Die Cyzicus-Episode und ihre Funktion in den Argonautica des Valerius Flaccus 9783666252242, 3525252242, 9783525252246


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German Pages [296] Year 1999

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Die Cyzicus-Episode und ihre Funktion in den Argonautica des Valerius Flaccus
 9783666252242, 3525252242, 9783525252246

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HYPOMNEMATA 127

VÔR

HYPOMNEMATA UNTERSUCHUNGEN ZUR ANTIKE UND ZU IHREM NACHLEBEN

Herausgegeben von Albrecht DiMe/Siegmar Döpp/Dorothea Frede/ Hans-Joachim Gehrke/Hugh Lloyd-Jones /Günther Patzig/ Christoph Riedweg/Gisela Striker

HEFT 127

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

CESINE MANUWALD

Die Cyzicus-Episode und ihre Funktion in den Argonautica des Valerius Flaccus

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Verantwortlicher Herausgeber: Siegmar D ö p p

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Manuwald, Cesine: Die Cyzicus-Episode und ihre Funktion in den Argonautica des Valerius Flaccus / Gesine Manuwald. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Hypomnemata ; 127) ISBN 3-525-25224-2 D25 © 1999, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die für die Veröffentlichung durchgesehene und unter Berücksichtigung inzwischen erschienener Literatur überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die der Gemeinsame Ausschuß der Philosophischen Fakultäten I-IV der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. im Sommersemester 1998 angenommen hat. Die Argonautica des Valerius Flaccus habe ich im Wintersemester 1994/95 durch ein Seminar bei Herrn Professor Dr. Eckard Lefèvre kennengelemt. Er hat mich dann ennutigt, mich eingehender damit zu beschäftigen, und hat meine Arbeit in jeder Hinsicht stets wohlwollend und mit wertvollen Hinweisen gefördert. Meinem Doktorvater sei darum an dieser Stelle zuallererst herzlich gedankt. Ebenfalls danken möchte ich dem Korreferenten, Herrn Professor Dr. Uhich Eigler, für die sachkundige Durchsicht der Dissertation sowie Herrn Professor Dr. Siegmar Döpp und den anderen Herausgebern für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe >HypomnemataWeltenplan< und die Argofahrt

130

Π. Götterbild

177

1. luppiter

178

2. Andere Götter

184

3.fata

196

4. Einwirkung auf die Menschen

200

5. Vorausdeutungen

214

Ш. Menschenbild

225

1. Zwischenmenschliche Beziehungen

225

2. Charakter der Argonauten

240

Zusammenfassung der Ergebnisse

261

Literaturverzeichnis

269

Stellenregister

283

Einleitung

Valerius Flaccus nennt am Beginn seiner Argonautica als Gegenstände seines Werks die Meere, die von den großen Abkömmlingen der Götter erstmals durchfahren worden seien, und das weissagende Schiff, das es gewagt habe, durch die Symplegaden bis nach Colchis vorzudringen (1,1-4). Die Thematik der ersten Schiffahrt über das offene Meer, unter die Valerius Flaccus seine Version des traditionellen Argonautenstoffs stellt, wird bis in den Anfang des fünften Buchs entwickelt, danach wird das Geschehen in Colchis selbst, das die Durchquerung der Meere zur Voraussetzung hat, behandelt (5,217ff.). Die Seefahrt der Argonauten ist gekennzeichnet von Risiken und Gefahren, die sie wider Pelias' heimtückische Erwartungen bestehen. Darunter nehmen die Ereignisse auf Cyzicus (2,627 - 3,461) eine besondere Stellung ein, insofern die Argonauten hier als Gruppe erstmals in eine kriegerische Auseinandersetzung geraten und ihr Unternehmen auch nach dem Sieg emsthaft gefährdet erscheint. Valerius Flaccus hat diese Episode^ sehr umfangreich ausgestaltet und sie etwa in der Mitte der Schilderung des gesamten Wegs nach Colchis angeordnet. Vergleicht man sie mit der entsprechenden Gestaltung der Vorgänge auf Kyzikos in Apollonios Rhodios' Argonautika (AR 1,936-1152), kann man erkennen, daß Valerius Flaccus durch Veränderung von Fakten, Hinzufügungen und andersartige Akzentuierungen eine selbständige Konzeption geschaffen hat und auf diese Weise eigene Ideen zum Ausdruck bringen wollte. Diese zu verdeutlichen soll in der vorliegenden Arbeit versucht werden, weil es eine 1 Zur Bezeichnung der einzelnen Erlebnisse der Argonauten hat sich der Begriff >Episode< eingebürgert. Bei Mehmel (1934, 57) ist die Benennung sogar im Sinne eines Mangels aufgefaßt: »Wenn Valerius die Fahrt der Argonauten darstellt (Buch II-IV), dann fehlt ein übergeordnetes Ziel: die einzelnen Ereignisse der Fahrt stehen beziehungslos für sich allein, das heißt: sie sind episodisch« (ähnlich Wagner 1939, lOlf.; Bahrenfuß 1951, 150f.; Smith 1987, iiif. u. 3 zu II 6-16). Wenn man >Episode< wie Mehmel so deutet, daß damit eine abgeschlossene Erzählung innerhalb der Haupthandlung gemeint ist, die mit dieser nur in loser Verbindung steht, sollte man den Begriff für Valerius Flaccus nicht verwenden. Denn in seinem Epos bilden die sogenannten >Episoden< gerade die Haupthandlung, die durch die Thematik gegeben ist. Unter >Episode< wird man bei Valerius Flaccus daher eher eine Erzähleinheit verstehen, die durch die Konzentration auf ein gesondertes Unterthema relativ geschlossen ist, aber dennoch ein zentrales Element des gesamten Geschehensablaufs darstellt.

10

Einleitung

spezielle Untersuchung zur gesamten Cyzicus-Episode bisher nicht gibt. Da auch kein moderner wissenschaftlicher Kommentar zum dritten Buch der Argonautica vorliegt,2 wird es notwendig sein, zunächst den Text im einzelnen zu analysieren. Dabei wird sich die Frage stellen nach der Relevanz der in der CyzicusEpisode zu beobachtenden Motive und Themen im Kontext des Gesamtwerks bzw. nach Valerius Flaccus' Absichten bei seiner Gestaltung. Einzelne Motivbereiche sollen daher, sofern sie in Zusammenhang mit der Interpretation der Cyzicus-Episode nicht hinreichend behandelt werden können, in Hinblick auf ihre Bedeutung an anderen Stellen des Werks vertieft erörtert werden. Das gilt insbesondere für die Einordnung der Vorgänge in den >Weltenplan< luppiters (1,531-560), der der göttliche Urheber der ersten Seefahrt über das offene Meer ist, sowie das komplexe Verhältnis von menschlichem und göttlichem Handeln in Valerius Flaccus' Darstellung. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich die Ergebnisse der Inteφretation der Cyzicus-Episode zusammenfassend deuten. Mit dem beschriebenen Vorgehen wird ein Ansatz weiterverfolgt, wie ihn Adamietz in der Einleitung seiner Arbeit Zur Komposition der Argonautica des Valerius Flaccus (1976) skizziert: »Besondere Beachtung verdient der innere Zusammenhalt des Werkes. Auszugehen ist dabei von der Anlage der jeweiligen Einzelpartie und anschließend zu prüfen, durch welche gedanklichen Vorstellungen oder sonstigen Mittel die Verbindung zwischen den Teilen bewirkt wird. Dies führt zu der Frage nach der Sinngebung des gesamten Epos.« 3

2 Der letzte Gesamtkommentar zu Valerius Flaccus, der von Langen, stammt aus den Jahren 1896/97. An Kommentaren zu einzelnen Büchern sind in jüngerer Zeit erschienen: Smith (1987), Poortvliet (1991) zu Buch 2; Korn (1989) zu Buch 4,1-343; Campanini (1996) zu Buch 4,99-198; Wijsman (1996) zu Buch 5; Fucecchi (1997) zu Buch 6,427-760; Taliercio (1992), Stadler (1993), Perutelli (1997) zu Buch 7; hinzu kommt die mit Anmerkungen vor allem zu Sprache und Textkritik versehene Ausgabe der Bücher 1 - 4 von Liberman (1997). Vgl. auch die Literaturüberblicke und Forschungsberichte von Ehlers (1971/72, 105-142) und Scaffai (1986, 2359-2447). 3 Als damit zusammenhängende Probleme nennt er; »Götterkosmos, Fatum, Rolle Jasons und der übrigen Argonauten, >Weltbild< des Dichters u.a.« (Adamietz 1976a, 3; vgl. auch 1976a, 120).

Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

I. Formal-stxukturelle Untersuchung

Bei einer ersten Betrachtung der Cyzicus-Episode (2,627 - 3,461)1 hinsichtlich ihrer äußeren Form fállt auf, daß Valerius Flaccus einen in sich geschlossenen Ereignisablauf im Unterschied zu Apollonios Rhodios (AR 1,936-1152) auf zwei Bücher verteilt hat (2,627-664. 3,1^61). Infolgedessen wird einerseits die Schilderung des Geschehens durch die Buchgrenze unterbrochen, andererseits erreicht Valerius Flaccus dadurch gerade, daß diese nicht eigentUch als Einschnitt empfunden, sondern durch die Fortsetzung der Erzählung überspielt wird. Am Buchübergang in der Cyzicus-Episode läßt sich sogar eine besonders enge Verbindung der Bücher auf der Handlungsebene feststellen. Hier wird nämlich nicht nur die Episode überhaupt vom zweiten in das dritte Buch hinein fortgeführt, sondern sogar der erste Aufenthalt der Argonauten auf Cyzicus (2,636 - 3,13), ein Unterabschnitt der gesamten Episode, auf Ende und Anfang der beiden Bücher verteilt: Ankunft und Begrüßung sowie das Gastmahl befinden sich im zweiten Buch (2,636664), der Abschied im dritten (3,1-13). Erst im Anschluß daran, deutlich nach Beginn des dritten Buchs, folgt ein größerer Handlungseinschnitt, der durch einen Musenanruf (3,14-18) hervorgehoben ist. Das Piazieren einer Episode über eine Buchgrenze hinweg, das sich auch an anderen Buchübergängen beobachten läßt, trägt dazu bei, daß ein mythischer Stoff, der von seiner Struktur her aus vielen einzelnen Ereignissen besteht, eher einheitlich und zusammenhängend wirkt. Denn auf diese Weise wird der Zerfall der gesamten Erzählung in einzelne Episoden nicht durch die Bucheinteilung noch verstärkt, indem etwa das Ende eines Buchs und einer Episode zusammenfallen und so einen starken Einschnitt

1 Allen Stellenangaben und Zitaten aus Valerius Flaccus' Argonautica liegt der Text der Ausgabe von Ehlers (1980) zugrunde, die die neuste, vollständige wissenschaftliche ist. Herangezogen wurden auch die Ausgabe von Courtney (1970) und für die Bücher 1 - 4 die von Liberman (1997). Auf die Textgestaltung dieser Ausgaben wird nur ausdrücklich eingegangen, wenn sie von der von Ehlers abweicht und die andere Lesart Auswirkungen auf das Verständnis des Texts hat.

12

Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

bilden.2 Bei dieser Methode der Gestaltung von Buchübergängen ergibt sich allerdings die Frage, an welchem Punkt innerhalb einer Episode die Buchgrenze hegen soll. Zum Erreichen der gewünschten Wirkung setzt Valerius Flaccus sie in eine geschlossene Handlung, jedoch wählt er eine Stelle, an der ohnehin ein gewisser Einschnitt gegeben ist, damit der Geschehensablauf nicht vollkommen gegen den natürhchen Fluß der Handlung unterbrochen wird. Im Fall der Cyzicus-Episode geht die Erzählung im zweiten Buch von der Ankunft der Argonauten bis zum Begrüßungsgastmahl, das bis spät in die Nacht fortdauert (2,636-664a), und dem Hinweis darauf, daß der nächste Tag in ähnhcher Weise mit Gesprächen verbracht wird (2,664b). Das dritte Buch setzt mit der Beschreibung der Zurüstungen zur Abfahrt am dritten Tag neu ein (3,1-13). Abgesehen davon, daß sich der Bericht über den Abschied der Argonauten (3,1-13) trotz seiner Verbindung zu dem im zweiten Buch dargestellen Teil des Geschehens am Beginn des dritten Buchs befindet, führt die Plazierung der Buchgrenze zu einem Kontrast zwischen den im zweiten und den im dritten Buch geschilderten Ereignissen: Im zweiten Buch werden die freundschaftliche Aufnahme der Argonauten durch die Cyzicener und das fröhliche Gastmahl beschrieben, im dritten der schreckliche Kampf zwischen den Gastfreunden und die daraus entstehende Trauer. Das läßt darauf schließen, daß Valerius Flaccus die Stellung der Buchgrenze nicht nur für die Konstruktion des äußeren Handlungsablaufs, sondern auch zum Erzielen von Effekten durch die Schaffung von Kontrasten ausgenutzt hat.3 2 Vgl. Adamietz 1976a, 116f.; Burck 1979, 217f. 3 Vgl. Wagner 1939, 103-107; bes. Adamietz 1976a, 116-120 mit Anm. 14, zur Bucheinteilung bei Valerius Flaccus. - Beim Übergang vom zweiten zum dritten Buch in der Cyzicus-Episode ergibt sich durch die Plazierung der Buchgrenze, daß nicht nur die in den verschiedenen Büchern befindlichen Teile der Episode fröhlich bzw. traurig sind, sondern jeweils das ganze Buch von einer entsprechenden Stimmung geprägt ist, jedenfalls was das Schicksal der Argonauten angeht (vgl. Poortvliet 1991, 310 zu 2,627-64). Es dürfte jedoch zu weitgehend sein, den Sachverhalt zur Grundlage einer umfassenden Theorie von der stimmungsmäßigen Einheit der Bücher bei Valerius Flaccus zu machen (so Burck 1970, 541 mit Anm. 9; bes. Lüthje 1971, 88-90, 201 u.ö.; vgl. dazu Adamietz 1976a, 120 Anm. 14; Adamietz 1976b, 461). Denn es gibt in den genannten Büchern auch Ereignisse (allerdings ohne direkte Beteiligung der Argonauten, z.B. Entwicklung der Situation auf Lemnos vor dem Eintreffen der Argonauten, 2,82-310), die eine andere Stimmung aufweisen (vgl. Spaltenstein 1991, 92f.). Außerdem läßt sich eine derartige Einheitlichkeit der Stimmung nicht in allen Büchern beobachten. Denn wie Lüthje später (1971, 237, 279 u.ö.) selber zugibt, findet sich eine stimmungsmäßige Einheit der Bücher nur in der ersten Werkhälfte und wird in der zweiten von einer inhaltlich-handlungsmäßigen abgelöst. Damit formuliert Lüthje selbst den schwerwiegendsten Einwand gegen seine These (bes. 1971, 88) von einer neuartigen Einheit der Bücher bei Valerius Flaccus

I. Formal-Strukturelle Untersuchung

13

Durch eine derartige Verteilung der Erzählung über die Ereignisse auf Cyzicus auf einen Buchschluß und einen Buchanfang ergeben sich auf kompositorischer Ebene Beziehungen zu anderen Buchübergängen, die nach ähnlichen Prinzipien gestaltet sind: Jeweils wird eine Episode über die Buchgrenze hinweggeführt, an der Buchgrenze findet ein Wechsel der Atmosphäre oder Perspektive statt. Parallel zu den Verhältnissen in der Cyzicus-Episode markiert der Übergang vom vierten zimi fünften Buch eine Veränderung von sorgloser und ausgeglichener zu trauriger und bedrückender Stimmung: Am Ende des vierten Buchs wird die freundliche Aufnahme der Argonauten durch Lycus beschrieben (4,733-762), das fünfte Buch setzt mit dem Tod von Idmon und Tiphys während des Aufenthalts der Argonauten bei Lycus ein (5,1-62) ^ In umgekehrter Richtung geht der Stimmungswechsel am Übergang vom ersten zum zweiten und vom dritten zum vierten Buch vor sich: Am Ende des ersten Buchs wird der erzwungene Selbstmord von lasons Eltern und deren Aufnahme in die Unterwelt berichtet (1,730-850), das zweite Buch beginnt mit lasons Unwissen über den furchtbaren Vorgang (2,1-5). Das dritte Buch endet mit Hercules' Trauer über den Verlust seines Freundes Ну las und seiner Zurücklassung durch die anderen Argonauten (3,733-740), zu Beginn des vierten Buchs sendet luppiter Hercules zunächst erlösenden Schlaf und überträgt ihm dann eine seinem Tatendrang entsprechende neue Aufgabe

im Unterschied zur stofflichen Einheit bei anderen Autoren. - Die einzelnen Erlebnisse der Argonauten sind durch die Natur des Stoffs ohnehin von so unterschiedlichem Charakter, daß auf Buchebene kaum feste und durch irgendeinen Gesichtspunkt in sich abgeschlossene Einheiten entstehen können. Ferner kommt es Valerius Flaccus auf die Einheit der Bücher offenbar nicht so an wie auf Bedeutung und Aussage der einzelnen Episoden sowie die Anordnung aller Episoden insgesamt in einer möglichst einheitlichen Handlungslinie zur Verdeutlichung seiner Hauptgedanken (vgl. Adamietz 1976a, 120 Anm. 14; Adamietz 1976b, 461). Deshalb kann man wohl weder ohne Einschränkungen behaupten, daß durch die Fortführung der Handlung über die Buchgrenze hinweg die Einheit der Bücher zerstört werde (so Mehmel 1934, 55f.; Smith 1987, iii u. 279 zu 2,664, in eingeschränkter und abgemilderter Form), noch als Ersatz eine stimmungsmäßige Einheit der Bücher (bes. in der ersten Werkhälfte) konstruieren und diese als leitendes kompositionstechnisches Element so in den Vordergrund stellen, daß man andere bestimmende Aspekte darüber vernachlässigt (so Lüthje 1971, 93 u.ö.). Formale Beziehungen zwischen den Büchern bestehen durch Vor- und Rückverweise, die Erwähnung desselben Abenteuers in verschiedenen Büchern und die Verwendung paralleler Strukturen an mehreren Stellen (vgl. Adamietz 1976a, passim; Burck 1979, 217). - Auch bei Apollonios Rhodios fallen Handlungseinschnitt und Buchgrenze nicht immer zusammen; daher waren wohl für ihn ebenfalls Buchgrenzen weniger wichtig als der Fortgang der Gesamthandlung (vgl. Fränkel 1968, 21-23, zur Bucheinteilung bei Apollonios Rhodios; vgl. auch Burck 1975, 565 mit Anm. 22). 4 Vgl. Adamietz 1976a, 42f. u. 118; Poortvliet 1991, 310 zu 2,627-64.

14

Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

(4,1-81); an dieser Buchgrenze findet außerdem ein Wechsel von der Menschen- zur Götterebene statt.5 Wie die Beispiele zeigen, läßt sich die dargelegte Methode der Gestaltung der Buchübergänge besonders in der ersten Werkhälfte mit den einzelnen Episoden der Fahrtschilderung beobachten. Jedoch wird auch in der zweiten Werkhälfte die Handlung unmittelbar von einem Buch in das nächste fortgesetzt, wobei jeweils die grundsätzliche Situation beibehalten, aber aus einer anderen Perspektive geschildert wird. So geht beim Übergang vom fünften zum sechsten Buch die Handlung auf der Götterebene weiter, gleichzeitig findet ein Wechsel von der Götterversammlung (5,618-695) zu Mars' persönlichen Überlegungen über sein Verhalten in der bevorstehenden Schlacht in Colchis sowie seine daran anschließenden Aktivitäten statt (6,1-30). Am Ende des sechsten Buchs (6,752-760) werden die Wirkungen von lasons in der Schlacht vollbrachten Leistungen auf Medea bei ihrem Verlassen des Schlachtfelds beschrieben, am Beginn des siebten Buchs (7,1-25) die daraus für sie entstehenden nächtlichen Qualen.6 Das siebte Buch schließt mit der erfolgreichen Beendigung des Kampfs gegen die Stiere und die Erdgeborenen durch lason (7,644653), das achte beginnt mit der Beschreibung von Medeas dadurch hervorgerufener innerer Situation (8,1-23). Ein Unterschied zwischen diesen Buchübergängen und denen in der ersten Werkhälfte besteht darin, daß in der zweiten Werkhälfte die jeweiligen Passagen an einem Buchende und am darauf folgenden Buchanfang nicht verschiedene Partien einer in sich abgeschlossenen Episode bilden, sondern zwar eng verbundene Handlungsteile, gleichzeitig aber Glieder einer umfangreicheren Ereigniskette sind. Das liegt daran, daß die Ereignisse in Colchis in ihrer Gesamtheit eine einheitliche Handlung darstellen und sich nicht, wie die erste Werkhälfte, aus einzelnen, in bezug auf den äußeren Ablauf relativ unabhängigen Episoden zusammensetzen. Deshalb geschieht die Überspielung der Buchgrenzen in der zweiten Werkhälfte nicht durch Fortführung einer Episode, die deutlich erkennbar in einem gewissen Abstand von der Buchgrenze anfängt und endet, sondern durch Fortsetzung eines Abschnitts aus dem gesamten Geschehen in Colchis. Im Grunde handelt es sich jedoch um das gleiche Prinzip, das lediglich den durch die Stoffwahl gegebenen formalen Unterschieden zwischen der ersten und zweiten Werkhälfte angepaßt ist. 5

Vgl. Korn 1989, 16 zu 4,1-81; Gärtner 1994, 108, 125, 126; Liberman 1997,

79. 6 Vgl. Adamietz 1976a, 9 1 f ; Gärtner 1994, 172; Perutelli 1997, 159; Gärtner 1998, 216.

I. Formal-Strukturelle Untersuchung

15

Bei den anderen Buchübergängen fallen in Gegensatz zur Cyzicus-Episode Buchgrenze sowie Wechsel der Situation und Stimmung verbunden mit einem gewissen Handlungseinschnitt genau zusammen, was an einigen Stellen durch die sprachliche Formulierung des ersten Verses der Bücher zum Ausdruck kommt (vgl. z.B. Einleitung mit interea, 2,1; Anfang mit at, 6,1. 8,1). Das Phänomen, daß der Haupthandlungseinschnitt wie in der Cyzicus-Episode hinter den Anfang des Buchs versetzt und durch einen Musenanruf hervorgehoben ist, findet sich sonst nur mehr an einer Stelle, und zwar nicht an einem gewöhnlichen Buchübergang, sondern am Übergang von der ersten zur zweiten Werkhälfte. Denn die auf die Fahrtschilderung folgenden Ereignisse in Colchis werden erst nach ungefähr einem Drittel des fünften Buchs durch das zweite Prooemium (5,217-223) eingeleitet.'' Daß der Buchübergang innerhalb der Cyzicus-Episode parallel zum Übergang zwischen den beiden Werkhälften gebaut ist, deutet darauf hin, daß er in außergewöhnlicher Weise ausgestaltet und deshalb von besonderer Bedeutung ist. Die Cyzicus-Episode steht also offenbar in einer speziellen formalen Beziehung zum Geschehen in Colchis.^ Als weiteres Indiz auf dieser Ebene kommt hinzu, daß sie im Vergleich zu den anderen Fahrtepisoden den größten Umfang (499 Verse) aufweist und sich etwa in der Mitte der Schilderung der Fahrt nach Colchis und von deren Vorbereitungen (1,1 - 5,216) befindet. Diese Tatsachen legen die Vermutung nahe, daß die Cyzicus-Episode für die Vorgänge in Colchis auch inhalüich von Bedeutung ist, indem etwa Elemente, die für die dortigen Ereignisse wichtig sind, in besonderer Weise vorbereitet bzw. vorweggenommen werden.

7 Vgl. bes. Schetter 1959, 297-308; Adamietz 1976a, 107-113, zur Frage der Buchzahl und zur Konstruktion des ersten Drittels des fünften Buchs; vgl. auch Hershkowitz 1998, 6-13, die aus intertextuellen Gründen wieder einen Umfang von zwölf Büchern erwägt. - Nur der Musenanruf zu Beginn der zweiten Werkhälfte (5,217-223) ist dem am Anfang des dritten Buchs (3,14-18) vergleichbar (weitere Musenanrufe: 3,212-219. 6 , 3 3 ^ 1 . 5 1 5 - 5 1 6 ) . Denn lediglich diese beiden haben gliedernde Funktion, indem sie zur Einleitung eines umfassenden neuen Handlungsabschnitts dienen, der hinter eine Buchgrenze versetzt ist (vgl. nunc, 3,14. 5,217; dagegen perge, 3,212). 8 Grund für die Plazierung des Berichts über den Abschied der Argonauten an den Anfang des dritten Buchs ist deshalb wohl nicht nur die Situation in der CyzicusEpisode (vgl. Adamietz 1976a, 42), sondern auch die Absicht, auf formaler Ebene ebenfalls die besondere Beziehung zwischen den Ereignissen auf Cyzicus und denen in Colchis anzudeuten.

II. Textanalyse

Auf ihrer Fahrt nach Colchis durchfahren die Argonauten den Hellespont ( 2 , 5 8 4 - 6 2 6 ) , w o ihnen die eponyme Göttin Helle erscheint ( 2 , 5 8 7 - 6 1 2 ) und verheißt, daß sie nach vielen Mühen ( 2 , 5 9 6 - 5 9 7 a ) schließlich an das Ziel ihrer Fahrt kommen werden (2,597b). Dann gelangen sie in die Propontis ( 2 , 6 2 7 - 6 2 8 ) . Auf das Erreichen des neuen Meeres folgen unmittelbar ihre Erlebnisse auf Cyzicus (2,627 - 3,461). Der Bericht darüber beginnt mit der Beschreibung des Schauplatzes Cyzicus i aus Sicht der Argonauten ( 2 , 6 2 7 - 6 3 6 a ) und endet mit deren endgültiger Abfahrt ( 3 , 4 5 9 461). Danach veranstalten die Argonauten in ihrer Erleichterung, alles überstanden zu haben, einen Ruderwettkampf auf dem Meer ( 3 , 4 6 2 - 4 8 0 ) . Bei der Schilderung von Vorgängen auf Cyzicus hat sich Valerius Flaccus an der entsprechenden Passage in Apollonios Rhodios' nautika

Argo-

(AR 1,936-1152)^ orientiert. Dieses Werk muß Valerius Flaccus

aufgrund zahlreicher Übereinstimmungen und charakteristischer A b w e i -

1 Der Name >Cyzicus< bezieht sich bei Valerius Flaccus nur auf den König und nicht auf die Stadt oder die Halbinsel. Da andere Autoren (vgl. z.B. Ovid, trist. 1,10,29-30; Properz 3,22,1; Pomponius Mela 1,98) den Namen des Königs für die von ihm gegründete Stadt und die ganze Halbinsel benutzen (vgl. auch Apollonios Rhodios 1,1076), soll der Einfachheit halber der Name >Cyzicus< auch für den Schauplatz verwendet werden (vgl. W. Ruge, Art. >KyzikosArgonautaiüber die Maßen groß< (vgl. dazu Wagner 1805, 37 zu 1,503-527; Langen 1896/97, 88 zu 1,509 u. 199 zu 2,630; anders Smith 1987, 267 zu 2,630; Poortvliet 1991, 312 zu 2,630f.). Bis zu den Bergen auf der anderen Seite der Halbinsel steigt das Gelände allmählich an (2,633b-635a). Da das Land entsprechend in die andere Richtung kontinuierlich fällt und der Isthmos also, wie besonders die Ausdrücke fundo prolata maris (2,630) und tenuis ... confinia ponti (2,634) zeigen, schließlich überspült ist, ergibt in 2,631 nur die Lesart sub, die auch die historisch glaubwürdigere ist (vgl. Ehlers 1970, 72), einen Sinn. Denn da beide Lesarten grammatisch und metrisch möglich sind (vgl. Ehlers 1970, 72), können nur sachliche Gesichtspunkte und der Textzusammenhang die Wahl bestimmen (vgl. Smith 1987, 267 zu 2,631f.). Mit der Präposition sub wird in Entsprechung zum Umfeld ausgedrückt, daß das litus als normaler Strand beginnt und im weiteren Verlauf zum Meer hin unter den Meeresspiegel abfäUt, dort aber auf einer langen Strecke als Untergrund, der über den restlichen Meeresboden erhöht ist, sichtbar ist, d.h. den überspülten Isthmos bildet. Wenn mit litus also der Isthmos als Verlängerung des eigentlichen Strandes gemeint ist, ist es nicht verwunderlich, wie Poortvliet (1991, 313 zu 2,631 f.) meint, daß litus benutzt wird, obwohl der Isthmos teilweise unter der Wasseroberfläche liegt. Gerade wegen der Verwendung des Worts litus ist allerdings zu vermuten, daß die damit bezeichnete Strecke nicht nur eine Furt (so Ehlers 1970, 72; vgl. dazu Kleywegt 1988, 204; Poortvliet 1991, 313 zu 2,631f.), sondern ein überspülter Isthmos war (vgl. auch Langen 1896/97, 199 zu 2,631), bei dem natürlich späterer Ausbau möglich ist.

22

Ά. 1п1ефге1а11оп der Cyzicus-Episode

beschrieben (2,634-635a) und schließlich als Höhepunkt König Cyzicus genannt (2,635b-636a), dessen Name herausgehoben am Anfang eines Verses (2,636) steht. Die Schilderung verengt und steigert sich entsprechend der Perspektive der Argonauten, die sich vom Meer her nähern, nimmt allerdings von der konkreten Situation nur ihren Ausgang und umfaßt im weiteren Verlauf auch Informationen wie Namen (z.B. 2,633a. 636a), die nicht bei der ersten Annäherung gesehen werden, sondern nur auf Wissen (des Autors) beruhen können. Bei der Beschreibung der Halbinsel Cyzicus wird auf ihre besondere Lage am Übergang vom Hellespont in die Propontis hingewiesen (2,629) und ausführlich ihre spezifische Gestalt in poetischer Form dargelegt (2,630-632a). Am Schluß der Einführung heißt es, daß die Stadt an placida ... iuga (2,635) liege und Cyzicus König einer reichen Gegend sei (2,635b-636a). So entsteht unmittelbar vor der ersten Begegnung von Argonauten und Cyzicenem durch die Konnotationen dieser Ausdrücke eine ruhige und friedliche Atmosphäre. Die kurze Vorstellung der Örtlichkeit (2,629-636a) geht direkt in die Handlung, die Konfrontation der Cyzicener mit der Ankunft der Argonauten, über (2,636). Der gleitende Übergang wird dadurch besonders deutlich, daß Cyzicus, mit dessen Erwähnung die Schilderung der äußeren Gegebenheiten endet, unmittelbar zum Träger der Handlung wird (Cyzicus ... qui, 2,636).i4 Die enge Verbindung zeigt sich auch an der ungewöhnlichen Wortstellung, bei der das anschließende Relativum und die verbindende Konjunktion weit vom Anfang des Satzes entfernt sind (2,636b637a), so daß die Namen für die beiden Parteien, die einander jetzt begegnen, direkt nebeneinander am Ende bzw. Anfang eines Satzes stehen (2,636).i5 Dabei gehört der erste Name zu dem Satz, der die Beschreibung abschUeßt, und der zweite zu dem, der die Handlung einleitet. Bei den Namensformen ist auffallig, daß auf der Seite der Cyzicener nicht das ganze Volk, sondern nur der Name der einen Person Cyzicus {Cyzicus, 2,636) auftaucht, während bei den Argonauten ein Adjektiv (flaemoniae, 2,636) verwendet wird, das die Herkunft angibt, sich grammatisch auf die Argo bezieht und so die ganze Gruppe umfaßt. Dabei handelt es sich nicht nur um poetische Variation, sondern es wird schon darauf verwiesen, daß Cyzicus gegenüber dem gesamten Volk der Cyzicener

13 Vgl. Smith 1987, 268 zu 2,635; Campanini 1996, 26 zu 4,99-100, mit etwas weitgehenden Folgerangen. 14 Vgl. Ravenna 1981, 344. 15 Vgl. Smith 1987, 269 zu 2,636.

п. Textanalyse

23

deutlich im Vordergrund stehen wird. So ist er der einzige, der bei der ersten Begrüßung der Argonauten genannt wird und damit (für den Leser) zugegen zu sein scheint. Mit dem Einsatz der Handlung wechselt die Perspektive von den Argonauten zu Cyzicus. Daher wird die Ankunft der Argonauten aus dessen Sicht beschrieben. So ist es auf ungezwungene Weise möglich, das Schiff der Argonauten mit dem Epitheton nova (2,636) zu versehen und so darauf hinzuweisen, daß mit der Argofahrt zum ersten Mal Seeleute aus fernen Ländern in dieses Gebiet vordringen und der Anblick eines Hochseeschiffs für Cyzicus ungewohnt ist.i^ Nichtsdestoweniger reagiert Cyzicus gleich, nachdem er das Schiff der Argonauten gesichtet hat, und eilt zum Strand (2,636b-637). Auf diese Weise geht die Erzählung in schnellem Fortschreiten unmittelbar zum Bericht über das eigentliche Geschehen, die gegenseitige Begrüßung, über. Bei Apollonios Rhodios beginnt die Episode mit der Beschreibung der Örtlichkeit Kyzikos in einer Ekphrasis (AR 1,936-952), die von der Handlung losgelöst ist. Sie enthält genaue sachliche Angaben zur Geographie der bisel, ihren Bewohnern und der Abstammung des Königs. Entsprechend zu diesem Darstellungsstil schließt sich die Ankunft der Argo so an, daß ohne Erwähnung der Personen die Stelle, an der sie in Kyzikos ankommt, genannt, die seemännischen Details berichtet und daran ein Aition angefügt werden (AR 1,953-960). Danach heißt es unvermittelt, daß die Kyzikener die Argonauten begrüßen (AR l,961-962a). Mit einer solchen Einführung bietet Apollonios Rhodios konkretere und exaktere faktische Angaben über den Schauplatz als Valerius Flaccus, der ihn in mehr poetischer Form schildert, weder die Insel als ganze noch einzelne Teile noch das Volk der Cyzicener namentlich identifiziert und auch König Cyzicus nicht mit einer Genealogie oder anderen persönlichen Angaben vorstellt.Andererseits ist Valerius Flaccus' Charakterisierung 16 Nach Wagner (1805, 83 zu 2,628ff.) wird die Argo deshalb als >neu< bezeichnet, weil sie größer als gewöhnliche Schiffe sei. Das mag sein, geht aus dem Text aber nicht eindeutig hervor, weil das äußere Erscheinungsbild der Argo an keiner Stelle detailliert und vollständig beschrieben wird. Ein Bezug zur Gesamtkonzeption des Werks ist in jedem Fall wahrscheinlicher als ein Hinweis auf eine solche Einzelheit. S. u. Kap. В I (S. 130ff.) zur Bedeutung der Argofahrt. 17 Vgl. Venini 1971a, 584; Smith 1987, 265-268 zu 2,629-635. - Fraglich ist allerdings, ob Valerius Flaccus die Umverteilung des Gewichts zwischen sachlichen Angaben und innerem Geschehen nur wegen des Leserinteresses und des Geschmacks seiner Zeit vorgenommen hat, wie Venini (1971a, 584 u. 590) meint (vgl. auch Pederzani 1987, 101-129, allgemein zu Valerius Flaccus' Umgang mit Vorbildern im Verhältnis zu den Gegebenheiten seiner Zeit), oder daneben spezifische Darstellungsabsichten verfolgte. Ganz anders glaubt Bahrenfuß (1951, 131, 134, 2 6 0

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Α. 1п1ефге1а11оп der Cyzicus-Episode

der Halbinsel Cyzicus (2,629-636a) eine der genausten geographischen Beschreibungen im gesamten Epos, die nicht in direktem Bezug zur Handlung steht. Denn die Einzelheiten der Beschaffenheit von Cyzicus sind weder für das Verständnis der folgenden Handlung noch zur Erzeugung einer bestimmten Atmosphäre notwendig. Die Ausführlichkeit mag mit der besonderen Lage von Cyzicus am Übergang vom Hellespont in die Propontis und der ungewöhnlichen Geographie zusammenhängen. Dennoch sind die geographischen Angaben im Vergleich zu Apollonios Rhodios relativ knapp und lassen gleich wieder die Aktionen der Personen in den Vordergrund treten (2,636). Apollonios Rhodios' Schilderung ist eine von der eigentlichen Erzählung getrennte Partie, die durch Inhalt und Art der Darstellung keine thematischen Aspekte oder die Gestalten des Epos hervorhebt. Im Unterschied dazu kommt es Valerius Flaccus offenbar nicht so auf die Vermittlung genauer Fakten wie auf die Herausarbeitung inhaltlicher Gesichtspunkte und eine wirkungsvolle Darstellung an. So schließt sich bei Valerius Flaccus in gleitendem und organischem Übergang an die Ankunft der Argonauten die Begrüßung durch die Cyzicener an, die wie die gesamte erste Begegnung in außergewöhnlich freundschaftUcher Weise verläuft.^^ Das wird gleich durch Cyzicus' überschwenglichen Eifer deutlich, der als beinahe übertrieben geschildert wird (2,637b-639a): Kaum hat Cyzicus die Argonauten erbUckt (2,636b-637a), läuft er schon von selbst in eigener Person {ipse ultra, 2,637) zum Strand bis ganz an den Rand des Wassers (primas ...ad undas, 2,637), ergreift die Hände der Argonauten (2,638) und läßt sie auch während seiner Begrüßungsrede (2,639-648) nicht los (haerens, 2,638). Mit dieser Rede (2,639-648) empfängt Cyzicus die Argonauten. Dazu gibt er die Bedeutung an, die die Ankunft der Argonauten für ihn hat, und führt ihnen indirekt die Erwartungen vor Augen, die sie hinsichtlich des Zusammentreffens haben können. In der ersten Hälfte der Rede (2,639643; 5 Verse) begrüßt Cyzicus die Argonauten ehrenvoll (2,640b. 643) als eine Schar, die nun zum ersten Mal zu seinem Land gekommen sei (2,639640). Die Fahrt dieser bedeutenden Menschen (2,643) habe erwiesen, daß

U.Ö.), daß auch Valerius Flaccus und seine zeitgenössischen Leser Interesse an gelehrten Exkursen gehabt hätten. 18 Vgl. Shreeves 1978, 72f. u. 88, zu Valerius Flaccus' gewöhnlicher Methode bei der Beschreibung von Schauplätzen. 19 Vgl. Happle 1957, 87f.; Garson 1964, 268; Lüthje 1971, 87; Eigler 1988, 4 8 mit Anm. 6; Smith 1987, 269 zu 2,637; Poortvliet 1991, 315 zu 2,636f.; McGuire 1997, 108; Hershkowitz 1998, 172.

п. Textanalyse

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das Land Cyzicus doch nicht so abgelegen sei (2,641-642).20 Indem Cyzicus diese Beziehung herstellt, ergibt sich erneut ein Hinweis darauf, daß die Argonauten mit ihrer Fahrt über das offene Meer eine besondere, erstmalige Tat vollbringen und bisher verschlossene Seewege zu fernen Ländern eröffnen. In der zweiten Hälfte der Rede (2,644-648; 5 Verse) betont Cyzicus, daß die Cyzicener zwar von wilden Völkern und unbändigen Naturgewalten umgeben seien (2,644-645),21 selber aber die gleichen Sitten und zivilisierten Verhaltensweisen hätten wie die Argonauten (2,646-647a). Den Aspekt hebt Cyzicus besonders eindringlich und in einer für die gegebene Situation speziell relevanten Weise hervor, indem er sich ausdrücklich von den unmenschlichen Gepflogenheiten des Bebrycers (Amycus) absetzt, der Menschen, die zu seinem Land kommen, tötet (2,647b-648).22

20 Vgl. Adamietz 1976a, 42; Poortvliet 1991, 315-317 zu 2,641ff.; Tschiedel 1998, 298. - Mit Wagner (1805, 83 zu 2,628ff.), Smith (1987, 269f. zu 2,639-640) und Poortvliet (1991, 315 zu 2,639f.) i s t / a m a in 2,640 wohl in dem für solche Zusammenhänge üblichen Sinn als >Ruf, Gerücht, Gerede< und nicht mit Lüthje (1971, 87) als >Ruhm< zu verstehen. - Wie Poortvliets (1991, 315-317 zu 2,641ff.) Argumente zeigen, kann der überlieferte Text in 2,642 (wenn auch nicht ganz einfach) grammatisch richtig und mit einem vernünftigen Sinn konstruiert und daher beibehalten werden (so z.B. Courtney 1970, 47). Deshalb sind wohl weder Konjekturen (so z.B. Liberman 1997, 74 u. 215 zu 2,641) noch cruces (so Ehlers 1980, 53; zustimmend Smith 1987, 270f. zu 2,642) nötig. 21 Wegen des Ausdrucks saevas tellus alat hórrida gentes (2,644) könnten mit den wilden Völkern, die Cyzicus umgeben, speziell die Erdgeborenen (vgl. tellus alat) gemeint sein, die Apollonios Rhodios (AR 1,942-946) als Nachbarn der Cyzicener erwähnt (vgl. Smith 1987, 271 zu 2,644; Hershkowitz 1998, 203). 22 Indem Cyzicus die Zivilisiertheit der Cyzicener durch Abgrenzung vom wilden Verhalten des Bebrycers Amycus gegenüber Ankömmlingen definiert (2,647b-648a), ergeben sich innerhalb des Epos Beziehungen, da die Person des Amycus so in mehreren Episoden auftaucht. Im weiteren Verlauf ihrer Fahrt kommen die Argonauten nämlich zu dessen Land (4,99-343), wo sie tatsächlich ungastlich aufgenommen werden (4,199-221; vgl. 4,145b-147X und berichten während ihres Aufenthalts bei Lycus (4,733 - 5,72) über den Kampf gegen ihn (vgl. Wagner 1805, 83 zu 2,628ff.; Shelton 1971, 109; Venini 1971b, 608). - Die Beziehungen zwischen der Cyzicus- und der Amycus-Episode sind allerdings wohl nicht so weitgehend und subtil, wie Lüthje (1971, 142f. u. 151f.; ähnlich Shelton 1971, 187 u. 542; Eigler 1988, 64 mit Anm. 2; Korn 1989, 85f. zu 4,99-113; Campanini 1996, 23 zu 4,99-100) annimmt. Zwar besteht eine gewisse Parallelität bei der Beschreibung des jeweiligen Landes in der Exposition (vgl. Lüthje 1971, 142; Campanini 1996, 23 zu 4,99-100). Jedoch sollten das Verhalten des Königs in einem konkreten Fall nicht mit Angaben über die Gewohnheiten des Volks und die Darstellung des Volkscharakters in den Worten des Königs nicht mit objektiven Aussagen des Dichters über die Natur des Volks verglichen werden. Daher kann das Ergebnis einer solchen Gegenüberstellung nicht als Ausgangspunkt für eine Theorie über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Episoden dienen (Lüthje 1971, 143; ähnlich Campanini 1996, 23 zu 4,99-100). Alle Episoden, in denen die Argonauten in einem

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

Zum einen nimmt Cyzicus auf diese Weise den Argonauten etwaige Bedenken hinsichtlich ihres Schicksals im Angesicht eines unbekannten Volks und gibt seine Wünsche für die Atmosphäre des Zusammenseins zu erkennen. Zum anderen folgt daraus in größerem Rahmen für die Argofahrt, daß damit Vorstöße in fremde Welten unternommen werden, in denen sowohl wilde als auch zivilisierte Menschen leben. Die Charakterisierung der Cyzicener als wesensmäßig verwandt mit den Argonauten trägt dazu bei, den späteren ungewollten Kampf der beiden Gruppen gegeneinander um so furchtbarer wirken zu lassen. Zunächst erreicht Cyzicus durch die Beschreibung der Cyzicener in seiner Rede (2,644-648), daß die Argonauten fröhlich gestimmt sind {laetos, 2,649). Damit besteht auf beiden Seiten eine freudige Erwartung für die Begegnung, die durch den tatsächlichen Ablauf der Ereignisse bitter enttäuscht werden wird. Im Anschluß an seine Rede (2,639-648) setzt sich die Schilderung von Cyzicus' Eifer bei der Begrüßung fort (vgl. 2,637b-639a). Sofort führt er die Argonauten schnell zu einem Gastmahl (2,649-664), das er in großer Fülle ausrichten läßt (2,649-650). Der königliche Prunk wird in einer kurzen Beschreibung (2,651-654) vor Augen

Land ankommen und mit der dortigen Situation konfrontiert werden, sind auch ohne besondere Hinweise des Dichters mehr oder weniger miteinander vergleichbar und unterscheiden sich durch die Entwicklungen, die sich aus der jeweils vorgefundenen Lage ergeben. Die verschiedenen Ergebnisse der Kämpfe gegen Cyzicus und Amycus sind eine Folge der andersartigen Voraussetzungen und Umstände. Deswegen kann deren Gegenüberstellung nicht zur Basis für eine umfangreiche These über das Verhältnis dieser Episoden, die Rolle der Argonauten und den Charakter der Bücher gemacht werden (Lüthje 1971, 151f.). Gerade wenn man von einer engen formal parallelen und inhaltlich kontrastiven Beziehung zwischen den beiden Episoden ausgeht, ist die Bemerkung, daß Amycus' Bezeichnung als rex wegen der Konnotationen des Worts passend zur folgenden Episode sei (so Korn 1989, 87 zu 4,101a; Campanini 1996, 26 zu 4,101-103), ohne weitere Einschränkungen und Erklärungen verwunderlich. Denn auch der positiv charakterisierte Cyzicus wird in der Einleitung (2,635b-636a) wie im weiteren Verlauf der Episode (3,58.205.231.249.280.337. 342) mehrfach rex genannt. Wie weitere Stellen zeigen (vgl. z.B. 4,63.219.463.467. 5,471.624), ist rex bei Valerius Flaccus (zumindest auch) eine neutrale und sogar ehrerbietige Bezeichnung einer Person in Machtstellung. Im Gegenteil wird Cyzicus eben nicht wie andere Machthaber als tyrannus (vgl. z.B. 1,30. 2,577. 5,470) bezeichnet und bietet so, wie auch die Reaktion des Volks auf seinen Tod zeigt (3,280-283a), ein Beispiel eines guten Herrschers (vgl. auch Liberman 1997, XII; anders Hershkowitz 1998, 174). - Eher nachzuvollziehen sind die Parallelen, die Lüthje (1971, 180f.; ähnlich Shelton 1971, 252) zwischen der Cyzicus- und der Lycus-Episode (4,733 5,72) hinsichtlich der Schilderung von Ankunft und Empfang aufweist. Die freundliche Aufnahme bei Cyzicus und bei Lycus (4,733-762) steht natürlich besonders in Gegensatz zu der späteren unfreundlichen bei Aeetes (5,456-547; vgl. Brooks 1951, 28f.; Lüthje 1971, 230). Jedoch sind die Beziehungen im einzelnen, die Lüthje (1971, 230f.) anführt, nicht vollkommen überzeugend.

п . Textanalyse

27

geführt, die an ihrem Ende bereits wieder in Handlung übergeht. D e n n d a heißt es, daß D i e n e r g o l d e n e B e c h e r herbeibringen, die mit Bildern v o n v o r kurzem geführten Kriegen g e s c h m ü c k t sind ( 2 , 6 5 3 b - 6 5 4 ) . 2 3 A u s d e r e n Betrachtung entwickelt sich während des Gastmahls ein inhaltlich b e d e u t s a m e s Gespräch z w i s c h e n C y z i c u s und l a s o n ( 2 , 6 5 5 - 6 6 2 ) . D e n n anhand der Bilder auf d e n

Bechern, die Kämpfe g e g e n

die

Pelasger24 z e i g e n ( 2 , 6 5 3 b - 6 5 4 ) , berichtet C y z i c u s v o n seiner s t ä n d i g e n Auseinandersetzung

mit diesem Volk und

dessen

spezifischer Taktik,

nachts mit S c h i f f e n v o m M e e r her anzugreifen ( 2 , 6 5 6 - 6 5 8 ) . 2 5 D a ß der Kampf mit den Pelasgern ein Dauerzustand ist, ergibt sich daraus, daß auf

23 Vgl. Happle 1957, 90f.; Garson 1964, 270; Frank 1974, 839; Smith 1987, 275f. zu 2,655; bes. Ravenna 1981, 340-349, zur Funktion der bebilderten Becher. Ravenna (1981, 340-349) bezeichnet die Beschreibung der Verzierungen auf den Bechern, die in die Erzählung integriert ist, als eine Form von >Ekphrasis< und zeigt deren Bedeutung für den Fortgang der Erzählung. Selbstverständlich sind die Becher in Valerius Flaccus' Darstellung von großer Bedeutung. Es führt aber vielleicht etwas zu weit, wenn Ravenna für diese Erkenntnis eine besondere Form von >Ekphrasis< konstruiert, alle mit >Sehen< zusammenhängenden Ausdrücke, die in dem Abschnitt der Episode auftauchen, als Beweise für diese Theorie 1п1ефге11ег1 und an dem Beispiel grundsätzlich die Wichtigkeit des Darstellungsmittels >Ekphrasis< nachweisen will. Der Bezug zu den zukünftigen Ereignissen besteht wohl eher in der tragischen Ironie für den Leser und nicht darin, daß sie an dieser Stelle bereits ausgedrückt oder sichtbar gemacht würden. Für einen Vergleich (Ravenna 1981, 345f. u. 348) mit der Beschreibung der Bilder an Didos Tempel im ersten Buch von Vergils Aeneis (Aen. 1,453-493) und der auf Aeneas' Schild im achten Buch (Aen. 8,626-728) sind die jeweilige Art der Darstellung und die Funktion der Beschreibung zu verschieden. Vgl. Smith 1987, 275f. zu 2,655, zur Art der Bildbeschreibung und zur möglichen Anordnung der Bilder in der Realität. 24 Valerius Flaccus bezeichnet Cyzicus' Feinde als >Pelasger< (2,657.659). Damit übernimmt er den Namen >pelasgische MakrieerPelasger< bezeichnet (vgl. z.B. 5,116. 474.682; vgl. dazu Wijsman 1996, 74 zu 5,116), erhöht die Verwendung dieses Namens für die Feinde der Cyzicener die tragische Ironie der Äußerungen im Gespräch zwischen Cyzicus und lason (vgl. Shelton 1971, 110; Smith 1987, 276 zu 2,656; Poortvliet 1991, 322 zu 2,659ff): Deren auf die >Pelasger< bezüglichen Aussagen werden sich tatsächlich unter Beteiligung von Pelasgern verwirklichen; jedoch werden es andere Pelasger sein als erwartet. Dieses Verhältnis von Aussage und tatsächlicher Situation entsteht durch die Art von Valerius Flaccus' Darstellung. Man kann daher wohl nicht wie McGuire (1997, 108f.) sagen, daß lason es unterlasse, gegenüber Cyzicus ein wichtiges Faktum über sich und sein Volk zu erwähnen. Cyzicus' Feinde sind Pelasger (2,657.659) und nicht Bebrycer (so Ferenczi 1995, 155). Zwar wird ein Bebrycer kurz vorher (2,647b-Î48a) erwähnt, jedoch nicht als Feind, sondern als Gegenbild zu Cyzicus' Charakter und Verhaltensweise. 25 S. u. Kap. В I (S. 134f.) zu den Schiffen der Pelasger und deren Verhältnis zur Argo.

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Α. ΙηΐβφΓβίαΙίοη der Cyzicus-Episode

den Bechern, wie aus der Art von Cyzicus' Erzählung hervorgeht (2,656658),26 das Verhalten der Pelasger aus mehreren Kriegen der jüngsten Vergangenheit (2,654) in typischer Form zusammengefaßt ist und daß lason in seiner Antwort (2,659-662) den Gedanken aufnimmt und das Vorgehen der Pelasger als gewohnheitsmäßig bezeichnet {solitis, 2,660). lason zeigt seine Anteilnahme an Cyzicus' Sorgen, indem er hofft, daß einer der vielen Angriffe der Pelasger gerade jetzt stattfinde, damit sie mit seiner Hilfe endgültig besiegt werden könnten (2,659-662).27 Daß überhaupt nur ein Gespräch zwischen Cyzicus und lason geschildert wird, macht die Konzentration der Erzählung auf die Führer offensichtlich, das Thema lenkt den Blick besonders auf Cyzicus. Es geht nämlich ausschUeßlich um Cyzicus' Situation, und lason reagiert auf dessen Erzählung von seiner bedrückenden Situation mit einem Freundschaftsbeweis. Die dadurch entstandene Vertrautheit und die Formulierungen des Gesprächs weisen in tragischer Ironie auf die folgenden Ereignisse voraus. Die ständige potentielle Möglichkeit eines Angriffs der Pelasger und dessen typische Form bilden die Voraussetzung dafür, daß die Argonauten mit den Pelasgem verwechselt werden. Was Cyzicus und Jason hier theoretisch hinsichtlich der wirklich feindlichen Pelasger erwähnen, wird im weiteren Verlauf der Episode tatsächlich stattfinden, aber in bezug auf die Argonauten und die Cyzicener: Es wird einen nächtlichen Kampf der Cyzicener mit vom Meer her ankommenden Gegnern geben (2,656b-657a), jedoch wird das kein Verteidigungskampf gegen Feinde, sondern ein unseliger Kampf gegen nicht erkannte Freunde sein. Ebenso werden sich lasons Wunsch, daß die Pelasger jetzt angriffen (2,659b-661a), sowie seine Ankündigung, daß Cyzicus dann in einem nächtlichen Kampf die Waffen des Gastfreundes sehen (2,661b-662a) und der Kampf sein letzter sein werde (2,662b), in tragischer Weise verwirklichen.28 Weitere Einzelheiten des Gastmahls, die für Fortsetzung und Thematik der Erzählung inhaltlich nicht relevant wären, sondern nur der Ausschmückung dienen könnten, werden nicht berichtet. Vielmehr wird die 26 Vgl. Smith 1987, 276 zu 2,656. 27 Allerdings kann man nicht wie Otte (1992, 10, 75f., 93) davon sprechen, daß zwischen Cyzicus und lason ein regelrechtes Bündnis geschlossen werde, da es darauf im Text keine Hinweise gibt. 28 Vgl. Brooks 1951, 99; Happle 1957, 91; Garson 1964, 269; Hurst 1964, 235; Shey 1968, 83; Burck 1970, 541; Shelton 1971, 109f.; Adamietz 1976a, 45; Cecchin 1984, 292; Smith 1987, 273f. zu 2,649, 276 zu 2,655, 277 zu 2,659-662; Eigler 1988, 49 mit Anm. 12; Poortvliet 1991, 322 zu 2,661f.; Fucecchi 1996, 120; Gärtner 1998, 209.

п . Textanalyse

29

Szene nach dem Ende des Gesprächs (2,663a) schnell mit der zusammenfassenden Bemerkung, daß der größte Teil der Nacht und der nächste Tag in ähnlicher Weise mit Unterhaltungen verbracht wurden (2,663b-664), zu Ende geführt. Damit ist gleichzeitig das zweite Buch als ganzes abgeschlossen. Dieser Teil der Begegnung zwischen Argonauten und Kyzikenem läuft bei Apollemos Rhodios (AR 1,961-984) in gleicher Weise ab, wird aber völlig anders dargestellt. Er beginnt unvermittelt damit, daß die Kyzikener und Kyzikos die Argonauten begrüßen (AR l,961-962a). Daran zeigt sich schon ein Merkmal der gesamten Episode bei Apollonios Rhodios, nämlich daß König Kyzikos als einer unter anderen Kyzikenem dargestellt wird. Dagegen findet bei Valerius Flaccus eine Konzentration auf die Führer statt, die sogar so weit gehen kann, daß deren Verhalten und Gefühle anstelle derer der Gesamtheit geschildert werden.29 Dadurch wirkt die Handlung individueller und anschaulicher und erregt mehr das Mitgefühl des Lesers. Apollonios Rhodios' Darstellungsstil entsprechend gibt es in seiner Version keine Begrüßungsrede von Kyzikos, durch die dieser charakterisiert, die Diskrepanz zu den folgenden Ereignissen verdeutlicht, Themen des Gesamtwerks angesprochen oder Bezüge zu anderen Episoden hergestellt würden. Da Kyzikos außerdem die Argonauten nicht aus eigenem Antrieb freundlich empfängt, sondern aufgrund der Anweisungen eines Orakels (AR l,969b-971), erscheint Kyzikos' Verhalten eher als Pflichterfüllung als durch echte Zuwendung zu den Gästen ausgelöst. Begrüßung (AR 1,961-963) und Gastmahl (AR 1,979-984) werden relativ kurz und sachlich geschildert sowie das Motiv der Gastfreundlichkeit nur beiläufig erwähnt (AR 1,961.963; vgl. AR 1,1018).зо In der in indirekter Rede

29 Vgl. Cyzicus' Rolle bei Begrüßung und Gastmahl (2,636-664), beim Abschied (3,8-13), beim Weg in den Kampf (3,58-73), bei Kampf und Tod ( 3 , 2 2 0 242), bei der Trauer (3,280-331) und bei der Bestattung (3,337b-346); lasons Rolle beim Gastmahl (2,655-662), im Kampf (3,80b-86a. 150-160), bei der Erkenntnis der wahren Umstände während des Kampfs (3,269b-272), bei der Trauer (3,286-313), bei der Bestattung (3,338b-343a) und beim Auslösen der Entsühnungszeremonie (3,372-376). Vgl. dazu Brooks 1951, 45; Happle 1957, 88, 92, 99, 104, I I I , 119; Garson 1964, 269; Shey 1968, 86; Burck 1981, 458; Eigler 1988, 48 mit Anm. 7 u. 8; Taliercio 1992, 16; Stadler 1993, 6. 30 Überhaupt werden bei Apollonios Rhodios Aspekte, die über eine faktische Schilderung hinausgehen, wie inhaltlich wichtige Motive oder Gefühle des Dichters, nur angedeutet, zum Beispiel durch den Zusatz von Epitheta (vgl. AR 1,1018; vgl. Happle 1957, 93; Fränkel 1968, 128 zu AR 1,1018; vgl. Mehmel 1934, 18f. mit Anm. 1 u. 2, 20; Koch 1955, 130; Burck 1970, 538-540 u. 555; Burck 1979, 214, allgemein zu diesem Gesichtspunkt von Apollonios Rhodios' Erzählweise).

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Α. 1п1ефге1а110п der Cyzicus-Episode

wiedergegebenen Unterhaltung von Kyzikos und lason beim Gastmahl werden allgemeine, bei einer ersten Begegnung übliche Fragen nach den jeweiligen Lebensumständen behandelt (AR 1,980-984) und nicht wie bei Valerius Raccus Probleme, die für den Gehalt der Episode grundlegend sind.3i In die Vorbereitungen zum Gastmahl fügt Apollonios Rhodios sachliche Informationen über die Ehe von Kyzikos und Юeite (AR 1,973-977) ein. Im Anschluß an das Gastmahl berichtet er von der Besteigung des Dindymon zur Erkundung der Umgebung (AR l,985-986a) und dem Kampf gegen die Erdgeborenen (AR 1,989-1011). Ferner verbindet Apollonios Rhodios mit den Bewegungen der Menschen auf Kyzikos Wechsel der Ankerplätze der Argo, wobei er diese jeweils beschreibt und daran oft ein Aiüon anschließt (AR l,954b-960.964-967.986b-988; vgl. auch AR l,1018b-1020.1109-1110a). Auf diese Weise kann er in einer für die hellenistische Dichtung charakteristischen Weise sachliche und gelehrte Informationen, besonders lokale und topographische Einzelheiten, vermitteln.32 Alle diese (in der Cyzicus-Episode sehr zahlreichen) Partien, die faktische Angaben enthalten und nicht zum Thema der Episode beitragen.

31 Fragen nach der Herkunft sind bei Valerius Flaccus nicht nur weggelassen, weil das Orakel durch den Ruf der Argonauten ersetzt ist (so Ravenna 1981, 344), aufgrund dessen Cyzicus sie sofort erkennt (vgl. Happle 1957, 87; anders Langen 1896/97, 200 zu 2,638), sondern auch, weil die Episode einen anderen Sinn hat und nach anderen Darstellungsprinzipien geschildert wird. - Ein Beispiel für eine mehr konventionelle Thematik einer Unterhaltung bei der ersten Begegnung innerhalb von Valerius Flaccus' Epos sind Hypsipyles Erkundigungen über lasons Herkunft und Schicksal (2,351-353a) nach der Ankunft der Argonauten in Lemnos. Daß derartige Fragen im allgemeinen als der übliche Beginn eines Gesprächs beim ersten Treffen angesehen werden, ergibt sich daraus, daß bei Amycus' sofortiger Herausforderung der Argonauten ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß er sie vorher nicht gestellt hat (4,204-205). 32 Vgl. z.B. Stoessl 1941, 15f., 19, 24f.; Happle 1957, 80 u. 91; Burck 1979, 214; vgl. auch Bahrenfuß 1951, 15, 34f., 67. - Die Konsequenzen der Einfügung solcher faktischer Angaben für Apollonios Rhodios' Erzählstil und die Wirkung seiner Darstellung werden unterschiedlich beurteilt. Meist (vgl. z.B. Stoessl 1941, 10-25, bes. 18; Fränkel 1943, 470; Händel 1954, 50) werden sie so gesehen, daß auf diese Weise eine künstlerische und emotional bewegende Gestaltung der Handlung mit inhaltlichem und psychologischem Tiefgang verhindert werde. Dagegen meint Lawall (1966, 151f.; speziell gegen Fränkel: 151 Anm. 3; ähnlich Clauss 1993, 148 u. 174), daß dahinter ein sorgfältig konstruiertes Handlungsgerüst stehe. Die Einschätzung ist nur zutreffend, wenn man darunter den sachlich-logischen Ablauf der Ereignisse versteht und nicht, was Lawall zu tun scheint, innere Zusammenhänge, die zu einer thematisch bedeutsamen Aussage führen (s. u. S. 92f. Anm. 176 u. S. 127 Anm. 234). Daß Apollonios Rhodios die Aitia zum großen Teil funktional einsetze, wie Happle (1957, 94) meint, scheint in Hinblick auf seine Erzählweise im allgemeinen und im Vergleich mit Valerius Flaccus' Darstellung zweifelhaft.

II. Textanalyse

31

läßt Valerius Flaccus weg.33 Beim Kampf gegen die Erdgeborenen kommt hinzu, daß es sich dabei um eine gewöhnliche Schlacht gegen wilde Ungeheuer handelt (vgl. AR 1,942-946), die sich nicht leicht so umformen läßt, daß sie zur Verdeutlichung der Aussage der Episode beiträgt. Durch den Verzicht darauf verhindert Valerius Raccus, daß sich zwei Schlachtschilderungen in unmittelbarer Nähe befinden, wodurch die Wirkung des inhaltlich bedeutenden und detailliert ausgeführten Kampfs verringert würde.34 33 Vgl. Wagner 1939, 32f.; Stoessl 1941, 23; Garson 1964, 268; Shey 1968, 86; Burck 1970, 540f.; Lüthje 1971, 112; Venini 1971a, 583; Adamietz 1976a, 42; Burck 1979, 248; Smith 1987, 271 zu 2,644; Poortvliet 1991, 310 zu 2,627-64; Taliercio 1992, 16; Hershkowitz 1998, 212f.; allgemeiner Shreeves 1978, 13. - Gerade die Cyzicus-Episode zeichnet sich bei Apollonios Rhodios durch eine besonders hohe Anzahl an Aitia (vgl. AR l,958b-960.988.1019b-1020.1047b-1048. 1 0 6 1 b - 1 0 6 2 . 1 0 6 7 - 1 0 6 9 . 1 0 7 5 - 1 0 7 7 . 1 1 3 8 b - l 139.1146b-l 149) und sachlichen Informationen, vor allem topographischer Art (vgl. AR 1 , 9 3 6 - 9 5 2 . 9 7 2 - 9 7 7 . 1 1 1 2 1116.1129b-1131), aus (vgl. Mehmel 1934, 18 mit Anm. 1; Herter 1944/55, 350; Happle 1957, 30 u. 94). Das liegt vermutlich daran, daß Apollonios Rhodios bei der Gestaltung der Episode eine große Menge von Traditionen und kyzikenischen Lokalquellen verarbeitet hat und dabei gemäß seinem Stil und seiner Darstellungsabsicht alle wichtigen Fakten innerhalb des Handlungsablaufs unterbringen wollte (vgl. z.B. Pitch 1912, 43-56; Stoessl 1941, 10-25 [mit älterer Literatur]; Herter 1944/55, 349-352 [mit weiterer Literatur]; Händel 1954, 55f.; Smith 1987, 266 zu 2,629; Clauss 1993, 148-150; Green 1997, 223 zu AR l,961ff., zu Quellen für die CyzicusGeschichte und deren Verwendung durch Apollonios Rhodios). 34 Vgl. Mehmel 1934, 32; Stoessl 1941, 23; Garson 1964, 268; Burck 1970, 540f.; Adamietz 1976a, 42; Smith 1987, 271 zu 2,644. - Zwar unterscheiden sich die beiden Kämpfe bei Apollonios Rhodios durch die beteiligten Personen, die Art ihres Ablaufs und vor allem durch das Ergebnis, das sich für die Menschen ergibt (vgl. Lawall 1966, 152; Burck 1970, 540). Trotzdem ist es eine Doppelung, wenn zwei Schlachtschilderungen in so kurzem Abstand aufeinanderfolgen und bei keinem der beiden Kämpfe ein thematischer Aspekt hervorgehoben wird. Hershkowitz (1998, 202f.) erklärt das Fehlen des Kampfs gegen die Erdgeborenen damit, daß außer Hercules und lason in Colchis Valerius Flaccus' Argonauten nicht gegen Monster, sondern gegen Menschen, die sich wie Monster verhielten, kämpften. Ersteres mag als weiterer Grund hinzukommen. Letzteres ist nicht zutreffend, da sich nicht alle Gegner der Argonauten und besonders Cyzicus nicht wie Monster verhalten, wovon Hershkowitz aber aufgrund ihrer Auffassung von Cyzicus' Charakter (s. o. S. 26 Anm. 22; s. u. S. 40 Anm. 55) ausgeht. - Eine ähnliche Bearbeitung von Apollonios Rhodios' Kampfschilderungen nimmt Valerius Flaccus in der Amycus-Episode (AR 2,1-163; VF 4,99-343) und bei lasons Kampf gegen Aeetes' Stiere und die Erdgeborenen (AR 3,1246-1407; VF 7,539-653) vor. Auch in der Amycus-Episode gestaltet er von den zwei bei Apollonios Rhodios beschriebenen Kämpfen (AR 2,18-97. 98-136) den einen, den Faustkampf zwischen Pollux und Amycus (AR 2,18-97; VF 4,252- 314), aus und verleiht ihm eine Funktion für die Aussage des Gesamtwerks (s. u. S. 174) und läßt gleichzeitig den zweiten, den Kampf der Argonauten gegen die Bebrycer (AR 2,98-136), weg, da er bei Apollonios Rhodios nur aus einem schlichten Bericht über das gegenseitige Abschlachten besteht und nicht leicht durch Veränderungen mit einer inhaltlich wichtigen Aussage versehen werden kann (vgl. Adamietz 1976a,

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

Durch Elimierang derartiger Elemente sowie Ausgestaltung der übernommenen kann Valerius Flaccus die Darstellung mehr auf das Geschehen selbst konzentrieren und thematisch wichtige Aspekte deutlich hervorheben. So betont er die Harmonie der Begegnung stärker und erhöht damit den Gegensatz zu den folgenden Ereignissen, auf die in tragischer Ironie bereits hingewiesen wird. Indem Valerius Flaccus mit Hilfe des kompositionstechnischen Mittels der bebilderten Becher und des daraus entwickelten Gesprächs an dieser Stelle schon die Voraussetzungen für die spätere Verwechslung einführt, schafft er eine zusammenhängende ErzähOlung, in der die einzelnen Teile inhaltlich auseinander hervorgehen. Bei der Ausgestaltung des Gastmahls über Apollonios Rhodios hinaus könnte Valerius Flaccus durch sein anderes wichtiges Vorbild, Vergils Aeneis, angeregt gewesen sein. Denn neben Apollonios Rhodios' Argonautika hat Vergils Aeneis als kanonisches römisches Epos besonderen Einfluß auf Valerius Flaccus' Werk ausgeübt, allerdings (bedingt durch Stoff und Sprache) in anderer W e i s e . 3 5 In einem solchen Fall, in dem es um die Ähnlichkeit großräumiger Strukturen und Motive geht, die in dieser Form bei Apollonios Rhodios nicht vorhanden sind, ist anders als bei vereinzelten vergleichbaren Formulierungen ohne größeren Zusammen-

55; vgl. Hershkowitz 1998, 203f., mit anderer Begründung). Die Schilderung von lasons Kampf gegen die Stiere und die Erdgeborenen ist bei Valerius Flaccus (7,539-653) wesentlich kürzer und weniger bedeutend als bei Apollonios Rhodios (AR 3,1246-1407), andererseits führt Valerius Flaccus die davor stattfindende Schlacht der Argonauten und Colcher gegen Perses (6,1-760) neu ein (vgl. Adamietz 1976a, 100). Denn inhaltlich entscheidender als die genauen Einzelheiten des in der Tradition vorgegebenen Kampfs gegen die Stiere und die Erdgeborenen ist die Beschreibung der vorausgehenden Entwicklung, die aus dem Zusammenspiel von lasons Leistungen im Kampf, Aeetes' Verhalten sowie Medeas innerer Entwicklung und Unterstützung lasons besteht. 35 Apollonios Rhodios' Argonautika und Vergils Aeneis haben Valerius Flaccus' Argonautica wohl am stärksten beeinflußt (vgl. z.B. Wagner 1939, 14 u. 98; Bahrenfuß 1951, 68; Burck 1979, 213; Eigler 1988, 2; Liberman 1997, XXXIIf.; Perutelli 1997, 30f. u. 42). Jedoch waren in geringerem Umfang auch die Werke anderer Schriftsteller wichtig (vgl. z.B. Adamietz 1976a, 1; Barich 1982, I I I ; Taliercio 1992, 17-21; Perutelli 3 4 ^ 9 ) . Neben Werken, die das gleiche Thema behandeln (s. o. S. 17 Anm. 3) und deshalb als Quellen benutzt werden konnten, waren von Bedeutung vor allem die Epen Homers als gattungstypische Werke, Ovids Metamorphosen, da sie im darstellungstechnischen Bereich neue und charakteristische Formen aufweisen, und Lukans Bellum civile, da dieses Epos auf inhaltlicher und atmosphärischer Ebene radikal von der Tradition abweicht und dadurch Möglichkeiten f ü r neuartige Aussagen aufzeigt. In der Cyzicus-Episode lassen sich außer der Einwirkung von Homers ¡lias auf Nestors Ausruf (3,143-145a; s. u. S. 66 Anm. 105) und elites Klagerede (3,316-329; s. u. S. 94 Anm. 179) zu den genannten Werken keine deutlich erkennbaren Beziehungen im einzelnen nachweisen.

п . Textanalyse

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hang eine bewußte Übernahme von Elementen aus der Aeneis durch Valerius Flaccus zu vermuten.36 Hier läßt sich eine Beziehung zu einem Ereignisablauf mit parallelem Aufbau feststellen, der Ankunft der Aeneaden in Karthago von der Begegnung mit Dido an mit der freundlichen Aufnahme und dem von Dido ausgerichteten Gastmahl (Aen. l,494-756).37 Ein entscheidender Unterschied besteht darin, daß Valerius Flaccus die Darstellung intensiviert sowie die überschwengliche Freundlichkeit und Innigkeit des Empfangs, den Cyzicus den Argonauten nicht durch den Einfluß der Götter (vgl. Aen. 1,297-304), sondern aus eigenem Antrieb bereitet, durch verschiedene Darstellungsmittel stärker betont. Die Steigerung zeigt sich schon auf der Ebene der Wortwahl zum Beispiel daran, daß Valerius Flaccus als Verb, das das Geleiten der Gäste ins Haus ausdrücken soll, nicht wie Vergil ducit {Aen. 1,631), sondern das stärkere rapit (2,649) verwendet.38 Da Valerius Flaccus gleichzeitig deutlich auf die folgenden Ereignisse von besonderer Tragik vorausweist, bekommt das so harrmonische Gastmahl der Freunde eine andere Bedeutung und Atmosphäre als bei Vergil. Eine Gegenüberstellung der beiden Szenen Hegt außerdem wegen weitergehender Beziehungen nahe. Zum einen ist das Gastmahl nicht die einzige in diesem Zusammenhang vergleichbare Passage, sondern Teil eines (in starker Vergröberung) parallelen Handlungsschemas in der Dido-Geschichte und im ersten Teil der Cyzicus-Episode:3^ Am Ende eines Buchs

36 Vgl. Langen 1896/97, z.St.; Smith 1987, z.St.; Poortvliet 1991, z.St., zum Nachweis der Vergil-Stellen, die jeweils mit einzelnen Formulierungen in der CyzicusEpisode vergleichbar sind, meist ohne inhaltliche Auswertung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede; vgl. Garson 1964, 270f., für Beispiele von Beziehungen in der Cyzicus-Episode sowie eine Warnung vor Überbewertung übereinstimmender oder ähnlicher Formulierungen, die nicht in einem größeren vergleichbaren Zusammenhang stehen. - Vgl. allgemein Stroh 1905, passim, für eine relativ ausführliche Zusammenstellung der Passagen aus Vergil, die Formulierungen in Valerius Flaccus' Epos zugrunde liegen, sowie eine Klassifizierung nach Art der Beziehung; Korn 1991, 45-55, für eine Analyse der verschiedenen Formen des Verhältnisses zwischen Valerius Flaccus und Vergil im Bereich von einzelnen Ausdrücken und Formulierungen sowie Feststellung der methodischen Schwierigkeiten; Liberman 1997, XXXII-XLVI, für einen Überblick über Verbindungen auf unterschiedlichen Ebenen. 37 Aus der umfangreichen Literatur zu Vergil vgl. bereits Heinze 1915, 1 1 5 144, zur Dido-Geschichte. 38 Vgl. Happle 1957, 89 mit Anm. 1 u. 90; Poortvliet 1991, 319 zu 2,649f., zum Nachweis der Stelle. 39 Vgl. Mehmel 1934, 68-70; Happle 1957, 89f.; Garson 1964, 271; Burck 1970, 541; Barich 1982, 138; Poortvliet 1991, 310 zu 2,627-64. Die Untersuchungen erwähnen zum Teil beiläufig weitere Vergleichspunkte der beiden Geschichten, konzentrieren sich aber auf die Gegenüberstellung der Gastmähler. - Interessant sind

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Α. ΙηΐεφΓβΐ3ΐίοη der Cyzicus-Episode

kommt jeweils die Gruppe der Protagonisten auf einer im Grunde von den Göttern verursachten Seefahrt zu einem fremden Land und wird vom dortigen König freundlich empfangen (Aen. 1,494-756; VF 2,636-664). bn nächsten Buch wird ein nächtlicher Kampf mit Beteiligung der Gäste geschildert (Aen. 2,250-804; VF 3,95-248). bn weiteren Verlauf der Handlung wird der Protagonist in seiner Fahrt aufgehalten (Aen. 4,260267; VF 3,362-371) und stirbt der Gastgeber (Aen. 4,450-705; VF 3,220242). Zum anderen gibt es Gemeinsamkeiten in größerem Rahmen in Hinblick auf Stellung und Funktion der Episoden im Gesamtwerk.'^o Auf der Grundlage der formalen Übereinstimmungen werden sich eine spezifische und von Vergü abweichende inhaltliche Ausfüllung der Handlungsstrukturen bei Valerius Flaccus und damit die von ihm beabsichtigte Aussage zeigen. Die Beschreibung der harmonischen Begegnung zwischen den Gastfreunden setzt sich bei Valerius Flaccus bis in das dritte Buch hinein fort (3,1-13), das mit einer poetischen Schilderung des Tagesanbruchs eingeleitet wird (3,l-2a). Gleichzeitig fängt mit dem Beginn des dritten Buchs und des dritten Tags (3,1) in einem gewissen Neueinsatz ein weiterer Abschnitt der Handlung an, da jetzt der Abschied der Argonauten geschildert wird. Eine solche Szene ist in Apollonios Rhodios' Darstellung nicht enthalten, sondern es wird nur knapp angegeben, daß die Argonauten

Mehmels Beobachtungen zum unterschiedlichen Stil der Erzählung in den beiden Epen, Auswertung und Beurteilung sind allerdings voreingenommen und unbegründet. 40 S. u. Kap. A II. passim, bes. S. 128, für Details. - Bei dem Vergleich geht es lediglich um die Ähnlichkeit der Handlungsstrukturen sowie deren jeweilige inhaltliche und thematische Verwendung, nicht um den grundsätzlichen konzeptionellen Gegensatz, daß es sich in der Cyzicus-Episode um eine gastfreundliche Begegnung zwischen zwei Männern handelt, während in der Dido-Geschichte Aeneas und Dido als Mann und Frau eine Liebesbeziehung eingehen. Vergleichbar mit diesem Aspekt der Dido-Geschichte ist bei Valerius Flaccus der Aufenthalt der Argonauten auf Lemnos (2,311-427) und die dabei entstehende Beziehung zwischen lason und Hypsipyle (vgl. z.B. Bahrenfuß 1951, 134-137; Happle 1957, 54f. u. 70f.; Garson 1964, 273 u. 275f.; Shey 1968, 65; Shelton 1971, 82 u. 90; La Penna 1981, 248; Poortvliet 1991, 193f. zu 2,340f.; Taliercio 1992, 12; Ferenczi 1995, 148; Liberman 1997, XXXVIIf. u. 45f.; Hershkowitz 1998, 138-146). Außer der Übereinstimmung in der grundsätzlichen Situation weisen darauf speziell Ähnlichkeiten von Motiven in Reden von Dido und Hypsipyle hin (vgl. Aen. 4,309-313 - VF 2,403-408a; Aen. 4,327-330 - VF 2,424; s. u. S. 93f. zu Parallelen zwischen Didos Rede [Aen. 4,305-330] und Clites Klagerede [VF 3,316-329]).

п . Textanalyse

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Kyzikos verlassen (AR 1,1012-1014)41 Durch Einführung des Abschieds macht Valerius Flaccus deutlich, daß das freundschaftliche Verhältnis bis zum Schluß der ersten Begegnung bestehen bleibt und sich die beiden Gruppen nicht etwa aufgrund einer Verstimmung trennen. Damit schafft er ein weiteres Element, das den Gegensatz zum zweiten Zusammentreffen herausstellt. Günstige Witterung (3,2b) veranlaßt die Argonauten bei Valerius Flaccus dazu, den angenehmen und friedlichen Aufenthalt auf Cyzicus zu beenden. Daß weiterhin große Innigkeit zwischen den Gastfreunden herrscht, die sich nur schwer voneinander trennen können (vgl. lacrimans, 3,9), ergibt sich daraus, daß im Bericht über den Abschied (3,3-13) nur das Bestreben nach engem Kontakt zueinander (3,4.8.13) und der Austausch zahlreicher, besonders erlesener Gastgeschenke (3,5-13) erwähnt werden. Die Cyzicener begleiten die Argonauten in enger Verbundenheit zum Strand (3,3-4) und versorgen sie mit Proviant von besonderer Qualität (3,5-7). Cyzicus ist wieder von den anderen abgesetzt. Er gibt den Argonauten nicht Gegenstände für den täglichen Bedarf, viehnehr schenkt er als Ausdruck seiner engen Beziehung zu lason diesem Dinge, die nicht nur materiell, sondern auch ideell wertvoll sind, da sie ihm persönlich viel bedeuten (3,9-12a): Gewänder, die seine Frau gearbeitet hat ( 3 , 2 5 - 1 0 4 2 ) , sowie einen Helm und eine Lanze, die seinem Vater gehört haben (3,1112a). An dieser Stelle nennt Valerius Flaccus Cyzicus' Frau zum ersten Mal, was Apollonios Rhodios bereits in einem objektiven Referat bei der Vorbereitung des Gastmahls tut (AR 1,973-977), und fügt dabei die Informationen ein, daß sie Clite heißt und aus Percote stammt (3,25-10). In Zusammenhang mit dem Austausch der Gastgeschenke ist Clites Erwähnung eng mit der Haupthandlung verbunden und läßt auch sie in begrenztem Umfang aktiv an den Ereignissen teilhaben, so daß ihr späteres Auftauchen (VF 3,314-331; AR 1,1063-1069) nicht unmotiviert wirkt. Beim Austausch der Geschenke erscheint Cyzicus ebenfalls als der aktive Partner in der Beziehung der beiden Gastfreunde.43 Denn nicht nur beim Beschenken (3,9-12a), sondern auch beim Empfangen (3,12b-13a)

41 Vgl. Stoessl 1941, 15f. u. 24; Brooks 1951, 99 mit Anm. 103; Happle 1957, 91f.; Burck 1970, 538 u. 541f. mit Anm. 11; Adamietz 1976a, 45; Hershkowitz 1998, 172. 4 2 Der als 3,25 überlieferte Vers muß an die Stelle zwischen 3,9 und 3,10 versetzt werden (vgl. z.B. Courtney 1970, 49; Ehlers 1980, 55; Liberman 1997, 81; vgl. auch XCIVf.). 43 Vgl. Cecchin 1984, 291.

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Α. ΙηΐβφΓβΙαΙϊοη der Cyzicus-Episode

ist er der Handelnde. Auf sprachlicher Ebene wird dieser Eindruck dadurch verstärkt, daß nur Cyzicus mit Namen (und zwar am Versanfang) genannt (3,9) und mit ipse zweimal (3,8.12) hervorgehoben wird, wobei diese Wörter jeweils die Subjektposition füllen. Die Schilderung des Abschieds gipfelt schließlich in der Formulierung manibus ... datis iunxere penates (3,13), die eine vollkonunene Vereinigung der beiden Gruppen zum Ausdruck bringt. Die eigentliche Abfahrt wird nicht beschrieben, weil der Vorgang im Bericht über den Abschied bereits impliziert ist und dessen Erwähnung nichts zur Ausgestaltung des Themas beitrüge.44 So endet der erste Aufenthalt der Argonauten auf Cyzicus mit dem Bild inniger Freundschaft zwischen den beiden Gruppen, das in krassem Gegensatz zu dem darauf folgenden Kampf steht.'^s

2. Nächüicher Kampf (3,14-272) An die Beschreibung des freundschaftlichen Abschieds (3,1-13) schließt sich die Schilderung des Kampfs zwischen ebendiesen Gastfreunden und von dessen Vorgeschichte (3,14-272) an. Als Absetzung vom Vorhergehenden und zur Einleitung des Neuen fügt Valerius Flaccus vor der eigentlichen Darstellung einen Musenanruf (3,14-18) ein, wie er auch sonst vor besonders schlimmen, vor allem kriegerischen Ereignissen Musenanrufe (vgl. 3,212-219. 5,217-223. 6,515-516) oder andere persönliche Äußerungen (vgl. 2,216-219. 8,259-260) piaziert. In dem Musenanruf faßt er Thema, Stimmung und die wichtigsten Charakteristika des folgenden Abschnitts zusammen und bringt sein Grauen und Unverständnis angesichts der Vorgänge zum Ausdruck.'^^ Damit schafft er nicht nur formal eine Einleitung für die nachfolgende Erzählung, sondern macht auch auf inhaUlicher Ebene seine Auffassung von Kämpfen und der daraus für die Menschen resultierenden Situation deutlich. Valerius Flaccus' Haltung zeigt sich außerdem an wertenden Epitheta, mit denen er hier (vgl. infonda, 3,14) und an anderen Stellen

44 Vgl. Happle 1957, 93. 45 Vgl. Brooks 1951, 46. 46 Vgl. Happle 1957, 95; Shelton 1971, U l f . ; Schenk 1991, 139. - Da der Musenanruf und andere Stellen mit Überlegungen, die außerhalb der schlichten Schilderung des reinen Handlungsablaufs stehen, zentral für die Vermittlung von Valerius Flaccus' Aussage sind, wird man ihrer Bedeutung mit dem Vergleich mit Chorliedem in der Funktion von >choric interludes< (so Garson 1964, 269f.) vielleicht nicht ganz gerecht.

п . Textanalyse

37

Krieg und dessen Ursachen als furchtbar sowie die Lage der Menschen im Kampf als traurig charakterisiert Gerade bei einer solchen Einstellung kann Valerius Flaccus, wie die drängenden Fragen nach den Gründen für den Kampf im Musenanruf zeigen (3,16b-18), nicht verstehen, daß Götter ein derartiges Geschehen zulassen. Da er aus eigener Kraft nicht zu einer Lösung des Problems kommen kann, bittet er die Muse, die die Gedanken der Götter kenne (3,15b-16a), um eine Erklärung (3,14-15a).48 Daß er sich an die allwissende Muse wendet, weist bereits darauf hin, daß der Kampf zwischen Menschen mit der engen Beziehung von Gastfreunden (vgl. hospitiis iunctas ... dextras, 3,17) nicht willentUch durch die Menschen, sondern durch die für diese unerklärliche Einwirkung der Götter ausgelöst wird. Der Dichter erkundigt sich nicht allgemein nach den Beweggründen der Götter, sondern speziell nach denen luppiters (3,16b-18a). Damit wird angedeutet, daß der oberste und mächtigste Gott luppiter (zumindest in Valerius Flaccus' Sicht) für den Kampf verantwortlich ist, da er nicht eingeschritten ist und Maßnahmen zur Verhinderung eines derartigen Ereignisses getroffen hat.'^9

47 Vgl. Z.B. 2,396b-398a. 3,30.95.250.253. 5,143.221. 6,559-562. - Da sich die charakterisierenden Adjektive jeweils in auktorialen Beschreibungen befinden, kann man davon ausgehen, daß sie nicht aus der Perspektive der handelnden Personen hinzugefügt sind, sondern die Sicht des Autors wiedergeben (vgl. Franchet d'Espèrey 1998, 214f.). 48 Wie aus der Begründung für den Musenanruf hervorgeht (3,15b-16a), ruft Valerius Flaccus die Muse nicht an, weil er es aus Mitleid mit Cyzicus' Schicksal nicht ertragen kann, selbst die Ursachen dafür darzulegen (so Wagner 1805, 85 zu 3,15ff.; Shelton 1971, I I I Anm. 2), sondern weil er sich die Motive der Götter für die Auslösung solcher Ereignisse nicht erklären kann, die Muse sie aber kennt. Cybeles Rache für Cyzicus' Verhalten ist nämlich wohl nicht nur, wie Schönberger (1965, 130) meint, ein Scheingrund für den Kampf, eingeführt für die Bedürfnisse von Autor und L e p r , sondern dessen wahre Ursache innerhalb der Vorstellungswelt des Epos, die zu Überlegungen über das Verhalten der Götter und deren Beweggründe Anlaß gibt. Entsprechend erkundigt sich der Dichter nicht nach den konkreten Gründen für den Kampf (die ihm natürlich bekannt sind). Vielmehr fragt er tiefergehend nach der Motivation der Götter, solche Ereignisse zuzulassen. Deshalb kann man nicht wie Schubert (1984, 269f.) sagen, daß Valerius Flaccus sich an dieser Stelle auf das Wissensniveau seiner Gestalten begebe. Die Ursachen des göttlichen Handelns sind für Valerius Flaccus ein Problem, da nach den Angaben, die er über die Gründe für Cyzicus' Tat und Cybeles Reaktion macht, Cyzicus' Bestrafung für ihn kein Akt der Gerechtigkeit ist, wie Schubert (1984, 270) annimmt. 49 Insofern hat der Musenanruf nicht nur erzähltechnische Funktion (so Lüthje 1971, 93 mit Anm. 2), sondern enthält auch Kritik an einem luppiter, der nicht dem Idealbild eines Gottes entspricht (vgl. Burck 1970, 542). - S. u. Kap. В II 1 (S. 178ff.) zu luppiter bei Valerius Flaccus.

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

Durch die Wahl der Formulierungen tauchen im Musenanruf bereits die für den Kampf charakteristischen Merkmale von Kampflärm und Dunkelheit {tubae, nocturna, 3,18) auf, die im Verlauf der Schilderung immer wieder vorkommen, und wird durch die Erwähnung stygischer Mächte (Erinys, 3,18) die düstere Atmosphäre des bevorstehenden Kampfs angedeutet.50 Daß die Frage nach den Ursachen des Kampfs ausdrücklich thematisiert wird, weist darauf hin, wie sehr Valerius Flaccus daran liegt, die Hintergründe des Geschehens aufzudecken.51 Die im Musenanruf enthaltenen Überlegungen und Probleme sind so angeordnet, daß diese Frage an dessen Ende steht (3,18b). Dadurch ist ein direkter Übergang zum erzählenden Teil gegeben, der mit der Darlegung der Vorgeschichte und der Gründe für den Kampf beginnt (3,19-31). Bei Apollonios Rhodios findet sich weder das formale Element des Musenanrufs noch werden die bei Valerius Flaccus darin zur Sprache gebrachten grundsätzlichen Fragestellungen thematisiert. In seiner Version schließen sich an die Abfahrt der Argonauten (AR 1,1012-1014) unter genauer Beschreibung der Witterungsbedingungen unmittelbar deren nächtliche Rückkehr (AR l,1015-1018a) und der sich daraus entwikkelnde nächtliche Kampf an. Es gibt keine Absetzung der einzelnen Teile voneinander und keine Vorgeschichte des Kampfs. Es wird also kein Versuch unternommen, das Geschehen aus den Hintergründen heraus zu erklären. Die Ereignisse ergeben sich aus rational-objektiven Gründen, göttlicher Einfluß spielt keine Rolle. Deswegen können keine Fragen nach der Beschaffenheit der Götter, die solche Vorgänge zulassen, oder Andeutungen der persönlichen Einstellung auftauchen. Daß Valerius Flaccus diese Aspekte einführt und sie gleich zu Beginn des Kampfs deutlich macht, belegt, wie wichtig sie ihm sind und vor allem wie sehr es ihm um den inneren Zusammenhang der Handlung und um die Konsequenzen für die Situation der Menschen bei einer derartigen Verursachung des Geschehens geht.

50 Vgl. Shelton 1971, 112; Gärtner 1998, 208. - Vgl. Thuile 1980, 49-117, bes. 105f., zur Funktion der Furien und anderer stygischer Mächte. 51 Vgl. z.B. Wacht 1991b, 101 mit Anm. 2. - Deshalb führt Valerius Flaccus in vielen Episoden umfangreiche Vorgeschichten ein, die die Voraussetzungen der im Epos selbst dargestellten Ereignisse berichten und diese so (besonders durch das darin näher beschriebene Verhalten der Götter) motivieren (vgl. z.B. Lemnos, 2,82-310; Hesione, 2,471-492; Amycus, 4,99-198). Dadurch unterscheidet sich Valerius Flaccus' Epos markant von dem des Apollonios Rhodios (vgl. z.B. Wagner 1939, 148; Bahrenfuß 1951, 83 u. 261; Koch 1955, 130; Garson 1963, 266; Adamietz 1976a, 52, 70f., 115; Barich 1982, 128 mit Anm. 34; Steinkühler 1989, 292; McGuire 1997, 47f.).

п . Textanalyse

39

Bei der Einfügung von Musenanrufen (3,14-18.212-219) im Gegensatz zu Apollonios Rhodios könnte Valerius Flaccus von Vergils Aeneis angeregt gewesen sein, weil auch dort der Beginn von Kämpfen oder deren entscheidende Phasen mit Musenanrufen des Dichters eingeleitet werden (vgl. Aen. 7,37-45a. 9,525-528. 12,500-504).52 Dabei besteht Ähnlichkeit in der formalen Struktur, gibt es aber Unterschiede im inhaltlichen Bereich: Bei Vergil entsprechen die Musenanrufe weitgehend der konventionellen Bitte des Dichters um den Beistand der Musen bei der schwierigen Aufgabe, die vielen Einzelheiten eines großen Kampfs wiederzugeben (Aen. 9,525-528. 12,500-503a) oder eine genaue Zustandsbeschreibung zu liefem (Aen. 7,37-40). Eine Charakterisierung des Kampfs als furchtbares Ereignis wird lediglich andeutungsweise vorgenonunen (vgl. hórrida, Aen. 7,41; acerba, Aen. 12,500). Kritik an luppiter, weil er die Kämpfe nicht verhindere, äußert sich nur verhalten in der vorsichtigen Frage, ob sie nach luppiters Willen geschähen (Aen. 12,503b-504). Bei Valerius Flaccus dienen die Musenanrufe weniger dazu, die Muse für den Bericht über alle Details um Hilfe zu bitten (vgl. nur 3,212-213a), sondern Valerius Flaccus will damit einen allgemeinen Eindruck der Kampfsituation vermitteln und auf die tieferliegenden Ursachen eingehen. Indem er seine Einschätzung des Kampfs als schreckliches Geschehen deutlich macht und gleichzeitig voraussetzt, daß luppiter ihn zuläßt, wird bei ihm das Problem, welche Konsequenzen die Existenz derartiger Kämpfe für die Vorstellung von den Göttern und deren Verhältnis zu den Menschen hat, im Unterschied zu Vergil zur zentralen Frage. Aufgrund der Vorbereitung durch die abschließende Frage des Musenanrufs (3,18b) kann die Erzählung der von Valerius Flaccus neu eingeführten Vorgeschichte (3,19-31) unvermittelt mit der Beschreibung der Situation (3,19-21a) einsetzen und der Name der handelnden Person Cyzicus bis zum Anfang des dritten Verses (3,21) zurückgehalten werden. Cyzicus hat, hingerissen von Gier nach Beute (3,20-21, bes. ingenti praedae deceptus amore, 3,21), einen Löwen der Göttin Cybele^^ getötet und die Beute an den Eingangspfosten seines Hauses befestigt (3,22-26).

5 2 Vgl. Wetzel 1957, 4 0 mit Anm. 1. - Franchet d'Espèrey (1998, 215 Anm. 5 ) weist auf Aen. 12,5031>-504 als mit VF 3,16b-18 inhaltlich vergleichbar hin. 53 Die Göttin Cybele wird innerhalb der Cyzicus-Episode nicht namentlich identifiziert. Ihre Identität geht jedoch aus verschiedenen Hinweisen auf ihre typischen Attribute, die für sie vollzogenen Rituale (vgl. 3 , 1 9 . 2 2 - 2 3 . 2 3 0 - 2 3 8 ) und einer charakteristischen umschreibenden Bezeichnung (vgl. Mygdoniae ... Matris, 3,47) eindeutig hervor.

