des arbeitsrechtlichen Verhältnisses zum Kolchoz w a r offenbar auch bei Mitgliedschaft u n k l a r oder sogar s t r i t t i g 2 9 : Einerseits bedeutete Mitgliedschaft formal, daß die Fachkräfte die gleichen Rechte hatten w i e die einfachen Kolchozniki — auch nicht mehr Rechte als 23

24 25 26 27 28 29

Sovetskoe zemel'noe i kolchoznoe pravo, Moskau 1959, S. 79.

Borodanov/Cernjak,

S. 27.

Kalandadze, S. 88. Titov, a.a.O. Ebenda. Ruskol: Social'noe obespecenie, S. 99. Vgl. Gincburg, S. 31.

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V I . Landwirtschaftliche Fachkräfte u n d mittleres Führungspersonal

sie! —, andererseits scheint man ihnen i n der Praxis, nicht nur beim Entlohnungssystem, Zugeständnisse gemacht zu haben, wahrscheinlich w e i l es sonst noch schwerer gefallen wäre, Fachkräfte, die nicht aus dem betreffenden Kolchoz stammten, zur Arbeit zu gewinnen. Insbesondere hatten sie, i m Unterschied zu gewöhnlichen Kolchozmitgliedern, weitgehend die faktische Möglichkeit der Kündigung; falls sie von außerhalb gekommen waren oder i n einer Stadt studiert hatten, besaßen sie ohnehin bereits einen Inlandspaß, waren also i n dieser Hinsicht nicht an den Kolchoz gebunden 30 . Sollte die sowjetische Landwirtschaft moderner und produktiver arbeiten, so brauchte sie — da ja ihre organisatorische Grundstruktur nicht verändert werden durfte — modern ausgebildete Fach- und Führungskräfte. Aber gerade daran mangelte es: Die Zahl der speziell als Fachkräfte Eingesetzten war zu klein, und die Zahl der einschlägig ausgebildeten unter den mittleren organisatorischen Führungskräften kaum der Rede wert (s. unten). Das war „ein ernstes Hindernis auf dem Weg zur Ersetzung der Handarbeit durch Maschinenarbeit" 31 . I m Durchschnitt kamen 1959 auf einen Kolchoz etwas mehr als vier (4,2) Brigadiere von landwirtschaftlichen Produktionsbrigaden und etwas weniger als zwei (1,9) Brigadiere oder Leiter von Viehabteilungen 3 2 . M i t wachsender Durchschnittsgröße der Kolchoze stieg auch die Zahl der Brigadiere pro Betrieb, aber nicht stark, da auch die Durchschnittsgrößen der Brigaden zunahmen (vgl. unten). Anfang 1964 gab es knapp fünf (4,7) Brigadiere und etwas über zwei (2,2) viehwirtschaftliche Leiter oder Brigadiere pro Betrieb 3 3 . Von 1964 auf 1965 nahmen Betriebsgrößen und Zahlen der Brigadiere etwa parallel, aber geringfügig zu, i n der Viehhaltung etwas stärker, so daß es nun 4,8 bzw. 2,4 waren 3 4 . Die Zahl aller Fachkräfte mit Hochschul- oder mittlerer Fachschulbildung jeglicher A r t — Inbegriffen Betriebsleiter und Brigadiere mit solcher Ausbildung —, bezogen auf alle Kolchoze, einschließlich nichtlandwirtschaftlicher Kolchoze, Maschinen-Traktoren-Stationen u. ä., stieg von drei bis vier (3,6) Ende 1957 (für Ende 1958 liegen keine Zahlen vor) 30 Je ein Beispiel für K ü n d i g u n g ohne jede Schwierigkeit bei Cerniöenko: Kuban', S. 197, u n d bei Kuznecov: U sebja, S. 37. — Uber eine grundsätzliche Regelung der K ü n d i g u n g von Kolchoz-Fachkräften konnte der Verfasser keinen Hinweis i m sowjetischen Schrifttum finden, vermutlich w e i l es keine offizielle, einheitliche Regelung oder auch n u r Empfehlung gab. 31 G. P. Davidjuk: Ο cem govorjat konkretno-sociologiceskie issledovanija ν kolchoze „Rodina", i n : Vnutriklassovye, S. 45. 32 Errechnet aus deren Gesamtzahlen zum 1. 4.1959 (Nar. choz. 1958, S. 530) u n d der Gesamtzahl der landwirtschaftlichen Kolchoze zum Jahresende 1958 (ebenda, S. 494). 33 Errechnet w i e oben aus Nar. choz. 1963, S. 341 u n d 367. 34 Errechnet w i e oben aus Nar. choz 1964, S. 390 f. und 423.

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auf etwas über fünf (5,2) Ende 1963 und knapp sechs (5,8) Ende 196435. Die Versorgung der Kolchoze mit Fachkräften w i r d häufig i m sowjetischen Schrifttum als ungenügend bezeichnet 36 . A n Fachkräften m i t speziell landwirtschaftlicher Hochschul- oder mittlerer Fachschulbildung — Inbegriffen Betriebsleiter und Brigadiere m i t solcher Ausbildung —, bezogen nur auf die landwirtschaftlichen Kolchoze (einschließlich MTS, RTS u. ä.), gab es pro Betrieb knapp drei (2,8) Ende 1958, rund vier Ende 1963 und vier bis fünf (4,4) Ende 196437. Die Durchschnittsgrößen der Kolchoze sind aber zwischen 1957 und 1963 noch stärker gewachsen, so daß sich die Ausstattung m i t Fachkräften nur scheinbar verbessert hat; von Ende 1963 bis Ende 1964 dagegen war die Verbesserung real 3 8 . Bei den Sovchozen lassen sich solche Durchschnittszahlen erst ab 1963 genauer feststellen, weil vorher i n die Personalzahlen die sonstigen staatlichen Agrarbetriebe aller A r t einbezogen wurden, die i m Durchschnitt viel kleiner als die echten Sovchoze waren, aber relativ mehr Angestellte und Fachkräfte hatten 3 9 . I m Frühjahr 1963 gab es pro Sovchoz 13—14 „Spezialisten" m i t Hochschul- oder mittlerer Fachschulausbildung, etwa neun Produktionsbrigadiere 40 und ca. 4—5 Viehwirtschaftsbrigadiere 41 ; zum Frühjahr 1965 waren es 15—16 Fachkräfte, 7—8 Produktionsbrigadiere und etwa fünf Viehwirtschaftsbrigadiere 42 . Die Ausstattung m i t Fach- und mittleren Führungskräften war i n den Sovchozen nicht u m so viel besser als i n den Kolchozen, wie es die Zahlen pro Betrieb erscheinen lassen, w e i l die Sovchoze i m Durchschnitt auch wesentlich größer waren als die Kolchoze. Aber sie war doch erheblich besser 43 , wie zu erkennen ist, wenn man die Zahl der Fachkräfte auf die Jahresdurchschnittszahl der Beschäftigten bezieht (diese Zahl ist hier zweckmäßig, da es u m die Austattung der Betriebe, nicht u m Gruppen natürlicher Personen geht). I n den Sovchozen zusammen m i t allen an35 Errechnet aus Nar. choz. 1958, S. 494 u n d 528, Nar. choz. 1963, S. 341 u n d 365, Nar. choz. 1964, S. 390 u n d 427. 36 Stroitel'stvo, Moskau 1966, S. 174; Ekonomika soc. sei. choz., S. 207. 37 Errechnet w i e oben. 38 Vgl. Nar. choz. 1958, S. 495, u n d Nar. choz. 1963, S. 342, sowie die durchschnittlichen Betriebsgrößen i n Nar. choz. 1964, S. 391. 39 Vgl. De Pauw, S. 38 (Tab. 14) ; doch ist nicht klar, w i e viele von diesen eine Hochschul- oder mittlere Fachschulbildung besaßen. 40 Errechnet aus Nar. choz. 1962, S. 374, u n d Nar. choz. 1963, S. 356; die Betriebszahl zum F r ü h j a h r läßt sich n u r annähernd abschätzen (8500—9000), w e i l sie stets n u r zum Jahresende angegeben wurde, stark wuchs u n d auch einige Sonderformen von Sovchozen m i t umfaßte. 41 Die Z a h l der Viehwirtschaftsbrigadiere ist f ü r 1963 nicht angegeben, doch läßt sie sich, rückrechnend von 1965, etwa schätzen, da einerseits inzwischen die Sovchoze i m Durchschnitt etwas kleiner geworden waren, andererseits ihre Viehbestände pro Betrieb zugenommen hatten, vgl. Nar. choz. 1963, S. 359, u n d Nar. choz. 1964, S. 411. 42 Ebenso errechnet aus Nar. choz. 1965, S. 425 u n d 408. 43 So auch V. Rozin: Kazdomu po trudu, S. 215. 15

Wädekin

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V I . Landwirtschaftliche Fachkräfte u n d mittleres Führungspersonal

deren staatlichen Agrarbetrieben machte der A n t e i l der Fachkräfte m i t Hochschul- und mittlerer Fachschulausbildung jeglicher A r t — Inbegriffen Betriebs- und Abteilungsleiter m i t solcher Ausbildung — zur Jahresmitte 1955 1,6 % aus; er stieg auf 2,5 °/o (Ende 1959), 3,0 °/o (Ende 1963) und 3,2 o/o (Ende 1964)44. I n den Kolchozen — einschließlich MTS, RTS u. ä. — waren es 0,9 °/o zur Jahresmitte 1955, 1 °/o Ende 1959, 1,1 % Ende 1963 und 1,2 °/o Ende 196445. Die Ausstattung m i t Fachkräften hat sich also i n den Sovchozen und sonstigen staatlichen Agrarbetrieben, wenn man das Jahr 1955 zum Ausgangspunkt n i m m t 4 6 , rascher verbessert, bis 1964 verdoppelt. I n den Kolchozen dagegen hat sie sich nur u m etwa ein D r i t t e l verbessert, und auch das zum Teil nur, w e i l zugleich die Gesamtzahl der Kolchoz-Beschäftigten stärker schrumpfte, als es durch die Umwandlungen von Kolchozen i n Sovchoze bedingt w a r 4 7 . Der Abstand zwischen beiden Betriebsarten vergrößerte sich i n dieser Hinsicht. I n ihrer soziologischen Dissertation unterscheidet Mamaeva drei Funktionen der Intelligenzia bei der Entwicklung der Agrarproduktion: a) wissenschaftlich-technische Verbesserung der Produktion, b) „die Funktion der Leitung und Organisation der Produktion und der Arbeit" und c) „die kulturell-volksbildende Funktion" 4 8 . Die letztgenannte Funktion soll hier außer Betracht bleiben; sie w i r d i n Kap. VII/5—6 behandelt. Die ersten beiden betreffen den hier darzustellenden Personenkreis, aber sie lassen sich nur i n der Abstraktion säuberlich trennen, notfalls noch i n der dienstlichen Stellung des einzelnen i m Betrieb. Insofern ist auch die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Fachkräften und mittleren organisatorischen Führungskräften i n der Darstellung der praktischen Verhältnisse nicht konsequent durchzuführen: Die Fachkräfte sind zum Teil funktional auch Führungskräfte, die mittleren Führungskräfte zu einem — allerdings kleinen — Teil auch fachlich vorgebildet und an der wissenschaftlich-technischen Verbesserung der Produktion beteiligt. (Ähnliches gilt für die Betriebsleiter.) Dem entspricht die Tatsache, daß beide Gruppen sozial ineinander übergehen. Die wenigen landwirtschaftlichen Fachkräfte i n den Kolchozen hatten i n früheren Zeiten hauptsächlich die Aufgabe, für die Einführung neuer 44 Errechnet aus Nar. choz. 1958, S. 518 u n d 528, Nar. choz. 1959, S. 443 u n d 449, Nar. choz. 1963, S. 358 u n d 365, Nar. choz. 1964, S. 410 u n d 427; s. auch die h i e r m i t übereinstimmenden Zahlen f ü r einige andere Jahre bei Lagutin: Problemy, S. 52 (Tab. 11). 45 Errechnet aus Nar. choz. 1958, S. 528, u n d Sei. choz., S. 450 (für 1955), Nar. choz. 1959, S. 449, u n d Sei. choz., S. 450 (für 1959), Nar. choz. 1963, S. 363 u n d 365, Nar. choz. 1964, S. 419 u n d 421; s. auch Lagutin, a.a.O. 46 Lagutin, a.a.O., geht v o m Vergleichs j ä h r 1940 aus u n d k o m m t so zu einem anderen Ergebnis, aber auch er erwähnt (ebenda), daß die Entwicklung i n den Kolchozen sich „ i n den letzten Jahren" verlangsamt hat. 47 Vgl. Wädekin: Landw. Bevölkerung, S. 49 f.; s. auch Klassy, S. 171/172. 48 Mamaeva, S. 9 f.

1. Eine kleine Minderheit i n den Betrieben

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Produktionsmethoden zu sorgen, was meist auf Anweisung von oben geschah, und i m übrigen war ihre Funktion i m Betrieb überwiegend beratender A r t . Sie waren meist „Ratgeber oder gedankenlos Ausführende" 4 9 . Die wachsende Notwendigkeit, die Produktivität der Landwirtschaft rasch zu steigern und einen differenzierteren Lebensmittelbedarf zu befriedigen, verlangte — da das organisatorische System als solches unantastbar war bzw. nur von der höchsten Führung her geändert werden konnte — vor allem verbesserte agrotechnische Methoden, die aktiver und sachkundiger als bis dahin i n die Praxis einzuführen waren. Beratung allein genügte dafür nicht, und das mußte, i m Zusammenhang m i t der wachsenden Zahl von geschulten Fachkräften, deren Stellung und Aufgaben i n den Agrarbetrieben verändern. Zugleich wurden die Betriebe i m Durchschnitt größer und mußten mehr konkrete Entscheidungen i m eigenen Bereich fällen, natürlich auf der Grundlage der von oben kommenden Anweisungen. Die veränderte Sachlage und Aufgabenstellung wurde i n der die landwirtschaftlichen Fachkräfte betreffenden Verordnung vom A p r i l 1962 einleitend m i t den Worten zusammengefaßt: „ I n den letzten Jahren sind die Kolchoze größer geworden, i n den Neulandgebieten wurden Tausende großer Sovchoze geschaffen, u m die großen Städte und Industriezentren entstand ein breites Netz von Gemüse- und Viehwirtschafts-Sovchozen. Das forderte einen grundlegenden Umbau der agronomischen und zootechnischen Arbeit. Wenn es früher genügte, daß der Agronom agrotechnische Regeln ausarbeitete und den Bauern seinen Rat erteilte, so mußte er unter den Bedingungen des sozialistischen Großbetriebs die Verantwortung für die Organisation der Produktion und deren Endergebnisse auf sich nehmen und die Wirtschaft auf der Grundlage wissenschaftlicher und technischer Daten führen. Viele Spezialisten haben leider die Notwendigkeit einer grundlegenden Wandlung nicht begriffen. I n den Organisationsmethoden der agronomischen und zootechnischen Arbeit sind sie auf den früheren Positionen stehengeblieben, waren Ratgeber, aber nicht Organisatoren der Produktion. I n beträchtlichem Maße war das eine Folge ernster Mängel i n der Ausbildung der Kader junger Spezialisten 50 ." Freilich waren i n der Verordnung m i t den neuen Methoden vor allem Chruscevs einseitig überbetonte Wundermittel wie Maisanbau, Kampf gegen Brachhaltung u. ä. gemeint, aber das ändert nichts an der grund40

G. I . Usmanov: R a j k o m i specialisty, i n : Rajonnoe zveno, S. 177. V O des Z K d. K P d S U u n d M R d. UdSSR v o m 12.4.1962 „O povySenii roli agronomo ν, zootechnikov i drugich specialistov sel'skogo chozjajstva ν r a z v i t i i kolchoznogo i sovchoznogo proizvodstva", i n : Spravofcnik part, rab., vyp. 4, S. 335/336. 50

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sätzlich zutreffenden Skizzierung der Sachlage. Doch setzte die geforderte praktische A k t i v i t ä t auch voraus, daß nicht nur ein oder zwei Agronomen da waren, die für die Durchführung der Arbeiten auf mehreren tausend Hektar verantwortlich gemacht wurden. Die Verordnung war daher vor allem darauf gerichtet, mehr Fachkräfte i n die Landwirtschaft zu ziehen, aber gerade darin hatte sie nur geringen Erfolg (vgl. die Zahlen i n Tab. 8). Solange es nur drei bis fünf Fachkräfte i n je einem riesigen Kolchoz gab, war es sinnlos, sie den einzelnen Brigaden und Viehabteilungen zuzuordnen und damit näher an die praktische Arbeit heranzubringen. Ein Wirken, das dem ganzen Betrieb zugute kam, war bei so wenigen Fachkräften nur von der zentralen Leitung aus möglich. Entsprechend wohnten diese Fachkräfte auch meist i m Zentraldorf, und ähnlich verhielt es sich i n den Sovchozen 51 . Gegenüber den einzelnen Betriebsabteilungen konnten sie nur eine anleitende („Ratgeber") und kontrollierende Funktion ausüben, zumal auch ein großer Teil ihrer Zeit m i t Schreibtischarbeit und „Beschaffung" ausgefüllt war (s. unten). Die Mechanisatoren an den Landmaschinen auf den Feldern empfanden den Agronomen i n erster Linie als Aufseher 5 2 oder — ebenso wie den B r i gadier — als „Administrator" 5 3 . A k t i v an der Produktion beteiligte, qualifizierte Kräfte unmittelbar i n den Betriebsabteilungen gab es nicht genug533. „Das schwächste Glied sind hier [in den Kolchozen und Sovchozen] die Leiter des mittleren Gliedes (Brigadiere, Leiter von Viehabteilungen, Abteilungsleiter). Dieses Glied der ländlichen Führungskräfte muß auf alle Weise gestärkt werden. Dabei muß eine weitere Seite der Frage beachtet werden. Die heutigen Spezialisten nehmen größtenteils leitende Stellen ein. Die Interessen einer wissenschaftlichen Organisation und Intensivierung der Landwirtschaft aber verlangen eine Vergrößerung der Zahl der »gewöhnlichen4 Agronomen, Zootechniker, des veterinärmedizinischen und ingenieur-technischen Personals, die unmittelbar i n der landwirtschaftlichen Produktion Dienst zu leisten hätten. Bis heute stößt man nicht selten auf die falsche Ansicht, daß die Produktionsspezialisten i n allen Fällen zum Verwaltungs- und Leitungspersonal gehören, und deshalb w i r d eine Vergrößerung ihrer Zahl als Ausdehnung der Schicht der nicht-produktiv Tätigen betrachtet 54 ." Bewußt oder unbewußt teilte w o h l auch Chruscev diese „falsche A n sicht", als er den Vorschlag machte, den Verwaltungsapparat der Sov51