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Α. 1п1ефге1а110п der Cyzicus-Episode

Bei der Tötung des Löwen wird Cyzicus nicht als wild und unzivilisiert dargestellt, sondern als jemand, der sich aufgrund seines ungestümen Wesens vollkommen von Begierde, Leidenschaftlichkeit und Erregung hat hinreißen lassen.54 Ein solches Verhalten befindet sich in Übereinstimmung mit Cyzicus' Spontaneität und Überschwenglichkeit beim ersten Empfang der Argonauten (2,636-664).55 Jagdleidenschaft, die völlig von Cyzicus Besitz ergriffen hat und ihn in die falsche Richtung lenkt (vgl. deceptus, 3,21), ist der einzige Grund, der für die Tötung des Löwen angegeben wird (3,20-21). Abgesehen von seiner durch Jagdfieber bedingten Fixierung auf die Jagd ist für Cyzicus zu dem Zeitpunkt kein Zusammenhang zwischen dem Löwen und Cybele feststellbar. Denn wie Valerius Flaccus ausführt, versieht der Löwe gerade nicht seinen üblichen Dienst im Gespann der

54 Vgl. Wagner 1805, 85 zu 3,15ff.; Burck 1970, 543 u. 556; Shelton 1971, 112; Franchet d'Espèrey 1977, 165; Davis 1980, llOf. - Vergleichbar mit Cyzicus' Verhalten bei der Jagd auf einen Löwen der Cybele ist Hylas' Reaktion (3,549-550a) bei der Verfolgung des von luno aufgejagten Hirsches (3,545-554). Denn auch Hylas läßt sich anhand anderer Stellen, an denen er vorkommt, nicht als Mensch mit wildem Charakter bezeichnen, sondern wird ebenfalls in der konkreten Situation von dem Verlangen nach Beute bestimmt (vgl. praedae ... ferox ardore propinquae, 3,549; vgl. Shelton 1971, 152f., zur Parallelität der Formulierungen) und führt damit für sich (und Hercules) schlimme Konsequenzen herbei. 55 Daß Cyzicus sich bei der Tötung des Löwen zu einer ungestümen Tat hat hinreißen lassen, steht nämlich nicht in Gegensatz zu der Zivilisiertheit, die er im zweiten Buch (2,644-648) von sich behauptet, und offenbart nicht sein wahres Wesen, wie Lüthje (1971, 93f.) meint. Denn zum einen behauptet Cyzicus seine Zivilisiertheit im zweiten Buch nicht nur, sondern beweist sie durch die freundliche Aufnahme der Argonauten (2,637b-639a.649-654) auch. Seine Menschlichkeit wird besonders deutlich durch den Kontrast zu Amycus, von dem er sich in seiner Begrüßungsrede (2,639-648) absetzt (2,647b-648a), weil die Argonauten bei Amycus später tatsächlich feindlich empfangen werden (4,199-221; vgl. 4,145b-147). Deshalb sind keine Anhaltspunkte gegeben, an der Wahrheit von Cyzicus' Worten zu zweifeln. Zum anderen ist eine in Eifer begangene Tat kein Beweis für Wildheit von Natur aus. Daß Cyzicus' Tötung des Löwen durch allzu großes Ruhmesstreben motiviert sei, wie Steinkühler (1989, 292) meint, geht aus dem Text nicht hervor. - Die starke Betonung von Cyzicus' wilder Natur, die Lüthje als Grundlage für einen frevelhaften Charakter und schuldhaftes Verhalten ansieht (ähnliche Auffassung von Cyzicus' Frevelhaftigkeit bei Happle 1957, 96, 106, 107; Schönberger 1965, 130; Thuile 1980, 68; Eigler 1988, 63; Schenk 1991, 141, 144 u.ö.; Liberman 1997, 77 mit Anm. 1 u. 230 zu 3,237; Hershkowitz 1998, 120 u. 172-174), das Ruhmesstreben der Argonauten sowie die Existenz von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen den Büchern, besonders hinsichtlich der Stimmung, sind die wichtigsten Voraussetzungen für seine Inteφretation der Cyzicus-Episode (bes. 1971, 111-113). Weil sich die Prämissen, die zum Teil auf ungenauer Auslegung einzelner Stellen beruhen, nicht zwingend aus dem Text ergeben, weicht die hier vorgelegte Deutung, da sie von einem anderen Verständnis zentraler Passagen ausgeht, trotz zahlreicher Übereinstimmungen bei Einzelbeobachtungen von Lüthjes Gesamtinterpretation ab.

п . Textanalyse

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Cybele {adsuetum, 3,22), sondern kehrt dorthin zurück {redeuntem, 3,23), ist also für Cyzicus ein gewöhnlicher, frei herumlaufender Löwe. Erst bei seinem Tod, als ihm gleichzeitig das Brüllen von Löwen und die Zeichen der Cybele erscheinen (3,237b-238), kann Cyzicus die Verbindung erkennen und damit, daß er für sein unfreiwilliges Vergehen büßen maß. Femer spielt der Gedanke einer schuldhaften Handlung von Cyzicus als Erklärung für seinen Tod im Verlauf der Episode weder bei ihm selbst noch bei anderen Personen eine Rolle, sondern man bedauert sein trauriges Schicksal (3,280-331). Es gibt also keinen Hinweis darauf, daß Cyzicus den Löwen absichtlich als Frevel gegenüber Cybele tötet.56 Cyzicus' Beute wird vom Dichter als spolium infelix divaeque pudendum (3,26) bezeichnet. Die Juxtaposition dieser Adjektive macht klar, daß die Tötung des Löwen keine frevelhafte Tat ist, sondern eine, die Cyzicus Unglück bringen wird (vgl. infelix ... Cyzicus, 4,441), weil die Göttin sich beschämt und angegriffen fühlt. Wie aus ihrer Reaktion hervorgeht, berücksichtigt sie nämlich nur das durch das objektive Fehl verhalten herbeigeführte Ergebnis, aber nicht die Umstände, durch die es zustande gekommen ist. Deshalb ist sie zur Rache für die Verletzung ihrer Göttlichkeit entschlossen und straft den unwissenden Cyzicus, der sich keiner Schuld bewußt ist, ohne Vorwarnung in unmäßiger Form.57 Ihre Racheaktion erreicht ein so großes Ausmaß, daß nicht nur Cyzicus selbst tödUch, sondern sein ganzes Volk wie auch die Argonauten davon getroffen werden. Das zeigt sich bereits in der Wiedergabe von Cybeles Racheplänen durch den Gegensatz zwischen vir (3,29) als dem eigentlichen Objekt ihrer Aktivitäten und urbs (3,31) als dem, das bei der Ausführung in Mitleidenschaft gezogen wird, sowie den Hinweis auf den allgemeinen Kampf von sociae ... manus (3,30). Eine günstige Gelegenheit zur

56 Vgl. Brooks 1951, 46, 47, 48; Ravenna 1981, 347; Otte 1992, 76; bes. Ferenczi 1995, 150 u. 151. Vgl. auch Garson 1964, 268 u. 269, der allerdings nicht ganz klarmacht, ob Cyzicus' >Hybris< in seiner Auffassung auf bewußtem Frevel beruht oder nicht; unklar Shelton 1971, 112: Während er zutreffend bemerkt: »This love of booty might be said to be the one >tragic flaw< in his character. Otherwise he is depicted as a thoroughly admirable person«, setzt: » ... it [the tragedy] is seen as a punishment for greed and impiety« die Vorstellung eines subjektiven Verschuldens voraus (ähnlich auch 1971, 126 u. 128); Annahme einer absichtlichen Hybris durch Aufhängen der Beute bei Burck 1970, 543. - Auch bei einer unbeabsichtigten und zunächst nicht als solche erkannten Fehlhandlung ist nicht ausgeschlossen, daß man später realisiert, daß es sich um einen (objektiven) Frevel handelt, für den man büßen muß. 57 Vgl. Burck 1970, 556. - Die Strafe ist wohl nicht, wie Lüthje (1971, 94, I I I u.ö.) meint, gerechtfertigt, weil sie dazu diene, die durch den wilden Frevler Cyzicus verletzte Weltordnung wiederherzustellen.

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

Ausführung ihrer Rache sieht Cybele gekortmien, als sie die Fahrt der Argonauten bemerkt ( 3 , 2 7 - 2 9 ) 5 8 Die Befriedigung ihrer persönlichen Rachewünsche ist ihr so wichtig, daß sie sie nicht vergißt ( 3 , 2 7 ) und mit der Umsetzung wartet, bis sich eine geeignete Situation ergibt. Die Vorgeschichte des Kampfs (3,19-31) bestätigt die Andeutungen des Musenanrufs (3,14-18), indem offensichtlich wird, daß allein göttliche Machenschaften den Kampf auslösen. Die durch den Musenanruf erzeugte Stimmung wird mit der genauen Wiedergabe von Cybeles Racheplan (3,29b-31) verstärkt. Dieser ist formal als Cybeles Gedanke formuliert, aufgrund der darin enthaltenen qualifizierenden Adjektive (vgl. impia, 3,30; saevis, 3,31), deren Charakterisierung des Kampfs mit dessen Bewertung im Musenanruf und anderen auktorialen Äußerungen übereinstinmit, kann man aber davon ausgehen, daß diese Deutung der Sicht des Dichters entspricht. Durch die gewählten Ausdrücke ist von vornherein klar, daß der bevorstehende Kampf furchtbar, sogar impius (3,30), sein wird (vgl. impia ... proelia, 5,221), weil befreundete Gruppen (socias, 3,30) in der Nacht (in nocte, 3,30) gegeneinander kämpfen.59 Außerdem wird explizit gemacht, daß der Kampf nicht durch schuldhaftes Verhalten der Menschen, sondern durch einen grauenvollen Irrtum zustande kommen wird (3,31). Mit der Einführung einer solchen Erklärung für die Auslösung des Kampfs, die das ganze Geschehen auf göttliches Wirken zurückführt, unterscheidet sich Valerius Flaccus grundlegend von Apollonios Rhodios.^O In seiner Darstellung ergibt sich die Reihenfolge der einzelnen Aktionen nicht als sachliches Nacheinander, sondern der Handlungsablauf hat eine Begründung aus den Ereignissen selbst.^i Die Ursachen des Geschehens und damit die Rolle der Handlungen der Menschen werden allerdings, da 58 Vgl. Wagner 1805, 85 zu 3,27ff.; Adamietz 1976a, 43. - In ähnlicher Weise glaubt luno, daß sich für sie durch die Ankunft der Argonauten in Mysien und Hercules' Verlassen des Schiffs eine geeignete Situation ergeben hat, ihre Rache an Hercules zu vollziehen (vgl. 3,487-488; vgl. Koch 1955, 131; Adamietz 1976a, 47). Hesiones Befreiung scheint ebenfalls durch höhere Mächte auf die Zeit der Argofahrt festgelegt zu sein (vgl. 2 , 4 4 5 ^ 4 6 . 4 8 5 - 4 8 6 ; vgl. Shelton 1971, 96 u. 99; Adamietz 1976a, 59; Burck 1976, 535f.). Auch Phineus' Erlösung von den Нафу1еп steht irgendwie mit der Argofahrt in Beziehung (vgl. 4,460-462.577-586; s. u. Kap. В II 5 [S. 214ff.]). 59 S. u. Kap. В III 1 (S. 234) zu Valerius Flaccus' Verständnis von impietas. 60 Vgl. z.B. Langen 1896/97, 205 zu 3,15; Mehmel 1934, 20; Wagner 1939, 38; Stoessl 1941, 18 u. 24.; Brooks 1951, 46; Boyancé 1964, 339; Garson 1964, 268 u. 269; Shey 1968, 86; Shelton 1971, III u. 112; Venini 1971a, 585 mit Anm. 6; Adamietz 1976a, 43 u. 115f.; Hull 1979, 388; Thuile 1980, 66; Barich 1982, 128 mit Anm. 33; Otte 1992, 76; Ferenczi 1995, 150 u. 151; Liberman 1997, 77 u. 230 zu 3,237; McGuire 1997, 48 mit Anm. 12. 61 Vgl. Venini 1971b, 605 u. 613.

п. Textanalyse

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die Vorgeschichte in einem auktorialen Einschub berichtet wird, nur dem Leser klar, aber nicht den Personen des Epos. Durch Einbeziehung der göttlichen Sphäre erhält die Erzählung eine tiefergehende Bedeutung und wirft in grundsätzlicher Form die Frage nach den Bedingungen der Lebenssituation der Menschen auf. Daß Valerius Flaccus gerade Cybele zur Verursacherin macht, könnte dadurch bedingt sein, daß bei Apollonios Rhodios am Schluß der Episode ein Kult für die Göttermutter eingerichtet wird (AR 1,1092-115 la).62 Bei Valerius Flaccus wird Cybele zu einem wesentlichen Element der Handlung, das die Ereignisse direkt beeinflußt. Außerdem hat Valerius Flaccus wohl in Entsprechung zu seiner Darstellung vom Aufbau der Götterwelt das Verhältnis zwischen luppiter und Cybele neu gestaltet. Denn während Cybele bei Apollonios Rhodios eine mächtige Göttin ist (vgl. AR 1,10981102), vor der sogar luppiter weicht (vgl. AR 1,1101a), hat sie bei Valerius Flaccus eine untergeordnete Position und muß sich letztlich luppiters Willen und größerer Macht fügen. Durch die Veränderung kommt zum Ausdruck, daß die Menschen bei Valerius Flaccus dem irrationalen Handeln aller, auch niedrigerer Gottheiten unterworfen sind. In der Konzeption der Vorgeschichte lassen sich bei einigen Aspekten Parallelen zu Motiven aus Vergils Aeneis feststellen: Cyzicus wird unter anderem dadurch als eifriger und begeisterter Jäger gekennzeichnet, daß sein Verhalten auf der Jagd mit der ungewöhnlichen Formulierung silvasque fatigat am Versende (3,20) geschildert wird. Dieselbe Formulierung (allerdings im Plural) findet sich in der Aeneis {silvasque fatigant, Aen. 9,605) an derselben Versstelle in der Charakterisierung des Volks von Numanus Remulus {Aen. 9,603-613) zur Beschreibung desselben Sachverhalts (vgl. venata, Aen. 9,605).63 Eine derartige Übereinstimmung eines einfachen, wenn auch prägnanten Ausdrucks ist auffällig, kann sich jedoch sowohl durch Zufall als auch durch absichtliche Bezugnahme ergeben. In einem solchen Fall liegen wohl auch bei bewußter Übernahme keine

62 Vgl. Burck 1970, 556; Adamietz 1976a, 43. - Apollonios Rhodios führt vielleicht deshalb eine aitiologische Erklärang des Kybele-Kults auf Kyzikos ein, weil dort tatsächlich ein bedeutender Kybele-Kult bestand, der zuerst bei Herodot (4,76) bezeugt ist (vgl. van Krevelen 1954, 75-82, zur Darstellung des Kybele-Kults bei Apollonios Rhodios; Vermaseren 1987, 91-97, für eine Zusammenstellung von archäologischen Zeugnissen und einigen Hinweisen auf literarische Quellen für den Cybele-Kult auf Cyzicus; F. Schwenn, Art. >Kybele< Nr. 1, RE XI 2 [1922] 2250-2298, allgemein zu Cybele und ihrem Kult). - S. u. Kap. В II 1 u. 2 (S. 178ff. u. S. 184ff.) zur Götterwelt bei Valerius Flaccus. 63 Vgl. Korn 1989, 32 zu 4,20b-21, mit Feststellung der Übereinstimmung der Formulierungen ohne weitere Deutung.

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Α. 1п1ефге1а110п der Cyzicus-Episode

weitreichenden Absichten zugrunde. Auf diese Weise kann lediglich die Vorstellung eines eifrigen und unermüdlichen Jägers, die in der Aeneis besonders herausgearbeitet wird (vgl. invigilant, Aen. 9,605), in stärkerem Maße mit Cyzicus assoziiert und damit diese Eigenschaft und nicht sein schuldhaftes Handeln als Grund für die Rache der Göttin herausgestellt werden. Zur Jagdsituation insgesamt gibt es eine aussagekräftigere vergleichbare Stelle in der Aeneis, über die Verwendung ähnlicher Ausdrücke hinaus: Während der Kämpfe in Latium verfolgt Camilla aus Begierde nach der kostbaren Beute den prächtig gekleideten Chloreus (Aen. 11,768782), der als Priester Cybele geweiht ist (Aen. 11,768),64 und kommt durch ihr unbedachtes Vorgehen dabei zu Tode (Aen. ll,783-806a). Wie Cyzicus weiß Camilla nicht, daß sie sich gegen einen Diener von Cybele richtet. Denn wegen Chloreus' militärischer Aufmachung (Aen. 11,769777) kann sie in dem Moment nicht erkennen, daß es sich um einen Priester handelt. Wegen seiner Erscheinung wird sie von Jagdeifer und Beutegier hingerissen (Aen. 11,778-782), wie ausführliche Angaben zu ihren möglichen Absichten für die Verwendung der Beute (Aen. ll,778-780a) deutlich machen. Daß bei Camilla das gleiche Handlungsmuster wie bei Cyzicus vorliegt, läßt auch die Ähnlichkeit der jeweils benutzten Formulierungen vermuten. Camilla wird trotz der Kampfsituation als venatrix (Aen. 11,780) bezeichnet. Als Grund für ihr Handeln gibt Vergil an: femineo praedae et spoliorum ardebat amore (Aen. 11,782). Dieser Motivation entspricht bei Cyzicus: ingenti praedae deceptus amore (3,21). Beide Personen gehen also aufgrund von Jagdeifer und Beutegier, die kurzfristig von ihnen Besitz ergreifen, gegen einen Anhänger von Cybele vor. Die dadurch ausgelösten Folgen sind bei Valerius Flaccus wesentlich tragischer und für die Menschen unberechenbarer, da in seiner Darstellung die Verletzung der göttlichen Sphäre von Bedeutung ist. Camilla stirbt wegen ihrer Unachtsamkeit bei der Jagd nach Beute (vgl. bes. incauta, Aen. 11,781) im weiteren Verlauf des Kampfs ohne direkte göttliche Einwirkung sozusagen auf natürliche Weise, ohne ihr Ziel zu erreichen (Aen. 11,783-806а).б5 6 4 Chloreus wird nicht explizit als Cybeles Priester bezeichnet, sondern nach der allgemeinen Überlieferung des Texts als sacer Cybelo (Aen. 11,768), womit nicht direkt eine Beziehung zu einem Gott ausgedrückt sein kann. In Hinblick auf Aen. 3,111 ist es jedoch wahrscheinlich, daß der Berg für die dort verehrte Göttin, also Cybele, steht (vgl. Mynors' Apparat und Kommentare z.St.). 65 Camilla wird zwar getötet, nachdem ihr Mörder ein Gebet an Apollo (Aen. 1 1 , 7 8 5 - 7 9 3 ) gerichtet und dieser den auf Camillas Tod bezüglichen Teil erhört hat (Aen. 1 l , 7 9 4 - 7 9 7 a ) . Eine solche Art der göttlichen Unterstützung ist aber mit

п. Textanalyse

45

Dagegen ist Cyzicus bei der Jagd erfolgreich und stirbt nur, weil die Göttin darüber erzürnt ist, in das Geschehen eingreift und einen weiteren, für ihn tödlichen Kampf auslöst. Die Abfolge, daß es wegen der Tötung eines Löwen der Cybele durch Cyzicus zum Kampf zwischen Argonauten und Cyzicenem kommt, erinnert daran, daß lulus nach der Ankunft der Aeneaden in Latium auf lunos Veranlassung hin einen Hirsch tötet, was den Kampf zwischen den Aeneaden und der latinischen Landbevölkerung auslöst (Aen. 7,475-539).бб Die Struktur hat Valerius Flaccus ebenfalls in Entsprechung zu seiner Darstellungsabsicht inhaltlich mit anderen Nuancen versehen. Die Tötung des Tiers geschieht bei ihm ohne weitere Absichten einer Person und ohne göttliche Einwirkung (vgl. dagegen Aen. 7,286-322.475-482), aber das getötete Tier ist das einer Göttin. Daher kommt es nach der Tötung zum Kampf nicht in einem weitgehend natürlichen Prozeß, bei dem lediglich die Gefühle der Menschen durch göttliches Wirken unterstützt werden (Aen. 7,503-539), sondern ausschließlich durch die Einwirkung der Göttin. Der Kampf führt sogar zum Tod des Jägers (3,220-242) und betrifft mit schlimmen Folgen Menschen, die am ursprünglichen Ereignis unbeteiligt waren. Indem Valerius Flaccus den Rückblick auf die Ursachen des Kampfs (3,1931) mit den Einzelheiten des Racheplans der Göttin (3,29b-31) abschließt, schafft er eine Überleitung zur folgenden Beschreibung der konkreten Ereignisse bei der Auslösung des Kampfs. Die Vorbereitung macht es wieder (vgl. 3,19) mögUch, daß die Erzählung nach einem nicht ausgedrückten Wechsel von Zeitebene und Perspektive unvermittelt mit der Nennung der äußeren Umstände (3,32-36), Angaben zur Tageszeit (3,32-33), zur Witterung (3,34a) und zur Route der Argonauten (3,34b-36), einsetzen kann. Die relativ ausführliche und poetische Schilderung dieser Gegebenheiten bildet ein ruhiges Zwischenstück, das sowohl zu der vorausgehenden An-

Cybeles Verhalten bei Valerius Flaccus nicht vergleichbar, weil der Gott bei Vergil nicht die Ursache für den Tod ist, sondern nur zur Bestätigung angerufen wird, nachdem ein Mensch im normalen Ablauf des Kampfs sich schon zum Todesschuß entschlossen hat. 66 Vgl. Burck 1970, 543 u. 556; Otte 1992, 77. Vgl. Franchet d'Espèrey 1977, 157-172, zu Form und Verwendung des Motivs, daß ein Tier in besonderer Funktion getötet wird und sich daraus weitere Konsequenzen ergeben, bei Vergil, Valerius Flaccus und anderen antiken Epikern.

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

kündigung furchtbarer Ereignisse als auch zu deren anschließender Präsentation in Kontrast steht.67 Die Situation, in der es zum Kampf zwischen den Gastfreunden kommen kann, entsteht dadurch, daß Tiphys, der Steuermann der Argo, durch göttliche Einwirkung in Schlaf versetzt wird (3,37-41a).68 Daraufhin wird das Schiff führerlos, wendet in einem Wirbelwind, dem jetzt niemand mehr entgegensteuert, und treibt zu einem >befreundetenFrevler< zusammenhängen (so Schenk 1991, 144, 145, 147). 77 Vgl. Shelton 1971, 114-116; Gärtner 1994, 241f., zu den Gleichnissen. - Bei der Schreibweise der Namen läßt sich die überlieferte Form Rhoetus (3,65) beibehalten (vgl. Liberman 1997, 83 u. 219 zu 3,65). - Gärtner (1994, 292 mit Anm. 118)

п . Textanalyse

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Cyzicus ist wie die Menschen in den Gleichnissen durch äußere Einwirkung so jeder rationalen Einsicht beraubt, daß er die Wirklichkeit nicht mehr erkennt und in sein eigenes Verderben renntJ^ Daß Cyzicus in dem Kampf schicksalsbestimmt den Tod finden wird, wird nicht nur durch die Gleichnisse angedeutet, sondern überdies ausdrücklich gesagt (3,64). Dafür, daß die Ankunft der Argo tatsächlich zum Kampf führt, ist nach Pans Ausruf (3,45) und dessen sonstigem Wirken in der Stadt (vgl. 3,4647) dieser Impuls durch die Kriegsgöttin Bellona (3,60b-64) nötig. Denn Pan konnte entsprechend seiner gewöhnlichen Wirkungsweise zunächst nur eine diffuse Unruhe unter allen Cyzicenem bewirken. In einem zweiten Schritt steigert die dafür zuständige Kriegsgöttin Bellona diese bei Cyzicus, um dessentwillen der ganze Kampf stattfinden soll, weiter zu der konkreten Bereitschaft, die Feinde kriegerisch abzuwehren.^^ Erst Cyzicus' Erregung und seine Aktionen, die sich auf die anderen Cyzicener übertragen und sie mitreißen, veranlassen diese dazu, sich dem Kampf zuzuwenden (3,71b-73). Dabei macht Valerius Flaccus durch den Ausdruck motus ... inanes (3,73) von vornherein klar, daß die Aufregung einer eigentlichen Berechtigung entbehrt, und vielleicht auch, daß der Kampf für die Menschen zu keinem Erfolg führen wird. In größerem Zusammenhang werden dadurch, daß die Göttin Bellona selbst auftaucht und, nachdem die Argonauten ein neues Meer erreicht haben (vgl. 2,627-

weist darauf hin, daß in Valerius Flaccus' Kampfschilderungen vor allem Mitglieder der gegen die Argonauten kämpfenden Partei als Einzelkämpfer durch Gleichnisse herausgestellt würden (vgl. z.B. 3,65-69.130-132.224b-228). Das Phänomen ist wohl in der Schlacht in Colchis (6,1-760) auffälliger als in der auf Cyzicus. 78 Vgl. Wagner 1805, 87 zu 3,63ff.; Langen 1896/97, 21 If. zu 3,68; Happle 1957, 99; Burck 1970, 543; Shelton 1971, 114 u. 116; Adamietz 1976a, 44. - Da Cyzicus' wilde und zwecklose Raserei als unmittelbare Konsequenz von Bellonas Einwirkung dargestellt wird (3,63-64), ergibt sie sich wohl nicht aufgrund von Cyzicus' Charakter, wie Lüthje (1971, 96 u. 101) meint, sondern ist speziell in der Situation von der Göttin erzeugt. Cyzicus folgt Bellona in den Kampf, weil er wegen der Beeinflussung durch sie die Realität nicht mehr richtig wahrnehmen kann und so zum Kämpfen gezwungen wird. Seine Handlungsweise hat nichts mit einem schuldhaften Verhalten als >Frevler< zu tun. Als >Verblendung< kann sie nur bezeichnet werden, wenn man darunter eine >objektive VerblendungUnfähigkeit, die Situation richtig einzuschätzen, aufgrund äußerer Einflüssesubjektive VerblendungUnwillen oder Unfähigkeit, die Situation richtig einzuschätzen, aufgrund bzw. infolge des eigenen VerhaltensWeltenplan< (1,531-560) vorgesehenen Entwicklungen in Beziehung gesetzt. Nachdem der Weg der Cyzicener in den Kampf beschrieben ist (3,4373), schließt sich, durch at (3,74) abgesetzt, die Schilderung desselben Vorgangs auf der Seite der Argonauten an (3,74-94). Dabei entspricht der Aufbau (allerdings mit Unterschieden im Umfang der einzelnen TeUe) ungefähr dem des Abschnitts über die Cyzicener: Zunächst wird die Situation der Gruppe als ganze vorgestellt (3,74-80a; vgl. 3,43b-46), dann verengt sich der Blick auf den Führer, der eine Aktion einleitet (3,80b-86a; vgl. 3,58-71a), und weitet sich danach wieder zu den anderen Mitgliedern der Gruppe, die dem Beispiel ihres Führers folgen (3,86b-94; vgl. 3,71b-73). Die Argonauten sind aufgrund der Entwicklung, mit der sie konfrontiert werden, ängstlich und unsicher (3,74-75a). Denn sie kennen weder die Gegend, in der sie sich befinden (3,75b), noch durchschauen sie ihre Situation und die Gründe dafür (3,75b-7680). Da sie nicht direkt von einem Gott beeinflußt werden, stürmen sie nicht in den Kampf wie die Cyzicener nach Cyzicus' Vorbild (3,63-64.70-73), sondern verharren zunächst tatenlos (3,74a), bis ein Angriff auf ihr Schiff sie zu eiliger Gegenwehr zwingt (3,78-80a).8i Wie bei Pans Ausruf (3,45) wird bei dem Lanzenwurf 80 In Gegensatz zu anderen Herausgebern (vgl. z.B. Courtney 1970, 51; Liberman 1997, 84) postuliert Ehlers (1980, 57) zwischen 3,76 und 3,78 keine lacuna (die in einem Kodex durch einen in den Rand geschriebenen Vers ausgefüllt ist), sondern geht (ohne den Vers vom Rand) von einem lückenlosen Text aus. Das ist möglich, da sich aus dem überlieferten Text ein vollständiger Satz ergibt, dessen Sinn verständlich ist. Eine Schwierigkeit bei dieser Lösung besteht allerdings darin, daß das Subjekt zu pervigil (3,76) nicht eindeutig bestimmt ist, da es weder explizit genannt wird noch aus dem Zusammenhang klar hervorgeht (vgl. Liberman 1997, 219 zu 3,77). Daher muß man wohl doch von einer lacuna ausgehen. Allerdings läßt sich der Vers vom Rand, den Wagner (1805, 87 zu 3,74ff.) noch bedenkenlos als zum Text gehörig ansieht, sprachlich und inhaltlich nicht problemlos einfügen (vgl. Langen 1896/97, 212 zu 3,76; Liberman 1997, 219 zu 3,77). 81 Vgl. Wagner 1805, 87 zu 3,74ff. u. 3,77ff.; Happle 1957, 99f.; Lüthje 1971, 97; Thuile 1980, 67 u. 105; Schubert 1984, 270 mit Anm. 11; Ferenczi 1995, 150 u. 151. - Da ausdrücklich betont wird, daß die Argonauten erst aufgrund der Provokation durch einen Angriff die Schlacht beginnen, kann man nicht wie Shelton (1971, 148 u. 195) sagen, daß sie zu schnell und unüberlegt in die Schlacht stürzten und damit einen Fehler begingen, der einen entscheidenden Bestandteil des Geschehens bilde. Auch Sheltons (1971, 156, 194f. u.ö.) Anwendung des daraus entwickelten Begriffs von »error« auf andere Episoden ist nicht immer überzeugend. - Die Ursache für das unterschiedliche Verhalten von Argonauten und Cyzicenern auf dem Weg in den Kampf liegt nicht im verschiedenen Charakter der beiden Völker (so Lüthje 1971, 96 Anm. 1 u. 2), sondern in der verschiedenen Art der göttlichen Beeinflussung. Denn das Zustandekommen des Kampfs wird so dargestellt, daß es ohne

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(3,78-79а) nicht angegeben, ob ein göttlicher oder ein menschlicher Urheber dahintersteckt. Jedenfalls ist die Abfolge von Ursache und Wirkung in beiden Fällen sehr ähnlich: Jeweils sind die Menschen in ihrer Situation unsicher (vgl. ancipitem, 3,46; anceps, 3,74) und werden durch die genannten Ereignisse zum Handeln veranlaßt. Ein entscheidender Unterschied besteht darin, daß die Cyzicener durch den unmittelbaren göttlichen Einfluß zum Angriff getrieben werden, während die Argonauten auf eine Kampfhandlung reagieren. Deshalb trifft lason keine Verantwortung, den Kampf ausgelöst zu haben, als er nach der Provokation kampftüchtig sofort aktiv wird und als erster handelt, indem er sich zum Kampf rüstet (3,80b). Gleichzeitig spricht er seinen Leuten Mut zu (3,81-82), damit sie seinem Beispiel folgen. Jasons schnellen und eifrigen Kampfbeginn hebt ein Gleichnis hervor, in dem lason in passender Weise mit Mars, der in eine Schlacht stürzt, verglichen wird (3,83-86a). Ebenso wie Cyzicus unter göttlicher Einwirkung (3,71) eilt lason in einem Zustand des Außer-sich-Seins (vgl. furens, 3,86) in den Kampf.82 Die Parallelität soll möglicherweise andeuten, daß allein die Kampfsituation, auch ohne zusätzlich wirkende Kräfte, die Menschen zu wahnsinnigem Verhalten treibt. Da sich Jason (wie die anderen Menschen des Epos) der Umstände des Kampfs nicht bewußt ist, weiht er ihn als seine erste Leistung während der Argofahrt seinem Vater (3,81).83 Darin zeigt sich die Tragik für die Argo-

Zutun der Menschen allein durch göttliche Einwirkung geschieht. Es finden sich nicht göttliche und menschliche Motivation nebeneinander, wie Wetzel (1957, 90 mit Anm. 1) meint. 82 Vgl. Shelton 1971, 116f.; Gärtner 1994, 103, zum Gleichnis. - Da das Gleichnis nur zur Veranschaulichung des Kampfeinsatzes dient, sollten nicht alle Einzelheiten in dem auf Mars bezüglichen Teil (3,83-85a) direkt auf lason übertragen werden, wie Gärtner (1994, 103) es tut. Daraus, daß lason ebenso wie Cyzicus (3,71) als yiire/íí (3,86) charakterisiert wird, kann man nicht wie Shelton (1971, 117) schließen, daß auch lason von der von Cybele gesandten Raserei ergriffen sei, da das an keiner Stelle gesagt wird. 83 Hull (1979, 395) nimmt daran Anstoß, daß lason den Kampf auf Cyzicus als seinen ersten bezeichne (primam ... pugnarti, 3,81), bei lasons erster Erwähnung zu Beginn des Epos aber bereits seine virtus genannt werde (1,30). Die Feststellung von virtus als Eigenschaft lasons an der Stelle setzt aber nicht voraus, daß er sie schon in konkreten Kämpfen gezeigt hat. Außerdem muß der Ausdruck primam ... pugnam (3,81) hier nicht in absolutem Sinne als >erster Kampf überhaupterster Kampf während der Argofahrt< aufgefaßt werden. Diese Deutung legt der Inhalt von lasons gesamtem Ausruf (3,81-82) eher nahe, da so die Beziehung zwischen dem Kampf auf Cyzicus und dem in Colchis deutlicher wird: Der Kampf auf Cyzicus ist der erste Kampf während der Argofahrt, bei dem die Argonauten in Vorwegnahme der weiteren Ereignisse die Feinde für Colcher halten sollen, später wird der tatsächliche Kampf gegen die Colcher folgen. Hershkowitz

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Α. 1п1ефге1а110п der Cyzicus-Episode

nauten, weil der Kampf in Gegensatz zu den großartigen Erwartungen, die in der Weihung zum Ausdruck kommen, zur Tötung von Freunden führen wird. Andererseits kann der Kampfeinsatz der Argonauten unabhängig von den Folgen, die sie nicht kennen, durch einen solchen Ausruf und im weiteren Verlauf der Schilderung objektiv als positiv beschrieben werden. In größerem Zusammenhang weist die Bezeichnung des Kampfs als ersten zusammen mit lasons Aufforderung an seine Leute, die Feinde für die Colcher zu halten (3,82), darauf hin, daß der Kampf als Vorbereitung der Kämpfe in Colchis dient. Außerdem ergibt sich durch die Verbindung der jetzigen Gegner mit den Colchern bei den Argonauten ebenfalls eine (wenn auch gewollte) Fehlidentifizierung der Feinde. bn Gefolge ihres Führers eilen die Argonauten in den Kampf (3,86b), wobei sie sich in Schlachtordnung aufstellen (3,87-88a). Die anschließenden Gleichnisse (3,88b-94) illustrieren wie bei Cyzicus (3,65-69) und lason (3,83-86a) die Situation auf dem Weg in den Kampf.^^^ Hier werden allerdings weniger innerer Zustand und Art der Handlungsweise charakterisiert als Erscheinungsbild und Verhalten beschrieben, woraus sich aber die Einstellung der Menschen ableiten läßt: Die Argonauten sind nach Überwindung ihrer anfänglichen Angst und Unsicherheit (vgl. 3,74-75a) zu einer einheitlichen, gefährlichen und unbeeinflußbaren kämpferischen Macht geworden. Keine furchteinflößende Gewalt könnte die geschlossene Kampfformation durcheinanderbringen (3,87-90a), im Gegenteil löst sie selber Angst aus (3,90b-94).85 Indem in den Gleichnissen Cyzicus mit (1998, 120 Anm. 69) versucht den Einwand zu entkräften, indem sie einfach feststellt, daß lasons Aussage wegen seiner Charakterisierung als Krieger nicht unpassend sei, und auf seine früheren Fähigkeiten als Jäger hinweist. Als Beleg führt sie aber eine Stelle (3,241b-242) an, die sich auf Cyzicus bezieht. - lasons Ausruf (3,81-82) besagt weder, daß er die Feinde tatsächlich für Colcher hält (so Shey 1968, 89; wohl auch Burck 1970, 544), noch, daß er glaubt, in Colchis zu sein (so Ferenczi 1995, 150). Um den Kampfeinsatz seiner Gefährten zu vergrößern, fordert Jason die anderen Argonauten lediglich auf, den jetzt bevorstehenden Kampf für gleichwertig mit dem gegen die Colcher einzuschätzen, den er in Zusammenhang mit der Ausführung ihres Auftrags erwartet. - S. u. Kap. В I (S. 160ff.) zu Beziehungen zwischen dem Kampf auf Cyzicus und dem in Colchis. 84 Vgl. Shelton 1971, 117f.; Gärtner 1994, 104f. u. 247, zu den Gleichnissen. Die Gleichnisse gehören zur Beschreibung der Ausgangsposition unmittelbar vor dem Kampf, befinden sich aber nicht direkt am Beginn des eigentlichen Kampfs, wie Gärtner (1994, 104) meint. Die Gleichnisse sollen gerade vor der Erwähnung der ersten Kampfaktionen (3,95) Einstellung und Verhalten der Kämpfer charakterisieren (vgl. Happle 1957, 103). 85 Vgl. Shelton 1971, 117. - Die Gleichnisse beziehen sich auf die Argonauten und dienen speziell dazu, deren Kampfesstärke zu verdeutlichen. Deshalb lassen sich deren Aussagen nicht, wie Gärtner (1994, 104 u. 247) es tut, ohne weiteres zu Cybeles und Pans Wirken, das sich auf die Cyzicener richtet, in Beziehung setzen und für die

п . Textanalyse

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Menschen verglichen wird, deren Verwirrung aufgrund äußerer Einflüsse schließlich ins Verderben führt, die Kampfesstärke der Argonauten aber in Beziehung zu mächtigen Gewalten gesetzt wird, deutet sich schon vor Beginn des eigentlichen Kampfs an, daß Cyzicus in dieser Auseinandersetzung sterben und die Argonauten (rein faktisch) siegen werden.86 In Entsprechung zu seiner anderen Begründung für die Auslösung des Kampfs und seiner anderen Darstellungsweise fehlt bei Apollonios Rhodios der ganze Komplex, in dem der Weg der Menschen in den Kampf und das Verhalten der Führer dabei als Folge göttlicher Einwirkung detailliert geschildert wird. Im Gegenteil erwähnt Apollonios Rhodios sachlich, daß die Argonauten, als sie wegen der Windverhältnisse nach Kyzikos zurückkehren (AR 1,1015b-1018a), nicht bemerken, daß es sich um dasselbe Beurteilung des Verhältnisses zwischen Menschen und Göttern auswerten. Die Tatsache, daß in einem Gleichnis (3,88b-90a) Götter als der Schlachtreihe der Argonauten nicht gewachsen bezeichnet werden, dient lediglich zur Illustration der Situation ohne Bezug zur Handlung. Deshalb kann man nicht wie Gärtner (1994, 201) eine Verbindung der Stelle zu Venus' Furcht vor Medeas Wirkung (7,394a) sehen, da es sich bei Venus um eine Beschreibung ihres tatsächlichen Verhaltens handelt. - Der Zusammenhang zwischen den in den Gleichnissen vorgestellten Situationen und der tatsächlichen Lage der Argonauten ist dadurch besonders eng, daß einige in den Gleichnissen verwendete Wörter zu dem hier relevanten Wortfeld des Kampfs gehören (vgl. z.B. Martis equi, 3,90; agmine, 3,91; certant, 3,92; vgl. Shelton 1971, 118). Daß Valerius Flaccus Mars' Pferde Terror und Pavor nennt (3,89b-90a), könnte (wie wohl bei Antimachos, fr. 37 Wyss) auf ein Mißverständnis einer Stelle in Homers Ilias (II. 15,119-120) zurückgehen (vgl. Shelton 1971, 117; bes. Poortvliet 1991, 131 zu 2,204ff.) oder durch die Absicht bedingt sein, mit dieser Namensgebung die Atmosphäre des Schreckens zu steigern. Liberman (1997, 84) versteht Martis equi (3,90) nicht als Apposition zu Terrorque Pavorque (3,89), sondern als weiteres Subjekt. Da aber die übrigen Subjekte des Satzes durch пес bzw. -que aneinandergereiht sind (3,88b-89), wäre der Anschluß des letzten ohne verbindende Partikel anstößig. Außerdem wäre das Auftauchen der Personifikationen Terror und Pavor als selbständige Größen neben Göttern und Mitteln ihres Wirkens unmotiviert. 86 Der Sieg wird allerdings kein positives Ereignis sein, weil er im Kampf gegen Freunde errungen und die Argonauten von der Erkenntnis dieser Tatsache niedergeschlagen sein werden (vgl. 3,262-266.362-371; vgl. Burck 1970, 537). Trotzdem kann man wohl ohne genauere Definition dieser unbestimmten Begriffe nicht generell von »Wahnsinn« und »Sinnlosigkeit« des Kampfs sprechen (so Mehmel 1934, 95; Gärtner 1994, 104-106, 129, 165, 212, 286 u.ö., ebenso in bezug auf die Schlacht in Colchis). Denn zum einen verfolgen die Götter mit dem Kampf ein konkretes Ziel (s. u. S. 79f. mit Anm. 141), zum anderen beginnen ihn die Argonauten nicht in (subjektiver) Verblendung aus eigenem Antrieb, sondern werden von den Göttern in eine Lage gebracht, in der sie kämpfen müssen, und setzen sich im Bewußtsein, einen echten Kampf zu führen, ein. Daher ist ihr Kampfeinsatz nicht von vornherein unsinnig. Nachdem die Argonauten erkannt haben, wozu ihr Kampfeseifer geführt hat, werden sie von Schuldgefühlen wegen ihres Verhaltens geplagt. In dem Entsühnungsritual (3,417-458) müssen sie, wie Mopsus' Rede ( 3 , 3 7 7 ^ 1 6 ) zeigt, von den Folgen des objektiven Vergehens und den damit verbundenen Schuldgefühlen befreit werden, aber nicht Sühne leisten, wie Gärtner (1994, 105) meint.

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Α. 1тефге1а110п der Cyzicus-Episode

Land handelt (AR 1,1021-1022a), und auch die Kyzikener wegen der Dunkelheit die Argonauten nicht erkennen, sondern sie für pelasgische Makrieer halten (AR l,1022b-1024). Da dieses Volk im Unterschied zu Valerius Flaccus weder vorher erwähnt noch dessen Verhältnis zu den Kyzikenem an irgendeiner Stelle charakterisiert wird, sind Verwechslung und Einordnung der Ankömmlinge als Feinde unvermutet und unerklärt. Im Sinne einer faktischen Darstellung verwendet Apollonios Rhodios keine Gleichnisse, um zentrale Aspekte der Situation der Menschen zu veranschaulichen und implizit das Ergebnis des Kampfs anzudeuten. An die sachlichen Angaben zur Rückkehr der Argonauten schließt sich unmittelbar der Anfang der Schlachtschilderung an (AR 1,1025-1026), wobei nicht genau gesagt wird, wie es zum Kampf kommt und welche Seite ihn beginnt.87 Ohne die göttliche Einwirkung, die Valerius Flaccus durch die Art der Darstellung in besonderer Weise zur Entlastung der Menschen von Verantwortlichkeit und zur Erklärung furchtbarer Vorgänge einsetzt, und die Einführung einer Provokation als Grund für den Kampfbeginn der Argonauten erscheinen das Handeln der Menschen in einem anderen Licht und das Geschehen nicht so tragisch. Mit der Exposition sind bei Valerius Flaccus Ursachen und Anlaß des Kampfs genannt, die Situation auf beiden Seiten und das Verhalten der Führer beschrieben, außerdem wichtige Motive eingeführt sowie Hinweise auf Charakter und Ausgang des Kampfs gegeben. Auf der Grundlage dieser Voraussetzungen kann die ausführliche Schilderung des eigentlichen nächtlichen Kampfs folgen (3,95-248). An der Schlachtschilderung zeigt sich am deutlichsten, daß Valerius Flaccus im Unterschied zu Apollonios Rhodios über die bloße Wiedergabe der Fakten hinaus Wert auf die Wirkung der Darstellung und die damit zu erzielenden Aussagen legt. Denn Valerius Flaccus hat die Schlachtschilderung vollkommen neu gestaltet und vor allem deren Umfang gegenüber Apollonios Rhodios (AR 1,1025-1052) beträchtlich vergrößert. Valerius Flaccus berichtet von einer großen Zahl verschiedener Kämpfer (14 Argonauten, 36 Cyzicener^í^), läßt die Kampfschilderung aber nicht

87 Vgl. Ferenczi 1995, 151. 88 Diese Anzahl von Kämpfern (vgl. Burck 1970, 545) wird in direkter Auseinandersetzung geschildert. Fucecchi (1996, 121 Anm. 40) spricht von dreizehn Argonauten, wobei er vielleicht den nicht namentlich genannten Führer lason nicht mitrechnet. Strenggenommen müßte zusätzlich Canthus als fünfzehnter Argonaut berücksichtigt werden, da von diesem eine Kampfhandlung indirekt beschrieben wird (3,192b).

II. Textanalyse

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eintönig oder unübersichtlich werden. Denn anstelle des bloßen Katalogs von Kämpfern und der jeweils getöteten Gegner, der bei Apollonios Rhodios einen großen Teil der Schlachtschilderung ausmacht (AR 1,1039b1047a),89 schafft er viele, unterschiedliche, kurze Einzelszenen, bei denen Perspektive der Darstellung und Anzahl der beteiligten Kämpfer wechseln. Diese Einteilung zerreißt die Schlachtschilderung nicht, da die Szenen meist nach dem Prinzip des assoziierenden Übergangs miteinander verbunden sind. Das Verfahren läßt sich auch an anderen Stellen als Valerius Flaccus' darstellungstechnisches Prinzip erkennen (vgl. z.B. 3,19. 32), tritt aber in der Schlachtschilderung aufgrund der zahlreichen kurzen Szenen gehäuft auf. Bei dieser Methode folgen die einzelnen Szenen nicht in einer logischen Abfolge aufeinander, sondern jede schließt sich an die vorhergehende an, indem sie einen Aspekt (z.B. Perspektive, Motiv, handelnde Person) mit ihr gemein hat.90 89 Vgl. Herten 1944/55, 299f. u. 352, zu Kampfschilderungen bei Apollonios Rhodios. Vgl. Knight 1995, 84-91, für eine Analyse der Schlacht auf Kyzikos bei Apollonios Rhodios in Hinblick auf sprachliche und motivische Parallelen zu den Epen Homers. 90 Vgl. Burck 1970, 545-549; Lüthje 1971, 98-100; Raabe 1974, 176-178; Adamietz 1976a, 44f., zum Aufbau der Schlachtschilderung, mit kleinen Abweichungen voneinander im Detail. In jedem Fall scheint Mehmels (1934, 58) Auffassung, daß die Schiachtschilderung aus der ungeordneten Aufzählung der Taten verschiedener Argonauten ohne Einheitlichkeit bestehe, nicht gerechtfertigt (vgl. dazu Kröner 1968, 752 mit Anm. 3). In dieser im Vergleich zu anderen epischen Schlachtschilderungen relativ kurzen Darstellung werden in einmaliger Weise alle Formen der Konfrontation von Kämpfern und alle Ausdrucksmittel auf engem Raum vorgeführt (vgl. Raabe 1974, 194). Dagegen wechseln in der Schilderang der Schlacht in Colchis (6,1-760) zusammenfassende Beschreibungen (vgl. z.B. 6,182-202.241b-264) mit Einzelszenen (vgl. z.B. 6,203-241a.265-278.279-385) ab (vgl. Shey 1968, 171f.), die jeweils etwas länger sind als die in der Schlacht auf Cyzicus, aber nicht so eng miteinander verbunden; der Beginn einer Szene erscheint oft sogar als Neueinsatz (vgl. z.B. 6,203.265.279; vgl. Shelton 1971, 347). Lüthje (1971, 247 u. 258) versucht, Verbindung und Abfolge der Szenen der Schlacht in Colchis durch einen »zeitlichsachlichen« Zusammenhang (1971, 247) der einzelnen Ereignisse zu erklären. Beziehungen dieser Art lassen sich allerdings an manchen Stellen nur durch ein gewisses Maß an Konstraktion herstellen und sind von Natur aus wesentlich lockerer als die, die nach dem Prinzip des assoziierenden Übergangs geschaffen sind. Zur Verbindung der Szenen in der Schlacht auf Cyzicus äußert sich Lüthje nicht. Die sorgfältige Gliederang der Schilderang der Schlacht in Colchis, die Eigler (1988, 70 mit Anm. 30) hervorhebt, bezieht sich auf die Einteilung in große Blöcke (vgl. Raabe 1974, 194f.), aber nicht auf den Anschluß der einzelnen Szenen aneinander. Auch in bezug auf die Schilderang der Schlacht in Colchis ist Mehmels (1934, 58-60) These von der Ungeordnetheit und Uneinheitlichkeit der Darstellung zu extrem, hat jedoch vielleicht etwas mehr Berechtigung als in Hinblick auf die Schlacht auf Cyzicus. - Nach Fucecchi (1996, 120f.) finden sich in den Schlachten auf Cyzicus und in Colchis etliche sehr verbreitete epische Topoi in vergleichbarer Form. Zwischen den Stellen, die er anführt, gibt es jeweils gewisse sprachliche oder motivische Beziehungen, gleich-

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

Außerdem verschiebt Valerius Flaccus den Bericht über Cyzicus' Tod von einer Position als erste genau beschriebene Aktion nach einer allgemeinen Einführung am Anfang der Schilderung (AR 1,1030-1039a) an eine Stelle als letzte Einzelszene vor abschließenden Bemerkungen über die Schlacht als ganze an deren Ende (3,220-242)91 Auf diese Weise wird der Verlauf des Kampfs unter Erzeugung von Spannung und in einer langen dramatischen Steigerung dargestellt, wobei mit Cyzicus' Tod als letzte ausgestaltete Szene und Höhepunkt eine besondere Wirkung erzielt wird. Mit der folgenden Extrapolation (3,243-248), die mit dem Ausblick auf die Vernichtung eines ganzen Volks den Gipfel der Steigerung bildet, endet die Kampfschilderung. Spannung entsteht bei Valerius Flaccus nicht allein durch die Position der Schilderung von Cyzicus' Tod, sondern auch dadurch, daß der Leser aufgrund der Vorgeschichte (3,19-31) vermuten kann, daß Cyzicus in dem Kampf zu Tode kommt, und das auch bei dessen erstem Auftreten in der Schlacht gesagt wird (3,64). So werden Erwartungen erzeugt, die erst am Ende der Schlachtschilderung erfüllt werden. Dagegen muß der Leser bei Apollonios Rhodios nach den unklaren Andeutungen des Orakels (AR l,969b-971) nicht mit Kyzikos' Tod rechnen. Femer erhält die Kampfschilderung dadurch Einheit, daß Valerius Flaccus die Charakteristika des Kampfs, nämlich daß er in der Nacht und zwischen Gastfreunden stattfindet, was Apollonios Rhodios nur als sachliche Information und Erklärung erwähnt (AR l,1015b-1016a.l018a. 1022b-1023a. 1053a), immer wieder hervorhebt sowie durch die Art der Verwendung zu speziellen Effekten und zur Verdeutlichung der Schrecklichkeit des Kampfs ausnutzt. Vor allem zeigt sich das am häufigen Auftauchen des Motivs von Licht und Dunkelheit:^^ Das ganze Schlachtfeld liegt zeitig bestehen deutliche Unterschiede in Verwendungsweise und Bedeutung der Elemente. Daher kann man die Passagen wohl nicht uneingeschränkt auf eine Ebene stellen. 91 Vgl. Langen 1896/97, 205 zu 3,15; Wagner 1939, 152 u. 157f.; Stoessl 1941, 17 u. 24; Happle 1957, 104; Garson 1964, 270; Shey 1968, 86; Burck 1970, 545 u. 549; Venini 1971b, 613; Adamietz 1976a, 44; Eigler 1988, 49. - In diesen Interpretationen wird Cyzicus' Tod mehr oder weniger ausdrücklich gleichzeitig als Höhepunkt und Abschluß der Schlachtschilderung bezeichnet. Jedoch sollte zwischen den beiden Gesichtspunkten unterschieden werden. Denn Cyzicus' Tod als Höhepunkt der Schlachtschilderung ist nicht identisch mit deren Abschluß (vgl. Raabe 1974, 177), da der Kampf nach Cyzicus' Tod ( 3 , 2 3 5 - 2 4 2 ) zunächst noch weitergeht (3,243-248) und erst, als seine Vernichtungsgewalt zu groß zu werden droht ( 3 , 2 4 6 248), von luppiter beendet wird (3,249-250). 9 2 Vgl. Adamietz 1976a, 44 Anm. 30; Schubert 1984, 270; Gärtner 1998, 2 0 9 f . - Bereits auf der Ebene der Wortwahl ist die Häufigkeit der Benutzung von Ausdrücken mit der Bedeutung oder den Assoziationen von Licht und Dunkelheit be-

п. Textanalyse

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im Dunkeln (vgl. bes. 3,206b-211). Daher durchschauen beide Seiten die Situation nicht und kämpfen so in Unwissenheit und wildem Kampfeseifer zum eigenen Verderben. Kurzfristige Helligkeit verhindert zwar das Allerschlimmste, Todesfalle durch Kampf innerhalb der eigenen Partei aufgrund der Dunkelheit, und rettet Castor und Pollux (3,188b-189a) sowie Eiymus (3,194b-196a). In Hinblick auf die beiden gegnerischen Gruppen hat vereinzeltes Auftauchen von Lichtschein jedoch die gegenteilige Wirkung und führt zu einem schnelleren oder furchtbareren Tod der betroffenen Personen (vgl. 3,98b99.115-116.119b.l30-137). Daß Valerius Flaccus das Motiv des Lichts so einsetzt, könnte dadurch beeinflußt sein, daß es in Vergils Aeneis vereinzelt diese Funktion hat (vgl. Aen. 9,373-374. 12,298-301a). Nach der Schlacht ändert sich bei Valerius Flaccus die Wirkung der Lichtverhältnisse: Mit dem Ende der alles verhüllenden Dunkelheit und im Licht des anbrechenden Tages erkennen die Menschen die wahren Umstände und werden mit den von ihnen verübten Taten konfrontiert (3,257-258; vgl. 3,290-292a).

merkenswert (vgl. 3 , 1 8 . 3 0 . 3 2 . 3 3 . 3 7 . 4 4 . 7 9 . 9 6 . 9 8 . 9 9 . 1 0 0 . 1 1 0 . 1 1 6 . 1 1 9 . 1 2 5 . 1 2 7 . 129.131.132.134.137.142.148.151.167.186.188.195.196.206.210.211.214.215. 239.246.257.258; vgl. auch Beschreibung des Verstreichens von Tagen und Nächten beim ersten Aufenthalt der Argonauten durch Formulierungen mit entsprechenden Assoziationen: 2,663.664. 3,1; Fortsetzung des Motivs bei den Bestattungs- und Entsühnungszeremonien: 3 , 3 5 0 . 3 5 1 . 4 2 7 . 4 2 9 . 4 3 7 . 4 5 8 ) . Das Motiv des Lärms ist mit dem des Lichts eng verbunden, weil auch die Wirkung von Lauten durch die Nacht, nämlich die Stille der Nacht, vergrößert wird (vgl. Wagner 1805, 93 zu 3,206f.). Deshalb lassen sich ebenfalls in großer Zahl Wörter nachweisen, die Lärm bezeichnen (vgl. 3 , 1 8 . 4 4 . 4 6 . 5 1 . 5 8 . 6 1 . 8 4 . 9 5 . 1 2 8 . 2 0 7 . 2 1 8 . 2 4 4 ; vgl. auch Fortsetzung des Motivs bei den Bestattungszeremonien; 3,350. 358. 359). - Daß Valerius Flaccus den Kampf auf Cyzicus ebenso wie etliche andere Ereignisse des Epos in der Nacht stattfinden läßt bzw. den Umstand in der Darstellung hervorhebt, um Düsterkeit und Schrecklichkeit des Geschehens zu erhöhen (vgl. Gärtner 1998, 202-220, zur Bedeutung der Tageszeiten bei Valerius Flaccus und der Häufigkeit von Nachtszenen), könnte ein Zeichen seines zeitbedingten manieristischen Stils sein (vgl. z.B. Venini 1972, 14-19; Burck 1979, 220f. Anm. 36a; Stadler 1993, 16 zu 7,1-25 u. 145 zu 7,371-374; bes. Burck 1971, 29 u. passim). - Vgl. Shelton 1971, bes. 116-126, f ü r eine ausführliche Analyse der Formulierungen und Gleichnisse in der Schlachtschilderung. Darin wird nachgewiesen, daß sie so gewählt sind, daß sich auf diese Weise charakteristische Motive wiederholen. Die Untersuchung veranschaulicht durch Zusammenstellung der einschlägigen Stellen einleuchtend die vorkommenden Motive (z.B. Licht und Dunkelheit, Lärm, fehlende Erkenntnis) und die Häufigkeit ihres Auftretens, ist aber bei der Deutung in bezug auf die von Valerius Flaccus beabsichtigte Aussage nicht immer überzeugend. Denn (wie in der ganzen Arbeit) beruht die Interpretation, sofern sie vorgenommen wird, oft allein auf der Mehrdeutigkeit einzelner Wörter, denen als Schlüsselwörtern große Wichtigkeit beigemessen wird.

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

Schließlich führt Valerius Flaccus in der Schilderung der Schlacht selbst wie in der ihrer Vorbereitung (3,43-94) gegenüber Apollonios Rhodios besonders viele Gleichnisse ein,93 die durch die Wahl der Formulierungen in die Darstellung des eigentlichen Geschehens eingepaßt sind. Sie machen die Erzählung anschaulicher und illustrieren zentrale Aspekte des Kampfs, wie Einsatz und Stimmung der Personen oder bevorstehendes Unheil. Ein weiteres zusätzlich geschaffenes Ausdrucksmittel sind die wörtlichen Reden einzelner Argonauten innerhalb der Schlachtschilderung (Tydeus, 3,103-105a; Nestor, 3,143-145a; Hercules, 3,169-170; Telamón, 3,201203a).94 Sie dienen zu deren Auflockerung und führen gleichzeitig die eigene Einstellung der Argonauten, ihre Tatkraft und Kampfbereitschaft klar vor Augen. Zusätzlich zu wörtlichen Reden werden überhaupt bei verschiedenen Argonauten individuell Kampfeinsatz und Kampfweise charakterisiert. Auf diese Weise wirkt einerseits die Schlachtschilderung anschaulicher und realer und wird andererseits Valerius Flaccus' Bild von den Argonauten deutlich, der sie ausdrücklich als einsatzbereit und kampftüchtig darstellt. Besonders trifft das auf Jason zu, der bei Apollonios Rhodios außer bei Kyzikos' Tötung (AR l,1032-1034a) im Kampf nicht genannt wird, bei Valerius Flaccus aber eine Aristie erhält, in der er als dux bezeichnet wird und erfolgreich kämpft (3,150-160). Daraus ergibt sich, daß Valerius Flaccus die Neugestaltung der Schlachtschilderung neben anderen Zwekken auch zur Verdeutlichung seiner von Apollonios Rhodios abweichenden Charakterisierung lasons einsetzt, indem er lason als tüchtigen Kämpfer und seiner Position würdigen Führer zeigt.95 Valerius Flaccus' Ausgestaltung und Erweiterung des nächtlichen Kampfs, einer Seltenheit in der römischen Epik,96 könnte durch Vergils Aeneis angeregt sein, und zwar durch den nächtlichen Kampf in Troia, 93 Vgl. z.B. 3 , 1 0 1 b - 1 0 2 . 1 0 8 - 1 1 0 a . l 3 0 - 1 3 2 . 1 5 1 b - 1 5 2 a . l 6 3 - 1 6 5 a . 2 2 4 b - 2 2 8 . - Die Schilderung der Schlacht auf Cyzicus (3,95-248) und ihrer Vorbereitung (3,43-94) weist die dichteste Folge von Gleichnissen in Valerius Flaccus' gesamtem Epos auf (vgl. Fitch 1976, 120f. mit Anm. 19; Gärtner 1994, 129, 263f., 273). 94 Vgl. Mehmel 1934, 24f.; Wagner 1939, 47f., 112, 119; Brooks 1951, 45; Garson 1964, 270; Burck 1970, 550; Burck 1979, 248; Eigler 1988, 28, 57f., 62f., 78, 133, 135 (in bezug auf Monologe und Klagereden), zur häufigen Verwendung wörtlicher Reden bei Valerius Flaccus im Unterschied zu Apollonios Rhodios (in der Cyzicus-Episode nur AR 1,1092-1102; vgl. Garson 1964, 270; anders Burck 1970, 550; Fucecchi 1996, 120 Anm. 38, die meinen, daß es in der Cyzicus-Episode bei Apollonios Rhodios gar keine wörtliche Rede gebe). 95 S. u. Kap. В III 2 (S. 242ff.) zu lasons Charakterisierung bei Valerius Flaccus. 96 Vgl. Burck 1970, 537.

п . Textanalyse

61

Über den Aeneas bei Dido berichtet {Aen. 2,250-804)9'^ Zusätzlich zu der äußerlichen Übereinstimmung, daß es sich jeweils um einen nächtlichen Kampf handelt, besteht eine Ähnlichkeit in der Struktur des gesamten Szenenkomplexes, weil in beiden Fällen die eine Partei über das Meer zu einem bekannten Land, das sie vorher verlassen hat, zurückkehrt und gegen das dort lebende Volk kämpft. Die Parallelität und die gleichzeitigen Unterschiede im Detail zeigen sich vor allem an einzelnen Passagen mit besonderer thematischer Bedeutung. Vergil erwähnt zu Beginn der Schlachtschilderung, daß die Griechen (absichthch) zum bekannten Strand zurückfahren {Aen. 2,256a). Ebenso betont Valerius Flaccus, daß die Argonauten, als sie wieder nach Cyzicus kommen, in bekanntes Gewässer gelangen (3,42.43). Bei Valerius Flaccus ist die Angabe jedoch keine eher ergänzende Information, die zur Beschreibung einer List in einem gewöhnlichen Krieg dient, sondern die objektive Kennzeichnung eines Zustands, der den Argonauten in dem Moment nicht bewußt und damit die Ursache für die Tragik des Kampfs ist. Denn dessen charakteristisches Merkmal ist bei Valerius Flaccus, daß Freunde ohne ihr Wissen gegeneinander kämpfen. Dagegen taucht das Motiv bei Vergil nur in einer Szene {Aen. 2,429a) als Konsequenz des Waffentausches der Trojaner {Aen. 2,386-398) auf. Außer in der speziellen Situation kennen beide Seiten trotz der Dunkelheit ihre Gegner. Da die Nacht deshalb nicht Voraussetzung für die Art des Kampfs ist, sondern von den Griechen für ihre List ausgenutzt wird, weist Vergü auf diesen besonderen Umstand des Kampfs und sich dadurch ergebende Kampfkonstellationen hin {Aen. 2,250-255.340.360b.397.420b), betont ihn aber nicht so oder setzt ihn in spezifischer Weise ein wie Valerius Flaccus. Über einzelne Beziehungen in den Schlachtschilderungen hinaus besteht eine Verbindung durch deren Position innerhalb der Cyzicus-Episode bzw. Dido-Geschichte, da jeweils auf einen freundlichen Empfang in einem fremden Land ein nächtlicher Kampf folgt. Der entscheidende Unterschied ist natürlich, daß Dido nächtliche Kämpfe, die Aeneas und seine Leute gegen wirkUche Feinde geführt und bereits bewältigt haben, erzählt werden (vgl. Aen. 1,750 - 2,2), während der Kampf in der Cyzicus-Episode real stattfindet. Er wirkt um so tragischer, als sich in ihm die Gastfreunde, die gerade eine enge Verbindung eingegangen sind, gegeneinander richten.

97

Vgl. Wetzel 1957, 18; Burck 1970, 544f.; Burck 1979, 222.

62

Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

Im einzelnen beginnt Valerius Flaccus' Schlachtschilderung (3,95-248) mit einer Art Einführung (3,95-112), in der dargestellt wird, wie sich aus den ersten konkreten Aktionen die eigentliche kämpferische Auseinandersetzung entwickelt. Zunächst (3,95-102) wird das Verhalten beider Seiten am Anfang des Kampfs beschrieben: Die Cyzicener versuchen, sich durch Angriffe zu verteidigen (3,95-96). Dabei deutet das aus der Sicht des Autors hinzugesetzte Epitheton infelix (3,95; vgl. 4,441) bereits an, daß sie nicht erfolgreich sein werden. In Gegensatz zu den Cyzicenern bleiben die Argonauten bewußt ruhig und lassen sich noch nicht zum Angriff bewegen (3,97-98a). Nach der allgemeinen Beschreibung wird die Vorgehensweise am Verhalten von zwei Argonauten exemplifiziert (3,98b-102): In Entsprechung zur Kampftaktik der Gruppe halten sich auch Mopsus und Eurytus zurück (3,100-102), obwohl sie durch die glänzende Erscheinung des Cyziceners Corythus besonders provoziert werden (3,98b-99).®8 Dagegen ist mit at (3,103) Tydeus' Ausruf abgesetzt, in dem dieser seinem Verlangen nach Kampf Ausdruck verleiht (3,103-105a). Damit und mit seinem unmittelbar darauf folgenden Angriff gerade gegen Corythus (3,105b-107), womit er seine Wünsche in die Tat umsetzt, ist die Zurückhaltung der Argonauten beendet. Daher kommt es jetzt zur ersten echten kämpferischen Auseinandersetzung, indem die Argonauten mit gezückten 98 Mit Ule in 3,100 ist woiil nicht Corythus, wie Langen (1896/97, 214 zu 3,99), Shelton (1971, 119) und Liberman (1997, 85) meinen, sondern Eurytus gemeint (vgl. auch Wagner 1805, 88 zu 3,95ff.). Denn dessen Name wird im vorausgehenden Vers (3,99) als letzter und als Subjekt genannt, jedoch keine besondere Auffälligkeit von Mopsus und Eurytus durch Lichtschein, auf die Corythus reagieren könnte, erwähnt. Außerdem wäre ein Verzicht auf Kampf (3,100-1 Ola) bei Corythus im Gesamtzusammenhang der Stelle (vgl. bes. 3,95-96) unverständlich, während Z u r ü c k haltung auf der Seite der Argonauten erst dazu führt, daß Tydeus' mit at (3,103) angeschlossene Aktion in richtigem Gegensatz zum Vorhergehenden steht. Der Kontrast besteht nicht nur darin, daß sich Mopsus und Eurytus passiv verhalten und T y d e u s aktiv wird, sondern wird dadurch verstärkt, daß sie ihre unterschiedlichen Vorgehensweisen gegenüber demselben Gegner zeigen. Ein weiterer Cyzicener, gegen den sich Tydeus richten könnte, wird nämlich nicht genannt. Bei der Bezeichnung Olenii (3,106) ist zwar sprachlich nicht eindeutig, ob es ein Herkunftsadjektiv ist, das sich auf Tydeus bezieht, oder der Name eines Cyziceners. Die Wortstellung (cuspis Olenii, 3,105-106) und die Verwirrung, die entstünde, wenn ein von einer griechischen Stadt abgeleitetes Adjektiv als Name eines Cyziceners verwendet würde, legen jedoch eher nahe, Olenius mit Wagner (1805, 88 zu 3 , 1 0 3 f f ) , Langen (1896/97, 215 zu 3,105), Courtney (1970, 187) und Ehlers (1980, 212) auf Tydeus zu beziehen und nicht wie Liberman (1997, 85) einen Cyzicener Olenius anzunehmen. Für Tydeus, Diomedes' Vater, handelt es sich um eine korrekte und auch sonst belegte Herkunftsangabe (vgl. Olenius Tydeus, Statins, Theb. 1,402). Das Pronomen Ule in 3,106 ist dann eben nur verständlich und hat einen Bezug, wenn auch T y d e u s Corythus gegenübersteht (vgl. Wagner 1805, 88 zu 103ff.; Shelton 1971, 119, zur Identifizierung von Tydeus' Gegner).

п . Textanalyse

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Schwertern die anrennenden Cyzicener abwehren (3,108-1 IIa). Dabei macht das illustrierende Gleichnis (3,108-110a) von vornherein klar, daß das Zusammentreffen für die Cyzicener in der Undurchschaubarkeit der Kampfsituation verderbhch sein wird.99 Entsprechend gibt es auf der Seite der Cyzicener sofort mehrere Gefallene (3,11 lb-112). Nach der Schilderung, wie der Kampf auf dem Schlachtfeld in Gang kommt (3,95-112), findet ein Wechsel der Perspektive zurück in die Stadt (3,113-132) statt.ioo sie befindet sich mittlerweile {interea, 3,113) in gesteigerter Erregung (3,113-114a). Von der Situation in der Stadt ausgehend wird der Weg der drei Cyzicener Genysus (3,114l>-116), Medon (3,117-123) und Phlegyas (3,124-132) aus der Stadt in den Kampf bis zu ihrem Tod auf dem Schlachtfeld beschrieben. Durch die genaueren Angaben über individuelle Schicksale erscheinen die Cyzicener nicht als große unpersönliche Masse, sondern als Menschen, die Mitgefühl verdienen. Mitleid wird besonders dadurch erzeugt, daß einer der Cyzicener (Genysus) sogar mit miserande (3,116) angeredet wird (vgl. auch 3,177b178a).iOi Indem die Apostrophe gerade dann eingefügt ist, als Genysus sich über seine wiedergefundenen Waffen und den damit ermöglichten Eintritt in den Kampf freut (3,116b), und Phlegyas' Eifer mit dem Ausdruck vanus ... clamor (3,128) umschrieben wird, macht Valerius Flaccus bereits deutUch, daß die positiv gezeichneten heldischen Anstrengungen der Cyzicener tragisch erfolglos sein werden. So wird an den ausgewählten Personen, die durch die Verschiedenheit ihrer Stellung und Kampfweise (vgl. 3,122-123) stellvertretend für die Gesamtheit der Cyzicener stehen, beispielhaft ge-

99 Das Gleichnis in 3,108-1 IIa bezieht sich nicht auf Tydeus (so Gärtner 1994, 106), sondern auf eine oder die Schar (manus, 3,111) der Cyzicener (vgl. Langen 1896/97, 215 zu 3,111; Shelton 1971, 119f.). Denn der Anschluß mit ac (3,108) und das neue Subjekt im Hauptsatz ( 3 , 1 1 0 b - l l l a ) machen klar, daß ein Übergang zu anderen Personen stattfindet. Durch die Ausdrücke agmine caeco (3,110) und manus (3,111) im Nachsatz ist eindeutig, daß nicht das Verhalten einer Einzelperson, sondern das einer Gruppe von Menschen illustriert wird. Aus dem Inhalt des Gleichnisses und der anschließend geschilderten realen Situation (3,11 l b - 1 1 2 ) geht hervor, daß nicht die Argonauten (so Liberman 1997, 85), sondern die Cyzicener gemeint sind. Denn die Gruppe, deren Verhalten und Ergehen das Gleichnis illustriert, kommt zu Schaden, und das sind die Cyzicener. 100 Vgl. Adamietz 1976a, 44. 101 Vgl. Lüthje 1971, 98f.; Eigler 1988, 49 mit Anm. 13. - Die Methode, die unterliegenden Gegner durch Apostrophen und mitfühlende Äußerungen des Dichters als bedauernswerte Menschen erscheinen zu lassen, ist auch in der Schilderung der Schlacht in Colchis zu beobachten (vgl. z.B. 6 , 2 1 9 - 2 2 1 a . 6 8 7 - 6 8 9 ; vgl. auch Lüthje 1971, 248 mit Anm. 1). Vergleichbar ist ferner die Apostrophe an lasons jüngeren Bruder bei dessen Ermordung durch Pelias' Leute (l,824-825a).

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Α. ΙηΐβφΓβίαΐίοη der Cyzicus-Episode

zeigt, daß die Cyzicener unter Vernachlässigung aller anderen Dinge einsatzbereit für ihre Stadt kämpfen, ihre Bemühungen aber vergeblich sind. Die Einzelheiten, die bezüglich der drei Cyzicener erwähnt werden, weisen auf charakteristische Merkmale des Kampfs hin und werden durch die Art der Darstellung so in die Erzählung eingebunden, daß sie zu Effekten von besonderer Tragik führen. Bei allen drei Cyzicenern ist das Motiv des Lichts in dieser Weise eingesetzt: Genysus kommt dadurch zum Kampf und schließlich zu Tode, daß er die von seiner Frau zu seinem Schutz versteckten Waffen findet, als das Herdfeuer einmal plötzlich aufflackert (3,114b-116). Medon füUt den Weg in die Schlacht mit dem Glanz des Schwerts, mit dem er sich in Gegensatz zu seiner sonstigen Beschäftigung als Priester bewaffnet hat (3,118b-119). Phlegyas stürmt mit einer Fackel in den Kampf (3,124-125), wodurch er sich vor den anderen Cyzicenern auszeichnet, wie die ausführliche Beschreibung seiner Erscheinung (3,129) und das illustrierende Gleichnis (3,130-132'02) zeigen. Gerade durch seine Fackel stirbt Phlegyas auf schlimme Weise (3,133-137). Ein zusätzliches Motiv ist bei Medon, daß er wegen des Kampfs sein Opfer unvollendet läßt (3,117-118a.l21i03). Die Erwähnung dieser Einzelheit verdeutlicht die traurige Situation der Cyzicener, die ihre (erfolglosen) Versuche zur Verteidigung ihrer Stadt über ihre gewöhnlichen Aktivitäten stellen, so daß die gerade jetzt so nötigen Opfer nicht vollständig vollzogen werden. Die Einführung der Opferhandlung eines Priesters soll vielleicht außerdem andeuten, daß sich die Cyzicener gegenüber den Göttern nichts haben zuschulden kommen lassen, was diese zur Auslösung des Kampfs veranlassen könnte. Die Wiedergabe von Phlegyas' Gedanken bei seinem Eintritt in den Kampf (3,126-127a) zeigt, daß Pans Täuschung (3,45) erfolgreich war und sich die Cyzicener in einen Kampf stürzen, den sie entgegen der Realität für einen der üblichen gegen die Pelasger halten (vgl. bes. de more, 3,126). Der Sachverhalt erscheint hier dadurch in zugespitzter Form, daß Phlegyas sogar gegen einen bestimmten, namentìich benannten Pelasger kämpfen will, der immer sein Gegner ist (3,127b-128).

102 In dem Gleichnis ist mit Typhon (3,130) wohl nicht der an anderen Stellen (vgl. bes. 2,24) erwähnte Gigant gemeint, sondern der personifizierte Taifun (vgl. Langen 1896/97, 217 zu 3,130; Poortvliet 1991, 38 zu 2,23f.; Liberman 1997, 221 zu 3,130). 103 Zwar ist die genaue Deutung von 3,121 auch mit Caussins Konjektur inque omen für das überlieferte in quo omen, die Courtney (1970, 52) und Ehlers (1980, 59) in den Text setzen, nicht einfach. Jedoch ist zu berücksichtigen, daß mit der alternativen Konjektur incólumes, die Liberman (1997, 86 u. 220 zu 3,121) vorschlägt, ein ganz neuer Aspekt eingeführt wird und nicht zu ermitteln ist, ob diese Nuance vom Dichter beabsichtigt ist.

п . Textanalyse

65

Die Beschreibung der Schicksale der drei Cyzicener ist nach dem Gesetz der wachsenden Glieder angeordnet. So ist das Motiv des Lichts beim dritten Cyzicener, Phlegyas, mit der Besonderheit der Fackel relativ ausführlich gestaltet (3,124-125.129-132). Entsprechend wird auch sein Tod, der unmittelbar mit der Fackel zusammenhängt und deshalb auf grauenvolle Weise vor sich geht (3,133-137), nicht nur erwähnt (vgl. 3,123b), sondern als eine Auseinandersetzung zwischen zwei Kämpfern detailliert geschildert. Damit ist der Übergang vom Rückblick in die Stadt (3,113132) zur Wiederaufnahme der Schilderung des Kampfs auf dem Schlachtfeld geschaffen (3,133-137). Gleichzeitig findet ein Wechsel der Perspektive statt, da Phlegyas' Tod durch einen Pfeil von Hercules nicht mehr aus seiner Sicht, sondern aus der seines Gegners berichtet wird.io^ Damit kommt die Seite der Argonauten wieder ins Blickfeld, so daß sich an Hercules' Tat die Darstellung der Aktionen anderer einzelner Argonauten anschließen kann (3,138-172). Zunächst (3,138-149) wird in unterschiedlicher Ausführlichkeit berichtet, wie verschiedene weniger bedeutende Argonauten ihre Gegner töten. Sobald das in umfangreicherer Form geschieht als durch die bloße EJwähnung der Namen der zwei Kontrahenten und des Akts der Tötung (3,138a), werden Kampfeinsatz und Überlegenheit der Argonauten durch die Charakterisierung eines der beiden Kämpfer {ingentem, 3,138; gravis, 3,148; trepido, 3,149) oder die genaue Beschreibung der Art der Tötung (3,139b-142.145b) hervorgehoben. Besonders klar zeigt sich der Kampfeseifer der Argonauten in Nestors Ausruf (3,143-145a): Als ein anderer Argonaut sich der Spolien des erleg-

104 Die Verse 3 , 1 3 3 - 1 3 4 a sind ohne Konjektur nicht verständlich. Dabei kann man entweder mit Heinsius arcu (3,133) durch acri ersetzen, das Courtney (1970, 5 3 ) und Ehlers (1980, 59) in den Text ihrer Ausgaben aufnehmen, mit Poortvliet (1994, 493) totusque (3,133) zu tentoque (Reuss) oder strictoque (Poortvliet) und dann unter Umständen auch hinc (3,133) zu hic ändern oder mit Liberman (1997, 86 u. 221f. zu 3,134) derartige Ausdrücke (stricto, flexo, tento, rapto) für pectore (3,134) einsetzen. Sprachlich und metrisch sind alle Varianten möglich, jedoch führen Poortvliets und Libermans Lösungen durch die Beibehaltung von arcu (3,133) zur Beschreibung eines besser nachvollziehbaren Vorgangs. Denn der explizite Hinweis auf den B o g e n erleichtert das Verständnis von Hercules' Aktionen, weil dann vor den Pfeilen (3,134.135) bereits der Bogen (3,133) genannt ist, und macht den späteren Rückbezug auf diese Stelle (3,161-162), bei dem Pfeile und Bogen erwähnt werden (pharetram aut... arcus, 3,161), deutlicher. Sprachlich ist wohl Libermans Vorschlag vorzuziehen. Poortvliets Konjektur beseitigt nämlich das Problem der Einbeziehung von pectore (3,134) in die Konstruktion des Satzes, wenn man die Angabe nicht etwas unmotiviert als eine genaue Beschreibung der Haltung beim Bogenschießen versteht, nicht, und totus (3,133) kann, wenn es nicht wörtlich, sondern als Illustration der großen, von Hercules eingesetzten Kraft verstanden wird, gehalten werden.

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

ten Feindes bemächtigt (3,141b-142), fühlt Nestor sich veranlaßt, die Gefährten zu ermahnen, die Beute zu vernachlässigen (3,143-144a) und sich mit ganzer Kraft auf den Kampf zu konzentrieren (3,144b-145a). Er verleiht seiner Aufforderung Nachdruck, indem er mit gutem Beispiel vorangeht ( 3 , 1 4 5 b ) . N e s t o r s weiterer Befehl, die zerstreuten Feinde anzugreifen (3,146-147a), führt zu einer Veränderung der Kampfformation der Argonauten (3,147b-148a), die danach nicht mehr in einer geschlossenen Schlachtreihe, sondern als Individuen an unterschiedlichen Stellen des Schlachtfelds kämpfen. Innerhalb der Beschreibung der Taten der Argonauten tritt dann lason mit der Hervorhebung durch ipse (3,150) erstmals seit Beginn des Kampfs (vgl. 3,80b-86a) ins Blickfeld. Als kampftüchtiger und erfolgreicher Führer (dux campi Martisque potens, 3,151) ist lason von den anderen Argonauten abgesetzt. Bei ihm wird nicht nur kurz erwähnt, daß er einen Gegner tötet, sondern er erhält eine Aristie (3,150-160). Darin wird zunächst (3,150-153a) seine Kampfweise charakterisiert: Sie zeichnet sich dadurch aus, daß er, wie der Vergleich zeigt (3,151b-152a; vgl. auch demetit, 3,157),·0'' ohne Beeinträchtigung durch die Umstände des Kampfs besonders schnell in großem Umfang Erfolge erzielt (vgl. auch 6,613-620).

105 Nestors Ausruf (3,143-145a) ist inhaltlich vergleichbar mit einer kurzen Rede von ihm in Homers llias (II. 6,67-71; vgl. Liberman 1997, 223 zu 3,143). Ein Unterschied besteht allerdings darin, daß Nestor in der llias die Aneignung der Beute nur auf später verschiebt und seine Ermahnung nicht mit dem eigenen Beispiel unterstützt. Durch Valerius Flaccus' Gestaltung kommt der Kampfeseifer der Argonauten deutlicher zum Ausdruck. 106 Die Tatsache, daß Jason als Führer und tüchtiger Kämpfer herausgestellt wird, ist lediglich Ausdruck der in der gesamten Erzählung zu beobachtenden Konzentration auf die beiden Führer (s. o. S. 29 mit Anm. 29), die sich in ihrer Stellung und durch ihre Eigenschaften besonders auszeichnen. Die Hervorhebung von lasen bedeutet wohl nicht, wie Gärtner (1994, 105f.) meint, daß Valerius Flaccus ihn als Verantwortlichen für einen unsinnigen Krieg darstellt sowie ihn und seinen Kampfeinsatz dadurch negativ charakterisiert. 107 In Hinblick darauf, daß das Wort caecus innerhalb der Cyzicus-Episode in bezug auf Sachen (vgl. 2,630) die Bedeutung >nicht zu sehen< hat (vgl. Langen 1896/97, 212f. zu 3,79; Smith 1987, 267 zu 2,630), ist es wahrscheinlich, daß die Bedeutung auch bei dem Ausdruck caeca ... hiems (3,151-152) zur Charakterisierung von Jasons Kampfweise vorliegt (anders Liberman 1997, 87). In diesem Sinne soll der Vergleich vermutlich ausdrücken, daß lason so schnell wie ein Sturm, dessen Existenz wegen seiner Plötzlichkeit nicht richtig wahrgenommen werden kann (vgl. Wagner 1805, 91 zu 3,150ff.: »inopina«), über das Schlachtfeld eilt und Gegner tötet. Die Wahl des Worts caeca, das sich innerhalb eines Gleichnisses auf hiems (3,152) bezieht, deutet wohl weniger darauf hin, daß der Kampf, wie Gärtner (1994, 106) meint, auf beiden Seiten in (subjektiver) Verblendung geführt wird (vgl. auch caeca, 3,79; caeco, 3,110, aufgrund des Zusammenhangs in der neutralen Bedeutung >nicht in der Lage zu sehenblind storm< that knows not what it is attacking« (so Shelton 1971, 122) ist ebenfalls nicht überzeugend, da sich lasons Kampfweise im Unterschied zu der von Hercules (vgl. 3 , 1 6 1 - 1 7 2 ) gerade auf einzelne, genau bezeichnete Opfer richtet. 108 Vgl. Wagner 1805, 91 zu 3,156f.; Langen 1896/97, 219 zu 3,156. 109 Daß gerade Hercules eine Aristie erhält (vgl. Adamietz 1970, 33; Gärtner 1994, 107), könnte ferner daran liegen, daß Hercules unter den Argonauten eine g e wisse Sonderstellung einnimmt, exemplarisch die Wirkung des unbedingten Einsatzes von Kampfesmut und Кёфегкгап veranschaulicht und der Kampf auf Cyzicus der einzige gemeinschaftliche aller Argonauten ist, an dem er teilnimmt (vgl. Burck 1970, 546). - Der Kampf gegen die Erdgeborenen ist die einzige Stelle in Apollonios Rhodios' Epos, an der beiläufig Heras Gegnerschaft zu Herakles und ihre Bemühungen, ihm zu schaden, erwähnt werden (AR 1,996-997). Dieses Verhältnis zwi-

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Α. 1п1ефге1а110п der Cyzicus-Episode

Beziehung spricht, daß es sowohl in dem Gleichnis, das bei Apollonios Rhodios die Schilderung des Kampfs gegen die Erdgeborenen beendet (AR 1,1003-1005), als auch in dem, das bei Valerius Flaccus Hercules' Vorgehen während seiner Aristie illustriert (3,163-165a), um das Fällen von Baumstämmen geht.^o Hercules' Wirken an dieser Stelle unterscheidet sich von seinem früheren Eingreifen in den Kampf (3,133-137) dadurch, daß er nicht mehr Pfeil und Bogen, sondern mit fürchterlicher Wirkung die gewohnte Keule benutzt (3,161-162).iii Ebenso wie bei lason (3,150-153a) wird bei Hercules zunächst seine Kampfweise generell charakterisiert (3,161-167a). Hercules kämpft ebenfalls erfolgreich, seine Leistung zeigt sich aber nicht in der Tötung einzelner bestimmter Gegner in schneller Folge und auf ungewöhnliche Weise, sondern in seinem auf dem gesamten Schlachtfeld unterschiedslos verheerenden und brutalen Wüten. Diese Beschaffenheit seines Kampfeinsatzes macht vor allem das Gleichnis deuüich, in dem Hercules' Taten mit dem Abholzen eines ganzen Waldes verglichen werden (3,163-165a). Da die Betonung in Hercules' Aristie mehr auf der umfassenden Vernichtungsgewalt liegt und nicht auf Einzelschicksalen wie bei lason, wird entsprechend nach der allgemeinen Beschreibung der Kampfweise nur noch der Tod e i n e s namentlich benannten Cyziceners gesondert geschildert (3,167b-172).42 Dessen Tod ist jedoch von besonderer Bedeutung. Denn der Ausruf, den Hercules im Eifer des Kampfs sowie im Bewußtsein sehen den beiden wird bei Valerius Flaccus zu einem Motiv mit wichtiger Funktion, das zu lunos Charakterisierung (s. u. S. 189) und zur Motivierung der Hercules betreffenden Ereignisse dient (s. u. S. 252ff. zur Figur von Hercules bei Valerius Flaccus). 110 Vgl. Mooney 1912, 132 zu AR 1,1003; Levin 1971, 100; Fucecchi 1996, 120f.; Green 1997, 223 zu AR 1,1003-11. - Vgl. Shelton 1971, 123f.; Gärtner 1994, 107, zum Gleichnis bei Valerius Flaccus. Es illustriert wohl eher Hercules' Kampfweise und weniger dessen Einstellung zum Kampf, wie Shey (1968, 87f.) annimmt. Shelton (1971, 123) sieht Ähnlichkeiten zwischen dem Gleichnis bei Valerius Flaccus und einem im zweiten Buch von Vergils Aeneis (Aen. 2,626-631), das den Fall von Troia mit dem Fällen eines Baums illustriert. Die von Shelton selbst zugegebenen Unterschiede zwischen den beiden Gleichnissen sind jedoch beträchtlich. 111 Vgl. Burck 1970, 546 mit Anm. 24; Gärtner 1994, 107; vgl. Strand 1972, I I I , zur sprachlichen Formulierung. - In ähnlicher Weise wechselt Hercules die Waffen im Kampf gegen das Seeungeheuer (2,497-539) bei Hesiones Befreiung (vgl. Poortvliet 1991, 276 zu 2,524). Dort setzt er zuerst Pfeil und Bogen (2,521-524), dann Felsbrocken (2,527-530a.533b-534a) und schließlich die Keule (2,534b-535a) ein. 112 Der Name des Cyziceners läßt sich wegen Textverderbnis in 3,167 nicht mehr eindeutig ermitteln (vgl. Liberman 1997, 224 zu 3,167, mit möglichen Namensformen), ist aber für Handlung und Aussage der Episode nicht von Bedeutung.

п . Textanalyse

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seiner großen Kraft und Leistungsfähigkeit ihm gegenüber ausstößt (3,169-170113), führt dazu, daß der Cyzicener niit Schrecken in seinem Mörder einen Freund erkennt (3,171-172). Damit ist er der erste (primus, 3,172), der die tatsächlichen Umstände des Kampfs realisiert, da er aber sofort danach stirbt, kann er die Einsicht nur noch den bereits Toten mitteilen (3,172). Deshalb bleibt sie für die noch lebenden Kämpfer ohne Folgen, da sie sie nicht zur Erkenntnis der Identität der jeweils anderen Partei führt und so den Kampf an diesem Punkt beendet. H'* Durch Hercules' Ausruf in Zusammenhang mit dem Tod eines Cyziceners ist wieder sowohl die Seite der Cyzicener ins Blickfeld gerückt als auch ins Bewußtsein gebracht, daß es sich um einen Kampf zwischen Gastfreunden handelt. Daher kann sich die Schilderung des Schicksals des Cyziceners Omytus anschließen (3,173-177a), das dieses tragische Merkmal des Kampfs veranschaulicht. Denn Omytus, der sich gastfreundlich gegenüber den Argonauten gezeigt hat (3,173-175a), stirbt durch Idmon, der dabei den Helm trägt, den Omytus ihm geschenkt hat (3,175b-177a). Ein Tod, der dadurch besonders schmerzlich ist, daß die Todesumstände in krassem Gegensatz zu charakteristischen Kennzeichen des Lebens der jeweiligen Person stehen, wird noch in zwei weiteren Fällen gezeigt (3,177b-181.182-185): Crenaeus, ein schöner Jüngling, verliert durch den Tod seine auf Jugend und Lebensfrische bemhenden Reize. Sages, ein tüchtiger Kämpfer (vgl. virum, 3,185), fällt durch Hylas, einen Neuling im Kampf (vgl. рмег, 3,183).ii5 113 In Hercules' Ausruf kann man vielleicht mit Courtney (1970, 54) und Liberman (1997, 88 u. 225 zu 3,170, mit anderer Deutung) das überlieferte fatis (3,170) beibehalten und muß nicht mit Ehlers (1980, 61) Kramers Konjektur fatum übernehmen. Denn die Verwendung des Worts fatum zur Bezeichnung der Tötung eines Cyziceners durch Hercules und die Parallelisierung des Ausdrucks mit donum sind im Vergleich zu Valerius Flaccus' sonstigem Sprachgebrauch zumindest ungewöhnlich (s. u. Kap. В II 3 [S. 196ff.] zu Form und Bedeutung von fatum / fata). Außerdem müßten bei dieser Konstruktion mit tuis Angehörige gemeint sein, deren Erwähnung unmotiviert erscheint. Die Ermordung durch Hercules als >für dein Schicksal wunderbares Geschenk< zu bezeichnen, sozusagen als Sondergabe zu dem vorherbestimmten Ablauf (vgl. auch Wagner 1805, 92 zu 3,169f.), brächte Hercules' Siegesgewißheit und Überlegenheit an dieser Stelle deutlicher zum Ausdruck. 114 Vgl. Happle 1957, 104; Burck 1970, 546f. u. 549. - Die Rachegelüste der Manen der Getöteten gegenüber den Argonauten sowie die Notwendigkeit von deren Besänftigung (vgl. 3,407-408.444-458) entstehen möglicherweise, wie Raabe (1974, 157) meint, gerade dadurch, daß die Manen der Getöteten von diesem Cyzicener die Identität ihrer Gegner erfahren. - Ähnliche Form, aber völlig andere Bedeutung und Wirkung aufgrund der anderen Umstände des Kampfs und des anderen Zeitpunkts der Äußerung hat Pollux' Ausruf (4,312b-314) nach seinem Sieg im Faustkampf gegen Amycus (4,252-314). 115 Vgl. Burck 1970, 547.

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Α. 1п1ефге1а110п der Cyzicus-Episode

Hylas' erste Kampfaktion (3,183a) wirkt jedoch nicht uneingeschränkt als großartige Leistung. Denn gleichzeitig wird darauf hingewiesen (3,183b-184), daß Hylas keine Möglichkeit zur weiteren Entwicklung als guter Kämpfer hat, da er durch sein vorherbestimmtes Schicksal und lunos Einfluß beim nächsten Landaufenthalt von den Argonauten getrennt und in eine Wassergottheit verwandelt werden wird (3,521-564; vgl. 1,218b220a. 4,26-29).! Mitten in dem für die Argonauten erfolgreichen Kampf wird auf diese Weise angedeutet, daß auch sie, allerdings in anderer Form als die Cyzicener, dem Willen der Götter unterworfen sind, unter dem sie zu leiden haben werden. Die Andeutung von Hylas' zukünftigem Schicksal lenkt den Blick auf die Seite der Argonauten und erzeugt eine Vorahnung von schrecklichem Geschehen. So folgt darauf das furchtbarste (vgl. nefas, 3,186) Ereignis auf der Seite der Argonauten in dieser Schlacht: Beinahe wäre es unabsichtlich (vgl. nescius, 3,188) zu einem Kampf innerhalb der eigenen Partei, und zwar sogar zwischen den beiden Brüdern Castor und Pollux, gekommen (3,186-189a). Die Gefahr zeigt, daß den Argonauten nicht nur in Zukunft negative Entwicklungen bevorstehen, sondern sie auch jetzt schon damit rechnen müssen. Die Art der Gefährdung weist darauf hin, daß zwischenmenschliche Beziehungen durch die Gegebenheiten der Situation nicht nur im Bereich des Verhältnisses zwischen Gastfreunden, sondern sogar bei noch engeren und intimeren Verbindungen bedroht sind. In diesem Fall gibt es jedoch eine Rettung durch Götter, weil das plötzliche Aufleuchten des den Dioskuren von luppiter verliehenen Lichts (1,568-573; vgl. auch 5,366b-367a) sie voneinander trennt.ii'' Mit dem (indirekten) göttlichen Eingriff wird das Motiv von Licht und Dunkelheit aufgenommen, da durch das Licht (3,188b-189a) die wegen der Finsternis (3,186) entstandene Gefahr abgewendet wird. Statt gegen den eigenen Bruder richtet sich die Kampfgewalt der Dioskuren nun gegen die Cyzicener (3,189b-192). Unter ihren Opfern ist ein Cyzicener, der gerade einen anderen Cyzicener angegriffen hat, wobei dieser durch ein plötzliches Erstrahlen des Mondes, der sich seines Schicksals erbarmt, gerettet wurde ( 3 , 1 9 3 - 1 9 7 ) . ' A u f diese Weise kann in einer geschickten Verbindung das Motiv des Kampfs innerhalb der eigenen Partei und die Rettung durch

116 Vgl. Koch 1955, 151. - S. u. Kap. В И З (S. 196ff.) zur Bedeutung von fatum/fata; Kap. В II 5 (S. 220f.) zur Verwendung solcher Vorausdeutungen. 117 Vgl. Wagner 1805, 92 zu 3,186ff.; Langen 1896/97, 223 zu 3,188; Burck 1970, 547; Lüthje 1971, 99; McGuire 1997, 110. 118 Vgl. Wagner 1805, 93 zu 3,191ff.; Burck 1970, 547; Lüthje 1971, 100. Vgl. Garson 1970, 183, zum Ausdruck brevis ... Luna (3,194-196).

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Licht göttlicher Mächte vor den extremen Auswüchsen des nächtlichen Kampfs kurz hintereinander bei beiden Seiten auftauchen. An die Taten von Castor und Pollux (3,189b-197) schließt sich die Beschreibung von Telamone Wirken in der Schlacht an (3,198-206a). Dessen Vorgehen wird zwar relativ ausführlich geschildert, man kann die Passage aber wohl nicht wie bei lason (3,150-160) und Hercules (3,161-172) als eigentliche Aristie b e z e i c h n e n . ! Denn es spielt nicht so sehr Telamón als Person eine Rolle, indem etwa seine Kampftaktik charakterisiert oder besondere Leistungen hervorgehoben würden, sondern es geht mehr um Eigenschaften und Todesumstände der getöteten Cyzicener sowie deren Bedeutung für den Kampf insgesamt. Bei Opheltes (3,198b-203a) steht wieder der Tod in Beziehung zu einem Merkmal seines Lebens (vgl. 3,173-185): Er war ein Prahler (3,198b),i20 und nach seinem Tod folgt eine selbstgefällige Rede seines Gegners (3,201-203a). Deren Inhalt bezieht sich nicht nur direkt auf Opheltes, sondern in größerem Zusanunenhang auch auf den Kampf als ganzen. In der Rede kommt das Ziel eines gewöhnlichen Kampfs zum Ausdruck, nämlich die Führer der Gegenpartei zu töten, damit die Trauer des gesamten Volks ein möglichst großes Ausmaß erreicht. Dadurch wird indirekt auf die Bedeutung verwiesen, die Cyzicus' Tod für Ablauf und Ende des Kampfs haben wird, und ein Vergleichspunkt geboten für die ungewöhnliche Situation in diesem Fall, in der gerade der Tod von König Cyzicus auch die siegreiche Gruppe betroffen macht. Schließlich muß sogar Phoceus sterben (3,204-206a), der nicht zum Volk der Cyzicener gehört (3,204) und sich mit allen Mitteln die Freundschaft des Königs verschafft hat (3,205-206ai2i). Sein Tod zeigt zum einen die Nutzlosigkeit solcher Methoden und zum anderen die universale Vemichtungsgewalt des Kampfs. Nachdem das Kampfgeschehen bis dahin in vielen Kampfszenen mit Beteiligung zahlreicher einzelner Kämpfer auf beiden Seiten geschildert worden ist, folgt nun eine Zusammenfassung und allgemeine Charakterisierung der Atmosphäre des Kampfs zu diesem Zeitpunkt, indem die 119 Trotzdem sollte man Telamón und nicht Pollux (so Shey 1968, 87f.) als herausragendsten Kämpfer nach lason und Hercules bezeichnen, wenn man einen solchen feststellen will. Denn das entscheidende Kriterium ist wohl eher der jeweilige Erfolg im Kampf sowie Art und Ausführlichkeit von dessen Schilderung als die Anzahl der Stellen, an denen ein Kämpfer innerhalb der Schlachtschilderung erwähnt wird (Pollux: 3,149b. 186-192; Telamón: 3,198-206a). 120 Vgl. Wagner 1805, 93 zu 3,198ff.; Langen 1896/97, 224 zu 3,201. 121 In 3,206 ist aus inhaltlichen Gründen Watts Konjektur pollens für patiens, die Liberman (1997, 89 u. 227 zu 3,206) aufnimmt, zu erwägen.

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Α. 1п1ефге1а110п der Cyzicus-Episode

äußeren Gegebenheiten in den Blick genommen werden (3,206b-211): Die tiefe Nacht macht das Fallen der Getöteten besonders grauenvoll und zahlreich (3,206b-207). Wie das doppelte Gleichnis, in dem die Situation mit zerstörerischen Naturgewalten verglichen wird (3,208-209), zeigt, wird der Kampf durch das Fortschreiten der Nacht noch schrecklicher (3,210a).i22 Aus dieser ständigen Steigerung gibt es keinen Ausweg, da der Kampf nur zu Ende kommen kann, wenn die Nacht vorüber ist. Die (personifizierte) Nacht ist aber zur Mittäterin geworden (conscia, 3,211) und will entgegen dem zu erwartenden natürlichen Ablauf einfach nicht aufhören (3,210b-211).i23 An die zusammenfassende Beschreibung der allgemeinen Kampfsituation (3,206b-211) schließt sich ein Musenanruf (3,212-219124) ац^ ¡д dem unter anderem die düstere Stimmung aufgrund des furchtbaren Geschehens im letzten Teil der Kampfnacht weiter ausgemalt wird. Wie schon zu Beginn der gesamten Kampfschilderung (3,14-18), ruft Valerius Flaccus die Muse zur Unterstützung an, weil es um die Beschreibung besonders grauenvoller Dinge geht. Die Bitte des Dichters an die Muse, mit ihm die 122 Vgl. Burck 1970, 548; Shelton 1971, 124-126. - Bei dem Wort mugitor (3,208) handelt es sich um ein (leicht verständliches) hapax legomenon (vgl. Langen 1896/97, 225 zu 3,208; Garson 1970, 183; Strand 1972, 35). - Meist (vgl. z.B. Shelton 1971, 125; Burck 1979, 209; Gärtner 1994, 251 mit Anm. 34; Ferenczi 1995, 147) wird das Gleichnis als eines von zweien in diesem Epos (vgl. 4 , 5 0 7 - 5 1 1 ) angesehen, die den Ausbruch des Vesuv (79 n. Chr.) erwähnen, und daher zu den wenigen Anspielungen auf zeitgeschichtliche Ereignisse gerechnet, die wichtige Hinweise zur absoluten Datierung der Abfassungszeit zumindest der jeweiligen Passagen geben. In der Nachfolge Langens (1896/97, 225 zu 3,209) weist dagegen Strand (1972, 35f.) überzeugend darauf hin, daß die spezifischen Formulierungen in dem Gleichnis, die sich deutlich von denen in 4,507-511 unterscheiden, nicht den Vesuvausbruch, sondern öfter auftretende Erdbeben (vgl. Beschreibung von Erschütterungen auf Sizilien mit ähnlichen Worten in 2,31b-33; vgl. dazu Poortvliet 1991, 4 2 zu 2,31ff.) schildern (vgl. auch Liberman 1997, XXIf. mit Anm. 47; Perutelli 1997, 16, die keinen Bezug zum Vesuvausbruch herstellen). Strands (1972, 36) Folgerung, daß der Abschnitt deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach vor dem Vesuvausbruch geschrieben worden sei, ist allerdings nicht zwingend (vgl. Liberman 1997, XXII Anm. 47; vgl. Ehlers 1985, 335; Ehlers 1991, 19, zur Möglichkeit der Einfügung von zeitgenössischen Anspielungen unabhängig vom Kompositionsprozeß). Ehlers (1985, 335) bezieht das Gleichnis nicht auf Erdbeben allgemein, sondern auf das von 6 3 (62?) n. Chr., und zählt die Verse deshalb weiterhin zu denen, die zeitgeschichtliche Ereignisse betreffen (1985, 334 mit Anm. 2). Dennoch kann das Gleichnis auch bei der Deutung mit diesem konkreten Erdbeben wegen des großen zeitlichen Abstands nicht für die absolute Datierung der Stelle sowie des Gesamtepos herangezogen werden (vgl. Ehlers 1991, 19). 123 Vgl. Liberman 1997, 77. - Vgl. Shreeves 1978, 68-71, zu Bedeutung und Verwendung von conscius bei Valerius Flaccus und anderen Dichtern. 124 Bei latentem (3,219) im Text von Ehlers' Ausgabe (1980, 62) handelt es sich um einen Druckfehler für labentum (vgl. Kleywegt 1988, 206; Ehlers 1991, 34).

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Behandlung a l l e r Ereignisse fortzusetzen (3,212-213a), deutet an, daß noch nicht das gesamte Geschehen beschrieben ist. Gleichzeitig heißt es, daß nun doch (vgl. 3,210b-211) der Morgen nahe bevorstehe (3,213b215a), und so kommt die Grausamkeit der Kampfsituation wegen der dadurch geschaffenen eigenartigen Atmosphäre und der langen Dauer des Kampfs zu einer absoluten Steigerung, wie die eingeschobenen Bemerkungen über das Verhalten der Kämpfer deutlich machen (3,215b-216a). Damit ist klar, daß das Folgende etwas besonders Furchtbares sein wird, das allerdings nicht näher spezifiziert wird. Aufgrund der Formulierungen (z.B. labentum, 3,219; manes, 3,219) in der zweiten Bitte des Dichters an die Musen (plötzücher Wechsel zum P l u r a l 1 2 5 ) hinsichtlich dessen, was die Musen ihm eröffnen sollen (3,216b219), ist davon auszugehen, daß die zu erwartenden Ereignisse in der Fortsetzung des nächtlichen Kampfs (3,217a.218a) und dem Tod weiterer Menschen (3,218b-219) auf der Seite der Cyzicener (3,219b) bestehen werden. Die extrem verkürzten {tepidi singultibus agri, 3,218) und proleptischen (acti... per litora manes, 3,219) Ausdrücke lassen den Tod nah und grausam e r s c h e i n e n . i 2 6 Vergil verwendet in der Aeneis in einem Musenanruf (Aen. 7,37-45a) eine ähnliche Formulierung (actos ... animis infunerà reges, Aen. 7,42). Indem Valerius Flaccus den Gedanken, daß die Unterlegenen durch ihren mutigen Kampfeinsatz zu Tode kommen, wegläßt und nur das traurige Ergebnis in drastischer Form erwähnt, steigert er die Aussage ins Extreme. Erst mit dieser Veränderung kann sie die von Valerius Flaccus stark herausgearbeitete Furchtbarkeit des Kampfs veranschaulichen. Durch den Musenanruf (3,212-219) ist die darauf folgende Schilderang von Cyzicus' Tod (3,220-242) herausgehoben und von der Beschreibung des allgemeinen Kampfs a b g e s e t z t . · 2 7 Dadurch sowie durch die besondere Tragik und Wichtigkeit des Ereignisses bildet Cyzicus' Tod den Höhe125 Wechsel zwischen Singular und Plural in Anreden an die Muse(n) in Musenanrufen (vgl. z.B. VF 5,217-218a; Vergil, Aen. 9,525) ist ein häufiger in der Dichtung anzutreffendes Phänomen (vgl. Wagner 1805, 160 zu 5,218ff.). 126 Vgl. Garson 1970, ISlf.; Liberman 1997, 229 zu 3,219, zu den Ausdrücken; vgl. Raabe 1974, 156f., zum Motiv. 127 Vgl. Happle 1957, 104. - Wegen dieser Funktion des Musenanrufs und seiner Rolle als Mittel, die Steigerung des Grauens bei fortschreitender Nacht unmittelbar vor Cyzicus' Tod hervorzuheben, wird eine Einordnung als wiederholende Beschreibung mit Übergangscharakter (so Shelton 1971, 126) seiner Bedeutung nicht gerecht. Überhaupt scheinen manche Schlußfolgerungen Sheltons (1971, 126f.) über die von Valerius Flaccus erstrebte Aussage auf der Basis einzelner Formulierungen des Musenanrufs etwas weitgehend.

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

punkt der Kampfdarstellung. Nachdem der Musenanruf die Stimmung bereits vorbereitet hat, setzt die Erzählung mit Cyzicus' namentlicher Nennung ein, die betont am Versanfang (3,220) steht. Nach der Beschreibung seiner Motivierung zum Kampf zu Beginn des gesamten Kampfgeschehens (3,58-73) taucht Cyzicus hier am Ende zum ersten Mal während des eigentlichen Kampfs auf. Auf diese Weise ist die Kampfschilderung von der Gestalt des Cyzicus g e r a h m t . G l e i c h bei seiner erneuten Erwähnung wird klargemacht, daß sein Tod kurz bevorsteht und er ihn mit seinem Kampf nur hinauszögert (3,220-221a; vgl. bes. vanis, 3,220·, fata trahens, 3,221129). Aufgrund göttlicher Beeinflussung (ira deum, 3,224)130 glaubt Cyzicus, erfolgreich gegen die Pelasger zu kämpfen (3,221b-224ai3i). Daß sein Kampfeinsatz in Wirklichkeit ohne Erfolg sein wird, zeigt das Gleichnis, in dem Cyzicus mit Coeus verglichen wird (3,224b-228). Da es nicht dem Willen der Götter entsprach, hoffte Coeus erfolg- und (objektiv gesehen) sinnlos (amens, 3,226) auf ein besseres Schicksal und konnte trotz gewisser eigener Leistungen (3,227b) keine Veränderung seiner Lage erreichen. 132 Auch Cyzicus wird trotz allen Einsatzes gegen den Willen der Götter nicht überleben können, was ihm aber nicht bewußt ist.

128 Vgl. Burck 1970, 548; Venini 1971b, 613; Adamietz 1976a, 44; Schenk 1991, 151. 129 Der Ausdruck fata trahens (3,221) wird teils als >dein Tod nahe< (so Wagner 1805, 94 zu 3,220-242) und teils als >den Tod hinauszögernd< (so Langen 1896/97, 226 zu 3,221; Shelton 1971, 127; Liberman 1997, 90) aufgefaßt. In Hinblick auf Vers 1,764, in dem fata traham >ich werde den Tod hinauszögem< heißt, ist es wahrscheinlich, daß die Formulierung auch hier in dem Sinne verwendet ist. Im konkreten Zusammenhang spricht außerdem für die Annahme dieser Bedeutung, daß sie zu einer Steigerung von Ironie und Tragik der Szene führt: Cyzicus läuft in wildem Engagement herum und versucht, die Feinde abzuwehren. Sein Einsatz führt jedoch zu keinem positiven Ergebnis, sondern ist vergebliches Bemühen. Cyzicus erzielt keine Kampferfolge, sondern zögert nur seinen Tod hinaus. 130 Vgl. Wagner 1805, 94 zu 3,220-242; Adamietz 1976a, 44. - Wie der Ausdruck ira deum (3,224) zeigt, entstehen Cyzicus' falsche Vorstellungen nicht durch (subjektive) Verblendung, wie Schenk (1991, 150) annimmt, sondern durch göttliche Einwirkung von außen. 131 Die Lesart von Vers 3,223 ist unsicher, und es gibt eine Reihe von Konjekturen (vgl. Liberman 1997, 229 zu 3,223). In jedem Fall bringt der Vers Cyzicus' überschwengliche Freude, die auf falschen Voraussetzungen beruht, zum Ausdruck. Es ist jedoch problematisch, ein durch Emendation entstandenes Wort (aestus) als besonders passend und aussagekräftig ausführlich auszuwerten, wie Shelton (1971, 128) es tut. 132 Vgl. Burck 1970, 548; Lüthje 1971, 101; Shelton 1971, 128f.; Adamietz 1976a, 44; Gärtner 1994, 242; Hershkowitz 1998, 173, zum Gleichnis, mit unterschiedlichen Deutungen je nach dem zugrundeliegenden Bild von Cyzicus. - Auch wenn es ein relativ weitgehender Eingriff ist, solhe man vielleicht in 3,228 Libermans

п . Textanalyse

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Im Gegenteil, wegen des göttlichen Einflusses zu Beginn (3,58-73) ist Cyzicus von Kampfleidenschaft gepackt und setzt sich eifrig für den Kampf ein (3,220.229-230a). In dieser Stimmung ärgert ihn die Trägheit seiner Leute. Deshalb tadelt er deren fehlende Tüchtigkeit im Kampf im Vergleich zu ihrer Bereitschaft, die Forderungen des Cybele-Rituals zu erfüllen und dabei Kampfwaffen einsatzbereit zu verwenden (3,230-234). Mit diesen Vorwürfen kritisiert Cyzicus das mangelnde Engagement seiner Leute in der konkreten Situation des Kampfs, aber nicht generell deren Teilnahme am Cybele-Ritual, das Cybele-Ritual als solches oder gar Cybele selbst. 133 Cybeles erneute Erwähnung bringt die Gründe für den Kampf wieder ins Bewußtsein. Außerdem kann sich Cybele durch Cyzicus' Ausruf (3,230-234) indirekt angesprochen und wiederum beleidigt fühlen (vgl. 3,19-31). Vergleichbar mit Cyzicus' Ausruf ist Tarchons mahnende Rede an seine Leute in Vergils Aenew {Aen. 11,732-740), 134 in der er deren Furcht und Feigheit ihrer Bereitwilligkeit bei religiösen Zeremonien gegenüberstellt (Aen. 11,736-740), ohne allerdings das Cybele-Ritual direkt zu erwähnen. Bei Valerius Flaccus weist die antreibende Rede eine engere Beziehung zum unmittelbaren Zusammenhang der Situation auf. Denn Tarchon kritisiert mehr die Gier nach den mit religiösen Opfern verbundenen Eß- und Trinkgelagen (Aen. 11,738-740), während Cyzicus seinen Leuten die Bereitschaft, beim Ritual Schwerter zu verwenden und sich Wunden zuzufügen, vorhält (3,233-234). Mit dem Vorwurf wird der Gegensatz zwischen (1997, 90 u. 229f. zu 3,228) Vorschlag aufnehmen und tergeminus anstelle von Eumenidum lesen. Denn ein Hund der Eumeniden ist sonst nicht bekannt, und es gibt keinen Hinweis darauf, daß es hier um etwas Ungewöhnliches geht. 133 Cyzicus' Ausruf ist also keine direkte Kränkung von Cybele (so Wagner 1805, 95 zu 3,235ff.; Burck 1970, 548) und damit ein erneutes Fehlverhalten gegenüber der Göttin, das Cyzicus bewußt aus Überheblichkeit und Geringschätzung begeht, wie oft angenommen wird (vgl. Happle 1957, 105 u. 106; Lüthje 1971, lOlf.; Eigler 1988, 63 mit Anm. 27; Liberman 1997, 77 mit Anm. 1 u. 230 zu 3,237; Hershkowitz 1998, 173), sondern Cyzicus äußert sich in Hitze und Leidenschaft des Kampfs ohne Bewußtsein eines Frevels (so auch Burck 1970, 548). 134 Burck (1970, 548) vergleicht Cyzicus' Ermahnung an seine Leute mit Androgeos' Rede, mit der dieser im Kampf in Troia seine vermeintlichen griechischen Mitkämpfer antreibt (Aen. 2,373-375). Gemeinsam ist dieser Rede mit der von Cyzicus, daß der Sprecher über die Trägheit seiner Leute ungehalten ist und sie zu eifrigerem Kampfeinsatz bewegen will. Die Verbindungen zwischen Cyzicus' und Tarchons Ausruf sind jedoch wegen der inhaltlichen Berührung enger und aussagekräftiger. Hershkowitz (1998, 173 Anm. 262) verweist als Parallele unter anderem auf die Verspottung der Trojaner durch Numanus Remulus (Aen. 9,598-620). Dieser erwähnt zwar ebenfalls das Cybele-Ritual (Aen. 9,617-620), aber in anderem Sinne: Er schlägt es ironisch den Trojanern als Beschäftigung vor, die für sie angemessener sei als Kampf.

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Α. 1п1ефге1а11оп der Cyzicus-Episode

dem momentanen Verhalten der Kämpfer und dem bei religiösen Zeremonien deutlicher, da sie im Ritual gerade das machen, was sie jetzt tun sollten. Entscheidender ist, daß es sich bei Cyzicus' Rede nicht um einen isolierten Ausruf zur Anfeuerung der Kämpfer handelt, sondern daß sie thematisch für die Aussage der gesamten Episode von Bedeutung ist. Denn durch Inhalt und Position bildet sie einen zentralen Bestandteil von Cyzicus' Schicksal, indem sie dazu beiträgt, in Rückbezug auf die Vorgeschichte (3,19-31) die Gründe für seinen Tod vor Augen zu führen. Ursache und Sinn von Cyzicus' Tod als Rache der Cybele werden nämhch dadurch besonders offensichtlich, daß Cyzicus noch während seiner Worte auf Veranlassung der Göttin inumine divae, 3,235) geschwächt wird und ihm gleichzeitig deren charakteristische Merkmale erscheinen (3,235-238135). Cyzicus selbst erhält durch die Vision von Löwen als Cybele-Löwen (3,237b) die Möglichkeit, seinen Tod mit seiner früheren Tötung eines Löwen (3,22-26) in Zusammenhang zu bringen und so zu erkennen, daß er durch Cybeles Rache sterben muß. Den anderen Menschen des Epos wird die Beziehung und damit der Grand für Cyzicus' Tod nicht deutlich.136 Cyzicus' faktischer Tod wird durch einen Treffer von lasons Lanze ausgelöst, was sachUch kurz erwähnt, aber nicht als kämpferische Auseinandersetzung ausgestaltet ist (3,239-241a). Denn lasons Lanzenwurf ist lediglich das Instrument, das den göttlichen Plan auf menschlicher Ebene zu Ende bringt, aber nicht in strengem Sinne die Todesursache, da Cyzicus vorher schon von der Göttin überwältigt worden ist (3,235-237a).i37 Damit der Grand für Cyzicus' Tod klar herauskommt, wird die Schilderang seines Todes mit dem Wunsch beendet, daß Cyzicus doch lüe gejagt hätte (3,241b-242) und so nie in Konflikt mit der Göttin geraten wäre. Wer diesen Wunsch äußert, wird nicht gesagt, jedoch muß man aufgrand der 135 Vgl. Langen 1896/97, 229 zu 3,238; Strand 1972, 11, zur Bedeutung des Ausdrucks inter nubila (3,238). 136 Vgl. Wagner 1805, 95 zu 3,235ff.; Langen 1896/97, 229 zu 3,238; Garson 1964, 269; Burck 1971, 85; Adamietz 1976a, 45 u. 46; Schubert 1984, 271 mit Anm. 14; Steinkühler 1989, 294; Liberman 1997, 230 zu 3,237; Hershkowitz 1998, 173. 137 Vgl. Happle 1957, 105f.; Burck 1970, 548; Adamietz 1976a, 45; Hershkowitz 1998, 173f. - Deshalb kann man wohl nicht, wie Burck es an anderer Stelle (1970, 545) tut, davon sprechen, daß es bei Cyzicus' Tod zu einem Zweikampf zwischen ihm und lason komme. - Vergleichbar und durch die Formulierung noch deutlicher zum Ausdruck gebracht ist lasons Rolle bei Colaxes' Tod (6,644b-645) in der Schlacht in Colchis (6,1-760). Auch in diesem Fall führt lason die faktische Tötung durch (6,645b.653b-655), nachdem luppiter vorher beschlossen hat, Colaxes' auf diesen Zeitpunkt festgelegten Tod nicht abzuwenden ( 6 , 6 2 1 - 6 3 0 . 6 4 4 b - 6 4 5 a . 652b-653a).

п. Textanalyse

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Form des Verbs in der dritten Person Singular im Konjunktiv Imperfekt (vellet, 3,241) und des reflexiven Pronomens sibi (3,242) sowie von Inhalt und Zusammenhang davon ausgehen, daß er vom Dichter ausgesprochen, aber für Cyzicus postuliert wird. Dabei wird angenommen, daß Cyzicus sich nach Erkenntnis seiner Todesursache etwas Derartiges wünschte, wenn er noch zu Wünschen in der Lage wäre. Die Situation von Cyzicus und lason bei Cyzicus' Tod führt klar vor Augen, daß in Valerius Flaccus' Version nicht nur das Geschehen als ganzes tragisch ist, sondern vor allem das Schicksal der Protagonisten: Cyzicus vergeht sich in Unwissenheit an einer Göttin, erkennt den Fehler nicht und wird trotzdem unmäßig bestraft. lason wird von den Göttern dazu veranlaßt, in Unwissenheit seinen Gastfreund zu töten, erfährt die Ursachen für die Ereignisse nicht, wird dann von dem Bewußtsein, eine furchtbare Tat begangen zu haben, überwältigt und kann erst nach einer Entsühnungszeremonie die Argofahrt fortsetzen. ^ 38 Die Tragik von Cyzicus' Tod zeigt sich besonders im Vergleich mit Vergils Dido-Geschichte unter dem Aspekt, daß der Tod des Gastgebers Bestandteil der in beiden Episoden parallelen Handlungsstruktur ist. Bei formaler Übereinstimmung bestehen nämhch auffálUge und aussagekräftige Unterschiede in der jeweiligen Motivation und Funktion. Dido wird (unabhängig von der Art der Präsentation dieses Vorgangs im einzelnen) deshalb in Liebe zu Aeneas versetzt, weil die Götter für ihn sorgen sowie ihm einen ungefährlichen und angenehmen Aufenthalt ermöglichen wollen (vgl. Aen. 1,297-304.657-662). Aufgrund ihrer Zuneigung gerät Dido, als Aeneas sie später verläßt, vor Wut und Trauer außer sich (Aen. 4,296-303) und begeht schließlich Selbstmord (Aen. 4,450-705). Bei Cyzicus wird sein Gastfreund, zu dem er eine enge Beziehung hat, direkt zu seinem unfreiwilligen und unwissenden Mörder gemacht. Dabei 138 Man kann wohl nicht entweder Cyzicus (so Garson 1964, 269f.) oder lason (so Happle 1957, 107 u. 114-116) als tragische Hauptfigur ansehen, sondern muß feststellen, daß das Schicksal beider tragische Züge aufweist (vgl. Eigler 1988, 63). Vgl. Ferenczi 1995, 151, zur Unwissenheit der beiden Hauptfiguren bei ihren jeweiligen Taten. - In Entsprechung zu seinem Verständnis vorn Hauptthema des Epos hält Adamietz (1976a, 45f.) es für ein Hauptziel der Cyzicus-Episode zu verdeutlichen, daß die Möglichkeit tragischen Irrtums, wie er sich in der Tötung ihrer Gastfreunde durch die Argonauten zeigt, und das daraus folgende Leid Teil des heldischen Lebens seien. Da aber hervorgehoben wird, daß Götter das Geschehen auslösen, sowie vergleichbare furchtbare und leidvolle Ereignisse auch Personen widerfahren, die nicht als >Helden< zu bezeichnen sind, ist die Absicht vielleicht eher, allgemein die wenig fürsorgliche Haltung der Götter sowie die verhängnisvolle Wirkung von göttlichem Einfluß für die Menschen vor Augen zu führen (s. u. Kap. В II 4 [S. 200ff.] u. В III 2 [S. 251f.]).

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

hat lason auch in einer subjektiven Deutung, die Didos Auffassung von Aeneas' Verhalten entspräche (vgl. Aen. 4,305-330.365-387), gegenüber seinem Gastfreund keine Schuld oder ein unmoralisches Verhalten aufzuweisen, wird aber hinterher wegen der von den Göttern ausgelösten Tat von Schuldgefühlen geplagt (bes. 3,362-371). Dagegen verspürt Aeneas zwar Trauer darüber, daß er Didos Tod veranlaßt hat (vgl. Aen. 5,4b-7. 6,455-458a), fühlt sich jedoch in seinem Verhalten entschuldigt und gerechtfertigt, da er Dido nicht aus freiem Willen, sondern wegen seiner ihm von den Göttern übertragenen Veφflichtungen verläßt (vgl. Aen. 4,351361. 6,458b-464). Denn die göttliche Einwirkung, die indirekt Didos Tod herbeiführt, besteht darin, daß Aeneas an die Fortsetzung seiner zuversichtlichen Mission mit einem positiven, weiterführenden Ziel erinnert wird (vgl. Aen. 4,265278). Daher hat Didos Tod, so tragisch er auch ist, eine Funktion in den umfassenden göttlichen Plänen. Cyzicus' Tod dient allein der Befriedigung der persönlichen und egoistischen Racheabsichten einer einzelnen Göttin, die lason als Instrument für ihre Rache einsetzt. Cyzicus' Tod ereignet sich nur in Zusammenhang mit der Argofahrt, weil die Göttin zu dem Zeitpunkt eine günstige Gelegenheit gegeben sieht, ihre Rachepläne in die Tat umzusetzen. Weitere Beziehungen des Geschehens auf Cyzicus zur Argofahrt im Rahmen des Gehalts des Gesamtwerks ergeben sich lediglich durch die Form der Ausführung der Rache und die Art der Darstellung. Nach Cyzicus' Tod (3,235-242) kommt die Kampfschilderung mit einer kurzen Zusammenfassung, die die Kampfsituation insgesamt und deren mögliche Folgen charakterisiert, zu Ende (3,243-248). Der Anschluß der generellen Aussagen mit talia (3,243) zeigt, daß die vorher beschriebenen Einzelschicksale nur Beispiele sind und ähnliches Morden überall auf dem Schlachtfeld stattfindet (3,243-244a). Außerdem werden die spezifischen Charakteristika des Kampfs noch einmal hervorgehoben. Denn außer der Erwähnung des allgemeinen Tötens wird geschildert, wie die Kämpfer versuchen, durch Geräusche die anderen Mitglieder ihrer Partei zu ermitteln (3,244b-245). Daß auf eine solche Methode zurückgegriffen werden muß, macht die besondere Situation aufgrund des Nachtkampfs deutlich. Die Wahl der Formulierungen, vor allem des Ausdrucks sodi (3,245), weist in tragischer bonie darauf hin, daß hier Freunde gegeneinander kämpfen. Denn in dem speziellen Fall sind alle Menschen, deren Identität die Kämpfer feststellen wollen, Gefährten.i39

п . Textanalyse

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Nach dem Überblick über typische Aspekte des Kampfgeschehens wird die Beschreibung des schrecklichen Zustands nicht mehr fortgesetzt, sondern eine Projektion in die Zukunft vorgenommen (3,246-248), die von der momentanen Lage ausgeht: Eine Fortdauer des Kampfs bis Sonnenaufgang, d.h. durch die gesamte Periode der Dunkelheit hindurch (3,246), hätte zur Auslöschung eines ganzen Volks geführt (3,247-248). Der Ausdruck seros ... in ortus (3,246) spielt wieder (vgl. 3,210b-211) darauf an, daß die Nacht des Kampfs ungewöhnlich lang ist und so reichlich Raum zum Töten bietet. Der vielfältig formulierte Gedanke der Vernichtung eines ganzen Volks (3,247-248) wird unter anderem dadurch ausgedrückt, daß dann die Mütter in der Stadt einsam wären (3,247b). Damit ist klar, daß die Gefahr des Untergangs die Cyzicener betrifft,i^o da eine solche Situation für die Argonauten auf Cyzicus nicht eintreten kann. Eine derartige Extrapolation am Ende der Kampfschilderung bringt Vemichtungsgewalt und Grausamkeit des Kampfs abschUeßend noch einmal deutHch zum Ausdruck. Um die fatale Konsequenz der Auslöschung eines ganzen Volks (3,246248) zu verhindern, entschließt sich luppiter, den Kampf zu dem Zeitpunkt (tum, 3,249), als er zu vernichtend zu werden droht und durch Cyzicus' Tod (3,249b) das Hauptziel, das Cybele mit ihm verfolgt, erreicht ist, durch Veränderung der/αία zu beenden (3,249-253).i^i luppiter hat sich zwar

139 Vgl. Shelton 1971, 130. 140 Der Bezug auf die Cyzicener liegt zusätzlich deshalb nahe, weil im Verlauf des Kampfs zahlreiche Cyzicener fallen, aber kein Argonaut. Dieser Sachverhalt ist verwunderlich (vgl. Langen 1896/97, 229 zu 3,246), könnte aber mit der von Valerius Raccus befolgten Tradition, nach der die Argonauten Abkömmlinge von Göttern sind, zu erklären sein (vgl. Burck 1970, 549 Anm. 35; vgl. Frankel 1968, 129f. zu AR 1,1039-1048, zu demselben Sachverhalt in dessen Darstellung). In Widerspruch dazu steht allerdings, daß später Idmon (vgl. l,238b-239.360-361. 5,2-3) und Tiphys (vgl. 5,13-29a) durch Krankheit sterben sowie Canthus (vgl. 1,451-452a. 6,317-342a. 7,422) und Iphis (vgl. 1,441^43. 7,423) in der Schlacht in Colchis fallen. Deshalb ist das Überleben aller Argonauten in der Schlacht auf Cyzicus bei Valerius Flaccus vielleicht auch durch dessen Darstellungs- und Aussageabsicht bedingt. Auf diese Weise ist nämlich das Ergebnis der von den Argonauten verübten Taten für sie furchtbarer und konzentriert sich alle Trauer auf die toten Cyzicener. 141 Vgl. Happle 1957, 109; Adamietz 1976a, 44 u. 114; Hardie 1993, 87; Franchet d'Espèrey 1998, 215. - Aus der Formulierung tempus iam rege perempto flectere fata (3,249-250) mit dem nicht eindeutig festgelegten Sinnverhältnis eines ablativus absolutus\ä&t sich wohl nicht mit Lüthje (1971, 103; ähnlich Thuile 1980, 68) schließen, daß das Ziel des Kampfs in Cyzicus' Tod liegt und luppiter den Kampf deshalb danach beendet. Sondern luppiter bringt den Kampf zum Abschluß, um extremes Unglück zu verhindern, allerdings nachdem mit Cyzicus' Tod das von Cybele mit dem Kampf verfolgte Hauptziel erreicht ist. Damit ist eine (wenn vielleicht

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

ШП Auslösung und Verlauf des Kampfs nicht gekümmert und zugelassen, daß Cybele nach ihren persönlichen Wünschen ihre Rachegelüste befriedigt, verhindert jetzt aber im letzten Moment (vgl. supremam ... opem, 3,251142) unnötiges und extremes Leid für die unschuldigen Cyzicener. Dagegen wird der Kampf bei Apollonios Rhodios, wie er nicht durch göttliches Wirken ausgelöst wird, so auch nicht auf diese Weise beendet. Sondern er geht irgendwann, nachdem die Kyzikener beträchtliche Verluste erlitten haben, mit deren Flucht in die Stadt zu Ende (AR 1,10491052). Bei Valerius Flaccus läßt luppiter als Zeichen für den Schluß des Kampfs ein gewaltiges Donnern ertönen (3,251-252a), das sogar bei den für Krieg und Schrecken zuständigen Göttern Furcht erregt (3,252b-253a). Der Donner führt sofort (tunc, 3,253) das Ende der Kampfaktionen herbei, was zunächst bildhaft ausgedrückt (3,253b) und anschließend durch das unmittelbar dadurch ausgelöste tatsächliche Verhalten der Menschen erläutert wird (3,254-256). 143 Vergleichbar mit der Reaktion der Kriegsgötter (3,252b-253a) geraten sowohl die Cyzicener als auch die Argonauten in Angst (vgl. metu, 3,254; anxia, 3,256). Auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird, muß die plötzliche Furcht wohl als Ergebnis von luppiters Eingreifen bei den Menschen verstanden werden. 144

auch für die Vorstellung einer idealen luppitergestalt unbefriedigende) Antwort auf die von Burck (1970, 556f.) gestellte Frage nach den Gründen für den Zeitpunkt der Beendigung des Kampfs gegeben (s. u. Kap. В II 1 [S. 178ff.] zu Valerius Flaccus' luppiter). Auf Burcks Frage nach dem Sinn des Kampfs für luppiter läßt sich allerdings keine durch den Wortlaut des Texts explizit gemachte Antwort finden. Es ist jedoch anzunehmen, daß luppiter ihn als ersten Schritt zur Verwirklichung der in seinem >Weltenplan< (1,531-560) vorgesehenen Entwicklungen befürwortet. - Der Ausdruck fata (3,250) bezieht sich hier nicht auf das Schicksal eines Menschen, sondern auf eine Bestimmung in weiterem Rahmen (s. u. Kap. В И З [S. 196ff.]). Trotzdem soll mit der Formulierung flectere fata (3,250) offenbar lediglich konkret ausgedrückt werden, daß luppiter den Ablauf der fata so verändert, daß der Kampf endet, und nicht, daß jetzt ein umfassender Fatumkomplex abgeschlossen und von anderen fata fortgesetzt werde, wie Schubert (1984, 157f.) meint. 142 Vgl. Langen 1896/97, 230 zu 3,251, zur Bedeutung des Ausdrucks. 143 Kröner (1968, 738 mit Anm. 2) weist darauf hin, daß mit continuo bei Valerius Flaccus oft der schnelle Einsatz einer Handlung betont werde (vgl. z.B. 1,576. 3,459 [vgl. dazu Koch 1955, 122]. 3,581. 6,184). So wird mit diesem Wort hier (3,254) die schnelle Wirkung von luppiters Eingreifen auf die Aktionen der Menschen hervorgehoben. - Da nicht ganz klar ist, was Valerius Flaccus sich unter einer porta trucis ... infera belli (3,253) vorstellt, ist zu erwägen, mit Liberman (1997, 91 u. 231 zu 3,253) Schräders Konjektur leti imbelli (3,253) aufzunehmen. 144 Für Langens (1896/97, 230 zu 3,256) Annahme, daß die Furcht der Argonauten durch Angst vor einem Hinterhalt der plötzlich Fliehenden ausgelöst sei, finden sich im Text keine Anhaltspunkte.

п . Textanalyse

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Die Cyzicener fliehen daraufhin, weil ihnen das die einzige Möglichkeit zur Rettung zu sein scheint (3,254-255a); die Argonauten verfolgen sie nicht (3,255b-256). Das Verhalten der Argonauten wird so beschrieben, als käme es aufgrund eigener Entscheidung und persönlicher Gefühle zustande (vgl. bes. mens, 3,256). Die Formulierung soll aber wohl nur verdeutlichen, wie sich aus der Wirkung von luppiters Einflußnahme auf menschlicher Ebene konkrete Taten entwickeln und damit die ungewöhnliche und unerwartete Tatsache erklären, daß die bis dahin erfolgreichen Argonauten die fliehenden Gegner nicht verfolgen. Trotz ihrer Unsicherheit stehen die Argonauten bis zu diesem Moment als überlegene Sieger da, die sich kampftüchtig eingesetzt haben (vgl. virtus, 3,256). Gleich darauf leitet ecce (3,257) die neue Wendung des Geschehens ein. Da es nun hell wird, d.h., das die Schlacht charakterisierende, alles bedekkende Dunkel weicht, realisieren die Argonauten zu ihrem Entsetzen, daß sie sich in bekannter Umgebung befinden (3,257-258), und damit auch, was für Taten sie begangen haben bzw. zu welchen Folgen ihr mutiges Wirken im Kampf aufgrund der äußeren Umstände geführt hat (vgl. nefas, 3 . 2 5 8 ) . S t e l l v e r t r e t e n d für alle formuliert gerade Tiphys, dessen Einschlafen infolge göttlichen Einflusses die Voraussetzungen für die Katastrophe geschaffen hat (3,39^2), die Reaktion der bestürzten (attonito, 3.259) Argonauten auf diese Erkenntnis (3,259-261)."47 Tiphys ist sofort klar, daß sein Einschlafen und damit der schreckliche Kampf durch göttliche Einwirkung zustande gekommen sind (3,259-260; vgl. bes. fatali... somno, 3,260) und daß die Argonauten im Kampf gegen Freunde furchtbare Taten begangen haben (3,261). Daß Tiphys gerade die Meeresgötter als Verursacher seines Schlafs anklagt (3,259-260), liegt 145 Der Ausdruck virtus (3,256) ist an dieser Stelle wohl kein reines abstractum pro concreto (so Langen 1896/97, 230 zu 3,256; Eisenhut 1973, 164; wohl auch Libentian 1997, 91), sondern bezeichnet sowohl abstrakt Tapferkeit als auch konkret die tapferen Kämpfer (vgl. Kleywegt 1986a, 2475). 146 Vgl. Shelton 1971, 131; Gärtner 1998, 210, zur Bedeutung des Wechsels von Dunkelheit zu Licht. - Sheltons (1971, 132) Annahme, daß turres (3,258) eine Anspielung auf Cybele sei, scheint etwas zu weit zu gehen, da es sich um das Erkennen der bekannten Umgebung handelt, zu der Türme als charakteristischer Bestandteil der Stadt gehören. - Der Tagesanbruch (3,257-258) ist nicht ein zweiter Grund für das Ende des Kampfs, wie Burck (1970, 549; ähnlich Liberman 1997, 77) offenbar meint, sondern eine Entwicklung, die nach dessen Ende (3,253b), das ausschließlich luppiter herbeiführt (3,249-253), eintritt. - S. u. Kap. В III 2 (S. 25If.) zum Erfolg der Kampftüchtigkeit der Argonauten. 147 Vgl. Happle 1957, 110; Burck 1970, 549; Shelton 1971, 132. Vgl. Strand 1972, 4 4 ^ 6 , zur sprachlichen Formulierung von Tiphys' Ausruf. - Sheys (1968, 88) symbolische Deutung von Tiphys' Rolle ist wohl etwas weitgehend.

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Α. 1п1ефге1а110п der Cyzicus-Episode

wohl daran, daß er als Steuermann eine besondere Beziehung zu ihnen hat und das fatale Ereignis während der Seefahrt geschehen ist.i^s Tiphys kann nicht wissen, daß der Kampf letztlich auf Cybele zurückgeht und die Meeresgötter allenfalls in zweiter Linie verantwortlich sind. Die anderen Argonauten sind durch die Erkenntnis der Realität (vgl. conscia facti, 3,262) so bestürzt, daß sie zu keiner Reaktion fähig sind und wie leblos vollkommen erstarren (3,262-263)Ihre Situation illustriert das anschließende Gleichnis, in dem die Argonauten mit Agaue verglichen werden (3,264-266). Die Lage von Agaue ist die genaue Entsprechung zu der der Argonauten, da in beiden Fällen sowohl schlimme Taten durch Götter ausgelöst werden als auch im nachhinein durch das Bewußtsein dessen, was man eigentlich getan hat, große Bestürzung e i n t r i t t . 150 Ebenso betroffen wie die Argonauten sind die alten und deshalb nicht am Kampf beteiligten Cyzicener, als sie nach dem Ende des Kampfs aus der Stadt kommen und in den Gegnern Freunde erkennen (3,267-268a). Das Entsetzen der Cyzicener führt so weit, daß sie in Angst vor den Freunden fliehen (3,268b-269a). Damit kommen die Auswirkungen des Kampfs auf die ursprünglich enge Gastfreundschaft prägnant zum Ausdruck. Angesichts der Flucht der Cyzicener versucht lason, die enge Beziehung und

148 Daß Tiphys sich an die Meeresgötter wendet, ist in der konkreten Situation wohl weniger dadurch bedingt, daß Tiphys, wie Wacht (1991b, 118 Anm. 53) meint, die Ereignisse auf Cyzicus als göttliche Strafe für das Eindringen der Argonauten in den Bereich der Meeresgötter deutet. 149 Vgl. Wagner 1805, 96 zu 3,262; Shelton 1971, 132. 150 Vgl. Happle 1957, 106, 110, 113; Garson 1964, 269; Shelton 1971, 132f. Vgl. Pitch 1976, 117, zur poetischen Gestaltung des Gleichnisses. - Happle (1957, bes. 20 u. 70) weist mit Recht darauf hin, daß sich das Verhalten der Lemnierinnen in der Vorgeschichte der Lemnos-Episode (2,82-310) und das der Argonauten in der Cyzicus-Episode dadurch unterscheiden, daß den Lemnierinnen in Gegensatz zu den Argonauten nicht vollkommen bewußt wird, was sie getan haben, obwohl die Menschen in beiden Fällen aufgrund göttlicher Einwirkung zum Mord an engen Vertrauten getrieben werden. Happies Erklärung, daß bei der Doppelung des Motivs die Wirkung von lasons Trauer vermindert würde, trifft aus kompositionstechnischer Sicht zu. Denn der Aspekt der Erkenntnis ist in der Cyzicus-Episode besonders wichtig, da alle Argonauten daran beteiligt sind, dadurch die Fortsetzung der Fahrt gefährdet ist und so die notwendigen Voraussetzungen für die Einfügung von Mopsus' Rede (3,377-416) gegeben sind. Happle übersieht allerdings, daß das Motiv der Erkenntnis auch in der Lemnos-Episode enthalten ist, wenn sich diese auch nicht bei den Personen einstellt, die die Taten verübt haben: Während die anderen Lemnierinnen Morde begehen und den wahren Charakter ihres Tuns nicht realisieren, nimmt Hypsipyle am Morden nicht teil und ist sich der Situation bewußt (vgl. 2,249-253a.256a.290-292a).

п . Textanalyse

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das Vertrauen zwischen Argonauten und Cyzicenem durch einen beschwörenden Ausruf ( 3 , 2 7 0 - 2 7 2 1 5 1 ) wiederherzustellen. Darin beruft er sich auf Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Gruppen in dieser speziellen Situation und auf die davon unabhängig bestehende enge Beziehung als Gastfreunde. In Weiterentwicklung der in Tiphys' Ausruf (3,259-261) genannten Aspekte macht lason deutlich, daß die Argonauten sich selber über die von ihnen verübten Taten so sehr entsetzen, daß sie wünschen, sie ausgleichen zu können, indem sie anstelle der Cyzicener tot wären (3,270b-271a). Außerdem weist lason darauf hin, daß die Argonauten die Taten nicht willentlich begangen hätten, sondern ein Gott das Geschehen verursacht und so über beide Parteien in gleicher Weise (Μίπί^Μβ, 3,271) Unglück gebracht habe (3,271b-272a). Schließlich kann lason den Cyzicenem nur ins Gedächtnis rufen, daß die Argonauten trotz allem ihre Gastfreunde seien (3,272b). Eine Reaktion der Cyzicener auf lasons kurze Rede wird nicht geschildert, sondern es schließt sich daran eine neue Szene an (3,274). lasons Ausruf beeinflußt die Cyzicener also offenbar nicht. So hebt seine Betonung des gastfreundschaftlichen Verhältnisses lediglich die besondere Tragik der Situation hervor, die jetzt auch den beteiligten Personen bewußt ist. In Entsprechung dazu, daß Apollonios Rhodios nicht die besondere Innigkeit der ursprünglichen Freundschaft betont und den Kampf nicht durch göttliche Einwirkung unerklärlich über die Menschen kommen läßt, ist der Komplex der Bewußtwerdung bei ihm nicht ausgestaltet. Apollonios Rhodios berichtet nur knapp und sachlich, daß die beiden Gruppen morgens ihren Irrtum erkennen und daraufhin von Trauer ergriffen werden (AR 1,1053-1056). Indem Valerius Flaccus die Realisierung der wahren Umstände auf beiden Seiten schildert sowie die Personen ihre Einsicht in wörtlichen Reden selbst zum Ausdruck bringen und die Vorgänge zur Erklärung auf göttliche Einwirkung zurückführen läßt, zeigt sich wieder seine andere Darstellungsabsicht: Er will nach den tieferen Ursachen des

151 Vers 3,273 dürfte mit Langen (1896/97, 232 zu 3,273), Courtney (1970, 57f.), Ehlers (1980, 64 u. 66), Lüthje (1971, 104 Anm. 1), Eigler (1988, 52 mit Anm. 31), Poortvliet (1994, 493) und Liberman (1997, 92, 93, 234 zu 3,273), aber gegen Wagner (1805, 96f. zu 3,270ff.), Happle (1957, 110) und Burck (1970, 549f. mit Anm. 37, der sich allerdings über den schroffen Übergang durch den Vers an der überlieferten Stelle wundert) hinter Vers 3,310 einzufügen sein. Denn nach Vers 3,310 paßt er in die Aufforderungen zur Vorbereitung der Bestattung hinein, während er an der überlieferten Stelle unpassend und unmotiviert lasons Rede beendete. Ein Ende der Rede mit Vers 3,272 und speziell mit den Worten hospita turba (3,272) ist jedoch durch die Kontrastwirkung ein effektvoller Schluß, da die Worte angesichts der von den Argonauten getöteten Cyzicener gesprochen werden.

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

Geschehens fragen und vor allem die Situation der Menschen durch das für diese unberechenbare Handeln der Götter erklären.

3. Trauer und Bestattung (3,274-361) Die Erkenntnis der wahren Umstände des nächtlichen Kampfs schUeßt die Schlachtschilderung endgültig ab. Mit der ausführlichen Beschreibung der Trauer und der Bestattung der Toten (3,274-361)152 folgt die Darstellung der Reaktion der Menschen auf die konkrete Situation nach dem Ende der Schlacht, der sie sich unabhängig von der Frage nach den Gründen für den Kampf zuwenden müssen. Mit einer vagen Anknüpfung an das Vorhergehende {tum, 3,274) beginnt der Abschnitt mit der Schilderung, wie sich die Cyzicener, ohne auf lasons Ausruf (3,270-272) einzugehen, gleich von der Erkenntnis der tatsächlich geschehenen Ereignisse (3,267-268a) zur Юage um ihre Toten wenden (3,274-275a). Man darf deshalb wohl annehmen, daß die vorher (3,268b-269a) erwähnte Flucht der Cyzicener nicht in wörtlichem Sinne zu verstehen ist, sondern nur eine gewisse Entfernung von den Argonauten, aber nicht das Verlassen des Schlachtfelds bedeutet. Anhand von Kleidung und anderen Attributen identifizieren die Cyzicener ihre Toten (3,275b-276),i53 erfüllen den ganzen Strand mit Klage (3,274-275a.277) und verrichten die letzten Handlungen an den Toten (3,278-279). Die Angabe von Details (vgl. z.B. sera, 3,279) weist auf die Tragik der Situation hin, nämlich daß die Cyzicener ihren Verwandten bei deren Tod nicht beistehen konnten und jetzt nur noch einen Leichenhaufen vorfinden (3,274b.275b-276a). Nach der Entdeckung der Leiche von König Cyzicus (3,280-28la) gehen die Cyzicener von der persönlichen Trauer zur gemeinsamen Klage um ihren toten König über, die im Ausmaß alle frühere Trauer übertrifft (3,281b-283a). Auch die Argonauten beweinen die Tat ihres Führers (3,283b-285a), mit der er Cyzicus' Tod verursacht und dadurch (objektiv) schuldig geworden ist.'54 Aufgrund ihrer Beziehung zu lason betrachten 152 Vgl. bes. Burck 1981, 455-Φ59, zum Aufbau des Abschnitts. 153 Vgl. Wagner 1805, 97 zu 3,274ff.; Happle 1957, III; Burck 1970, 550. 154 Vgl. Happle 1957, III; Burck 1970, 550; Shelton 1971, 134. - Eigler (1988, 49 Anm. 15) geht davon aus, daß mit der hier (3,284b) genannten Lanze dieselbe gemeint sei, die lason von Cyzicus als Gastgeschenk erhalten hat (3,11b). Das ist natürlich möglich, ausdrücklich gesagt wird es aber nicht, während Valerius Flaccus an anderer Stelle (3,173-177a) auf eine Beziehung zwischen dem Schenken von Waffen und deren Einsatz bei der Tötung durchaus hinweist. An den beiden auf lasen

п . Textanalyse

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die Argonauten lasons Tat nicht wie die Cyzicener in Hinblick auf deren Folgen für Cyzicus, sondern in Hinblick auf die für lason. Da sie nicht wissen können, daß lason bei Cyzicus' Tötung lediglich als Werkzeug den göttlichen Plan zu Ende geführt hat, sehen sie nur die Tat als solche und lasons persönliches Mißgeschick. Deshalb bemühen sie sich, ihn durch ihre Anteilnahme über die Situation hinwegzutrösten (3,285b), in der sich zwar auch die anderen Argonauten bis zu einem gewissen Grade befinden, lason durch die Tötung von König Cyzicus aber in besonderem Maße. Wenn den Argonauten zu dem Zeitpunkt die wahren Verhältnisse auch nicht bewußt sind, deutet Valerius Flaccus sie durch die Art und Weise der Beschreibung ihres Verhaltens sowie die Wahl der Formulierungen in diesem Zusammenhang bereits an: Die Argonauten beklagen einerseits das von lason verübte nefas (3,284), d.h. seine objektiv schuldhafte Tat, und versuchen andererseits, sein bitteres Schicksal (sortem ... acerbam, 3,285) zu lindem, d.h. die Situation, die sich durch das unfreiwillige Begehen der Tat für lason ergeben hat. Über das Mitleid der Argonauten mit ihrem Führer Jason kommen dieser selbst und seine eigenen durch seine Tat hervorgerufenen Gefühle, die er in einer Klagerede (3,290-313) zum Ausdruck bringt, ins Blickfeld. In einer kurzen Hinführung (3,286-289) zu der Klagerede wird lasons tragische Situation aus seiner Sicht charakterisiert: lason hat einen eng vertrauten Gastfreund (vgl. in hospite, 3,288; amicos, 3,289) getötet, wodurch dieser so verändert worden ist, daß lason das Antlitz seines Gastfreundes vom Vortag {hesternos ... vultus, 3,288) nicht mehr wiedererkennt. Aus lasons Trauer darüber (ingemit, 3,289) ergibt sich seine Klagerede (3,290-313). lason beginnt ohne Einleitung unmittelbar mit Klagen und einer persönlichen Anrede an den Toten (3,290), den er zuvor umarmt (3,289b). Sein Verhalten zeigt, wie stark er von den Ereignissen emotional mitgenommen ist. lasons ganze Klagerede (3,290-313) vermittelt durch die vielen Ausrufe, Fragen und kurzen Sätze den Eindruck heftiger Gefühlsbewegung

bezüglichen Stellen kommt es jeweils auf verschiedene Funktionen der Lanze an: Beim Austausch der Gastgeschenke soll die Tatsache, daß Cyzicus lason eine Lanze seines Vaters gibt (zusammen mit den von seiner Frau Clite verzierten Gewändern, 3,25-10), ihre enge Beziehung verdeutlichen, bei der Trauer erscheint das Instrument, mit dem die furchtbare Tat verübt wurde, als Dokument von lasons Schuld. lason tötet Cyzicus auch nicht mit dem Schwert, das er beim Abschied von Hypsipyle erhalten hat (2,418-421), wie Shey (1968, 69) annimmt. Denn aus der Darstellung geht klar hervor, daß Cyzicus durch ein Wurfgeschoß stirbt (vgl. 3,239-240a.284b-285a).

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

und Fassungslosigkeit. 155 Da lason Cyzicus' Tod aus der Perspektive seiner Beteiligung daran betrachtet, beschäftigt er sich nicht eigentlich mit Cyzicus' Person, sondern hauptsächlich mit seinem eigenen Schicksal und dem Einfluß von Cyzicus' Tod darauf.^56 Zunächst bringt lason seine große Bestürzung über die von ihm an einem Gastfreund verübte Tat dadurch zum Ausdruck, daß er Cyzicus dazu beglückwünscht, daß dieser sich der Verletzung der freundschaftlichen Bande wenigstens nicht mehr bewußt werden müsse (3,290-292a).i57 Der Sachverhalt ist so formuliert, daß Cyzicus' Unwissenheit mit Nacht (3,290-291) und lasons Wissen um die Wahrheit mit dem lichtbringenden Tag (3,292a) in Verbindung gebracht werden (vgl. 3,257-258). Damit taucht das Motiv von Licht und Dunkelheit nicht nur in beschreibenden Partien, sondern auch in den Gedanken der Personen auf. Außerdem wird deutlich, wie sich nach dem Ende der Schlacht die Rolle von Licht und Dunkelheit verändert hat: Nacht und Dunkelheit verhüllen die Realität nicht mehr zum Schaden der Menschen, sondern wirken dadurch wohltuend. Da lason sich durch den Vergleich mit Cyzicus' Situation vergegenwärtigt, daß er sich der Erkenntnis der Wahrheit stellen muß, bricht er daraufhin in entsetzte Ausrufe und Fragen aus (3,292b-296a). Darin führt er sich seine traurige Lage vor Augen, nämlich daß die erste harmonische Begegnung der beiden Gastfreunde mit dieser fatalen zweiten fortgesetzt werden mußte (3,292b-293),'58 bei der er entgegen aller Erwartungen beim ersten Abschied zu Cyzicus' Mörder geworden ist (3,294-296a). t h i seinen daraus entstehenden Schuldgefühlen entgehen zu können, wünscht lason sogar, daß er selbst anstelle von Cyzicus den Tod erlitten habe, wenn von den himmlischen Göttern schon Kriege mit tödlichem Ausgang für einige beschlossen worden seien (3,296b-298; vgl. 3,270b155 Vgl. Burck 1981, 457; Eigler 1988, 49f. u. 53. 156 Vgl. Happle 1957, 113; Burck 1970, 552; Eigler 1988, 50 u. 52. - Deshalb fehlt in lasons Klagerede, die im übrigen viele für Klagereden typische Merkmale aufweist, das Element des expliziten Totenlobs (vgl. Burck 1970, 552; Eigler 1988, 52f.). Allerdings kommt durch lasons große Trauer Cyzicus' Wert indirekt zum Ausdruck (vgl. Burck 1970, 552). 157 Vgl. Happle 1957, 113; Burck 1970, 551; Lüthje 1971, 105; Shelton 1971, 135; Eigler 1988, 50. 158 Daß lason durch die Wahl der Formulierung fortuna dafür verantwortlich macht (3,293b), bringt wohl in Zusammenhang mit der vorausgehenden Zurückführung des Geschehens auf den Einfluß eines Gottes (3,271b-272a) und den nachfolgenden Vorwürfen gegen Seher und (indirekt) gegen Götter (3,296b-308) eher allgemein Unbehagen über das für die Menschen verderbliche Wirken bestimmender Gewalten zum Ausdruck und weist weniger auf eine spezielle Funktion von fortuna hin, wie Schönberger (1965, 127) annimmt (vgl. Billerbeck 1986, 3130 mit Anm. 71, zur Rolle von fortuna und der engen Beziehung zu fatum).

п . Textanalyse

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27la). 159 Denn dann veranlaßten die Fassungslosigkeit über sein Handeln und die Konfrontation mit der Wirklichkeit lason nicht zu Vorwürfen gegenüber Orakeln und Sehern (3,299-303a). lason fragt sich, ob die Götter ihm wirklich derartige Kämpfe vorherbestimmt haben (3,300b-301a), und entrüstet sich darüber, daß die Seher ihm, obwohl sie von der bevorstehenden furchtbaren Tat wußten {mens conscia vatum, 3,301) und ihm viele andere schlinme Dinge {acerba, 3,303), auch den Tod seines Vaters ( 3 , 3 0 2 b ) , i 6 0 vorausgesagt haben. 159 Jasons Wunsch ist der rhetorisch-affektische Ausdruck großen Schmerzes, wie er in Totenklagen üblich ist. Denn aus lasons späterer Bitte an Mopsus ( 3 , 3 7 2 376) geht hervor, daß lason nicht wirklich seinen Tod wünscht, sondern sich trotz seiner Betroffenheit um die Fortsetzung der Fahrt kümmert (vgl. Lüthje 1971, 105 Anm. 2; Eigler 1988, 51). - Aus grammatischen Gründen sollte man vielleicht wie Liberman (1997, 93 u. 233f. zu 3,297) in 3,297 Heinsius' Konjektur issent aufnehmen. Libermans (1997, 93) Inteφunktion macht die gesamte Passage ( 3 , 2 9 4 305) leichter verständlich als die von Ehlers (1980, 65). 160 lasons Behauptung, daß ihm der Tod seines Vaters vorausgesagt worden sei (3,302b), scheint in Widerspruch zu anderen Stellen des Epos (2,l-3a. 5,48 [Änderung der Lesart Aesona wohl nicht nötig; vgl. aber Wijsman 1996, 38 zu 5,48]. 7,493b-496) zu stehen, an denen lason nicht weiß, daß der Tod seines Vaters bereits (l,767b-817) erfolgt ist (vgl. bes. Ehlers 1980, 65, app. crit. zu 3,302). Die Diskrepanz kann wohl nicht mit Eigler (1988, 51) dadurch erklärt werden, daß Valerius Flaccus hier eine »sachliche Verschiebung zur Bedeutungssteigening« in Kauf nehme und den Adressaten der Todesprophezeiung von lasons Mutter (1,741-751) zu lason verändere. Denn die Rede im ersten Buch ist, was den Tod des Vaters angeht, keine Prophezeiung, sondern eine konkrete Aufforderung und außerdem in erster Linie an lasons Vater gerichtet. Es ist natürlich durchaus möglich, daß Valerius Flaccus, um das Pathos zu erhöhen, auf Unstimmigkeiten keine Rücksicht nimmt, allerdings mehr in dem Sinne, daß er die jeweilige Wirkung einer Stelle über die genaue Übereinstimmung aller auf ein Thema bezüglichen Partien stellt, als daß er bewußt Verschiebungen durchführt. Jedoch ist eine solche Annahme hier nicht notwendig. Denn lason erwähnt lediglich die bloße Tatsache, daß ihm der Tod seines Vaters vorausgesagt worden sei, nennt aber keinen konkreten Zeitpunkt für das Ereignis (vgl. Adamietz 1976a, 31 Anm. 2; Dräger 1993, 354 Anm. 55; Liberman 1997, XXVIf. u. 234 zu 3,302). Für eine solche Äußerung muß lason nichts über den tatsächlichen Tod seines Vaters wissen, sondern kann sich (im Gesamtzusammenhang des Abschnitts besonders wahrscheinlich) damit allein auf die Ankündigung durch Seher beziehen. - Eine entsprechende Konsultation von Sehern bzw. ein Orakel dieses Inhalts werden allerdings vorher nicht erwähnt, und aus lasons Formulierung geht nicht eindeutig hervor, wann und von welchem Gott er die Informationen erhalten hat. Dräger (1993, 336-355, zur Stelle: 344; 1998, 207-209; vgl. auch Delz 1990, 56f.) schlägt für das ganze Problem (bereits erkannt von Langen 1896/97, 92 zu 1,544 u. 264 zu 3,618) der Erwähnung von Zeichen und Orakeln ohne Erklärung der Herkunft sowie von lasons scheinbarem, plötzlichem Wissen über göttliche Pläne an dieser und anderen Stellen (l,245b-247.544-545a. 3,299-303a.617-621) folgende Lösung vor: In den genannten Passagen beziehe sich Valerius Flaccus nicht auf im Epos erwähnte Zeichen und Weissagungen, sondern auf die Einholung eines Orakels durch lason bei der Vorbereitung der Argofahrt. Das werde in Valerius Flaccus' Epos nicht berichtet, sei aber im Mythos enthalten. Auf diese Weise erkläre sich lasons Wissen

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

gerade dieses Ereignis nicht verkündeten (3,301b-303a), da es ihn so unerwartet und dadurch heftiger trifft.i^i Ein derartiger Vorwurf g e g e n die Seher setzt die Auffassung voraus, daß Götter das Geschehen

ausgelöst

haben. Daher richtet sich lasons Anklage in erster Linie g e g e n Orakel u n d Seher, ist darin indirekt aber wohl Kritik an den Göttern enthalten, weil sie die Urheber fürchterlicher Ereignisse sind und die Menschen nicht einmal davor warnen. Die Annahme einer göttlichen Verursachung macht für Jason das Ertragen seiner Situation nicht leichter, bietet jedoch w e n i g s t e n s eine Erklärung der Ursachen. 162

um luppiters Pläne und zukünftige Ereignisse, bei denen die zugehörigen Orakel im Text nicht erwähnt würden. Drägers Deutung führt dazu, daß sich alle auf Orakel bezüglichen Unklarheiten und Widersprüche auf logischer und rationaler Basis nach den Gegebenheiten des Mythos aufheben. Fraglich ist allerdings, ob eine solche Konstruktion vom Dichter beabsichtigt sein und vom Leser, selbst bei Vertrautheit mit dem Mythos, erkannt werden kann. Denn aufgrund seiner Aussageabsichten verändert Valerius Flaccus auch sonst den Mythos oder setzt zumindest eigene Schwerpunkte. Die These hat femer weitreichende Konsequenzen für die Interpretation des Epos, die Dräger allerdings nicht beachtet oder ausführt: Die Annahme, daß lason durch Orakel umfassende Kenntnis habe, wirkt sich auf die Beurteilung von lasons Charakter und seines Verhältnisses zu den Göttern aus bzw. läßt lasons im Epos geschildertes Verhalten gegenüber anderen Menschen und gegenüber Göttern merkwürdig und nahezu unerklärlich erscheinen. Sie führt ferner zu einer Umdeutung und -Wertung von luppiters >Weltenplan< (1,531-560) sowie der Beziehung der Menschen dazu. Deshalb ist es als Erklärung des Problems naheliegender, daß es Valerius Flaccus nicht auf eine vollständige Präsentation der Voraussetzungen ankommt, sondern er Orakel und Zeichen manchmal nur dann erwähnt, wenn sie für den Handlungsablauf oder das Erzielen einer besonderen Wirkung von Bedeutung sind und daß lason an keiner Stelle vollständiges Wissen über die tatsächlichen göttlichen Pläne hat. 161 Vgl. Schönberger 1965, 130; Schubert 1984, 270. - Ein Bezug von quercus ... Tonanüs (3,299) auf die Argo, den Schubert (1984, 183) annimmt, ist wenig wahrscheinlich. Außerdem wirft lason den Orakeln nicht vor, daß sie Handlungen in die Wege leiteten, ohne deren Sinn oder Unsinn zu klären (so Schubert 1984, 183), oder daß die Orakel, die ihn entsandt hätten, ihn jetzt betrögen (so Schubert 1984, 280), sondern daß die Orakel die kommenden Ereignisse nicht vollständig verkünden. Damit ist ein Problem berührt, das in der Phineus-Episode (4,423-636) grundsätzlich behandelt wird (s. u. Kap. В II 5 [S. 214ff.]). 162 Vgl. Happle 1957, 113; Burck 1970, 551f; Adamietz 1976a, 46; Burck 1981, 457; Eigler 1988, 50-52. - Mit der Erklärung ist wohl nicht der Versuch einer Selbstrechtfertigung und eines Nachweises der Schuldlosigkeit verbunden, wie Burck (1981, 457) es sieht. Denn lason wird (wie die anderen Argonauten) trotzdem von Schuldgefühlen wegen der begangenen Taten geplagt (3,362-371). Einen echten Trost für lason wegen seiner Schuldgefühle gibt es in diesem Epos nicht (vgl. Burck 1970, 553), jedoch durch die Entsühnungszeremonie (3,377-458) wenigstens eine Befreiung davon, die ein Weiterleben ermöglicht. - Die Anklagen an die Götter sind vergleichbar mit denen (5,37b-38) in lasons Klagerede (5,37b-54a) nach Tiphys' Tod (vgl. Eigler 1988, 60).

п . Textanalyse

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Die Gedanken über das Wirken der Götter veranlassen lason zu dem Ausruf, daß die tragischen Ereignisse für ihn nach göttlichem Willen mit dem Erreichen des Landes Cyzicus verbunden waren (3,303b-304a). Davon ausgehend überlegt er, welche anderen Länder ihn nun gastfreundlich aufnehmen werden, nachdem er, wenn auch unfreiwillig, die Gastfreundschaft auf Cyzicus verwirkt hat (3,304b-305).i63 Speziell bedauert er, daß er jetzt nicht mehr nach Cyzicus zurückkehren kann, um nach der Erfüllung seines Auftrags in Colchis Cyzicus gegen dessen Feinde zu unterstützen (3,306-308). Diese Erwägung stellt eine Beziehung zum Anfang der Gastfreundschaft zwischen Cyzicus und lason her, als lason Cyzicus beim Gastmahl (2,649-664) während des ersten Besuchs der Argonauten Hilfe im Kampf gegen die Pelasger zusagt (2,659-662). Da lason an dieser Stelle im Unterschied zu seinem früheren Angebot keine zweideutigen Formulierungen benutzt, sondern ausdrücklich von der Unterstützung gegen Feinde (hostes, 3,308) spricht, wird darauf verwiesen, daß sich sein früheres Versprechen nur tragisch verwirklicht hat, dessen eigentliches Ziel, der Kampf gegen richtige Feinde, aber nicht erfüllt ist.164 Den versprochenen Freundesdienst kann lason nicht mehr leisten, sondern nur den der Menschlichkeit, nämlich die Umarmung des toten Cyzicus (3,309-310). Bei dem von ihm verübten nefas (3,284), das er auch selbst als solches ansieht (3,301), bleibt ihm dieser Akt als einziges fas (3,309), d.h., trotz lasons Tat ist wenigstens menschliche Anteilnahme noch möghch.i65 Indem lason am Ende seiner persönlichen Überlegungen in der Klagerede (3,290-310) seine von Anfang an (3,289b) bestehende

163 lason gibt als Grand für die Unmöglichkeit einer Rückkehr nach Cyzicus an, daß die Götter sie ihm vorenthielten (3,306a). Die Formulierung, die auch eine emotionale Komponente enthält, ist dadurch zu erklären, daß für lason Götter das gesamte Geschehen verursacht haben und so auch für dessen unmittelbare Folgen verantwortlich sind, hat jedoch wohl nichts mit einem Verdacht auf ein geplantes Komplott zu tun, wie Eigler (1988, 51f.) vermutet. 164 Vgl. Burck 1981, 457. - Da Absyrtus' Tod im überlieferten Teil des Epos nicht geschildert wird und lason in der mythologischen Tradition für ihn nicht in gleicher Weise verantwortlich ist wie für den von Cyzicus, sollte man vorsichtig sein, wie Burck (1981, 457) Absyrtus' Tod mit dem von Cyzicus in dem Sinne zu parallelisieren, daß lason den Tod beider verursacht habe. 165 Vgl. Burck 1970, 552; Shelton 1971, 135f.; Eigler 1988, 52. - Eine ähnliche Funktion und Bedeutung hat fas (7,208b-209) in einer Rede Medeas an den abwesenden lason ( 7 , 1 9 8 - 2 0 9 ) . Auch an dieser Stelle bezeichnet fas die menschliche Anteilnahme gegenüber einem Toten, die unabhängig von Untaten oder Gegnerschaft im Leben immer möglich und erlaubt ist. - Die Formulierangen, die für die Erwähnung der Umarmung verwendet werden, sollen wohl nicht Gedanken an Sexualität aufkommen lassen, wie Shelton (1971, 136) meint.

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

Umarmung ausdrücklich als erlaubte Handlung rechtfertigt, werden am Ende der Klagerede ein Bezug zum Beginn hergestellt und die lason bedrängenden Probleme zumindest kurzfristig auf allgemein menschlicher Ebene gelöst. Als weitere menschliche Geste schließt sich bei lason der Gedanke an die Bestattung der gefallenen Cyzicener an (3,273166). Mit der Einbeziehung der Argonauten {moramur, 3,273; vos age, 3,311) beendet lason den monologisierenden Teil seiner Klagerede (3,290-310):i67 Er wendet sich wieder der Umwelt zu, indem er seine Gefährten auffordert, die für die Bestattung notwendigen Dinge vorzubereiten (3,311-313). Durch die FormuUerungen socios (3,312) und quae nostro misisset Cyzicus igni (3,313) kommt zum Ausdruck, daß die Argonauten zwar ihre Kampfgegner bestatten, in diesem Fall die Feinde aber Freunde sind. Von der Seite der Cyzicener her (parte alia, 3,314) folgt auf lasons Klagerede (3,290-313) die von Cyzicus' Frau Clite (3,316-329), deren Gestalt in Zusammenhang mit dem Austausch der Gastgeschenke eingeführt wurde (3,25-10). In der Einleitung (3,314-315) zu ihrer Rede werden elites aufgelöste Erscheinung an der Seite des toten Cyzicus (3,314315a) und ihr Wunsch um Unterstützung ihrer Klage durch andere Frauen (3,315b) hervorgehoben. Schon eine derartige Beschreibung von Clites Trauer macht deutlich, daß ihre Юage eine ganz persönliche über den Verlust des Gatten sein und damit das menschliche Pendant zu lasons Klage bilden wird.168 Als Cyzicus' Frau und als Mensch, der in keiner Form an dessen Tod beteiligt war, betrachtet Clite Cyzicus' Tod und dessen Konsequenzen aus einer anderen Perspektive als Jason. 169 So gibt es in ihrer Rede keine 166 S. o. S. 83 Anm. 151 zur Stellung des Verses. - Poortvliet (1994, 493) schlägt vor, zusätzlich zur Transposition des Verses cur etiam (3,213) durch cur autem zu ersetzen. Die Veränderung brächte deutlicher zum Ausdruck, daß mit dem Vers ein neuer Abschnitt von lasons Klagerede einsetzt, in dem er sich an die Gefährten wendet und sie zur Ausführung der Bestattungszeremonien auffordert ( 3 , 2 7 3 313). Es würde dann aber nicht mehr explizit gemacht, daß zwischen lasons Umarmung des toten Cyzicus und der Bestattung als zwei menschlichen Handlungen eine Verbindung besteht. Da ein Anschluß von 3,273 an das Vorhergehende durch diese logische Beziehung möglich ist, die lasons emotionaler Situation angemessen ist, scheint eine Änderung der Überlieferung nicht notwendig. 167 Vgl. Eigler 1988, 52. 168 So hat sie auch eine inhaltliche Funktion und dient nicht nur dazu, die Zeit von lasons Aufforderung, die Bestattungszeremonien vorzubereiten (3,273-313), bis zu deren Vollzug (3,332-361) zu überbrücken, wie Burck (1981, 457) meint, oder bildet nur eine eher unbedeutende Ergänzung zu lasons im Vordergrund stehender Rede, was Eigler (1988, 56f.) glaubt. 169 Vgl. Garson 1964, 270; Shelton 1971, 136.

п . Textanalyse

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Äußerungen über Schuld, Verantwortung und Ursache für Cyzicus' Tod oder durch das persönliche Schicksal bedingte, aber nur indirekt mit Cyzicus' Tod in Zusammenhang stehende Vorwürfe gegen Orakel und Seher. Lediglich implizit ergibt sich, daß auch Clite die Vorgänge auf Einwirkung eines Gottes zurückführt (3,325b) Weil Clites Klagerede keine weiterführenden Überlegungen enthält, trägt sie nicht so zur gedanklichen Aufarbeitung des Geschehens bei wie die lasons, viehnehr zeigt sie als Ausdruck persönlicher Trauer die menschliche Dimension der Vorgänge. In Entsprechung zum anderen Inhalt unterscheidet sich Clites Klagerede auch im Stil von der lasons: Ihre Rede enthält nicht so viele emotionale und entsetzte Fragen und Ausrufe, sondern mehr lange und beschreibende Sätze voller Klagen.i^i Clite jammert in ihrer Rede über ihre vollständige Verlassenheit nach dem Verlust von Cyzicus und bedenkt auch die Konsequenzen, die daraus für die ganze Stadt entstehen (3,325b). In Clites Rede geht es also ebenfalls nicht um Cyzicus' Person an sich, sie spielt jedoch eine größere Rolle als in lasons Rede, weil Clite ihr Schicksal unmittelbar zu Cyzicus in Beziehung setzt (3,316b-325a):i'72 a i t e beklagt zunächst, daß Cyzicus in jungen Jahren gestorben sei (3,316b), so daß weder sie selbst mit ihm eine lange gemeinsame Zeit habe verbringen können (3,317a) noch schon ein Kind vorhanden sei, das als schwacher Trost ihre Trauer erleichterte (3,317b-319). Femer bedauert Clite Cyzicus' Tod nicht nur in Hinblick auf Cyzicus' spezifische Stellung als Gatte, sondern auch in bezug auf seine Funktion als Repräsentant von Verwandtschaft überhaupt. Sie hat in Cyzicus den Menschen, der ihr nach dem Verlust der anderen Verwandten (3,320-322) allein alle Verbindungen ersetzte, verloren und ist dadurch völlig vereinsamt (3,323-325a).i73

170 Weder in Clites Rede noch in der objektiven Beschreibung ihres Zustande finden sich Anhaltspunkte für eine Deutung, wie Burck (1971, 72) sie vorschlägt, daß Cyzicus für Clites Leid mitverantwortlich sei, weil er Cybele gereizt habe, deshalb durch deren Racheaktionen sterbe und so Clite allein zurücklasse. Die Tragik der Situation sowohl von Cyzicus als auch von Clite liegt gerade darin, daß Cyzicus für eine unabsichtliche Fehlhandlung unmäßig gestraft wird. 171 Vgl. Burck 1970, 554. 172 Trotzdem ist es wohl zu weitgehend, wie Eigler (1988, 56) die Art der Beschäftigung mit Cyzicus in Clites Klagerede als direktes Totenlob zu bezeichnen. 173 Vgl. Burck 1970, 554; Eigler 1988, 54. - Daß der Tod des Mannes im Kampf zur Vereinsamung der Ehefrau und so zu einer beklagenswerten Situation führen kann, bringt Valerius Flaccus auch durch die mitfühlende Äußerung ( 6 , 6 8 8 b 689) über das Schicksal von Caicus und seiner Frau bei dessen Tod ( 6 , 6 8 7 - 6 8 8 a ) in der Schlacht in Colchis (6,1-760) zum Ausdruck.

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Α. 1п1ефге1а11оп der Cyzicus-Episode

elites Rede endet mit Selbstvorwürfen wegen ihrer Handlungsweise bei Cyzicus' Tod (3,326-329). Sie hat zwar nicht wie lason ein Verschulden zu beklagen, aber auch sie empfindet Trauer über ihr in Unwissenheit (3,329) falsches Verhalten. Sie hat Cyzicus im Tod nämlich nicht nur nicht beigestanden (3,326-328a), sondern war sogar noch ungehalten wegen seines langen Ausbleibens (3,328b). Mit diesen Überlegungen wird der Gedanke der Abwesenheit im Tod, der bei der Schilderung der Reaktion der anderen Cyzicener angedeutet wird (vgl. 3,279b), aufgenommen und so ein Bezug zwischen Clites Klagerede und der allgemeinen Trauer der Cyzicener hergestellt. Clite ist vollkommen von ihrer persönlichen Trauer überwältigt. Um sie ertragen zu können, ist sie sogar auf Hilfe von außen durch die Argonauten Castor und Pollux angewiesen ( 3 , 3 3 0 - 3 3 1 ) . D i e Unterstützung von Cyzicus' Frau durch Mitglieder der Gegenpartei zeigt das Ausmaß und die besondere Art der Trauer, die in gleicher Weise auf beiden Seiten vorhanden ist. Der gesamte Abschnitt mit den beiden Klagereden fehlt bei Apollonios Rhodios.i'^^ Eine besondere Trauer lasons wegen der verübten Taten und vor allem wegen Kyzikos' Tod über die der Argonauten insgesamt hinaus wird nicht erwähnt, obwohl es auch bei Apollonios Rhodios lason ist, der Kyzikos' Tod faktisch herbeiführt (AR l,1032-1034a). Bei der Gruppe der Argonauten werden außer der Feststellung der Trauer lediglich kurz rituelle Trauergesten geschildert (AR l,1054b-1058a). Der einzige Hinweis auf die besondere Situation nach diesem Kampf ist die Angabe, daß sowohl die Kyzikener als auch die Argonauten die Trauerrituale vollziehen (AR 1,1058a). Damit nutzt Apollonios Rhodios die Trauer nicht in dem Maße wie Valerius Flaccus dazu, auf die Tragik eines Kampfs zwischen Gastfreunden dadurch hinzuweisen, daß auch die Sieger davon betroffen sind und er in gleicher Weise zu Kummer auf beiden Seiten führt. Kleites Reaktion auf Kyzikos' Tod ist in Apollonios Rhodios' Version ihr Selbstmord (AR 1,1063-1069). Er ist kaum inhaltlich mit den vorausgehenden Ereignissen verbunden und wird relativ unpersönlich berichtet.1'76 Apollonios Rhodios muß ihn aber aufgrund seiner Darstellungs174 Vgl. Eigler 1988, 56. 175 Spaltensteins (1991, 8 9 - 9 1 ) Kritik an dem ganzen Komplex der Klagereden bei Valerius Flaccus (3,286-331), daß es sich um eine künstliche, schematische und unrealistische Situationsschilderung handele, die lediglich verschiedene traditionelle und stereotype Elemente verbinde und allein der poetischen Darstellung eines m o mentanen Eindrucks diene, scheint aufgrund der wichtigen Funktion, die der Abschnitt für Stimmung und Deutung des Geschehens hat, nicht gerechtfertigt. 176 Durch die sachliche Beschreibung ihrer Ehe und die Erwähnung ihres Selbstmords wird Kleite bei Apollonios Rhodios noch nicht zu einer ergreifenden und

п . Textanalyse

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methode erwähnen, damit er darauf aufbauend ein Aition (AR 1,1065b1069) einfügen kann. Da der Selbstmord weniger für das eigentliche Geschehen als für das Aition wichtig ist, verzichtet Valerius Flaccus auf das Aition wie auf den Selbstmord. Stattdessen führt er die Klagereden ein und steUt damit die Gefühle der Personen anschaulicher, persönlicher und das Mitgefühl des Lesers stärker ansprechend dar. Außerdem lassen sich in den Reden die spezifische Lage der Menschen, ihre speziellen Probleme und die Schwierigkeit, mit der jetzt entstandenen Situation fertig zu werden, thematisieren. Die beiden Reden bringen die Handlung nicht voran, malen aber die traurige Atmosphäre pathetischer aus, als es in einem lediglich beschreibenden Bericht möglich ist. Außerdem kann Valerius Flaccus in den Reden im Unterschied zur Schilderung eines Selbstmords Themen von inhaltlicher Bedeutung für die Episode behandeln. So läßt er Clite ihre persönliche Trauer über Cyzicus' von den Göttern veranlaßten Tod zum Ausdruck bringen und die Konsequenzen für die familiären Beziehungen bedenken. Apollonios Rhodios gibt in seiner sachlich-objektiven Beschreibung der Ehe von Kyzikos und Юeite zu Beginn der Episode (AR 1,973-977) an, daß die jungen Eheleute noch keine Kinder haben (AR 1,973). Die Partie übernimmt Valerius Flaccus nicht, erwähnt aber die Kinderlosigkeit in Clites Klagerede (3,317b-319) und später im Bericht über Cyzicus' Bestattung (3,343b-346). An diesen Stellen ist die Information eng in die Handlung eingebunden und für den Gehalt der Episode von Bedeutung. Denn durch den Verweis auf die Kinderlosigkeit in diesen Zusammenhängen erscheint sowohl die traurige Situation von Cyzicus' Frau als auch die der ganzen Stadt nach Cyzicus' von den Göttern herbeigeführtem Tod aussichtsloser und ergreifender. Die Idee, das Motiv der Kinderlosigkeit in einer Art Abschiedsrede vom geliebten Mann einzusetzen, könnte durch Vergils Aeneis angeregt sein, da Dido in ihrer Rede {Aen. 4,305-330) vor der Trennung von Aeneas davon spricht, daß kein Kind als Erinnerung vorhanden sei {Aen. А,ЗП-

mitleiderregenden Figur, wie Happle (1957, 118f.) und Eigler (1988, 56 mit Anm. 18) meinen. Im Gegenteil lernt der Leser bei Valerius Flaccus durch Clites Totenklage ihre Emotionen besser kennen und kann so mit ihr mitfühlen (vgl. ähnlich Mehmel 1934, 24). Aus Apollonios Rhodios' Behandlung von Kleite, vor allem der Erwähnung ihres Selbstmords (AR 1 , 1 0 6 3 - 1 0 6 9 ) und den kurzen Hinweisen, daß Kyzikos zur Begrüßung der Argonauten sein Ehegemach verläßt (AR 1,978) bzw. nach dem Kampf nicht mehr dorthin zurückkehren wird (AR 1,1030-1031), kann man wohl nicht wie Lawall (1966, 152; ähnlich Knight 1995, 92f.) schließen, daß das Schwergewicht der Cyzicus-Episode bei ihm auf einer Liebestragödie liege. 177 Vgl. Burck 1970, 542 u. 555.

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

Didos Bemerkung ist allerdings nicht nur eine Юage darüber, daß mit Abfahrt bzw. Tod die Beziehung wegen fehlender Kinder völlig zerstört ist, sondern im Zusammenhang der ganzen Rede auch Bestandteil eines vorwurfsvollen Angriffs. Indem Valerius Flaccus das Motiv auf eine Rede mit anderer Stimmung in einer anderen Situation überträgt, wird bei ihm damit wesentlich stärker das Ausmaß von Trauer und Verlassenheit veranschaulicht. Beziehungen zu Elementen aus Reden in der Aeneis lassen sich auch bei anderen einzelnen Motiven in Clites und in lasons Klagerede erkennen. Einige Ähnlichkeit mit Clites Klage weist die von Euryalus' Mutter über den Tod ihres Sohns {Aen. 9,481^97) auf. Denn wie Clite nach dem Tod ihres Mannes (3,316b-325a) jammert Euryalus' Mutter nach dem Tod ihres Sohns über völlige Verlassenheit {Aen. 9,481b-483a) und ist über die Situation, die sich für sie zur Zeit des Todes ergeben hat, unglücklich {Aen. 9,483b-484.486b-489; VF 3,326-329). Da Euryalus' Mutter ihre Gefühle über die Einsamkeit nicht in durchgängig klagendem Ton vorbringt wie Clite, sondern auch Vorwürfe gegen Euryalus ausspricht {Aen. 9,481b-483a.491b-492, bes. crudelis, 9,483), wirkt bei ähnlichem Inhalt die Stimmung ihrer Rede nicht so resigniert. Die Situation von Clite und Euryalus' Mutter am Ende ihrer Klagereden ist ebenfalls vergleichbar, da beide Frauen an diesem Punkt Hilfe von außen durch andere Menschen benötigen {Aen. 9,500-502; VF 3,330331). Valerius Flaccus nutzt auch diese Einzelheit dazu, das Ausmaß und die besondere Form der Trauer vor Augen zu führen. Denn Euryalus' Mutter wird einfach von anderen Mitgliedern aus der Gruppe des Aeneas ins Haus gebracht. Dagegen muß Clite, die über dem Leichnam zusammengesunken ist, von Angehörigen der Gegenpartei aufgerichtet werden.

178 Vgl. Happle 1957, 117; Garson 1964, 271; Eigler 1988, 54; Poortvliet 1991, 230 zu 2,423f.; Hershkowitz 1998, 94. 179 Einige Motive in Clites Klagerede haben Parallelen in Andromaches Abschiedsrede vor und ihrer Klagerede nach Hektors Tod in Homers iUas {II. 6 , 4 0 7 439. 24,725-745; vgl. Happle 1957, 117f.; Garson 1964, 271; Burck 1970, 553f.; Burck 1971, 72 Anm. 76; Shelton 1971, 136; Barnes 1981, 367; Burck 1981, 457; Eigler 1988, 54 u. 57; Hershkowitz 1998, 93f.). Die Vorstellung, daß der Gatte alle Verwandten repräsentiert und dessen Tod deshalb völlige Vereinsamung der zurückbleibenden Gattin bedeutet (VF 3,316b-325a), findet sich in Andromaches Rede beim Abschied von Hektor (IL 6,410b-430). Die Klage darüber, beim Tod des Gatten von diesem getrennt gewesen zu sein (VF 3,326-328a), formuliert Andromache in ihrer Totenklage um Hektor (IL 24,743-745). Indem Valerius Flaccus die beiden Gedanken in einer Rede kombiniert und vor allem Clite beide erst nach Cyzicus' Tod aussprechen läßt, wirken sie durch ihre Endgültigkeit ergreifender und rufen größeres Mitleid hervor.

п. Textanalyse

95

In lasons Rede könnte seine Aussage, daß ihm viele schreckliche Ereignisse, darunter der Tod seines Vaters, vorausgesagt worden seien, jedoch nicht, daß er seinen Gastfreund töten werde (3,301b-303a), durch Aeneas' Юage, daß ihm die Seher zwar viele grauenvolle Geschehnisse, aber nicht den Tod seines Vaters angekündigt hätten {Aen. 3,712-713), beeinflußt sein. Dabei ist der Tod des Vaters, der bei Vergil das unangekündigte schlimme Geschehen ist, bei Valerius Flaccus bereits bekannt, wird aber übertroffen von der eigenen Verantwortung für den Tod eines engen Freundes. Durch die Steigerung macht Valerius Flaccus klar, wie furchtbar die von lason begangene Tat ist, die dieser auch selbst als solche empfindet. Außerdem ist das unangekündigte Ereignis nicht ein von der klagenden Person unabhängiges Geschehen, sondern eine von ihr ausgeführte Aktion. Indem diese und die Folgen für lason durch die Vorwürfe an die Seher implizit auf die Götter zurückgeführt werden, zeigen sich deutlich die Auswirkungen, die das willkürliche Eingreifen der Götter bei Valerius Flaccus für die Menschen hat. lasons Ausruf, daß die Tötung des Gastfreundes ihm als einziges noch gefehlt habe (3,294b), klingt an Turnus' Klage an, daß als einziges noch die Zerstörung der Häuser seines Volks durch die Aeneaden fehle {Aen. 12,643b).'80 Dabei besteht ein entscheidender Unterschied in der Situation, der sprachlich schon durch die Wahl von rebus (Aen. 12,643) bzw. fatis (VF 3,294) zum Ausdruck kommt: Turnus will nicht ertragen, daß der Staat als ganzes völlig vernichtet wird, wobei er die Zerstörung der Häuser als Höhepunkt in dem Prozeß ansieht. Dagegen bejammert lason sein persönliches Schicksal. Seine Lage ist nicht dadurch gekennzeichnet, daß er in Zukunft ein alle betreffendes schUmmes Geschehen wird mitansehen müssen, sondern dadurch, daß er selber bereits eine furchtbare Tat verübt hat. Die unterschiedliche Ausrichtung der Bemerkung zeigt, wie sehr lason unter den von den Göttern verursachten Vorgängen leidet. lasons Bemerkung, daß er sich in Gegensatz zum toten Cyzicus der Erkenntnis der grausamen Realität zu stellen habe (3,290-292a), ist vergleichbar mit Euanders Äußerung in seiner Klagerede nach Pallas' Tod (Aen. 11,152-181), daß er anders als seine tote Frau dieses traurige Ereignis erleben müsse {Aen. 11,158b—159). Auch hier besteht der Unterschied darin, daß es bei Euander um die Erfahrung eines Geschehens geht, das sich ohne sein Zutun vollzogen hat, während lason sich einer von ihm selbst begangenen Tat bewußt wird. Da bei Valerius Flaccus als Vergleichspunkt zur eigenen Lage nicht eine unbeteiligte Person, sondern die 180

Vgl. Eigler 1988, 50 Anm. 24; Libermann 1997, 233 zu 3,294.

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

von dem tragischen Vorgang unmittelbar betroffene dient, ist der Vergleich enger mit der Handlung verbunden und bringt so das Unglück des Sprechers eindringlicher zum Ausdruck. Auf umfassenderer struktureller Ebene weist die gesamte Klageszene bei Valerius Flaccus Ähnlichkeiten zu Aeneas' und Euanders Klagereden nach Pallas' Tod {Aen. 11,42-58.152-181) auf.i8i In beiden Fällen betrauem zunächst ein Freund und dann ein enger Verwandter einen Toten, der in einem Kampf gefallen ist, an dem der Freund beteiligt war. Es besteht also eine Parallelität in der gesamten Situation sowie im Aufbau der Szenen durch Doppelung und Anordnung der Klagereden. Dabei ist die Tragik der Szene bei Valerius Flaccus wesentlich erhöht, da lason nicht wie Aeneas den Sohn des Freundes, sondern den Freund selbst zu beklagen hat und vor allem direkt für dessen Tod verantwortlich ist. Er ist nämlich nicht nur Cyzicus' Freund, sondern gehörte im vorausgehenden Kampf zu dessen Gegnern und wurde zu dessen Mörder. Wegen seiner Schuldgefühle und deshalb größeren Trauer kann lason nicht wie Aeneas Verwandte des Toten bedauern (Aen. 11,49-50.53), sondern nur sich selbst und seine eigene Lage bemitleiden (3,292-308) sowie sich mit Vorwürfen an die Götter wenden (3,299-303a). lason und Cyzicus' Frau Clite haben auch nicht wie Aeneas und Euander bei Pallas' Tod die Möglichkeit, sich dadurch zu trösten, daß der Tod positive und heldische Aspekte beinhaltet (Aen. Il,55b-57a.l69-172). Denn Cyzicus' Tod kommt durch göttliche Einwirkung für die Menschen unerwartet und unerklärlich zustande und geschieht in einer unnatürlichen Schlacht gegen Freunde, in der auch tüchtiger Kampfeinsatz aus der subjektiven Sicht der Personen im nachhinein nicht positiv beurteilt werden kann. So sind lason und Clite durch die mit Cyzicus' Tod entstandene Situation völlig niedergeschlagen und bringen vor allem dieses Gefühl durch Inhalt und Form ihrer Klagereden zum Ausdruck. Alle von Vergil übernommenen Motive in dem Komplex der Klagereden hat Valerius Flaccus durch Veränderung, andere Verbindung und Einordnung in neue Zusammenhänge so eingesetzt, daß sie gerade diese Stimmung der sprechenden Personen verdeutlichen sowie deren Lage ergreifender und bemitleidenswerter erscheinen lassen.

181 Vgl. Burck 1970, 5 5 1 - 5 5 3 ; vgl. Burck 1981, 456f.; Barich 1982, 139f.; Eigler 1988, 57 u. 135, zu Beziehungen zwischen den Klagereden in den beiden Szenen.

п . Textanalyse

97

Dadurch, daß Castor und Pollux am Ende von Clites Klagerede zu deren Unterstützung in ihrer persönlichen Trauer eingreifen (3,330-331), weitet sich der Blickwinkel alhnählich von der Darstellung der Trauer einzelner Personen zur Schilderung allgemeiner Aktionen. Auf diese Weise ergibt sich ein Übergang zur Beschreibung der Bestattungszeremonien (3,332361). Zusammen mit dem einleitenden Abschnitt über die Trauer der beiden Gruppen (3,274-285) bildet diese Passage den Rahmen für die beiden Klagereden (3,286-331) und schließt den gesamten Abschnitt über die Trauer (3,274-361) ab.'®^ Indem zuerst die Zurüstungen für die Bestattung von allen Toten (3,332-337a) und dann besonders für die von Cyzicus (3,337b-346) geschildert werden, findet wieder eine Verengung der Perspektive auf Cyzicus statt. Im Bericht über die Vorbereitungen zur Bestattung insgesamt (3,332337a), der in lockerer zeitlicher Verbindung (interea, 3,332) an den Komplex der Klagereden (3,286-331) angeschlossen ist, werden nicht alle faktisch notwendigen Aktionen detailliert beschrieben, sondern nur in hyperbolischer Ausdrucksweise (nudatis montibus, 3,332) die große Anzahl der Scheiterhaufen hervorgehoben (3,332-334a), damit das Ausmaß des Unglücks veranschaulicht wird.'83 Femer wird erwähnt, daß für alle Toten Opfertiere entsprechend ihrer jeweiligen Stellung im Leben herbeigeführt werden (3,334b-337a). Dabei zeigt sich die außergewöhnliche Trauer daran, daß sogar die Tiere mit gesenktem Kopf einhergehen (3,334b). Bei den Zeremonien ist König Cyzicus durch einen größeren und in der Mitte gelegenen Scheiterhaufen hervorgehoben (3,337b-338a). Entsprechend werden die Vorbereitungen für seine Bestattung (3,337b-346), die lason selber durchführt (3,338b-343a), gesondert genau beschrieben. Als einzigem unter den Toten wendet sich lason Cyzicus zu (3,338b-339a), da sie beide Führer ihrer Leute sind und Jason sich für Cyzicus' Tod verantwortlich fühlt. lason betrauert Cyzicus heftig (3,338b) und beschenkt ihn im Sinne seiner eigenen Aufforderung an seine Leute (vgl. 3,312b313) mit Gegenständen, die sehr wertvoll und für ihn selbst von besonderer Bedeutung sind (3,340-342a).i84 Indem hier wieder bei einer Art 182 Vgl. Burck 1970, 550, 183 Vgl. Burck 1981, 458; vgl. auch 1981, 456 zu 3,274-279. 184 Jason gibt Cyzicus ein Gewand (3,340-342a), das Hypsipyle ihm beim Abschied auf Lemnos geschenkt hat (2,408b-417). Damit wird zum einen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu einem weiteren Abschied (Abfahrt der Argonauten von Lemnos, 2 , 3 9 3 ^ 2 7 ) hingewiesen. Zum anderen entsteht dadurch eine Parallele zu Cyzicus' Verhalten bei der Abfahrt der Argonauten nach deren erstem Aufenthalt auf Cyzicus (3,1-13), bei der dieser lason neben Helm und Lanze seines Vaters (3,ll-12a) von seiner Frau Clite verzierte Gewänder schenkt (3,25-10). Hypsipyle ist

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Α. 1п1ефге1а110п der Cyzicus-Episode

von Abschied Geschenke gemacht werden, aber in ganz anderer Stimmung als beim Abschied der Argonauten nach ihrem ersten Aufenthalt (3,1-13) und ohne Wechselseitigkeit, werden die Veränderungen in der Beziehung der Gastfreunde durch die Ereignisse in der Zwischenzeit offenbar: Es findet kein Austausch von Geschenken zur Besiegelung der Freundschaft in vollkommener Harmonie mehr statt, sondern Geschenke können nur noch als Schmuck bei der Bestattung des einen Freundes durch den anderen dienen. Bei seiner Bestattung erhält Cyzicus nicht nur kostbare Gaben von lason, sondern auch Dinge aus seinem eigenen Besitz, die er sehr geschätzt hat (3,342b-343a). Damit tritt in der Darstellung die Beziehung zu lason hinter Cyzicus' persönliche Gefühle zurück, so daß sich die Schilderung von Cyzicus' Verhältnis zu seiner Stadt (3,343b-346) anschließen kann. Dessen Charakter wird dadurch offensichtlich, daß Cyzicus mit dem Zepter seiner Väter bestattet wird (3,343b-344), weil er keine Nachkommen hat, an die er es weitergeben könnte (3,345-346). Cyzicus' Kinderlosigkeit erscheint in dem Zusammenhang nicht als Grund für persönliche Trauer wie in elites Klagerede (3,317b-319), sondern im Sinne der dynastischen Struktur der Herrschaft (vgl. veterum ... gestamen avorum, 3,344; refert... parenti, 3,346) als Schaden für die ganze Stadt, die nach Cyzicus' Tod ohne Herrscher sein wird. Durch die Betrachtung desselben Gedankens aus einer neuen umfassenden Perspektive wird Cyzicus' Tod von einem persönlichen zu einem allgemeinen Unglück a u s g e w e i t e t ' ^ ^ und so auch hier das Faktum der Kinderlosigkeit im Unterschied zu Apollonios Rhodios (AR 1,973) nicht nur erwähnt, sondern mit Bedeutung für die Aussage der Episode eingesetzt. An die Vorbereitungen schließt sich die Vollziehung traditioneller ritueller Bestattungszeremonien an (3,347-351). Erst bei deren Schilderung wird klar, daß (zumindest ein TeU) der Bestattungsriten von den natürlich nicht lasons Ehefrau, aber bis zu dem Zeitpunkt die einzige im Epos erwähnte Frau, zu der lason in engerer Beziehung steht. Im Unterschied zu Apollonios Rhodios (vgl. AR 2,30-32a. 3,1204b-1206. 4,423^24a) kommen Gewänder, die die Argonauten auf Lemnos erhalten haben, bei Valerius Flaccus im weiteren Verlauf des Epos nur an dieser Stelle vor. Dadurch bekommt lasons Akt besondere Bedeutung, die die Innigkeit des Verhältnisses zwischen den Gastfreunden sowie die genannten strukturellen Verbindungen deutlich zum Ausdruck bringt. - lasons Verhalten bei Cyzicus' Tod findet seine Fortsetzung darin, daß er Idmon bei dessen Bestattung ein Gewand von Cyzicus gibt (5,6b-7), wohl dasjenige, das er beim Abschied von Cyzicus (3,25-10) erhalten hat (vgl. Wagner 1805, 150 zu 5,6f.; Langen 1896/97, 341 zu 5,7; Garson 1970, 182; Shelton 1971, 253; Venini 1971b, 607; Adamietz 1976a, 43; Shreeves 1978, 104; Eigler 1988, 59 Anm. 7). 185

Vgl. Happle 1957, 119; Burck 1970, 555.