Chozjajstvennyj rasfcet, S. 242. A r i f m e t i k a socializma na zemle, i n : Korns, pravda, 29. 9.1965, S. 2. I. Malyëev, i n : Sz 12. 5.1967, S. 2. 53a I n Kolchozen u n d Sovchozen der RSFSR waren 1964 n u r 20 000 von insgesamt 167 000 „Spezialisten" als Leiter von Betriebsabteilungen tätig, s. Dunn & Dunn: The Peasants, S. 89. 54 A. P. Kirsanov : Osobennosti processa sblizenija rabotnikov fiziceskogo i umstvennogo truda ν derevne, i n : Izmenenie, Sverdlovsk 1965, S. 123. 52

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2. Gruppen landwirtschaftlicher Fachkräfte und deren Zuwachs

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choze dadurch zu verringern, daß die einzelnen Fach- und Führungskräfte jeweils zwei Funktionen übernahmen, der Abteilungsleiter die eines Brigadiers, der Zootechniker die Leitung einer Viehabteilung usw 5 5 . Freilich hätte das nur die Symptome betroffen, nicht die Ursachen, die i m Übermaß der Kontrollen, Rechnungslegungen, Berichte einerseits, i n der geringen Zahl echter Fachleute andererseits und schließlich i n der Überzahl ungebildeter und uninteressierter Untergebener bestanden. Die Fach- und Führungskräfte waren ja nicht untätig, i m Gegenteil, aber neben ihrer Verwaltungs- und Kontrollfunktion blieb kaum Raum für wirklich produktive Tätigkeit (s. unten), und von ihren Untergebenen konnten sie wenig erwarten, wenn sie nicht überall selbst nach dem Rechten sahen. Ihre Lage i n der tierischen Produktion umriß ein sowjetischer Publizist m i t den Worten: „Die zootechnische Unbildung der Hauptmasse der Arbeitskräfte i n den Viehställen ist einfach erschütternd [ . . . ] I m Grunde w i r d die ganze moderne Viehzucht-Wissenschaft i m Stall heute von zwei oder drei Menschen vertreten: vom Zootechniker, vom Tierarzt und, i m günstigsten Fall, vom Leiter der Viehabteilung. [...] Ist nicht das der Grund, warum die Resultate der zootechnischen und veterinärmedizinischen Arbeit i n den Ställen so kläglich sind 5 6 ?" I n der pflanzlichen Produktion war das Problem sicher ähnlich gelagert, machte sich aber wohl weniger kraß bemerkbar, w e i l hier die Anforderungen an die einfachen Arbeitskräfte qualitativ geringer waren bzw. die technischen Arbeiten von einer besonderen Gruppe landwirtschaftlicher Facharbeiter, den sog. Mechanisatoren, besorgt wurden. Aber auch die Mechanisatoren reichten i n der Zahl nicht aus 57 und genügten i n der beruflichen Qualifikation nicht den wachsenden Anforderungen 5 8 . 2. Gruppen landwirtschaftlicher Fachkräfte und deren Zuwachs

A n „Spezialisten", d. h. Personen, die als solche eingesetzt waren, aber nicht alle das entsprechende Ausbildungsniveau hatten (s. unten), gab es i m Frühjahr 1959 i n den Kolchozen 196 199 (davon 160 984 speziell landwirtschaftliche, einschließlich veterinärmedizinische) 59 . Ihre Zahl hat i n den folgenden Jahren ständig abgenommen, bis auf 175 539 (bzw. 131 955 55 Chrusöev, V I I , S. 151 (5.9.1962); ähnlich auch 1967 Pachomov: Uprostit', S. 20 f. 56 Ju. Sakutin, i n : Koms. pravda, 10. 8.1966, S. 1. 57 Vgl. Wädekin: Landw. Bevölkerung, S. 53 f. 58 Vgl. u. a. die VO v o m 10.1.1962 über die Neuregelung der Mechanisatorenausbildung, i n : Spravocnik part, rab., vyp. 4, S. 305—310, sowie V. V. Griëin , i n : Plenum (1965), S. 111; Gol'cov: Raspredelenie, S. 122 f.; Semenov, S. 117. 59 Nar. choz. 1958, S. 530.

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landwirtschaftliche) i m Frühjahr 19656(l, vor allem weil viele Kolchoze i n Sovchoze umgewandelt wurden, aber auch wegen starker Abwanderung bei zu geringem Zustrom und Nachwuchs (vgl. unten). Die oben angeführten Zahlen von Fachkräften pro Kolchoz stellen Durchschnittswerte dar, die durch den Hinweis zu ergänzen sind, daß es noch i m Jahr 1965 Kolchoze gab, i n denen keine einzige Fachkraft m i t Hochschulbildung tätig w a r 6 1 . A m anderen Ende der Variationsskala stehen K o l choze, wie sie Ausländern gezeigt werden und i n denen es i n der Regel mehrere Agronomen, Zootechniker sowie mindestens einen Ingenieur und Veterinärmediziner gibt und wo auch ein Teil der Brigadiere eine Hochschul- oder mittlere Fachschulbildung hat. Naturgemäß stellten die Agronomen und, i n zweiter Linie, die sog. Zootechniker (sowjetische Berufsbezeichnung für einen speziell für die Viehhaltung und -zucht ausgebildeten Landwirt) den weitaus größten Teil der landwirtschaftlichen Fachkräfte. Anders als bei den veterinärmedizinisch und technisch eingesetzten Kräften besaß von ihnen auch die große Mehrheit (ca. 90 °/o) eine spezielle Ausbildung 6 2 . Auffallenderweise zeigt dieser Prozentsatz, seit Daten darüber vorliegen, d. h. seit 1959 (in K o l chozen) bzw. 1963 (in Sovchozen) leicht fallende Tendenz, vermutlich weil der große Bedarf an Fachkräften dazu veranlaßte, auch sog. „Praktiker" in solcher Funktion einzustellen, d. h. Personen, die keine entsprechende oder keine abgeschlossene Ausbildung besaßen bzw. sich die erforderlichen Kenntnisse mehr oder weniger erfolgreich i n der praktischen A r beit angeeignet hatten 6 3 . Auch der A n t e i l der akademisch (d. h. nicht nur an Fachschulen) Ausgebildeten an der Gesamtheit der geschulten Fachkräfte ist leicht zurückgegangen, sowohl von 1956 auf 1959 als auch danach, ein Umstand, den Sucharev als alarmierend bezeichnet 64 . Z u m 1. Dezember 1959 hatten von den Personen, die i n Kolchozen als Agronomen eingesetzt waren, 11 376 ( = 17,6%) eine abgeschlossene Hochschulausbildung, von den Zootechnikern 6058 ( = 13,6 °/o)65. Bei den sog. Chef-Spezialisten der Sovchoze, von denen fast alle eine Fachausbildung hatten 6 6 , dürfte der Anteil der Hochschulabsolventen größer gewesen sein. Bestimmungsgemäß sol60

Nar. choz. 1964, S. 423. A. Amvrosov, i n : Izvestija, 11.8.1967, S. 3; Ignatovskij: Social'no-èkonomiceskie S 304 62 Nar! choz. 1962, S. 373, 375; Nar. choz. 1963, S. 368 (nur für Kolchoze); Nar. choz. 1964, S. 424, 426; Sei. choz., S. 472 f. (nur f ü r Kolchoze, absolute Zahlen des Jahres 1959). 63 Vgl. Rutkevië : Social'nye, S. 16. — E i n guter Agronom dieser A r t bei Roëëin , S. 96. 64 Zahlen i n Nar. choz. 1956, S. 167, u n d Dostièenija, S. 259 (für Ende 1956), u n d Nar. choz. 1964, S. 562; Sucharev, S. 37. 65 Sei. choz., S. 472 f. ββ s. Nar. choz. 1962, S. 375; Nar. choz. 1964, S. 426. 61

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len die Position eines Chef- oder Ober-Spezialisten (glavnyi bzw. starsij specialist) i n Sovchozen und Kolchozen nur ausnahmsweise Personen m i t mittlerer Fachschulausbildung erhalten, i n der Regel solche m i t Hochschulbildung 67 . I n der Hauptsache handelte es sich also u m Personen m i t einer m i t t leren Fachschulausbildung (sieben bzw. acht Jahre allgemeinbildende Schule, drei bis vier Jahre Fachschule oder zehn Jahre Allgemeinschule und zwei bis drei Jahre Fachschule), die spezialisierter ist als die der deutschen Landwirtschaftsschulen. Sie vermittelte vor allem Kenntnisse i n Bodenkunde, Biologie, Landbautechnik, aber kaum i n Betriebswirtschaft, Arbeitsorganisation und -psychologie 68 , gab also für eine Führungstätigkeit i m Agrarbetrieb einseitige Voraussetzungen. Durchschnittlich i n jedem landwirtschaftlichen Kolchoz gab es seit 1960 einen sog. Veterinärmediziner, doch hatte weniger als die Hälfte von diesen auch nur eine mittlere Fachschulausbildung, und die Zahl der richtigen Tierärzte war 1959 m i t weniger als 4 % dieses Veterinärpersonals verschwindend gering 6 9 . I n weiten Landesteilen bestand dringender, unbefriedigter Bedarf an veterinärmedizinischer Betreuung, an vielen Orten mußte mittleres Veterinärpersonal die Funktionen von Tierärzten ausüben 70 . Eigene Tierärzte hatten eher noch die Sovchoze, aber auch von ihnen bei weitem nicht alle 7 1 , während die Kolchoze meist von den staatlichen Veterinärrevieren betreut wurden, über deren A r beitsbedingungen und Ausstattung ein sowjetischer Fach journalist sagte: „Nicht von ungefähr lassen sich erfahrene Tierärzte nicht einmal m i t Gewalt i n die Veterinärreviere treiben 7 2 ." Akuter Mangel bestand auch an Ingenieuren und sogar einfachen Technikern bzw. Mechanikern. I m Gegensatz zur Gesamtzahl der Fachkräfte hat i n den Kolchozen ihre Zahl ständig zugenommen, aber nicht überall und nicht i n dem Maß, wie es die zunehmende Mechanisierung der Arbeiten erfordert hätte 7 3 . Das stellte ein „scharfes Problem der Kolchozproduktion" dar 7 4 . Etwa seit dem Frühjahr 1964 gab es durchschnittlich einen Ingenieur oder Techniker (Mechaniker) pro Kolchoz, von denen insgesamt nur 41,6 % eine einschlägige Ausbildung hatten 7 5 ; 67

Sbornik polozenij, S. 265, 268, 271, 273, 276. I. Zarikov, V. Cumaëenko, i n : Sz 19.11.1967, S. 2. Sei. choz., S. 473. 70 N. Govorov, i n : Sz 25. 8.1966, S. 3; N. Sagovski, i n : Sz 5. 8.1966, S. 2. 71 Chruëëev, V I , S. 464 (9. 3.1962). 72 A. FetiSëev, i n : Sz 26. 2.1966, S. 2. 73 Mamaeva, S. 12. 74 G. P. Davidjuk: Opyt konkretno-sociologiäeskich issledovanij po izuöeniju social'nych izmenenij krest'janstva Belorussii, i n : Izmenenija, M i n s k 1965, S. 4. 75 Nar. choz. 1963, S. 367 f.; i m m e r h i n w a r der A n t e i l 1959 m i t 39,6% noch etwas niedriger gewesen, s. Sei. choz., S. 473. 68

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die Zahl der Ingenieure unter ihnen machte 1959 nur 3,1 % aus 76 . Manche Kolchoze stellten auch aus finanziellen Gründen keinen Ingenieur ein 7 7 . Selbst an solchen technischen Fachkräften, die i n der praktischen Arbeit ohne eigentliche Ausbildung i n diese Berufe hineingewachsen waren, gab es i n der Agrarbetrieben nicht genug 78 . U m das Jahr 1964 hatten i n Belorußland 2338 Kolchoze insgesamt nur 573 „Techniker-Mechaniker" 7 9 . Nicht hinsichtlich der Ausbildung, aber der Zahl nach stand es i n den Sovchozen etwas besser: 1957 entfielen zwei Ingenieure oder Techniker auf einen Sovchoz, 1962 sowie auch 1965 drei 8 0 . Geschulte Ingenieure werden von sowjetischen Autoren immer wieder unter den Kräften genannt, an denen es i n den Agrarbetrieben besonders mangelt 8 1 . Andererseits waren die wenigen vorhandenen zum größten Teil m i t organisatorischen und administrativen, anstatt m i t wirklich technischen Aufgaben belastet 82 . Die Auflösung der Maschinen-Traktoren-Stationen scheint der K o l choz-Landwirtschaft — entgegen der damals von Partei und Regierung ausgesprochenen Empfehlung 8 3 und trotz des nun beträchtlichen eigenen Maschinenparks der Kolchoze — keinen nennenswerten Zustrom an Ingenieuren und technischen Fachkräften gebracht zu haben. Nur ein Teil von ihnen ging aus den MTS i n die Kolchoze und i n Organisationen technischer Dienstleistung für die Landwirtschaft über 8 4 . Als 1961 die Reparatur-Technik-Stationen (RTS), die Nachfolger eines Teils der MTS, der neuen Organisation „Sel'choztechnika" (für Lieferung und Reparaturen von Landmaschinen) eingegliedert wurden, erfaßte man deren Fachkräfte (38 000 i m Jahr 1962, 48 000 i m Jahr 1964) statistisch nicht mehr unter Landwirtschaft, sondern zum größeren Teil unter Industrie und — bezeichnenderweise — Wirtschaftsverwaltung 8 5 . I n einem A r t i k e l über den Maschinenpark eines Kolchoz der Provinz Krasnodar wurde ein Organisationsschema für das technische Bedienungspersonal gezeigt, das die 150 Traktoren, 42 Mähdrescher, 69 K r a f t wagen und anderen Maschinen des Betriebes betreuen sollte und allein 76

Sei. choz, S. 473. G. P. Davidjuk: Ο cem govorjat konkretno-sociologiceskie issledovanija ν kolchoze „Rodina", i n : Vnutriklassovye, S. 44. 78 Graöev, S. 49. 79 G. P. Davidjuk: Opyt, a.a.O. 80 Errechnet aus Nar. choz. 1962, S. 467 u n d (für Ausbildung) S. 375; Nar. choz. 1964, S. 425 f. 81 So A. Amvrosov, i n : Izvestija, 11.8.1967, S. 3; V. Efremov, S. Barcenko, i n : Sz 14. 9.1966, S. 2; Graöev, S. 49; Sucharev, S. 57 (Fußnote 1). 82 Loza, S. 27. 83 G. V. Ivanov: Clenstvo, S. 11 f.; s. auch oben S. 222/223. 84 Nar. choz. 1962, S. 466 (Fußnote). 85 Ebenda, sowie Nar. choz. 1963, S. 488 (Fußnote), u n d Nar. choz. 1964, S. 562 (Fußnote). 77

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an Mechanikern und Schlossern rund vierzig Menschen umf aßte, an Ingenieuren sieben 86 . Setzt man den Maschinenpark dieses Kolchoz zum gesamten Landmaschinen- und Kraftwagenpark sowjetischer Agrarbetriebe i m Jahr 1964 i n Beziehung, so zeigt sich, daß bei dieser Wartungsorganisation allein i n den Kolchozen und Sovchozen fast eine halbe M i l l i o n Mechaniker und Schlosser und etwa 80 000 Ingenieure gebraucht worden wären, also ein Mehrfaches der tatsächlichen Zahl von 76 000 (darunter 13 827 Ingenieure und 49 273 geschulte Techniker) i m Jahr 196487, auch wenn man eine unbekannte Zahl von außerdem vorhandenen Schlossern berücksichtigt. Eine Kategorie von Fachkräften, die es i n Agrarbetrieben, auch i n Sovchozen, fast gar nicht gab, waren ausgebildete Ökonomen und Planungsfachleute 88 . Daß man sie für die sowjetischen Riesenbetriebe auch i n der Landwirtschaft brauchte, wurde i m wesentlichen erst nach der Absetzung Chrusöevs und der Inaugurierung der neuen, stärker auf Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Agrarpolitik empfunden und ausgesprochen. Für die Zeit Chruscevs waren solche Fachkräfte auf dem Lande auch zahlenmäßig eine quantité négligeable. Unter den landwirtschaftlichen Fachkräften insgesamt war der A n t e i l der Frauen relativ groß, durchschnittlich etwas über 40 °/o m i t leicht steigender Tendenz seit 1957, wobei er unter den Fachkräften m i t m i t t lerer Fachschulbildung etwas höher war und 44 °/o i m Jahr 1963 erreichte, bei Fachkräften m i t Hochschulbildung 41 °/o89. I n den Agrarbetrieben selbst waren die Prozentsätze entsprechend, Ende 1956 bei Zootechnikern 44 o/o, bei Agronomen 40 °/o, bei Tierärzten 30 °/o, bei letzteren zusammen m i t dem sonstigen Veterinärpersonal 18 °/o, bei sonstigen, also nicht speziell landwirtschaftlichen Fachkräften (das waren i n der Hauptsache Ingenieure) etwa 10 %>90. Erstaunlicherweise war der A n t e i l der Frauen an den Studenten und Fachschülern landwirtschaftlicher Fächer deutlich niedriger und hatte zudem fallende Tendenz, bei Studenten von 39 °/o i n den Studienjahren 1950 und 1956/57 auf 25 °/o sowohl 1963/64 als auch 1964/65; bei den Fachschülern von 41 % (1950) und 44 % (1956/57) auf 88

I . GramaS, V. Nosaëenko, A. Bujanova, i n : Sz 8. 7.1967, S. 3; vgl. die Forderung nach mehreren Ingenieur-Planstellen pro Agrarbetrieb bei Ju. Kirtbaja, V. Finogenov, i n : Sz 23. 6.1967, S. 3. 87 Nar. choz. 1964, S. 380, 422—425. 88 Makeenko/Tichonov, S. 85. 89 Nar. choz. 1964, S. 566; f ü r die anderen Jahre s. die Zusammenstellung bei Norton T. Dodge, Murray Feshbach: The Role of Women i n Soviet Agriculture, i n : Karcz, ed., S. 283, Tab. 8 (doch ist dort die Tabellenüberschrift etwas i r r e führend); s. auch Itogi, Tab. 48. 90 Itogi, Tab. 48; Dodge! Feshbach, a.a.O., S. 281 (Tab. 7); Dodge: Women, S. 202 (Tab. 110); sowjetische Mädchen scheinen außer i n A l m a - A t a (Dodge: Women, S. 129) auch allgemein beim Studium vor den m i t technischer Arbeit verbundenen Fächern zurückzuscheuen.

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38 % (1963/64) und 37 % (1964/65)91. Wenn bei geringerem und fallendem Anteil der Frauen an den Studenten und Fachschülern ihr A n t e i l an den die entsprechenden Berufe Ausübenden nicht nur höher war, sondern auch stieg, so muß von den männlichen Studenten und Fachschülern ein größerer Teil nicht ins Berufsleben dieser Sparten eingetreten oder bald wieder ausgeschieden sein. Z u diesem Schluß führt auch eine Betrachtung der Altersstruktur. Die Altersstruktur der landwirtschaftlichen Fachkräfte (einschließlich der außerhalb der Landwirtschaft Beschäftigten) stellte sich zur Zeit der Volkszählung folgendermaßen dar 9 2 :

weniger als 30 Jahren Agronomen Zootechniker Tierärzte mittleres vet. med. Personal

44,2 50,3 30,2 39,0

% i m A l t e r von 30—39 mehr als Jahren 40 Jahren 31.8 27.9 35,7 31,3

24.0 21,8 34.1 29,7

Der A n t e i l junger Jahrgänge bei den Agronomen u n d Zootechnikern w u r d e v o r a l l e m d u r c h d e n Z u s t r o m j u n g e r F r a u e n i n diese B e r u f e b e w i r k t . B e i diesen e r g a b e n sich f o l g e n d e A l t e r s g r u p p e n 9 3 :

Agronomen u n d Zootechniker (zus.) Tierärzte mittleres vet. med. Personal

weniger als 30 Jahren

% i m A l t e r von 30—39 Jahren

mehr als 40 Jahren

61,2 32,6 58,6

27.3 45,7 32,6

11,5 21,7 8,8

Ausgehend von den absoluten Gesamtzahlen dieser Berufe 9 4 ergibt sich, daß i n der Altersgruppe bis 30 Jahre 70 000 weiblichen Agronomen und Zootechnikern nur 58 000—64 000 männliche gegenüberstanden, während es i m Alter von mehr als 30 Jahren 37 000 weibliche und 105 000 bis 112 000 männliche waren. I n den anderen Berufs- und Altersgruppen 91 Nar. choz. 1958, S. 840 (für 1950); Nar. choz. 1959, S. 751; Nar. choz. 1964, S. 690. 92 Itogi, Tab. 42. 93 Itogi, Tab. 43. 94 Itogi, Tab. 47 u n d 48; doch muß bei Agronomen u n d Zootechnikern m i t einer Ober- u n d Untergrenze gearbeitet werden, w e i l diese Berufsgruppen bei den Frauen nicht getrennt aufgeführt sind.

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herrschte überall ein starkes Übergewicht der Männer. Diese Zahlen weisen auf einen starken weiblichen Prozentsatz unter den Studenten und Fachschülern auch der Jahre von 1946 bis 1949 hin, der vielleicht noch höher war als 1950 (s. oben); sie lassen weiter erkennen, daß der A n t e i l speziell i n den Studienfächern Agronomie und Zootechnik (Viehhaltung) besonders groß gewesen ist. Aber auf dem Hintergrund des weiblichen Anteils von 1950 an der Gesamtzahl der landwirtschaftlichen Studenten (39 %) und Fachschüler (41 %) (s. oben) ist doch mehr als fraglich, ob der A n t e i l i n diesen beiden Einzelfächern so hoch gewesen sein kann, daß er ein Übergewicht der Frauen an den diese Berufe Ausübenden i m Alter von weniger als 30 Jahren zum 15.1.1959 bewirkte. Wahrscheinlicher ist, daß von den männlichen Studenten ein relativ größerer Teil aus diesen Studienfächern oder später aus den entsprechenden Berufen ausschied. Daß von den Studenten und Fachschülern landwirtschaftlicher Lehranstalten ein Teil während des Studiums ausgeschieden ist, ergibt sich aus den Aufnahme- und Absolventenzahlen, und zwar ist dieser Teil seit etwa dem Absolventen]ahr 1959 wesentlich größer geworden als früher und hat mehr als ein D r i t t e l erreicht 95 . Das mag zum Teil auf das zunehmende Fern- und Abendstudium zurückzuführen sein, aber es ist doch auffallend, daß die Relationen bei den Studenten und Fachschülern der sonstigen Arten von Lehranstalten weniger ungünstig waren 9 8 . Darüber hinaus ist ein auffallend großer Prozentsatz der Absolventen landwirtschaftlicher Fächer später nicht oder nur vorübergehend i n der sowjetischen Volkswirtschaft tätig geworden. Addiert man nämlich deren Zahlen von 1953 bis 196497, so erhält man eine Summe von Fachschulund Hochschulabsolventen, die m i t 1,1 M i l l , nahezu dreimal so groß ist wie die Zunahme der i n der gesamten Volkswirtschaft tätigen ausgebildeten landwirtschaftlichen Fachkräfte und sogar größer — u m fast 400 000 — als die Gesamtzahl solcher Fachkräfte, die es Ende 1964 i n der Volkswirtschaft überhaupt gab, also einschließlich der schon 1953 und vorher tätig gewesenen (die Gesamtzahlen s. unten, Tab. 8). I n die Landwirtschaft oder unmittelbar i n Agrarbetriebe ging ein noch kleinerer Teil. Obgleich die Zahl der wegen Alter, Krankheit, Tod usw. Ausgeschiedenen nicht bekannt ist, kann man m i t Sicherheit sagen, daß mindestens 400 000, also reichlich ein D r i t t e l aller Absolventen, nicht berufstätig geworden oder bald wieder ausgeschieden sind. Natürlich befindet sich unter ihnen ein Teil Frauen, die wegen Heirat und anderen familiären Gründen ausschieden, aber es wurde bereits gezeigt, daß sie nicht die 95 Die Zahlen i n Nar. choz. 1958, S. 836, 838; Nar. choz. 1962, S. 568, 572; Nar. choz. 1963, S. 573, 577; Nar. choz. 1964, S. 685, 689. 96 Ebenda (auf G r u n d der Zahlen f ü r alle A r t e n von Lehranstalten, zusammengenommen) . 97 Nar. choz. 1958, S. 838; Nar. choz. 1960, S. 776 f.; Nar. choz. 1962, S. 750 f.; Nar. choz. 1964, S. 687 f.

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V I . Landwirtschaftliche Fachkräfte u n d mittleres Führungspersonal

einzige Erklärung darstellen können und daß wahrscheinlich mehr Männer ausschieden als Frauen. Manche scheinen an ihren neuen A r beitsplätzen ihre landwirtschaftliche Ausbildung nicht mehr angegeben zu haben 98 . Die Diskrepanz zwischen Absolventen und Zunahme der Fachkräfte i n den einzelnen Jahren klaffte Anfang der 1960er Jahre besonders stark, also zu der Zeit, als Chrusfcevs Agrarpolitik i n die bekannte Krise zu geraten begann. Die jungen Fachkräfte müssen sich damals m i t allen M i t t e l n gegen den Einsatz auf dem Gebiet, für das sie ausgebildet waren, gesträubt haben. Bemühungen, der Landwirtschaft mehr Fachkräfte zuzuführen, begannen schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg 9 9 . Sie wurden nach Stalins Tod m i t großem Nachdruck wieder aufgenommen und zeitigten zunächst auch gute Erfolge. Dadurch verminderte sich die Zahl der in der Verwaltung — besonders der aufgelösten Bezirksverwaltung (rajzo) — tätigen landwirtschaftlichen Spezialisten von 107 000 i m Sommer 1953 auf 25 000 i m Sommer 1955 100 . I n die Maschinen-Traktoren-Stationen waren schon bis Anfang 1954 23 000 Ingenieure und Techniker aus Industrie und Behörden geschickt worden 1 0 1 . Ende 1955 gab es dort außerdem insgesamt 120 000 Agronomen und Zootechniker 102 . Auch später war man bemüht, Ingenieure aus den Städten für die Agrarbetriebe zu gewinnen 1 0 3 . Die Aufnahmen i n die landwirtschaftlichen Hochschulen und mittleren Fachschulen waren schon seit 1950 stark gesteigert worden, und das wurde fortgesetzt 104 . Die Zahlenentwicklung ist aus der nachstehenden Tabelle zu ersehen. Aus der Tabelle geht klar die starke Zunahme der Zahl der Fachkräfte i n der Landwirtschaft von 1953 bis 1955 hervor und auch die stockende Entwicklung seit Ende 1960. Deutlich beunruhigt darüber zeigte Chrusòev sich am 16. November 1961, als er sich für vermehrte und stärker auf die Praxis ausgerichtete Ausbildung aussprach und wenig später i n Kazachstan die aus der Zeit vor 1955 bekannte Erscheinung kritisierte, daß ein zu großer Teil der landwirtschaftlichen Fachkräfte i n der staatlichen Verwaltung arbeitete anstatt i n den Betrieben 1 0 5 . 98 I m Jahre 1965 gab es allein i n der RSFSR 212 000 registrierte Fälle, i n denen Absolventen von Hochschulen u n d Techniken als einfache Arbeiter tätig waren; s. I. Sachov , I. Vlasenko, i n : Pravda, 9. 8.1965, S. 2. Wie viele Fälle mögen unbekannt geblieben sein? 99 So i n der Ukraine i n den Jahren 1947 u n d 1948, s. Derevjankin, S. 3. 100 Nar. choz. 1956, S. 165; Nar. choz. (Moskau 1956), S. 151. 101 Chruëëev , I, S. 229 (23. 2.1954). 102 Laut dem A u f r u f u n d der V O des Z K d. K P d S U u n d M R d. UdSSR v o m 25.3.1955, i n : D i r e k t i v y , I V , S. 374 u n d 392; danach scheint die Z a h l relativ konstant geblieben zu sein, denn auch am 14. 2.1956 sprach Chruëëev n u r von 120 000, die entsandt worden seien, s. Chruëëev , I I , S. 192. 103 Vgl. den A u f r u f von Kiever Ingenieuren, i n : Pravda, 23.10.1959, S. 2. 104 Nar. choz. 1958, S. 836, 838; Nar. choz. 1964, S. 685, 689. 105 Chruëëev , V I , S. 98—101 (16.11.1961), u n d S. 127 f. (22.11.1961).

3. Brigadiere; Leiter von Viehabteilungen

237

Tabelle 8: Fachkräfte mit Hoch- oder mittlerer Fachschulbildung in der sowjetischen Landwirtschaft, 1953—1965, in Tausend (Zahlen in Klammern: nur landwirtschaftliche Fächer) Lw. Fachkräfte i n der Volkswirtschaft insgesamt davon mit Hochbildung

1. 7.1953 1. 7.1955 1.12.1956 1.12.1960 1.12.1963 15.11.1964 15.11.1965

312a)* 413 e )* 475a)* 579S) 6783) 726,5D 768 n )

134a) 159e) 180a) 222g) 2673) 2860 303 n )

i n der Landwirtschaft insgesamt o K s a Ä

(245—250b, c))

.

(ca. 407*)) („über" 500h)) • •

626*0

I n Sovchozen und sonstigen staatlichen Agrarbetrieben

31d) 45 d ) 69d) 1660 211k) 234m) 264°)

( 27Φ) ( 35Φ) ( 54 der Landlehrer weniger als eine zehnjährige Ausbildung u n d n u r 4,4 °/o eine abgeschlossene Hochschulbildung, nach Sucharev, a.a.O. les vgl. Timofeev, S. 149. 184 Caplygina/Kozlovskaja, a.a.O., S. 61 ; Noah, S, 186, Fußnote 47.

5. Lehrer

313

Der Lehrermangel auf dem Lande — bei dem raschen Schulaufbau und daraus resultierenden Bedarf verständlich — und das geringe Interesse der voll ausgebildeten Lehrer, auf dem Lande zu arbeiten, waren neben einer zu geringen Differenzierung der Gehälter 1 6 5 der Hauptgrund für diese Sachlage. Das kommt deutlich i n der Einleitung zur Verordnung vom 31. August 1961 zum Ausdruck. I n ihr wurde als eine speziell m i t den ländlichen Verhältnissen verbundene Erscheinung genannt: „Einige örtliche Partei- und Staatsorgane kümmern sich nicht i m erforderlichen Maß u m die Lehrer, schaffen insbesondere auf dem Lande für sie nicht die notwendigen Wohn- und Lebensbedingungen, haben darin nachgelassen, die Ausführung der Partei- und Regierungsverordnungen über Vergünstigungen und Bevorzugungen für die Landlehrer zu kontrollieren, ergreifen nicht genügend Maßnahmen, u m der Fluktuation der Lehrerkader entgegenzuwirken 1 6 6 ." Entsprechend verlangte die Verordnung, daß die Vergünstigungen gewährt, die Lebensverhältnisse der Landlehrer verbessert und insbesondere Häuser und Wohnungen für sie gebaut werden, sowohl auf Staatswie auf Kolchozkosten 167 . Zu den Vergünstigungen auf dem Lande gehörten schon seit langem freie Wohnung, Heizmaterial und Beleuchtung, und i m Prinzip ist das stets so geblieben 168 . Aber i n der Praxis haperte es damit sehr und kam es darauf an, ob das sich an Ort und Stelle realisieren ließ, bzw. i n welchem Maße die Kolchoz- oder Sovchozleitungen sich bemühten, es zu realisieren 169 . Andere Mängel der öffentlichen Dienste und der Konsumgüterversorgung auf dem Dorf kamen hinzu. Einen Fall, wie er „bis vor kurzem bei uns nicht selten war", schilderte 1967 der Präsidiums-Vorsitzende des Obersten Sowjets der Moldau-SSR m i t den Worten: „Ins Dorf Sarata-Galbena des Kotovskij Bezirks kamen junge Lehrer, ein Ehepaar. Eine Wohnung war nicht frei, und sie mieteten sich i n einem Privathaus ein. Die Familie hatte keine eigene Wirtschaft [d. h. keine private landwirtschaftliche Nebenproduktion], i m Dorf laden aber trafen Lebensmittel nur m i t Unterbrechungen ein. Ein Gasthaus oder eine Teestube gab es i m Dorf auch nicht. Nirgends eine Möglichkeit, sich 165

Panov/Charin, S. 48. V O des Z K d. K P d S U u n d M R d. UdSSR v o m 31. 8.1961 „ O merach po obespeceniju obäöeobrazovatel'nych §kol uöitel'skimi kadrami", i n : SpravoCnik part, rab., vyp. 4, S. 416. 167 Ebenda, S. 418. lee Y o v o m 10. 6.1930, auszugsweise i n : Sbornik postanovlenij i rasporjazenij po trudu, S. 117 f.; Popov -Cerkasov, S. 75 f.; Sarkisjan: PovySenie, S. 14; Panov/Charin, S. 47. 169 Über Wohnungsmangel T. Usubaliev, i n : Plenum (1965), S. 159; zur Frage des Heizmaterials vgl. Krutilin, S. 362; s. auch Noah, S. 182 f., Fußnoten 41 u n d 42. 1ββ