II. Textanalyse

99

Argonauten (vgl. Minyis, 3,347) durchgeführt wird. Zwar fordert lason seine Leute auf, die für die Bestattung notwendigen Dinge herbeizuschaffen (3,311-313), es wird aber nie ausdrücklich gesagt, ob die Argonauten Jasons Befehlen nachkommen bzw. wer die beschriebenen Vorbereitungen (3,332-337a) a u s f ü h r t . i 8 6 Hier werden zum ersten Mal während der Bestattungszeremonien handelnde Personen namentlich genannt. Daß es sich gerade um die Argonauten handelt, betont die ungewöhnliche Situation aufgrund der speziellen Umstände: Nach dem Kampf zwischen Freunden bestattet die siegreiche Partei die von ihr getöteten Gegner. Nach dreimaligem Umschreiten der Scheiterhaufen (3,347-348a) und dreimaligem Trompetensignal (3,348b-349a) werden die Scheiterhaufen schließlich angezündet (3,349b-350a), und alles löst sich in einer gewaltigen Flamme auf (3,350b-351). Bei Apollonios Rhodios gibt es nur eine kurze äußerliche Beschreibung von Trauer und Bestattung (AR l,1054b-1061a). Dabei werden nicht alle sachlich notwendigen Vorgänge, die Voraussetzungen für spätere Handlungen sind (z.B. Errichtung des Grabmals), erwähnt, sondern hauptsächlich die Vollziehung traditioneller und in einem solchen Fall üblicher Riten geschildert (AR 1,1057-106la) und daran zum Teil aitiologische Erklärungen angeschlossen (AR l,1061b-1062; vgl. auch AR 1,1075-1077). Nur wenige rituelle Elemente aus dem Komplex finden sich auch in Valerius Flaccus' Version. Sowohl bei Apollonios Rhodios (AR l,1058b-1060a; vgl. auch AR 4,1535b-1536a) als auch bei Valerius Flaccus (3,347-348a) werden Scheiterhaufen bzw. Grabmal der Toten dreimal in Waffen umrundet. Das geschieht auch bei der Bestattung von Pallas und der mit ihm Gefallenen in VergilsAenm {Aen. 11,188-189a).^^^^ Jedoch verleiht Valerius Flaccus der Aktion eine größere Bedeutung über die bloße Vollziehung des Rituals hinaus. Denn gerade bei dieser Handlung bringt Valerius Flaccus im Unterschied zu Apollonios Rhodios die wichtige Angabe unter, daß die Argonauten an den Bestattungsriten beteiligt sind (3,347). Femer wird das Umrunden der Scheiterhaufen bei Valerius Flaccus nicht nur objektiv be186 Liberman (1997, 94) deutet den Text so, daß die Argonauten die Vorbereitungen vornehmen. - Auch wenn der Ausdruck rerum labor (3,350) nicht ganz leicht zu verstehen ist, sollte man vielleicht trotzdem nicht wie Liberman (1997, 95 u. 2 3 5 zu 3,350) zu Gronovius' Konjektur regum greifen. Denn daß mit regum ohne Attribut in diesem Zusammenhang die Argonauten gemeint sind, ist ebenfalls schwer zu erkennen, zumal vorher nicht ausdrücklich gesagt wird, daß die Argonauten die Scheiterhaufen errichten. 187 Vgl. Langen 1896/97, 239 zu 3,347; Mooney 1912, 135 zu AR 1,1059; Levin 1971, 104; Liberman 1997, XLII.

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

schrieben, sondern auch erwähnt, daß die Scheiterhaufen erzittern (3,348a), was eine gewaltige Wirkung erzeugt. In beiden Fassungen spielt die Dreizahl, wie überhaupt in solchen Zusammenhängen (vgl. z.B. Aen. 11,188-190), eine besondere Rolle. Außer der dreimaligen Umrundung der Scheiterhaufen läßt Apollonios Rhodios Argonauten und Kyzikener drei Tage lang trauern (AR 1,1057a). Bei Valerius Flaccus gibt es noch ein dreimaliges Trompetensignal, so daß der Himmel erbebt (3,348b-349a). Durch den anderen Einsatz ist bei Valerius Flaccus auch die Dreizahl nicht nur Bestandteil eines Rituals, sondern trägt dazu bei, die Wucht der Darstellung zu erhöhen. Im übrigen schildert Valerius Flaccus in Gegensatz zu Apollonios Rhodios die einzelnen individuellen Handlungen der Menschen in dem spezifischen Fall und hebt durch Hinzufügung illustrierender und charakterisierender Adjektive wichtige Aspekte hervor. Auf diese Weise beschreibt er die Situation der Menschen einfühlsam in indirekter Weise durch Angaben über ihren Zustand und ihr Verhalten sowie durch wörtliche Reden. Eine solche Art der Darstellung macht die Erzählung lebendiger, bezieht das Innere der Personen mit ein, führt deren Gefühle anschaulich vor Augen, zeigt die verschiedenen Ausprägungen und Äußerungsformen einer Stimmung und läßt sie den Leser unmittelbarer miterleben. 188 Außer daß der tote Kyzikos kurz erwähnt wird, als die Argonauten nach der Erkenntnis der wahren Umstände Trauer ergreift (AR 1,1054b-1056), werden bei Apollonios Rhodios in der Trauer- und Bestattungsszene weder Kyzikos noch lason gesondert genannt oder deren spezifisches Verhalten beschrieben. Indem Valerius Flaccus die beiden Führer in den Vordergrund stellt, kann er die Situation an deren Beispiel exemplarisch anschaulicher schildern und die Konsequenzen der neu eingeführten göttlichen Einwirkung für beide Parteien prägnanter zum Ausdruck bringen. Außerdem wird an lasons Hinwendung zu Cyzicus besonders deutlich, was die Art der Darstellung auch sonst erkennen läßt, daß es sich nach dem Kampf zwischen Freunden um eine außergewöhnliche Form der Bestattung handelt. Dieser Aspekt wird bei Apollonios Rhodios nicht thematisiert. Nachdem der Fortgang der Bestattungszeremonien bis zum Brennen der Scheiterhaufen (3,350b-351) beschrieben worden ist, folgt ein Nachtrag des Dichters zu Cyzicus' Schicksal (3,352-356): Es sei vorherbestimmt ge188

Vgl. Mehmel 1934, 22f.; Koch 1955, 149 u. 152.

п . Textanalyse

101

wesen und durch Vorzeichen verkündet worden, daß die berichteten Ereignisse Cyzicusl8^ und sein Volk in Zusammenhang mit der Argofahrt erwarteten (3,352-355a), Cyzicus habe aber entsprechend dem üblichen Verhalten der Menschen den Vorzeichen keine Beachtung geschenkt und für sich ein langes Leben erhofft (3,355b-356). Die Vernachlässigung der ungünstigen Vorzeichen soll dabei wohl nicht als eine besondere Schuld von Cyzicus dargestellt werden. Denn die generalisierende FormuHerung nnit dem allgemeinen Ausdruck quis (3,355) und in einer rhetorischen Frage zeigt, daß Cyzicus' Reaktion als die übliche angesehen wird.^^o Die Bemerkungen sind in sich verständlich, bieten aber Schwierigkeiten bei der Einordnung in die Episode als ganze. Denn Vorzeichen, durch die Cyzicus sein Schicksal kennt, werden an keiner anderen Stelle in der Erzählung erwähnt. Sie werden auch nicht stillschweigend vorausgesetzt, indem sich Cyzicus zum Beispiel bei der Ankunft der Argo entsprechend verhält. Die Vorstellung, daß Menschen Vorzeichen von den Göttern erhalten, sie aber nicht berücksichtigen, steht überhaupt in Widerspruch zu der sonst in diesem Epos bestehenden Situation, daß die Menschen die Zukunft erfahren möchten, aber von den Göttern bewußt in Unwissenheit gehalten werden (vgl. bes. 4,477b^82).i9' In diesem Fall lassen sich außerdem eine Vorherbestimmung des Schicksals und das Wissen der Menschen darum schwer mit der in der Darstellung des Geschehensablaufs herausgearbeiteten Motivation der einzelnen Ereignisse vereinbaren, daß Cyzicus sich in Jagdleidenschaft unabsichtlich an einer Göttin vergeht, aufgrund von deren persönlichen Rachegefühlen bestraft wird, als sie mit der Argofahrt eine günstige Gelegenheit gekommen sieht, und ihm der Zusammenhang erst im Tod klarwird.

189 Man muß wohl mit Langen (1896/97, 239 zu 3,352), Burck (1970, 555), Lüthje (1971, 107 Anm. 1) und Schenk (1991, 151), aber gegen Wagner (1805, 99f. zu 3,352ff.) davon ausgehen, daß mit iuvenem populosque (3,352) Cyzicus und die Cyzicener gemeint sind und nicht lason und die Argonauten. Denn der Vers mit diesem Ausdruck schließt sich unmittelbar an die Beschreibung der Bestattungszeremonien für Cyzicus an, die Zeitangabe (3,353) ist so formuliert, als seien die Ausführer der Argofahrt und die von dem Orakel Betroffenen nicht dieselben Personen, und der Wunsch auf ein langes Leben anstelle des durch Vorzeichen angekündigten Todes paßt nur zu Cyzicus und dessen Tod. 190 Vgl. Wagner 1805, 99f. zu 3,352ff.; Happle 1957, 120 mit Anm. 1; anders Lüthje 1971, 106f. - Zur Gesamtdeutung von 3,352-356 vgl. auch Lüthje (1971, 106f.) und Schenk (1991, 151), die in den Versen einen weiteren Beleg für Cyzicus' Schuldhaftigkeit sehen, ohne sie in den Zusammenhang der Episode einzuordnen. Zu Versuchen, die Beziehung der Verse zur Episode zu klären, vgl. Burck (1970, 555f.) und Franchet d'Espèrey (1998, 215f.). 191 S. u. Kap. В II 5 (S. 214ff.).

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

Wegen dieser Problematik kann der Nachtrag des Dichters nur dann mit dem Vorausgehenden verbunden werden, wenn man annimmt, daß Cyzicus die Ankündigungen tatsächlich in keiner Weise berücksichtigt und ihm deren Verwirklichung bis zum Schluß nicht bewußt wird und vor allem daß Cybeles Vorgehen, das zunächst eine unabhängige private Aktion zu sein scheint, nun als Teil eines umfassenderen, auch für Cybele vorherbestimmten Geschehens dargestellt werden soll. Eine solche Umdeutung geschähe allerdings ziemlich unvermittelt und an dieser späten Stelle in der Erzählung ohne eigentliche Wirkung, weil die Ereignisse bereits unter anderen Prämissen geschildert worden sind. An der Position der Bemerkungen über Cyzicus' Schicksal ist auffällig, daß sie die Beschreibung der Bestattungszeremonien unterbrechen. Denn zunächst werden diese bis zum Brennen der Scheiterhaufen geschildert (3,350b-351), dann schließt sich ohne Übergang der Einschub an (3,352356), und darauf folgt unmittelbar der Satz, der das gesamte Bestattungsritual abschließt (3,357a). Die Verse zu Cyzicus' Schicksal könnten also fehlen, ohne daß in der Erzählung etwas ausgelassen bzw. so daß die Beschreibung vom Ablauf der Bestattungszeremonien nicht gestört wäre. Vielleicht ist die unorganische Einfügung dieser Bemerkungen durch die Deutung von Kyzikos' Tod in Apollonios Rhodios' Version beeinflußt. Da heißt es bei Kyzikos' Tod von der Hand lasons, daß sich dadurch dessen Schicksal erfülle (AR l , 1 0 3 5 b - 1 0 3 9 a ) . i 9 2 Apollonios Rhodios hat zwar keine Götterhandlung zur Lenkung des Geschehens, jedoch scheint in seiner Fassung Kyzikos' Schicksal irgendwie durch höhere Mächte vorherbestimmt zu sein. Im Unterschied zu Valerius Flaccus bleiben Form, Ausmaß und Motivation von deren Einfluß indirekt und unklar, ist deren Wirken für den Ablauf der Episode und die Situation der Menschen nicht zentral und handelt es sich um ein unpersönliches Walten, da ledigüch allgemein von Schicksal gesprochen wird und keine Götter mit persönlicher Identität auftauchen. Einwirkung höherer Mächte wird nicht eigentlich thematisiert oder charakterisiert, sondern nur gelegentlich erwähnt, offenbar als Ansatz zu Reflexion und Erklärung einzelner Handlungen innerhalb des Geschehensablaufs über die sachliche Schilderung hinaus. Auf der Basis der Darstellung in der Episode insgesamt läßt sich für Apollonios Rhodios' Angaben bei Kyzikos' Tod folgende Bedeutung erschließen. 1 9 2 Vgl. Garson 1964, 269; Frankel 1968, 128 zu A R l , 1 0 3 5 f . ; Burck 1970, 548; Hull 1979, 388, zu Apollonios Rhodios' Erklärung von Kyzikos' Tod. - D i e Verse über die Unausweichlichkeit des Schicksals (AR l , 1 0 3 5 b - 1 0 3 9 a ) dienen wohl weniger dazu, tiefes Mitleiden des Dichters deutlich zu machen, wie Händel ( 1 9 5 4 , 56) und Happle ( 1 9 5 7 , 102) meinen.

п . Textanalyse

ЮЗ

anhand derer dann die Beziehung zu Valerius Flaccus betrachtet werden kann: In Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum Gastmahl erwähnt Apollonios Rhodios ein Orakel, das Kyzikos irgendwann vor dem Eintreffen der Argonauten auffordert, eine göttliche Schar von Helden bei deren Ankunft freundlich aufzunehmen und ihr nicht kämpferisch zu begegnen (AR I,969b-971).193 Genauere Angaben, etwa zu Herkunft und Anlaß des Orakels, Zeitpunkt der bevorstehenden Ereignisse oder Identität der Ankömmlinge, gibt es nicht. Die einzige direkte Wirkung des Orakels, die ausdrücklich als dessen Folge bezeichnet wird (AR 1,969), besteht darin, daß Kyzikos die Argonauten tatsächlich gastfreundlich empfängt (AR 1,9619 6 3 . 9 6 8 - 9 6 9 a . 9 7 9 a ) . D e n n Kyzikos muß vermuten, daß die Argonauten, deren Abstammung die Kyzikener gleich bei der ersten Begegnung am Strand erfragen (AR l,962b-963a), zu der mit dem Orakel gemeinten Personengruppe gehören. Der Hinweis, daß Kyzikos die Argonauten gastfreundlich bewirtet und seine Angst ablegt (AR 1,979), ist dann so zu verstehen, daß Kyzikos keine Gefahren mehr fürchtet, da er sich gemäß den Anweisungen des Orakels verhält. Bei Kyzikos' Tod (AR l,1030-1039a) heißt es, daß Kyzikos seinem Schicksal, im Kampf gegen Helden zu sterben, nicht entgehen konnte, während er zu dem Zeitpunkt nicht glaubte, daß ihm von solchen eine Gefahr drohe (AR l,1035-1039a). Daß Kyzikos in dem Moment nicht an eine Gefährdung durch die Argonauten (oder eine andere Gruppe von Heroen) denkt, liegt daran, daß er (wie alle Kyzikener) die Argonauten bei deren Rückkehr nicht erkennt, sondern für pelasgische Makrieer hält (vgl. AR l,1022b-1024). Daß Kyzikos in einem Kampf gegen die Argonauten 193 Wenn Valerius Flaccus das Orakel wegläßt, kann man wohl nicht wie Ravenna (1981, 343 u. 344) von einer Säkularisierung der Geschichte sprechen, da Valerius Flaccus auf andere Weise und an anderen Stellen den göttlichen Einfluß insgesamt wesentlich deutlicher macht als Apollonios Rhodios. 194 Ob Kyzikos die Argonauten unter anderem auch deshalb freundlich aufnimmt, weil er dasselbe Alter hat wie die meisten Argonauten, was Frankel (1968, 124 zu AR 1,972) meint, geht aus dem Text nicht eindeutig hervor. Dagegen wird Gleichaltrigkeit an anderer Stelle bei Apollonios Rhodios (AR 2,1130) ausdrücklich als Motiv genannt. - Levin (1971, 9 1 - 9 7 ) deutet das Verhalten der Kyzikener bei der Aufnahme der Argonauten in Apollonios Rhodios' Version mit einer umfassenden Theorie als zentralen Bestandteil der Episode. Er betrachtet es als auffällig von der homerischen Norm abweichend (vgl. dagegen Clauss 1993, 160 Anm. 28) und erklärt es durch die gegebene Situation, das Ansetzen von Orakelsprüchen mit spezifischem Sinn, das daher notwendige Verhalten gegenüber Fremden und die Funktion in der Episode. Nach den geringen Hinweisen im Text auf das Thema der Gastfreundschaft und Fremdheit scheinen die Interpretation sowie die Annahmen über Inhalt und Bedeutung der Orakel etwas weitgehend und konstruiert.

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Α. ΙηΐβφΓβΐ3ΐίοη der Cyzicus-Episode

(= Helden) fällt, vor dem er vorher gewarnt wird, und daß dabei darauf hingewiesen wird, daß er zu dem Zeitpunkt das von diesen drohende Verhängnis nicht berücksichtigte (AR l,1037-1039a), lassen vermuten, daß Kyzikos' Tod in Übereinstimmung mit den Ankündigungen des Orakels steht. Denn bei der zweiten Ankunft der Argonauten in Kyzikos begegnet Kyzikos diesen faktisch entgegen den Anweisungen des Orakels nicht mehr freundlich, sondern kriegerisch. Obwohl Kyzikos also fortwährend glaubt, sich gemäß dem Orakel zu verhalten, und auch sonst kein Fehlverhalten von ihm erwähnt wird, kann er seinem vorherbestimmten Schicksal nicht entgehen. Allerdings muß aus den Bemerkungen bei Kyzikos' Tod erschlossen werden, was bei der Wiedergabe des Orakels nicht ausdrücklich gesagt wird, daß ein Kampf gegen Heroen zu Kyzikos' Tod führen wird. Wegen der typischen Form derartiger Orakel darf man das Ergebnis wohl als impliziert ansetzen. Auf diese Weise ergibt sich Cyzicus' Tod als allgemein von höheren Mächten vorherbestimmt und angekündigt, aber nicht begründet, wobei auch deren Identität und konkrete Einflußnahme unklar bleiben. Möglicherweise hat Valerius Flaccus also, von diesen Andeutungen zu Cyzicus' Schicksal angeregt, seine Version der zu Cyzicus' Tod führenden Entwicklung entsprechend der von ihm beabsichtigten Aussage geschaffen. Gleichzeitig hat er offenbar die göttliche Ankündigung eines verhängnisvollen Schicksals für Cyzicus in Zusammenhang mit der Ankunft der Argonauten nicht übergehen können oder wollen, weil sie bei Apollonios Rhodios und vielleicht auch sonst in der mythographischen Tradition vorhanden war. Deswegen hat er das Motiv am Ende seiner Erzählung aufgenommen, wie auch Apollonios Rhodios nach Cyzicus' Tod eine Erklärung von dessen Schicksal einschiebt. Dabei hat Valerius Flaccus zwar die Vorausverweise insofern mit seiner Darstellung in Übereinstimmung gebracht, als er in einer präziseren Formulierung konkret die Argofahrt (3,353) und Cyzicus' Tod (3,356b) erwähnt. Dabei handelt es sich aber lediglich um eine äußerliche Angleichung, inhaltlich hat Valerius Flaccus keine vollkommene Anpassung an seine eigenständige und eigentlich anders ausgerichtete Gestaltung vorgenommen. Wenn man ihm allerdings darin folgt, daß er die Vorzeichen durch allgemein menschliche Überlegungen als irrelevant für Cyzicus' konkretes Handeln erklärt, stören sie zumindest die von ihm konstruierte Motivation des Geschehens nicht. Cyzicus' vom Dichter als verständlich angesehenes Verhalten entlastet von der durch die Vorzeichen gegebenen Zwangsläufigkeit.

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Nach dem Nachtrag zu Cyzicus' Schicksal (3,352-356) wird der Bericht über die Vollziehung der Bestattungszeremonien (3,347-351) mit der Beschreibung ihrer Beendigung unmittelbar fortgesetzt (3,357-361), Die notwendigen Handlungen sind jetzt vollzogen und damit den Toten die letzte Ehre erwiesen (3,357a); die Trauernden verlassen den Strand (3,357b359a). Deren Charakterisierung als cum prole nurus (3,358) zeigt, daß die Trauemden, die jetzt weggehen, Cyzicener sind, da es auf der Seite der Argonauten keine Frauen und Kinder gibt (vgl. 3,247b). Zum einen macht die Formulierung implizit klar, daß die Cyzicener während der gesamten Bestattungszeremonien zumindest anwesend sind. Ob und wie sie an den Bestattungsfeierlichkeiten beteiligt sind, ist bis jetzt nicht ausdrücklich gesagt worden, sondern die Cyzicener werden nach der Beschreibung ihrer Trauer bei der Identifizierung der Toten (3,274-283a) nicht mehr erwähnt. Erst relativ spät (3,347) wird überhaupt eine Gruppe, die die Bestattungsfeierlichkeiten durchführt, namentlich genannt. Da es sich dabei um die Argonauten handelt, ist damit das Verhalten der Cyzicener bei der Bestattung noch nicht klar. Indem jetzt durch indirekte Angaben deutlich ist, daß sowohl die Argonauten (3,347) als auch die Cyzicener (3,358) an der Bestattung teilnehmen, kommt wieder deren besondere Art, nämlich als gemeinschaftliche Aktion der beiden am Kampf beteiligten Parteien, zum Ausdruck. Zum anderen deutet die Bezeichnung der Trauemden mit einem nur auf die Cyzicener zutreffenden Ausdruck subtil die unterschiedliche Einstellung der Argonauten und der Cyzicener zu den Vorgängen des Kampfs sowie die dadurch bedingte Ausrichtung der Darstellung an: Die Cyzicener sind zwar noch traurig (passibus aegris, 3,357), jedoch ist nach dem Ende der Bestattung die Angelegenheit für sie erledigt und bewältigt, so daß sie (äußerlich und innerlich) die Szene verlassen können. Von da an werden nur noch die Argonauten, die sich für den Tod von Cyzicenem im Kampf verantwortlich fühlen, und ihre daraus entstehenden persönlichen Pobleme, mit denen sie fertig werden müssen, behandelt. Die Bestattungsszene klingt in friedlicher Stimmung mit einem Gleichnis (3,359b-361) aus, das die Ruhe und Stille betont, die nach dem Ende der Trauerklagen am Strand einkehrt. Auch bei Apollonios Rhodios handelt der letzte Teil der Episode allein von der Situation der Argonauten. Der Anschluß erfolgt jedoch ziemlich unvermittelt mit einer temporalen Verbindung (AR 1,1078), ohne daß die 195 Vgl. Happle 1957, 120f.; Shelton 1971, 137f.; Fitch 1976, 124 mit Anm. 24; Gärtner 1994, 253f., zum Gleichnis.

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Α. 1тефге1а110п der Cyzicus-Episode

Bestattungsszene explizit zum Abschluß gebracht oder das Weggehen der Cyzicener erwähnt und damit indirekt deren innerer Zustand charakterisiert würde. Hier kommt deutlich zum Ausdruck, daß Apollonios Rhodios weniger an einer abgerundeten und die jeweilige Stimmung andeutenden Erzählung als an einer Beschreibung der einzelnen Fakten und Aktionen liegt.

4. Entsühnung der Argonauten (3,362-461) Im letzten Abschnitt der Cyzicus-Episode (3,362-461) werden die lethargische Trauer der Argonauten nach dem Kampf und der Vollziehung der Bestattungszeremonien sowie die Vorbereitung ihrer endgültigen Abfahrt durch die Befreiung aus diesem Zustand beschrieben. Wie der Anschluß des Abschnitts mit at (3,362) zeigt, führt das friedliche Ende des Bestattungsrituals (3,357-361) nicht zu innerer Ruhe bei den Argonauten. Denn für die Argonauten sind die Vorgänge auf Cyzicus mit der Beendigung der Bestattung nicht abgeschlossen, weil es für sie außer um die äußerlich notwendigen Handlungen auch um die innere Bewältigung der Situation geht. 196 196 Die spezifische Reaktion der Argonauten in der Cyzicus-Episode zeigt sich deutlich durch ihr anderes Verhalten nach Tiphys' Tod ( 5 , 3 2 ^ 5 a ) und nach Phineus' beunruhigender Prophezeiung (4,626-627): Auch nach Tiphys' Tod trauern alle Argonauten (bes. 5,32-34.35-59.63a). Da sie aber nicht selber verantwortlich und außerdem vorgewarnt sind (vgl. 4,591b-598), sind sie nicht vollkommen niedergeschlagen und können deshalb anfangen, praktische Abhilfe für die durch den Verlust des Steuermanns neu eingetretene Sachlage zu schaffen (5,63b-65a; vgl. Langen 1896/97, 345 zu 5,63). Nach Phineus' Prophezeiung sind die Gefährten aus Furcht tatenlos (4,626a), lason kann sie aber durch eigene Aktionen wieder zum Handeln bringen (4,626b-627). Beim längeren Aufenthalt der Argonauten auf Lemnos (2,369b-373a) ist die Situation etwas anders (vgl. aber Shey 1968, 106; Shelton 1971, 148f. u. 537), da die Verzögerung durch ein für die Argonauten positives Erlebnis entsteht, zumindest zunächst direkt durch äußere göttliche Einwirkung verursacht ist (vgl. 2,356) und nicht aus einem vorhergehenden Ereignis mit direkter Beteiligung der Argonauten folgt. Jedoch gelingt den Argonauten auch auf Lemnos nach Hercules' Ermahnungen (2,373b-384a), die bei lason auf fruchtbaren Boden fallen (2,384b-392), ein Aufbruch aus eigener Kraft (vgl. Bahrenfuß 1951, 142f., 263f., 272f.; Garson 1964, 275; Adamietz 1970, 31; Otte 1992, 72; Hershkowitz 1998, 114-119; vgl. dagegen Gärtner 1994, 81-88, 291 u.ö., mit negativer Deutung von lasons Verhalten aufgrund des Gleichnisses; vgl. auch Hershkowitz 1998, 185). Nur in der Cyzicus-Episode sind die Argonauten aufgrund der begangenen Taten so betroffen, daß sie die Hilfe des Mopsus und eines Entsühnungsrituals brauchen ( 3 , 3 7 7 458). Deswegen kann man wohl nicht wie Eigler (1988, 63f.) sagen, daß das Leid keine weiteren Konsequenzen habe, da die Abfahrt mit Erleichterung erst nach der Entsühnungszeremonie möglich ist.

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Die Trauer über die Gefallenen und vor aUem die Bestürzung über die eigenen Taten haben zur Folge, daß die Argonauten in ihrem Kummer ständig von bedrückenden Gedanken und quälenden Vorstellungen heimgesucht werden (3,362-363.365b) und keine Zuversicht mehr haben (3,364b-365a). Denn die Argonauten sind zwar durch göttliche Einwirkung schuldig geworden, gehen auch von einer Verursachung ihrer Taten durch die Götter aus und sind daher subjektiv unschuldig. Trotzdem fühlen sie sich nicht schuldlos, sondern werden wegen ihrer objektiven Schuld von Schuldgefühlen geplagt und übernehmen die Verantwortung für ihre Taten. Dieser innere Zustand äußert sich in Erstarrung, Antriebslosigkeit und Untätigkeit (3,368b). Deshalb sind die Argonauten nicht in der Lage abzufahren, obwohl ihnen günstige Winde zweimal Gelegenheit dazu bieten ( 3 , 3 6 4 a ) . S i e glauben nämlich, noch nicht alle notwendigen Ehren für Leute, die durch sie umgekommen sind, vollzogen zu haben (3,366-367a). Angesichts dieser schwerwiegenden Bedenken bewegen selbst ihre ursprünglichen Antriebskräfte die Argonauten nicht mehr (3,367b-368a). Diese werden wegen der Außergewöhnlichkeit der Situation hier angeführt und damit die leitenden Momente der Argonauten, die für alle ihre Aktionen gelten, einmal explizit genannt. Aus der Kombination der gewählten Formulierungen ergibt sich, daß es sich einerseits um den Wunsch nach Rückkehr im Anschluß an eine erfolgreiche Ausführung des Auftrags sowie um die Veφflichtung gegenüber Familie und Heünat und andererseits ШП den Eifer, mit den eigenen Fähigkeiten etwas zu leisten, und den Drang nach Taten handelt. Diese Ideale sind in Entsprechung zu den Wertvorstellungen der Argonauten ihr primäres Motiv für die Fahrt. Da die Argonauten nun keine derartige Motivation mehr bestmimt, scheinen Weiterfahrt und Erreichen des Ziels ernsthaft gefährdet. Sogar 197 Vgl. Schubert 1984, 179 u. 270f.; Wacht 1991b, 116; Tschiedel 1998, 2 9 9 . - Einen solchen Zustand kann man nicht wie Shey (1968, 90 u. 106) so beschreiben, daß sich die Agonauten von den Gefühlen des Selbstmitleids und der Melancholie verführen ließen. 198 Vgl. Boyancé 1935, 112; Happle 1957, 127; Lüthje 1971, 107f.; Shelton 1971, 1 3 8 - 1 4 1 . 199 Vgl. zur Motivation der Argonauten z.B. l , 1 0 0 - 1 0 2 . 2 7 1 - 2 7 2 a . 2,372a.457. 3 , 6 7 9 - 6 8 1 a . 4 , 1 9 3 - 1 9 4 . 5,313b-314a. 8,391b. Vgl. bes. rerum ... amor, 2,381; vgl. Shelton 1971, 140; Poortvliet 1991, 212 zu 2,380f., zur Bedeutung des Ausdrucks und der Beziehung zur Formulierung in der Cyzicus-Episode; vgl. auch Bahrenfuß 1951, 141. S. u. Kap. В III 2 (S. 240ff.). - Der Wunsch nach Rückkehr ist bei allen Argonauten (vgl. z.B. l , 2 3 7 b - 2 3 8 a . 2 7 3 b . 3 7 9 . 3 , 6 5 4 - 6 5 5 a . 4 , 3 3 5 b - 3 3 6 . 5,551b. 562b; vgl. Strand 1972, 5 0 - 5 2 ) und nicht nur bei lason vorhanden, wie Shelton (1971, 317) meint.

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lason gibt sich der Trauer hin und zeigt offen seinen Schmerz, obwohl sich das für einen Führer normalerweise nicht gehört (3,369-371)200 Da unmittelbar anschließend (3,372) beschrieben wird, wie lason aktiv wird, soll die Schilderung seines Verhaltens wohl keine Kritik an lasons persönlichen Eigenschaften als Führer sein, sondern das große Ausmaß der Trauer in diesem Fall und deren weitreichende Konsequenzen veranschaulichen, lason ist allerdings nicht so von Bestürzung und Lähmung ergriffen, daß er sich seiner Führerposition und seiner Verantwortung, für die Vollendung der Fahrt zu sorgen, überhaupt nicht mehr bewußt wäre. Jedoch kann er die Untätigkeit der Argonauten nicht aus eigener Kraft beenden und wendet sich deshalb mit einer Bitte um Erklärung und Hilfe an den Seher Mopsus (3,372-376).20i Auch bei Apollonios Rhodios können die Argonauten nach dem Ende der Bestattungszeremonien nicht gleich von Kyzikos abfahren. Wie bei ihrer nächtlichen Rückkehr vor dem Kampf (AR l,1015b-1018a) liegt das an den Windverhältnissen (AR 1,1078-1080a).202 Der Grund für die Situation wird sachlich-objektiv angegeben und nicht aus den Ereignissen heraus entwickelt. In Valerius Flaccus' Version dient der innere Zustand der Personen zur Erklärung des Handlungsablaufs bzw. wird durch seine Auswirkungen auf das Geschehen charakterisiert. Die Unfähigkeit der Argonauten zur Abfahrt ist eine Folge der Einführung der göttlichen Motiva200 Vgl. Wagner 1805, 100 zu 3,369ff.; Happle 1957, 127f.; Lüthje 1971, 108; Hull 1979, 386f. 201 Vgl. Happle 1957, 128; Lüthje 1971, 108; Cecchin 1984, 294. - lasons Rede (3,373-376) zeigt, daß es ihm nicht in erster Linie darum geht, den Götterwillen zu erfahren, wie Adamietz (1976b, 460) meint, sondern darum, eine Erklärung der konkreten Situation und Anweisungen zu deren Beendigung zu erhalten. Sein Ersuchen ist keine Anfrage an die Götter selber (so Schönberger 1965, 130), sondern richtet sich an einen Seher und Priester (vgl. sacerdos, 3,432), der allerdings in einem besonderen Verhältnis zu Apollo steht (vgl. Phoebeum ... Mopsum, 3,372; Delias ... sacerdos, 3,432). Bei Mopsus' Vorstellung als Seher im Katalog (1,383-386) wird Apollo sogar als sein Vater bezeichnet (1,383). Er scheint daher eine Art >geistiger Vater< für Mopsus zu sein (vgl. auch AR 1,65-66). Die Beziehung soll wohl M o p s u s ' Eigenschaft als Seher charakterisieren, aber nichts über sein Verhältnis zu den Göttern oder seine tatsächliche Abstammung aussagen. Denn an anderen Stellen wird f ü r Mopsus das Patronymikon Ampycides verwendet (vgl. 3,420.460. 5,366; vgl. auch AR 1,1083.1106. 2,923. 3,916b-917a.926. 4,1502; vgl. Wijsman 1996, 184 zu 5,366). Das Fehlen von fato in 3,374 im lateinischen Text von Libermans Ausgabe (1997, 96) ist wohl ein Druckfehler. 202 Vgl. Boyancé 1935, 112; Happle 1957, 127 u. 128; Garson 1964, 270; Venini 1971b, 605; Ferenczi 1995, 151; Tschiedel 1998, 298. - Hurst (1964, 2 3 2 237) versteht die Verwendung des Windes in der gesamten Episode bei Apollonios Rhodios als Verbindung von sachlichem Wissen und poetischen Konventionen. Diese Deutung und die darauf aufbauenden allgemeinen Folgerungen für Apollonios Rhodios' Erzählweise und Darstellungsabsichten sind vielleicht etwas weitgehend.

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tion und verdeutlicht deren Auswirkungen auf die betroffenen Menschen. Die Erstarrung der Argonauten macht in extremer Weise deutlich, wie sehr sie durch die von ihnen gegen ihren Willen verübten furchtbaren Taten mitgenommen sind. Entsprechend zu seiner anderen Konzeption thematisiert oder problematisiert Apollonios Rhodios das Verhältnis der Argonauten zu ihrem Tun nicht. Bei Valerius Flaccus wendet sich lason an Mopsus und erkundigt sich nach den Gründen für die gegenwärtige Situation der Argonauten (3,373375a), wobei er die verschiedenen Möglichkeiten von götthcher (3,373b), schicksalhafter (3,374a) oder auch eigener menschlicher Verursachung erwägt (3,374b-375a). Wie bei der Auslösung des Kampfs und Cyzicus' Tötung (vgl. 3,271b-272a.296b-306a) ist es für lason bei der Erstarrung der Argonauten eine reale Alternative, daß sie auf göttliche Einwirkung zurückzuführen sei. Aufbau und Formulierang seiner Rede (Parallelisierang der Frage, ob göttliches Wirken vorliege, mit der allgemeinen Frage nach dem Zustand der Argonauten in der einleitenden Hauptfrage, 3,373; Reihenfolge bei der Aufzählung der Alternativen, 3,373b-375a; zweimalige Nennung einer äußeren Macht als Ursache, 3,373b-374a) legen sogar nahe, daß er die Erklärung mit göttlichem Willen als sehr wahrscheinlich ansieht. lasons Ausdracksweise gibt femer Hinweise auf das Verhältnis zwischen Göttern und Schicksal (in der Sicht der Menschen). Denn die Straktur der Äußerang deutet darauf hin, daß mit der Erwähnung des Schicksals keine neue, selbständige Größe eingeführt, sondern eine erklärende und verallgemeinernde Umschreibung vorgenommen wird, die den Gedanken der Auslösung durch Götter aufnimmt. Bei seiner Suche nach den Ursachen beschreibt lason die jetzige Situation der Argonauten, indem er eines ihrer charakteristischen Zeichen nennt, nämlich daß die Argonauten die Werte, durch die sie früher angetrieben wurden, vergessen haben (3,375b). Mit der Erwähnung dieses Merkmals greift lason ein Kennzeichen des Zustands heraus, das bereits in dessen auktorialer Beschreibung aufgetaucht ist (3,367b-368a).203 Daher ist davon auszugehen, daß an dieser Stelle derselbe Sachverhalt ausgedrückt werden soll und mit der Verbindung famaeque larisque (3,375) nicht unbedingtes und absolutes Ruhmesstreben, sondern eher der Wunsch nach Rückkehr und die Anerkennung zu Hause aufgrund geleisteter Taten gemeint sind. Der Unterschied in der Wortwahl mit einer leichten Verschiebung der Bedeutungsnuancen ergibt sich daraus, daß lason 203

Vgl. Wagner 1805, 100 zu 3,372ff.

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

die Motive der Argonauten nicht objektiv formuliert, sondern aus seiner subjektiven Sicht. Im Gespräch werden der Deutlichkeit halber nicht die innere zugrundeliegende Einstellung genannt, sondern die äußerlich sichtbaren Folgen. lason beendet seine kurze Rede an Mopsus (3,373-376) mit der Frage, wozu die Untätigkeit der Argonauten führen werde (3,376b). Die Überlegung zeigt, daß die Lähmung der Argonauten lason wegen der Zukunft besorgt sein läßt und er deshalb um Abhilfe bemüht ist. Mopsus geht auf lasons Ersuchen ein (dicam, Ъ,ЪП), indem er in einer langen Rede (3,377-416) zunächst anhand allgemeiner theoretischer Überlegungen den Zustand der Argonauten erklärt (3,377-396a) und dann mit dem Bericht über ein ihm bekanntes Entsühnungsritual Anweisungen für dessen Beendigung erteilt (3,396b-416).204 Da Mopsus die konkrete Situation der Argonauten nicht direkt erläutert, sondern sie von generellen Gedanken über das Schicksal von Personen, die absichtlich oder unabsichtlich einen Mord begangen haben, herleitet, sind seine Darlegungen, wie er selbst sagt, weit ausholend und umfassend (penitus, Ъ,Ъ11). Mopsus beginnt mit der Aussage, daß die Seele etwas Wertvolles sei, das dem himmlischen Feuer entstamme (3,380b), und im sterblichen Кёфег der Menschen nur für die kurze Zeit des menschlichen Lebens verweile (3,378b-380a). Daraus folgert er, daß man, auch wenn die Seele nach ihrem kurzen Aufenthalt im menschlichen Körper ohnehin wieder in den Himmel gelange, nicht töten und so die Rückkehr der Seele gegen den vorherbestimmten Ablauf beschleunigen dürfe (3,381-382). Ausgehend von der Rückkehr der Seele zum Himmel beschreibt er dann die andere Seite ihrer Existenz, nämlich ihr Weiterleben nach dem Tod der Menschen (3,383-384a). Diese lösten sich im Tod nämlich nicht vollkonunen auf (3,383), sondern die Seele setze ihr Leben fort, und zwar speziell mit der Fähigkeit zu den Empfindungen ira und dolor (3,384a).205

2 0 4 Vgl. Wagner 1805, lOOf. zu 3 , 3 7 7 ^ 1 6 ; Langen 1896/97, 241 zu 3,378; Boyancé 1935, 1 1 3 - 1 1 9 ; Happle 1957, 129-131, zu Mopsus' Rede. - Da es in Mopsus' Rede um eine konkrete Fragestellung geht, führt Lüthjes (1971, 109f.; vgl. dazu Schubert 1984, 270 Anm. 13) Annahme, daß Mopsus hier »die umfassende Gerechtigkeit der Weltordnung sichtbar machen« wolle und »das ganze System der Bezüge« enthülle, wohl etwas zu weit. - Die Wichtigkeit der Mopsus-Rede innerhalb der Cyzicus-Episode stelltauch Shelton (1971, 142) fest, allerdings nicht aufgrund inhaltlicher Erwägungen, sondern allein aufgrund der großen Zahl der für die Episode signifikanten Wörter in der Rede. Eine Auswertung dieser Erkenntnis erfolgt nicht. 205 Mopsus spricht nicht explizit davon, daß die Seele nach dem Tod weiterlebe, sondern drückt diesen Sachverhalt dadurch aus (3,384a), daß die Gefühle ira und áo/or fortdauerten (vgl. Shelton 1971, 143). Ein Grund für die Wahl gerade dieser Formulierung könnte sein, daß die Emotionen, die die Verbindung ira und dolor

п . Textanalyse

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Daraus ergibt sich die Begründung für das Verbot von Mord: Da die Seele mit den entscheidenden Gefühlen erhalten bleibe, könnten gewaltsam Getötete sich nach ihrem Tod bei luppiter beklagen und ihm ihr Leid mitteilen (3,384b-386a). Daraufhin dürften sie in irgendeiner Form noch einmal auf die Erde kommen (3,386b-387a) und in Begleitung einer der Erinyen alle Gegenden der Erde durchschweifen (3,387b-388). Auf diese Weise könne jeder seine Mörder, die an ihm schuldig geworden seien, bestrafen und sich an ihnen rächen (3,389-390).206 Wie sprachlich durch die Absetzung mit at quitus (3,391) deutlich wird, ist die Situation anders für die anschließend (3,391-396a) behandelte Gruppe derer, die unabsichtlich getötet haben. Deren Verhalten kommt zwar nahe an schuldhaftes heran, ist aber ohne ihr Zutun durch die Umstände ausgelöst (3,391-392207). Deshalb werden diese Täter aufgrund

bezeichnet, in Valerius Flaccus' Sicht die zentralen und charakterisierenden Empfindungen der Menschen sind bzw. diejenigen, die am leichtesten durch äußere Einflüsse erregt werden und so Handlungen der Menschen auslösen können. Denn die Verbindung ira und dolor taucht an mehreren anderen Stellen (vgl. z.B. 2,165b. 8,264.290; vgl. auch die Verbindung von luctus und ira, z.B. 3,585b-586. 4,88b) auf und bezeichnet jeweils die bestimmenden Gefühle der Menschen als Ursache ihres Verhaltens. 206 Eine derartige Auffassung vom Verhältnis der Getöteten zu ihren Mördern ergibt sich indirekt auch aus der Beschreibung der Reaktion der Manen (4,258-260) beim Faustkampf zwischen Amycus und Pollux (4,252-314). Zwar rächen sich die Manen in dem Fall nicht selber an ihrem Mörder Amycus, aber sie erhalten auf ihre Bitten hin die Erlaubnis, während der Zeit des Kampfs für die meritae spectacula pugnae (4,259) aus der Unterwelt aufzutauchen. Es geht also ebenfalls darum, daß die Toten noch einmal auf die Erde zurückkehren können und durch Bestrafung ihres vorsätzlichen Mörders Genugtuung erhalten (vgl. Otte 1992, 86, mit Feststellung der Beziehung, aber ungenauer und symbolischer Deutung). Daß es sich bei dieser Vorstellung vom Wirken der Manen um eine eigene Konzeption von Valerius Flaccus handelt, liegt deshalb nahe, weil die Toten nur in seiner Version am Faustkampf teilnehmen (vgl. Kröner 1968, 737 mit Anm. 2; Korn 1989, 174 zu 4,258-260). Deswegen kann man eine solche Auffassung von den Manen und ähnliche Gedanken in Mopsus' Rede wohl nicht wie Spaltenstein (1991, 94f.) als elementar und allgemein verbreitet bezeichnen. - Vgl. Thuile 1980, 96, zur Rolle der Furien in Zusammenhang mit der Rache der Toten. 207 Die generelle Bedeutung von 3,391-392 ist klar, die sprachliche Formulierung aber nicht (vgl. Ehlers 1980, 68, app. crit. zu 3,392), da sich keine überzeugende grammatisch einwandfreie Konstruktion zu ihrer Erklärung finden läßt (vgl. aber Liberman 1997, 236 zu 3,392). Deshalb ist vielleicht für 3,392 die Konjektur von Delz (1991, 15) zu erwägen: »sifors saeva (Acc.) tulit miseris et próxima (Acc.) culpae«. Denn mit nur geringfügigen Änderungen wird so der (postulierte) Sinn erhalten und der Satz sprachlich durchschaubar (s. o. S. 86 Anm. 158 zur Rolle von fors / fortuna). Die Entstellung des Verses könnte dann folgendermaßen vor sich gegangen sein: Man erkannte nicht mehr, daß fors und saeva entgegen dem ersten Anschein nicht zusammengehören, nahm das aber an. Deshalb versuchte man, mit

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Α. 1тефге1а110п der Cyzicus-Episode

ihrer anderen Einstellung nicht wie die freiwilligen von außen durch die Einwirkung ihrer Opfer von Furcht gepeinigt (vgl. 3,389-390), sondern von ihrem eigenen Gewissen (mens ipsa, 3,393) durch das Bewußtsein, eine schreckliche Tat verübt zu haben, und ihre eigenen Schuldgefühle gequält (3,393a) und von ihren Handlungen eingeholt (3,393b-394a). Diese psychologische Situation hat zur Folge, daß sie sich der Trauer hingeben und zu Tatenlosigkeit erstarren (3,394b-396a). Unvermittelt im Anschluß an die Beschreibung des Verhaltens von Menschen, die unfreiwilhg getötet haben, im allgemeinen findet die Hinwendung zu dem spezifischen Fall der Argonauten durch den Zusatz quos ecce vides (3,396) statt.208 Nur durch diese kurze Phrase wird deutlich, wie die vorausgehenden Darlegungen auf die konkrete Situation der Argonauten anzuwenden sind. Der Ausdruck identifiziert die Argonauten mit der unmittelbar vorher (3,391-396a) betrachteten Personengruppe. Da außerdem die Schilderung von deren Zustand (3,393-396a) mit der früheren von dem der Argonauten übereinstimmt (3,362-371), ist klar, daß die Argonauten als Leute, die unabsichüich getötet haben, dargestellt und ihre Lähmung mit den daraus entstandenen Schuldgefühlen erklärt werden sollen.209

Ebenso wie die Aussagen verschiedener anderer Personen, daß Götter für das Geschehen verantworthch seien (vgl. 3,259-261.271b-272a. 296b-306a.325b), weisen Mopsus' tiefergehende generelle Ausführungen darauf hin, daß die Argonauten keine Schuld an den Ereignissen trifft. Die Auffassung kommt am Ende der Episode durch Mopsus' indirekt wiedergegebenen Befehl (3,461) bei der Abfahrt der Argonauten von Cyzicus deutlich zum Ausdruck (3,459-461). Dort fordert Mopsus die Argonauten dazu auf, die Taten zu vergessen, die sie zwar ausgeführt hätten {quae gesta manu, 3,461), zu denen sie aber nicht aufgrund eigener Verantwortung, sondern durch äußere Einwirkung höherer Mächte veranlaßt worden seien (quae debita fatis, 3,461).2io im Unterschied zu den anderen

próxima culpa ein äquivalentes Glied zu schaffen, und der Rest des Verses wurde entsprechend angepaßt. 208 Vgl. Wagner 1805, 101 zu 3,391ff.; Shelton 1971, 143f. 209 Vgl. Shelton 1971, 142-144, zur Beziehung zwischen Mopsus' Darlegungen und der Situation der Argonauten. - Sprachlich zeigt sich die Zugehörigkeit der Argonauten zur Gruppe derer, die unabsichtlich getötet haben, schon daran, daß einige besonders charakteristische Wörter aus der Beschreibung ihrer Situation (3,362-371) hier (3,393-396a) wieder auftauchen (vgl. z.B. aegro, 3,365, aegram, 3,395; segni, 3,368, segnitiem, 3,396; vgl. Shelton 1971, 144). 210 Vgl. Wagner 1805, 104 zu 3,459ff.; Langen 1896/97, 250 zu 3,461; Shelton 1971, 146. - S. u. Kap. В II 3 (S. 196ff.) zur Bedeutung von fatum/fata.

п . Textanalyse

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Menschen ist Mopsus als Seher in der Lage, die Vorgänge nicht einfach auf den Einfluß einer äußeren Gewalt zurückzuführen, sondern in seiner Rede das Geschehen theoretisch zu erläutern und die Konsequenzen in Kausalzusammenhängen abzuleiten. Wegen seiner Position ist es Mopsus ebenfalls möglich, Abhilfe für die Situation der Argonauten zu schaffen, was er unmittelbar im Anschluß an die Erklärung (3,377-396a) verspricht (3,396b-397a). Er beginnt jedoch nicht sofort mit der Nennung der notwendigen Aktionen, sondern setzt unvermittelt in einer Art Ekphrasis mit der Beschreibung einer ihm bekannten fernen Region (3,397b-405) und einer dort agierenden Person (3,406-408) ein. Die genaue Lage und die Beschaffenheit dieser Region im Detail gehen aus Mopsus' Angaben nicht eindeutig hervor, jedoch werden die hauptsächlichen Charakteristika, die für Mopsus' anschließende Darlegungen von Bedeutung sind, klar: Das Gebiet, das als das der Cimmerier bezeichnet wird (3,399a),2ii liegt in weiter Feme (procul, 3,398) und ist den himmlischen Göttern unbekannt (3,399b). Es ist nicht identisch mit der Unterwelt, hat aber ähnliche Eigenschaften und Wirkungen (3,398.402-405). Es herrschen vollkommen andere Bedingungen als sonst in der Welt (3,400b-401), vor allem durch Dunkelheit und Stille eine furchtbare Atmosphäre (3,400a.402-403a). Entscheidend ist, daß es dort einen Zugang für die Schatten gibt (3,403b). In dieser Gegend entsühnt ein C e l a e n e u s 2 i 2 Leute, die unschuldig getötet haben (3,406-408), indem er sie von ihrem Irrtum befreit und die 211 Die Wahl gerade dieses Namens könnte dadurch bedingt sein, daß in Homers Odyssee (Od. 11,14-19) ein Volk der Kimmerier in ähnlicher Weise als am Hadeseingang und in Dunkelheit lebend charakterisiert wird (vgl. Shreeves 1978, 89f. mit Anm. 36), da diese Assoziationen hier eine Rolle spielen (vgl. 3,398b.400-401). Beim Kampf in Colchis (6,1-760) taucht unter Perses' Verbündeten ebenfalls ein Volk der Cimmerier auf (6,61), über das aber keine näheren Angaben gemacht werden. Eine Beziehung zwischen den beiden Erwähnungen von Cimmeriem bei Valerius Flaccus ist wegen der andersartigen Zusammenhänge vom Dichter wohl nicht beabsichtigt. Bei den Cimmeriem in Mopsus' Rede geht es nicht um deren reale Existenz, sondern um eine übertragene Funktion (vgl. Shreeves 1978, 89f., zur Art der Ortsbeschreibung an dieser Stelle). - Happle (1957, 129f.) sieht Beziehungen zwischen der Beschreibung des Landes der Cimmerier und der der Wohnung der Invidia in Ovids Metamorphosen (met. 2,760-764), auch wenn es keine wörtlichen Anklänge gebe. Zwar ist jeweils Dunkelheit ein charakteristisches Merkmal, jedoch sind die Schilderungen im übrigen wegen der jeweils hervorgehobenen Aspekte und der dadurch erzeugten Atmosphäre sehr verschieden, so daß die Annahme von Verbindungen nicht naheliegt. 212 Bei aller Beeinflussung durch die verschiedensten Quellen scheint Valerius Flaccus den Gewährsmann Celaeneus (3,406), der die unverzichtbare und zentrale Voraussetzung für das gesamte später an den Argonauten vollzogene Entsühnungsritual (3,417-458) bildet, erfunden zu haben (vgl. Wagner 1805, 102 zu 3,406ff.;

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Α. 1п1ефге1а11оп der Cyzicus-Episode

Manen der Getöteten beruhigt (3,407-408). Durch die Art des Entsühnungsrituals und die Formulierungen, mit denen es geschildert wird, werden implizit zusätzliche Informationen zu den allgemeinen Darlegungen über das Schicksal von Menschen, die getötet haben, zu Beginn von Mopsus' Rede (3,377-396a) gegeben, die die Stituation der Argonauten und die Form des für sie anschließend durchgeführten Entsühnungsrituals (3,417^58) erst richtig verständlich machen. Denn Celaeneus' Tätigkeit besteht darin, Personen, die unabsichtlich getötet haben, also (subjektiv) unschuldig sind {insontes, 3,407), von ihrem Irrtum {errore, 3,407) zu reinigen {luit, 3,407) und die aufgebrachten {túrbalos, 3,408) Manen {manes, 3,408) der Getöteten durch Entfernen {remittens, 3,407) der Schuld {culpam, 3,407) von den Tätern mit Liedern {carmina, 3,408) zu besänftigen {placantia, 3,408).2i3 Der Vorgang ist wohl so zu verstehen, daß das Entsühnungsritual, wie auf sprachlicher Ebene dessen Schilderung durch zwei mit -que (3,407) verbundene Prädikate {luit, 3,407; volvit, 3,408) nahelegt, aus zwei Teilen besteht: Einerseits werden die Täter von ihren Schuldgefühlen infolge der irrtümlich und unfreiwillig verübten Tötung befreit. Andererseits werden die Manen der Getöteten besänftigt, indem die in deren Augen bei den Tätern liegende Schuld von diesen abgezogen wird, den Manen also klargemacht wird, daß es sich nur um objektive Schuld handelt. Über Mopsus' Ausführungen zu Beginn seiner Rede (3,377-396a) hinaus ergibt sich daraus, daß der Haß der Manen nicht nur die, die absichüich getötet haben (3,384b-390), trifft, sondern auch die, die es unabsichtlich getan haben

Langen 1896/97, 244 zu 3,406; Boyancé 1935, 118; Happle 1957, 129; Shreeves 1978, 100 Anm. 37). Zwar kommt der Name Celaeneus in griechischer Form sonst verschiedentlich vor (vgl. Hesiod, fr. 193,14 M.-W.; Ps.-Apollodor, ЫЫ. 2,4,5; Nonnos 14,74.324; Tzetzes zu Lykophron 932; Münzen aus Apameia Kibotos), aber nicht für eine Figur mit derartigen Funktionen. Die Bezeichnung könnte in Entsprechung zum Charakter der Region, in der Celaeneus tätig ist, als Ableitung vom griechischen κελαινός gedacht sein. Außerdem klingt sie an den Namen der Stadt Celaenae in Phrygien an (vgl. Erwähnung von Celaenae bei Ovid, fast. 4,363; Verwendung des davon abgeleiteten Adjektivs bei Martial 5,41,2. 10,62,9. 14,204,1), dem Stammland der hier entscheidenden Göttin Cybele (vgl. Boyancé 1935, 118; Boyancé 1964, 339; Shreeves 1978, 100 Anm. 37; Liberman 1997 237 zu 3,406, zu Vorkommen und Bedeutung des Namens Celaeneus sowie den damit hervorgerufenen Assoziationen). 213 Als Lieder, die die Manen besänftigen, werden mit einer sehr ähnlichen Formulierung (5,98) auch die bezeichnet, die Orpheus singt, als den Argonauten als einziger von den Manen, die begierig sind, sie zu sehen, Sthenelus erschienen ist ( 5 , 8 2 100). Außer der vergleichbaren Situation, daß jeweils die erregten Manen zur Ruhe gebracht werden sollen, bestehen wohl keine weitergehenden Beziehungen. Bei Orpheus gibt es auch keine umfassendere Deutung seines Handelns.

п . Textanalyse

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(zusätzlich zu Schuldgefühlen). Außerdem wird deutlich, daß wegen des anderen Verhältnisses zur Tat bei dieser Gruppe eine Besänftigung der Manen möglich und neben der Beseitigung von Schuldgefühlen nötig ist, damit die Betroffenen vollständig von den Folgen ihres Tuns befreit werden.214 Unmittelbar nach der Beschreibung von Celaeneus' Tätigkeit fährt Mopsus damit fort, daß er von diesem erfahren habe, welche Sühneopfer für Getötete zu vollziehen seien (3,409^10). Auf diese Weise gibt Mopsus indirekt zu erkennen, daß ein solches Entsühnungsritual, wie Celaeneus es vornimmt, von den Argonauten durchgeführt werden kann und muß, da sie zur Gruppe der insontes (3,407) gehören, und daß es dabei entsprechend der gerade vorgestellten Bestandteile des einschlägigen Entsühnungsrituals darum gehen wird, die Manen der Getöteten zu besänftigen. Als Folgerung {ergo, 3,411) aus den Darlegungen über Celaeneus (3,406-410) wendet sich Mopsus zu lason und gibt ihm konkrete Anweisungen darüber, was er und seine Gefährten für die Durchführung eines derartigen Entsühnungsrituals zu tun hätten (3,411-416): Bei Tagesanbruch sollten die anderen Argonauten den Göttern Opfer darbringen (3,41 l-413a), während Mopsus selbst erst zu ihnen stoßen dürfe, nachdem er die Nacht mit reinigenden Gebeten verbracht habe (3,413b-415a). Mit dem Hinweis, daß der Mond aufgehe (3,415b) und so die richtige Zeit für die genannten Aktionen gekommen sei (3,416), beendet Mopsus seine Rede (3,377^16). Dadurch ist gleichzeitig ein Übergang zur anschließenden Beschreibung der Handlungen im einzelnen (3,417^58) gegeben. Denn diese beginnt mit der Zeitangabe, daß tiefe Nacht herrscht (3,417-

214 Aus der Erkenntnis, daß das von Celaeneus durchgeführte Ritual Personen mit subjektiver Unschuld wie die Argonauten betrifft, zieht Shelton (1971, 144) keine weiteren Folgerungen. Daher führt die Feststellung nicht zu Verständnis und Erklärung der Gründe für die Erwähnung des Rituals sowie der damit zum Ausdruck gebrachten Auffassung über das Schicksal von Menschen, die unfreiwillig getötet haben (vgl. auch die mehr philosophisch-theoretischen Überlegungen zur Schuldfrage bei Happle 1957, 130). - Da Spaltenstein (1991, 94f.) die in dieser Passage über den Anfang von Mopsus' Rede hinaus enthaltenen näheren Informationen zur Situation der Argonauten und zu den Möglichkeiten ihrer Beendigung nicht berücksichtigt, kritisiert er die Versöhnung der Manen ( 3 , 4 4 4 ^ 5 8 ) im Verlauf der Entsühnung ( 3 , 4 1 7 458) als Widerspruch zu den theoretischen Darlegungen (3,384b-396a). - Otte (1992, 79f.) unterscheidet nicht zwischen Menschen, die absichtlich und die unabsichtlich töten, und mißt einzelnen Elementen der Entsühnung der Argonauten im Rahmen seiner Theorie von der Argofahrt (s. u. S. 145 Anm. 30) eine zu weitgehende Bedeutung bei.

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Α. ΙηίβφΓεΙαΙίοη der Cyzicus-Episode

418), als Begründung bzw. notwendiger Umstand (3,419) für Mopsus' Aktivitäten (3,419-429). Dieser Komplex, der die Voraussetzungen schafft für die nachfolgenden religiösen Handlungen, die die endgültige Abfahrt der Argonauten ermöglichen, ist bei Apollonios Rhodios ganz anders gestaltet. Bei Valerius Flaccus wird er durch eine Initiative lasons in Gang gesetzt, so daß lason im Unterschied zu Apollonios Rhodios wieder als verantwortungsbewußter und aufmerksamer Führer erscheint.2i5 Bei Apollonios Rhodios läßt dagegen ein Gott einen Eisvogel als Zeichen erscheinen (AR 1,10841089), wodurch die Argonauten zu den notwendigen Handlungen veranlaßt werden. Der Vogel erscheint zwar über lasons Kopf (AR 1,10841085a. 1096b-1097a), wird aber nur von Mopsos bemerkt und in seiner besonderen Funktion verstanden (AR l,1086b-1087). Durch das Verhalten des Vogels weiß Mopsos, daß sich der Wind durch Besänftigung der Göttermutter legen wird, und teilt lason seine Erkenntnis mit (AR 1,10921102), woraufhin dieser die konkreten Aktionen in die Wege leitet (AR l,1103b-1106). Der Gott, der den Eisvogel lenkt, wird nur unbestimmt bezeichnet (AR 1,1088) und nicht namentlich identifiziert.2i6 Immerhin erhalten die Argonauten einen hilfreichen Hinweis von höheren Mächten, der ausdrücklich als solcher charakterisiert wird (AR 1,1087), ohne daß sie vorher durch göttliche Einwirkung in die Lage, für die Abhilfe geschaffen werden muß, gebracht worden sind.^i"' Zwar könnten die Winde, die bei Apollonios Rhodios das Geschehen bestimmen, durch göttlichen Einfluß ausgelöst

215 Vgl. Fucecchi 1996, 121f. mit Anm. 41. 216 Vgl. Frankel 1968, 132 zu AR 1,1088; Green 1997, 226 zu AR 1,1084-89, die vermuten, daß es sich um Hera handeln könnte; vgl. dagegen Clauss 1993, 167, der die Göttermutter annimmt. 217 Bei Apollonios Rhodios werden die Argonauten auch nach Tiphys' Tod (AR 2,860b-864), als die Fortsetzung der Argofahrt wie in Valerius Flaccus' Version der Cyzicus-Episode durch Lethargie und Trauer der Argonauten gefährdet ist (vgl. Mehmel 1934, 35), durch göttliche Hilfe (AR 2,865-866a) aus dieser Situation befreit (s. o. S. 106 Anm. 196 zu der Episode bei Valerius Flaccus). - Vgl. z.B. Herter 1944/55, 275-284, Eigler 1988, 33; Taliercio 1992, 35, zur Charakterisierung der Götter und dem Ausmaß ihrer Einflußnahme auf die Handlung bei Apollonios Rhodios. Neuere Behandlungen der Götter bei Apollonios Rhodios sind die von Feeney (1991, 57-98) und Knight (1995, 267-291). Bei vielen wichtigen Beobachtungen im einzelnen ist Feeneys >metafiktionaler< Ansatz (1991, bes. 93f.) insgesamt wenig plausibel. Knight konzentriert sich auf die Gegenüberstellung mit der Götterwelt Homers.

п. Textanalyse

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sein, gesagt wird es aber nicht und scheint nach der Darstellung in der Episode insgesamt eher unwahrscheinlich.2i8 In Vergils Dido-Geschichte gibt es durch Aeneas' Verweilen bei Dido ebenfalls einen längeren Aufenthalt, der die Fortsetzung der Fahrt gefährdet (vgl. Aen. 4,260-267). Im Unterschied zu Valerius Flaccus' Version der Cyzicus-Episode wird er durch einen für Aeneas positiven und angenehmen Zustand ausgelöst. Vor allem führt auch hier (ähnüch wie bei Apollonios Rhodios, jedoch deutlicher und aussagekräftiger) Eingreifen der Götter {Aen. 4,259-278) die Änderung der Situation herbei und ermöglicht die Fortsetzung der Fahrt. Bei Valerius Flaccus müssen die Argonauten, obwohl sie durch göttliche Einwirkung in die verzweifelte Lage geraten sind, ohne göttliche Unterstützung in eigener Initiative mit Hilfe eines Menschen aus einer fernen und abgeschiedenen Welt einen Ausweg fmden.219 Der Gegensatz läßt auf das spezifische Verhältnis von Göttern und Menschen in Valerius Flaccus' Epos schUeßen: Die Götter, die die Menschen durch willkürliches Eingreifen zur unfreiwilligen Tötung von Gastfreunden veranlassen, bieten keine Hilfe bei der Bewältigung der dadurch entstandenen Situation. Eine Befreiung davon gehngt den Argonauten in diesem Fall durch Mopsus' Wissen. Daß es gerade Mopsus ist, der die entscheidenden Informationen vermittelt, dürfte durch seine Rolle in Apollonios Rhodios' Dar218 Vgl. Fränkel 1968, 135-140 zu AR 1,(953-)1152, zum Einfluß der Götter auf Veränderungen des Wetters bei Apollonios Rhodios. - Eine ausdrückliche innere Beziehung zwischen der Tötung der Kyzikener durch die Argonauten und der Einrichtung des Kultes für die Göttermutter in dem Sinne, daß die Göttermutter dazu gebracht werden müßte, die zur Strafe wegen der Tötung der Kyzikener ausgelösten widrigen Winde zu beenden (so z.B. Venini 1971b, 605; Clauss 1993, 165-167), gibt es bei Apollonios Rhodios nicht (vgl. Fränkel 1968, 138f., mit Begründung; vgl. auch van Krevelen 1954, 75; Happle 1957, 124-126). Es ist allenfalls möglich, daß die Göttermutter schon zu einem Zeitpunkt vor dem Kampf anfängt, auf die Einführung ihres Kultes auf dem Dindymon hinzuarbeiten, und deshalb durch Schicken der passenden Winde bereits die Rückkehr der Argonauten nach Kyzikos veranlaßt, da deren Aufenthalt dort schließlich zur Einrichtung ihres Kultes führen soll (so Fränkel 1968, 138f.). Möglicherweise stehen die einzelnen Ereignisse in der Episode jedoch in keinem eigentlichen inhaltlich-thematischen Zusammenhang, und der Autor läßt die Stürme mehr oder weniger zufällig nach seinen Bedürfnissen entstehen (vgl. Adamietz 1976a, 43 Anm. 26; nach Fränkel 1968, 135, nur bei oberflächlicher Betrachtung. - Die gegen eine solche Deutung und als Beleg für seine eigene Interpretation angeführten Parallelstellen aus anderen Episoden in Apollonios Rhodios' Epos [135-137] scheinen allerdings für die Erkärung der Situation in der Cyzicus-Episode nicht unmittelbar einschlägig.). 219 Eine solche Szene zeigt, daß die Menschen bei Valerius Flaccus nicht immer Vertrauen zu den Göttern haben können bzw. die Götter nicht immer Mitleid mit ihnen haben, wie Schönberger (1965, 128f.) meint. - S. u. Kap. В II 4 (S. 200ff.) zum Verhältnis von Göttern und Menschen bei Valerius Flaccus.

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Α. 1п1ефге1а110п der Cyzicus-Episode

Stellung bedingt sein (vgl. AR 1,1083-1102). Bei Valerius Flaccus veranlaßt Mopsus aber nicht Kulthandlungen für die Göttermutter (vgl. AR 1,1092-1102), sondern spricht in einer umfangreichen Rede, die ohne Gegenstück bei Apollonios Rhodios ist, über die Situation von Leuten, die freiwillig bzw. unfreiwillig getötet haben, sowie über das für letztere notwendige Entsühnungsritual und setzt es auf diese Weise in Gang. Denn aufgrund der Einführung der göttlichen Motivation und des dadurch hervorgerufenen inneren Zustande der Argonauten sind bei Valerius Flaccus die von Mopsus ausgelösten religiösen Verrichtungen nicht schlichte Kulthandlungen, sondern eine regelrechte Entsühnungszeremonie, durch die die Argonauten innerlich von den Folgen ihrer Tat befreit werden und dann abfahren k ö n n e n . 2 2 0 Durch Mopsus' Rede (3,377^16) gibt es bei Valerius Flaccus im Unterschied zu Apollonios Rhodios eine theologisch-philosophische Deutung des Geschehens, indem die behandelten Probleme nicht nur praktisch vorgeführt, sondern auch grundsätzlich thematisiert w e r d e n . 2 2 1 Eine so umfangreiche theoretische Erörterung über subjektive und objektive Schuld und die Rolle der Götter in dem Komplex findet sich im gesamten Epos sonst nirgendwo. Daß Valerius Flaccus sie gerade hier unterbringt, ist kompositionstechnisch dadurch bedingt, daß sie sich ohne Störung des Handlungsablaufs zwanglos einfügen läßt. Auf inhaltlicher Ebene kommt hinzu, daß sich diese Stelle besonders gut eignet, da die Problematik hier in extremer Weise vor Augen geführt werden kann bzw. besonders relevant ist. Denn die Taten mit objektiver Verschuldung kommen direkt durch die persönlichen Rachepläne einer Göttin zustande, die sich später nicht mehr um die von ihr eingesetzten Menschen kümmert; sie werden bei den Protagonisten ausgelöst, so daß die trotz der subjektiven Unschuld entstehen220 Vgl. z.B. Mehmel 1934, 32f.; Happle 1957, 129; Gärtner 1998, 210. - Entsühnung von Blutschuld taucht in Apollonios Rhodios' Epos einmal an anderer Stelle (AR 4,685-717) auf, nämlich als lason und Medeia durch Kirke von den Folgen des Mords an Apsyrtos befreit werden (vgl. Mehmel 1934, 35; Shey 1968, 244). Bei der Zeremonie handelt es sich um einfache rituelle Handlungen, ohne daß die Situation der Menschen in irgendeiner Hinsicht weiterführend behandelt würde. 221 Durch Thematisierung der im vorhergehenden dargestellten Problematik in Mopsus' Rede sowie durch Notwendigkeit und Art der Entsühnung der Argonauten gibt der Schlußteil der Cyzicus-Episode (3,362-458) wichtige Aufschlüsse grundsätzlicher Art über das Verhältnis von Menschen und Göttern, die die Situation der Argonauten erst vollkommen verständlich machen und Hinweise auf Valerius Flaccus' Auffassung von diesem Themenkomplex enthalten. Deshalb muß die Frage nach dem Ziel des Schlußteils der Cyzicus-Episode nicht unbeantwortet bleiben, wie Adamietz (1976a, 46) glaubt, sondern es zeigt sich, daß gerade diese Form des Abschnitts eine spezifische Funktion erfüllt und dadurch für die Episode und das Gesamtwerk wichtig ist.

п. Textanalyse

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den Schuldgefühle die Fortsetzung der gesamten Argofahrt, d.h. die Haupthandlungslinie, gefährden; und sie haben ein solches Ausmaß, daß die Vernichtung des ganzen Volks der Cyzicener zu befürchten ist. Bei der Einführung einer längeren Rede mit grundsätzlichen Aussagen könnte Valerius Flaccus von Anchises' Rede im sechsten Buch von Vergils Aeneis (Aen. 6,724-751) angeregt gewesen sein.222 Denn beide Reden enthalten Gedanken über die Herkunft der Seele, die in irgendeiner Form mit dem himmlischen Feuer in Verbindung steht, über das Leben der Seele vor und nach ihrem Aufenthalt im menschlichen Кофег und über das Vollziehen von Strafe nach dem Tod der Opfer bzw. der Schuldigen. Mit diesen Angaben dienen sie zur Vorbereitung und Erklärung des unmittelbar nachfolgenden Geschehens. Andererseits bestehen inhaltlich und formal merkliche Unterschiede, da Valerius Flaccus die Rede in anderem Zusammenhang und zu anderem Zweck einsetzt. Bei Vergil handelt es sich um eine relativ umfassende Erörterung über das gesamte Leben der Seelen der Menschen, während bei Valerius Flaccus allgemeine Fragen nur kurz angedeutet werden. Mopsus legt in seiner Rede im wesentlichen den einen Aspekt dar, daß Schuldige schon während ihres Lebens von den Seelen ihrer Opfer, die noch einmal auf die Erde zurückkehren dürfen, bestraft werden können (3,384b-390). Dagegen geht es in Anchises' Rede nicht um Rache an lebenden Menschen durch Tote, sondern um Bestrafung der eigenen Seele in der Unterwelt nach dem Tod {Aen. Die Behandlung verschiedener thematischer Aspekte liegt an den unterschiedlichen Funktionen der Reden: Anchises hält die seine in der Unterwelt, um die Lebenssituation der Seelen, die sich dort aufhalten, zu erklären. Deshalb konzentriert er sich auf die Darstellung des Schicksals der Seele an sich und insbesondere ihres Lebens nach dem Verlassen des menschlichen Köφers {Aen. 6,735-751). Da die Bemerkungen als Vorspiel und Vorbereitung der Präsentation der römischen Helden {Aen. 6,756886a) die Lebensweise der Seele erläutern sollen, stehen sie als grundsätzliche Aussagen in einer gesonderten Rede ohne unmittelbaren Zusammenhang mit dem eigentlichen Thema. 222 Vgl. Langen 1896/97, 241 zu 3,378; Boyancé 1935, 113; Happle 1957, 129 u. 219; Garson 1964, 271; Shey 1968, 90; Liberman 1997, XLII, XLV, 79, 236 zu 3,389, mit der Annahme einer weitgehenden inhaltlichen Übereinstimmung. - Die bei beiden Autoren zugrundeliegende Vorstellung, daß die Seele irgendwie aus dem himmlischen Feuer entstanden sei, ist wohl von stoischem Gedankengut beeinflußt (vgl. z.B. Zenon von Kition, SVF I 126 u. 134). Ob bei Valerius Flaccus ein direkter Bezug auf Seneca vorliegt, wie Preiswerk (1934, 437f.) annimmt, ist nicht eindeutig beweisbar.

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Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

Dagegen wird Mopsus' Rede nicht in der Unterwelt gehalten, sondern ist eine Ansprache an lebende Menschen. Daher beschäftigt sie sich hauptsächlich mit den Konsequenzen aus der Beschaffenheit der Seele für das Leben der Menschen (3,378b-396a). Deshalb sind die generellen Erörterungen über die Seele relativ kurz und enthalten nur die für die konkrete Situation notwendigen Angaben (3,378b-384a). Vor allem befinden sie sich in einer Rede zusammen mit den Aussagen über das Hauptthema (3,396b-416) und sind durch logische und deiktische Verknüpfung direkt mit ihm verbunden (3,396). Denn sie werden funktional für die weitere Entwicklung der Handlung eingesetzt, da sie die Voraussetzung dafür bilden, daß für die Situation der Argonauten eine Lösung gefunden werden kann. Valerius Flaccus braucht die Erläuterungen über die Seele, um die Situation der Argonauten und das nachfolgende Entsühnungsritual verständlich zu machen. Abgesehen von der Funktion von Mopsus' Rede für den unmittelbaren Handlungszusammenhang bringt Valerius Flaccus darin implizit seine Auffassung von der Beschaffenheit der menschlichen Seele sowie die Vorstellung von einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits zum Ausd r u c k . 2 2 3 Der Entwurf einer solchen Welt, in der dieses Ideal auf ungewöhnliche Weise verwirklicht wird, läßt darauf schließen, daß Valerius Flaccus wegen der für die Menschen bedrückenden Situation im Diesseits, die von der Willkür der Götter bestimmt wird, ein Gegenbild und eine positive Zukunftserwartung schaffen wollte, um das Leben erträglicher zu machen (vgl. Beschreibung der Unterwelt, 1,827-850). An Mopsus' Aufforderungen zur Vorbereitung des Entsühnungsrituals (3,411^16) schließt sich unmittelbar die Beschreibung der Ausführung (3,417-458) an.224 Die Erwähnung tiefer Nachtruhe vor der eigentlichen Schilderung (3,417^18) stellt nicht nur eine Verbindung zum Vorhergehenden her, sondern erinnert auch an die Stimmung zu Beginn des Kampfs

223 Bei Valerius Flaccus gibt es in der realen Welt gerade nicht, wie Liberman (1997, LXV u. 114) meint, den Sieg des Gerechten über das Ungerechte und die Bestrafung der Bösen, was vor allem durch luppiters Wirken erreicht und mit der Argofahrt selbst illustriert werde. 224 Vgl. Boyancé 1935, 107-136, für eine Untersuchung des gesamten Entsühnungskomplexes und der einzelnen vorgenommenen Rituale aus religionsgeschichtlicher Sicht; vgl. Boyancé 1964, 334-346, für eine Erklärung der Einführung des Entsühnungsrituals mit Valerius Flaccus' Position als quindecemvir; ähnlich Liberman 1997, XIII u. 79, der auch die Figur von Mopsus unter diesem Aspekt sieht.

п. Textanalyse

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(3,32-33). Auf diese Weise wird auf die enge Beziehung zwischen Kampf und Entsühnung (als Bewältigung der Folgen des Kampfs) hingewiesen. Der Bericht über die Entsühnungshandlungen fängt mit denen an, die der Priester Mopsus im vorhinein allein vollzieht (3,419-429). Zunächst reinigt er sich sowohl mit Fluß- als auch mit Meerwasser (3,420-423) und befestigt Opferbinden und Olivenzweige an seinen Schläfen (3,424-425a), um sich selbst fertig zu machen. Dann richtet er am Strand einen Platz für die Zeremonie her (3,425b-429a), indem er ein Gebiet abgrenzt (3,425b), Altäre für unbekannte Götter aufstellt (3,426-427a) und alles durch Bedecken mit Zweigen düster macht (3,427b). Falls die Bezeichnung der Götter als unbekannt (3,426) nicht nur formelhaft, sondern im eigentlichen Sinne zu verstehen ist, bedeutet das, daß die Entsühnung nicht durch Opfer an die üblichen Götter vor sich geht, sondern an irgendwelche Mopsus durch Celaeneus bekannten Kräfte.225 Als Ergebnis von Mopsus' Zurüstungen wird in dem ausgewählten Gebiet eine Atmosphäre der Furcht, Göttlichkeit und heiligen Ruhe erzeugt (3,428-429a). Genau zu dem Zeitpunkt, als er sein Ziel erreicht hat, gibt es einen Lichtstrahl über dem Meer (3,429b226). Damit wird in Ringkomposition eine Beziehung zur tiefen Nacht am Beginn der Vorbereitungen (3,417-418) hergestellt und dadurch deren 225 Vgl. Langen 1896/97, 247 zu 3,426; Boyancé 1935, 123; Fuá 1978, 308f.; Liberman 1997, 238f. zu 3,426, zu Problematik und möglichen Deutungen der Formulierung. - Fuá (1978, 308f.) macht außerdem darauf aufmerksam, daß der Ausdruck ignota ... nomina divum (3,426) auf die Rolle der Magie in Valerius Flaccus' Werk hinweise (vgl. auch Perutelli 1997, 50f.). 226 Der Ausdruck in 3,429b ist ungewöhnlich, so daß seine genaue Bedeutung nicht ganz einfach zu ermitteln ist. Trotzdem muß als Lösung vielleicht nicht zu der von Fröhner (vgl. Langen 1896/97, 247 zu 3,429; Fuá 1978, 307 mit Anm. 5) vorgeschlagenen und von Fuá (1978, 306-308) verteidigten Konjektur emicat für evocai, die Courtney (1970, 62), Ehlers (1980, 70) und Liberman (1997, 98) nicht einmal im Apparat ihrer Ausgaben erwähnen, gegriffen werden. Denn evocare ist zumindest an einigen anderen Stellen in der hier vorliegenden Bedeutung in Zusammenhang mit Wetterprozessen belegt (vgl. Fuá 1978, 306). Außerdem ist auch für die Erklärung der Lesart evocai die Annahme, daß Mopsus mit einer Art von magischer Fähigkeit ausgestattet sei und in wörtlichem Sinne einen Lichtstrahl hervorrufe (so z.B. Boyancé 1935, 124; Liberman 1997, 239 zu 3,429), keine zwingende Voraussetzung. Der Ausdruck kann nämlich in weiterer und übertragener Bedeutung so verstanden werden, daß Mopsus mit dem Ende seiner Vorbereitungen den ersten Sonnenstrahl hervorruft, d.h., daß der Abschluß der nächtlichen Aktivitäten gewissermaßen den Tagesanbruch provoziert bzw. daß Mopsus entsprechend seiner Pläne (vgl. 3,411-415a) die Dauer seiner Zurüstungen genau auf die Länge der Nacht abgestimmt hat. Bei dieser Deutung besagt der überlieferte Text wie die Konjektur emicat, daß Abschluß der Vorbereitungen und Sonnenaufgang genau zusammenfallen, allerdings in dunklerer und poetischerer Form. Die Wahl einer solchen Formulierung ist bei Valerius Flaccus' Stil jedoch durchaus möglich.

122

Α. Interpretation der Cyzicus-Episode

Abschluß angedeutet. Daß sie den größten Teil der Nacht bis zum Tagesanbruch in Anspruch nehmen, entspricht Mopsus' Anweisungen, in denen er die gemeinsamen Riten nach nächtlichen priesterlichen Handlungen für die Zeit nach Sonnenaufgang vorsieht (vgl. 3,411^15a). Dabei muß man wohl davon ausgehen, daß nun alle von Mopsus genannten Voraussetzungen erfüllt sind, weil die Ausführung der lason und seinen Gefährten aufgetragenen Opferhandlungen nicht beschrieben wird. Denn das im weiteren Verlauf bei der konkreten Entsühnung mit Mopsus' Hilfe vollzogene Opfer von Schafen (vgl. 3,431b.439-440) ist wohl kaum mit dem Opfer von zwei Rindern, das die Argonauten durchführen sollen (vgl. 3,412413a), identisch.227 So geht die Darstellung nach der ausführlichen Beschreibung von Mopsus' Vorbereitungen für das Entsühnungsritual (3,419^29) unmittelbar zur Vollziehung der gemeinsamen Riten (3,432458) über, indem Mopsus und die anderen Argonauten aufeinandertreffen (3,430-433a). Zunächst (3,433b-443) führt Mopsus die Reinigung der Argonauten durch. Dazu bedient er sich verschiedener traditioneller und ritueller Verfahren, was sich unter anderem schon daran zeigt, daß die Dreizahl wieder von Bedeutung ist (3,441; vgl. 3,347-349a). Obwohl sich Mopsus an unbekannte Götter wendet (vgl. 3,426) und seine Kenntnisse über das notwendige Entsühnungsritual von Celaeneus hat (vgl. 3,406-410), bleibt er bei der konkreten Durchführung der Zeremonien im Bereich der üblichen Rituale. Das läßt darauf schließen, daß Valerius Flaccus zwar eine neuartige Begründung für Herkunft und Notwendigkeit des Entsühnungsrituals einführt, um tiefergehend im Rahmen seiner Weltsicht das Verhältnis von Göttern und Menschen sowie die aus dessen spezifischer Beschaffenheit resultierende Situation der Menschen zu illustrieren, aber keine grundlegenden religiösen und kultischen Veränderungen vornimmt oder beabsichtigt. Auch die Unterwelt als Aufenthaltsort der Manen wird durchgängig in traditioneller Form vorausgesetzt. Bei der Entsühnung fordert Mopsus die Argonauten dazu auf, die Hände zur aufgehenden Sonne zu erheben (3,437b-438a), was wieder auf die Erfüllung seiner Bestimmungen, daß das Entsühnungsritual bei Tagesanbruch stattfinden soll (vgl. 3,411^15a), hinweist. Zuerst werden die Argonauten als Personen entsühnt (3,433b-438). Nach dem Schlachten der Opfertiere (3,439-440^28) endet die Reinigungszeremonie damit, daß 227 Vgl. Liberman 1997, 238 zu 3,412, zu dem Problem. 228 In 3 , 4 3 9 - 4 4 0 kann die praktisch unveränderte überlieferte Lesart, wie sie bei Courtney (1970, 62) und Ehlers (1980, 70; vgl. auch app. crit.) zu finden ist, konstruiert und aus dem Zusammenhang verstanden werden. Weitergehende Konjekturen,

п . Textanalyse

123

Waffen und Юeideг der Argonauten, wohl die, die sie bei der fatalen Schlacht getragen haben (vgl. tristia, 3,441), von Mopsus berührt und dann als Reinigungsopfer teils ins Meer geworfen und teils verbrannt werden (3,441b-443). Damit sind die Argonauten innerlich von den Folgen ihrer Tat frei und äußerlich von allen Erinnerungen getrennt. An die Reinigung der Argonauten (3,433b-443) schließt sich entsprechend der an Celaeneus' Beispiel entwickelten für die Argonauten notwendigen Form des Entsühnungsrituals (3,406-408) als zweiter und wichtigerer (quin etiam, 3,444) Teil die Versöhnung der Manen an (3,444458).229 Der Ausgleich mit den Manen wird dadurch erreicht, daß Holzfiguren in der Gestalt der Menschen, die getötet haben, aufgestellt und mit Waffen versehen werden (3,444-445). Mopsus beschwört dann (3,446455) die Manen, ihren Haß auf die Ersatzfiguren zu übertragen (3,446447), die Vorgänge zu vergessen und ruhig beim Styx zu bleiben (3,448b450a), sich von Meer und Krieg femzuhalten (3,450b-451) und nicht aus Rache griechischen Städten oder den Nachkommen der Argonauten Schaden zuzufügen (3,452-455). Figuren herzustellen, auf die der Haß der Manen übergehen kann (3,446-447), ist nach Mopsus' allgemeinen Darlegungen (vgl. bes. 3,384a) und den aus der Beschreibung von Celaeneus' Entsühnungsritual zu entnehmenden Angaben (vgl. 3,406-408) nötig. Denn weil die Fähigkeit zu Haßgefühlen nach dem Tod der Menschen bei den Seelen erhalten bleibt (vgl. 3,384a), ist die Schaffung eines neuen Objekts eine Möglichkeit, Menschen, die unabsichtlich getötet haben, von Haß und Schuldzuweisung der Manen (vgl. 3,407b) zu befreien. Entscheidend für die Fortsetzung der Fahrt der Argonauten ist, daß die Manen dazu veranlaßt werden, sich von Meer und Kriegen femzuhalten (3,450b-451). Nach seiner Rede wie sie Strand (1972, 90f.: raptim - paritér für partim - partim) und Liberman (1997, 99 u. 239f. zu 3,439: per medios für pectora per medios) vornehmen wollen, sind daher wohl nicht nötig. Die Vorschläge erleichtern vielleicht das Verständnis der beiden Verse in sich, lösen jedoch das eigentliche Problem der ganzen Passage, daß im folgenden wohl wieder Mopsus der Handelnde ist, ohne daß er nochmals namentlich genannt würde, nicht. 229 Mit dem Ausdruck lustrifico (cantu) (3,448), der ein hapax legomenon ist (vgl. Garson 1970, 183), innerhalb der Schilderung der Versöhnung der Manen ( 3 , 4 4 4 ^ 5 8 ) ist die Funktion des Entsühnungsrituals prägnant zusammengefaßt. Zwar ist die Verbindung severi sanguinis ( 3 , 4 4 6 ^ 4 7 ) ungewöhnlich, jedoch führt Heinsius' Konjektur agminis Шт sanguinis, die Liberman (1997, 99 u. 240 zu 3,447) aufnimmt, zu einer unmotivierten und in dem Zusammenhang unpassenden Erwähnung der Eumeniden. - Wenig plausibel bezeichnet Hershkowitz (1998, 271f.) das Herstellen von Holzbildem (3,444-445) als Ausprägung des das ganze Epos durchziehenden Themas der >VersteHung< und versteht es metapoetisch als Aussage über das Werk.

124

Α.. 1п1ефге1а110п der Cyzicus-Episode

(3,448^56a) bringt Mopsus den Manen Opfer dar (3,456b-457a). Damit, daß das Opfer von Schlangen als Vertretern der Manen (3,458a) friedlich {placidi, 3,457) aufgenommen wird (3,457b-458), sind beide Teile der Entsühnung erfolgreich durchgeführt. Mit diesem Bild schließt gleichzeitig die gesamte Entsühnungsszene (3,417^58)230 Das Gegenstück zu der Entsühnungszeremonie ist in Apollonios Rhodios' Version die Einführung eines Kultes für die Göttermutter (AR l,1107-1151a), wobei im wesentlichen verschiedene bei kultischen Handlungen übliche Rituale geschildert werden. In Entsprechung zu seinem gewöhnlichen Darstellungsstil fügt Apollonios Rhodios in den Komplex sachliche Angaben über die Landschaft (AR 1,1109-1116) sowie Erklärungen von Bräuchen und Zuständen, die es zu seiner Zeit auf Kyzikos noch gibt (AR l,1138b-1139.1146b-1149), ein. Der Erfolg der Besänftigung der Göttermutter ist durch Zeichen erkennbar, die aus Veränderungen in der gesamten Natur bestehen (AR 1,1140-1149), also geradezu übernatürlich und wunderbar sind und auch von Apollonios Rhodios selbst teilweise so bezeichnet werden (AR 1,1145b-1146a). Ein Teil der von Apollonios Rhodios beschriebenen Rituale taucht in ähnhcher Form in Valerius Flaccus' Entsühnungsritual auf, zum Beispiel Herbeibringen von Opfertieren (AR 1,1107-1108; VF 3,431b), Errichten von Altären (AR 1,1123a; VF 3,426-427a). Umkränzen der Menschen mit Zweigen (AR l,1123b-1124a; VF 3,424-425a.436b), Spenden von Opfergaben (AR 1,1124b.ll33b-l 134a; VF 3,456b^57a), Anrufen von Göttern und anderer Mächte (AR 1,1125-1133a; VF 3,448-455) sowie Einhergehen in Waffen (AR l,1134b-1135; VF 3,430b). Die Übereinstimmungen beruhen aber wohl weniger auf einem speziellen Grund oder einer spezifischen Darstellungsabsicht, sondern liegen daran, daß es sich jeweils um Aktionen handelt, die für viele Arten von religiösen Zeremonien konstituierend sind. Auch bei diesen eher konventionellen und nebensächlichen Aspekten besteht ein entscheidender Unterschied in der Art der Schilderung. Bei Valerius Flaccus wird die Vollziehung der Rituale nicht um ihrer selbst willen genau beschrieben, sondern zum großen Teil nur relativ kurz angedeutet. Denn es geht nicht um die Rituale an sich, sondern sie sind lediglich Bestandteil der Entsühnung und werden in Hinblick auf das Ziel der Reinigung angeführt. Die für dieses Ergebnis entscheidenden Handlungen, wie die Vernichtung der Юeider (3,441b^43) und die Hinwendung an die Manen (3,444-458), finden sich bei Apollonios Rhodios 230

Vgl. Shelton 1971, 144f.

п. Textanalyse

125

nicht. Femer berichtet Valerius Flaccus die Vorgänge nicht neutral, sondern in einer bestimmten Atmosphäre, indem er durch Hinweis auf Nachtzeit (3,417^18) bzw. Morgengrauen (3,429b.437b) und charakterisierende Epitheta (vgl. bes. horrificis, 3,423) Düsternis erzeugt.23l Vor diesem Hintergrund wirkt der Erfolg der Zeremonie und die dadurch bewirkte Erleichterung durch den Gegensatz in der Stimmung wesentlich stärker und eindrucksvoller (vgl. 3,462-469). Spezifische Bezüge zu Vorbildern sind eher bei den Elementen von Valerius Flaccus' Entsühnungsritual zu vermuten, die über gewöhnliche religiöse Handlungen hinausgehen. In diesem Sinne sind die hölzernen und mit Waffen behängten Abbilder der Argonauten, auf die die Rache der toten Cyzicener übergehen soll (3,444-447), vielleicht ein Reflex des Holzidols für die Göttermutter, das in Apollonios Rhodios' Version bei der Einrichtung des Kultes gefertigt wird (AR 1,1117-1122). Selbstverständlich hat das Idol eine ganz andere Funktion, jedoch könnte die Schaffung von Holzbildem in Valerius Flaccus' Version davon beeinflußt sein. Außerdem entsteht dadurch, daß die hölzernen Formen als Folge des Kampfs hergestellt und mit Waffen versehen werden, eine Beziehung zu denen bei Pallas' Bestattung in Vergils Aeneis. Dort tragen die Führer der Prozession, die den toten Pallas zu seinem Vater zurückgeleitet, Teile von Baumstämmen, an denen die Waffen der Feinde befestigt sind {Aen. 11,83-84). Die Gestalt im einzelnen und damit die jeweilige Funktion der Holzfiguren sind jedoch vollkommen verschieden. Bei Vergil sind sie Trophäen mit den Waffen der unterlegenen Feinde. Sie dienen dazu, Pallas' heldische Leistungen zu zeigen sowie seine Bestattung prächtiger zu machen, und verdeutlichen damit die positiven Gesichtspunkte von Pallas' Tod. Bei Valerius Flaccus handelt es sich nicht um einfache Holzstücke, sondern um Abbilder von Menschen, und zwar der siegreichen Argonauten. Solche Bilder sind wegen der Lage, in der sich diese nach dem Kampf durch göttliche Einwirkung befinden, als Bestandteil der Entsühnung unbedingt notwendig und weisen auf die traurige Form des Kampfs sowie dessen Konsequenzen hin. Daß ihre kultischen Handlungen erfolgreich waren, können die Argonauten wie bei Apollonios Rhodios so auch bei Valerius Flaccus Zeichen entnehmen. In Valerius Flaccus' Version bestehen sie nicht in wunderbaren Erscheinungen (vgl. AR 1,1140-1149), sondern in engerer Beziehung zum Geschehen darin, daß Schlangen erscheinen und die Opfer231 Vgl. Gärtner 1998, 210, zur Auswirkung der Tageszeit auf die Stimmung in dieser Szene.

126

Α. 1п1ефге1а11оп der Cyzicus-Episode

gaben zu sich nehmen (3,456b-458). Indem Valerius Flaccus gerade diese Form der Bestätigung wählt, ergibt sich wieder eine Verbindung zu Vergils Aeneis. Dort zeigt sich beim Totenopfer für Anchises eine friedliche Schlange, die die Opfergaben verzehrt (Леи. 5,84Ь-99).232 Die Schlange ist bei Vergil ein zusätzliches Element, das die Bedeutung und Feierlichkeit des Opfers erhöht, wie besonders aus der ausführlichen Beschreibung ihrer äußeren Erscheinung (Aen. 5,85-89) hervorgeht. Über die Identität der Schlange ist sich Aeneas nicht ganz im klaren (Aen. 5,95-96a) und verstärkt deshalb wegen ihres Auftauchens seine Opfer {Aen. 5,94). Dagegen werden die Schlangen bei Valerius Flaccus explizit als Vertreter der Manen bezeichnet (3,458a). Damit ist offensichtlich, daß sie die wohlwollende Reaktion der Manen zum Ausdruck bringen. Irgendeine Art von Zeichen ist bei Valerius Flaccus ebenso wie die hölzernen Abbilder unabdinglich, weil die Argonauten nur nach einer erfolgreichen Entsühnung weiterfahren können, für sie aber durch ein Indiz erkennbar sein muß, ob sie das beabsichtigte Ziel erreicht haben. Nachdem mit der Bestattung der Gefallenen (3,332-361) und der Entsühnung der Argonauten (3,417^58) die Bewältigung der Folgen des Kampfs (3,95-248) erreicht ist, erlangen die Argonauten ihre innere Ausgeglichenheit zurück (vgl. 3,462^69; bes. alacres, 3,462, laetae, 3,464, animi rediere, 3,468),233 so daß sie endlich in der Lage sind, Cyzicus zu verlassen (3,459^60a). Denn sie haben nun mit den Ereignissen auf Cyzicus innerlich abgeschlossen, können vergessen, was sie schicksalsbestimmt getan haben, und diese Einstellung auch äußerlich zum Ausdruck bringen, indem sie dem Land endgültig den Rücken kehren (3,460b-461). Durch eine derartige Beschreibung der Abfahrt zeigt sich am Schluß der Episode noch einmal deutlich der für die ganze Erzählung charakteristischste Unterschied zu Apollonios Rhodios. In dessen Fassung endet die Episode mit der sachlichen Angabe, daß die Winde sich legen und die Argonauten endgültig von Kyzikos abfahren (AR l,I151b-1152). Denn Apollonios Rhodios geht es um die faktische Beschreibung der Vorgänge und deren pragmatische Erklärung. Dagegen spielen bei Valerius Flaccus sowohl die göttliche Verursachung des Geschehens als auch das Innere

232 Vgl. Happle 1957, 132 u. 219 Anm. 1. 233 Vgl. Koch 1955, 122; Shelton 1971, 146; Eigler 1988, 39 u. 63 mit Anm. 30. - Dieselben Wörter {alacrem, laetis, 4,81) finden sich in der Beschreibung von Hercules' Gefühlszustand, als luppiter ihn von der Trauer um Hylas' Verlust befreit und ihm eine neue Aufgabe zuweist (4,78-81). Auch dabei handelt es sich um eine Form der Erlösung von einem durch Götter verhängten Leid.

п. Textanalyse

127

der Personen eine Rolle. Deswegen betont er, daß die Argonauten unabhängig von den Wetterverhältnissen erst, nachdem sie die Lage, in die göttliche Einwirkung sie gebracht hat, innerlich bewältigt haben, fähig sind, von Cyzicus abzufahren. Die dargelegten Unterschiede in Kompositionsstruktur, Art der Darstellung und Motivation der Ereignisse zwischen Apollonios Rhodios' und Valerius Flaccus' Version haben zur Folge bzw. sind dadurch bedingt, daß die Erzählung über die Vorgänge auf Cyzicus jeweils anderen Zielen dient und unterschiedliche Beziehungen zum Gesamtwerk aufweist. Bei Apollonios Rhodios sind die Erlebnisse der Argonauten auf Kyzikos eines der Ereignisse, die diesen auf ihrer Fahrt begegnen. Dessen Schilderung hat, wie die von anderen Vorkommnissen, hauptsächlich die Funktion, die Beschreibung der Fahrt der Argonauten durch die Einfügung von Landaufenthalten mit Geschehhissen verschiedener Art lebendiger zu gestalten, die Fahrtroute festzulegen, die Geographie der durchfahrenen Gegend zu charakterisieren sowie Besonderheiten durch aitiologische Einschübe zu erklären. Die Cyzicus-Episode steht in keinem deutlich erkennbaren Bezug zu anderen Episoden oder trägt zu einem mit dem Epos als ganzem verfolgten tieferen, inhalthchen Ziel bei.234 Dagegen erhält die Cyzicus-Episode bei Valerius Flaccus durch Verzicht auf zahkeiche faktische Informationen einerseits sowie Konzentration auf die Hauptpersonen und Herausarbeitung von Motiven und inneren Zusammenhängen andererseits einen Sinn, der für Thema und Gehalt des Gesamtwerks von Bedeutung ist. Wichtige Elemente der in dieser Episode zentralen Aspekte (z.B. Bezug zum Hauptgedanken des Epos, Wichtigkeit und Beschaffenheit der göttlichen Einwirkung, Verhältnis zwischen Göttern und Menschen, subjektive und objektive Schuld, zwischenmenschliche Beziehungen, Charakter der Argonauten) spielen in vergleichbarer Form in anderen Episoden eine Rolle bzw. deren Verwendung dort ist erst auf der Basis der Behandlung der Motive in der CyzicusEpisode zu verstehen. Dadurch werden auf thematisch-motivischer Ebene 234 Aufgrand seiner Gesamtdeutung von Jasons Charakter bei Apollonios Rhodios (1966, 119-169 passim) sieht Lawall (1966, 152f. mit Anm. 5 u. 6) die Bedeutung der Cyzicus-Episode darin, daß lason durch die Ereignisse auf Kyzikos dazu komme, Krieg zu hassen, und im weiteren Verlauf des Epos nur noch widerwillig Krieg führe. Bei Lawalls Prämissen kann man vielleicht zu einer derartigen Deutung der Cyzicus-Episode kommen, es gibt im Text aber keine expliziten Anhaltspunkte dafür, indem etwa eine besondere Wirkung des Kampfs auf lason herausgestellt würde. Die Stellen von anderen Partien des Epos, die Lawall als Belege für lasons Abneigung gegen Krieg anführt, sind nicht einschlägig (vgl. Fränkel 1968, z.St.).

128

Α. 1п1ефге1а110п der Cyzicus-Episode

Verbindungen zwischen den einzelnen Episoden hergestellt und der Zusammenhalt des Epos durch eine innere Struktur gefördert.235 Die Bedeutung der Cyzicus-Episode als zentrales Element von Valerius Flaccus' Epos ergibt sich femer aus ihrer Beziehung zu Vergils DidoGeschichte hinsichtlich der jeweiligen Funktion im Gesamtwerk. Einerseits besteht eine relativ große formal-strukturelle Übereinstimmung. Beide Erzählungen sind Berichte über ein Erlebnis der Protagonisten, das diesen bei einem Aufenthalt auf ihrer Seefahrt widerfährt. Dabei handelt es sich nicht um irgendeine Begebenheit, sondern um das Ereignis während der Fahrt, das am ausführhchsten in direkter Schilderung beschrieben wird, mit seiner Plazierung eine besondere Stelle ungefähr in der Mitte des ersten Teils der Werke einnimmt, durch Thema und Art der Darstellung Ähnlichkeiten zu einer Tragödie aufweist sowie durch Abweichungen von der jeweiligen stofflichen Vorlage und die charakteristische Gestaltung wichtige eigene Aussagen des Dichters enthält. Außerdem sind die Episoden von einer umfassenderen, über die konkrete Stelle hinausgehenden Relevanz innerhalb der >weltgeschichtlichen Dimension< der Epen. Die Protagonisten befinden sich jeweils auf einer >Mission< nach göttlichem Willen, die weitergehende Entwicklungen einleiten soll. In der Dido-Geschichte wird durch die Begegnung von Dido und Aeneas sowie die Wiedergabe der Überlegungen der Götter (vgl. Aen. 4,90-128, bes. 4,96-97.103b-106.110-112) bereits der grundsätzliche Gegensatz zwischen Rom und Karthago eingeführt. In der CyzicusEpisode bildet der Kampf zwischen Argonauten und Cyzicenem, der die erste kriegerische Auseinandersetzung nach Beginn der Argofahrt ist, den Anfang der Verwirküchung von luppiters >Weltenplan< (1,531-560). Gerade vor dem Hintergrund der anderen Epen werden Valerius Flaccus' eigene Gestaltungsweise und Aussageabsicht sowie die dadurch bedingten inhaltlich-thematischen Veränderungen deutlich. Zum einen steigert Valerius Flaccus Tragik, Expressivität und Emotionalität der Ereignisse. Zum anderen verleiht er der Episode einen anderen, neuen Sinn. Durch seine Art der Darstellung zeigt er nämlich, daß die Handlungen der Menschen zum großen Teü willkürlich von den Göttern veranlaßt werden, auf diese Weise gegen den Willen und die Versuche der Menschen furchtbare Lebenssituationen entstehen, die für diese unerwartet und unberechenbar sind, und sich durch die Unverantwortlichkeit der Götter auch langfristig keine positiven und weiterführenden Ziele ergeben.

235

Vgl. Lüthje 1971, 113; Adamietz 1976a, 42.

п . Textanalyse

129

Valerius Flaccus hat sich also in der Cyzicus-Episode auf die Verwendung von bei Apollonios Rhodios und Vergil vorhandenen formalen Strukturen und Motiven beschränkt, die übernommenen Elemente verändert, seiner Darstellungsweise angepaßt und so für die Verdeutlichung zentraler Bestandteile der von ihm beabsichtigten Gesamtaussage eingesetzt. Dadurch hat er mit seiner Version der Cyzicus-Episode etwas Eigenes mit einem spezifischen Gehalt geschaffen.

в. Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

I. luppiters >Weltenplan< und die Argofahrt

Nach der Analyse der Cyzicus-Episode an sich stellt sich die Frage nach deren Funktion und Bedeutung innerhalb der Konzeption des Gesamtwerks. Das Hauptthema des Epos, seine sinngebende und einheitstiftende Idee, die Gewichtung der einzelnen Elemente und die von Valerius Flaccus mit seiner Darstellung verfolgte Absicht zeigen sich am deutlichsten in den mehr theoretischen Partien von erstem und zweitem Prooemium (1,1-21, bes. 1,1^; 5,217-223) und von luppiters sogenanntem >Weltenplan< (1,531-560). Daher sollen diese Stellen (mit ergänzenden Passagen) zunächst erklärt und die Cyzicus-Episode dann in die Gesamtkonzeption des Epos, die sich daraus ergibt, eingeordnet werden. Anschließend werden Wissen und Einstellung der Menschen in Hinblick auf die im Epos konkret geschilderten Ereignisse, die einen Teil des im >Weltenplan< dargelegten umfassenden Geschehens bilden, behandelt und die Rolle der CyzicusEpisode in diesem Komplex erläutert. Einleitend nennt Valerius Flaccus in den ersten vier Versen des Prooemiums (1,1-4)1 ¿as Thema seines Epos. Er entspricht damit formal der Gestaltung bei Apollonios Rhodios (AR 1,1^), weicht jedoch an dieser exponierten und aussagekräftigen Stelle inhaltlich in bezeichnender Weise von seinem Vorbild ab. Daher lassen sich hier das besondere Verständnis der Argofahrt bei Valerius Flaccus, seine Akzentuierung der im Mythos enthaltenen Aspekte und sein Darstellungsziel erkennen: Apollonios Rhodios verkündet im Prooemium (AR 1,1-4) seine Absicht, in seinem Werk über die Ruhmestaten der Argonauten zu berichten (AR l,lb-2a). Nur diese bilden grammatisch das direkte Objekt der Aussage und werden so explizit als Thema bezeichnet. Alle anderen Angaben sind in einem Relativsatz enthalten, der sich an die Argonauten anschließt (AR

1 Vgl. Ehlers 1998, 149; bes. Lefèvre 1971, 11-16 u. 56, zu diesem Teil des Prooemiums; vgl. auch Hershkowitz 1998, 35-37, mit problematischer intertextueller Deutung.

I. luppiters >Weltenplan< und die Argofahrt

131

l,2b-4). Darin werden die Durchquerung der Symplegaden als entscheidendes Ereignis auf der Fahrt und das Goldene Vlies als Ziel genannt. Die Argo wird ledigUch als das Schiff erwähnt, mit dem die Argonauten ihre Fahrt unternehmen, und mit einem konventionellen Epitheton versehen (AR 1,4b). Im weiteren Verlauf des Epos ergibt sich vor allem aus Beschreibungen, die typische Handlungen von Seeleuten als gewohnheitsmäßig oder auf Erfahrung beruhend darstellen, aus der Erwähnung anderer (früher) existierender Schiffe und deren Gegenüberstellung mit der Argo, daß Apollonios Rhodios die Argo nicht als erstes Schiff konzipiert hat, sondern als eines mit besonderen Qualitäten.2 Diese Stellung der Argo oder Konsequenzen, die sich daraus ergeben könnten, spielen jedoch weder im Prooemium noch in der Gesamtkonzeption des Epos eine Rolle. Dagegen gibt Valerius Flaccus in dem entsprechenden Teü seines Prooemiums (1,1^) die prima pervia ... freía und die fatidica ratis als Gegenstände seines Gesangs an (l,l-2a), wobei prima (1,1) programmatisch das erste Wort des Epos bildet.3 Strukturell Apollonios Rhodios vergleichbar befinden sich weitere Angaben in einem Relativsatz (l,2b-4), der sich jedoch nicht an die Argonauten, sondern an das Schiff anschließt. Dessen Leistung ist die Fahrt durch die Symplegaden über das offene Meer bis nach Colchis, woraufhin es schUeßlich verstimt werden wird. Das Schicksal des Schiffs wird also im Unterschied zu Apollonios Rhodios bis zum Ende beschrieben, das Goldene Vlies dagegen nicht erwähnt. So liegt der Akzent anders als bei Apollonios Rhodios auf dem von der Argo erstmals durchfahrenen Meer und der damit ermöglichten Eröffnung von Seewegen. Auch bei Valerius Flaccus werden die Argonauten im ersten Vers genannt {deum magnis ... natis, 1,1), jedoch nicht als unmittelbarer Gegen-

2 Vgl. z.B. für die Bekanntheit der Seefahrt und die Erwähnung anderer Schiffe AR l,106b-108.188b-189a.234-236.332-333. 2,1095a. 3 , 3 4 0 b - 3 4 2 a . l 0 0 0 - 1 0 0 1 a . 4,1277b-1278a; vgl. z.B. zu den Qualitäten der Argo AR 1,111-114. 2,1184b1189a. 3,340-346. 3 Vgl. Shelton 1971, 1 u. 540f.; Venini 1972, 11; Feeney 1991, 315. - Im ersten Vers von Vergils Aeneis taucht ebenfalls das Wort primus (Aen. 1,1) auf. Auch dort wird damit auf den Anfang eines Prozesses hingewiesen, jedoch ist die Vorstellung des Beginns in anderem Sinne verwendet: Aeneas kommt als erster, aber gleichzeitig auch als einziger von Troia nach Latium und begründet das römische Geschlecht, löst also eine andersartige zukünftige Entwicklung aus. Dagegen eröffnet die Argofahrt als erste Seefahrt über das offene Meer neue Seewege und ermöglicht auf diese Weise ähnliche Fahrten weiterer Schiffe. - Eine Anspielung auf den Beginn von Apollonios Rhodios' Prooemium (AR 1,1a), wie Liberman (1997, XL VII) zu vermuten scheint, liegt wohl nicht vor, weil es sich bei Apollonios Rhodios um eine Anrufung an Apollon und bei Valerius Flaccus um die Angabe des Themas handelt.

132

Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Stand des Epos, sondern in untergeordneter Funktion zur Angabe der handelnden Personen^ Apollonios Rhodios' Formulierung (AR 1,1; vgl. auch AR l,20-22a) von den ruhmvollen Taten früherer Männer (= Argonauten) erscheint bei Valerius Flaccus getrennt von der eigentlichen Themenangabe des Epos (1,1-4) erst ( l , l l b - 1 2 a ) in der Anrede an den Kaiser (1,521). An der Stelle ist der Ausdruck eingebunden in einen recusatio-Topos (1,10-18), mit dem die Behandlung eines alten mythischen Stoffs anstelle herausragender Taten der Kaiser aus der jüngsten Zeit gerechtfertigt werden soll, und dient weniger zur Angabe des Inhalts als solchem. Valerius Flaccus folgt also wie Apollonios Rhodios der Version des Mythos, nach der die Argo nicht das erste Schiff überhaupt, sondern das Schiff ist, mit dem über Binnen- und Küstenschiffahrt hinaus erstmals eine Fahrt über das offene Meer durch die Symplegaden bis nach Asien unternommen und damit eine besondere Leistung vollbracht wird.5 Er über4 Vgl. Schubert 1984, 239. Schuberts Folgerungen über lasons Verhältnis zu den Göttersöhnen und dessen Rolle bei der Fahrt scheinen allerdings etwas weitgehend. Aus der Tatsache, daß die erste Fahrt über das Meer im Prooemium als Thema angegeben und lason nicht erwähnt wird, wie Lüthje (1971, 1-3) Schlüsse für lasons Stellung bei Valerius Flaccus zu ziehen ist wohl nicht gerechtfertigt. - Bei natis (1,1) handelt es sich um eine Humanistenkonjektur für das überlieferte nautis, die in die neueren Ausgaben aufgenommen ist (vgl. z.B. Courtney 1970, 1; Ehlers 1980, 1; Liberman 1997, 8) und wohl auch beibehalten werden muß. Getty (1940, 2 6 0 - 2 6 4 ) verteidigt ausführlich die Lesart nautis, da damit die Vorstellung der Ausdehnung der Seefahrt auch in bezug auf die Argonauten ausgedrückt werde und ihre charakteristische Eigenschaft als Argo-nauten explizit zum Ausdruck käme. Die Folgerungen sind zwar zutreffend, der Hauptakzent liegt bei Valerius Flaccus aber, vor allem im Prooemium, gerade nicht auf den Argonauten als Personen. Entsprechend werden die Argonauten nirgendwo ausdrücklich in ihrer Funktion als Seefahrer und Ruderer charakterisiert (vgl. dagegen Apollonios Rhodios' Charakterisierung; vgl. Wetzel 1957, 40; Burck 1979, 219). Ferner führt die Lesart nautis dazu, daß der gesamte Vers (1,1) nur durch eine sprachlich ungewöhnliche und verschränkte sowie inhaltlich fragwürdige Konstruktion erklärt werden kann (vgl. Kleywegt 1986b, 3 1 3 - 3 1 5 ) . Kleywegt weist zwar ebenfalls nach, daß die grammatische Konstruktion des Verses auch bei der Lesart natis nicht zu den üblichen zählt, jedoch ist sie einfacher und zumindest vom allgemeinen Typ her nicht völlig ohne Parallelen. Eine symbolische Deutung der neuartigen Formulierung (so Kleywegt 1986b, 315) ist wohl nicht naheliegend. - Die Argonauten sind offenbar nicht alle tatsächlich Abkömmlinge von Göttern, sondern nur einige von ihnen (vgl. Langen 1896/97, 16 zu 1,1). Deren göttliche Abstammung wird mehrfach mit speziellen Funktionen besonders hervorgehoben (vgl. z.B. 3,667-669. 4,256). Ferner werden die Argonauten als Gruppe ungeachtet der genauen verwandtschaftlichen Beziehungen einzelner als Söhne von Göttern betrachtet (vgl. z.B. 3,504b-505a. 4,438. 5,503b-504a). Schließlich kann die Bezeichnung >Göttersöhne< die Argonauten auch allgemeiner einfach als Helden charakterisieren (vgl. Bezeichnung als Heroen bei AR 1,21a; Pindar, Pyth. 4,199; Vergil, ecl. 4,35a). 5 Daß Valerius Flaccus diese Form des Mythos (in besonderer Ausgestaltung) zugrunde legt, wurde ansatzweise bereits von Getty (1940, 260f. mit Anm. 7) gesehen.

I. luppiters >Weltenplan< und die Argofahrt

133

nimmt den Sachverhalt jedoch nicht einfach als vorgegebenes Element, sondern macht ihn zum Leitgedanken und übergeordneten Thema seines Werks.6 Denn diese Rolle der Argo stellt er zu Beginn heraus, weist imma· wieder darauf hin und baut darauf die umfassende Konzeption seines Epos auf.

wird aber bis heute meist nicht erkannt. Infolgedessen geht man davon aus, daß die Argo bei Valerius Flaccus im Rahmen der römischen Tradition das erste Schiff überhaupt ist, was zu Verwunderung über Widersprüche durch die Existenz anderer Schiffe (s. u. S. 134f. mit Anm. 7) führt (vgl. z.B. Herter 1942, 249; Wetzel 1957, 13 mit Anm. 1; Garson 1964, 279; Lefèvre 1971, 13; Venini 1972, lOf.; Shelton 1974a, 14; Shreeves 1978, 15, 77, 199; Burck 1979, 232f. mit Anm. 71; Barnes 1981, 360; Barich 1982, 95; Shelton 1984, 18; Vessey 1985, 329 u. 338; Smith 1987, 60 zu 2,109; Spaltenstein 1991, 96; Otte 1992, 18; Hardie 1993, 83 u. 86; Malamud/McGuire 1993, 195-197; Hershkowitz 1998, 35). - Vgl. Herter 1942, 2 4 4 249; Herter 1944/55, 308; Jackson 1997, 249-251, zu Apollonios Rhodios' Auffassung von der Rolle der Argo und der mit ihr durchgeführten Fahrt. - Daß die Argo das erste Schiff ist, das durch die Symplegaden das Schwarze Meer erreicht, scheint die ältere griechische Tradition zu sein, die Vorstellung von der Argo als erstem Schiff überhaupt auf einem Mißverständnis einer Stelle in Euripides' Andromache (Andr. 863-865) zu beruhen (vgl. P. Dräger, Art. >ArgoWeltenplan< (1,531-560)19 die übergeordneten Ursachen für die Argo-

16 Vgl. Davis 1980, 120. 17 Vgl. z.B. 2 , 4 4 5 ^ 4 6 . 6 3 9 - 6 4 3 . 4,563a.711-713. 5 , 8 4 - 8 5 a . l 5 0 - 1 5 3 . 7,35. Vgl. Z.B. Smith 1987, 237f. zu 2,554. - Verbindungen zu unbekannten Ländern gibt auch Lukan (3,194) als eine Folge der Argofahrt an. Daraus kann man allerdings wohl nicht wie Otte (1992, 48) mit Sicherheit schließen, daß diese Passage Valerius Flaccus beeinflußt habe. 18 Vgl. Wetzel 1957, 22f.; Shey 1968, 17f.; Burck 1979, 234; Davis 1980, 79; Davis 1989, 46 u. 55; Tschiedel 1998, 297; anders Wagner 1939, 100. - Fraglich ist allerdings, ob Valerius Flaccus, wie Burck (1979, 234) annimmt, die andersartige Schweφunktsetzung mit der geringen Betonung auf dem Erwerb des Goldenen Vlieses ausschließlich mit dem Ziel vorgenommen hat, seine eigene Leistung mit der Schaffung einer neuen Version zu zeigen. 19 Zu dieser zentralen Stelle (anders Wagner 1939, 131 f.) existieren zahlreiche Deutungen mit ähnlichem Grundtenor und Unterschieden im einzelnen (vgl. z.B. Wetzel 1957, 5 - 2 3 [vgl. dazu Adamietz 1976a, 22f.]; Schetter 1959, 302 Anm. 1 Alfonsi 1970, 125-131; Burck 1971, 28 u. 84; Lüthje 1971, 36-39; Adamietz 1976a 21-24; Burck 1979, 230-232; Barich 1982, 123-126; Schubert 1984, 1 9 ^ , bes 31-39; Wacht 1991a, passim; Liberman 1997, IX-XI; Hershkowitz 1998, 2 3 4 - 2 4 1 an ausführlicheren Äußerungen). Trotz zahlreicher Übereinstimmungen bei Einzel beobachtungen weichen sie alle im Gesamtverständnis von der hier vorgeschlagenen Interpretation ab, besonders weil in ihnen zwischen den beiden unterschiedlichen Teilen des >Weltenplans< nicht getrennt, dessen Bedeutung für das gesamte Epos und

I. luppiters >Weltenplan< und die Argofahrt

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fahrt und die damit verfolgten umfassenden Ziele. Als Valerius Flaccus die Handlung auf menschlicher Ebene so weit geführt hat, daß die Argo den Hafen von lolcos verläßt (1,494-497), schiebt er formal nach Vergils Vorbild (Aen. 1,223-296) eine Götterszene ein (1,498-573), für die sich bei Apollonios Rhodios (vgl. AR 1,547-552) keine Vorlage in diesem Umfang und dieser grundsätzlichen Bedeutung findet.20 So wird die Argofahrt im Unterschied zu Apollonios Rhodios in einen größeren Rahmen mit historischer Dimension gestellt und die von Valerius Flaccus mit seiner spezifischen Gestaltung beabsichtigte Aussage klar. Der >Weltenplan< wird im weiteren Verlauf nicht theoretisch oder mit Anspielungen ausdrücklich erwähnt, bleibt aber durch den Fortgang des Geschehens und die Art der Darstellung forwährend als bestimmender Faktor präsent. Die Götterszene (1,498-573), die innerhalb des äußeren Handlungsablaufs als Reaktion der Götter auf die Ausfahrt der Argo konzipiert ist, beginnt damit, daß sich die Götter über die Argofahrt und die damit ver-

die Rolle der Argofahrt darin nicht in vollem Umfang erkannt, zu weitreichende Folgerungen für die zugrundeliegende КикифЬ11о8орЬ1е und Geschichtsauffassung gezogen, unzulässige Parallelen zur Konzeption von Vergils Aeneis hergestellt, der Bezug auf die Römer als eindeutig zu sehr betont oder die im >Weltenplan< entwikkelten Vorstellungen zu positiv bewertet werden. Am weitesten in die hier vertretene Richtung gehen die Bemerkungen von Adamietz (1976a, 21-24). Jedoch behandelt er die Stelle im Rahmen seiner Analyse des Gesamtwerks relativ kurz und nicht eingehend genug. Außerdem unterscheidet er nicht zwischen den beiden Teilen, versteht luppiters Ziel als die Einführung einer neuen, besseren Ordnung und erkennt nicht in vollem Umfang die Bedeutung der im >Weltenplan< dargelegten Ideen für die Struktur des gesamten Epos, einschließlich der Ereignisse in Colchis. 20 Vgl. Brooks 1951, 69 mit Anm. 72; Wetzel 1957, 7f.; Shey 1968, 40; Adamietz 1970, 31; Alfonsi 1970, 125; Adamietz 1976a, 21f.; Burck 1979, 231; Schubert 1984, 22 u. 43; Eigler 1988, 21; Wacht 1991a, 4 Anm. 17 u. 22; Hardie 1993, 83; Liberman 1997, 3; Hershkowitz 1998, 221. - Bei Apollonios Rhodios steht vom Prooemium (AR 1,3b) an Pelias' Befehl als Auslöser der Argofahrt im Vordergrund. Zwar wird im weiteren Verlauf auch Apollon als Urheber der Fahrt genannt (vgl. AR 1,414b). Dessen Beziehung zur Argofahrt führt allerdings nur dazu, daß man ihn konkret in Zusammenhang mit der Seefahrt um Beistand bittet oder ihm (dankbar) opfert (vgl. z.B. AR 1 , 4 1 1 ^ 2 4 . 9 6 6 - 9 6 7 . 1 1 8 6 . 2,686-693. 4 , 1 7 0 1 b 1720a), hat aber auf die Konstruktion des Handlungsablaufs und die Bestimmung eines höheren Ziels, das mit der Argofahrt eigentlich verfolgt wird, keine Auswirkungen. Ein tieferer Sinn der Fahrt, weil sie durch Zeus' Willen veranlaßt sei, wird erst spät (vgl. AR 2,1192-1195. 3,336b-339) angedeutet (vgl. Fränkel 1968, 28 zu AR 1,1-233 u. 35f. zu AR 1,5-17; vgl. aber Dräger 1998, 193-201, der Zeus in bestimmender Funktion sieht; vgl. auch Dräger 1993, 293-327, zu seiner Auffassung der Motivation bei Apollonios Rhodios). Zeus' Absichten sind außerdem konkret mit dem Goldenen Vlies verbunden und verleihen dem Epos so keine umfassendere Bedeutung (vgl. Feeney 1991, 58-65 u. 88f., zur Unklarheit der göttlichen Pläne und der Undeutlichkeit ihrer Präsentation bei Apollonios Rhodios).

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

bundenen Veränderungen in der Welt freuen (1,498-502)21 In Gegensatz dazu steht Sols22 Einschätzung der Argofahrt aufgrund persönlicher Motive. Aus Sorge um seinen Sohn Aeetes, dessen Land das Ziel der Argofahrt ist, befürwortet er sie nicht und wendet sich deshalb mit einer Klage an luppiter (1,503-504). In seiner Rede (1,505-527) wirft Sol luppiter vor, daß dieser die Fahrt der Argonauten zu Aeetes' Land erlaubt habe (l,505-508a). Denn sein Sohn lebe bereits in einem unwirtlichen Land am äußersten Rand des bewohnbaren Gebiets (1,509-516), hege keine feindlichen Absichten gegen irgend jemanden und habe sich deshalb auch des Goldenen Vlieses nicht mit Gewalt bemächtigt (1,517-521), sondern sei Phrixus damals freundlich begegnet und dadurch jetzt mit den Griechen verwandt (1,522-524). Deshalb solle luppiter die Argofahrt aufhalten und sie nicht zum Schaden Sols und seines Sohns fortsetzen, da dieses Geschlecht schon genug Schmerz ertragen habe (1,525-527). Sols Klage trifft bei Mars, der die Entfernung des Goldenen Vlieses aus seinem Hain fürchtet, auf Zustimmung (1,528-529a), während luno und Pallas als Unterstützer der Argonauten (vgl. 1,91-99) darüber ungehalten sind (l,529b-530). In seiner Antwort auf Sols Rede (1,505-527) geht luppiter auf dessen konkrete Klagen und spezielle Probleme sowie die Frage nach dem Goldenen Vlies nicht direkt ein, sondern entwickelt in seinem sogenannten >Weltenplan< (1,531-560) unabhängig davon die großräumige, festgelegte Abfolge des Geschehens von der Vergangenheit bis in die Zukunft, worin die Argofahrt sowie deren Gründe und Ziele enthalten sind: Alles sei schon vor langer Zeit in einer bestimmten Ordnung unumstößlich eingerichtet worden und stehe unabänderlich fest (l,531b-533a). Denn als luppiter über den Schicksalsablauf entschieden habe, seien noch keine 21 Da Sol (1,503-527) und auch Mars (l,528-529a) die Argofahrt nicht befürworten, ist in der Aussage, daß sich alle Götter über die Argofahrt freuten ( 1 , 5 0 1 502), der Ausdruck omnes ... superi (1,501) wohl nicht in wörtlichem Sinne zu verstehen, sondern unbestimmter als Bezeichnung für die Gruppe der anderen Götter bzw. einen großen Teil davon im Unterschied zu luppiter (vgl. Schubert 1984, 25 Anm. 21). 22 Brooks (1951, passim, bes. 37; ähnlich Hull 1979, 398) geht davon aus, daß bei Valerius Flaccus >Apollo< und >Sol< zwei verschiedene Bezeichnungen für dieselbe Gottheit seien. Aus den Stellen, an denen >Apollo< bzw. >Sol< durch diese Namen in eindeutiger Identifizierung vorkommen, ergeben sich jedoch zwei einheitliche, aber voneinander verschiedene Bilder von Charakter und Funktion. Deshalb handelt es sich wohl um zwei unterschiedliche Gottheiten. Eine gewisse Unklarheit entsteht allenfalls dadurch, daß das Epitheton >Phoebus< anstelle des Namens für beide Götter verwendet wird, wobei der Bezug allerdings jeweils aus dem Zusammenhang klar ist (vgl. z.B. Apollo: 1,230.383. 2,316. 3,541. 4,76.468; Sol: 1,311. 2,76. 3,437.481.559. 4,98. 5,331.403.483. 6,468. 8,116).

I. luppiters >Weltenplan< und die Argofahrt

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Göttersöhne auf der Erde gewesen, so daß er in gerechter Weise die einzelnen Könige durch die Jahrhunderte habe verteilen können (1,533b535)23 Er werde jetzt (für die anderen Götter) die damals in sorgenvoller Überlegung gefaßten Beschlüsse wiederholen (1,536)24 Schon längst stehe Asien, das ringsum von Wasser umgeben sei, durch seine Pferde und Männer in Blüte (l,537-539a), und niemand habe gewagt, mit gleichem Mut wie die Einwohner Asiens gegen dieses Land Krieg zu führen und sich dadurch einen Namen zu machen (l,539b-541a). So sehr sei die Gegend von den (von luppiter festgesetzten) fata und von luppiter selbst begünstigt worden (l,541b).25 Aber der letzte Tag Asiens sei herangekommen, luppiter entzöge dem in seiner Bedeutung sinkenden Land seine Gunst, und die Griechen forderten bereits ihre Zeit (1,542543). Deshalb hätten luppiters Eichen, Dreifüße und Seelen von Eltern die Schar der Argonauten über das Meer geschickt (l,544-545a). Damit sei für die Kriegsgöttin Bellona der Weg über das Meer geschaffen worden (l,545b-546a). Es bleibe aber nicht bei dem Unwillen über das Goldene Vlies und dem näher liegenden Schmerz über den Raub von Medea (l,546b-548a),26 sondern nach luppiters ganz festem Beschluß werde Paris bald vom Ida kommen und den Griechen Gleiches mit Gleichem vergelten, indem er ihnen ebensolchen Kummer und Zorn bereiten werde wie diese den Asiaten durch den Raub von Medea (l,548b-551a). Dann werde man sehen, wie nach Landung der Flotte große Kämpfe von Freiem

23 Vgl. Langen 1896/97, 91 zu 1,535. 24 Aufgrund des Zusammenhangs der Szene und des luppiterbilds im gesamten Epos (s. u. Kap. В II 1 [S. 178ff.]) ist die Verwendung von repetam (1,536) in diesem Sinne (so offenbar Liberman 1997, 29) wahrscheinlicher als Schuberts (1984, 30 u. 34) Deutung, daß damit eine nochmalige Darlegung von luppiters Beschlüssen vor den anderen Göttern, die seine Pläne also bereits kennen, gemeint sei. 25 Die Interpretation von Vers 1,541 geht aus von seiner sprachlichen Erklärung durch Dureau (bei Langen 1896/97, 92 zu 1,541; so auch Schubert 1984, 35; Steinkühler 1989, 342; anders Wagner 1805, 39 zu l,536ff.; Langen 1896/97, 92 zu 1,541). Wahrscheinlich handelt es sich bei der grammatischen Parallelisierung von fata und ipse um ein Hendiadyoin (vgl. die vergleichbare Konstruktion in 2,482b und deren Erklärung bei Poortvliet 1991, 261 zu 2,480ff.), mit dem entsprechend zum Verhältnis von luppiter und fata bei Valerius Flaccus (s. u. Kap. В II 3 [S. 196ff.]) die Vorstellung >Iuppiters Wille und der von ihm bestimmte Geschehensablauf< ausgedrückt werden soll. 26 Im Rahmen der allgemeinen Darlegung des Ereignisablaufs hat propior (1,547) wohl eher zeitliche Bedeutung und weist weniger auf die Verwandtschaft zwischen Sol und Medea hin, wie Langen (1896/97, 93 zu 1,547), Wetzel (1957, 12) und wohl auch Liberman (1997, 30) meinen.

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В- Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Stattfänden, die Griechen viele Winter weinend vor Troia v e r b r ä c h t e n , 2 7 viele Menschen, auch Vornehme, Göttersöhne und starke Männer, stürben und Asien dem vorherbestimmten Schicksal weiche (l,551b-554). Von da an sei das Ende der Macht der Griechen festgesetzt, und luppiter werde bald andere Völker begünstigen (I,555-556a). Dann sollten Berge, Wälder, Sümpfe und alle Meere offen sein sowie für alle Menschen Hoffnung und Furcht herrschen (l,556b-557). Als Schiedsrichter werde luppiter durch Verändern der irdischen Angelegenheiten prüfend in Erfahrung bringen, welche Vorherrschaft er für alle Völker als die längste haben wolle und wo er die Herrschaft lassen werde (1,558-560). Anschließend richtet luppiter in einem Epilog (1,561-573) zur Darlegung des >Weltenplans< (1,531-560) seinen Blick auf Hercules und die Dioskuren, Mitglieder des Argonautenzugs, und wendet sich mit einer Rede (1,563-567) an sie (1,561-562). luppiter fordert sie auf, nach den Sternen zu streben (1,563a). Auch er selbst habe erst nach Kampf und Mühen die Herrschaft über das Weltall erlangt (l,563b-565a). Er habe ihnen einen harten und schweren Weg zum Himmel eingerichtet (1,565b566a). So seien auch Liber und Apollo nach beschwerlichem Weg auf der Erde in den Himmel zurückgekehrt (l,566b-567). Zum Abschluß dieses Teils und der gesamten Götterszene verleiht luppiter den Dioskuren рифигпез göttliches Licht (1,568-573). Wie der Überblick über den Inhah zeigt, gliedert sich der eigentliche >Weltenplan< (1,531-560) in eine Einleitung (l,531b-536) und zwei unterschiedliche Teile (1,537-554.555-560). In der Einleitung (l,531b-536) gibt luppiter den allgemeinen Rahmen bekannt, der die Grundlage für die anschließend im einzelnen entwickelten Pläne bildet. Er hat den Ablauf des Geschehens vor langer Zeit unabänderlich festgesetzt und wiederholt jetzt für die anderen Götter einen Teil seiner Beschlüsse. Damit gibt er keine direkte Antwort auf Sols Rede (1,505-527), es läßt sich aber eine impüzite aus seinen Darlegungen entnehmen. Ein indirekter Bezug zu Sols Klage 27 Vgl. Kleywegt 1989, 4 2 4 ^ 2 6 ; Poortvliet 1994, 491f., zu Lesart und Bedeutung von 1,552. - Beide erklären die Konstruktion, indem sie nicht wie Ehlers (1980, 20) Pius' Konjektur Troiae übernehmen, sondern wie Courtney (1970, 18) und Liberman (1997, 30) die handschriftliche Lesart Troiam (1,552) beibehalten, die also nicht geändert werden muß. Bei der Inteφretation ist eher Poortvliet zuzustimmen, der Kleywegts Deutung, daß mit Mycenas die zu Hause gebliebenen Griechen gemeint seien, zurückweist und davon ausgeht, daß es die vor Troia kämpfenden sind. Seine Überlegung, daß dann das ungewöhnliche und untragbare Bild von weinenden Soldaten entstehe, ist in diesem Zusammenhang kein Einwand. Denn hier geht es gerade um die Betonung des Leids, das für die Griechen mit der Übernahme der Vorherrschaft verbunden ist. Deshalb sind wohl auch bei flentes (1,552) Konjekturen, wie von Poortvliet erwogen, nicht notwendig.

I. luppiters >Weltenplan< und die Argofahrt

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besteht in der Einleitung dadurch, daß luppiter betont, daß er bei der Festlegung der fata gerecht habe vorgehen können, weil es noch keine Göttersöhne auf der Erde gegeben habe (l,533b-535). luppiters damaliges Verhalten steht in Gegensatz zu Sols jetzigem, der ledighch aus Sorge um seinen Sohn Aeetes interveniert (vgl. bes. 1,503-504.509). In den beiden folgenden Teilen (1,537-560) beschäftigt sich luppiter konkret mit dem Ablauf des Weltgeschehens (unter einem bestimmten Aspekt). Im ersten Teil (1,537-554) geht es um den Übergang der Macht von Asien auf Griechenland, im zweiten (1,555-560) um den von Griechenland auf ein weiteres Volk.28 Dabei handelt es sich nicht um zwei parallele Machtwechsel zu verschiedenen Zeiten, sondern es bestehen deutliche Unterschiede in der Konzeption der jeweiligen Umstände. Der erste Wechsel ist in allen Einzelheiten von Zeit, betroffenen Personen sowie Art und Weise des Übergangs genau festgelegt: Zu einem bestimmten Zeitpunkt, dessen Wahl allerdings nicht begründet wird, entzieht luppiter nach seinem vorgefaßten Plan Asien seine Gunst und überträgt sie auf Griechenland (1,542-543), das schließlich nach dem Argonautenzug und dem Trojanischen Krieg die Macht erhalten wird (l,546b-554). Mitten in der Entwicklung dieses Prozesses erwähnt luppiter die Auslösung der Argofahrt und die damit bezweckten Folgen (l,544-546a). Daraus ergibt sich, daß der entscheidende Faktor, der den Machtwechsel erst möglich macht, die Eröffnung von Seewegen durch die Argofahrt ist. Denn nur unter der Voraussetzung kann es zu einem Kontakt zwischen den durch das Meer getrennten Völkern der Asiaten und Griechen sowie zu einem Kampf zwischen ihnen um die Vorherrschaft kommen, da das Gebiet Asiens ringsum durch Gewässer begrenzt ist (vgl. 1,537-538). Daß die Argofahrt von luppiter ausdrücklich zu diesem Zweck konzipiert und so in einer wichtigen Funktion in den Ablauf des Weltgeschehens eingebunden ist, macht die Art der Verknüpfung eindeutig, luppiter sagt nämlich explizit, daß wegen des Machtwechsels von Asien 28 Als Vorlage für den Gedanken der Übertragung der Herrschaft von einem Volk auf ein anderes wird verschiedentlich auf Panthus' Rede in Vergils Aeneis {Ken. 2,324-335) hingewiesen (vgl. z.B. Schetter 1959, 302 Anm. 1; Adamietz 1976a, 22 mit Anm. 55; Barnes 1981, 360; Wacht 1991a, 9 Anm. 31). Darin umschreibt Panthus die Einnahme Troias durch die Griechen mit der Formulierang, daß luppiter die Macht auf Griechenland übertragen habe {Aen. 2,326b-327a). Der Ausdrack gibt Panthus' persönliche Auffassung von einem konkreten Ereignis wieder (vgl. das emotionale ferus als Epitheton zu luppiter, Aen. 2,326), und seine Aussage hat im Verlauf des Epos keine weiteren Konsequenzen. Dagegen ist die Idee des Machtwechsels bei Valerius Flaccus Bestandteil eines umfassenden Konzepts, das für das Hauptthema des Epos entscheidend ist (vgl. Ehlers 1998, 148; anders Barnes 1981, 360-370).

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В' Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

nach Griechenland {inde, 1,544) seine Zeichen die Argonauten über das Meer geschickt hätten (l,544-545a). Daß die Eröffnung von Seewegen von vornherein nicht friedlichen Zielen, sondern der Ermöglichung von Kriegen zwischen voneinander entfernten Völkern im Zuge der weltgeschichtlichen Entwicklung dienen soll, geht aus dem unmittelbar anschließenden Ausruf an Bellona hervor, daß die Wege über das Meer ihr aufgrund der Argofahrt jetzt offenstünden (l,545b-546a).29 Bei der Erwähnung des Trojanischen Krieges wird noch einmal ausdrücklich die Flotte unter den Vorbedingungen des Krieges genannt (1,551b). Mit der Einbindung der Eröffnung von Seewegen in den von luppiter geplanten umfassenden Geschehensablauf ist indirekt die Begründung für die Argofahrt gegeben. Darin ist implizit die Antwort auf Sols Klage (1,505-527) enthalten: Das Ereignis der Argofahrt ist bereits vor langer Zeit festgelegt worden und kann deshalb wegen seiner weitreichenden Bedeutung nicht aufgrund der persönlichen Wünsche einzelner, die nur mittelbar im Rahmen großräumiger Entwicklungen davon betroffen sind, rückgängig gemacht werden. Die umfassende Form der Erwiderung, die Informationen bietet, die für den vordergründigen Handlungsablauf an der Stelle nicht unbedingt nötig sind, stellt die im Epos geschilderten Ereignisse zu einem relativ frühen Zeitpunkt in einen größeren Zusammenhang. Durch die Vermittlung eines solchen Hintergrands ist nun inhaltlich bestimmt, wie das im Prooemium (1,1-4) herausgestellte Thema der Eröffnung von Seewegen von Valerius Flaccus verstanden und eingesetzt wird.^o 29 Kriege in Griechenland selbst bzw. zwischen benachbarten Völkern in d e r Gegend von Colchis gab es offenbar bereits vorher (vgl. 1,33 bzw. 6,557b-558). Strand (1972, 39f.) glaubt, daß bella in 1,33 nicht die übliche Bedeutung >Kriege< habe, sondern für von Tyrannen befohlene mühsame Arbeiten stehe, hier E u r y s t h e u s ' Aufträge an Hercules. Die Vergleichsstellen, die er anführt, sind jedoch zu dieser Passage nicht genau parallel. Außerdem liegt eine konkrete Bedeutung deshalb nahe, weil bella mit monstra auf eine Ebene gestellt werden und sich beide in griechischen Städten befinden sollen. Die von Hercules bereits vollbrachten Taten, die anschließend genannt werden ( l , 3 4 b - 3 6 ) , dienen, da es sich jeweils um die Vernichtung von Ungeheuern handelt, wohl lediglich zur Exemplifizierung des zweiten Begriffs monstra. 30 Shey (1968, 4 3 u. 45) bemerkt zu Recht, daß durch luppiters Rede klarwerde, daß die Argofahrt nicht eigentlich dem Erwerb des Goldenen Vlieses diene. Der Schluß, daß es in Valerius Flaccus' Epos stattdessen um Heldentum und das Vollbringen heldischer Leistungen gehe und daß alle Episoden unter diesem Aspekt betrachtet werden müßten, ist durch den Text wohl nicht gerechtfertigt. Auch die anderen von Shey (1968, bes. 54, 107, 260) festgestellten Themen, vor allem Krieg und Liebe für die zweite Hälfte des Werks, sind zwar wichtige Aspekte des Epos, können aber wegen der deutlichen Hervorhebung des spezifischen Hauptgedankens durch Valerius Flaccus nicht alle als zentrale Themen bezeichnet werden. - Die besondere Rolle der Argo und die umfassende Funktion der Argofahrt bei Valerius

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Die Umfunktionalisierung des mythischen Geschehens zu einem Teil der weltgeschichtlichen Entwicklung ist ein spezifisches Merkmal von Valerius Flaccus' Epos im Vergleich zu dem des Apollonios Rhodios. Für Flaccus geben Anlaß zu verschiedenen weitreichenden, über den Rahmen des Epos hinausgehenden Deutungen, die vielleicht möglich sind, sich aus dem Text aber nicht eindeutig ergeben: Davis (1980, passim; 1989, 46-73) sieht das Epos bestimmt durch zahlreiche Verbindungen von Intertextualität zu Äußerungen früherer Dichter über die Argofahrt (ähnlich Malamud/McGuire 1993, 192-217) und kommt zu einer poetologisch-symbolischen Interpretation, nach der das Schiff den Dichter-Priester, die Dichtung und auch das römische Staatswesen repräsentiere (ähnlich Taylor 1994, 235; McGuire 1997, 41f.). Feeney (1991, bes. 318 u. 320-330) vertritt ebenfalls eine poetologische Deutung der Art, daß die von luppiter ausgelöste Argofahrt für das Epos selbst und sogar für den Dichter stehe und daß durch die Art der Darstellung sowie den Einsatz symbolischer Mittel ein Ausgleich zwischen Krieg, dem in Rom f ü r Epen vorgeschriebenen Thema, und dem Liebesmotiv versucht werde. Ferner ordnet Feeney (1991, bes. 319 u. 330f.; zustimmend Hardie 1993, 83 mit Anm. 53; McGuire 1997, 42 mit Anm. 2; ähnlich Taylor 1994, 216) die durch luppiters Pläne ausgelösten Vorgänge schematisch in den aus anderen Dichtem bekannten Weltzeitaltermythos als Übergang vom Goldenen zum Eisemen Zeitalter ein. Otte (1992, passim, bes. viii-xi, 161-169) versteht die Argofahrt als Verwirklichung von luppiters Gerechtigkeit auf Erden, womit dieser sich gegenüber den chthonischen Gottheiten und deren Herrschaft (z.B. über das Meer und den Ausschluß der Menschen davon) hinwegsetze. Sie stelle den Wechsel vom barbarischen, heroischen zum menschlichen, homerischen Alter dar, der durch das Darstellungsmittel der Familie symbolisiert werde. Auf der politischen Ebene entspreche dem Übergang die Ablösung der julisch-claudischen Dynastie durch die flavische. Allerdings bringe die Argofahrt sowohl positive (Verbreitung von Zivilisation) als auch negative Elemente (Einfühmng barbarischer Züge in Griechenland durch Medeas Ankunft und den Mord an den Kindern) mit sich. Entsprechend sieht Otte (1992, 10, 105 u.ö.) die Tatsache, daß durch die Argofahrt Kriege zwischen verschiedenen Grappen von Menschen ermöglicht werden, als Merkmal der Veränderang der Zeitalter an, bezeichnet alle Kriege zwischen Menschen als Bürgerkriege und stellt einen Gegensatz zu früheren Kämpfen mit Monstern her. Otte (1992, 101 f. mit Anm. 8) unterstützt seine Theorie mit der inhaltlich-thematischen Auswertung des Sachverhalts, daß das Wort Mars und dessen Nebenformen im zweiten Teil des Epos im Vergleich zum ersten häufiger vorkommen. Außerdem zieht Otte (1992, bes. 21-43; ansatzweise auch McGuire 1997, 112) in großem Ausmaß die Tatsache, daß in Catulls carmen 64 Argofahrt und Familienbeziehungen eine Rolle spielen und dort vielleicht tatsächlich auf Unterschiede zwischen den Lebensumständen in verschiedenen Zeitaltem hinweisen, für die Deutung von Valerius Flaccus' Epos heran. Hardie (1993, 83-87) deutet die Argo als Symbol für menschliche Intelligenz und moralischen Abstieg und versteht die Einführung der Seefahrt durch luppiter entsprechend als Sieg des Himmelsgottes luppiter über die chthonischen Mächte, der allerdings nicht zu einer besseren Weltordnung führe, während Davis (1989, 47) bei ausschließlicher Betonung des letzteren symbolischen Aspekts die Argofahrt für einen mit der Ursünde vergleichbaren Fall hält. Taylor (1994, 212-235) bestimmt in einer symbolisch-typologischen Interpretation die dynastische Abfolge als eigentliches Hauptthema des Epos und setzt die einzelnen Figuren mit historischen Gestalten gleich. Wegen dieser Auffassungen von der Argofahrt weicht in den genannten Abhandlungen bei zahlreichen wichtigen Bemerkungen im einzelnen die Gesamtinterpretation zentraler Stellen von der hier vorgeschlagenen ab.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

die Argonauten ergibt sich daraus, daß sie im Prinzip wie der vergilische Aeneas eine >Mission< in göttlichem Auftrag ausführen. Bei Valerius Flaccus läßt luppiter allerdings die Argonauten ihre Rolle und ihr weiteres Schicksal nie erfahren und unterstützt sie nicht direkt. So erhalten die Argonauten zwar das Goldene Vlies, sind sich aber ihrer besonderen Funktion in luppiters >Weltenplan< nicht bewußt und erzielen in diesem Rahmen auch kein für sie positives Ergebnis.^i Durch die Argofahrt werden die Voraussetzungen für den Übergang der Macht von Asien nach Griechenland geschaffen. Der Machtwechsel wird nicht auf einfache Weise vor sich gehen, da es dafür sowohl des Argonautenzugs als auch des darauf folgenden Trojanischen Kriegs bedarf (1,544554). Mit der Erwähnung des Trojanischen Kriegs gehen luppiters Darlegungen von dem Bericht über frühere Beschlüsse und bereits geschehene bzw. eingeleitete Ereignisse zur Entwicklung zukünftiger Konzepte über. Formal wird die Veränderung der zeitlichen Perspektive daran deutlich, daß die Verbformen von jetzt an (1,549b) nicht mehr im Präsens oder Perfekt, sondern im Futur stehen. Außerdem betont luppiter hier, daß seine Entscheidungen für die Folgezeit ebenfalls unumstößlich feststünden (l,548b-549a). Neben dem Hinweis auf seine Macht und deren unumschränkte Ausübung ist damit wohl wieder ein indirekter Bezug zu Sols Klage (1,505-527) gegeben, indem luppiter deutlich macht, daß auch in Hinblick auf die Zukunft alles unverrückbar festgelegt sei und nicht aufgrund der Wünsche anderer Götter verändert werden könne.

31 Vgl. Ferenczi 1996, 44f.; Ehlers 1998, 150f. u. 154; etwas anders Tschiedel 1998, 296f. - Daß Jason das übergeordnete Ziel seiner Handlungen nicht kennt, ist menschlich (so Ehlers 1998, 151). Valerius Flaccus erklärt es konkret aber nicht als allgemein menschliche Eigenschaft, sondern stellt es als Ergebnis des Verhältnisses der Götter zu den Menschen dar. Ehlers (1998, bes. 151) scheint das Handeln der Argonauten durch die Argofahrt positiv zu deuten, weil es im Einklang mit luppiters Willen sei. Das rechtfertigt aber nur die Tat als solche, die Wirkungen der Argofahrt für die Menschen sind davon unabhängig und nicht positiv. Deswegen kann man wohl nicht wie Ehlers (1998, 151) die lobende Beschreibung von Vespasians Leistungen im Prooemium (1,5-21) uneingeschränkt auf die Argofahrt beziehen. - Shelton (1971, 536-539) sieht Valerius Flaccus' ganzes Epos davon bestimmt, daß die Argonauten ihre Mission erfüllen wollen und diesem Ziel abwechselnd näher und ferner sind. Eine solche Aussage ist nur zutreffend, wenn man unter >Mission< auch die gewissenhafte Erfüllung eines menschlichen Auftrags versteht, da die Argonauten von den göttlichen Plänen nichts wissen, wie auch Shelton (1971, 541) anzunehmen scheint. Man kann jedoch ebenfalls nicht wie Taliercio (1992, 15) umgekehrt sagen, daß keine Mission (im Sinne eines übergeordneten Gedankens) vorhanden sei und es nur um den Erwerb des Goldenen Vlieses gehe. Wenn es den Argonauten auch unbekannt ist, hat die Argofahrt dennoch ein umfassendes Ziel.

I. luppiters >Weltenplan< und die Argofahrt

147

Sowohl der Argonautenzug als auch der Trojanische Krieg werden nicht als positive Schritte auf dem Weg zur Erringung der Macht dargesteUt, sondern es wird jeweils, besonders beim Trojanischen Krieg, das damit verbundene Leid betont. Über das Goldene Vlies empfindet man Unwillen, der Raub von Medea führt zu Schmerz (l,546b-548a). Nach luppiters Absicht wird es bei dem Kummer nicht bleiben, sondern er wird sich im Trojanischen Krieg fortsetzen. Der Raub von Helena durch Paris wird sozusagen als Vergeltung den Griechen gleiche Trauer bereiten wie den Asiaten der Raub von Medea ( l , 5 4 9 b - 5 5 1 a ) . 3 2 Die Griechen müssen noch mehr leiden, da sie als Folge von Helenas Entführung durch Paris vor Troia schwere Kämpfe zu bestehen haben, weinend viele Jahre dort verbringen und viele ausgezeichnete Leute sterben sehen werden (1,551b554a). Auf gleicher Ebene unmittelbar daran angeschlossen ist luppiters Aussage, daß Asien dem vorherbestimmten Schicksalsablauf weichen werde (1,554b). Griechenland wird zwar schließlich über Asien siegen und die Vorherrschaft erlangen, das wird aber gerade für die erfolgreiche Partei mit großen Mühen und Verlusten verbunden sein. Wie die gleichwertige Aneinanderreihung von Leid und Sieg nahelegt, scheint luppiter darin keinen Widerspruch oder eine Inkonsequenz zu sehen, sondern den notwendigen und natürlichen Geschehensablauf. Die Griechen werden sich des mühevoll errungenen Sieges nicht lange freuen können, da unmittelbar vom Zeitpunkt ihrer Erringung der Vorherrschaft an bereits deren Ende feststeht und luppiter andere Völker begünstigen wird (l,555-556a). Diese Aussage, die den zweiten Abschnitt des >Weltenplans< (1,555-560) einleitet, macht gleich den grundsätzlichen Unterschied zwischen den beiden Teilen deutlich. luppiter spricht nämlich lediglich von >anderen VölkernWeltenplan< (1,531-560). In einem Epilog (1,561-573) wendet er sich anschließend an einige der Argonauten (1,561-562). Aufgrand der Konzeption der gesamten Szene ist davon auszugehen, daß es keine echte Kommunikation mit den Menschen ist, diese also luppiters Worte nicht hören, sondern die Ansprache an die Argonauten nur ein Mittel ist, in einem gesonderten Abschnitt Ansichten luppiters zu präsentieren, die nicht eigentlich zum großen Weltkonzept gehören, aber damit zusammenhängende Aspekte verdeutlichen. Daß für die Abgrenzung der Passage gerade die Form der Anrede an die Menschen gewählt ist, erklärt sich aus ihrem Inhalt. Denn die darin enthaltenen Gedanken sind für die Menschen, ihr Verhalten und die Einstellung zu ihrem Schicksal unmittelbar von Bedeutung. Indem luppiter in seiner Rede (1,563-567) die Argonauten gleichzeitig auffordert, nach den Sternen zu streben (1,563a), und verkündet, daß er ihnen den Weg zum Himmel schwer gemacht habe (l,565b-566a), zeigt er deutlich, daß er die Bewältigung von Mühen sowie anschließenden Erfolg und Belohnung als zwingende Abfolge versteht. Darin sieht er keinen Widerspruch oder eine besondere Belastung, sondern den natürlichen Ablauf, dem auch er selbst und andere Götter unterworfen gewesen seien (l,563b-565a.566b-567). Die enge Verbindung der beiden Aspekte in luppiters Auffassung deutet sich schon bei der Beschreibung des Übergangs der Herrschaft von Asien nach Griechenland an (l,549b-554). luppiters Äußerungen sind an einzelne Argonauten gerichtet (vgl. auch 4,35-36a), nicht an die Argo oder die ganze Mannschaft. Es wird auch keine ausdrückliche Verbindung zur Argofahrt hergestellt, sondern mehr allgemein luppiters Ansicht über das Handeln der Menschen und dessen 36 Vgl. ansatzweise Langen 1896/97, 94 zu 1,556. - Aus luppiters Methode bei der Entscheidungsfindung (1,558), die allerdings ziemlich unspezifisch formuliert ist, läßt sich vielleicht als Voraussetzung noch erschließen, daß sich das Volk in luppiters Sinne bei der Herrschaft bewährt haben muß.

I. luppiters >Weltenplan< und die Argofahrt

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Folgen vor Augen geführt. Jedoch können luppiters Aussagen vielleicht als charakteristisch für die Beschaffenheit der Argofahrt verstanden werden.37 Die Vermutung wird dadurch unterstützt, daß Idmon (1,234b238a) und Helle (2,592-607) in ihren Prophezeiungen ausdrücklich für die Zeit der Argofahrt Mühen ankündigen (1,235b bzw. 2,596-597a) und gleichzeitig deren Überwindung bzw. das Erreichen des Ziels der Seefahrt versprechen (1,236b bzw. 2,597b). Aufgrund der Beziehung von Mühen und Belohnung in luppiters Sicht erhalten die von den Argonauten im Verlauf der Argofahrt zu bewältigenden Strapazen für luppiter eine Funktion bzw. ordnen sich in einen geregelten Ablauf ein, der zu einem festgelegten Ergebnis mit positiven Aspekten führt. Für die Menschen findet eine solche Sinngebung nicht statt, da sie von luppiters Plänen nichts wissen. Eingeleitet wird die Götterszene (1,498-573) mit einer kurzen Passage, in der die Götter das Auslaufen der Argo betrachten (1,498-502). Eine entsprechende Erwähnung der Reaktion der Götter findet sich auch bei Apollonios Rhodios (AR 1,547-552). Dort wird allerdings lediglich die bloße Tatsache genannt, daß die Götter sich das Auslaufen der Argo ansehen (AR l,547-548a) und auf die Stärke der Helden blicken (AR l,548-549a), sowie gesagt, daß die Nymphen wegen der Argo ins Staunen geraten (AR l,549b-552). Dagegen beläßt es Valerius Flaccus nicht bei der bloßen faktischen Beschreibung, sondern gibt auch die Gefühle der Götter an und deutet damit deren Verhältnis zur Argofahrt. Von luppiter heißt es, daß er den Beginn der schönen und großartigen Unternehmung der Griechen betrachte und sich darüber freue, da er das otium der Herrschaft seines Vaters nicht billige (1,498-500). Die positive Bewertung der Argofahrt erfolgt aus der Sicht luppiters, für den sie eine wichtige Stellung in der von ihm beabsichtigten Entwicklung des Weltgeschehens einnimmt. Sie ist unabhängig von Voraussetzungen und Konsequenzen auf der Ebene der betroffenen Menschen. Die Begründung für luppiters Einstellung paßt bei exakter Auslegung nicht genau zu den im >Weltenplan< (1,531-560) enthaltenen Fakten. Denn nach luppiters Angaben über seine Festsetzung der fata (l,531b-535) hat er seit der Erringung der Macht im Weltall (vgl. l,563b-565a. 2,82-84) bereits vor der Argo37 Vgl. Adamietz 1970, 31; Lüthje 1971, 39f.; Adamietz 1976a, 23f.; Schubert 1984, 40f.; Feeney 1991, 333f.; Wacht 1991a, 18, teils mit anderer Gesamtdeutung der Rede. luppiters Rede wie Feeney (1991, 334) und Otte (1992, 64, 161f. u.ö.) auf die ganze Menschheit zu beziehen geht wohl zu weit. - Vgl. bes. Adamietz 1970, 31; Adamietz 1976a, 23f. u. 121, zur Beziehung zwischen Überwindung von Mühen und Aufnahme in den Himmel.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

fahrt einige Zeit regiert und durch eigene Entscheidung beschlossen, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt durch die Eröffnung von Seewegen Alctionen und Kriege einsetzen sollen (l,542-546a). Nach der im >Weltenplan< vorausgesetzten Herrschaftsstruktur hätte luppiter die Eröffnung von Seewegen und die damit verbundenen Aktivitäten also auch schon früher innerhalb seiner Regierungszeit einführen können. Dann sind sie jedoch kein Merkmal des Endes von Saturnus' Zeitalter und keine erfreuliche Veränderung für luppiter nach seinem Machtantritt. Die Erklärung des scheinbaren Widerspruchs liegt wahrscheinlich darin, daß Saturnus' Erwähnung nicht in wörtlichem Sinne als Bezeichnung eines konkreten Zeitabschnitts zu verstehen ist. Das Epitheton patrii ist vermuüich zu otia regni (1,500) hinzugefügt, weil Saturnus' Zeitalter in der Tradition als typisches Beispiel des otium gilt und die Veränderung der Lebenssituation nach dem Ende seiner Herrschaft oft mit Einsetzen oder Ausdehnung der Seefahrt in Verbindung gebracht wird. Es handelt sich also weniger um eine konkrete Zeitangabe als um eine Charakterisierung. Bei einem solchen Verständnis bringt die Beschreibung von luppiters Verhältnis zur Argofahrt an dieser Stelle in Entsprechung zum >Weltenplan< mit lediglich etwas anderer Nuancierung zum Ausdruck, daß luppiter aus irgendwelchen Gründen mit dem Zustand, der bis zum Einsetzen der Argofahrt in der Welt besteht, nicht mehr zufrieden ist und eine Veränderung herbeiführen will, die Aktionen auslöst. 38 Neben luppiters Reaktion auf das Auslaufen der Argo wird die der anderen Götter geschildert (l,501-502).39 Sie freuen sich ebenfalls über die Veränderung und die jetzt anbrechenden Zeiten (l,501-502a).'*o 38 Wacht (1991a, 5) und Hardie (1993, 83) verstehen patrii... otia regni (1,500) in wörtlichem Sinne, stellen aber keinen Widerspruch zum >Weltenplan< (1,531-560) fest. Die These, daß der Einsatz von Aktivitäten und der Beginn von labor in Entsprechung zu den Vorstellungen in Vergils Geórgica kulturschaffende Wirkung habe und eine Aufwärtsentwicklung der Menschheit bedeute (so Wetzel 1957, 6f. Anm. 2; Schubert 1984, 23f. mit Anm. 16; Wacht 1991a, 4-7), wird durch den Text nicht bestätigt. 39 Vgl. Wagner 1805, 37 zu l,498ff.; Kleywegt 1989, 422f.; Liberman 1997, 164 zu 1,501, zur Konstraktion von 1,501-502. 4 0 Trotzdem kann man wohl nicht wie Adamietz (1976a, 31) zusammenfassend feststellen, daß die Argofahrt im Schutz der Götter stattfinde, oder wie Schubert (1991, 125), daß luppiter, luno und Pallas die Argofahrt förderten. Denn luppiters Aktivitäten auf der einen Seite sowie lunos und Pallas' auf der anderen sind keine gemeinsamen und betreffen völlig verschiedene Ebenen (vgl. auch Schenk 1998, 248). Hinweise, daß die anderen Götter insgesamt die Argofahrt befürworten, gibt es nur indirekt und außer an dieser Stelle lediglich, als luno eingreift, um Jason in Unwissenheit über den Tod seiner Eltern zu lassen (2,1-5) und damit die Ausführung der placiti ... deis ... actus (2,5) zu sichern (vgl. Schubert 1991, 129 mit Anm. 23, mit

I. luppiters >Weltenplan< und die Argofahrt

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Besonders zufrieden sind die Parzen, weil sie sehen, daß zu ihrem Vorteil auf diese Weise neue Formen und Möglichkeiten des Todes für die Menschen entstehen (l,502b).4i Dieser Aspekt der Seefahrt wird auch im weiteren Verlauf durch Neptunus' Rachegedanken für später bei seinem Entschluß, die Argofahrt zuzulassen (l,645b-650), und durch Epitheta, die ohne tragende Bedeutung für den unmittelbaren Zusammenhang hinzugefügt sind (vgl. z.B. miseris, 1,573; naufraga, 1,584),42 hervorgehoben. Daraus ergibt sich, daß die Seefahrt nach Valerius Flaccus' Darstellung für die Menschen nicht nur durch luppiters umfassende Pläne, nach denen die Eröffnung von Seewegen zu Kriegen führt, verderbenbringende Wirkung hat, sondern auch an sich wegen der Gefahren des Meeres. Bei der ersten Seefahrt sind sie deshalb besonders groß, weil die Menschen hilflos, ängstlich und unerfahren sind sowie die Eigenschaften des offenen Meeres und der dort herrschenden Witterung noch nicht k e n n e n . 4 3 Aus der gesamten Götterszene (1,498-573) läßt sich folgendes zur inhaltlichen Deutung und Funktion der Argofahrt, die den im Epos dargestellten Ausschnitt von luppiters Plänen bildet, entnehmen: Die Argofahrt findet als neuartiges und einschneidendes Unternehmen nach luppiters Willen statt. Durch die Eröffnung von Seewegen ist sie die unmittelbare Voraussetzung, die den Übergang der Macht von Asien nach Griechenland ermöglicht. Für die betroffenen Menschen bringt sie Leid und Mühen mit sich, da sie zur Verbreitung von Kriegen dient und als solche Gefahren in sich birgt. Aufgrund dieses Verständnisses der Argofahrt und dabei vor allem ihrer Einbindung in umfassende Pläne stellt Valerius Flaccus die Eröffnung von Seewegen im Prooemium (1,1^) als Thema heraus. Denn bei der genannten Deutung ist die Eröffnung von Seewegen durch die Argofahrt tatsächlich das über den vordergründigen Handlungsablauf übergeordnete Hauptthema des ganzen Epos, das eine einheitliche

etwas weitgehenden Schlußfolgerungen), und als die Götter auf das wagemutige Unternehmen der Durchquerung der Symplegaden durch die Argonauten reagieren (4,667-669; vgl. Strand 1972, 103). 41 Vgl. Adamietz 1976a, 21; Thuile 1980, 114; Schubert 1984, 24f.; Wacht 1991a, 4. - Vgl. auch Lukan 3,196b-197a. 42 Die Epitheta weisen wohl nicht nur auf den Seesturm, der die Argonauten innerhalb des Epos trifft (1,574-692), voraus, wie Shelton (1971, 33f.) annimmt, sondern charakterisieren allgemein die künftige Seefahrt. 43 Vgl. z.B. l,621b-638.670-672a. 2,38-42. 4,637-640. Vgl. Garson 1964, 279; Shelton 1971, 35; Shelton 1974a, 15.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Konzeption für das Gesamtwerk und eine durchgängige leitende Idee schafft.44 Die Schilderung der Argofahrt und ihrer Vorbereitungen (1,1 - 5,216) ist so nämlich kein in sich abgeschlossener erster Teil, an den sich die Ereignisse in Colchis (5,217 - 8,467) weitgehend unabhängig und ohne thematische Verbindung als zweiter Teil anschließen, bn Gegenteil ist das Geschehen in Colchis die direkte Konsequenz der Argofahrt und damit ein mit ihr eng verbundenes, unverzichtbares Element im Sinne von luppiters Plänen. Denn luppiter löst die Argofahrt nicht als einmaliges, isoliertes Ereignis aus, sondern setzt sie funktional als Glied in einer langen und umfassenden Entwicklung ein, die nur über die Ereignisse in Colchis in der gewünschten Form reahsiert werden kann. Innerhalb dieses Prozesses stellen die Argofahrt und die Vorgänge in Colchis nicht zwei gleichwertige nacheinander stattfindende Schritte dar, sondern zwei eng zusammenhängende Bestandteile eines Komplexes, der eine Entwicklungsstufe bildet. Wegen dieser Beziehung ist das Geschehen in Colchis in der Themenangabe der Eröffnung von Seewegen sozusagen mit Inbegriffen.'^^ Trotz der engen thematischen Zusammengehörigkeit sind die Argofahrt und die Ereignisse in Colchis selbstverständlich zwei getrennte Abschnitte mit unterschiedlichem Inhalt und verschiedener Funktion, da zunächst die Voraussetzungen dargelegt und dann die Qualität der unmittelbaren Folgen exemplifiziert werden. Die Rückfahrt nach lolcos ist für die äußere Fortsetzung des >Weltenplans< (1,531-560) von Bedeutung, da Medea dadurch nach Griechenland kommt (vgl. l,547b-548a), sie trägt aber nicht in dem Maße wie die vorausgehenden Abschnitte zu dessen inhaltlicher Ausfüllung bei. Die Rolle des zweiten Teils des Epos als direkte Fortsetzung des ersten innerhalb der Gesamtkonzeption zeigt sich an den darin hervorgehobenen Aspekten. Sie kommen besonders offensichtlich im zweiten Prooemium (5,217-223) zum Ausdruck, das den Neueinsatz auch strukturell markiert (vgl. bes. cantus alios, 5,217). Die Betrachtungsweise der Geschehnisse in 44 Da Mehmel (1934, 56) sich an den äußeren Fakten des Mythos orientiert und deshalb die Gewinnung des Goldenen Vlieses als Ziel der Argofahrt und damit als (eigentlich notwendigen) Bezugspunkt des Epos ansieht, kann er in Valerius Flaccus' Werk im Unterschied zu Vergils Aeneis keine Einheit finden, die auf einer übergeordneten und die einzelnen Teile verbindenden Idee beruht. 45 Die enge Beziehung zwischen der Argofahrt und den Ereignissen in Colchis wird oft nicht erkannt und deshalb das Thema der Eröffnung von Seewegen als bestimmend nur für den ersten Teil des Epos (1,1 - 5,216) bezeichnet, auf den mit einem gewissen Bruch der zweite Teil (5,217 - 8,467) folge (vgl. z.B. Adamietz 1976a, 24; bes. Spaltenstein 1991, 9 6 f ) .

I. luppiters >Weltenplan< und die Argofahrt

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Colchis und die Akzentuierung der einzelnen Elemente bei Valerius Flaccus werden wiederum (vgl. VF 1,1^; AR 1,1^) klar durch die Unterschiede zu den Musenanrufen, die bei Apollonios Rhodios die zweite Hälfte des Epos einleiten (AR 3,1-5.4,l-5).46 Apollonios Rhodios sagt zunächst, daß er den Erwerb des Goldenen Vlieses durch lason mit Hilfe von Medeias Liebe beschreiben wolle (AR 3,l-3a), und kündigt später einen Bericht über Medeias Taten und Leiden an (AR 4,1-5). Durch die Frage nach der richtigen Bezeichnung für Medeias Verhalten (AR 4,2b-5) weist er deutlich darauf hin, daß dessen Schilderung und die Darstellung der Macht der Liebe im Vordergrand stehen werden (vgl. auch AR 4 , 4 4 5 - 4 4 9 ) . A p o l l o n i o s Rhodios legt also hauptsächlich Wert auf die Beschreibung von Medeias innerer Entwicklung und ihrer dadurch hervorgerufenen Handlungen, die zum Erwerb des Goldenen Vlieses führen. Dagegen nennt Valerius Flaccus im zweiten Prooemium (5,217-223) als Themen des folgenden Teils Kämpfe, Aeetes' betrügerisches Vorgehen und das (objektiv) moralisch verwerfliche Handeln von Medea. Damit unterscheidet er sich von Apollonios Rhodios, da er Aeetes' Betrag und die dadurch ausgelösten Kämpfe in Colchis ohne mythologisches Vorbild neu eingeführt hat.'^ä Deren ausdrückliche Erwähnung im zweiten Prooemium zeigt, daß es ihm vor allem daram geht und auch hier (vgl. 1,1^) nicht um den Erwerb des Goldenen Vlieses, das nur als äußerer Anlaß zum Auslösen der Ereignisse dient. Abgesehen von den menschlichen und psychologi46 Vgl. Wetzel 1957, 3 9 ^ 1 , mit etwas zu starker Betonung des Heroischen bei Valerius Flaccus; Otte 1992, 104-106. 47 Vgl. Lüthje 1971, 208; Shelton 1971, 274f. - Vgl. Fränkel 1968, 326-328 zu AR 3,1-5 u. 453 zu AR 4,1-5; Green 1997, 252 zu AR 3,1-5 u. 291f. zu AR 4,1-5, zu den Einleitungen der späteren Bücher bei Apollonios Rhodios. 48 Vgl. z.B. Langen 1896/97, 359 zu 5,217; Wagner 1939, 91f.; Brooks 1951, 91 Anm. 95 u. 100 Anm. 107; Wetzel 1957, 34f. Anm. 2 u. 176; Shey 1968, 93 u. 163; Burck 1971, 29; Shelton 1971, 528 u. 531; Venini 1971b, 610; Adamietz 1976a, 72 u. 84; Shreeves 1978, 160 mit Anm. 35; Burck 1979, 226f.; Eigler 1988, 70; Davis 1989, 46; Taliercio 1992, 36f.; Stadler 1993, 133 zu 7,344-346; Taylor 1994, 224; Ferenczi 1995, 149; Fucecchi 1996, 101 u. 106; Wijsman 1996, 7; Fucecchi 1997, 9; Liberman 1997, VIII, XXXIX, XLIX; Perutelli 1997, 17 u. 31; Hershkowitz 1998, 5, 194, 221f. - Zur Einführung von Kämpfen in Colchis, an denen lason auf Aeetes' Befehl vor der Erlangung des Goldenen Vlieses teilnimmt, könnte Valerius Flaccus dadurch angeregt gewesen sein, daß lason bzw. Argos bei Apollonios Rhodios (AR 3,351b-353 bzw. 3,392b-395) als Ausgleich für die Aushändigung des Goldenen Vlieses anbieten, gegen die Sauromaten zu kämpfen und diese zu unterwerfen (vgl. Langen 1896/97, 359 zu 5,217; Wetzel 1957, 35 Anm. 2; Fucecchi 1996, 106f.; Perutelli 1997, 270f. zu 7,210ff.; anders Adamietz 1976a, 78; vgl. auch Fucecchi 1996, 106-113, mit Überlegungen zu möglichen Quellen, 113-126, zur Wichtigkeit des Kriegsthemas bei Valerius Flaccus).

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

sehen Komplikationen, die sich durch die Situation in Colchis ergeben, will Valerius Flaccus Kämpfe darstellen, die in Entsprechung zu luppiters ausgreifenden Plänen die Folgen der Argofahrt exemplifizieren und das Weltgeschehen einen Schritt weiter führen und an denen die Bedeutung von Krieg für Götter und Menschen deutlich wird. Zusätzlich zum >Weltenplan< (1,531-560) macht Valerius Flaccus durch luppiters Rede (5,673-689) in der Götterszene des fünften Buchs (5,618695) für die Schlacht in Colchis klar, daß sie von luppiter im Rahmen umfassenderer Entwicklungen vorgesehen ist. luppiter hat Ablauf und Folgen des kommenden Kampfs in groben Zügen festgelegt und beschlossen, daß er nicht Abschluß, sondern Teil einer länger währenden Auseinandersetzung um die Macht sein wird (5,680-688). Ein weiterer Hinweis auf luppiters Rolle als Befürworter und direkter oder indirekter Verursacher von Kriegen ergibt sich daraus, daß luppiter in einem Gleichnis (5,304308) als derjenige charakterisiert wird, der den Völkern neben verschiedenen Wettererscheinungen (5,304-307a) Krieg und andere Ereignisse schickt (5,307b-308).49 Für die Menschen wird durch den Kampf in Colchis endgültig deutlich, daß die Eröffnung von Seewegen nicht, wie Venus-Circe es Medea heuchlerisch glauben machen will (7,227-228a), zu einer allen Menschen gemeinsamen, offenen Welt führt,50 sondern die

49 Vgl. Gärtner 1994, 133-137, bes. 136 u. 137, zum Gleichnis. - Auch die abstrakte Vorstellung von Krieg als solchem, die die Bereitstellung von Materialien und die potentielle Möglichkeit zur Auslösung umfaßt, wird indirekt auf die Götter zurückgeführt: Bei der Fahrt der Argonauten vorbei am Land der Chalyber ( 5 , 1 4 0 146) wird über das Volk nicht wie bei Apollonios Rhodios (AR 2 , 3 7 4 b - 3 7 6 . 1 0 0 1 b 1008) gesagt, daß es in mühevoller Arbeit Eisen herstelle und bearbeite, was eine verbreitete Form der Charakterisierung zu sein scheint (vgl, Wijsman 1996, 88f. zu 5,141). Im Gegenteil wird hervorgehoben (5,142b-146), daß die Chalyber, Diener des Mars (5,142a), durch Fertigung von Waffen die Voraussetzungen für schreckliche kämpferische Auseinandersetzungen geschaffen hätten und deshalb als Erfinder von Kriegen zu betrachten seien (vgl. Shelton 1971, 266; Otte 1992, lOlf.). Entsprechend werden sie hier in auffälliger Weise als crudelis (5,143) und in Phineus' Prophezeiung (4,553-625) als saevissima ... gens (4,610-611) bezeichnet (vgl. Langen 1896/97, 326 zu 4,610). Wijsman (1996, 87 zu 5,140-153) weist aus struktureller Perspektive darauf hin, daß der Erwähnung der Chalyber besondere Bedeutung zukomme. 50 Vgl. z.B. Wetzel 1957, 123 mit Anm. 4; Garson 1965, 108; Shreeves 1978, 187; Stadler 1993, 92 zu 7,225-230; Liberman 1997, XIII; Perutelli 1997, 277f. zu 7,227ff., zur Feststellung von Beziehungen zwischen den von Venus-Circe vertretenen Ansichten und der stoischen Weltbürgerlehre. - Da Venus-Circe andere Folgen der Seefahrt nennt als luppiter in seinem >Weltenplan< (1,531-560) und diese unter einem anderen Aspekt darstellt, kann man wohl nicht davon sprechen, daß hier Ideen des >Weltenplans< wieder aufgenommen würden (so Wetzel 1957, 123 Anm. 2; Shelton 1971, 442; ähnlich Otte 1992, 141f.; vgl. dagegen Lüthje 1971, 295 Anm. 2; Stadler 1993, 81f. zu 7,193-291).

I. luppiters >Weltenplan< und die Argofahrt

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bisherige Sicherheit, die auf der trennenden Wirkung des Meeres beruht, beendet (vgl. 1,702-708. 6,219-221a. 8,314-315a). Als Folge der Argofahrt kommt es zu einem Kampf zwischen zwei Gruppen von Colchern mit Beteihgung der Argonauten auf der einen Seite (6,1-760) und anschließend bei der Verfolgung der Argo beinahe zu einem zwischen Argonauten und Colchem (8,259-384). Letzterer wird allein durch eine Intervention lunos abgewendet (8,318-327), während die Menschen bei Apollonios Rhodios in ähnlicher Situation auf verschiedene Weise selber durch Verhandlungen und Verträge Kampf vermeiden (vgl. AR 4,338-340.1008-1010). Bei Valerius Flaccus entsprechen nicht nur die Kämpfe an sich, sondern auch deren Art und Folgen luppiters >Weltenplan< (1,531-560). So wird die Schlacht in Colchis zwischen Perses und Aeetes zu Machtwechseln führen (vgl. 5,681-687. 6,742-743a), wenn auch nur zwischen einzelnen Gruppen innerhalb eines Volks, und wegen der Beteiligung der Argonauten in weiterem Rahmen den Beginn der Feindschaft zwischen Asiaten (Colchem) und Griechen (Argonauten) bilden. Deutlicher wird der Bezug zu luppiters Absichten in der Konfrontation zwischen Argonauten und Colchem nach der Abfahrt von Colchis (vgl. bes. 8,275b-276.395-399). Die Colcher verfolgen die Argo aus Entrüstung über Medeas Weggang aus Colchis, den sie als Raub deuten (vgl. z.B. 8,267-269) und der als wichtiges Element der Handlung im zweiten Prooemium (5,217-223) genannt (5,220b) sowie im >Weltenplan< (1,531560) als entscheidendes Glied in die weltgeschichtliche Entwicklung eingeordnet wird (l,547b-548a). Auch wenn es zu dem Zeitpunkt noch nicht zu einer realen Auseinandersetzung kommt, bildet die Gegnerschaft, die auch so zwischen Asiaten und Griechen in der Folge des Raubs von Medea besteht, in Übereinstimmung mit luppiters >Weltenplan< den ersten Schritt beim Übergang der Macht von Asien nach Griechenland. Für die Menschen zeigen sich die furchtbaren Folgen von Kämpfen als Ergebnis von luppiters Plänen in der Schlacht in Colchis (6,1—760) besonders eindringlich, weil die Argonauten ohne direktes eigenes Ziel bei der Schlacht als solcher gegen Fremde kämpfen, gegen die sie keine originäre Abneigung haben. Diese Situation bringen Aussagen von Personen des Epos exphzit zum Ausdruck, neben kurzen Äußerungen von Perses und Medea (vgl. 6,23b.25b-26a.678-679a) vor allem eine Rede des lazygen Gesander (6,323b-339). Formal ist Gesanders Rede eine der üblichen Spottreden an den Gegner vor der Aufnahme des eigentlichen Zweikampfs. Jedoch ist seine gesamte

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Aristie (6,279-385) relativ umfangreich und umfaßt mehrere Begegnungen mit verschiedenen Kämpfern, die jeweils auf unterschiedliche Weise thematisch bedeutsam sind. Femer weist seine Rede innerhalb des dramatischen Kampfgeschehens eine beträchliche Länge auf und entspricht auf inhaltlicher Ebene nicht ganz der Konvention (weitgehendes Fehlen von direktem Spott und Angriff des Gegners, ausführliche Darlegungen über eigene Person und Lebensweise). Daher darf man wohl davon ausgehen, daß die Rede eine umfassendere Funktion erfüllt und grundsätzliche Aussagen enthält.51 In seiner Rede macht Gesander klar, daß weder die Argonauten Grund hätten, gegen sein Land Krieg zu führen, da es dort wegen der anderen Sitten keine lohnenswerte Beute gebe (6,323b-333), noch Gesander und seine Leute eigentlich gegen andere Völker Krieg führen wollten, da sie mit ihrem Land und dessen Lebensbedingungen zufrieden seien (6,334339a). Trotzdem hat sich durch die Ankunft der Argonauten in Colchis eine Lage ergeben, in der die beiden Gruppen gegeneinander kämpfen müssen und Gesander sich verpflichtet fühlt, zur Verteidigung seines Landes und seiner Gewohnheiten einen Argonauten zu töten (6,339b). Diese im Grunde unbeabsichtigte Tat soll die Rede, in der Charakter und Lebensgesetze von Gesander und seinem Volk dargelegt werden, erklären und rechtfertigen: Gesander handelt gemäß seiner Lebensweise, die er in der gegebenen Situation bewahren will, aber nicht aufgrund von wesensmäßiger Grausamkeit. Femer ergibt sich aus Gesanders Rede, daß der Kampf zwischen verschiedenen Völkern Bestandteil von luppiters Plänen zur Verbreitung von Kriegen durch den Beginn der Hochseeschiffahrt ist (vgl. bes. 1,544546a). Gesander sagt nämlich, daß sein Volk in Gegensatz zu den Argonauten auf seinen Pferden hindernde Gewässer auf dem Weg zu anderen 51 Die Tatsache, daß die Rede eine über den unmittelbaren Zusammenhang hinausgehende Bedeutung hat, übersehen Wagner (1805, 201 zu 6,322ff.), Langen (1896/97, 433f. zu 6,323) und Wagner (1939, 93) bei ihrer Kritik an der im Eifer des Kampfgeschehens unwahrscheinlichen Länge der Rede und an der Unangemessenheit des Inhalts. Dagegen heben auch Lüthje (1971, 252-255), Shelton (1971, 352-354, bes. 352 gegen Langen) und Shreeves 0 9 7 8 , 185f.) die grundsätzliche Funktion und inhaltliche Bedeutung von Gesanders Rede hervor, wenn sie sie auch etwas anders auffassen als hier vorgeschlagen. - Gesanders Rede macht gerade deutlich, daß Argonauten und lazygen nicht unbedingt natürliche Feinde sein müssen und Gesander nicht in jeder Hinsicht Barbarentum verkörpert, wie Shey (1968, 174f.) meint. An Gesander soll auch nicht in erster Linie vorgeführt werden, wie die Argonauten die Barbarei bekämpfen sowie Recht und Sittlichkeit verbreiten, was Tschiedel (1998, 302f.) hervorhebt. - S. u. Kap. В III 1 (S. 225ff.) zu weiteren Aspekten von Gesanders Aristie.

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Völkern bei jeder Witterung überwinden könne (6,326-329a), das aber nicht wolle, von sich aus also keine Angriffskriege führe (6,334-335). Damit gibt er zu erkennen, daß der Kampf gegen den Willen der Menschen allein durch die Ankunft der Argonauten über das Meer ausgelöst worden ist. Dabei ist der Kampf als ganzer (zusätzlich zu einzelnen Todesfällen) für die Argonauten als Personen nutzlos, da er sie ihrem konkreten Ziel, das Goldene Vlies zu erlangen, nicht näherbringt (vgl. 7,26-77). Ein vergleichbares Ergebnis hat er auch für den unterlegenen Perses und dessen gesamte Partei, wie dessen Ausruf (6,727-736) am Ende der Kampfhandlungen zeigt: Perses klagt darüber, daß falsche göttliche Vorzeichen ihn zu einem Kampf veranlaßt hätten, der ihm in der Auseinandersetzung mit seinem Bruder keinen Erfolg gebracht habe (6,727-732).52 In Steigerung gegenüber der Schlacht auf Cyzicus (3,95-248) ist die in Colchis (6,1-760) kein Kampf zwischen eng vertrauten Gastfreunden, sondern sogar ein Bruderkrieg.^^ Abgesehen davon zeigt sich ihr grauen-

52 Auf welche Vorzeichen (6,729.730) Perses sich bezieht, ist nicht eindeutig, wahrscheinlich aber nicht auf die 5,259-261a genannten, wie Lüthje (1971, 276; vgl. auch Shelton 1971, 407) meint, da diese das Goldene Vhes, aber nicht den Kampf und das Verhältnis der Brüder betreffen. Möglicherweise liegt (zumindest in den Gedanken des Autors) ein Bezug zu lunos Aufforderung an Pallas, Perses Verbündete anzukündigen (3,492b-505), vor (vgl. Ferenczi 1995, 152 mit Anm. 14; Fucecchi 1997, 257 zu 6,729). Einer genauen Entsprechung steht allerdings entgegen, daß an keiner Stelle gesagt wird, daß Pallas den als List erkannten Auftrag (vgl. 3,506-507) ausführt, die dafür notwendige Form der Kommunikation zwischen Göttern und Menschen wohl nicht als augurium (6,729) oder omen (6,730) bezeichnet werden kann und sich Perses nach einer allgemeinen Anrede an die himmlischen Götter (6,729) an luppiter (6,730) wendet (vgl. Ferenczi 1995, 152 mit Anm. 14, zum letztgenannten Problem, während Fucecchi [1997, 257 zu 6,729] keinen der Einwände zu sehen scheint). Vielleicht handelt es sich auch um im Epos sonst nicht erwähnte Zeichen, die zusätzlich zur Herausgabe des Goldenen Vlieses zum Kampf raten und Erfolg versprechen und die erst hier genannt werden, als sie für die Beschreibung von Perses' Situation relevant sind. - Die gesamte Interpretation von Perses' Klage bei Lüthje (1971, 276f.) ist aufgrund seiner Prämissen etwas weitgehend. 53 Deshalb setzen Hull (1979, 406), Burck (1981, 456), Otte (1992, 77f. u. 118 mit Anm. 24), Hardie (1993, 87) und McGuire (1997, bes. 103-113) die Schlachten bei Valerius Flaccus mit Bürgerkriegen (der Zeit unmittelbar vor der Abfassung des Epos) in Beziehung. Der Gesichtspunkt scheint etwas überbewertet, wenn McGuire (1997, passim) diese Verbindung stark in den Vordergrund stellt, sie mit der Charakterisierung der Tyrannen und der Darstellung von Selbstmord in diesem Epos in Beziehung setzt und daraufhin das Gesamtwerk ausschließlich unter dem Aspekt der politischen Bedeutung und des Verhältnisses zu den Zeitumständen interpretiert. - Auch der Kampf der Erdgeborenen gegeneinander, die insgesamt als feindliche Gruppe betrachtet werden, wird ohne äußere Notwendigkeit so beschrieben (7,637-638), daß Brüder einander töteten (vgl. Otte 1992, 123 u. 147f.; Gärtner 1994, 212).

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voller Charakter vor allem darin, daß sich die Kämpfenden in der Undurchschaubarkeit der Kampfsituation nicht mehr gegen den Feind, sondern gegen die eigenen Leute richten.54 Zu einem Kampf zwischen den eigenen Leuten kommt es auch in der Schlacht auf Cyzicus (3,95-248) beinahe sowohl unter den Argonauten (3,186-189a) als auch unter den Cyzicenem (3,193-197). In beiden Fällen wird diese äußerste Katastrophe (vgl. nefas, 3,186) durch plötzliches Aufscheinen von göttlichem Licht gerade noch verhindert (3,188b-189a.l94b-196a). Im Kampf in Colchis (6,1-760) gibt es keine Rettung vom Kampf untereinander durch göttliches Eingreifen mehr, im Gegenteil löst die Erscheinung von Pallas' Aegis solche Furcht unter den Menschen aus (6,396-399a), daß die Kämpfer zu der schrecklichen und unnatürlichen Tat veranlaßt werden, gegen ihre Gefährten vorzugehen (6,399b-426). Dabei sind Gräßlichkeit und Unmenschlichkeit der Situation dadurch deuüich hervorgehoben, daß diese Züge besonders ausgemalt und durch Gleichnisse (6,402^06.410^12.420-422) illustriert werden. Das ausführlichste Gleichnis, das am Anfang der Schilderung steht und die Lage insgesamt charakterisiert, führt eine entsprechende Situation bei den römischen Legionen vor, wobei ein Kampf gegen die eigenen Leute und ein gewöhnlicher ausdrücklich kontrastiert werden (bes. 6,406).55 Durch genaue Beschreibung und Parallelisierung mit vertrauten römischen Einrichtungen tritt dem Leser die Grausamkeit eines solchen Ereignisses unmittelbar vor Augen. In ihrer spezifischen Gestaltung zeigt die Schlacht in Colchis die Fortführung von luppiters >Weltenplan< (1,531-560) und die Konsequenzen für die betroffenen Menschen. In den Zusammenhang der Präsentation der Folgen der Argofahrt im Sinne von luppiters >Weltenplan< (1,531-560) ordnet sich auch die Cyzicus-Episode ein, bei der unter allen Fahrtepisoden der Bezug zur übergeordneten 54 Die Kampfsituation führt außerdem zur Beendigung der Sorge von Gefährten füreinander (vgl. 6,192a) sowie zur Zerstörung von Ehen (vgl. 3,316b-317a. 6,688b689) und des Verhältnisses zwischen Kindern und Eltern (vgl. 3,177b-178a. 6 , 5 6 5 568.569b-571). Nur einmal treten Brüder im Kampf füreinander ein (vgl. 6 , 2 0 3 218). 55 Die Bedeutung des Abschnitts der Schlachtschilderung mit der Beschreibung des Kampfs gegen die eigenen Leute stellt Adamietz (1976a, 83) in kompositioneller Hinsicht fest, indem er ihn als »Höhepunkt« des ersten Teils bezeichnet. - Bei der Wahl des Gleichnisses muß sich Valerius Flaccus nicht auf einen speziellen Bürgerkrieg beziehen, wovon Langen (1896/97, 441 zu 6,402ff.), Shelton (1971, 364) und McGuire (1997, 103) ausgehen, sondern kann eine Situation auch allgemein und abstrakt (allerdings aufgrund konkreter Erfahrungen) beschreiben (vgl. Wagner 1805, 205f. zu 6,402ff.; Shreeves 1978, 122; Gärtner 1994, 251 mit Anm. 36).

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Idee am deutlichsten ist. Cybele sieht den Zeitpunkt der Argofahrt als eine geeignete Gelegenheit an, ihre lange aufgeschobenen Rachepläne zu verwirklichen, und entschließt sich, einen Kampf zwischen Argonauten und Cyzicenem auszulösen (3,27-31). Ebenso wird in den Bemerkungen des Dichters über die Vorzeichen, die Cyzicus das bevorstehende Geschehen angekündigt haben (3,352-356), auf eine Verbindung zwischen Argofahrt und Cyzicus' Schicksal hingewiesen. Auch in anderen Episoden kommen für die betroffenen Menschen bedeutsame Ereignisse in zeitlicher Übereinstimmung mit der Argofahrt zustande.56 Über diese Verbindung hinaus gibt es dort aber keine deutlich erkennbaren Beziehungen zu luppiters umfassenden Plänen. Durch Cybeles Aktionen wird in der Cyzicus-Episode erstmals nach Beginn der Argofahrt ein Kampf (3,95-248) zwischen zwei bisher durch das Meer getrennten Völkern in einem für die Argonauten fremden Land ausgelöst. Diese äußeren Gegebenheiten, die den Kampf erst in eine enge Verbindung zu luppiters Plänen bringen, werden durch verschiedene Darstellungsmittel ausdrücklich betont. So heißt es, als die Argonauten sich Cyzicus nähern, daß sich ihnen der Blick in eine andere Welt eröffnet (2,628b). Ohne daß es an dieser Stelle für den weiteren Verlauf notwendig wäre, wird ihr Schiff in demselben Zusammenhang aus Cyzicus' Sicht mit dem Epitheton nova (2,636) versehen. In seiner Begrüßungsrede (2,639-648) hebt Cyzicus hervor, daß die Argonauten jetzt zum ersten Mal zu seinem im Osten gelegenen Land kämen, das bis dahin unerreichbar erschienen sei (2,639-643). Vor allem die Verwendung des Ausdrucks impervia (2,642) stellt die Fahrt nach Cyzicus als Teiletappe bei der Eröffnung der Seewege dar. Denn damit ergibt sich eine Beziehung zu den Formulierungen (allerdings mit anderer Funktion des Worts) bei der Themenangabe im ersten Prooemium {fréta pervia, 1,1) und bei der Nennung des durch die Argofahrt erzielten Er56 S. o. S. 41f. mit Anm. 58. - Die Ankunft der Argonauten in einem Land während der Argofahrt kann heilsame oder verderbenbringende Folgen haben (vgl. Ehlers 1998, 153). Deshalb sollte man vielleicht nicht ausschließlich den Gesichtspunkt des positiven Effekts hervorheben und sagen, daß die Argonauten jeweils als Befreier nach göttlichem Entschluß handelten und luppiters neue, bessere Ordnung durchsetzten, wie Adamietz (1976a, 35, 36, 38, 56f., 59 u.ö.; ähnlich Barich 1982, 64; Eigler 1988, 69; Kom 1989, 85 zu 4,99-343, 142 zu 4,199-221 u.ö.; Otte 1992, 65 mit Anm. 34; Tschiedel 1998, 301) es tut. Entsprechend ist es für Adamietz (1976a, 43) nur möglich, die unterschiedlichen Arten des Wirkens der Argonauten festzustellen, kann er sie aber nicht kommentieren. Schließlich (1976a, 115f. u. 121) faßt er sie unter dem Aspekt zusammen, daß die Argonauten immer den göttlichen Willen ausführten. Das kann jedoch momentan für die betroffenen Menschen auch furchtbare Folgen haben.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

gebnisses nach der Durchquerung der Symplegaden (fréta ... impervia, 4,711). Daß eine Beziehung zum >Weltenplan< (1,531-560) beabsichtigt ist, ergibt sich femer dadurch, daß der Kampf auf Cyzicus gerade unter Mitwirkung von Bellona ausgelöst wird (3,60). Denn mit der Argofahrt will luppiter für Bellona die Seewege öffnen (l,545b-546a), um Kriege zu ermöghchen, die schließhch zum Übergang der Macht von Asien nach Griechenland führen. Nun beginnt luppiters Plan sich zu verwirklichen, indem Bellona die erste ihr gebotene Gelegenheit nutzt. Zwar findet auf Cyzicus kein Kampf zwischen Großmächten um die Vorherrschaft statt. Jedoch handelt es sich bei den Argonauten um eine Gruppe von Griechen, was im Verlauf der Episode mehrfach durch die Wahl der für sie verwendeten Namensformen explizit gemacht wird (vgl. bes. 2,655. 3,86). Cyzicus gehört wegen seiner geographischen Lage bereits zum Gebiet Asiens und ist das erste asiatische Land, das die Argonauten auf ihrer Fahrt erreichen. Die Grenze zwischen Europa und Asien wird in herausgehobener Form beschrieben, als die Argonauten sie unmittelbar vor ihrer Ankunft in Cyzicus passieren (vgl. 2,614-620; vgl. auch 2,642). In ihrer Gesamtheit legen diese Tatsachen die Annahme nahe, daß in der Cyzicus-Episode ein Kampf zwischen Asiaten und Griechen als Folge der Argofahrt laut luppiters Plänen dargestellt und so die späteren Ereignisse in Colchis in der Mitte der Schilderung der Argofahrt vorweggenommen und vorbereitet werden sollen.^^ Die Beziehung zum Geschehen in Colchis macht auch lasons Ausruf zu Beginn des Kampfs, daß seine Gefährten die Feinde für Colcher halten sollen (3,82), deutlich. Außerdem handelt es sich bei den Schlachten auf Cyzicus und in Colchis um die einzigen Kämpfe zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen bei Valerius Flaccus,58 die er beide in dieser Form gegenüber Apollonios Rhodios erst eingeführt hat. Die Schlachten werden von Göttern ausgelöst und haben schlimme Auswirkungen für die Menschen.