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V I I . Nicht-agrarische Führungskräfte

die Haare schneiden zu lassen, sich selbst oder die Wäsche zu waschen. So lebten die Lehrer einen Monat, zwei Monate, ein Jahr. Dann aber warfen sie alles hin und zogen fort 1 7 0 ." Aber nicht nur die persönlichen Lebensverhältnisse der Lehrer, auch ihre Arbeitsbedingungen waren schwer, jedenfalls schlechter als i n den Städten 1 7 1 , und damit die Möglichkeiten begrenzt, den Beruf zur Zufriedenheit — der eigenen und der der Allgemeinheit — auszufüllen. Das fing mit den Schulgebäuden an, die oft alt, baufällig, klein und ungeeignet waren 1 7 2 und deren Reparatur oder Neubau manchmal lange auf sich warten ließ, von den Kolchozleitungen auch hinausgezögert wurde 1 7 3 , sei es aus Interesselosigkeit, sei es wegen Mangel an Geld oder Baumaterial. Viele Dorfschulen hatten nicht einmal den zehnten Teil der Lehrmittelausstattung, die sie haben sollten 1 7 4 . Und: „Was sollen der Dorflehrer, was sollen die Schüler tun, wenn es manmal sehr schwierig ist, ein Zeichenheft, Zeichenpapier, einen Füllfederhalter und anderen Schülerbedarf zu kaufen 1 7 5 ?" Hinzu kam, daß auch Schulen und ihr Unterricht i n den Strudel Chruütöevscher Kampagnen hineingezogen und damit i n ihrer echten Tätigkeit behindert wurden. Über den Stand einer Dorfschule auf einer Ausstellung, die anläßlich einer Provinz-Lehrerkonferenz veranstaltet wurde, schrieb K r u t i l i n , man habe kaum etwas anderes als „einen Wald von Maispflanzen" sehen und meinen können, „daß die Kinder i n den Schulen sich m i t nichts außer dem Anbau von Mais befassen" 176 . Außer zur politischen und agitatorischen Tätigkeit (über diese s. unten) wurden Lehrer auch zu allen möglichen anderen Arbeiten herangezogen, die gar nichts m i t ihrem eigentlichen Beruf zu tun hatten: Telephonwache i m Dorf Sowjet halten 1 7 7 , Zählungen der privaten Viehbestände durchführen sowie Quittungen austragen 178 , Eintreiben von Eiern für die Ankaufsstellen der Konsumgenossenschaft 179 und was es sonst mehr gab an „schädlicher Praxis, die Schüler und Lehrer von der Lehrtätigkeit loszureißen und für alle möglichen Arbeiten einzusetzen", auch zur Ernte 1 8 0 . 170

K. iVjaSenko, i n : Sz 15. 6.1967, S. 2. Popov -Cerkasov, S. 74. T. Usubaliev, i n : Plenum (1965), S. 159. — Vgl. die K a r i k a t u r aus „ K r o k o d i l " , 25/1966, i n : Problems of Communism, X V I / 4 (Juli/August 1967), S. 51. 173 E i n Beispiel f ü r einen 1958 begonnenen, aber aus solchen Gründen auch 1966 noch nicht fertigen Schulneubau, während 1965 die alte Schule wegen Baufälligkeit geschlossen werden mußte, i m Leserbrief Gde budut ufcat'sja deti?, i n : Sz 31. 8.1966, S. 3. 174 V. Nozdrev, i n : Sovetskaja Rossija, 16. 7.1967. 175 A. Nikonov, i n : Sz 29. 6.1966, S. 3. 176 Krutilin, S. 206. 177 Izvestija, Nr. 17/1964 (hier angeführt nach Hastrich, S. 124). 178 Krutilin, S. 380. 179 Wädekin: Privatproduzenten, S. 164. 180 Leitartikel, i n : Sz 1. 9.1967, S. 1. 171

172

5. Lehrer

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Alle diese äußeren Umstände trugen mit den natürlicherweise ungünstigen Voraussetzungen ländlicher Schüler und der recht geringen Qualifikation der Lehrer (s. oben) dazu bei, daß auch bei gleicher Zahl der Schuljahre das Bildungsniveau der Absolventen i n ländlichen Schulen i m Durchschnitt deutlich niedriger war als das i n städtischen Schulen 1 8 1 . Und es war i n Wechselwirkung m i t der Tatsache verknüpft, daß viele Lehrer aus den Dörfern fort i n die Städte strebten, was naturgemäß den fähigeren unter ihnen leichter fiel und zu einer negativen Auslese führte. Bezeichnend war die auf sowjetischen pädagogischen Hochschulen häufig gebrauchte Drohung der Dozenten gegenüber Studenten, die sich etwas zuschulden kommen ließen: „ I h r werdet zur Arbeit aufs Land fahren 1 8 2 !" Klagen darüber, daß Lehrer aus den Dörfern abwanderten 1 8 3 oder daß Lehrer eine ihnen zugewiesene oder angebotene Stelle auf dem Land nicht annehmen wollten 1 8 4 , sind i n sowjetischen Publikationen nicht selten. I n Armenien waren 1964 viele Dorflehrerstellen unbesetzt, während i n den Städten nicht alle Lehrer Stellen fanden, und i n den folgenden drei Jahren hat sich diese Situation verschärft 1 8 5 . Auch die relativ geringe Bezahlung der Landlehrer machte sich negativ bemerkbar 1 8 6 , aber es wäre verfehlt, i n ihr die einzige oder auch nur die Hauptursache zu sehen. A n sich wäre die Benachteiligung durch Gehälter, die u m 6—10°/o niedriger waren als bei entsprechenden Lehrern i n Städten 1 8 7 nicht so gravierend gewesen, wenn die bargeldlosen Vergünstigungen — Wohnung, Heizung usw. — reale Bedeutung gehabt und m i t den Lebensverhältnissen i n Städten einigermaßen vergleichbar gewesen wären. Da das aber nicht oder nicht i n ausreichendem Maße der Fall war, dürfte auch die 1964 erfolgte Erhöhung und gleichzeitige A n gleichung der Lehrergehälter i n Stadt und L a n d 1 8 8 für sich allein nichts Entscheidendes geändert haben. Seitdem betrug bei der Minderheit der Lehrer, die Hochschulbildung besaßen, das Mindestgehalt wie i n den Städten 80 Rbl. monatlich, anstatt bis dahin 52 Rbl., und stieg m i t dem Dienstalter auf 100 anstatt 63 bis 76 Rbl. bei mehr als zehnjähriger, auf 137 anstatt 98—118 Rbl. bei mehr als 25jähriger Berufstätigkeit 1 8 9 . Grundschullehrer m i t mittlerer päd181

M. Rutkevië, i n : Pravda, 16. 6.1966, S. 2—3. P. Levin , i n : Sovetskaja Rossija, 30. 5.1967, S. 3. les vgL s. Gorjaëev, i n : Plenum (1965), S. 81; S. Baröenko, i n : Sz 15. 6.1966, S.3. 184 E i n Beispiel i n : Izvestija, Nr. 23/1965 (hier angeführt nach Hastrich, S. 50, 113). 185 I. Sëerbakova, P. Belov, i n : Uöitel'skaja gazeta, 8. 6.1967, S. 2. 188 So Zaslavskaja: Raspredelenie, S. 19. 187 Panov/Charin, S. 47; Popov -Cerkasov, S. 74. — s. auch die detaillierten Gehälterskalen für die Zeit nach 1948 bei Noah, S. 236—241. 188 Gesetz v o m 15. 7.1964, i n : Spravoönik part, rab., vyp. 6, S. 261, dazu Chruëëev, Rede v o m 13. 7.1964, i n : Pravda, 14. 7.1964, S. 4. 189 Panov/Charin, S. 55; Chruëëev, a.a.O.; Popov -Cerkasov, S. 8, 23. 182

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V I I . Nicht-agrarische Führungskräfte

agogischer Ausbildung erhielten eine Aufbesserung von 30 °/o 190 zu ihrem Gehalt, das bis dahin etwa 40—60 Rbl. monatlich, je nach Dienstalter, betragen haben dürfte 1 9 1 . Zusätzlich zum Gehalt hatten Landlehrer seit jeher das Recht auf eine private Parzellennutzung, die i m Umfang annähernd der der Kolchozniki und Sovchoz-Arbeiter gleichkam, maximal 0,25 ha betragen durfte und auch Weiderecht auf ungenutzten staatlichen Ländereien oder, gegen Bezahlung, auf Kolchozweiden einschloß 192 . I n diesem Zusammenhang wurde unlängst gesagt: „Obwohl sie [die Lehrer] dem Charakter ihrer Arbeit und Ausbildung nach Vertreter der Intelligenzia sind, unterscheiden sie sich i n ihrer Lebensweise nicht wesentlich von der übrigen Landbevölkerung. Das ist i n gewissem Maße durch ihre zusätzliche Beschäftigung i n der landwirtschaftlichen Nebenerwerbswirtschaft bedingt, die für den Lebensunterhalt ihrer Familien ökonomisch notwendig ist 1 9 3 ." Mancher Lehrer erhielt auch mehr als das einfache Grundgehalt, indem er mehr Stunden gab als die relativ wenigen obligatorischen 18 Wochenstunden (in den ersten vier Klassen: 24) 194 , oder wenn er i m Rahmen der Schulen oder einer anderen K u l t u r - und Volksbildungseinrichtung eine Nebentätigkeit übernahm, und bei dem Lehrermangel auf dem Lande war auch letzteres recht häufig der F a l l 1 9 5 . War er zugleich Schulleiter, so bekam er ohnehin einen Gehaltszuschlag, und das war bei den geringen Schulgrößen (und damit größeren Schulzahl) auf dem Lande häufiger der Fall als i n Städten 1 9 5 3 . I m ganzen standen sich die Dorflehrer materiell etwas besser, als die obigen Zahlen erkennen lassen 1 9 5 b . Das soziale Prestige der Lehrer bei der Dorfbevölkerung ging über die durch Einkommensunterschied und Lebensstil bewirkten Unterschiede hinaus. Allgemeingültigkeit dürfte der Satz haben: „Bei den Kolchozn i k i genießen die Lehrer große Autorität und Verehrung 1 9 6 ." Obwohl, einer speziellen Studie über die Lehrer zufolge, i m allgemeinen dieser 190

Chruëëev, a.a.O. Vgl. Noah, S. 236; s. auch das Gehalt junger Grundschullehrer m i t Hochschulbildung bei Chruëëev, a.a.O., u n d die spätere Gehaltsskala nach A u s b i l dungsart bei Popov -Cerkasov, S. 17. 192 Noah, S. 182, Fußnote 41; Wädekin: Privatproduzenten, S. 38; Popov Cerkasov, S. 76. 193 V. Kamyëev : Vstreòa molodych uèenych S i b i r i (Konferenzbericht), i n : V E 12/1968, S. 140/141. 194 Chruëëev, a.a.O.; Noah, S. 189 f. — Die Bezahlung k a n n aber auch geringer sein, w e n n kein Bedarf an 24 Unterrichtsstunden pro Lehrer besteht (z. B. bei zwei Lehrern an einer kleinen Grundschule m i t insgesamt n u r 36 Wochenstunden Unterrichtsbedarf), vgl. Α. I . Stavceva, i n : Naufcnyj kommentarij sudebnoj p r a k t i k i za 1967 god, Hrsg. E. V. Boldyrev, Α. I . Pergament, Moskau 1968, S. 34. 195 Panov/Charin, S. 66. lesa v g l . Noah, S. 188 f., 238 f. i95b Ausführlich hierüber Noah, S. 181—190. 199 Anochina/Smeleva,S.321. 191

5. Lehrer

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Beruf auf Schulabsolventen geringe Anziehungskraft ausübt, ist diese bei Mädchen auf dem Lande relativ noch am größten, bei männlichen Jugendlichen der Städte am geringsten 1 9 6 3 . K r u t i l i n , selber hauptberuflich Dorflehrer i n seinem Heimatdorf,sagte über die Rolle des Dorflehrers: „Gewiß, dachte ich, gibt es auf der Welt keine Dienststellung, die mehr Geschäftigkeit m i t sich bringt, als die eines Dorflehrers. Der Dorflehrer ist für jedes Faß der Deckel. Ohne i h n geht nichts vor sich. Sowohl den Kindern muß er Verstand und Vernunft beibringen, als auch ihre Väter und Mütter miteinander versöhnen. [ K r u t i l i n hatte zuvor geschildert, wie er zur Schlichtung eines Familienstreits gerufen worden war.] . . . Ohne den Lehrer verstehen sie bei uns i n L i p j agi weder Brot zu backen, noch eine Wandzeitung herauszubringen. Kaum gibt es etwas — ob nun die [privaten] Viehbestände aufgeschrieben oder irgendwelche Empfangsscheine zu den Häusern ausgetragen werden müssen —, so läuft man zuerst zum Lehrer. Der Lehrer ist bei uns dasselbe, was i n der alten Zeit der Pope war — jedem soll er die Beichte abnehmen, jeden versöhnen 1 9 7 ." I n diesen Worten klingt — vielleicht, weil sie aus der echten Lebenspraxis und nicht dem politischen Postulat heraus geschrieben sind — eine Nebenbeschäftigung nur an, die von anderen Autoren ausführlicher genannt und nachdrücklich betont w i r d : „Allgemein bekannt ist auch die gewaltige gesellschaftliche Arbeit zur politischen Erziehung der Massen, die die Lehrer i n gleichem Maße wie die gesamte sowjetische Öffentlichkeit des Dorfes leisten. Sie treten als Lektoren auf, als Agitatoren, als Mitglieder verschiedener Kommissionen und als Initiatoren vieler kultureller Unternehmungen 1 9 8 ." Dem entsprach es, daß fast alle Lehrer auf politische Zeitschriften abonniert waren 1 9 9 . Bezeichnend für die Absicht ist die Rolle der Lehrer i n dem Muster-Kolchoz „Rossija" der Provinz Stavropol', wenn auch solche Tätigkeit vielleicht i n Durchschnittsdörfern und -betrieben nicht so durchorganisiert war. I n diesem Kolchoz wurden gegen Ende von Chruscevs Regierungszeit i m Rahmen einer soziologischen Untersuchung Interviews m i t der Bevölkerung durchgeführt und später über die 36 dazu herangezogenen sog. Agitatoren gesagt: „Sie alle arbeiten mit der Bevölkerung i n den ihnen zugewiesenen Einheiten von je zwanzig Höfen [d.h. nicht nur während der Befragung]. Die überwältigende Mehrheit der Agitatoren besteht aus Lehrern, die ihre Leute gut kennen 2 0 0 ." 196a 107 198 199 200

V. Kamyëev , a.a.O., S. 140/141. Krutilin, S. 380. Anochina/Smeleva, S. 331; bezüglich früherer Zeit s. Inkeles/Bauer, Caplygina/Kozlovskaja, a.a.O. (s. oben, Fußnote 156), S. 64. Kolchoz — skola, S. 15.

S. 172.

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V I I . Nicht-agrarische Führungskräfte

Hier ist aber auf eine weitere soziale Funktion der Dorflehrer hinzuweisen, die ihnen vielleicht vor allen anderen Ansehen und Einfluß verschafft hat. Sie ist bedingt durch das Streben nach Bildung, diese „ f ü r das heutige Kolchozleben charakteristische Erscheinung" 2 0 1 . Der Lehrer vermittelt die Bildung und kann durch schulische Förderung und Bewertung der Kinder und Jugendlichen diesen den Weg i n höhere B i l dungsanstalten und damit nicht nur sozial nach oben, sondern auch heraus aus dem Dorf erleichtern. „Die m i t der Schule verbundenen sozialen Verschiebungen haben [ . . . ] größtenteils noch elementaren Charakter" 2 0 2 , d.h. sie entziehen sich der Steuerung und Planung. I n wie hohem Grade der Weg aus dem Kolchoz heraus über die Schule führte, haben die 1963 i n der Provinz Novosibirsk durchgeführten soziologischen Untersuchungen gezeigt: Unter den Absolventen von M i t t e l schulen, welche Väter m i t landwirtschaftlicher, physischer Berufstätigkeit hatten, wollte nur jeder siebente einen landwirtschaftlichen Beruf ergreifen, und tatsächlich getan hat das nur jeder siebzehnte 203 . Sowjetische Einzelstudien bestätigen, daß unter denen, die eine höhere oder spezielle Bildung besitzen, die Landflucht am stärksten ist 2 0 4 . „Gerade die Schule ist, wie w i r sehen, der Hauptkanal der Binnenwanderung, denn sie ist es, die die obere, kräftigste und gesündeste Schicht der Dorfjugend abschöpft' und i n die Städte p u m p t 2 0 5 . " Die Eltern selbst legten ihren Kindern diesen Weg nahe, wie folgende Sätze erkennen lassen: „Der,Motor' des zweiten Stroms [i. e. der Abwanderung von Absolventen der ländlichen Acht-Jahr-Schulen] ist der Wille der Eltern und deren Drängen, was selbst wieder eine Folge des i n den gewissen Jahren gesunkenen Prestiges ländlicher Arbeit und des i n den bäuerlichen Köpfen entstandenen und festsitzenden Stereotyps ist: Unseren Kindern soll es besser gehen als uns 2 0 6 ." „Noch vor einigen Jahren konnte man auf dem Lande sowohl bei den Schülern wie bei deren Eltern eine etwas geringschätzige Einstellung zur landwirtschaftlichen Arbeit finden. Diese galt als schwer und un201 V. N. Ermuratskij: Social'noe znacenie pod"ema obsöeobrazovatel'nogo urovnja kolchoznogo krest'janstva, i n : Izmenenija, Minsk 1965, S. 44. — Dies Streben ist allerdings i n der übrigen Bevölkerung noch ausgeprägter, s. Ja. M. Tkaö: Roditeli ο sud'bach svoich detej, i n : Processy, S. 145. 202 F. R. Filippov : Srednjaja Skola kak faktor social'noj mobil'nosti, i n : Izmenenie, Sverdlovsk 1965, S. 101. 203 Subkin : Vybor, S. 24, 26; ähnlich w a r das B i l d i n der Provinz Sverdlovsk bei den Schülern der 8. Klassen, s. F. N. Rekunov: Vlijanie migracii naselenija na social'nuju strukturu derevni, i n : Izmenenie, Sverdlovsk 1965, S. 133, und i n der Provinz Kostroma, s. A. Solov'ev: Problemy professionalizacii naselenija, in: Ékonomièeskie nauki, 2/1968, S. 33—38. 204 Aitov, S. 8.

205 208

G. Sinakova, A. Janov, in: Lit. gazeta, 23. 7.1966, S. 2.

Aleksandr Janov, i n : L i t . gazeta, 52/1967, S. 10.