57 Die Schlacht auf Cyzicus bereitet nicht nur in eher technischem Sinne die Schlacht in Colchis vor, indem eine weitere Schlachtschilderung mehr zu Beginn des Epos das Kampfthema bereits einführt, worauf Adamietz (1976a, 45 u. 79) und Fucecchi (1996, 120) hinweisen, sondern steht mit ihr auch in einem tiefergehenden inhaltlichen Zusammenhang. 58 Außerdem gibt es Kämpfe einzelner Argonauten gegen >MonsterWeltenplan< (1,531-560), die feste übergeordnete Absichten und Ziele enthalten, kann man wohl nicht wie Shelton (1971, 7, 32 u.ö.) sagen, daß die Argofahrt auf Pelias' Befehl hin stattfinde, luppiter aber dessen Auftrag mit göttlichem Willen identifiziere und die Argofahrt so von den

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Flaccus Apollonios Rhodios' Bericht, der die Entwicklungen bis zum Beginn der Argofahrt kurz und sachlich ohne besondere Betonung irgendwelcher thematisch-leitmotivischer Aspekte wiedergibt (AR 1,1-17), durch eine sorgfältige weltgeschichtlich-umfassende und menschhch-psychologische Motivation ersetzt.Dabei stellt sich die Frage, wie sich die beiden Ebenen der Motivation bei Valerius Raccus zueinander verhalten. Daß die Argofahrt durch menschliche Aktionen bereits in Gang gekommen ist, als luppiter im >Weltenplan< (1,531-560) sein weitreichendes Konzept enthüllt, ist kein Problem, sondern durch die Reihenfolge der Darstellung bedingt. Denn luppiter äußert sich im >Weltenplan< auch über die Zeit vor dessen Verkündung und damit die Zeit vor der Argofahrt. Die beiden Motivationen lassen sich für den Leser im nachhinein allerdings nur richtig verbinden, wenn man davon ausgeht, daß sich von luppiter (l,544-545a) und bei Pelias (l,26-29a) genannte göttliche Zeichen aufeinander beziehen. luppiter sagt nämlich, daß seine Zeichen (Eichen, Dreifüße, Seelen von Eltern) die Schar der Argonauten über das Meer geschickt hätten (l,544-545a). Bei Pelias heißt es, daß ein ausschlaggebender Faktor für sein Verhalten seine Beunruhigung durch göttliche Zeichen (Drohungen von Göttern, Aussagen von Sehern, Tieropfer) sei (1,2629a).62 Wegen der unbestimmten Ausdrucksweise ist eine Verbindung möglich, sie wird aber nicht deutíich gemacht und ist nicht sicher zu beweisen. Man muß sich wohl damit abfinden, daß Valerius Flaccus zwar von einer göttlichen Beeinflussung von Pelias' Verhalten ausgeht, die Einbeziehung seiner Motivation in luppiters Vorgehen und Pläne aber im unklaren läßt. So zeigt er einmal die konkrete Verursachung für die Menschen und einmal das dahinterstehende umfassende, göttliche Konzept. Pelias ist also zwar irgendwie von Göttern beeinflußt, daneben bestinmit er aber einige Punkte in eigener Verantwortung. Denn die Art und Weise Göttern befürwortet und sanktioniert werde, sondern muß eher ein umgekehrtes Verhältnis oder ein Zusammenwirken annehmen. 61 Vgl. Adamietz 1970, 29; Adamietz 1976a, 4-7; Burck 1979, 218, für die sachliche Feststellung, jedoch weitgehend ohne Berücksichtigung der Konsequenzen für Funktion und Deutung der Argofahrt bei Valerius Flaccus; vgl. Smith 1987, 252 zu 2,593, zum Nebeneinander von göttlicher Bestimmung und feindlichem König als Gründe für die Argofahrt. - Vgl. Fränkel 1968, 24-31 zu AR 1,1-233, zur Form der Vorgeschichte und der Art ihrer Darstellung bei Apollonios Rhodios. - Vgl. Ehlers 1998, bes. 153f., zum Verhältnis von menschlichem und göttlichem Handeln bei Valerius Flaccus. 62 Vgl. Liberman 1997, 166 zu 1,544, zur Identifikation der von luppiter genannten Zeichen; vgl. auch Dräger 1993, 339-341, mit etwas weitgehenden Vermutungen im Rahmen seiner Theorie. S. o. S. 87f. Anm. 160 zum Problem von einmalig und mit unklarem Bezug erwähnten göttlichen Zeichen.

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des Vorgehens und auch in gewissem Sinne die Entscheidung zur Argofahrt bleiben Pelias selbst überlassen. Die Götterzeichen veranlassen Pelias nämlich nicht direkt, lason über das Meer zu schicken, sondern versetzen ihn lediglich in Angst, daß er durch lason umkommen könne (l,27b-28a). Seine Furcht (vgl. 1,31a) wird außerdem unabhängig von den göttlichen Zeichen durch sein Unbehagen über lasons virtus vergrößert (l,29b-30). Um sich von der Bedrohung durch lason zu befreien, entschließt sich Pelias, lason auf irgendeine Weise zu töten (1,31-32). Aufgrund der gegenwärtigen Situation in der Welt, in der es zu Lande keine Gefahren gibt (1,33-36), scheint Pelias eine erfolgreiche Vernichtung lasons nur möglich, wenn dieser den Gefahren auf dem Meer ausgesetzt wird (1,37). In der Aufzählung der Gefährdungen (1,59-63), die Pelias in seiner listigen Rede (1,40-57) verschweigt, werden zwar auch die genannt, die speziell mit dem Erwerb des Goldenen Vlieses verbunden sind (l,60b-63). Dabei handelt es sich jedoch ledighch um zusätzliche Schwierigkeiten, die aus dem vorgeschobenen Auftrag, das Goldene Vlies zurückzuholen, entstehen, um die es Pelias aber nicht eigentlich geht. Denn daß Pelias es allein darauf abgesehen hat, lason den Gefahren auf dem Meer auszusetzen, ergibt sich aus anderen Stellen, die nicht objektiv sein Vorgehen, sondern seine privaten Gedanken und Gefühle beschreiben. Ausschheßlich die Gefahren des Meeres spielen eine Rolle, als sein Handeln durch die Wiedergabe seiner inneren Überlegungen erklärt wird (1,31-37) und als er um seinen Sohn Acastus als Teilnehmer an der Argofahrt fürchtet (l,719b-720). Ein weiteres Indiz ist lasons Reaktion auf Pelias' Ustige Rede: lason ist sofort klar, daß Pelias nicht will, daß er das Goldene Vlies wiedergewinnt, sondern daß er mit den Gefahren des Meeres zu kämpfen hat (l,64-66a). Eine solche Begründung für Pelias' Vorgehen findet sich in dieser expliziten Form nur bei Valerius Flaccus. Zwar geht auch aus Apollonios Rhodios' sachlicher Beschreibung hervor, daß Pelias lason durch eine mühevolle Seefahrt vernichten will. Doch werden die Gefahren des Meeres nicht als wichtigste Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, herausgestellt, sondern die genaue Art des Todes spielt keine Rolle, wenn er nur irgendwie im Verlauf der Fahrt geschieht (AR l,16b-17). Außerdem gibt es bei Apollonios Rhodios keine nähere Beschreibung von Pelias' Plänen, die die Konzentration auf die Gefahren des Meeres deutlich machte. Durch Valerius Flaccus' Gestaltung ist in Entsprechung zur göttlichen Motivation auch auf menschhcher Ebene das vordergründige Ziel der Argofahrt, der Erwerb des Goldenen Vlieses, nicht eigentlich von Bedeu-

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

tung,63 sondern die Argofahrt wird mit einer spezifischen, neuartigen Funktion versehen. Pelias setzt die Argofahrt natürlich nicht wie luppiter als weltgeschichtliches Ereignis mit weitreichenden Folgen ein, sondern ihm geht es um die Seefahrt als solche und deren Gefahren für die Menschen. Eine inhaltliche Beziehung zwischen den Absichten, die luppiter und Pelias mit der Argofahrt verfolgen, besteht darin, daß die Seefahrt für die betroffenen Menschen jeweils direkt oder indirekt verderbenbringende Konsequenzen hat. Der sich daraus ergebende Charakter der Argofahrt, ihre Folgen für die Menschen und deren Einstellung zu ihr werden durch die besondere Gestaltung des Komplexes (1,205-254) um die Prophezeiungen von Mopsus (1,211-226) und Idmon (l,234b-238a) zu Beginn des Epos vor der Abfahrt von lolcos ausführlich thematisiert.^^ Dazu hat Valerius Flaccus den Aufbau des Abschnitts gegenüber Apollonios Rhodios (AR l,436b-449) entscheidend verändert, indem er in auffälliger Weise zu der einen Prophezeiung eines Sehers (AR 1,440-447) eine zweite eines zweiten Sehers hinzugefügt hat. Zwar gibt es auch bei Apollonios Rhodios die zwei Seher Mopsos und Idmon, Mopsos tritt aber während der Vorbereitungen zur Abfahrt nicht als Person in Erscheinung. Valerius Flaccus läßt im Verlauf der Szene zunächst Mopsus eine Zukunft verkünden (1,211-226), die beinahe ausschließlich bedrückende Aussichten enthält (vgl. bes. l,211a.217b-218a). Mopsus nennt als erstes den Widerstand der Meeresgötter gegen das Ausgreifen der Menschen auf das offene Meer, das in deren Augen gegen das Gesetz verstößt (1,211b214a). Mopsus kündigt zwar gleich darauf an, daß die Meeresgötter die Argofahrt schließlich zulassen werden (l,216b-217a), betont dabei allerdings, daß sie das nur widerwillig und wegen des Einflusses anderer Götter tun (l,214b-216a). Mit diesen Angaben bringt Valerius Flaccus einen wichtigen Aspekt seines Hauptthemas, die Einstellung der Meeresgötter zur Argofahrt, erstmals zur Sprache. Deren Nachgeben ist wegen der Gegebenheiten des Mythos selbstverständlich notwendig. Da es hier zum Problem gemacht wird, entstehen eine beängstigende Stimmung und Unsicherheit. Mopsus erwähnt dann in umschreibenden Andeutungen zwei Unglücke, die den Argonauten bei Landaufenthalten während der Argofahrt zustoßen werden (l,218b-220), und behandelt danach die in Colchis zu

63 Vgl. Wacht 1991b, 109. 64 Vgl. bes. Lefèvre 1991, 173-180, für eine genaue Analyse des Szenenkomplexes, den er insgesamt jedoch etwas anders versteht.

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Überwindenden Hindernisse (l,221-224a) sowie das Geschehen, das lason und Medea in Korinth bevorsteht (l,224b-226). Indem Mopsus konkret das schlimme Schicksal von Argonauten andeutet, vor allem die traurigen Ereignisse, die lason trotz seines Erfolgs bei der Argofahrt und der Gewinnung des Goldenen Vlieses erwarten, steht die Aufbruchstimmung von Anfang an in tragischer Spannung. Idmon entkräftet in seiner anschließenden Prophezeiung (l,234b-238a), die ein positives Gegenbild zu der von Mopsus bilden soll (vgl. 1,228b230; bes. sed... contra, 1,228), Mopsus' düstere Voraussagen nicht. Denn er äußert sich zu den von Mopsus berührten Bereichen nicht, sondern spricht nur über die Bedingungen der Argofahrt. Dabei ist seine Hauptaussage, daß die Argonauten die Seefahrt glücklich zu Ende führen werden (l,236b-238a). Zwar erwähnt auch Idmon Mühen (1,235b; vgl. auch 2,596-597a), sie bleiben aber blaß und abstrakt und vor allem wird ihre Überwindung versichert (l,236b).65 Bei Apollonios Rhodios (AR 1,440^47) verkündet der eine Seher Idmon, daß die Argonauten (bis auf ihn selber, AR 1,443-447) nach dem Willen der Götter das Goldene Vhes erlangen und wieder heimkehren werden (AR l,440-441a), wenn er auch viele Mühen für die Zeit der Argofahrt in Aussicht stellt (AR l,441b-442). Den Voraussagen entspricht inhaltíich ungefähr Idmons Prophezeiung bei Valerius Flaccus (1,234b238a). Allerdings ergibt sich durch die spezifische Art der FormuHerungen und die Reihenfolge der genannten Elemente eine andere Nuancierung. Idmon geht bei Valerius Flaccus nicht von einer sicheren göttlichen Schicksalsfügung aus (vgl. AR 1,440), sondern von dem, was er göttlichen Zeichen entnehmen kann (l,234b-235a). Daraufhin nennt er zunächst die Mühen, die den Argonauten bei der Argofahrt bevorstehen (1,235b), und sagt dann, daß das Schiff sie alle überwinden werde (1,236b). Deshalb fordert er die Argonauten auf, tapfer durchzuhalten (l,237-238a). Das Goldene Vlies erwähnt er nicht. Die Umakzentuierung der übernommenen Prophezeiung durch Valerius Flaccus zeigt bereits, daß ihm bei seiner Deutung der Argofahrt und ihrer 65 Idmons Versprechen, daß es schließlich eine Überwindung der Mühen geben werde (bes. 1,236b), bezieht sich im Zusammenhang seiner Prophezeiung nur auf die Seefahrt (vgl. Fuhrer 1998, 18) und kann deshalb wohl nicht auf die von Mopsus vorhergesagten leidvollen Ereignisse übertragen werden, wie Adamietz (1976a, 14) es tut. - Lüthje (1971, 17-19) unterscheidet zwischen Mopsus' negativer Prophezeiung, die sich auf lasen beziehe, und Idmons positiver, die das Schicksal aller Argonauten betreffe. Dabei verkennt er jedoch, daß Idmons Prophezeiung ebenfalls implizit negative Elemente enthält (vgl. 1,235b) und Mopsus auch Dinge vorhersagt, die für alle oder andere Argonauten gelten (vgl. 1,21 lb-217a.218b-220).

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Einordnung in einen größeren Rahmen andere Gesichtspunkte wichtig sind als Apollonios Rhodios. Das vordergründige Ziel der Argofahrt, die Erlangung des Goldenen Vlieses, spielt für Valerius Flaccus keine Rolle, sondern ihm geht es um die Beschaffenheit der Argofahrt und deren Wirkung auf die Menschen. Deshalb läßt er Idmon in seiner Prophezeiung die Verbindung von Mühen und Erfolg in luppiters Sinne (vgl. 1,561-573) andeutungsweise entwickeln. Um weitere Aspekte der Argofahrt vor Beginn des Unternehmens deutlich machen zu können, fügt Valerius Flaccus zusätzlich Mopsus' Prophezeiung (1,211-226) von anderem Inhalt und Charakter ein. Bei einer schlichten Erweiterung der einen Prophezeiung ließe sich die Tatsache, daß verschiedene Elemente der Argofahrt in unterschiedlicher Akzentuierung genannt werden, die jeweils verschiedene Stimmungen bei den Menschen hervorrufen, nicht so deutlich machen. Nun kann sie durch die gegensätzliche Charakterisierung der beiden Seher (l,205-209a bzw. l,228b-233) noch unterstützt werden. Durch die Einführung von Mopsus' Prophezeiung werden auch die problematischen Aspekte der Argofahrt sowie deren tragische Folgen zur Sprache gebracht.66 Da Mopsus' negative Ankündigungen nicht angezweifelt werden, eröffnet sich (für den Leser) eine andere Perspektive und bleiben im Hintergrund schlimme Ahnungen bestehen. Weil aber Idmons positive Weissagung am Ende steht, ergibt sich als Ergebnis der Szene zunächst eine zuversichtliche Atmosphäre. Entsprechend führt lason in seiner unmittelbar {vix, 1,240) anschließenden Rede an die Gefährten (l,241b-251) nur den Optimismus von Idmons Prophezeiung (l,234b-238a) weiter, deren Verläßlichkeit im vorhinein ausdrücklich hervorgehoben wird (l,230b-233), und ist guten Mutes hinsichtlich der Seefahrt. Zeitpunkt und Inhalt von lasons Rede sind psychologisch dadurch motiviert, daß lason jetzt schließen kann, daß die Seefahrt aufgrund göttlicher Befürwortung letztlich erfolgreich sein wird, und er durch Aufmunterung der Kameraden den Effekt von Idmons Prophezeiung verstärken will. Daher fordert lason die Gefährten zunächst 66 Ehlers (1998, 151 u. 156) sieht das Ergebnis des Unternehmens für die Argofahrt als solche positiv, für die einzelnen Beteiligten aber nicht. Für Adamietz (1976a, 19f., 21 U.Ö.; ähnlich Eigler 1988, 20; Feeney 1991, 332-334) bestehen die negativen und positiven Elemente der Argofahrt in Entsprechung zu seinem Verständnis vom Hauptthema des Epos in dem Leid und der gleichzeitigen Leistung der Helden, die den Sinn des Zugs und so des Daseins der Helden ausmachten. Damit ist allerdings nur ein untergeordneter Aspekt der Argofahrt erfaßt, der sich auf die Situation der Argonauten bezieht, aber nicht deren Beschaffenheit hinsichtlich ihrer umfassenden Funktion beschrieben.

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auf, sich kampftüchtig und tapfer einzusetzen (l,241b-243). lason weiß natürlich, daß die Argofahrt (auf menschlicher Ebene) durch Pehas' List zustande gekommen ist (vgl. l,64-66a.200b-201). Es erscheint ihm jetzt jedoch so, daß diese nur der vordergründige Auslöser war und die Argofahrt in Wirklichkeit von den Göttern, und zwar von luppiter selber, verursacht worden ist (1,244-247)67 Zu dieser Überzeugung kommt lason aufgrund eines aufmunternden göttlichen Zeichens {omine dextro, 1,245). Bei dem Zeichen, das nicht genauer identifiziert wird, ist weniger an ein früheres Adler-Vorzeichen (1,156-160) zu denken. Denn wegen der genauen Beschreibung des Verhaltens des Adlers (1,158-160), das in Parallele zu Jasons Plänen in dieser Situation steht, und der engen Einbindung in den konkreten Zusammenhang (vgl. I,156a.l61-162a) hat es wohl nur für Acastus' Entführung durch Jason (1,149-183) Bedeutung. Mit dem von lason hier erwähnten Zeichen ist vermutlich eher das unmittelbar vorausgehende Geschehen, Idmons Prophezeiung (l,234b-238a) und die Zeichen, die deren Grundlage bilden (l,234b-235a), gemeint. Das liegt auch deshalb nahe, weil lason zu Beginn seiner Rede von superum ... consulta (1,241) spricht, die auch die Gefährten sehen (l,241-242).68 Jedenfalls entnimmt lason dem Götterzeichen mit Gewißheit, daß das Unternehmen ein Erfolg sein wird, da die Götter dahinterstehen. Aufgrund seiner Vorstellung von der Götterwelt vermutet lason luppiter als Verursacher der Argofahrt und unterstellt ihm dabei eine wohlwollende Absicht. Als ein in seiner Erkenntnis begrenzter Mensch kann Jason sich lediglich vorstellen, daß mit der Eröffnung von Seewegen über das Meer positive Zwecke verfolgt werden. Deshalb beschreibt er das Ziel, das luppiter mit der Seefahrt erreichen will, aus seiner Sicht im Sinne allgemeiner Auffassungen als erstrebenswert, nämlich die Herstellung von Verbindungen 67 Vgl. Pollini 1984, 58f.; Kleywegt 1987, 114-116, zur Konstruktion von 1,244-247; anders offenbar Liberman 1997, 18. - Pollini verweist auf Aen. 2 , 6 0 1 603, wo dieselbe grammatische Struktur in einer vergleichbaren Form der Aussage vorliegt; die inhaltliche Deutung der Stelle bei Valerius Flaccus ist nicht vollkommen überzeugend. 68 Lüthje (1971, 20), Schubert (1984, 182), Lefèvre (1991, 178 u. 179), Gärtner (1994, 260 mit Anm. 23) und Fuhrer (1998, 19 Anm. 24) nehmen an, daß lason sich auf das Adler-Vorzeichen (1,156-160) beziehe (vgl. dagegen Dräger 1993, 347). Jedenfalls enthält das Adler-Vorzeichen nicht an sich weitreichende Aussagen über die Seefahrt als ganze, die lason eine positive Sicht vermitteln, wie Lüthje (1971, 348) und Shelton (1971, 12) meinen. Daher läßt sich kein plötzlicher Wechsel in lasons Einstellung zur Argofahrt wegen seines Skeptizismus in seinem Gebet an Neptunus (l,194b-203) feststellen (so Shelton 1971, 14), sondern dieser entspricht seiner grundsätzlichen Haltung.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

zwischen Menschen in der ganzen Welt durch die Seefahrt und die ErmögHchung von Handelsbeziehungen (l,246b-247).® Dieses Bild von der Argofahrt, das allein auf seinen Überlegungen beruht, benutzt lason nicht nur dazu, seine Gefährten aufzumuntern, sondern glaubt offenbar auch selbst an eine derartige göttliche Auslösung, wie seine ungeheuchelte Zuversicht und die Einbindung seiner eigenen Person in die Gruppe der Argonauten zeigen (vgl. bes. 1,248-251). Nur mit einer solchen Deutung kann lason, der die Gefahren des Meeres kennt und gerade noch die Meeresgötter für sein unfreiwilliges Eindringen in deren Bereich um Verzeihung gebeten hat (l,194b-203), ohne Furcht hinsichtlich der Seefahrt das Unternehmen in Angriff nehmen. lason erschließt also, daß die menschliche Verursachung ein negatives Ziel, die göttliche ein positives hat (vgl. 1,244-247). Das kann zu dem Zeitpunkt auch der unvoreingenommene Leser glauben, dessen Wissen bis dahin mit dem der Gestalten des Epos übereinstimmt, da er noch nicht durch Reden der Götter deren Pläne unmittelbar erfahren hat. Um so erstaunlicher und bedrückender wirkt dann (für den Leser) der >Weltenplan< (1,531-560), durch den luppiters tatsächlich mit der Argofahrt verfolgte Ziele klarwerden, nämlich die Eröffnung von Seewegen, damit Kriege zwischen verschiedenen Völkern und so Machtwechsel möglich werden. Die Argonauten erfahren die eigentliche QuaUtät von luppiters Plänen zum ersten Mal in der Cyzicus-Episode, als sie gegen ihren Willen und ihre Erwartungen bei der Begegnung mit einem fremden Volk in eine kriegerische Auseinandersetzung verwickelt werden. Eine ähnliche Situation ergibt sich auch für König Cyzicus, der die Eröffnung von

69 Vgl. Ferenczi 1996, 45. - Weithin wird implizit oder explizit davon ausgegangen, daß lason nicht die von ihm postulierten, sondern die tatsächlichen Ziele luppiters bzw. seine Inteφretation von luppiters Zeichen zum Ausdruck bringe. lasons plötzliche Kenntnis von luppiters Plänen wird entweder kommentarlos hingenommen, oder es werden unplausible Erklärungen für die >Übereinstimmung< angeführt, die sich aus dem jeweiligen luppiter- und lasonbild sowie der Beurteilung der Argofahrt ergeben, und die Passage dann oft uneingeschränkt für die Ermittlung der von luppiter mit der Argofahrt verfolgten Ziele ausgewertet (vgl. z.B. Lüthje 1971, 20 u. 37 Anm. 2; Shelton 1971, 541; Adamietz 1976a, 14f.; Adamietz 1976b, 460; Schubert 1984, 182; Steinkühler 1989, 296; Wacht 1991b, 103-108; Otte 1992, 54f.; Liberman 1997, XIII u. 114; Fuhrer 1998, 18f.; Hershkowitz 1998, 109f.; Tschiedel 1998, 297). Dräger (1993, 336-355) geht davon aus, daß lason luppiters Pläne aufgrund eines im Text nicht genannten Orakels kenne (s. o. S. 87f. Anm. 160). lasons Aussage über die Ziele, die luppiter mit der Argofahrt verfolge (l,245b-247), versteht Wacht (1991a, 27-30) im Sinne seiner Gesamtdeutung der Argofahrt als Hinweis auf die universale Ausdehnung des Römischen Reichs sowie die Verbreitung positiver Werte und bringt sie mit der römischen Herrschaftsideologie in Zusammenhang. Ein solcher umfassender Bezug ist dem Text wohl nicht zu entnehmen.

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Seewegen und die damit entstandenen Verbindungen zwischen Angehörigen verschiedener Völker wie lason ebenfalls als begrüßenswerte Entwicklung ansieht (vgl. 2,641-643). Auf diese Weise arbeitet Valerius Haccus mit den Erwartungen des Lesers, da er ihn wie lason zunächst eine positive Vorstellung von der Argofahrt und ihren Folgen entwickeln läßt, bis sich nach und nach in theoretischen Darlegungen und konkreten Situationen das eigentliche Konzept enthüllt. Da die Menschen trotz vereinzelter Erfahrungen wie in der Cyzicus-Episode luppiters Plan in seiner Gesamtheit nicht erkennen können, bestimmen das von ihnen postuUerte Verhältois der Götter zur Argofahrt und ihre darauf beruhende Einstellung weiterhin ihr Verhalten. Daraus ergeben sich der Grund, warum lason, als die Argonauten sich auf ihrer Fahrt bei dem Seher Phineus aufhalten (4,423-636), im Unterschied zu Apollonios Rhodios' Darstellung ausdrücklich eine Prophezeiung von diesem erbittet (4,538-546), sowie die Art und Weise, in der er das tut. Denn auf den ersten Blick scheint es merkwürdig, daß lason sich zusätzlich zu den Weissagungen seiner eigenen Seher Mopsus und Idmon (vgl. 4,546b) aus Besorgnis eine weitere Prophezeiung von dem Seher Phineus wünscht.''^ Jedoch macht lason klar, daß die Seefahrt bis jetzt glücklich und wohl mit göttHcher Hilfe vor sich gegangen sei (4,540-543), seine Ängste aber größer würden, je näher die Argonauten an Colchis herankämen (4,544-546). lason glaubt also auch zu dem Zeitpunkt noch, daß die Götter die Argofahrt wohlwollend unterstützen und sie deshalb bis dahin erfolgreich verlaufen ist. Von Phineus erwartet er sich Informationen über die Zeit danach, die ihn bedrückt. Denn über die göttliche Einstellung dazu hat er keine Kenntnis, sondern es stehen ihm nur Mopsus' beängstigende Andeutungen (1,211-226) zur Verfügung. Diese sind ihm wohl zu unbestimmt, und

70 Vgl. z.B. Langens (1896/97, 321 zu 4,546) Kritik; psychologische Erklärung bei Shelton (1971, 233). - Die Erwähnung von früheren Weissagungen der eigenen Seher hat nicht nur, worauf Adamietz (1976a, 60) hinweist, strukturelle Funktion, indem dadurch der Zusammenhalt der einzelnen Episoden des Epos gefördert wird, sondern auch inhaltliche Bedeutung. Da Jason sich in seiner Bitte um die Prophezeiung bei den bis jetzt glücklich überstandenen Ereignissen allein auf die Seefahrt bezieht, kann man daraus nur bedingt seine Einstellung zu anderen Erlebnissen ableiten, wie Lüthje (1971, 165) es tut. Außerdem ist es naheliegender, daß der Ausdruck Ule operum swnmus labor (4,545) in Verbindung mit Phasis (4,545) und in der Stellung nach diesem Wort das Geschehen in Colchis (vgl. auch 5,298b-301) und nicht die Fahrt durch die Symplegaden (so Lüthje 1971, 166; ähnlich Shelton 1971, 233) bezeichnet. - S. u. Kap. В II 5 (S. 214ff.) zu Phineus' Prophezeiung.

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В. Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

er glaubt offenbar, Wissen über die weiteren Ereignisse von seinen eigenen Sehern nicht in ausreichender Genauigkeit erhalten zu können (vgl. auch 5,200-203). Auch die erste Prophezeiung der Argo (l,302b-307), die ihm neben den Weissagungen von Mopsus und Idmon zuteil geworden ist, bezieht sich lediglich auf die Argofahrt an sich. Sie verheißt Unterstützung bei der Fahrt auf dem Meer (l,305b-307) und läßt lason wiederum vermuten, daß die Götter die Seefahrt unterstützen. Innerhalb des Handlungsablaufs ist lasons Anliegen also durch seine persönlichen Sorgen hinsichtlich der Ereignisse in Colchis bedingt. Daher ist lasons Bitte um eine zusätzliche Prophezeiung von Phineus (4,538546) keine Kritik an Mopsus und Idmon, sondern ein Hinweis darauf, daß es sich bei dem Geschehen in Colchis um einen neuen Abschnitt von anderem Charakter handelt, über den die Menschen nichts wissen und der für sie zumindest im vorhinein bedrohend wirkt. Daß Phineus in seiner Weissagung (4,553-625) im typischen Stil derartiger Voraussagen alles, was die Argonauten nach dem Aufenthalt bei ihm erleben werden, beschreibt, und so auch den letzten Abschnitt der Seefahrt (4,561-616), ist seine Form der Antwort auf lasons eher vage formulierte Bitte. Auch was die Seefahrt selbst angeht, ist sich lason im klaren darüber, daß er gegen das Element und die Naturgewalt Meer kämpfen muß (vgl. z.B. 1,151-152), die Fahrt mit Gefahren verbunden ist (vgl. z.B. l,65b-66a. 154b-155. 5,481b-482), er in den für Menschen bis dahin verbotenen Bereich der Meeresgötter eindringt (vgl. z.B. l,196b-197.667-676) und mit der Fahrt über das offene Meer erstmals ein Unternehmen durchführt, das noch nie gewagt wurde (vgl. z.B. 5,313b-315). Deshalb entschUeßt sich lason zur Argofahrt nur im Vertrauen auf göttlichen Beistand (1,73b74.79-80a), obwohl auch diese Erwartung ihn nicht vollkonmien zuversichtlich macht. Wegen seiner Bedenken bringt lason vor dem Aufbruch gerade den Meeresgöttem Opfer dar (1,188-204), um sie mit seinem Vorhaben zu versöhnen und günstige Fahrt zu erwirken, und verspricht unterwegs weitere Opfer für den Fall einer glücklichen Rückkehr (1,677-680). In seinem Gebet an die Meeresgötter betont lason, daß die Argonauten keine Absichten hätten, die mit den anmaßenden Zielen der Giganten vergleichbar seien (1,198-199). Seine Furcht und die daraus entspringende Bitte sind nicht unbegründet, da Neptunus hybride Unternehmungen offenbar durchaus bestraft. Das zeigt bei der Fahrt der Argonauten vorbei an Pallene (2,16b-33) der Bericht über Neptunus' Vorgehen gegen Typhoeus (2,23b-33). Bei Apollonios Rhodios wird Pallene lediglich kurz ohne weitere Angaben genannt (AR l,598b-599a); allein Valerius Flaccus erwähnt im Unterschied zu anderen Versionen ein Einschreiten von

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NeptunusJi lasons Angst hinsichtlich der Reaktion der Meeresgötter wird auch durch das aufmunternde Orakel der Argo selbst (l,302b-307), aus dem er für die Seefahrt auf göttliche Unterstützung schließen kann (l,305b-307), nicht vollständig aufgehoben (l,309b).72 lasons Befürchtungen über die Einstellung der zuständigen Meeresund Windgötter zur Argofahrt sind aufgrund seines Wissensstands durchaus berechtigt. Denn nach dem bisher dominierenden Einfluß dieser Götter und der von ihnen aufgestellten Gesetze ist die Fahrt über das offene Meer für die Menschen tatsächlich etwas Verbotenes und Widerrechtliches (vgl. z.B. l,213b.627).''3 Jetzt wird die Hochseeschiffahrt aus verschiedenen Gründen entgegen deren ursprünglicher Einstellung zu einem erlaubten Unternehmen. Denn in Anerkennung der größeren Macht luppiters (vgl. 4 , 1 2 4 - 1 3 0 ) , d e r die Argofahrt wünscht und auslöst, und durch Bitten von luno und Pallas (vgl. l,214b-217a.642b-644a), die die Argofahrt befürworten, läßt Neptunus sich dazu bewegen, der Argo die Fahrt über das 71 Vgl. Poortvliet 1991, 38f. zu 2,25ff.; Hershkowitz 1998, 216. - Vgl. Shelton 1971, 56f.; Smith 1987, 9f. zu 2,16-33, zu möglichen Funktionen von T y p h o e u s ' Erwähnung; vgl. Langen 1896/97, 131f. zu 2,24 u. 295f. zu 4,236; Smith 1987, 13-15 zu 2 , 2 3 ^ ; Poortvliet 1991, 37f. zu 2,23f., zu den verschiedenen Versionen über Typhoeus' Schicksal und der von Valerius Flaccus zugrunde gelegten Fassung. 72 Mit lasons Skeptizismus in bezug auf den Erfolg der Seefahrt scheint nicht übereinzustimmen, daß er Acastus gegenüber (l,164b-173) davon spricht, daß durch die Argofahrt das Meer eröffnet und für die Verwendung durch die Menschen zugänglich gemacht (1,169b) sowie neue Gegenden und Völker erkundet würden ( l , 1 6 8 - 1 6 9 a . l 7 3 ) . In der gegebenen Situation stellt lason jedoch wegen des beabsichtigten Ziels, ebenso wie Pelias ihm gegenüber (1,40-57), lediglich nach den Wertmaßstäben der Gegenpartei das grundsätzlich mögliche positive Ergebnis des geplanten Unternehmens heraus (vgl. Lüthje 1971, 15; Wacht 1991b, 105 Anm. 10; anders Wetze! 1957, 25; Tschiedel 1998, 297). Denn daß lason in dieser Rede nicht seiner inneren Überzeugung Ausdruck verleiht, ergibt sich daraus, daß er darin den Erwerb des Goldenen Vlieses als Ziel der Fahrt angibt (1,167b), obwohl er weiß, daß Pelias es nicht eigentlich darauf abgesehen hat (vgl. l,64-66a). Indem Valerius Flaccus Jason Acastus gerade mit den genannten Argumenten überreden läßt, zeigen sich wieder einmal seine Auffassung von der Argofahrt als erster Hochseeschiffahrt, die neue Seewege über das offene Meer eröffnet, und die Wichtigkeit, die er dem Aspekt beimißt. 73 Vgl. Venini 1972, l l f . ; Burck 1978, 10-13; Pollini 1984, 54-57, zur Frage der Legitimität der Seefahrt. - Auch wenn die Argonauten mit der Argofahrt gegen den Willen der Meeresgötter verstoßen, richten sie sich trotzdem nicht gegen alle Götter, sondern führen (allerdings in Unwissenheit) im Rahmen des >Weltenplans< (1,531-560) ein von luppiter gewünschtes Unternehmen durch (vgl. Ehlers 1998, 150f. u. 154; etwas anders Lefèvre 1991, bes. 177). Zwar ist das Eindringen der Argonauten in den verbotenen Bereich der Meeresgötter ein Nebenthema und findet durch Neptunus' Nachgeben bald eine Lösung, man kann aber wohl nicht wie Strand (1972, 8 f ) sagen, daß der Aspekt in Valerius Flaccus' Epos keine Rolle spiele. 74 Vgl. Campanini 1996, 52 zu 4,126-127. - Vgl. Brooks 1951, 4 2 ^ 4 , zur Gestalt von Neptunus.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Meer zu erlauben und ihr keine Hindemisse in den Weg zu stellen (l,642b-645a). Neptunus' Nachgeben gegenüber luppiter wird symbolisch an seinem Verhalten beim Faustkampf zwischen seinem Sohn Amycus und dem luppiter-Sohn Pollux (4,252-314) deutlich. Daß der Faustkampf in umfassenderer Bedeutung das Verhältnis zwischen den Göttern regelt, liegt deshalb nahe, weil jeweils, vor allem bei Neptunus und Amycus (vgl. z.B. 4,109b-llla.ll8-121a.l50.256), die enge Beziehung zwischen Vater und Sohn besonders herausgearbeitet und das Ergebnis des Kampfs durch Neptunus' Verhalten aufgrund seiner Stellung zu luppiter beeinflußt wird (vgl. 4,124-130)." Neptunus erkennt nämlich, daß er sich luppiters Willen, der ihn unmittelbar betrifft, fügen muß. Deshalb unterstützt er aufgrund einer realistischen Einschätzung der Situation seinen Sohn bewußt nicht und führt auf diese Weise dessen Niederlage herbei. Damit ermöglicht Neptunus, daß sich luppiter ohne weiteres durchsetzen und vor allem sein konkret mit der Argofahrt verfolgtes Ziel verwirklichen kann. Denn es werden ein Wächter der Meerdurchfahrt besiegt (vgl. 4,220-221.318a)76 und so die hinter Amycus' Land liegenden Gebiete der Hochseeschiffahrt zugänglich. Neptunus gibt allerdings nur mit dem Gedanken nach, daß auf diese Weise die Hochseeschiffahrt einsetzt und der Argo weitere Schiffe folgen, an denen er als Vergeltung für die Fahrt der Argo über das offene Meer seine Macht zerstörerisch ausüben kann (vgl. l,645b-650).''·^ Wie Neptunus sind die Winde erzürnt darüber, daß die Argonauten in ihren Bereich eindringen (1,574-607), vor allem weil sie glauben, daß diese 75 Vgl. Mehmel 1934, 30; Steinkühler 1989, 360; Wacht 1991a, 24f. Anm. 79; Campanini 1996, 36f. zu 4,109b-113 u. 42 zu 4,114-132; Hershkowitz 1998, 84f. Neptunus' Verbindung zum Geschehen ergibt sich wohl weniger durch die zahlreichen Bilder aus dem Bereich der Seefahrt innerhalb der Kampfschilderung, wie Shey (1968, 122) annimmt. 76 Vgl. Mehmel 1934, 30; Wetzel 1957, 18; Adamietz 1976a, 57; Korn 1989, 85 zu 4,99-343, 152 zu 4,220-221, 205 zu 4,315-343; Otte 1992, 85f. - Neptunus' Rede (4,118-130) bezieht sich auf sein Verhältnis zu luppiter und nicht auf das zu den Argonauten, wie Shelton (1971, 184f.) meint. - Die bilanzierende Zusammenfassung des Ergebnisses des Kampfs (4,317-319) macht deutlich, daß es beim Sieg über Amycus hauptsächlich um Öffnung der Meerdurchfahrt und Neptunus' Nachgeben geht. Beseitigung von Gesetzlosigkeit und Vermessenheit ist allenfalls ein Nebenaspekt. Indirekt wird Neptunus besiegt, aber nicht dessen unzivilisierte Herrschaft überwunden (so Korn 1989, 215 zu 4,343b; ähnlich Wacht 1991a, 23f.; Otte 1992, 83-85). Denn weder werden Art und Umfang seiner Herrschaft charakterisiert noch der Szene durch irgendwelche Hinweise eine solche umfassendere und grundsätzliche Bedeutung verliehen. 77 Vgl. Shelton 1974a, 17; Hardie 1993, 86.

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es sich aufgrund der mittlerweile eingeschränkten Machtfülle der Winde anmaßen (l,601-604a). Deshalb versuchen sie, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu rächen, indem sie einen Seesturm erzeugen (1,608-624). Da aber Neptunus, der als oberster Meeresgott umfassendere Gewalt hat als die Winde, die Argofahrt zugestanden hat (vgl. l,642b-645a), beruhigt er den Seesturm und rettet so die Argonauten (1,651-658). Mit dem Unwetter (1,574-692) ist das Problem des Eindringens in den Bereich der Meeres- und Windgötter auf die Spitze getrieben und gleichzeitig gelöst. Denn das Verursachen des Sturms (1,608-624) zeigt deren eigentliche Einstellung (1,598-607), dessen Beruhigung (1,651-658) die letztliche, wenn auch widerwillige Akzeptanz der Argo (l,642b-650). Daß Apollonios Rhodios' Version eine solche Szene nicht e n t h ä l t , m a c h t die wichtige Stellung deuüich, die der Aspekt des erstmaUgen Befahrens der Meere bei Valerius Flaccus im Unterschied zu Apollonios Rhodios hat. Dieser Gesichtspunkt kommt auch dadurch zum Ausdruck, daß die Argonauten nicht mit der Abneigung der Meeres- und Windgötter gegen sie persönlich, sondern mit deren grundsätzlichem Widerstand gegen die Seefahrt als solche zu kämpfen haben.^9 Die Bedeutung des Seesturms wird vor allem durch die Reden der Götter (1,598-607.642b-650) deutlich. Deshalb kann sie nur der Leser in vollem Umfang erkennen, die Argonauten aber nicht. Da der Seesturm ein Ende findet (1,651-658) und nach lasons Gebet an die Meeresgötter (1,667-680) günstige Winde aufkommen (l,686-687a), deren Wirkung durch die Ausmalung der dadurch eingetretenen friedlichen Stimmung (l,687b-692) unterstrichen wird, können die Argonauten zwar vermuten, daß der Konflikt mit den Meeresgöttem beendet ist, es aber nicht mit Sicherheit wissen. Da jedoch mit dem Unwetter und dessen Folgen (1,574-692) die Frage der Haltung der Meeresgötter grundsätzlich geklärt ist, und sich für die Argonauten die Akzeptanz der Argofahrt zumindest annehmen läßt, spielt das Problem im weiteren Verlauf des Epos auch in den Gedanken der Argonauten kaum noch eine Rolle. 78 Vgl. Adamietz 1970, 31; Shreeves 1978, 14; Liberman 1997, XLVII; Gärtner 1998, 205 mit Anm. 17; Hershkowitz 1998, 194f. Vergleichbar bei Apollonios Rhodios ist allenfalls die Erwähnung eines Sturms (AR l,585b-588a), sie ist jedoch nur kurz und dient einem anderen Darstellungsziel. - Vgl. Shelton 1974a, 14-22; Burck 1978, 9-14, zu der Episode bei Valerius Flaccus. Burck (1978, 14) beurteilt das Ergebnis der Szene, das er als entscheidend für das gesamte Epos und als Hinweis auf die Erfüllung von luppiters >Weltenplan< (1,531-560) ansieht, wohl zu positiv. Shelton (1974a, passim) überschätzt deren Symbolgehalt etwas, besonders was das Verhältnis zwischen lason, Aeson und Pelias angeht. 79 Vgl. Shelton 1974a, 16f.; Hershkowitz 1998, 195.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Aus der Betrachtung aller behandelten Aspekte ergibt sich folgendes Bild: Das Hauptthema des Epos ist die Eröffnung von Seewegen durch die erste Fahrt über das offene Meer. In dieser Funktion, in der sie zu weitreichenden Konsequenzen führt, ist die Argofahrt in luppiters umfassende Konzeption der Entwicklung des Weltgeschehens eingeordnet. Diese kennt allerdings nur der Leser, die Menschen des Epos aber nicht. Sie können daher aufgrund ihrer Erfahrungen und Erwartungen die einzelnen Abschnitte von luppiters Plänen, die zum Teil kurzfristig verfolgten Zielen dienen, nicht oder nur eingeschränkt erfassen, jedenfalls nicht in luppiters Gesamtplan einordnen. Die Cyzicus-Episode ist auf der übergeordneten thematischen wie auf der menschlichen Ebene ein wichtiges Element in der Gesamtstruktur des Epos. Denn in dieser Episode werden die unmittelbaren Folgen von luppiters Plänen, die sich durch die Argofahrt ergeben sollen, zum ersten Mal sowohl durch verschiedene Darstellungsmittel für den Leser theoretisch vor Augen geführt als auch für die Menschen konkret erfahrbar. Die Menschen des Epos sind allerdings nicht in der Lage, ihre Erlebnisse auf Cyzicus mit der Bedeutung der Argofahrt in Verbindung zu bringen und diese daraufhin entsprechend einzuschätzen.

п. Götterbild

Der Kampf auf Cyzicus zeigt die von luppiter mit der Argofahrt beabsichtigten Folgen. Er wird aber nicht von diesem selbst ausgelöst, sondern von Cybele aufgrund persönlicher Interessen (3,27-31). Doch greift luppiter am Schluß des Kampfs aktiv ein, indem er die fata verändert und damit die Schlacht beendet (3,249-250). Dieses bemerkenswerte Verhalten der Götter und deren Einstellung zum Geschehen führen zu einem für die betroffenen Menschen furchtbaren Kampf. Auf die Schwierigkeit, bei dieser Form des göttHchen Wirkens Gründe für den Kampf zu finden, weist Valerius Flaccus selber mit seinen bohrenden Fragen im Musenanruf (3,14-18) zu Beginn der Schilderung hin. Deshalb müssen für ein angemesseneres Verständnis der Cyzicus-Episode auch Valerius Flaccus' Darstellung der Götterwelt und der Einfluß der Götter auf die Handlung betrachtet werden. Das betrifft die Gestalt luppiters und der übrigen Götter, luppiters Verhältnis zu den anderen Göttern und den fata, die göttliche Einwirkung auf die Menschen und deren daraus resultierende Lebenssituation sowie den Einsatz von Vorausdeutungen. Dabei soll es mehr deskriptiv um die Art und Weise, in der Valerius Haccus diese Beziehungen präsentiert, als um eine Deutung und Bewertung in HinbUck auf sein Weltbild gehen. Die Untersuchung des Komplexes macht eine umfangreichere und systematische Analyse notwendig, die neben der Cyzicus-Episode auch andere für die Thematik wichtige Stellen einschUeßt. Denn nur vor diesem Hintergrund kann das Verhalten der Götter in der Cyzicus-Episode eingeordnet und aufgrund der spezifischen Ausprägung von Valerius Flaccus' Konzeption der Götter erklärt werden. Zwar wird in nahezu allen Studien zu Valerius Flaccus auch die Rolle der Götter erwähnt, es hegen aber kaum spezielle Untersuchungen vor,i die die für die Cyzicus-Episode zentralen Aspekte durch Textanalyse zusammenhängend behandeln. 1 Vgl. Burck 1979, 234-237, für einen klaren, aber sehr gerafften Überblick über die Götter bei Valerius Flaccus. Vgl. Schönberger 1965, 124-131, zur Rolle der Götter und der Beziehung der Menschen zu ihnen. Die Abhandlung besteht im wesentlichen aus einer Aufzählung verschiedener Merkmale. Außerdem werden die Götter, obwohl auf einige negative Aspekte hingewiesen wird, insgesamt wohl noch zu positiv beurteilt (vgl. dazu Stadler 1993, 2). Vgl. Steinkühler 1989, 2 9 0 ^ 0 7 , bes. 292-325, zur Charakterisierung der Götter und des Verhältnisses zwischen ihnen auf der Basis der Götterreden, mit einer relativ starren Klassifizierung. Die These, daß die

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

1. luppiter Aus luppiters Charakterisierung als pater omnipotens (3,249; vgl. 1,592. 2,117. 5,280) ergibt sich, daß luppiter als oberster und mächtigster Gott mit umfassenden Kompetenzen konzipiert ist.2 Vom Einsatz von luppiters Allmacht {omnipotens, 3,249) ist in der Cyzicus-Episode ausdrücklich nur an der Stelle die Rede, an der er beschließt, nach Cyzicus' Tod durch Veränderung der fata den Kampf zu beenden (3,249-250). Ein solches Vorgehen luppiters ist in mehrfacher Hinsicht charakteristisch für das Bild, das Valerius Flaccus von ihm entwirft: Zum einen bedeutet luppiters Eingreifen, daß er extremes Leid durch den Tod einer großen Zahl unschuldiger Menschen verhindert.^ Zum anderen heißt die Beendigung des Kampfs gerade zu dem Zeitpunkt, daß luppiter eben lediglich gegen Extreme einschreitet und zunächst Cybeles unmäßiges Wirken zuläßt. In anderen Episoden verhält luppiter sich ähnlich: In der LemnosEpisode (2,82-430) läßt luppiter Venus bei ihren maßlosen Racheaktionen (2,101-215) nicht nur gewähren, sondern unterstützt sie sogar, indem er die Wucht ihrer Erscheinung vergrößert (2,199b).4 Durch Beeinflussung des Wetters, so daß die Argonauten zu einem längeren Aufenthalt bei den Lemnierinnen gezwungen werden und mit ihnen Kinder zeugen können Reden in loser Beziehung zur Handlung stünden und es darin hauptsächlich um die Darstellung des theologischen Hintergrunds des Epos gehe (1989, z.B. 351 u. 370), ist in dieser uneingeschränkten Form wohl nicht zutreffend. Vgl. Ferenczi 1996, 3 7 48, zu einigen Elementen von Valerius Flaccus' Götterbild. - Vgl. z.B. Hershkowitz 1998, 220f.; Schenk 1998, 233, mit der Feststellung der Ausweitung der Götterhandlung bei Valerius Flaccus gegenüber Apollonios Rhodios. 2 Vgl. Schönberger 1965, 125; Steinkühler 1989, 312. - Vgl. Brooks 1951, 67-70; bes. Schubert 1984, passim, zur Gestalt luppiters. Schubert bietet eine wertvolle Zusammenstellung und Interpretation zentraler Passagen in einer thematischen Gliederung. Insgesamt kommt er zu einem anderen luppiterbild als dem hier vorgeschlagenen, weil er meist nur die positiven Seiten von luppiters Handeln berücksichtigt, die Folgen seiner Eingriffe in einem großen Rahmen betrachtet, die direkten Auswirkungen von luppiters Verhalten auf die Menschen nicht ausreichend beachtet und einige Passagen ungenau inteφretiert. Deshalb erscheint ihm luppiter als Bild eines idealen und gerechten Herrschers, der für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorge und freiwillig auf die Durchsetzung seiner persönlichen Interessen verzichte (1984, bes. 140 u. 292-299). 3 Vgl. Schönberger 1965, 125 u. 129; Adamietz 1976a, 44, 52, 114; Barich 1982, 130f. 4 Vgl. Wagner 1805, 63 zu 2,196ff.; Schönberger 1965, 128, Adamietz 1976a, 33 u. 34; Poortvliet 1991, 128 zu 2,198f.; anders (aufgrund des luppiterbilds) Lüthje 1971, 67 Anm. 1; Schubert 1984, 175 mit Anm. 13 u. 246.

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(2,356-371), wirkt luppiter später dabei mit, die Folgen von Venus' Vorgehen zu beseitigen, nachdem diese von Vulcanus besänftigt worden ist (2,315.323b-324).5 In der Hylas-Episode (3,481 - 4,81) erlaubt luppiter luno, daß sie aus persönlichem Haß Hercules' Trennung von den Argonauten verursacht (3,487-740). Hinterher wird luppiter insofern zur Abmilderung der Konsequenzen tätig, als er Hercules' Lage erleichtert (4,181), indem er ihm zunächst Schlaf gewährt (4,15-20a) und dann eine neue Aufgabe überträgt (4,78-81)6 luppiter gesteht nicht nur anderen Göttern die Ausführung von Racheaktionen zu, sondern greift auch selbst strafend ein, wenn er sich in seiner Machtposition angegriffen fühlt. So bestraft er Phineus, weil er in seinen Weissagungen den Menschen luppiters Pläne offenbart hat (4,477b-482), und Prometheus, weil er das Feuer vom Himmel gestohlen und Geheimnisse der Götter nicht bewahrt hat {А,6&о-Ы)Р Allerdings beendet luppiter in beiden Fällen, ganz aus eigenem Antrieb (4,483-484.579-584) oder zusätzlich motiviert durch Bitten anderer Götter (4,60-67), die Strafen nach einer gewissen Zeit, um extremes Leid zu verhindern (4,60-79. 487-528). In allen diesen Szenen hat Valerius Flaccus wie in der Cyzicus-Episode das spezifische Verhalten luppiters (und der anderen Götter) erst durch Veränderungen und vor allem Hinzufügungen gegenüber Apollonios Rhodios geschaffen: Bei letzterem kommt in der Lemnos-Episode die Vereinigung von Argonauten und Lemnierinnen hauptsächlich durch die Pläne und das Verhalten der lemnischen Frauen zustande (AR 1,653- 850a) und wird nur nachträglich von Kypris unterstützt (AR l,850b-852), Zeus tritt nicht auf. Der Unterschied zwischen den Fassungen wird dadurch besonders deutlich, daß in beiden die Person Polyxo vorkommt, aber jeweils mit anderen Merkmalen und Funktionen: Bei Apollonios Rhodios ist sie Hypsipyles Amme (AR l,668b-670a), die als Mensch in einer Versammlung eine geschickte Strategie zur Beseitigung der Männerlosigkeit auf Lemnos vorschlägt (AR 1,675-696), bei Valerius Flaccus eine Seherin

5 Vgl. Wagner 1805, 71 zu 2,356ff.; Langen 1896/97, 168 zu 2,356; Smith 1987, 158 zu 2,356; Poortvliet 1991, 201 zu 2,356; Hershkowitz 1998, 140, mit der Identifizierung des deus (2,356) als luppiter; vgl. auch Happle 1957, 56. 6 Vgl. Brooks 1951, 69; Schönberger 1965, 129; Adamietz 1976a, 44 u. 114; Kom 1989, 17 zu 4,1-81. 7 Vgl. Kleywegt 1986a, 2453 mit Anm. 11; Kom 1989, 62f. zu 4,66b-67, zu der von Valerius Flaccus verwendeten Version des Prometheus-Mythos.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

(2,316-321), die den göttlichen Plan mit dem gleichen Ziel verkündet (2,322-325).8 In der Hylas-Episode gibt es bei Apollonios Rhodios keine Notwendigkeit für Zeus, die Folgen von Heras Aktionen zu beheben, da Ну las' Entfernung (AR 1,1221-1239) und die Abfahrt der Argonauten (AR 1,12731277) nicht durch Heras Machenschaften aufgrund persönlicher Emotionen bedingt sind.^ Im Gegenteil wird die Nymphe von selbst von Liebe ergriffen, wobei der Impuls nur durch Kypris die entscheidende Stärke erhält (AR 1,1228-1239.1324-1325a). Die Argonauten segeln aufgrund eigener Entscheidung ab (AR 1,1273-1277), bevor sie Herakles' Fehlen bemerken (AR 1,1283). Bei Phineus wird erwähnt, daß Zeus ihn wegen seiner Verkündung von Weissagungen bestraft (AR 2,179-182), das Motiv jedoch nicht weiter entwickelt. In Prometheus' Fall beschreibt Apollonios Rhodios lediglich die Art seiner Strafe (AR 2,1247-1259), aber keine Voraussetzungen und weitere Folgen seines Schicksals. Valerius Flaccus' auffällige Veränderungen gegenüber Apollonios Rhodios gehen in allen Episoden in die gleiche Richtung und erweisen dadurch die jeweils ähnliche Vorgehensweise als zentrales Charakteristikum seines luppiter. Durch häufigere Eingriffe in entscheidenden Situationen wird luppiters Position gestärkt, dabei aber gleichzeitig deutlich gemacht, daß luppiter sich mit seinen Aktionen auf solche Fälle beschränkt. Eine solche Beeinflussung des Geschehens durch luppiter ist die Konsequenz der spezifischen Konzeption von luppiters Macht und der Art ihrer Ausübung bei Valerius Flaccus. Daß luppiter umfassende Gewalt hat sowie sich seiner Machtstellung bewußt und praktisch bemüht ist, sie zu festigen und aufrechtzuerhalten, ergibt sich aus kurzen, in andere Zusammenhänge eingeschobenen und von Valerius Flaccus neu geschaffenen Berichten über konkrete Aktionen des Gottes: ю So droht luppiter den anderen G ö t 8 Vgl. Langen 1896/97, 164 zu 2,316; Bahrenfuß 1951, 131 u. 262; Smith 1987, 143f. zu 2,316. - Aufschlußreich für die Eigenheiten von Valerius Flaccus' Gestaltung der Lemnos-Episode und die von ihm gesetzten Schwerpunkte ist generell der Vergleich mit Statius' Version (Theb. 5,49-498; vgl. z.B. Burck 1971, 7 5 - 7 8 ; Shelton 1971, 90-94; Burck 1978, 32-38; La Penna 1981, 248-250; Smith 1987, 45f. zu 2,82-^30; Poortvliet 1991, 68f. zu 2 , 7 2 ^ 2 7 ; bes. Bahrenfuß 1951, 1 5 7 - 2 4 9 passim; Krumbholz 1955, 125-139). - Vgl. Bahrenfuß 1951, passim, zur LemnosEpisode. 9 Vgl. Langen 1896/97, 253 zu 3,487; Brooks 1951, 49 mit Anm. 34; Koch 1955, 130; Shey 1968, 93; Lüthje 1971, 125; Adamietz 1976a, 47, 49, 52; Korn 1989, 17 zu 4,1-81; Gärtner 1994, 110. 10 In Apollonios Rhodios' Epos gibt es keine Ansätze dazu, Zeus als mächtigsten Gott hervorzuheben. - Bei Valerius Flaccus versuchen wohl auch die Götter ins-

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tern und geht tätlich gegen sie vor, als seine Herrschaft nach der Machtübernahme noch nicht etabliert ist (2,82-89a).ii Aus der Beschreibung der Bilder auf der Argo (1,130-148) ergibt sich, daß luppiter auf eine Heirat mit Thetis verzichtet und sie stattdessen einem Sterblichen überlassen hat, damit Thetis' Sohn ihn nicht an Macht übertreffe (1,130-133).12 Femer hat luppiter den Winden einen König gegeben, um deren Gewalt einzuschränken (l,586b-596). Denn aus der Beschreibung seines Vorgehens und vor allem aus der Tatsache, daß die Winde zur Beruhigung freigelassen werden, wenn Aeolus ihrer Stärke nicht mehr Herr werden kann (l,594b-596), läßt sich erkennen, daß luppiter die Winde nicht gebändigt hat, um Ruhe in der Welt zu schaffen, sondern um durch Einschränkung der Untergebenen seine Position zu sichern, und vielleicht auch um die ersten Voraussetzungen für die von ihm gewünschte, aber von den Winden abgelehnte Seefahrt zu schaffen (vgl. l,598-604a).i3 luppiters Machtfülle und die Art, wie er sie einsetzt, zeigen theoretisch die Götterszenen (1,498-573. 4,1-81. 5,618-695), besonders luppiters eigene Reden in ihnen (1,531-560. 4,4-14. 5,673-689), für die sich bei Apollonios Rhodios keine Vorbilder f i n d e n . S c h o n aus luppiters ersten gesamt, ihre Machtstellung gegenüber Gefährdungen durch Angriffe möglicher Rivalen zu sichern, wie die Erwähnung ihres Kampfs gegen die Giganten zeigt (2,16b-33; vgl. auch 1,564). 11 Vjgl. Schönberger 1965, 126f.; Steinkühler 1989, 319f. - Lüthje (1971, 64f.) versteht die Erzählung so, daß die anderen Götter sich gegen luppiters neue, gerechte Weltordnung (anders Poortvliet 1991, 77 zu 2,82ff.) auflehnten, luppiter aber die notwendige Härte nicht maßlos ausübe. Daß luppiter gegen die anderen Götter vorgeht, weil sie regni ... novitate tumentes sind (2,83), kann zwar darauf bezogen werden, daß diese mit der Art von luppiters neuer Herrschaft unzufrieden sind. In Zusammenhang mit anderen Stellen, an denen luppiter die Unumstößlichkeit seiner Macht betont und diese von den anderen Göttern anerkannt wird, und der Tatsache, daß sich luppiters Herrschaft nicht durch besondere Gerechtigkeit in jeder Hinsicht auszeichnet, liegt es jedoch näher, den Unwillen der anderen Götter allein durch luppiters unumschränkte Machtausübung, mit der sie sich noch nicht abgefunden haben, zu erklären. 12 Vgl. Otte 1992, 51f., mit weitgehender symbolischer Deutung. - Vgl. Wagner 1805, 17 zu 1,130-148; Langen 1896/97, 38 zu 1,132, zu der Version von Thetis' Hochzeit, die Valerius Flaccus zugrunde legt (vgl. auch Catull 64,21.26b-27). 13 Die spezifische Motivation von Valerius Flaccus' luppiter für die Bändigung der Winde wird besonders deutlich im Vergleich mit der Beschreibung desselben Vorgangs in Vergils Aeneis (Aen. 1,51-63). Dort heißt es nämlich, daß luppiter den Winden einen König gegeben habe, der in der Lage sei, diese durch seine Macht zu beherrschen und im Zaum zu halten, damit Ruhe und Ordnung in der Welt entstehe (bes. Aen. 1,58-63). Dem vergilischen luppiter geht es also nicht nur um Festigung der Macht, sondern auch um die fürsorgliche Schaffung von Sicherheit und Beständigkeit in der Welt (vgl. Mehmel 1934, 94; Burck 1978, lOf.; Steinkühler 1989, 312-315). - S. o. Kap. В I (S. 174f.) zur Einstellung der Winde zur Seefahrt. 14 Vgl. z.B. Adamietz 1976a, 53; Hershkowitz 1998, 221.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

direkten Äußerungen im gesamten Epos in der Einleitung (1,531-536) des >Weltenplans< (1,531-560) geht hervor, daß er die umfassende Macht hatte und hat, das ganze Weltgeschehen durch eigene Entscheidung zu ordnen. Und was luppiter aufgrund seiner Machtvollkommenheit festgelegt hat, steht unumstößlich fest (vgl. l,531b-533a.548b-549a. 4,11-12. 5,680). Nur nach ausdrücklicher Herausforderung durch Klagen anderer Götter (Sol, 1,503-527; Mars, 5,618-648) teilt luppiter seine längst gefaßten Beschlüsse überhaupt mit, ohne sich jedoch irgendwie beeinflussen zu lassen. Der von luppiter seit langem in großen Zügen festgelegte Geschehensablauf ist unveränderlich und kann nicht von anderen Göttern ignoriert oder beeinflußt werden (vgl. 4,11-12. 5 , 6 7 7 - 6 7 9 ) . i 5 Indem Valerius Flaccus luppiter die Äußerungen über den Umfang seiner Macht und die Unverrückbarkeit seiner Entscheidungen als Reaktion auf Reden oder Handlungen anderer Götter diesen gegenüber in autoritärer Weise verkünden läßt, werden dessen herausgehobene Stellung und Möglichkeit zu absoluter Machtausübung besonders deutlich. Aus der Einleitung (1,531-536) des >Weltenplans< (1,531-560) geht ferner hervor, daß luppiter ursprünglich bei der Festlegung des Geschehensablaufs gerecht und unparteiisch vorgegangen ist. Denn da es auf der Erde noch keine Göttersöhne gab, konnte er ohne Berücksichtigung persönlicher Beziehungen handeln (l,533b-535). Die Tatsache, daß luppiter die damalige Situation auf diese Weise von der gegenwärtigen absetzt, und die Beschreibung seines Verhaltens bei den im Epos konkret dargestellten Aktionen weisen auf einen Wandel in der Anwendung seiner Macht hin.i^ luppiters Trauer über den Tod seines Sohns Colaxes im Kampf in Colchis (6,621-630) zeigt, daß auch er jetzt persönlichen Empfindungen wegen der Göttersöhne auf der Erde unterworfen ist. Gleichzeitig veranschaulicht luppiters Verhalten in dieser Situation seine Art der Machtausübung: luppiter weiß zwar, daß es ihm aufgrund seiner Machtfülle möglich ist, den Tod seines Sohns zu verhindern (6,624—625). Aufgrund eines rationalen Kalküls verzichtet er zimi Schaden von Colaxes jedoch bewußt auf Einflußnahme (6,628a.652b-653a), da er Unmut unter den anderen Göttern wegen Ungleichbehandlung der verschiedenen Göttersöhne vermeiden will (6,626-629a).i7

15 Vgl. Billerbeck 1986, 3129f.; Ehlers 1998, 153; anders Wagner 1939, 134. 16 Lüthje (1971, 144 u.ö.), Eigler (1988, 72 u. 75) und Campanini (1996, 41f. zu 4,114-132) gehen davon aus, daß luppiter auch zur Zeit der Eposhandlung gerecht und neutral herrsche. 17 Obwohl luppiter betrübt darüber ist, daß Colaxes sterben wird (vgl. Adamietz 1976a, 56 u. 89), verzichtet er absichtlich darauf, ihn vor dem Tod zu bewahren. Die

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Zur Zeit der Eposhandlung nutzt luppiter seine Macht offenbar nicht dazu, die Ereignisse in einer Weise zu bestimmen, daß ein möglichst erfreulicher Zustand für die Welt und die Menschen entsteht, indem er etwa für die Menschen schädliche Aktionen anderer Götter verhindert oder frühzeitig beendet. Zum Beispiel unternimmt er bei lunos Intrige gegen Medea, die er voraussieht, keinen Versuch, sie abzuwenden, sondern ermuntert luno sogar ausdrücklich zu ihrem Vorgehen, wobei er gleichzeitig sachlich die Folgen für die Menschen feststellt (4,13-14). luppiters Einstellung zum Wirken anderer Götter kommt grundsätzlich in seiner Rede (5,673-689) vor der Schlacht in Colchis (6,1-760) zum Ausdruck. Darin verkündet luppiter den in groben Zügen festgelegten Ablauf des Kampfs sowie die daraus resultierenden langfristigen Folgen (5,680-688) und warnt die anderen Götter davor, die damit gegebenen Grenzen zu überschreiten (5,677-679). Gleichzeitig fordert er sie ausdrücklich auf, in den Kampf zu ziehen und nach Belieben vorzugehen (5,675-676.689), also auch Aktivitäten zu unternehmen, die nicht direkt mit seinen Plänen zusammenhängen.Um die Einzelheiten des Kampfs kümmert sich luppiter so wenig, daß er sich unmittelbar nach seiner Rede einem festlichen und fröhlichen Bankett zuwendet (5,690-695). Sein per-

Entscheidung trifft er nicht, weil er unparteiisch und gerecht ist (so Lüthje 1971, 270f.; Adamietz 1976a, 56; Schubert 1984, 156 u. 245; Campanini 1996, 53 zu 4,126-127), sondern in der Absicht, sich Unannehmlichkeiten zu ersparen (vgl. auch Fucecchi 1997, 201f. zu 6,621-30). Denn wie die Richtung der Formulierung cunctisque negato quae mihi (6,628-629) zeigt, will luppiter sich nicht mit den anderen Göttern gleichstellen, sondern einen Verzicht, wie er ihn freiwillig zur Erhaltung der Ruhe auf sich nimmt, auch den anderen Göttern zumuten. Otte (1992, 134) versteht luppiters Zurückhaltung zu einseitig als bewußten Verzicht auf die Erfüllung von familiären Veφflichtungen und damit als Beitrag zur Einführung einer neuen Ordnung. - Wenn Götter gelegentlich auf einen Eingriff in das Geschehen verzichten (vgl. luppiter, 6,624-629a) oder ihn auf einen späteren Zeitpunkt verschieben (vgl. luno, 1,113-119. 3,487-488; Cybele, 3,27-29), kann man daraus nicht wie Steinkühler (1989, bes. 368f.) schließen, daß Valerius Flaccus ein Bild von passiven Göttern entwerfen wolle. Denn gleichzeitig macht das Verhalten der Götter an anderen Stellen deutlich, daß sie aktiv den Ereignisablauf und die Handlungen der Menschen beeinflussen. Die Charakterisierung verschiedener Handlungsweisen der Götter je nachdem, ob diese übergeordnete oder persönliche Ziele verfolgen, als >modern< bzw. >alt< (so Steinkühler 1989, 303-305) ist Valerius Flaccus' Darstellung wohl nicht angemessen. 18 Vgl. Shey 1968, 156; anders Lüthje 1971, 234-236. - Da luppiter den anderen Göttern einen relativ großen Handlungsspielraum nur innerhalb eines gewissen Rahmens läßt und auf höherer Ebene den umfassenden Ablauf der Ereignisse in groben Zügen unveränderlich bestimmt hat, kann man wohl nicht wie Mehmel (1934, 94) uneingeschränkt sagen, daß bei Valerius Flaccus jegliche Festlegung des Geschehens durch einen übergeordneten luppiter als bindendes Element fehle.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

sönliches Wohlergehen ist ihm offensichtlich wichtiger als Fürsorge für die Menschen und ständiges Bemühen um eine für sie heilsame Ordnung. luppiter beharrt also auf Einhaltung der umrißhaften Ereignisfolge, die er in seiner Machtvollkommenheit festgesetzt hat, schenkt den Geschehnissen im einzelnen und den Konsequenzen für die Menschen aber keine Beachtung. Daher gewährt er den anderen Göttern innerhalb des vorgegebenen Rahmens einen relativ großen Spielraum und läßt ihnen weitgehende Freiheit bei der Durchsetzung ihrer persönlichen Interessen. So können auch Situationen entstehen, die für die Menschen verhängnisvoll sind, ohne für die von luppiter vorgesehene Entwicklung notwendig zu sein. Denn luppiter greift nur ein, wenn die anderen Götter den zugestandenen Bereich verlassen oder ihre Aktionen extreme Situationen hervorzurufen und damit den weiträumigen Geschehensablauf zu gefährden d r o h e n . E i n e solche Vorgehensweise wird in der Cyzicus-Episode exemplifiziert.

2. Andere Götter Die Beziehungen zwischen luppiters und Cybeles Wirken in der CyzicusEpisode werfen ebenfalls die Frage nach der Konzeption der anderen Götter, den Beweggründen für ihr Handeln und ihrem Verhältnis zu luppiter auf. Daraus, daß der Kampf auf Cyzicus von Cybele ausgelöst (3,19-31) und von luppiter ohne Konsultation von Cybele bzw. Widerstand ihrerseits beendet wird (3,249-250), ergibt sich in Zusammenhang

19 Trotz einer anderen Auffassung von der luppitergestalt und der Betrachtung von luppiters Handeln in Hinblick auf sein Verhältnis zu den Furien ergibt sich für Thuile (1980, 1 1 6 f ) dasselbe Bild von luppiters Vorgehensweise und dem jeweiligen Zeitpunkt seines Eingreifens. - Bei einem solchen Verhalten luppiters kann man ihn wohl nicht in positivem Sinne als unparteiischen Herrscher bezeichnen, der eine neue, bessere Ordnung einführe (so Adamietz 1976a, 25, 31, 56f., 81 u.ö.), annehmen, daß luppiter im >Weltenplan< (1,531-560) eine gerechte Weltordnung mit einem übergreifenden Sinn verkünde und sich durch dieses gerechte Verhalten von den anderen Göttern unterscheide (so Lüthje 1971, 36-39, 64f. u.ö.), oder uneingeschränkt sagen, daß luppiter >besser< als die anderen Götter sei (so Steinkühler 1989, 400). Sheys (1968, 31, 46f., 49f., 52, 7 9 f , 155, 156) gegensätzliche These, daß aufgrund der Art von luppiters Eingreifen in das Geschehen Widersprüche, Perversität, Verwirrung, Chaos, Zwietracht, Täuschung und Übel die grundlegenden Charakteristika sowohl der Welt der Götter als auch der der Menschen seien, beruht auf einem richtigen Ansatz, geht aber in dieser Absolutheit wohl etwas zu weit.

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mit den Aussagen in den Götterszenen, daß luppiter umfassende Macht hat und die anderen Götter in der Hierarchie unter ihm angesiedelt sind.^o Die anderen Götter sind sich des Machtunterschieds bewußt und handeln entsprechend: Neptunus verzichtet darauf, seinen Sohn Amycus im Faustkampf gegen den luppiter-Sohn Pollux zu unterstützen, da er luppiters größere Macht anerkennt (4,118-130). In der Schlacht in Colchis entfernt Pallas, die eigentìich auf Aeetes' Seite steht, Perses aus dem Kampfgetünmiel (6,745-751), weil sie befürchtet, daß Perses' Tod gegen luppiters ausdrücklichen Willen ihr zum Vorwurf gemacht und sie deshalb bestraft werden könnte (6,741-744).21 Selbst die fürchterlichen Haφyien fügen sich als luppiters Dienerinnen (vgl. 4,520a) dessen Befehlen (4,522523). In der lo-Geschichte (4,344-422) gelingt es luno zunächst scheinbar, mit einer List ihre Interessen gegenüber luppiter durchzusetzen (4,360366a), schließlich unterliegt sie ihm aber bei ihren beiden Versuchen (4,384-392a.414-416a). Die Absicht, den Aspekt durch Doppelung ganz deutlich zu machen, dürfte ein Grund dafür sein, daß Io nur in Valerius Flaccus' Version zweimal in eine Kuh verwandelt wird (4,357.394b395).22 Lediglich in einer wütenden Rede, in der sie ihre Gefühle zum

20 Vgl. Steinkühler 1989, 312 u. 319. - Nur für wenige Götter mit besonderer Funktion und Stellung scheint es in Ausnahmefällen möglich zu sein, eigene abgegrenzte Machtbereiche zu haben, in die andere Götter und auch luppiter nicht o h n e weiteres eindringen (vgl. 2,434-436; vgl. Smith 1987, 187 zu 2,434; Poortvliet 1991, 235 zu 2,434ff.). - S. o. Kap. В II 1 (S. 181ff.) zu den Götterszenen. 21 Vgl. Fucecchi 1997, 254 zu 6,725-51; Schenk 1998, 247f. - Die Wiedergabe von Pallas' Überlegungen zeigt, daß Valerius Flaccus Perses nicht nur (anstelle eines natürlichen Entkommens) durch Pallas retten läßt, damit diese noch einmal in den Vordergrund tritt, wie Adamietz (1976a, 91) und Eigler (1988, 75 u. 78) meinen, sondern auch, um das Verhältnis der Götter untereinander zu charakterisieren (vgl. auch Lüthje 1971, 277). 22 Vgl. Langen 1896/97, 310 zu 4,395; Shelton 1971, 216; Adamietz 1976a, 4 1 ; Aricó 1998, 285 u. 288f.; Hershkowitz 1998, 70. Vgl. Shreeves 1978, 1 0 6 - 1 1 0 ; Hershkowitz 1998, 6 8 - 7 2 ; bes. v. Albrecht 1977, 139-148; Aricó 1998, 2 8 5 - 2 9 2 , zur lo-Geschichte; Adamietz 1976a, 4 0 - 4 2 , zu Gemeinsamkeiten zwischen Io u n d Helle. - Wagner (1805, 132 zu 4,348ff.) und Langen (1896/97, 306 zu 4,344) sehen die lo-Geschichte als unmotivierten Einschub ohne Beziehung zum eigentlichen Geschehen an (vgl. dazu Shelton 1971, 215-218). Die Erzählung der lo-Geschichte im Unterschied zu Apollonios Rhodios und an dieser Stelle ist aber durch die Fahrt der Argonauten durch den Bosporos und die Rolle von Io als namensgebende Meeresgöttin sowie die auf diese Weise zwanglos geschaffene Gelegenheit, eine (den Argonauten gewogene) Meeresgöttin um günstige Fahrt anzurufen (4,420b-421), formal eingebunden. Inhaltlich ist der Grund dafür, daß ausgerechnet diese Begebenheit in dieser Form erzählt wird, wohl eine Parallelität zwischen los Schicksal und dem d e r Argonauten (vgl. auch 5,194) und vielleicht auch dem von Medea (vgl. Shey 1968, 123-125; Bames 1981, 363f.; Hershkowitz 1998, 199f.; bes. Aricó 1998, 2 8 6 - 2 9 0 ) .

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Ausdruck bringt (1,113-119), kann Juno als eine Art Gedankenexperiment erwägen, gegen luppiters Willen zu handeln (1,116b). Für Pallas ist es offenbar ausnahmsweise möglich, Funktionen luppiters zu übernehmen und damit an dessen Machtbereich heranzukommen (vgl. 1,372b. 4,670671a). Zusätzlich zu der entscheidenden Machtdifferenz zwischen luppiter und den anderen Göttern gibt es wohl unter diesen graduelle Abstufungen, die durch ihre jeweiüge Stellung zu luppiter und ihre Einflußbereiche bedingt sind. So scheint luno etwas mächtiger als Pallas zu s e i n . 2 3 Denn obwohl beide Göttinnen zusammen die Argonauten unterstützen, fassen sie vor Beginn der Schlacht in Colchis den Beschluß, auf welcher Seite sie kämpfen sollen, nicht gemeinsam, sondern Pallas fragt luno nach ihrer Entscheidung (5,282b-285)24 und schließt sich luno dann an, da ihre Kräfte zusammenwirken müßten (5,292). Gleichzeitig erbittet Pallas von luno die Garantie, daß ihre persönlichen Wünsche realisiert werden (5,293b-295), weil sie sich offenbar nicht mächtig genug fühlt, sie gegen lunos Willen

Außerdem sollten möglicherweise zwischen den Episoden, die luppiters Verhalten gegenüber Neptunus und Amycus (vgl. 4,118-130) sowie gegenüber Phineus (vgl. 4,477b-484) zeigen, luppiter, luno und ihr Verhältnis zueinander unabhängig von der Handlung charakterisiert werden. - Lüthje (1971, 154-159) berücksichtigt bei seiner positiven Deutung von luppiters Aktionen in der lo-Geschichte nicht, daß erst luppiters objektiv gesehen unmoralische Liebe zu Io den gesamten Ereignisablauf in Gang setzt (4,351b-353). 23 Vgl. Koch 1955, 132f.; Schubert 1991, 126f. u. 134; Schenk 1998, 242 mit Anm. 20. Vgl. Schenk 1998, 234 u. 240-247, zum Verhältnis zwischen luno und Pallas. - Vgl. Brooks 1951, 74-81; Poortvliet 1991, 26f. zu 2,2f.; Schubert 1991, 121-137; Hershkowitz 1998, 159-172, zur Figur lunos. Brooks sieht zwei Aspekte der lunogestalt, luno als segenspendende, hilfreiche Göttin und als trickreiche, betrügerische Göttin, wobei er den ersten Gesichtspunkt für dominant zu halten scheint. Bei einer solchen Beurteilung lunos sind ihre Motivationen und Ziele wohl nicht ausreichend berücksichtigt. Schubert kommt, da er seine Analyse hauptsächlich auf dem Vergleich mit dem lunobild anderer Epen und Beziehungen zur römischen Kultpraxis aufbaut, zu einer relativ positiven Auffassung von luno und weist ihr eine wichtige Rolle innerhalb des Epos zu. Die Vermutung, daß in Entsprechung zu römischen Vorstellungen das Streben nach einer bestimmten luno-Darstellung bestimmender Faktor bei der Wahl des Stoffs für das Epos gewesen sein könnte, scheint etwas weitgehend. Hershkowitz betont zu sehr den Einfluß des Modells der vergilischen luno. In der Wendung socia lunone (1,73) gibt der Zusatz socia, dem Schubert (1991, 125), Hershkowitz (1998, 165 mit Anm. 234) und Schenk (1998, 234f.) als programmatisch für Valerius Flaccus' lunobild große Bedeutung beimessen, wohl keine generelle Eigenschaft lunos an, sondern charakterisiert speziell lasons Verhältnis zu ihr. - Vgl. Brooks 1951, 70-73; Schenk 1998, 233-248, zur Gestalt von Pallas. 24 Die Form von Pallas' Frage (vgl. bes. non viribus aequis, 5,284) verrät zwar vielleicht, welche Entscheidung sie erhofft, lunos Antwort (vgl. bes. dimitte metus, 5,286) deutet jedoch darauf hin, daß luno die Macht hat, gegen Pallas' Wünsche zu handeln.

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durchzusetzen. Dieses Verhältnis der beiden Göttinnen ist wahrscheinlich der Grund, warum Pallas an anderer Stelle lunos Befehl (3,492b-505) gehorcht, obwohl sie erkennt, daß es sich um einen listigen Vorwand handelt (3,506-508). Und es erklärt vielleicht auch, warum Pallas als Jungfrau unwillig ist gegenüber der Hochzeit von lason und Medea (8,22425), die als Folge von lunos Machenschaften zustande kommt, aber nichts dagegen unteminmit. Machtunterschiede zwischen den Göttern je nach dem Bereich, für den sie zuständig sind, werden daran deutlich, daß es luno allein nicht gelingt, Medea in Liebe zu versetzen, sondern dazu die Liebesgöttin Venus notwendig ist (7,153-156a.l76-177a). Entsprechend muß wohl auch in der Cyzicus-Episode, obwohl der Kampf von Cybele gewünscht wird (vgl. 3,19-31), zunächst Pan als Gott des Schreckens im Krieg tätig werden, um die Menschen in Aufregung und Verwirrung zu versetzen (3,46b-48a), und dann zur unmittelbaren Auslösung der Schlacht die dafür zuständige Kriegsgöttin Bellona eingreifen (3,60b-64). Ebenso wie luppiter geben die anderen Götter meist keinen Einblick in ihre Pläne: Nachdem luno die Aufgabe, in Medea Liebe zu erregen, an Venus abgegeben hat, weiß sie nicht, ob deren Aktionen erfolgreich sein werden, und kann nur ängstlich das Ergebnis abwarten (7,190b-192).26 Da luppiter mit seiner größeren Macht nicht immer aktiv ist und sich auf Festsetzung des Geschehens in groben Zügen beschränkt, entsteht für die anderen Götter Spielraum für eigene Aktionen. Cybeles Vorgehen gegenüber Cyzicus und ihre Beweggründe dafür (vgl. 3,19-31) legen nahe, daß die anderen Götter keine weiterreichenden Ziele verfolgen, sondern sich allein von ihren persönlichen Interessen und Emotionen lenken lassen.27 Diese sind für sie so bestimmend, daß sie in maßloser Weise ohne Rücksicht auf Einzelheiten der Situation sowie mögüche Konsequenzen für sich selbst und die Betroffenen tätig werden.

25 Vgl. Wagner 1805, 271 zu 8,224-242; Langen 1896/97, 535 zu 8,224; Shelton 1971, 507f., zur Deutung des Verses und den Implikationen von invitae (8,224). 26 Vgl. Perutelli 1997, 262 zu 7,189ff.; Hershkowitz 1998, 171, mit der Feststellung der Ungewöhnlichkeit dieser Situation. 27 Vgl. Steinkühler 1989, 301; Taliercio 1992, 35; Ferenczi 1995, 152f.; Ferenczi 1996, 44. - Bei einer solchen Charakterisierung der Götter kann es in Valerius Flaccus' Epos keine unbeschwerten Götterszenen geben wie etwa Apollonios Rhodios' Beschreibung (AR 3,114-127a) des spielenden Eros (vgl. Langen 1896/97, 446 zu 6,455; Wetzel 1957, 28f. mit Anm. 3; Burck 1979, 236).

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Daß eine derartige Charakterisierung der Götter in Valerius Flaccus' Darstellungsabsicht liegt, wird durch die Schilderung von Motivation und Verhalten anderer Götter in weiteren Szenen bestätigt. In der Lemnos-Episode (2,82^30) will sich Venus ähnlich wie Cybele an Menschen rächen. Denn sie fühlt sich dadurch verletzt, daß auf Lemnos ihr Kult in Gegensatz zu dem von Vulcanus vernachlässigt wird (2,98b-99a). Die Beschreibung von Venus' persönlichen Gefühlen und Absichten sowie ihrer betrügerischen Vorgehensweise hat Valerius Flaccus aus den knappen und sachlichen Informationen über die Vernachlässigung von Kypris' Kult und deren dadurch ausgelösten Zorn bei Apollonios Rhodios (AR l,614b-615) erst entwickelt.28 Die Lemnier haben den Unwillen der Göttin nicht so unwissentlich erregt wie Cyzicus, da sie sich bewußt gegen Verehrung von Venus entschieden haben (vgl. 2,98b-99a). Jedoch liegt auch bei den Lemniem nicht die Absicht zugrunde, die Göttin zu kränken, sondern sie reagieren lediglich auf Venus' Treulosigkeit gegenüber Vulcanus (2,99b-100), zu dem sie in besonderer Beziehung stehen (2,90b-98a). Trotzdem straft Venus die Lemnier in extremem Maße (vgl. 2,101-102a). Um dieses Verhalten, das sich von Venus' sonstiger Wirkungsweise unterscheidet, zu illustrieren und den Einfluß der Emotionen auf die ganze Person zu verdeutUchen, stellt Valerius Flaccus Venus' äußeres Erscheinungsbild in der Situation dem in anderen gegenüber (2,102b-106): Venus erscheint einerseits als alma (2,102b- 103a), kann andererseits aber einem wilden Rachegeist ähneln (2,103b- 106).2^ Daran wird in exemplarischer Weise deutlich, daß die persönlichen Emotionen von Göttern deren Erscheinung und damit ihre Wirkung auf die Menschen in Entsprechung zum jeweils erstrebten Ziel vollkommen verändern können.

28 Vgl. Brooks 1951, 83 mit Anm. 88; Happle 1957, 5 - 7 u. lOf. mit Anm. 3; Garson 1964, 274; Burck 1971, 76 u. 84f.; Lüthje 1971, 65f. u. 71; Shelton 1971, 64 u. 83; Adamietz 1976a, 32f.; Poortviiet 1991, 66-68 zu 2 , 7 2 ^ 2 7 ; Otte 1992, 65f.; Gärtner 1994, 88 u. 249; anders Feeney 1991, 59, der von einer ausführlichen Beschreibung der göttlichen Motivation auch bei Apollonios Rhodios ausgeht. - Durch die ungenaue Formulierung ohne Angabe eines Objekts bei Apollonios Rhodios (AR l,614b-615), ist nicht eindeutig, wen Kypris' Zorn in seiner Version trifft. Wegen des Zusammenhangs der unmittelbar vorausgehenden Sätze (AR l,611-614a) liegt es näher, daß der Zorn sich auf die Männer richtet und den Auslöser für deren tatsächliche Untreue bildet (so Adamietz 1976a, 32f.; Poortviiet 1991, 67 zu 2J2-427), als daß er auf die Frauen wirkt und diese zum Männermord antreibt (so Lüthje 1971, 69f.; vgl. auch Bahrenfuß 1951, 5f.). 29 Vgl. Thuile 1980, 90f.; Otte 1992, 68. - Vgl. Brooks 1951, 81-87; Hershkowitz 1998, 177-182, zur Gestalt der Venus, bes. zu den beiden Aspekten ihres Charakters.

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Daß Valerius Flaccus die anschauliche Präsentation eines persönlich motivierten göttlichen Handelns wichtig ist, zeigt sich daran, daß er die im Mythos enthaltene Schwierigkeit, daß luno sowohl die Argonauten insgesamt unterstützen als auch wegen persönlicher Eifersucht ihrem traditionellen Erzfeind Hercules, der zur Gruppe der Argonauten gehört, schaden will (l,lllb-119), nicht wie Apollonios Rhodios unberücksichtigt läßt, sondern im Gegenteil ausdrücklich thematisiert und in spezifischer Weise ausgestaltet.30 Valerius Flaccus stellt luno in einer Situation dar, in der sie aufgrund ihrer beiden Interessen gleichzeitig zwei einander entgegengesetzte Absichten verfolgt. Deshalb versucht luno ohne Berücksichtigung irgendwelcher übergeordneter Ziele, einen Weg zu finden, auf dem sie den Argonauten helfen und Hercules schädigen kann. Das gelingt ihr schUeßlich, indem sie Hercules von den Argonauten trennt (3,487-740; vgl. 4,27). Dabei läßt luno sich so von ihrem individuellen Haß bestimmen, daß sie nicht mehr an das Unternehmen der Argonauten als ganzes denkt und ihm einen wichtigen Helfer entzieht. Das geht aus luppiters bilanzierender Zusammenfassung ihres Vorgehens (vgl. 4,5-8)31 und aus der Reaktion der Argonauten auf Hercules' Verlust (vgl. 3,600b-610. 4,247b-248) hervor, wenn diesen natürlich auch die Hintergründe unbekannt sind. Die Einbuße für die Argonauten wird luno dadurch beheben, daß sie ihnen in Colchis mit anderen Methoden hilft (vgl. 4,13-14). Wie nämlich schon ihre Überlegungen bei ihren Aktionen gegen Hercules zeigen ( 3 , 5 1 9 - 5 2 0 3 2 ) , scheut sie sich generell nicht, ihre jeweiligen Interessen mit allen möglichen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen, da langfristige Folgen oder morahsche Werte für sie keine Rolle spielen. Bei anderen Gelegenheiten handelt luno ebenfalls nicht konsequent zum unmittelbaren Wohl der von ihr grundsätzlich unterstützten Argonauten. Denn in Widerspruch dazu beschließt sie, daß sie (und so auch die Argonauten) in Colchis auf Aeetes' Seite in den Kampf eintreten (5,288b289a), obwohl ihr Aeetes' Wortbrüchigkeit und damit die Unmöglichkeit, das Goldene Vlies auf diese Weise zu erlangen, bekannt sind (5,289b290). luno wird bei ihrer Entscheidung aber nicht von der rationalen Überlegung geleitet, welche Vorgehensweise für die Argonauten am günstig-

30 Vgl. Langen 1896/97, 35 zu 1,112; Koch 1955, 136f.; Adamietz 1976a, 9f.; Steinkühler 1989, 310f. u. 384; Fucecchi 1997, 108 zu 6,462; Hershkowitz 1998, 159f.; Schenk 1998, 234, zu Behandlung des Problems und Ausgestaltung von lunos Rolle durch Valerius Flaccus. 31 Vgl. Adamietz 1976a, 52 mit Anm. 52. 32 Vgl. Liberman 1997, 102 u. 244f. zu 3,520, zu Lesart und Bedeutung der beiden Verse.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Sten sein könnte, sondern von der Absicht, zur Freude ihrer Partnerin Pallas einen größeren Kampf auszulösen ( 5 , 2 8 6 b - 2 8 7 a ) . Die Nachteile für die Argonauten will luno später durch andere Mittel ausgleichen (5,291; vgl. 6,431а.439-440.449-454).зз Mars' Entschluß vor den Kämpfen in Colchis kommt ebenso aufgrund krationaler persönlicher Interessen zustande (6,l-5).34 Mars ist hin- und hergerissen, w e l c h e der Parteien, die im Grunde beide das Goldene Vlies aus seinem Hain entfernen wollen, er unterstützen soll. Zu einem Ergebnis, das mit seinem eigenüichen Ziel, der Bewahrung des Goldenen Vlieses, übereinstimmt, kann er nicht gelangen. Schheßhch entscheidet er sich für Perses, nicht aufgrund irgendwelcher sachlicher Überlegungen, sondern in der Absicht, den Argonauten Kummer und Vernichtung zu bringen ( 6 , 3 b -

33 Vgl. Ferenczi 1995, 151f.; Ferenczi 1996, 41f., zu lunos Vorgehen und ihrer Motivation. - lunos inkonsequentes Verhalten erregt nicht bei allen Inteφreten Verwunderung oder führt zu dem Versuch einer Erklärung (vgl. z.B. Adamietz 1976a, 71). Dagegen betont Lüthje (1971, 210, 241 u.ö.), daß lunos Beschluß entgegen dem ersten Anschein folgerichtig sei, da das Eintreten der Argonauten in den Kampf auf Aeetes' Seite die einzige Möglichkeit für sie bilde, das Goldene Vlies zu erlangen. Denn dessen Erwerb könne nach Hercules' Entfernung aus dem Argonautenzug nur noch mit Medeas Hilfe gelingen, die den Argonauten lediglich über das Bündnis mit Aeetes zugänglich sei. Die Deutung mag bei scharfsinniger Inteφretation und Berücksichtigung aller unausgesprochenen Beziehungen und Konsequenzen zutreffen, konkreter Anhaltspunkt ist jedoch allein luppiters Scheltrede an luno (4,4-14), in der luppiter unmittelbar nach Hercules' Zurücklassung Medeas Rolle in den zukünftigen Entwicklungen (4,13-14) andeutet (vgl. Adamietz 1976a, 53; Korn 1989, 18 zu 4,114 u. 24f. zu 4,13-14, zur Beziehung zwischen lunos Vorgehen gegen Hercules und Medea in luppiters Rede). Da auf einen Zusammenhang zwischen Hercules' Entfernung und Unterstützung durch Medea an keiner anderen Stelle ausdrücklich hingewiesen wird, kann man vermuten, daß der Gedanke bei lunos Verhalten nur als Nebenaspekt erscheinen, aber kein für den konkreten Handlungszusammenhang bestimmendes und in der Sicht des Dichters wichtiges Element darstellen soll. lunos Entscheidung dient hauptsächlich dazu, die Irrationalität und Unvernunft eines Bündnisses mit Aeetes vorzuführen. In diese Richtung weist auch die von Lüthje (1971, 245) selbst erwähnte Tatsache, daß der Kampf in Colchis für die Argonauten tragisch und erfolglos sein wird, da sie eigentlich auf der falschen Seite kämpfen. Außerdem kommt die Situation, daß lason auf Medea angewiesen ist, nur durch die göttliche Einwirkung in Colchis zustande. Ohne diese hätte er das Goldene Vlies wohl allein durch seine Kampftüchtigkeit erlangen können (so Ferenczi 1996, 42). 34 Vgl. Lüthje 1971, 233 u. 240f. - Mars ist durch das vordergründige Ziel der Argofahrt, den Erwerb des Goldenen Vlieses, entscheidend persönlich betroffen, und seine Einstellung dazu wird bereits in der Götterszene des ersten Buchs (1,498-573) deutlich (l,528-529a). Deshalb kann man wohl nicht wie Steinkühler (1989, 316f. mit Anm. 1) davon ausgehen, daß Mars' Konflikt mit Interessen, die gegen seine Wünsche gerichtet sind, kein Leitmotiv des Epos sei, sondern erst in der Götterszene des fünften Buchs (5,618-695) nur kurz angedeutet werde (5,618-648), und daß sein im Anschluß daran beschriebenes Verhalten (6,1-5) lediglich dem für einen Kriegsgott üblichen entspreche.

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5). Die beiden schicksalsträchtigen Entscheidungen über die Verteilung der Machtverhältnisse im Kampf in Colchis fallen also nicht sachgegeben und noch nicht einmal in Entsprechung zu den persönlichen Zielen einzelner Götter. Ein solches Verhalten der Götter zeigt, daß bei den persönlichen Emotionen als Auslöser ihrer Handlungen noch zwischen der allgemeinen Einstellung und momentanen Gefühlen, die einzelne Aktionen lenken und sich von der generellen Haltung unterscheiden können, getrennt werden muß.35 Wegen der Bestimmung durch eigene Emotionen und der Tatsache, daß augenbUckliche Empfindungen in der jeweiligen Situation die entscheidenden Faktoren sind, kann sich die Richtung der göttlichen Einwirkung ständig ändern. Selbst wenn sich die Götter aufgrund persönlicher Gefühle zu einer grundsätzlichen Linie entschieden haben, handeln sie nicht fortwährend dementsprechend. Die Verfolgung irgendwelcher längerfristiger Pläne wird vollends unmöglich. Die Zuspitzung bei der Darstellung der Motive für das Eingreifen der Götter bringt deren Willkür sowie das AusgeUefertsein der Menschen in besonderem Maße zum Ausdruck. Denn nicht einmal eine prinzipielle Unterstützung oder Gegnerschaft führt zu konsequenten Maßnahmen, auf die sich die Menschen verlassen können. Alle diese Fälle von göttlichen Aktivitäten aufgrund persönlicher Emotionen hat Valerius Flaccus durch Ergänzungen gegenüber Apollonios Rhodios' Darstellung erst geschaffen. So hat er in der Cyzicus- und in der Lemnos-Episode die Vorgeschichte, in der das Vorgehen der Götter beschrieben und erklärt wird, in dieser Form hinzugefügt bzw. erweitert, das Problem von lunos Einstellung zu Hercules und den Argonauten insgesamt nicht unberücksichtigt gelassen, sondern thematisiert, und das Kampfgeschehen, in dessen Rahmen lunos und Mars' Entscheidung fallen, erfunden. Dieser Sachverhalt ist ein weiterer Beweis dafür, daß eine solche Charakterisierung der Götter für Valerius Flaccus ein wichtiges AnHegen war. In Entsprechung dazu hat er Cybeles neu eingeführtes Vorgehen auf Cyzicus gestaltet und damit auch in dieser Episode seine Auffassung vom Wirken der Götter zum Ausdruck gebracht. Daß die Götter spontan nach ihren persönlichen Emotionen handeln, wirkt deshalb plausibel, weil sie als anthгopomoφhe Gestalten vorgeführt werden, deren Verhalten durch ähnliche Werte und Methoden gelenkt wird wie das der Menschen des Epos. So ist ein charakteristisches Merkmal von 35

Vgl. Ferenczi 1996, 42.

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В. Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Valerius Flaccus' Göttern, das auch bei den Menschen von Bedeutung ist, daß für ihr Handeln außer der Absicht, eigene persönliche Ziele zu verwirklichen, verwandtschaftliche Beziehungen und deren Berücksichtigung bzw. Zerstörung bestimmend sind.^^ Sols Klage ist durch die Sorge um seinen Sohn veranlaßt (1,503-527), und Neptunus ist vom Tod seines Sohns betroffen (4,114-130). luno muß Pallas vor ihrer Intrige gegen deren Bruder Hercules erst listig entfernen (3,489-508; bes. caro... fr atri, 3,491 um dann gegen ihren ungeliebten Stiefsohn (vgl. 3,506.580) in Ruhe vorgehen zu können. Boreas betont bei seiner Klage und Bitte an Aeolus, dem Vordringen der Argonauten Einhalt zu gebieten (1,598-607), ausdrücklich, daß ihn bei der Verfolgung wichtigerer Ziele die Sorge um seine Kinder nicht berühre (l,605b).38 Und sogar luppiter hat ein besonderes Verhältnis zu seinen Kindern, wie seine Hinwendung zu den luppiter-Söhnen unter den Argonauten (1,561-573) und sein Kummer bei Colaxes' Tod in der Schlacht in Colchis (6,621-630) zeigen. luppiter betrachtet die Hochschätzung verwandtschaftlicher Beziehungen offenbar selbstverständlich als wichtiges beeinflussendes Moment. Denn im >Weltenplan< (1,531-560) betont er, daß ihm vor Urzeiten eine gerechte Festlegung der fata möglich gewesen sei, weil es noch keine Göttersöhne auf der Erde gegeben habe (l,533b-535). Ein weiteres Element der ап1ЬгоротофЬеп Gestaltung ist, daß Götter zur Durchsetzung ihrer persönlichen Interessen ebenso wie Menschen sowohl diesen gegenüber als auch untereinander in extensiver Weise Betrug und Täuschung einsetzen.39 Deren Anwendung in der Götterwelt zeigt sich vor allem an lunos Beispiel, da von ihr zwei Listen gegenüber anderen Göttern konkret dargestellt werden, mit denen sie die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen fördern will. luno versucht jeweils mit einer List, Pallas zur Erleichterung des Vorgehens gegen Hercules zu entfernen (3,489-

36 Vgl. Lüthje 1971, 65; Steinkühler 1989, 305-307. 37 Vgl. Adamietz 1976a, 48. 38 Man kann daher wohl nicht wie Shelton (1971, 34f.) und Otte (1992, 58f.) sagen, daß Boreas die einzige Gestalt in diesem Epos sei, die nicht durch Sorge um die Kinder motiviert werde. Denn wenn das bei Boreas wirklich überhaupt nicht der Fall wäre, eliminierte er sie in seiner emotionalen Rede nicht ausdrücklich als möglichen Hinderungsgrund (vgl. auch Burck 1978, 11; Steinkühler 1989, 396). 39 Unter den Menschen (s. u. S. 239 mit Anm. 26) scheint für die Tyrannen (Pelias, Laomedon, Aeetes) die Anwendung von List und Täuschung ein geradezu wesensmäßiger Zug zu sein. Dagegen geschieht das bei den anderen Menschen aufgrund des Zwangs der Situation. Damit ist vielleicht ein Hinweis gegeben, daß sich in Valerius Flaccus' Sicht Personen mit herausgehobener Stellung und größerer Machtfülle, also Götter und Tyrannen, derartiger Methoden besonders häufig und skrupellos bedienen.

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508)40 und Venus' Gürtel zu erhalten, um Medea in Liebe zu versetzen (6,455-476). Die zweite List ist besonders infam, da luno in ihrer heuchlerischen Rede ausdrücklich betont, daß sie die Wahrheit sage (6,461b) Beide Listen finden sich nur in Valerius Flaccus' Gestaltung. Im ersten Fall ist eine vergleichbare Szene mit Athenes Entfernung in Apollonios Rhodios' Epos nicht enthalten, im zweiten bringt Hera eine ehrliche und aufrichtige Bitte um Hilfe vor (AR 3 , 5 5 - 7 5 . 8 3 b - 8 9 ) . 4 2 lunos Listen werden zwar als solche erkannt (3,506-507. 6,467a), dadurch in ihrem Erfolg aber nicht beeinträchtigt, da die Feststellung von hstiger Handlungsweise und ihrer Folgen ein Eingehen auf Wünsche nicht zu verhindern und auch keinen Anlaß für Kritik zu bieten scheint.'^^ Denn betrügerisches Vorgehen ist für Götter offenbar kein Verhalten, dessen man sich schämen oder dessen Einsatz man rechtfertigen müßte.'^^ Nachdem luno nämhch mit Venus' Gürtel keinen Erfolg gehabt hat und Hilfe von Venus selbst braucht, setzt sie ihre Täuschung nicht fort, sondern geht bei ihrer erneuten Bitte (7,159-170) offen davon aus, daß Venus nicht glaubt, daß sie den Gürtel zu dem früher vorgespiegelten Zweck verwendet hat (vgl. 6,462-466), sondern weiß, wozu sie ihn wirklich benutzt hat (7,159). Auch die Strategie für ihr Verhalten im Kampf in Colchis, das sich aus ihrer listigen Rede an Pallas ergibt (3,492b-505), führt luno nicht weiter fort, sondern eröffnet später gerade Pallas gegenüber gegenteilige Pläne (5,286b-291).45 Pallas geht offenbar, wie sich aus ihrer Frage nach lunos

40 Adamietz (1976a, 47f.) betont die technische Notwendigkeit von Pallas' Entfernung, damit luno ungestört vorgehen kann. Die Beobachtung trifft sicherlich zu, aber auch unter der Voraussetzung erweist es sich als charakteristisch für Valerius Flaccus' Epos, daß luno ihr Ziel gerade mit einer List zu erreichen versucht. Lüthje (1971, 115 Anm. 1) sieht Pallas' Entfernung als Nebenaspekt von lunos List an. In seiner eigentlichen Deutung (1971, 115) versteht er die List hauptsächlich als ein Mittel, an dieser Stelle die Gesamtkonzeption des Werks vor Augen zu führen, was vielleicht etwas weitgehend ist. 41 Vgl. Shelton 1971, 371f. 42 Vgl. Langen 1896/97, 445f. zu 6,455; Lüthje 1971, 264; Shelton 1971, 151; Fucecchi 1996, 135; Fucecchi 1997, 14, 104f. zu 6,455-9, 107 zu 6,460-6; Hershkowitz 1998, 170. 43 Vgl. Wagner 1805, 210 zu 6,467ff.; Langen 1896/97, 446f. zu 6,467; Koch 1955, 132; Wetzel 1957, 80 mit Anm. 1; Lüthje 1971, 260 u. 264; Shelton 1971, 371f.; Adamietz 1976a, 87; Steinkühler 1989, 317f., 376f., 383; Schubert 1991, 130 u. 134; Stadler 1993, 2 u. 72 zu 7,171-175; Fucecchi 1996, 135; Fucecchi 1997, 14, zu lunos listigem Vorgehen und der Reaktion der Betroffenen. 44 Vgl. Lüthje 1971, 293; Stadler 1993, 2 u. 69f. zu 7,159-161. 45 Vgl. Fucecchi 1997, 257 zu 6,729. - Ferenczi (1995, 152 mit Anm. 14) deutet lunos unterschiedliche Aussagen als Zeichen des inkonsequenten und ungerechten Verhaltens der Götter. Diese Interpretation ist durch den Inhalt von lunos List, der einen zentralen Bestandteil des Epos berührt, in dem starke göttliche Einwir-

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Absichten für die Schlacht in Colchis ergibt (5,282b-285), auch gar nicht davon aus, daß lunos frühere Äußerungen, die sie als List durchschaut (3,506-507), deren wahrer Einstellung entsprechen. Aus der lo-Geschichte (4,344-422) ergibt sich, daß die Vorstellung von Listen sogar in bezug auf luppiter und dessen Verhältnis zu anderen Göttern von Bedeutung ist. So werden luppiters Beziehung zu Io und die damit verbundene Untreue gegenüber seiner Frau als Ustiger Betrug bezeichnet (4,354). luppiters anfängliche Hilflosigkeit bei lunos späteren listig vorgebrachten haßerfüllten Forderungen wird mit der Unmöglichkeit erklärt, eine passende List als Erwiderung zu finden (4,364b-365). Es wäre also nichts Ungewöhnliches, die eigenen Interessen auf solche Weise durchzusetzen. Nur wenn Götter von den Folgen von Betrug und Täuschung unmittelbar betroffen sind, üben sie verhaltene Kritik daran. So wirft Mars Pallas vor, daß sie nach der Ankunft der Argonauten in Colchis diese nicht mehr wie auf der Seefahrt offen unterstütze, sondern listig versuche, das Goldene Vlies aus seinem Hain zu entfernen (5,628-632).'*6 Aus Valerius Flaccus' Beschreibung der Götter und ihres Verhaltens ergibt sich, daß sie für ihn innerhalb der dichterischen Fiktion des Epos handelnde Personen und wirkende Mächte sind. Es kann Kulte und geheiligte Gegenstände der Götter geben, deren Verletzung durch die Menschen Konsequenzen für diese hat. Die eingesetzten Methoden und die Motivationen für ihre Aktionen zeigen, daß die Götter hauptsächlich von ihren persönlichen Interessen bestimmt werden und zu deren Durchsetzung ohne Skrupel jedes Mittel anwenden. Sie sind raffiniert, berücksichtigen keine moralischen Werte und verhalten sich im Grunde sehr >menschlichnegativer< dargestellt als die in der Ilias. Denn seine Götter haben kein eigentliches Interesse am Ergehen der Menschen, wie es sich zum Beispiel an der Beobachtung des Geschehens oder an konsequenter Hilfe für Schützlinge zeigen könnte, bestimmen aber gleichzeitig durch direkte Eingriffe weitgehend den Ereignisablauf, so daß für die Menschen wenig Raum zu freier Willensentscheidung bleibt (s. u. S. 200ff.). 49 Vgl. z.B. Schönberger 1965, 124; Ferenczi 1996, 37f. 50 Vgl. Ferenczi 1996, 47f., mit einer möglichen Erklärung für die Gestaltung der Götterwelt bei Valerius Flaccus. Ferenczis Annahme, daß das widersprüchliche und sinnlose Verhalten der übrigen Götter auf der einen Seite und luppiters ordnungstiftendes Vorgehen auf der anderen Erfahrungen und Hoffnungen des Autors repräsentierten, ist vielleicht immer noch zu positiv. Denn luppiter schafft zwar einen geregelten Ablauf des Geschehens, der eine gewisse Sicherheit verleiht, aber auch sein Walten führt faktisch für die Menschen zu unerträglichen Situationen. 51 Vgl. Ferenczi 1998, 344f. - Die göttliche Einwirkung wird auch als Verkörperung innerer Vorgänge verstanden (vgl. bes. Eigler 1988, 113 u. 132; Eigler 1991, 155-172; ähnlich Wetzel 1957, 90: Nebeneinander von traditioneller Göttertechnik

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

selbst haben, ist eine Frage, die in diesem Rahmen nicht geklärt werden kann.

Z.fata

Da in der Cyzicus-Episode neben den Göttern auch die fata als Schicksalsmacht auftauchen, stellt sich die Frage, ob bzw. welchen Einfluß sie auf den Geschehensablauf haben und in welchem Verhältnis sie zu den Göttern stehen. Weil fatum/fata^^· bei Valerius Flaccus ähnlich wie in Vergils Aeneis ein schwieriger Begriff ist, der mit verschiedenen Bedeutungsnuancen verwendet wird, muß zunächst versucht werden, dessen Bedeutung grundsätzlich unter Heranziehung verschiedener Stellen aus dem Gesamtwerk zu klären, bevor die Rolle von fatum /fata in der CyzicusEpisode analysiert werden kann.

und psychologischer Motivierung; Shey 1968, 202 u. 222; Tschiedel 1991, 218 mit Anm. 12; anders Salemme 1993, bes. 52f.) und Medeas Entwicklung in Beziehung zur stoischen Affektenlehre gesetzt. Jedoch ergibt sich auch bei einer solchen Interpretation aufgrund von Valerius Flaccus' Darstellung für das Beispiel von Medea, daß diese gegen ihren Willen von der übermächtigen Gewalt, gegen die sie ankämpft, besiegt und vom Dichter deshalb als Opfer bemitleidet wird (vgl. Eigler 1988, 96, 106, 114 U.Ö.; Eigler 1991, 155-172). Gärtner (1994, 269-271; 1996, 2 9 5 f ) deutet die Götter ebenfalls als Symbole für irrationale Mächte, mit der These, daß die Götter f ü r den Wahn der Menschen stünden (1994, 245, 247 u.ö.). Wagner (1939, 88-91 u. 128-137) vertritt die Auffassung, daß Valerius Flaccus nach der epischen Konvention einen Götterapparat verwende, aber nicht mehr von solcher Religiosität geprägt sei wie Vergil und also nicht an die von ihm geschilderten Götter glaube. Ähnlich meint Bahrenfuß (1951, 104, 114, 132, 151f. u.ö.), daß Valerius Flaccus aufgrund der epischen Konvention Götter zu Verursachen! des Geschehens mache, es eigentlich jedoch um die Darstellung von Affekten auf menschlicher Ebene gehe. Shey (1968, 206 u. 222) ist der Ansicht, daß mit der Einführung der Götter dem Geschehen eine umfassendere Bedeutung gegeben und es in Beziehung zu luppiters Plänen gesetzt werden solle. Eine sozusagen vermittelnde Position nimmt Schenk (1991, 139-153, bes. 146f.; 1998, 235-239) ein: Er geht zwar davon aus, daß die Götter allegorische und symbolische Züge aufwiesen sowie menschliche Handlungen letztlich durch Zusammenwirken von Göttern und Menschen zustandekämen, hebt aber gleichzeitig hervor, daß die Götter für ein Verständnis als reine Symbole zu stark in eine auf der Erzählebene reale Götterhandlung eingebunden seien und die Menschen von der Einwirkung eines fremden göttlichen Willens bestimmt würden. 52 Die doppelte Bezeichnung ist gewählt, weil zwischen der Verwendung von Singular und Plural kein grundsätzlicher Bedeutungsunterschied zu erkennen ist. Es läßt sich lediglich feststellen, daß die Pluralform häufiger ist als die Singularform (vgl. in der Cyzicus-Episode: Plural in 3,64.170.184.194.221.250.294.461, Singular in 3,374.379; s. o. S. 69 Anm. 113 zur Wortform in 3,170). Deshalb wird in Zusammenhängen, in denen es nicht speziell um die Bedeutung von fatum / fata geht, der Einfachheit halber die Pluralform verwendet.

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Aus der Verwendung von fatum / fata in der Cyzicus-Episode läßt sich folgende Grundbedeutung erschließen: Fatum / fata bezeichnet immer einen schicksalhaft vorherbestimmten Ablauf in irgendeiner Form, der sich für die Menschen unweigerüch erfüllt. Dieser kann sich auf einzelne Menschen und deren persönliches Schicksal beziehen oder in größerem Umfang eine allgemeine Bestimmung betreffen.53 In bezug auf einzelne Menschen bezeichnet fatum / fata >SchicksalBestimmungLebenslosvorgegebene Lebenszeit< und >Tod< ebendieser Menschen. In weiterem Rahmen heißt fatum / fata >Bestimmungfestgelegte Ereignisfolgevorherbestimmter AblaufWeltenplan< (1,531-560). Dort sagt luppiter, daß er zu Beginn der Welt in gerechter Weise die/aia festgesetzt, d.h. den allgemeinen Schicksalsablauf bestimmt habe (1,531-535). Demgemäß wird zunächst Asien von luppiter und den fata begünstigt (1,541b). Vor dem Hintergrund von luppiters unmittelbar vorausgehenden Äußerungen soll die FormuHerung wohl deutlich machen, daß das Wirken der/αία Ausdruck von luppiters Willen ist, daß die fata sozusagen abstraktes Symbol für luppiters konkretes Handeln und den von ihm festgelegten Verlauf des Geschehens sind. So erwähnt luppiter später bei Asiens Machtverlust seine eigene Person gar nicht, sondern sagt lediglich, daß Asien sich dem Schicksalsablauf beugen werde (1,554b). Dabei handelt es sich um eine allgemeinere Formulierung dafür, daß Asiens Zukunft luppiters Willen und dem von ihm bestimmten Geschick unterworfen ist. Außer luppiters Festlegung der fata (1,531-535) machen Ausdrücke Wie, fata deum (vgl. z.B. 4,86.741) deutlich, daß luppiter (und in dem von ihm zugestandenen Rahmen die anderen Götter) größere Macht als die fata haben und sie bestimmen. Die fata hängen also von ihnen ab und stellen den Götterwillen dar (vgl. auch 5,65). Deshalb hat luppiter selbstverständlich die Macht, den Kampf auf Cyzicus durch Veränderung der fata zu beenden. Wie in diesem Fall nutzt luppiter seine größere Macht allerdings nur dann durch Eingriffe in den Ablauf der fata aus, wenn es ihm (besonders im Rahmen seines >Weltenplansgewöhnliche< Menschen gemeint. Denn offenbar weitgehend ausgenommen von diesem Mechanismus sind die von Valerius Flaccus ausdrücklich als tyrannus bezeichneten Herrscher Pelias, Laomedon und Aeetes. Die Tyrannen, die unter den Menschen am ehesten an die Macht der Götter herankommen, veranlassen ähnlich wie diese in eigener Entscheidung Aktionen, die anderen Menschen schaden, und fühlen sich dafür nicht schuldig oder verantwortlich (s. u. S. 239 mit Anm. 26). 57 Vgl. Schenk 1991, 139-153, zur Einflußnahme der Götter auf die Menschen in zwei Phasen unter Ausnutzung der jeweiligen Lebensumstände. - In Schenks Analyse werden die Rolle der Menschen als Mitwirkende etwas überbewertet und eine Prädisposition von Cyzicus aufgrund seiner Gefühle als schuldiger Frevler angenommen (s. o. S. 40f. mit Anm. 55). Außerdem beschränkt sich die Untersuchung auf Fälle, in denen es durch zweimalige göttliche Einwirkung zum Kampf kommt. Daher ist die Beeinflussung der Lemnierinnen und Medeas, die im Prinzip nach dem gleichen Muster vor sich geht (vgl. Stadler 1993, 7), nicht berücksichtigt. 58 Vgl. Bahrenfuß 1951, 73; Adamietz 1976a, 35. - Venus' Eingreifen ist in sich wiederum zweigeteilt, da sie zunächst in Dryopes Gestalt die Stimmung weiter anheizt (2,174-195) und dann in eigener Erscheinung den Beginn des Mordens auslöst (2,196-215). Daher wird öfter insgesamt von einer Beeinflussung der Lemnierinnen in drei Phasen ausgegangen (vgl. z.B. Langen 1896/97, 149f. zu 2,196 u. 152 zu 2,209; Adamietz 1976a, 32; Poortvliet 1991, 117 zu 2,174-95 u. 127 zu 2,196-215;

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Neaeras Gestalt, um die allgemeine Stimmung zu konditionieren (2,115-173), anschließend tritt sie selbst in Dryopes Gestalt (2,174-195) und in ihrer eigenen Erscheinung auf (2,196-215), um den Anfang der konkreten Aktionen auszulösen. In Colchis greift Mars zweimal ein, um Perses zum Kampf zu motivieren (6,6-13.27-30). Zuerst (6,6-13) erzeugt er Kriegsstimmung in Perses' Lager, dann (6,27-30) löst er mit stärkerer Wirkung durch seinen falsche Tatsachen vorspiegelnden Ausruf (6,29) unmittelbar den Kampf aus (6,30).59 Die Erregung von Liebe in Medea geht ebenfalls in zwei Phasen vor sich (6,427-506/575-603. 7,153-326). Zunächst agiert luno, nüt Venus' Gürtel ausgerüstet, in der Gestalt von Medeas Schwester Chalciope (6,427-506/575-603). Indem sie Medea durch eine geschickte Rede (6,482^87) dazu veranlaßt, mit ihr zur Stadtmauer zu gehen (6,488b491), lenkt sie deren Interesse und Aufmerksamkeit optisch und geistig auf lason, den sie gleichzeitig in einer Aristie mit besonderen Kräften ausstattet (6,602b-603; vgl. auch 5,363b-365). Dann (7,153-326) wirkt Venus, da sie als Liebesgöttin stärkeren Einfluß ausüben kann, in der Gestalt von Medeas Tante Circe auf Medea ein, indem sie großartige Argumente anführt (7,223b-236), Medea durch Umarmungen und Küsse direkt manipuliert (7,254-255) und erlogene Geschichten erzählt (7,256-283). In allen Fällen werden die Menschen zu Handlungen veranlaßt, die sich gegen andere Menschen richten, daher objektiv betrachtet nach menschlichen Maßstäben unmoralisch sind und die sie von sich aus nicht unternommen hätten, da sie ihrer grundsätzlichen Einstellung widersprechen. Diesen Aspekt macht Valerius Flaccus dadurch deuüich, daß die Götter jeweils nur mit zweimaliger Einwirkung die Menschen zu diesen Aktionen Stadler 1993, 7). Dennoch ist das Wirken der Götter vom Dichter wohl eher zweistufig konzipiert. Denn Venus' Vorgehen ist deutlich von der ersten Einwirkung von FamaNeaera (2,115-173) abgesetzt (vgl. 2,134b) und wird als eine geschlossene Handlungslinie mit einem verstärkten zweiten Teil dargestellt. Ferner ist die Differenzierung nicht klar durchgehalten, da Venus in ihrer eigenen Erscheinung Handlungen ausführt, die nur zu Dryopes GestaU passen (2,213b-214a; vgl. Poortvliet 1991, 134 zu 2,21 Iff.). - In der Cyzicus-Episode wird als Vorbereitung zunächst Tiphys durch göttliche Einwirkung in Schlaf versetzt (3,39^1a). Damit werden die Voraussetzungen für die kommenden Ereignisse geschaffen, es handelt sich aber nicht um einen Bestandteil der direkten göttlichen Einwirkung auf die Menschen, die diese zu konkreten Aktionen veranlaßt. 59 Vgl. Schenk 1991, 139-153, zur formalen Parallelität der Szenen, in denen Cyzicus bzw. Perses durch göttlichen Einfluß zum Kampf veranlaßt werden. Bei der hier vertretenen Annahme einer unabsichtlichen Fehlhandlung von Cyzicus (s. o. S. 40f.) ergibt sich nicht, wie Schenk (1991, 149) meint, ein Gegensatz zwischen den beiden Figuren auf inhaltlicher Ebene, sondern auch in diesem Bereich eine Parallelität.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

bewegen k ö n n e n . p ü r den gewünschten Effekt bedarf es nach dem ersten Versuch eines zweiten mit größerer Intensität (vgl. 6,27-30) oder von einem anderen Gott, dessen Aufgabenbereich für das erstrebte Ziel einschlägiger ist (vgl. 7,160-163a.l72-177a). Der zweite Anlauf ist ohnehin wirkungsvoller, da er auf der durch den ersten erreichten Atmosphäre aufbauen kann (vgl. 2,134b). Bei der erfolgreichen Beeinflussung der Menschen spielt nicht nur die göttliche Macht an sich eine Rolle, sondern auch das äußerst raffinierte Vorgehen der Götter, die die spezifische Lage der Menschen ausnutzen. Das ist in der Cyzicus-Episode die ständige Bedrohung durch die Pelasger (vgl. 2,656-658), in der Lemnos-Episode die Besorgnis der Lemnierinnen wegen der langen Abwesenheit der Männer (vgl. 2,136-140), bei Perses die ständige Erwartung des Neubeginns der Kampfhandlungen (vgl. 5,532-533a) und bei Medea ihre Anteilnahme für lason seit ihrer ersten Begegnung (vgl. 5,373-375a). Die Götter üben jeweils, ohne ihre Göttlichkeit zu erkennen zu geben, durch ein Verhalten oder eine Erscheinung, die in der gegebenen Situation durchaus möglich sind, Einfluß aus. Sofern die Götter als Personen unter den Menschen erscheinen, wird die täuschende Vorgehensweise durch ihr Handeln deutlich und in der Darstellung ausdrücklich hervorgehoben (vgl. 2,123.206. 6,590b-591.679b-680). Auf Lemnos treten sowohl Fama (2,141) als auch Venus selbst (2,174) in fremder Erscheinung auf und täuschen den Lemnierinnen die Untreue der Männer vor (2,142b-160a. 176b-184a). Venus löst das eigentliche Morden der Frauen aus, indem sie den Anschein erweckt, daß es schon im Gange sei (2,209-215), und läßt die Frauen den Männern besonders gefährlich erscheinen (2,225b-226). Bei der Beeinflussung von Medea nehmen die Göttinnen ebenfalls falsche Gestalten an. Durch die Wahl der Formulierungen in der Schilderung kommt der Aspekt des Betrugs deutUch zum Ausdruck (vgl. 6,479. 7,155156a.211-212; bes. mentita(e), 7,155.21 l).6i Wegen der geschickten Methode halten die Menschen den von den Göttern vorgespiegelten Zustand für echt und reagieren ohne weitere 60 Vgl. ansatzweise La Penna 1981, 240. - Zweimalige göttliche Einwirkung auf die Menschen ist also weniger ein Fall von »overdetermination« (so Vessey 1985, 332), sondern hat vielmehr inhaltliche Bedeutung. 61 Vgl. Gärtner 1994, 190. - So kommt bei Valerius Flaccus im Unterschied zu Apollonios Rhodios nicht die echte Chalciope vor, sondern nur luno, die deren Gestalt angenommen hat (vgl. Langen 1896/97, 481 zu 7,153ff.; Fucecchi 1996, 137f.; Fucecchi 1997, 16 u. 119 zu 6,477-91). - Vgl. Hull 1975, 15; Eigler 1988, 104; Steinkühler 1989, 298f.; Stadler 1993, 79-81 zu 7,193-291 u.ö., zum Betrug der Göttinnen an Medea.

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Reflexionen so, wie es unter solchen Umständen angemessen ist. Daher erkennen sie nicht rechtzeitig oder in vollem Umfang, daß sie eigentlich gegen ihre Absichten handeln. Lediglich bei Medea sind Bewußtheit und Zweifel vorhanden, sie werden aber gerade dadurch abgeschwächt, daß sie den konkreten Entschluß in dem Glauben faßt, dem Rat ihrer Tante (Venus!) zu folgen und deren Befehlen zu gehorchen (vgl. 7,347-349a). Diese Form der Einwirkung der Götter auf die Menschen hat Valerius Flaccus gegenüber Apollonios Rhodios erst eingeführt. In dessen Version wird das Geschehen wie in der Cyzicus-Episode jeweils mit rein sachlichen und menschlich vorstellbaren Gründen oder allenfalls durch einen konventionellen göttlichen Eingriff motiviert. In der kurzen Vorgeschichte der Lemnos-Episode berichtet er, daß die Lemnierinnen die Männer aus Entrüstung über deren tatsächliche Untreue, die allerdings auf Kypris' Zorn zurückgeht, töten (AR l,609-615.802b-807a). Das Kampfgeschehen in Colchis ist ohnehin als ganzes von Valerius Flaccus hinzugefügt. Medeias Liebe wird durch einen Pfeilschuß von Eros ausgelöst (AR 3,278-290); ihre Hilfe für lason ergibt sich aus darauf aufbauenden, aber weitgehend unabhängigen Aktionen der M e n s c h e n . 6 2 Daß Valerius Flaccus das gleiche Muster der Beeinflussung der Menschen durch die Götter in mehreren unterschiedlichen Fällen in gleicher Form neu geschaffen hat, läßt darauf schließen, daß er daran ein zentrales Merkmal der Beziehung zwischen Göttern und Menschen in seiner Konzeption zum Ausdruck bringen wollte. Eine solche göttliche Einwirkung macht zum einen deutlich, daß die Götter mächtig sind und, unter Umständen mit Einsatz aller ihrer Kräfte, den Menschen ihren Willen aufzwingen können. Sie veranlassen sie sogar zu ungeheuerlichen Handlungen, die allein durch ihre persönlichen Ziele motiviert sind. Zum anderen wird klar, daß die Menschen unter dem Einfluß der Götter zu Taten gebracht werden, die sie eigentlich nicht ausführen wollen und die außerhalb des nach menschlichen Gesetzen Moralischen liegen. Aus dem starken Einfluß der Götter auf die Menschen ergibt sich, daß diese nicht uneingeschränkt in freier Entscheidung über ihre Aktionen verfügen können, sondern als Vollzieher des göttlichen Willens in großem Umfang 6 2 Vgl. Langen 1896/97, 481 zu 7,153ff.; Garson 1965, 107; Eigler 1988, 82; Stadler 1993, 2, 29 zu 7,26-100, 66 zu 7 , 1 5 3 - 1 9 2 ; Fucecchi 1996, 137; Fucecchi 1997, 15 u. 112 zu 6 , 4 6 7 - 7 6 ; Hershkowitz 1998, 221; etwas anders Feeney 1991, 81 f. - Auch in Pindars Version gibt es keine direkte göttliche Einwirkung auf Medeia als ausschließliche Motivation für ihre Liebe. Aphrodite unterstützt lason lediglich bei deren Gewinnung {Pyth. 4 , 2 1 3 b - 2 1 9 ) .

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

von den Göttern fremdbestimmt sind. Manchmal werden sie sogar zu Opfern von deren Machenschaften, wenn sie gegen ihre persönlichen, moralisch hochwertigen Überzeugungen handeln müssen.^^ in jen ßg. reichen, in denen der göttliche WiUe bestimmend ist bzw. die Menschen damit kollidieren, besteht für sie nur wenig Raum für Handlungsfreiheit und Eigenverantwortlichkeit.^^ Lediglich bei Angelegenheiten, die die Interessen der Götter nicht betreffen, können die Menschen selbständig entscheiden. Die Unterschiede zwischen den beiden Gebieten sowie der fließende und unter Umständen plötzliche Übergang zeigen sich deutlich in der Cyzicus-Episode an der Figur des Cyzicus: Dieser kann zwar nach seinen eigenen Vorüeben in Jagdleidenschaft jagen ( 3 , 1 9 - 2 1 ) ; sobald er dabei eine Göttin verletzt ( 3 , 2 2 - 2 6 ) , wird er in deren Pläne eingebunden ( 3 , 2 7 - 3 1 ) und hat keine Möglichkeit mehr, sich dem von ihr festgelegten Ereignisablauf zu entziehen. In Cyzicus' Fall werden die Argonauten dazu eingesetzt, die Rache der Göttin zu vollziehen. Außer beim Beitrag der Argonauten zu luppiters >Weltenplan< ( 1 , 5 3 1 - 5 6 0 ) wirken die Menschen in den Plänen der Götter auch sonst nicht als Auslöser weiterführender Entwicklungen, sondern dienen als Werkzeuge, um Rachegelüste und andere persönliche Wünsche der Götter in die Tat umzusetzen. Wegen dieser Absichten der Götter, die auf die Menschen keine Rücksicht nehmen, werden die Menschen, wie die Argonauten in der Cyzicus-Episode, oft dazu gebracht, Unheil anzurichten, ohne daß ihnen die göttliche Verursachung bewußt ist. Allerdings können sich die Argonauten nach dem Kampf gegen ihre Gastfreunde nicht vorstellen, daß Menschen aus eigenem Antrieb eine 63 Vgl. Mehmel 1934, 89-93; Happle 1957, 11, 23, 78, 98, 113 u.ö.; Garson 1965, 108; Schönberger 1965, 127f.; Burck 1970, 556; Schubert 1984, 270; Steinkuhler 1989, 299; Salemme 1993, 60; Stadler 1993, 2, 67 zu 7,153-192, 80 zu 7,193-291, 113 zu 7,292-370, 163 zu 7,407-538; Ferenczi 1995, 152f.; Fucecchi 1996, 156f. Anm. 112; Fucecchi 1997, 33f. Anm. 63, 107 zu 6,460-6, 119 zu 6,477-91, 182 zu 6,587; Ehlers 1998, 152. - Zumindest auf der Ebene der Darstellung ist Wagners (1939, 152-156) Aussage, daß bei Valerius Flaccus göttliche und menschliche Motivation nebeneinanderstünden, wobei die göttliche auch fehlen könne, nicht zutreffend. Auch Kochs (1955, 151) Deutung, daß die Götter den Menschen zwar an das von ihnen gewollte Unglück heranführten, er dann aber in seinem letzten Endes durch ihn selbst verschuldeten Leid sich allein überlassen werde, ist noch zu weitgehend. - Aus der Art der Situationen, in die die Menschen durch die Götter geraten, kann man wohl nicht wie Happle (1957, bes. 213-222) schließen, daß die Darstellung, wie der Mensch trotz der Umstände sein Wesen zu bewahren suche und wie lasons Frömmigkeit und Mannestum sich bewährten, Hauptthema des Epos sei. 64 Vgl. z.B. Wijsman 1996, 167 zu 5,329; anders z.B. Lüthje 1971, 227; Gärtner 1994, 120.

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solche Aktion vollbringen, und führen sie deshalb auf göttliche Einwirkung zurück. Da sie aber nicht sicher sein können und sie die Taten faktisch ausgeführt haben, fühlen sie sich trotzdem schuldig und verantwortlich. Von der daraus resultierenden Erstarrung (3,362-371) werden sie erst durch Mopsus' Rede (3,377-416) und das anschließende Entsühnungsritual (3,417-458) befreit. Mit diesem Ereigniskomplex wird das Problem der objektiven und subjektiven menschlichen Schuld an von den Göttern verursachten Handlungen in der Cyzicus-Episode konkret durch die Situation der Argonauten und allgemein durch die grundsätzlichen Aussagen in Mopsus' Rede dargestellt. Damit sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die in der Medeahandlung zentrale Schuldfrage in ihrer ganzen Tragweite verständhch wird: Medea macht sich durch ihre Hilfe für lason und den gleichzeitigen Verrat an ihrem Vaterland objektiv schuldig (vgl. z.B. 5,219b-220. 7,371-372a.458-462), wird dazu aber gegen ihren Willen durch göttlichen Einfluß gebracht (vgl. bes. 6,470-474), wie die ausführliche Schilderung der starken götdichen Einwirkung und ihr bis zum Schluß dauernder Widerstand zeigen (vgl. bes. nescioquo penitus se numine vinci sentit, 7,323-324). Trotz ihrer subjektiven Unschuld ist Medea sich ihres objektiv schuldhaften Handelns bewußt und leidet darunter (vgl. z.B. 7,455.484. 8,15b.l06b-108).65 pür Medea gibt es keine Befreiung und Entsühnung in irgendeiner Form, sondern sie muß die Folgen ihrer Tat allein bewältigen und wird später sogar bestraft werden (vgl. 4,13-14). Medeas Situation ist mit der der Argonauten auf Cyzicus nicht in jeder Hinsicht vergleichbar, da Medea bereits während der Ausführung der Tat weiß, was sie tut. Im Prinzip wird sie jedoch mit der gleichen Sachlage, den Konsequenzen einer eigenüich unfreiwilhg ausgeführten Handlung, konfrontiert, die sich nur sozusagen zeitversetzt einstellt und dadurch noch quälender ist.66 Der Eindruck ergibt sich aus der Art der Darstellung, da 65 Vgl. Langen 1896/97, 481 zu 7,153ff.; Wetzel 1957, 113 mit Anm. 1 u. 137 mit Anm. 1; Hull 1975, 16; Adamietz 1976a, 97 mit Anm. 50 u. 99 mit Anm. 53; La Penna 1981, 240 u. 246; Eigler 1988, 112; Stadler 1993, 4, 75 zu 7,182-185, 134 zu 7,344-346; Ferenczi 1996, 42; Fucecchi 1996, 155 u. 156f. Anm. 112; Fucecchi 1997, 32, 33f. Anm. 63, 99f. zu 6,449-54, 119 zu 6,477-91; Perutelli 1997, 37, 2 4 6 zu 7,153ff., 270 zu 7,210ff., 323 zu 7,323, 3 8 3 - 3 8 6 zu 7,455-461 passim; Ehlers 1998, 152f.; Ferenczi 1998, 339-346; Franchet d'Espèrey 1998, 2 1 7 - 2 1 9 , zu Medeas Schuld im Verhältnis zur göttlichen Einwirkung und zu ihrer eigenen Auffassung davon. - Adamietz (1976a, 97; zustimmend Eigler 1988, 112) bezeichnet Medea ebenfalls als »in einem objektiven Sinne schuldig«. Dagegen berücksichtig Hull (1975, 16) bei der Beurteilung von Valerius Flaccus' Einstellung zu Medea die Unterscheidung von subjektiver und objektiver Schuld nicht in ausreichendem Maße. 66 Vgl. ansatzweise Happle 1957, 215.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

während des gesamten Prozesses in Medeas Gedanken und Reden immer wieder ihre schwierige Situation auftaucht (vgl. z.B. 7,344-349a.385387.455). Das Problem des Anteils der menschlichen Schuld bei göttlicher Verursachung der Handlungen besteht in anderen Episoden ebenfalls, wenn es dort auch nicht so explizit behandelt wird wie in der Cyzicus-Episode und in der Medeahandlung. In der Vorgeschichte (2,82-310) der Lemnos-Episode (2,82^30) führt Valerius Flaccus eine göttliche Motivation (2,82106) für das Geschehen ein, schildert zweimalige göttliche Einwirkung auf die Menschen (2,115-215) und charakterisiert die grundsätzliche Einstellung der Lemnierinnen (2,136-140). Damit macht er deutlich, daß die Lemnierinnen durch göttlichen Einfluß zu ihren Taten veranlaßt werden und so zwar objektiv schuldig, aber subjektiv unschuldig sind.^? Aus dem Ereigniskomplex um die Zurücklassung des Hercules (3,598725)68 sind durch das unterschiedliche Verhalten der einzelnen Argonauten weitere Spielarten des Verhältnisses von subjektiver und objektiver Schuld zu entnehmen. Für lason ergibt sich ein ähnlicher Zustand wie in der Cyzicus-Episode. Auch mit der Zurücklassung des Hercules (3,717718a) führt er gegen seine moralischen Vorstellungen und persönlichen Neigungen (vgl. 3,604-610.717b-718) das Vorherbestimmte aus (vgl. 3,611-612.618-622) und wird deshalb von Trauer und Schuldgefühlen geplagt (vgl. 5,41b-42a.l29-132a).69 Wiederum fühlt er sich trotz subjek-

67 Vgl. Shelton 1971, 83; Barich 1982, 54. - Bereits Langen (1896/97, 138 zu 2,79 u. 152 zu 2,209) hebt die alleinige Verantwortung der Götter für die Vorgänge auf Lemnos in Valerius Flaccus' Darstellung sowie die dadurch erzielte Schuldlosigkeit der Menschen hervor und stellt eine Beziehung zur Erregung von Liebe in Medea her. Dagegen meint Bahrenfuß (1951, 81), daß die Lemnier dadurch, daß sie sich die Entscheidung angemaßt hätten, Venus' Kult zu vernachlässigen, schuldig geworden seien. Auf eine solche Bewertung ihres Verhaltens gibt es im Text keine Hinweise. 68 Vgl. Koch 1955, 118-156; Happle 1957, 178-197; Garson 1963, 260-267; Shey 1968, 96-107; Adamietz 1970, 35; Lüthje 1971, 117-123; Shelton 1971, 160-168; Burck 1979, 243f.; Barich 1982, 48-53; Schenk 1986, passim; Malamud/McGuire 1993, 197-215, zu der Szene. Die ausführlichste Analyse bietet Schenk, der jedoch zu einer anderen Auffassung über den Handlungsspielraum der Menschen, die Beurteilung des Verhaltens der Argonauten und deren Schuld sowie den Einfluß der Götter kommt (s. u. Kap. В III 1 [S. 230ff.] zu ethischen Aspekten von lasons und Telamons Verhalten). - Außer Valerius Flaccus und Apollonios Rhodios erzählen Theokrit (eid. 13) und Properz (1,20) die Hylas-Geschichte, jedoch in Entsprechung zur Gattung unter Hervorhebung völlig anderer Aspekte (vgl. Koch 1955, passim, für einen Vergleich der verschiedenen Fassungen). 69 Ohne überzeugende Begründung berücksichtigt Lüthje (1971, 118 Anm. 1, 123, 124 Anm. 1, 134 Anm. 1; vgl. dazu Adamietz 1976a, 52 Anm. 52; Adamietz 1976b, 460; Schenk 1986, 10 Anm. 15 u. 30 Anm. 51) 3,617-622 als voriäufige

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tiver Unschuld objektiv schuldig. Ein Unterschied und eine Art Steigerung im Vergleich zur Situation auf Cyzicus liegen darin, daß Jasons Verhalten bei der Zurücklassung des Hercules nicht einfach durch äußere Umstände und göttliche Einwirkung ausgelöst wird, sondern er trotz des durch Götter und fata bereits festgelegten Geschehensablaufs einem quälenden Entscheidungsprozeß unterworfen wird (3,598-725), in dem er scheinbar selbständig aufgrund des Drängens der Gefährten den ihn bedrückenden Beschluß faßt. Schwieriger ist die Frage nach der Schuld in bezug auf die anderen Argonauten zu entscheiden. Denn einerseits macht Valerius Flaccus deutlich, daß der Haupträdelsführer Meleager ein Mensch mit negativem Charakter (3,645b-649a) und die Argonauten bei ihren Überlegungen und Argumenten von Überheblichkeit geprägt sind (3,628b-636). Andererseits fangen die Argonauten erst an, über die Abfahrt zu diskutieren, nachdem luno, die sie zur Abfahrt bewegen will, durch günstigen Wind die Voraussetzungen geschaffen hat (3,611-612), und fahren erst am siebten Tag dieser Windverhältnisse ab.^o Die Argonauten lassen Hercules also nicht leichtfertig zurück und verwirklichen mit ihrer Entscheidung eigentlich nur den Götterwillen, wenn sie es auch nicht wissen. Trotz der übergeordneten Bestimmung soll Meleager vielleicht aufgrund seiner Motivation und der rücksichtslosen und unbedingten Art, in der er seine Ziele durchsetzt, eine gewisse subjektive Schuld zugeschrieben werden;''! jedenfalls wird er später bestraft werden (vgl. 4,33b-34). Fassung bei der Inteφretation nicht (s. o. S. 87f. Anm. 160 zum Problem des Orakels). Dadurch läßt Lüthje lasons Konflikt einfacher und das Verhalten der Argonauten negativer erscheinen, da es sich gegen den Götterwillen richte. 70 Vgl. Happle 1957, 180; Adamietz 1970, 35. - Wegen der göttlichen Verursachung kann man den anderen Argonauten nicht wie Shelton (1971, 173 u. 178) uneingeschränkt vorwerfen, daß sie im Unterschied zu Hercules und Hylas die Bande der Freundschaft nicht berücksichtigten. 71 Vgl. Brooks 1951, 60-64, zu Meleagers Charakter. Vgl. Schenk 1986, passim, bes. 27-30; Korn 1989, 42 zu 4,33b-34, zu Meleagers Schuld, die zur Erklärung stoische Vorstellungen heranziehen und deshalb von einer relativ großen eigenen Verantwortung Meleagers ausgehen. Auch Lüthje (1971, bes. 135f.) kommt zu einer negativen Deutung von Meleagers Verhalten, da sich seine Einschätzung aus einer erwünschten Idealvorstellung von göttlichem Wirken, der Forderung nach konsequentem und logischem Handeln der Götter sowie der Nichtbeachtung des Unterschieds zwischen subjektiver und objektiver Beurteilung ergibt. Außerdem faßt Lüthje (1971, bes. 132, 135, 137; vgl. dazu Schenk 1986, 30 Anm. 51) den Ausdruck/afa trahunt (3,717) in einer auktorialen Beschreibung des Dichters als Bestandteil von Meleagers Vorgehen und einer von ihm suggerierten Meinung auf. Dagegen versteht Shey (1968, 98-104) Meleagers Rede und die von ihm vorgebrachten Argumente als zutreffend, positiv und moralisch hochwertig; es bestehe allerdings ein Widerspruch zu Meleagers Charakterisierung durch Valerius Flaccus. Eine solche Konstellation ist

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Eine subjektive Schuld kann jedoch höchstens bei Meleager in seiner Funktion als Veranlasser vorliegen. Auch die anderen Argonauten sind zwar nicht so schuldlos wie in der Cyzicus-Episode, da sie sich, von Meleager überredet, bewußt zur Abfahrt entschließen. Hinterher sind sie allerdings über Hercules' Verlust so betrübt, daß sie ständig an ihn denken (4,84) sowie durch ein Lied von ОфЬеиз über den schicksalsgegebenen Verlauf des Lebens und dessen unangenehme Aspekte getröstet werden müssen (4,85-89).^2 Djg Zurücklassung des Hercules ist also zwar von Meleager betrieben und daraufhin von den anderen Argonauten befürwortet worden, aber im Grunde gegen die Wünsche der Argonauten insgesamt nach göttlichem Willen geschehen. ОфЬеиз' Lied ist die einzige Erleichterung für die traurigen Argonauten, da ihnen wie in der CyzicusEpisode keine göttliche Hilfe zuteil wird, um die Situation zu bewältigen. Die schwierige Lage der Menschen, in der sie sich bei der Abfahrt von Mysien im Rahmen vorgegebener Schicksalsabläufe für oder gegen Hercules entscheiden müssen, besteht nur bei Valerius Flaccus. In Apollonios Rhodios' Version (AR 1,1273-1344) werden die Argonauten nicht mit einem Problem konfrontiert, da sie Herakles' Verlust erst nach der Abfahrt bemerken (AR 1 , 1 2 8 3 ) und bald danach durch eine Erscheinung von Glaukos (AR 1 , 1 3 1 0 - 1 3 2 8 ) erfahren, daß die Zurücklassung göttlicher Wille ist (AR 1 , 1 3 1 5 - 1 3 1 6 ) . Daher können sie sich wegen des kurzen Streits über die Abfahrt ohne Herakles (AR 1 , 1 2 8 4 - 1 3 0 1 ) aussöhnen (AR l,1329b-1344) und dann unbeschwert und sorglos weiterfahren (vgl. AR 1 , 1 3 2 0 b . 1329a).73

Wie sich hier deutUch zeigt, hat Valerius Flaccus jeweils den Handlungsablauf im Unterschied zu Apollonios Rhodios erst so gestaltet, daß die Frage nach der menschlichen Schuld bei von den Göttern veranlaßten Aktionen und den sich daraus für die Menschen ergebenden Konsequenzen überhaupt enthalten ist und teilweise sogar ausdrücklich thematisiert wird. Valerius Flaccus wollte also wohl die bedrückende Situation der Menschen, wie sie im letzten Teil der Cyzicus-Episode ausführlich geschildert wird, als zentrales Charakteristikum der Folgen der göttUchen Einwirkung auf die Menschen darstellen.

an sich unwahrscheinlich und läßt sich mit Inhalt und Stil von Meleagers Rede nicht vereinbaren. 72 Daß Orpheus' Lied eine Reinigung der Argonauten sei, da es die Unvermeidlichkeit von menschlicher Schuld zeige, wie Lüthje (1971, 140f.) meint, ist wenig plausibel. 73 Vgl. Koch 1955, 149; Shey 1968, 97; Lüthje 1971, 125; Barich 1982, 49; Korn 1989, 17 zu 4,1-81; Gärtner 1994, 119.

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Die Lage der Menschen, die sich für ihre ungewollten Taten verantwortlich fühlen, ist deshalb besonders bedrückend, weil sie von der göttlichen Verursachung nichts wissen. So können die Argonauten und die anderen Cyzicener zwar vermuten, daß das Geschehen auf Cyzicus von Göttern ausgelöst ist, erfahren es aber nie. Nur Cyzicus erhält im Tod die Möglichkeit, die Zusammenhänge zu erkennen (3,235-238). Das ist allerdings weniger ein spezielles Privileg als geradezu eine Hinterhältigkeit der Göttin, da sie ihm die Gründe für seinen Tod andeutet, als es bereits zu spät ist, irgend etwas zu ändern oder auszugleichen. Überhaupt erhalten die Menschen von den Göttern keine Kenntnis der göttlichen Pläne und damit des Geschehensablaufs in Gegenwart und Zukunft sowie von dessen Ursachen''4. Dabei handelt es sich in Valerius Flaccus' Sicht um ein charakteristisches Element der Beziehung zwischen Göttern und Menschen, wie dessen grundsätzliche Behandlung in der Phineus-Episode zeigt (4,423636). Das beschriebene Verhalten der Götter gegenüber den Menschen ist das Ergebnis der spezifischen Konzeption von deren Verhältnis zu diesen bei Valerius Flaccus. In prägnanter Zusammenfassung läßt sich dessen Eigenart aus Angaben über Phineus' Motivation für sein Verhalten als Seher (4,479-48la) und die Wirkung von Oφheus' Lied (4,85-89) entnehmen. Phineus gibt nämüch als Grund dafür, daß er im Unterschied zu den Göttern den Menschen Informationen über die Zukunft hat zukommen lassen, an, daß er sich des Menschengeschlechts erbarmt habe {miserans hominum genus, 4,481). Auf diese Weise wird die Haltung der Götter indirekt als gegensätzlich festgelegt. Aus der Willkür der Götter ergibt sich für die Menschen eine Situation, in der Oφheus' Lied nach der Zurücklassung des Hercules die Argonauten nicht nur speziell darüber, sondern, wie die Aufzählung der damit vertriebenen Kümmemisse zeigt (4,88b-89), als medicabile carmen (4,87) auch allgemein über die Unannehmlichkeiten des von den Göttern verhängten Schicksalsablaufs hinwegtrösten muß (4,86).75 Die Einstellung der Götter, die vor allem durch geringe Fürsorge für die Menschen gekennzeichnet ist, manifestiert sich konkret in der CyzicusEpisode und auch in anderen Episoden. Wie sich bei der Fahrt der Argonauten durch die Symplegaden (4,637-710) zeigt, helfen die Götter den

74 Vgl. Ehlers 1998, 149, 154, 156. - S. u. Kap. В II 5 (S. 214ff.) zur PhineusEpisode. 75 Vgl. Koch 1955, 152; Schönberger 1965, 131; Korn 1989, 74f. zu 4,86.

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В. Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Menschen selbst bei Aktionen, die diese im Rahmen von Ereignisabläufen, die von den Göttern gewünscht sind, durchführen, oft nicht von Anfang an oder gewähren ihnen klare Zeichen ihres Wohlwollens. Nur wenn die Menschen von sich aus deutlich eine wagemutige Tat in Angriff genommen haben, entschließen sich die Götter unter Umständen, sie zusätzlich zu unterstützen (vgl. 4,567-568a.652b. 5,659-661), da sie derartige Handlungen befürworten (vgl. 4,667-669). Bei den Symplegaden greifen die Götter in Apollonios Rhodios' Darstellung (AR 2,533-618) zwar auch erst aktiv helfend ein, als die Argonauten mitten in der Durchquerung sind (AR 2,598-599). Jedoch haben sie schon beim Aufbruch der Argonauten zu der Etappe ihre Aufmerksamkeit auf sie gerichtet und sich zu wohlwollender Unterstützung vorbereitet (AR 2,537-548). Dagegen fangen die Götter bei Valerius Flaccus erst an, sich um die Argonauten zu kümmern (4,670-674a.682b-684a), nachdem diese die Symplegaden erreicht haben sowie schon selbst tätig geworden sind (4,647-655) und die Götter ihren mühevollen Einsatz eine Zeitlang betrachtet haben (4,667-669).76 Diese Art der göttlichen Hilfe scheint von den Menschen erkannt zu sein, wie lasons ermunternde Rede an seine Gefährten nahelegt (4,649b653a). Jason fordert seine Leute nämlich nicht dazu auf, auf göttliche Unterstützung zu vertrauen, sondern weist darauf hin, daß ihnen bei ihrem mutigen Verhalten gegenüber Amycus ein Gott geholfen habe (4,651652), und stellt ihnen vor, daß das jetzt wieder der Fall sein werde (4,653a). Jason ermahnt seine Gefährten also zu eigenen Aktivitäten und intensiviert seine Ansprache durch das eigene Beispiel (4,653b-655a), weil er davon ausgeht, daß unter solchen Voraussetzungen göttliche Hilfe erwartet werden kann. Vergleichbar mit der Reaktion der Götter bei der Fahrt durch die Symplegaden ist das Verhalten von luno und Pallas während der Schlacht in Colchis (6,1-760). Obwohl Pallas sich von Anfang an mit ihrer Aegis auf dem Schachtfeld befindet (6,173-177), setzt sie sie nur zur Unterstützung der Argonauten ein (6,396-398a), als diese schon eine Zeitlang gekämpft haben und mit einem heftigen Angriff der Gegenpartei konfrontiert werden 76 Vgl. Wetzel 1957, 18f.; Shey 1968, 130; Lüthje 1971, 179; Shelton 1971, 246; Hershkowitz 1998, 47-49. - Weil Adamietz (1976a, 61) die Betrachtung der Aktionen der Argonauten durch die Götter als Zeichen von Gunst und Wohlwollen sowie lasons Aufmunterung der Gefährten als Gottvertrauen versteht, beurteilt er die göttliche Unterstützung bei der Fahrt durch die Symplegaden positiv. Lüthje (1971, 171-175, bes. 173) deutet das Verhältnis von menschlichen Aktivitäten und göttlicher Unterstützung in Entsprechung zu seiner Auffassung von lasons Charakter und dem Heldentum der Argonauten (s. u. S. 245 Anm. 38).

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(6,386-395). Offenbar sieht sie vorher nicht den richtigen Moment für einen Eingriff gegeben (vgl. 6,176b-177; bes. пес ... tempus adhuc, 6,176-177). Ebenso entscheidet sich auch lune erst zu diesem Zeitpunkt, Medea zu Hilfe für die Argonauten zu veranlassen (6,427^32), weil der Kampf zur Erlangung des Goldenen Vlieses nutzlos ist (vgl. 5,288b-291). In ihrer Rede an Mars (5,651-669) charakterisiert Pallas ihre Form des Beistands für die Argonauten audrücklich als Förderung von deren Unternehmungen (5,659-661). Eine derartige Unterstützung der Menschen durch die Götter ist spezifisch für Valerius Flaccus und deutlich abgesetzt von Apollonios Rhodios' G e s t a l t u n g . ^ 7 Auch wenn die Götter bei Apollonios Rhodios gelegentlich ebenfalls relativ spät richtig aktiv werden, erweist sich ein solches Verhalten nicht durch häufige Präsentation desselben Musters als charakteristisch. In Apollonios Rhodios' Epos gibt es auch Szenen, in denen Götter den Menschen erscheinen (vgl. z.B. AR 2,674-684a. 4,847-865.17061 7 1 0 ) , v o n sich aus deutliche Zeichen ihres Wohlwollens und ihrer Unterstützung geben (vgl. z.B. AR 1,721-724/768. 3,540b-554. 4,294b297; vgl. auch Pyth. 4,197-200a) oder durch tatkräftiges Eingreifen Hilfe und Erleichterung bei der Fahrt verschaffen (vgl. z.B. AR 2,865-866a. 4,640-644.753-769). Zum Beispiel schenkt Athene lason bereits beim Bau der Argo einen Mantel (AR 1,721-724/768), so daß er in Zuversicht und mit vollem Wissen der göttlichen Unterstützung die Fahrt in Angriff nehmen kann. Alle diese Partien, in denen das direkte helfende Eingreifen der Götter in einer deutlich erkennbaren und unzweideutige Sicherheit verleihenden Aktion vor sich geht und damit zu einem positiven Ergebnis für die Menschen führt, läßt Valerius Flaccus weg. Er übernimmt nur eine

77 Frankel (1968, bes. 172-174 zu AR 2,(324-)345, 196f. zu AR 2,533-38, 359f. zu AR 3,545-51; ähnlich Feeney 1991, 73-75) nimmt für Apollonios Rhodios eine vergleichbare Beziehung zwischen den Taten der Menschen und der Unterstützung durch die Götter an. 78 Vgl. Wagner 1939, 134; Shreeves 1978, 16. Die Götter treten zwar nicht in nähere Beziehung zu den Menschen (vgl. Feeney 1991, 75-77, der die Erscheinungen deshalb insgesamt negativ deutet), jedoch gibt es im Unterschied zu Valerius Flaccus immerhin Szenen, in denen sie sich den Menschen zeigen und ihnen so Zuversicht verleihen. - Eine Ausnahme bildet bei Valerius Flaccus die Einweihung der Argonauten in die Mysterien auf Samothrake (2,431-442a). Der Vorgang, der nur angedeutet wird, ist aber wohl nicht entscheidend für Valerius Flaccus' Götterbild, sondern durch die besondere Bedeutung der Argofahrt in seinem Epos bedingt, da die samothrakischen Götter für die Seefahrt eine wichtige Rolle spielen (vgl. bes. Shelton 1974b, 291-293, zu der Episode, allerdings mit weitgehender symbolischer Deutung; vgl. dazu Poortvliet 1991, 232 zu 2,428-44).

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

mögliche Form des Verhältnisses zwischen menschHchem Einsatz und göttlicher Hife, die seinen Grundüberzeugungen und Darstellungsabsichten entspricht und bei Apollonios Rhodios ansatzweise vorgebildet ist, gestaltet sie aus und macht sie zur allein existierenden charakteristischen Beziehung. Valerius Flaccus' Göttern liegt also nicht an konsequenter wohlwollender Hilfe und beständigem Schutz für die Menschen. Nicht etwa weil sie sich mit den Belangen der Menschen identifizierten, sondern aufgrund eigener Interessen führen sie vereinzelte Hilfsaktionen durch, die aufmunternde Wirkung für die Menschen haben.^^ Ein solches Vorgehen zeigt sich vor allem bei luno und Pallas, die aus persönlichen Gründen^o die Argofahrt grundsätzlich befürworten und sich deshalb gelegentlich tatkräftig zur Unterstützung der Argonauten einsetzen. So hilft Pallas beim Bau der Argo (vgl. l,92b-95), unterweist und unterstützt den Steuermann Tiphys (vgl. 2,49b-50), greift bei der Durchquerung der Symplegaden ein (vgl. 4,670-673a.682b-684a) und begleitet die Fahrt (vgl. 5,182b-183). luno bringt eine Mannschaft für die Argo zusammen (vgl. 1,96-99), greift ebenfalls bei der Durchquerung der Symplegaden ein (vgl. 4,682b684a), begleitet die Argofahrt (vgl. 5,182b-183) und wird in Colchis aktiv, indem sie lason zu seinem Schutz in eine Wolke hüllt (vgl. 5,400—401) oder den Glanz seiner Erscheinung und seine Kräfte steigert (vgl. 5,363b365. 6,602b-603). lunos Eingreifen in Colchis geschieht jedoch nicht direkt zu lasons Erleichterung, sondern ist Bestandteil ihres Plans, in Medea Liebe zu erregen. Denn nach ihrem für das Ziel der Argofahrt nutzlosen Beschluß, die Argonauten in den Kampf in Colchis auf Aeetes' Seite eintreten zu lassen (vgl. 5,286b-291), ist ein solches Vorgehen die einzige Möglichkeit, Jason zum Goldenen Vlies zu verhelfen. lunos Handlungsweise macht besonders deutlich, daß das Wirken der Götter ausschließlich durch persönliche Absichten bedingt ist und keine spontane und uneigennützige Hilfe für Menschen in Bedrängnis darstellt. 79 Vgl. Ferenczi 1996, 42f.; vgl. auch Fucecchi 1996, 156f. Anm. 112; Fucecchi 1997, 33f. Anm. 63. 80 Bei luno handelt es sich um lasons Bitte (l,81-87a) und frühere Verdienste lasons um sie (vgl. l,81b-86; vgl. Wagner 1805, 14 zu 1,79-90; Langen 1896/97, 31 zu 1,87; Brooks 1951, 74; Wetzel 1957, 7 mit Anm. 1; Garson 1964, 278; Schönberger 1965, 129; Adamietz 1976a, 7; Poortvliet 1991, 26 zu 2,2f.; Schubert 1991, 126; Schenk 1998, 234; vgl. auch die Begründung für Heras Einstellung zu lason bei Apollonios Rhodios, AR 3,66-74a), bei Pallas um ihre besondere Beziehung zur Argo, bei deren Bau sie nach lasons Bitte (l,87b-88a) aus nicht genau angegebenen Gründen mitwirkt (l,92b-95; vgl. auch 4,542b-543a. 5,206a.294b.504b.628. 8 , 2 0 2 203.292a; vgl. Langen 1896/97, 31 zu 1,88; Schönberger 1965, 126; Schubert 1991, 126).

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Aus den vereinzelten Hilfsaktionen der Götter, deren Motivation die Menschen natürlich nicht kennen, können sie lediglich entnehmen, daß die Götter grundsätzlich auf ihrer Seite stehen und sie im Prinzip unterstützen (vgl. z.B. 4,542b-543.554-555). Da aber keine kontinuierliche göttliche Hilfe erkennbar ist, bleiben die Argonauten im Zweifel hinsichtlich der Verläßlichkeit der göttlichen Zuwendung und schöpfen kein festes Vertrauen in Hinblick auf zukünftige Bedrängnisse. Die Einstellung der Menschen kommt deutlich in der Formulierung von lasons Bitte um eine Weissagung von Phineus (4,538-546) zum Ausdruck: Obwohl lason feststellt, daß Pallas und luno ihm bereits bei Beginn der Argofahrt durch den Bau des Schiffs bzw. das Aufstellen der Mannschaft geholfen (4,542b-543) und wohl auch weiterhin unterstützt haben (4,540), ist er trotzdem unsicher, ob man der göttlichen Fürsorge sicher vertrauen kann {siqua fides curae superum, 4,541), und wünscht sich unter anderem deshalb von Phineus Hinweise auf die Zukunft. Trotz der so gearteten Beziehung glauben die Menschen bei Valerius Flaccus wie bei Apollonios Rhodios an die Existenz von Göttern, die auf ihr Leben einwirken, und bemühen sich deshalb um korrektes Verhalten ihnen gegenüber, indem sie die Verpflichtungen und Rituale der Götterverehrung erfüllen. Die Argonauten beten in verschiedenen Situationen jeweils zu den entsprechenden Göttern, meist mit der Bitte um Wohlwollen und Unterstützung, bringen ihnen Opfer dar und lassen andere Menschen Opfer an ihre Götter vollziehen. Femer gehen sie von einem bestimmenden Einfluß der Götter auf ihr Schicksal sowie einer gewissen Lenkung der Ereignisse durch diese aus und folgen daher sogar unklaren göttlichen Zeichen.81 Eine solche Darstellung von Verhalten und Gefühlen der Menschen in Zusammenhang mit der Charakterisierung der Götter in Götterszenen und der dargelegten Art ihres Einwirkens auf die Menschen läßt vermuten, daß die Menschen zwar an Götter glauben wollen, sich richtiges Vertrauen

81 Vgl. als Beispiele für das Verhalten der Menschen gegenüber Göttern 1,81-90.188-204.659-680. 2,329-331. 4,674b-675a.704b-705a.761-762. 5,37b38. 7,28b-29. Vgl. Schönberger 1965, 129f.; Burck 1978, 14. - Bei einer derartigen Einstellung der Menschen kann man wohl die Tatsache, daß die Argonauten sich ihrer Rolle in luppiters >Weltenplan< (1,531-560), den sie ja nicht kennen, nicht bewußt sind und oft Zweifel an der Unterstützung durch die Götter zeigen, nicht wie Lüthje (1971, 178 u. bes. 370) und Wacht (1991b, bes. 118f.; vgl. 115-118, zu lasons Verhältnis zu den Göttern) in dem Sinne negativ für die Menschen deuten, daß sie in ihrem Gottvertrauen nicht an den pius Aeneas heranreichten.

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В- Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

aber wegen deren Willkür nicht einstellen kann.^^ Denn gewissenhafte Verehrung der Götter führt für die Menschen bei Valerius Raccus nur selten zu einem unmittelbaren positiven Ergebnis oder konkret spürbarer Hilfe, da die Götter sich in ihrem Handeln mehr nach den eigenen persönlichen Absichten als nach den Bedürfnissen der Menschen richten. Deswegen sind die Menschen bei Valerius Flaccus ohne weiteres bereit, unerklärliches Unglück wie den Kampf zwischen Gastfreunden auf Cyzicus auf göttliche Einwirkung zurückzuführen.

5. Vorausdeutungen Als lason in der Cyzicus-Episode über Cyzicus' unvorhergesehenen Tod tief betrübt ist, erhebt er in seiner Klagerede Vorwürfe gegen die Seher (3,299-303a), da sie ihm viele furchtbare Ereignisse, aber nicht Cyzicus' Tod vorausgesagt hätten. Die Kritik erscheint zunächst als momentaner Ausbruch aufgrund von lasons großer Trauer und ohne tiefere Bedeutung. Eine Betrachtung weiterer Stellen im Gesamtwerk zeigt jedoch, daß die darin enthaltene Charakterisierung von Weissagungen deren zentrale Merkmale bei Valerius Flaccus zusammenfaßt. Denn auch sonst vermitteln Prophezeiungen wegen ihrer Unvollständigkeit den Menschen kein Wissen über das gesamte kommende Geschehen und erzeugen die Ereignisse, die genannt werden, eine beängstigende Atmosphäre für die Zukunft. Besonders deutlich werden die Beschaffenheit von Weissagungen bei Valerius Flaccus und die Situation, die sich daraus für die Menschen ergibt, in der Phineus-Episode (4,423-636).83 Dort wird der Komplex nämlich umfassend in einer Weise behandelt, die der grundsätzlichen Erörterung der Frage nach der Schuld der Menschen und den Möglichkeiten zur Befreiung davon in der Cyzicus-Episode durch den Zustand der Argonauten (3,362-371) und Mopsus' Rede (3,377^16) ähnelt. Denn in der Phineus-Episode wird die von den Göttern gewünschte Art von Prophezeiungen durch den Bericht über Phineus' Schicksal (4,477b-482) exemplarisch und allgemein vorgestellt. Gleichzeitig wird die resultierende Lage 82 Dagegen sieht Feeney (1991, bes. 315-317 u. 335-337; ähnlich Barich 1982, 37-45 u. 123-134) die Charakterisierung der Götter bei Valerius Flaccus und das Verhältnis der Menschen zu ihnen als positiv und harmonisch sowie das Wissen des Dichters über sie als relativ umfassend an. 83 Vgl. Lesueur 1978, 41-58, zur Phineus-Episode, bes. hinsichtlich des Verhältnisses zu Vorbildern; vgl. Brooks 1951, 64-66, zu Phineus' Charakter.

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der Menschen durch Phineus' Reaktion auf die Vertreibung der Harpyien (4,585b-586.633b-634a) als Erfüllung des luppiter-Orakels (4,581-584) und den Inhalt seiner Prophezeiung an die Argonauten (4,553-625) konkret gezeigt. Phineus wird mit der Haφyien-Plage von luppiter dafür bestraft, daß er aus Mitleid mit dem Menschengeschlecht luppiters Absichten den Menschen verkündet hat (4,477b-482.559-560a). Gegenüber lason darf er nur ausnahmsweise (4,559-560) und in einem begrenzten Rahmen (4,623b-625) die Zukunft voraussagen. luppiters Vorgehen zeigt, daß er verhindern möchte, daß die Menschen durch Weissagungen die göttlichen Pläne erfahren und damit umfassende Informationen über die Zukunft erhalten. Ebenso wie luppiter den anderen Göttern seine Ziele nur gelegentUch nach besonderer Aufforderung mitteilt, ist es seine ausdrückhche Absicht, sie auch vor den Menschen zu verheimhchen, damit er in alleiniger Machtvollkommenheit (solus, 4,479) darüber entscheiden kann und die Ereignisse die Menschen plötzlich (subito, 4,480) überfallen.^^ Dagegen enthält Apollonios Rhodios' Zeus den Menschen das Wissen nicht zu deren Schaden und aus egoistischen Motiven vor. Sondern er verwahrt sich lediglich gegen vollständige Vermittlung der göttlichen Pläne durch Seher an die Menschen, damit diese auch der göttlichen Vernunft bedürfen (AR 2,313-316). Die fehlende Kenntnis der Menschen wird also offenbar durch göttliche Lenkung ausgeglichen. Die Folgen, die das unklare Wissen der Menschen über die Zukunft in Zusammenhang mit der fehlenden götüichen Unterstützung bei Valerius Flaccus hat, zeigen sich bereits an Phineus' eigenem Schicksal. In Apollonios Rhodios' Version sind diejenigen, die Phineus von den Harpyien befreien werden, durch ein Orakel als die Boreas-Söhne identifiziert (AR 2,234-235a), und die Sicherheit, daß die göttlich angekündigten Retter erschienen sind und daher die Vertreibung der Harpyien endgültig sein wird, bleibt durch die gesamte Episode hindurch bestehen (vgl. AR 2,288-294. 430-436a). Dagegen weiß Phineus bei Valerius Flaccus zwar auch irgendwie, daß die Boreas-Söhne als Retter schicksalhaft vorherbestimmt sind (4,431b432.462), so daß er sich bei der Ankunft der Argonauten über certa ... ops (4,433^34) freut. Die Angabe über die Boreas-Söhne ist aber vermutlich hauptsächlich aufgrund der Vorgaben der mythischen Tradition eingefügt. Denn sie ist relativ unbestimmt und dient zur Festlegung der Argonauten, die aktiv gegen die Harpyien vorgehen, ist aber für den weiteren Verlauf 84

Vgl. Ferenczi 1996, 46.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

der Episode und vor allem für Phineus' Einstellung zur Vertreibung der Haφyien nicht zentral. Denn bei der Zuversicht zu Beginn bleibt es nicht; Phineus wird zunehmend unsicherer (vgl. 4,460-461.577-586.633b634a), ob die Rettung tatsächlich Wirkhchkeit ist.^^ Phineus erinnert sich nämüch an eine Prophezeiung luppiters, die dieser ihm bei der Verhängung der Strafe gegeben hat (4,577-580) und die deren Ende von der Fahrt eines Schiffs durch die Symplegaden abhängig macht (4,581-584).86 Diese Ankündigung ist in Phineus' eigener Prophezeiung (4,553-625) und für sein Verhältnis zur Befreiung von den Harpyien dominierend. Das luppiter-Orakel und die Schlüsse der Menschen daraus, die Valerius Flaccus zusätzlich einführt, sind daher wohl für Aussage und Stimmung der Episode in seiner Version entscheidend. Wegen der unklaren konditionalen Verbindung von Befreiung und Fahrt durch die Symplegaden kann sich infolge des luppiter-Orakels weder bei den Argonauten noch bei Phineus Zuversicht einstellen, sondern es entsteht eine unsichere Atmosphäre. Sie wird dadurch verstärkt, daß das Orakel in Hinblick auf die tatsächliche Reihenfolge der Ereignisse verkehrt herum formuliert ist. Das hegt wohl daran, daß es ursprünglich an Phineus und nicht an die Argonauten ergangen ist und diesem seine Befreiung im Sinne eines Adynatons möglichst unwahrscheinlich erscheinen lassen sollte. Jedenfalls hat die Form zur Folge, daß anhand der Vertreibung der Harpyien keine bestimmten Aussagen über den Erfolg der Fahrt durch die Symplegaden gemacht werden können, da das Orakel bei strenger Auslegung keine Umkehrschlüsse zuläßt. Außerdem wissen Phineus und die Argonauten nicht mit absoluter Sicherheit, ob die Harpyien wirklich vertrieben sind. Zwar scheint die Rede des Vaters der Нафу1еп an die Boreas-Söhne (4,519-526) einen solchen Zustand zu suggerieren. Aber einerseits wird im Unterschied zu Apollonios Rhodios (vgl. AR 2,430-436a) nie gesagt, ob die Boreas-Söhne die Information an die anderen Argonauten weitergeben. Andererseits und ent85 Ähnlich ist Hesione unsicher (2,485-490a), ob mit Hercules der durch Götterzeichen angekündigte Retter (2,485^86) wirklich erschienen ist (vgl. Smith 1987, 209 zu 2,485). Ihre Zweifel spielen jedoch keine so tragende Rolle wie bei Phineus und kommen lediglich durch einen Ji-Satz (2,485-488) in ihrer Rede an Hercules (2,471-492) zum Ausdruck. Wohl deshalb spricht Burck (1976, 528 u. 534) davon, daß Hesione darauf vertraue, daß Hercules der verheißene Retter sei. 86 Lüthjes (1971, 168) Annahme aufgrund des luppiter-Orakels, daß die Vertreibung der Нафу1еп erst den Beginn von Phineus' Erlösung darstelle, läßt sich aus dem Text nicht belegen. Insgesamt scheint Lüthjes (1971, 160-171) Deutung der Phineus-Episode, daß sie hauptsächlich die spezifische Art des Heldentums der Argonauten in Gegensatz zu dem von Hercules charakteriseren und luppiters gerechtes Wirken vor Augen führen solle, etwas einseitig.

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scheidender ist das Versprechen über den Rückzug der Harpyien (4,522523) mit einer allgemeinen Drohung, daß die Präsenz der Harpyien aufgrund von Götterzom ständig möglich ist (4,524-526), verbunden, so daß sich kein solches Vertrauen einstellen kann wie nach dem göttlichen Eid bei Apollonios Rhodios ( A R 2,288-294). Phineus' Unsicherheit über die Vertreibung der Harpyien auf der Basis des luppiter-Orakels ist femer aufschlußreich für die Beziehung zwischen Göttern und Menschen. Phineus hat aufgrund seiner Erfahrungen mit der Vorgehensweise der Götter keinen festen Glauben an deren Fürsorge und kann sich nicht vorstellen, daß sie ihm wirklich eine solche Wohltat gewähren. Unter diesen Voraussetzungen gibt es für Phineus auch nach der Befreiung von den Harpyien keine Sicherheit, daß dieser Zustand von Dauer sein wird (vgl. 4,633b-634a), bevor die Argonauten nicht durch die Symplegaden gefahren sind. Nach luppiters Orakel und der Entfernung der Haφyien ist ihm nur der Schluß möglich, daß entweder die Fahrt durch die Symplegaden gelingen oder die Harpyien zurückkehren

werden

(4,585b-586). Ein ähnlicher Zustand, daß eine Weissagung Unklarheiten nicht beendet, ergibt sich für die Argonauten aus Phineus' Prophezeiung (4,553625). Denn aufgrund von luppiters Worten weiß Phineus nicht mit Bestimmtheit, ob das gerade die Argo sein wird, wenn jemals ein Schiff durch die Symplegaden fährt. Deshalb kann er den Argonauten keinen Erfolg verheißen und verknüpft entsprechend seine Voraussagen über deren weiteres Schicksal mit der Bedingung, daß sie bei der Fahrt durch die Symplegaden erfolgreich sind (4,587-588). So können die Argonauten trotz Phineus' Prophezeiung (4,553-625) und des darin zitierten luppiterOrakels (4,581-584) nicht zuversichtlich sein, daß sie die Symplegaden überwinden werden. Auch bei Apollonios Rhodios hat Phineus kein sicheres Wissen von den Göttern darüber, ob den Argonauten die Fahrt durch die Symplegaden gelingt. Sie ist in dieser Version jedoch nicht mit der Vertreibung der Harpyien verknüpft, so daß nicht von daher grundsätzliche Zweifel bestehen. Deshalb mahnt Phineus die Argonauten lediglich, sich nach dem Götterwillen zu richten und mit einer Taube zu prüfen, ob eine Durchquerung für sie möglich sein wird (AR 2,324-329a). Er warnt sie zwar davor, die Fahrt zu wagen, wenn der Test nicht zu einem positiven Ergebnis führt (AR 2,337-339). Aus den Formulierungen im weiteren Verlauf seiner Prophezeiung ( A R 2,345b-346), lasons Reaktion ( A R 2,412b-415) und Phineus' Antworten auf weitere Nachfragen ( A R 2,420b-421a) ist aber zu entnehmen, daß er und so auch die Argonauten von einer erfolgreichen

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Durchquerung ausgehen.^^ Auf diese Weise entsteht für die Fortsetzung der Fahrt eine relativ zuversichtliche Stimmung. Bei Valerius Flaccus erfahren die Argonauten im vorhinein nicht eindeutig, ob ihnen die Fahrt durch die Symplegaden gelingen wird. Deshalb haben sie nach Phineus' Prophezeiung weiter Angst davor (4,637-640). Wegen der grundsätzlichen Problematik des luppiter-Orakels und dessen unklarer Formulierungen wissen die Argonauten auch nicht, daß die Symplegaden nach der Durchquerung durch sie für immer feststehen werden (vgl. 4,708-710. 8,195-196). Da ihnen kein anderer Rückweg geweissagt ist (vgl. AR 2,421b-422a), können sie nicht aufhören, sich vor der Rückfahrt zu fürchten (vgl. 4,707-710. 8,180-183a.l91b-196).88 Unter der Voraussetzung, daß den Argonauten die Fahrt durch die Symplegaden gelingt, schildert Phineus in seiner Prophezeiung (4,553-625), sofern ihm das möglich ist (vgl. 4,623b-625), was die Argonauten danach erwartet. Auch dieses Geschehen kann für sich genommen keine Zuversicht wecken, da es hauptsächlich aus negativen Erlebnissen besteht und

87 Vgl. aber Fränkel 1968, 172 zu AR 2,(324-)345, für eine skeptischere Haltung. Feeney (1991, 315f., mit poetologischer Deutung) nimmt sogar an, daß Phineus' Prophezeiung bei Valerius Flaccus mehr Sicherheit verleihe als die bei Apollonios Rhodios. 88 Vgl. Brooks 1951, 65f. mit Anm. 70; Adamietz 1976a, 6If. mit Anm. 70; Burck 1979, 224f. mit Anm. 52; Barich 1982, 100; Otte 1992, 152. - Da die Argonauten bei Valerius Flaccus eben nicht wissen, daß die Symplegaden nach der ersten Durchquerung für immer feststehen werden, kann man Valerius Raccus nicht dahingehend Inkonsequenz vorwerfen, daß er sie dieses Wissen bei ihrer späteren Furcht wegen der Rückfahrt habe vergessen lassen (so Garson 1965, 118f.; vgl. dazu Adamietz 1976a, 62 Anm. 69), oder Jason selber Vergeßlichkeit zum Vorwurf machen (so Shey 1968, 237). Auch darin, daß Hercules beim Aufbruch von Lemnos seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, die Symplegaden zum Stillstand zu bringen (2,381b-382a), sollte man nicht wie Langen (1896/97, 172 zu 2,381) und Smith (1987, 167 zu 2,381) eine Unstimmigkeit sehen. Denn es wird nicht von einem sicheren Wissen bei Hercules gesprochen, daß die Symplegaden nach der Durchquerung durch die Argonauten für immer feststehen werden. Im Gesamtzusammenhang von Hercules' Rede (2,375-384a) bezieht sich seine Aussage lediglich darauf, daß er den Felsen während der einen Durchfahrt der Argonauten Einhalt gebieten will, und bringt damit seinen Tatendrang und sein Vertrauen in seine КофегкгаЛ zum Ausdruck (vgl. Adamietz 1976a, 62; Poortvliet 1991, 213 zu 2,381f.). - Daß Valerius Flaccus den Argonauten keine Gewißheit zuteil werden läßt, ist wohl nicht nur dadurch begründet, daß er sie auf diese Weise mutiger bei der Bezwingung der Symplegaden zeigen will (so Langen 1896/97, 323 zu 4,569). Und daß lason sich bei Valerius Flaccus hinsichtlich der Rückfahrt wegen der Symplegaden fürchtet (anders Lüthje 1971, 340 u. 346), weil ihm von Phineus kein Rückweg auf einer anderen Route geweissagt worden ist, liegt nicht nur daran, daß Valerius Flaccus die Motivation für die Wahl der Rückfahrt bei Apollonios Rhodios nicht geeignet schien (so Adamietz 1976a, 62). Die Einführung beider Aspekte ist ebenso durch die Absicht bedingt, auch an diesem Beispiel die allgemeine Situation der Menschen zu zeigen.

II. Götterbild

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die wenigen positiven als unsicher hingestellt werden. Phineus selbst charakterisiert die von ihm vorausgesagten Situationen als discrimina (4,619), da es sich hauptsächlich um kommende Mißgeschicke, Mühen und Gefahren handelt, für die es keine Abhilfe zu geben scheint bzw. über deren erfolgreiche Überwindung nichts ausgesagt wird. Schließlich verspricht Phineus den Argonauten zwar, daß sie nach Colchis gelangen werden (4,616). Daß sie das eigentliche (vordergründige) Ziel ihrer Fahrt, den Erwerb des Goldenen Vlieses, erreichen werden, sagt er nur in einem mit fors (4,620) eingeschränkten Satz.89 Wegen der Unvollständigkeit und des bedrückenden Charakters der genannten Ereignisse verschafft Phineus' Prophezeiung den Argonauten kein klares Wissen über die Zukunft, sondern führt zu Unsicherheit und Furcht. Da die Menschen die göttlichen Pläne nicht erfahren sollen, werden ihnen kaum direkte und konkrete Weissagungen über ihr weiteres Schicksal zuteil. Die, die sie erhalten, sind meist unklar, nennen nur furchtbare Ereignisse und vermitteln keine spezifischen Aufforderungen für das zukünftige Verhalten.90 Die deutlichsten Weissagungen an die Menschen sind die von Sehern (Mopsus, Idmon, Phineus) und Gestalten mit göttlichem Status (Helle, Argo) .91 Femer gewinnen die Menschen Einblick in die Zukunft durch Träume (vgl. z.B. 5,333-340) oder bildliche Darstellungen (vgl. z.B. 5,407b^55).92 In diesen Fällen sind die Vorausverweise allerdings meist so unbestimmt und anspielungsreich, daß die Menschen sie nicht verstehen. Die Vorausdeutungen beziehen sich auf Ereignisse, die den Gestalten des Epos, besonders den Protagonisten lason und Medea, bevorstehen und größtenteils im weiteren Verlauf des Epos noch stattfinden. Bei lason 89 Vgl. Wagner 1805, 142 zu 4,620ff.; Shelton 1971, 240. - Vgl. als Beispiele für zukünftige furchtbare Ereignisse in Phineus' Prophezeiung 4,591b-592a.598. 606-609.613-614b. 617-619a. 90 Vgl. Ehlers 1998, 149. 91 Vgl. z.B. l,211-226.234b-238a.302b-307. 2,592-607. 4,553-625. 5,210213a. 8,247-251.397-399. 92 Vgl. Gärtner 1994, bes. 255-261, zur symbolischen und vorausdeutenden Funktion bestimmter Formelemente. Vgl. Perutelli 1994, 33-50, zu Medeas Träumen; Gärtner 1996, 292-305; Walde 1998, 87-106, zu verschiedenen Aspekten von Träumen bei Valerius Flaccus. Vgl. Fuhrer 1998, 11-26; Hershkowitz 1998, 14-32, zu allen Arten von Ankündigungen zukünftigen Geschehens mehr formal aus narratologischer und intertextueller Perspektive. - Da die Menschen überhaupt nur wenige Götterzeichen mit konkreten Angaben erhalten, nach denen sie sich richten könnten, kann man wohl die Nichtbeachtung von Götterzeichen, die in Gegensatz zur Aufmerksamkeit des pius Aeneas stehe, nicht wie Burck (1981, 459) als charakteristischen Zug des Epos bezeichnen.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

und Medea werden auch Entwicklungen genannt, die in Valerius Flaccus' Epos nicht mehr enthalten sind.^^ Da der Schluß nicht vorliegt, ist jeweils nicht eindeutig zu entscheiden, ob sie noch in den Rahmen des Epos gehören oder die Zeit unmittelbar nach dessen Ende betreffen. In jedem Fall haben die Ereignisse einen engen Bezug zur geschilderten Handlung, da sie sie direkt fortsetzen. Daher stehen Voraussagen dieses Geschehens mit denen, die sich auf das Epos selbst beziehen, auf einer Ebene. In den Vorausdeutungen werden in der Regel nicht alle zukünftigen Ereignisse, die im jeweiligen Zusammenhang relevant sein könnten, genannt, sondern nur einzelne herausgegriffen, die entweder als ganze negativ sind oder bei denen nur negative Aspekte erwähnt werden. Die grauenerregende Wirkung kann durch die Unwissenheit der Menschen, was genau gemeint ist, verstärkt werden. Daher lösen solche Aufzählungen bevorstehender furchtbarer Situationen Angst und Schrecken hinsichtlich der Weissagungen sowie der Zukunft aus, wie die Reaktionen der Menschen deutlich machen (vgl. z.B. l,210a/227-228a. 5,329/341a.451b^54). Zusätzlich zu den Prophezeiungen, in denen Gestalten des Epos Ausschnitte aus dem von den Göttern bestimmten zukünftigen Geschehen erfahren, werden Hinweise auf die Zukunft für den Leser in auktorialen Bemerkungen des Dichters und umfassenden Äußerungen von Göttern gegeben, die spätere Geschehnisse im Verlauf des Epos ankündigen oder Ausblick auf Entwicklungen außerhalb von dessen Erzählrahmen bieten.^'^ So wird in der Cyzicus-Episode, als Cyzicus voller Eifer in den Kampf stürmt (3,58-73), vom Dichter darauf hingewiesen, daß dieser aufgrund schicksalhafter Vorherbestinmiung sein letzter sein werde (3,64). Und gerade als Hylas seine ersten Kampferfolge erzielt (3,182-185), wird sein späteres tragisches Geschick vorweggenommen (3,183b-184). Plazierung und Atmosphäre dieser auktorialen Einschübe erweisen sich als typisch für Valerius Flaccus' Verwendungsweise. 93 Indem die über den Rahmen des Epos hinausgehenden Vorausdeutungen besonders das Schicksal der Protagonisten betreffen, besteht ein Unterschied zu Vergils Aeneis (vgl. Fuhrer 1998, 24f.). Gleichzeitig ist die umfassende Bedeutung der Ereignisse für die Zukunft bei Valerius Flaccus ebenso bestimmend, wenn sie auch nur im >Weltenplan< (1,531-560) in einer Weissagung explizit gemacht wird. Auf beiden Ebenen wird, was das Schicksal der betroffenen Menschen angeht, eine eher pessimistische Perspektive eröffnet. 94 Vgl. als Beispiele für die Zukunft andeutende auktoriale Bemerkungen 1,360-361. 370b-372a. 3 7 2 b - 3 7 3 . 381b-382. 3 9 1 - 3 9 3 . 4 4 1 - 4 4 3 . 4 5 1 - 4 5 2 a . 4 5 7 460a. 699b. 2,571b-573. 5,349b. 458. 6 , 4 5 - 4 7 . 3 1 7 - 3 2 1 . 6 4 2 - 6 4 3 . 7,509-510. 8,16-19. 236b; vgl. als Beispiele für vorausdeutende Äußerungen von Göttern 1,531-560, 4,4-14. 5,286b-291.673-689. 6,497-502.

п . Götterbild

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Valerius Flaccus benutzt nämlich solche Bemerkungen generell dazu, in eigentlich neutralen oder positiven Zusammenhängen, wie bei der erstmaligen Erwähnung von Personen im Katalog der Helden oder bei der Beschreibung von herausragenden Leistungen im Kampf, auf den baldigen Tod oder ein anderes Unglück, das sie selbst und ihre Familie betreffen oder sie anderen zufügen werden, hinzuweisen. So führen diese Vorausdeutungen für den Leser zu einer pessimistischen Stimmung, da er von einer höheren Warte aus (frühzeitig) erkennt, daß die geschilderten Situationen unweigerlich zu einem negativen Ergebnis führen. Eine besondere Form von Zukunftsdeutung für den Leser ist luppiters >Weltenplan< (1,531-560), in dem die gesamte Eposhandlung in den großräumigen Ablauf des Weltgeschehens eingeordnet wird. Dazu werden im Unterschied zu den anderen Voraussagen nicht nur Beziehungen zur Zukunft, sondern auch zur Vergangenheit hergestellt.^^ Dadurch erhält der >Weltenplan< weitreichende Bedeutung und schafft durch seine zentrale Stellung relativ zu Beginn des Epos den Hintergrund für die geschilderte Handlung. Wegen dieser Sonderstellung kann es keine vergleichbaren Prophezeiungen geben. Die anderen vorausdeutenden Äußerungen von Göttern betreffen nur einzelne Aspekte des unmittelbar folgenden Geschehens. Jedoch hält Valerius Flaccus mit seiner Gestaltung des Ereignisablaufs durch häufige Bezugnahme das Bewußtsein der Relevanz des >Weltenplans< für das gesamte Epos beim Leser wach. So wird der Kampf auf Cyzicus durch die Art der Darstellung mit der Argofahrt und den von luppiter gewünschten Folgen in Beziehung gesetzt. Von der Form her schließt sich der >Weltenplan< mit den anderen Vorausdeutungen zusammen, da in ihm ebenfalls nur negative Aspekte wie Krieg und Unsicherheit der Machtstellung in den Blick genommen und nicht alle zukünftigen Entwicklungen klar vorgezeichnet werden.

95 In prophetischer und künstlerischer Art erscheinen Abschnitte der Vergangenheit in ОфЬеиз' Lied über Phrixus' Schicksal (1,277-293) und einem Teil der Bilder am Tempel in Colchis, die den Ursprung des colchischen Volks zeigen (5,416b-432). In beiden Fällen handelt es sich nicht um umfassende geschichtliche Rückblicke, sondern um Darstellungen der direkten und für die Ereignisse des Epos wichtigen Vorgeschichte, die ebenso wie die Vorausdeutungen auf die unmittelbare Zukunft der Gestalten des Epos einen engen Bezug zur konkret beschriebenen Handlung haben. Auf diese Weise wird der im Erzählrahmen des Epos geschilderte Geschehensausschnitt kleinräumig nach vome und nach hinten erweitert; der >Weltenplan< verleiht ihm eine großräumige Einordnung in beide Richtungen.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Die beiden Ebenen von Vorausdeutungen für die Gestalten des Epos und für den Leser sind nicht immer klar getrennt, sondern überschneiden sich auch. Das ist bei solchen Voraussagen der Fall, die zwar die Menschen des Epos erhalten, die sie aber aufgrund von deren Unklarheit und Anspielungsreichtum nicht vollkommen verstehen, sondern nur der Leser anhand seiner Kenntnis des Mythos oder einer größeren Informationsfülle. Ein solcher Unterschied im Verständnis und damit in der Wirkung zeigt sich zum Beispiel bei den Bildern am Tempel in Colchis (5,407b-455) und bei den Prophezeiungen der Seher Mopsus (1,211-226) und Idmon (1,234b238a) vor der Abfahrt von Iolcos.96 In seiner Weissagung (1,211-226) erwähnt Mopsus jeweils ausschließlich negative Elemente jedes von ihm berührten Ereigniskomplexes (vgl. l,217b-218a) und formuliert seine Ankündigungen außerdem in Form von Fragen. Unter anderem spricht Mopsus davon, daß Pollux Verwundungen empfangen werde (1,220b). Mit dieser traurigen Einzelheit, die später kaum von Bedeutung ist (vgl. 4,330b-332), wird der Faustkampf zwischen Pollux und Amycus (4,252-314) angekündigt. In bezug auf Medea ist ledighch in umschreibender Form von ihrer Ermordung der Kinder und lasons neuer Frau die Rede (l,224b-226). Solche Andeutungen können die Argonauten, die die Zukunft nicht kennen, natürUch nicht verstehen. Der Charakter der ausgewählten Geschehnisse erzeugt jedoch eine bedrohliche Stimmung. Deshalb ist die Prophezeiung für die Argonauten unklar, verwirrend und unheimlich und versetzt sie in Schrecken (1,210a. 227-228a). Von dieser Wirkung werden Idmon und dessen Prophezeiung (1,234b238a) deutlich abgesetzt (l,228b-230; bes. sed ... contra, 1,228). Idmon nennt zwar auch Mühen (1,235b), konkretisiert sie aber nicht und versichert deren Überwindung (1,236b). Unmittelbar danach {vix, 1,240) wird lason in zuversichtlicher Stimmung aktiv (1,240-251). Der Leser verbleibt dagegen in angstvoller Erwartung, weil er nicht nur Idmons aufmunternde Prophezeiung erfährt, sondern der Dichter ihm darüber hinaus dessen Tränen erklärt (l,238b-239). Den Argonauten läßt er Idmon im Unterschied zu Apollonios Rhodios (vgl. AR 1,443-447) seinen Tod nicht andeuten. Außerdem kann der Leser auch Mopsus' Voraussagen in ihrer vollen Tragweite erkennen und bekommt so durch das Grausige des Geschehens Angst. An diesem Komplex zeigt sich, wie Leser- und Argonautenebene miteinander verschränkt sind. Teils erhalten Leser und Argonauten wie bei 96

S. o. Kap. В I (S. 166ff.) zu diesen Prophezeiungen.

II. Götterbild

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Mopsus' Prophezeiung dieselbe Menge an Informationen, erreichen aber aufgrund ihrer jeweils anderen Vorkenntnis einen unterschiedlichen Grad des Verständnisses, wenn auch die Wirkung im Grunde vergleichbar ist. Teils wird dem Leser wie bei Idmons Prophezeiung ein umfangreicheres Wissen geboten, so daß er deshalb das Geschehen nicht so unbefangen erleben kann wie die Argonauten. Da dem Leser Hintergrund und Konsequenzen der Handlung bewußt sind, wird ihm deren bedrückende und tragische Atmosphäre deutlicher als den Argonauten selber. Durch diese Verwendung von Vorausdeutungen, die die einzelnen Teile des Epos miteinander verbinden, die Handlung in einen größeren Zusammenhang stellen und deren Atmosphäre charakterisieren, unterscheidet sich Valerius Flaccus' Epos von dem des Apollonios Rhodios.^^ Dieser hat keine umfassenden Vorausdeutungen von Göttern, da es bei ihm keine eigenständige, den Geschehensablauf durchgängig bestimmende Handlung auf götüicher Ebene gibt. Außerdem werden nicht an jeder möglichen Stelle, wie in Heldenkatalogen oder Beschreibungen von Kunstwerken, Hinweise auf die Zukunft eingeschoben. Es gibt lediglich Weissagungen von Sehern über Ereignisse im weiteren Verlauf des Epos (vgl. z.B. AR 1 , 4 4 0 ^ 7 . 2,311^07), die allerdings von anderem Charakter sind als bei Valerius Flaccus. Zwar können Prophezeiungen bei Apollonios Rhodios ebenfalls furchtbare Geschehnisse ankündigen, ebenso aber auch aufmunternde Aussichten sowie konstruktive und für die Menschen hilfreiche Ratschläge e n t h a l t e n . D i e heilsame Wirkung von Weissagungen (vgl. AR 2,453^55) zeigt sich besonders an der Gestalt des Paraibios und seiner ausführlich von Phineus erzählten Geschichte (AR 2,456-489): Paraibios ist durch das größere Wissen des Sehers in einer Art Prophezeiung von schlimmem Unglück befreit worden

97 Vgl. Barich 1982, 65-101, zur Funktion der Vorausdeutungen bei Valerius Flaccus als strukturierendes und einheitschaffendes Element, weil damit Bezüge zwischen verschiedenen Episoden hergestellt werden. - Die Vorausdeutungen dienen nicht nur dazu, bereits zu Beginn des Epos auf dessen gesamten Inhalt vorauszuweisen (so Wagner 1805, 22 zu l,216ff.; vgl. auch Fuhrer 1998, 11-26, auf der Basis modemer Literaturtheorien), sondern auch dazu, eine spezifische Stimmung zu erzeugen und bestimmte Aspekte hervorzuheben. Jedenfalls hat Valerius Flaccus mit der Einfügung der Prophezeiungen nicht einfach Kultgebräuche seiner Zeit verarbeitet (so Wagner 1939, 135f), vielmehr thematische Aussagen verbunden. Mit den Prophezeiungen und Wundern wird bei Valerius Flaccus gerade nicht göttliche Unterstützung signalisiert, wie Barich (1982, 130 mit Anm. 38) meint. 98 Vgl. als Beispiele für negative Elemente AR l , 4 4 1 b - 4 4 2 . 4 4 3 ^ 4 4 . 2 , 3 8 3 3 8 5 a . 4 0 4 ^ 0 7 ; vgl. als Beispiele für positive Elemente AR l,440-441a. 2 , 3 2 4 336.388-390a.420b-422.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

und ihm deshalb in ewiger Dankbarkeit verbunden. Charakteristisch ist, daß die Geschichte bei Valerius Flaccus fehlt. Das formale Muster der bewußten und aussagekräftigen Verwendung von Vorausdeutungen kann Valerius Flaccus von Vergils Aeneis übernommen haben. Dabei besteht auf inhaltlicher Ebene ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Epen. Die Reihe der Weissagungen in der Aeneis (vor allem am Ende des zweiten und im dritten Buch) führt zu einer immer größeren Sicherheit der Personen des Epos hinsichtlich der Zukunft, versichert sie des göttlichen Wohlwollens und bestärkt sie in der Ausführung ihres Unternehmens. Die gelegentliche Ankündigung bevorstehender schlimmer Ereignisse sowie kommender Anstrengungen und Gefahren hat keine vollkommen bedrückende Wirkung, da den Menschen gleichzeitig Methoden genannt werden, wie sie sie erfolgreich bewältigen können, und ihnen bewußt ist, daß die Überwindung der Mühen sie zu einem von den Göttern gewünschten positiven Ziel führen wird. Dagegen werden in den Vorausdeutungen bei Valerius Flaccus beinahe ausschließlich negative zukünftige Geschehnisse genannt, die auch nicht durch die Erwartung eines erfreulichen Endergebnisses leichter erträglich wirken. Charakter, Verwendungsweise sowie Grundtypen von Weissagungen bei Valerius Flaccus zeigen sich in der Cyzicus-Episode exemplarisch: Durch lasons Kritik am Seherwesen wird implizit deutlich, daß Weissagungen an die Menschen meist unvollständig und furchterregend sind. Frühzeitige Hinweise auf das weitere Schicksal von Cyzicus und Hylas illustrieren den Einsatz auktorialer Bemerkungen, die dem Leser das Tragische der Handlung verdeutlichen. Das Verhältnis des Kampfs auf Cyzicus zum >Weltenplan< (1,531-560) zeigt die Bedeutung dieser umfassenden und besonderen Prophezeiung für das Gesamtwerk.