5. Lehrer

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interessant, keine besonderen Kenntnisse erfordernd. Die E l t e r n selbst sympathisierten oft m i t dem Wunsch ihrer Kinder, nach Absolvierung der Schule den Kolchoz zu verlassen 2 0 7 ." Wo, w i e i n der Sowjetunion, der Weg aus dem Kolchoz i n die Stadt durch Vorschriften erschwert (vgl. Kap. II/2) u n d B i l d u n g der Hauptweg sozialen Aufstiegs i s t 2 0 8 , muß dabei die — an sich auch aus vielen anderen Ländern bekannte — Rolle des Lehrers besondere Bedeutung gewinnen u n d seine soziale Position ungemein stärken. A n den zuletzt zitierten Sätzen ist nur unglaubwürdig, daß die darin charakterisierte Einstellung der Vergangenheit angehörte. Die nicht n u r anhaltende, sondern sich bis 1964 noch verstärkende Landflucht der sowjetischen Dorfjugend spricht ebenso dagegen w i e zahlreiche neuere Veröffentlichungen, etwa: „Einige Lehrer u n d insbesondere Eltern haben jahrelang eingehämmert: ,Lerne, sonst w i r s t du Viehh i r t ! Bist du ein ausgezeichneter Schüler, dann kannst d u Ingenieur, Arzt, Flieger werden 2 0 9 .' " Bei Abramov w i r d als typische E i n stellung der Eltern hingestellt: „Was, meine Tochter soll sich m i t M i s t herumplagen? Haben mein M a n n u n d ich sie deshalb auf die Schule geschickt, haben w i r uns dafür abgerackert 2 1 0 ?" Auch 1967 noch wurde „gewissen Lehrern" auf dem Lande der V o r w u r f gemacht, „sie bemühten sich nicht, ihren Zöglingen von den ersten Schritten an die Liebe zur A r b e i t des Getreidebaus einzuflößen", u n d eine Lehrerin habe zu einem Schüler gesagt: „ W e n n du schlecht lernst, mußt du dein ganzes Leben lang i m Kolchoz Mist fahren 2 1 1 ." E i n „negativer Einfluß" auf die K i n d e r wurde aus diesem Anlaß auch bei den Eltern gerügt, da diese eine „ v o r gefaßte Meinung über die Schwierigkeiten der A r b e i t i n der L a n d w i r t schaft" h ä t t e n 2 1 2 . Erwuchs so den Lehrern soziales Prestige sowohl aus i h r e m i m Vergleich zur Masse der Kolchozniki u n d Sovchoz-Arbeiter höheren u n d vor allem regelmäßigen Einkommen als auch aus ihrer F u n k t i o n i n der offiziell gewünschten wie auch der inoffiziellen Meinungsbildung u n d schließlich aus ihrer Rolle bei der V e r m i t t l u n g von B i l d u n g u n d Ermöglichung sozialen Aufstiegs, so galt das doch nicht für alle Lehrer i n gleichem Maß. Gerade i n der letzteren Rolle hatten die Lehrer i n den vierklassigen Schulen kleiner Dörfer naturgemäß wenig Möglichkeiten. Die 207

Anochina/Smeleva, S. 330.

208 Arutjunjan: Podviznost', S. 17. 209 y Archipov, in: Sovetskaja Rossija, 13.12.1964, S. 2. 210 Abramov, dt., S. 20; i n allgemeinerer Form ist solche Einstellung auch zu entnehmen aus den Ergebnissen soziologischer Erhebungen von J. M. Tkaà: Roditeli ο sud'bach svoich detej, i n : Processy, S. 146—149. 211 V. Lynskij, in: Sz 17.1.1967, S. 4; s. auch I. S. Gustov : Severnyj êelk, i n : Oktjabr', 12/1965, S. 153. 212 V. Lynskij, a.a.O.

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sieben- bzw. achtklassigen Schulen dagegen, die darin die Hauptrolle spielten, lagen, wo es sie auf dem Lande gab, i n der Regel i n den Zentraldörfern der Kolchoze oder Sovchoze, wo die Lehrer i n direktem Kontakt m i t der Betriebsleitung und dem Parteikomitee standen und so stärker an der offiziell gesteuerten öffentlichen Meinungsbildung A n t e i l hatten. Bezeichnend für die soziale Stellung ist, was Solzenicyn i m Zusammenhang m i t der Versorgung der Bevölkerung eines armen Kolchoz m i t Torf aus einem nahe gelegenen, staatlich ausgebeuteten Vorkommen sagte: „ [ . . . ] verkauft wurde kein Torf an die Ortsansässigen, nur zugefahren wurde welcher — den Chefs [naèal'stvo] und denen, die zur Umgebung der Chefs [pri nacal'stve] gehörten, jedem einen Lastwagen voll: den Lehrer, den Ärzten [.. .]" 2 1 3 . Das galt zwar i m Bereich kleiner Außendörfer auch für die dortigen Grundschullehrer, aber eben nur i n diesem kleinen Bereich, der „Herr des Dorfs" (s. oben, S. 248) dort war nur ein Brigadier. Aber zu den Führungskräften gehörten sie i n diesem kleineren Rahmen gewiß auch. Aus diesen Gründen kann man wohl nur die Leiter von mehr als vierjährigen Schulen und die Fachschullehrer m i t abgeschlossener Hochschulbildung oder Lehrer m i t später erworbener annähernd gleichwertiger Qualifikation, also etwas mehr als die Hälfte aller Dorflehrer, rund 500 000 bis 600 000 (vgl. oben) zur Oberschicht rechnen, dagegen nicht die einfachen Dorfschullehrer m i t einer Schul- oder sonstigen Ausbildung von zehn bis zwölf Jahren oder weniger. Auch der A n t e i l der Parteimitglieder, der sich i n Parallele zur Intelligenzia i m allgemeinen unter den Lehrern auf etwa ein Viertel schätzen läßt, war vermutlich bei den Lehrern m i t höherer Bildung und i n den Zentraldörfern größer, unter den einfachen Dorfschullehrern geringer. 6. „Kulturarbeiter" Die Sowjetführung war seit jeher bemüht, ein außerschulisches Netz von Volksbildungseinrichtungen auf- und auszubauen, auch auf dem Lande, wobei Motive allgemeiner Volksbildung, beruflicher Weiterbildung und politischer Beeinflussung ineinanderflossen. Von solcher A u f gabenstellung her müßte eigentlich das Leitungspersonal ländlicher Kultureinrichtungen a priori zu den Führungskräften i n den Dörfern gerechnet werden. Aber die Wirklichkeit zeigt, daß es eine solche Rolle nur zum Teil, vermutlich i n einer Minderzahl der Fälle auszufüllen imstande war, w e i l oft weder materiell noch personell die Voraussetzungen dazu gegeben waren. Die Quellen erlauben es nicht, die echten Führungskräfte unter diesen sogenannten Kulturarbeitern i n den Dörfern anders 213 A . Soléenicyn : M a t r e n i n dvor, i n : N o v y j m i r , 1/1963, S. 47/48. (Hervorhebungen v o m Verf. — KEW.)

6. „ K u l t u r a r b e i t e r "

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als i n einer groben Schätzung (vgl. oben, S. 144) herauszusondern. Deshalb sollen i m folgenden sie und ihre Tätigkeit i m ganzen dargestellt und so auch die Gründe verdeutlicht werden, die zur Skepsis gegenüber der Rolle der „Kulturarbeiter" Anlaß geben. Von den insgesamt anderthalb Millionen Mitgliedern der Gewerkschaft der „Kulturarbeiter" arbeiteten Anfang 1965 „mehr als eine halbe M i l l i o n unmittelbar i m D o r f " 2 1 4 , wobei auch die i n weiterem Sinne i n Volksbildung und -aufklärung Tätigen Inbegriffen sind, nicht jedoch die Lehrer und die i n Vorschuleinrichtungen Tätigen. Es handelte sich dabei hauptsächlich u m Menschen, die i n K l u b - und Kulturhäusern, F i l m theatern und nicht-wissenschaftlichen Bibliotheken arbeiten, während auf Musikanten, Künstler und ähnliche Berufe auf dem Lande nur sehr wenige entfielen 216 . Selbst auf Bezirksebene besaß nur eine Minderheit von ihnen eine mittlere Fachschulbildung und hatte nur ein verschwindend kleiner Teil eine Hochschule absolviert 2 1 6 , i n den Dörfern war schon mittlere Fachschulbildung eine große Ausnahme, hier umfaßte die Vorbildung oft weniger als zehn, manchmal sogar weniger als sieben Schulklassen 217 . Die „Kulturarbeiter" genossen hinsichtlich Wohnung, Heizung usw. und privater Parzellennutzung die gleichen Vergünstigungen wie Ärzte und Lehrer (s. diese). Die Verteilung der „Kulturarbeiter" auf dem Lande w i r d i n den Zahlen der Einrichtungen, an denen sie hauptberuflich arbeiteten, einigermaßen deutlich. Sie zeigt auch, daß es sich zum weitaus größten Teil u m Angestellte der staatlichen Kulturbehörden handelte, zu einem kleinen, aber noch beträchtlichen Teil u m Angestellte oder Mitglieder der Kolchoze, und daß der Rest auf verschiedene andere Organisationen wie Gewerkschaften usw. (s. unten) entfiel. Aus den Institutionen ergeben sich die Zahlen ihrer Leiter, insgesamt rund 200 000 bis 250 000 i m Jahre 1958 und 250 000 bis 300 000 sechs Jahre später. (Bisweilen war der Klubleiter auch Filmvorführer i n einer Person 2 1 8 ; auch Bibliotheken dürfte er gelegentlich i n Personalunion verwaltet haben, abgesehen davon, daß Büchereien auch von Lehrern nebenamtlich geleitet wurden.) Das waren i m Jahr 1964 rund 250 000 weniger 214 So der Vorsitzende dieser Gewerkschaft, T. G. Kalinnikov, i n seinem Diskussionsbeitrag, i n : Trud, 17.4.1965, S. 2. 215 Sucharev, S. 32/33. 216 A u f Bezirksebene (im System des Kulturministeriums) hatten von 16 799 (im Jahr 1960) n u r 496 ( = 3 % ) Hochschulbildung u n d 4879 ( = 29%) mittlere Fachschulbildung, Ostrovskij, S. 268; s. auch N. Didenko, i n : Izvestija, 3. 6 .1965, S. 3, u n d V. Söerbakov, i n : Sz 18. 3.1966, S. 2. 217 So i n der Provinz Tomsk, S. Baröenko, i n : Sz 26. 7.1966, S. 2. 218 Vgl. M. Ivaéeckin, i n : Sz 6. 8.1967, S. 3.

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Wädekin

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V I I . Nicht-agrarische Führungskräfte

Tabelle 11: Klub- und Kulturhäuser, Volksbibliotheken und Filmtheater (bzw. -Vorführeinrichtungen) auf dem Lande 1950,1958 und 1964

Klubhäuser u. ä. Einrichtungen insg Davon: dem K u l t u r m i n i s t e r i u m unterstellt a) K l u b - u n d Kulturhäuser b) Lesestuben (izby-èital'ni) u. ä kolchoz-eigene sonstige (Rest) Volksbibliotheken insg (darin Bände, Mill.) Davon: dem K u l t u r m i n i s t e r i u m unterstellte selbständige auf dem Lande (darin Bände, Mill.) kolchoz-eigene (darin Bände, Mill.) Filmtheater und -Vorführeinrichtungen a) stationäre b) fahrbare

1950

1958

1964

116 100

115 600

111 600

34 795 40 484 32 116 8 700 102 300 (98,8)

64 147 13 309 25 304 13 800 108 600 (383,9)

66 238 5 431 24 022 15 900 90 900 (473,1)

17 265 (33,7) 22 183 (6,4)

54 409 (236,5) 13 519 (15,4)

58 613 (339,6) 6 093

13 000 19 200

31 500 30 200

(12,8)

103 900 14 100

Quelle: Nar. choz. 1965, S. 717—719 (Bibliotheken), S. 724 f. (Klub- und Kulturhäuser u. ä.), S. 729 (Filmtheater und -Vorführeinrichtungen).

Personen als Anfang 1965 der einschlägigen Gewerkschaft auf dem Lande angehörten (s. oben). Hinzu kamen i n größeren Einrichtungen dieser A r t die Gehilfen der Leiter, soweit sie fachlich mehr oder weniger qualifiziert waren, während die ebenfalls etatmäßig vorgesehenen Putzfrauen, Heizer u. ä. 2 1 9 i n der obigen Gesamtzahl vermutlich nicht Inbegriffen sind. Den Rest bildete eine recht beträchtliche Gruppe (etwa 150 000 bis 200 000 Personen), die vielleicht i n den Bereich der politischen Propaganda-Organisationen gehörte, über die aber keine Zahlen und A n gaben vorliegen. Einen Begriff von ihnen gibt immerhin die Tatsache, daß i n politischen Schulen, Zirkeln und Seminaren i m Jahr 1962/63 auf dem Lande 23 M i l l . Menschen unterrichtet w u r d e n 2 2 0 — auch wenn man davon ausgeht, daß der Großteil solcher Lehrtätigkeit von Parteimitgliedern, Funktionären, Lehrern usw. nebenamtlich und von reisenden Lektoren aus den Städten ausgeübt wurde 2 2 1 . Die zahlreichen sog. Roten Ecken i n Betriebsabteilungen und Viehställen 2 2 2 hatten kein eigenes, hauptberufliches Personal. 219 220 221 222

Vgl. K . Ljasko, i n : Sz 23. 9.1967, S. 6. Sucharev, S. 94. Vgl. A. Kuznecov, i n : Sz 17. 8.1967, S. 2. P. Ignatovskij: Rost, S. 62.

6. „ K u l t u r a r b e i t e r "

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Ein rasches Wachstum der Kultureinrichtungen sowohl vor als auch nach 1958 ist nur bei den Filmtheatern festzustellen. Z u beachten ist aber, daß zwar die Gesamtzahl der kulturellen Einrichtungen (außer Filmtheatern) leicht abnahm, jedoch die Zahl der K l u b - und K u l t u r häuser rasch stieg, während die kleinen Lesestuben — izba-cital'nja genannt, daher i m Sprachgebrauch teilweise noch die Bezeichnung „izbafc" für den Leiter eines Klubhauses 2 2 3 — fast ganz verschwanden. Der Personalbestand i m ganzen dürfte also etwa gleich geblieben sein, nur bei den Filmtheatern und -vorführstellen zugenommen haben. Eine Verlagerung zu größeren Einheiten bei abnehmender Gesamtzahl t r i t t bei den Bibliotheken vor allem an der rasch gestiegenen Gesamtzahl der Bände (Bücher und Zeitschriften) hervor; hier bestand i m Zusammenhang mit der Zusammenlegung von Kolchozen eine Tendenz, nur i m jeweiligen Zentraldorf eine Bibliothek beizubehalten 224 . Der Zahlenschwund bei den kolchozeigenen Einrichtungen hing hauptsächlich mit der Umwandlung zahlreicher Kolchoze i n Sovchoze zusammen, was auch zum Anstieg der Zahl gewerkschaftseigener K u l t u r einrichtungen auf dem Lande beitrug 2 2 5 . Daß „die Mehrheit der Kolchoze und Sovchoze" am Ende von Chruscevs Regierungszeit K l u b - und K u l t u r häuser, Bibliotheken und Filmtheater bzw. -Vorführeinrichtungen hatte 2 2 6 , ist zu einem erheblichen Teil auf die Vergrößerung der Betriebe durch Zusammenlegungen zurückzuführen, denn je mehr Dörfer zu einem Betrieb gehörten, desto wahrscheinlicher wurde es, daß auf je einen Betrieb auch eine oder mehrere solcher Einrichtungen entfielen. Über die Dichte des Netzes i m Verhältnis zur Zahl der Dörfer und der Bevölkerung besagte das an sich noch nichts. Von Menschen, die mehr als ein paar Kilometer von dem Dorf entfernt wohnten, i n dem sich ein K l u b - oder Kulturhaus befand, wurden diese Kultureinrichtungen meist nicht besucht 227 . M i t den Betriebszusammenlegungen hing auch zusammen, was als „Neuheit" bezeichnet wurde, nämlich die sog. „Brigaden-Klubs" 2 2 8 . Es handelte sich darum, daß die nunmehrigen Brigaden an Größe und Bevölkerung den früheren Kolchozen entsprachen, so daß, wenn es nur noch i m Zentraldorf ein K l u b - oder Kulturhaus gab, die Menschen auch 223

Vgl. Solouchin, dt., S. 177; Doroë : Cetyre, S. 18 f. Leserbrief von L. Zajcev, i n : Problemy ispol'zovanija, S. 89. 225 „Die ehemaligen Kolchoz-Klubs sind den Gewerkschaftsorganisationen der Sovchoze übergeben worden." (V. Smirnov, i n : Sz 11.1.1968, S. 2.) — Ende 1965 gab es auf dem Lande über 6000 Klubhäuser, 36 000 Rote Ecken u n d 10 000 Filmtheater oder -Vorführeinrichtungen der Gewerkschaft, s. L e i t a r t i kel i n : Sz 8.1.1966, S. 1. 226 Sinicyn, S. 84. 227 G. Karpov, A. Kuklin, i n : Sovetskaja kul'tura, 23. 7.1966, S. 2. 228 I . Dudkin, i n : Sz 16.3.1967, S. 2; über Brigaden-Klubs i n der Provinz K u r s k i m Jahr 1967, s. Sz 12.1.1968, S. 4. 224