III. Menschenbild

1. Zwischenmenschliche Beziehungen Die Ereignisse in der Cyzicus-Episode erweisen sich dadurch als besonders tragisch, weil enge zwischenmenschliche Beziehungen, zwischen Gastfreunden und zwischen Liebenden, gegen den Willen der Menschen durch göttliche Einwirkung zerstört werden. Diesen Aspekt stellt Valerius Flaccus gegenüber Apollonios Rhodios durch Betonung der harmonischen Gastfreundschaft (2,636 - 3,13) von Argonauten und Cyzicenem sowie Einführung der Klagereden von lason und Güte (3,286-331) deutlich heraus. Die Hervorhebung solcher zwischenmenschlicher Beziehungen und der Gegebenheiten für ihr Bestehen intensiviert nicht nur die unmittelbare Schilderung der Vorgänge, sondern ist auch für die spezifische Aussage der Episode von Bedeutung. Das wird durch eine Betrachtung entsprechender einschlägiger Stellen aus dem Gesamtwerk klar, die die spezielle Gestaltung und Wichtigkeit dieses Gesichtspunkts bei Valerius Flaccus zeigen. Dabei geht es vor allem um den Gegensatz zwischen der in seiner Auffassung idealen Gestalt des Verhältnisses zwischen den Menschen und den Möglichkeiten zur Verwirklichung angesichts der Bestimmung des Geschehens durch göttliche Eingriffe. Offenbar mißt Valerius Flaccus in einer Welt, die von göttlicher Willkür gegenüber den Menschen gekennzeichnet ist, intakten zwischenmenschlichen Beziehungen als Ausgleich einen hohen Wert bei. Denn im Vergleich zu Apollonios Rhodios hat er eüiche Szenen und auch Nebenhandlungsstränge innerhalb einzelner Episoden so umgestaltet, daß die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen darin in positiver Weise vor Augen geführt bzw. deren von Valerius Flaccus befürwortete Form charakterisiert wird. Eine Art Definition am Beispiel der Eltern-Kind-Beziehung bietet durch konkrete und theoretische Gegenüberstellung verschiedener Spielarten der relativ umfangreiche Szenenkomplex um den lazygen Gesander in der Schlacht in Colchis (6,122b-128.279-385). Damit gestaltet Valerius Flaccus Katalog und Kampfschilderung nicht nur kompositorisch abwechslungsreich, sondern nutzt sie auch thematisch zu differenzierten

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Aussagen über das Verhatnis zwischen Eltern und Kindern. i Schon bei der Vorstellung der Kämpfer im Katalog berichtet Valerius Flaccus bei der Nennung der lazygen (6,122b-128) über das erstaunliche Verhalten von Kindern gegenüber alten Eltern in dem Volk, nämlich daß sich die Alten von ihren Kindern töten lassen, um einem langsamen Tod zu entgehen. Im Kampf selbst erhält der lazyge Gesander eine lange Aristie (6,279385). Sie besteht in ihrem ersten Teil (6,279-316) aus mehreren Aktionen, bei denen es jeweils um die Art des Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern geht. Zunächst zeigt Valerius Flaccus dessen besonderen Charakter und die Bedeutung für das Verhalten der lazygen bei diesen selbst (6,279293). Gesander feuert seine Leute zu mutigerem Kampf an, indem er deren gegenwärtige Kampfweise mit trägem, todeswürdigem Alter vergleicht (6,282-286). Seine eigene Kampfkraft versucht er mit einem Gebet an seinen Vater (6,287-291) zu stärken, in dem er sich auf dessen mutigen Entschluß zu einem schnellen Tod beruft und sich selbst in diese Tradition steUt. Anschließend hebt Valerius Flaccus die spezielle Situation bei den lazygen dadurch hervor, daß er Gesander einem Angehörigen eines anderen Volks begegnen läßt (6,294-316). Gesander trifft auf den alten Priester Aquites, der um der Rettung seines Sohns willen am Kampf teilnimmt (6,294-298). Aquites, der die übliche Vorstellung von der Beziehung zwischen Eltern und Kindern hat und sie auch bei seinem Gegner voraussetzt, versucht, in der für ihn aussichtslosen Konfrontation Gesander durch Hinweis auf das Leben des eigenen Vaters und Sohns zu Milde zu bewegen (6,305-307a). Aufgrund von Gesanders Auffassungen führt die Bitte jedoch dazu, daß er Aquites verhöhnt (6,308b-314) und schließlich tötet (vgl. 6,315b), weil der eigene Sohn es offensichüich nicht getan hat (vgl. 6,311-312). So steht in der Auseinandersetzung, wie vor allem die wörtlichen Reden zeigen, die allgemein menschliche Ebene der Familienbeziehungen im Vordergrund. Als Nebenaspekt kommt hinzu, daß auch Aquites' besondere Stellung als Priester, die trotz des Kampfs deutlich zu erkennen ist (vgl. 6,296-297a.302) und die dieser bei seiner Bitte durch Hinstrecken der heiügen Gegenstände miteinsetzt (vgl. 6,304b), Gesander nicht dazu veranlassen kann, von seinen Grundsätzen für das Verhalten gegenüber Älteren abzuweichen.

1 Daher kann man wohl nicht wie Shelton (1971, 351) sagen, daß der Szenenkomplex um Gesander lediglich zur Abwechslung und zur Präsentation ungewöhnlicher Bräuche eingeführt sei. - S. o. S. 157ff. zu weiteren Funktionen.

III. Menschenbild

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Gesander charakterisierende Attribute (feras, 6,287.303) und der Wunsch des sterbenden Aquites für seinen Sohn (6,315b-316; bes. misero ... nato, 6,316) deuten eine Wertung der Sitten bei den von den beiden repräsentierten VöUcem an. Die unter den lazygen praktizierte außergewöhnliche Form des Verhältnisses befürwortet Valerius Flaccus wohl nicht und führt sie als negatives Gegenbild zu der allgemein verbreiteten positiven Form, die Aquites' Verhalten zugrunde liegt, vor.2 Damit wird der Idealfall einer Eltem-Kind-Beziehung in Valerius Flaccus' Sicht inhaltlich bestimmt: Es sollen nicht Tötung kennzeichnend sein, auch wenn sie scheinbar wohlwollenden Motiven entspringt, sondern gegenseitige Hochschätzung, Fürsorge füreinander sowie Einsatz zur Rettung des anderen. Daß die Aussagen gerade in bezug auf das Verhältnis von Kindern und Eltern gemacht werden, verleiht ihnen besondere Bedeutung. Denn außer dem Komplex um Gesander (6,122b-128.279-316) legen zahkeiche andere Szenen nahe, daß Valerius Flaccus diese Beziehung, besonders die zum Vater, innerhalb der zwischenmenschlichen Bindungen als die engste ansieht.3 Dafür aussagekräftige Passagen sind die Ereignisse um Jason und Acastus mit ihren Folgen (1,149-183.693-826) und der ausführliche Bericht über Peleus' Abschied von Achilles (1,255-270), femer die Tatsachen, daß zu den allgemeinen Kümmernissen der Argonauten (4,85-89) auch die Sorge um die Kinder gehört (4,89b; vgl. auch 1,150.315-316)4 und daß der Vater in Medeas Überlegungen vor dem Verlassen der Heimat (8,10-15) im Vergleich zu Apollonios Rhodios (vgl. AR 4,30-33) von 2 Allerdings erkennt Valerius Flaccus in seiner auktorialen Beschreibung der lazygen an, daß Menschen, die es fertigbringen, ihre Eltern zu töten bzw. sich von ihren Kindern töten zu lassen, mutig und tapfer (vgl. magnanimis ... avis, 6,125; animis, ... miri tarn fortibus actis, 6,128) sind (vgl. auch Lüthje 1971, 243f.). Aus Gesanders Charakterisierung (vgl. Brooks 1951, 27f.; Otte 1992, 128-132, zu Gesanders Charakter) ergibt sich jedoch, daß Valerius Flaccus die Mordtat an sich zwar als mutig einschätzt, die Sitte insgesamt aber nicht befürwortet. Diese Bewertung würde auch sprachlich deutlicher, wenn man in 6,128 nicht wie Courtney (1970, 122) und Ehlers (1980, 137) Damstés Konjektur miri aufnähme, sondern das überlieferte mijenläse (vgl. Strand 1972, 112). - Wagner (1805, 199 zu 6 , 2 8 7 f f ) charakterisiert die Sitte der lazygen treffend als »(inpiam) pietatem«. Darin kommt prägnant zum Ausdruck, daß eine Gegenüberstellung von zwei konträren Verhaltensweisen vorliegt, die beide in der Auffassung der jeweiligen Volksangehörigen richtig und achtenswert sind, von denen die der lazygen aber den üblichen Vorstellungen widerspricht. 3 Vgl. Brooks 1951, 136 mit Anm. 158; Happle 1957, 31 mit Anm. 1; Wetzel 1957, 38; Shelton 1971, 254f.; Adamietz 1976a, 101; Gärtner 1994, 144 u. 215. Wetzel (1957, 38), Stadler (1993, 183 zu 7,467-472a) und Wijsman (1996, 170 zu 5,336) weisen in Zusammenhang mit der Wichtigkeit der Beziehung zum Vater auf römische Vorstellungen von Gehorsam gegenüber dem pater familias hin. 4 Vgl. ansatzweise Wagner 1805, 121 zu 4,82ff

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

größerer Bedeutung ist. Die Einschätzung ergibt sich sogar aus Formuherangen bei der Schilderung der Mordtaten der lemnischen Frauen (2,229), aus der Kontrastierung von deren Vorgehen mit Hypsipyles Verhalten (2,242-310) und der Verwendung des Motivs in einem Gleichnis (5,2224). Vor diesem Hintergrund können die bei Gesander gegebenen Hinweise auf den Idealfall vielleicht als exemplarisch gedeutet und in modifizierter Form auf jede Art von menschlichen Beziehungen übertragen werden. Praktisch wird das erwünschte Verhalten gegenüber anderen Menschen an Gesander sozusagen in negativer Form vorgeführt und zeigt sich lediglich an Aquites' Einstellung. In weiteren Episoden wird es durch die besondere Konzeption einzelner Szenenabschnitte konkret als tatsächlich existierend geschildert. Die Abfahrt der Argonauten von lolcos hat Valerius Flaccus in einer Weise umgeformt, daß er in Abweichung von Apollonios Rhodios (vgl. AR 1,553-558) Peleus' Abschied von seinem kleinen Sohn Achilles an eine andere Stelle gesetzt und erst zu einer wirklich bedeutungsvollen Szene ausgestaltet hat ( 1,255-270),^ die die enge Beziehung zwischen Vater und Sohn zeigt. Während Apollonios Rhodios nur kurz berichtet, daß Achilleus beim Abschied seinem Vater Peleus gezeigt wird (AR l,557b-558), beschreibt Valerius Flaccus sowohl ausführlich, wie Achilles sehnsüchtig zu seinem Vater eilt und ihn lange und liebevoll umarmt (1,256-259), als auch, wie Peleus Achilles froh und eifrig küßt und als größten Wunsch äußert, daß sein Sohn die Zeit der Argofahrt überlebe (l,264-267a). So wird an Peleus' Beispiel gezeigt, daß ein inniges Verhältnis zu den Kindern ein charakteristisches Merkmal der Argonauten ist. In der Phineus-Episode (4,423-636) helfen die Argonauten Calais und Zetes Phineus nicht nur, weil es schicksalhaft vorherbestimmt ist (vgl. 4,431b-432.462), sondern um so eifriger, weil sie mit ihm verwandt sind (4,462^68); dabei werden sie von ihrem Vater unterstützt (4,502b). Apollonios Rhodios erwähnt ebenfalls die Verwandtschaft der Boreas-Söhne mit Phineus (AR 2,235b-239), der Hinweis darauf führt aber nicht zu deren spontanerer und bereitwilligerer Hilfe. Im Gegenteil fragen sie vor der Ausführung der Hilfsaktion sogar nach, ob sie damit auch nicht den Willen der Götter verletzten (AR 2,248-253). Der Aspekt tritt bei Valerius

5 Vgl. Langen 1896/97, 54 zu 1,254; vgl. Adamietz 1976a, 16, mit Gründen für die Verlegung der Abschiedsszene bei Valerius Flaccus. Sheltons (1971, 17) Kritik an der Plazierung der Szene scheint nicht gerechtfertigt.

III. Menschenbild

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Flaccus ganz zurück und wird nur angedeutet (4,472)6 Der Verfolgung der Harpyien durch die Boreas-Söhne wird bei Valerius Flaccus dadurch Einhalt geboten, daß der Vater der Нафу1еп diesen auf ihr Bitten hin (4,516) zu Hilfe kommt (4,517-526). Bei Apollonios Rhodios warnt Iris als Götterbotin davor, mit dem Kampf gegen die Harpyien den Willen der Götter zu verletzen, und versichert deren Rückzug (AR 2,286-294). Femer führt Valerius Flaccus Dymas, den die Argonauten bei ihrer Ankunft in Bebrycien treffen (4,135-173), gegenüber Apollonios Rhodios als Figur neu ein.7 Dymas ist vor allem wichtig für den Handlungsablauf in der Amycus-Episode (4,99-343), die Charakterisierung der Hauptpersonen und die Herstellung von Verbindungen zwischen einzelnen Episoden, hat aber auch eine inhaltlich-thematische Funktion. An ihm kann nämlich eine besondere Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen, in diesem Fall von Freundschaft, unabhängig von den Argonauten dargestellt werden. Daß es auf diesen Aspekt ankommt, geht daraus hervor, daß bei Dymas' Vorstellung nicht etwa seine äußere Erscheinung, sondern gleich seine innere, psychologische Situation geschildert wird (4,135-1 Зб):^ Er ist seinem Freund Otreus treu gefolgt und trauert über dessen Tod im Faustkampf mit Amycus (vgl. 4,161-169). Durch den Kontrast zu Amycus wirkt Dymas' Loyalität gegenüber Otreus eindrucksvoller. Das Motiv der Treue und des Einsatzes für andere wird beim Aufenthalt der Argonauten bei Lycus (4,733 - 5,72) aufgenommen und verstärkt. Dort ergibt sich, daß Lycus in Valerius Flaccus' Version im Unterschied zu der von Apollonios Rhodios (vgl. AR 2,137-141.757b-758) nicht aufgrund von Ansprüchen auf Landbesitz fortwährend gegen die Bebrycer kämpft, sondern als Otreus' Bruder über dessen Tod betrübt ist und sich jetzt aus diesem Grund durch einen Angriff auf Amycus rächen wollte. 6 Vgl. Garson 1965, 118; Lüthje 1971, 169f.; Adamietz 1976a, 59; anders Schönberger 1965, 129f. - Außerdem könnte das unterschiedliche Verhalten der Boreas-Söhne durch das andere Verhältnis zwischen Göttern und Menschen bei Apollonios Rhodios bedingt sein. So sind dort in der gesamten Episode im Sinne einer >amtlichen< Religiosität (vgl. Herter 1944/55, 282) Beachtung bzw. Nichtbeachtung des göttlichen Willens durch die Menschen, die Konsequenzen daraus für ihr Leben und eine gewisse Furcht vor den Göttern von Bedeutung. Dagegen stehen bei Valerius Flaccus mehr die Beziehungen der Menschen untereinander sowie die unbeeinflußbaren und willkürlichen göttlichen Eingriffe im Vordergrund. 7 Vgl. Garson 1965, 114; Shey 1968, 117; Shreeves 1978, 88; Korn 1989, 84 zu 4,99-343 u. 106f. zu 4,133-198; Campanini 1996, 56 zu 4,133-173; Hershkowitz 1998, 78f. - Otte (1992, 85, 91, 93) mißversteht die Beziehungen zwischen Dymas, Otreus und Lycus: Er erwähnt den Namen Dymas überhaupt nicht und bezeichnet Dymas als »Otreos« sowie Amycus als Lycus' Bruder, woraus er im Rahmen seiner Deutung der Argofahrt (s. o. S. 145 Anm. 30) eine umfassende Theorie entwickelt. 8 Vgl. Campanini 1996, 58 zu 4,134b-136, mit etwas anderer Auswertung.

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В. Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

bevor sein Plan durch das Eingreifen der Argonauten in der ursprünglichen Form überflüssig gemacht wurde (4,741-754). Berücksichtigung und Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen wie in den genannten Fällen könnte man als Merkmal von pietas in Valerius Flaccus' Sinne bezeichnen. Denn Personen, bei denen solche Qualitäten in herausragender Weise vorhanden sind, weist Valerius Flaccus die Eigenschaft der pietas explizit zu. Als Ausgangspunkt für die Deutung seines pietas-B&gñffs sind daher die Stellen zu wählen, an denen Hypsipyle und Telamón ausdrücklich (direkt oder indirekt) als pia bzw. pius charakterisiert (2,249.256.264.310.411 bzw. 3,637.722) und gleichzeitig ihr Handeln, das diese Bezeichnung erläutert und rechtfertigt, vorgeführt werden (2,242-310. 3,637-725). Dabei hat Valerius Flaccus die ausführliche Schilderung ihres Verhaltens aus kurzen Hinweisen auf die besondere Rolle der beiden Personen bei Apollonios Rhodios (AR l,620-623a bzw. 1,1289b1297) durch Ausweitung der Vorgeschichte der Lemnos-Episode (AR 1,609-632; VF 2,82-310) bzw. Einführung der problematischen Situation der Argonauten bei der Zurücklassung des Hercules (3,598-725) erst geschaffen sowie bei Hypsiyple außerdem durch einen auktorialen Ausruf (2,242-246) abgesetzt und hervorgehoben.^ Beide Figuren zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich besonders treu und loyal für den Vater bzw. einen engen Freund einsetzen, und zwar gegen den in der jeweiligen Situation dominierenden göttlichen Einfluß (vgl. 2,115-215 bzw. 3,611-612). Sowohl bei Hypsipyle (vgl. 2,249-253a. 280b-281.294a) als auch bei Telamón (vgl. 3,637-639.692b-697a) wird hervorgehoben, daß sie nur mühsam in der Lage sind, gegen die starke Einwirkung der Götter und die davon gelenkten anderen Menschen so zu handeln, wie sie es als richtig erkannt haben.'O

9 Daran zeigt sich die Wichtigkeit, die Valerius Flaccus der Präsentation einer solchen Verhaltensweise beimißt (vgl. Happle 1957, 75; La Penna 1981, 247; Smith 1987, 44f. zu 2 , 8 2 ^ 3 0 ; Hershkowitz 1998, 137f.). Auch Garson (1964, 272f.), der sich die Länge der Lemnos-Episode und besonders der gegenüber Apollonios Rhodios ausgedehnten Vorgeschichte nicht eigentlich erklären kann, nimmt die Absicht, Hypsipyles pietas darzustellen, als wahrscheinlichsten Grund an. - Vgl. Brooks 1951, 55-60, zu Hypsipyles Charakter. 10 Vgl. Happle 1957, 23, 27, 78; Vessey 1985, 335f. - Hypsipyles pietätvolles Verhalten richtet sich allerdings nicht gegen alle Götter, sondern nur gegen die in der Situation bestimmende Einwirkung der Göttin Venus. Hypsipyle ruft bei ihrer Rettungsaktion sogar Bacchus (2,256-257a) und Diana (2,294b-299) um Hilfe an (vgl. Adamietz 1976a, 33). Dennoch besteht Hypsipyles pietas im Widerstand gegen göttliche Macht, weil sie gegen Venus' dominierendes Wirken handeln muß und sich bei ihren Aktionen nur zur zusätzlichen Unterstützung im Gebet an die anderen Götter

III. Menschenbild

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Aus dieser ausführlichen und markanten Beschreibung von pietätvollem Handeln ergibt sich, daß pietas bei Valerius Flaccus in prägnanter Bedeutung nicht, wie es vor allem von Vergils pius Aeneas her vertraut ist, loyales und respektvolles Verhalten sowohl gegenüber Göttern als auch gegenüber Menschen bezeichnet, sondern allein gegenüber Menschen, vor allem Eltern und engen Freunden, was andere Passagen bestätigen.'! Aus einer solchen Konstellation läßt sich Aufschluß über Valerius Flaccus' Menschen- und Götterbild gewinnen: Die Existenz von Menschen wie Hypsipyle und Telamón zeigt, daß die Menschen im Prinzip moralisch hochwertige Vorstellungen haben und danach leben wollen. Ein daraus entspringendes Verhalten gegenüber Göttern wird nicht dargestellt, da es wegen deren spezifischer Konzeption bei Valerius Flaccus in der Regel nichts nützen würde und die Menschen sich auf die Götter nicht verlassen können. Andererseits nehmen die Götter nach ihren eigenen persönlichen Interessen auf das Leben der Menschen Einfluß und verhindern dadurch unter Umständen pietas unter diesen geradezu. Daher kommt pietas bei Valerius Flaccus lediglich in Einzelfällen und bei Nebenfiguren zur Entfaltung, weil es grundsätzlich schwierig ist, sich gegen den Willen und die bestimmende Macht der Götter zu stellen, und die Menschen außerdem in

wendet. Diese helfen Hypsipyle auch, allerdings ohne daß Gründe oder Motivationen dafür angegeben werden. Sie verstärken lediglich die von Hypsipyle in Gang gesetzten einzelnen Etappen der Rettung (vgl. 2,259b-260.277b-278.302b-303a), die diese in eigener Initiative gegen Venus' Einfluß durchführt (anders Vessey 1985, 336). 11 Auch sonst wird, allerdings ohne umfassende Darstellung, mit einer Form von pius oder pietas das Verhalten gegenüber Verwandten und engen Freunden charakterisiert (vgl. 1,244. 4,2. 5,86.336. 6,311.471). Selbst Pelias' Absicht, seine V e φ f l i c h tung gegenüber dem Verwandten Phrixus zu erfüllen (1,40-50), kann, auch wenn sie vorgetäuscht ist (vgl. culpanda, 1,244), als pietas (1,244) in diesem Sinne bezeichnet werden (vgl. auch Kleywegt 1987, 114; Dräger 1993, 335). Daneben ist gelegentlich die Auffassung von pius bei Valerius Flaccus nur in traditioneller religiöser Bedeutung möglich, wenn das Wort entweder für die Seligen in der Unterwelt (vgl. 1,650. 750.842) oder in bezug auf das Verhältnis der Menschen zu den Göttern verwendet wird (vgl. 1,80.685. 2,330. 4,348). An einigen Stellen (vgl. 1,459. 2,599. 5,6) gehen beide Bereiche ineinander über, da zwar religiöses Verständnis möglich ist, es aber gleichzeitig um die Beziehung zu Verwandten und Freunden geht. Bei den Fällen mit rein religiösem Gebrauch handelt es sich um konventionelle Bezeichnungen oder den Zusatz von pius als beiläufiges Epitheton ohne weitreichende inhaltliche Konsequenzen. Deshalb darf man wohl vermuten, daß Valerius Flaccus in diesen Passagen aus sprachlichen oder atmosphärischen Gründen traditionellen Formulierungen und Vorstellungen gefolgt ist, sie aber für seine Konzeption des pi'eíaí-Begriffs nicht zentral sind. Denn nur wenn pius das Verhalten gegenüber Verwandten und Freunden bezeichnet, wie besonders deutlich bei Hypsipyle und Telamón, kennzeichnet es ein entscheidendes Merkmal der Personen und hat Auswirkungen auf die allgemeine Einstellung der Menschen sowie den Handlungsablauf.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

der Ausführung der göttlichen Pläne als wichtige Faktoren eingesetzt werden. Diese Situation der Menschen bedingt entscheidend den Umfang, in dem der Protagonist lason Verhaltensweisen zeigen kann, die als pietas im dargelegten Sinne bezeichnet werden könnten. Daß pietas eigentlich zu lasons Charakter gehört, ergibt sich vor allem daraus, daß er in großer Trauer (vgl. 3,286-313. 5,35-54a) gewissenhaft die Bestattungsriten für einen Gastfreund und für einen Teilnehmer des Argonautenzugs vollzieht (3,338a-343a. 5,6-7) oder seine Eltern vor der Abfahrt aus lolcos tröstet (l,296b-349; bes. l,298b-299.348b-349). Im letzteren Fall kommt lasons inniges Verhältnis zu seinen Eltem erst durch die Gestaltung der Abschiedsszene bei Valerius Flaccus richtig zum A u s d r u c k . 12 Denn in seiner Version steht im Unterschied zu Apollonios Rhodios (vgl. AR 1,262-305) lasons individueller Abschied von seinen Eltem gegenüber der Schilderang der allgemeinen Situation deuthch im Vordergrand und wirkt durch die schlichte Beschreibung seines liebevollen Verhaltens anstelle der Wiedergabe einer konventionellen Trostrede lasons an seine Mutter (AR 1,295-305) ergreifender. Durch das Bemühen um seine Eltem erscheint lason gerade nicht als ein Mensch, der sie durch die freiwillige Annahme des Fahrtauftrags pietätlos im Stich läßt. Als Führer der Argofahrt ist lason fest in die göttlichen Pläne eingebunden und hat weitreichende Aufgaben zu erfüllen. Deshalb lassen die Götter nicht zu, daß er sich gegen die Absichten wendet, die sie mit ihm verfolgen, und immer so vorgeht, wie es seinem menschlichen Streben nach pietätvollem Handeln entspräche. So verhindert luno, daß lason vom Tod seiner Eltem erfährt (2,1-5), wegen seiner Einstellung zu diesen einen Racheakt an Pelias vollzieht (2,3b-5a) und damit den göttlichen Auftrag vemachlässigt (2,5b).'3 Da lason ein Element in den göttlichen Plänen ist, wird seiner vorhersehbaren menschlichen Reaktion kein Raum gegeben.

12 Vgl. Brooks 1951, 97f.; Shelton 1971, 19 u. 41; Adamietz 1976a, 17f.; Barich 1982, 4 5 ^ 8 , bes. 45f.; Liberman 1997, LXI; anders Lüthje 1971, 26f. u. 29f. (vgl. dazu Adamietz 1976b, 460). - Ehlers (1998, 150) charakterisiert lason uneingeschränkt als pius. Fraglich ist, ob als Argumente zur Rechtfertigung dieser Einschätzung auch Valerius Flaccus' Stellung im Kult und zu den Flaviem sowie lasons Einbeziehung in die göttlichen Pläne angeführt werden können. 13 Vgl. Lüthje 1971, 59f.; Adamietz 1976a, 31. - Daß Valerius Flaccus zeigen wollte, daß luno in faktischer Übereinstimmung mit luppiters Plänen, aber aus persönlichen Motiven handelt, wie Lüthje (1971, 59f.) annimmt, ist weniger wahrscheinlich.

III. Menschenbild

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Er erhält keine Gelegenheit, sich so fürsorglich um seine Eltern zu kümmern, wie es an Hypsipyle beispielhaft vorgeführt wird.i'* Jasons Lage bei der Zurücklassung des Hercules (3,598-725) macht klar, daß für ihn ebenfalls keine Möglichkeit besteht, sich gegenüber einem Freund so loyal zu zeigen wie etwa Telamón, bn Grunde möchte auch Jason sich nicht von Hercules trennen. Denn obwohl er durch göttliche Ankündigungen um den zu erwartenden VerJust von Hercules weiß (3,618-622), sieht er dessen Fehlen nicht sofort als Verwirklichung der Vorhersagen an, so daß er ihn daraufhin ohne Zögern in pietätloser Weise zurückließe. Im Gegenteil entschließt sich Jason nicht gleich zur Abfahrt ohne Hercules, nachdem Juno durch das Schicken des richtigen Windes günstige Bedingungen geschaffen (3,611-612) und die anderen Argonauten dadurch beeinflußt hat (vgl. 3,613-614.652-653). Das von den Göttern veranlaßte Drängen der Gefährten bringt Jason zunächst nur dazu (3,615-616), diesen die beiden möglichen Handlungsaltemativen vor Augen zu stellen (3,623-627). Dabei machen Endstellung und Hervorhebung des Werts eines solchen Verhaltens deuüich, daß Jason das Warten auf Hercules bevorzugte (3,627b). 15 Erst als der Druck der Gruppe immer größer wird (3,628b-636.645b-692a; vgl. auch 4,31-33a), kann Jason seine Wünsche nicht mehr verwirklichen und sich dem Strom der Ereignisse widersetzen, so daß er schließhch dem festgelegten Schicksalsablauf gemäß gegen seine morahschen Maßstäbe und persönlichen Gefühle ohne Hercules von Mysien abfahren muß (vgl. 3,604-610.717718). Jn dieser erzwungenen Situation leidet Jason unter der Trennung von Hercules und seinem eigenen Verhalten, das für ihn falsch und schuldhaft ist (vgl. 5,41b-^2a.l29-132a). Vergleichbar mit der Zurücklassung des Hercules muß Jason sich bei Valerius Flaccus in einer in Apollonios Rhodios' Version nicht enthaltenen Szene später aufgrund des Drängens der Gefährten (8,385-399.464b465a) dazu entschließen, Medea zu verlassen (8,400.404b), obwohl er es eigentHch nicht will (8,467) und es seiner Auffassung von rechtmäßigem und angemessenem Vorgehen widerspricht (8,401-404a.464a).i6 Jason 14 Den Unterschied zwischen Hypsipyles und lasons Verhalten stellt auch Lüthje (1971, 68f.) fest, deutet ihn aufgrund seines lasonbilds (s. u. S. 245 Anm. 38) aber anders. 15 Vgl. Brooks 1951, 61f.; Happle 1957, 181; Barich 1982, 51; Schenk 1986, 8; anders Gärtner 1994, 119. - S. o. Kap. В 114 (S. 206ff.) zur Schuldfrage. 16 Vgl. Wagner 1805, 280f. zu 8,400-407; Brooks 1951, 112-114; Hull 1979, 403f.; Barich 1982, 56; Ehlers 1998, 151f.; anders Otte 1992, 157. - Auf Parallelen zwischen den zwei Szenen, in denen es um die Trennung von Hercules bzw. Medea geht, weistauch Lüthje (1971, 354f.) hin, allerdings bei einem anderen Verständnis

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

hat also bestimmte Vorstellungen, wie man sich gegenüber anderen Menschen richtig zu verhalten hat. Aufgrund der göttlichen Beeinflussung und der Veφflichtungen, die sich aus der Leitung der Argofahrt ergeben, kann er sie jedoch nur in begrenztem Rahmen verwirklichen und sich damit durch sein Handeln als pius erweisen. In der Cyzicus-Episode zeigt sich diese Lage lasons in extremer Weise. Die Art der Darstellung macht dort nämhch besonders deutlich, daß lason durch göttliche Einwirkung gegen seinen Willen dazu gebracht wird, sich aktiv pietätlos zu verhalten. Die Einflußnahme der Götter veranlaßt lason dazu, gegen seinen Gastfreund, zu dem er in inniger und harmonischer Beziehung steht (vgl. 2,636 - 3,13), zu kämpfen und ihn sogar zu töten (3,239-24la). Auch die anderen Argonauten kämpfen gegen ihre Gastfreunde, wenn das bei ihnen auch nicht in demselben Maße wie bei den Führern thematisiert wird. Entsprechend wird das gesamte resultierende Kampfgeschehen mit einem wertenden Adjektiv, das wohl die Auffassung des Dichters wiedergibt, als impius bezeichnet (3,30), ebenso wie in auktorialen Äußerungen der Kampf zwischen den Brüdern Perses und Aeetes (5,2211'^; vgl. impius ... hostis, 5,396) sowie die Wunden, die Aeetes seinem Bruder Perses zufügt (6,75). Denn korrespondierend zum Verständnis von pietas bei Valerius Flaccus gelten als impietas Handlungen jeder Art, die sich gegen andere Menschen, besonders Verwandte oder Freunde, richten.

beider Passagen. - Ob lasons Entscheidung im weiteren Verlauf des Epos in die Tat umgesetzt wird, läßt sich wegen des fehlenden Texts nicht feststellen. Es ist allerdings eher naheliegend, daß es bald nach lasons Bntschluß zu einer Veränderung der Situation kommt, woraufhin er Medea doch nach Griechenland mitnimmt. Denn der Raub von Medea ist als entscheidendes Element in luppiters >Weltenplan< (1,531-560), der dem gesamten Epos einen umfassenden Sinn verleiht, integriert (l,547b-548a). Außerdem können nur unter dieser Voraussetzung, also der Annahme, daß sich lasons Treuebruch nicht auf sein Verhalten unmittelbar nach der Hochzeit mit Medea, sondern auf die spätere Heirat mit Creusa bezieht (anders Lüthje 1971, 356 mit Anm. 2, 368 U.Ö.), die zahlreichen Andeutungen des zukünftigen Schicksals von lason und Medea sowie die Hinweise auf den Trojanischen Krieg als Vergeltung für den Raub von Medea als zuverlässig und zutreffend betrachtet werden. 17 Auf welchen der in Colchis geführten Kämpfe sich 5,221 bezieht, ist nicht vollkommen eindeutig. Da aber in 5,217-220 die gesamten Erlebnisse der Argonauten in Colchis bis zu ihrer Abfahrt bereits umrissen sind, kann man davon ausgehen, daß die Erzählung in 5,221, wie die Partikel iam andeutet, in einer Rückwärtsbewegung, die in 5,222 (ante) fortgeführt wird, zum Bericht über die einzelnen Ereignisse in chronologischer Folge übergeht, daß also in 5,221 der im folgenden zuerst beschriebene Kampf (6,1-760), der zwischen Perses und Aeetes, gemeint ist, dem nur die Schilderung von Aeetes' List vorausgeht (vgl. Langen 1896/97, 360 zu 5,221; Shelton 1971, 275; Adamietz 1976a, 69; Wijsman 1996, 195 zu 5,396).

III. Menschenbild

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Das für lason in der Cyzicus-Episode akute Problem, nämlich die Spannung zwischen grundsätzlicher Haltung und von den Göttern gewünschten Aktionen sowie das pietätlose Handeln, das daraus gegen den Willen der Menschen wegen der größeren Macht der Götter folgt, wird in der Medeahandlung zum zentralen Thema. Wie lason will Medea sich loyal und respektvoll gegenüber den Mitgliedern ihrer Familie, besonders ihren Eltern, verhalten, erhält aber durch ihre Rolle in den Plänen der Götter keine Möglichkeit dazu und wird sogar veranlaßt, in Widerspruch zu ihren Überzeugungen aktiv gegen ihre Verwandten vorzugehen. Diese Beziehung von Medeas Taten und ihrer Auffassung davon ergibt sich aus der Art, wie Medeas Charaktereigenschaften, die Verursachung ihrer Aktionen durch göttliche Beeinflussung und ihre Reaktion darauf ausführhch geschildert werden. Medea verfügt zwar über magische Fähigkeiten, durch die sie für die Pläne der Götter interessant ist (vgl. bes. 6,440b-449). Sie muß aber erst von diesen durch die Macht der Liebe (vgl. 6,454) zu der inneren Bereitschaft gebracht werden, ihre Zauberkräfte gegen ihre Familie einzusetzen. Medea täte das von sich aus nicht und läßt sich auch von den Göttern nicht bedenkenlos dazu bewegen, weil sie erkennt, daß sich ein solches Verhalten gegen grundlegende moraUsche Werte, vor allem gegen die pietas, richtet (vgl. z.B. 7,309b-310a.455.484. 8,l-15.106b-108).i8 Schließlich ist sie allerdings gezwungen, gegen ihren Willen und ihre Vorstellungen von pietas dem gewaltigen göttlichen Einfluß nachzugeben (vgl. bes. 7,323-324), bleibt sich aber fortwährend der Tragweite ihres Vorgehens bewußt.i^

18 Eine weitere wichtige Größe sowohl bei der Beschreibung von Medeas Situation (vgl. z.B. 6,674b. 7,156b-157a.292-294) als auch in ihren Überlegungen (vgl. z.B. 7,331-333a.385-387) ist pudor (vgl. z.B. Garson 1965, 108; La Penna 1981, 237-246 passim; Fucecchi 1996, 154). Dieser Wert steht in erster Linie in einem Spannungsverhältnis zu amor und betrifft die Frage, ob die Liebe zu lason richtig, angemessen und moralisch vertretbar ist. Da Liebe in diesem Fall unweigerlich Vorgehen gegen den Vater bedeutet, ist die Problematik der Verletzung von pudor mit der von pietas eng verknüpft. An anderen Stellen geht es mehr allgemein um das moralisch richtige Handeln (vgl. z.B. 7,208b-209), aus den gegebenen Umständen ergibt sich jedoch, daß die Berücksichtigung von pietas mit Inbegriffen ist (vgl. Bigler 1988, 104; Stadler 1993, 86 zu 7,205b-209). 19 Vgl. ähnlich Langen 1896/97, 447 zu 6,471, 470 zu 7,9ff., 481 zu 7,153ff.; Mehmel 1934, 26-28; Brooks 1951, 80f.; Wetzel 1957, bes. 175f.; Schönberger 1965, 128; Lüthje 1971, 2 9 2 f , 3 I 0 f , 327f. u.ö.; Burck 1975, 581; Hull 1975, 16; Bigler 1988, 98 u. 112; Steinkühler 1989, 378; Otte 1992, 138f.; Taliercio 1992, 144f. zu 7,490ff.; Stadler 1993, passim; Gärtner 1994, 183, 207f., 281. - S. o. Kap. В 114 (S. 200ff.) zum göttlichen Binfluß auf Medea.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Zu pietätlosem Handeln gegenüber ihrer Familie, besonders ihrem Vater, bringen die Götter Medea dadurch, daß sie die Macht der Liebe für ihre Zwecke als Hilfsmittel verwenden (vgl. 6,454). Die Methode führt deshalb zum Erfolg, weil Liebe zwischen Liebenden nach Valerius Flaccus' Darstellung eine starke Kraft ist, die in Konkurrenz zum Verhältnis zwischen Eltern und Kindern tritt. Diese Stellung ergibt sich aus Vergleichen zwischen der Liebe zum Geliebten und zum eigenen Vater, die sowohl Hypsipyle (2,404a) als auch Medea (8,12b-13a) durchführen, die beide fortwährend bzw. ursprüngUch ihrem Vater sehr eng verbunden sind. Dabei bekennt sich Hypsipyle zu stärkerer Liebe als Medea und macht die Gleichwertigkeit der Beziehungen außerdem dadurch deutlich, daß sie lason einen Mantel schenkt, auf dem die Rettung ihres Vaters dargestellt ist (2,409-417), und das Schwert ihres Vaters an ihn weitergibt, da er jetzt wert sei, damit zu kämpfen (2,418^21).20 Daß Medea zögert, uneingeschränkte Liebe zuzugeben, liegt daran, daß damit in ihrem Fall wegen der von den Göttern herbeigeführten Situation unweigerlich die Lossagung vom Vater verbunden ist. Medeas Entwicklung ist das zentrale, für den Handlungsverlauf wichtigste und am ausführlichsten geschilderte Beispiel von Liebe, und gerade Medea kann ihre Liebe nicht voll bejahen und genießen, sondern wird im Gegenteil dadurch in Gewissenskonflikte geführt. Ihre Lage zeigt in extremer Weise ein charakteristisches Merkmal von Liebe in Valerius Flaccus' Epos. Liebe entsteht dort meist unter dem Einfluß von Göttern bzw. wird von diesen instrumental eingesetzt, so daß kaum dauerhafte Liebesbeziehungen zustande konunen bzw. existierende sich zum Schaden der Menschen auswirken. So entwickelt sich die Liebe zwischen lason und Medea nicht auf natürliche Weise zwischen Personen, die sich von selbst zueinander hingezogen fühlen, sondern wird durch göttliche Beeinflussung in Medea künstlich erzeugt (bes. 6,469-506. 7,193-326) und von ihr dann in lason entfacht (7,488b-489).2i Aufgrund dieser Umstände führt sie zu unheilvollen Konsequenzen für die Beteiligten.22

20 Vgl. Bahrenfuß 1951, 145; Lüthje 1971, 75; Hull 1975, 7; Adamietz 1976a, 35f.; Smith 1987, 175 zu 2,404; Eigler 1988, 116; Stadler 1993, 66 zu 7,153-192 u. 134 zu 7,344-346. - Vgl. Shelton 1971, 88f., zu Parallelen in Hypsipyles Verhalten gegenüber ihrem Vater und gegenüber lason. 21 Zwar verliebt sich Jason bei Valerius Flaccus nicht von selbst in Medea (vgl. aber 5,375b-377), sondern wird von ihr bezaubert (7,488b-489). Trotzdem scheint Lüthjes (1971, bes. 330f.) These, daß Jason, nachdem er von Medea zu Liebe veranlaßt worden ist, Medea nicht wirklich liebe (anders Shelton 1971, 470f., 473, 533; Adamietz 1976a, 99; Hull 1979, 403) und besonders daß der Ruhm aus der Erlangung des Goldenen Vlieses für ihn wichtiger sei als Medea, nicht überzeugend.

III. Menschenbild

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Die Problematik der Liebesbeziehung wird bereits zu Beginn des Epos durch die Themen der Bilder auf der Argo (1,130-148) angedeutet: Ein Bild zeigt Thetis auf der Fahrt zur Hochzeit mit Peleus (1,130-136). Da Thetis die gegen ihren Willen erzwungene Verbindung eigentüch nicht eingehen will (l,132b-133), muß sie von einem Delphin zu Peleus gebracht werden (1,130-132a). Auf einem Teil des Bildes ist zu sehen, wie Cyclops und Galatea nicht zueinander kommen (l,134b-136). Ein weiteres Bild stellt den Kampf der Lapithen und Kentauren bei Hippodamias Hochzeit dar (1,140-148). Wegen wörtlicher Übereinstimmung der Formuüerungen, die Thetis' Verhalten und Gefühle bei ihrer Fahrt zu Peleus beschreiben (1,132b), mit denen, die Medeas Situation auf ihrer Fahrt mit der Argo kurz vor der Hochzeit mit lason charakterisieren (8,204b), kann man vermuten, daß die Bilder auf der Argo nicht allgemein negative Seiten von Liebe darstellen, sondern konkret auf die Hochzeit von lason und Medea vorausweisen sollen. Thetis' Trauer auf dem Weg zur Hochzeit (1,130-133) korrespondiert mit Medeas Trauer (8,202-206), die Kämpfe bei Hippodamias Hochzeit (1,140-148) mit der Störung der Hochzeitsfeierlichkeiten durch die Ankunft von Absyrtus und seiner Flotte (8,259-384).23 Selbstverständlich will Jason trotz der Liebe zu Medea weiterhin das Goldene Vlies erwerben. Er verfolgt das Ziel jedoch zusätzlich zur Verbindung mit Medea (vgl. 7,490-496), um seinen Auftrag auszuführen (vgl. 8,42b-43a) und die Gefährten zu befriedigen (vgl. 8,43b; vgl. auch l,272b-273a. 8,393b; vgl. Brooks 1951, 109). In Zusammenhang mit lasons vorheriger uneingeschränkt positiver Charakterisierung (8,24-36) braucht man wohl auch (s. u. S. 257 Anm. 58) bei seiner Bitte an Medea, ihm das Goldene Vlies zu verschaffen ( 8 , 3 7 ^ 3 ) , nicht an der Wahrheit seiner Worte zu zweifeln, wie Lüthje (1971, 328f.) es tut (anders Langen 1896/97, 523 zu 8,44; Shelton 1971, 494). Die Beschreibung von lasons Verhalten, nachdem er im Besitz des Goldenen Vlieses ist (8,122b-124), muß, da keine Angaben über seine Gefühle gemacht werden, nicht besondere Freude über den dadurch erzielten Ruhm zum Ausdruck bringen (vgl. Apollonios Rhodios' Begründung für ein ähnliches Verhalten seines lason, AR 4,179-182), sondern kann einfach Befriedigung über die endlich vollbrachte Tat zeigen (vgl. 8,117). - Der Vergleich zwischen dem Erwerb des Goldenen Vlieses durch die Argonauten und der Rettung der Penaten durch Aeneas bei Lüthje (1971, 211 Anm. 1) hat im Text keine Grundlage. 22 Vgl. Stadler 1993, 4, 163 zu 7,407-538, 173 zu 7 , 4 3 1 ^ 3 6 . Vgl. Salemme 1993, passim, der bei seiner Analyse der Entwicklung von Medeas Liebe, besonders durch den Vergleich mit Vorbildern und die Berücksichtigung der Implikationen der Gleichnisse, hervorhebt, daß von Anfang an Hinweise auf den unheilvollen Charakter der Liebesbeziehung gegeben werden. 23 Vgl. Wagner 1939, 34 u. 164; Shey 1968, 250f.; Adamietz 1976a, lOf.; Otte 1992, 51f. (mit weitgehenden Folgerungen); Salemme 1993, 72f.; Gärtner 1994, 256-258; Fuhrer 1998, 17; etwas andere Deutung der Bilder bei Langen 1896/97, 37f. zu 1,129; Shelton 1971, lOf.; Frank 1974, 837f.; Bames 1981, 364 - Auch bei der Annahme, daß die Bilder auf der Argo die Ereignisse bei Medeas Hochzeit vorwegnehmen, können sie nur bedingt mit anderen künstlerischen Darstellungen der Zukunft wie den Bildern am Tempel in Colchis (5,407b-455) verglichen werden, wie

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В. Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Auch unabhängig von der Medeahandlung wird im Verlauf des Epos verschiedentlich gezeigt, wie Liebesbeziehungen unter göttlichem Einfluß zu Leid führen. Besonders deutlich geschieht das in der Lemnos-Episode (2,82-430), in der die Zerstörung ehelicher Verbindungen bestimmendes Motiv ist.24 Dort ist sowohl der eigentliche Grund für Venus' Racheaktionen ihr Ehebruch mit Mars (vgl. 2,99b-100; vgl. auch 2,208b) als auch das Mittel, mit dem sie sie durchführt, vorgetäuschter Ehebruch (vgl. bes. 2,131-132.146-147). Außerdem veranlaßt sie durch den Aufenthalt der Argonauten auf Lemnos Hypsipyle dazu, sich in lason zu verlieben (vgl. 2,351-355), obwohl die Liebesbeziehung gleich wieder aufgelöst werden muß (vgl. 2,400-425). Von ihrem Ehebruch herrührender Ärger bestimmt Venus auch bei der Unterstützung von lunos Intrige gegen die Colcher, da sie glaubt, sich so an Sol, der den Ehebruch aufgedeckt hat, und dessen Geschlecht rächen zu können (vgl. 6,467b-468).25 Liebesbeziehungen, die auf echter Liebe und Treue beruhen und nicht, wie man e silentio vielleicht schließen darf, von Göttern manipuhert wurden, sind im gesamten Epos allein die schon vor Beginn der Eposhandlung geschlossenen Ehen von lasons Eltern sowie von Cyzicus und Clite. Für lasons Eltern ist es möglich, ihre Treue und das enge Verhältnis zueinander bis zum Tod aufrechtzuerhalten (vgl. l,763-765a). Dagegen wird die Ehe von Cyzicus und Clite durch göttliche Einflußnahme zerstört. Allerdings geschieht das nicht wie in anderen Fällen aufgrund der Art der Verbindung zwischen den Partnern oder deren Instrumentalisierung durch die Götter, sondern als Folge von Cyzicus' Bestrafung durch Cybele. Wie aus elites Юagerede (3,316-329) hervorgeht, kann jedoch auch eine solche von Liebe unabhängige göttliche Einwirkung zu Leid der Menschen aufgrund der Existenz von Liebesbeziehungen führen. Adamietz (1976a, 11) es tut. Denn die Bilder auf der Argo stellen nicht direkt die Zukunft der Personen des Epos dar, sondern zeigen konkrete Erlebnisse mythischer Gestalten, so daß lediglich eine indirekte Beziehung aufgrund der Parallelität besteht (vgl. Gärtner 1994, 259, ähnlich 258 in bezug auf den Unterschied zu Gleichnissen). Jedenfalls erzeugen die Bilder insgesamt eine negative Atmosphäre und dienen nicht, wie Lüthje (1971, 11 f.) meint, zu Ermutigung und Anreiz der Argonauten. - In formal-struktureller Hinsicht ist femer dadurch ein enger Zusammenhang zwischen den Bildern und dem Geschehen des Epos gegeben, daß die Figuren, die auf den Bildern zu sehen sind, teilweise aktiv an der Handlung beteiligt sind (vgl. Adamietz 1976a, 11). 24 Vgl. Brooks 1951, 83f.; Shelton 1971, 61-66; Smith 1987, 54 zu 2,98-106. 25 Vgl. Wagner 1805, 210 zu 6,467ff.; Langen 1896/97, 446f. zu 6,467; Brooks 1951, 81 u. 84; Shelton 1971, 372; Adamietz 1976a, 35 u. 87; Smith 1987, 54 zu 2,98-106; Poortvliet 1991, 84 zu 2,98ff.; Stadler 1993, 2 u. 72 zu 7,171-175; Fucecchi 1996, 135 u. 157 Anm. 112; Fucecchi 1997, 14, 34 Anm. 63, 112 zu 6,467-76.

III. Menschenbild

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Der zerstörerische Effekt von göttlicher Einwirkung auf zwischenmenschliche Beziehungen wird in der Cyzicus-Episode besonders prägnant vor Augen geführt, weil zwischen eigenthchem Verhalten und Einstellung der Menschen auf der einen Seite und der durch göttliche Einflußnahme herbeigeführten Situation auf der anderen ein starker Kontrast besteht. Denn die Zerstörung wird allein durch die Götter herbeigeführt, während die Menschen sich in vollkommener Harmonie miteinander befinden und diesen Zustand beibehalten wollen. Die herausgehobene Stellung der Cyzicus-Episode in dieser Hinsicht zeigt sich durch den Unterschied zu anderen Episoden, in denen dargestellt wird, wie Menschen gegen andere Menschen vorgehen (vgl. z.B. Pelias und Aeetes gegen lason, Laomedon gegen Hercules). Das Handeln solcher Personen beruht zwar ebenfalls auf einem göttlichen Anstoß (z.B. warnende Götterzeichen); sie entwickeln ihn jedoch in Eigeninitiative weiter. Auch in diesen Fällen gehen zwischenmenschliche Beziehungen, und zwar enge verwandtschaftliche Verbindungen, zugrunde. Das erreichen die Menschen durch betrügerisches und listiges Vorgehen,26 bei dem sie gerade das Verwandtschaftsverhältnis als positiven Wert instrumental einsetzen. Diese Tatsache zeigt, wie wichtig es Valerius Flaccus ist, die grundsätzliche Hochschätzung zwischenmenschlicher Beziehungen durch die Menschen sowie die Gegebenheiten für deren Bestehen deutlich werden zu lassen. Insgesamt ergibt sich vor dem Hintergrund des Gesamtwerks, daß Valerius Flaccus, wenn er in der Cyzicus-Episode den Aspekt der Zerstörung zwischenmenschlicher Beziehungen einbezieht, ein für ihn generell wichtiges Thema behandelt. Pietätvolles Handeln gegenüber anderen Menschen und das Eingehen dauerhafter und befriedigender Liebesbeziehungen sind

26 Ein derartiges Verhalten führt Valerius Flaccus in mehreren und zum Teil für den Handlungsablauf entscheidenden Situationen gegenüber Apollonios Rhodios neu ein. Dabei unterscheidet er offenbar zwischen dem wesensmäßig listigen Vorgehen bei Tyrannen (Pelias, Laomedon, Aeetes) und vereinzeltem Einsatz von Listen bei anderen Personen (vgl. z.B. lason gegenüber Acastus) aufgrund der gegebenen Umstände (s. o. S. 200 Anm. 56). Außerdem stellt er betrügerisches Handeln dadurch, daß er es auch Götter immer wieder zur Zerstörung von Beziehungen einsetzen läßt (vgl. z.B. luno und Venus gegenüber Medea), als universal verbreitete Verhaltensweise dar (s. o. S. 192ff. mit Anm. 39). Der Komplex der Anwendung von Betrug und List sowie deren Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen ist offenbar für Valerius Flaccus ein eigener Aspekt (vgl. einige Bemerkungen bei Hershkowitz 1998, 242-264, die unter dem sehr weit gefaßten Oberbegriff >Verstellung< auch Verhaltensweisen mit anderen Motiven und zu anderen Zwecken subsumiert sowie die Thematik metapoetisch und intertextuell auswertet).

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

selten uneingeschränkt möglich, sondern werden oft durch göttliche Einwirkung uiunöglich gemacht. Dieser Sachverhalt wird in der Cyzicus-Episode, wie durch den Vergleich mit anderen Episoden erkennbar wird, zugespitzt und eindringhch dargestellt. Denn dort gibt es keinerlei bösartiges Vorgehen der Menschen, im Gegenteil kommt im gesamten Epos Freundschaft, Innigkeit und Bereitwilligkeit zum Einsatz für andere am deutlichsten zum Ausdruck. Die Menschen wollen also ideale Beziehungen in Valerius Flaccus' Sinne verwirklichen. Bei einer solchen Einstellung wirkt deren Verhinderung durch göttliche Einflußnahme um so drastischer. Der Eindruck wird durch die mittelbare und indirekte Art des göttlichen Eingriffs und seiner Auswirkungen verstärkt. Das göttliche Wirken richtet sich nämlich nicht direkt gegen ein Verhältnis zwischen Menschen, das den Plänen der Götter hinderlich ist, sondern es geht eigentlich allein um Cyzicus' Bestrafung. Dabei hat die Art, die die Göttin dafür wählt, zur Folge, daß die Beziehungen zwischen den Gastfreunden sowie zwischen den Liebenden zerstört werden. Eingehen und Aufrechterhalten von Bindungen gelingt den Menschen nur, solange die Götter nicht in irgendeiner Weise eingreifen. In einer solchen vom Interesse der Götter bestimmten Welt haben die Menschen lediglich die Möglichkeit, innerhalb des begrenzten ihnen zur Verfügung stehenden Freiraums untereinander Liebe und wahre Zuverlässigkeit zu zeigen und so innerhalb des unberechenbaren Ablaufs der Ereignisse eine gewisse Sicherheit zu schaffen.

2. Charakter der Argonauten Die Schilderung des Verhaltens der Argonauten im Kampf auf Cyzicus (3,95-248) führt aufgrund der äußeren Bedingungen in der Episode allgemein und konkret die typischen grundsätzlichen und wesensmäßigen Eigenschaften der Argonauten bei Valerius Flaccus klar vor Augen. Die generellen Charakteristika der Argonauten zeigen sich auch an anderen Stellen des Werks, aber erst eine so deutliche Präsentation macht das Handeln der Argonauten im weiteren Verlauf des Epos, vor allem bei den Ereignissen in Colchis, richtig verständlich. Daher liegt in Zusammenhang mit der Cyzicus-Episode eine Untersuchung der zentralen Eigenschaften der Argonauten und deren wechselseitiger Beziehung zur Situation in Colchis nahe.

III. Menschenbild

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Wie innerhalb der Schlachtschilderung mehrfach in bezug auf verschiedene Kämpfer unter den Argonauten gesagt wird (vgl. 3 , 8 0 b - 8 2 . 8 5 b - 8 6 a . 103-105a.l43-145a), führen die Argonauten den Kampf auf Cyzicus, nachdem sie dazu herausgefordert worden sind (3,78-80a), einsatzbereit und kampftüchtig. Mut und Bereitwilligkeit zum Kampf, um andere zu unterstützen oder um auf eine Herausforderung zu reagieren, werden so als charakteristisches Merkmal der Argonauten für einzelne und für sie als Gruppe herausgestellt (vgl. auch 5,558-563a. 8,308-311), durch das sie sich besonders auszeichnen (vgl. 5,567-569).2'7 Damit erweisen sich die Argonauten als Träger von virtus in Valerius Flaccus' Verständnis. Denn wie die Analyse der Verwendung des Begriffs und der damit bezeichneten Werte im gesamten Epos zeigt, hat virtus bei Valerius Flaccus die Bedeutung von >Stärke, Kampfesmut, Tüchtigkeit im Kampftwo-voices-theory< zu Vergils Aeneis angenommen, so daß sich ein negatives Bild von lasons Charakter ergibt (vgl. dazu Poortvliet 1991, 216 zu 2,384ff.; Gärtner 1994, 287f.; vgl. dagegen Hull 1979, 398f., für eine positive Deutung der Gleichnisse). Pollini (1984, 51-61) und Taliercio (1992, 26 u. 30) führen neben Ruhmesstreben auch die Absicht, neue Länder kennenzulemen, als Motiv für lason an. Ein solcher Wunsch wird an keiner Stelle als dessen Motiv angegeben; die Idee, unbekannte Länder zu beschreiben, mag höchstens in den Gedanken des Autors eine Rolle spielen. 39 Vgl. Knoche 1934, 102-124, allgemein zum Ruhmesgedanken bei den Römern. Knoche weist unter anderem auf die in diesem Zusammenhang relevanten Aspekte hin, daß Ruhm kein innerer Wert sei, sondern von der Einschätzung der Gemeinschaft abhänge und als Konsequenz aus dem Vollbringen herausragender und tugendhafter Taten entstehe. - Vgl. auch Ehlers 1998, 154, mit der Unterscheidung von virtus und gloria.

III. Menschenbild

247

von Handlungen notwendig mitgegeben ist, sondern sich nur als Konsequenz von tapferem Einsatz in Kämpfen jeder Art einstellen kann. Beim ersten Vorkommen des Ruhmesbegriffs, der Apostrophe an die personifizierte Gloria (l,76b-78), heißt es, daß Gloria als einzige Herzen in leidenschaftliche Erregung versetze und junge Männer beeinflusse. Damit wird Ruhm an sich als eine universell mitreißende und bestimmende Größe eingeführt, die als äußerliches Ergebnis die Menschen lenken kann. Entsprechend werden Aussagen vom Dichter explizit ais flatus (3,631) und vana ... lingua (3,632) charakterisiert (vgl. auch 4,649b-650), wenn Menschen darin ihre Kampftüchtigkeit und den damit zu erwerbenden Ruhm herausstellen, aber nicht wirklich die Fähigkeit zum Vollbringen großer Taten als sachüche Fundierung ihrer Behauptung besitzen (vgl. 3,628b636) In Gegensatz dazu werden die Eigenschaften eines Menschen als virtus und nicht als Ruhm bezeichnet, wenn es nicht um den äußeren Eindruck, sondern um die wirklich vorhandene Leistungsfähigkeit geht (8,341-342a). Da Ruhm als sichtbare Konsequenz von erfolgreichem Wirken offensichthcher, eingängiger und verführerischer ist als die abstrakte Vorstellung, die vorhandene Fähigkeit der Kampftüchtigkeit einzusetzen, sind die Menschen für Argumente zum Ruhmerwerb ansprechbarer und wird Ruhm von Personen, die andere für ihre Ziele gewinnen wollen, instrumental als Wert eingesetzt. Daher findet sich das an lasons Rede in der Cyzicus-Episode (3,373-376) zu beobachtende Phänomen, daß der Aspekt des Ruhms durch die Formulierungen im Vordergrund steht, in Reden verschiedener Personen, wenn die Angeredeten durch Appell an ihren Kampfesmut und die damit zu erreichenden Werte motiviert werden sollen (vgl. z.B. 1,172. 248-249).'» Oft wird in solchen Reden zwar darauf hingewiesen, daß der Ruhm durch Vollbringen von Leistungen erlangt werden wird (vgl. z.B. 1,99.172. 248-249). Das charakteristische Merkmal solcher Reden ist jedoch, daß die Betonung nicht auf den Taten oder gar den damit verbundenen Anstrengungen liegt, sondern allein auf dem bei erfolgreicher Ausführung zu erwerbenden Ruhm, der als sichere Folge hingestellt wird. Daß die Menschen damit rechnen, daß das Versprechen von (noch nicht sicherem) Ruhm als Mittel zur Motivation und Überrredung eingesetzt wird, zeigt 40 Vgl. Langen 1896/97, 265 zu 3,631 u. 632; Shelton 1971, 161f. 41 Vgl. Shelton 1971, 3 u. 12f.; Eigler 1988, 18; Wacht 1991b, 105, zur Ausrichtung von Reden nach der Intention des Redenden und der Einstellung des Gegenübers.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Pelias' Klagerede um Acastus (1,712-721), in der er diesen als falsae ... captum laudis amore (1,717) aufgrund von lasons listigen Machenschaften bezeichnet.'*^ Pelias selbst geht allerdings auf dieselbe Weise vor, indem er seinen Auftrag an lason (1,40-57) geschickt so formuliert, daß er neben der Präsentation der Argofahrt als heldenhafte Tat unterschwellig suggeriert, daß sie eine Gelegenheit zum Ruhmerwerb biete (bes. l,40b.56-57). Ähnlich verhält sich Aeetes, der lason bei der ersten Aufgabe (5,534b-541a) den zu erwartenden Kriegsruhm vor Augen stellt (5,539) und ihn bei der zweiten (7,58-77) mit der Schande, die für ihn aus einer erfolglosen Rückkehr entstehen könnte (7,59a), sowie mit dem Ruhm, den er selbst durch den Umgang mit den Stieren erreicht habe (7,67b), als Vorbild und Maßstab zu motivieren sucht. Daß lason bis zu einem gewissen Grade von solchen Argumenten angesprochen wird, ergibt sich aus der Wiedergabe seiner durch Pelias' Aufforderung ausgelösten Überlegungen (1,64-80), worin sich die Apostrophe an Gloria (l,76b-78) befindet. Obwohl Gloria als eine für alle jungen Männer gefährliche Kraft charakterisiert wird, ist lason nicht so anfällig für das In-Aussicht-Stellen von Ruhm, daß sein Handeln ausschließlich von diesem Aspekt gelenkt werden könnte. Denn lason erwägt die Möglichkeit des Ruhmerwerbs nicht absolut, sondern in bezug auf göttliche Unterstützung (l,73b-76a), ist aber trotzdem nach der Betrachtung allein des Ruhmesgedankens nicht innerlich davon überzeugt, daß er die Fahrt wagen sollte (vgl. 1,79). Bei lasons endgültiger Zuversicht, die Fahrt zu unternehmen (vgl. 1,79-80), ist Ruhmeserwartung überhaupt nicht von Bedeutung, sondern das Vertrauen auf die Götter. Die Formulierungen bei der Beschreibung von lasons innerem Zustand sowie bei seiner Beschlußfassung (1,79-80) und darunter vor allem die Einleitung mit tandem (1,79) machen eindeutig klar, daß die Berücksichtigung der Götter nicht als zusätzliches Element zu der schon gefällten Entscheidung hinzukommt, sondern das ausschlaggebende Moment ist, das schließUch im Zustand der Unsicherheit nach einem langen Prozeß ergebnisloser Überlegungen den Entschluß über die weitere Vorgehensweise herbeiführt.'^^ Daraufhin richtet sich lason in Entsprechung zu seinen

42 Wenig plausibel ist Hulls (1979, 38If.) Deutung dieses Ausdrucks, daß Pelias als typischer Tyrann Ruhm nur als leeren Wert ansehe und nicht wie die Helden als erstrebenswertes Ziel. 43 Ein derartiges Verständnis von tandem (1,79) wird durch die Tatsache nahegelegt, daß tandem an anderen Stellen (vgl. z.B. 3,509. 6,3. 1,1 All) eindeutig zum Ausdruck eines solchen Vorgangs dient (vgl. Barich 1982, 37 Anm. 10; Eigler 1988,

III. Menschenbild

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wahren inneren Überzeugungen mit einem Gebet um Hilfe an die Götter (1,81-90). Eine praktische Entscheidung, wie die Fahrt im einzelnen durchzuführen ist, trifft lason nicht. Man muß wohl davon ausgehen, daß er mit der Hinwendung an die Götter die Frage (zunächst) als gelöst betrachtet. lason ist also auch durch die Vorstellung von Ruhmerwerb beeinflußt, entschließt sich deshalb aber nicht leichtsinnig und überstürzt zum Handeln, sondern läßt sich von seiner religio leiten. Bei der Annahme des Befehls, die Argofahrt durchzuführen, erscheint lason als von heroischen und religiösen Idealen bestimmt und als ein Mensch, der nicht vollkommen durch einseitige Hervorhebung betörender Aspekte beeinflußt werden kann. In Übereinstimmung damit ist lasons spätere Bemerkung (8,198b199) bei der Beratung über den Rückweg (8,175-201) nicht so zu verstehen, daß er sich in Ruhmesbegierde zur Vergrößerung seines Ruhms überall zeigen wUl, sondern so, daß er nichts dagegen hat, mit einer längeren Rückfahrt an verschiedenen Ländern vorbei deutlich zu machen, daß er die gestellte Aufgabe bewältigt hat und wohlbehalten zurückkehrt.^^ Der Zusatz von redeuntem (8,199) macht klar, daß vor allem die erfolgreiche Rückkehr gezeigt werden soll, die in der Cyzicus-Episode (3,367.375) und an anderen Stellen als von den Argonauten erwünscht und daher als leitendes Moment genannt wird. Die Aussicht auf Ruhm setzen auch Götter bei ihrer Beeinflussung der Menschen instrumental ein, um sie zu Handlungen im Rahmen ihrer eigenen Pläne zu veranlassen, und mißbrauchen damit die Wertvorstellungen der Menschen. So benutzt luno, als sie eine Mannschaft für das von ihr unterstützte Unternehmen der Argofahrt gewinnen will (1,96-99), als Motivierung den zu erwartenden Ruhm, der sich aus der erstmaligen Fahrt über das offene Meer, dem Vollbringen großer Taten und der erfolgreichen

40 mit Anm. 11, 84, 90, 95 mit Anm. 23; Schenk 1991, 141f.). - Vgl. ansatzweise Langen 1896/97, 28 zu 1,65; Adamietz 1976a, 6f. mit Anm. 11; Ehlers 1998, 150, mit einer vergleichbaren Deutung von lasons Motivation gegen Lüthje (1971, 6f.; ähnlich Wagner 1939, 39; Shey 1968, 31, 43, 214; Burck 1979, 238f.; Lefèvre 1991, 178-180; Wacht 1991b, 108-113; Gärtner 1994, 76, 87, 154; Gärtner 1996, 295), der lasons Ruhmesstreben über die Gedanken an die Götter stellt (s. o. S. 245 Anm. 38). - Daß lasons Absicht, sich duch den Erwerb des Goldenen Vlieses Ruhm zu verschaffen, in Diodorus Siculus' Version (4,40) die treibende Kraft für die Durchführung der Argofahrt ist, bietet keine Anhaltspunkte für die Feststellung von lasons Motivation bei Valerius Flaccus. 44 Anders Langen 1896/97, 533 zu 8,199; Lüthje 1971, 341; Tschiedel 1998, 302; wohl auch Wagner 1805, 269 zu 8,198f.

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Rückkehr ergeben wird (l,97-99).'*5 Später suggeriert luno, indem sie Hercules von den Argonauten entfernt (3,487-740) und gleichzeitig für die Abfahrt günstige Winde sendet (3,611-612), den Argonauten neue Aussicht auf weiteren Ruhm in dem für die anderen Teilnehmer geschaffenen größeren Freiraum (vgl. 3,628b-636) und veranlaßt sie auf diese Weise dazu, ohne Hercules abzusegeln. Vergleichbar mit der Motivierung durch den Ruhmesgedanken wenden andere Personen die Idee des Ruhms, die in positivem Sinne als äußeres Zeichen von erfolgreichem Wirken dient, auf die Argonauten an, um deren herausragende Kampftüchtigkeit zum Ausdruck zu bringen (vgl. z.B. 1,745b. 2,564b. 4,553b. 5,83b). Auch die Argonauten selber lassen sich bis zu einem gewissen Grade von der Vorstellung des Ruhms als eines äußerlich sichtbaren Ergebnisses ihrer Taten beeinflussen, ohne daß diese zur entscheidenden Motivation ihrer Handlungen würde. So sind sie stolz, wenn ihr Wirken zu Erfolg und Ruhm führt, und freuen sich über die Anerkennung durch andere (vgl. z.B. 2,545b-546a. 3,676-678. 4,53b.312b314.341b-343). Entsprechend können die Argonauten Angst vor Schande bei Mißerfolg wegen des dann fehlenden Ruhms empfinden (vgl. z.B. 2,525-526. 4,655b). Dennoch bleibt die Berücksichtigung des Ruhms nur ein Nebenaspekt für das Verhalten der Argonauten. Daher steht ihre Einstellung zum Ruhmerwerb bei Valerius Flaccus in Gegensatz zu der bei Apollonios Rhodios. Denn in Apollonios Rhodios' Version wird die Absicht der Argonauten, für sich selbst und für das Unternehmen als ganzes Ruhm zu erlangen, durchaus auch in objektiven Beschreibungen und eigenen Aussagen der Argonauten über ihre Motivation als primäres Ziel genannt (vgl. z.B. AR l,100b.l41b.206b.447b; vgl. auch l,351.869-870a. 4,205). Weil bei Apollonios Rhodios dementsprechend das Verlangen nach Ruhmerwerb für die Argonauten ein mögliches Handlungsmotiv sein kann, unterstellt Telamón es lason als Grund für die Abfahrt ohne Herakles (AR 1,1290-1293). Der Unterschied in der Rolle des Ruhmesgedankens ergibt sich aus der verschiedenen Erzählweise und Darstellungsabsicht der beiden Autoren. 45 In Pindars Darstellung bringt nicht Hera allein die Mannschaft für die Argofahrt zusammen, sondern unterstützt lediglich durch ihr Eingreifen die menschlichen Aktivitäten {Pyth. 4,169-17la). Dazu versucht sie unter anderem, in den künftigen Argonauten den Wunsch zu wecken, unter Eingehen aller Gefahren ihre virtus zu beweisen {Pyth. 4,184-187). Dagegen schafft sich Valerius Flaccus durch seine Gestaltung die Möglichkeit, auf den starken göttlichen Einfluß, die Instrumentalisierung des Ruhmesgedankens und die Bedeutung der Argofahrt als erste Fahrt über das offene Meer hinzuweisen. - S. o. Kap. В II 4 (S. 206ff.) zum Verhalten der Argonauten bei der Zurücklassung des Hercules.

III. Menschenbild

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Apollonios Rhodios hat im wesentlichen eine Außensicht, wozu Ruhm als äußerlich feststellbare Größe paßt. Dagegen kann Valerius Flaccus von seiner Konzeption her, die auch das Innere der Menschen erfaßt, Ruhm als Motiv isolieren und von den Eigenschaften der Menschen trennen. Da Valerius Flaccus auch die Mühen, die mit der Ausführung von Taten verbunden sind, betont, wird der Ruhmesgedanke bei ihm problematisiert. Dem mutigen und unbedingten Einsatz im Kampf, der bei Valerius Flaccus die Argonauten auszeichnet, entspricht angesichts der Aufgaben und Situationen, mit denen sie konfrontiert werden, das damit erzielte Ergebnis nicht. Denn vor allem durch den Einfluß der Götter bestehen Umstände, in denen die Anwendung von Kampftüchtigkeit nach den traditionellen heldischen Idealen nicht erfolgreich ist.46 Die Diskrepanz zwischen dem mutigen Kampfeinsatz der Argonauten und dem erzielten Ergebnis wird auf Cyzicus in der von Göttern ausgelösten Tötung von Gastfreunden, die die Argonauten in eine Krise geraten läßt, zum ersten Mal deutlich. Bei den Kämpfen in Colchis (6,1-760) zeigt sie sich in der UnmögUchkeit, allein mit Kampftüchtigkeit das Goldene Vlies zu gewinnen. Denn in der Schlacht geht es Aeetes aufgrund seiner durch Götterzeichen ausgelösten Furcht (vgl. 5,231-258) nicht in erster Linie um den Sieg über Perses, sondern um die Vernichtung der Argonauten zur Aufrechterhaltung seiner Machtposition (vgl. 5,519-531). Daher bringt das tüchtige und für den vordergründigen Zweck des Kampfs erfolgreiche Wirken der Argonauten diese dem Goldenen Vlies keinen Schritt näher, sondern es warten stattdessen neue Aufgaben auf sie (vgl. 7,26-77). Diese Situation formuhert Perses nach dem Ende des Kampfs, während die Argonauten dessen Konsequenzen für sich noch nicht absehen können, in seiner klagenden Rede (6,727-736). Perses wünscht, daß die Argonauten den wahren Charakter der Ereignisse und deren Folgen erkennen (6,733b-736), nämlich daß sie sich zwar angestrengt und abgemüht, ihr eigentliches Ziel aber nicht erreicht haben (6,736). Schon während des Kampfs bietet sich aufgrund der Kampfbedingungen keine Gelegenheit mehr, die eigene virtus durch kämpferische Leistungen richtig zur Anwendung zu bringen. Denn der Kampf entwickelt sich

46 Vgl. Ferenczi 1995, 147-156, bes. 155, zur Erfolglosigkeit der Argonauten aufgrund der äußeren Umstände trotz des Einsatzes der positiven Eigenschaft der Kampftüchtigkeit (vgl. ähnlich, aber mit anderer Nuancierung Ehlers 1998, 154f. mit Anm. 20, der bei seiner Kritik an Ferenczi nicht zwischen unmittelbaren und umfassenden Zielen unterscheidet; ansatzweise Burck 1970, 545; anders Gärtner 1994, 105, 167 U.Ö.).

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

mehr zu einem Abschlachten im Kampfgewühl, so daß die kampftüchtigen Leistungen einzelner darin untergehen (vgl. 6,200-20la, bes. 6,200a47). lason wird zwar von luno außergewöhnliche virtus verliehen (6,602b603). Diese führt jedoch einerseits nicht zu dem von den Argonauten gewünschten Ergebnis und bewirkt andererseits, daß der Kampf, wie der Dichter ausdrücklich sagt, auch für Perses und Medea schlimme Folgen hat (6,605b-606). Die Möglichkeit, durch den Einsatz von virtus positive Ziele zu erreichen, ist wohl, ähnhch wie die Ausübung von pietas, nur in kleinen abgegrenzten Bereichen gegeben. Als Beispiel eines Menschen, der über große virtus aufgrund von besonderer К0фег81Мгке''^ verfügt und diese in relativ weitem Umfang erfolgreich einsetzt, dient die Figur des Hercules, der entsprechend unter den anderen Argonauten eine herausragende Stellung einnünmt.49 Die Wahl dieser Gestalt für eine solche Rolle liegt nahe, da 47 Die genaue Deutung des Ausdracks mixta périt virtus (6,200) ist schwierig. Nach der verbreitetsten Auffassung (vgl. z.B. Langen 1896/97, 423 zu 6,200; Eisenhut 1973, 164) ist virtus hier als abstractum pro concreto gebraucht und bezeichnet der Ausdruck deshalb das Sterben vieler tapferer Männer im Kampfgewühl. Da es aber unmittelbar anschließend heißt, daß sterbende Kämpfer nicht wissen, durch wen sie umkommen (6,200b-201a), muß die Formulierung (zumindest auch) besagen, daß die positive Eigenschaft der virtus und die Möglichkeit, ein entsprechendes Verhalten deutlich zu zeigen, im Durcheinander des Kampfs zugrunde gehen, weil nicht mehr zu erkennen ist, wer welche Tat vollbringt (vgl. Wagner 1805, 194 zu 6,200ff.; Shelton 1971, 341f.). 48 Vgl. z.B. l , 1 1 0 b - l l l a . l l 7 . 2 5 3 a . 4 3 4 - 4 3 5 . 2,490b-492.510. 3 , 4 7 4 b - 4 8 0 . 486.609b-610a.619b. 49 Hercules' Sonderstellung innerhalb der Argonauten, die Bedeutung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Hercules' und lasons Position u n d Verhalten sowie Hercules' Bedeutung für Konzeption und Aussage des Epos heben u.a. Shey (1968, 30f., 47f., 6 9 - 7 3 u.ö.), Adamietz (bes. 1970, 29-38; auch 1976a, 37f., 53f., 65f. U.Ö.), Lüthje (1971, 74, 76, 78-84, 113f., 147-149 u.ö.), Shelton (1971, 9, 24, 179f., 212f., 269-271, 500f. u.ö.), Gärtner (1994, 88f., 98-101, 122, 154f., 226, 2 8 9 - 2 9 1 u.ö.) und Hershkowitz (1998, 118f. u. 146-159) hervor. A u f grund eines anderen Verständnisses der Charaktere der beiden Figuren, ihrer Motivationen, der Hauptthemen mancher Episoden und der Rolle der äußeren Umstände kommen sie bei der Auswertung zu Ergebnissen, die untereinander und von den hier vorgelegten verschieden sind. Sicherlich zutreffend sind allerdings Adamietz' mehr formal-strukturelle Feststellungen, daß lasons Position als Führer bei Valerius Flaccus gegenüber Apollonios Rhodios gestärkt sei (vgl. z.B. Verzicht auf Beschreibung der Führerwahl, AR 1,336-352), Hercules durch mehrere auf ihn bezogene, miteinander in Zusammenhang stehende Episoden eine größere Bedeutung erhalte sowie lason und Hercules Freundschaft verbinde (zustimmend Hershkowitz 1998, llOf. u. 118f.). Problematisch ist allerdings seine Schlußfolgerung, daß durch Vergleiche, in denen lason mit Hercules in Beziehung gesetzt wird (vgl. z.B. 5 , 4 8 7 b ^ 8 8 a . 8,125-126), lason Züge von Hercules verliehen würden (ähnlich Wijsman 1996, 232 zu 5,486). Denn die Gleichnisse illustrieren jeweils wohl eher eine vergleichbare konkrete Situation oder bestimmte Verhaltensweise und beziehen sich nicht auf die Charaktere als

III. Menschenbild

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Hercules bereits in der Tradition als Wohltäter der Menschen fungiert.50 Jedoch werden Hercules' derartige Qualitäten durch die Art der Darstellung bei Valerius Flaccus ausdrücklich hervorgehoben. Vor allem schafft Valerius Flaccus durch Hinzufügungen bzw. Veränderungen gegenüber Apollonios Rhodios in seinem Epos zwei Episoden, in denen Hercules aufgrund seiner Kampfkraft als Befreier auftritt (Hesione, 2,497-549; Prometheus, 5,156-176, vgl. AR 2,1247-1259).5i Indem Her-

ganze. In Gegensatz zu allen diesen 1п1ефге1а110пеп schätzt Spaltenstein (1991, 99f.) die Gestalt des Hercules als vollkommen negativ und unausgeglichen dargestellt ein. Happies (1957, 138f.) Annahme, daß Hercules danach strebe, in freien Rettungstaten sich selbst zu erfüllen, beruht wohl zu sehr auf modemer Psychologie und ihrer Gesamtdeutung des Epos (s. o. S. 204 Anm. 63). Billerbeck (1986, 3130-3134) sieht in der Gestalt des Hercules eine Verbindung von mythischen und stoischen Elementen. - Wie bei allen Argonauten ist Tatendrang und weniger Ruhmesstreben (so aber Happle 1957, 60f.; Adamietz 1970, 32; Shelton 1971, 85f., 212 u.ö.) eine charakteristische Eigenschaft von Hercules, die fortwährend mindestens ebenso bestimmend ist wie seine Liebe zu Hylas (anders Lüthje 1971, 124 u. 137; Shelton 1971, 178 u. 180). 50 Vgl. O. Gruppe, Art. >Herakleswie auch immer beschaffen< (anders Wijsman 1996, 193 zu 5,387) und drückt lasons Unwissenheit über Aeetes' Charakter und die richtige Art, ihm zu begegnen, aus. - Bei zahlreichen Reden lasons wird vermutet (vgl. z.B. Lüthje 1971, 16f., 215f., 225f., 307f., 329 U.Ö.; Lefèvre 1991, 178-180; Wacht 1991b, 112-114; Gärtner 1994, 76; Gärtner 1996, 295; Wijsman 1996, 225-242 zu 5,471-518 passim; anders Brooks 1951, 103f.), daß sie nicht der Wahrheit entsprächen, sondern auf Verstellung und vorgeschobenen Argumenten beruhten. Das ist besonders bei denjenigen der Fall, in denen lason seine Situation in einer bestimmten Weise darstellt, vor allem wenn er sich auf Pelias' Befehl als Grund für die Argofahrt beruft und Götter oder Medea um Hilfeleistungen für die zu bestehenden Aufgaben bittet (vgl. dazu Adamietz 1976b, 460). Bei diesen Reden lasons wird aber nicht, wie bei anderen Reden anderer Personen (vgl. bes. 1,38-39.58-63. 5,533b-534a; vgl. auch die Beschreibung von lasons eigener List, 1,149-183), die Unaufrichtigkeit deutlich gemacht, und auch der Gesamtzusammenhang legt sie nicht nahe. Ferner wird bei lasons Reaktion (1,64-80) auf Pelias' Auftrag (1,40-57) betont, daß er einen unausweichlichen Befehl annimmt (bes. 1,66b.74b). Deshalb scheint die Deutung von lasons Reden als Verstellung nicht zutreffend. Daher können sie in vollem Umfang als verläßliche Basis zur Inteφгetation und für sein Charakterbild herangezogen werden. - Stadler führt die Thematisierung des Aspekts der Hilfe durch andere auf typisch römische Vorstellungen (1993, 185f. zu 7,477^82), die .mutige Annahme der Befehle der Tyrannen und lasons heldischen Einsatz im Kampf trotz Medeas Hilfe auf stoische Lehren (1993,

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Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Aeetes' maßloser Forderung, gegen die Stiere und Erdgeborenen zu kämpfen (vgl. 7,58-77), bittet lason Medea um Unterstützung (7,413^30). Gleichzeitig wird deutlich hervorgehoben, daß lason trotz der Zugeständnisse nichts von der Heldenhaftigkeit, die ihn bei der mutigen Annahme der Aufträge kennzeichnete, verloren hat, sondern wegen der äußeren Umstände auf andere Mittel zurückgreift, aber erst aufgrund der Gegebenheiten der Situation gegen seine eigenüiche Einstellung dazu veranlaßt wird. Denn die gesamte Handlung, in der lason sich Medeas Hilfe bedient, kommt erst in Gang, nachdem er durch seinen mutigen Einsatz im Kampf gegen Perses Aeetes' ersten listigen Auftrag eigenständig bewältigt und auf diese Weise die Inanspruchnahme anderer Methoden bei zusätzlichen Forderungen gerechtfertigt hat (vgl. 7,422-424a).5^ Auf anderer Ebene wird lason dadurch enüastet, daß die entscheidende Begegnung von lason und Medea (7,407-538), bei der er Medeas Unterstützung zu gewinnen sucht (7,413-430), nicht aufgrund einer Initiative von ihm selbst, sondern durch göttliches Wirken zustande kommt (vgl. bes. 7,179-181.398-399).60 Da lason zu dem Zeitpunkt bereits erkennt, daß er Aeetes' Aufgaben allein nicht erfolgreich bewältigen können wird, nutzt er die Situation für ein Hilfsersuchen an Medea (7,413-419). Dabei betont er jedoch seine eigene Entschlossenheit, indem er mit besonderem Nachdruck deutlich macht, daß er lieber sterben wolle, als einen Befehl nicht auszuführen und sich nicht bis zum Ende kampftüchtig einzusetzen (7,427b-430).6i Eine Rede, in der lason sich ganz von Medea abhängig machte und die daher seiner heroischen Stellung widerspräche, gibt es von lason im gesamten Epos nicht. Von dieser Art ist nur die von Venus-Circe fingierte (7,266-287), die ein Bestandteil der göttlichen Machenschaften zu Medeas Beeinflussung ist.62 Durch den Gegensatz wird der heldische Charakter des echten lason besonders deutlich. Im Kampf gegen die Stiere (7,576-600a) vollbringt lason eine selbständige Leistung, weil er den ersten hauptsächlich durch seine eigene Kampf47f. zu 7,89-95; 214 zu 7,559-606; so auch Taliercio 1992, 90 zu 7,89-95; Perutelli 1997, 213 zu 7,95) zurück. 59 Vgl. Wagner 1939, 92; Happle 1957, 219 Anm. 3; Wetzel 1957, 39, 74 mit Anm. 1, 100 mit Anm. 2; Garson 1963, 264f.; Garson 1965, 108; Shey 1968, 185 u. 194; Lüthje 1971, 229; Venini 1971b, 611f.; Burck 1975, 583; Adamietz 1976a, 78f.; Stadler 1993, 29 zu 7,26-100 u. 133 zu 7,344-346; Taylor 1994, 224; Ferenczi 1995, 151 u. 153; Wijsman 1996, 125 zu 5,218. 60 Vgl. Shelton 1971, 531f.; Stadler 1993, 74 zu 7,176-181, 76f. zu 7,186-192, 104 zu 7,266-270. 61 Vgl. Brooks 1951, 104; Garson 1965, 110; Shelton 1971, 464f.; Taliercio 1992, 26f.; Stadler 1993, 162 zu 7,407-538; Perutelli 1997, 51f. u. 363f. zu 7,413ff. 62 Vgl. Perutelli 1997, 51f. u. 270 zu 7,210ff.

III. Menschenbild

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kraft nur mit einer geringen Verstärkung durch Medea niederringt (7,583b-596a) und lediglich der zweite Stier durch Medeas Einwirkung besiegt wird (7,596b-600a). Auch den Kampf gegen die Erdgeborenen (7,607-643) führt lason zunächst allein mit Hilfe seiner Kampftüchtigkeit (7,616-621). Er nimmt Medeas Hilfe nach langem Zögern und innerem Widerstreben erst in Anspruch, als er mit eigener Kraft wegen der großen Zahl der Gegner nicht mehr weiterkommt (7,622-629), obwohl er auch dann noch eigentlich lieber selbst kämpfte (7,627-628a).63 indem lason in dieser Situation mit Hercules verglichen wird, der im Kampf gegen die Hydra Pallas' Hilfe in Anspruch nehmen mußte (7,623b-624), wird sein Verhalten mit dem des starken Hercules parallelisiert. Die Gleichsetzung hebt hervor, daß lason nur aufgrund der ausweglosen Lage zusätzlich zu seiner Kampfkraft auf Medeas Hilfe zurückgreift, und rechtfertigt so sein V o r g e h e n . 6 4 Bei einer derartigen Beschreibung von lasons Verhalten wird einerseits sein Heldenstatus auch durch die Annahme von Medeas Hilfe nicht geschmälert und andererseits deutlich gemacht, daß lason sich im Unterschied zu seinen Gefährten über die traditionellen Vorstellungen hinaus den veränderten Gegebenheiten bis zu einem gewissen Grade angepaßt hat. Nur so ist es möglich, wenigstens den letzten Kampf in bezug auf das äußere Ziel der Argofahrt erfolgreich zu beenden. In Hinblick auf diese weiteren Entwicklungen werden in der CyzicusEpisode wichtige Voraussetzungen geschaffen. Denn dort zeigen sich am deutlichsten und exemplarisch die grundsätzliche Haltung und ursprüngliche Motivation der Argonauten, femer die Art und Weise, wie sie aufgrund ihrer Fähigkeiten und wesensmäßigen Einstellung spontan auf Herausforderungen reagieren und wie sie ihre Eigenschaften dabei einsetzen, und schließlich das Ergebnis, das sich dadurch in der von den Göttern herbeigeführten Situation ergibt. Nur auf dieser Basis kann das veränderte 63 Vgl. Langen 1896/97, 517 zu 7,625; Wagner 1939, 91 u. 121; Brooks 1951, 107; Happle 1957, 219f. Anm. 3; Wetzel 1957, 75 mit Anm. 2; Shey 1968, 218f.; Lüthje 1971, 320 u. 322; Shelton 1971, 485; Burck 1975, 573f. u. 577; Schubert 1984, 180 Anm. 32; Stadler 1993, 234f. zu 7,607-653 u. 242 zu 7,625-628a; Gärtner 1994, 211; Perutelli 1997, 52, 467 zu 7,623ff., 470 zu 7,628; Hershkowitz 1998, 55f.; etwas anders Brooks 1951, 106-108. - Vgl. Burck 1975, 558-585, für eine ausführliche Analyse der Kampfschilderungen im Vergleich zu Apollonios Rhodios. 64 Vgl. Shey 1968, 216 u. 223; Hull 1979, 402; Stadler 1993, 6 u. 235 zu 7,607-653; Gärtner 1994, 226; Perutelli 1997, 467 zu 7,623ff.; Hershkowitz 1998, 55; vgl. Shelton 1971, 484; Gärtner 1994, 21 If., zum Gleichnis. - Dieser Vergleich ist die einzige Stelle im gesamten Epos, an der (in gewissem Gegensatz zu Hercules' sonstiger Charakterisierung) angedeutet wird, daß auch Hercules in besonderen Situationen der Unterstützung durch andere Mittel bedarf.

260

Β· Inhaltlich-thematische Bezüge zum Gesamtwerk

Verhalten der Argonauten und besonders lasons in Colchis vollkommen verstanden, als Bestandteil einer einheitlichen Charakterentwicklung angesehen und entsprechend der Intention des Dichters bewertet werden.

Zusammenfassung der Ergebnisse

Die Analyse der Cyzicus-Episode in den Argonautica des Valerius Flaccus (2,627 - 3,461) im Vergleich zu Apollonios Rhodios' Version (AR 1,9361152) und die Untersuchung von Aspekten des Gesamtwerks, die in dieser Episode thematisch bedeutsam sind, führen zu sich gegenseitig erhellenden Ergebnissen: Sowohl das Verständnis der Cyzicus-Episode an sich als auch das des gesamten Epos erhalten eine andere Dimension. Denn erst vor dem Hintergrund des ganzen Werks werden einzelne Merkmale der Episode als Charakteristika, die für Valerius Flaccus' Gestaltungsweise typisch sind, kennüich bzw. sind die für die Episode spezifischen Einzelheiten zu isolieren, andererseits läßt sich von der Cyzicus-Episode aus die Bedeutung anderer Stellen klären, so daß Valerius Flaccus' Gesamtkonzeption deutlicher hervortreten kann. Für Anlage und thematische Basis des Gesamtwerks, in deren Zusammenhang die Cyzicus-Episode zu betrachten ist, ergibt sich folgendes: Valerius Flaccus geht für sein Epos vom traditionellen Argonautenmythos aus, gestaltet ihn aber in spezifischer Weise um, setzt neue Schwerpunkte und vermittelt auf diese Weise eine eigene Aussage. Er gibt nicht einfach die vordergründigen Tatsachen des Mythos wieder und erzählt die Geschichte von der Erlangung des Goldenen Vlieses. Im Gegenteil spielt dieses äußere Faktum bei ihm nur eine relativ geringe Rolle. Valerius Flaccus' Thema ist vielmehr, wie er bereits im ersten Prooemium (1,1-4) klarmacht, die Eröffnung von Seewegen. Sie geschieht durch die erste Fahrt über das offene Meer durch die Symplegaden bis nach Colchis, wobei die Argo nicht als erstes Schiff überhaupt, sondern als erstes Hochseeschiff mit besonderen Fähigkeiten diese Leistung vollbringt. Der Sachverhalt ist zwar mit der zugrunde gelegten Form des Mythos gegeben, aber erst Valerius Flaccus rückt ihn durch seine Art der Darstellung in den Mittelpunkt. Damit unterscheidet er sich deutlich von seiner stofflichen Vorlage, Apollonios Rhodios' Argonautika. Die Argofahrt und der Beginn der Schiffahrt in ferne Gebiete haben bei Valerius Flaccus außerdem in Gegensatz zu Apollonios Rhodios eine weiterreichende Bedeutung. Denn die Argofahrt ist ein wichtiger Bestandteil von luppiters >Weltenplan< (1,531-560), den Valerius Flaccus neu einführt

262

Zusammenfassung der Ergebnisse

und damit das gesamte Geschehen von vornherein in ein umfassendes Konzept einordnet. Durch den >Weltenplan< erhalten die im Epos geschilderten Ereignisse weltgeschichtliche Dimension: Das Weltgeschehen soll nach luppiters Willen in Zukunft in einer Folge von Machtwechseln ablaufen. Für diesen Prozeß generell und besonders für den ersten Machtwechsel, von Asien nach Europa, sind offene Seewege und damit die Möglichkeit zur Überwindung der durch das Meer gegebenen Grenzen die entscheidenden Voraussetzungen. Denn nur bei einem solchen Zustand können Kriege zwischen voneinander weit entfernten und durch das Meer getrennten Völkern stattfinden und dadurch die Macht von einem zum anderen übergehen. Die Vorgänge in Colchis ergeben sich als direkte Konsequenz der Argofahrt. Sie zeigen, daß durch die Argofahrt Kriege zwischen fernen Völkern möglich werden, und führen durch die an den Kämpfen beteiligten Völkerschaften das Weltgeschehen einen Schritt weiter, da Asien und Griechenland dabei in Gegnerschaft zueinander geraten und damit die Ablösung der Vorherrschaft Asiens sowie der Sieg Griechenlands vorbereitet werden. Die Argofahrt und das Geschehen in Colchis sind so als zwei Bestandteile eines Komplexes zusammen der erste Schritt für die im >Weltenplan< vorgesehenen kommenden Entwicklungen. Die Ereignisse gehen in dieser Weise vor sich, weil luppiter als oberster und mächtigster Gott es so festgesetzt hat. Valerius Flaccus hat in Gegensatz zu seinem umnittelbaren Vorgänger Lukan in Entsprechung zur epischen Tradition wieder einen Götterapparat eingeführt. Er schafft eine eigene, über Apollonios Rhodios' Darstellung hinaus ausgestaltete Handlung auf Götterebene und läßt die Götter in der epischen Fiktion als anthropomorphe und das Geschehen lenkende Gestalten agieren. Dagegen sind die fata keine eigenständige, aktiv wirkende Gewalt, sondern ein abstraktes Prinzip, das den Götterwillen repräsentiert. luppiter hat die umfassende Macht, den Ereignisablauf langfristig und großräumig festzulegen. Seine Absichten teilt er allerdings im allgemeinen weder Göttern noch Menschen mit. Er beschränkt sich außerdem auf eine Bestimmung des großen Rahmens und kümmert sich nicht um Einzelheiten. Er greift nur ein, wenn seine weitreichenden Pläne gefährdet sind oder sich extreme Situationen ergeben könnten. Dabei ist sein Handeln insgesamt nicht von Fürsorge für die Menschen oder von der Absicht, ein positives Ziel zu erreichen, bestimmt. luppiters Verhalten bringt es mit sich, daß die anderen Götter einen relativ weiten Freiraum für eigene Aktivitäten haben. Den nutzen sie, um geleitet von persönlichen Emotionen ihre Interessen und besonders ihre Rache-

Zusammenfassung der Ergebnisse

263

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Valerius

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