21·

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V I I . Nicht-agrarische Führungskräfte

der größeren Außendörfer (Brigaden) durch Entfernung und Wegeverhältnisse von diesen Einrichtungen getrennt waren; m i t diesem Argument verteidigte ein Autor den Bau neuer Klubhäuser i n Außendörfern 2 2 9 , der offenbar nicht überall auf Verständnis stieß. I m allgemeinen gab es aber K l u b - und Kulturhäuser, Bibliotheken, Filmtheater nur i n den Zentraldörfern und besonders großen Dörfern 2 3 0 . Z u den Siedlungen ohne Klubhäuser zählten 1964 i n der Sowjetunion i m ganzen allein an Dörfern m i t über fünfhundert Einwohnern mehr als 9000 231 , also etwa jedes fünfte dieser Größe 232 , von den kleineren Dörfern natürlich weit mehr. Noch 1966 hatten i n der Russischen SFSR selbst von den Sovchoz-Zentraldörfern rund 40 °/o keine Klubhäuser 2 8 3 . Es hing zum großen Teil von der Siedlungsdichte und den Dorfgrößen ab, daß etwa i m Nord-Kaukasus-Gebiet pro Kolchoz sogar zwei K l u b häuser vorhanden waren, i n Zentralasien i n jedem Kolchoz ein K l u b haus oder sog. Kulturpalast, während es i n Belorußland, dem B a l t i k u m und großen Teilen Rußlands viel schlechter stand 2 3 4 . Aber die jeweilige örtliche Finanzlage spielte ebenfalls eine wichtige Rolle, sowohl bei ganzen Landesteilen und Provinzen, als auch bei den einzelnen Betrieben. So konnte es vorkommen, daß ein wohlhabender Kolchoz, der nicht durch staatliche Planstellen-Normen gebunden war, sowohl für Bau wie auch für Personal kultureller Einrichtungen mehr aufwandte als ein Sovchoz oder die staatliche Kulturverwaltung, i n einem Falle einen Klubleiter, zwei Putzfrauen, einen Musiker, einen Leiter der Tanzgruppen und einen Heizer i n einem 360 Personen fassenden Klubhaus unterhielt 2 3 5 . Man darf annehmen, daß zu solchen Kolchozen i n der Regel auch die von Ausländern besichtigten gehörten. Aber auf manche dörfliche Kultureinrichtungen dieser A r t , auch von Zentraldörfern, bezogen sich die Worte des Kulturministers der RSFSR: „Klubs und Bibliotheken sind i n schlechten, ungeeigneten Gebäuden untergebracht, haben nicht einmal die einfachste Ausstattung und keine qualifizierten Kräfte 2 3 6 ." Es fehlte i n ihnen oft an Requisiten für die Laienspielgruppen, an technischen Hilfsmitteln, Musikinstrumenten, Rundfunkempfängern usw. 2 3 7 229

Dudkin, a.a.O. »so Sinicyn, a.a.O. 231 Sinicyn, a.a.O.; i n der Provinz Tambov waren es 90 Dörfer m i t bis zu je 3000 Einwohnern, s. N. Didenko, i n : Izvestija, 3. 6.1965, S. 3. 232 Vgl. die Zahlen f ü r 1959, i n : Itogi, Tab. 9. 233 Rede von K . G. Pysin a m 16. 8.1966, i n : Sz 17. 8.1966, S. 2. 234 Archipov, S. 90. 235 K. Ljasko, i n : Sz 23. 9.1967, S. 6. 236 V. Striganov: K u l ' t u r a i zemledelie, i n : Kommunist, 9/1964, S. 121; s. auch S. P. Pavlov , i n : Plenum (1965), S. 166; Vikulov/Suëinov , S. 185. 237 Sinicyn, a.a.O.

6. „ K u l t u r a r b e i t e r "

325

Eine der Ursachen für diese Sachlage bestand darin, daß die Bezirksabteilungen für K u l t u r sich meist nur u m die ihnen direkt unterstellten Einrichtungen kümmerten und nur selten u m die der Kolchoze, während die Kolchozleitungen selbst oft auch kein Interesse dafür aufbrachten 288 . I m ganzen machte sich nachteilig bemerkbar, daß die verschiedensten Behörden und Organisationen auf dem Lande Kultureinrichtungen unterhielten — außer dem Kulturministerium, den Kolchozen und Sovchozen auch die Konsumgenossenschaften, örtlichen Industrie- und Dienstleistungsbetriebe und verschiedenen Gewerkschaften, ζ. B. auch die des Gesundheitswesens —, daß dabei keine Koordination erfolgte und die Gemeindeverwaltungen (Dorf sowjets) keine Kompetenzen für die Zusammenfassung auf Ortsebene besaßen 280 . I m Rahmen von Chruscevs Bemühungen u m einen Aufschwung der Viehwirtschaft gab es auch eine Neigung, die Aufwendungen für k u l t u relle Bauten i n den Dörfern einzuschränken und dafür lieber Ställe zu bauen, und manche Betriebsleiter benutzten das als Rechtfertigung ihrer „Gleichgültigkeit gegenüber Kulturfragen" 2 4 0 . So gewann eine Einstellung an Boden, die später verurteilt und m i t den Worten charakterisiert wurde: „Die K u l t u r werden w i r heben, nachdem w i r erreicht haben, daß alle Kolchoze und Sovchoze rentabel wirtschaften 2 4 1 ." Die Pläne für K l u b und Kulturhausbauten wurden 1962—64 kaum zur Hälfte erfüllt 2 4 2 . Die Folge der hier skizzierten Gesamtlage und -entwicklung 2 4 2 a war, daß, während die Zahl der „Kulturarbeiter" (außer i n Filmtheatern) nicht wesentlich zunahm, sie einerseits sich stärker auf die Zentraldörfer der vergrößerten Betriebe konzentrierten und andererseits aus den agrarischen Depressionsgebieten abflössen und sich dafür vor allem i n den südlichen Landesteilen massierten. Zugleich war auch bei ihnen der Zug i n die Städte, die „Fluktuation", stark ausgeprägt 248 . I n den letzten Jahren, besonders nach ChruScevs Absetzung, sind i n der Sowjetunion die Probleme der Kulturarbeit auf dem Lande viel erörtert worden. Man begann sich mehr dafür zu interessieren, welchen Anklang sie bei der Bevölkerung findet, und hat dabei u. a. i n der Ukraine durch Befragung festgestellt, daß nur ein sehr geringer Teil die Veranstaltungen der K l u b - und Kulturhäuser regelmäßig besucht oder an den Laienspiel- und -singgruppen, Fachzirkeln usw. teilnimmt, daß die meisten Dorfbewohner nur ab und zu und gewisse Bevölkerungsteile, über238

P. Seiest, i n : Sz 25.1.1966, S. 3. Seremet: Sel'skij sovet, S. I I I . Gluëko , S. 88; s. auch Vikulov/Suëinov, S. 186. 241 Ν. Didenko, i n : Izvestija, 3. 6.1965, S. 3. 242 Sinicyn, a.a.O. 242 a s. hierüber auch Dunn & Dunn: The Peasants, S. 64—66. 243 B. Mozaev , i n : L i t . gazeta, 24.12.1964, S. 2; Diskussionsbeitrag von I. G. Kalinnikov, i n : Trud, 17. 4.1965, S. 2. 289

240

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V I I . Nicht-agrarische Führungskräfte

wiegend Personen von mehr als dreißig Jahren, überhaupt nicht kommen 2 4 4 . Selbst bei der Jugend war angesichts der manchenorts anzutreffenden Dürftigkeit des Gebotenen nicht immer Interesse vorhanden 2 4 5 . Das läßt recht negative Schlüsse auf Einfluß und geistige Führungsstellung der „Kulturarbeiter" i n den Dörfern zu. Man erkannte, daß nicht nur die Interessen vielfältiger, sondern auch die Ansprüche höher geworden sind. Aufschlußreich und tiefschürfend war insbesondere die Diskussion i n den Spalten der „Literaturnaja gazeta" um die Jahreswende 1964/1965245. I n ihr wurde sowohl das Schwinden der traditionellen Volkskunst, insbesondere der musikalischen, festgestellt und bedauert, als auch gefordert, daß die ländliche K u l t u r arbeit dieser Entwicklung Rechnung tragen und auf höherem als dem bisherigen fachlichen Niveau Vielfältigeres, Moderneres bieten müsse 246 . Zu den neueren Formen der K u l t u r - wie auch Bildungsarbeit auf dem Lande gehören die seit Ende der 1950er Jahre aufgekommenen „Volksuniversitäten", ins Deutsche eher m i t „Volkshochschulen" zu übersetzen 2 4 7 . Sie haben aber keine eigenen, festen Lehrkräfte, sondern bedienen sich entweder örtlicher Angehöriger der Intelligenzia i n nebenberuflicher Tätigkeit oder zureisender Lektoren aus den Städten. Deshalb soll es hier nur bei ihrer Erwähnung bleiben. Aber gerade die Volksuniversitäten lassen deutlich erkennen, daß die Kulturarbeit auf dem Lande nicht als Selbstzweck gedacht ist, sondern einerseits der beruflichen und allgemeinen Weiterbildung und damit auch der Verbesserung der materiell-produktiven Arbeit dienen soll, andererseits zugleich einer politisch-ideologisch verstandenen Volksbildung 2 4 8 . I n den Volksuniversitäten w i r d zum Lehrstoff, was auch Aufgabe der Klubs und Kulturhäuser und ihrer Veranstaltungen sein soll: „politischer IdeenEinfluß" und „erzieherische Rolle" 2 4 9 . „Die Klubarbeit erschöpft sich bei weitem nicht i n der Organisation von Zirkeln. Sie ist sehr vielgestaltig und w i r d i n bedeutendem Maße durch die aktuellen gesellschaftlichen und produktionsmäßigen Aufgaben bestimmt, vor denen der Kolchoz steht. Der K l u b h i l f t der Parteiorganisation und den Lektorengruppen bei der Organisation von 244 l. Rani§, i n : Sz 5.10.1967, S. 4; über eine ähnliche Befragung i n der RSFSR berichteten G. Karpov, A. Kuklin, i n : Sovetskaja kul'tura, 23. (1. Teil) u n d 25. (2. Teil) 7.1966. 245 Sucharev, S. 89. 245 Unter der R u b r i k „Sport idet", i n : L i t . gazeta, 3. u n d 24.12.1964 sowie 14.1.1965. 246 Vgl. G. Marjagin, i n : L i t . gazeta, 14.1.1965, S. 3. 247 Über sie zuletzt die V O des Präsidiums der Unionsgesellschaft „Wissen", des Kollegiums des Ministeriums für Hoch- u n d Fachschulbildung der UdSSR, des Kollegiums des K u l t u r m i n i s t e r i u m s der UdSSR u n d des ZK-Sekretariats des Komsomol v o m 11. 3.1964 „ O dal'nejsem r a z v i t i i narodnych universitetov", i n : Spravoönik part, rab., vyp. 6, S. 343—351. 248 Vgl. A. Kuznecov, i n : Sz 17. 8.1967, S. 2. 249 ZilinfLarionov/Sviridov, S. 52.

6. „ K u l t u r a r b e i t e r "

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Vorträgen, Kulturuniversitäten, Agitationsbrigaden; er h i l f t der K o l choz»Verwaltung, Konferenzen der fortschrittlichsten Produktionsarbeiter zwecks Erfahrungsaustausch, theoretische Konferenzen, praktischen Produktionsunterricht durchzuführen, eine Wandzeitung herauszugeben 250 ." „ W i r sagen: Der K l u b , die Bibliothek sind die Stützbasis der Parteiorganisation u n d der [Betriebs-]Leitung i n der Lösung wirtschaftlicher Aufgaben 2 5 1 ." Dabei k a m es auch zu Übertreibungen: „Doch einige Leiter verwenden diese Basis, w i e ich mich ausdrücken möchte, falsch: Da sie Stützpunkt ist, soll es i n i h r auch keinerlei Vergnügungen geben. U n d der K l u b w i r d aus einem Ort der Freizeit zu einer Filiale der [Betriebs-]Leitung: N u r von einem w i r d noch gesprochen — Milch, Fleisch, Ernte (gleichgültig, ob die Menschen zu einer Versammlung oder zu einem Freizeitabend hergekommen sind). [ . . . ] I n manchen Klubhäusern werden alle Feiertage nach einem einheitlichen Schema begangen: eine Rede, kurze Ansprachen einzelner Arbeitskollegen, Konzert — ob es sich n u n u m ein Erntefest handelt, Verabschiedung der Rekruten oder Ehrung von Veteranen 2 5 2 ." Dem weit gespannten Aufgabenbereich stand entgegen: „Negativ w i r k t sich i n der A r b e i t der K l u b s der Mangel an Kadern von K u l t u r a r b e i t e r n aus; die Zahl von i n Klubeinrichtungen Tätigen m i t spezieller Ausbildung ist sehr klein. I h r größerer T e i l hat überhaupt keine Erfahrung i n k u l t u r e l l e r Massenarbeit 2 5 3 ." — „ V o r einigen Jahren [d. h. zur Chruscev-Zeit] waren die Absolventen v o n K u l t u r Instituten [zur Ausbildung von Klubleitern] n u r Organisatoren ohne spezielle Fachkenntnisse 2 5 4 ." Dieser „frühere [von 1967 her gesehen] T y p des Klubarbeiters, der ,alles u n d nichts' konnte, der i m allgemeinen u n d ganzen den K l u b leitete oder n u r ,Kino laufen zu lassen 4 verstand" 2 5 5 , entsprach genau dem Bild, das man sich w e i t h i n von der Tätigkeit eines Klubleiters machte. „Mancher Kolchozvorsitzende sagte: ,Ich brauche einen Klubleiter, der sowohl [ein Musikinstrument] spielt, als auch Vorträge hält u n d rezitiert u n d tanzt . . ,' 2 5 β ." Diese w e i t verbreitete u n d erst i n jüngster Zeit k r i tisierte Auffassung wurde an anderer Stelle ernsthafter, aber auch m i t stärkerem Akzent auf dem politischen Element m i t den Worten beanstandet: 250 251 252

253 254 255 256

Anochina/Smeleva, S. 336.

Glusko, S.89. Ebenda, S. 89/90.

Anochina/Smeleva, S. 339.

A. Osipov, i n : Sz 22.11.1967, S. 4. M. Ivaëeëkin, i n : Sz 6. 8.1967, S. 3. I. RaniS, i n : Sz 5.10.1967, S. 4.

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V I I . Nicht-agrarische Führungskräfte

„Man ist der Meinung, daß sie verpflichtet sind, allen zu helfen: dem Partei-Organisator bei der Erziehung der Menschen, der Betriebsleitung i n der Wirtschaftstätigkeit, dem Agronomen bei der Erzielung hoher Hektarerträge, jedem Kolchoznik bei der Aneignung fortschrittlicher Arbeitsmethoden und — sogar dem Angehörigen der Intelligenzia soll er beibringen, worin dessen wahre Pflichten bestehen 257 ." Auch gut und vielseitig ausgebildeten Kräften hätte es schwerfallen müssen, allen diesen Anforderungen — nicht zu vergessen die eigentlich kulturellen und künstlerischen — gerecht zu werden. Es ist daher nicht einleuchtend, wenn die Fehlschläge nur mit der „geringen Qualifikation der Kader" erklärt werden 2 5 8 . Aber beigetragen hat sicher die Tatsache, daß an der Spitze der Kultureinrichtungen häufig „wenig gebildete, manchmal auch einfach zufällige Menschen" (d. h. solche ohne sachliche Beziehung zu ihrer Tätigkeit, die den Posten als Versorgung erhielten 2 5 9 ) standen, z. B. eine gelernte Köchin 2 5 9 3 , „jene, die man i n den Dörfern ,Schlüsselbewahrer' nennt, weil sie nichts t u n können, als das Gebäude öffnen und schließen" 260 . Noch deutlicher t r i t t der nicht seltene Versorgungscharakter dieser Posten i n den Worten hervor: „Manchmal werden i n diese Einrichtungen Menschen geschickt, von denen man weiß, daß sie nichts taugen, die an anderer Stelle ihren Aufgaben nicht gerecht geworden sind 2 6 1 ." (Vgl. oben S. 290 f.) Eine Untersuchung der Verhältnisse selbst i n einem florierenden Muster-Kolchoz führte zu der vor allem auf die eigentlich kulturelle Tätigkeit zielenden Erkenntnis: „Künstlerische Laienbetätigung ist auf dem Dorf noch nicht wirklich zu einer Massenerscheinung für die K o l chozniki geworden 2 6 2 ." Sucharev hat die Sowjetunion i m ganzen i m Auge, wenn er sagt: „Aber in der Arbeit der ländlichen K u l t u r - und Volksbildungseinrichtungen gibt es noch sehr viele Mängel. Nicht selten beschränkt sich ihre Tätigkeit auf die Organisation von Tanzveranstaltungen und Filmvorführungen 2 6 3 ." Die zahllosen Klagen oder satirischen Bemerkungen i n der sowjetischen Presse über ungenügende A k t i v i t ä t der Klubs und ihrer Leiter laufen alle etwa auf die Schilderung hinaus, die Solouchin von einem ländlichen Klubleiter und seiner Tätigkeit gab: 257

GluSko S. 90. So T. G. Kalinnikov, i n : Trud, 17.4.1965, S. 2. Timofeev, S. 153 u n d 155. «®a Vikulov/SuHnov, S. 182. 260 T. G. Kalinnikov, a.a.O.; vgl. auch Timofeev, S. 151. 2β1 Sucharev, S. 40. 262 Kolchoz — Skola, S. 314. 225 Sucharev, S. 89; s. auch Vikulov/SuHnov, S. 182, 194; Izba§, S. 55 f.; B. Glinskij, i n : Koms. pravda, 13. 8.1967, S. 2. 258 258

6. „ K u l t u r a r b e i t e r "

329

„Ich beobachtete unseren K l u b durch alle diese Jahre, und ich muß sagen, daß es tatsächlich und i m eigentlichen Sinne des Wortes i n Olepino keinen K l u b gibt. Ich glaube nicht, daß Olepino darin eine Ausnahme bildet: auch i n [ . . . ] allen Dörfern i m Umkreis von Olepino ist es damit nicht anders bestellt. Der Vorsitzende unseres Klubs, Jura Patrikeev, ist ein sehr guter Kerl, wie sicher auch die Klubleiter i n den anderen Dörfern, aber i m Grunde sind sie alle nichts anderes als Klubwächter. Den K l u b zu einer bestimmten Stunde aufschließen, aufpassen, daß dort alles seine Ordnung hat, dann die Türe wieder abschließen und von Zeit zu Zeit die Plakate m i t den Losungen an den Wänden erneuern — das ist ihre ganze Tätigkeit. Wo bleibt der Dorfchor, wo sind Schachturniere m i t irgendeinem, wenn auch winzigen Siegerpreis, wo Besprechungen von neuen Büchern, wo eine Diskussion über den soeben gezeigten Film, wo eine anregende Wandzeitung, wo bleiben Theaterspiele? Nichts dergleichen ist da 2 6 4 ." Solouchin hat an anderer Stelle auch eine anschauliche Beschreibung vom Leben i n diesen Klubhäusern gegeben: „Schauen w i r einmal i n einen gewöhnlichen Dorfklub hinein. Fast jeden Abend entfacht der Klubleiter sozusagen den Funken der K u l tur. (Sein Bildungsniveau ist meist das der siebenjährigen Schulzeit, feste spezielle Kenntnisse besitzt er recht wenig, Graphik kann er von Malerei nicht unterscheiden, von Homer hat er noch nichts gehört.) I m Sommer herrscht i m Klubgebäude eine unwahrscheinliche Stickluft, i m Winter ist es kalt. Übrigens würde sowieso niemand den Mantel ablegen. A n den Wänden sieht man das künstlerische Schaffen: Parolen und Aufrufe, Plakate, die Wandzeitung, alle möglichen graphischen Leistungsdarstellungen. Als erste kommen zum Kulturlicht des Klubs die Dorfburschen. Sie setzen sich auf die Bank an der Wand und wissen i m Grunde nichts m i t sich anzufangen. Bald kommen die Liebhaber des Domino-Spiels. Sie erscheinen wie zum Dienst. Oh, dieses elende unabdingbare Domino! Sobald man sich dazu hinsetzt, ist der Abend weg. B i l l i g und verdrießlich. Wenn sich einige Mädchen einfinden, kommt auch Musik. Dann beginnen die Mädchen zu tanzen, das heißt, sie bewegen sich träge umher und blicken gleichgültig rechts und links. Manchmal erscheint ein Lektor aus der Bezirksabteilung für K u l t u r . Er hält einen Vortrag m i t langen Zitaten aus der Provinzzeitung. Immerhin — fast täglich w i r d ein F i l m gezeigt 2 6 5 ." 264 285

Solouchin, dt., S. 178; ähnlich K . Masalitinov, V. Solouchin, i n : L i t . gazeta, 3.12.1964, S. 2.

i n : Izvestija, 30. 9.1959, S. 2.

330

V I I . Nicht-agrarische Führungskräfte

Diese vorherrschende Situation trug igewiß nicht dazu bei, den i n K l u b - und Kulturhäusern Tätigen eine führende Stellung und soziales Prestige zu verleihen, und ihr vielfältiger Einsatz als Handlanger der politischen und wirtschaftlichen lokalen Führung (s. oben) tat es gewiß auch nicht, zumal diese Führung ihnen wenig Anerkennung gewährte. „Die i n K u l t u r - und Volksbildungeinrichtungen Tätigen sind i n einigen Kolchozen Stiefkinder. Gibt es ihre Photos oft an den Ehrentafeln, i n den ,Goldenen Büchern'? Gewährt man ihnen häufig Prämien oder erwähnt sie m i t einem guten Wort? Unter welchen Bedingungen leben sie, wieviel erhalten sie für ihre Arbeit? Viele von uns Kolchozvorsitzenden verhalten sich wenig väterlich zu diesen immer bereiten A r beitern, als ob sie keine ebenso nützliche K r a f t wie andere Spezialisten i m Kolchoz wären 2 6 6 ." Hier dürften Geringschätzung kultureller Belange mit Geringschätzung des Bildungs- und Qualifikationsniveaus der Vertreter dieser Belange ineinandergeflossen sein. Auch das Einkommen trug wenig zur Hebung ihrer sozialen Stellung bei, denn bei entsprechender Vorbildung kam es erst seit 1965 etwa dem eines einfachen Dorfschullehrers oder Dorfbibliothekars gleich, oder aber dem eines sog. Technikers, d. h. eines Arbeiters m i t technischer Berufsschulbildung 267 . Vorher, d. h. seit 1944, hatte es nur zwischen 25 und 32 Rbl. monatlich, je nach Vorbildung und Dienstalter, betragen 2 6 8 . Dem entsprach es, daß qualifizierte Kräfte nur selten und ungern eine Tätigkeit i n Dorf-Klubs annahmen 2 6 9 . Andererseits hat sich ein Klubleiter, wenn er hauptamtlich tätig war, sicherlich für etwas Besseres gehalten als die Masse der Dorfbevölkerung. Das w i r d an einer von Doro§ geschilderten Episode deutlich, wo der „izbaö" es offenbar m i t seinen Aufgaben als politischer Agitator nicht allzu ernst nahm und der Kolchozvorsitzende i h n aufforderte, i n die Brigade zu gehen und den Leuten die Zeitung vorzulesen. A u f seine Erwiderung: „Ich habe kein Fahrzeug", erhielt er die A n t w o r t : „ D u bist nicht so schwächlich, daß du nicht zu Fuß gehen könntest." Über diese Zumutung — wie ein einfacher Kolchoznik zu Fuß zu gehen — war der „izbac" (der dem Kulturministerium unterstand) empört und rief dem davonfahrenden Kolchozvorsitzenden nach: „Sie haben kein Recht. Ich unterstehe nicht dem Kolchoz! 2 7 0 " Hier treten zwei Statusmerkmale hervor: Er brauchte vom Kolchozvorsitzenden keine Befehle entgegenzunehmen, war kein Kolchoznik (das galt nicht i n der Minderzahl der Fälle 2ββ

S. 53. 267

Gluêko, S. 90/91; s. auch V. Tendrjakov:

Panov/Charin , S. 43 f. Ostrovskij , S. 268 (Fußnote 3). Izbaë, S. 55 f. 270 Doroë: Cetyre vremeni, S. 18. 268

ΐβ β

Konèina, i n : Moskva, 3/1968,

6. „ K u l t u r a r b e i t e r "

331

kolchozeigener Klubs), u n d er hatte Anspruch auf ein Fahrzeug. H i n z u k o m m t noch, daß er eine „nicht staubige" A r b e i t leistete u n d daß seine Position oft ein Abstellgleis für Angehörige der Führungsschicht w a r (vgl. oben). Das reicht, zusammen m i t der Tatsache eines i m m e r h i n regelmäßigen Gehalts, aus, die K l u b l e i t e r u n d deren Mitarbeiter der M i t t e l schicht zuzurechnen, aber die genannten anderen Faktoren machen deutlich, daß sie nicht der Oberschicht angehörten. Besser als m i t den K l u b l e i t e r n stand es m i t den Bibliothekaren, von denen der überwiegende T e i l eine Mittelschul-, oft eine Fachschulbildung hatte u n d bei denen von den übrigen viele an Fernkursen der Bibliothekarsfachschulen teilnahmen 2 7 1 . Diese Aussage über die Provinz K a l i n i n galt i m großen u n d ganzen auch für die anderen Landesteile 2 7 2 . B i b l i o thekare m i t Hochschulbildung, die eine kleine Minderheit darstellten, erhielten seit den Gehaltsaufbesserungen v o m Sommer 1964 ein Mindestgehalt von 70 Rbl. monatlich, bei längerer Dienstzeit m e h r 2 7 3 . Da die ländlichen Bibliotheken nicht groß waren — durchschnittlich 3500 Bände i m Jahr 1958, r u n d 5000 Bände fünf Jahre später (errechnet aus den Zahlen i n Tab. 11) — dürfte die Zahl fachlich vorgebildeter Gehilfen nicht groß gewesen sein; andererseits w u r d e n manche kleinen Bibliotheken nicht von einem Bibliothekar, sondern nebenberuflich von einem Lehrer o. ä. geleitet 2 7 4 , so daß man annehmen kann, daß die Z a h l der Dorfbibliothekare samt Gehilfen ungefähr der der ländlichen Bibliotheken entsprach, abzüglich einer unbekannten Z a h l i n nicht-agrarischen ländlichen Siedlungen, also etwa 70 000 bis 100 000 sowohl 1958 als auch 1964. Die Zahl der den Kolchozen unterstellten Bibliothekare w a r u n bedeutend (s. oben, Tab. 11, insbesondere die Zahlen der Bände). Das Büchereiwesen w a r auf dem Lande relativ gut ausgebaut, wenn auch bei den imposanten Gesamtzahlen zu berücksichtigen ist, daß ein großer T e i l der Bestände aus politischen Broschüren oder aus populärwissenschaftlichen m i t politischem Einschlag bestand 2 7 5 . Das drückt sich auch i n den Aufgaben der Bibliothekare aus, denen als „BibliotheksA k t i v i s t e n einfache Kolchozniki, meist Jugendliche", zur Seite stehen, „die selbst v i e l lesen u n d gute Propagandisten des gedruckten Wortes s i n d " 2 7 6 . Die Tätigkeit der Bibliothekare wurde w i e folgt umschrieben: „Die A r b e i t der ländlichen Bibliothekare hat ihre Besonderheiten, die m i t der jahreszeitlichen Bedingtheit der Kolchoz-Produktion u n d jenen 271 272 273

Anochina/Smeleva, S. 339. Vgl. V. Söerbakov, in: Sz 18. 3.1966, S. 2.

Panov/Charin, S. 43,54. Panov/Charin, S. 66. 275 Eigene Beobachtung des Verfassers bei Besichtigungen. — I n einem Sovchoz der BaSkirischen ASSR entfielen auf 2500 Bände nur 300—400 belletristische Werke, G. Kupcov, i n : Sz 24. 7.1968, S. 2. 274

278

Anochina/Smeleva, S. 324.

332

V I I . Nicht-agrarische Führungskräfte

wirtschaftlichen Aufgaben zusammenhängen, die dem sowjetischen Dorf gestellt sind, aber auch m i t den spezifischen Geschmacksrichtungen und Anforderungen der ländlichen Bevölkerung. I n der Frühjahrs- und Sommerzeit warten die Bibliothekare nicht, bis die Leser zu ihnen kommen, sondern machen sich selbst zu ihnen i n die Viehabteilungen und zeitweiligen Unterkünfte auf den Feldern auf, gehen i n die Häuser und bieten den Kolchozniki Literatur an und führen deren Bestellungen aus [ . . . ] Auch zum Kampf der Kolchozniki u m Produktionserfolge tragen die Bibliothekare ihren Teil bei. Sie wählen Literatur über fortschrittliche landwirtschaftliche Erfahrungen aus und verbreiten sie, veranstalten spezielle Ausstellungen, schaffen Produktionsbüchereien, die i n die ,Roten Ecken' der Viehabteilungen, i n die Häuser der Mechanisatoren und der Agitatoren gebracht werden. Zusammen mit den Klubs organisieren die Bibliotheken spezielle thematische Abende über Produktionsthemen und auch öffentliche Lesungen. Eine andere Form der Massenarbeit der Bibliotheken m i t der Bevölkerung sind Leserkonferenzen, die der Beurteilung von Werken der Schönen Literatur oder dem Schaffen einzelner Schriftsteller gewidmet sind 2 7 7 ." I n welcher Seite ihrer Tätigkeit die Bibliothekare ihre echte Hauptaufgabe sahen und wie die Bevölkerung darüber dachte, läßt sich nur vermuten. Doch sowohl i m echt bibliothekarischen wie i m politisch-propagandistischen Sinne war ihre Rolle — bei unterschiedlichen Schwerpunkten — sicher nicht ganz unbedeutend, hing aber wohl weitgehend von örtlichen Gegebenheiten, insbesondere von Größe und Betriebserfolg des jeweiligen Kolchoz oder Sovchoz ab. Der obigen Schilderung der Arbeit der Bibliothekare liegen besonders günstige Verhältnisse zugrunde, und vielleicht galten doch überwiegend, zumindest noch unter Chruscev, die Worte: „ M a n sagt, daß der Bibliothekar eine einfache Arbeit hat: Er nimmt vom Leser ein Buch zurück und gibt i h m ein neues 278 ." Obwohl es i n sowjetischen Publikationen wenig negative Äußerungen über die Dorfbibliothekare gibt, obwohl ihr Bildungsstand i m Durchschnitt höher war als der der Klubleiter und ihr Beruf ausgeprägter ein Intelligenzia-Beruf ist, zögert der Verfasser, sie i n ihrer Masse zu den Führungskräften und/oder zur Oberschicht der Dörfer zu zählen. Insbesondere die geringe Durchschnittsgröße der Büchereien spricht dagegen, und eine kleine Zahl von Ausnahmen kann nicht die soziale Gesamteinstufung bestimmen. 277 Ebenda, S. 326 f.; über die Tätigkeit als vorbildlich geltender Dorfbibliothekare s. auch T. Trofimenko, i n : Sz 28. 7.1966, S. 3, u n d V. Prokofev, i n : S2 13.1.1967, S. 3. 278 I . Il'in, i n : Sz 11. 5.1967, S. 2.

Schlußbetrachtungen Die Problematik der Führungskräfte i m sowjetischen Dorf betrifft, wie i n der vorliegenden Arbeit dargestellt worden ist, vor allem die landwirtschaftliche Produktion. I n der schulischen Betreuung der Dorfbevölkerung sind die Leistungen sehr beachtlich, wenn man sie an den Verhältnissen vor der Revolution und auch noch vor dem Zweiten Weltkrieg mißt, und sind auch i m Vergleich mit dem städtischen Schulwesen nicht unbefriedigend, wenn man die Gegebenheiten des Dorflebens berücksichtigt. Abgeschwächt gilt ähnliches für das Gesundheitswesen auf dem Lande, während die sog. kulturelle Massenarbeit, die zum Teil mehr eine politische ist oder sein soll, viel zu wünschen übrig läßt. Das Problem liegt aber zu einem großen Teil darin, daß infolge der Weitläufigkeit des Landes und der schlechten Verkehrsverhältnisse die Bezirkszentren und Städte nicht ergänzend die Rolle kultureller Mittelpunkte für das umliegende Land spielen können, auch die Zentraldörfer nicht für die Außendörfer der Agrarbetriebe. Solange das so ist, w i r d es weder personell noch materiell möglich sein, der gesamten Dorfbevölkerung ein Niveau der schulischen, medizinischen, kulturellen und technisch-zivilisatorischen Betreuung zu gewährleisten, das dem der Städte nahekommt. Auch wenn die Zahlen der Lehrer, Ärzte, „Kulturarbeiter" usw. auf dem Lande weiter vermehrt, deren Qualifikationen erhöht würden, wäre das nicht zu erreichen. Die sowjetische Presse der jüngsten Zeit zeigt, daß man sich der überragenden Bedeutung des lange vernachlässigten Straßenbaus für die Lebens- und Arbeitsverhältnisse auf dem Lande bewußt geworden ist. Außerdem sucht man die Annäherung des dörflichen an den städtischen Lebensstandard dadurch zu erreichen, daß man die Bevölkerung der insgesamt 500 000 bis 600 000 Dörfer und Weiler i n großen Hauptdörfern konzentriert — eine Umsiedlung gigantischen Umfangs, die zu ihrer Durchführung nicht nur gewaltige finanzielle Aufwendungen erfordern würde, sondern auch ein gut Teil administrativer Härte gegenüber den betroffenen Menschen (die sich schon i n Ansätzen bemerkbar macht); solche Umsiedlung oder „Zusammensiedlung" (sselenie) ist zudem betriebswirtschaftlich durchaus nicht unbedenklich 1 . Die Realisierung und Zweckmäßigkeit dieses aus der Ä r a Chrusòev übernommenen Programms 1 Vgl. hierzu Schiller: Das Landvolk, S. 340 f.; Richter: Sowjetische Dörfer, u n d ders.: F ü h r t der Weg, passim.

Plans; Wädekin:

334

Schlußbetrachtungen

ist recht zweifelhaft. Noch zweifelhafter ist, ob damit die Einstellung der kulturellen Führungskräfte zum Landleben, die i n deren Tendenz zur Landflucht zum Ausdruck kommt, geändert werden kann. Für sie wäre die Veränderung ja nicht bedeutend, denn sie haben auch bisher schon überwiegend i n den Zentraldörfern der Agrarbetriebe gewohnt. Jedenfalls zeigt der Versuch einer solchen Lösung, daß man eine A n reicherung aller Dörfer m i t solchen Vertretern der Intelligenzia als nicht möglich und auch nicht sinnvoll erkannt hat. Entwicklung des Verkehrsnetzes oder Konzentration der Dorfbevölkerung i n stadtähnlichen, agrarischen Großsiedlungen sind die zur Zeit ins Auge gefaßten Lösungen des Problems, natürlich auf dem Hintergrund einer allgemeinen Hebung auch des materiellen Lebensstandards der Dörfer. Das setzt Steigerung und Modernisierung der Agraproduktion voraus, und hier liegt die Hauptaufgabe, liegt aber auch die Problematik der Führungskräfte der Agrarbetriebe. Daß es — i m Rahmen des gegebenen Systems — von ihnen zu wenige gibt und ihre Qualifikation i m allgemeinen Durchschnitt nicht ausreicht, steht außer Zweifel. Dieser Mangel w i r d dadurch verschärft, daß die Situation eine Stufe tiefer, bei den technischen Fachkräften der mittleren bis unteren Ebene, den sog. Mechanisatoren (Traktorfahrer u. a.) und den sonstigen Mechanikern und Technikern nicht weniger kritisch ist 2 . Vorläufig ist nicht zu sehen, wie hier Wandel geschaffen werden kann, es sei denn durch Zwangsmaßnahmen, die sich aber i n der Vergangenheit wenig bewährt haben und i n der heutigen Situation noch weniger erfolgversprechend sind. Lange Zeit waren die Lebens- und Arbeitsbedingungen der landwirtschaftlichen Fach- und Führungskräfte wenig verlockend. Sie haben sich i m Vergleich zur Chruscev-Zeit zwar gebessert, aber ob der Wandel so tiefgreifend ist, daß er einen Umschwung des nötigen Ausmaßes i m Verhalten dieser Kräfte bewirken kann, ist noch eine offene Frage. Schon heute ist klar, daß i n Moskau nicht mehr Agrarpolitik ohne Rücksicht auf die Reaktionen der betroffenen Menschen gemacht werden kann, wie es einst Stalin tat und Chruscev — i n abgeschwächter Form — noch einmal versuchte. Und klar ist auch, daß man diese Reaktionen konkret studieren muß, anstatt sie aus den Lehrsätzen der Ideologie zu deduzieren. Aber die Frage bleibt, ob diese Einsicht nicht so spät gekommen ist, daß sie viele der neueren Investitionen vergeblich macht und die Landwirtschaft nicht i n absehbarer Zeit aus ihrer Rückständigkeit emporheben kann. Eines von beiden ist tragbar: Mangel an Fachund Führungskräften oder Mangel an einfachen Arbeitskräften; beides zugleich aber gefährdet die Produktion und die Wirkung der Investitio2 Vgl. Wädekin: Landw. Bevölkerung, S. 53 f.; dazu die weiterhin n u r eine langsame Zunahme zeigenden Zahlen bis F r ü h j a h r 1967, i n : Strana Sovetov, S. 165.

Schlußbetrachtungen

nen. Die Gefahr ist für die von der Natur wenig gesegneten und von der Landflucht besonders stark erfaßten Gebiete nördlich des Schwarzerdegürtels — großenteils das alte Kernrußland — sehr akut, weniger und teilweise gar nicht für die südlichen Landesteile oder den nicht-russischen Südosten m i t ihrem ausreichenden, teilweise sogar zu großen agrarischen Arbeitskräftereservoir. Vielleicht w i r d die Agrarproduktion und Landbevölkerung sich noch stärker als bisher nach Süden verlagern und w i r d erst später wieder eine A r t Rekolonisierung mancher nördlichen Landstriche einsetzen können, dann m i t hohem Kapital- und geringem Arbeitskräfteeinsatz, aber m i t Führungs- und Fachkräften, die an Zahl und Qualifikation die heutigen weit übertreffen müßten. Die Schwierigkeiten der Modernisierung der Produktion und der Umstellung und Verbesserung der beruflichen Qualifikation der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte sowie das Problem der Landflucht sind nicht auf die Sowjetunion beschränkt. I n Westeuropa weist Spanien heute eine Landflucht ähnlichen Ausmaßes auf, aber eine Parallele sowohl zu den wirtschaftlichen wie zu den politischen Verhältnissen dieses Landes ist wohl kaum das, was die Sowjets zur Erklärung ihrer eigenen Probleme akzeptieren würden. I n verschiedenen Abwandlungen findet man Schwierigkeiten dieser A r t auch i n den bereits industrialisierten Ländern und erst recht i n den sich noch industrialisierenden. Letztlich geht es um den Platz der Landwirtschaft i n der modernen Industriegesellschaft, u m seine Neubestimmung, worüber noch nirgends volle Klarheit und Einmütigkeit besteht. Aber unter spezifisch sowjetischen Bedingungen haben sich diese Probleme so verschärft, daß eine krisenhafte Situation entstand. M i t der Stalinschen Zwangskollektivierung hat man der bäuerlichen Bevölkerung das genommen, was den K e r n ihrer Lebensweise ausmachte und sie auf manche kulturellen und zivilisatorischen Güter der Städte verzichten ließ: Den Antrieb des selbständigen Wirtschaftens und die Verwurzelung i n einer von alten Traditionen geprägten bäuerlichen Dorfgemeinschaft. Damit wurden zwei sich eigentlich ausschließende Ziele zugleich verfolgt, von denen jedes für sich allein bereits eine gewaltige Umstellung und große Opfer der Bauernschaft erfordert hätte, nämlich einerseits Konsumverzicht unerhörten Ausmaßes, um die M i t t e l für die forcierte Industriealisierung abzuschöpfen 3, und andererseits eine radikale, nicht von wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit bestimmte Veränderung der Lebens- und Arbeitsweise u m der politischen Herrschaft und der ideologischen Ziele der Partei willen 4 . Das Kolchozsystem Stalins war die Radikallösung für beides, die zu ihrer Verwirklichung 3

Vgl. Schiller: Gründe; ders.: Wandlungen, S. 89, 91. s. hierzu Kerblay: Relations, S. 332—337, 346 f.; Sire: Economics; Laird: Observations, S. 289 f. 4

336

Schlußbetrachtungen

härtesten Zwang und ein über alle Dörfer ausgebreitetes Netz von Herrschafts- und Terrororganisationen der Partei und des Staates voraussetzte 5 , u m den Widerstand der Bauernschaft zu brechen. Und die „ A d ministrativ- und Zwangsmethoden" der Wirtschaftspolitik, „als zeitweilige Maßnahmen entstanden, verwandelten sich allmählich zur Norm" 6 . Es geht hier nicht u m die Frage, ob die traditionellen russischen Formen bäuerlicher Lebensweise nicht so oder so neuen Formen hätten Platz machen müssen, und es geht nicht einmal darum, ob das Endziel der Bolschewiken — eine auf Kollektivismus aufgebaute, großbetriebliche und hochmechanisierte Form der agrarischen Produktions- und Lebensweise — die richtige Lösung für eine fernere Zukunft darstellt. Entscheidend für den realen Ablauf und die heutige Lage ist vielmehr, daß beide Hauptziele gleichzeitig und m i t den M i t t e l n brutaler Gewalt durchgesetzt wurden. Der Bauer mußte i n kürzester Zeit sowohl auf seine traditionelle Lebensweise als auch auf seinen Mitte der 1920er Jahre erreichten Lebensstandard verzichten. Man hat i h m nichts gegeben, weder materielle Güter noch immaterielle neue Werte — außer der politischen Predigt eines Systems, das sich i h m durch seine Methoden verhaßt gemacht hatte. Statt dessen wurde er zum Sowjetbürger zweiter Klasse gemacht und i n eine Gutswirtschaft m i t sozialistischem Aushängeschild gepreßt, an die er gebunden und i n der er zur Arbeit für ein minimales Entgelt gezwungen war, damit beides erreicht wurde: seine völlige Unterwerfung und sein Konsumverzicht bis zur Verelendung. Die „Idiotie des Landlebens" (K. Marx) wurde nicht überwunden, sondern i n eine andere, drückendere, oktroyierte Form gegossen, „der Ur.banisierungsprozeß wurde rasch verwirklicht, ohne von einer industriellen Revolution i n den Dörfern begleitet zu sein" 7 . Durch Ablauf und Folgen der sowjetischen Kollektivierung der Landwirtschaft ist historisch erwiesen, daß der Übergang einer traditionellen Kleinbauernwirtschaft i n die Moderne m i t diesen Methoden nicht bew i r k t werden kann, außer man ist einen übermäßig hohen Preis zu zahlen bereit: Millionen Menschenleben 8 , Entrechtung der Bauernschaft, Rückgang der Agrarproduktion, Vertiefung des Grabens zwischen Stadt und Land und eine chronische Strukturkrise der Landwirtschaft. Die Frage aber, die durch den historischen Ablauf nicht beantwortet wurde, lautet: Ist der Übergang der Landwirtschaft und Agrarbevölke5

Vgl. Schiller: Das Landvolk, S. 336. ® Suslov: Êkonomtéeskie, S. 209. Ballard : Problems, S. 352. ® Vgl. die Schilderung der entsetzlichen, nur zum T e i l durch eine schlechte Ernte hervorgerufenen Hungersnot von 1933 bei Schiller: Landwirtschaftspolitik, S. 74—79; s. auch V. Tendrjakov: Konfcina, S. 37—41. 7

Schlußbetrachtungen

337

rung i n die moderne Industriegesellschaft auf dem Weg über kollektive, großbetriebliche, hochmechanisierte Produktion überhaupt möglich? Man könnte sich immerhin vorstellen, daß eine Kollektivierung anders verlaufen wäre, i n der dem Bauern ein Ausgleich für das Verlorene geboten worden wäre: Erleichterung seiner Arbeit, gute Löhne, einige, wenn auch nicht alle kulturellen und technisch-zivilisatorischen Errungenschaften der Städte, soziale Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der neu organisierten Landwirtschaft durch das Entstehen neuer, qualifizierter Funktionen und Berufswege i n den Agrarbetrieben 9 . Dazu wären freilich ungeheure zusätzliche Investitionen i n den Agrarbetrieben und Dörfern nötig gewesen, hätte man für den Anfang die besten Führungskräfte der Städte zusätzlich ausbilden und aufs Land schicken und mit ihrer Hilfe beweisen müssen, daß auf dem neuen Weg die Produktivität der Landwirtschaft und damit der Lebensstandard der Agrarbevölkerung weit über das frühere Niveau gehoben werden können. Die Gleichzeitigkeit der forcierten Industrialisierung, die fast alle Investitionen und die besten Fach- und Führungskräfte für sich beanspruchte, während diese i n den Kolchozen fehlten 1 0 , hat diesen Weg von vornherein ausgeschlossen. Natürlich bleibt fraglich, ob das Sowjetsystem als solches, auch bei Verzicht auf die gleichzeitige forcierte Industrialisierung, überhaupt die Voraussetzungen zu einem solchen Weg geboten hätte. Man mag das füglich bezweifeln, aber der Gegenbeweis kann i n der Stalinschen Kollektivierung, wie sie nun einmal ablief, nicht erblickt werden. Als gedankliche Konstruktion ist der skizzierte andere Weg immerhin vorstellbar, wenn auch nicht übersehen werden soll, daß zahlreiche Faktoren gesamtvolkswirtschaftlicher, demographischer und — vor allem — innen- und außenpolitischer A r t i n der seinerzeitigen historischen Situation zu berücksichtigen wären, die ihn vielleicht zur retrospektiven Utopie machen. Vorstellbar ist auch, daß auf diesem Weg frühzeitig, noch bevor die Landflucht zum beherrschenden Phänomen sowjetischen Dorflebens wurde, eine echte Elite von Führungskräften aus der Dorfbevölkerung emporgewachsen wäre, die sich zwar nicht mehr i m individuell eigenen Boden und Betrieb, wohl aber i m gemeinsamen Aufgaben- und Arbeitsbereich verwurzelt gefühlt hätte und die von der Masse der Dorfbevölkerung nicht als fremd empfunden, sondern auf Grund ihrer letztlich allen zugute kommenden Leistung respektiert worden wäre. Und zwischen ihr und der Masse der Dorfbevölkerung hätte eine breite Mittel9

Vgl. Schiller: Das Landvolk, S. 338. A u f dieses Fehlen als Erschwerung der K o l l e k t i v i e r u n g weist auch D'jaëkov, S. 14 hin. Die i n den 1930er Jahren praktizierte Kurzausbildung vieler Dorfbewohner, auf die Ostrovskij, S. 148 f., verweist, konnte dem Bedarf q u a l i t a t i v nicht genügen. 10

22

Wädekin

338

Schlußbetrachtungen

Schicht technischer Landarbeiter emporwachsen und einen Teil der einfachen Arbeitskräfte i n sich aufsaugen können. I n solcher Entwicklung wäre auch der kulturelle und zivilisatorische Rückstand gegenüber den Städten weniger stark empfunden bzw. kompensiert worden. I n Teilen des Südens der UdSSR m i t ihrem allgemein höheren dörflichen Lebensstandard und ihren durchschnittlich größeren privaten Nebenerwerbswirtschaften der Dorfbevölkerung 1 1 sind Landflucht und sinkende Geburtenraten kein akutes Problem. Das zeigt, daß die „Eintönigkeit des Landlebens" (sel'skaja skuka) für sich allein nicht notwendig gefährliche Auswirkungen haben muß. Es genügt, sie nur langsam zu überwinden, wenn nicht gleichzeitig der materielle Lebensstandard zu sehr herabgedrückt wird. Das alles wäre müßige Gedankenspielerei, wenn nicht die Geschichte e contrario bewiesen hätte, daß ein solcher Weg mindestens erwägenswert ist, w e i l auf dem i n der Sowjetunion tatsächlich eingeschlagenen dies alles nicht geschehen konnte. Denn so wurde nicht nur der oben genannte überhohe Preis bezahlt, sondern die Agrarbevölkerung reagierte außerdem m i t Entfremdung von dem ihr aufgezwungenen Kollektivsystem und m i t einer „Abstimmung m i t den Füßen", die auch und gerade von den dörflichen Führungskräften vorgenommen wurde. Das hat die kritische Situation der Gegenwart weit über die Frage der Investitionen und Erzeugerpreise hinaus zugespitzt. Schon 1933 hatte Otto Schiller geschrieben: „Die weitere Entwicklung ist abhängig vom Produktionsfaktor ,Mensch', dessen Versagen die gegenwärtige Krise verursacht hat 1 2 ." Er hat auch später darauf hingewiesen, daß i m sowjetischen Agrarbetrieb „diejenigen Faktoren nicht recht zum Tragen kommen, die für die Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit von ausschlaggebender Bedeutung sind: die elastische Anpassung der Betriebsführung an die örtlichen Gegebenheiten, die wechselnden Erfordernisse i m jahreszeitlichen Ablauf des Produktionsprozesses und die persönliche Interessiertheit des i n der Landwirtschaft tätigen Menschen" 13 . Früher hatte der Überschuß an Arbeitskräften diese Beeinträchtigung bis zu einem gewissen Grade ausgleichen können 1 4 , aber heute ist auch dieses Reservoir i n großen Landesteilen erschöpft. So ist i n neuartiger Zuspitzung der Produktionsfaktor Arbeitskraft zum „Problem Nummer eins" 1 5 i n weiten Teilen der sowjetischen Land11 Vgl. Wädekin: Privatproduzenten, Anhang C; der Zusammenhang z w i schen mehr oder minder großen Ausmaßen bzw. Erträgen der privaten Nebenerwerbswirtschaften u n d der Intensität der Landflucht w i r d auch festgestellt von T. I. Zaslavskaja: Nekotorye, S. 177 f. 12 Schiller: Die Krise, S. 82; ähnlich N. Jasny: Socialized, S. 389. 18 Schiller: Die ungelöste Agrarfrage, S. 8. 14 Vgl. Schiller: Bedeutung, S. 435 f. 15 So, gemünzt auf die Landflucht der Jugend, Ivanov: Licom, S. 216.

Schlußbetrachtungen

Wirtschaft geworden. Dabei ist die Frage der Führungskräfte einer der brennendsten Aspekte. Darin rächt sich, daß man jahrzehntelang auf den „Faktor Mensch" keine Rücksicht nehmen zu müssen glaubte, und es rächt sich nicht nur moralisch, sondern auch materiell. Ob es i n der erforderlichen kurzen Zeit gelingt, den angerichteten Schaden wieder gutzumachen, ist eine der Schicksalsfragen der sowjetischen Gegenwart. Durch die nach Chrusöevs Absetzung ergriffenen Maßnahmen ist sie angepackt, aber noch nicht gelöst worden.

Benutzte Quellen und Sekundärliteratur Erläuterungen Das nachstehende Literaturverzeichnis enthält Bücher, Broschüren u n d Zeitschriftenaufsätze, i n wenigen Ausnahmefällen auch Buchrezensionen, nicht aber Zeitungsaufsätze u n d -artikel. Beiträge zu Sammelbänden w u r d e n i n den betreffenden Fußnoten nachgewiesen, jedoch nicht einzeln i n das L i t e r a t u r verzeichnis aufgenommen, das — von wenigen Ausnahmen abgesehen — n u r die T i t e l ganzer Sammelbände enthält. Einige Publikationen, die lediglich f ü r Einzelstellen herangezogen wurden, sind ebenfalls n u r i n den betreffenden Fußnoten genannt. Abgekürzte Titel, die i n den Fußnoten verwendet sind, lassen sich i m L i t e raturverzeichnis nach ihrem alphabetischen Platz finden. F ü r häufig herangezogene Periodica (incl. Statistische Jahrbücher) wurden, falls ihre Namen nicht ohnehin kurz sind w i e „Izvestija" „ N o v y j m i r " , „Pravda", „ T r u d " , folgende abgekürzte Bezeichnungen verwendet: ESCh Koms. pravda L i t . gazeta Nar. choz.

= = = =

Sei. choz. = Sov. gos. i pravo = Si = VE = VF =

Êkonomika sel'skogo chozjajstva Komsomol'skaja pravda L i t e r a t u r n a j a gazeta Narodnoe chozjajstvo (dazu die jeweilige Jahreszahl, s. Literaturverzeichnis) Sel'skoe chozjajstvo (s. Literaturverzeichnis) Sovetskoe gosudarstvo i pravo Sel'skaja zizn' Voprosy ékonomiki Voprosy filosofi!

Alphabetisches Titelverzeichnis Abramov, Fedor: V o k r u g da okolo, i n : Neva, 1/1963, S. 109—137 (zitiert nach der dt. Ausgabe Abramow, Fjodor: E i n Tag i m ,Neuen Leben 4 , München/ Zürich 1963,150 S.) Abrjutina, M. S.: Sel'skoe chozjajstvo ν sisteme balansa narodnogo chozjajstva, Moskau 1965,150 S. Adams, A r t h u r E.: I n f o r m a l Education i n Soviet Agriculture, i n : Comparative Education Review, X I / 2 (Juni 1967), S. 217—230 Ahlberg, René: Die Sozialstruktur der UdSSR, i n : Osteuropa, 5/6,1968, S. 353— 368 — Entwicklungsprobleme der empirischen Sozialforschung i n der UdSSR (1917—1966), B e r l i n 1968, 237 S. Aimbetov , Α., M . Bajmachanov , M . Imaëev: Problemy soverâenstvovanija organizacii i dejatel'nosti mestnych sovetov, A l m a - A t a 1967, 240 S.

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